Wirtschaftspsychologie 354071636X, 9783540716365

Lehrbucher haben in Zeiten, in denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zun- mend nur noch nach ihren Artikeln in

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German Pages 429 [430] Year 2007

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Table of contents :
Vorwort
Sektionsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Autorenverzeichnis
1 Einleitung
Kaufen und Konsumieren: Erlangen von Ressourcen
Haushalten und Verbrauchen: Erhalten von Ressourcen
Bürger sein: Bewerten und Gestalten von Ressourcen
Literatur
I Kaufen und Konsumieren:Erlangen von Ressourcen
2 Werbewirkungsmodelle
Stufenmodelle derWerbewirkung
Hierarchie-von-Effekten-Modelle
Zwei-Prozess-Modelle
Das duale Vermittlungsmodell
Das Rossiter-und-Percy-Modell
Funktionen vonWerbewirkungs-modellen
Literatur
3 Kaufentscheidungen
Einführung
Grundlegendes
Eine Typologie von Kaufentscheidungen
Entscheidungsstrategien
Kaufentscheidungen als zielorientiertesHandeln
Rationalität von Kaufentscheidungen
Ausblick
Literatur
4 Überzeugen durch Argumente
Grundlagen des Überzeugens
Kommunikationsinhalte –Qualität von Argumenten
Qualität von Argumenten – RandbedingungenihrerWirksamkeit
Beispiel eines integrativenargumentorientierten Programms
Literatur
5 Persuasion durch Glaubwürdigkeit
5.1 Begriffliche Klärungen
Glaubwürdigkeit im Kontext
Fazit und Ausblick
Literatur
6 EmotionaleWerbung
Begriffsklärungen
Modelle emotionalerWerbung
Einfluss programmvermittelterGefühle
Literatur
7 Markenmanagement
Einführung und Überblick
Psychologische Theorien undModelle der Markenwirkung
Markenstrategien
Steuerung der Markenidentität
Zukunft der Markenführung
Literatur
8 Kundenzufriedenheitund Kundenbindung
Einführung
Definitionsansätze
Theoretische Ansätze
Messung von Kundenzufriedenheitund Kundenbindung
Zusammenhang zwischen Kundenzufriedenheitund Kundenbindung
Literatur
9 Marketinginstrumente–psychologisch betrachtet
Psychologie und Marketing
Produktpolitik
Preis- und Konditionenpolitik
Vertriebspolitik
Kommunikationspolitik
Literatur
10 Methoden der psychologischenMarktforschung
Formen, Varianten und Zielepsychologischer Marktforschung
Messung von Aufmerksamkeitund Erinnerung
Erfassen von Verbraucherurteilen,Einstellungen undWerthaltungen
Erfassen des Konsumentenverhaltens
Literatur
II Haushalten undVerbrauchen:Erhalten von Ressourcen
11 Finanzpsychologie
Was ist Finanzpsychologie?
Grundlagen der Finanzpsychologie
Anwendungsgebieteder Finanzpsychologie
Fazit und abschließende Bemerkungen
Literatur
12 Gesundheit inWirtschaftund Gesellschaft
Einführung
Gesundheit des Individuums
Gesundheit in der Gesellschaft
Gesundheit im Unternehmen
Ausblick
Literatur
13 Work-Life-Balance
Was istWork-Life-Balance?
Soziostrukturelle Hintergründefür den Stellenwert von »Work-Life-Balance«
PsychologischeModellvorstellungen
Positive und negative Aspektedes Zusammenspiels von Berufund Familie
Implikationen für die Praxis
Fazit und Ausblick
Literatur
14 Berufswahl und beruflicheEntwicklung angesichts desWandels der Arbeit
Definitionen:Job, Beruf und Erwerbsarbeit
Familiäre Lebensverhältnisseund Bildungsbeteiligung alsEinflussgrößen der beruflichenEntwicklung
Anfänge der beruflichenEntwicklung von der Kindheit bisins frühe Erwachsenenalter
Psychologische Konzepteder Berufsfindung
Berufliche Etablierung
Auswirkungen der verändertenBeschäftigungsverhältnisse aufden Berufsverlauf
Perspektiven aufgrund des demografischenWandelsin Deutschland
Literatur
15 Arbeitslosigkeit
Forschungsfragen derpsychologischen Arbeitslosigkeitsforschung
Definitionen und ihreBedeutung: Zum Begriffder Arbeitslosigkeit
Arbeitslosigkeit undpsychische Gesundheit
AllgemeingesellschaftlicheFolgen von Arbeitslosigkeit
DerWeg zurück in dieErwerbstätigkeit:Hilfe durch die Psychologie?
Zeitarbeit
Outplacementberatung
Literatur
III Bürger sein: Bewerten undGestalten von Ressourcen
16 Wirtschaftliche Leitbilderund Einstellungen
16.1 Ansätze eines neuen Denkens
16.2 Problematische Entwicklungen
16.3 Revision von Grundbegriffen
Literatur
17 Bürgersinn
Begriffsverständnis undkonzeptionelle Einordnung
Freigemeinnützige Tätigkeit
Bürgerschaftliches Engagementvon Unternehmen
Literatur
18 KontraproduktivesVerhalten durchSchädigung öffentlicher Güter
Produktivität –Kontraproduktivität
Soziale Dilemmata
Umweltschädliches Verhalten
Vandalismus
Steuerhinterziehung
Ausblick und Zusammenfassung
Literatur
19 Berufliche Selbstständigkeit
Bedeutung einer psychologischenBetrachtungsweise
Psychologische Erklärungenberuflich selbstständigenVerhaltens
Erfolgsfaktoren beruflicherSelbstständigkeit
Förderung beruflich selbstständigenVerhaltens
Perspektiven einer psychologischenBetrachtungsweise
Literatur
Epilog
20
Wirtschaftspsychologie unddieNatur des Menschen
Wirtschaftspsychologie alsangewandteWissenschaft
Die Natur des Menschen
Ethische Fragestellungenin derWirtschaftspsychologie
Literatur
Anhang
Glossar
Sachverzeichnis
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Wirtschaftspsychologie
 354071636X, 9783540716365

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Springer-Lehrbuch

K. Moser (Hrsg.)

Wirtschaftspsychologie Mit 46 Abbildungen und 21 Tabellen

123

Professor Dr. Klaus Moser Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Lehrstuhl für Psychologie, insbes. Wirtschaftsund Sozialpsychologie Lange Gasse 20, 90403 Nürnberg

ISBN 978-3-540-71636-5 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Dr. Svenja Wahl, Joachim Coch Projektmanagement: Michael Barton Lektorat: Angela Wirsig-Wolf, Wolfenbüttel Layout und Einbandgestaltung: deblik Berlin Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg SPIN 1175 5098 Gedruckt auf säurefreiem Papier

2126 – 5 4 3 2 1 0

V

Vorwort Lehrbücher haben in Zeiten, in denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zunehmend nur noch nach ihren Artikeln in Zeitschriften mit Peer Review evaluiert werden, zwar weiterhin ein interessiertes Publikum, aber oft Autoren mit einem schlechten Gewissen – hätten doch während der Zeit, in der die Kapitel verfasst wurden, auch ebensolche Artikel geschrieben werden können. Umso erfreulicher ist es, dass die meisten Autorinnen und Autoren nicht nur rasch und spontan ihre Beiträge zugesagt, sondern ihre Beiträge auch zeitig abgeliefert haben. An Peer Review gewöhnt, waren sie auch in der Entstehung dieses Lehrbuchs hierzu bereit, und sie haben alle an der Qualität der jeweils anderen Beiträge mitgewirkt, indem sie den anderen Autoren durchwegs hilfreiche Hinweise und Anregungen gegeben haben. Vornehme Aufgabe eines Herausgebers ist es, nicht nur Beiträge zu »sammeln«, sondern auch programmatisch und »therapeutisch« zu wirken. Auf der programmatischen Seite ist vor allem der vorgelegte Versuch zu nennen, das Gebiet der Wirtschaftspsychologie zu strukturieren, und zwar über die Triade »Kaufen und Konsumieren, Haushalten und Verbrauchen sowie Bewerten und Gestalten«. Zwei Botschaften sind beabsichtigt: Die Wirtschaftspsychologie soll aus dem Schatten der Arbeits- und Organisationspsychologie heraustreten, und sie soll nicht lediglich als Ableger oder »Anwendung« einer Sozialpsychologie firmieren, die sich in den letzten Jahren zunehmend als kognitiv-experimentelles Unternehmen entwickelt hat. Als »therapeutisch« sollen all jene Aktivitäten des Herausgebers bezeichnet werden, die Autoren um (noch) mehr Klarheit und Verständlichkeit zu bitten, aber auch für eine angemessene Art der Synchronisierung der Entstehung des Lehrbuchs zu sorgen. In einem sich dynamisch entwickelnden Fach ist es besonders wichtig, dass der zeitliche Abstand zwischen Entstehen der Beiträge und Erscheinen kurz ist. Die Konzipierung und Erstellung dieses Lehrbuchs fiel in die Phase des Auslaufens von Diplomstudiengängen sowie der Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen. Dies gab Anlass, über die Positionierung dieses Lehrbuchs nachzudenken. Der Herausgeber selbst wird es sowohl im letzten Jahr des Bachelorstudiums als auch im Masterstudium einsetzen. Dass der ein oder andere Inhalt dieses Lehrbuchs (noch) besser eingeordnet werden kann, wenn Leserinnen und Leser Grundkenntnisse in Allgemeiner Psychologie, Sozialpsychologie, Empirischer Sozialforschung, aber auch Marketing oder Kommunikationswissenschaften haben, mag an dieser Stelle als Hinweis an Studierende verstanden werden, mit welchen Fächern oder Schwerpunkten denn Wirtschaftspsychologie sinnvollerweise kombiniert werden könnte. In verschiedenen Phasen der Entstehung dieses Lehrbuchs haben beim Springer-Verlag Michael Barton, Joachim Coch, Dr. Svenja Wahl und Angela Wirsig-Wolf mitgewirkt. Ihnen sei für die stets angenehme Zusammenarbeit herzlich gedankt. In meiner Arbeitsgruppe haben Monika Uhlendahl, Heidi Walter und Renate Würges glücklicherweise vieles an Organisation, Schreib- und Bibliotheksarbeiten übernehmen können. In einer Zeit, in der die Lehr- und Verwaltungsbelastung zugenommen hat und zugleich Stellen für wissenschaftsunterstützendes Personal – diese Formulierung ist gewiss kein Scherz! – gestrichen werden, war dies ein besonderer Glücksfall. Moderne Kommunikationsmedien machen es möglich, dass solche Lehrbücher auf Bahnhöfen und in Flughäfen, in Sitzungspausen, in Hotelzimmern und auch ansonsten zu Gelegenheiten entstehen, die nur selten in die Normalarbeitszeit fallen. Barbara Wiesmann hat mit

VI

Vorwort

mir manche Diskussion über die Entgrenzung der Arbeitswelt am Beispiel der Entstehung dieses Lehrbuchs geführt und auch dadurch ihren ganz besonderen unschätzbaren Beitrag zu meiner work-life-balance geleistet. Nürnberg und Meckesheim, im Juli 2007

Klaus Moser

VII

Sektionsverzeichnis 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

13 Work-Life-Balance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 14 Berufswahl und berufliche Entwicklung angesichts des Wandels der Arbeit . . . . . . . . 265

I Kaufen und Konsumieren: Erlangen von Ressourcen

2 Werbewirkungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . 11 3 Kaufentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

15 Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

III Bürger sein: Bewerten und Gestalten von Ressourchen

4 Überzeugen durch Argumente . . . . . . . . . . 53 16 Wirtschaftliche Leitbilder und Einstellungen 309 5 Persuasion durch Glaubwürdigkeit . . . . . . . 69 17 Bürgersinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 6 Emotionale Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 7 Markenmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

18 Kontraproduktives Verhalten durch Schädigung öffentlicher Güter . . . . . . . . . . 357

8 Kundenzufriedenheit und Kundenbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

19 Berufliche Selbstständigkeit . . . . . . . . . . . . 379

9 Marketinginstrumente – psychologisch betrachtet . . . . . . . . . . . . . 147

Epilog

10 Methoden der psychologischen Marktforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 20 Wirtschaftspsychologie und die Natur des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . 401

II Haushalten und Verbrauchen: Erhalten von Ressourcen

Anhang

11 Finanzpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 12 Gesundheit in Wirtschaft und Gesellschaft . . 221

Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425

IX

Inhaltsverzeichnis 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Moser Kaufen und Konsumieren: Erlangen von Ressourcen . . . . . . . Haushalten und verbrauchen: Erhalten von Ressourcen . . . . . . . . Bürger sein: Bewerten und Gestalten von Ressourcen . . . . . . . . . . . . .

1.1 1.2 1.3

. . . . . .

1

4

. . . . . .

3

. . . . . .

5

4.1 4.1.1 4.1.2

. . . . . .

6

4.1.3 4.2

I Kaufen und Konsumieren: Erlangen von Ressourcen

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4 3.6 3.7

Werbewirkungsmodelle . . . . . . . . . . . Klaus Moser Stufenmodelle der Werbewirkung . . . . . . Hierarchie-von-Effekten-Modelle . . . . . . Zwei-Prozess-Modelle . . . . . . . . . . . . . Das duale Vermittlungsmodell . . . . . . . . Das Rossiter-und-Percy-Modell . . . . . . . . Funktionen von Werbewirkungsmodellen .

4.2.1 4.2.2 4.3 . . 11 . . . . . .

Kaufentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . Hans-Georg Wolff, Klaus Moser Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlegendes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Typologie von Kaufentscheidungen . . Entscheidungsstrategien . . . . . . . . . . . . Kaufentscheidungen als zielorientiertes Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anstrengungsvermeidung . . . . . . . . . . . Vermeidung negativer Emotionen . . . . . . Die Rechtfertigbarkeit von Entscheidungen Kaufentscheidungen als zielorientiertes Handeln – ein Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . Rationalität von Kaufentscheidungen . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

12 16 18 23 24 27

. 31 . . . .

32 32 33 36

. . . .

38 40 42 45

. 47 . 47 . 49

4.3.1 4.3.2 4.4

5

5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5 5.3 6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4

Überzeugen durch Argumente . . . . . . . Dieter Frey, Andreas Kastenmüller, Tobias Greitemeyer, Peter Fischer, Klaus Moser Grundlagen des Überzeugens . . . . . . . . . Offenheit und kritisches Denken . . . . . . . . Die Rolle von Argumenten in Theorien zur Einstellungsänderung . . . . . . . . . . . . Argumente als »Bäume«: Der Baum als Symbol für eine Argumentationskette . . . . Kommunikationsinhalte – Qualität von Argumenten . . . . . . . . . . . . Verständlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweiseitige Argumentation . . . . . . . . . . . Qualität von Argumenten – Randbedingungen ihrer Wirksamkeit . . . . . Eigenschaften des Senders . . . . . . . . . . . Eigenschaften des Empfängers . . . . . . . . . Beispiel eines integrativen argumentorientierten Programms . . . . . . . . . . . . .

. 53

. 64

Persuasion durch Glaubwürdigkeit . . . . Florian Becker, Lutz von Rosenstiel, Matthias Spörrle Begriffliche Klärungen . . . . . . . . . . . . . Einstellung, Persuasion und daraus resultierende Verhaltensweisen . . . . . . . Glaubwürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Manipulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethik und Moral im Kontext der Persuasion Glaubwürdigkeit im Kontext . . . . . . . . . Der Sender der Kommunikation . . . . . . . Aspekte der Botschaft . . . . . . . . . . . . . Der Empfänger der Kommunikation . . . . Der Kommunikationskanal . . . . . . . . . . Der Kontext der Kommunikation . . . . . . Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

70 70 72 74 75 75 76 78 80 81 82

Emotionale Werbung . . . . . . . . . . . . . . . Axel Mattenklott Begriffsklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Klassifikation von Werbebotschaften . . . Emotion, Stimmung und Gefühl . . . . . . . . . Identifizierung und Messung von Emotionen Zwei Arten emotionaler Reaktionen . . . . . .

85

. 54 . 54 . 54 . 55 . 56 . 56 . 57 . 61 . 61 . 61

. . 69

. . 70 . . . . . . . . . . .

86 86 86 87 90

X

Inhaltsverzeichnis

6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.2.5 6.3

Modelle emotionaler Werbung . . . . . . Emotionale Konditionierung . . . . . . . Einstellungsübertragung . . . . . . . . . Transformationelle Werbung . . . . . . . Gefühle als Motive . . . . . . . . . . . . . . Wirkung spezifischer Gefühle . . . . . . . Einfluss programmvermittelter Gefühle

7

Markenmanagement . . . . . . . . . . . . Michaela Wänke, Arnd Florack Einführung und Überblick . . . . . . . . . . Psychologische Theorien und Modelle der Markenwirkung . . . . . . . . . . . . . . Sozial-kognitive Grundlagen . . . . . . . . Selbstrelevante Funktionen von Marken . Marken-Kunden-Beziehungen . . . . . . . Markenstrategien . . . . . . . . . . . . . . . Marken- und Produktlinienerweiterung . Die optimale Markenbreite . . . . . . . . . Psychologische Funktionen als Basis von Markenarchitekturstrategien . . . . . Steuerung der Markenidentität . . . . . . Komponenten der Markenidentität . . . . Umsetzung der Markenidentität . . . . . . Zukunft der Markenführung . . . . . . . .

7.1 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.4 7.4.1 7.4.2 7.5 8

8.1 8.2 8.2.1 8.2.2 8.3 8.3.1 8.3.2 8.4 8.4.1 8.4.2 8.5

9

9.1 9.2

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

91 91 92 94 96 98 101

. . . 107 . . . 108 . . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

108 108 110 113 114 114 117

. . . . .

. . . . .

. . . . .

118 120 120 121 122

Kundenzufriedenheit und Kundenbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedemann W. Nerdinger, Christina Neumann Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definitionsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . Kundenzufriedenheit . . . . . . . . . . . . . . . Kundenbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . Entstehung von Kundenzufriedenheit . . . . Entstehung von Kundenbindung . . . . . . . Messung von Kundenzufriedenheit und Kundenbindung . . . . . . . . . . . . . . . Messung der Kundenzufriedenheit . . . . . . Messung der Kundenbindung . . . . . . . . . Zusammenhang zwischen Kundenzufriedenheit und Kundenbindung . . . . . .

9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.3 9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.4 9.4.1 9.4.2 9.5 9.5.1 9.5.2 9.5.3

10

10.1 10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.2

. 127 . . . . . . .

128 128 128 130 131 131 134

10.2.1 10.2.2 10.3 10.3.1 10.3.2 10.4 10.4.1 10.4.2

Passung von Marke und Produkt . . . . . . Produkt- und Markennamen . . . . . . . . Multisensuale Gestaltung von Produkten Preis- und Konditionenpolitik . . . . . . . . Preis und Absatz . . . . . . . . . . . . . . . . Preisstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückgabegarantien . . . . . . . . . . . . . . Vertriebspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . Direktmarketing . . . . . . . . . . . . . . . . Gestaltung der Verkaufsräume . . . . . . . Kommunikationspolitik . . . . . . . . . . . Public Relations . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation mit Multiplikatoren und die Diffusion von Produktinnovationen . Die direkte Kommunikation mit dem Kunden . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . .

149 150 152 153 153 155 156 157 157 159 161 161

. . . 163 . . . 165

Methoden der psychologischen Marktforschung . . . . . . . . . . . . . . . . Karen Döring, Anja S. Göritz, Klaus Moser Formen, Varianten und Ziele psychologischer Marktforschung . . . . . . . . . . . Was ist psychologische Marktforschung? . Inhalte und Anwendungsfelder psychologischer Marktforschung . . . . . . Forschungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . Messung von Aufmerksamkeit und Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufmerksamkeitstests . . . . . . . . . . . . . Erinnerungstests . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfassen von Verbraucherurteilen, Einstellungen und Werthaltungen . . . . . . Direkte Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . Indirekte Verfahren und Kreativtechniken . Erfassen des Konsumentenverhaltens . . . Verhaltensbeobachtung . . . . . . . . . . . . Apparative und experimentelle Verfahren .

. . 171

. . 172 . . 172 . . 172 . . 174 . . 175 . . 176 . . 176 . . . . . .

. . . . . .

178 179 182 185 186 187

. 136 . 136 . 141

II Haushalten und Verbrauchen: Erhalten von Ressourcen

. 141

Marketinginstrumente – psychologisch betrachtet . . . . . . . . . . . 147 Georg Felser Psychologie und Marketing . . . . . . . . . . . . 148 Produktpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

11

11.1

Finanzpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Stefan Schulz-Hardt, Frank Vogelgesang, Andreas Mojzisch Was ist Finanzpsychologie? . . . . . . . . . . . . 194

XI Inhaltsverzeichnis

11.2 11.2.1 11.2.2 11.3

Grundlagen der Finanzpsychologie . . . Geld- und Preiswahrnehmung . . . . . . Finanzbezogenes Entscheiden . . . . . . Anwendungsgebiete der Finanzpsychologie . . . . . . . . . . . . . 11.3.1 Anlegerverhalten . . . . . . . . . . . . . . 11.3.2 Sparen und Verschuldung . . . . . . . . . 11.4 Fazit und abschließende Bemerkungen 12

12.1 12.1.1 12.1.2 12.1.3 12.2 12.2.1 12.2.2 12.2.3 12.2.4 12.2.5 12.2.6 12.2.7 12.2.8 12.3 12.3.1 12.3.2 12.3.3 12.3.4 12.4 12.4.1 12.4.2 12.5 13

. . . . 195 . . . . 195 . . . . 200 . . . .

. . . .

. . . .

Gesundheit in Wirtschaft und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . Georg Bauer, Gregor Jenny Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitsdynamik in der Gesellschaft . . Rahmenmodell zur Gesundheitsentwicklung Gesundheit des Individuums . . . . . . . . . . Integratives Modell der Salutogenese . . . . Stress und Stressbewältigung . . . . . . . . . Gesundheitsressourcen . . . . . . . . . . . . . Kohärenzgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitsverhalten . . . . . . . . . . . . . . Lebensweise/Lebensstil . . . . . . . . . . . . . Gesundheitskontinuum und Messung von Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitskompetenzen . . . . . . . . . . . Gesundheit in der Gesellschaft . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitliche Ungleichheit zwischen Bevölkerungsgruppen . . . . . . . . . . . . . . Volkswirtschaftliche Aspekte der Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention und Gesundheitsförderung . . . Gesundheit im Unternehmen . . . . . . . . . . Arbeitsbezogene gesundheitliche Belastungen und Ressourcen . . . . . . . . . . Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Work-Life-Balance . . . . . . . . . . . . . . . . Bettina S. Wiese 13.1 Was ist Work-Life-Balance? . . . . . . . . . . . 13.2 Soziostrukturelle Hintergründe für den Stellenwert von »Work-Life-Balance« . . . . . 13.3 Psychologische Modellvorstellungen . . . . . 13.3.1 Stress- und ressourcentheoretische Ansätze 13.3.2 Tätigkeitsanalytische Ansätze . . . . . . . . . .

. . . .

205 205 212 216

. 221 . 222 . 222 . 223 223 . 224 . 224 . 225 . 226 . 227 . 227 . 229 . . . .

230 231 232 232

13.3.3 Entwicklungs- und biografieorientierte Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4 Positive und negative Aspekte des Zusammenspiels von Beruf und Familie . . 13.4.1 Konflikte zwischen Beruf und Familie . . . . 13.4.2 Positiver Transfer zwischen Beruf und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5 Implikationen für die Praxis . . . . . . . . . . 13.5.1 Individuelle und partnerschaftliche Strategien der Balancierung verschiedener Lebensbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5.2 Gesetzgeberische und organisationale Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.6 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . 14

14.1 14.2

14.3

14.4 14.5 14.6

. 233 . 233 . 235 . 236

14.7

15

. 236 . 238 . 241 . 245 . 246 . 247 . 247 247 . 248

. . 249 . . 251 . . 251 . . 253 . . 253

. . 254 . . 256 . . 261

Berufswahl und berufliche Entwicklung angesichts des Wandels der Arbeit . . . . . Gerhard Blickle Definitionen: Job, Beruf und Erwerbsarbeit . Familiäre Lebensverhältnisse und Bildungsbeteiligung als Einflussgrößen der beruflichen Entwicklung . . . . . . . . . . Anfänge der beruflichen Entwicklung von der Kindheit bis ins frühe Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologische Konzepte der Berufsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufliche Etablierung . . . . . . . . . . . . . . Auswirkungen der veränderten Beschäftigungsverhältnisse auf den Berufsverlauf . . . . . . . . . . . . . . . Perspektiven aufgrund des demografischen Wandels in Deutschland . . . . . . . .

. 265 . 266

. 268

. 270 . 272 . 276

. 277 . 281

Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karsten I. Paul, Klaus Moser 15.1 Forschungsfragen der psychologischen Arbeitslosigkeitsforschung . . . . . . . . . . . . 15.2 Definitionen und ihre Bedeutung: Zum Begriff der Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . 15.3 Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3.1 Existiert ein Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und psychischer Gesundheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3.2 Moderatoren des Zusammenhangs zwischen Arbeitslosigkeit und psychischer Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

285

286 286 288

288

289

XII

Inhaltsverzeichnis

15.3.3 Das Kausalitätsproblem: Führt Arbeitslosigkeit zu psychischer Beanspruchung oder psychische Beanspruchung zu Arbeitslosigkeit? . . . . . 15.3.4 Wirkmechanismen: Welche Aspekte der Arbeitslosigkeitssituation beeinträchtigen die psychische Gesundheit? . . . . . . . . . . . 15.4 Allgemeingesellschaftliche Folgen von Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 15.5 Der Weg zurück in die Erwerbstätigkeit: Hilfe durch die Psychologie? . . . . . . . . . . 15.5.1 Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensstrategien, welche die Wiederbeschäftigung fördern . . . . . . . . . . . . . . 15.5.2 Psychologische Aspekte von Interventionen für Arbeitslose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.5.3 Zeitarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.5.4 Outplacementberatung . . . . . . . . . . . . .

. 291

. 292 . 296 . 297

. 297 . 298 . 300 . 301

17.2 Freigemeinnützige Tätigkeit . . . . . . . . . . . 341 17.2.1 Definition und gesellschaftliche Bedeutung 341 17.2.2 Motivation zu freigemeinnütziger Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 17.2.3 Freigemeinnützige Tätigkeit aus Sicht der Arbeitswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 17.3 Bürgerschaftliches Engagement von Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 17.3.1 Die Rolle von Unternehmen in der Gesellschaft – die akademische Perspektive 347 17.3.2 Formen des Engagements von Unternehmen – die praxisorientierte Perspektive . . . . . . . . . 349 17.3.3 Formen und Bedeutung des Corporate Volunteering . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 17.3.4 Corporate Volunteering und psychologische Freiwilligenforschung . . . . . . . . . . . . . . . 352 17.3.5 Kein Corporate Volunteering ohne individuelles Volunteering . . . . . . . . . . . . . 352 18

III Bürger sein: Bewerten und Gestalten von Ressourchen

16

16.1 16.1.1 16.1.2 16.1.3 16.2 16.2.1 16.2.2 16.3 16.3.1 16.3.2 16.3.3 17

Wirtschaftliche Leitbilder und Einstellungen . . . . . . . . . . . . . Gerhard Scherhorn Ansätze eines neuen Denkens . . . . . . Leitbilder nachhaltiger Entwicklung. . . Überproduktion durch Externalisierung Wie wird der Wettbewerb nachhaltig? . Problematische Entwicklungen . . . . . Kapitalismus versus Marktwirtschaft . . Finanzkapital versus Produktivkapital . Revision von Grundbegriffen . . . . . . . Märkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marktgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marktfreie Güter . . . . . . . . . . . . . . .

Bürgersinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theo Wehner, Gian-Claudio Gentile, Stefan T. Güntert 17.1 Begriffsverständnis und konzeptionelle Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.1.1 Bürgersinn und Freiwilligkeit in der Tätigkeitsgesellschaft . . . . . . . . . . . . 17.1.2 Dimensionen des Bürgersinns . . . . . .

. . . . 309 . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

310 310 311 313 316 316 318 321 321 325 327

. . . . 337

. . . . 338 . . . . 338 . . . . 339

18.1 18.1.1 18.2 18.3 18.4 18.5 18.5.1 18.5.2 18.6 18.6.1 18.6.2 18.6.3 18.6.4 18.7 19

Kontraproduktives Verhalten durch Schädigung öffentlicher Güter . . . Erich Kirchler, Julia Pitters Produktivität – Kontraproduktivität . . Zur Bestimmung des Begriffs . . . . . . Soziale Dilemmata . . . . . . . . . . . . . Umweltschädliches Verhalten . . . . . Vandalismus . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftskriminalität und Schattenwirtschaft . . . . . . . . . . . . Wirtschaftskriminalität . . . . . . . . . . Schattenwirtschaft . . . . . . . . . . . . Steuerhinterziehung . . . . . . . . . . . Steuern als soziales Dilemma . . . . . . Perspektive der Nutzenmaximierung . Psychologische Einflussfaktoren . . . . Integrierende Folgerungen . . . . . . . Ausblick und Zusammenfassung . . .

. . . . . 357 . . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

358 358 360 363 364

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

366 366 367 368 368 368 370 373 374

Berufliche Selbstständigkeit . . . . . . . . . Günter F. Müller 19.1 Bedeutung einer psychologischen Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2 Psychologische Erklärungen beruflich selbstständigen Verhaltens . . . . . . . . . . . 19.2.1 Frühkindliche Prägungen und Sozialisation . 19.2.2 Persönlichkeitsspezifische Dispositionen . . 19.2.3 Selbstständigkeitsrelevante Kernkompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 379

. 380 . 381 . 381 . 383 . 384

XIII Inhaltsverzeichnis

19.2.4 Entwicklung von Absichten für eine selbstständige Erwerbstätigkeit . . . 19.3 Erfolgsfaktoren beruflicher Selbstständigkeit . . . . . . . . . . . . 19.3.1 Erfolgsindikatoren . . . . . . . . . . . . 19.3.2 Erfolgsunterstützende Faktoren . . . 19.3.3 Erfolgsabträgliche Faktoren . . . . . . 19.4 Förderung beruflich selbstständigen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.1 Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.2 Weiterbildung und Beratung . . . . . 19.5 Perspektiven einer psychologischen Betrachtungsweise . . . . . . . . . . .

. . . . . . 386 . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

387 387 388 391

. . . . . . 393 . . . . . . 393 . . . . . . 393 . . . . . . 395

20.2 20.2.1 20.2.2 20.2.3 20.3

Die Natur des Menschen . . . . . . . . . . . . Der Mensch als rational handelndes Wesen Der Mensch als Nutzenmaximierer . . . . . Ökonomische Psychologie . . . . . . . . . . Ethische Fragestellungen in der Wirtschaftspsychologie . . . . . . . . . . . . 20.3.1 Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.3.2 Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.3.3 Konsumenten – Verbraucher – Bürger . . .

. . . .

. . . .

404 405 406 407

. . . .

. . . .

410 410 412 413

Anhang

Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418

Epilog Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 20

20.1

Wirtschaftspsychologie und die Natur des Menschen . . . . . . . . . . . . . 401 Klaus Moser, Roman Soucek Wirtschaftspsychologie als angewandte Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402

XV

Autorenverzeichnis Bauer, Georg, Dr. Institut für Sozial- und Präventivmedizin, Universität Zürich, Abteilung IV: Gesundheits- und Interventionsforschung inkl. Betriebliches Gesundheitsmanagement, Hirschengraben 84, CH-8001 Zürich Becker, Florian, Dr. Lehrstuhl für Organisations- und Wirtschaftspsychologie, Ludwig-Maximilians-Universität München, Leopoldstr. 13, 80802 München Blickle, Gerhard, Prof. Dr. Institut für Psychologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Römerstr. 164, 53117 Bonn Döring, Karen, Dr. Konzept & Analyse AG Kinkelstr. 12, 90482 Nürnberg Felser, Georg, Prof. Dr. Fachbereich Wirtschaft, Studiengang Wirtschaftspsychologie, Hochschule Harz Wernigerode, Friedrichstr. 57–59, 38855 Wernigerode Fischer, Peter, Priv.-Doz. Dr. Lehrstuhl für Sozialpsychologie, Ludwig-MaximiliansUniversität München, Leopoldstr. 13, 80802 München Florack, Arndt, Priv.-Doz. Dr. Fakultät für Psychologie der Universität Basel, Abteilung für Sozial- und Wirtschaftspsychologie, Missionsstr. 62a, CH-4055 Basel Frey, Dieter, Dr. Lehrstuhl für Sozialpsychologie, Ludwig-MaximiliansUniversität München, Leopoldstr. 13, 80802 München

Gentile, Gian-Claudio Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), ETH Zürich, Forschungsgruppe »Psychologie der Arbeit in Organisation und Gesellschaft« (PdA), KPL G 22, Kreuzplatz 5, CH-8032 Zürich Göritz, Anja, Priv.-Doz. Dr. Lehrstuhl für Psychologie, insbes. Wirtschafts- und Sozialpsychologie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Lange Gasse 20, 90403 Nürnberg Greitemeyer, Tobias, Priv.-Doz. Dr. Lehrstuhl für Sozialpsychologie, Ludwig-MaximiliansUniversität München, Leopoldstr. 13, 80802 München Güntert, Stefan, Dipl.-Psych. Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), ETH Zürich, Forschungsgruppe »Psychologie der Arbeit in Organisation und Gesellschaft« (PdA), KPL J 12, Kreuzplatz 5, CH-8032 Zürich Jenny, Gregor, lic. phil. Institut für Sozial- und Präventivmedizin, Universität Zürich, Abteilung IV: Gesundheits- und Interventionsforschung inkl. Betriebliches Gesundheitsmanagement, Hirschengraben 84, CH-8001 Zürich Kastenmüller, Andreas, Dr. Lehrstuhl für Sozialpsychologie, Ludwig-MaximiliansUniversität München, Leopoldstr. 13, 80802 München Kirchler, Erich, Prof. Dr. Institut für Wirtschaftspsychologie, Bildungspsychologie und Evaluation der Universität Wien, Universitätsstr. 7, A-1010 Wien Mattenklott, Axel, Prof. Dr. Psychologisches Institut der Johannes-Gutenberg-Universität, Abteilung Wirtschaftspsychologie, Staudingerweg 9, 55099 Mainz

XVI

Autorenverzeichnis

Mojzisch, Andreas, Dr. Georg-Elias-Müller-Institut für Psychologie, Abt. für Wirtschafts- und Sozialpsychologie, Georg-August-Universität Göttingen, Gosslerstr. 14, 37073 Göttingen Moser, Klaus, Prof. Dr. Lehrstuhl für Psychologie, insbes. Wirtschafts- und Sozialpsychologie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Lange Gasse 20, 90403 Nürnberg Müller, Günter F., Prof. Dr. Fachbereich 8: Psychologie, Universität Koblenz-Landau, Campus Landau, Im Fort 7, 76829 Landau Nerdinger, Friedemann W., Prof. Dr. Lehrstuhl Wirtschafts- und Organisationspsychologie an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Rostock, Ulmenstr. 69,18051 Rostock Neumann, Christina, Dipl.-Kffr. Lehrstuhl Wirtschafts- und Organisationspsychologie an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Rostock, Ulmenstr. 69, 18051 Rostock Paul, Karsten, Dr. Lehrstuhl für Psychologie, insbes. Wirtschafts- und Sozialpsychologie, Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg, Lange Gasse 20, 90403 Nürnberg Pitters, Julia, Dipl.-Psych. Institut für Wirtschaftspsychologie, Bildungspsychologie und Evaluation der Universität Wien, Universitätsstr. 7, A-1010 Wien Rosenstiel, Lutz von, Prof. Dr. Dr. h.c. Lehrstuhl für Organisations- und Wirtschaftspsychologie, Ludwig-Maximilians-Universität München, Leopoldstr. 13, 80802 München Scherhorn, Gerhard, Prof. Dr. Otto-Beck-Str. 50, 68165 Mannheim

Schulz-Hardt, Stefan, Prof. Dr. Georg-Elias-Müller-Institut für Psychologie, Abt. für Wirtschafts- und Sozialpsychologie, Georg-August-Universität Göttingen, Gosslerstr. 14, 37073 Göttingen Soucek, Roman, Dr. Lehrstuhl für Psychologie, insbes. Wirtschafts- und Sozialpsychologie, Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg, Lange Gasse 20, 90403 Nürnberg Spörrle, Matthias, Dipl.-Psych. Department Psychologie, Ludwig-Maximilians-Universität München, Leopoldstr. 13, 80802 München Vogelgesang, Frank, Dr. Georg-Elias-Müller-Institut für Psychologie, Abt. für Wirtschafts- und Sozialpsychologie, Georg-August-Universität Göttingen Gosslerstr. 14, 37073 Göttingen Wänke, Michaela, Prof. Dr. Fakultät für Psychologie der Universität Basel, Abteilung für Sozial- und Wirtschaftspsychologie Missionsstr. 62a, CH-4055 Basel Wehner, Theo, Prof. Dr. Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften der ETH Zürich, Kreuzplatz 5, CH-8032 Zürich Wiese, Bettina S., Priv.-Doz. Dr. Psychologisches Institut, Fachrichtung Angewandte Psychologie, Universität Zürich, Binzmühlestr. 14/11, CH-8050 Zürich Wolff, Hans-Georg, Dr. Lehrstuhl für Psychologie, insbes. Wirtschafts- und Sozialpsychologie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Lange Gasse 20, 90403 Nürnberg

1

Moser: Wirtschaftspsychologie Der Wegweiser zu diesem Lehrbuch

2 3 4

Trailer: Mit einem anschaulichen Einstieg startet jedes Kapitel

5 6

Griffregister: zur schnellen Orientierung

7 8 9 10 11 12 13

Zum Nachschlagen: Glossar der wichtigsten Fachbegriffe ab S. 418

14 15 16 17 18 19 Anschaulich + übersichtlich: über 70 Abbildungen und Tabellen

20

Beispiele aus der Praxis machen das Wissen lebendig

Navigation: mit Seitenzahl und Kapitelnummer

Zahlreiche Infoboxen mit Details, Übersichten und Exkursen

Fazit: Der Kapitelinhalt in wenigen Sätzen zusammengefasst

1 1 Einleitung Klaus Moser

1.1

Kaufen und Konsumieren: Erlangen von Ressourcen

1.2

Haushalten und Verbrauchen: Erhalten von Ressourcen

1.3

Bürger sein: Bewerten und Gestalten von Ressourcen Literatur

–7

K. Moser (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie DOI 10.1007/978-3-540-71637-2_1, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007

–3 –5 –6

2

1

Kapitel 1 · Einleitung

> Denn überall nach dem Nutzen fragen, ziemt sich am wenigsten für hochsinnige und freie Männer. (Aristoteles) Ich habe kein Talent zur Faulheit. (Theodor Heuss)

Psychologie ist die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten von Menschen. Wenn sich diese mit wirtschaftlichen Sachverhalten befasst, dann betreibt man Wirtschaftspsychologie. An Hochschulen ist Wirtschaftspsychologie für Studierende der Psychologie ein Anwendungsfach; Theorien, Erkenntnisse und Methoden der Psychologie werden demnach auf ihre Anwendbarkeit auf den wirtschaftlichen Kontext hin betrachtet. So gesehen ist Wirtschaftspsychologie eine spezielle Psychologie, sie gehört u. a. auch institutionell in entsprechende psychologische Institute, Fachbereiche oder Departements. Wirtschaftspsychologie wird aber auch in den Wirtschaftswissenschaften und oft von Wirtschaftswissenschaftlern betrieben – oder sie wird als Grundlagenwissenschaft beispielsweise in wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten nachgefragt. So befassen sich etwa Betriebswirte auch mit verhaltenswissenschaftlichen Fragen, Wirtschaftspsychologie ist für diese Studierenden allerdings nicht ein Anwendungsfach, sondern ein Neben-, Wahl- oder Vertiefungsfach. Dies ist kein terminologischer Zufall. Während in der Psychologie typischerweise Grundlagen fokussiert werden, stehen in der Betriebswirtschaftslehre Anwendungsfragen im Zentrum, sie ist eine Gestaltungswissenschaft (7 Info-Box), die sich mit dem möglichst zweckmäßigen Design von Unternehmen befasst. Insofern es für Unternehmen um die Frage geht, wie Güter hergestellt und dann gewinnbringend verkauft werden (können), stellen sich mindestens so lange Fragen an die Psychologie, wie diese Güter durch Menschen hergestellt und von Menschen gekauft werden. Wirtschaftspsychologie, die sich auf diese Fragestellungen konzentriert, kann auch als »Business Psychology« oder Betriebspsychologie bezeichnet werden, und genau dieser Fokus ist das, was oft als primäres Aufgabengebiet von Wirtschaftspsychologie verstanden wird. Mittlerweile ist der Teil der Wirtschafts- oder Betriebspsychologie, der sich mit der Produktionsseite befasst, zur Arbeits- und Organisationspsychologie geworden, die alleine schon umfangreiche Lehrbücher füllt und in der vorliegenden Lehrbuchreihe ebenfalls eigens berücksichtigt wird (Nerdinger, Blickle & Schaper, in Druck). Das vorliegende Lehrbuch stellt zunächst die Konsumtionsseite in den Mittelpunkt (Sektion I), be-

Info-Box

Gestaltungswissenschaften und Artefakte Gestaltungswissenschaften befassen sich mit Artefakten (Simon, 2001). Ob dies nun Maschinen sind oderComputerprogramme,BrückenoderUnterrichtskonzepte, es sind Resultate von Designüberlegungen. Diese Artefakte existieren nicht außerhalb der Natur, sie müssen den Naturgesetzen gehorchen, zugleich aber werden sie an menschliche Ziele und Zwecke angepasst. Daher müssen alle, die Gestaltungswissenschaften betreiben, gute Kenntnisse der Natur haben, zugleich aber auch diese »nutzen«, um erwünschte Ziele zu erreichen. In eben diesem Sinne sind auch Unternehmen »Artefakte«. Seinen Zweck erfüllt ein Artefakt unter Berücksichtigung von Ziel, Eigenschaften des Artefakts und Umgebung, in der das Artefakt seine Leistung zu erbringen hat. Insofern Unternehmen solche Systeme sind, müssen »Designer« von Unternehmen, also Manager, menschliches Verhalten erklären können, und solange Unternehmen in einer Umgebung wirken, an die sie sich adaptieren müssen und in der Menschen eine bedeutsame Rolle spielen (als Kunden, als Öffentlichkeit, als Aktionäre etc.), müssen sie auch für das Verständnis ihrer Umwelt angemessene Annahmen über die menschliche Natur machen. Für jeden »Designer« eines Artefakts sind im Grunde »lästige« Randbedingungen zu beachten, insbesondere unvorhersagbare oder schwierig bewältigbare Herausforderungen in der Umwelt. Daher bestehen 2 verführerische Tendenzen: Die Umwelt zu einfach zu erklären oder sie gleich so mit zu verändern und zu vereinfachen, dass das Artefakt »passt«. An diesen Stellen ist es professionelle Aufgabe der Wirtschaftspsychologie, über die Natur des Menschen aufzuklären und im täglichen Handeln diese vielleicht sogar in Schutz zu nehmen.

trachtet also verschiedene Fragen des Konsumentenverhaltens. Den Menschen als Konsumenten zu betrachten, bedeutet v. a., zu fragen, wie es dazu kommt, dass er Güter kauft. Solche Güter sind für ihn nützlich, wobei wir von einem sehr allgemeinen Begriff von »Nutzen« ausgehen; in diesem Lehrbuch wird daher auch der Begriff der »Ressource« verwendet. Wer also beispielsweise eine Eintrittskarte für einen Kinobesuch erwirbt, ist

3 1.1 · Kaufen und Konsumieren: Erlangen von Ressourcen

ebenfalls Konsument, wobei offen bleibt, ob die Ressource nun deshalb wertvoll ist, weil man Spaß hat, etwas aus dem Film lernen kann, sich zerstreuen will oder einfach nur gerne das tut, was alle tun. 1.1

Kaufen und Konsumieren: Erlangen von Ressourcen

Über den Erfolg der Unternehmen entscheidet letztlich der Absatz, also die Bereitschaft der potenziellen Konsumenten, die Güter zu erwerben. Konsumenten stellen die Umgebung dar, auf die sich Unternehmen ganz besonders einzustellen haben. Die Markt- und Werbepsychologie (z. B. Moser, 2002) befasst sich mit der Frage, wie diese Umgebung genauer zu verstehen ist. Die Kapitel 2–10 des vorliegenden Lehrbuchs befassen sich mit einigen besonders bedeutsamen Fragestellungen, mit denen sich Unternehmen konfrontiert sehen. Die Beiträge der ersten Sektion des Lehrbuchs gehen von einer bestimmten Sichtweise auf Individuen aus, sie treten als Nachfrager von Gütern auf, die sie kaufen und konsumieren. Solche Güter haben einen bestimmten subjektiven Wert, sie stellen Ressourcen für das Individuum dar. Sektion I gibt Antworten auf die Frage, wie Menschen eigentlich dazu kommen, etwas für eine für sie wertvolle Ressource zu halten: Offensichtlich wirken Werbebotschaften auf sie ein (7 Kap. 2; »Werbewirkungsmodelle«). Nicht jede Werbebotschaft erreicht ihr Ziel, ein gängiges Bonmot unter Werbefachleuten besagt: »50% des Geldes, dass für Werbung ausgegeben wird, wird praktisch aus dem Fenster hinausgeworfen – man weiß nur nicht, welche 50% es sind.« Genauer zu verstehen, wie Werbung eigentlich wirkt, sollte also letztlich auch den ökonomischen Werbeerfolg vorherzusagen helfen. Kapitel 2 gibt einen Überblick über verschiedene Theorien, die sich teilweise ergänzen, teilweise aber auch darum konkurrieren, Werbewirkungsprozesse in ihrer Gesamtheit zu beschreiben und zu erklären. Ein wesentlicher Beitrag von Werbebotschaften ist es, Kaufentscheidungen von Konsumenten zu beeinflussen. Wie genau Kaufentscheidungen zustande kommen, ist daher ein besonders interessantes Anwendungsgebiet. 7 Kapitel 3 (»Kaufentscheidungen«) behandelt u. a. unterschiedliche Formen von Entscheidungen. Die Spannweite reicht von wenig reflektierten, fast automatisch ablaufenden Verhaltensweisen bis hin zu gründlich durchdachten, länger währenden Abwägungen zwischen

einer größeren Zahl von Alternativen. Eine zentrale Botschaft dieses Kapitels wird sein, dass es Konsumenten nicht nur darauf ankommt, möglichst »ökonomisch« zu entscheiden, sondern dass Ziele wie Anstrengungsvermeidung, das Vermeiden von negativen Emotionen (z. B. Enttäuschungen) oder die Rechtfertigbarkeit von Entscheidungen vor anderen und sich selbst eine mindestens ebenso große Rolle spielen. Das Wissen um solche Entscheidungsprozesse und Entscheidungskriterien ist für die Planung von Überzeugungstechniken wie Werbung oder Argumentationen im persönlichen Verkauf von zentraler Bedeutung. Wenn sich Konsumenten überzeugen (oder bestärken) lassen, dann durch vermeintlich oder tatsächlich gute Argumente (»logos«; 7 Kap. 4), Glaubwürdigkeit des Überbringers der Botschaft (»ethos«; 7 Kap. 5) oder Emotionalisierung (»pathos«; 7 Kap. 6). Damit wird in diesem Lehrbuch eine jahrtausendealte Unterscheidung aufgegriffen, die der griechische Philosoph Aristoteles eingeführt hat, um die verschiedenen Möglichkeiten der Persuasion zu verdeutlichen (Aristoteles, übers. 2002). Jeder Persuasionsversuch stellt auch eine Information dar, vermittelt zumindest gewisse »Evidenzen«. Werbebotschaften können die zahlreichen Vorteile eines Produkts beschreiben und auch über den Preis informieren. Damit solche Werbebotschaften Wirkung erzielen, sind allerdings gewisse Voraussetzungen erforderlich, die man vereinfacht als Fähigkeit und Motivation bezeichnen kann. Wenn Werbebotschaften verständlich sind, sollten sie also wirken. Wie aber 7 Kap. 4 weiter ausführt, gibt es eine ganze Reihe von Faktoren, die selbst qualitätsvolle Argumente wirkungslos lassen können. Solche motivationalen Faktoren bei den Rezipienten sind die geringe Bereitschaft, sich überhaupt mit Werbebotschaften auseinanderzusetzen, der Vorsatz, sich nicht manipulieren zu lassen, ein grundsätzliches Misstrauen Werbung gegenüber usw. Eine Gegenreaktion hierzu ist, alles zu unternehmen, um die Glaubwürdigkeit der Botschaft zu erhöhen. 7 Kapitel 5 (»Persuasion durch Glaubwürdigkeit«) erläutert, dass insbesondere wahrgenommene Kompetenz des Senders und seine Vertrauenswürdigkeit förderliche Faktoren sind. Alternativ hierzu, oder auch als Ergänzung, kommt die Emotionalisierung der Rezipienten in Frage. »Alternativ« deshalb, weil bei manchen Formen der Emotionalisierung die Glaubwürdigkeit der Werbebotschaft keine angemessene Kategorie mehr ist, beispielsweise wenn dramatisierende Werbespots eingesetzt werden. In anderen

1

4

1

Kapitel 1 · Einleitung

Fällen kann Emotionalisierung bedeuten, dass die Rezipienten durch Werbung aktiviert oder einfach unterhalten werden (z. B. durch Humor). 7 Kapitel 6 (»Persuasion durch Emotionalisierung«) erläutert die Möglichkeiten und Grenzen solcher Vorgehensweisen. Die Welt der Waren ist so vielfältig, dass wir uns ständig am Rande der Überforderung bewegen. Jedes Angebot zu überprüfen, führt rasch zu einer Informationsüberflutung. Die Ressource Information wird zur Last, sie überwältigt uns, beeinträchtigt unser Bedürfnis, unsere Umwelt zu verstehen, und kann zur Konfusion führen (7 Info-Box). Individuen wehren sich gegen Informationsüberflutung durch verschiedene Strategien, was wiederum Unternehmen zu Gegenstrategien veranlasst. Wenn und weil z. B. Werbespots wenig Aufmerksamkeit erfahren oder sogar gezielt weggezappt werden, überlegen sich Unternehmen alternative Kommunikationswege wie Sponsoring oder Public-Relations-Aktivitäten. Viel bedeutsamer aber ist es für Unternehmen, den Individuen sie »entlastende« Angebote zu machen. Genau hierauf gehen 7 Kap. 7 und 7 Kap. 8 ein. So wird in Kap. 7 erläutert, welche immense Rolle mittlerweile Marken spielen. Aus der Perspektive der zu vermeidenden Informationsüberflutung ermöglichen diese grob vereinfachende Kategorisierungen: Produktalternativen sind »sehr gut«, wenn sie einen bestimmten Markennamen haben. Bestimmte Markennamen stehen für Qualität, und neu einzuführende Produkte haben i. Allg. eine deutlich bessere Erfolgschance, wenn sie unter einem anerkannten Markennamen angeboten werden. Viele Konsumenten sind auch bereit, nur deshalb für ein Produkt einen höheren Preis zu bezahlen, weil es ein Markenprodukt ist. Informationsüberflutung und das aufwändige – und oft frustrierende – Abwägen von Alternativen können wir auch vermeiden, wenn wir bei einer einmal gewählten Alternative bleiben und markentreu sind. Dem Thema »Kundenbindung« wird daher ebenfalls ein eigenes Kapitel gewidmet (7 Kap. 8; »Kundenzufriedenheit und Kundenbindung«). Wie weiter erläutert werden wird, hat Kundenbindung verschiedene Ursachen. Die Zufriedenheit mit dem Produkt oder dem Unternehmen ist nur ein Faktor. Wie Kap. 8 im Einzelnen erläutert, haben die meisten Bedingungsfaktoren direkt oder indirekt etwas damit zu tun, dass sie Resultat einer Vereinfachungsstrategie sind. Etwas hierüber zu wissen, ist für fast jedes Unternehmen relevant, zumal treue Kunden um ein Vielfaches lukrativer sind als neu zu gewinnende Kunden.

Info-Box

Drei Ursachen der Informationsüberflutung Es kann mehrere Ursachen haben, sich von Informationen überflutet zu fühlen. Naheliegenderweise ist es zunächst einmal die bloße Zahl, z. B. von Werbeinformationen, die alltäglich auf uns einstürmt. Doch selbst wenn wir diese Informationsmenge abzuwehren lernen, können wir uns überflutet fühlen, und zwar weil wir ein Gefühl der Hilflosigkeit erleben. Beispielsweise würden einige gerne die als »Pop-ups« erscheinenden Werbungen auf ihrem Laptop unterdrücken, wissen aber nicht, wie sie das tun können. Eine dritte Ursache von Informationsüberflutung ist jene, die sich in Verwirrung ausdrückt, weil wir Informationen (z. B. Werbebotschaften) nicht zu interpretieren wissen, weil wir orientierungslos sind. Was nützt es beispielsweise schon, einen neuen Laptop »bedarfsgerecht« im Internet zusammenstellen zu können, wenn man schlicht und einfach keine Idee hat, wie man die zahlreichen Wahlmöglichkeiten eigentlich bewerten soll und ob sie überhaupt wichtig sind? So kommt es, dass »an sich« wertvolle Ressourcen, nämlich Informationen, zu einem Stressor werden können (Soucek & Moser, 2007), dass wir Informationsüberflutung erleben.

All das, was wir bis zu dieser Stelle betrachtet haben, kann auch als »Marketingpsychologie« bezeichnet werden. Instrumente zur »Marktbearbeitung« kommen nicht ohne Psychologie aus, wie 7 Kap. 9 an einer beeindruckenden Vielzahl von Einzelbeispielen illustriert. Der »Marketingmix« eines Unternehmens setzt sich aus 4 Bestandteilen zusammen, und bei den meisten davon ist es kaum vorstellbar, dass sie auf psychologische Überlegungen verzichten können: 4 Produktpolitik (z. B. Kreierung eines Markennamens oder Gestaltung von Produktverpackungen) 4 Preis- und Konditionenpolitik (z. B. Sonderangebote oder Rückgabegarantien) 4 Vertriebspolitik (z. B. die Formulierung von Werbebriefen) 4 Kommunikationspolitik (z. B. Krisenkommunikation im Rahmen der »Public Relations«) Auch wenn der wirksame Einsatz von Marketinginstrumenten auf Erfahrungswissen basieren kann, vermittelt

5 1.2 · Haushalten und Verbrauchen: Erhalten von Ressourcen

doch in vielen Fällen erst die systematische Gewinnung von Daten ein ausreichendes Verständnis für die psychologische Wirkung von Marketinginstrumenten. Die Wirkung von Maßnahmen ist oft nur dann abschätzbar, wenn man sich psychologischer Methoden der Marktforschung bedient (7 Kap. 10; »Methoden der psychologischen Marktforschung«). »Psychologisch« sind die vorgestellten Methoden der Marktforschung, wenn sie Erleben und Verhalten der Konsumenten analysieren. Im Mittelpunkt solcher Betrachtungen steht also weniger die Frage, welchen Verbreitungsgrad bereits bestimmte Güter haben oder wie die Kaufkraft der Konsumenten beschaffen ist. Die erste Sektion dieses Lehrbuchs wurde mit »Kaufen und Konsumieren: Erlangen von Ressourcen« überschrieben, um ein bestimmtes Verständnis von Gütern, aber auch eine bestimmte Sichtweise auf den Menschen zu verdeutlichen. Güter werden im Wettbewerb erworben, sie sind knapp. Man erhält Verfügungsgewalt und konsumiert sie. All dies trifft nun allerdings für viele der für Menschen wertvollen Ressourcen nicht oder nur teilweise zu. Beispielsweise gibt es Güter wie Gesundheit, Freiheit oder Arbeitsmarktfähigkeit, die man nicht einfach »kaufen« kann. Gleichwohl sind es Güter, die man pflegen kann, die sich gelegentlich auch »Schritt für Schritt« entwickeln, mit denen man eher haushaltend und allenfalls bedächtig verbrauchend umgehen sollte.

Wahrnehmung des Werts von Geld durchaus variabel, und teilweise sind Preise sogar Signale für Qualität und Nutzenversprechen eines Produkts (7 Info-Box). Dass Geld selbst eine zumindest vorübergehend erhaltenswerte Ressource ist, wird v. a. dann zu einem ökonomisch relevanten Thema, wenn Konsumentscheidungen aufgeschoben und das Geld »gespart« wird. Volkswirtschaftlich bedeutsam wird dies, wenn sich eine kollektive Konsumzurückhaltung negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirkt. Eine weitere zentrale Ressource, die sich der Vorstellung, man könne sie »kaufen«, weitgehend entzieht, ist die Gesundheit. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass man ihrer erst oft dann gewahr wird, wenn sie verloren zu gehen droht. Auch wenn man Gesundheit nicht kaufen kann, so ist sie keineswegs eine unbedeutende ökonomische Größe. Öffentliche und private Ausgaben in diesem Bereich haben in den Industrieländern einen beeindruckenden Umfang angenommen. Diesem zentralen menschlichen Gut wird daher in diesem Lehrbuch ein eigenes Kapitel gewidmet. Wenn Produkte und Dienstleistungen um das Thema »Gesundheit« angeboten werden, dann geht es primär darum, negative Zustände zu vermeiden oder in einem möglichst großen Umfang zu beseitigen (z. B. Rauchen, Übergewicht,

Haushalten und Verbrauchen: Erhalten von Ressourcen

Festliche Zusammenkünfte waren wohl ursprünglich der Gastfreundschaft gewidmet oder trugen religiösen Charakter; diese Motive finden sich auch in der späteren Entwicklung, doch sind sie nicht mehr allein entscheidend. Die Feste der Vornehmen mögen zwar nebenbei einem religiösen Anliegen oder, weit öfters, dem Bedürfnis nach Erholung und geselligem Zusammensein dienen, doch gleichzeitig verfolgen sie auch einen neidvollen Zweck; und dieser Zweck wird nun keineswegs schlechter erfüllt, auch wenn er nicht offen zutage tritt, sondern ihm der Mantel der Frömmigkeit oder Geselligkeit umgehängt wird. Der wirtschaftliche Effekt, den man erzielen will, das heißt der stellvertretende Konsum und der kostspielige Aufwand an komplizierter Etikette, leidet nämlich dadurch in keiner Weise. (Veblen, 1997, S. 85f.)

1.2

So bedeutsam es auf den ersten Blick zu sein scheint, dass wir Güter erwerben: Vieles von dem, was wir im Alltag tun, benötigen und wertschätzen, dient dem Erhalten von Ressourcen. In vorliegendem Lehrbuch geht es nicht nur darum, wie Menschen Ressourcen erlangen (z. B. durch Kauf), sondern auch darum, wie sie diese erhalten. Zunächst einmal ist daran zu denken, dass Individuen für die von ihnen nachgefragten Güter Gegenleistungen zu erbringen haben, üblicherweise wird dies Geld sein. Diese Ressource ist aus verschiedenen Gründen Gegenstand wirtschaftspsychologischer Betrachtungen; die sog. »Finanzpsychologie« wird in 7 Kap. 11 definiert als »Wissenschaft vom Erleben und Verhalten von Menschen im Umgang mit Geld oder liquiditätsnah investierten bzw. aufgenommenen Mitteln«. So ist die

Info-Box

Demonstrativer Konsum – Über den besonderen »Nutzen« kostspieliger Aktivitäten

1

6

1

Kapitel 1 · Einleitung

mangelnde Bewegung oder ein körperliches Gebrechen). Entsprechend spielen Vermeidungsthemen eine große Rolle. Dies drückt sich u. a. darin aus, dass in entsprechenden Werbebotschaften oft Furchtappelle eingesetzt werden. In 7 Kap. 12 wird für ein positives Konzept von Gesundheit geworben, was sie in die Nähe der Idee von »Lebensqualität« rückt. Hier wird eine zentrale Frage angesprochen, nämlich diejenige nach dem »guten Leben«. Interessant ist, dass die Autoren des Kapitels nicht nur die Verantwortung des Individuums betonen und dafür plädieren, diese zu stärken, sondern dass sie auch die Unternehmen in die Pflicht nehmen wollen. Die Frage nach einem angemessenen Gesundheitsbegriff führt uns zu den zentralen Lebenszielen, zum Wert, der verschiedenen Lebensbereichen zugemessen wird, und damit zur »Work-Life-Balance«. Erneut stellt sich die Frage nach der »eigentlichen« menschlichen Natur, auf die dann auch Unternehmen Rücksicht zu nehmen haben. Sind die wirtschaftlichen »Artefakte«, die Gegenstand der entsprechenden Gestaltungswissenschaften sind, der menschlichen Natur angepasst (7 Info-Box zu Beginn des Kapitels)? Oder sind sie so gestaltet, dass wesentliche Voraussetzungen für ein »gutes Leben« nicht mehr gegeben sind? Diese Frage wird sehr prinzipiell bereits in Kap. 12 gestellt, wenn gefragt wird, ob bestimmte Merkmale der Arbeitswelt die Gesundheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beeinträchtigen. Sie wird in den nachfolgenden Kapiteln mehrfach wiederholt, wenn die Vereinbarkeit von Arbeit einerseits, Freizeit und Familie andererseits thematisiert wird. Kann es sein, dass die Bemühungen um den Erhalt (und die Vermehrung) einer Ressource, nämlich Einkommen aus Erwerbsarbeit zu erzielen, zu einer Verformung der menschlichen Natur führen? In 7 Kap. 13 (»Work-LifeBalance«) wird zumindest ein entsprechendes Spannungsverhältnis gesehen, und es werden verschiedene Vorschläge unterbreitet, wie eine bessere Vereinbarung oder Ausbalancierung möglich ist. Offensichtlich hat sich die Metapher der »Ausbalancierung« eingebürgert, weil es hier um die Abstimmung verschiedener erhaltenswerter, wertvoller Ressourcen handelt. Warum die Balance so schwer zu finden ist, ist auch auf die rapiden Veränderungen in der Arbeitswelt zurückzuführen. So fragt auch 7 Kap. 14 (»Berufswahl und berufliche Entwicklung angesichts des Wandels der Arbeit«) im Grunde danach, wie sich das Wechselspiel von ökonomischen Bedingungen und Möglichkeiten eines guten Lebens wohl

entwickeln wird. Hier wird stärker betont, dass sich die Individuen in ihrer Lebensgestaltung den Erfordernissen des ökonomischen Wandels anzupassen hätten. In den 3 »normativen Leitkonzepten« der zukünftigen Arbeitswelt kommt der Frage, ob es sich dabei denn um ein gutes Leben handelt, allerdings nur wenig Gewicht zu. Im Zentrum steht vielmehr die Rolle von Eigenverantwortung, vielleicht aber auch die schwindende Bedeutung von Commitment zum Arbeitgeber (Galais & Moser, 2007). Kapitel 13 und 14 behandeln das Thema »Erwerbsarbeit« also zentral. Gewiss dient sie dazu, eine erste wichtige Ressource zu erhalten und zu mehren, nämlich die finanzielle Ausstattung des Individuums. Dies legt nahe, in Erwerbsarbeit allenfalls ein »notwendiges Übel« zu sehen. Es sind aber keineswegs nur einige wenige »Arbeitssüchtige«, die in der Arbeit – und damit natürlich auch in der Beschäftigungsfähigkeit – mehr sehen. Nicht nur in dieser Hinsicht ist es aufschlussreich, sich mit den psychosozialen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit zu befassen. Die Forschung zu den Auswirkungen von Arbeitslosigkeit (7 Kap. 15) verdeutlicht u. a. den hohen Stellenwert des Arbeitens (in Erwerbsarbeit) anhand der Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die seelische Gesundheit. Erwerbsarbeit hat über die Chance, ein Auskommen zu erzielen, hinaus auch andere wichtige Funktionen für den arbeitenden Menschen, wie z. B. das Erleben von Anerkennung, die Definition einer Identität oder die Möglichkeit, etwas für andere Menschen Nützliches zu tun. 1.3

Bürger sein: Bewerten und Gestalten von Ressourcen

Die Ausführungen in dieser Einleitung haben mit der Annahme begonnen, dass wirtschaftliche Gestaltungsfragen solche Designfragen sind, die auf die Umgebung der Artefakte Rücksicht zu nehmen haben. Zur »Umgebung« von Unternehmen zählen Verbraucher, andere Unternehmen (als Abnehmer, aber auch Konkurrenten), aber z. B. auch die natürliche Umwelt, sei es als Rohstofflieferant oder auch schlicht als Lebensgrundlage. Welche Konsequenzen sich hieraus ergeben, wird in Sektion III dieses Lehrbuchs behandelt. 7 Kapitel 16 (»Wirtschaftliche Leitbilder und Einstellungen«) setzt sich mit der Umgebung der »Märkte« auseinander, auf denen Individuen und Unternehmen agieren. Insbesondere wird sehr

7 1 · Literatur

gründlich untersucht, ob Individuen und Unternehmen verantwortungsvoll mit ihrer Umgebung umgehen. So wie Individuen nicht nur frei verfügbare Ressourcen (Güter, Dienstleistungen, Nutzungsrechte) erwerben, sondern sich auch um Ressourcenerhaltung zu kümmern haben, so ist dies auch für Unternehmen eine zentrale Herausforderung. Erwerb und Aufrechterhaltung von Ressourcen erfordern aber Aufwand bzw. stellen Kosten dar. Wie Kap. 16 erläutert, neigen viele Unternehmen dazu, diese Kosten zu »externalisieren«. Beispielsweise überlassen sie die Ausbildung zukünftiger Mitarbeiter gerne der Allgemeinheit oder wälzen die Kosten von Umstrukturierungen (z. B. Freisetzen von Mitarbeitern) auf Sozialversicherungssysteme ab. Sollte man sich damit abfinden? Oder gibt es nicht grundlegende Ressourcen, die so viel Verantwortungssinn erfordern, dass sie nicht weiterhin dem sog. freien Spiel der Kräfte in Märkten überlassen werden können? Abermals ist nunmehr danach zu fragen, auf welche Art von »gutem Leben« das Agieren von Unternehmen und Individuen ausgerichtet sein sollte. Die momentane Ressourcenausstattung zu optimieren, kann kein angemessenes Leitbild sein. Sie kann es jedenfalls dann nicht sein, wenn wir das Gebot der Nachhaltigkeit respektieren. Unternehmerisches wie individuelles Handeln kann ansonsten langfristig gar nicht erfolgreich sein. Für beide Seiten bedeutet dies, in ihrem Agieren Maximen des guten Lebens zu bedenken. Worin diese bestehen könnten, wird in Sektion III exemplarisch beantwortet. In 7 Kap. 17 wird dies am Ideal des Bürgersinns (Citizenship) erörtert. Ein »gutes Leben« geht über das Prinzip »Nimm und halte fest« hinaus. Sorge um das Gemeinwesen, um die natürliche Umwelt, um kollektive Güter ist unabdingbar, auch wenn wir bisher nur wenig darüber wissen, warum dies noch zu oft so gering geschätzt wird (in Kap. 16 werden einige Vermutungen hierüber angestellt). Tatsächlich scheint es eben auch zur menschlichen Natur zu gehören, verbunden zu sein und zu geben, Zugehörigkeit empfinden zu können (Baumeister & Leary, 1995) und generativ zu sein (Kap. 17). Insbesondere ist kontraproduktives Verhalten keine Naturnotwendigkeit, vielmehr ein zu erklärendes und auch zu beeinflussendes Phänomen (7 Kap. 18; »Kontraproduktivität«). Öffentliche Güter in ihrer Wertigkeit anzuerkennen, ist zwar keine Selbstverständlichkeit, und sie gering zu schätzen, zu missbrauchen oder sogar für überflüssig zu erklären, ist keine Seltenheit. Andererseits ist es aber auch nicht wider die menschliche Natur wäh-

len zu gehen, Steuern zu bezahlen oder seinen Mitbürgern zu helfen. Verantwortliches Handeln als Bürger setzt persönliche Freiheit voraus, und dies ist am besten durch ökonomische Unabhängigkeit, also Selbstständigkeit, gewährleistet. Daher ist es nur konsequent, wenn dieses Lehrbuch auch ein Kapitel zur beruflichen Selbstständigkeit enthält (7 Kap. 19). Gewiss soll diese nicht romantisiert werden, nicht jeder ist ob der hierfür erforderlichen Talente geeignet. Die Antwort auf die Frage, ob sich hieraus für jene, die eben solche – oder auch andere – besonderen Talente haben, eine besondere Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft ergibt, sollte freilich nicht in einem Lehrbuch der Wirtschaftspsychologie gesucht werden. Das vorliegende Lehrbuch wird mit einem Epilog abgeschlossen. Es werden dort Themen angesprochen, mit denen es sich informierter auseinandersetzen lässt, wenn man bereits einen Eindruck davon hat, welche Leistungsfähigkeit die Wirtschaftspsychologie, wie sie in diesem Lehrbuch und für dieses Lehrbuch definiert wurde, im Einzelnen hat. Ethische Fragen sollen dort ebenso diskutiert werden wie Menschenbilder. Im Zusammenhang mit den ethischen Fragestellungen wird abermals Wert darauf gelegt, die jeweiligen Herausforderungen nicht nur aus der Perspektive der typischen Anwender von wirtschaftspsychologischen Theorien, Methoden und Erkenntnissen zu diskutieren, nämlich Wirtschaftsunternehmen, sondern auch nach der Verantwortung der Wirtschaftspsychologie als Wissenschaft und – last but not least – der Verantwortung des Einzelnen als Konsument, Verbraucher und Bürger zu fragen.

Literatur Baumeister, R. F. & Leary, M. R. (1995). The need to belong: Desire for interpersonal attachments as a fundamental human motivation. Psychological Bulletin, 117, 497–529. Galais, N. & Moser, K. (2007). Commitment, reassignment and well-being in temporary agency workers: A longitudinal study (manuscript submitted for publication). Universität Erlangen-Nürnberg. Moser, K. (2002). Markt- und Werbepsychologie. Göttingen: Hogrefe. Nerdinger, F., Blickle, G. & Schaper, N. (in Druck). Lehrbuch Arbeits- und Organisationspsychologie. Heidelberg: Springer. Soucek, R. & Moser, K. (2007). Information overload due to email communication: Development and evaluation of a training (manuscript submitted for publication). Universität Erlangen-Nürnberg. Simon, H. A. (2001). The sciences of the artificial (3rd ed.). Cambridge, Mass: MIT Press. Veblen, T. (1899, 1997) Theorie der feinen Leute. Frankfurt a.M.: Fischer.

1

I

I Kaufen und Konsumieren: Erlangen von Ressourcen 2

Werbewirkungsmodelle – 11

3

Kaufentscheidungen – 31

4

Überzeugen durch Argumente

5

Persuasion durch Glaubwürdigkeit

6

Emotionale Werbung

7

Markenmanagement – 107

8

Kundenzufriedenheit und Kundenbindung

9

Marketinginstrumente – psychologisch betrachtet – 147

10

– 53 – 69

– 85

– 127

Methoden der psychologischen Marktforschung

– 171

2 2 Werbewirkungsmodelle Klaus Moser

2.1

Stufenmodelle der Werbewirkung – 12

2.2

Hierarchie-von-Effekten-Modelle – 16

2.3

Zwei-Prozess-Modelle

2.4

Das duale Vermittlungsmodell

– 23

2.5

Das Rossiter-und-Percy-Modell

– 24

2.6

Funktionen von Werbewirkungsmodellen – 27 Literatur

– 18

– 28

K. Moser (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie DOI 10.1007/978-3-540-71637-2_2, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007

12

2

Kapitel 2 · Werbewirkungsmodelle

> Es gibt Aha-Effekte, die sind irrelevant. Irrelevant für den Kauf eines Produktes. Das ist z. B. der Fall, wenn man bei einem Spülmittel das Design der Verpackung kommuniziert, indem man eine phantastische, kreative Kampagne entwirft, die sagt: »In diesem Wahnsinns-Behälter ist dein Spülmittel.« Nun ist das aber den Leuten egal, denn die wollen vor allen Dingen Bequemlichkeit.Wenn dann eine andere Kampagne auf die stupideste Oberlehrer-Art sagt: »Dank Extrawaschkraft, kein Abtrocknen mehr und mehr Zeit für dich!«, so hat sie mehr Erfolg. Diejenige Werbung, die den relevanten Punkt kommuniziert, wird dabei immer gewinnen. Man muss also zuerst ermitteln, was den Leuten am wichtigsten ist und wo die Chancen der eigenen Marke in diesem Wirkungsfeld liegen, anstatt mit einer phantastischen Kampagne verführerisch einen irrelevanten Punkt zu kommunizieren. Davor muss man seine Kunden bewahren. Die erfolgreichste Kampagne ist die, die den relevanten Punkt herausragend kreativ vermittelt. (Sebastian Turner, Vorstandschef des Art Directors Club; zitiert nach Mattenklott & Schimansky, 2002, S. 175) 7 Werbewirkungsmodelle befassen sich mit der Frage, wie und unter welchen Bedingungen Werbung ihr eigentliches Werbeziel erreicht. Werbung ist ein Reiz, der zu einer durch den Werbetreibenden erwünschten Reaktion führt, so die Annahme. Doch warum bleibt diese Reaktion oft aus? Warum, um ein gerne angeführtes Bonmot zu zitieren, ist die Hälfte der Werbung pure Verschwendung – man weiß nur nicht welche? Um hierauf eine Antwort geben zu können, ist ein tieferes Verständnis dafür erforderlich, wie Werbung eigentlich wirkt. Was also genau ist mit Werbewirkung gemeint? Und unter welchen Bedingungen ist eine bestimmte Werbung wirksam? Zur Beantwortung dieser Fragen betrachten wir verschiedene Werbewirkungsmodelle. Alle diese Modelle machen Aussagen darüber, wie und warum Werbebotschaften die Beworbenen erreichen – oder eben nicht erreichen. Die einfachsten Vorstellungen gehen davon aus, dass die Werbung nur geschickt genug gemacht sein muss, der Rest geschieht dann »wie von selbst«. Solche Reiz-Reaktions-Modelle stellen den Ausgangspunkt der nachfolgenden Ausführungen dar. Wie wir allerdings sehen werden, findet zwischen Reiz und Reaktion allerhand statt. Was dies genau ist, ist der Kerngegenstand aller Werbewirkungsmodelle. Aus diesen Modellen lassen sich jeweils interessante und aufschlussreiche Gestaltungsempfehlungen ableiten, sie

haben aber auch Integrationskraft, die vielfältigen Befunde zur Wirkung einzelner Gestaltungselemente zu bündeln. Die Darstellung verschiedener Modelle zur Werbewirkung wird zudem Ideen davon vermitteln, auf welchen Ebenen und mit welchen Methoden Werbewirkung vorhergesagt und evaluiert werden kann. 2.1

Stufenmodelle der Werbewirkung

Werbung kann als Reiz oder »Stimulus« beschrieben werden, mit dem eine bestimmte Reaktion bei den Beworbenen ausgelöst werden soll, beispielsweise ein Produkt zu kaufen, es auszuprobieren, es öfter zu nutzen oder es auch positiv zu beurteilen. Die verschiedenen Stufen der Werbewirkung sind in einem solchen Fall leicht »abzählbar«: Es gibt genau eine, nämlich die auf den Reiz folgende Reaktion. Tatsächlich scheint es solch einfache Werbewirkungsmodelle zu geben. Beginnen wir unsere Ausführungen mit 2 populären Annahmen über die Wirkungsweise von Werbung, die mit den Begriffen »Klassisches Konditionieren« und »unterschwellige Beeinflussung« verbunden sind. Die Grundlagen des klassischen Konditionierens wurden von Pawlow (1927) untersucht. Andere Bezeichnungen für klassisches Konditionieren sind »Konditionierung als Übertragung von Reflexen« und »emotionale Konditionierung«. Beruht Werbewirkung auf klassischer Konditionierung? Das klingt gleichermaßen attraktiv und bedrohlich: Sind Reaktionen auf Werbungen unwillkürliche Reflexe? Betrachten wir hierzu eine oft zitierte Beispieluntersuchung (7 Info-Box). Kann Werbewirkung dadurch ausgelöst werden, dass man sich Automatismen bedient, die dann unwillkürlich erwünschte Reflexe hervorrufen? Was wir bis heute wissen, spricht eher nicht dafür. Zunächst einmal gibt es technische Probleme. Die Wirksamkeit von klassischer Konditionierung wird durch folgende 4 Faktoren beschränkt (Engel et al., 1995): 1. Im Falle gleichzeitigen Auftretens von mehreren konditionierten Reizen kann eine Überschattung auftreten. 2. Erfahrungen mit dem unkonditionierten Stimulus (US) sind hinderlich (z. B. können bekannte Lieder oft nicht so effektiv verwendet werden wie neu geschaffene Musikstücke). 3. Erfahrungen mit dem konditionierten Stimulus (CS) sind bedeutsam, da Konditionierungsprinzipien für

13 2.1 · Stufenmodelle der Werbewirkung

Info-Box

Klassische Konditionierung in der Werbung? Gorn (1982) zeigte in einem Experiment Versuchspersonen Anzeigen für einen Füller, wobei gleichzeitig entweder Popmusik oder klassische indische Musik lief. Im Anschluss daran konnten die Versuchspersonen wählen, ob sie lieber einen Füller wie in der Werbung wollten oder lieber einen anderen Füller. Während die Versuchspersonen, die die Popmusik hörten, eher den Füller wählten, für den geworben worden war, verhielt sich die andere Gruppe gerade umgekehrt. Nach Gorn wirkte die Popmusik also als unkonditionierter positiver Stimulus, der mit dem beworbenen Produkt assoziiert wurde. Die andere, als unangenehm empfundene Musik wirkte hingegen als negativer unkonditionierter Stimulus (vgl. weiterführend Kellaris & Cox, 1989).

die Vermittlung von neuen Verhaltensweisen bei neuen Produkten wirksamer sind als bei bereits existierenden Produkten. 4. Schließlich können konditionierter und unkonditionierter Reiz als nicht zueinander passend erlebt werden. Darüber hinaus handelt es sich beim klassischen Konditionieren keineswegs um einen Prozess, der gedankenlos abläuft. Vielmehr geht die moderne Forschung im Bereich des klassischen Konditionierens davon aus, dass Beziehungen zwischen Reizen in der eigenen Umgebung gelernt werden. Genauer gesagt wird eine Kontingenzbeziehung zwischen CS und US gelernt. Der CS gibt Informationen über den US und signalisiert, dass dieser demnächst erscheinen wird (vgl. Janiszewski & Warlop, 1993). Dies bedeutet dann, dass die Kontingenz von US und CS bewusst ist (Shimp, Stuart & Engle, 1991). Und schließlich ist es nicht nur die bloße Kontiguität von CS und US, welche die Reaktion von einem Stimulus zum anderen überträgt. Welche Kombination von CS und US zu einem Konditionierungsprozess führt, ist also jeweils neu zu überprüfen. Zudem gibt es auch keinen Grund für die Annahme, dass die Reaktion, die konditioniert wird, ähnlich der Reaktion ist, die von dem US ausgelöst wird (Allen & Shimp, 1990). Für den Bereich der Werbung wäre dies ja auch seltsam; positive Reaktionen auf beliebte Musik mögen z. B. in Mitsummen oder Mitsin-

gen bestehen, was nun gewiss nicht die Reaktion ist, die von einer Werbung für einen Füller erwartet wird. Somit stellt sich die Frage, was denn nun tatsächlich konditioniert wird. Tatsächlich spricht einiges dafür, dass es nicht etwa eine offene Verhaltensänderung ist, sondern vor allem und in erster Linie eine »bewertende Reaktion«. Klassische Konditionierung wäre dann einfach ein Mechanismus zur Formung von Einstellungen. Besteht nun aber ein alternativer Weg, mit Werbung unwillkürliche (erwünschte) Reaktionen bei den Beworbenen auszulösen, ohne dass sich Zwischenstufen »einschleichen« können? Dass sich Konsumenten am besten gar nicht gegen die Wirkung von Werbung wehren können, beflügelt die Fantasie von Werbetreibenden und Werbekritikern gleichermaßen. Und daher klingt die Diskussion darum, ob und inwieweit Rezipienten durch unterschwellige Werbung beeinflusst werden können, seit mindestens Mitte des 20. Jh. nicht ab. Mit »unterschwellig« bzw. »subliminal« ist gemeint, dass Reize zwar nicht bewusst wahrgenommen werden, aber dennoch wirksam sind. Die klassische »Studie« stammt von Vicary (1957) (7 Info-Box). In der Zeit nach der Entdeckung der sog. unterschwelligen Werbung ist eine ganze Reihe von Phänomenen untersucht und diskutiert worden. Das Interesse hieran ist sehr unterschiedlich motiviert, wobei die einen sich den jeweiligen Effekt erhoffen, den andere eher befürchten. Beispielsweise geht mit der Vorstellung einer unterschwelligen Wirkung die Überlegung einher, die Betroffenen würden nicht bemerken, dass sie beeinflusst werden, und sich daher auch nicht dagegen wehren. Diese Annahme scheint zu implizieren, dass der Beeinflussungsversuch weniger wirksam ist, wenn er bemerkt wird, eine Annahme, die auffälligerweise kaum überprüft wird. Eine andere Auffassung lautet, dass es sich um automatisch ablaufende Prozesse handelt, die nicht der Kontrolle der Rezipienten unterliegen. Damit müsste man sich auch keine Sorgen darüber machen, was die Betreffenden über die Botschaft denken. Unglücklicherweise wird kaum genauer untersucht, ob dies nicht eine sehr voreilige Schlussfolgerung ist, wie es auch eine voreilige Schlussfolgerung zu sein scheint, dass es nur relativ einfache kognitive Prozesse sind, die solchen Automatismen unterliegen (vgl. Bargh & Ferguson, 2000). Eine dritte Sicht besteht darin, dass unterschwellige Wirkung dafür steht, dass den Rezipienten nicht klar ist, woran es liegt, dass sich etwas bei ihnen verändert bzw. eingestellt hat, was dazu führt, dass Platz für fehlerhafte Erklärungen entsteht. Typisches Bei-

2

14

Kapitel 2 · Werbewirkungsmodelle

Info-Box

Die klassische »Studie« zu unterschwelliger Werbung

2

Vicary (1957) behauptete, die folgende schon legendäre Untersuchung durchgeführt zu haben: Auf einer Filmleinwand in einem Kino wurden während Filmvorführungen mit einer Projektionsdauer von 1/3000 s Alle 5 s die Worte »DRINK COKE« und »EAT POPCORN« projiziert. Über 45.000 Menschen sollen innerhalb von 6 Wochen an diesem Experiment teilgenommen haben, und der Coca-Cola-Umsatzanstieg soll 57,7%, der von Popcorn 18,1% betragen haben. In der Folgezeit gab es nicht nur öffentliche Kontroversen um die Akzeptabilität dieser Vorgehensweise, sondern auch Hunderte von Nachfolgeuntersuchungen. Die hieraus entstandenen Probleme sollen hier nicht im Detail diskutiert werden (vgl. hierzu Brand, 1978). Spätestens seit Ende der 70er Jahre wird in akademischen Kreisen die Wirksamkeit subliminaler Darbietung von Stimuli bezweifelt; insbesondere der Effekt auf der Ebene offenen Verhaltens ist so gut wie null (Trappey, 1996). So spricht einiges dafür, dass die klassische Untersuchung möglicherweise erfunden worden ist; selbst die »harten Daten« wie z. B. die zitierten Umsatzzahlen werden widersprüchlich berichtet (Brand, 1978). Des Weiteren wurde nicht genau bedacht, was »unterschwellig« denn nun wirklich bedeutet. Schließlich lassen sich die wenigen positiven Belege für die Wirksamkeit subliminaler Werbung allenfalls soweit interpretieren, dass nur sehr unspezifische Effekte erzielbar sind (z. B. Wecken von Hungergefühlen, nicht aber von Bedürfnissen nach einer bestimmten Popcornmarke). So führte der Stimulus »beef« in einem Experiment von Byrne (1959) dazu, dass die Experimentalgruppe im Vergleich zu einer Kontrollgruppe angab, hungriger zu sein.

spiel ist etwa die positive Bewertung einer Marke, die man zuvor schon einmal gesehen hat, ohne sich aber daran erinnern zu können, weshalb das erlebte angenehme Bekanntheitsgefühl (fälschlicherweise) als positive Bewertung der Marke interpretiert wird (vgl. z. B. Janiszewski & Warlop, 1993; Shapiro, 1999). Wie wir nunmehr gesehen haben, wirkt Werbung keineswegs so plump, und ohne ein Verständnis für be-

stimmte psychologische Mechanismen, Prozesse und Gesetzmäßigkeiten wird man kaum auch nur annäherungsweise vorhersagen können, wie Werbung wirkt. Tatsächlich wird heutzutage kaum jemand noch behaupten, dass Werbung unmittelbar und unvermittelt ihre intendierte Wirkung erreicht und z. B. den Kauf eines Produktes veranlasst. Vielmehr wird gemeinhin erwartet, dass es verschiedene Variablen gibt, die zwischen der Präsentation einer Werbung und dem Kauf des beworbenen Produkts vermitteln. Ein Modell, das bereits zum Ende des 19. Jh. bekannt wurde, macht solche Annahmen: das AIDA-Modell der Werbewirkung. Es unterscheidet 4 Stufen der Werbewirkung: 4 Attention (Aufmerksamkeit), 4 Interest (Interesse), 4 Desire (Drang) und 4 Action (Aktion). Dies ist ein bis heute populäres Werbewirkungsmodell – kaum ein Taschenbüchlein über »Marketingtricks« oder »Verkaufen leicht gemacht« kommt ohne die Darstellung dieses Modells aus. Aber warum ist es so populär? Erstens ist das AIDA-Modell als Beschreibung des Ablaufs von Werbewirkung zu verstehen. Danach kann Werbung zunächst Aufmerksamkeit wecken, dann Interesse erzeugen, im Anschluss Motive (»Drang«) ansprechen und schließlich zur Aktion (zum Kauf) bewegen. Das Modell macht also eine Aussage über den Prozess der Werbewirkung: Aufmerksamkeit ist Voraussetzung für Interesse usw., es gibt also einen geordneten Ablauf der Werbewirkung. Zweitens legt es Empfehlungen nahe, wie Werbung gestaltet werden sollte: Um wirklich wirksam zu sein, sollte Werbung die 4 Ebenen ansprechen. Und drittens begründet es die Verwendung bestimmter Methoden zur Ermittlung der Werbewirkung. So lassen sich z. B. die Aufmerksamkeit anhand von Blickbewegungsprotokollen oder die angesprochenen Motive durch lautes Denken und projektive Testmethoden erfassen (7 Kap. 10). Seit nunmehr über 100 Jahren gibt es solche Werbewirkungsmodelle, die verschiedene Wirkungsebenen postulieren, die (angeblich) nacheinander angesprochen oder durchlaufen werden, um schließlich das Werbeziel zu erreichen. Ein weiteres, klassisches Beispiel ist das 6-Stufen-Modell von Lavidge und Steiner (1961). Das Modell geht davon aus, dass Werbewirkung aus insgesamt 6 Stufen resultiert:

15 2.1 · Stufenmodelle der Werbewirkung

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Aufmerksamkeit, Wissen, Sympathie, Präferenz, Überzeugung und Kauf.

Hier wird ebenfalls davon ausgegangen, dass jede vorherige Stufe Bedingung dafür ist, die nachfolgende Stufe zu erreichen. In dem Modell von McGuire (1985) wird noch weiter differenziert. Da es zudem nicht nur auf Werbung, sondern auf viele andere Kontexte des Überzeugens durch Kommunikation anwendbar ist, wird bei seiner Benennung die Formulierung »persuasive Kommunikation« verwendet. Bemerkenswert ist der Differenzierungsgrad des Modells (7 Übersicht). So wird deutlich, dass Werbewirkung nur dann entstehen kann, wenn sich die Beworbenen überhaupt der Werbung aussetzen, also z. B. die entsprechende Zeitschrift kaufen, den Fernsehkanal einschalten oder die Webpage aufrufen. Entsprechend wird bei der Untersuchung von Werbewirkung nach Leserschaft, Einschaltquoten oder Ad-Click-Raten gefragt. Das Modell von McGuire macht ebenso deutlich, dass nicht der (einmalige) Kauf das Ziel von Werbung ist bzw. sein muss, sondern dass im Idealfall eine Stabilisierung (»Konsolidierung«) des Verhaltens z. B. in Form von Markentreue oder möglichst häufiger Verwendung des Produkts (Wansink & Ray, 1996) erfolgt.

Verschiedene Ebenen der Wirksamkeit einer persuasiven Kommunikation (McGuire, 1985, S. 259) 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4

Sich einer Kommunikation aussetzen Aufmerksamkeit Interesse Den Inhalt verstehen Verknüpfte Kognitionen (Gedanken) generieren Relevante Fertigkeiten erwerben Einer Position zustimmen (Einstellungsänderung) Die Veränderung im Gedächtnis speichern Das relevante Material im Gedächtnis speichern Auf der Grundlage des erinnerten Materials entscheiden 4 Entsprechend der Entscheidung handeln 4 Konsolidierung des neuen (Verhaltens-)Musters nach der Handlung

Mit dem in der 7 Übersicht vorgestellten Modell nimmt McGuire eine Erweiterung früherer Vorstellungen vor, die noch ausdrücklicher von einem Informationsverarbeitungsparadigma ausgegangen sind. Dieses lässt sich auf die einfache Formel eines Zweifaktorenmodells reduzieren, wonach eine Werbebotschaft zunächst rezipiert und dann gegebenenfalls akzeptiert wird. Der Erfolg eines Versuchs, eine Einstellung zu ändern, hängt also davon ab, ob die Beworbenen die Botschaft verstehen und diese dann akzeptieren. Mit diesem Zweifaktorenmodell lässt sich insbesondere der kurvilineare Zusammenhang zwischen Selbstvertrauen und Einstellungsänderung erklären: Personen mit geringem Selbstvertrauen haben Schwierigkeiten mit dem, was ihnen gesagt wird, während Personen mit hohem Selbstvertrauen sich gegen Beeinflussungsversuche wehren, weil sie z. B. allzu sehr von ihrer eigenen Meinung überzeugt sind (vgl. Rhodes & Wood, 1992). Allerdings lässt sich die Annahme kritisieren, dass die Rezeption notwendige Voraussetzung für die Akzeptanz ist. Nach dem Modell der kognitiven Reaktionen (Greenwald, 1989) wird die Wirkung persuasiver Kommunikation durch die kognitiven Reaktionen der beworbenen Personen vermittelt, d. h. je nach deren Qualität fällt die resultierende Einstellung unterschiedlich aus. Oder anders formuliert: Einstellungsänderung ist weniger das Resultat des Lernens einer Botschaft, sondern der Gedanken, die durch die Botschaft hervorgerufen werden (Haugtvedt & Priester, 1997). Zu einer Kritik an dem Zweifaktorenmodell wird dieser Ansatz nun wie folgt: Wenn es zutrifft, dass die kognitiven Reaktionen als vermittelnde Variable wirken, dann müsste sich zeigen lassen, dass deren Qualität selbst dann zu einer stärkeren Einstellungsänderung führt, wenn sie aus einem geringen Verständnis der Werbebotschaft resultieren. Ein kritischer Test hierzu besteht nun in folgendem Ansatz: Wenn erst das Verständnis einer bestimmten Werbebotschaft dazu führt, dass Gegenargumente generiert werden, dann müsste ein begrenztes Verständnis solch einer Werbebotschaft für den Einstellungsänderungsversuch förderlich sein. Mit der Überprüfung dieser Annahme beschäftigt sich die Forschung zur Wirkung von Ablenkungen bzw. Störungen. Petty und Brock (1981) nennen allerdings folgende 5 Bedingungen für die Unterstützung einer persuasiven Kommunikation durch Störungen: 1. Die persuasive Kommunikation widerspricht der ursprünglichen Einstellung. 2. Der Rezipient ist in das Thema involviert.

2

16

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Kapitel 2 · Werbewirkungsmodelle

3. Die persuasive Kommunikation provoziert Gegenargumente. 4. Die primäre Aufmerksamkeit ist auf die Nachricht (und nicht auf die Störung) gerichtet. 5. Die Quelle besitzt hohe Glaubwürdigkeit. In diesem Abschnitt wurde ausgeführt, dass es allgemein gültige Stufen der Werbewirkung gibt, die relevant sind, unabhängig davon, um welche Werbegegenstände, Kontexte oder Rezipienten es sich handelt. In den nächsten Abschnitten wird genau dies in Frage gestellt. 2.2

Hierarchie-von-Effekten-Modelle

Im vorherigen Abschnitt wurden Modelle vorgestellt, die eine klare Ordnung bzw. Abfolge der Werbewirkung unterstellen, also eine »Hierarchie von Effekten«. Insbesondere eine Unterscheidung von Ray (1973) ist bekannt geworden. Er bezeichnet die traditionelle KognitionAffekt-Konation-Sequenz als Lernhierarchie und stellt sie einer anderen Sequenz gegenüber, der KognitionKonation-Affekt-Sequenz, die er als Geringes-Involvement-Hierarchie bezeichnet. (»Konativ« ist in etwa mit »verhaltensbezogen« übersetzbar.) Schließlich kann noch eine dritte Sequenz betrachtet werden, die DissonanzAttributions-Hierarchie. Diesen 3 7 Hierarchie-von-Effekten-Modellen liegt die Ausgangsüberlegung zugrunde, dass es kognitive, affektive und konative Komponenten in Werbewirkungsmodellen gibt. Zu den kognitiven Komponenten zählen Aufmerksamkeit, Bewusstsein, Verstehen und Lernen, zu den affektiven Komponenten Interesse, Bewertung, Einstellung, Gefühl und Überzeugung und zu den konativen Komponenten die Verhal-

tensabsicht, das Verhalten und die Handlung. Traditionelle Werbewirkungsmodelle wie z. B. das im vorherigen Abschnitt vorgestellte AIDA-Modell gehen von einer Lernhierarchie aus (vgl. . Tab. 2.1). Nach der Lernhierarchie beginnen die Rezipienten von Werbung damit, etwas über ein Produkt zu lernen, ändern dann ggf. ihre Einstellung und schließlich ihr Verhalten. Voraussetzung für die Gültigkeit dieses Modells ist allerdings, dass die Rezipienten involviert sind und das beworbene Produkt von eventuellen Alternativen klar unterscheidbar ist. Wenn die Produktalternativen kaum unterscheidbar, die Rezipienten aber weiterhin involviert sind, dann sind Einstellungsänderungen und Lerneffekte eine Folge von Verhaltensänderungen. Dieser Prozess wird als »Dissonanz-Attributions-Hierarchie«bezeichnet.Grundüberlegung hierbei ist, dass die Rezipienten ihre Entscheidung für ein Produkt vor sich und anderen rechtfertigen müssen. Da das gewählte Produkt – wie alle anderen Produkte – nicht nur positive, sondern auch negative Merkmale hat, die einem erst nach Erwerb des Produkts richtig deutlich werden, entsteht eine Dissonanz, ein innerer Spannungszustand. Dieser kann dadurch reduziert werden, dass die gewählte Alternative positiv aufgewertet wird. Das gezeigte Verhalten wird also so erklärt (»attribuiert«), dass die Dissonanz reduziert wird. Beispiele für solche Prozesse sind in manchen Spots für Kreditinstitute thematisiert. Geld anzulegen und zu vermehren ist ein involvierendes Thema; ob die beworbene Dienstleistung das auch wirklich einlöst, was sie (vermeintlich) versprochen hat, stellt sich aber erst bei der Inanspruchnahme heraus. Da dies aber erst dann möglich ist, wenn man sich bereits entschieden hat, tritt oft eine Dissonanzreduktion ein, etwa in dem Sinne, sich

. Tab. 2.1. Die 3 Hierarchie-von-Effekten-Modelle. (In Anlehnung an Ray, 1973)

Lernhierarchie (»learn-feel-do«)

Dissonanz-Attributions-Hierarchie (»do-feel-learn«)

Geringes-Involvement-Hierarchie (»learn-do-feel«)

Wenn 4 Rezipienten involviert sind und 4 Alternativen klar unterscheidbar sind.

Wenn 4 Rezipienten involviert sind und 4 Alternativen kaum unterscheidbar sind.

Wenn 4 Rezipienten wenig involviert sind und 4 Alternativen kaum unterscheidbar sind.

Lernen (Kognition) Einstellungsänderung (Affekt) Verhaltensänderung (Konation)

Verhaltensänderung Einstellungsänderung Lernen

Lernen Verhaltensänderung Einstellungsänderung

2

17 2.2 · Hierarchie-von-Effekten-Modelle

selbst einzureden, dass man schon eine gute Entscheidung getroffen haben wird. Die Geringes-Involvement-Hierarchie ist dann relevant, wenn die Rezipienten wenige Unterschiede zwischen den beworbenen Produktalternativen zu erkennen vermögen und zudem auch wenig involviert sind. Immerhin aber werden sie durch die Werbung erreicht, was zu Lerneffekten (z. B. Markenbekanntheit) führt. Diese Effekte führen wiederum zu Verhaltensänderungen (z. B. Probekäufen) und schließlich zu Einstellungsänderungen auf der Grundlage der unmittelbaren Erfahrungen mit dem Produkt. Als Beispiele können hier Spots für Schokoriegel oder Kosmetika angeführt werden, von denen einige explizit zum Ausprobieren auffordern. Im Rahmen der Geringes-Involvement-Hierarchie hat Werbung evtl. zusätzlich die Funktion, das zunächst probeweise gezeigte Verhalten zu verstärken. Ansonsten beschränkt sie sich hauptsächlich darauf, die Marke bekannt zu machen und zum Ausprobieren aufzufordern (Vakratsas & Ambler, 1999). Welche Wirkung von Werbung ausgeht, hängt (also) insbesondere vom 7 Involvement der Rezipienten ab. Unter Involvement ist ein individueller, interner Zustand der Erregung oder Aktiviertheit eines Menschen zu verstehen, wobei dieser Zustand unterschiedlich intensiv sein kann, unterschiedlich lange andauern kann

und i. Allg. auf bestimmte Objekte oder Ereignisse gerichtet ist (Andrews, Durvasula & Akhter, 1990). Man kann also in etwas unterschiedlich intensiv und unterschiedlich lange involviert sein. Geringes Involvement während der Rezeption von Werbung bedeutet, dass sich der typische Zuschauer wenig oder überhaupt nicht mit ihr auseinandersetzt. Und dennoch: Unter anderem aufgrund massiver Wiederholung ist es ihr möglich, die kognitive Struktur der Zuschauer zu beeinflussen und eine Vorstellung über das beworbene Produkt zu vermitteln (vgl. Smith & Swinyard, 1982). Diese Änderungen finden allerdings statt, ohne dass sich der Einzelne dessen bewusst ist und ohne dass sich eine elaborierte Einstellung bildet oder ändert. Beispielsweise konnten Hawkins und Hoch (1992) zeigen, dass (Werbe-)Aussagen dann als glaubhafter eingeschätzt wurden, wenn sie wiederholt präsentiert worden waren, wobei dieser Effekt stärker auftrat, wenn die Rezipienten wenig involviert waren. Ergibt sich später die Notwendigkeit oder Gelegenheit, ein Produkt zu kaufen, dann können Konsumenten die solchermaßen intensiv beworbene Marke – auf der Grundlage der neuen kognitiven Struktur – auswählen, ohne bereits eine differenzierte Einstellung zur Marke zu haben. Gebildet wird eine Einstellung erst nach dem Kauf und möglicherweise nachdem Erfahrungen mit dem Produkt

Commitment

. Abb. 2.1. Das integrierte Informations-Reaktions-Modell der Werbewirkung. (Gestrichelte Pfeile stehen für schwache, durchgezogene Pfeile für stärkere Wirkungen; nach Smith & Swinyard, 1982)

18

2

Kapitel 2 · Werbewirkungsmodelle

gemacht worden sind. Es lässt sich also vereinfacht sagen, dass Menschen nicht deshalb Produkte kaufen, weil sie diese mögen, sondern dass sie diese mögen, weil sie diese gekauft (und damit gute Erfahrungen gemacht) haben. Diese Annahmen wurden von Smith und Swinyard (1982) in ihrem integrierten Werbewirkungsmodell zusammengefasst (. Abb. 2.1). Die kognitive Komponente des Modells von Smith und Swinyard (1982) besteht aus 2 Teilen, der Überzeugungsstärke und der Akzeptanz der Nachricht. Die Überzeugungsstärke hängt davon ab, inwieweit ein Rezipient eine Information über das Produkt akzeptiert. Wenn die dargebotene Information akzeptiert wird, resultieren stärkere Überzeugungen. In der Regel wird man allerdings finden, dass Werbung als Informationsquelle eine geringe Akzeptanz erfährt und zu lediglich schwachen Überzeugungen führt, da die Quelle der Information als wenig glaubwürdig eingeschätzt wird. (Positive) Affekte bzw. Einstellungen werden im Falle schwacher Überzeugungen zwar entstehen, in der Regel aber nur gering ausgeprägt sein, so dass sie oftmals gar nicht festgestellt bzw. gemessen werden können. Im Vergleich hierzu bewirken direkte Erfahrungen (z. B. das Ausprobieren des Produkts) das Entstehen sehr viel stärkerer Überzeugungen. Schließlich werden auf der konativen Ebene, also der Ebene des Verhaltens, 2 Varianten von Verhaltensweisen unterschieden. Zum einen kann der Kauf eines Produkts Ausdruck von Commitment (einer »Bindung«) gegenüber dem Produkt sein. Er kann dann wiederholt erfolgen und Resultat von Markentreue werden. Zum anderen kann der Kauf eines Produkts v. a. die Funktion haben, mehr über das Produkt zu erfahren. Der Erwerb eines Produkts ist also nicht immer Ergebnis einer Einstellung, sondern kann auch eine Methode sein, um durch das Ausprobieren Informationen aus erster Hand zu erhalten. Diese direkten Erfahrungen mit dem Produkt werden als vergleichsweise glaubwürdig empfunden und ergänzen bzw. ersetzen die Informationen aus der Werbung. Das »Ausprobieren« kann in verschiedenen Formen stattfinden, im Falle niedrigpreisiger Produkte kann dies ein Probekauf sein, in anderen Fällen aber auch der Besuch von Ausstellungsräumen (z. B. Möbelhäuser), Probefahrten (z. B. Autos), Probeabonnements (z. B. Zeitungen) usw. (7 Info-Box)

Info-Box

Ausprobieren als alternative Informationsquelle? Das Modell von Smith und Swinyard (vgl. auch Smith & Swinyard, 1983) gibt einen Hinweis darauf, welche Wirkung von Werbung erwartet werden kann: Beispielsweise können wenig involvierende Produkte von Werbung profitieren, die dazu beiträgt, das Produkt auszuprobieren – indem, wenn auch schwache, so doch zumindest günstige Überzeugungen bewirkt werden. Solche Kampagnen müssen aber sicherstellen, dass das Ausprobieren möglich ist, dass also die Werbemaßnahme z. B. mit kostenlosen Proben, Coupons, Preisaktionen oder Verkaufsaktionen vor Ort ergänzt wird. Darauffolgende Werbung kann dann die Funktion haben, die positiven Aspekte des Probekaufs zu verstärken (z. B. »zur Entscheidung gratulieren«). Nach den dargestellten Überlegungen scheinen Ausprobieren und Werbung 2 Informationsquellen mit deutlich unterscheidbarem Stellenwert zu sein, die voneinander unabhängige Wirkungen haben. Ganz so einfach lässt sich diese Annahme aber nicht aufrechterhalten (Kempf & Smith, 1998). Erstens werden die unmittelbaren Erfahrungen mit dem Ausprobieren von der zuvor rezipierten Werbung mit beeinflusst. In der Tat konnten dies bereits Olson und Dover (1979) am Beispiel des Geschmacksurteils von Kaffee zeigen. Zweitens ist das Ausprobieren in seinen eigenständigen Auswirkungen davon abhängig, ob sich die Person überhaupt kompetent für ein Urteil fühlt, ob der »Test« überhaupt repräsentativ ist und ob er dabei hilft, die Eigenschaften des Produkts richtig einzuschätzen.

2.3

Zwei-Prozess-Modelle

Im Alternative-Wege-Modell von Batra und Ray (1985) wird auf Überlegungen zu den Hierarchie-von-EffektenModellen zurückgegriffen und die Annahmen werden weiter ausgeführt: In Abhängigkeit vom Involvementniveau der Rezipienten haben die unterschiedlichen Pfade der Wirkung von Werbung jeweils variierendes Gewicht (. Abb. 2.2). Batra und Ray nennen ihr Modell »Prozentsatz-Beitrags-Modell«, um deutlich zu machen, dass

19 2.3 · Zwei-Prozess-Modelle

Involvement

. Abb. 2.2. Das Alternative-Wege-Modell der Wirkung von Werbung (dicke Pfeile stehen für starke, dünne Pfeile für schwache Effekte. (Nach Batra & Ray, 1985)

die Pfade bzw. Wege jeweils unterschiedlich bedeutsam sind. Unter Involvement verstehen Batra und Ray, dass Rezipienten Motivation, Fähigkeit und Gelegenheit haben, sich mit Argumenten über die Qualität des beworbenen Produkts auseinanderzusetzen. Ist das Involvement hoch, dann hängt die Wirkung von Werbung v. a. von der Qualität der Argumente ab, wobei sich zunächst Effekte auf entsprechende Einstellungen und dann auf Kaufabsichten und Kaufhandlungen ergeben. Wenn das Involvement gering ist, spielt die Qualität der Argumente eine geringere Rolle; wichtiger sind die Sympathie für die Vorführung (also ob die Gestaltung der Werbung beim Rezipienten Gefallen findet) sowie die Häufigkeit der Darbietung (also die Zahl an Wiederholungen). Diese beiden Faktoren bewirken zum einen eine positive Einstellung zur Werbung (vorführungssensitive Einstellungen) und zum anderen einen indirekten und einen direkten Effekt auf Kaufabsicht und Kaufhandlung. Die Einstellung zum Produkt spielt eine nachgeordnete Rolle: Sie ändert sich, nachdem das Verhalten gezeigt wurde. Das Alternative-Wege-Modell von Batra und Ray erlaubt interessante Schlussfolgerungen. Wenn Rezi-

pienten hoch involviert sind, spielen v. a. die Werbeargumente eine Rolle, die positiv oder negativ beurteilt werden. Aufmerksamkeitslenkende Mittel wie etwa Sexappeal könnten hier die Funktion haben, Rezipienten dazu zu bringen, sich der betreffenden Werbung zu widmen. Aber diese werden – da motiviert, breiter zu suchen – auch andere Informationsquellen in Betracht ziehen. Hat die Werbung z. B. mit Sexappeal eine überwältigende Aufmerksamkeitswirkung, dann ist denkbar, dass die Rezipienten von einer Auseinandersetzung mit den Argumenten abgelenkt werden: Eine ausführliche Auseinandersetzung wird erschwert (Moser, 1997, 2002; 7 Info-Box). Neben dem Alternative-Wege-Modell (Batra & Ray, 1985) betont auch das Verarbeitungs-Wahrscheinlichkeits-Modell (Petty & Cacioppo, 1986) die Bedeutung von Motivation und Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten. Man kann also durchaus sagen, dass auch hier das Involvementniveau darüber entscheidet, wie persuasive Kommunikation und damit auch Werbung wirkt (. Abb. 2.3). Auch in diesem Modell spielt die Qualität der Argumente dann eine Rolle, wenn das Involvement der Rezipienten hoch ist. Die entsprechenden Einstellungsände-

2

20

Kapitel 2 · Werbewirkungsmodelle

Info-Box

Sexappeal in der Werbung: Wirksam in Situationen von geringem Involvement?

2

Wenn das Involvement vieler Rezipienten beim Betrachten von Werbung oft gering ist, welche Auswirkungen hat dann der Einsatz von erotischen Motiven in der Werbung? Wenn wir annehmen, dass Sexappeal eine Aufmerksamkeitswirkung hat, dann beachten die Rezipienten die Werbung öfter bzw. sie beachten sie mit größerer Wahrscheinlichkeit als andere Werbungen. Des Weiteren ist gemäß dem Alternative-Wege-Modell (Batra & Ray, 1985) weniger bedeutsam, ob sich die Rezipienten mit den Argumenten der Werbung auseinan-

dersetzen, sondern ob sie ihnen gefällt. Spricht dies dafür, dass die Wirkung von Sexappeal im Falle geringen Involvements also durchaus positiv ist? Im Falle geringen Involvements ist darauf zu achten, dass nicht nur die Illustration, sondern zumindest auch der Markenname beachtet wird und dass natürlich die Einstellung zur Werbung nicht negativ ist – dass die Werbung tatsächlich gefällt. Und schließlich stellen solche Werbesituationen eine interessante Konstellation dar, in denen unmittelbare Reaktionen auf den Werbeimpuls möglich und erwünscht sind (z. B. Werbespots mit der Aufforderung »Rufen Sie jetzt an!«).

. Abb. 2.3. Das Verarbeitungs-Wahrscheinlichkeits-Modell der Persuasion. (Nach Petty & Cacioppo, 1986)

rungen haben zudem die Eigenschaft, über längere Zeit hinweg stabil zu bleiben, gegenüber Kritik resistent zu sein und einen deutlichen Zusammenhang zum Verhalten aufzuweisen. Dies unterscheidet den »zentralen« Weg vom »peripheren« Weg. Letzterer ist von Bedeu-

tung, wenn das Involvement gering ist. In diesem Fall hängt die Wirkung der Werbung davon ab, ob es einen oder mehrere sog. periphere Hinweisreize gibt, auf die Rezipienten positiv reagieren. Hierzu zählen z. B. die Zahl der Wiederholungen, die Zahl der Argumente, die

21 2.3 · Zwei-Prozess-Modelle

Humorigkeit der Werbung, die Attraktivität der dargestellten Modelle oder der Expertenstatus von Quellen. Es sind solche Werbeinhalte oder Stilmittel, die »das Denken erleichtern« (vgl. 7 Kap. 4). Allerdings muss die evtl. resultierende Einstellungsänderung als peripher bezeichnet werden, sie hält weniger lange an, ist leicht beeinflussbar und weniger fähig, entsprechendes Verhalten vorherzusagen. Eine Kernannahme des Verarbeitungs-Wahrscheinlichkeits-Modells besteht darin, dass Einstellungen mehr oder weniger stark sein können. Nach Perloff (2003) tragen folgende Merkmale dazu bei, eine Einstellung als stark bezeichnen zu können: 4 Bedeutung (es findet eine intensive Auseinandersetzung mit dem Einstellungsgegenstand statt) 4 Ich-Involviertheit (die Einstellung ist mit zentralen persönlichen Werthaltungen oder dem Selbst verknüpft) 4 Extremität (die individuelle Einstellung weicht erheblich von einem neutralen bzw. moderaten Standpunkt ab) 4 Gewissheit (wir sind davon überzeugt, dass unsere Einstellung zutrifft) 4 Zugänglichkeit (die Einstellung kommt uns schnell in den Sinn) 4 Wissen (wir sind über das Thema gut informiert) 4 Hierarchische Organisation (die Einstellung ist in sich konsistent und in eine elaborierte Einstellungsstruktur eingebettet). Ähnliche Aussagen wie das Verarbeitungs-Wahrscheinlichkeits-Modell macht auch das heuristisch-systematische Modell der Informationsverarbeitung und Einstellungsänderung (Chaiken, 1987). Systematische Informationsverarbeitung ist analytisch und an Verständigung orientiert, wobei der Rezipient versucht, alle Informationen zu erhalten und solche zu prüfen, die zugänglich sind und für das zu bildende Urteil eine Bedeutung haben könnten. Angewandt auf den Bereich der Einstellungsbildung und Einstellungsänderung bedeutet dies, dass sich die Rezipienten mit den Argumenten auseinandergesetzt haben und dass ihre letztendliche Einstellung darauf basiert, die entsprechenden Informationen verstanden und bewertet zu haben. Heuristische Informationsverarbeitung ist demgegenüber eine begrenztere Art, mit Informationen umzugehen, und sie bedeutet wenig kognitive Anstrengung. Es wird v. a. diejenige Information fokussiert, die es erlaubt, Heuristiken oder einfache Entscheidungsregeln anzuwenden, um Urteile

schnell und effizient fällen zu können. Einstellungsbezogene Urteile werden dann von solchen Heuristiken beeinflusst wie »die Mehrheit hat recht«. Maheswaran und Chaiken (1991) fanden, dass selbst unter der Bedingung einer hohen Motivation, Informationen systematisch zu verarbeiten, heuristische Hinweisreize einen Einfluss haben, dass sich also heuristische und systematische Informationsverarbeitung ergänzen können. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das heuristisch-systematische Modell vom Verarbeitungs-WahrscheinlichkeitsModell von Petty und Cacioppo (1986). Weitere Ausführungen zu den eher weniger auffälligen Unterschieden zwischen dem Verarbeitungs-Wahrscheinlichkeits-Modell und dem heuristisch-systematischen-Modell finden sich bei Johnson, Maio und Smith-McLallen (2005). 7 Zwei-Prozess-Modelle haben in den letzten 2 Jahrzehnten große Aufmerksamkeit erfahren (Chaiken & Trope, 1999), sie sind aber nicht ohne Kritik geblieben. Insbesondere nehmen alle 3 vorgestellten Modelle an, dass Kontextmerkmale wie z. B. die Glaubwürdigkeit der Quelle oder Humor entweder keinen oder einen positiven Effekt haben. In letzterem Fall kann man auch von einem Assimilationseffekt sprechen. Dabei wird übersehen, dass es Formen der Auseinandersetzung mit persuasiver Kommunikation gibt, die zu Kontrasteffekten führen können. Unter bestimmten Bedingungen zeigt sich nämlich, dass anfängliche Urteile über eine Werbebotschaft von Rezipienten um vermutete Kontexteffekte korrigiert werden, wobei diese Korrekturen so stark ausfallen können, dass die Urteile negativer ausfallen, als sie es tun würden, wenn es die Kontextvariablen nicht gegeben hätte. Diese Bedingungen lauten, dass a) es den Rezipienten bewusst ist, dass Kontextvariablen ihr Urteil beeinflusst haben könnten, b) die Rezipienten eine Vorstellung davon haben, wie genau der Kontext sie beeinflusst und c) die Rezipienten die Möglichkeit haben und gewillt sind, einen entsprechenden Korrekturvorgang vorzunehmen (vgl. u. a. Meyers-Levy & Malaviya, 1999). Zwei-Prozess-Modelle scheinen v. a. eine Richtigkeitsmotivation zu unterstellen, dass es Rezipienten also darum gehe, zu zutreffenden Schlussfolgerungen zu gelangen. Tatsächlich spielen aber von Fall zu Fall auch eine Verteidigungsmotivation (»Recht behalten wollen«) und eine Eindrucksbildungsmotivation (»Einen guten Eindruck machen wollen«) eine Rolle (7 Info-Box).

2

22

Kapitel 2 · Werbewirkungsmodelle

Info-Box

Funktionen von Einstellungen

2

Einstellungen können verschiedene Funktionen haben (Perloff, 2003, S. 74–.75), was am Beispiel »Einstellung zur Nutzung von Solarenergie« erläutert werden soll. 1. Wissen: Einstellungen helfen dabei, Dinge zu erklären und sie persönlich verständlich zu machen. (»Solarenergie ist ein hervorragendes Beispiel für nachhaltiges Wirtschaften.«) 2. Nutzen: Einstellungen sind dazu geeignet, Belohnungen zu erhalten und Bestrafungen zu vermeiden. (»Solarenergie ist die Zukunft, weil sie uns alle wirtschaftlich und politisch unabhängig macht und wir nicht mehr wirtschaftlich erpressbar sein werden.«) 3. Soziale Anpassung: Einstellungen können dabei helfen, bei anderen Akzeptanz zu finden. (»Alle meine Freunde sind gegen Kernenergie, und Solarenergie ist die Alternative für uns.«) 4. Soziale Identität: Einstellungen können zum Ausdruck bringen, wer man ist und wer man gerne sein möchte. (»Ich gehöre zu den Menschen, die gerne auf überflüssigen Konsum verzichten. Wer Solarenergie nutzt, lebt einfach bewusster.«) 5. Wertexpression: Einstellungen können zum Ausdruck bringen, dass man eine ganz bestimmte Werthaltung zu bestimmten Dingen hat. (»Verantwortungsbewusste Menschen nutzen regenerative Energien – selbst wenn sie derzeit noch etwas kostspieliger sind als andere Energiequellen.«) 6. Ich-Verteidigung: Einstellungen können dazu dienen, eine Verteidigungsposition gegenüber unangenehmen Gedanken oder Gefühlen einzunehmen. (»Ich möchte mir von meinen Enkelkindern einmal nicht vorwerfen lassen, sehenden Auges zur Zerstörung der Erdatmosphäre beigetragen zu haben.«)

An der Idee zweier prinzipiell unterschiedlicher Prozesse wurde neuerdings Kritik geübt. So wurde ein »Unimodel« vorgeschlagen (Erb & Kruglanski, 2005). Danach sind es stets Evidenzen, die zu Einstellungsänderungen führen. Sowohl Argumente als auch periphere bzw. heuristische Hinweisreize sind Evidenzen, Argumente sind

allenfalls gemeinhin komplexer, weshalb für ihre Verarbeitung mehr Motivation und Fähigkeit notwendig ist; gleichwohl werden beide Arten von Evidenzen in Abhängigkeit von ihrer subjektiven Evidenz auf vergleichbare Art verarbeitet – qualitativ unterschiedliche Prozesse der Persuasion müssten nicht vorausgesetzt werden. Ein weiteres neues Persuasionsmodell, das Kognition-in-Persuasion-Modell, geht ebenfalls von einem einheitlichen Prozess der Wirkung persuasiver Botschaften aus (Albarrazín, 2002). Die Annahme, Persuasion erfolge evidenzbasiert, bedeutet in dieser allgemeinen Form, dass im Prozess der Einstellungsbildung ganz unterschiedliche »Informationen« herangezogen werden. Hierzu zählen nebenaktuellenWerbeargumentenauchWissensbestandteile aus dem Gedächtnis, Emotionen (»Affekt als Information«) und zurückliegendes Verhalten. Während das Verarbeitungs-Wahrscheinlichkeits-Modell davon ausgeht, dass Motivation und Fähigkeit der Rezipienten nur für die Verarbeitung von Argumenten eine Rolle spielt, geht Albarrazín (2002) davon aus, dass man für die Verarbeitung ganz verschiedener Evidenzen Motivation und Fähigkeit benötigt. Wenn Motivation und Fähigkeit zur Verarbeitung von Evidenzen abnehmen, reduziert dies zwar zuerst die Wirkung von Argumenten, letztlich aber dann auch die von peripheren Hinweisreizen und Affekten. Insgesamt spricht demnach auch weiterhin sehr viel dafür, dass mit abnehmender Fähigkeit und Motivation der Einfluss der Qualität von Argumenten schwächer wird. Demgegenüber ist die Wirkung weniger relevanter Informationen – und der Begriff der »Information« ist sehr weit gefasst – eher kurvilinear, er ist also im Falle hoher Motivation und Fähigkeit eher schwach, nimmt dann zu und nimmt schließlich bei geringer Motivation und Fähigkeit wieder ab. Zum Abschluss dieses Abschnitts sei angemerkt, dass das Konzept der »Evidenz« sehr flexibel verwendet werden kann. Die »erlebnisorientierte Verarbeitungsstrategie« beschreibt, dass Einstellungen auch Resultat der Empfindungen im Akt der Verarbeitung der Botschaften sind (Strack, 1992; Meyers-Levy & Malaviya, 1999). Damit ist beispielsweise gemeint, dass bereits das Gefühl, eine Werbebotschaft gut verstanden zu haben, zu einer Einstellungsänderung führen kann. Werbung kann dann dazu beitragen, Informationen über eine Marke wiederzuerkennen und zu verarbeiten, eine Einfachheit, die angenehm empfunden wird (Lee & Labroo, 2004). Im Sinne des »Unimodel« können solche Empfindungen als »Evidenzen« interpretiert werden.

23 2.4 · Das duale Vermittlungsmodell

2.4

Das duale Vermittlungsmodell

Lange Zeit fehlte ein geeigneter theoretischer Rahmen, um die Rolle der Einstellung zur Werbung angemessen zu untersuchen, und so wurden die Ergebnisse der entsprechenden Forschung oft als recht wenig aussagekräftige »Akzeptanzbefunde« abgetan, in ihrer Validität grundsätzlich bezweifelt oder auf der Ebene der prinzipiellen Werbekritik abgehandelt. Erst in den 1980er Jahren hat sich diese Sichtweise geändert, wobei neben der bereits erläuterten Entwicklung der Forschung über Werbewirkung und Werbewirkungsmodelle der geradezu explodierende Bereich der emotionalisierenden Werbung ein sehr wichtiger Auslöser war (7 Kap. 6). Über welche Wege nun genau die Einstellung zur Werbung ihre Wirkung entfaltet, war und ist kontrovers. Brown und Stayman (1992) unterschieden 4 verschiedene Modelle zur Wirkung der Einstellung zur Werbung (. Abb. 2.4).

Dasduale Vermittlungsmodell bzw. dieduale Vermittlungshypothese stimmt bisher am besten mit den vorliegenden Befunden überein. Damit bewirkt eine positive Einstellung zur Werbung sowohl positive Gedanken (Kognitionen) als auch eine positive Einstellung zur beworbenen Marke. Die Einstellung zur Marke wird aber nicht nur von der Einstellung zur Werbung, sondern auch von den Kognitionen zur Marke beeinflusst, und sie mündet schließlich in eine verstärkte Kaufabsicht. Wie Brown und Stayman (1992) zusammenfassend berichten, hängt die Einstellung zur Werbung u. a. vergleichsweise stark mit der Einstellung zur beworbenen Marke zusammen, aber auch mit positiven Gefühlen sowie der Zahl der Wiederholungen der betreffenden Werbung. Einschränkend muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass die vorherige Einstellung zur Marke auch einen Einfluss auf die Einstellung zur Werbung hat, ein Faktor, der in den von Brown und Stayman verglichenen Modellen nicht explizit berücksichtigt wurde. Zudem kritisie-

. Abb. 2.4. Vier Modelle der Einstellung zur Werbung. (Nach Brown & Stayman, 1992)

2

24

Kapitel 2 · Werbewirkungsmodelle

. Tab. 2.2. Fünf Kommunikationseffekte von Werbung. (Nach Rossiter & Percy, 1997)

2

1.

Kategoriebedürfnis

Der Käufer akzeptiert, dass ein Produkt oder eine Dienstleistung nötig sind, um einen angestrebten motivationalen Zustand zu erreichen.

2.

Markenbekanntheit

Der Käufer hat die Fähigkeit, die Marke innerhalb einer Kategorie zu identifizieren, und zwar in einem Ausmaß, das einen Kauf ermöglicht (Reproduktion oder Rekognition).

3.

Einstellung zur Marke

Der Käufer beurteilt die Marke positiv. Sie kann ein bestimmtes gegenwärtig relevantes Motiv befriedigen.

4.

Kaufabsicht

Der Käufer entwickelt den Vorsatz, die Marke zu kaufen.

5.

Kauferleichterung

Der Käufer hat die Gewissheit, dass es keine Kaufhinderungsgründe gibt.

ren Fishbein und Middlestadt (1995, 1997), dass der direkte Zusammenhang zwischen der Einstellung zur Werbung und der Einstellung zur Marke auf eine wenig repräsentative Auswahl der Studien zurückzuführen sei und der Beitrag, den die Kognitionen zur Marke leisten würden, unterschätzt werde. Die Forschung über »Einstellung zu Werbung« basierte lange Zeit auf der Annahme, Werbung würde ganz einfach nur mehr oder weniger gut gefallen, die besagte Einstellung habe demnach also eindimensionalen Charakter. Die Einstellung zur Werbung wurde typischerweise erfasst, indem Adjektive wie »glaubhaft«, »überzeugend«, »informativ« und »interessant« vorgegeben und dann ein Summenwert gebildet wurde (Edell & Burke, 1987). Tatsächlich aber ist die Einstellung zur Werbung mehrdimensional. So unterscheiden z. B. Aaker und Stayman (1990) 3 Emotionen: Amüsement, Irritation (bzw. Ärger) und Wärme, wobei v. a. letztgenannte Emotion in den vergangenen Jahren verstärkte Aufmerksamkeit erfahren hat. Wärme ist eine positive, milde, leicht veränderliche Emotion, die mit physiologischer Aktivierung und dem Erleben anregender Beziehungen einhergeht (Aaker, Stayman & Hagerty, 1986). Werbung, die als »warm« bezeichnet werden kann, muss öfter wiederholt werden, um spürbare Einstellungsänderungen zu bewirken. Aaker und Stayman (1990) vermuten, dass emotionale Werbung, die seltener als 5-mal wiederholt wird, pure Verschwendung sei (weiterführend 7 Kap. 6). 2.5

Das Rossiter-und-Percy-Modell

Das Werbewirkungsmodell von Rossiter und Percy (1997) nimmt an, dass Werbung 5 Kommunikationsef-

fekte haben muss, um wirksame Beiträge zur Positionierung einer Marke zu liefern und das erwünschte Verhalten zu bewirken. Diese 5 Effekte sind in . Tab. 2.2 beschrieben. Der erste Schritt auf dem Weg zur Werbewirkung besteht darin, ein Kategoriebedürfnis gesichert zu haben. Dies kann in manchen Fällen bereits gegeben sein, in anderen muss daran erinnert werden, und gelegentlich ist das Bedürfnis erst noch zu »wecken«. Betrachten wir das Beispiel des Produkts »Mobiltelefon«. Es dürfte schon immer Menschen gegeben haben, die viel reisen und sich ein Mobiltelefon gewünscht haben. Andere mögen sich an Münztelefone gewöhnt haben, könnten aber durch Werbebotschaften daran erinnert werden, dass ein Mobiltelefon das Leben einfacher machen würde. Dass es heutzutage auch möglich und »nützlich« ist, Fotos über ein Mobiltelefon zu verschicken, musste erst durch Werbebotschaften erläutert werden. In der Tat setzt hier auch ein Teil der Werbekritik an, nämlich dass durchaus gelegentlich überflüssige oder sogar schädliche »Bedürfnisse« geschaffen werden. Ist ein Kategoriebedürfnis gegeben, dann ist als nächstes die Markenbekanntheit (Brand Awareness) zu sichern. Die Kriterien für Markenbekanntheit sind Reproduktion oder Rekognition. Nach Rossiter und Percy (1997) ist diese unumgänglich, sie ist notwendige Voraussetzung für die Einstellung zur Marke. Rossiter und Percy meinen mit Markenbekanntheit, dass man sich einer Marke »bewusst« sein muss, dass man eine »Vorstellung« von der Marke haben muss, bevor man sie kaufen kann. Entweder müssen die Käufer in der Kaufsituation (z. B. im Supermarkt) die Marke wiedererkennen (Rekognition) oder sie müssen bereits vor der aktuellen Kaufsituation (z. B. auf dem Weg zum Supermarkt) die Marke erinnern (Reproduktion). Markenrekognition ist

25 2.5 · Das Rossiter-und-Percy-Modell

typischerweise ein visueller Prozess, d. h. dass Produktverpackung, Logo oder Formen und Farben wiedererkannt werden. Demgegenüber ist Markenreproduktion fast immer ein verbaler Prozess, in dessen Rahmen ein aktuelles Kategoriebedürfnis Auslöser für einen entsprechenden Suchprozess wird. Der nächste Schritt in der Werbewirkungskette ist die positive Einstellung zur Marke. Werbebotschaften haben die Funktion, Evidenzen zu präsentieren, die Einstellungen zu entwickeln oder zu bestärken helfen. Werbung, die auf konkrete inhaltliche Aussagen verzichtet, ist nach Ansicht von Rossiter und Percy (1997) nur dann und deshalb erfolgreich, weil einstellungsrelevante Informationen von den Rezipienten erschlossen oder weil bereits existierende Einstellungen aktiviert und bestärkt werden. Ein Beispiel für Ersteres ist etwa, dass Rezipienten aus der Beobachtung, dass eine bestimmte Marke häufig beworben wird, auf deren Popularität schließen. Die Einstellung zur Marke besteht im Kern aus einer Überzeugung, die eine Verknüpfung zwischen Marke und Kauf- oder Nutzungsmotiv herstellt. Rossiter und Percy (1997) unterscheiden 8 fundamentale Motive, die in 2 Gruppen unterteilt werden (vgl. . Tab. 2.3). Die erste Gruppe von Motiven wird »informational« genannt, weil Informationen gesucht werden, um negative Zustände zu reduzieren oder zu beseitigen. Kaufund Gebrauchsmotiv für ein Produkt kann also z. B. die Problembeseitigung sein (Shampoo gegen Schuppen). »Gemischte Annäherung-Vermeidung« steht für einen Konflikt, den ein Konsument haben könnte und der durch das Produkt reduziert oder vermieden wird (z. B. im Sinne des Slogans »Genießen ohne Reue«). »Gewöhnliche Erschöpfung« steht für leicht negative Emotionen, die »normal« (gewöhnlich) sind und auftreten, wenn etwas schon oft getan wurde; das Produktver. Tab. 2.3. Acht fundamentale Kauf- und Gebrauchsmotive (Rossiter & Percy, 1997) Negativ entstandene (informationale) Motive

1. 2. 3. 4.

Problembeseitigung Problemvermeidung Unvollständige Zufriedenheit Gemischte AnnäherungVermeidung 5. Gewöhnliche Erschöpfung

Positiv entstandene (transformationale) Motive

6. Sensorische Gratifikation 7. Intellektuelle Stimulation oder Bewältigung 8. Soziale Anerkennung

sprechen kann dann darin bestehen, Langeweile oder andere Unannehmlichkeiten zu vermeiden (z. B. »mehr Abwechslung in die Küche«). Die zweite Gruppe thematisiert positive Reize oder Belohnungen; der Käufer soll in einen positiven oder (noch) besseren Zustand »transformiert« werden. In die Oper zu gehen kann ästhetisches Erlebnis, intellektuelle Herausforderung und Mittel zur Positionierung der eigenen Person in das soziale Umfeld sein (7 Info-Box). Info-Box

Was ist Luxus? Urlaub ist etwas »ganz Besonderes« – zumal in einem Luxushotel. Die Werbung für solche Hotels ist vor allem transformational angelegt: Solche Hotels sind attraktiv, schön, exklusiv uvm. So textet das einzige 5-Sterne-Superior-Hotel von Mecklenburg-Vorpommern unter »Wahrer Luxus« auf der Homepage: Sich aus dem Alltag zu lösen und Zeit für sich zu haben, das ist heute wahrer Luxus. Das Kurhaus Binz bietet dafür die besten Bedingungen: stilvolle Räume, die Großzügigkeit atmen. Ruhe, die Sinne öffnet … Und die Freundlichkeit, mit der jeder Wunsch erfüllt wird. Purer Genuss Mit Meerblick: Frühstück im Kurhaus-Restaurant – oder auf dem eigenen Balkon. Frühstück mit Meerblick – und einem Buffett, das alle Wünsche erfüllt. Ein Snack auf der Terrasse – sehen und gesehen werden. Kaffeezeit mit einer großen Auswahl an hausgemachten Torten. Und als Krönung – feinste Küche im Kurhaus-Restaurant unter Kronleuchtern. Jeder Tag ist purer Genuss. Echte Entspannung Entspannung pur: Unsere Wellnesswelt. Innenoder Außenpool? Sauna oder Dampfbad? Ein Beauty-Treatment mit Shiseido-Produkten oder Rügener Heilkreide? In den Fitnessbereich oder Qi Gong am Strand? Sich zu entspannen wird Ihnen ganz leicht gemacht. Schwer fällt manchmal nur die Auswahl – wegen der Vielfalt. Der transaktionale Aspekt wird allenfalls angedeutet (»jeder Wunsch wird erfüllt«), die Befriedigung transformationaler Motive steht im Mittelpunkt.

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Kapitel 2 · Werbewirkungsmodelle

Die vierte Stufe der Werbewirkung (. Tab. 2.2) ist die Kaufabsicht, zu verstehen als Vorwegnahme der abschließenden Aktion. Diese Aktion kann je nach Entscheidungskonstellation darin bestehen, die Marke vorzuschlagen, zu empfehlen, sich dafür zu entscheiden, sie unmittelbar zu kaufen oder sie öfter zu nutzen. Die Generierung einer Kaufabsicht ist zwar immer von Vorteil, aber nicht immer notwendig. Eine positive Einstellung zur Marke kann auch ohne Verhaltensabsicht unmittelbar zum Verhalten, nämlich dem entsprechenden Kauf, führen, und zwar dann, wenn es sich um ein GeringesInvolvement-Produkt handelt. Demgegenüber ist es bei Hohes-Involvement-Produkten erforderlich, Verhaltensabsichten zu generieren. Die fünfte Stufe hat nur scheinbar einen ergänzenden Status, tatsächlich spricht sie oftmals entscheidende Punkte der Unwirksamkeit von Werbemaßnahmen an. Wenn potentielle Käufer Erschwernisse antizipieren, dann kann es trotz Kaufabsichten zu keinem tatsächlichen Kauf kommen. Beispiele hierfür sind etwa, dass die Marke am gewohnten Einkaufsort nicht verfügbar ist, dass die Einkaufsstätten zu weit entfernt liegen oder dass aus anderen Gründen die Realisierung der Absicht aufwändig oder kompliziert ist. Das Rossiter-und-PercyModell nennt es »fehlende Kauferleichterung«, wenn es darum geht zu erklären, warum selbst die stärkste Einstellung und Absicht nicht zum entsprechenden Verhalten führen (7 Info-Box). Nehmen wir an, ein Geringes-Involvement-Produkt wie z. B. eine Schokoriegelmarke würde durch einen Fernsehspot zu bewerben sein. Aufgaben des Spots wären, Markenbekanntheit zu gewährleisten und für eine positive Markeneinstellung zu sorgen. Dies könnte durch die wiederholte Präsentation des Spots erreicht werden. Diese erleichtert das spätere Wiedererkennen und ermöglicht es, die Marke mit einer Motivbefriedigung zu verknüpfen. Hier gibt es nun eine interessante Unterscheidung, nämlich ob es sich um ein informationales oder ein transformationales Motiv handelt. Nach Rossiter und Percy (1997) ist nämlich die Einstellung zur Werbung nur dann von Bedeutung, wenn transformationale Motive angesprochen werden. Vereinfacht gesagt: Wenn die Werbung etwas Angenehmes verspricht, sollte sie nicht unangenehme Gefühle auslösen. Transformationale Werbung will zum Ausdruck bringen, dass negative oder neutrale Emotionen in positive verwandelt werden (z. B. Freude, Aufregung, Kompetenzerleben, Stolz). Die Werbung wird eine angenehme und

Info-Box

Die Theorie des geplanten Verhaltens Nach der Theorie des geplanten Verhaltens (Ajzen, 1991) können subjektive Normen und eine fehlende wahrgenommene Verhaltenskontrolle dazu führen, dass aus einer Absicht nicht entsprechendes Verhalten resultiert. Beispielsweise davon überzeugt worden zu sein, dass öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen eigentlich richtig ist, führt (noch) nicht zu verändertem Verhalten – nämlich umzusteigen. Hinzu kommt erstens die subjektive Norm, also die Überzeugung, dass es richtig (und üblich) ist. Und zweitens muss man auch noch zuversichtlich sein, das Verhalten ausführen zu können. Es geht also nicht nur darum, dass die Rezipienten einsehen, dass es richtig ist, sie müssen es auch für normal und machbar halten (vgl. Armitage & Conner, 2001). Allerdings darf nicht übersehen werden, dass es öffentlicheVerkehrsmittelschwerhaben,transformationale Motive zu befriedigen. So betonen Werbespots für Autos nicht umsonst Aspekte wie »Prestige«, »Freude am Fahren« oder die Idee, einen Rückzugsraum zu haben.

einzigartig mit der Marke verknüpfte Emotion versprechen. Entscheidend für die Wirkung ist ihr authentischer Charakter. Hingegen spielt die Akzeptanz bei der Ansprache informationaler Motive keine Rolle, Waschmittelwerbung kann also z. B. langweilig sein, sofern sie Problemlösungen kommuniziert. Tatsächlich spricht informationale Werbung unangenehme bzw. negative Emotionen an, die dann – so das Werbeversprechen – beseitigt oder gar in positive verwandelt werden. Betrachten wir nun Hohes-Involvement-Produkte. Auch hier kommen sowohl informationale als auch transformationale Werbetaktiken in Frage. Die Markeneinstellung hängt in diesem Fall stärker von den durch die Rezipienten akzeptierten Produktvorteilen ab, die Argumente werden differenzierter abgewogen. Reine transformationale Werbung ist allerdings bei HohesInvolvement-Produkten nur selten zu finden, sie wird vielmehr oft mit informationalen Komponenten kombiniert. Beachtenswert sind die Empfehlungen von Rossiter und Percy (1997) für transformationale Werbung bei Hohes-Involvement-Produkten:

27 2.6 · Funktionen von Werbewirkungsmodellen

4

4

4

4

Emotionale Authentizität ist von höchster Wichtigkeit und zudem auf die jeweilige Zielgruppe abzustimmen. Die Rezipienten müssen sich mit dem Produkt in der Werbung identifizieren und die Werbung nicht nur mögen. Oftmals muss auch Produktinformation in der Werbung enthalten sein, wobei durchaus etwas übertrieben werden kann. Wiederholung ist auch hier förderlich, da sie dazu dient, eine (Teil-)Entscheidung aufzubauen und (Teil-)Entscheidungen zu bestärken.

Typische Beispiele solcher Werbungen sind Automobilanzeigen, die »Fahrgefühle« vermitteln wollen, Identifikationsfiguren anbieten, zugleich aber auch weiterführende Informationssuche ermöglichen oder vorbereiten sowie Rezipienten, die sich bereits zum Kauf entschlossen haben, in ihrer Entscheidung bestärken.

tungsempfehlungen. So würde man z. B. aus dem integrierten Informations-Reaktions-Modell ableiten, dass zu Verhaltensproben (z. B. Testfahrt) aufgefordert werden sollte, während nach den Einstellung-zur-WerbungAnsätzen auf Verhaltensaufforderungen ganz verzichtet wird und das »Gefallen« der Werbung im Vordergrund steht. Verwendung von Testmethoden. Wenn wir genauer die Wirkung von Werbung untersuchen (7 Kap. 10), dann müsste eigentlich immer Bezug auf ein Werbewirkungsmodell genommen werden. Entsprechendes gilt für die Frage, welche Methoden zur Überprüfung der Werbewirkung eingesetzt werden sollten. So spielt z. B. die Erinnerung an Werbeinhalte im Modell von McGuire (1985) eine wichtige Rolle, während im AlternativeWege-Modell die mehr oder weniger vage Erinnerung an den Markennamen genügt. Begründung von Werbezielen. Mit der Entscheidung

2.6

Funktionen von Werbewirkungsmodellen

In diesem Kapitel wurden verschiedene Werbewirkungsmodelle vorgestellt. Deren Bedeutung besteht in 4 Funktionen, die diese üblicherweise erfüllen. Erklärung der Entstehung von Werbewirkung. Werbewirkungsmodelle machen Annahmen über die Entstehung von Werbewirkung, das ist ihre ureigenste Aufgabe. Die differenzierte Auflistung von McGuire (1985) macht deutlich, auf welch unterschiedlichen Ebenen Werbewirkung stattfindet und prinzipiell erfassbar sein sollte, während die dann folgenden Modelle darauf hinweisen, dass einzelne Wirkungsebenen je nach gegebenen Umständen (z. B. Involvement der Rezipienten) von größerer oder geringerer Bedeutung sind. Ableitung von Gestaltungsempfehlungen. Die frühen

Werbewirkungsmodelle wurden auch als Gestaltungsanweisungen verstanden. Wenn z. B. das AIDA-Modell die Aufmerksamkeitswirkung als Grundvoraussetzung der Werbewirkung unterstellt, dann ergibt sich daraus die Empfehlung, Werbung entsprechend zu gestalten, z. B. einen »Aufhänger« zu verwenden, aber auch Interesse und Motive anzusprechen und zum Kauf aufzufordern. Auch aus neueren Modellen ergeben sich Gestal-

oder dem »Bekenntnis« zu einem bestimmten Werbewirkungsmodell gehen auch unterschiedliche Werbeziele einher. Während ein Teil der Modelle Verhaltensänderungen in den Vordergrund stellt, ist für andere die (veränderte) Einstellung von Bedeutung. Man kann auch einen Schritt weitergehen und das Werbeziel so definieren, dass bestimmte Wirkungen erst noch erzeugt werden sollen. Beispielsweise könnten bestimmte Werbeinhalte das Ziel haben, das Involvementniveau der Rezipienten zu beeinflussen, um sie für Argumente überhaupt erst zugänglich zu machen. Wenn man etwa von der Gültigkeit eines der Zwei-Wege-Modelle ausgeht und die Rezipienten argumentativ überzeugen möchte, dann ergibt sich als (Zwischen-)Ziel von Werbung, zunächst einmal, deren Involvement zu erhöhen. Das Erreichen dieses Ziels ist dann natürlich mit anderen Methoden zu evaluieren als im Falle der Anwendung von Einstellung-zur-Werbung-Modellen. Insgesamt kann man sagen, dass der (letztendliche) Kauf eines Produkts bestimmt nicht das einzige Ziel von Werbung ist. Zudem hat bereits das Modell von McGuire (1985) darauf aufmerksam gemacht, dass das Werbeziel nicht nur im (letztendlichen) Kauf des Produkts besteht, sondern dass zudem Markentreue zu erreichen versucht wird.

2

28

Kapitel 2 · Werbewirkungsmodelle

Fazit

2

Dieses Kapitel stellte verschiedene Werbewirkungsmodelle vor. Werbewirkungsmodelle umschreiben das Zusammenspiel unterschiedlicher Prozesse, die zwischen der Werbedarbietung und der die Werbewirkung abschließenden Reaktion, was üblicherweise das Kaufverhalten ist, liegen. Während man lange Zeit von einfachen Stufenmodellen ausging, unterstellen neuere Modelle, dass Werbewirkung auf unterschiedlichen Wegen stattfinden kann und insbesondere in Abhängigkeit vom Involvement der Rezipienten auch unterschiedliche Wirkungsprozesse eine Rolle spielen.

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2

3 3 Kaufentscheidungen Hans-Georg Wolff, Klaus Moser

3.1

Einführung

– 32

3.2

Grundlegendes

3.3

Eine Typologie von Kaufentscheidungen – 33

3.4

Entscheidungsstrategien – 36

3.5

Kaufentscheidungen als zielorientiertes Handeln – 38

3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4

Anstrengungsvermeidung – 40 Vermeidung negativer Emotionen – 42 Die Rechtfertigbarkeit von Entscheidungen – 45 Kaufentscheidungen als zielorientiertes Handeln – ein Fazit – 47

3.6

Rationalität von Kaufentscheidungen – 47

3.7

Ausblick

– 49

Literatur

– 51

– 32

K. Moser (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie DOI 10.1007/978-3-540-71637-2_3, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007

32

Kapitel 3 · Kaufentscheidungen

3.1

3

Einführung

> Männer und Einkaufen ist laut einigen Frauen eine ganz schnelle Sache. Rein ins Geschäft, passt, wackelt und hat Luft, fertig. Und wieder raus. Nicht mit mir. Jedenfalls nicht, wenn ich Schuhe suche. Da habe ich eine gewisse Vorstellung und die will ich weitestgehend erfüllt bekommen. Ok, bei sogenannten Boatshoes ist das leicht, am besten schwarzes Leder mit auf jeden Fall schwarzer Sohle. Aber ansonsten suche ich da schonmal länger. So wie neulich Sandalen. Die sollen schwarz sein. Und vorne nicht offen, denn da habe ich immer Angst, dass mir was auf die Zehen fällt. Mit diesem Wunsch stand ich nun im Schuhgeschäft. »Ich suche Sandalen, so wie die, die ich anhabe, nur interessanter.« Der Verkäufer zeigte mir eine Kopie meiner Schuhe. »Nein, schon anders, aber vorne eher geschlossen«, erklärte ich. Und erwähnte meine Angst, dass mir was auf die Zehen fällt. »Was soll ihnen da drauf fallen?«, fragte er mich. Und ergänzte: »In Afrika tragen die Leute gar keine Schuhe.« (Curious Creatures, 2006)

Menschen fällen jeden Tag eine Vielzahl von Kaufentscheidungen. Sie kaufen manche Produkte zum wiederholten Male, wie etwa Lebensmittel oder Socken, manche aber auch nur wenige Male im Leben, wie z. B. ein Haus oder einen Toaster. Solche Kaufentscheidungen laufen nicht immer »nach dem gleichen Muster« ab. Über manche Entscheidungen denkt man kaum nach, man geht sozusagen in einen Laden und findet gleich das »richtige Produkt«. Andere Käufe beschäftigen eine Person über mehrere Wochen und manchmal kann das Ergebnis auch im Verzicht auf einen Kauf liegen. In wieder anderen Fällen kommt man mit einem Produkt nach Hause, dessen Kauf man gar nicht beabsichtigt hatte. Konsumenten verfolgen zudem bestimmte Ziele mit einem Kauf; man kann kaufen, um unmittelbar zu konsumieren, um etwas zu verschenken, aber auch, um übermäßigen Konsum zu begrenzen, weil man zukünftigen Bedarf antizipiert (z. B. der Abschluss einer privaten Rentenversicherung). Und schließlich sind Kaufentscheidungen oft Bestandteil einer Rolle, also eines Bündels von standardisierten Verhaltenserwartungen, die andere an eine Person richten und welche diese zu erfüllen sucht (z. B. als professioneller Einkäufer, Vater, beste Freundin etc.). Kaufentscheidungen kommen also auf unterschiedlichen Wegen zustande.

Dieses Kapitel vermittelt einen Überblick über Kaufentscheidungen und stellt die wichtigsten theoretischen Ansätze zur Beschreibung und Erklärung von Kaufentscheidungen vor. Dabei steht die Sicht der Psychologie im Vordergrund, die sich Kaufentscheidungen aus einer individuellen Perspektive nähert. Diese Sichtweise hebt sich von der des Marketing ab, die sich dem Thema stärker aus der Produktperspektive nähert und somit v. a. Entscheidungen in bestimmten Produktgruppen (z. B. Hohes- und Geringes-Involvement-Produkte, schnelllebige Konsumgüter, Markenprodukte; vgl. 7 Kap. 7) untersucht. Im Folgenden werden wir zunächst einige Grundbegriffe erläutern. Den Hauptteil dieses Beitrages nehmen 2 Ansätze zur Beschreibung von Kaufentscheidungen ein, eine Typologie von Kaufentscheidungen und ein 7 Kontingenzansatz, der davon ausgeht, dass Konsumenten ihre 7 Entscheidungsstrategien an bestimmte Ziele anpassen, die mit der Kaufentscheidung in Zusammenhang stehen. Das Kapitel schließt mit einer Diskussion über die Rationalität von Kaufentscheidungen. 3.2

Grundlegendes

Eine Entscheidung ist allgemein definiert als Wahl einer Option aus einer gewissen Zahl von alternativen Optionen, die sich in ihren Eigenschaften (Attributen) unterscheiden. Bei Kaufentscheidungen können Konsumenten meist zwischen mehreren Produkten wählen, die unterschiedliche Produkteigenschaften besitzen. . Tabelle 3.1 stellt dies für einen Toaster dar. Die Produkteigenschaften unterscheiden sich in ihrer Wichtigkeit und ihren Konsequenzen (z. B. Produktsicherheit vs. Produktfarbe) und sind dem Konsumenten mehr oder weniger vertraut (z. B. Unterschiede zwischen elektronischer und photosensorischer Röstgradelektronik). Es kommt außerdem vor, dass Personen zwischen verschiedenen wünschenswerten Eigenschaften abwägen müssen, wenn man sich beispielsweise fragt, wie viel man für einen Designtoaster zu zahlen bereit ist. In den meisten Fällen besteht zudem die Option, kein Produkt zu kaufen oder die Entscheidung aufzuschieben, in manchen Fällen existiert nur ein Produkt und man kann lediglich entscheiden, ob man dieses kauft oder nicht. Kaufentscheidungen unterscheiden sich von anderen Entscheidungen (z. B. Günther oder Manfred heiraten, zum Spaziergang einen Schirm mitnehmen oder

33 3.3 · Eine Typologie von Kaufentscheidungen

. Tab. 3.1. Für welchen Toaster würden Sie sich entscheiden?

Eigenschaften

Produkt A

Produkt B

Produkt C

Produkt D

Hersteller

Siemens

»No-name-Produkt«

Severin

Bomann

Gehäuse

Wärmeisoliert

Designgehäuse aus gebürstetem Edelstahl

–a

Wärmeisoliert

Leistung (Watt)

1100

700

900

800

Extras

Automatische Brotzentrierung, Röstgradelektronik

–a

Temperatursensor, Softliftfunktion

–a

Preis (€)

29,99

34,99

24,99

9,99 (Angebot, sonst 14,99)

Es handelt sich um realitätsnahe, aber hypothetische Produkte. a Keine besonderen Ausstattungsmerkmale.

nicht), denn sie finden im Kontext eines Marktes statt. Käufer und Verkäufer handeln einen Preis aus, d. h. sie ordnen dem Produkt explizit einen fungiblen, monetären Wert zu. Kaufentscheidungen lassen sich zudem Entscheidungen unter Unsicherheit zuordnen, da es nicht sicher ist, ob die erhofften Konsequenzen auch tatsächlich eintreten. So hilft z. B. nicht jede Creme gegen Pickel und auch bei hochwertigen Markenlaptops können Akkus explodieren. 3.3

Eine Typologie von Kaufentscheidungen

Eine Möglichkeit, Kaufentscheidungen zu systematisieren, ist die Unterscheidung von Typen. Im Folgenden wird eine Typologie von Kroeber-Riehl und Weinberg (2003; Weinberg, 1981) vorgestellt, nach der 4 Idealtypen von Kaufentscheidungen existieren: extensive, limitierte, habitualisierte und impulsive Kaufentscheidungen. Kroeber-Riel und Weinberg postulieren, dass sich diese 4 Typen in 4 ihrem Ausmaß an gedanklicher Steuerung (kognitiv), 4 dem Ausmaß an emotionaler Aktivierung (affektiv) und 4 dem Ausmaß an automatischen Reaktionen (reaktiv) unterscheiden. In . Tab. 3.2 sind die jeweiligen Ausprägungen dieser 3 konstituierenden Merkmale dargestellt. Darüber hinaus

unterscheiden sich die 4 Typen von Kaufentscheidungen in weiteren, begleitenden Charakteristika, die ebenfalls in . Tab. 3.2 enthalten sind. Extensive Kaufentscheidungen zeichnen sich durch einen hohen kognitiven Aufwand bei der Informationsaufnahme und -verarbeitung aus. Produkteigenschaften werden sorgfältig analysiert, miteinander verglichen und in ein Gesamturteil über ein Produkt integriert. Konsumenten suchen intensiv nach Informationen und greifen dabei nicht nur auf eigenes Wissen und Erfahrungen, sondern auch auf externe Quellen zurück (z. B. Werbung, Fachzeitschriften, Bekannte; 7 Abschn. 3.5.1). Die affektive Aktivierung bei extensiven Kaufentscheidungen fördert die Bereitschaft zur intensiven Suche und Verarbeitung von Informationen. Weinberg (1981, S. 50) spricht in diesem Zusammenhang von einer »emotionalen Schubkraft«, führt den Begriff jedoch nicht näher aus. Extensive Kaufentscheidungen sind zudem nicht reaktiv, d. h. wenig von spontanen Reaktionen geprägt, sondern werden meist »wohlüberlegt« gefällt. Die extensive Kaufentscheidung kommt einer ökonomisch rationalen Kaufentscheidung am nächsten, d. h. einer Entscheidung, die für den Konsumenten einen maximalen Nutzen bedeutet. Extensive Kaufentscheidungen finden sich v. a. dann, wenn Käufer hoch involviert sind, wenig Vorerfahrung mit einer Produktkategorie besitzen und die negativen Konsequenzen einer falschen Entscheidung schwer wiegen können. Sie finden sich oftmals beim Kauf von teuren Gebrauchsgütern. Bei extensiven Kaufentscheidungen sind dem Käufer zu Beginn wichtige Attribute

3

34

Kapitel 3 · Kaufentscheidungen

. Tab. 3.2. Eine Typologie von Kaufentscheidungen. (In Anlehnung an Kroeber-Riel & Weinberg, 2003) Merkmale

Extensiv

Limitiert

Habitualisiert

Impulsiv

Hoch Hoch Gering

Mittel Gering Gering

Gering Gering Hoch

Gering Hoch Hoch

Hoch Extern und intern Keine Lang Werden im Prozess gewählt

Gering Intern Gegeben Mittel Heuristische Strategien, bewährte Regeln

–a Keine Hoch Kurz Fixe Wenn-dann-Regeln

–a Keine –a Kurz Keine

Konstituierend

3

Kognitiv Affektiv Reaktiv Begleitend Involvement Informationssuche Vorerfahrung Dauer der Entscheidungsfindung Strategien a

Es werden keine Aussagen über eine spezifische Ausprägung gemacht.

und Kriterien, die das Produkt erfüllen soll, noch unbekannt; die konkreten Kaufabsichten entstehen oft erst im Entscheidungsprozess. Ein Beispiel für eine extensive Kaufentscheidung könnte der Kauf eines Klaviers darstellen. Man besitzt keine Erfahrung mit dem Produkt, weiß zu Beginn nicht, welche Produkteigenschaften relevant sind, und muss sich dementsprechend z. B. bei der Klavierlehrerin oder Fachhändlern informieren. Zudem wird man mehrere Fachgeschäfte aufsuchen, um sich einen Überblick über das Angebot zu verschaffen. Eine falsche Entscheidung hätte zur Konsequenz, dass man viel Geld für ein Produkt ausgegeben hat, das schlecht klingt oder aus minderwertigem Holz gefertigt ist. Ebenso kann ein Konsument im Entscheidungsprozess noch weitere Alternativen (Optionen) kennen lernen (Flügel, E-Piano, Midi-Keyboard). Wenn diese Alternativen weitere Eigenschaften besitzen, die bisher keine Rolle spielten (z. B. Platzbedarf, Portabilität), so kann sogar eine Neubewertung aller Produkte erforderlich sein, um das beste, d. h. für den Konsumenten nützlichste Produkt zu identifizieren. Bei limitierten Kaufentscheidungen besitzen Konsumenten in der Regel bereits Erfahrungen mit dem Kauf eines Produktes. Sie können aufgrund ihres Vorwissens einschränken, welche Produkte in Frage kommen (das sog. »evoked set«; Howard & Sheth, 1969), und holen kaum weitere Informationen ein. Konsumenten kennen die vorhandenen Marken und die Produktattribute und konzentrieren ihre Informationssuche auf diese bekannten Alternativen. Oft wird der Käufer bei der Entscheidung für ein Produkt auf relativ einfache Ent-

scheidungsstrategien, sog. Faustregeln oder Heuristiken, zurückgreifen (7 Abschn. 3.4; 7 Beispiel). Im Vergleich zu extensiven Kaufentscheidungen ist der kognitive Aufwand somit wesentlich geringer. Bei habitualisierten Kaufentscheidungen handelt es sich um Gewohnheitskäufe, d. h. um »gedankenlose« wiederholte Käufe derselben Marke (7 Beispiel). Der kognitive Aufwand ist minimal, Informationssuche und -verarbeitung finden kaum statt. Sobald das Bedürfnis nach einem Produkt entsteht, wird ohne längeres Nachdenken die »übliche Produktalternative« gekauft. Oft handelt es sich um wenig prestigeträchtige Produkte wie Zahnpasta oder Windeln (Kaas & Dieterich, 1979). Auf der Ebene des beobachtbaren Verhaltens zeigen Konsumenten bei habitualisierten Kaufentscheidungen also Markentreue. Dabei ist umstritten, ob man habitualisierte Kaufentscheidungen nochmals differenzieren soll. Einige Autoren (z. B. Kroeber-Riel & Weinberg, 2003) setzen habitualisierte Kaufentscheidungen und Markentreue explizit gleich, da beide auf relativ automatisierten, »gedankenlosen« Prozessen beruhen. Andere Autoren unterscheiden hingegen zwischen Trägheit und Markentreue (Amine, 1998; Knox & Walker, 2001; Martin & Goodell, 1991), die sich in ihrer theoretischen Basis und ihren Konsequenzen unterscheiden. Unter Trägheit versteht man den eher routinemäßigen Kauf, der aus Bequemlichkeit resultiert. Unterbrechungen in der Kaufroutine, z. B. durch Sonderangebote oder Sortimentswechsel, können bei Trägheit leicht zu einem Wechsel der Marke führen. Demgegenüber beinhaltet das Konzept der Markentreue über den wieder-

35 3.3 · Eine Typologie von Kaufentscheidungen

holten Kauf einer Marke hinaus auch eine affektive Bindung (Commitment). Dies ist für Firmen von hoher Bedeutung, da treue Kunden ihrem Produkt auch dann eher treu bleiben, wenn die Kaufroutine durch Sonderangebote oder Lieferschwierigkeiten unterbrochen oder der Preis erhöht wird (Amine, 1998; vgl. auch 7 Kap. 8). Markentreue Konsumenten empfehlen Produkte zudem häufiger Bekannten (vgl. auch 7 Kap. 7). Beispiel

Hoyer (1984) beobachtete und befragte 120 Personen beim Waschmittelkauf im Supermarkt. Nahezu drei Viertel der beobachteten Personen betrachteten nur eine einzige Waschmittelpackung im Regal genauer und entschieden sich auch für diese. Vom Einbiegen in eine Regalreihe bis zur Kaufentscheidung benötigten die Konsumenten im Mittel 13 s. Auf die Frage nach dem Grund für ihre Entscheidung nannten sie v. a. die Qualität des Produktes (28%, z. B. »beste Marke«, »wäscht sauberer als andere«), den Preis (23%, »am billigsten«, »Sonderangebot«), eine Vorliebe für das Produkt (20%, »ich mag es«, »mir gefällt es«) und die Meinung anderer (10%, Partner oder Eltern gefällt die Marke). Hoyer zieht aus dieser Untersuchung den Schluss, dass die Kaufentscheidung für Waschmittel mehrheitlich durch 3 simple Vorgehensweisen beschrieben werden kann: »Kaufe das billigste« (limitierte Kaufentscheidung), »Kaufe die bewährte Marke« (habitualisierte Kaufentscheidung) und »Kaufe, was andere gut finden«.

Zur Erklärung von habitualisierten Kaufentscheidungen können auch Lernprozesse herangezogen werden (Kaas & Dieterich, 1979; Scitovsky, 1989). Kaufentscheidungen werden durch positive Konsumerfahrungen belohnt (verstärkt), was zur Wiederholung des entsprechenden Kaufverhaltens führt. Zudem trägt der Status-quo-Effekt zur Aufrechterhaltung von Gewohnheiten bei (Inman & Zeelenberg, 2002; Samuelson & Zeckhauser, 1988; siehe auch 7 Abschn. 3.5.2). Impulskäufe sind durch hohe Reaktivität gekennzeichnet, d. h. durch spontanes, ungeplantes Handeln, durch den plötzlichen Drang ein Produkt zu kaufen (Rook, 1987). Die Entscheidung entsteht oft erst vor Ort bei der Beachtung des Produkts, ohne dass die vorherige

Absicht bestand, ein Produkt zu kaufen. Obwohl Impulskäufe oftmals im Zusammenhang mit preiswerten Produkten diskutiert werden (z. B. Süßigkeiten an der Supermarktkasse – die sog. Quengelware), können auch hochpreisige Produkte, etwa ein Abendkleid oder ein Fernseher, impulsiv gekauft werden. Der kognitive Aufwand ist bei Impulskäufen gering. Unterschiedliche Alternativen werden nicht gegeneinander abgewogen und auch mögliche Konsequenzen kaum berücksichtigt. Impulskäufe sind außerdem aktivierend und emotional – beispielsweise beschreiben Konsumenten in Interviewstudien, dass sie beim Anblick eines Produktes »magisch angezogen« werden (Rook, 1987). Diese starke Aktivierung und Emotionalisierung unterscheidet Impulskäufe von anderen, sog. ungeplanten Käufen, bei denen dem Konsumenten beim Anblick des Produkts einfällt, dass er es benötigt. Es handelt sich z. B. nicht um einen Impulskauf, wenn einer Person erst beim Gang durch die Hygieneartikelabteilung einfällt, dass sie ein neues Shampoo benötigt. Impulskäufe sind sowohl auf Persönlichkeitsunterschiede (eine Neigung zu Impulskäufen; Verplanken & Herabadi, 2001) als auch auf Kontextfaktoren zurückführbar (Jones, Reynolds, Weun & Beatty, 2003). Eine pathologische Form von Impulskäufen stellt die Kaufsucht dar (vgl. 7 Info-Box). Info-Box

Kaufsucht Beim pathologischen Kaufen oder der Kaufsucht handelt es sich um eine Impulskontrollstörung (Müller & de Zwaan, 2004). Sie drückt sich in wiederholten, exzessiven Käufen und der gedanklichen Beschäftigung mit Käufen aus. Der Impuls zum Kaufen wird als unwiderstehlich und gleichzeitig sinnlos wahrgenommen. Von Bedeutung sind auch die negativen Folgen, die aus solchen Käufen resultieren, wie subjektives Leiden, Beeinträchtigungen beim Erfüllen sozialer und beruflicher Anforderungen und finanzielle Probleme. Repräsentative Untersuchungen in Deutschland zeigen, dass zwischen 6% und 8% der Bevölkerung als stark kaufsuchtgefährdet eingestuft werden können (Neuner, Raab & Reisch, 2005). Dass dabei gesellschaftliche Konsummuster und -angebote eine Rolle spielen könnten, zeigt der Anstieg an Kaufsuchtgefährdeten in den ostdeutschen Bundesländern von 1% im Jahr 1991 auf 6,5% im Jahr 2001.

3

36

3

Kapitel 3 · Kaufentscheidungen

Wie lassen sich solche Typologien beurteilen? Ihre Formulierung bietet Hilfestellung bei der Charakterisierung und Ordnung unterschiedlichster Kaufentscheidungen. In der Forschung werden v. a. Impulskäufe und habitualisierte Kaufentscheidungen als besondere Phänomene hervorgehoben und in eigenen Studien untersucht. Allerdings ist nicht nachvollziehbar, warum es gerade 4 Typen sein sollen. Andere Autoren etwa beschreiben lediglich extensive, limitierte und habitualisierte Käufe, die bereits anhand ihres kognitiven Aufwands differenzierbar sind, ohne auf reaktive und emotionale Merkmale einzugehen (Blackwell, Miniard & Engel, 2001). Zudem sind weitere Kombinationen der 3 konstituierenden Merkmale denkbar, beispielsweise könnte Markentreue als Entscheidungstypus mit geringer kognitiver, hoher reaktiver und hoher affektiver Ausprägung von habitualisierten Kaufentscheidungen differenziert werden. In der hier vorgestellten Typologie ist zudem das Konzept der affektiven Aktivierung nicht eindeutig beschrieben. 3.4

Entscheidungsstrategien

Ein anderer Ansatz zur Beschreibung von Kaufentscheidungen wird von der Gruppe um Bettmann vertreten (z. B. Bettman, Luce & Payne, 1998; Payne, Bettman, Coupey & Johnson, 1992). Diese Autoren nehmen an, dass Konsumenten über ein vielseitiges Arsenal von Entscheidungsstrategien verfügen, aus dem sie in Abhängigkeit von ihren jeweiligen Zielen und dem Entscheidungskontext eine Strategie wählen. Es handelt sich somit um einen Kontingenzansatz. Konsumenten wählen erst im Laufe des Entscheidungsprozesses Entscheidungsstrategien und können diese jederzeit überdenken und ändern. Viele Entscheidungen werden somit in der Situation »konstruiert«. Konsumenten haben zwar auch feste Präferenzen für Produkte oder Produkteigenschaften (Gewohnheitskäufe), in anderen Fällen überlegen sich Konsumenten jedoch erst im Angesicht der Produkte im Supermarktregal, wie sie eine Entscheidung fällen. Auf diese Weise können Kontextmerkmale, wie etwa vorhandene Produktalternativen oder Zeitdruck, die Wahl einer Entscheidungsstrategie beeinflussen – und damit auch den Kauf selbst. Zur Erläuterung dieses Ansatzes werden in diesem Abschnitt zunächst Entscheidungsstrategien beschrieben und im folgenden Abschnitt Faktoren erläutert, die die Wahl einer Strategie beeinflussen.

In der Forschung wird eine Vielzahl von Entscheidungsstrategien beschrieben, die bei Kaufentscheidungen Anwendung finden. Zur Identifikation dieser Strategien verwenden experimentelle Studien oft Informations-Display-Matrizen, zu denen auch die Darstellung in . Tab. 3.1 gehört (Payne et al., 1992; Weinberg & Schulte Frankenfeld, 1983). In den Spalten solcher Matrizen werden verschiedene Produkte dargestellt, deren unterschiedliche Eigenschaftsausprägungen sich dann in den Zeilen befinden (in . Tab. 3.1 könnte man die Zeile »Extras« noch in mehrere Zeilen mit den Ausprägungen »vorhanden« und »nicht vorhanden« aufteilen). Die Zellen, in denen sich die konkreten Produkteigenschaften befinden, sind im Experiment verdeckt. Wenn sich Versuchspersonen (Vpn) über eine bestimmte Eigenschaft eines Produktes informieren möchten, müssen sie die entsprechende Zelle aufdecken. Durch diese Versuchsanordnung wird nachvollziehbar, welche Eigenschaften beachtet werden, in welcher Reihenfolge dies geschieht, ob zunächst alle Eigenschaften eines Produktes oder alle Ausprägungen einer Eigenschaft beachtet werden usw. Man kann so unterschiedliche Strategien der Informationsaufnahme identifizieren, von denen eine Auswahl in . Tab. 3.3 dargestellt ist (Bettman et al., 1998; Jungermann, Pfister & Fischer, 2005). Diese Strategien unterscheiden sich in 4 grundlegenden Aspekten: 1. Extensive vs. limitierte Informationsverarbeitung: Diese Unterscheidung bezieht sich auf die beachtete Informationsmenge. Man kann entweder versuchen, möglichst viele verfügbare Informationen zu berücksichtigen (extensive Verarbeitung), oder aber sich auf wenige Informationen beschränken (limitierte Verarbeitung). Beispielsweise könnten sich Personen auf den Vergleich des Produktdesigns beschränken und einfach den schönsten Toaster kaufen. Sie könnten aber auch weitere Informationen beachten, wie etwa den Preis oder Zusatzfunktionen. 2. Eigenschaftsorientiertes vs. produktbasiertes Vorgehen: Bei eigenschaftsorientierten (attributbasierten) Strategien wird jeweils eine Produkteigenschaft herausgegriffen und für alle Produkte beachtet. Zum Beispiel kann man zunächst die Preise aller angebotenen Produkte beachten und erst dann weitere Merkmale betrachten. Bei produktbasierten (alternativenbasierten) Strategien werden nacheinander die Produkte anhand ihrer relevanten Eigenschaften begutachtet, d. h. erst werden Eigenschaften von

37 3.4 · Entscheidungsstrategien

. Tab. 3.3. Entscheidungsstrategien

Strategie

Informationsmenge

Selektivität

Orientierung

Kompensatorisch

Beispiel

Multiplikativ (additiv gewichtend)

Extensiv

Konsistent

Eigenschaftsorientiert

Kompensatorisch

»Ich habe verschiedene Produkteigenschaften berücksichtigt, diese unterschiedlich gewichtet und dann das insgesamt beste gewählt.«

Lexikographisch

Limitiert

Selektiv

Produktorientiert

Nonkompensatorisch

»Ich entschied mich für das Produkt, das nach dem wichtigsten Merkmal am besten abschnitt; wenn mehrere Produkte gut abgeschnitten hatten, entschied ich mich nach dem zweitwichtigsten Merkmal.«

Satisficing (zufriedenstellend)

–a

Selektiv

Produktorientiert

Nonkompensatorisch

»Ich sah mir mehrere Produkte nacheinander an und entschied mich für das erste, das mir in Ordnung zu sein schien.«

Elimination nach Eigenschaftsausprägungen

–a

Variabela

Eigenschaftsorientiert

Nonkompensatorisch

»Ich schloss nacheinander die Produkte mit inakzeptablen Eigenschaften aus.«

Additiv kompensatorisch

Extensiv

Konsistent

Produktorientiert

Kompensatorisch

»Ich habe verschiedene Eigenschaften berücksichtigt und das Produkt mit den meisten guten Eigenschaften gewählt.«

Mehrheitlich bestätigend

Extensiv

Konsistent

Produktorientiert

Kompensatorisch

»Ich habe zuerst 2 Produkte verglichen. Das bessere von den beiden habe ich dann mit dem nächsten verglichen etc.«

Konjunktiv (abzählend)

–a

Konsistent

Produktorientiert

Kompensatorisch

»Ich kaufte das Produkt mit den wenigsten schlechten Eigenschaften.«

a

Die Ausprägung dieser Eigenschaft ist nicht eindeutig und hängt von der konkreten Entscheidungssituation ab.

Produkt A begutachtet, es folgen Eigenschaften von Produkt B usw. 3. Kompensatorische vs. nonkompensatorische Strategien: Bei kompensatorischen Strategien können schlechte Produkteigenschaften durch andere gute Eigenschaften ausgeglichen werden, bei nonkompensatorischen Strategien wird ein solcher Ausgleich nicht vorgenommen. So kann beispielsweise ein hoher Preis bei kompensatorischen Strategien durch andere positive Eigenschaften (Qualität, Haltbarkeit) ausgeglichen werden. Bei nonkompensatorischen Strategien würde z. B. eine Alternative, die zu teuer

ist, nicht weiter beachtet, unabhängig davon, wie gut andere Eigenschaften ausgeprägt sind. 4. Selektive vs. konsistente Informationsverarbeitung: Selektivität existiert sowohl hinsichtlich der Produkte als auch hinsichtlich der Produkteigenschaften. Bei selektiven Strategien wird für jedes Produkt (oder jede Eigenschaft) eine unterschiedliche Zahl an Informationen beachtet, während beim anderen Extrem, also konsistenten Strategien, die Informationsmenge für jedes Produkt (jede Eigenschaft) gleich bzw. konsistent ist. Beachtet eine Person bei allen Produkten nur eine Eigenschaft, so liegt

3

38

Kapitel 3 · Kaufentscheidungen

Selektivität hinsichtlich der Eigenschaften und Konsistenz hinsichtlich der Produkte vor. Beachtet eine andere Person die Eigenschaften der Produkte A und B, nicht aber die von Produkt C, handelt es sich um Selektivität hinsichtlich der Produkte.

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Die in . Tab. 3.3 beschriebene multiplikative Strategie spielt in der präskriptiven Entscheidungstheorie eine besondere Rolle, da sie den Prototyp einer ökonomisch »rationalen« Strategie darstellt (vgl. Frey, 1990; O’Shaugnessy, 1987). Die Anwendung der multiplikativen Strategie erfordert die Bestimmung der Wichtigkeit der Produkteigenschaften und die Qualitätsbewertung der Eigenschaftsausprägungen für jedes Produkt. Die Bewertung der Eigenschaftsausprägung wird mit der Wichtigkeit der Eigenschaft multipliziert und dann für jedes Produkt addiert. Bei den Toastern in . Tab. 3.1 müsste man also zunächst die Wichtigkeit der Merkmale Hersteller, Gehäuse, Leistung, Extras und Preis bestimmen, indem man z. B. festlegt, dass die wichtigste Eigenschaft der Preis ist, die zweitwichtigste das Gehäuse, und diesen Eigenschaften dann Punktwerte gemäß ihrer Wichtigkeit zuordnet (etwa Preis 10 Wichtigkeitspunkte, Gehäuse 6 Punkte etc.). In einem zweiten Schritt würde die (subjektive) Qualität der jeweiligen Eigenschaftsausprägungen bewertet, so kann z. B. die Qualität eines jeden Gehäuses auf einer Skala von 1 bis 5 bewertet werden. Diese Qualitätsbewertungen werden anschließend mit den dazugehörigen Wichtigkeiten der Eigenschaften multipliziert. Die Ergebnisse werden dann für jedes Produkt zu einem Gesamturteil addiert, und dann wird das Produkt mit dem besten Gesamturteil gekauft. Bei der multiplikativen Strategie handelt es sich um eine extensive, eigenschaftsorientierte, konsistente und kompensatorische Strategie. Sie bildet die Basis einer Reihe von Marktforschungsmethoden, wie etwa der ConjointAnalyse (z. B. Klein, 2002; Moser & Wolff, 2007), und auch die Stiftung Warentest verwendet diese Strategie zur Berechnung von Testurteilen. Die anderen Entscheidungsstrategien stellen demgegenüber Vereinfachungen, sog. heuristische Strategien dar. Beispielsweise wird bei der additiv-kompensatorischen Regel auf die Bestimmung der Merkmalswichtigkeit verzichtet – man zählt einfach nur die positiven Eigenschaften der Produkte. Bei der lexikographischen Strategie wird auf die Berücksichtigung aller Produkteigenschaften verzichtet und lediglich die wichtigste(n) Eigenschaft(en) betrachtet. Ist bei den Toastern in

. Tab. 3.1 das Design die wichtigste Produkteigenschaft, würde man sich nach der lexikographischen Strategie für Produkt B entscheiden und den hohen Preis sowie die geringe Leistung dieses Produkts nicht weiter berücksichtigen. Wann Konsumenten bestimmte Strategien bevorzugt einsetzen, wird im folgenden Abschnitt näher erläutert.

Kaufentscheidungen als zielorientiertes Handeln

3.5

Die im vorigen Abschnitt erörterten Entscheidungsstrategien zeigen, dass die Informationssuche und -integration mittels mehrerer Strategien geschehen kann. Es stellt sich daher die Frage, wann Konsumenten welche Strategien verwenden. Hierauf gibt der Kontingenzansatz von Bettman et al. (1998) eine Antwort. Es sind vor allem 2 Faktoren, die diese Entscheidung bestimmen. Erstens spielen Ziele, die Konsumenten in einer Kaufsituation verfolgen, eine Rolle. Diese stehen im Ansatz von Bettman et al. im Vordergrund. Die Autoren heben 4 Ziele hervor, auf die im Folgenden näher eingegangen wird. Ein zweiter Faktor, der die Wahl einer Entscheidungsstrategie beeinflusst, sind Kontextmerkmale, wie etwa die Produktpräsentation oder Merkmale der Einkaufsstätte. Kontextfaktoren spielen bei Bettman et al. eine untergeordnete Rolle und werden v. a. dann hervorgehoben, wenn sie die Wahl einer Entscheidungsstrategie beeinflussen. Eine Übersicht über weitere Kontextmerkmale befindet sich in der nachfolgenden 7 Info-Box. Info-Box

Kontextmerkmale Neben den Zielen von Konsumenten werden Kaufentscheidungen auch von Kontextmerkmalen beeinflusst. Im Rahmen des Kontingenzansatzes von Bettman et al. (1998) werden einige Kontextmerkmale, die die Wahl einer Entscheidungsstrategie beeinflussen, explizit berücksichtigt, z. B. die Komplexität des Produktangebots oder fehlende Produktinformationen. In diesem Exkurs werden weitere Kontextfaktoren vorgestellt, die sich zwar allgemein auf Kaufentscheidungen auswirken, ob und wie diese Faktoren die Wahl von Entscheidungsstrategien beeinflussen bleibt allerdings offen. 6

39 3.5 · Kaufentscheidungen als zielorientiertes Handeln

Ein produktnaher Faktor ist die Formulierung von Produkteigenschaften,vondersichKonsumentenbeeinflussen lassen. Prominentestes Beispiel ist der FramingEffekt, der sich aus der Prospect-Theory von Tversky und Kahneman (1979) ableiten lässt (vgl. 7 Abschn. 11.2.2.3). Nach dieser Theorie bildet nicht der absolute Wert einer Produkteigenschaft die Grundlage für die Eigenschaftsbewertung, sondern die relative Differenz zu einem Referenzpunkt. Liegt eine Ausprägung unterhalb des Referenzpunktes, so wird sie als »Verlust« betrachtet, liegt sie darüber, so wird sie als Gewinn betrachtet. Darüber hinaus gewichten Personen Gewinne und Verluste nicht gleich, sondern sie sind im Rahmen von Kaufentscheidungen verlustaversiv, d. h. sie gewichten Verluste stärker als Gewinne. Diese Mechanismen lassen sich gezielt für die Formulierung von Produkteigenschaften nutzen. Eine positive Formulierung im Sinne eines Gewinnes (positiver Frame) deutet an, dass ein Wert über dem vermeintlichen Referenzpunkt liegt, während eine negative Formulierung im Sinne eines Verlusts (negativer Frame) andeutet, die Produkteigenschaft liege unter dem Referenzpunkt. Dass solche Formulierungsunterschiede tatsächlich die Beurteilung von Produkten beeinflussen, haben Levin und Gaeth (1988) in einem Versuch gezeigt, in dem die Versuchspersonen Hackfleischbeschreibungen beurteilen sollten. Das Hackfleisch wurde entweder als »75% mager« (positiver Frame) oder »25% Fettgehalt« (negativer Frame) beschrieben. Es zeigte sich, dass Personen in der Bedingung mit positivem Frame das Hackfleisch signifikant positiver beurteilten als Personen in der Bedingung mit negativem Frame – und das selbst dann noch, wenn sie das Fleisch kosten konnten (wenn auch in geringerem Ausmaß). Mehrere Studien zeigen zudem, dass Merkmale der Einkaufsstätte selbst einen Effekt auf Kaufentscheidungen haben. Baker, Levy und Grewal (1992) gehen in Anlehnung an Mehrabian und Russell (1974, zitiert nach Baker et al., 1992) davon aus, dass das Ambiente (Musik, Beleuchtung, Temperatur, Geruch), das

Ein erstes Ziel, das in ökonomischen Theorien eine prominente Rolle spielt, ist, eine akkurate Entscheidung zu treffen. Konsumenten sind demnach bemüht, das für ihre Bedürfnisse beste Produkt zu wählen. Die multiplikative Strategie stellt hierfür den Königsweg dar, mit

soziale Umfeld (Verhalten von Verkäufern und Kunden) sowie das Ladendesign (Architektur, Anordnung der Produkte) das emotionale Befinden (Fröhlichkeit [engl. pleasure] und Aktivierung) der Konsumenten beeinflussen. Das emotionale Befinden wiederum wirkt sich auf die allgemeine Kaufbereitschaft von Konsumenten aus. In einem Laborexperiment konnten die Autoren nachweisen, dass eine Kombination aus angenehmer Musik mit weichem Licht (vs. unangenehme Musik mit hellem Licht) und freundlichem (vs. neutralem) Personal die Kaufbereitschaft fördert und dieser Effekt durch Fröhlichkeit und Aktivierung mediiert wird. In einer weiteren Studie befragten Donovan, Rossiter, Marcoolyn und Nesdale (1994) Konsumenten beim Betreten eines Geschäfts, wie lange sie sich im Geschäft aufhalten würden und wie viel sie zu kaufen planten. Zudem erhoben die Autoren den Einfluss der Ladenatmosphäre, indem sie die Konsumenten 5 min nach Betreten des Geschäfts zu ihrer emotionalen Befindlichkeit (positiv vs. negativ) sowie ihrer Aktivierung (Erregung) befragten. An der Kasse erfassten Donovan et al. (1994) die tatsächliche Einkaufszeit und die tatsächlichen Ausgaben. Es zeigte sich, dass Konsumenten mit positiver Befindlichkeit länger als geplant im Geschäft verweilten und auch mehr Geld ausgaben, als sie geplant hatten. Unter der Voraussetzung, dass die Ladenatmosphäre tatsächlich einen Einfluss auf die Befindlichkeit hatte, kann die Ladenatmosphäre somit die Verweildauer und die Ausgaben von Konsumenten beeinflussen. Die Ergebnisse für die Aktivierung sind weniger prägnant, deuten jedoch nach Donovan et al. darauf hin, dass Aktivierung die Effekte der jeweiligen Befindlichkeit verstärkt. Insgesamt zeigen diese Ergebnisse, dass die Ladenatmosphäre die allgemeine Kaufbereitschaft steigern kann und dies über die Befindlichkeit vermittelt wird. Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass vermutlich nicht die »eine beste Ladenatmosphäre« existiert, sondern diese von Kunden- und Produktmerkmalen abhängig ist (z. B. Jugendliche vs. Erwachsene, Gebrauchs- vs. Luxusgüter; vgl. z. B. Schlosser, 1998).

dem in jedem Fall das beste Produkt identifiziert wird – wenn man mögliche Fehler bei der Eigenschaftsbewertung und -gewichtung außer Acht lässt (vgl. 7 Abschn. 3.6). Bei den anderen Strategien kann es zu suboptimalen Lösungen kommen, da Informationen nicht

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Kapitel 3 · Kaufentscheidungen

beachtet oder nur ungenügend gegeneinander abgewogen werden. Beispielsweise kann die Verwendung der konjunktiven Strategie dazu führen, dass ein Produkt mit wenigen, aber gravierenden negativen Eigenschaften gewählt wird, und je nach Präsentationsreihenfolge kann Satisficing zur Wahl eines zufriedenstellenden, nicht aber des besten oder zweitbesten Produkts führen. Dennoch verwenden Konsumenten diese »suboptimalen« heuristischen Strategien. Den Grund hierfür sehen Bettman et al. (1998) darin, dass Käufer weitere Ziele verfolgen, die mit dem Ziel eine akkurate Entscheidung zu treffen in Widerspruch stehen. Bei der Wahl einer Entscheidungsstrategie berücksichtigen Käufer auch 4 die Vermeidung von Anstrengungen, 4 die Vermeidung negativer Emotionen und 4 die Rechtfertigbarkeit von Kaufentscheidungen. Wie in den folgenden Abschnitten erörtert wird, führt die Berücksichtigung dieser Ziele dazu, dass Käufer nicht immer die multiplikative Strategie, sondern heuristische Strategien verwenden. 3.5.1 Anstrengungsvermeidung Eine akkurate Entscheidung anhand der multiplikativen Strategie zu fällen, kostet Zeit und Anstrengung: Sämtliche Eigenschaften aller Produkte müssen begutachtet, bewertet und gewichtet werden. Es ist unmittelbar einsichtig, dass die multiplikative Strategie bei einer großen Zahl von Produkten und Produkteigenschaften sehr zeitaufwändig ist. Konsumenten sind daher nicht immer bereit, die erforderlichen Ressourcen aufzubringen, um eine akkurate Entscheidung zu treffen. Vielmehr sind sie auch daran interessiert, Anstrengungen zu vermeiden. Konsumenten greifen deshalb auf weniger aufwändige heuristische Strategien zurück, auch wenn mit ihnen nicht immer das beste Produkt identifiziert werden kann. Sie wägen ab, ob sich der zeitaufwändige Einsatz der multiplikativen Strategie lohnt oder ob das Risiko, ein zweitklassiges Produkt zu kaufen, ihnen die Einsparungen an Zeit und Anstrengung wert sind (Shugan, 1980). Bei der Wahl einer heuristischen Strategie muss außerdem berücksichtigt werden, dass die Kosten des Einsatzes unterschiedlicher Strategien nicht konstant, sondern situationsabhängig sind. Es ergeben sich somit

je nach Situation unterschiedliche Kosten-Nutzen-Relationen für die jeweiligen Strategien. Im Folgenden werden 3 situative Faktoren vorgestellt, die die Wahl einer Entscheidungsstrategie beeinflussen, nämlich Komplexität, Informationsdefizite und Zeitdruck. Komplexität Die Komplexität einer Entscheidung wird von der Zahl der vorhandenen Produkte und der Zahl ihrer Produkteigenschaften bestimmt, d. h. je mehr Produkte und je mehr Produkteigenschaften vorliegen, desto komplexer die Kaufentscheidung. So ist zum Beispiel die Entscheidung zwischen 10 verschiedenen Ravioliprodukten komplexer als die Entscheidung zwischen nur 3 Produkten, da mehr Produkte mit ihren Eigenschaften berücksichtigt werden müssen. Die Kosten für die Entscheidung steigen insbesondere für die multiplikative Strategie stark an: Für jedes weitere Produkt, das zu einem Sortiment hinzukommt, müssen alle Produkteigenschaften beachtet, bewertet und in ein Gesamturteil integriert werden. Denkt man an die Produktvielfalt in einigen Kategorien, so erscheint die Verwendung der multiplikativen Strategie manchmal fast unmöglich (z. B. bei der Größe des Müslisortiments in manchen Supermärkten). Demgegenüber steigen die Kosten bei der Verwendung heuristischer Strategien mit zunehmender Komplexität langsamer an. Bei der mehrheitlich bestätigenden Strategie kommt z. B. mit jedem weiteren Produkt lediglich ein Produktvergleich hinzu, und bei der lexikographischen Strategie kann es ausreichen, eine einzige Eigenschaft des neuen Produktes zu beachten. Die Strategien unterscheiden sich also in dem Ausmaß mit dem die Kosten bei zunehmender Komplexität ansteigen. Allerdings unterscheiden sich die Strategien auch in der Wahrscheinlichkeit, eine gute Wahl zu treffen. Welche Entscheidungsgüte mit heuristischen Strategien erzielt wird, kann nicht pauschal beantwortet werden. Dies hängt von den konkreten Produktalternativen und ihren Ausprägungen ab. Insgesamt hat sich gezeigt, dass zunehmende Komplexität der Produktauswahl zur Verwendung weniger komplexer Strategien führt. Entscheider verwenden mit zunehmender Zahl an Produkten stärker nonkompensatorische Strategien und greifen mit steigender Zahl an Produkteigenschaften stärker auf selektive Strategien zurück. So zeigt beispielsweise Payne (1976), dass Versuchspersonen (Vpn) beim Vergleich von 2 Apartments meist alle Informationen beachten und miteinander ver-

41 3.5 · Kaufentscheidungen als zielorientiertes Handeln

gleichen. Beim Vergleich von 6 oder 12 Apartments ist dies jedoch nicht mehr der Fall: Je mehr Informationen vorliegen, desto geringer ist der relative Anteil von Merkmalen, der beachtet und in ein Urteil integriert wird. Die Vpn setzen stärker Strategien wie Elimination nach Eigenschaftsausprägungen und darüber hinaus auch Strategiekombinationen ein. Manche Vpn schränkten z. B. in einem ersten Schritt die Zahl der in Frage kommenden Apartments anhand weniger Produkteigenschaften ein (eliminativ nach Eigenschaftsausprägungen) und verwendeten dann in einem zweiten Schritt kompensatorische Strategien (z. B. die additiv kompensatorische Strategie), um sich für eine Produktalternative zu entscheiden. Informationsdefizite Einen weiteren »Kostentreiber« bei Entscheidungen stellen Informationsdefizite dar. In vielen Situationen sind Produktinformationen unvollständig (z. B. die Kosten für Ersatzteile beim Neuwagenkauf), schwer verständlich (ist ein »körniger« Hemdenstoff gut?) oder schwer vergleichbar (z. B. bei Käse: »45% Fett in Trockenmasse« vs. »16% Fett absolut«). In solchen Fällen sind extensive Strategien, wie die multiplikative oder additiv kompensatorische Strategie, nicht ohne weiteres anwendbar, denn diese Strategien basieren auf der Berücksichtigung aller Informationen. Was können Konsumenten in solchen Fällen unternehmen? Zunächst einmal müssen die Informationsdefizite bemerkt werden. Dies ist eher der Fall, wenn man eigenschaftsorientierte Strategien verwendet, da man dabei die Produkteigenschaften explizit miteinander vergleicht (z. B. wenn Produkt A auf den Kaloriengehalt hinweist, nicht aber Produkt B). Des Weiteren fallen Konsumenten Defizite eher auf, wenn sie Erfahrung mit einer Produktkategorie besitzen und die relevanten Kriterien kennen. Haben Konsumenten Defizite bemerkt, können sie sich überlegen, ob sie bereit sind, auf diese Informationen zu verzichten, oder ob sie weitere Anstrengungen unternehmen möchten, um die fehlenden Informationen einzuholen. Verzichten Konsumenten auf das Einholen von Informationen, so können sie versuchen, die fehlenden Informationen zu erschließen (Kardes, Posavac & Cronley, 2004). Dabei versuchen sie, fehlende oder unverständliche Informationen unter Berücksichtigung der vorhandenen Informationen zu bestimmen. Es finden dabei 2 Strategien Anwendung, die jeweils die

Eigenschaften anderer Produkte berücksichtigen. Konsumenten können zum einen andere Produkte heranziehen und für die fehlende Information eine durchschnittliche Ausprägung annehmen. Zum anderen können Entscheider auf vermutete Zusammenhänge zwischen Produktattributen zurückgreifen und so fehlende Produktinformationen aus den gegebenen Informationen über ein Produkt bestimmen. So wird z. B. bei teureren Produkten oder solchen mit längerer Garantiezeit oft eine bessere Qualität vermutet. Auch die Tatsache, dass es sich um ein Markenprodukt handelt, kann zur Erschließung weiterer Produkteigenschaften herangezogen werden (vgl. 7 Kap. 7). Die Erschließung von Produkteigenschaften führt in der Regel zu einer moderateren Beurteilung des Produkts, d. h. Produkte mit positiven Ausprägungen in vorhandenen Informationen werden schlechter, solche mit negativen Ausprägungen besser beurteilt (Sanbonmatsu, Kardes, Posavac & Houghton, 1997). Konsumenten können fehlende Informationen darüber hinaus aktiv suchen. Es können interne und externe Suchprozesse unterschieden werden. Bei der internen Suche wird auf Informationen zurückgegriffen, die Konsumenten bereits im Gedächtnis gespeichert haben. Diese Informationen basieren sowohl auf eigenen Erfahrungen (z. B. frühere Käufe) als auch auf Informationen, die Konsumenten aus anderen Quellen lernen (z. B. Werbebotschaften). Wird die interne Suche nach Informationen als nicht ausreichend beurteilt, wird es vermehrt zur externen Suche kommen, d. h. Konsumenten bemühen sich aktiv, die fehlenden Informationen in ihrer Umwelt zu finden. Wollen sie eine möglichst akkurate Entscheidung treffen, müssen sie in diesem Fall entsprechende Kosten bei der externen Informationssuche in Kauf nehmen (Shugan, 1980; Strebel, Erdem & Swait, 2004). Das Ausmaß an externer Suche hängt von den Kosten des Informationserwerbs und dem Nutzen, der durch die zusätzlichen Informationen zustande kommt, ab (»Lohnt es sich, weitere Preisvergleiche anzustellen, nur um ein paar Cent zu sparen?«). Persönliche und situative Bedingungen des Such- und Entscheidungsverhaltens sind Zeitdruck, die Bedeutung der Entscheidung, die Verfügbarkeit und Qualität von externen Informationen, vorherige Erfahrungen und das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, Entscheidungen zu fällen (Bettman et al., 1998; Blackwell et al., 2001; Strebel et al., 2004). Die Bedeutung der Entscheidung drückt sich in der hohen

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Kapitel 3 · Kaufentscheidungen

emotionalen Beteiligung oder in dem hohen wahrgenommenen Risiko aus (z. B. drohende schwerwiegende Konsequenzen falscher Entscheidungen). Folgende 5 Faktoren sind hier relevant: 1. Höhe des Preises, 2. Verwendungsdauer, 3. Öffentlichkeit des Konsums, 4. Unsicherheit und 5. Konsequenzen der Entscheidungen. Das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, Entscheidungen zu fällen, hängt davon ab, wie gut die Eigenschaften eines Produktes bekannt sind und wie die eigene Fähigkeit, Marken- oder Produkteigenschaften zu beurteilen, eingeschätzt wird. Interessanterweise nimmt das Ausmaß an externer Suche mit größerer Erfahrung nicht linear ab. Vielmehr ist der Zusammenhang zwischen externer Suche und Erfahrung umgekehrt u-förmig, d. h. wenn Personen bereits etwas Erfahrung mit einem Produkt besitzen, findet externe Suche am häufigsten statt (Moorthy, Ratchford & Talukdar, 1997). Im Gegensatz dazu suchen Personen ohne Erfahrung seltener, weil sie nicht wissen, wie sie an Informationen kommen können, und die Informationen in Ermangelung von Vorwissen verwirrend sein könnten. Ebenso verzichten Personen mit viel Erfahrung oft auf externe Suche, da sie auf ihr erworbenes Produktwissen zurückgreifen können. Die am häufigsten verwendeten Quellen bei der externen Informationssuche sind Bekannte, Fachzeitschriften, Fachgeschäfte und Produktanzeigen. Strebel et al. (2004) haben die Nutzung dieser Quellen beim Kauf eines Computers untersucht und festgestellt, dass Konsumenten nicht alle Quellen in gleichem Ausmaß nutzen, sondern bestimmte Quellen bevorzugen und andere Informationskanäle vernachlässigen – lediglich Bekannte nehmen eine Sonderrolle ein, denn von ihnen werden unabhängig von anderen Kanälen Informationen eingeholt. Die Autoren finden außerdem, dass Experten eher auf fachbezogene Informationen (Fachzeitschriften) zurückgreifen, während Laien stärker Informationen von Bekannten verwenden. Ältere Personen stützen sich weniger auf Fachinformationen und Bekannte, sondern v. a. auf Fachgeschäfte und allgemeine Zeitschriften.

Zeitdruck Ein weiterer Faktor, der die Wahl einer Entscheidungsstrategie beeinflusst, ist Zeitdruck. Nicht immer haben Individuen die Zeit, sich intensiv mit Produkten und ihren Eigenschaften auseinanderzusetzen, beispielsweise wenn man nach einem Totalschaden dringend auf ein neues Auto angewiesen ist, um zum Arbeitsplatz zu gelangen, oder wenn man noch heute ein Geburtstagsgeschenk benötigt. Eine erste Reaktion auf Zeitdruck ist, seine Anstrengungen zu verstärken und schneller zu arbeiten bzw. Entscheidungsstrategien schneller durchzuführen. Ist die Zeit jedoch sehr knapp bemessen, reicht schnelleres Arbeiten alleine nicht aus. Konsumenten verwenden dann stärker nonkompensatorische Strategien, die weniger zeitaufwändig sind als z. B. die multiplikative Strategie. Darüber hinaus haben Payne, Bettman und Johnson (1988) in Simulationsstudien gezeigt, dass unter sehr hohem Zeitdruck einfachere Strategien (z. B. eliminativ nach Eigenschaftsausprägungen, additiv kompensatorische Strategie) sogar zu besseren Kaufentscheidungen führen können als die multiplikative Strategie. Dies ist dann der Fall, wenn die multiplikative Strategie nicht vollständig durchgeführt werden kann und man sich auf der Basis von Teilergebnissen dieser Strategie entscheiden muss. Ein weiterer Befund ist, dass bestimmte »Entscheidungsanomalien« wie der in 7 Abschn. 3.5.3 erläuterte Kompromisseffekt unter Zeitdruck seltener auftreten, da andere Entscheidungsstrategien verwendet werden (Dhar, Nowlis & Sherman, 2000). Dhar und Nowlis (1999) zeigen auch, dass Personen unter Zeitdruck eher gewillt sind, schwierige Entscheidungen zu treffen, die sie normalerweise zurückstellen würden. Die Reduktion dieser Effekte ist darauf zurückzuführen, dass Konsumenten auf nonkompensatorische Strategien zurückgreifen, bei denen Abwägungen zwischen Produkteigenschaften eine geringere Rolle spielen. 3.5.2 Vermeidung negativer Emotionen Kaufentscheidungen sind in der Regel keine neutralen Ereignisse, sondern mit affektiven Reaktionen verbunden. Stimmungen und Emotionen, die sich aus dem erweiterten Kontext ergeben (z. B. Ladenatmosphäre, Niederlage des Lieblingsfußballvereins), spielen ebenso eine Rolle wie die Antizipation von emotionalen Konsequenzen, die aus dem Kauf eines Produktes resultieren.

43 3.5 · Kaufentscheidungen als zielorientiertes Handeln

Emotionen entstehen auch im Entscheidungsprozess selbst, wenn z. B. die optimale Produktwahl schwierig ist. Im Folgenden werden 2 Ansätze vorgestellt, die die Rolle von Emotionen bei Kaufentscheidungen thematisieren. Im Rahmen des Kontingenzansatzes von Bettman et al. (1998) hat v. a. Luce (im Überblick Luce, Bettman & Payne, 2001) die Vermeidung von Emotionen thematisiert. Nach diesem Ansatz entstehen negative Emotionen im Entscheidungsprozess, da man Kompromisse eingehen muss: Das hochwertige Designprodukt ist in der Regel nicht das billigste, so dass man entweder beim Design oder beim Preis Abstriche machen und auf eine positive Produkteigenschaft zugunsten einer anderen verzichten muss. Man muss sog. 7 Tradeoffs vornehmen, die zu negativen Emotionen führen. Die Erfordernis, Trade-offs vorzunehmen, ist Folge eines negativen Zusammenhangs zwischen 2 Produkteigenschaften, z. B. je hochwertiger das Material, desto höher (d. h. schlechter) der Preis. Je enger dieser Zusammenhang ist und je wichtiger die beteiligten Eigenschaften, umso schwieriger wird eine Entscheidung, denn man kann nur ein Produkt kaufen, das zumindest eine schlechte, aber wichtige Eigenschaft aufweist. Konsumenten haben in solchen Fällen die sprichwörtliche »Qual der Wahl«, die sie nach Möglichkeit zu vermeiden suchen. Nach Luce et al. (2001) existieren 2 Möglichkeiten um negative Emotionen zu minimieren, und zwar die Verwendung problemlösungsorientierter und emotionsorientierter Bewältigungsstrategien (Lazarus, 1990). Problemlösungsorientierte Strategien zielen direkt auf die Lösung des Problems und der Verbesserung der Entscheidung. Eine Möglichkeit ist beispielsweise die Verwendung extensiverer Entscheidungsstrategien, bei der sich Konsumenten eingehender mit den Produkten und ihren Attributen beschäftigen. Ein Hinweis darauf, dass Konsumenten problemlösungsorientierte Strategien einsetzen, ist, dass sie bei schwierigen Tradeoffs länger benötigen, um zu einer Entscheidung zu gelangen (Luce, 1998). Emotionsorientierte Bewältigungsstrategien zielen stärker auf die Vermeidung negativer Emotionen, die durch schwierige Trade-offs entstehen. Luce et al. (2001) postulieren, dass Individuen zum einen die Entscheidung vermeiden, also tatsächlich auf einen Kauf verzichten oder ihre Entscheidung zunächst aufschieben (»noch einmal darüber schlafen müssen«). Zur

Minimierung negativer Emotionen kann in manchen Situationen auch die Wahl von Produkten mit bestimmten Eigenschaften geeignet sein. Hierzu gehört beispielsweise die Wahl einer Status-quo-Option (7 Beispiel). Darüber hinaus besteht für Konsumenten die Möglichkeit, eine Entscheidungsstrategie zu wählen, mit der sie Trade-offs nicht explizit beachten müssen. Dies ist insbesondere bei der Verwendung von nonkompensatorischen und eigenschaftsorientierten Strategien der Fall. Nonkompensatorische Strategien basieren auf dem Prinzip, dass kein Ausgleich einer schlechten Eigenschaft durch eine gute stattfindet und somit Trade-offs nicht beachtet werden müssen. Bei eigenschaftsorientierten Strategien wird zwar jede Eigenschaft für sich beachtet und zwischen den Produkten verglichen (z. B. beim Preisvergleich von Produkten), es kommt jedoch nicht zu Trade-offs, weil diese auf dem Vergleich unterschiedlicher Eigenschaften beruhen (z. B. Preis und Sicherheit vergleichen). Durch die charakteristische Strategiewahl kommt es zu Kaufentscheidungen, die im Ergebnis nicht unbedingt die bestmögliche Alternative repräsentieren, dafür jedoch zum Ziel der Minimierung negativer Emotionen beitragen. Beispiel

Luce (1998, hier in Auszügen dargestellt) gab ihren Versuchspersonen (Vpn) Informationen über Autos und manipulierte die Qualität der zur Verfügung stehenden Optionen in 3 Bedingungen. In der Kontrollbedingung konnten die Vpn lediglich zwischen den Autos wählen. In einer zweiten Bedingung konnten sich die Vpn zusätzlich entscheiden, die Entscheidung aufzuschieben. In einer dritten Bedingung wurde eine Status-quo-Option eingeführt, indem den Vpn mitgeteilt wurde, sie hätten sich ursprünglich bereits für ein Auto entschieden gehabt, nun seien jedoch weitere Modelle auf dem Markt und sie müssten sich erneut entscheiden. Zusätzlich wurde die Schwierigkeit von Trade-offs (hoch vs. niedrig) manipuliert, indem die Trade-offs entweder zwischen Stereoanlage und Handhabung (geringe Schwierigkeit) oder zwischen Sicherheit und Umweltbelastung (hohe Schwierigkeit) vorgenommen werden mussten. . Abbildung 3.1 zeigt das Ergebnis. In den Kontrollbedingungen werden die 6

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Kapitel 3 · Kaufentscheidungen

beiden Autos in etwa gleich häufig gewählt. Wird den Vpn die Möglichkeit gegeben, die Entscheidung aufzuschieben, so wird diese Option bei schwierigem Trade-off signifikant häufiger gewählt. Die Vpn vermeiden in diesem Fall negative Emotionen, indem sie die Entscheidung, die negative Emotionen auslösen kann, einfach vertagen. Wird den Vpn in der Status-quo-Bedingung mitgeteilt, sie hätten sich ursprünglich bereits für Auto A entschieden, so wird diese Option bei einem schwierigen Trade-off signifikant häufiger gewählt. Luce nimmt an, dass durch das Festhalten an der ursprünglich gewählten Option negative Emotionen vermindert werden. Da die Optionen insgesamt von gleicher Qualität sind, kann man durch eine Revision der ursprünglichen Entscheidung wenig gewinnen und man dürfte den Wechsel zu einer minderwertigen Option stärker bereuen. Insgesamt entscheiden sich die Vpn bei schwierigem Trade-off vermehrt für solche Optionen, mit denen negative Emotionen vermieden werden können.

Eine weitere Theorie, die das Vermeiden negativer Emotionen bei Entscheidungen thematisiert, ist die Theorie des Bereuens (engl. regret theory; Bell, 1982; Zeelenberg, 1999). Die Theorie betrachtet das Ausmaß des Bereuens, das mit der Wahl eines Produkts einhergeht. Hat man . Abb. 3.1. Wahlhäufigkeiten von Optionen bei Manipulation der Möglichkeit, negative Emotionen zu vermeiden. (Auszüge aus Luce, 1998)

sich für ein Produkt entschieden und findet im Nachhinein heraus, dass man besser ein anderes Produkt gekauft hätte, so wird man Reue empfinden. Bereuen findet zwar tatsächlich erst nach einer Kaufentscheidung statt, Konsumenten antizipieren aber das Ausmaß, in dem sie eine Entscheidung bereuen würden, und berücksichtigen dies in ihren Entscheidungen (Zeelenberg, 1999). Käufer nehmen mögliche Szenarien vorweg, die beim Kauf der Alternativen auftreten können, und fragen sich, wie stark sie eine falsche Entscheidung bereuen würden. Zeelenberg nennt die folgenden Determinanten die das Ausmaß des antizipierten Bereuens beeinflussen: 1. Die Schwierigkeit einer Entscheidung: Bei Unsicherheit hinsichtlich der Konsequenzen oder bei schwierigen Trade-offs spielt antizipiertes Bereuen eine größere Rolle. 2. Der Zeitpunkt zu dem die Konsequenzen eintreten: Je näher der Zeitpunkt, zu dem Konsequenzen zu erwarten sind, desto stärker das antizipierte Bereuen. 3. Die Möglichkeit Informationen über die Produkte zu erhalten: Wenn Konsumenten erwarten, dass sie nach dem Kauf Informationen über die Konsequenzen des nicht gewählten Produkts erhalten (z. B. wenn ein Freund das Alternativprodukt kauft), spielt antizipiertes Bereuen eine größere Rolle. 4. Soziale Faktoren: Wenn Bekannte die Entscheidung für wichtig halten, spielt antizipiertes Bereuen eine größere Rolle (vgl. 7 Abschn. 3.5.3).

45 3.5 · Kaufentscheidungen als zielorientiertes Handeln

Die Regret Theory postuliert, dass Konsumenten versuchen, Entscheidungen so zu treffen, dass sie sie nach Möglichkeit nicht bereuen. Konsumenten versuchen, das antizipierte Bereuen zu minimieren. Hat man beispielsweise die Wahl zwischen einem teuren Markenprodukt und einem billigen No-Name-Produkt, könnten sich Konsumenten fragen, wie ihnen zumute wäre, wenn sie das teure Markenprodukt kaufen und im Nachhinein herausfinden, dass das billige Produkt genauso gut ist. Ebenso könnten sie sich fragen, wie ihnen zumute wäre, wenn sie das billige Produkt kaufen und sich herausstellt, dass es von schlechter Qualität ist. Konsumenten berücksichtigen in ihren Entscheidungen, dass sie solche Konsequenzen in unterschiedlichem Ausmaß bereuen würden. Im Rahmen eines solchen Szenarios fand beispielsweise Simonson (1992), dass Versuchspersonen (Vpn) eher bereit sind, das teurere Markenprodukt zu kaufen, wenn sie explizit dazu aufgefordert werden, mögliche Konsequenzen zu antizipieren. Die Vpn gaben außerdem an, dass sie den Kauf des billigeren Produkts stärker bereuen würden, wenn sie im Nachhinein herausfänden, dass es minderwertig sei. Ein Vergleich der beiden hier vorgestellten Theorien zu Vermeidung von Emotionen zeigt, dass sie in ihren Vorhersagen recht ähnlich sind, so dass sie eher als verschiedene Perspektiven zu verstehen sind. So postuliert beispielsweise auch die Regret Theory, dass Personen eine Änderung des Status quo stärker bedauern, und beide verweisen auf die Schwierigkeit von Trade-offs als Determinante negativer Emotionen. Beide Theorien postulieren auch, dass Konsumenten versuchen, negative Emotionen im Entscheidungsprozess zu vermeiden. Luce et al. (2001) gehen sogar davon aus, dass die Regret Theory in ihren Ansatz integrierbar ist. Die beiden Theorien unterscheiden sich jedoch in ihrem gewählten Fokus. Im Zentrum der Theorie von Luce et al. stehen Mechanismen zur Bewältigung negativer Emotionen und deren Auswirkungen auf Entscheidungsstrategien. Bei der Regret Theory wird als zentrale negative Emotion das Konzept des Bereuens hervorgehoben, und es werden die Determinanten des Bereuens stärker berücksichtigt. Entscheidungsstrategien spielen bei der Regret Theory lediglich eine nachgeordnete Rolle.

3.5.3 Die Rechtfertigbarkeit von

Entscheidungen Ein weiteres Ziel, das im Kontingenzansatz von Bettman et al. (1998) eine Rolle spielt, ist die Rechtfertigbarkeit von Entscheidungen. Konsumenten fragen sich auch, mit welchen Gründen man eine Entscheidung rechtfertigen kann. Neben der Rechtfertigung vor sich selbst müssen Konsumenten ihre Kaufentscheidungen auch vor anderen rechtfertigen, z. B. wenn diese von anderen kritisiert werden (»Dieses Auto rostet doch schon im Prospekt«). Kaufentscheidungen finden also in einem sozialen Kontext statt, und dies wird bereits im Rahmen der Entscheidung berücksichtigt. Rechtfertigung besitzt auch eine gewisse Nähe zur Vermeidung negativer Emotionen (7 Abschn. 3.5.2), denn der Mangel an »guten Gründen« kann zum Bereuen einer Kaufentscheidung führen. Die Regret Theory sieht soziale Faktoren wie Rechtfertigungspflicht sogar als Determinante von Bereuen an. Gehen Konsumenten davon aus, dass sie sich für den Kauf eines Produktes rechtfertigen müssen, so kann dies zum einen zu einer höheren Anstrengungsbereitschaft, der Verwendung akkuraterer Entscheidungsstrategien und somit zu besseren Resultaten führen. Die Verwendung der multiplikativen Strategie sollte zur Wahl der besten Alternative führen und diese Wahl sollte sich gut rechtfertigen lassen. Lee, Herr, Kardes und Kim (1999) zeigen, dass Probanden unter Rechtfertigungsdruck eher kompensatorische und extensivere Strategien verwenden als Personen ohne Rechtfertigungsdruck. Allerdings ist die beste Alternative in vielen Fällen schwer identifizierbar, und aufgrund notwendiger Trade-offs müssen Nachteile in Kauf genommen werden. Konsumenten neigen in solchen Fällen dazu, gute Gründe zu konstruieren (Jungermann et al., 2005; Shafir, Simonson & Tversky, 1993). Sie sind auch dankbar, wenn sie gute Gründe für ihre Entscheidung mitgeliefert bekommen, die für sie und andere akzeptabel sind (z. B. »richtige Mütter kaufen ...«). Dies hat zur Konsequenz, dass die erwartete Notwendigkeit, sich zu rechtfertigen, nicht immer zu besseren Entscheidungen führt (Lerner & Tetlock, 1999). Was in einer konkreten Situationen einen guten Grund darstellt, ist stark von den präsentierten Produktalternativen und ihren Eigenschaftsausprägungen abhängig. Diese Kontextabhängigkeit lässt sich besonders gut daran zeigen, dass Kaufentscheidungen anders ausfallen, wenn weitere Alternativen zu einer bestehenden

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Kapitel 3 · Kaufentscheidungen

. Abb. 3.2. Schematische Darstellung von 4 Produkten (A–D), die sich in Preis und Markenqualität unterscheiden. Auf der dargestellten Linie liegen Produkte, die sich in den beiden Eigenschaftsausprägungen, nicht aber im Gesamturteil unterscheiden

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Auswahl hinzukommen. Das wohl eindruckvollste Beispiel ist der »asymmetrisch dominierte Effekt«, dessen Prinzip in . Abb. 3.2 verdeutlicht wird (Doyle, O’Connor, Reynolds & Bottomley 1999; Simonson, 1989; 7 Beispiel). Hierzu werden zunächst nur die Produkte A und B betrachtet. Können Konsumenten nur zwischen diesen beiden Produkten wählen, so müssen sie einen Trade-off vornehmen, d. h. sie müssen entweder das billigere Produkt A oder das Markenprodukt B kaufen. Die Entscheidungen zwischen den Produkten A und B werden nun mit einer Situation verglichen, in der ein drittes Produkt C zur Auswahl hinzugefügt wird. Produkt C schneidet im Vergleich zu Produkt B eindeutig schlechter ab: Seine Markenqualität ist gleichwertig, aber es ist teurer als B. Man spricht davon, dass Produkt B das Produkt C dominiert. Studien haben gezeigt, dass die Erweiterung um Produkt C – im Vergleich zur alleinigen Präsentation der Produkte A und B – den Anteil an Entscheidungen für Produkt B erhöht. Der asymmetrisch dominierte Effekt besteht demnach darin, dass sich die Kaufwahrscheinlichkeit des dominierenden Produkts (B) durch die Erweiterung um eine dominierte Alternative (C) erhöht. Diesen Effekt können rationale Entscheidungstheorien nicht erklären, denn die Hinzunahme einer irrelevanten (schlechten) Alternative sollte sich nicht auf die Entscheidung auswirken. Allerdings liefert Produkt C einen guten Grund, sich für Produkt B zu entscheiden: Die Wahl der dominierenden Alternative lässt sich leichter rechtfertigen, denn sie ist eindeutig besser als die dominierte Alternative.

Beispiel

Doyle et al. (1999) untersuchten die Verkäufe von Bohnenkonserven in einem Supermarkt. In einer Kontrollbedingung wurden 2 Produkte angeboten, die sich in Preis und Qualität (Markenprodukt vs. Billigprodukt [Handelsmarke]) unterschieden. In einer zweiten Bedingung wurde als weitere Alternative zusätzlich das gleiche Markenprodukt zu einem höheren Preis ins Sortiment aufgenommen. Diese dritte Alternative ist bei gleicher Qualität teurer und wird deshalb vom anderen Markenprodukt asymmetrisch dominiert. Wie das Ergebnis (. Abb. 3.3) zeigt, erhöhte sich der Kaufanteil für die dominierende Alternative durch die Erweiterung um eine asymmetrisch dominierte Alternative.

Ein ähnliches Phänomen beschreibt der Kompromisseffekt (Simonson, 1989), der auftritt, wenn man in . Abb. 3.3 Produkt D als dritte Alternative (zu den Produkten A und B) hinzufügt. Produkt D ist insgesamt gleichwertig, denn Produkt D ist teurer, besitzt aber auch eine besonders hohe Markenqualität. Der Kompromisseffekt führt dazu, dass die Wahrscheinlichkeit steigt, das Produkt mit mittlerer Ausprägung (Produkt B) zu kaufen. Auch hier liefert die Aufnahme des neuen Produkts D einen guten Grund, Produkt B zu kaufen: Man vermeidet es, Produkte mit sehr schlechten Eigenschaftsausprägungen zu kaufen, da diese sich schwer rechtfertigen lassen. Stattdessen entscheidet man sich für den Kompromiss.

47 3.6 · Rationalität von Kaufentscheidungen

. Abb. 3.3. Ergebnisse zum asymmetrisch dominierten Effekt. (Doyle et al., 1999)

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass »schlechte Gründe« die Neigung, ein Produkt zu kaufen, senken können. Simonson, Carmon und O’Curry (1994) haben gezeigt, dass Produkteigenschaften, die als unerwünscht oder unnötig eingeschätzt werden (z. B. biochemische Funktionen in Taschenrechnern, Treueplaketten), die Kaufwahrscheinlichkeit senken können. Die Autoren argumentieren, dass zum einen ein schlechter Grund das Produkt insgesamt in einem schlechten Licht dastehen lässt und Personen zum anderen befürchten, andere könnten vermuten, sie hätten das Produkt nur aus diesem Grunde gekauft. 3.5.4 Kaufentscheidungen als zielorien-

diesem Ansatz extensive, limitierte und habitualisierte Kaufentscheidungen erklärt werden, da der Kontingenzansatz implizit auf dem Ausmaß an kognitiver Verarbeitung beruht. Er ist dabei flexibler als die oben beschriebene Typologie, weil keine Abgrenzungsprobleme zwischen den Typen auftreten. Der Kontingenzansatz kann jedoch Phänomene wie Impulskäufe nur begrenzt erklären. Einige Autoren postulieren daher, dass 2 Verarbeitungsmechanismenexistieren,dieKaufentscheidungen beeinflussen. Neben einem reflektiven Mechanismus, der auf der kognitiven Verarbeitung der Produktalternativen basiert, wird ein impulsiver Mechanismus vermutet, der stärker auf automatischen, affektiven Reaktionen basiert (Strack, Werth & Deutsch, 2006; vgl. 7 Abschn. 3.3).

tiertes Handeln – ein Fazit 3.6 In den beiden letzten Abschnitten wurde der Kontingenzansatz vorgestellt, der zurzeit im angloamerikanischen Raum populär ist. Ausgangspunkt waren die in 7 Abschn. 3.4 dargestellten Entscheidungsstrategien. Bettman und andere zeigen auf, dass Konsumenten ihre Entscheidungsstrategien auf der Basis der jeweiligen Kaufentscheidung und ihrer Ziele flexibel wählen. Durch die Berücksichtigung dieser Ziele können mit diesem Ansatz Phänomene erklärt werden, an denen ökonomisch-rationale Entscheidungstheorien scheitern. Allerdings bleibt offen, ob weitere Ziele existieren, die die Wahl einer Strategie beeinflussen. Im Vergleich zur in 7 Abschn. 3.3 vorgestellten Typologie können mit

Rationalität von Kaufentscheidungen

Viele der oben genannten Beispiele erwecken den Eindruck, Konsumenten träfen nicht immer rationale Kaufentscheidungen. Impulskäufe, das Festhalten an Gewohnheiten oder das Phänomen des asymmetrisch dominierten Effekts beschreiben »suboptimale« Entscheidungen. Immer wieder findet sich daher die Behauptung, eine Vielzahl von Kaufentscheidungen würde nicht gemäß ökonomisch rationaler Prinzipien gefällt. Die Frage, was genau unter Rationalität zu verstehen ist, lässt sich jedoch nur schwer klären und bleibt in der Forschung umstritten. In der Ökonomie gilt eine Kauf-

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Kapitel 3 · Kaufentscheidungen

entscheidung als ökonomisch rational, wenn sie den subjektiven Nutzen maximiert (v. Neumann & Morgenstern, 1961; vgl. 7 Abschn. 11.2.2), was in der Regel die Verwendung der multiplikativen Entscheidungsstrategie voraussetzt. Solche Theorien postulieren, dass rationale Entscheidungen zumindest einige Regeln erfüllen sollten, wie etwa die konstante Wahl einer Alternative, wenn schlechtere Alternativen hinzukommen. Beispiele wie der asymmetrisch dominierte Effekt verletzen diese Regel; demnach handeln Konsumenten nicht immer rational (und ökonomische Theorien können menschliches Entscheiden nicht abbilden). Oft nehmen diese Theorien auch an, dass Produkte und ihre Eigenschaften prinzipiell bekannt und bewertbar sind, was nicht immer der Fall ist. Zudem kann argumentiert werden, dass KostenNutzen-Abwägungen auch den Verzicht auf die multiplikative Strategie nahe legen. Beispielsweise wurde in 7 Abschn. 3.5.1 angesprochen, dass die multiplikative Strategie Zeit benötigt und unter Zeitdruck zu suboptimalen Ergebnissen führen kann oder dass der Kauf eines Produkts mit unbedeutenden Konsequenzen den Aufwand der multiplikativen Strategie kaum rechtfertigt. Andere Autoren (z. B. Becker, 1993) gehen davon aus, dass Kaufentscheidungen generell rational getroffen werden. Geht man von der individuellen mentalen Repräsentation der Produkte, ihrer Vor- und Nachteile sowie der Ziele der Käufer aus, so lässt sich jede Kaufentscheidung rational begründen. Diese Argumentation würde jedoch das Kriterium der Rationalität überflüssig machen.

. Abb. 3.4. Vier Faktoren, die rationales Entscheiden beeinflussen. (In Anlehnung an O’Shaugnessy, 1987)

Ein Ansatz der hier Orientierung verspricht, ist der von O’Shaugnessy (1987), der den Begriff der Rationalität vermeidet und stattdessen die Frage aufgreift, wann Konsumenten nicht weise entscheiden. Nach O’Shaugnessy existieren 4 Faktoren, die zu solchen nicht weisen Entscheidungen beitragen (. Abb. 3.4). Der 1. Faktor umfasst die Rationalität des Kaufbedürfnisses, z. B. wenn Konsumenten ihre eigenen Bedürfnisse unklar sind, wenn sie also nicht wissen, was sie benötigen, welche Attribute besonders wichtig sind usw. Dabei geht O’Shaugnessy (1987) davon aus, dass Bedürfnisse prinzipiell rational sind, nicht jedoch die Prioritäten, die ihnen eingeräumt werden. Konsumenten können demnach ein Produkt wählen, das ihre Bedürfnisse insgesamt weniger gut befriedigt als ein anderes Produkt. Die Wahl eines Handytarifs könnte hierfür ein Beispiel sein. Hier kann der Konsument zwischen Tarifen mit unterschiedlichen Grundgebühren, Telefonkosten, Vertragslaufzeiten und Freiminuten entscheiden und könnte so eine Entscheidung treffen, die optimal zu seinen Bedürfnissen passt. Allerdings dürfte es Konsumenten schwer fallen, ihre Bedürfnisse exakt zu bestimmen, zudem können sie sich im Laufe der Vertragslaufzeit ändern, so dass Unsicherheit hinsichtlich der Bedürfnisse besteht. Den besten Tarif zu wählen, dürfte sehr schwierig sein. Ein 2. Faktor ist nach O’Shaugnessy (1987) das Wissen um die relevanten Alternativen. Auch wenn Konsumenten meinen, sie überblickten »den Markt«,

49 3.7 · Ausblick

könnten sie das beste Produkt übersehen, weil es nur in einem abgelegenen Geschäft erhältlich ist. Konsumenten können demnach nicht weise entscheiden, wenn sie zu wenige Informationen besitzen. Eine Rolle spielen dabei Einschätzungen über Unterschiede zwischen den Produkten. Kommt man zu dem Schluss, alle Produkte seien sehr ähnlich, ist man weniger geneigt, weitere Produkte zu sichten. Umgekehrt lohnt es sich auch nicht bei großen vermuteten Unterschieden sehr genau zu suchen, da man die Unterschiede ja schon auf den ersten Blick erkennen kann. Ein 3. Faktor bezieht sich auf die korrekte Wahrnehmung von Fakten. Konsumenten besitzen nicht immer das notwendige Wissen, um Produkteigenschaften und deren Relevanz für ihre Bedürfnisse einzuordnen. In der Tat hat sich ein ganzer Forschungszweig mit der Frage befasst, in welchem Umfang Konsumenten Informationen, die sie aus bestimmten Medien erhalten, nicht oder falsch verstehen (vgl. u. a. Jacoby & Hoyer, 1990). Oftmals werden Informationen selektiv verzerrt oder ignoriert, weil sie nicht mit den Wünschen des Käufers in Einklang stehen. Beispielsweise können real nicht existierende Unterschiede zwischen Markenartikeln und »No-Name-Artikeln« ignoriert oder umgedeutet werden. Ebenso können Erwartungen die Faktenwahrnehmung beeinflussen (z. B. Spence & Engel, 1970; vgl. auch 7 Info-Box »Kontextmerkmale« in 7 Abschn. 3.5). Der 4. Faktor thematisiert die korrekte Verarbeitung von Informationen. O’Shaugnessy (1987) spricht hier insgesamt 5 Aspekte an, durch die es zu einer verzerrten Verarbeitung von Informationen kommen kann (vgl. . Abb. 3.4). Bei mangelnden Kompetenzen könnte beispielsweise aus den gegebenen Fakten eine falsche Schlussfolgerung gezogen werden oder Konsumenten verrechnen sich beim Vergleich von Preisen pro Mengeneinheit. Auch Denkgewohnheiten können zu falschen Schlüssen führen, wenn etwa der »erste Eindruck« einer Produktpackung überbewertet wird oder wenn man sich darauf verlässt, dass größere Verpackungen mehr nutzbaren Inhalt bieten (was bei Konzentraten nicht gilt). Des Weiteren geben sich Konsumenten Wunschdenken hin, das insbesondere von Werbebotschaften angesprochen wird, beispielsweise dass Pickelcremes zu einem attraktiven Partner führen oder ein ganz bestimmtes Bier mehr Spaß und Aufregung bringt. Verzerrungen können sich auch aus komplexeren Überzeugungssystemen ergeben, die mit der angemessenen Verarbeitung von Fakten konfligieren

(7 Kap. 11). Wenn man beispielsweise allen Produkten aus einem Herkunftsland grundsätzlich misstraut, wird man zumindest einige wenige gute Produkte übersehen. Schließlich können auch Emotionen zu Verzerrungen führen, wie die Diskussion um die Vermeidung negativer Emotionen in 7 Abschn. 3.5.2 gezeigt hat. 3.7

Ausblick

Dieser Beitrag nimmt eine konsumentenorientierte Perspektive ein, um einen Einblick in Erleben und Verhalten von Konsumenten bei Kaufentscheidungen zu geben und um unterschiedliche Formen von Kaufentscheidungen zu ordnen. Wir haben eine Typologie vorgestellt sowie einen Kontingenzansatz, der aufzeigt, wie Kontextfaktoren und Ziele von Konsumenten die Wahl einer Entscheidungsstrategie mitbestimmen. Im Rahmen dieser Ansätze wurde eine Vielzahl an Forschungsergebnissen präsentiert. Welche praktische Relevanz besitzen die hier dargestellten Forschungsergebnisse? Zur Beantwortung dieser Frage ist es notwendig, die Konsumentenperspektive gegen eine stärker produktorientierte Sichtweise zu tauschen. So ist beispielsweise das Wissen, welcher Entscheidungstyp vorherrscht, welche Entscheidungsstrategien und Ziele beim Kauf eines Produkts eine Rolle spielen, von Bedeutung, wenn es um die Bewerbung oder Änderungen von Produkten geht. Produkte, bei denen Rechtfertigbarkeit als Ziel eine Rolle spielt, sollten »gute Gründe« für einen Kauf hervorheben. Wenden Konsumenten beim Kauf eines Produkts vorwiegend nonkompensatorische Strategien an, ist es von besonderer Bedeutung, bei relevanten Produkteigenschaften gut abzuschneiden, da z. B. ein zu hoher Preis durch Qualität nicht kompensiert werden kann. Der Ansatz von Bettman et al. (1998) zeigt allerdings auch die Grenzen dieser produktorientierten Sichtweise auf. Kaufentscheidungen sind auch kontextabhängig, beispielsweise bestimmt auch das angebotene Sortiment, für welches Produkt sich Konsumenten entscheiden. Für die Marktforschung bedeutet dies, dass zur Untersuchung von Kaufentscheidungen ein realistisches Produktangebot die Validität von Prognosen verbessern kann. Ebenso bestimmt das Sortiment eines Geschäfts, welche Produkte attraktiv erscheinen. Bei großen Sortimenten verwenden Konsumenten stärker nonkompensatorische Prozesse, bei denen die in Frage kommenden Produkte relativ früh ein-

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Kapitel 3 · Kaufentscheidungen

gegrenzt werden. Es ist hier für Produkte besonders wichtig, auf den relevanten Eigenschaften gute Ausprägungen vorzuweisen. Phänomene wie der Kompromisseffekt oder der asymmetrisch dominierte Effekt zeigen auch, dass Sortimentsänderungen zu unerwarteten Verschiebungen in Kaufentscheidungen führen können; wenn beispielsweise das teuerste Produkt aussortiert wird, könnte sich dies auf die Kaufbereitschaft für das zweitteuerste Produkt auswirken. In der Wirtschaftspsychologie existieren weitere verwandte Forschungsbereiche, die hier nur am Rande betrachtet wurden. So wird mit dem Fokus auf Kaufentscheidungen nur ein Ausschnitt des gesamten Konsumprozesses beleuchtet. Der Konsumprozess wird allgemein in mehrere Phasen unterteilt (Blackwell et al., 2001), nämlich 1. Bedürfniswahrnehmung, 2. Informationssuche, 3. Evaluation von Alternativen, 4. Kaufentscheidung,

5. Konsum, 6. Evaluation nach dem Konsum und 7. Entsorgung des Produkts. Im Vordergrund dieses Kapitels stehen die Phasen 2–4. Ein weiterer Punkt, der hier nicht betrachtet wurde, sind sog. nicht vergleichbare Wahlen (engl. noncomparable choices) zwischen Produkten, die nicht dasselbe Bedürfnis befriedigen. Beispielsweise könnten sich Konsumenten fragen, ob Sie ein Auto oder ein Motorrad als Fortbewegungsmittel kaufen, oder sie müssen bei knappem Budget zwischen einem Paar Schuhe und dem Besuch eines Open-Air-Konzerts wählen. Die wenigen existierenden Forschungsarbeiten zu diesem Thema zeigen, dass Konsumenten versuchen, die Produkte anhand von abstrakteren Eigenschaften zu vergleichen, wie etwa der Nutzungshäufigkeit oder der zu erwartenden Freude am Produkt (z. B. Johnson, 1984). Ebenfalls nicht gesondert eingegangen wurde hier auf die Aspekte des Onlineshoppings (7 Info-Box).

Info-Box

Onlineshopping Über das Internet stehen Konsumenten jederzeit eine Vielzahl von Produkten zur Verfügung. Der Onlinekauf gilt als komfortabel, da man Fahrtzeiten und -kosten einsparen und zu jeder Tageszeit »vom eigenen Wohnzimmer aus« Einkäufe tätigen kann. Die Produktvielfalt ist groß, es besteht die Möglichkeit, Produktinformationen oder Testberichte abzurufen, und Preisvergleiche sind bequem per Mausklick erhältlich. Mit dem Kauf über das Internet können Konsumenten daher Kosten und Anstrengungen verringern (Chiang & Dholakia, 2003). Wie auch im Offlinekontext zeigt sich bei der Suche nach Produktinformationen im Internet, dass Experten stärker fachspezifische Webseiten suchen, während sich Personen mit geringerer Expertise auf allgemeinere Seiten, beispielsweise Suchmaschinen, zurückgreifen (Jaillet, 2003). Die folgenden 4 Aspekte sollen aufzeigen, dass Kaufentscheidungen im Onlineund Offlinekontext nicht nur Gemeinsamkeiten aufweisen, sondern auch Unterschiede zu erwarten sind. Zum einen dürfte das Internet die Komplexität der Kaufentscheidung erhöhen, da eine kaum überschaubare Anzahl von Produkten von unterschiedlichen Händlern angeboten wird. In Anlehnung an die in 7 Abschn. 3.5.1

berichteten Befunde wäre daher anzunehmen, dass Konsumenten beim Onlinekauf stärker auf nonkompensatorische Strategien zurückgreifen. Betrachtet man Einkaufs- und Entscheidungshilfen von Onlineportalen, so lässt sich tatsächlich feststellen, dass diese auf der nonkompensatorischenEliminationnachEigenschaften basieren. Ein zweiter Aspekt betrifft das Vertrauen von Konsumenten. Da sie nur in virtuellem Kontakt mit dem Verkäufer stehen, besitzen sie weniger Informationen über die Vertrauenswürdigkeit des Händlers. Dies ist beispielsweise bei der Sicherheit persönlicher Daten (z. B. Kreditkarteninformationen), der Zuverlässigkeit beim Versand oder der Übereinstimmung der Ware mit ihrer Beschreibung von Bedeutung (Grabner-Kräuter & Kaluscha, 2003). Da im Internet lediglich Warenbeschreibungen und Bilder präsentiert werden können, werden drittens Waren, bei denen sensorische Informationen von Bedeutung sind (z. B. Parfum, Lebensmittel), seltener per Internet gekauft (Chiang & Dholakia, 2003). Ein vierter Aspekt des Onlineshoppings ist das eingeschränkte »Einkaufserlebnis«: Das Bummeln und Windowshopping reduziert sich im Internet ebenfalls auf die virtuelle Welt (Rowley, 2002).

51 3 · Literatur

Weitere Aspekte werden in anderen Kapiteln vertieft. 7 Kapitel 7 beschäftigt sich mit der Wirkung von Marken, und 7 Kap. 11 geht näher auf die Preiswahrnehmung ein. In beiden Kapiteln wird auch die Sichtweise des Marketing, die wir hier außen vor lassen, aufgegriffen und es werden Dinge wie Preis- und Produktpolitik oder Markenmanagement thematisiert. Auch methodische Aspekte haben wir in diesem Kapitel weitestgehend ausgeklammert und verweisen hierfür auf 7 Kap. 10. Es ist des Weiteren von entscheidender Bedeutung, dass wir in diesem Kapitel fast ausschließlich Forschung präsentieren, die Kaufentscheidungen thematisiert. Wir haben somit eine Vielzahl von Arbeiten vernachlässigt, die Präferenzen und Urteile von Konsumenten erfassen, bei denen Versuchspersonen z. B. Produkte in eine Rangreihe bringen oder über jedes Produkt ein Urteil abgeben müssen. Solche Änderungen in der Wahl der abhängigen Variable (Entscheiden vs. Urteilen) sind nicht trivial: Es gibt eine ganze Reihe von Studien zur sog. Präferenzumkehr, die zeigen, dass Personen Produkte, die sie positiv beurteilen, nicht unbedingt kaufen (z. B. Nowlis & Simonson, 1997). Fazit Dieses Kapitel gibt einen Einblick in die Forschung und den Wissensstand über Kaufentscheidungen. Dabei wird gezeigt, wie sich Kaufentscheidungen, die durch eine große Bandbreite an unterschiedlichen Verhaltensweisen charakterisiert sind, im Rahmen einer Typologie einteilen und beschreiben lassen. Es wird außerdem dargelegt, dass Individuen über ein großes Arsenal an Entscheidungsstrategien verfügen und sie dieses in Abhängigkeit von ihren Zielen und dem jeweiligen Kontext nutzen.

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Kapitel 3 · Kaufentscheidungen

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4 4 Überzeugen durch Argumente Dieter Frey, Andreas Kastenmüller, Tobias Greitemeyer, Peter Fischer, Klaus Moser

4.1

Grundlagen des Überzeugens

– 54

4.1.1 Offenheit und kritisches Denken – 54 4.1.2 Die Rolle von Argumenten in Theorien zur Einstellungsänderung 4.1.3 Argumente als »Bäume«: Der Baum als Symbol für eine Argumentationskette – 55

4.2

– 54

Kommunikationsinhalte – Qualität von Argumenten – 56

4.2.1 Verständlichkeit – 56 4.2.2 Zweiseitige Argumentation – 57

4.3

Qualität von Argumenten – Randbedingungen ihrer Wirksamkeit – 61

4.3.1 Eigenschaften des Senders – 61 4.3.2 Eigenschaften des Empfängers – 61

4.4

Beispiel eines integrativen argumentorientierten Programms – 64 Literatur

– 66

K. Moser (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie DOI 10.1007/978-3-540-71637-2_4, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007

54

Kapitel 4 · Überzeugen durch Argumente

> Erfolg ersetzt alle Argumente. Schlechte Argumente bekämpft man am besten, indem man ihre Darlegung nicht stört. (Salvador Dali)

4

Erfolgreiches Überzeugen scheint meistens gute Argumente vorauszusetzen, aber auch seine Grenzen zu haben. Man glaubt beispielsweise, dass eine Gehaltserhöhung gerechtfertigt wäre, da man verbesserte Umsätze erzielt oder eine Zusatzqualifikation erworben hat. Dennoch wird das zusätzliche Entgelt verweigert. Kurz darauf erfährt man vielleicht sogar, dass ein Kollege, der weitaus weniger berufliche Leistung erbringt, ein erheblich höheres Gehalt hat als man selbst. Oder: Man glaubt, in einem Rechtsstreit über die besseren Argumente zu verfügen und ist sich deshalb sicher, den Prozess zu gewinnen. Dem Verteidiger des Gegners gelingt es jedoch, die Argumentationskette zu schwächen, so dass man den Prozess verliert. Die Ursachen, warum auch an sich gute Argumente erfolglos sind, können sehr unterschiedlich sein: So werden z. B. oft eigentlich schlagkräftige Argumente nicht adäquat vermittelt, oder die Rezipienten sind nicht bereit, sich gute Argumente anzuhören, weil sie Meinungen, zu denen sie schon ein bestimmtes Commitment (d. h. Bindung) aufgebaut haben, in Frage stellen lassen würden. Im folgenden Beitrag soll daher nicht nur dargestellt werden, wie überzeugende Argumente aussehen und wie sie aufgebaut sind, sondern auch unter welchen Umständen sie so vermittelt werden können, dass sie erfolgreich sind. Zunächst werden einige Grundlagen vorgestellt, die erfolgreiches Überzeugen durch Argumente ermöglichen. Anschließend gehen wir im Hauptteil auf inhaltliche Aspekte von Argumenten ein und erörtern zu beachtende Randbedingungen der Wirksamkeit. Genauer gesagt werden wir zunächst auf Merkmale verständlicher Argumente eingehen und dann auf Ursachen für eine fehlende oder nicht ausreichend große Offenheit der Rezipienten für Argumente. Abschließend wird ein beispielhaftes integratives Modell des Überzeugens durch Argumente dargestellt. 4.1

Grundlagen des Überzeugens

4.1.1 Offenheit und kritisches Denken Um Rezipienten durch Argumente überzeugen zu können, müssen bestimmte Voraussetzungen gegeben sein.

Natürlich muss es verständliche Argumente geben, die Rezipienten müssen aber auch offen für Argumente sein. Wie wichtig Offenheit ist, mag ein Exkurs in die Wissenschaftstheorie unterstreichen. Sir Karl Popper, wohl einer der einflussreichsten Wissenschaftstheoretiker der Neuzeit, machte den »kritischen Rationalismus« als Denk- und Geisteshaltung bekannt (Popper, 1973). In seinem Zentrum steht die Wichtigkeit eines kritisch-rationalen Dialogs. Zunächst einmal ist es v. a. in der Wissenschaft notwendig, dass Argumente auf der Basis von Kritik und Vernunft – d. h. hierarchiefrei und ohne Dogmatismus – ausgetauscht werden, damit Fortschritte erzielt, zumindest aber unzulängliche Theorien identifiziert werden können. Solch einen kritisch-rationalen Dialog, wie ihn Popper (1973) für die Wissenschaft fordert, möchte er dann aber auch auf die Gesellschaft übertragen wissen: Der kritisch-rationale Dialog ist für ihn die Philosophie für eine offene Gesellschaft. Das heißt nicht, dass kritisch-rationale Diskussionen ohne Leidenschaft geführt werden sollen, aber es zählt letztlich immer das Argument statt der Macht (statt »Ober sticht Unter«). Es wird somit deutlich, dass Offenheit eine Grundvoraussetzung dafür ist, dass durch Argumente überzeugt werden kann. Und wir ergänzen: Dies gilt auch für das Individuum! Wie wir sehen werden, gibt es allerdings eine ganze Reihe von Ursachen, warum Individuen nicht offen für Argumente sind. 4.1.2 Die Rolle von Argumenten in Theorien

zur Einstellungsänderung Zwei zentrale Theorien, die die Wirkung von Argumenten auf Einstellungen beschreiben und vorhersagen, sind das Elaboration-Likelihood-Model (ELM) und das Heuristic-Systematic-Model (HSM), wobei das HSM (Chaiken, Giner-Sorolla, & Chen, 1996) gewissermaßen eine Erweiterung des ELM (Petty & Cacioppo, 1986) darstellt. Beide Modelle (als Überblick s. Bohner & Wänke, 2006; Glasman & Albarracin, 2006; vgl. auch 7 Kap. 2) besagen, dass Menschen Argumente auf 2 Wegen verarbeiten: auf dem zentralen Weg (systematische, d. h. aufwändige, analytische und umfassende Verarbeitung von Informationen) oder auf dem peripheren Weg (heuristische, d. h. wenig aufwändige Verarbeitung von Informationen nach einfachen Entscheidungsregeln [Heuristiken]). Im Falle des zentralen Wegs steht das Argument an sich, also dessen Qualität und dessen Inhalt

55 4.1 · Grundlagen des Überzeugens

im Vordergrund. Beim peripheren Weg achtet man hingegen auf Aspekte der Botschaft, die eher das Umfeld des Arguments betreffen, Heuristiken oder periphere Reize spielen eine Rolle. Typische Heuristiken sind »Expertenstatements kann man vertrauen« oder »Mehrheitsmeinungen sind richtig«. So werden Produkte, für die vermeintliche Experten werben (z. B. Zahnarztfrauen für Zahnbürsten), positiver beurteilt, als wenn vermeintliche Laien für diese werben. Welcher Weg bei der Verarbeitung eines Arguments eingeschlagen wird, hängt von der Motivation und der Fähigkeit der Rezipienten ab. Dabei wurden verschiedene Faktoren identifiziert, die den peripheren gegenüber dem zentralen Weg wahrscheinlich machen: 4 erhöhter Zeitdruck (Chaiken, Giner-Sorolla, & Chen, 1996), 4 die entsprechende Entscheidung wird als unwichtig wahrgenommen (Maheswaran & Chaiken, 1991), 4 es muss wenig Verantwortung für die Entscheidung übernommen werden (Lerner & Tetlock, 1999) oder 4 ein themenrelevantes Hintergrundwissen fehlt (Petty & Cacioppo, 1986). Persönlichkeitseigenschaften wie z. B. niedriges »need for cognition« oder ein hoher Wunsch nach Kontrolle (»desire for control«) führen ebenfalls verstärkt zu einer peripheren Informationsverarbeitung (Maheswaran & Chaiken, 1991). All diese Faktoren können wir dahingehend zusammenfassen, dass sie beschreiben, wie eine geringe Offenheit für Argumente entstehen kann. Ist Offenheit gegeben – und sind die Argumente von hoher Qualität –, dann findet eine intensivere Verarbeitung (»Elaboration«) statt. Wurde eine Botschaft dergestalt elaboriert, kann sie eher in das kognitive System des Rezipienten integriert werden und stabilere Einstellungsänderungen bewirken. Zudem führt eine zentrale Informationsverarbeitung eher zu einer Transformation von Einstellung in Verhalten als eine periphere Informationsverarbeitung (7 Kap. 2). Natürlich kann man nach beiden Modellen auch über die periphere Route Einstellungsänderungen erreichen, d. h. ohne dass der Empfänger die Argumente tief und umfassend elaboriert. Solche Einstellungsänderungen sind aber meistens nur kurzfristig und haben geringe Auswirkungen auf Verhalten. Es ist deshalb bei Überzeugungsprozessen, die nachhaltig wirken sollen, von erheblicher Bedeutung, die Informationen so zu vermitteln, dass der Empfänger motiviert und fähig ist, die Argumentation zu verstehen.

Was aber genau macht nun ein Argument »gut« oder führt dazu, dass es hohe Qualität hat? Obwohl es zu den beiden hier vorgestellten Theorien bereits seit ca. 2 Jahrzehnten Forschung gibt, finden sich nur wenige unmittelbare Anhaltspunkte. Im Folgenden werden wir daher in anderen Forschungsbereichen Anleihen machen und einige Vorschläge unterbreiten, was »starke, überzeugende, qualitativ hochwertige« Argumente denn auszeichnen könnte. 4.1.3 Argumente als »Bäume«: Der Baum als

Symbol für eine Argumentationskette Wie kann es kommen, dass ein Argument »Macht« hat, dass es überzeugt? Eine Antwort hierauf lautet, dass gute, starke Argumente oft in allgemeine Visionen und Werte eingebettet sind. Diese Visionen und Werte stellen quasi den »Unterbau« für eine gute Argumentation dar. Der Baum ist ein hilfreiches Symbol dafür, wie man sich die Ableitung einer wirksamen Argumentationskette vorstellen kann (7 Beispiel). Beispiel

Man möchte als Geschäftsführerin einer Einzelhandelskette einen Filialleiter überzeugen, dass er die Filiale am Samstag öffnet, obwohl sie bisher geschlossen war, und dass sie gleichzeitig für bestimmte Schlüsselkunden bis 20 Uhr zugänglich ist. Die Argumentation kann man von folgenden Werten und Visionen ableiten (Wurzeln): 4 Wir wollen erfolgreich sein. 4 Wir dürfen nicht übersehen, was die Konkurrenten machen. Wir müssen die Bedürfnisse des Kunden sehen. 4 Überall werden Filialen am Samstag geöffnet. 4 Der Kunde hat ein hohes Interesse und ein hohes Bedürfnis, am Samstag in die Filialen zu gehen. 4 Die Sicherung der Arbeitsplätze ist uns wichtig. Wichtig ist, dass Sender und Empfänger der Botschaft von denselben Grundwerten und Grundprämissen ausgehen und diese teilen. Dann sind die Argumente und Schlussfolgerungen überzeugend – nämlich dass die Filiale am Samstag geöffnet wer6

4

56

Kapitel 4 · Überzeugen durch Argumente

den muss. Natürlich kann eine Feinabstimmung vorgenommen werden, z. B. für Familien, so dass Angestellte, die Kinder haben, eine Sonderregelung erhalten; dort wird man sich möglicherweise an den Samstagen abwechseln. Insgesamt wird solch eine Ableitung im Sinne eines »Baumes« eine höhere Akzeptanz haben, als wenn ohne Angabe von Gründen verordnet wird, am Samstag die Filiale zu öffnen.

4

Ein Baum hat Wurzeln, einen Stamm und Äste mit Blättern. Die Wurzeln stehen für die Werte, die Visionen, aber auch die Prämissen und Ziele, von denen die Argumente abgeleitet werden. Der Stamm steht für die Argumentationskette, also den logischen Aufbau der Argumente und Schlussfolgerungen. Die Äste stehen für die Feinadjustierung der Argumentation je nach Zielgruppe, Gegenargumenten usw. 4.2

Kommunikationsinhalte – Qualität von Argumenten

Erfolgreiches Überzeugen kommt zwar meistens durch ein Zusammenspiel von Eigenschaften des Senders, des Empfängers und des Kommunikationsinhaltes zustande (vgl. bereits Hovland, Janis & Kelley, 1953), wir werden im Folgenden aber zunächst v. a. auf den Kommunikationsinhalt eingehen. 4.2.1 Verständlichkeit Wenn man durch Argumente, genauer gesagt: durch deren Inhalt, überzeugen möchte, muss vorausgesetzt werden, dass der Rezipient diese versteht. Hier wurden verschiedene Aspekte identifiziert, die Aussagen verständlicher machen (für einen Überblick s. Moser, 2002). Dabei ist es zunächst wichtig, dass das verbale Material (die Sprache, Jargon, Abkürzungen) bedeutungsvoll ist. So wird die Silbe »nag« (wie z. B. in »nagen«) besser verstanden werden als die Silbe »nyk« (bei der es keine Assoziation zu einem deutschen Wort gibt). Ferner ist es zentral, sich auf das sprachliche Niveau des Rezipienten (z. B. Ingenieure vs. ungelernte Arbeiter) einzustellen und Argumente an dieses anzupassen.

Auch durch die Strukturierung von Texten können Aussagen leichter verständlich gemacht werden. Dazu zählt die Bildung von kurzen Sätzen, wobei Klammerbildungen vermieden werden sollten. Auf grammatikalischer Seite empfiehlt es sich, Aktivsätze Passivsätzen vorzuziehen. Ferner sind negativ formulierte Sätze schwieriger zu verstehen als positiv formulierte Sätze. Weiterhin wirken Substantivierungen meist komplizierter und somit weniger leicht verständlich. Bei einer Produktbeschreibung wirkt z. B. der Satz »Nach dem Einfüllen des Waschpulvers schließen Sie bitte ...« weniger verständlich als der Satz »Nachdem Sie das Waschpulver eingefüllt haben, schließen Sie bitte ...« Ferner sollten gute Übergänge geschaffen werden, d. h. neue Abschnitte sollten vorbereitet und u. U. zusammengefasst werden, sofern sie einen größeren Platz einnehmen. Zudem werden Texte leichter verstanden, bei denen eine semantische Deduktion vorliegt. Das heißt, das Allgemeine sollte vor dem Speziellen genannt werden, bzw. das Einfache vor dem Komplizierten, das Bekannte vor dem Unbekannten und das Interessante und Wichtige vor dem Langweiligen und Unwichtigen. Ebenfalls sollten gliedernde Vor- und Zwischenbemerkungen eingefügt werden. Solche Bemerkungen (z. B. »insgesamt gibt es 4 verschiedene ...« oder »bisher haben wir ...«) können die Verständlichkeit eines Textes erhöhen und dazu führen, dass das vermittelte Wissen besser in das bereits bestehende integriert werden kann. Ein bekannter Versuch einer Systematisierung von Faktoren, die zu mehr Verständlichkeit führen, stammt von Langer, Schulz von Thun und Tausch (1981). Sie nennen 4 Dimensionen von »Verständlichmachern«: 1. Einfachheit vs. Kompliziertheit, 2. Gliederung vs. Ungegliedertheit, 3. Prägnanz vs. Weitschweifigkeit und 4. anregende vs. keine anregenden Zusätze (7 Übersicht). Werden diese Faktoren berücksichtigt, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Argumente überzeugen werden. Denn nur wenn ein Rezipient Argumente verstanden hat (und entsprechend des ELM elaboriert verarbeitet), kann er durch diese überzeugt werden. Drei einschränkende Anmerkungen sind allerdings an dieser Stelle wichtig. Erstens haben viele verständliche Texte überhaupt keine persuasive Wirkung, weil sie diese auch gar nicht beabsichtigen. Darstellungen sind Darstellungen, so möchte man sagen. Zweitens kann auch ein

57 4.2 · Kommunikationsinhalte – Qualität von Argumenten

Vier Dimensionen der Textverständlichkeit (nach Langer, Schulz von Thun & Tausch, 1981) Dimension Einfachheit Einfachheit Kompliziertheit 4 Einfache Darstellung 4 Komplizierte Darstellung 4 Kurze, einfache Sätze 4 Lange, verschachtelte Sätze 4 Geläufige Wörter 4 Ungeläufige Wörter 4 Fachwörter erklärt 4 Fachwörter nicht erklärt 4 Konkret, anschaulich 4 Abstrakt, unanschaulich Dimension Gliederung – Ordnung Gliederung – Ordnung 4 Gegliedert 4 Folgerichtig 4 Übersichtlich 4 Gute Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem 4 Der rote Faden bleibt sichtbar 4 Alles kommt schön der Reihe nach Dimension Kürze – Prägnanz Kürze – Prägnanz 4 Zu kurz 4 Gedrängt 4 Aufs Wesentliche beschränkt 4 Aufs Lehrziel konzentriert 4 Knapp 4 Jedes Wort ist notwendig Dimension anregende Zusätze Anregende Zusätze 4 Anregend 4 Interessant 4 Abwechslungsreich 4 Persönlich

schlechtes Argument verständlich sein, Verständlichkeit verbessert also auch dann die Chance, dass eine inhaltliche Elaboration stattfindet, wenn z. B. ein Produkt schlicht kein besonders gutes Merkmal hat. In solch einem Fall werden die Rezipienten die Botschaft zurückweisen. In der Tat kann unter solchen Umständen sogar die Verhinderung einer Elaboration, z. B. durch Erschweren des Verständnisses, angezeigt sein (7 Kap. 2). Drittens kann es auch gegen qualitativ gute Argumente Widerstände geben. Hierauf geht der nächste Abschnitt ein.

Ungegliedertheit – Zusammenhanglosigkeit 4 Ungegliedert 4 Zusammenhanglos 4 Unübersichtlich 4 Schlechte Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem 4 Man verliert oft den roten Faden 4 Alles geht durcheinander

Weitschweifigkeit Viel Unwesentliches Breit Abschweifend Ausführlich Vieles hätte man weglassen können

4 4 4 4 4

Keine anregenden Zusätze 4 Nüchtern 4 Farblos 4 Gleichbleibend neutral 4 Unpersönlich

4.2.2 Zweiseitige Argumentation Generell kann man bei der Argumentation einseitig (man nennt nur die Vorteile einer bevorzugten Entscheidungsalternative, z. B. eines Produkts) oder zweiseitig (man nennt zusätzlich auch Nachteile) informieren. Dabei scheint zweiseitige Argumentation i. Allg. der einseitigen Argumentation vorzuziehen zu sein. So konnten Studien zeigen, dass einseitiges Informieren (gegenüber zweiseitigem) verstärkt zu fatalen Fehlentscheidungen

4

58

4

Kapitel 4 · Überzeugen durch Argumente

führt. Beispielsweise wurde die fehlgeschlagene Invasion in der Schweinebucht unter US-Präsident Kennedy von Janis (1982) hauptsächlich auf eine einseitige Informationspolitik zurückgeführt. Eine genauere Betrachtung führt uns abermals zurück zur Grundvoraussetzung »Offenheit«: Zweiseitiges Informieren setzt voraus, dass Empfänger bereit sind, neben Proargumenten auch Kontraargumente zu hören. Dies ist umso mehr der Fall, je gebildeter der Empfänger ist, je eher er ohnehin schon zweiseitig informiert ist bzw. wenn zu erwarten ist, dass er sich irgendwann einmal zweiseitig informieren wird. Die zweiseitige Argumentation hat zudem den Vorteil, dass man gleichzeitig auch Gegenargumente erhält und diese widerlegen kann (vgl. Ajzen, 2000; Glasman & Albarracin, 2006). Warum genau zweiseitiges Argumentieren wirksam ist, lässt sich mit dem Bild des »Impfens« erklären (7 Info-Box). Info-Box

Die Inokulationstheorie Der Umgang mit konträren Argumenten und deren Widerlegungsmöglichkeit ist Gegenstand der Inokulationstheorie (McGuire, 1964; für einen Überblick s. Compton & Pfau, 2005). Sie erklärt, wann Menschen stabil in ihrer Einstellung bleiben und insbesondere gegen Gegenargumente »immun« bleiben. Die Theorie besagt Folgendes: Will man bei einer Person eine Einstellungs- und Verhaltensänderung erreichen, muss man zweiseitig informieren, d. h. man sollte nicht nur die Zieleinstellung bestärken, sondern sie zudem mit Gegenargumenten »impfen«. Die Inokulationstheorie bedient sich einer Analogie aus der Medizin: Personen, die geimpft werden, werden gleichsam »resistent« gegen Fremdkörper – nämlich eben solche kritische Gegenargumente. Dies kann durch 2 Strategien erreicht werden: 1. Die Rezipienten selbst Gegenargumente erzeugen und widerlegen lassen (aktives Impfen) 2. Gegenargumente von außen vorbringen und widerlegen (passives Impfen) Menschen kann man also dadurch impfen, dass entweder sie selbst oder andere negative Implikationen einer bestimmten Einstellungs- oder Verhaltensän6

derung aufführen und dass sie selbst oder andere diese dann zu minimieren, also zu widerlegen oder auch zu bagatellisieren versuchen. Dies führt dazu, dass immunisierte Menschen gegenüber weiteren negativen Informationen eher resistent sind. Beispielsweise konnten Bechwati und Siegal (2005) jüngst demonstrieren, dass Kunden, die vor einer Kaufentscheidung mit entscheidungswidersprechenden Informationen geimpft wurden, gekaufte Produkte seltener zum Umtausch zurückgaben. Aktives Impfen scheint dabei effektiver zu sein als passives Impfen, da Personen beim aktiven Impfen »sich selbst überzeugen« (Compton & Pfau, 2005).

Es liegt auf der Hand, dass v. a. positive Argumente von den Vorteilen einer Position überzeugen können. In der Tat fanden Crowly und Hoyer (1994), dass der Anteil der negativen Informationen maximal 40% aller Argumente betragen sollte. Sie sollten frühzeitig, aber nicht als Erstes dargeboten werden. Das Widerlegen von negativen Informationen ist v. a. dann zentral, wenn diese wichtig (also von hoher Qualität) sind. Die Darstellung der Vorzüge zweiseitiger Argumentation hat v. a. darauf aufmerksam gemacht, wie bedeutsam die aktive Verarbeitung der Argumente durch die Rezipienten ist. Auch die nachfolgenden Beispiele diskutieren, wie solch eine Auseinandersetzung gefördert werden kann. Furchtappelle und die Auseinandersetzung mit Argumenten Selbst starke und überzeugende Argumente können ihre Wirkung verlieren, wenn sie negative Emotionen wie z. B. Angst und Furcht hervorrufen. Obwohl dies eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist, werden Furchtappelle eingesetzt. Der Grund ist, dass von ihnen zugleich erhofft wird, sie würden Rezipienten überhaupt erst motivieren, sich mit Argumenten auseinanderzusetzen. Allerdings wurde zur Frage, wie furchterregend oder bedrohend eine Botschaft sein soll (z. B. dass man aufhört zu rauchen oder Drogen zu nehmen), festgestellt, dass eine zu starke Furchterregung (z. B. Zeigen von furchterregenden Bildern wie von einer Raucherlunge) dazu führen kann, dass die betroffenen Argumente abgewertet werden (vgl. u. a. 7 Kap. 12). Mittlere Furchterregung dagegen erhöht die Chance, dass die angesprochene Person bereit ist,

59 4.2 · Kommunikationsinhalte – Qualität von Argumenten

sich mit der Thematik auseinanderzusetzen und nicht vorab eine abwehrende Haltung einnimmt. Menschen zu drohen scheint also nur in »milden Dosen« zu einer Zunahme an Offenheit zu führen, darüber hinaus aber eher zu einer Reduktion. Wichtig ist für die Wirksamkeit eines Furchtappells, dem Empfänger eine Chance zu geben, indem aufgezeigt wird, welches Verhalten denn die Furcht reduzieren kann (vgl. Albarracin, Wallace, & Glasman 2004; s. auch 7 Kap. 6). Die genaue Wirkung von Furchtappellen lässt sich nur schwer vorhersagen, weshalb sich die Frage stellt, ob es nicht alternative (und bessere) Möglichkeiten gibt, die Auseinandersetzung mit Argumenten zu fördern. Zwei solcher Möglichkeiten sind Fragetechniken, die im nächsten Abschnitt vorgestellt werden. Sokratisches Fragen und Suggestivfragen Die sog. Sokratesfragen bauen auf einem von Sender und Empfänger geteilten Werte- und Prämissensystem auf, wobei durch die Ableitung bestimmter Fragen der Empfänger einer Nachricht in eine gewisse Richtung gelenkt werden soll (7 Beispiel). Beispiel

Man möchte mit einer Abfolge von Sokratesfragen erreichen, dass ein Filialleiter seine Filiale am Samstag öffnet und bis 20 Uhr für die Schlüsselkunden zur Verfügung steht. Wir gehen erneut vom obigen Beispiel des »Baums« aus und wenden nun sokratische Fragen an. Um jemanden zu überzeugen, muss man natürlich sicher sein, dass dieser ein ähnliches Wertesystem hat wie man selbst. Zu diesem Wertesystem gehört z. B. das Überleben auf dem Markt, innovativ sowie besser zu sein als der Konkurrent. Wenn man diese Werte teilt, kann man daraus z. B. folgende Fragen ableiten: 4 Können wir uns erlauben die einzigen zu sein, die nicht am Samstag öffnen? 4 Müsste nicht Ihre Filiale auch öffnen? 4 Müssten nicht Sie als Filialleiter ebenso als Vorbild vorangehen? Das heißt, durch Sokratesfragen kann man Menschen zu einer Schlussfolgerung bringen, indem man Fragen aus einem gewissen Werte- und Prämissensystem (Wurzel eines Baumes, 7 4.1.3) ableitet.

Interessanterweise ist auch in der Verhaltenstherapie der sokratische Dialog ein bewährtes Mittel, um Klienten von der Sinnhaftigkeit bestimmter therapeutischer Interventionen zu überzeugen (z. B. Hautzinger, 1998). Der Grundgedanke ist: Die Rezipienten kommen selbst auf die Schlussfolgerung und fühlen sich nicht manipuliert (zu Sokratesfragen s. auch Lotz & Diekstra, 1995). Eine verwandte Idee findet sich in der Werbekommunikation. So untersuchte Kardes (1988) die Frage, ob die Einstellung zu einem Produkt tatsächlich durch eine explizite oder eher durch eine implizite Schlussfolgerung in der Werbebotschaft positiv beeinflusst wird. Dabei liegt die Überlegung nahe, dass dies von der Involviertheit von Personen abhängt. Es ergab sich nicht nur, dass das beworbene Produkt besser bewertet wurde, wenn das Produktinvolvement höher war, sondern v. a., dass bei geringem Involvement eine explizite Schlussfolgerung und bei einer hohen Involviertheit eine implizite Schlussfolgerung zu einer positiveren Bewertung des Produkts führte. Es zeigte sich also, dass bei geringerem Involvement dem Rezipienten »auf die Sprünge geholfen« werden muss, während bei hohem Involvement der Rezipient nicht alles »vorgesagt« bekommen will. Sokratische Fragen sollen nicht nur Einsicht fördern, sie sind auch schlicht ein Mittel, um Personen zu wiederholten Zustimmungen zu bringen. Solch ein Ziel kann aber auch alternativ erreicht werden: Durch sog. Suggestivfragen kann ein Sender schließlich einen Empfänger dazu bringen, dass er bestimmte erwünschte Antworten gibt. Dabei kann aus einer »normalen Frage« oft allein durch den Zusatz weniger Wörter eine Suggestivfrage entwickelt werden. Beispielsweise kann ein Computerverkäufer fragen: »Meinen Sie nicht auch, dass ein Laptop möglichst viel Speicherplatz haben sollte?« Hier ist die Antwort – nämlich »ja« – deutlich enthalten. Bei einer nichtsuggestiven Frage sind hingegen die Antwortmöglichkeiten weit vielfältiger (z. B. »Meinen Sie, dass ein Laptop möglichst viel Speicherplatz haben sollte?«). Suggestivfragen werden im deutschen, aber auch in verschiedenen anderen Rechtssystemen als illegitim und manipulativ angesehen. Bei Zeugenaussagen im Gerichtssaal kann hier Einspruch eingelegt werden, so dass Fragen anders formuliert werden müssen. Im Telefonmarketing finden sie oft als Einstiegsfragen Anwendung, etwa mit Formulierungen wie »Steuern sparen, ist das für Sie ein Problem?« oder »Meinen Sie auch, dass Sie zu viel für Ihre Krankenversicherung bezahlen?« (7 Kap. 9).

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Kapitel 4 · Überzeugen durch Argumente

Argumente als Feedback Persuasive Kommunikation, wie sie etwa in Verkaufsgesprächen oder in der Fernsehwerbung stattfindet, wird in der medienkritischen Öffentlichkeit oft einseitig so interpretiert, als versuche sie, auf einen desinteressierten und willenlosen Rezipienten Einfluss zu nehmen. Das ist aber gar nicht immer der Fall. Wir können Argumente auch als Antwortangebote auf Fragen interpretieren, die sich Verbraucher, Wähler, Kunden etc. stellen. So mögen beispielsweise zwar manche Verkäufer gewichtige Argumente für ihre Position nennen, weil sie bestimmte Ziele zu erreichen versuchen wie z. B. Einsicht in die Überlegenheit eines Produkts oder gar Leidensdruck beim Rezipienten. Ein Verkäufer möchte aber vielleicht auch nur den Empfänger informieren, mit ihm in einen Dialog treten, um ihm zu erklären, warum er oder sie eine bestimmte Position hat und warum diese Position überzeugend ist. So gesehen sind Rezipienten Problemlöser, und ihre Bereitschaft zur Aufnahme von Argumenten stellt kognitives Lernen dar. Menschen lernen dann, Argumente in ihr kognitives System aufzunehmen. Solches kognitive Lernen kann etwa darin bestehen, dass den Betroffenen verdeutlicht wird, welche Konsequenzen eine Nichtänderung von Einstellungen oder Verhalten hat. Rezipienten erhalten verbales Feedback über ihr Verhalten, ihre Einstellungen oder ihre Pläne. Sie können dann lernen, dass altes Verhalten bestraft und neues Verhalten belohnt wird (Beispiele: »Diese Reparatur wird teurer kommen als die Anschaffung eines neuen Geräts« oder »Sie werden damit viel Freude haben«). Aus solch einer Feedbackperspektive muss man, um Verhalten zu beeinflussen, den Nutzen einer Verhaltensänderung herausstellen. Handlungen, die verstärkt werden, werden wiederholt. Dabei ist es bedeutsam zu identifizieren, was genau für den Empfänger eine Belohnung und was eine Bestrafung ist. Wichtig ist auch, dass eine einmalige Belohnung oder Bestrafung oft nur begrenzte Effekte zeigt, dass ein konsequentes, kontinuierliches Vorgehen nötig ist, beispielsweise einem Kunden mehrfach zu einer Kaufentscheidung zu gratulieren. Scheinqualität von Argumenten I: Pseudoerklärungen Gewisse Argumentformen scheinen durchaus eine persuasive Wirkung zu haben. Interessanterweise lässt sich dies sogar dann zeigen, wenn der Inhalt zweifelhaft oder

gar »leer« ist. Pseudoerklärungen sind Aussagen, die durch Zusätze wie »weil, aufgrund dessen« als Argumente deklariert werden, obwohl sie eigentlich keine (guten) Argumente sind. Beispielsweise beschreibt Langer (1989) ein Experiment, bei dem Studierende, die in einer Schlange vor einem Kopierer standen, von einer zuvor vom Versuchsleiter entsprechend instruierten Person darum gebeten wurden, sie vorzulassen. Dabei fragte die Person in der einen experimentellen Bedingung: »Können Sie mich bitte vorlassen, ich habe nur 3 Kopien.« In der anderen Bedingung wurde von ihr zusätzlich das Wort weil verwendet: »Können Sie mich bitte vorlassen, weil ich nur 3 Kopien habe.« Es zeigte sich, dass dies mehr Erfolg hatte, dass also alleine der Zusatz »weil« Wirkung hatte. Offenbar können solche »Kausalwörter« als Hinweisreize dienen. Sie können Rezipienten dazu bringen, dass sie (fälschlicherweise) denken, eine Bitte sei mit einem Argument begründet – und begründete Bitten sind »bessere« Argumente, man sollte ihnen eher nachkommen. Argumente von solcher Art sind nicht sonderlich integer, sie stellen Irreführungen dar. Inhaltlich schwache Argumente können aber durchaus Wirkung entfalten. Einige weitere Beispiele führen wir im nächsten Abschnitt an. Scheinqualität von Argumenten II: Scheinargumente Will man eine Person überzeugen, so benötigt man eigentlich gute Argumente, die im Sinne eines Baumes aufgebaut werden sollten (7 4.1.3). Doch in vielen Fällen werden auch »Scheinargumente« verwendet, die gleichwohl sehr wirkungsvoll sein können. Dabei werden folgende Techniken verwendet (für einen Überblick s. Wohlrapp, 1995): 4 Killerphrasen: Killerphrasen sind Argumente, die nahezu keinen argumentativen Inhalt besitzen und von denen man annimmt, dass sie einen großen Konsens besitzen, wobei sie von starker Ablehnung oder Herabsetzung des Diskussionspartners gekennzeichnet sind. Ein Beispiel für eine Killerphrase ist: »Jetzt haben Sie Wirtschaft studiert und wissen nicht einmal, dass man unter diesen Umständen nicht in (...) investieren darf. Informieren Sie sich zunächst einmal!« 4 Drohung: Mit einer Drohung wird durch Einschüchterung und Macht das Ende einer rationalen Diskussion bewirkt. So könnte man z. B. durch die Aussage:

61 4.3 · Qualität von Argumenten – Randbedingungen ihrer Wirksamkeit

»Sie wissen, dass Sie sich eigentlich strafbar gemacht haben und dass Sie durch eine entsprechende Aussage vor Gericht kämen« bewirken, dass sich eine Person schnell zum Bezahlen einer Rechnung bewegen lässt. 4 Ethisches Argument: Das ethische Argument ist gerade bei ethischen Debatten wirksam und bezieht sich auf Prinzipien, die von den meisten Menschen (und somit auch von der Zuhörerschaft) geteilt werden. Beispiel: »In allen Kulturen ist Diebstahl strafbar. Somit ist auch unter uns Diebstahl ethisch verwerflich.« 4 Scheinrationalität: Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass man eine Position als allgemein bekanntes Wissen darstellt und einen Widerspruch als Weltfremdheit oder gar Dummheit darstellt. Mit Hilfe einer geeigneten Einleitung (z. B. »Jedes Kleinkind weiß doch, dass eine neue Investition viel Geld kostet, aber sich auf Dauer auszahlt«) kann so kritisches Nachfragen verhindert werden, weil Angst besteht, als unwissend zu erscheinen. 4 Persönlicher Angriff: Beim persönlichen Angriff wird dem Gegenüber suggeriert, dass er über zu wenig Sachwissen verfügt und somit seine Argumente schwach oder ungültig sind. Oft wird die Person mit einer bestimmten Personengruppe in Beziehung gesetzt (z. B. aufgrund von Geschlecht, Religion, Profession oder Hautfarbe), beleidigt (z. B. »Vollidiot«, »Nazi«), oder die Argumentation wird pauschal abgewertet (z. B. »dummes Geschwätz«, »Ausrede«). Es handelt sich hier um Argumente, die eine »sachliche« Ebene verlassen, die vielleicht sogar kaum noch die Bezeichnung »Argument« verdienen. Sie bedienen sich ergänzender Mittel, beispielsweise emotionalisieren sie den Rezipienten oder eine Zuhörerschaft. Sie sind auch ein Angriff auf die Offenheit der Situation. Solche zweifelhaften, oft nicht integeren Argumente zu erkennen, ist eine Herausforderung für Rezipienten und Zuschauer. Dieser Abschnitt macht somit deutlich, dass es vermutlich eine ganze Reihe von Umständen gibt, die der »Kraft des Arguments« Grenzen setzen. Im nächsten Abschnitt werden wir einige dieser Faktoren Revue passieren lassen.

4.3

Qualität von Argumenten – Randbedingungen ihrer Wirksamkeit

4.3.1 Eigenschaften des Senders Eingangs wurde bereits deutlich gemacht, dass die Wirkung von Argumentqualität von gewissen Kontextbedingungen abhängt; bei systematischer Informationsverarbeitung (die wiederum hohe Fähigkeit und Motivation des Empfängers der Botschaft voraussetzt) ist es z. B. relativ unerheblich, aus welcher Quelle die Informationen stammen (Chen, Shechter, & Chaiken, 1996), hier zählt fast ausschließlich die Qualität der Argumente. Je stärker jedoch die Fähigkeit und die Motivation von Menschen eingeschränkt sind, desto wichtiger sind Quelleneigenschaften. Dann haben z. B. Informationen, die von Experten stammen oder Mehrheitsmeinungen widerspiegeln, eine stärkere Überzeugungskraft. Die Glaubwürdigkeit von Experten kann sich dabei aber über die Zeit hinweg auf bestimmte Art und Weise verändern. Die Glaubwürdigkeit von Herrn Ackermann, Vorstandssprecher der Deutschen Bank, war beispielsweise begrenzt, wenn er sagte, er fühle sich verantwortlich für Deutschland, und gleichzeitig einerseits 5 Mrd. Gewinn und andererseits den Abbau von 5000 Arbeitsplätzen ankündigte. Weitere Ausführungen zu den Determinanten der Glaubwürdigkeit der Quelle von Botschaften finden sich in 7 Kap. 5. 4.3.2 Eigenschaften des Empfängers Im Sinne unserer einleitenden Überlegungen ist der Erfolg des Argumentierens davon abhängig, ob die Rezipienten überhaupt offen gegenüber Veränderungen sind oder nicht (»open vs. closed mindedness«, vgl. Glasman & Albarracin, 2006). Plausibel scheint zu sein, dass ein »analytischer Zahlenmensch« eher Argumenten zugänglich ist als ein intuitiver Mensch, den man auch mit »Emotionen überzeugen« kann. Lassen sich solche Überlegungen aber auch systematischer überprüfen? Erste Hinweise gibt es. Beispielsweise, und wie in 7 Abschn. 4.1.2 schon kurz erwähnt, haben manche Menschen verstärkt Freude, sich mit Argumenten auseinanderzusetzen und diese zu analysieren (»high need for cognition«). Andere wiederum verarbeiten Argumente generell eher oberflächlich (»low need for cognition«). Fragen nach der genauen Rolle von Rezipientenmerkmalen lassen

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Kapitel 4 · Überzeugen durch Argumente

sich allerdings deshalb nur schwer beantworten, weil Menschen nicht immer nach der Wahrheit suchen und sich ein akkurates Urteil bilden möchten. So kann es sein, dass sie einfach nur ihre Ansichten verteidigen oder Meinungen von anderen Personen übernehmen möchten, um Konflikte zu vermeiden. Im Folgenden sollen die wichtigsten und etabliertesten Ansätze vorgestellt werden, die erklären, warum Informationen auf sehr heterogene Art und Weise verzerrt werden können und Argumentqualität alleine oft nicht genügt, um Persuasion zu bewirken. Streben nach Konsistenz Die Dissonanztheorie geht davon aus, dass Menschen nach kognitiver Konsistenz streben und versuchen, diese aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. Diese kognitive Konsistenz ist z. B. oft nicht mehr vorhanden, wenn eine Person eine Entscheidung getroffen hat. Dies ist insofern der Fall, als man bei einer Entscheidung auf die Vorteile der nicht gewählten Alternative verzichten muss. Somit entsteht kognitive Dissonanz – ein aversiver motivationaler Zustand. Eine Möglichkeit, diesen aversiven Zustand zu reduzieren, besteht darin, entscheidungskonsistente Informationen zu suchen, also nur noch parteiisch für Argumente zugänglich zu sein. Diese Selektivität der Informationssuche wird dabei umso stärker sein, je stärker und je gewichtiger die darin enthaltenen Argumente sind. Sind Argumente jedoch schwach, so werden verstärkt der Entscheidung widersprechende Argumente beachtet, da diese leicht widerlegt werden können. Bestehende Urteile oder Entscheidungen werden daher nur schwierig zu revidieren sein. Dies gelingt nur dann, wenn eine Vielzahl dissonanter Kognitionen (Wissenselemente, Argumente) auftreten (für einen Überblick s. Harmon-Jones, 2000; Peus, Frey & Stöger, 2006). Eine weitere Theorie, nach der Menschen Informationen in Richtung ihrer anfänglichen Meinung verzerren, ist die Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung, die im Folgenden dargestellt werden soll. Die Rolle von Hypothesen Die Hypothesentheorie (für einen Überblick s. Abele, 2006) besagt, dass Menschen bestimmte Vorurteile, Hypothesen, kognitive Sets und Stimmungen haben, in deren Licht sie ihre Umwelt wahrnehmen und die wie ein Filter in der Informationsaufnahme und -verarbeitung wirken (vgl. Bruner & Postman, 1951; Lilli & Frey, 1993).

Argumente werden also nicht »neutral«, sondern »im Licht« bestimmter Hypothesen im weitesten Sinne aufgenommen – oder auch gleich abgelehnt. Der Begriff »Hypothese« kann breit verstanden werden. Wenn z. B. ein Rezipient erfährt, dass ein Argument, das ihm nun präsentiert wird, von einer bestimmten Person stammt, dann kann bereits dies zu einer einflussreichen Hypothese führen (etwa: »Was wird da jetzt schon noch kommen!«). Will also eine Person eine Einstellungs- oder Verhaltensänderung erzielen, so ist entscheidend, wie sie wahrgenommen wird, noch bevor sie ein erstes Argument äußert: glaubwürdig oder unglaubwürdig, positiv oder negativ, sympathisch oder unsympathisch, mit Expertenstatus verbunden oder nicht. So wird z. B. ein mehrdeutiges Argument positiv interpretiert, wenn es von einem Experten kommt und negativ, wenn es von einem Laien stammt (Chaiken & Maheswaran, 1994). Personen, die das Image haben, warmherzig zu sein, können daher u. U. eher eine Änderung erzielen als Personen, von denen gesagt wird, sie seien kaltherzig. Ähnlich kann man die Hypothesentheorie der Wahrnehmung auch auf Vertrauen oder Misstrauen gegenüber einer Person anwenden. Hat man Vertrauen zu einer Person, die z. B. eine Verhaltensänderung erreichen will, so wird man jegliches Verhalten des Gegenübers eher positiv interpretieren. Besteht Misstrauen, wird man jegliches Verhalten des Gegenübers eher kritisch oder negativ interpretieren. Die vorstehenden Ausführungen sollen nicht suggerieren, der Erfolg des Argumentierens hänge nur noch von subjektiven Faktoren ab. Denn interessanterweise hat die Hypothesentheorie der Wahrnehmung auch gezeigt, unter welchen Bedingungen Hypothesen weniger stark wirken (z. B. wenn man mehr Informationen erhält, wenn es alternative Erklärungen für Sachverhalte gibt, wenn man mehr Zeit hat, sich auseinanderzusetzen etc.; vgl. Abele, 2006; Lilli & Frey, 1993). Kontrollwahrnehmung Argumente sollen Menschen in vielen Lebenslagen zu Veränderungen bringen, sie sollen bestimmte Produkte kaufen, gesünder leben, Energie sparen usw. Auch wenn sie die Botschaft verstehen, verhalten sie sich so, als müsste man etwas anderes vermuten; warum? Eine Antwort hierauf gibt die Theorie der kognizierten Kontrolle (als Überblick vgl. Skinner, 1996; Fritsche, Jonas & Frey, 2006), die davon ausgeht, dass Menschen eher bereit sind, ihre Gewohnheiten zu ändern oder gar Opfer zu bringen, wenn 3 Voraussetzungen erfüllt sind:

63 4.3 · Qualität von Argumenten – Randbedingungen ihrer Wirksamkeit

1. Erklärbarkeit/Sinn: Menschen müssen wissen, warum sie ihr Verhalten ändern sollen. Wo der Sinn nicht erkannt wird, wird man sich auch nicht ändern bzw. langfristige Verhaltensänderungen zeigen. 2. Vorhersehbarkeit: Wie ist der Prozess der Änderung? Wo ist der Horizont? Man muss Veränderungsprozesse nachvollziehen können und wissen, in welche Richtung man sich verändern soll. 3. Beeinflussbarkeit: Aus der Theorie geht hervor, dass man Betroffene zu Beteiligten machen muss, d. h. man muss sie entsprechend einbinden und Rückfragen zulassen. Betroffene sollten selbst eine Chance haben, über das Wie zu entscheiden. Die Berücksichtigung dieser 3 Elemente der Theorie der kognizierten Kontrolle ist zentral, sie sind bei Änderungsprozessen in Organisationen, wo ganze Abteilungen und Gruppen betroffen sind, genauso relevant wie bei der Veränderung einer einzelnen Person. Die Theorie der kognizierten Kontrolle ist sowohl relevant, wenn es darum geht, neue Einstellungen zu schaffen, als auch dann, wenn bestehende Einstellungen verändert werden sollen, und ebenso, wenn es um Verhaltensänderungen geht. Beispiele finden sich in diesem Lehrbuch in den 7 Kapiteln 12 (Verhalten von Erwerbslosen) und 15 (Gesundheitsverhalten). Ein weiterer Aspekt, der die Stabilität einer Einstellung auch gegen starke Argumente reguliert, ist der Selbstwert, der im Folgenden thematisiert werden soll. Selbstwert Die Selbstwertschutztheorie geht davon aus, dass Menschen bestrebt sind, ihren Selbstwert zu wahren und wenn möglich zu erhöhen. Der Selbstwert funktioniert ähnlich wie das Immunsystem, d. h. bedrohliche Informationen (z. B. dass man ein Produkt schlechter Qualität gekauft hat ) werden zunächst abgeschirmt, indem sie untergewichtet, verdrängt, reinterpretiert werden. Gibt ein Sender eine selbstwertbedrohende Information (z. B. abwertende Kritik), so werden die Information und/oder der Sender abgewertet. Die Konsequenz ist, dass derjenige, der ein Verhalten eines Dritten ändern möchte, diesen Dritten durch Argumente nicht bedrohen oder abwerten darf. Beinhaltet eine Kritik Wertschätzung gegenüber dem Adressaten, so wird sie mit erhöhter Wahrscheinlichkeit angenommen (als Überblick vgl. Petersen, Stahlberg & Frey, 2006). Ferner ist es wichtig, dass man dafür sorgt, dass Empfänger ihre Freiheit nicht beeinträchtigt sehen.

Diese Freiheit wird auch von der sog. Reaktanztheorie thematisiert, die im Folgenden dargestellt werden soll. Widerstand gegen Einengung Die Reaktanztheorie (vgl. als Überblick Dickenberger, 2006; Miron & Brehm, 2006) postuliert, dass Menschen ihre Freiheit erhalten wollen, sich autonom verhalten zu können. Einengung entsteht entsprechend der Theorie unter 2 Bedingungen: 1. Eliminierung von Alternativen (Du darfst nicht!) 2. Hervorhebung von Alternativen (Du musst!) Freiheitseinengung im Sinne der Eliminierung einer Alternative oder der Hervorhebung einer Alternative kann zu Reaktanz führen, was Widerstand und Bumerangeffekte hervorruft. Typische Reaktionen sind Trotzverhalten, Aggression, Aufwertung der eingeschränkten Alternative, Ablehnung der hervorgehobenen Alternative. Um solche Reaktionen zu vermeiden, kommt Folgendes in Betracht: Wenn man die Einstellung einer anderen Person ändern will, muss man versuchen, sie mit den Argumenten nicht einzuengen, sondern ihr Freiheitsspielräume zu lassen. (Als ein Beispiel wurde in 7 Abschn. 4.2.2 die Verwendung impliziter Schlussfolgerungen genannt.) Als betroffene Person muss sie am Änderungsprozess beteiligt sein; sie muss also eingebunden werden. Insbesondere führen Brachialgewalt und zu starker Druck zum Gegenteil dessen, was gewünscht wird (s. auch Dickenberger, Gniech & Grabitz, 2002). Eine Möglichkeit besteht darin, auf »gerechte Verhältnisse« zu achten, ein Aspekt, der im Folgenden beleuchtet werden soll. Gerechtigkeitsempfinden Die Überzeugungskraft von starken Argumenten kann im Falle wahrgenommener Ungerechtigkeit leiden. Diese Theorie wurde zwar bisher hauptsächlich in der Arbeits- und Organisationspsychologie angewandt, sie ist aber auch für den vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung. Persuasion kann man auch als einen Austausch von Argumenten verstehen, wobei allerdings der Sender erreichen will, dass der Rezipient den Output des Senders stärker gewichtet als den eigenen. So gesehen können Rezipienten Unfairness wahrnehmen. Die Fairnessforschung (Tyler, 2004; Klendauer, Streicher, Jonas, & Frey, 2006) hat verschiedene Techniken identifiziert, mit denen man wahrgenommene Ungerechtigkeit kompensieren kann. Eine »Kompensation« kann durch proze-

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Kapitel 4 · Überzeugen durch Argumente

durale Fairness erfolgen: Hierzu gehört, dass Argumente erläutert werden oder dass verwendete Kriterien, die zu einem Ergebnis geführt haben, erklärt werden. Ein anderer Aspekt ist, dass die überzeugte Person eine Stimme (»voice«) hat. »Voice« bedeutet, dass einer Person die Gelegenheit eingeräumt wird, sich zu artikulieren, sie also Luft ablassen, Bedenken vorbringen, ihre eigene Position äußern kann. Ein weiteres Mittel, mit dem erlebte Unfairness minimiert werden kann, besteht darin, der Person mit Respekt und Achtung zu begegnen (Wertschätzung). Bei Interaktionen kann es aber auch dazu kommen, dass Menschen Argumenten nicht zugänglich sind oder diese verzerren, weil sie sich selbst »in Szene« setzen wollen. Dies soll im folgenden Abschnitt thematisiert werden. Selbstdarstellung Auch aufgrund von Selbstdarstellungstendenzen (»impression management«) kann die Überzeugungskraft von Argumenten beeinträchtigt werden. Selbstdarstellung bezeichnet ein Motiv, nach dem Menschen in einem bestimmten (meist positiven) Licht vor anderen Menschen erscheinen möchten (z. B. intelligent, kooperativ etc.). Die Forschergruppe um Tetlock (z. B. Tetlock, 1992; Lerner & Tetlock, 1999) konnte beispielsweise zeigen, dass Menschen ihre Einstellungen an erwartete Diskussionspartner anpassten: War die Einstellung des erwarteten Diskussionspartners unbekannt, so nahmen die (studentischen) Versuchspersonen eher moderate Einstellungen ein, d. h. solche, die Studenten im Durchschnitt vertreten. War die Einstellung des erwarteten Gegenübers bekannt, so passten sich die Probanden ihrem Gesprächspartner an und äußerten entsprechende Einstellungen. Gruppendruck und Minoritäteneinfluss Untersuchungen von Janis im Rahmen des GroupthinkModells (Janis, 1982; Frey, Schulz-Hardt & Stahlberg, 1996) zeigen, dass Gruppen einen starken Einfluss auf Einzelne ausüben können. Der formelle Führer oder die Mehrheit unterdrücken oft kritisches Denken, was dazu führt, dass sich Einzelne dem Gruppendruck beugen, um die Harmonie innerhalb der Gruppe herzustellen bzw. nicht zu gefährden. Dieses hat positive und negative Konsequenzen. Positiv ist dies zu werten, wenn die Gruppe die »Wahrheit« oder die optimale Lösung eines Problems kennt und so andere Mitglieder überzeugt, ihre Einstellung und ihr Verhalten zu ändern. Dieser

Gruppendruck und die Konformität können allerdings auch nachteilig sein. Dies trifft dann zu, wenn die Gruppe eine angemessene/realistische Meinung/Entscheidung unterdrückt (vgl. auch Frey et al., 1996; SchulzHardt, Frey, Lüthgens & Moscovici, 2000). Gruppendruck mag ein Paradebeispiel dafür sein, dass sich auch gute Argumente in sozialen Situationen oft nicht durchzusetzen vermögen. Ganz so pessimistisch muss das Fazit allerdings nicht sein. Es gibt durchaus Fälle, in denen sich eine einzelne Person oder ein kleines Team gegen eine Mehrheit durchsetzen kann. Die Erkenntnisse von Moscovici zeigen (vgl. als Überblick Erb & Bohner, 2006), dass Minoritäten unter ganz spezifischen Bedingungen durchaus Erfolg haben können, nämlich dann, wenn sie 4 sich einig und untereinander im Einklang sind, 4 konsistent über die Zeit hinweg sind, 4 flexibel in der Argumentation sind, d. h. teilweise zu Kompromissen mit der Majorität bereit sind (»Brücken bauen«), 4 Koalitionen bilden, 4 und besonders dann, wenn es gelingt, den Meinungsführer der Mehrheit zu überzeugen. (Dann ist der Überzeugungsprozess auch der anderen Mehrheitsmitglieder erfolgversprechender.) Wenn eine Minorität zeitlich konsistent und dabei flexibel in der Argumentation gegen eine Majorität »ankämpft«, kann dies bewirken, dass die Majorität zu einer tieferen Verarbeitung der Information gelangt. Die Minorität bewirkt dabei einen Konflikt bei der Majorität über die Richtigkeit ihrer Position. Je konsistenter die Minorität ist, um so eher besteht die Chance, dass zunächst Einzelne und dann mehrere Majoritätsmitglieder in ihrer Position verunsichert werden und schließlich ihre Meinung ändern (s. auch Kerr, 2002; für einen Überblick s. Erb & Bohner, 2002). 4.4

Beispiel eines integrativen argumentorientierten Programms

Im Folgenden soll ein Programm vorgestellt werden, mit dem Menschen auf der Basis von Argumenten dazu gebracht werden können, ihre Ansichten und Gewohnheiten zu ändern. Dieses Programm baut auf der 7 Theorie der Schutzmotivation (Rogers, 1975, 1983) auf, die zeigt, wie Motivation und Fähigkeit der Rezipienten er-

65 4.4 · Beispiel eines Integrativen argumentorientierten Programms

höht werden, um dadurch Einstellungs- und Verhaltensänderungen zu erreichen. Es handelt sich um eine Theorie (vgl. als Überblick Frey, Stahlberg & Gollwitzer, 2001), die auf viele Bereiche des menschlichen Verhaltens, in denen es um Veränderungen von Einstellungen, Verhalten und Gewohnheiten geht, angewandt werden kann, beispielsweise auf Umweltverhalten, Gesundheitsverhalten (7 Kap. 12) und auch Verhalten in Organisationen. Damit Menschen ihr Verhalten (ihre Gewohnheiten) ändern, bedarf es eines »Laufes über 110 m Hürden«. Entsprechende Kampagnen müssen gemäß der Theorie folgende Aspekte deutlich machen: 4 Schwerwiegende Konsequenzen: Eine Person muss erkennen, dass sich schwerwiegende Konsequenzen ergeben, wenn sie das Verhalten nicht ändert (z. B. Alkoholismus, wenn sie weiter trinkt). 4 Hohe Wahrscheinlichkeit für persönliche Betroffenheit: Die angesprochene Person muss feststellen, dass sie als Alkoholiker von schwerwiegenden Konsequenzen betroffen ist (z. B. Arbeitsplatzverlust, Verlust einer Partnerschaft, gesundheitliche Probleme). 4 Möglichkeit effektiver Gegenmaßnahmen: Die Person muss wahrnehmen, dass es Maßnahmen gibt, gegen Alkoholismus etwas zu unternehmen (z. B. eine Entziehungskur, soziale Unterstützung suchen).

4 Persönliche Ausführbarkeit effektiver Gegenmaß-

nahmen (Selbstwirksamkeit): Die Person muss wahrnehmen, dass sie selbst die Möglichkeit hat, solche Maßnahmen umzusetzen. 4 Intrinsische/extrinsische Verstärker für bisheriges Verhalten vs. intrinsische/extrinsische Verstärker für neues Verhalten (Verhaltenskosten von bisherigem vs. neuem Verhalten): Dieses ist wohl der gravierendste Wirkfaktor, weil häufig viele in- und extrinsische Verstärker für das bisherige Verhalten vorhanden sind und es schwierig ist, für das neue Verhalten in- oder extrinsische Verstärker zu erhalten. In vielen Fällen ist es deshalb leichter, ein neues »zusätzliches« Verhalten aufzubauen, als ein altes abzubauen und gegen ein neues auszutauschen. 4 Verdeutlichung von Eigennutz oder Gemeinnutz: Die Person muss klar sehen, dass sie oder ihre Umgebung Vorteile von diesem neuen Verhalten hat. Wichtig ist bei Kampagnen zu Einstellungs- und Verhaltensänderungen, dass man alle oben genannten Faktoren erkennt und versucht, sie möglichst geschickt umzusetzen. Durch Anwenden dieser Prinzipien konnte beispielsweise gezeigt werden, dass Risikoverhalten in Bezug auf Hautkrebs (z. B. längeres Sonnenbaden) erheblich reduziert werden kann (McMath & Prentice-Dunn, 2005).

Fazit In diesem Beitrag haben wir dargelegt, was gute Argumentationsketten sind und wie sie vermittelt werden können. Ferner haben wir aufgezeigt, wie man trotz schwacher (oder nicht vorhandener) Argumente andere Menschen (z. B. durch Suggestivfragen oder Pseudoerklärungen) überreden kann. Wahrscheinlich wären gesellschaftliche und wissenschaftliche Fortschritte, von denen wir heute profitieren (z. B. technische Erfindungen, medizinische Erkenntnisse, aber auch Demokratie und Menschenrechte) ohne rationales Überzeugen nicht möglich gewesen. Doch man kann davon ausgehen, dass Überzeugen auf Basis von starken Argumenten ein Ideal ist, das durch zahlreiche Faktoren beeinträchtigt werden kann: Die Wirkung rationaler Argumente ist begrenzt. Dort, wo beispielsweise die empfundene Bedrohung zu groß

ist, wo Emotionen stark sind, wo die Beziehungsebene gestört ist, haben es Argumente schwer. Wenn Menschen wenig zugänglich, wenig offen sind, dann entscheiden stattdessen oft Affekte und Vorurteile, wie ein Argument interpretiert wird – oder ob es überhaupt wahrgenommen wird. Schlüssige und wirksame Argumente erfordern es, gleich mehrere Aspekte zu bedenken, wie wir abschließend exemplarisch verdeutlicht haben, neben Einsicht in die Richtigkeit des neuen Verhaltens auch die Veränderung von Belohnungsstrukturen oder der Glaube daran, das Verhalten auch tatsächlich ausführen zu können. So sollte es nicht überraschen, dass Emotionalisierung von vielen, die überzeugen wollen, zumindest als eine hilfreiche Ergänzung betrachtet wird (7 Kap. 6).

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Kapitel 4 · Überzeugen durch Argumente

Literatur

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4

5 5 Persuasion durch Glaubwürdigkeit Florian Becker, Lutz von Rosenstiel, Matthias Spörrle

5.1

Begriffliche Klärungen

5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4

Einstellung, Persuasion und daraus resultierende Verhaltensweisen – 70 Glaubwürdigkeit – 71 Manipulation – 72 Ethik und Moral im Kontext der Persuasion – 74

5.2

Glaubwürdigkeit im Kontext – 75

5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5

Der Sender der Kommunikation – 75 Aspekte der Botschaft – 76 Der Empfänger der Kommunikation – 78 Der Kommunikationskanal – 80 Der Kontext der Kommunikation – 81

5.3

Fazit und Ausblick Literatur

– 70

– 82

– 82

K. Moser (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie DOI 10.1007/978-3-540-71637-2_5, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007

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5

Kapitel 5 · Persuasion durch Glaubwürdigkeit

> In Literatur und Geschichte finden sich zahlreiche Belege dafür, dass die Überzeugungsleistung einer einzelnen Person eine fundamentale Wendung herbeiführen kann. Da ist jene große Rede des Marc Anton, von William Shakespeare in dichterische Form gebracht, in welcher der Redner in höchst geschickter Weise den politischen Gegner unglaubwürdig macht und das Volk, das anfangs noch für seinen Widersacher war, gegen diesen aufwiegeln kann. Oder man erinnere sich an die junge Maria Theresia, die in einer verzweifelten Lage ihres Reiches in einer ergreifenden Rede mit Tränen in den Augen die zunächst höchst reservierten Vertreter des ungarischen Hochadels zu wahrer Begeisterung und rückhaltloser Unterstützung ihrer Politik gewann. Diese Beispiele sind Hinweis dafür, dass Kommunikation Menschen überzeugen, Einstellungen wandeln und somit letztendlich auch Verhalten verändern kann. Ein wichtiger Faktor für diese Überzeugungsleistung ist die wahrgenommene 7 Glaubwürdigkeit des Senders. Ob das subjektiv glaubwürdig Wirkende dabei wirklich objektiv glaubwürdig ist, bleibt jedoch eine offene Frage. In diesem Kapitel soll die wahrgenommene Glaubwürdigkeit des Senders in ihren Auswirkungen auf die Einstellung des Empfängers einer Botschaft dargestellt werden. Hierbei werden neben Sender und Empfänger weitere 7 Komponenten der Kommunikation in ihrer Auswirkung dargestellt, die sich im Rahmen von Einflussnahmeversuchen des Senders auf den Empfänger als relevant erwiesen haben.

Überzeugen ist neben anderen Funktionen (wie z. B. Informieren, Beschreiben) eine häufige Zielsetzung der Kommunikation. Um eine überzeugende Kommunikation zu bewirken, stehen unterschiedliche Ansätze zur Verfügung. Eine Kommunikation kann beispielsweise allein deshalb überzeugend wirken, weil der Sender als Mitglied einer sozialen Gruppe wahrgenommen wird, welcher der Empfänger der Botschaft angehört oder angehören will. Dieser Beitrag analysiert nicht alle diese möglichen Aspekte, die zur Überzeugung des Empfängers verwendet werden können, sondern hat den Fokus auf das Überzeugen durch Glaubwürdigkeit. Hierbei soll aufgezeigt werden, dass die Überzeugungswirkung einer Kommunikation von Merkmalen des Senders, des Empfängers, der Botschaft und des Kontextes der Kommunikation beeinflusst wird. Anschauliche Beispiele illustrieren den praktischen Nutzen der dargestellten Befunde. Insgesamt soll deutlich werden, was unter Glaubwürdig-

keit zu verstehen ist und welche Auswirkungen glaubwürdige Kommunikation in unterschiedlichen Kontexten haben kann. 5.1

Begriffliche Klärungen

Bei der Betrachtung von Persuasion durch Glaubwürdigkeit ist es zunächst ratsam, einige Begriffe näher zu beschreiben und in ihrer Relevanz für unsere Thematik zu beleuchten. Das sind zum einen Einstellung, Persuasion und Glaubwürdigkeit, zum anderen 7 Manipulation und Ethik. 5.1.1 Einstellung, Persuasion und daraus

resultierende Verhaltensweisen Einstellungen sind zeitlich relativ stabile Bereitschaften, auf einen Meinungsgegenstand (Person, Objekt, Konzept) wertend zu reagieren (vgl. z. B. Neumann, 2003, S. 135). Die individuell geäußerte Einstellung ist dabei das integrative Ergebnis einer Zusammenfassung dreier Komponenten: 1. Wissen über den Meinungsgegenstand (kognitive Komponente), 2. Gefühle, die mit dem Meinungsgegenstand verknüpft sind (emotionale oder affektive Komponente), 3. Verhaltensintentionen gegenüber dem Meinungsgegenstand (motivationale oder konative Komponente). Unter Persuasion wird die Veränderung von Einstellungen durch soziale Einflussnahme im Rahmen von Kommunikationsakten verstanden. Im Alltag verwenden wir viel Zeit darauf, die Einstellungen anderer Personen zu verändern, sei es durch die Vermittlung von Wissen oder durch die Aktivierung von Emotionen oder Motiven. Persuasion gehört somit zum täglichen Leben. Viele Menschen verdienen ihren Lebensunterhalt damit, professionell Einstellungen zu verändern, sei es durch die Entwicklung und Schaltung von Werbung, als Verkäufer, durch Kommunikation in der Presse, als Vorgesetzte, die die Mitarbeiter unterweisen und motivieren, als Lobbyist oder Wahlkampfstratege, der Politiker und ihre Entscheidungen beeinflusst, oder als Trainer in einem Seminar oder einer Fußballmannschaft.

71 5.1 · Begriffliche Klärungen

Sowohl aus der Forschungs- als auch insbesondere aus der Anwendungsperspektive ist hierbei von Bedeutung, ob sich die veränderte Einstellung auch in entsprechenden Verhaltensweisen niederschlägt. Persuasion soll letztlich konkret den Kauf eines Produkts, die Wahl einer Partei, die Bewerbung bei einer bestimmten Firma oder die Bereitstellung von Risikokapital bewirken. Neben diesen Reaktionen erster Ordnung, die stets als konkretes Verhalten anzusehen sind, sind auch wichtige Reaktionen zweiter Ordnung von Bedeutung, die Auswirkungen der Persuasion auf andere Einstellungsaspekte darstellen. Kundenzufriedenheit, Markenbekanntheit oder das Commitment von Mitarbeitern sind Beispiele solcher Reaktionen, die durch Persuasion beeinflusst werden können. Die vertiefte Darstellung der Auswirkungen von Persuasion (also veränderter Einstellung) auf solche Reaktionen erster und zweiter Ordnung geht über den Rahmen dieses Kapitels hinaus, das sich zentral mit der Glaubwürdigkeit als einer Determinante der Persuasion beschäftigen soll. Grundsätzlich seien an dieser Stelle lediglich 2 Aspekte angemerkt: 1. Zunächst belegt die Forschung, dass ein relativ starker Zusammenhang zwischen Einstellung und damit assoziiertem Verhalten besteht, wenn neben den Einstellungen zum Einstellungsobjekt (z. B. »Ist dies ein hochwertiges Produkt?«) auch Einstellungen zur sozialen Akzeptanz (z. B. »Was denken andere über mich, wenn ich dieses Produkt kaufe?«), zur eigenen Fähigkeit (z. B. »Kann ich dieses Produkt überhaupt bedienen?«) sowie zu den situativen Verhaltensmöglichkeiten (z. B. »Habe ich die Möglichkeit, dieses Produkt zu kaufen/nutzen?«) und konkreten Verhaltensintentionen (z. B. »Möchte ich dieses Produkt kaufen/benutzen?«) berücksichtigt werden (vgl. Armitage & Conner, 2001). 2. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass Persuasion eine umso stärkere Wirkung entfalten kann, je überlegter das betreffende Zielverhalten durchgeführt wird (beispielsweise beim Kauf eines Autos). Bei kognitiv wenig elaborierten Verhaltensweisen (beispielsweise dem vorher nicht geplanten Impulskauf einer Süßigkeit im Rahmen eines Lebensmittelgroßeinkaufs) hingegen werden Einstellungen (und damit Persuasion) eine vergleichsweise geringere Bedeutung für das Verhalten haben.

5.1.2 Glaubwürdigkeit Glaubwürdigkeit (»credibility«) ist neben Attraktivität und Macht (vgl. Kelman, 1961) eines der zentralen Merkmale des Senders, die darüber entscheiden, ob die Kommunikation überzeugend wirkt. Betrachten wir an dieser Stelle exkursorisch kurz zentrale Befunde zu Attraktivität und Macht, insoweit sie als für die Persuasion relevant anzusehen sind. Dies erscheint v. a. deswegen notwendig, weil insbesondere Attraktivität gelegentlich auch als eine Subdimension der Glaubwürdigkeit konzipiert wird (vgl. Maathuis, Rodenburg & Sikkel, 2004), in jedem Fall aber als eine ihrer Determinanten anzusehen ist. Die Forschung belegt mitunter erhebliche Zusammenhänge zwischen der Attraktivität eines Senders und der Einstellungsänderung bei Mitgliedern der Zielgruppe (Baker & Churchill, 1979; Eagly & Chaiken, 1975; Friedman & Friedman, 1979; Tannenbaum; 1956). Attraktive Personen führen zu positiverer Bewertung von Werbung, steigern Kaufintentionen und tatsächliches Kaufverhalten, attraktive Verkäufer haben mehr Interaktion mit Kunden und werden positiver bewertet (vgl. im Überblick Koernig & Page, 2002). Die Produktkategorie und das Produktimage wirken dabei als Moderatoren auf die Beziehung zwischen Attraktivität und Persuasion (Koernig & Page, 2002; Parekh & Kanehar, 1994): Passt das Angebot nicht zum Thema Attraktivität (z. B. Rasenmäher), hat diese unter Umständen nur sehr geringe oder gegenläufige Effekte auf die Persuasion. Auch der Bereich der Testimonials (wie z. B. von Steffi Graf oder Franz Beckenbauer) ist im Bereich der Glaubwürdigkeit dem Feld Attraktivität und Kompetenz zuzuordnen. Die Forschung zum Lernen am Modell hat gezeigt, dass insbesondere solche Modellpersonen nachgeahmt werden, die attraktiv sind, mit denen sich die Zielgruppen identifizieren können und die Erfolg haben (vgl. Bandura, 1969; zusammenfassend Neumann, 2003, S. 129). Prominente als Modelle haben besonders bei Angeboten mit hohem sozialem Risiko (Mode, Schmuck, Kleidung etc.) einen starken Einfluss auf die Glaubwürdigkeit der Kommunikation. Auf 2 Probleme der Werbung mit berühmten Personen sei an dieser Stelle hingewiesen: Es besteht die Gefahr der Unglaubwürdigkeit durch den »Tanz auf zu vielen Hochzeiten«. Für was hat eigentlich Franz Beckenbauer noch nicht geworben? In Folge solcher Akti-

5

72

5

Kapitel 5 · Persuasion durch Glaubwürdigkeit

vitäten ist die Glaubwürdigkeit von Testimonials generell drastisch zurückgegangen (King, 1989). Zudem ist bei Testimonials auch die weitere Imageentwicklung nicht vorhersagbar. So hat etwa ein großer deutscher Versorger mit Christoph Daum geworben, um mit ihm die Unternehmenswerte nach dem Motto auszudrücken: »Christoph Daum vertritt Werte, die auch wir vertreten!« – kurz vor seinem Kokainskandal. Auch die Machtposition eines Senders kann auf die Einstellungsübernahme Einfluss haben. Dies zeigt sich beispielsweise bei Opfern von Entführungen, Angehörigen autoritärer Staaten und einigen Mitarbeitern in der Annäherung ihrer Auffassung an die des jeweils Mächtigen (von Rosenstiel, Molt & Rüttinger, 2005). Zurück zur Glaubwürdigkeit: Glaubwürdigkeit bedeutet, dass dem Sender die Fähigkeit und Motivation zugeschrieben wird, wahrheitsgetreu zu kommunizieren (vgl. Fill, 2002, S. 36). Dementsprechend wird Glaubwürdigkeit in der Literatur überwiegend als das Produkt aus wahrgenommener Kompetenz (»expertise«, »expertness«) und Vertrauenswürdigkeit (»reliability«, »trustworthiness«) des Senders angesehen (vgl. Berlo, Lemert & Mertz, 1969; Mowen, Wiener & Joag, 1987). Angemerkt sei an dieser Stelle, dass das Konzept der Glaubwürdigkeit insbesondere in faktoranalytischen Studien mitunter mit weiteren Dimensionen versehen wurde (z. B. Dynamik), die sich jedoch nicht einheitlich durchgesetzt haben (vgl. Pornpitakpan, 2004). Glaubwürdigkeit ist somit eine von mehreren Eigenschaften einer Kommunikationsquelle, die Persuasion beeinflussen können, und setzt sich aus den Dimensionen Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit zusammen. Glaubwürdigkeit und (Effektivität der) Persuasion lassen sich empirisch mitunter kaum trennen, insbesondere in Studien, die extrem hohe Korrelationen zwischen beiden Konstrukten belegen (z. B. r=0,85, Moldovan, 1984). Zudem wird Glaubwürdigkeit in Untersuchungen oft indirekt aus den Änderungen von Einstellungen abgeleitet. Bei einem Blick auf klassische Kommunikationsmodelle (z. B. Schramm, 1955; Shannon & Weaver, 1962; McGuire, 1969) fällt allerdings auf, dass zum besseren Verständnis der Persuasionsprozesse mehr als nur die Quelle der Kommunikation gehört. Auch die Botschaft, der Empfänger, der Kanal, auf dem die Kommunikation erfolgt, sowie der Kontext, in dem die Kommunikation stattfindet (z. B. Vorgeschichte und das soziale Umfeld, vgl. Lazarsfeld, Berelson & Gaudet, 1948; Katz & Lazarsfeld, 1955), sind zu beachten, da deren Merk-

. Abb. 5.1. Für Persuasion relevante Komponenten der Kommunikation

male mit der Glaubwürdigkeitswahrnehmung des Senders interagieren. Es scheint somit sinnvoll, die Betrachtung der Glaubwürdigkeit über die Ebene des Senders hinaus auszudehnen. Die Forschungslage zeigt dementsprechend, dass es ratsam ist, Glaubwürdigkeit nicht nur bezüglich der Quelle der Kommunikation zu analysieren, sondern auch im Kontext der anderen Variablen, die das kommunikative Setting definieren (. Abb. 5.1): Die Botschaft an sich, aber auch das Medium der Kommunikation können glaubwürdig oder eben unglaubwürdig wirken und dadurch den Kommunikationseffekt stark beeinflussen. Auch Eigenschaften und Zustände des Empfängers (wie etwa seine Intelligenz oder gegenwärtige Stimmung) und Merkmale des Kontextes der Kommunikation (z. B. die Vorgeschichte) beeinflussen die Glaubwürdigkeit. In . Abb. 5.1 ist zudem noch ein einstufiges Modell der Kommunikation abgebildet. Tatsächlich ist jedoch davon auszugehen, dass auch mehrstufige Kommunikationsaspekte – wie etwa vermittelt über Meinungsführer und soziale Gruppen – mit der Glaubwürdigkeit eng verbunden sind. Bevor auf diese Aspekte eingegangen wird, soll jedoch das Thema Manipulation kurz angesprochen werden, da es mit dem Stichwort Persuasion oft verbunden wird. 5.1.3 Manipulation Der Begriff Persuasion ist nicht unbedingt positiv besetzt. Viele Menschen assoziieren damit Manipulation. Man denkt an unseriöse Verkäufer und Politiker sowie Betrug. Auch bei der Werbung wird häufig und schnell an Manipulation gedacht (7 Info-Box). Nicht selten spricht Werbung kaufentscheidende Motive verdeckt an, die nicht zum Vorteil des Konsumenten gereichen. So spricht etwa eine Automobilwerbung für einen Sportwagen das heikle Motiv »Gas geben« verdeckt durch die Darstellung (durchdrehende

73 5.1 · Begriffliche Klärungen

Info-Box

Marktpsychologen als »geheime Verführer« Nicht unerheblich zur Diskreditierung der Werbung beigetragen haben Veröffentlichungen, die weniger der wissenschaftlichen Erkenntnis als dem eigenen Marketing und der Beeinflussung potenzieller Kunden dienten. Ein berühmtes Beispiel dafür ist die Vicary-Studie (Vicary, 1957), bei der angeblich unterschwellig zwischen den einzelnen Bildern einer Kinovorführung Aufforderungen zum Konsum von Popcorn und Cola eingeblendet wurden. Der Absatz habe sich daraufhin deutlich erhöht. Auch wenn diese Studie mittlerweile als Fälschung entlarvt wurde (vgl. Neumann, 2003, S. 31; aber auch Karremans, Stroebe & Claus, 2006), hat sie breite Aufmerksamkeit gefunden und wird noch häufig zitiert. Den Marktpsychologen brachte dies den Ruf ein, »geheime Verführer« zu sein (Packard, 1957). Andere Untersuchungen zeigen mittlerweile allerdings durchaus die Möglichkeit auf, unterhalb der bewussten Wahrnehmungsschwelle Einfluss nehmen zu können (z. B. Lazarus & McCleary, 1951; Hawkins, 1970).

Reifen) an und rationalisiert gleichzeitig verbal: »Sie können länger frühstücken. Sie sind früher zum Abendessen zurück. Gibt es ein besseres Familienauto?« Auch andere schwer durchschaubare Techniken des Marketing haben für die Aktivitäten der Anbieter sensibilisiert. So ist z. B. »Captive-Product-Pricing« weit verbreitet. Ein Hauptangebot – etwa ein Drucker – wird extrem kostengünstig, mitunter sogar stark subventioniert, angeboten. Das benötigte Zubehör – in diesem Fall die Druckerpatrone – wird stark überteuert. So hat etwa Hewlett-Packard eine Marge von 35% auf seinen Tintenpatronen und erwirtschaftet über 70% des Gesamtgewinns mit Druckerzubehör (Elgin, 2003). Ähnliches zeigt sich bei Mobiltelefonen, die mit Verträgen verschenkt oder sehr günstig angeboten werden. Die verdeckten und langfristigen Kosten, die beispielsweise im Rahmen des Vertrags anfallen, sind schwer durchschaubar und werden deswegen von vielen Personen bei ihren Kaufentscheidungen übersehen. Häufig wird auch versucht, durch Verträge, Kompatibilität von Zubehör, Kündigungsfristen, bürokratischen Aufwand, bestimmte Dateiformate und anderes Aus-

trittsbarrieren für die Kunden aufzubauen. Nicht umsonst wird darum im Marketing von »Customer-lockin« gesprochen. Manipulation ist allerdings ein komplexer Begriff, der einer näheren Betrachtung bedarf. Von Rosenstiel und Neumann (2002) definieren Manipulation an folgenden Kriterien, die alle vorliegen müssen, um von Manipulation sprechen zu können (angemerkt sei an dieser Stelle, dass auch weniger strenge Definitionen des Begriffs existieren): 1. Der Sender beeinflusst den Empfänger bewusst. 2. Der Sender verfolgt damit den eigenen Vorteil. 3. Der Sender nimmt keine Rücksicht auf mögliche Nachteile für den Empfänger. 4. Der Sender verwendet dabei nicht oder kaum zu durchschauende Techniken und lässt dem Empfänger damit das Gefühl der freien Entscheidung. Bei Persuasion lassen sich – wie bereits gesagt – nicht von vornherein alle 4 Kriterien der Manipulation annehmen. So kann Persuasion durchaus dem Vorteil des Empfängers dienen. Ein Beispiel wäre die Anwendung von schwer durchschaubaren Techniken, wie etwa das klassische Konditionieren von Emotionen in der Werbung, um jemanden dazu zu bringen, mit dem Rauchen aufzuhören. Zudem kann Persuasion auch vollkommen offen und sachlich erfolgen, ohne dass dabei schwer durchschaubare Techniken angewendet werden. Zu bedenken ist hierbei, dass mit einem manipulativen Verhalten die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen meist langfristig erodiert werden. In wirtschaftlichen, politischen oder anderen zwischenmenschlichen Kontexten hat dies dann verheerende Konsequenzen für die langfristige Beziehung. Oder, wie der Volksmund sagt: »Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.« So fiel es beispielsweise der Regierung Bush wesentlich schwerer, die UN gegen den Iran und sein Atomprogramm zu mobilisieren, als dies noch bei Saddam Hussein und dem Angriff auf den Irak der Fall war. Außenminister Powells im Nachhinein immer unglaubwürdiger erscheinender Auftritt bei den UN hat offensichtlich nicht nur ihn viel politisches Kapital und Glaubwürdigkeit gekostet. Es lässt sich also festhalten: Wenn es um langfristige Beziehungen geht, sind Glaubwürdigkeit und offene Manipulation meist antagonistisch. Wird die Manipulation erkannt, ist die Vertrauenswürdigkeit und damit die Glaubwürdigkeit nicht mehr gegeben.

5

74

Kapitel 5 · Persuasion durch Glaubwürdigkeit

5.1.4 Ethik und Moral im Kontext

der Persuasion

5

Auch wenn Manipulation und Persuasion nicht stets miteinander verknüpft sind, gibt es doch eine Vielzahl von Beispielen, die ethische und moralische Fragestellungen aufwerfen. So werden in der Werbung Strategien angewandt und Inhalte vermittelt, die durchaus intensive Diskussionen verdienen. Einige Beispiele hierzu: 4 Ein Hersteller von Kartoffelchips zeigt in seiner Werbung Comicfiguren, die fönend in der Badewanne sitzen oder mit Metallgegenständen in den eingesteckten Toaster greifen. Dies soll dazu dienen, den kribbeligen Geschmack des Produktes zu verdeutlichen. Die Wirkung dieser Werbung auf Kinder ist gerade aus einer Perspektive des Modelllernens (Bandura, 1979) bedenklich. 4 Ein anderer Hersteller von Kartoffelchips lässt brennende Stuntmen – die stark an politische Selbstverbrennungen erinnern – in der Fußgängerzone herumrennen. Die (zumindest) verblüfften Beobachter bekommen anschließend die »besonders feurigen« Chips präsentiert. 4 Ein Konsortium zur Entwicklung eines neuartigen militärischen Fluggerätes vermarktet dieses in den USA mit einer Anzeige, die das Waffensystem über einer zerstörten und brennenden, offensichtlich arabischen, Stadt zeigt. Der Text: »It descends from the heavens. Ironically it unleashes hell.« Zwar mag dies der Zielgruppe gefallen, die über den Rüstungsetat verfügt, doch ist die Wirkung u. a. auf arabischstämmige Minoritäten sicherlich bedenklich. 4 Eine Münchner Diskothek bewirbt ihr alkoholisches Angebot mit dem Slogan »Billig macht willig.« Dazu die Abbildung von Damenbeinen mit einem heruntergelassenen Slip, was nicht nur aufgrund der bloßen Sexualisierung als problematisch anzusehen ist. 4 Die Werbung eines Fitness-Studios: Ein stark dickleibiger Mensch hält Nahrung in ein Piranha-Becken. Doch die Fische orientieren sich lediglich an seinem Bauch hinter der Glaswand. Dies sind eher offenkundige Beispiele, die schlicht durch ihre Rücksichtslosigkeit ethisch problematisch sind. Aber auch nicht durchschaubare Werbung oder Marktkommunikation, die für gesundheitsschädliche Angebote wie Alkohol oder Tabakwaren wirbt, verdient aus einer moralischen Perspektive durchaus eine genauere Diskussion.

Auch ein kritischer Blick in die Anreiz- und Bewertungssysteme mancher Unternehmen, mit denen diese die Arbeitseinstellungen ihrer Mitarbeiter beeinflussen, verdeutlicht, dass in vielen Bereichen der Wirtschaft ethisch bedenkliche Persuasion betrieben wird. Mitunter zeigen sich Strukturen, bei denen Mitarbeiter allein nach ihrer kurzfristigen Leistung – unabhängig von gesundheitlichen und sozialen Folgen – bewertet werden und die – je nach Werthaltung – als menschenverachtend eingestuft werden könnten. Gängige Slogans wie »up or out« oder »grow or go« spiegeln diese Haltung wider. Auch zeigt sich durch das Zuweisen von Statussymbolen wie Dienstwagen oder Notebooks eine oft schwer zu durchschauende Einflussnahme auf Personen, der sich zu entziehen mit zunehmender Zeit immer schwieriger wird. Besonders Verkaufspraktiken geraten in die Kritik. Diese müssen dafür nicht unbedingt im Bereich des Trickbetrugs oder der Haustürgeschäfte angesiedelt sein. Günstige Lockangebote, die oft nicht (mehr) vorhanden sind, wenn die Kunden in das Geschäft kommen, sind ein Beispiel; aber auch das sehr günstige Anbieten von Artikeln, bei denen Kunden Referenzpreise gespeichert haben, und das gleichzeitig überteuerte Angebot solcher Waren, bei denen diese Referenzpreise nicht bestehen. Als Resultat kaufen die Kunden die überteuerten Artikel, weil sie annehmen, diese seien ebenfalls günstig. Die dramatischsten Beispiele für fragwürdige Persuasion eröffnet sicherlich regelmäßig der Sektor Medien, Public Relations und Politik. So hat beispielsweise 1991 eine angebliche »Augenzeugin« tränenüberströmt und glaubwürdig erscheinend vor dem UN-Menschenrechtsausschuss berichtet, wie irakische Soldaten bei ihrem Einmarsch in Kuwait Babys aus ihren Brutkästen geworfen hätten. Erst viel später stellte sich heraus, dass sie als Verwandte des Botschafters von Kuwait während der ganzen Zeit des irakischen Einmarsches in den USA gewesen war. Sie wurde offenbar von einer PR-Agentur zu dieser Aussage animiert, um den Irak zum Feindbild im Westen aufzubauen und die UN-Entscheidungen zu beeinflussen (vgl. Olschewski, 1992, S. 173; McArthur, 1993, S. 70ff.; Beham, 1996, S. 109; Becker, 2002, S. 71; Palm & Rötzger, 2002, S. 148, 164, 174). Gerade systematische Persuasion, wie sie etwa in der Werbung betrieben wird, hat auch Auswirkungen im Sinne der Sozialisation der Bevölkerung (vgl. im Überblick von Rosenstiel & Neumann, 2002; Kroeber-Riel & Weinberg, 2003). So kann eine allgemeine sozialisie-

75 5.2 · Glaubwürdigkeit im Kontext

rende Wirkung angenommen werden (Meyer & Koller, 1971; Hermanns, 1972; Ward, Klees et al., 1987). Insgesamt kann als Konsequenz dieser Wirkung durch professionelle Persuasion mit Milliardenetats eine Tendenz zu wachsender Außensteuerung kritisiert werden (Riesman, 1971). Werte des »Habens« werden dadurch gegenüber denen des »Seins« in der Gesellschaft zunehmend in den Vordergrund gerückt (Fromm, 1976). Erwartungen an den Lebensstandard werden geweckt, die weit über dem Durchschnitt liegen. Durch diese unrealistisch positiv inszenierte Welt in der Werbung wird die kritische Auseinandersetzung mit der Realität verringert. Insgesamt kann festgehalten werden, dass Persuasion stark auf Menschen einwirkt und ein zentraler Bestandteil der Gesellschaft ist, sei es nun als professionelle wirtschaftlich oder politisch gelenkte Kommunikation oder im persönlichen zwischenmenschlichen Bereich. In diesem interessengesteuerten Rahmen ist es selbstverständlich, dass Bemühungen um entsprechende Regulierungen bestehen. So gibt es zahlreiche Gesetze und Verordnungen, die Marktaktivitäten von Anbietern kontrollieren sollen. Der ganze Bereich des Verbraucherschutzes mit den Verbraucherschutzverbänden oder der Stiftung Warentest hat ebenfalls regulierende Funktion. Zudem bestehen auch Institutionen der Selbstkontrolle, wie der Deutsche Werberat. Dieser versucht »schwarze Schafe« der Branche durch Ermahnungen zu bremsen und dadurch die Branche vor öffentlichem Imageverlust zu schützen. Zum Schutz von Mitarbeitern in Organisationen bestehen entsprechende Gesetze und Mitbestimmungsmöglichkeiten, doch betreffen diese nicht oder nur kaum die Persuasion am Arbeitsplatz. Auch ist die professionelle Persuasion im Pressebereich vergleichsweise unkontrolliert, was v. a. der Pressefreiheit dient. Hier wird – sieht man von Extremen ab – auf Wettbewerb und journalistische Verantwortung bei der Recherche gesetzt. 5.2

Glaubwürdigkeit im Kontext

. Abb. 5.2. Glaubwürdigkeit und Komponenten der Kommunikation

(. Abb. 5.2). Im Folgenden werden zentrale Befunde der Glaubwürdigkeitsforschung zu den Bereichen Sender, Botschaft, Empfänger, Kanal und Kontext dargestellt. 5.2.1 Der Sender der Kommunikation Grundsätzlich kann – obwohl sich auch dem widersprechende Befunde (z. B. Tormala, Briñol & Petty 2006) finden – als empirisch gesichert angesehen werden, dass ein glaubwürdiger Sender grundsätzlich eine höhere Persuasionswirkung hat als ein weniger glaubwürdiger (vgl. Pornpitakpan, 2004; 7 Übersicht »Glaubwürdigkeit und Eigenschaften des Senders«). Nicht nur hinsichtlich Einstellungen kann ein Nachweis der Glaubwürdigkeitswirkung erbracht werden, auch Verhaltensmaße erweisen sich als mit der Glaubwürdigkeit des Senders verbunden. So konnten beispielsweise Weick, Gilfillan und Keith (1973) nachweisen, dass Musikern beim Spielen des gleichen Musikstücks mehr Fehler unterliefen, wenn sie dachten, dass es von einem wenig glaubwürdigen Komponisten geschrieben worden war, als dann, wenn sie einen sehr glaubwürdigen Urheber vermuteten.

Glaubwürdigkeit und Eigenschaften des Senders 4 Kompetenz und Expertise sind insbesondere bei

Glaubwürdigkeit wird von Variablen des Senders, der Botschaft, des Empfängers, des Kanals und des Kontextes der Kommunikation beeinflusst. Sollen die Glaubwürdigkeit oder der persuasive Erfolg einer Kommunikation bestimmt werden, kommt man nicht umhin, die Konfigurationen dieser zahlreichen Variablen zu beachten, wodurch Kontingenzmodelle erforderlich werden

wenig kompetenten Zielgruppen und Angeboten mit hoher Vertrauensqualität empfehlenswert. 4 Wahrgenommene Motivation bzw. Vertrauenswürdigkeit (keine wahrgenommenen Anreize 6

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Kapitel 5 · Persuasion durch Glaubwürdigkeit

für Falschaussagen, Argumentation entgegen den eigenen Interessen) des Senders fördern die Glaubwürdigkeit. 4 Attraktivität (in einigen Modellen nicht als Bestandteil der Glaubwürdigkeit angesehen) des Senders unterstützt die Glaubwürdigkeit, wenn sie zum Kommunikationsinhalt passt.

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Es zeigt sich zudem, dass Quellen, die scheinbar gegen ihr eigenes Interesse argumentieren, besonders glaubwürdig sind (Eagly, Wood & Chaiken, 1978). So wäre eine Warnung der Genindustrie vor den erheblichen Gesundheitsrisiken eines ihrer Produkte sicher wesentlich glaubwürdiger als die gleichen von Greenpeace kommunizierten Bedenken. Insbesondere bei qualitativ schwer greifbaren Produkten mit hohem Kaufrisiko scheint die Glaubwürdigkeit des Senders bedeutsam zu sein. Hier dient sie als Hinweisreiz für die Qualität, da andere Aspekte nicht verfügbar sind (vgl. Grewal, Gotlieb & Marmorstein, 1994; Kotler & Keller, 2006). Einige Forschungsarbeiten bemühten sich auch um eine Analyse eines möglicherweise differenziellen Effekts der Subdimensionen Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit. So deuten beispielsweise die Befunde von McGinnies und Ward (1980) darauf hin, dass Vertrauenswürdigkeit im Vergleich zur Kompetenz als bedeutsamere Variable anzusehen ist. Die Glaubwürdigkeit des Senders hängt insbesondere von den Variablen ab, die Einfluss auf die zugrunde liegenden Variablen Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit ausüben. Hierzu gehören Aspekte wie wahrgenommenes Wissen des Senders, Fähigkeiten und Erfahrung in einem für den Meinungsgegenstand relevanten Bereich. So ist etwa Boris Becker geeignet als Quelle für die Bewerbung von Tennisschlägern; vergleichsweise weniger geeignet dürfte er zur Werbung für Automobile sein. Eine Konsequenz für die Marktkommunikation ist daher die Auswahl von Quellen, deren Kompetenz im relevanten Bereich bei der Zielgruppe außer Zweifel steht. Es gilt dafür entsprechende Belege und Leistungsbeispiele zu kommunizieren. Insbesondere bei Angeboten mit hohen Risiken in gesundheitlicher oder finanzieller Hinsicht ist die Zuschreibung von Kompetenz wichtig (vgl. von Rosenstiel & Neumann, 2002, S. 225). In speziellen Situationen kann aber auch Inkompetenz für eine erfolgreiche Persuasion eine wichtige Ei-

genschaft der Quelle sein, um Einfachheit in der Bedienung eines Produkts oder einer Dienstleistung zu verdeutlichen: So kann die Tatsache, dass Boris Becker (der nicht als Experte für diesen Bereich gilt) eine Internetanwendung bedienen kann, als Hinweis auf die leichte Bedienbarkeit gesehen werden. Schließlich kann sich natürlich die Glaubwürdigkeit eines Senders im Laufe der Kommunikation ändern. Etwa durch die Qualität der Argumente (Swasy & Munch, 1985) oder die Reaktion anderer Empfänger. Wird eine Quelle bereits vor der Kommunikation als unglaubwürdig eingestuft, ist der persuasive Effekt geringer als wenn der Sender erst nach der Kommunikation als unglaubwürdig bewertet wird. Bei einem als glaubwürdig eingestuften Sender sind diese Effekte gegenläufig (Greenberg & Tannenbaum, 1961). Die langfristige Bedeutung der Glaubwürdigkeit des Senders wird durch andere Forschungsergebnisse wieder relativiert (Kelman & Hovland, 1953). Nach 6 Wochen bestanden bei der Einstellungsänderung keine Unterschiede mehr zwischen Gruppen, die einer Botschaft von einer unglaubwürdigen oder von einer glaubwürdigen Quelle ausgesetzt waren. Kurz nach der Kommunikation waren die Unterscheide noch deutlich gewesen. Diese und andere Forschungsergebnisse zum sog. Sleeper-Effekt haben Konsequenzen für die Praxis (zusammenfassend: Kumkale & Albarracín, 2004). Offenbar wird die Glaubwürdigkeit der Quelle langfristig unbedeutend für die Einstellungsänderung. Verleumdungskampagnen sind daher beispielsweise auch dann langfristig effektiv, wenn sie unglaubwürdigen Quellen entstammen. Sie sind in Gesellschaft und Politik daher ein beliebtes Mittel, das Ansehen einer Person zu schmälern. 5.2.2 Aspekte der Botschaft Neben dem Sender sind auch Form und Inhalt der Botschaft wesentliche Bedingungen der Glaubwürdigkeit (7 Übersicht »Glaubwürdigkeit und Eigenschaften der Botschaft«). So reicht bereits die bloße Wiederholung einer Botschaft aus, sie glaubwürdiger erscheinen zu lassen (Arkes, Boehm & Xu, 1991). Wir kennen alle als Beispiel hierfür den berühmten Ausspruch »Ceterum censeo Carthaginem esse delendam!«, der angeblich am Ende jeder Rede oder Aussage von Cato Censorius fiel. Insbesondere wenn verschiedene Quellen die Botschaft wiederholen, dürfte die Glaubwürdigkeit davon profitie-

77 5.2 · Glaubwürdigkeit im Kontext

ren. Für die Marktkommunikation ist das ein wesentliches Argument für eine wiederholte Schaltung von Werbung.

Glaubwürdigkeit und Eigenschaften der Botschaft 4 Starke Argumente sollten wiederholt werden,

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ohne starke Übertreibung verwendet und mit Variation eingesetzt werden. Schwache Argumente sollten weniger häufig wiederholt werden. Zweiseitige Kommunikation ist bei gebildeten Zielgruppen und bei widersprechenden Einstellungen der Zielgruppe wirksamer. Zweiseitige Argumentation ist auch zu empfehlen, wenn gegen widersprechende Kommunikation (durch Konkurrenten) immunisiert werden soll. Einseitige Kommunikation ist bei wenig gebildeten und einstellungskonformen Zielgruppen sinnvoll. Eine niedrige Glaubwürdigkeit des Senders verlangt eine Vermeidung übertreibender Argumente. Übertreibende Argumente sind bei ohnehin hochwertig eingeschätzten Werbegegenständen möglich und wirksam. Eine hohe Glaubwürdigkeit des Senders verlangt gute Argumente. Fehlen diese, sollten weniger glaubwürdige Sender eingesetzt werden. Wenn überhaupt, dann sollten Furchtappelle nur behutsam eingesetzt werden

Gleichwohl sind hierbei die Sättigungseffekte allzu aufdringlicher Werbung zu berücksichtigen. Zudem gibt es neben der Sättigung auch eine Habituierung, die zu Nichtbeachtung führt. Hier ist also auf Maß bei der Wiederholung sowie auf Variation in der Marktkommunikation zu achten. Fehlen bei verbaler Argumentation die guten Argumente, kann eine Wiederholung zudem sogar kontraproduktiv für die Glaubwürdigkeit und damit für die Einstellungsänderung sein. Die Empfänger haben dann Zeit, Gegenargumente zu entwickeln und die kommunizierten Inhalte zu hinterfragen. Gute und glaubwürdige Argumente profitieren dagegen von mehreren Wiederholungen (Cacioppo & Petty, 1985).

Auch zu den Inhalten der Botschaft gibt es zahlreiche Forschungsergebnisse. Bekannt wurden insbesondere die Yale-Studien der Forschungsgruppe um Hovland (Hovland, Lumsdain & Sheffield, 1949). Im 2. Weltkrieg wurde untersucht, wie Botschaften gestaltet sein sollten, um glaubwürdig und effektiv zu sein. Vor allem die Frage, ob einseitige oder zweiseitige Argumentation, die auch Gegenargumente beinhaltet, effektiver sei, beschäftigte die Forscher. Zweiseitige Kommunikation scheint nach diesen Studien dann angemessener zu sein, wenn die Zielgruppe überdurchschnittlich gebildet ist und die Argumentation ihrer vorhandenen Einstellung entgegengerichtet ist. Es ist dagegen einseitige Kommunikation vorzuziehen, wenn die Zielgruppe geringer gebildet ist und wenn die Personen bereits die gewünschten Einstellungen haben. Zweiseitige Kommunikation hat aber auch andere Vorteile: Einmal ist davon auszugehen, dass sie die mit ihr vermittelten Einstellungen gegen widersprechende Persuasionsversuche von einer Gegenseite immunisiert (McGuire, 1964). Die Empfänger haben sich dann bereits mit den Gegenargumenten auseinandergesetzt und sind kritischer. Zudem kann bei gebildeten und intelligenten Empfängern offensichtlich einseitige Argumentation Reaktanz und somit Ablehnung hervorrufen, die ansonsten nicht oder nur in reduzierter Form entstanden wäre (vgl. Brehm, 1966). Wie schwierig die Wirkung einer bestimmten Argumentation abzuschätzen ist, zeigt sich in zahlreichen empirisch nachgewiesenen Wechselwirkungen mit anderen Komponenten des Kommunikationsakts: Insbesondere Empfänger mit hohem Involvement (hohe Bedeutung des Gegenstands für die eigene Person) sprechen stark auf die Qualität der Argumente an. Die Qualität der Argumente an sich ist bei Personen mit geringerem Involvement hingegen nur dann effektiv, wenn der Sender besonders glaubwürdig ist (Heesacker, Petty & Cacioppo, 1983). Conen (1985) ging davon aus, dass eine übertreibende, mit vielen Superlativen arbeitende Werbung generell zu Reaktanz führt und somit ihr Ziel verfehlt. Diese Hypothese bestätigte sich nicht. Daraufhin betrachtete Conen den Werbegegenstand. Erschien dieser hochwertig, so hatte die geschilderte Superlativwerbung den erwünschten Effekt und wirkte in diesem Kontext glaubwürdig. Erschien der Werbegegenstand dagegen minderwertig, kam es zu der zunächst generell vermuteten Reaktanz; der gleiche Text wirkte in diesem Zusammenhang offensichtlich unglaubwürdig. In ähn-

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Kapitel 5 · Persuasion durch Glaubwürdigkeit

licher Weise ist auch bei Sendern mit geringerer Reputation auf allzu extreme und übertriebene Argumente zu verzichten (vgl. dazu auch Goldberg & Hartwick, 1990). In diesem Zusammenhang erwähnenswert sind ebenfalls die Befunde von Tormala, Briñol und Petty (2006), die zeigen konnten, dass ein Sender mit hoher Glaubwürdigkeit dann zu einer reduzierten Persuasion führt, wenn schwache Argumente für das beworbene Produkt angegeben werden. Dieselben schwachen Argumente führten aber bei einer Quelle mit geringerer Glaubwürdigkeit zu einer vergleichsweise erhöhten Persuasion. So belegen diese Befunde, dass die wahrgenommene Güte der vorgebrachten Argumente mit Merkmalen des Empfängers, des Werbungsgegenstands sowie des Senders in Wechselwirkung tritt. Waren und Dienstleistungen werden häufig mittels emotionalisierter Argumentationen beworben, oft findet sich hierbei die Emotion Angst: Angst vor Einbrechern, vor Bakterien oder vor Einsamkeit im Alter. In den USA greifen über 15% der Fernsehspots diese Emotion auf (Unger & Stearns, 1983). Die Diskussion darüber und Forschungsergebnisse dazu sind umfangreich. Offenbar sind sehr starke Furchtappelle wenig wirksam, da die Botschaft dann nicht mehr als glaubwürdig erlebt wird. Schwächere Furchtappelle verstärken aber den Effekt der Persuasion (Jepson & Chaiken, 1990). Bei Werbemaßnahmen ist in diesem Kontext allerdings besonders darauf zu achten, keine negativen Anmutungen mit dem Angebot zu konditionieren. Insgesamt erscheint es daher weniger risikoreich, auf positive Anreize und Belohnung anstelle von Angst und Bestrafung zu setzen. 5.2.3 Der Empfänger der Kommunikation In der Kommunikation bestimmen zahlreiche Variablen des Empfängers darüber, wie glaubwürdig ein Sender erscheint (7 Übersicht »Glaubwürdigkeit und Eigenschaften des Empfängers«). Je geringer das Vorwissen über ein Angebot, desto wichtiger für die Persuasionswirkung sind die Expertise und Vertrauenswürdigkeit der Quelle, also ihre Glaubwürdigkeit (Ratneshwar & Chaiken, 1991). Wissen Personen dagegen bereits sehr viel über einen Werbegegenstand, dann haben sie in der Regel bereits feste Einstellungen hierzu entwickelt. Hier führt dann das Streben nach kognitiver Konsistenz und Dissonanzreduktion (vgl. Festinger, 1957) häufig zu einer Verteidigungshaltung: Den eigenen Einstellungen

widersprechende Information wird vorselektiert, kritisch und einseitig hinterfragt und aktiv widerlegt. Entsprechend hat sich gezeigt, dass bei einer einstellungsdiskrepanten Kommunikation der Sender besonders glaubwürdig sein muss, um überhaupt einen Einstellungswandel erreichen zu können (McGinnies, 1973). Bei einstellungskonformer Kommunikation ist dagegen offenbar ein Sender mit mittlerer Glaubwürdigkeit effektiver als einer mit hoher Glaubwürdigkeit, weil der Empfänger entsprechend viele stützende Argumente selbst generiert (Dholakia, 1986). Eine praktische Konsequenz daraus ist, zu Beginn der Kommunikation zunächst mit der Einstellung der Zielgruppe konforme Inhalte zu platzieren, um eine Abwehrhaltung der Zielgruppe zu vermeiden. Später können vorsichtig auch zunehmend kritischere Inhalte gesendet werden, die aber jeweils die bereits bestehenden Einstellungen berücksichtigen sollten.

Glaubwürdigkeit und Eigenschaften des Empfängers 4 Bei geringem Wissen der Empfänger sind die Ex-

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pertise des Senders und seine Glaubwürdigkeit besonders relevant. Bei umfangreichem Wissen sollte zunächst einstellungskonform mit der Kommunikation begonnen werden. Es sind besonders starke und abgestimmte Argumente erforderlich. Personen, die sehr stark auf soziale Akzeptanz achten, reagieren besonders auf sozial positiv bewertete Modelle und sozialen Druck. Personen, die eher individualistisch orientiert sind, reagieren stärker auf die Expertise und Kompetenz des Senders. Periphere Hinweisreize sind immer wichtig, insbesondere aber bei niedrigem Involvement. Bei höherem Involvement sind starke Argumente und zweiseitige Argumentation wichtig. Je geringer Wissen und Intelligenz der Empfänger sind, desto wichtiger sind periphere Hinweisreize und desto unangebrachter starke und ausführliche Argumentationen. Bei negativer Stimmung der Empfänger sind starke Argumente von großer Bedeutung. Sind die Argumente schlecht, sollten positive Stimmungen erzeugt werden.

79 5.2 · Glaubwürdigkeit im Kontext

Auch Persönlichkeitsmerkmale der Empfänger spielen eine Rolle. Personen, die sehr sozial orientiert sind und stark auf die Meinungen anderer achten, sind besonders empfänglich für attraktive Sender, mit denen sie sich identifizieren können (DeBono & Harnish, 1988). Bei Personen mit eher individualistischer Orientierung sind hingegen Expertise und Kompetenz der Quelle bedeutsamer für die Glaubwürdigkeit der Kommunikation. Personen, denen die soziale Akzeptanz wichtig ist, orientieren sich also folgerichtig an sozial akzeptierten Modellen bei ihrer Einstellungsbildung. Sie versuchen, Einstellungen zu übernehmen, die ihrem Umfeld gefallen. Praxisrelevant ist dies insbesondere bei der Kommunikation mit Zielgruppen, die beispielsweise in einem bestimmten Alter entwicklungsbedingt stark außenorientiert sind. Hier kann bei der Kommunikation auf sozialen Druck gesetzt und mit attraktiven Bezugsgruppen geworben werden. In diesen Subkulturen sozial stark akzeptierte Modelle – etwa Extremsportler oder Musikstars – können dann sehr glaubwürdig sein und effektiv bei der Persuasion eingesetzt werden. Personen, die autoritaristisch eingestellt sind (Harvey & Hays, 1972) oder weniger zur Reflexion und zum Nachdenken neigen (McGinnies & Ward, 1974), werden besonders stark von Sendern mit hoher Glaubwürdigkeit beeinflusst. Eine zentrale Moderatorvariable für die Glaubwürdigkeit der Kommunikation auf Seiten des Empfängers ist das bereits angesprochene Involvement. Dieses ergibt sich aus der wahrgenommenen Bedeutung eines Einstellungsobjekts für eine Person (Zaichkowsky, 1985). So wird ein Motorradfan bei einer Kommunikation über Harley-Davidson entsprechend mit hohem Involvement reagieren, eine ältere Dame hingegen eher nicht oder gar ablehnend. Das Involvement hängt eng mit den Bedürfnissen, Werten und Motiven einer Person zusammen. So wird der genannte Motorradfan wahrscheinlich ein stärkeres Bedürfnis nach Freiheit, Wildheit, Männlichkeit und Ungebundenheit haben. Je stärker die Beziehung des Inhalts einer Kommunikation oder des Werbegegenstands zu den Motiven und Bedürfnissen erlebt wird, desto höher ist das Involvement. Das individuelle Involvement beeinflusst die Verarbeitung der Kommunikation. Petty, Cacioppo und Schumann (1989) haben dementsprechend ein Modell entwickelt, um die Verarbeitung von Werbung unter verschiedenen Involvementbedingungen zu erklären: Bei einer Verarbeitung unter High-Involvement-Bedingungen wird die Kommunikation unter starker kogniti-

ver Beachtung verarbeitet. Insbesondere wenn die Zielgruppe ein hohes Involvement hat oder schlechte Erfahrungen mit einem Angebot gemacht hat, sind Glaubwürdigkeit und starke Argumente, die auch potenzielle Gegenargumente und das Vorwissen der Zielgruppen berücksichtigen, in der Kommunikation wichtig für eine Einstellungsänderung. Unter Low-InvolvementBedingungen haben Personen hingegen kaum Interesse daran, sich intensiv mit der Kommunikation auseinanderzusetzen; auch sehr überzeugende Argumente werden unter diesen Bedingungen kaum beachtet. Unter solchen Bedingungen achten Menschen verstärkt auf periphere Hinweisreize wie das Aussehen einer Person, die Einrichtung eines Geschäftes, die bloße Länge eines Textes, die Gestaltung einer Verpackung oder eben auch die Glaubwürdigkeit einer Quelle (vgl. auch Eagly & Chaiken, 1993, S. 336 ff.). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass individuelle Einstellungen durch periphere Hinweisreize insbesondere unter Low-Involvement-Bedingungen deutlich beeinflusst werden. Unter High-Involvement-Bedingungen sollten zudem passende Argumente eingesetzt werden, die auf die kognitive Komponente von Einstellungen abzielen. Auch die individuelle Fähigkeit und Möglichkeit zur Verarbeitung einer Kommunikation beeinflusst die Glaubwürdigkeitseinschätzung: Fehlen die kognitiven und zeitlichen Voraussetzungen zur Verarbeitung oder treten Störungen hierbei auf (Festinger & Macoby, 1964; Eagly & Chaiken, 1993), haben auch gute Argumente keine Auswirkung auf die Persuasion, denn sie werden schlichtweg nicht verstanden. Das zeigt sich z. B. in politischen Diskussionen: Nur eine Minderheit der Wahlberechtigten kann z. B. angemessen beurteilen, wie das Gesundheitssystem gestaltet werden sollte, damit es effizienter wird, und wie die unterschiedlichen Argumente hierbei zu beurteilen sind. In solchen Fällen nehmen periphere Hinweisreize (z. B. die Sympathie des Politikers) die zentrale Funktion bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit ein. Ähnliche Entwicklungen zeigen sich bei komplexen High-Tech-Produkten, bei denen die meisten Kunden beim Vergleich der Alternativen einfach überfordert sind. Entsprechend gewinnen Marken als Schlüsselreize und Sympathieträger an Bedeutung. Konsistent dazu sind die Untersuchungsergebnisse von Hovland, Lumsdain und Sheffield (1949), dass zweiseitige Kommunikation glaubwürdiger ist, wenn die Zielgruppe gebildet ist. Fehlen die intellektuellen Vorausset-

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Kapitel 5 · Persuasion durch Glaubwürdigkeit

zungen (Wissen und Intelligenz), dann ist elaborierte Kommunikation unwirksam. Auch der affektive Zustand der Zielpersonen hat Einfluss auf die Glaubwürdigkeit von Kommunikation. Die Urteilsbildung ist in hohem Maße stimmungsabhängig (Gilligan & Bower, 1984). Wenn Individuen in depressive beziehungsweise freudige Stimmungen versetzt werden und dann angeben, für wie wahrscheinlich sie positive (z. B. eine glückliche Ehe zu führen) und negative Ereignisse (z. B. in einen Unfall geraten) erachten, ergibt sich folgender Befund: Die Wahrscheinlichkeit von negativen Ereignissen wird von Personen, die in eine depressive Stimmungen versetzt wurden, als sehr viel größer angegeben als von Versuchspersonen, die freudig gestimmt sind. Freudig Gestimmte halten demgegenüber positive Ereignisse für wahrscheinlicher als traurige Probanden. Ein Konsument in einer negativen Stimmung wird also beispielsweise das Eintreten eines Versicherungsfalls (z. B. Unfall) als wahrscheinlicher einschätzen als eine Person in guter Stimmung und aufgrund dessen eher dazu bewogen werden können, eine entsprechende Versicherung abzuschließen. Stimmungen beeinflussen auch, wie wir Information verarbeiten. In einer positiven Stimmung wird Information weniger analytisch (weniger »genau«) verarbeitet als in einer (moderat) negativen Stimmung (Bless, Bohner, Schwarz & Strack, 1990). Empfänger einer Werbebotschaft, die sich in einer eher negativen Stimmung befinden, sollten somit eher mit qualitativ guten Argumenten angesprochen werden. 5.2.4 Der Kommunikationskanal Der gewählte Kanal der Kommunikation tangiert die Glaubwürdigkeit eher indirekt, indem er es erlaubt, entsprechende Argumente oder periphere Hinweisreize zu senden (7 Übersicht »Glaubwürdigkeit und Eigenschaften des Kommunikationskanals«). Insbesondere die Bandbreite und der Grad an Individualisierung der Kommunikation sind wichtige Grundvoraussetzungen, um glaubwürdige Botschaften übermitteln zu können. Zunächst zur Bandbreite: Durch E-Mail oder Papier (nur Text) können wesentlich weniger periphere Hinweisreize transportiert werden als bei einem Telefonat (Text sowie paraverbale Signale wie Lautstärke oder

Glaubwürdigkeit und Eigenschaften des Kommunikationskanals 4 Der Kommunikationskanal bedingt durch seine

Bandbreite den Anteil an peripheren Hinweisreizen und Argumenten, der übermittelt werden kann. 4 Eine zunehmende Bandbreite führt zu einer Polarisierung der Glaubwürdigkeitsurteile. 4 Je nach Zielgruppe und Inhalt der Botschaft ist eine andere Auswahl oder Mischung der Kanäle geeignet, um eine individuelle Ansprache zu erreichen. 4 Der Kanal ist selbst ein peripherer Hinweisreiz auf die Glaubwürdigkeit des Senders. Es empfiehlt sich daher, die Einstellungen zu bestimmten Kanälen für bestimmte Botschaften bei den Zielgruppen zu eruieren.

Tonhöhe) oder bei einem persönlichen direkten Gespräch (Text, paraverbale Signale sowie nonverbale Signale wie Mimik und Gestik). Eine Erhöhung der Bandbreite scheint generell zu einer stärkeren Polarisierung der Glaubwürdigkeit zu führen (Brandstätter, 1975). Wer glaubwürdig ist, wird umso glaubwürdiger wahrgenommen. Wer ohnehin unglaubwürdig ist, wird umso unglaubwürdiger wahrgenommen. Ein unglaubwürdiger Sender ist daher im Fernsehen noch unglaubwürdiger als im Radio und noch am glaubwürdigsten in Pressetexten. Umgekehrt ist ein glaubwürdiger Sender am glaubwürdigsten im Fernsehen und am wenigsten glaubwürdig in Pressetexten (Worchel, Andreoli & Eason, 1975). Neben der Bandbreite ist die Möglichkeit zur Individualisierung der Kommunikation (der Standardisierungsgrad) entscheidend: Je spezifischer auf den einzelnen Empfänger eingegangen werden kann, desto überzeugender kann kommuniziert werden. So ist es bei Plakaten, Fernsehspots oder Flyern schwer, auf den einzelnen Empfänger einzugehen. Bei direkten persönlichen Gesprächen, Telefonaten oder Direktmarketingmaßnahmen mit zur Segmentierung verwendeten Datenbanken der Zielpersonen im Hintergrund ist deutlich mehr Individualisierung realisierbar. Entsprechend kann der Inhalt der Kommunikation an die einzelnen Empfänger angepasst und so die Glaubwürdigkeit erhöht werden.

81 5.2 · Glaubwürdigkeit im Kontext

Zudem gibt es je nach Kanal Unterschiede in der Möglichkeit des Empfängers zum Widerspruch: Ein Werbespot im Fernsehen läuft weiter und lässt dem Empfänger (im Unterschied zu einem Zeitungsinserat) nicht viel Zeit zu hinterfragen oder zum Entwickeln eigener Gedanken. Im Internet kann (im Unterschied zum Fernsehen) leicht nach Vergleichsobjekten, Kundenmeinungen oder Belegen gesucht werden. Eine gewagte Argumentation hat somit im Fernsehen ein vergleichsweise relativ geringes Risiko, hinterfragt zu werden. Schließlich kann der Kanal selbst als peripherer Hinweisreiz auf die Glaubwürdigkeit fungieren. So leidet beispielsweise gegenwärtig insbesondere das E-MailMarketing unter der Spamproblematik, die dazu führt, dass generell Inhalte von Werbemails allein aufgrund des Mediums als weniger glaubwürdig eingeschätzt werden. Angemerkt sei zuletzt noch, dass der gewählte Kanal natürlich insbesondere auf den Empfänger spezifisch zugeschnitten sein sollte. So ist beispielsweise E-Mail-Werbung für die Ansprache von Computeranwendern besser geeignet als für die von Kleingartenbesitzern, wohingegen letztere durch Plakate in Baumärkten besser zu erreichen sein sollten. 5.2.5 Der Kontext der Kommunikation Auch der Kontext der Kommunikation beeinflusst die Glaubwürdigkeit (7 Übersicht »Glaubwürdigkeit und Eigenschaften des Kommunikationskontextes«). So ist es wichtig, dass die vorhergehenden Erfahrungen mit dem Sender den Eindruck von Aufrichtigkeit hinterlassen haben (Eagly, Wood & Chaiken, 1978). Das gilt auch dann, wenn jemandem über Dritte mitgeteilt wurde, dass eine Quelle nicht glaubwürdig sei.

Glaubwürdigkeit und Eigenschaften des Kommunikationskontextes 4 Bestehen bereits schlechte Erfahrungen oder

Vorwarnungen, dann sind gute Argumente umso wichtiger. 4 Die Reaktion von anderen Personen im Umfeld auf Kommunikation ist sehr wichtig für deren Glaubwürdigkeit. 4 Ablenkung des Empfängers kann die Glaubwürdigkeit schwacher Argumente erhöhen.

Der Einfluss anderer Personen auf die Glaubwürdigkeit einer Botschaft zeigt sich auch an weiteren Forschungsergebnissen. Reagieren beispielsweise andere Personen in der Gegenwart des Empfängers positiv auf eine Botschaft, steigt deren Glaubwürdigkeit und das Ausmaß der Persuasion (Hildum & Brown, 1956; Wood & Kallgren, 1988). Noch ausgeprägter ist dieser Effekt bei Personen, die stark auf soziale Akzeptanz achten. Vor dem Hintergrund dieser Befunde empfiehlt es sich beispielsweise bei einem Auftritt in der Öffentlichkeit, im Publikum Personen zu platzieren, die sich der vorgetragenen Argumentation deutlich sicht- und hörbar anschließen. Fehlen der Kommunikation die starken Argumente, so kann auch bei nicht einstellungskonformen Empfängern mit entsprechender Ablenkung der Aufmerksamkeit während der Kommunikation dennoch eine Einstellungsänderung in die gewünschte Richtung erfolgen, da periphere Hinweisreize an Bedeutung gewinnen (vgl. Petty, Wells & Brock, 1976). In der Praxis zeigen sich entsprechende Anwendungen bei der Split-Screen-Werbung, bei der im Hintergrund in einem zweiten Fenster die Sendung weiterläuft. Ein weiterer Aspekt ist hierbei das Timing von Kommunikation. So können Informationen gezielt dann kommuniziert werden, wenn die Zielgruppe ohnehin abgelenkt (und evtl. zusätzlich in gute Stimmung versetzt) ist: z. B. durch Großereignisse wie Weltmeisterschaften. Allgemein ist davon auszugehen, dass wegen der zunehmenden Informationsüberlastung die meiste Kommunikation ohnehin nicht mit voller Aufmerksamkeit verfolgt wird. So kann immer häufiger von Ablenkung ausgegangen werden. Entsprechend nimmt die Bedeutung peripherer Hinweisreize in der Marktkommunikation zukünftig weiter zu.

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Kapitel 5 · Persuasion durch Glaubwürdigkeit

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Fazit und Ausblick

Literatur

Fazit

Arkes, H. R., Boehm, L. E. & Xu, G. (1991). Determinants of judged valid-

Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit (assoziiert mit Variablen wie Attraktivität, Machtposition und Dynamik) erwiesen sich auf Seiten des Senders als zentrale Bestimmungsstücke der wahrgenommenen Glaubwürdigkeit. Die hier dargestellten Befunde belegen, dass Persuasion generell in eindeutiger Weise mit hoher Glaubwürdigkeit des Senders verbunden ist, dass hierbei aber die anderen Komponenten der Kommunikation bei der Analyse der Verbindung zu berücksichtigen sind. Es wurden zudem auch Befunde dargestellt, die belegten, dass eine maximale Glaubwürdigkeit nicht immer vorzuziehen ist (z. B. wenn nur schwache Argumente vorliegen und bei Konformität zwischen der anfänglichen Meinung des Empfängers und der Aussage der Botschaft). Auch wenn diese Komplexität auf den ersten Blick überraschen mag, deckt sie sich doch mit der Alltagserfahrung: Im Rahmen eines Gesprächs werden wir in deutlicher Weise nicht nur von der uns übermittelten Botschaft beeinflusst, sondern agieren auch auf Grundlage unserer Vorannahmen, Ziele und bisherigen Erfahrungen, werden von verschiedenen (auch für den Sachinhalt der Aussage irrelevanten) Merkmalen des Gesprächspartners sowie durch die aktuelle Situation, in der die Interaktion stattfindet, beeinflusst.

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Sowohl die forschende als auch die praxisorientierte Person ist gut damit beraten, sich für ein Gesamtmodell des Zusammenhangs von Glaubwürdigkeit und Persuasion von einfachen Wenn-dann-Aussagen zu verabschieden. Die Persuasionsforschung wird durch komplexere Studien, die Wechselwirkungen mehrerer Einflussvariablen im Kommunikationskontext untersuchen, in den nächsten Jahren ohne Frage zu realitätsnäheren Aussagen gelangen. Ein Werbekonzept, das zumindest die hier dargestellten Kommunikationskomponenten berücksichtigt und analysiert, läuft weniger Gefahr, keine oder evtl. sogar gegenläufige Ergebnisse zu erzielen.

83 5 · Literatur

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84

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Kapitel 5 · Persuasion durch Glaubwürdigkeit

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6 6 Emotionale Werbung Axel Mattenklott

6.1

Begriffsklärungen – 86

6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4

Eine Klassifikation von Werbebotschaften – 86 Emotion, Stimmung und Gefühl – 86 Identifizierung und Messung von Emotionen – 87 Zwei Arten emotionaler Reaktionen – 90

6.2

Modelle emotionaler Werbung

6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.2.5

Emotionale Konditionierung – 91 Einstellungsübertragung – 92 Transformationelle Werbung – 94 Gefühle als Motive – 96 Wirkung spezifischer Gefühle – 98

6.3

Einfluss programmvermittelter Gefühle Literatur

– 91

– 101

– 103

K. Moser (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie DOI 10.1007/978-3-540-71637-2_6, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007

86

Kapitel 6 · Emotionale Werbung

> Man hat nur eine Chance, wenn man die Menschen berührt, wenn sie merken, etwas kommt von Herzen. (Josef Zotter, Hersteller handgeschöpfter Schokolade; zitiert nach Eck, 2006, S. 39)

6

Dieser Beitrag behandelt die Bedeutung von Emotionen für die Werbewirkung. Es geht um Emotionen, die entweder durch die Werbung erzeugt werden oder durch das Programm, in dem die Werbung platziert wird. Die ersten beiden Abschnitte haben eine Klassifikation von Werbung und Definitionen der Begriffe Emotion, Gefühl und Stimmung zum Inhalt. Anschließend wird beschrieben, welche Emotionen als Reaktionen auf Werbung identifiziert werden konnten und wie sie gemessen werden. Dann werden 2 Arten emotionaler Reaktionen beschrieben sowie 4 Modelle, die erklären, wie Emotionen auf die beworbenen Marken übertragen werden. Es folgt ein Überblick über die Forschung zur Wirkung spezifischer Emotionen, und der letzte Abschnitt widmet sich dem Einfluss progammvermittelter Gefühle auf Einstellungen zur Werbung. 6.1

Begriffsklärungen

6.1.1 Eine Klassifikation von

Werbebotschaften Wenn im Folgenden von Werbung die Rede ist, dann ist damit klassische Werbung gemeint, zu der Anzeigen in Zeitungen und Zeitschriften sowie Spots im Hörfunk und Fernsehen gehören. Werbung umfasst eine Reihe weiterer Varianten, wie z. B. Sponsoring oder Event Marketing. Neue Varianten werden entwickelt, z. B. Branded Entertainment (die Marke wird in die Unterhaltungssendung integriert) oder Programming (eine Fernsehsendung im Dienst der Marke, z. B. die Nutella-Show). Im Unterschied zur klassischen Werbung sind die weiteren Varianten in der werbepsychologischen Forschung mit Ausnahme von Product Placements (vulgo Schleichwerbung) bislang selten untersucht worden (Woelke, 1998). Werbebotschaften vermitteln einen Inhalt, der auf verschiedene Weise umgesetzt werden kann. Drei breite Kategorien der Umsetzung lassen sich unterscheiden: Kommunikatoren (Prominente oder Menschen »wie du und ich« werden im Zusammenhang mit einer Marke dargestellt), Erzählungen und Produktpräsentationen

. Abb. 6.1. Klassifikation von Werbebotschaften nach Umsetzung und Inhalt

(Mattenklott, 2002; Shimp, 1976). Der Inhalt von Werbebotschaften lässt sich danach unterscheiden, ob er informativ oder emotional bzw. transformationell ist. Informationen bestehen aus Argumenten zugunsten der Marke (seltener zugunsten der Produktkategorie), die z. B. im Fall einer Maschine zum Abschleifen von Lacken eine Stimme aus dem Off vorträgt und die gleichzeitig mit Hilfe einer Produktpräsentation demonstriert werden. Emotionale bzw. transformationelle Werbebotschaften versuchen, angenehme Gefühle, Emotionen oder Stimmungen zu erzeugen und sie auf die beworbenen Marken zu übertragen (. Abb. 6.1). Bei Mischformen, die in der Praxis häufig vorkommen, richtet sich die Zuordnung danach, ob die Argumente überwiegen oder die Intention, angenehme Gefühle zu erzeugen. 6.1.2 Emotion, Stimmung und Gefühl Obschon die 3 Begriffe Emotion, Gefühl und Stimmung nicht einheitlich definiert werden (z. B. Otto, Euler & Mandl, 2000), lassen sie sich durch die folgenden Charakteristika unterscheiden: 4 Emotionen sind unmittelbare, kurzzeitige und intensive Reaktionen auf Ereignisse, die sich als körperliche Veränderung (z. B. der Hautleitfähigkeit), als Ausdruck (Mimik, Gestik) und als individuelles Erleben (Qualität der Empfindung) äußern. Emotionen, wie z. B. Furcht, synchronisieren Gedanken, Handlungen, körperliche Veränderungen, Gefühle und Motive. 4 Stimmungen sind seltener Reaktionen auf Ereignisse, zumindest nicht unmittelbare. Sie sind weniger

87 6.1 · Begriffserklärungen

intensiv als Emotionen und halten in der Regel länger an. 4 Gefühle sind die subjektiven Komponenten von Emotionen, d. h. sie sind das, was als individuelles Erleben benannt werden kann. Gefühlsbegriffe sind wesentlich zahlreicher als Begriffe für Emotionen; z. B. wird in der psychologischen Literatur Freude als Emotion bezeichnet. Freude kann auch als Gefühl berichtet werden: »Ich freue mich«. Daneben gibt es zahlreiche Begriffe, die das gleiche oder ein verwandtes Gefühl ausdrücken, z. B. »bin begeistert«, »... in froher Stimmung«, »... aufgeräumt« oder »... froh«. Der Begriff Affekt bezeichnet einen heftigen Gefühlsausbruch mit stark reduzierter Handlungskontrolle. Er ist eher ein psychiatrischer als ein psychologischer Begriff (z. B. »… eine Straftat ist im Affekt verübt worden«). Der englischsprachige Begriff »affect« wird als Oberbegriff für Emotion und Stimmung verwendet. Im Deutschen hat der Begriff Emotion diesen Status. Entsprechend bezeichnet der Begriff emotionale Werbung alle Gestaltungsformen, die intendieren, Emotionen, Stimmungen oder Gefühle zu erzeugen, die für die Einstellungen gegenüber den beworbenen Marken oder das Befolgen beworbenen Verhaltens (z. B. »kein Alkohol am Steuer«) günstig sind (Mattenklott, 2002). Welche Emotionen von Werbung erzeugt werden, wird im folgenden Abschnitt behandelt. 6.1.3 Identifizierung und Messung

von Emotionen Für die Identifizierung von Emotionen lassen sich 2 Methoden unterscheiden (Poels & DeWitte, 2006). Eine Methode vertraut darauf, dass die Probanden sich ihrer Gefühle bewusst sind und sie verbal oder bildlich beschreiben können. Begründet wird sie mit der Annahme, dass Gefühle die Folge von Bewertungen sind und nicht den Bewertungen vorausgehen. Diese Annahme ist für Bewertungstheorien (»Appraisal«-Theorien) zentral. Wahrgenommene Ereignisse werden zunächst bewertet, und in Abhängigkeit von der Bewertung eines bestimmten Ereignisses wird ein Gefühl erzeugt. Die zweite Methode erfasst körperliche Veränderungen, die als Indikatoren von Emotionen aufgefasst werden. Derartige körperliche Veränderungen sind den Probanden nicht bewusst.

Selbstbeschreibung Bei der ersten Methode, die sich auf Selbstbeschreibungen stützt, lassen sich 2 Varianten unterscheiden. Die 1. Variante hat zum Ziel, die bei der Wahrnehmung von Werbung erlebten Emotionen verbal beschreiben zu lassen. Die 2. Variante lässt die Emotionen bildlich wiedergeben. Verbale Beschreibung

Verbale Beschreibungen von Gefühlen stammen aus Protokollen der Probanden oder aus ihren Angaben, ob und in welchem Ausmaß die in existierenden Klassifikationen enthaltenen Emotionsbeschreibungen mit den selbst erlebten Emotionen übereinstimmen. Solche Klassifikationen sind allgemeine Emotionstypologien und Emotionsdimensionen. Emotionstypologien bestehen je nach Autor aus 7–11 Emotionen. Diese sind Interesse, Überraschung, Ekel, Skepsis, Ärger, Furcht bzw. Angst, Scham, Schuld, euphorische Freude, heitere Gelassenheit bzw. stille Freude und soziale Geborgenheit (z. B. Izard, 1977). Daneben gibt es Vorschläge, Emotionen in einem Raum mit 2 oder 3 Dimensionen anzuordnen, z. B. nach einer Dimension Wohlgefühl mit den Polen angenehm und unangenehm und einer Dimension Aktiviertheit mit den Polen aktivierend und beruhigend (Russell, 1980; . Abb. 6.2). Diese Methode haben Allen, Machleit und Marine (1988) mit Izards Typologie (Izard, 1977), Olney, Holbrook und Batra (1991) mit Russells Emotionsdimensionen (Russell, 1980) sowie Zeitlin und Westwood (1986) mit Plutchiks »Emotion Circumplex« (Plutchnik, 1980) gewählt. Zwei Nachteile der Beschränkung auf Emotionsklassifikationen sind (Bagozzi, Gopinath & Nyer, 1999): 1. Einige der darin enthaltenen Emotionen sind als Beschreibungen von Reaktionen auf Werbung zu unspezifisch, treffen also nicht das, was Konsumenten empfinden. Man denke an Ekel oder Scham. Das sind intensive Emotionen, die durch Werbung in der Regel nicht erzeugt werden. 2. Durch Werbung erzeugte Gefühle kommen in den Emotionstypologien und in den aus Emotionsdimensionen gebildeten Strukturen nicht vor, z. B. Gefühle, die emotionale Bindung charakterisieren, wie Liebe oder Enttäuschung. Um diese Nachteile zu vermeiden, präsentiert man den teilnehmenden Probanden Anzeigen oder (häufiger) Fernsehspots und fragt sie, welche Gefühle sie erlebt ha-

6

88

Kapitel 6 · Emotionale Werbung

. Abb. 6.2. Die Zirkumplexstruktur der Emotionen nach Russell (1980)

6

ben. Entweder protokollieren die Befragten ihre Gefühle, oder sie kreuzen aus einer umfangreichen Liste von Gefühlsbegriffen, die wesentlich zahlreicher sind als die maximal 11 Emotionsbegriffe, diejenigen an, die ihre Erlebnisse charakterisieren. So protokollierten die Probanden in der Studie von Batra und Ray (1986) ihre Gedanken und Gefühle, welche die Autoren anschließend mit Hilfe eines theoretisch begründeten Kodierschemas kategorisierten. Die Gefühlsbeschreibungen ließen sich 3 Kategorien zuordnen: 1. euphorische Freude, 2. heitere Gelassenheit bzw. stille Freude und 3. soziale Geborgenheit. Edell und Burke (1987) ließen die nach der Darbietung von Fernsehspots erlebten Gefühle protokollieren und legten ihren Probanden zusätzlich eine Liste mit Gefühlsbegriffen vor, in der sie jene markierten, die sie als Gefühle empfunden hatten. Auf diese Weise entstand ein Inventar aus 169 Gefühlsbegriffen, das nach einer zweiten Studie mit anschließender Faktorenanalyse auf 69 reduziert wurde. Die 3 Faktoren benannten sie 4 »euphorische Gefühle«, 4 »negative Gefühle« und 4 »warmherzige Gefühle«.

Auch Holbrook und Batra (1990) zeigten ihren Probandinnen (Hausfrauen) Fernsehspots und instruierten sie, ihre erlebten Gefühle in einer Liste mit 94 Gefühlsbegriffen zu identifizieren. Mit Hilfe ihrer Analyse entschieden sich die Autoren für eine endgültige Typologie aus 12 Kategorien von Gefühlen. Auf ähnliche Weise reduzierte Richins (1997) in mehreren Analyseschritten die anfänglich 175 Beschreibungen erlebter Emotionen in Konsumsituationen auf 16 Kategorien. . Tabelle 6.1 zeigt beispielhaft die Ergebnisse der Analysen. Bildliche Wiedergabe

Bei der zweiten Variante von Selbstberichten werden die Probanden gebeten, ihre Gefühle bildlich wiederzugeben. Das erfolgt entweder statisch oder kontinuierlich. Bei statischen Selbstberichten von Gefühlszuständen werden den Probanden schematisch gezeichnete Personen vorgegeben, wobei jede Zeichnung unterschiedliche Ausprägungen der Emotionsdimensionen mit den Polen sehr angenehm versus sehr unangenehm und aufgeregt versus entspannt repräsentiert. Die Gefühle werden nicht weiter unterschieden. Am häufigsten ist das »Self-Assessment Manikin« von Lang (1995) angewendet worden (Morris, 1995; . Abb. 6.3). Die Probanden markieren einen von 9 Skalenpunkten, der am besten

89 6.1 · Begriffserklärungen

. Tab. 6.1. Beispiele für Gefühlsbeschreibungen aus den Untersuchungen von Edell und Burke (1987), Holbrook und Batra (1990) und Richins (1997)

Edell und Burke (1987)

Holbrook und Batra (1990)

Richins (1997)

Faktor 1: Euphorische Gefühle 4 Aktiv 4 Erfreut 4 Freudig erregt

Typ 1: Aktivation 4 Aufgerüttelt 4 Aktiv 4 Aufgeregt

Cluster 1: Ärger 4 Frustriert 4 Ärgerlich 4 Genervt

Faktor 2: Negative Gefühle 4 Ärgerlich 4 Gelangweilt 4 Kritisch

Typ 2: Gemütlichkeit 4 Gemütlich 4 Gelassen

Cluster 2: Unzufriedenheit 4 Unerfüllt 4 Missmutig

Faktor 3: Warme Gefühle 4 Zugeneigt 4 Ruhig

Typ 3: Traurigkeit 4 Traurig 4 Reumütig 4 Betrübt

Cluster 3: Scham 4 Verlegen 4 Beschämt 4 Gedemütigt

. Abb. 6.3. Das »Self-Assessment Manikin«

repräsentiert, wie ausgeprägt sie Angenehmheit und Aktiviertheit erleben. Fünf der Skalenpunkte entsprechen den durch die schematischen Zeichnungen dargestellten Gefühlen und die restlichen 4 den Gefühlen zwischen 2 benachbarten Darstellungen. Bei kontinuierlichen Selbstberichten von Gefühlen bewegen die Probanden beim Betrachten der Werbespots einen Stift auf einem Bogen Papier von oben nach unten. Empfinden sie angenehme Emotionen, führen sie den Stift in der Abwärtsbewegung nach rechts, und wenn sie unangenehme Emotionen empfinden, nach links. Die Abweichungen der entstandenen Linie von einer Senkrechten, die den Weder-noch-Bezug bildet, sollen die Ausprägungen der Gefühle wie-

dergeben. Das ist die Methode des »warmth monitor« von Aaker, Stayman und Hagerty (1986). Eine neuere Variante ersetzt den Stift durch die PC-Maus und verbessert die Synchronisation des zeitlichen Verlaufs von Werbespot und Aufzeichnung (Baumgartner, Sujan & Padgett, 1997). Erfassung körperlicher Veränderungen Nachteile von Selbstberichten sind, dass 1. nicht sämtliche Gefühle mit bewusster Aufmerksamkeit registriert werden und somit auch nicht berichtet werden können (LeDoux, 1998), 2. Selbstberichte verfälscht werden können, insbesondere dann, wenn die Probanden sich in einer Weise

6

90

Kapitel 6 · Emotionale Werbung

darstellen wollen, die mit sozialen Normen im Einklang ist.

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Diese beiden Nachteile lassen sich mit der zweiten Methode vermeiden, die darauf gründet, dass sich Emotionen in körperlichen Vorgängen manifestieren. Solche Vorgänge werden am häufigsten als Änderungen der Mimik, der elektrodermalen Aktivität und der Herzrate (Zeitintervall zwischen 2 Herzschlägen) gemessen. Änderungen der Mimik werden mit einem von Ekman und Friesen (1978) entwickelten Kodierschema (FACS) oder mit dem Elektromyogramm (EMG) erfasst. Änderungen der Mimik als Reaktionen auf Werbung sind allerdings häufig so subtil, dass sie mit dem Kodierschema nicht erfasst werden (z. B. Derbaix, 1995). Mit dem EMG, das auch nichtsichtbare Änderungen von Gesichtsmuskeln mit Hilfe von Elektroden registrieren kann, insbesondere die für Stirnrunzeln oder Lächeln verantwortlichen, scheint das besser zu gelingen (Bolls, Lang & Potter, 2001; Hazlett & Hazlett, 1999). Allerdings kann infolge der auf das Gesicht geklebten Elektroden für die Probanden eine unnatürliche Situation mit dem Nachteil entstehen, ihre Aufmerksamkeit auf Änderungen der Mimik zu lenken. Körperliche Vorgänge werden auch als elektrodermale Aktivität (EDA) oder als Herzrate gemessen. Elektrodermale Aktivität und Herzrate sind als Indikator der emotionalen Tönung von Radiowerbung interpretiert worden (Bolls, Lang & Potter, 2001) und die Herzrate als Indikator von Aufmerksamkeit und Aktiviertheit (Lang, 1990). In der Forschung zur Werbung sind elektrodermale Aktivität und Herzrate als Indikatoren für Emotionen insbesondere zur Validierung anderer Messmethoden, mit denen erlebte Emotionen als Reaktionen auf Werbung erfasst werden sollten, untersucht worden (Aaker, Stayman & Hagerty, 1986; Bolls, Lang & Potter, 2001; Lang, 1990; Vanden Abeele & MacLachlan, 1994). Aus einer Analyse mehrerer in der Werbepraxis durchgeführter Studien zogen LaBarbera und Tucciarone (1995) den Schluss, dass EDA als Prädiktor des Werbeerfolgs (Verkauf der beworbenen Produkte) gut geeignet ist. Dass beide Methoden zur Messung emotionaler Reaktionen auf Werbung selten angewendet worden sind, mag auf den ersten Blick überraschen, haben sie doch den Vorteil, sensible und verfälschungsimmune Indikatoren zu produzieren. Nachteile der Methoden sind, dass die Auswertung der Messungen diffizil und die Interpretation der Maße nicht eindeutig ist. Die phasische

(kurzzeitige) EDA ist v. a. ein valider Indikator der Orientierungsreaktion, d. h. einer Reaktion auf Ereignisse, die sich von den zuvor wahrgenommenen Ereignissen qualitativ oder quantitativ unterscheiden (Vossel, 1990). Welches Gefühl von einem derart anderen Ereignis erzeugt wird, z. B. Zuneigung, Euphorie oder Wärme, lässt sich mit Hilfe der EDA nicht identifizieren. Bei der Herzrate kann z. B. eine phasische Dezeleration erhöhte Aufmerksamkeit oder ein negatives Gefühl indizieren. Man kann sich leicht vorstellen, dass die Interpretation von EDA und Herzrate als Indikatoren emotionaler Reaktionen auf Werbespots insbesondere dann, wenn sie Erzählungen mit wechselnder emotionaler Tönung inszenieren, ohne weitere Methoden auf unsicheren Füßen steht. Wenn man fragt, wer sich von Botschaften, die über Medien vermittelt werden, stärker überzeugen lässt, die Befragten selbst oder andere Personen, erfolgt als häufigste Antwort, dass sich andere Personen eher überzeugen lassen würden als man selbst. Dieses Phänomen wird als der Dritte-Person-Effekt bezeichnet (Davison, 1983). Der Effekt zeigte sich in einer Untersuchung von Gunter und Thorson (1992) auch mit informationeller Produktwerbung, er kehrte sich aber um, wenn die Werbung emotional war. Die Versuchsteilnehmer glaubten, von emotionaler Werbung stärker beeinflusst zu werden als andere Personen. Je höher der zuvor beurteilte emotionale Gehalt der Werbung war, desto stärker schätzten die Versuchsteilnehmer ihre Beeinflussbarkeit ein. 6.1.4 Zwei Arten emotionaler Reaktionen Wenn in der Praxis der Markt- und Werbeforschung von »Entscheidung aus dem Bauch« und »Bauchgefühl« die Rede ist, sind damit Situationen gemeint, in denen die Entscheidenden ihren Gefühlen stärker vertrauen als Reflexionen und Schlussfolgerungen. In der Forschungsliteratur zu Emotionen gibt es die Unterscheidung zwischen emotionalen Reaktionen, die automatisch bzw. spontan und ohne einflussnehmende gedankliche Aktivität erfolgen (»lower-order affective reactions«) und langsameren emotionalen Reaktionen, die nach gedanklicher Aktivität entstehen (»higher-order affective reactions«; z. B. Berkowitz, 1993; in der Werbepsychologie Rossiter & Bellman, 2005). Im Kontext der Werbepsychologie gibt es über die Wirkung der beiden Arten emotionaler Reaktionen bislang wenig Forschung. Shiv

91 6.2 · Modelle emotionaler Werbung

und Fedorikhin (1999) fanden, dass Probanden, die an ihren Überlegungen gehindert wurden, ob sie sich für einen Schokoladenkuchen oder den gesünderen Fruchtsalat entscheiden sollten, häufiger den Schokoladenkuchen wählten als Probanden, die Zeit hatten, ihre Wahl gedanklich vorzubereiten. Wer den Schokoladenkuchen wählte, zeigte eine stärkere Tendenz, seine Wahl durch Gefühle zu begründen. Die Ergebnisse dieser Studie werfen die Frage auf, ob Probanden in Konsum- und Werbesituationen ihre spontan auftretenden Gefühle äußern. Die Methoden fast aller in 7 Abschn. 6.1.3 beschriebenen Studien fordern die Probanden auf, ihre Gefühle in ein Format zu übersetzen, in dem sich die Gefühle selbst nicht äußern, am häufigsten in ein sprachliches und seltener in ein bildliches Format. Eine derartige Aufforderung bewirkt Selbstreflexion, denn die Probanden müssen prüfen, ob ihre Empfindungen dem entsprechen, was sie protokollieren oder ankreuzen. Hierdurch werden vermutlich häufiger Emotionen des Typus »higher-order« berichtet werden als emotionale Reaktionen, die spontan auftreten und unmittelbar Handlungen folgen lassen, denn der Anblick von Werbung oder von Marken ruft in der Regel keine intensiven Emotionen hervor, wie etwa Wut oder Ekel. Derzeit liegt empirisch gesichertes Wissen über die Wirkung emotionaler Reaktionen ohne und mit gedanklicher Aktivität auf Einstellungen zur Werbung und zur Marke noch nicht vor. 6.2

Modelle emotionaler Werbung

Einstellung ist ursprünglich als ein Konstrukt aus 3 Komponenten definiert worden, 1. einer kognitiven (die Meinung über die Marke), 2. einer affektiven (die Sympathie für die Marke) und 3. einer verhaltensbezogenen (die Absicht, eine Marke zu konsumieren). Allerdings hat sich die Definition im Verlauf der Jahre gewandelt. So definieren z. B. die Sozialpsychologen Petty und Cacioppo Einstellung als »... ein allgemeines und andauerndes positives oder negatives Gefühl gegenüber einer Person, einem Objekt oder Gegenstand« (Petty und Cacioppo, 1981, S. 7), und Batra, Myers und Aaker sagen über die Markeneinstellung: »Eine Markeneinstellung repräsentiert das von angenehm bis unangenehm reichende Gefühl gegenüber einer Marke« (Batra et al.,

1996, S. 126). In ihrer Studie operationalisierten Batra und Ray (1986) die Einstellung gegenüber der Marke mit 5 durch Eigenschaftsgegensätze verankerten Skalen: 4 »nützlich–nutzlos«, 4 »wichtig–unwichtig«, 4 »angenehm–unangenehm«, 4 »nett–furchtbar« und 4 »gut–schlecht«. Edell und Burke (1987) maßen die Einstellungen gegenüber Werbung und Marke mit einer 7-stufigen Skala, die von »sehr ungünstig« bis »sehr günstig« reichte. Aus diesen Definitionen und Operationalisierungen wird deutlich, dass die affektive Komponente zentral ist, die kognitive auch berücksichtigt wird und die verhaltensbezogene darin nicht mehr vorkommt. Sie wird von der Einstellung separiert und bildet heute die Kaufabsicht. In der konsumenten- und werbepsychologischen Forschung ist sie als eigenständiges Konstrukt selten ein Thema (Batra et al., 1986; Kroeber-Riel & Weinberg, 1999). Vier theoretische Modelle, die erklären, wie Gefühle als Reaktionen auf Werbung Einstellungen zur Werbung und zur Marke beeinflussen, werden im Folgenden beschrieben: 7 Emotionale Konditionierung, 7 Einstellungsübertragung, 7 transformationelle Werbung und 7 Gefühle als Motive. 6.2.1 Emotionale Konditionierung Das Modell der emotionalen Konditionierung begründet die Einstellungen zur Marke mit einer Form von Lernen, die in der Psychologie als Klassische Konditionierung bezeichnet wird. In Pawlows klassischem Experiment löste der Geruch von Futter (unbedingter Reiz) beim hungrigen Hund Speichelfluss aus. Kurz bevor der Hund das Futter roch, ertönte jeweils eine Glocke (bedingter Reiz). Nach einigen solchen Expositionen (Glocke–Futter) löste allein der Glockenton den Speichelfluss aus. Diese Art der Verbindung zwischen dem Futter und dem Glockenton bildet das Grundmuster der emotionalen Konditionierung in der Werbung, welches das folgende Experiment von Kroeber-Riel (1979) veranschaulicht: Sein Experiment stellte eine Situation nach, wie sie im Kino üblich ist, wo zuerst Werbung und dann der Film gezeigt wird. Die Werbung bestand u. a. aus Anzeigen für eine Seife mit dem Markennamen Hoba (bedingter Reiz), ein Name ohne emotionale Bedeutung für

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Kapitel 6 · Emotionale Werbung

die Testpersonen. Die Anzeigen zeigten Fotos schöner Frauen, warmherziger Freundschaftsbeziehungen und beliebter Ferienlandschaften (unbedingte Reize), die Gefühle von Erotik, Wärme und Freude erzeugen sollten. Vierundzwanzig Stunden nach der Kinovorführung beschrieben die Untersuchungspersonen ihre Empfindungen gegenüber der Seife Hoba. Die Marke Hoba wurde im Unterschied zum Zeitpunkt vor der Kinovorführung nun stärker mit den Eigenschaften zärtlich, erlebnisreich, fröhlich und erregend verbunden, also mit Eigenschaften, die als Indikatoren der affektiven Einstellung interpretiert werden können. Offensichtlich wurden die durch die Fotos erzeugten angenehmen Gefühle auf die Marke übertragen. In der Sprache der Werbung würde man sagen, dass der Markenname Hoba mit Gefühlen »aufgeladen« worden ist. Auf den ersten Blick erscheint die emotionale Konditionierung als Königsweg der Übertragung von Gefühlen auf die beworbenen Marken. Das einfache Prinzip der Bildung einer emotional positiven Markeneinstellung scheint darin zu bestehen, die Marke jeweils vor den gefühlsauslösenden Stimuli darzubieten. Auf den zweiten Blick erweist sich das Prinzip als nicht allgemein wirksam, denn es ist von einigen Bedingungen abhängig (Allen & Shimp, 1990). Hierzu gehören die Darbietung der Marke (bedingter Reiz) vor dem gefühlsauslösenden Ereignis (unbedingter Reiz) und eine bedeutsame Assoziation zwischen der Marke und dem gefühlsauslösenden Ereignis. Hätte Hoba einen Staubsauger bezeichnet, wäre die emotionale Konditionierung wahrscheinlich nicht oder zumindest schwächer erfolgt. Mit der emotionalen Konditionierung wird der zuvor unbekannten Marke eine Bedeutung verliehen. Je relevanter die Bedeutung der Marke für die Konsumenten, desto größer die Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wird (Janiszewski & Warlop, 1993). Weil die Bedeutung des unbedingten Reizes (im Beispiel oben die Warmherzigkeit der Freundschaft) auf den bedingten Reiz (den Markennamen) übertragen wird, bezeichnen einige Autoren die emotionale Konditionierung auch als semantisch (Janiszewski & Warlop, 1993) oder als evaluativ (Walther, Nagengast & Trasselli, 2005). 6.2.2 Einstellungsübertragung Für Experimente zur Konditionierung durch Werbung induzierter Gefühle war das Modell der Klassischen

Konditionierung für die Hypothesen und Methoden von Beginn an leitend. Variiert wurden Bedingungen, z. B. die Häufigkeit der Expositionen von bedingtem und unbedingtem Reiz (Allen & Shimp, 1990), mit dem Ziel, den Umfang der Gültigkeit des Modells zu prüfen. Mit dem Modell der Einstellungsübertragung verhält es sich anders. Die Autoren der ersten in Nordamerika durchgeführten Studien fanden kein Modell vor, das erklärte, wie die von der Werbung induzierten Gefühle auf die Einstellung zur Werbung und zur Marke übertragen werden (z. B. Batra & Ray, 1986). Somit konnten sie auch keine spezifischen Annahmen ableiten. Mitte der 1980er Jahre verbreitete sich in der werbepsychologischen Forschung die Auffassung, dass die Rolle der Emotionen im Prozess von der Wahrnehmung der Werbung bis zur Einstellung gegenüber der Marke vernachlässigt worden sei. So begannen die Autoren, die Annahme zu prüfen, dass die Vorhersage von Einstellungen zur Werbung und zur Marke besser gelingt, wenn die werbunginduzierten Gefühle als Prädiktoren einbezogen werden, als wenn dies allein durch die Bewertung der Werbung nach Merkmalen, wie z. B. Qualität oder Ästhetik, erfolgt. Diese Untersuchungen hatten zum Ziel, die relativen Anteile von Gefühlen und Bewertungen für die Vorhersage solcher Einstellungen zu identifizieren. Anfänglich dominierte das von Batra und Ray (1986) sowie von Edell und Burke (1987) begründete Untersuchungsparadigma, demzufolge die Probanden, nachdem sie einen Werbespot gesehen hatten, die Intensität ihrer Gefühle auf Skalen ankreuzten (. Tab. 6.1). Das wurde für jeden Werbespot wiederholt. Hierbei war jede Skala mit einem Gefühlsbegriff bezeichnet. Ebenso bewerteten sie die Werbespots nach den 3 Faktoren 4 Überzeugung (Beispiele für Items sind glaubhaft, informativ und interessant), 4 Aktivität (Items waren z. B. dynamisch, vergnügt und aufregend) und 4 Liebenswürdigkeit (mit Items wie behutsam, beruhigend und heiter). Zur gleichen Zeit entwarfen MacKenzie, Lutz und Belch (1986) Modelle, die den Verlauf der Wege von Gefühlen und Bewertungen (bewertende Gedanken) zu den Einstellungen gegenüber Werbung und Marke repräsentierten. Eine erste Metaanalyse der Studien von Brown und Stayman (1992) ergab, dass die Beziehungen zwischen

93 6.2 · Modelle emotionaler Werbung

Gefühlen und Bewertungen (bewertende Gedanken) auf der einen Seite und den Einstellungen zur Werbung (Anzeigen und Fernsehwerbespots) und zur Marke auf der anderen Seite sich am ehesten durch ein Modell abbilden ließen, demzufolge die Einstellungen gegenüber der Marke auf 2 Wegen beeinflusst wurden: 1. von bewertenden Gedanken zur Werbung (Kognitionen zur Werbung) über die Einstellung gegenüber der Werbung zur Markeneinstellung, 2. von bewertenden Gedanken zur Werbung über die Einstellung gegenüber der Werbung und weiter über bewertende Gedanken zur Marke (Kognitionen zur Marke) zur Markeneinstellung. Dieses Modell der beiden Wege der Einflussnahme auf Markeneinstellungen bezeichneten MacKenzie et al. (1986) als duales Vermittlungsmodell (»dual mediation model«; 7 Kap. 2, Werbewirkungsmodelle). Auffällig in diesem Modell ist, dass Gefühle als Prädiktoren der Einstellung zur Werbung nicht vorkommen und das trotz einer relativ hohen Korrelation. Der Grund war ein Versäumnis der Autoren Brown und Stayman (1992): Sie hatten positive und negative Gefühle nicht getrennt behandelt. Somit konnten sie die Möglichkeit nicht ausschließen, dass Gefühle und Einstellungen gegenüber der Werbung nicht oder sogar negativ korrelierten. Dieses Versäumnis wurde in einer folgenden Metaanalyse behoben (Brown, Homer & Inman, 1998), deren allgemeine Ergebnisse den Erwartungen entsprachen: Insbesondere ließ sich ein bedeutsamer Einfluss von Gefühlen auf die Einstellungen zur Werbung und zur Marke nachweisen. Unerwartet war, dass negative Gefühle die Einstellungen nicht stärker beeinflussten als positive. Der von Edell und Burke (1987) berichtete Befund, dass positive und negative Gefühle als Reaktionen auf eine Werbung im Unterschied zu (kognitiven) Bewertungen gleichzeitig auftreten und sich somit nicht ausschließen, konnte bestätigt werden. Beeinflusst v. a. durch die sozialpsychologische Forschung (z. B. Chaiken, 1980) entstand das Modell der Einstellungsübertragung (Batra et al., 1996). Die grundlegende Annahme des Modells lautet: Gefällt die Werbung, gefällt auch die Marke. Gefallen ist die affektive Komponente der Einstellung. Deshalb spricht man von Einstellungsübertragung. Für diese angenommene Wirkung sind in der Forschung vor allem 2 Erklärungen vorgeschlagen worden:

4 Die erste Erklärung einer Einstellungsübertragung

von der Werbung auf das Produkt kann aus Modellen der 2 Wege der Überzeugung durch eine Botschaft (Chaiken, 1980; Petty & Cacioppo, 1986) abgeleitet werden (s. auch 7 Kap. 2 und 7 Kap. 4). Nach diesen Modellen entsteht eine positive Einstellung zur Marke einmal dann, wenn die Argumente der Werbebotschaft eine kritische Prüfung bestehen. Bei einer Waschmittelmarke ist dies z. B. der Fall, wenn sie ihr kommuniziertes Versprechen, jede Art Fleck zu beseitigen, überzeugend begründet. Dieser Weg der Einstellungsbildung wird als zentral (Petty & Cacioppo, 1986) beziehungsweise systematisch (Chaiken, 1980) bezeichnet. Ihm wird ein peripherer beziehungsweise heuristischer Weg der Einstellungsbildung gegenübergestellt, der dadurch charakterisiert ist, dass sich die Konsumenten nicht mit den Inhalten der Werbebotschaft beschäftigen. Die Einstellung gegenüber der Marke wird vielmehr durch nichtinhaltliche Merkmale geprägt, v. a. durch die Gestaltung der Werbung. Unter welchen Bedingungen der eine oder andere Prozess der Einstellungsbildung angestoßen wird, hängt einmal von der Fähigkeit der Konsumenten ab, die Argumente der Werbebotschaft zu verstehen, und zum anderen von der Involviertheit beziehungsweise dem Involvement der Konsumenten bei der Rezeption von Werbung. Involviertheit kann als eine Motivation aufgefasst werden, sich mehr oder weniger intensiv mit dem Inhalt einer Botschaft zu beschäftigen (für eine Definition 7 Kap. 2). Bei dem überwiegenden Teil der Werbebotschaften ist diese Art Motivation eher gering ausgeprägt, da auf Grund der Kürze der Werbezeit oder des begrenzten Raums für Textbotschaften kaum inhaltlich argumentiert werden kann. Werbung muss daher häufiger auf die Wirksamkeit des peripheren Prozesses der Einstellungsbildung setzen. 4 Eine weitere Erklärung des Prozesses der Übertragung einer positiven Einstellung zur Werbung auf eine Marke nimmt eine indirekte Wirkung der Einstellung gegenüber der Werbung auf die Einstellung gegenüber der Marke an (Schwarz, Bless & Bohner, 1991). Rezipienten sind motiviert, einen durch die Werbung erzeugten angenehmen Gefühlszustand beizubehalten. Das gelingt ihnen, wenn ihre Gedanken zur beworbenen Marke positiv gefärbt sind. Kritische Gedanken würden dagegen den angenehmen

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Kapitel 6 · Emotionale Werbung

Gefühlszustand stören. In einem angenehmen Gefühlszustand gefallen die Marken besser und werden daher günstiger bewertet als in einem weniger angenehmen Gefühlszustand.

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Aus den Modellen zur Einstellungsübertragung lassen sich vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten ableiten. Sie beruhen auf einem Kontiguitätsprinzip, das als Heuristik formuliert lautet: »Wenn die Werbung gefällt, gefällt auch die beworbene Marke.« Die Nähe dieses Prinzips zur emotionalen bzw. semantischen Konditionierung ist deutlich. Womöglich ist die Einstellungsübertragung ein anderer Ausdruck für eine derartige Konditionierung, mit welcher die beworbene Marke den emotionalen Bedeutungsgehalt der Werbung annimmt. Verhältnis von Bewertung und Gefühl in der Wirkung auf Einstellungen Die Autoren der ersten Studien zur Untersuchung von Gefühlen als Prädiktoren von Einstellungen gegenüber der Marke haben angenommen, dass (kognitive) Bewertungen und Gefühle ihre Wirkungen unabhängig voneinander auf diese Einstellungen ausüben (Batra & Ray, 1986; Edell & Burke, 1987). Diese Annahme legten die Ergebnisse der Regressionsanalysen nahe, die zeigen, dass Bewertungen und Gefühle die Einstellungen besser vorhersagten, als wenn einer der Faktoren in der Analyse nicht berücksichtigt wurde. Leider berichten die Studien keine Korrelationen von Bewertungen und Gefühlen. Anzunehmen, dass die beiden Prädiktoren korrelieren, ist naheliegend, denn wird eine Marke z. B. als qualitativ schlecht beurteilt, wird ihre Darbietung keine angenehmen Gefühle erzeugen. Welcher der beiden Faktoren die Einstellung gegenüber der Marke stärker beeinflusst, ist nicht eindeutig zu beantworten. In den Studien von Batra und Ray (1986) sowie von Edell und Burke (1987) ist der Einfluss der Bewertungen etwas größer als jener der Gefühle. Zu einer anderen Schlussfolgerung kommen Morris, Woo, Geason und Kim (2002), nämlich dass die Gefühle nahezu doppelt so viel Varianz in den verhaltensbezogenen Komponenten der Einstellungen zur Marke erklären wie Wissen und Bewertungen. Aus der sozialpsychologischen Forschung lagen Erkenntnisse über die Rolle moderierender Bedingungen bei der Vorhersage von Einstellungen vor, insbesondere über die beiden Moderatoren Involvement bzw. Involviertheit und gedankliche Aktivität bzw. kognitive Ela-

boriertheit (z. B. Eagly & Chaiken, 1993). Bei einer geringen Ausprägung von Involviertheit war die Wirkung von Gefühlen auf Markeneinstellungen am größten (z. B. Batra & Stephens, 1994). Wurden Probanden instruiert, die Gestaltung von Werbung zu bewerten und somit gedankliche Aktivität zu investieren, war der Anteil der Gefühle an ihren Reaktionen auf die dargebotene Werbung geringer als bei Probanden, die nicht instruiert worden waren, sich Gedanken über die Werbegestaltung zu machen (Madden, Allen & Twibble, 1988). Eine detaillierte Analyse des Verhältnisses von Gefühlen und Bewertungen im Prozess der Bildung von Einstellungen zu Werbung und Marken unternahmen Yoo und MacInnis (2005). Die Ergebnisse ihrer Studie zeigen, dass Gefühle und Bewertungen die Einstellung zur Marke nicht unabhängig voneinander vorhersagten. Wenn die Werbung positive Gefühle erzeugte, wurde ihre Gestaltung als glaubwürdig empfunden, und über diese Bewertung wirkten die Gefühle auf einem Weg positiv auf die Einstellung gegenüber der Werbung, auf dem zweitem Weg positiv auf die Überzeugung, dass die beworbene Marke die behaupteten Vorteile auch tatsächlich hatte, und auf dem dritten Weg direkt auf die Markeneinstellung. Die Einstellung gegenüber der Werbung und die Überzeugung wiederum vermittelten die Wirkung der Glaubwürdigkeit auf die Einstellung gegenüber der Marke (. Abb. 6.4). Somit ließen sich zwischen Gefühlen und der Einstellung zur Marke 3 Mediatoren identifizieren, die Glaubwürdigkeit der Werbung, die Überzeugung von der Qualität des Unternehmens und die Einstellung gegenüber der Werbung. Da bislang keine weiteren Studien vorliegen, lässt sich die Frage, ob diese Ergebnisse generalisiert werden können, noch nicht beantworten. 6.2.3 Transformationelle Werbung Transformationelle Werbung (7 Beispiel) ist dadurch gekennzeichnet, dass Konsumenten die gleichen Gefühle wie die Protagonisten in der Werbung erleben, wenn sie die beworbenen Marken verwenden und nach wiederholter Nutzung eine emotionale Bindung zu den Marken entwickeln. Ohne die Werbung würden die Konsumenten diese Gefühle nicht erleben (Puto & Wells, 1984). Eine Transformation der in der Werbung dargestellten Gefühle auf die Konsumenten ist nur dann erfolgreich, wenn die Darstellung als realitätsentsprechend emp-

95 6.2 · Modelle emotionaler Werbung

. Abb. 6.4. Glaubwürdigkeit, Einstellung zur Werbung und Überzeugung als Mediatoren zwischen Gefühlen und Markeneinstellungen

funden wird und die Konsumenten die emotionalen Zustände der Protagonisten nachempfinden können (Batra et al., 1996). Da die meisten Menschen in ihrem Leben bereits einmal unter Kopfschmerzen gelitten haben, können sie vermutlich Empathie für die Protagonistin im 7 Beispiel empfinden. Realitätsentsprechend ist die Darstellung dann, wenn die Kopfschmerzen dank der Tablette gelindert werden, nicht aber, wenn die Protagonistin in einen ernergievoll fröhlichen Zustand versetzt würde. Beispiel

Der Werbespot zeigt eine junge Frau im Büro, die ihre Arbeit unterbricht, weil sie offensichtlich von Kopfschmerzen geplagt wird. Trotz ihrer Anstrengung weiterzuarbeiten, kommt sie nicht voran. Eine Kollegin bemerkt das und gibt ihr eine Tablette. Die Protagonistin lächelt dankbar. Schnitt. Nach einiger Zeit geht es ihr besser.

Die emotionalen Reaktionen der Konsumenten werden nach Kamp und MacInnis (1995) von 2 Merkmalen beeinflusst: 4 Das erste bezeichnen die Autoren als emotionale Dynamik (»Emotional Flow«), die als das Ausmaß definiert wird, in dem die in einem Werbespot dargestellten Emotionen als dynamisch wahrgenommen

werden. Erzählungen setzen häufig die Dynamik von Gefühlen als Stilmittel ein und können Escalas (2004) zufolge Beziehungen zwischen Selbst und Marke (»self-brand connections«) fördern. Weil eigene Lebenserfahrungen im Gedächtnis häufig in Form von Erzählungen vorhanden sind, so die Begründung, lässt sich eine vermittelte Erzählung leichter mit der eigenen Lebenserfahrung assoziieren als eine Aufzählung von Informationen. 4 »Emotional Integration« heißt das zweite Merkmal, das als der Grad der dargestellten Verbindung zwischen der Marke und den emotionalen Reaktionen der Protagonisten in der Werbung definiert wird. Emotional Integration ist in hohem Maße realisiert, wenn die Gefühlsänderungen der Darsteller auf die Nutzung der beworbenen Marken zurückgeführt werden können. Emotional Flow und Emotional Integration werden idealtypisch in einer Form von Erzählung realisiert, die als klassisches Drama bezeichnet wird (Stern, 1994). Die im 7 Beispiel skizzierte Erzählung der unter Kopfschmerzen leidenden Frau erfüllt die Merkmale des klassischen Dramas insofern, als der Verlauf der Erzählung bis zu einem Punkt ansteigt, an dem die Tablette als »Held« die Wendung herbeiführt. Eine emotionale Verbindung zwischen Marke und Konsument, die ja das Ziel emotionaler Werbung ist,

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Kapitel 6 · Emotionale Werbung

erfolgt in 2 Schritten. Im ersten Schritt wird die Beziehung zwischen Konsument und Protagonist im Werbespot hergestellt und im zweiten Schritt die Bindung zwischen Konsument und Marke. 4 Der 1. Schritt der emotionalen Beziehung zwischen den Protagonisten im Werbespot und den Konsumenten zeigt sich zum einen darin, dass die Situation der Protagonisten nachempfunden und verstanden wird, und zum anderen in der Intensität der Gefühle, die Konsumenten bei der Rezeption der Werbung erleben. Beide Indikatoren sind für Empathie charakteristisch (Escalas & Stern, 2003). 4 Der 2. Schritt, die positive Einstellung gegenüber der Marke, die zur Bindung an die beworbene Marke führt, zeigt sich a) im Ausmaß der subjektiven Relevanz der Marke, d. h. in welchem Maße die Marke als bedeutsam, sinnvoll und den eigenen Zielen ähnlich wahrgenommen wird, und damit zusammenhängend, wie sehr der Konsument in die Werbung involviert ist (Kamp & MacInnis, 1995), b) im Grad der Übereinstimmung zwischen Selbst und Marke, also wie stark der Konsument den Eindruck gewinnt, die Marke würde zu ihm passen. Bislang gibt es nur wenige Studien, die das Modell geprüft haben. Kamp und MacInnis (1995) zeigten ihren Probanden Varianten von Fernsehwerbespots für dieselbe Marke, in denen emotionale Dynamik und emotionale Integration in unterschiedlichem Ausmaß gezeigt wurden. Wenn in den Spots beide Merkmale stark ausgeprägt waren, berichteten die Probanden mehr Empathie, intensivere Gefühle, stärkere Beziehungen zu den beworbenen Produkten, größere Relevanz der in den Werbespots beworbenen Produkte, größere Sympathie (günstigere Einstellungen) für die Spots und eine höhere Kongruenz zwischen Marke und Selbst, als wenn nur eines oder keines der beiden Merkmale stark ausgeprägt waren. Ob die gezeigten Fernsehwerbespots Emotional Flow und Emotional Integration eingesetzt hatten, beurteilten allerdings die Probanden selbst. Die von Kamp und MacInnis (1995) berichteten Ergebnisse konnten Mattenklott, Bolenius, Frieser und Hujer (2005) nicht bestätigen. Vielmehr legten die Ergebnisse ihrer Studie die Interpretation nahe, dass sich die Probanden von den Fernsehwerbespots nur dann emotional stärker angesprochen fühlten und günstigere

Einstellungen zur Werbung und Marke wiedergaben, wenn der »Plot« der Erzählung durch die Bedingung »Emotional Flow« verständlich wurde. Das war z. B. dann der Fall, wenn der Werbespot mit Emotional Flow eine humorvolle Episode erzählte, die sich ohne Emotional Flow nicht erschloss. Der zentralen Annahme des Modells »Transformationelle Werbung« zufolge werden die in der Werbung dargestellten Gefühle auf die beworbene Marke dann übertragen, wenn es der Werbung gelingt, die gleichen oder ähnliche Gefühle zu aktivieren, die von den Konsumenten bereits früher erlebt worden sind. So soll z. B. das belebende und entspannende Gefühl einer warmen Dusche nach dem Arbeitsalltag auf die Marke des beworbenen Duschgels übertragen werden. Ob solche oder ähnliche Gefühle auch dann mit der Marke verbunden werden, wenn jemand nur morgens duscht, ist nicht bekannt. Mit anderen Worten: Ob die Transformation von Gefühlen auf Marken nur für in der Werbung dargestellte Situationen erfolgt oder über derartige Situationen generalisiert wird, muss die künftige Forschung zeigen. Auffällig ist, dass die motivierende Wirkung des in Aussicht gestellten Gefühls im Modell der transformationellen Werbung als Annahme nicht formuliert wird, obschon ein großer Teil der beworbenen Produkte hedonistische Motive anspricht (Hirschman & Holbrook, 1982). Dieser Aspekt bildet den Kern des nächsten Modells. 6.2.4 Gefühle als Motive Ereignisse werden aufgesucht, wenn sie als angenehm erlebt werden, und vermieden, wenn sie mit negativen Gefühlen assoziiert werden. Stellt man sich vor, die Ereignisse selbst zu erleben, antizipiert man in der Regel die Gefühle, die mit diesen Erlebnissen verbunden sind. Unter der Annahme, dass es v. a. die Gefühle sind, deretwegen Ereignisse aufgesucht oder vermieden werden, haben Gefühle eine motivierende Kraft (Abele-Brehm & Gendolla, 2000). Einer der Wege zum Ziel, angenehme Gefühlszustände zu erleben und unangenehme zu vermeiden (oder zumindest zu lindern), führt über den Konsum von Produkten. Natürlich eignet sich nicht jedes Produkt zum »Gefühlsmanagement.« Ein Vorschlag hierzu stammt von Rossiter, Percy und Donovan (1991). Sie haben eine Klassifikation der Agentur Foote, Cone & Belding (FCB) von Produkten nach

97 6.2 · Modelle emotionaler Werbung

. Abb. 6.5. Eine Auswahl von Produkten im Rossiter-Percy-Gitter

»Think versus feel« und »High versus low involved« weiterentwickelt (Ratchford, 1987). Im dargestellten Rossiter-Percy-Gitter (. Abb. 6.5) werden Produktkategorien nach der Involviertheit von Konsumenten und der Art der Motivation zur Nutzung eines relevanten Produkts unterschieden. Unter Involviertheit bzw. Involvement verstehen Rossiter et al. (1991) das mit einem Kauf verbundene subjektive Risiko (die unangenehmen Folgen einer Fehlentscheidung). Dieses Risiko ist natürlich bei Produkten wie einer Lebensversicherung oder einem Cabriolet höher als bei einem Waschmittel oder einer Schokolade. Rossiter et al. (1991) betrachten die Motivation im Hinblick auf das Erleben positiver Gefühle oder das Vermeiden unangenehmer Gefühle. So können Konsumenten Produkte kaufen, um entweder unangenehme Gefühle zu vermeiden (informationelle Motivation) oder angenehme zu erleben (transformationelle Motivation). Informationelle Motive werden erfüllt, wenn unangenehme Gefühle, die der Kauf von Produkten mit sich bringen kann, gar nicht erst auftreten. Hat man sich z. B. einige Male über seinen Drucker geärgert, wird man Erleichterung empfinden, wenn der neu gekaufte Drucker alle Qualitätsansprüche mühelos erfüllt. Angst vor sozialer Ablehnung weicht einem Zustand der Entspannung, wenn ein Jugendlicher die Markenjeans trägt, die auch von allen anderen seiner Gruppe getragen wird. Neben diesen beiden informationellen Motiven führen Rossiter et al. noch 3 weitere negative Motive auf, nämlich 4 Enttäuschung, wenn das gekaufte Produkt die Konsumenten nicht zufriedenstellt, 4 Schuld, die aus einem ungelösten Konflikt zwischen Gier und Verzicht entsteht, und schließlich 4 Unzufriedenheit, wenn ein Produkt verbraucht ist. Werbung kann solche informationellen Motive gezielt ansprechen, indem sie Informationen darüber kommu-

niziert, wie unangenehme Gefühle vermieden werden können. Produkte werden aber auch gekauft, weil durch ihren Konsum angenehme Gefühle erlebt werden. Rossiter et al. (1991) unterscheiden hierbei 3 positive beziehungsweise transformationelle Motive, die zu solchen Kaufhandlungen anregen, nämlich 4 erstens die sensorische Belohnung durch alle Produkte, die für unsere Sinne angenehm sind, 4 die intellektuelle Stimulation, die wir aufsuchen, wenn wir uns langweilen, und schließlich 4 die soziale Anerkennung, wenn wir uns mit den »richtigen« Dingen umgeben (Hirschman & Holbrook, 1982). Das Rossiter-Percy-Gitter ist als Werkzeug für die Werbeplanung konzipiert worden, da es unterschiedliche Strategien für Produkte und Marken in Abhängigkeit von ihrer Position in einem der 4 Quadranten nahelegt. Diese Konzeption basiert auf der Vorstellung, dass die werbungsinduzierten Gefühle auf Marken übertragen werden können und dass hierbei insbesondere die motivierende Kraft von Gefühlen wichtig ist. Die Antizipation angenehmer Gefühle bei der Produktnutzung, die beispielsweise von Protagonisten in der Werbung bereits stellvertretend erlebt werden, wird als bedeutsames Moment der Kaufentscheidung angenommen. In einer Studie wurden die Annahmen geprüft, dass Konsumprodukte, deren Nutzung Stimmungen steigern können, positiver bewertet und eher gekauft werden als Produkte, die zur Stimmungsverbesserung weniger geeignet sind (Mattenklott et al., 2005). Die Ergebnisse bestätigten die Annahmen: Am häufigsten wurden Produkte mit der Begründung einer Stimmungsverbesserung gewählt, und diese Produkte erhielten bessere Bewertungen als Produkte, die sich für eine Stimmungsverbesserung weniger gut eigneten.

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Kapitel 6 · Emotionale Werbung

Die biopsychologische Forschung des letzten Jahrzehnts hat zeigen können, dass Gefühle und Motive eng miteinander verbunden sind (z. B. Winkielman, Berridge & Wilbarger, 2005). Produkte werden gekauft, um mit ihrer Nutzung Motive zu erfüllen, und die Erfüllung der Motive geht mit angenehmen Gefühlen einher. Ohne differenzierte Motive würde die Kaufhandlung zur Sucht werden und für die Werbung wertlos, und ohne Gefühle würden die Motive verkümmern. Die Gültigkeit des Modells »Gefühle als Motive« scheint begrenzter zu sein als die des Modells der Einstellungsübertragung oder des Modells der emotionalen Konditionierung, denn die Werbung muss die dominanten Motive der Konsumenten treffen und aktivieren. Welche Motive dominant sind, hängt sehr von der Situation ab, in der sich ein Konsument befindet, z. B. nach dem Mittagessen womöglich das Motiv nach sensorischer Stimulation, das sich durch das Aroma von Kaffee anregen lässt. Wenn es der Werbung gelingt, dass die beworbene Marke gekauft wird, und wenn die Marke die entstandene Motivation erfüllt, wird dies ein erster und wichtiger Schritt zu einer positiven Einstellung gegenüber der Marke sein. 6.2.5 Wirkung spezifischer Gefühle Die Forschung zur Wirkung spezifischer Gefühle als Reaktionen auf Werbung bezieht sich im Wesentlichen auf 4 von diesen: 4 Wärme, 4 Humor, 4 Furcht (Batra et al., 1996) und 4 erotische Gefühle (Moser, 1997). Die wenigen Untersuchungen zur Wirkung von Wärme ergaben, dass Wärme die Einstellungen zur Werbung positiv beeinflusst und dass diese Wirkung am stärksten ist, wenn die wärmeerzeugenden Werbespots sich von den vorher eingeblendeten Spots darin unterscheiden, dass diese keine derartigen Gefühle stimulieren (Aaker, Stayman & Hagerty, 1986). Erotische Werbung aktiviert die Betrachter zum näheren Hinsehen. Ob dies die gedankliche Beschäftigung mit der Werbebotschaft fördert oder behindert, ist ein Thema der Forschung (Moser, 1997). Anscheinend ist die Beziehung zwischen Aktivierung und gedanklicher Beschäftigung mit der Werbebotschaft umgekehrt u-för-

mig. Eine weitere Forschungsfrage bezieht sich auf die Wirkung der durch erotische Werbung hervorgerufenen Gefühle auf Einstellungen zur Werbung und zur Marke. Moser (1997) vermutet, dass die von der erotischen Werbung erzeugten Gefühle auf die beworbenen Marken ausstrahlen. Eine Studie ergab, dass die Einstellungen zu Marken, die mit Erotik assoziiert werden, von erotischer Werbung profitierten. Wurden solche Assoziationen nicht geknüpft, konnte die erotische Werbung irritieren (Severn, Belch & Belch, 1990). Humor Humor ist eines der am häufigsten eingesetzten Gestaltungsmittel der Werbung. Das Marktforschungsinstitut GfK klassifizierte in den Jahren 1999 und 2000 27,4% aller Werbespots im deutschen Fernsehen als humorvoll (Mattenklott, 2002). Ähnliche Zahlen wurden aus Nordamerika berichtet, wo 30,6% aller Hörfunkspots und 24,4% aller Fernsehspots das Stilmittel Humor einsetzten (Weinberger, Spotts, Campbell & Parsons, 1995). In der Forschungsliteratur ist Humor anfänglich durch 3 Merkmale charakterisiert worden. Das grundlegende Merkmal ist Überraschung aufgrund von Inkongruenz gegenüber dem erwarteten Ausgang der humorvollen Erzählung (Suls, 1983). Überraschung kann auch unangenehm sein, und dann wäre die Anekdote nicht humorvoll. Humorvoll ist die Überraschung, wenn sie eine spielerische Leichtigkeit (»playfulness«) besitzt (das zweite Merkmal), die auch für eine Komödie charakteristisch ist. Das dritte Merkmal ist die Schnelligkeit, mit der die Inkongruenz zwischen Erwartung und Erlebnis vom Betrachter aufgelöst werden kann. Alden, Mukherjee und Hoyer (2000) nennen neben der spielerischen Leichtigkeit das Gefühl der Wärme, das sich nach der Auflösung der Inkongruenz ergeben würde. Reaktionen auf humorvolle TV-Spots erfolgen hiernach 2-stufig, zuerst entsteht Überraschung und nach deren Auflösung das heitere Gefühl (WoltmanElpers, Mukherjee & Hoyer, 2004). Darüber hinaus werden spezifische Charakteristika für die Auflösung der Inkongruenz angenommen (s. Moser, 2002). In einem Resümee der Forschung von Weinberger und Gulas (1992) finden sich die folgenden Punkte (die Punkte 1–5 betreffen die allgemeine Wirkung und die Punkte 6–8 die Wirkung von Humor in Abhängigkeit von bestimmten Bedingungen): 1. Humor zieht die Aufmerksamkeit auf sich. 2. Humor beeinträchtigt nicht das Verstehen der Werbebotschaft.

99 6.2 · Modelle emotionaler Werbung

3. Humor steigert die Sympathie für die Werbung. Diese Wirkung ist unter allen die größte. 4. Humor ist für eine positive Einstellung zur Marke und für die Kaufabsicht nicht wirkungsvoller als Nichthumor. 5. Humor erhöht nicht die Glaubwürdigkeit der Marke. 6. Bezug zur Botschaft: Humor, der sich auf die Botschaft bezieht, erzeugt mehr Sympathie für die Werbung als Humor ohne Beziehung zur Botschaft. 7. Bewährte Produkte: Humor steigert die Sympathie für die Werbung etablierter Produkte stärker als für neue Produkte, insbesondere für die Werbung von Produkten, die schnell konsumiert werden und die sensorisch angenehme Erlebnisse verheißen. 8. Zielgruppen: Humor wirkt zielgruppenspezifisch. Bemerkenswert ist, dass Humor sich zwar günstig auf die Sympathie für die Werbung, d. h. auf die affektive Komponente der Einstellung zur Werbung auswirkt, aber nicht auf die Einstellung zur Marke. Nach der zentralen Annahme des Modells der Einstellungsübertragung (7 Abschn. 6.2.2) sollte die Sympathie für die Werbung auch auf die Sympathie für die Marke übertragen werden. Dass dies mit humorvoller Werbung nicht gelingt, könnte verschiedene Ursachen haben. Einmal die, dass Humor nur eine Facette von Sympathie ist, während die Sympathie für die Marke viele Facetten umfasst, wie z. B. Ehrlichkeit, Anregung und Kultiviertheit (Aaker, 1997). Ein weiterer Grund könnte sein, dass die Konsumenten bereits Einstellungen zu den beworbenen Marken hatten, die von humorvoller Werbung nicht wesentlich beeinflusst werden konnten. Wenn Markeneinstellungen auch durch Argumente gestützte Bewertungen enthielten, war der Einfluss von Humor gering (Cline & Kellaris, 1999). Der Einfluss einer humorvollen Gestaltung auf die Einstellungen zur Werbung war auch dann gering, wenn die Werbung unerwartet relevante Informationen vermittelte (Lee & Mason, 1999). Dagegen behinderten unerwartet irrelevante Informationen in der humorvollen Gestaltung den Einfluss von Humor nicht. Ein Problem für die Wirkung humorvoller Werbung, das in den von Weinberger und Gulas (1992) analysierten Studien nicht untersucht worden ist, scheint der »Abrieb« (»wearout«) von Humor zu sein. Erzählt man derselben Person einen Witz zum zweiten Mal, ist das Moment der Überraschung verloren. Durch Varianten der humorvollen Botschaften (»pool-outs«) versucht

man, dieses Problem zu vermeiden. Als ein Beispiel sei die Kinowerbung für Langnese-Eiscreme mit ihren zahlreichen humorvollen Episoden genannt. Furcht Ein Selbstverständnis von Gesellschaften ist die Sicherung ihres Fortbestehens. Dazu gehört, dass jedes Mitglied sein Leben und das der anderen Mitglieder nicht gefährdet. Was so selbstverständlich vernünftig erscheint, wird aber nicht von allen praktiziert. Politiker denken zunächst daran, welche Sanktionen gegen die »Unvernünftigen« verhängt werden sollten. Psychologen versuchen zu erforschen, wie man die Menschen überzeugt, sich und andere vor Gefahren zu schützen. Grundsätzlich lässt sich das mit 2 Arten von Überzeugungsversuchen unternehmen, einer vertraut auf die Einsicht in die Vernunft der Argumente und der andere auf Furcht vor negativen Folgen des lebensbedrohenden oder gesundheitsschädlichen Verhaltens. Werbebotschaften mit Darstellungen solch negativer Folgen werden als Furchtappelle bezeichnet. Werbebotschaften, die Furcht vor sozialer Ablehnung zum Inhalt haben, werden in 7 Abschn. 6.2.4 (Gefühle als Motive) behandelt. Die Forschung zur Wirkung von Furchtappellen, die hauptsächlich Gefahren durch ungesundes Verhalten zum Inhalt hatte, begann in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts. Die erste publizierte Theorie nimmt an, dass Menschen, die mit Furchtappellen konfrontiert werden – z. B. wenn sie Fotos zerstörter Gebisse als Folge nachlässiger Zahnpflege sehen –, in einen unangenehmen Motivationszustand geraten (Hovland, Janis & Kelley, 1953). Dieser Motivationszustand drängt die Betroffenen, die unangenehme Furcht zu beseitigen, indem sie entweder die Regeln der Zahnpflege konsequent umsetzen oder die Furcht verdrängen, indem sie das Thema Zahnpflege aus ihren Überlegungen ausblenden. Ist der unangenehme Motivationszustand durch die erzeugte Furcht schwach, putzt man seine Zähne regelmäßig; ist er dagegen intensiv, so die für die Wirkung von Furcht wichtige Annahme, beschäftigt man sich nur noch mit der Verdrängung der Furcht. Für das praktische Handeln ließ sich aus dieser Theorie folgern, dass schwache Furchtappelle wirksamer sind als starke. Das konnte mit Hilfe eines Experiments bestätigt werden, dessen Ergebnisse zeigten, dass die Empfehlung zur regelmäßigen Zahnpflege dann am häufigsten befolgt wurde, wenn die erzeugte Furcht am geringsten war (Janis & Feshbach, 1953).

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Kapitel 6 · Emotionale Werbung

Ein unangenehmer Motivationszustand infolge einer furchterzeugenden Darstellung von Gefahren und ihren Konsequenzen kann auch dadurch gemildert werden, dass anschließend ein für Leben und Gesundheit unschädliches Verhalten gezeigt wird. Rossiter und Thornton (2004) untersuchten die Wirkung zweier Formen von Furchtappellen, die beide den tödlichen Unfall eines Kindes infolge überhöhter Geschwindigkeit eines Autos zeigten. In einer Form wurde anschließend gezeigt, wie der Unfall durch eine niedrige Geschwindigkeit hätte vermieden werden können, in der anderen Form nicht. In den Verhaltensweisen der Probanden, die mit einem Fahrsimulator gemessen wurden, zeigte sich die erste Form des Furchtappells als wirksamer. Rossiter und Thornton begründen deren stärkere Wirkung mit einer stellvertretenden Belohnung der Probanden durch die Darstellung der angemessenen Fahrweise nach dem Furchtappell. Welche Reaktionen die Form von Furchtappell ohne anschließende Darstellung zur Milderung auslösten, wurde nicht mitgeteilt. Eine Verwendung starker Furchtappelle berührt die Frage, ob man es den Betrachtern überlassen darf, wie sie die Furcht bewältigen. Fragen der ethischen Rechtfertigung von Furchtappellen behandeln z. B. Hastings, Stead und Webb (2004). Die folgende Theorie von Leventhal (1970) nimmt an, dass beide, die in der Werbung dargestellte Bedrohung und die durch sie ausgelöste Furcht, parallel und potenziell aufeinander bezogen verarbeitet werden. Im Unterschied zur oben skizzierten Theorie von Hovland, Janis und Kelley (1953) ist der Theorie von Leventhal zufolge ein gewisses Maß an Furcht notwendig, um sich mit der Bedrohung auseinanderzusetzen. Ohne Furcht würde keine Motivation zum Handeln entstehen, und sehr große Furcht würde Handeln verhindern, weil die Betroffenen allein mit der Bewältigung der Furcht beschäftigt wären. Wendet man diese Theorie auf Appelle zur Vermeidung von Gesundheitsgefahren an, müssten sie ein mittelhohes Maß an Furcht erzeugen, um wirksam zu sein. Wenn die empfohlene Handlung befolgt wird, beseitigt dies die Furcht. Aus einer Metaanalyse zogen Witte und Allen (2000) den Schluss, dass die um den Aspekt der subjektiven Wirksamkeit der empfohlenen Handlung ergänzte Theorie der parallelen Reaktionen sich bislang am besten bewährt hat (Witte, 1992). Die Rolle der Furcht bei der Wirkung von Furchtappellen auf Einstellungen und Verhalten lässt sich nur indirekt bestimmen (LaTour & Rotfeld, 1997). Die er-

zeugte Furcht wird als Mediator zwischen wahrgenommener Bedrohung und Handlung angenommen und kann selbst experimentell nicht variiert werden. Die in den Studien gemessene Furcht korrespondierte mit der Stärke der Bedrohung eher selten (Dillard & Anderson, 2004). Die Korrelationen zwischen induzierter Furcht und den Einstellungen sowie zwischen Furcht und Verhaltensänderungen waren in der Metaanalyse von Witte und Allen (2000) niedrig, aber statistisch bedeutsam größer als Null. Das Ausmaß an empfundener Furcht war u. a abhängig 4 von individuellen Erfahrungen mit der Bedrohung (man hat als Autofahrer bedrohliche Situationen gemeistert), 4 von der Illusion der Unverwundbarkeit (junge, gesunde Raucher können sich schwer vorstellen, an Folgen des Rauchens zu erkranken), 4 von der Neigung, sich riskanten Situationen auszusetzen (»sensation seeking«), oder 4 davon, ob die dargestellten Folgen des schädigenden Verhaltens nicht nur für die Gesundheit, sondern auch sozial bedrohlich sind, z. B. dass Drogenkonsum zur Ablehnung durch Gleichaltrige führt (Schoenbachler & Whittler, 1996). Daraus darf man jedoch nicht folgern, dass Furcht für die Wirkung der Werbung mit Appellen zur Vermeidung von Schäden für »Leib und Leben« keine Rolle spielt. Zwar schätzen einige Autoren der wenigen im deutschsprachigen Raum durchgeführten Studien die Wirkung durch induzierte Furcht gering ein (z. B. Trommsdorff, 1984). Für die Mehrzahl durchgeführter Studien dagegen resümieren Koeppler (2000), LaTour und Rotfeld (1997) sowie Witte und Allen (2000), dass im Allgemeinen gilt: je größer die erzeugte Furcht, desto größer die Überzeugung. Die größere Überzeugung stellt sich aber nur dann ein, wenn die Werbebotschaft ein hoch wirksames Verhalten zur Abwendung der dargestellten Gefahr vermittelt (Witte & Allen, 2000). Als Fazit lässt sich festhalten, dass für die Wirkung einer Werbebotschaft, die ihre Zielgruppe mit Darstellungen von Schäden für die eigene und für die Gesundheit anderer überzeugen will, 2 Momente entscheidend sind: eine Gefahrendarstellung, die von den Personen der Zielgruppe als für sie relevant bewertet wird, und die Vermittlung von Verhalten zur Vermeidung des dargestellten Schadens, das für effektiv gehalten wird.

101 6.3 · Einfluss programmvermittelter Gefühle

6.3

Einfluss programmvermittelter Gefühle

In Unterhaltungsprogrammen mit niedrigem Niveau zu werben, wird von vielen Werbern abgelehnt, denn sie »befürchten negative Abstrahlungen auf ihr Produkt. Bei Opel etwa werden Programme, die gewaltverherrlichend wirken können oder schwerpunktmäßig Sex zum Inhalt haben ‚kategorisch ausgeschlossen’, erklärt Martin Sir, Manager European Media Strategies bei GM« (Feldmeier, 2006, S. 43). Ein Ergebnis der von Opel betriebenen Umfeldforschung, so Martin Sir, sei eine positive Auswirkung von »Umfeldern mit hoher Überschneidung zur angestrebten Markenwelt auf die Werbeeffektivität« (Feldmeier, 2006, S. 43). Untersuchungen zur Wirkung von Fernsehprogrammen auf Einstellungen zur Werbung lassen sich in Umfragen und Experimente unterscheiden. Bislang gibt es aus Umfragen wenige Erkenntnisse darüber, wie Fernsehprogramme mit der Bewertung der darin ausgestrahlten Werbung zusammenhängen (Wild, 1996). Eine in Nordamerika durchgeführte Studie fand eine positive Korrelation von Programm- und Werbespotgefallen (Schumann & Thorson, 1990). Experimente zur Untersuchung der Werbewirkung von Programmen, in denen die Werbung ausgestrahlt wird, lassen sich in pragmatische und hypothesengeleitete unterscheiden. Pragmatische Experimente, die in der Regel von Agenturen durchgeführt werden, die Werbezeiten vermarkten (z. B. vermarktet IP Deutschland Werbezeiten von zur RTL-Gruppe gehörenden Fernsehsendern), werden mit dem Ziel konzipiert, die für die Werbung günstigsten Programmgenres zu identifizieren, z. B. Krimi, Familienserie oder Spielshow (Habermeier, 1997). In einem von der zur Gruppe Sat1-Pro7 gehörenden Agentur SevenOneMedia durchgeführten Experiment zeigten die Ergebnisse relativ schwache Beziehungen zwischen programmvermittelten Gefühlen und Bewertungen der Werbung (SevenOneMedia, 2001). Der Nachteil solcher Experimente ist, dass ihre Ergebnisse nicht theoretisch erklärt werden. Hypothesengeleitete Experimente haben insbesondere die Wirkung programmvermittelter Aktivierung auf die Erinnerung und programmvermittelter Gefühle auf die Einstellungen zur Werbung untersucht (Mattenklott, 1998). Im Folgenden wird ein Überblick über die entsprechende Forschung zur Wirkung programm-

vermittelter Gefühle gegeben. Die Wirkung ist mit 4 Hypothesen erklärt worden: 1. In der ersten Hypothese fungiert Stimmung als Gedächtnishinweis. Vor der Bewertung der Werbung findet eine Gedächtnissuche statt. Hierbei sind stimmungskongruente Assoziationen leichter verfügbar als stimmungsinkongruente. Aus den erinnerten Assoziationen, d. h. den erinnerten Gedächtnisinformationen, wird die Bewertung gebildet. Weil nun die Menge der stimmungskongruenten Gedächtnisinformationen größer ist, beeinflussen sie die Bewertung der Werbung stärker (Bower, 1981). Diese Art der Bewertung wird als ein konstruktiver Prozess aufgefasst (Forgas, 1995). 2. In der zweiten Konzeption, mit dem Begriff »Stimmung als Information« bezeichnet, erfolgt die Wirkung von Stimmungen auf Bewertungen auf einem direkten Weg. Die Stimmung fungiert als Heuristik, so, als würden sich die Rezipienten fragen: »Welche Stimmung erzeugte das Objekt der Beurteilung?« (Schwarz, 1990) Wenn sich die Rezipienten nicht mehr erinnern, dass das Fernsehprogramm das stimmungsauslösende Ereignis war, sondern nur noch, dass ihre Stimmung angenehm war, dann fließt dieses Wissen in die Bewertung der Werbung ein. Als Heuristik formuliert, würde die Bewertung lauten: »Da ich in guter Stimmung war, hatte das mit der Werbung zu tun. Folglich war mir die Werbung ganz sympathisch.« Die Tendenz zu dieser Heuristik ist größer, wenn die subjektive Relevanz der Bewertung gering ist (sie hat für das Individuum keine bedeutsamen Konsequenzen) und die Bewertung selbst global und nicht detailliert erfolgt. 3. Die dritte Konzeption begründet die Wirkung positiver Stimmung mit einer Einschränkung kognitiver Kapazität (Mackie & Worth, 1989). Gute Stimmung fördert hiernach die Bildung angenehmer Gedanken, die das Arbeitsgedächtnis besetzen. Dadurch werden weniger Gedanken für eine Prüfung der Werbung verwendet, so dass die Bewertung unter guter Stimmung besser ausfällt als unter schlechter. 4. Charakteristisch für die vierte Konzeption ist die Annahme, dass Menschen ganz allgemein motiviert sind, in angenehmer Stimmung zu sein (Isen, 1987; Zillmann & Bryant, 1994). Gute Stimmung vermittelt, dass keine Gefahr aus der Umwelt droht. Die Notwendigkeit einer kritischen Analyse von Umweltreizen ist gering. Folglich überzeugen Werbe-

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Kapitel 6 · Emotionale Werbung

botschaften unter guter Stimmung stärker als unter nüchterner bis schlechter Stimmung. Schlechte Stimmung motiviert nämlich zu einer sorgfältigen Prüfung von Botschaften, um die Kontrolle über seine Umwelt zurückzugewinnen und so in eine bessere Stimmung zu gelangen (Schwarz, Bless & Bohner, 1991).

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Eine Metaanalyse von Mattenklott (1998) zeigte, dass sich programmvermittelte angenehme Gefühle insgesamt mäßig stark auf die Einstellungen zur Werbung auswirkten. In 2 Studien war die Beziehung zwischen der programmvermittelten Stimmung und der Einstellung zur Werbung sogar negativ. In einer Studie wurde diese negative Beziehung berichtet, wenn die durch das Programm erzeugte Aktivierung gering war (Broach, Page & Wilson, 1995). Anscheinend kontrastierten die Werbespots zu dem als langweilig empfundenen Programm und wurden besser bewertet als in einem als angenehm aktivierend empfundenen Programm. In der zweiten Studie mit einem vom allgemeinen Trend abweichenden Ergebnis wurde ein Spot, der an die Hilfsbereitschaft der Zuschauer appellierte, in einem traurigen Programm, das Mitgefühl für das Schicksal einer obdachlosen Mutter mit 2 Kindern erweckte, besser bewertet als in einem heiteren Programm (Kamins, Marks & Skinner, 1991). Mit den in der Metaanalyse untersuchten experimentellen Studien ließ sich nicht bewerten, welche der 4 Hypothesen die Ergebnisse am besten erklärt. Zwar sind die Ergebnisse mit allen 4 Hypothesen vereinbar, allerdings ist es unwahrscheinlich, dass sie von der 1. (Gedächtnissuche vor Bewertung) und 3. Hypothese (Einschränkung der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses) erklärt werden. Die in 30 Sekunden vermittelte Botschaft der Fernsehwerbung ist in der Regel leicht zu verstehen, so dass eine Gedächtnissuche und Kalkulation der gefundenen Informationen für ihre Bewertung nicht notwendig ist und die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses dafür ausreicht. Somit bleiben die 2. (Stimmung als Information) und 4. Hypothese (Motivation nach einem angenehmen Zustand) zur Erklärung der Ergebnisse. Um die am ehesten zutreffende Hypothese zu identifizieren, wären weitere Daten notwendig, z. B. Gedankenprotokolle, die Aufschluss darüber geben, ob sich Rezipienten an die Ursachen ihrer Gefühle erinnern und ob sich die angenommene Motivation nach angenehmen Gefühlszuständen in den Gedanken äußert.

Die vom allgemeinen Trend abweichenden beiden Studien zeigen zudem, dass die oben beschriebenen Hypothesen nicht alle Wirkungen programmvermittelter Stimmungen erschöpfend erklären. Das betrifft zum einen den Befund der besseren Bewertung der Werbespots in einem langweiligen und umgekehrt den der schlechteren Bewertung in einem angenehmen Programm, wenn beide wenig aktivierend waren. Diese Befunde sind eher mit einer Motivationshypothese vereinbar, die besagt, dass die Bewertung von Werbespots in einem Programm davon abhängt, wie groß die Motivation ist, sich das Programm weiter anzuschauen (Schumann & Thorson, 1990). Fühlt man sich durch die Unterbrechung des Programms gestört, wird die Werbung als »Störenfried« mit einer schlechten Bewertung bestraft, und umgekehrt wird sie als »Aufmunterer« belohnt, wenn man die Unterbrechung als willkommene Abwechslung empfindet. Da die experimentelle Situation verlangt, dass sich die Teilnehmenden das Programm in vorgegebener Länge anschauen müssen, kann Reaktanz entstehen, wenn das Programm als unangenehm empfunden wird (Mattenklott, Bretz & Wolf, 1997). Der zweite abweichende Befund einer besseren Bewertung eines traurigen Spots in einem traurigen als in einem heiteren Programm lässt sich mit der Wirkung kultureller Normen erklären. In einem Programm, das bei den Zuschauern Mitgefühl für Notleidende erzeugt, wird ein Spot, der an das Hilfeverhalten der Zuschauer appelliert, als angemessener empfunden als in einem heiteren Programm. In manchen Filmen wird die Einblendung von Werbung als Brüskierung empfunden. Als z. B. der in Pro Sieben ausgestrahlte Film »Schindlers Liste« von einem Werbeblock unterbrochen wurde, gab es in der Presse eine Debatte darüber, ob Werbung in diesem Film angemessen sei (z. B. taz, 27.03.1997). Vor der Ausstrahlung des Films wurde um Verständnis dafür gebeten, dass der Werbeblock gezeigt wird. Fazit Emotionale Werbung beabsichtigt, bei den Konsumenten Gefühle zu erzeugen und auf die beworbenen Marken zu übertragen. Wie die Gefühle auf Marken übertragen werden, versuchen 4 Modelle zu erklären: »Emotionale Konditionierung«, »Einstellungsübertragung«, »Transformationelle Werbung« und »Gefühle als Motive«. Die beiden Mo6

103 6 · Literatur

delle »Emotionale Konditionierung« und »Einstellungsübertragung« sind sich insofern ähnlich, als sie Marke und gefühlserzeugende Darstellungen gemeinsam oder zeitlich sehr nah darbieten und dadurch eine assoziative Verbindung herstellen, deren Inhalt die emotionale Bedeutung der gefühlserzeugenden Darstellungen ist. Die Ergebnisse der relativ umfangreichen Forschung zeigen, dass sich die beiden Modelle insgesamt bewährt haben. Bislang wenig erforscht ist das Zusammenwirken der emotionalen und kognitiven Überzeugungen. Die Gültigkeit der beiden Modelle »Transformationelle Werbung« und »Gefühle als Motive« scheint im Vergleich zu den Modellen »Emotionale Konditionierung« und »Einstellungsübertragung« begrenzter zu sein, weil sie bestimmte Gestaltungsformen der Werbung, autobiographische Erlebnisse und – im Fall des Modells »Gefühle als Motive« – die Passung von dargestellten Motiven und aktuell wirkenden Motivationen voraussetzen. Da es bislang nur sehr wenige Studien zur Prüfung der Modelle gibt, lässt sich ihre Gültigkeit noch nicht bewerten. Die Forschungsergebnisse zur Wirkung des spezifischen Gefühls Humor zeigen positive Wirkungen auf die Sympathie für die Werbung, d. h. auf die Einstellun-

gen zur Werbung, nicht aber auf die Einstellungen zur Marke. Dass Humor nicht positiv auf die Einstellungen zur Marke wirkt, lässt sich damit erklären, dass Humor nur eine Facette von Gefühlen ist, die Einstellungen zur Marke konstituieren, und diese Einstellungen stärker von kognitiven Überzeugungen bestimmt werden als Einstellungen zur Werbung. Furchtappelle überzeugen dann, wenn die Gefahrendarstellung für relevant und das empfohlene Verhalten zur Vermeidung von Gefahren für effektiv gehalten wird. Die umfangreiche Forschung ergibt insgesamt eine positive, wenngleich schwache Beziehung zwischen Furcht und Überzeugung. Die erzeugte Furcht scheint für die Überzeugung notwendig, aber nicht hinreichend zu sein. Einstellungen zur Werbung profitieren von Fernsehprogrammen, wenn die Programme angenehme Gefühle vermitteln. Insgesamt ist diese Wirkung mäßig stark. Wie bei den Modellen »Emotionale Konditionierung« und »Einstellungsübertragung« wirkt sich anscheinend die Nähe der programmvermittelten Gefühle zur Werbung positiv aus. Die Übertragung programmvermittelter Gefühle auf die in den Programmen gezeigte Werbung ist von weiteren Bedingungen abhängig, die bisher sporadisch erforscht worden sind.

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106

Kapitel 6 · Emotionale Werbung

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6

7 7 Markenmanagement Michaela Wänke, Arnd Florack

7.1

Einführung und Überblick

– 108

7.2

Psychologische Theorien und Modelle der Markenwirkung

– 108

7.2.1 Sozial-kognitive Grundlagen – 108 7.2.2 Selbstrelevante Funktionen von Marken – 110 7.2.3 Marken-Kunden-Beziehungen – 113

7.3

Markenstrategien – 114

7.3.1 Marken- und Produktlinienerweiterung – 114 7.3.2 Die optimale Markenbreite – 117 7.3.3 Psychologische Funktionen als Basis von Markenarchitekturstrategien – 118

7.4

Steuerung der Markenidentität – 120

7.4.1 Komponenten der Markenidentität – 120 7.4.2 Umsetzung der Markenidentität – 121

7.5

Zukunft der Markenführung Literatur

– 122

– 125

K. Moser (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie DOI 10.1007/978-3-540-71637-2_7, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007

108

Kapitel 7 · Markenmanagement

> Die LEGO Marke ist weit mehr als nur unser Logo. An die Marke sind Erwartungen an das Unternehmen geknüpft, an Produkte und Dienstleistungen sowie an die unternehmerische Verantwortung, die die LEGO Gruppe ihrer Umwelt und Umgebung gegenüber trägt. Die Marke ist das Zeichen für das Original, das Qualität garantiert (LEGO Gruppe, 2006).

7.1

7

Einführung und Überblick

Ähnlich wie beim englischen Begriff »brand«, in dem noch der Brauch, Vieh durch Brandzeichen zu kennzeichnen, anklingt, liegt auch die Herkunft des deutschen Begriffs »Marke« in der Kennzeichnung oder Markierung. Schon früh markierten Händler ihre Waren, indem sie Säcke und Kisten stempelten, und Handwerker signierten ihre Werkstücke (vgl. Esch, 2003). Solange Handel und Konsum weitgehend lokal stattfanden und man seine Schuhe direkt beim Schuster und die Möbel direkt beim Schreiner kaufte, war eine Herkunftsbezeichnung aber unnötig. Erst mit dem überregionalen Vertrieb von Gütern erlangte die Herkunftsbezeichnung größere Bedeutung, da sie im Zeitalter anonymer Beziehungen zwischen Hersteller und Verbraucher eine Identifizierung des Herstellers erlaubte. Zu wissen, von wem man Produkte erwirbt, ist allerdings nur dann wichtig, wenn sich die Erzeugnisse verschiedener Hersteller unterscheiden oder wenn die Einstellung zu einem Unternehmen selbst wichtig ist (z. B. wenn man Vorbehalte gegenüber einem bestimmten Unternehmen hat, weil dieses trotz hoher Gewinne viele Arbeitskräfte entlassen hat). Mit zunehmender Vielfalt und Spezifizierung der Güterwelt werden Orientierungshilfen notwendig, und vertraute Marken können genau diese Orientierung bieten. Auf dieser Grundlage beruht die heutige Markenwelt. Eine Marke offeriert dem Verbraucher ein Versprechen über eine bestimmte Qualität. Eine Marke steht aber nicht nur für eine bestimmte Qualität oder spezifische funktionale Eigenschaften eines Produkts. Der Konsum einer bestimmten Marke sendet auch Signale an die soziale Umwelt, die auf den Konsumenten selbst bezogen sind. Marken dienen somit auch dem Selbstausdruck, der Selbstpräsentation und der Selbstbestätigung. Marken können die Funktion von Statussymbolen annehmen, indem sie die (angestrebte) Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen kommunizieren und somit der sozialen Identität dienen. Ge-

rade dieser Aspekt wird vom Marketing gerne gepflegt, indem in der Markenkommunikation die entsprechenden Zielgruppen gezeigt werden. Die Bedeutung und der Wert einer Marke hängen im Wesentlichen von den Vorstellungen der Verbraucher ab. So stellt nach Aaker (1996) eine Marke ein mit dem Markennamen assoziiertes Bündel von Eigenschaften dar, das den Wert des bloßen Produktes erhöht (oder in einem für ein Unternehmen ungünstigen Fall vermindert) und das sich deutlich von den mit anderen Marken verbundenen Eigenschaftskonfigurationen unterscheidet. Die Hauptaufgabe des Markenmanagements ist dementsprechend in erster Linie, eine derartige Vorstellung zu schaffen und zu pflegen. Einerseits erfordert dies Konstanz und Konsistenz, damit sich beim Verbraucher ein einheitliches, möglichst deutliches und klar unterscheidbares Bild formt. Andererseits gilt es, dieses Bild auch den Erfordernissen des zeitlichen Wandels anzupassen, ohne die Identität zu verlieren. Beide Anforderungen sind Leitlinien, wenn es darum geht, die Produktpalette einer Marke zu verändern – meist zu erweitern – oder neue Zielgruppen zu erschließen. Die Tatsache, dass es letztlich darum geht, die Vorstellung des Verbrauchers über eine Marke zu steuern und seine Einstellungen, Gefühle und Urteile zu beeinflussen, macht deutlich, dass Erkenntnisse über psychologische Prozesse eine wichtige Grundlage der Markenführung sind. In den folgenden Abschnitten werden wir daher auf psychologische Ansätze zur Erklärung der Wirkung von Marken eingehen, bevor wir dann anschließend die Implikationen dieser Ansätze für die Markenführung erläutern. 7.2

Psychologische Theorien und Modelle der Markenwirkung

7.2.1 Sozial-kognitive Grundlagen Betrachtet man eine Marke als Bündel von Vorstellungen, Assoziationen und Erwartungen hinsichtlich bestimmter Attribute, dann bietet sich das psychologische Konstrukt des kognitiven Schemas als theoretischer Rahmen an. Unter einem Schema versteht man kognitive Strukturen, in denen Wissen über ein Thema oder einen Gegenstand organisiert ist (Bless & Schwarz, 2002). Schemata umfassen alle mit dem Gegenstand verbundenen Attribute und deren Beziehung untereinan-

109 7.2 · Psychologische Theorien und Modelle der Markenwirkung

der. Sie wirken sich auf die Informationsverarbeitung aus, indem sie beeinflussen, welche Information wahrgenommen, weiter elaboriert und erinnert wird. Die Perspektive einer Marke als Schema oder als Kategorie (beide Begriffe werden im Folgenden synonym verwendet) erlaubt es, spezifische Hypothesen über die Wirkung und Steuerung von Marken abzuleiten. Bedeutung der Marke für Informationsverarbeitung, Urteilen und Verhalten Der Kauf eines Produktes, die im Marketing letztlich zentrale Größe, ist erst der letzte Schritt in einer Kette aus einzelnen Schritten der Informationsverarbeitung (zum Überblick über Informationsverarbeitung im Konsumkontext s. Shavitt & Wänke, 2001; Wänke, 2002). Am Anfang steht die Wahrnehmung und Aufnahme von Information. Diese Information wird weiter verarbeitet, indem Schlussfolgerungen gezogen werden. Sowohl extern Dargebotenes als auch intern generierte Informationen werden abgespeichert und wieder erinnert. Schließlich wird die Information zu einem Urteil integriert. Dieses Urteil kann sich auf das weitere Verhalten auswirken und neben anderen Faktoren die Produktwahl beeinflussen. In Abwesenheit eindeutiger Hinweisreize kann die Marke beeinflussen, welche Produkteigenschaften wahrgenommen werden und wie ein Produkt beurteilt wird. Eine Studie von Hoyer und Brown (1990) zeigt diesen Einfluss einer Marke. Die beiden Forscher ließen 2 Sorten Erdnussbutter aus 3 verschiedenen Behältern verkosten. Ein Behälter enthielt qualitativ hochwertige, 2 Behälter dieselbe qualitativ weniger gute Erdnussbutter. (In Blindtests konnten 59% der Teilnehmer die hochwertige Sorte identifizieren.) Außerdem war einer der 3 Behälter als bekannte Marke gekennzeichnet, während die 2 anderen Behälter mit unbekannten Markennamen versehen waren. Es zeigte sich, dass die Probanden weniger von den unbekannten Marken probierten. Entscheidend war aber, dass nur 20% der Teilnehmer die qualitativ beste Erdnussbutter identifizierten, wenn sich diese in einem Behälter einer unbekannten Marke befand. Stattdessen wählten 73% der Teilnehmer die bekannte Marke zur besten Erdnussbutter. Anscheinend schmeckten die Probanden andere (und bessere) Aromen, wenn es sich um eine etablierte Marke handelte, oder sie bewerteten die geschmeckten Aromen in diesem Fall besser. Andere Studien belegen ebenfalls den Einfluss von Marken auf die Beurteilung von Produkten. Bekannt ist der Be-

fund, dass die Beurteilung von Pepsi Cola und Coca Cola unterschiedlich ausfällt, je nachdem, ob die Marke gekennzeichnet ist oder nicht (McClure, Li, Tomlin, Cypert, Montague & Montague, 2004). In der dargestellten Studie von Hoyer und Brown (1990) waren sich die Probanden bei Blindtests weitgehend einig, welche Erdnussbutter am besten schmecke. Die meisten Probanden waren in der Lage, dieses hochwertige Produkt zu identifizieren. Trotzdem hatte die Marke in den Bedingungen mit Markenkennzeichnung einen sehr deutlichen Effekt. Man kann annehmen, dass solche Erwartungseinflüsse aufgrund von Marken noch stärker zum Tragen kommen, wenn die relevanten Eigenschaften von den Konsumenten gar nicht oder nur schwer persönlich beurteilt werden können, wie z. B. bei der Einschätzung der Schadstoffbelastung in Babynahrung, der Beurteilung der Verarbeitungsqualität von Autos oder der Beurteilung der gesundheitsfördernden Wirkung von Joghurts. Gerade in solchen Fällen können Konsumenten aus der Zugehörigkeit zur Marke und aus ihrem Wissen über die Marke Information ableiten oder konstruieren. ! Aus den Belegen für die Einflüsse von Marken auf

die Beurteilung von Produkteigenschaften lassen sich Handlungsanweisungen für Produkttests in der Marktforschung ableiten. Blindtests bilden nicht die Realität des Produktkonsums ab und sollten daher nun dann eingesetzt werden, wenn man am objektiven und unbeeinflussten Konsumerleben interessiert ist. Blindtests sind dann angebracht, wenn das Produkt ohne Markenkennung konsumiert werden soll, wie beispielsweise Speisen und Getränke in Restaurants und Kantinen.

Randbedingungen des Markeneinflusses auf die Informationsverarbeitung Die Wahrnehmung und die Interpretation von Informationen sind sehr stark durch Markenwissen geleitet. Der Einfluss des Markenwissens ist jedoch nicht immer gleich stark und hängt von dem Umfang der Informationsverarbeitung ab (vgl. auch 7 Info-Box). Informationsverarbeitung kann unterschiedlich aufwändig vonstatten gehen. Schemageleitete Verarbeitung stellt dabei das eine Extrem dar, das mit geringem kognitivem Aufwand auskommt. Es ist nicht nötig, möglichst viele und akkurate Informationen zu sammeln, zu prüfen,

7

110

7

Kapitel 7 · Markenmanagement

genau zu durchdenken und miteinander zu verknüpfen, wenn man eine Entscheidung lediglich aufgrund des Markennamens trifft. Stattdessen wird man relevante Information aus bereits vorhandenem Schemawissen ableiten und das Urteil auf dieses Schemawissen stützen. Wenn beispielsweise für eine Person zur Markenvorstellung von Ikea gehört, dass Ikea preiswert ist, kann diese Person für ein Ikea-Produkt ableiten, dass es preiswert ist, ohne einen Preisvergleich mit Produkten anderer Marken vorzunehmen. In welchem Ausmaß Konsumenten auf Schemawissen zurückgreifen, hängt von der Motivation ab, sich mit den zur Verfügung stehenden Informationen auseinanderzusetzen, und von den kognitiven Ressourcen und Fähigkeiten. Die kognitiven Ressourcen können beschränkt sein, wenn ein Konsument ermüdet oder gerade mit anderen Dingen beschäftigt ist, die nichts mit dem Kauf oder der Einschätzung des relevanten Produktes zu tun haben. Info-Box

Wie weit geht die »Geiz-ist-geil-Mentalität«? Ausgelöst durch einige Werbekampagnen von großen Einzelhändlern im Elektronikbereich spricht man in Deutschland seit einiger Zeit von einer »Geiz-ist-geil-Mentalität« der Konsumenten. Discounter, Billigprodukte und Handelsmarken (»NoName-Brands«) scheinen beliebter denn je. Insbesondere bei Produkten, bei denen es kaum subjektiv messbare Qualitätsunterschiede zu geben scheint (Zucker, Sahne etc.), ist die Einstellung verbreitet, dass Markenprodukte sich nicht von unter Handelsmarken angebotenen Produkten unterscheiden. Entsprechend berichteten Verbraucher in einer Studie (Friese, Wänke & Plessner, 2006) eine Präferenz für Handelsmarken gegenüber Markenprodukten. Interessant ist aber, dass sich etliche Probanden in dieser Studie nur dann für die Handelsmarken entschieden, wenn sie sich bei der Entscheidung Zeit lassen konnten. Unter Zeitdruck wählten Probanden auch in dieser Studie eher die Markenprodukte. Das heißt, viele Probanden gingen davon aus, dass Handelsmarken den Markenprodukten nicht unterlegen waren, sie besaßen aber dennoch eine automatische Präferenz für die Markenprodukte, die insbesondere unter Zeitdruck ihre Entscheidung beeinflusste.

Die Bedeutung der Motivation bei der Beurteilung eines Produkts haben Maheswaran, Mackie und Chaiken (1992) untersucht. In ihrer Studie wurden Versuchsteilnehmer gebeten, ein Telefon zu beurteilen. Bei der Beurteilung des Telefons war ihnen der Markenname bekannt und sie hatten Informationen über einzelne Attribute und Eigenschaften des Telefons. Weiterhin wurde variiert, ob die Beurteilung des Telefons für die Teilnehmer wichtig oder weniger wichtig war. Es zeigte sich, dass die Urteile über das Gerät deutlich stärker von dem Markennamen beeinflusst waren, wenn das Urteil nicht so wichtig war. Umgekehrt hatten die tatsächlichen Attribute mehr Einfluss auf das Urteil, wenn die Konsumenten hoch motiviert waren, ein zutreffendes Urteil zu fällen. Ein weiterer Faktor, der die Nutzung von Schemawissen beeinflusst, ist die Expertise der Verbraucher. Wer sich schlecht in einer Produktkategorie auskennt, wird die zur Verfügung stehende Information nicht adäquat beurteilen können. Im schlimmsten Fall kann detaillierte Produktinformation Konsumenten auch verwirren und überfordern. Konsumenten mit geringer Expertise orientieren sich daher eher an Schemawissen, das mit Markennamen oder Herkunftsbezeichnungen (»made in XY«) verbunden ist (Maheswaran, 1994). Zudem legt sozialpsychologische Forschung nahe, dass Menschen in guter Stimmung eher auf bestehende Wissensstrukturen wie beispielsweise Schemata zurückgreifen (Bless, 2001). Dieser Effekt der Stimmung zeigte sich in einer Studie von Greifeneder, Bless und Kuschmann (2007) auch bei der Beurteilung von Markenprodukten. Trotz völlig identischer Beschreibung eines Geländewagens erhielt dieser positivere Beurteilungen, wenn er der Marke Mercedes zugeordnet wurde, als wenn die Versuchsteilnehmer davon ausgingen, dass es sich um ein Fahrzeug der Marke Skoda handelte. Dieser Einfluss der Marke auf die Beurteilung des Fahrzeugs zeigte sich bei guter Stimmung deutlich stärker. 7.2.2 Selbstrelevante Funktionen

von Marken Marken erlauben Konsumenten, Schlussfolgerungen über Merkmale zu ziehen, die sie nicht beobachten oder beurteilen können oder zu deren Prüfung ihnen die Motivation oder Möglichkeit fehlt. So kann ein Konsument beispielsweise annehmen, dass ein Waschmittel einer bestimmten Marke eine gewünschte Funktion mit hoher

111 7.2 · Psychologische Theorien und Modelle der Markenwirkung

Wahrscheinlichkeit erfüllt – nämlich die Wäsche sauber zu waschen und sie dabei nicht zu schädigen. In der Einleitung zu diesem Beitrag haben wir aber schon angesprochen, dass Markenprodukte nicht nur erworben werden, weil sie einen funktionalen Nutzen haben und man sich von ihnen verspricht, dass sie bei der Lösung eines spezifischen Problems helfen. Marken haben in vielen Fällen eine Signalfunktion, die auch als symbolischer Benefit bezeichnet wird (Park, Bernard, Jaworski & MacInnis, 1986). Marken signalisieren anderen Menschen etwas über den Markennutzer, und Markennutzer können diese Signalfunktion einer Marke gezielt nutzen, um eine tatsächliche oder erwünschte Eigenschaft ihres Selbst zu unterstreichen (. Abb. 7.1). Selbstdiskrepanzen und Selbstregulation Das Selbst einer Person umfasst die Gedanken, Gefühle und Überzeugungen über die eigene Person sowie das damit verbundene Erleben und die daraus folgende Steuerung des eigenen Verhaltens (Leary & Tangney, 2003). Das Selbst repräsentiert in diesem Sinne auch die Wahrnehmung der eigenen Persönlichkeit. Menschen haben eine Vorstellung darüber, wie sie sich über verschiedene Situationen hinweg verhalten, ob sie beispielsweise eher zurückhaltend sind oder eher spontan und kontaktfreudig. Dieses Wissen wird als tatsächliches Selbst bezeichnet. Darüber hinaus sind Erleben und Verhalten von Menschen in vielen Situationen auch davon beeinflusst, wie sie gerne wären und welche Eigenschaften sie gerne besitzen würden. Diese Hoffnungen und Wünsche werden durch das ideale Selbst beschrieben. Higgins (1987) betont, dass neben dem idealen Selbst auch Wissen darüber wichtig ist, wie man eigentlich sein sollte, z. B. in Entsprechung zu eigenen mora-

. Abb. 7.1. Einfluss des Selbst auf die Markenwahl

Selbstdarstellung

lischen Standards, aber auch zu sozialen Normen (SollSelbst). Das Wissen darüber, wie man ist, gerne wäre oder sein sollte, hat Einfluss darauf, welche Produkte man als akzeptable Kaufalternativen betrachtet, wie man Produkteigenschaften gewichtet, wie man eine Entscheidung fällt und wie zufrieden man letztendlich mit der Wahl eines Produkts ist. Eine Person, die sich beispielsweise selbst als verantwortungsvoll und umweltbewusst betrachtet, wird bei dem Kauf eines Autos möglicherweise nur solche Autos in die engere Wahl mit einbeziehen, die wenig Kraftstoff verbrauchen und den gängigen Umweltstandards entsprechen. Zentral ist dabei, welche Selbstaspekte in der Auswahlsituation gerade verhaltensleitend sind und auf welchen Dimensionen Diskrepanzen wahrgenommen werden (Higgins, 1987). Eine Person könnte beispielsweise wahrnehmen, dass bestimmte Eigenschaften ihres tatsächlichen Selbst (»ich bin ein langweiliger Typ«) nicht mit den Eigenschaften des idealen Selbst übereinstimmen (»ich wäre gerne trendy«), und versuchen, dem z. B. durch die Wahl eines bestimmten Produkts oder einer bestimmten Marke entgegenzusteuern. Bei allen Formen der Selbstrepräsentation kann man zusätzlich zwischen der Selbstsicht und der Sicht bedeutsamer anderer Personen unterscheiden. Beispielsweise könnte einer Person bewusst sein, dass ihre Selbstsicht (aktuelles Selbst) nicht mit der Sichtweise ihrer Freunde oder allgemeinen Standards (Soll-Selbst) übereinstimmt. Die Wahl einer Marke kann auch hier ein Weg sein, diese Diskrepanz zu reduzieren. Die Kongruenz (Passung) einer Marke zu einem aktuellen oder gewünschten Selbstbild ist bei vielen Konsumentscheidungen ein wichtiger Faktor. Der Einfluss von Kongruenz auf das Kaufverhalten geht dabei

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Kapitel 7 · Markenmanagement

auf 2 grundlegende Motivationen zurück: die Motivation, den Selbstwert zu erhöhen, und die Motivation, über verschiedene Situationen hinweg konsistent zu sein (Sirgy, 1982). Das Streben nach Konsistenz erfüllt verschiedene Funktionen. Zum einen erleichtert es die Selbstorganisation: Die Orientierung an konsistenten eigenen Prinzipien, Standards und Einstellungen gibt Sicherheit und lässt schnelle und effektive Entscheidungen zu. Zum anderen vereinfacht es den sozialen Umgang. Interaktionen mit Personen, die fortwährend ihre Meinungen, Einstellungen und Verhaltensgewohnheiten ändern, werden als unangenehm erlebt. Tatsächlich verhalten sich Menschen oft nicht konsistent zu ihrer Selbstrepräsentation. Werden solche Diskrepanzen offensichtlich, kann dies die Motivation auslösen, Konsistenz herzustellen, z. B. über den Kauf eines Markenprodukts. Personen können motiviert sein, konsistent mit ihrem tatsächlichen Selbst zu erscheinen. Sie können aber wie dargestellt auch motiviert sein, konsistent zu ihrem Idealselbst aufzutreten. Konsumenten können in diesem Sinne Markenprodukte erwerben, um ihr aktuelles Selbst in Richtung des Idealselbst zu ergänzen (Gollwitzer & Wicklund, 1985). Die mangelnde, aber erwünschte Kultiviertheit einer Person kann in dieser Weise durch die Kultiviertheit ausgeglichen werden, die die Marke des eigenen Autos ausstrahlt. Letztendlich ist die Wahl einer Marke damit auch ein Werkzeug zur Erhöhung des Selbstwerts. Ein Defizit, das hinsichtlich eines bestimmten Selbstaspekts besteht, muss jedoch nicht unbedingt auf derselben Dimension ausgeglichen werden, um den Selbstwert zu erhöhen (Steele, 1988). Ein Student, dem in einer Prüfung mangelnde Fähigkeit attestiert wurde, könnte seinen herabgesetzten Selbstwert dadurch wieder aufbauen, dass er Stärken in anderen Bereichen betont und beispielsweise seine abendlichen Aktivitäten als erfolgreicher DJ weiter ausbaut. Marken können hier eine unterstützende Funktion übernehmen, indem sie die relevanten Selbstaspekte unterstreichen. Der Student könnte z. B. einen Plattenspieler einer Marke erwerben, die exklusiv Produkte für DJs vertreibt. Damit ein Konsument mit dem Kauf oder Besitz eines Markenprodukts sein Selbst erfolgreich verändern kann, ist es nicht nur notwendig, dass er motiviert ist, sein Selbstbild zu unterstreichen oder zu ergänzen. Es ist auch notwendig, dass der Besitz oder die Verwendung des Markenprodukts diagnostisch für die angestrebte Selbstdarstellung ist und eine unterscheidende Selbst-

darstellung erlaubt. Ein Produkt kann dann als diagnostisch für ein erwünschtes Selbst angesehen werden, wenn es eindeutig hinsichtlich eines erwünschten Merkmals differenziert und wenn die Konsumenten vermuten, dass diese Differenzierung von relevanten anderen Personen auch so wahrgenommen wird. Eine Differenzierung hinsichtlich der Merkmale jung und dynamisch wäre beispielsweise gegeben, wenn ein Produkt in einer Produktkategorie sich dadurch auszeichnet, dass dieses Produkt, aber nicht alle anderen Produkte der Kategorie als dynamisch angesehen wird. Möchte eine Person beispielsweise beim wöchentlichen Jogging im Park als jung und dynamisch wahrgenommen werden, dann wäre eine Selbstergänzung über das Tragen einer bestimmten Sportschuhmarke wenig hilfreich, wenn mehr oder minder alle Sportschuhmarken mit den Merkmalen jung und dynamisch verbunden werden oder wenn die entsprechende Positionierung der Marke anderen nicht bekannt ist. Damit die Verwendung einer Marke diagnostisch für das eigene Selbst sein kann, muss zudem Wahlfreiheit bestehen (Strebinger, Otter & Schweiger, 1998). Ist beispielsweise die Qualität eines bestimmten Produkts überragend und der Preis sehr niedrig, kann das Produkt in der Selbstwahrnehmung nicht zur Änderung der eigenen Persönlichkeit herangezogen werden, da der Grund für die Produktwahl offensichtlich nicht in den Eigenschaften der Marke zu finden ist, mit denen eine Selbstergänzung angestrebt wird. Bei einem niedrigen Preis würden alle Konsumenten zu dem Produkt greifen, und es wäre nicht möglich, sich mit dem Kauf des Produkts von anderen Konsumenten unterscheidbar darzustellen. Die Bedeutung der Selbstkongruenz wird neben diesen motivationalen Faktoren auch noch in grundlegenden Prozessen der Informationsverarbeitung offenbar. Aspekte, die mit dem Selbst verknüpft sind, sind auch zugänglicher im Gedächtnis und sollten daher schon eine größere Wahrscheinlichkeit besitzen, eine starke Gewichtung bei Produktbeurteilungen zu erlangen. Umgekehrt ist es auch so, dass Konsumenten solche Marken schneller aus dem Gedächtnis abrufen und einer Produktkategorie zuordnen können, die zu salienten Selbstaspekten passen (Florack & Scarabis, 2006). Insgesamt gibt es eine große Zahl an Befunden, die die Bedeutung des Selbst für die Beurteilung und Auswahl von Marken belegen (s. für einen Überblick Bauer, Mäder & Huber, 2002; Bauer, Mäder & Wagner, 2006; Sirgy, 1982; 7 Info-Box). Bei besserer Passung zum

113 7.2 · Psychologische Theorien und Modelle der Markenwirkung

Selbst ergeben sich positivere Einstellungen zu den Marken (Sirgy, 1982), eine stärkere Identifikation mit der Marke (Bauer et al., 2002), eine deutlichere Kaufabsicht (Bauer et al., 2006) und eine höhere Zufriedenheit bei Verwendung eines Markenprodukts (Bauer et al., 2002). Info-Box

samt sollten Selbstaspekte, die häufig und kurze Zeit zurückliegend aktiviert wurden, eine höhere Wahrscheinlichkeit besitzen, Verhalten zu beeinflussen. Darüber hinaus können Merkmale in einer Konsumsituation die Salienz eines spezifischen Selbstaspekts oder einer spezifischen Diskrepanz erhöhen. So könnte eine Werbekampagne am Point of Purchase deutlich machen, dass ein Ziel (z. B. körperliche Fitness) nicht erreicht ist.

Bedeutung selbstrelevanter Funktionen für das Markenmanagement Für das Markenmanagement ist das Wissen über die Funktion des Selbst von Bedeutung, da Marken so positioniert werden können, dass sie Eigenschaften repräsentieren, die in einer Passung zu wichtigen Selbstaspekten der Konsumenten stehen und damit einen Einfluss auf das Kaufverhalten haben. Eigenschaften von Produkten, die in einer Passung zu menschlichen Selbstaspekten oder im weiteren Sinn zur menschlichen Persönlichkeit stehen können, werden als Eigenschaften der Markenpersönlichkeit bezeichnet (Aaker, 1997; Florack & Scarabis, 2007). Das Konzept der Markenpersönlichkeit wird in der Marketingpraxis häufig verwendet. Es dient der Positionierung von Marken und der Ausrichtung von Marketingkampagnen auf spezifische Charakteristika der relevanten Zielgruppen. Darüber hinaus erleichtert es die Kommunikation zwischen Markenmanagern und Kreativen. Die Erfassung der zugrunde liegenden Eigenschaften der Markenpersönlichkeit lässt sich zudem in der Marktforschung gut umsetzen, da es Probanden oft leicht fällt, einer Marke menschliche Eigenschaften zuzuschreiben (z. B. »diese Marke ist sehr aufregend und kreativ« oder »diese Marke ist sehr zuverlässig und vertrauenswürdig«).

Welches Selbst und welche spezifischen Diskrepanzen gerade verhaltensleitend sind, sollte von der Zugänglichkeit und Verfügbarkeit der Diskrepanzen im Gedächtnis abhängen. Das Selbst umfasst so viel Wissen, dass nicht alle Wissensinhalte gleichzeitig aktiviert sein können. Man geht heute daher davon aus, dass das Selbst dynamisch organisiert ist und in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Selbstaspekte bedeutsam sind. Bei einem Gespräch unter Freunden sind möglicherweise andere Aspekte der Selbstrepräsentation bedeutsam als bei der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit. Insge-

7.2.3 Marken-Kunden-Beziehungen Menschen gehen mit Produkten häufig um, als seien diese belebte Objekte mit Motiven, Werten und einem eigenen Willen. Es gibt Personen, die ihrem Auto Namen geben oder davon sprechen, dass es nicht anspringen »will«, wenn der Motor nicht gestartet werden kann. Auch zu Marken können Konsumenten Beziehungen aufbauen, die eher einer zwischenmenschlichen Beziehung ähneln als einer Beziehung zwischen einem Objekt und einer Person (Fournier, 1998). In vielen Fällen identifizieren sich Menschen so stark mit Marken, dass diese Teil ihrer sozialen Identität werden (vgl. Muniz & O’Guinn, 2001). Im Extremfall kann das Gefühl der Verbundenheit mit einer Marke so weit gehen, dass Menschen sich das Logo einer Marke eintätowieren. So ist beispielsweise das Logo der Motorradmarke Harley Davidson eine der meistgetragenen Tätowierungen. Da Individuen also offenbar quasimenschliche Beziehungen zu Marken aufnehmen können, liegt es nahe anzunehmen, dass Individuen in solchen Beziehungen auch Konzepte, Schemata und Strategien verwenden, deren Anwendung sich im Bereich zwischenmenschlicher Beziehung bewährt hat. Neuere Forschung aus dem Konsumentenbereich stützt diese Annahme. Menschliche Beziehungen werden zu einem großen Teil über Normen reguliert. Mit unterschiedlichen Arten von Beziehungen sind unterschiedliche Normen verknüpft. In ökonomischen Austauschbeziehungen gewähren die beteiligten Interaktionspartner anderen einen Vorteil, um im Gegenzug einen vergleichbaren Vorteil zu erhalten. So kann eine Person beispielsweise einen Preis zahlen, um im Gegenzug ein Produkt zu erhalten. In solchen Beziehungen achten Personen sehr darauf, was sie für ihren Einsatz zurückbekommen. Ein Preis, der nicht der Qualität einer Leistung entspricht, kann zu Unzufriedenheit und zum Abbruch einer Austauschbeziehung führen. Anders verhält es sich in gemeinschaft-

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Kapitel 7 · Markenmanagement

lichen Beziehungen, wie beispielsweise zu Freunden oder Familienmitgliedern. In solchen Beziehungen stehen nicht nur die persönlichen Gewinne im Vordergrund, sondern auch die persönlichen Bedürfnisse der Beteiligten. Von einem Freund würde man nicht verlangen, dass er für eine Hilfeleistung, beispielsweise für die Unterstützung bei einem Umzug, einen adäquaten Preis bezahlt. Marken-Kunden-Beziehungen können von Konsumenten als ökonomische Austauschbeziehung oder gemeinschaftliche Beziehung wahrgenommen werden. Das oben beschriebene Beispiel, bei dem ein Konsument für einen Preis eine Gegenleistung erhält, verdeutlicht sehr gut eine ökonomisch geprägte Marken-KundenBeziehung. Von einer gemeinschaftlichen Beziehung würde man beispielsweise sprechen, wenn ein Konsument einer Marke treu bleibt, obwohl vergleichbare Produkte anderer Marken günstiger zu haben sind. Ein Konsument könnte beispielsweise berücksichtigen, dass das hinter der Marke stehende Unternehmen gerade in einer wirtschaftlich schwierigen Lage ist, in der es seine treuen Kunden braucht. Man kann davon ausgehen, dass Konsumenten in einer engen Marken-Kunden-Beziehung auf einer gemeinschaftlichen Basis starke positive Assoziationen zu Marken besitzen, die ihre Erwartungen, Wahrnehmung und Urteile beeinflussen. Ein Apple-User, der eine enge gemeinschaftliche Beziehung zur Marke Apple aufgebaut hat, wird kleinere Produktfehler dem Unternehmen weniger anlasten als jemand, dessen Beziehung zu Apple nicht so ausgeprägt ist. Interessant ist aber, dass Konsumenten dann besonders empfindlich reagieren, wenn »Verhaltensweisen« der Marke die durch die Beziehung implizierten Normen verletzen. In einer sozialen Beziehung gemeinschaftlicher Prägung wäre eine Normverletzung gegeben, wenn ein Freund für eine Hilfeleistung bei einem Umzug eine Rechnung präsentieren würde. Ebenso verhält es sich in gemeinschaftlichen MarkenKunden-Beziehungen. Eine Studie von Aggarwal (2004) zeigt dies eindrucksvoll. Die Teilnehmer dieser Studie sollten sich vorstellen, sie hätten entweder eine gemeinschaftliche oder eine ökonomische Beziehung zu einer Bank. Anschließend erhielten sie die Information, die Bank habe zur Bearbeitung einer Anfrage des Kunden eine zusätzliche Servicegebühr erhoben. Bei einer gemeinschaftlichen Beziehung führte die zusätzliche Gebühr zu einer viel stärkeren Abwertung der Bankmarke als bei einer ökonomischen Beziehung. Welche Normen

und Erwartungen in einer Beziehung zu einer Marke bestehen, hängt u. a. von der wahrgenommenen Persönlichkeit einer Marke ab (Aaker, Fournier & Brasel, 2004). Bei einer Beziehung zu einer jugendlichen Marke bestehen andere Erwartungen als bei einer Beziehung zu einer ehrlichen Marke. Bei einer jugendlichen Marke werden Produktfehler oder fehlende Perfektion nicht notwendigerweise als Verstoß gegen die Beziehungsnorm gesehen. Sie werden mitunter sogar erwartet. Wenig bekannt ist noch, was den Ausschlag dafür gibt, ob eine Marken-Kunden-Beziehung eher als gemeinschaftlich oder ökonomisch wahrgenommen wird. Eine Determinante der Marken-Kunden-Beziehung ist die Positionierung von Marken durch die Marketingkommunikation. Henkel hat mit dem Claim »A Brand like a Friend« diesen Weg gewählt. Darüber hinaus spielt auch das Verhalten der Mitarbeiter mit direktem Kundenkontakt eine wichtige Rolle. Letztendlich bilden sich Markenbeziehungen aber nicht nur auf eine vom Unternehmen gesteuerte Weise, sondern auch über wenig kontrollierbare Wege, wie beispielsweise in spontan entstehenden Markengemeinschaften, die sich über Blogs, Foren und Webseiten austauschen. 7.3

Markenstrategien

Die Präferenzen von Konsumenten werden immer spezifischer. Dementsprechend wächst der Anspruch an die Unternehmen, diese Präferenzen auch mit entsprechenden Marken zu bedienen. Da Unternehmen nicht nur ihre eigenen Marken immer differenzierter führen, sondern darüber hinaus häufig ursprünglich unternehmensfremde Marken akquirieren, führen heute die großen Markenunternehmen nicht mehr nur eine oder wenige Einzelmarken, sondern eine Vielzahl von Marken in unterschiedlichster Verbindung und Anordnung. Das Unternehmen Nestlé führt beispielsweise neben Einzelmarken wie Kitkat oder Perrier auch ganze Markenfamilien wie Maggi oder Alete. Auch zu Pepsi-Co gehören nicht nur Marken im Bereich von Getränken wie Pepsi-Cola, 7up oder Tropicana Orangensaft, sondern beispielsweise auch Marken im Bereich von Frühstückscerealien, Snacks, Reis und Pasta, die in den USA unter dem Label Quaker vertrieben werden. Die Führung verschiedener Marken ist kostenintensiv und sollte aus unternehmerischen Gesichtspunkten wohl überlegt sein. Erfolgreiches Markenmanage-

115 7.3 · Markenstrategien

ment sollte daher zunächst die Frage beantworten, welche Marken geführt werden und wie sie im Gesamtportfolio der vom Unternehmen vertriebenen Marken angeordnet werden sollen. Als Strategien zur Einsparung von Marketingkosten dienen die 7 Produktlinienerweiterung und die Erweiterung oder Dehnung von Marken auf neue Produktkategorien. 7.3.1 Marken- und Produktlinien-

erweiterung Ein gutes Beispiel für die Erweiterung einer Marke ist Nivea. Ausgehend von dem Kernprodukt Nivea Creme expandierte Nivea in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts zunächst in die Segmente Haarshampoos und Sonnenkosmetik, in den 90er Jahren wurde der Bereich Haarpflege um Stylingprodukte erweitert, und auch dekorative Kosmetik kam dazu. Heute umfasst die Marke Nivea Produkte für Gesichtspflege, Haarpflege, Rasur, Körperpflege, Babypflege und Sonnenschutz. Hinter solchen Erweiterungen von Marken und Produktlinien steht die Hoffnung, dass Konsumenten ihre vorhandenen positiven Markenassoziationen auch auf das neue Produkt übertragen (Assimilation des neuen Produkts an die Marke; auch als Spill-over bezeichnet). Kategorisierung als Grundlage von Imagetransfer Zur Beurteilung der Wirkung von Produktlinien- und 7 Markenerweiterungen eignet sich die Kategorisierungstheorie (s. auch Wänke, Bless & Schwarz, 1999; Bless, Greifeneder & Wänke, 2007). Die Kategorisierung eines neuen Produkts als Teil der Marke (Inklusion) ist Voraussetzung für die Ableitung entsprechender Informationen und den 7 Imagetransfer. Die mentale Inklusion eines Produkts in eine Marke erfolgt aber nicht zwangsläufig, nur weil ein Markenname auf dem Produkt steht. Die Inklusion muss vom Konsumenten aktiv vorgenommen werden. Beispielsweise könnte man den Cayenne, einen Geländewagen von Porsche, als untypisch für Porsche ansehen und ihn nicht gemeinsam mit den anderen Autos von Porsche kategorisieren, sondern aus der Marke Porsche exkludieren. Dadurch würde man, obwohl man weiß, dass der Cayenne aus dem Hause Porsche kommt, keine porschetypischen Eigenschaften für den Cayenne erschließen. Er wäre dann eben kein »richtiger« Porsche. Aufbauend auf psycholo-

gischen Modellen postulierten einige Autoren daher auch die Passung zur Marke als Voraussetzung für eine erfolgreiche Markenerweiterung, bei der die Markeneigenschaften auf das neue Produkt übertragen werden (vgl. Boush & Loken, 1991). Für neue Produkte, die den vorhandenen Produkten ähneln, erwartet man einen stärkeren Transfer als bei unähnlichen Produkten. Die Ähnlichkeit kann aber auf verschiedenen Ebenen wahrgenommen werden und ist nicht nur von der Produktkategorie abhängig (Herr, Farquhar & Fazio, 1996; Park, Milberg & Lawson, 1991). Das heißt, ein Porsche Cayenne kann durchaus bezüglich Dimensionen wie Exklusivität und Perfektion als sehr ähnlich zu den anderen Modellen von Porsche wahrgenommen werden. Die Inklusion eines Produkts in die Marke ist auch durch Merkmale beeinflussbar, die nicht direkt in Zusammenhang zu beobachtbaren Funktionen und Leistungen eines Produkts stehen. Belege hierfür liefert eine Studie von Wänke, Bless und Schwarz (1998). In dieser Studie beurteilten Versuchsteilnehmer einen Kleinwagen einer Sportwagenmarke als sportwagentypischer, wenn die Namensgebung in einer einheitlichen Linie zu den Vorgängermodellen stand (Siena, Roma, Milano), als wenn der Name einen Bruch mit der Tradition der Namensgebung bedeutete (Ellipse, Square, Milano). Bei gleicher Marke und gleicher Erweiterung entschieden also Oberflächenmerkmale (hier der Name), ob eine Kategorisierung in die Marke und damit eine Übertragung der Markeneigenschaften erfolgte oder nicht. In der Marketingliteratur ging man lange davon aus, dass die Inklusion einer Markenerweiterung in die Marke zu Assimilationseffekten an die Marke führt, dass diese aber im Falle einer Exklusion ausbleiben. Psychologische Kategorisierungsmodelle sagen aber nicht nur ein Ausbleiben von Assimilationseffekten vorher, sondern sogar eine Umkehrung in Kontrasteffekte: Bei der Exklusion eines Produkts aus der Marke wird danach das Produkt gegenüber der Marke kontrastiert. In diesem Sinne fand sich in der oben zitierten Untersuchung (Wänke et al., 1998) auch, dass der Kleinwagen bei einem Bruch mit der bisherigen Namenstradition sogar als eher untypisch für einen Sportwagen beurteilt wurde, als wenn überhaupt keine Information über die Stammmarke gegeben war. Eine verpatzte Kategorisierung kann also nicht nur nichts nützen, sie kann dem neuen Produkt sogar schaden. Ob ein neues Produkt in eine Marke inkludiert oder aber exkludiert wird, wird abgesehen von Passung und

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Kapitel 7 · Markenmanagement

Oberflächenmerkmalen aber noch von verschiedenen anderen Faktoren beeinflusst. Ein Einflussfaktor ist die Stimmung, in der sich die Konsumenten zum Zeitpunkt der Beurteilung befinden. In guter Stimmung bilden Menschen breitere Kategorien und ordnen verschiedene Dinge eher einer gemeinsamen Kategorie zu. In schlechter Stimmung differenzieren Menschen eher. Dieser Einfluss der Stimmung auf die Informationsverarbeitung führt dazu, dass es bei Markenerweiterungen eher unter guter als unter schlechter Stimmung zu einer Inklusion eines Produkts in die Marke kommt (Barone, Miniard & Romeo, 2000). Ähnlich wie die Stimmung wirkt auch die strategische Orientierung einer Person. Individuen unterscheiden sich darin, ob sie zur Erreichung eines Ziels eher Annäherungs- oder Vermeidungsstrategien einsetzen (Florack, Scarabis & Gosejohann, 2005). Ein Konsument könnte bei einem Kauf beispielsweise darauf achten, dass ein Produkt bestimmte ungünstige Eigenschaften nicht besitzt (Vermeidung), oder stärker darauf, dass ein Produkt bestimmte erwünschte Eigenschaften besitzt (Annäherung). Diese strategischen Orientierungen können Persönlichkeitsunterschiede reflektieren. Sie können aber auch situativ bedingt sein. Yeo und Park (2006) haben nun gezeigt, dass Konsumenten, die Vermeidungsstrategien zur Erreichung eines Ziels verfolgen, ähnliche Erweiterungen deutlich positiver beurteilen als unähnliche. Anscheinend waren diese Konsumenten nicht bereit, die unähnlichen Produkte in die Marke zu inkludieren. Dieser Effekt der Passung verminderte sich jedoch, wenn Personen annäherungsorientiert waren. Wahrscheinlich waren sie dann weniger rigide und offener für ungewöhnlichere Kategorisierungen.

gungen für eine solche Übertragung (Assimilation, Spill-over) lassen sich wieder anhand von Kategorisierungsmodellen ableiten. Die Inklusion in die Marke ist Voraussetzung dafür, dass das 7 Markenimage auf die Erweiterung übertragen wird. Sie ist aber auch Voraussetzung dafür, dass die Produktattribute des Flaggschiffs oder des schwarzen Schafs auf die Marke übertragen werden (7 Info-Box). Ein Flaggschiff wird einer Marke nur dann nützen, wenn es auch als Teil der Marke kategorisiert wird, genauso wie ein mangelhaftes Produkt nur dann Schaden anrichtet, wenn es in den Augen der Verbraucher wirklich zur Marke gehört. Für beides gibt es empirische Evidenz.

Kategorisierung als Basis für Feedbackeffekte Einen Imagetransfer erhofft man sich oft nicht nur von einer Marke zu einem neuen Produkt, sondern auch von besonders erfolgreichen Produkten zu einer Marke und den anderen Produkten der Marke. Markenmanager stellen daher gerne ihre Flaggschiffprodukte besonders heraus in der Hoffnung, dass die Marke insgesamt davon profitiert. Umgekehrt besteht aber im Fall von Produktmängeln oder negativen Schlagzeilen über ein Produkt die Angst, die ganze Marke könne Schaden nehmen. Im positiven wie im negativen Fall können Produkte über solche 7 Feedbackeffekte auf ihre Stammmarken abfärben. Dieselbe Dynamik gilt für einzelne Produktmarken und ihr Verhältnis zu einer Dachmarke. Die Randbedin-

Verbraucherinnen in einem Supermarkt beurteilten Unox-Dosensuppen signifikant positiver, wenn ihnen zuvor die Untergruppe Unox »Die Feinen«, eine besonders exquisite Produktlinie von Unox, präsentiert worden war (Wänke, 2002). Dies zeigt, dass Flaggschiffe durchaus positiven Einfluss haben können. In einer anderen Bedingung wurden jedoch ebenfalls »die Feinen« gezeigt, nun aber wurden die Verbraucherinnen dazu gebracht, »die Feinen« als Submarke zu kategorisieren. Durch diese Kategorisierung wurden »die Feinen« als nicht zur eigentlichen Marke gehörig empfunden und ihre positive Wirkung auf die Marke Unox blieb aus. Es fanden sich im Gegenteil sogar Kontrasteffekte: Das Herausstellen der positiven Submarke führte zu einer

Info-Box

Brand Identity Betrachtet man die psychologischen Grundlagen von Imagetransfer und Feedbackeffekten, dann kann man schließen, dass ein Produkt einer Marke nur dann von dem Flaggschiff der Marke profitieren kann, wenn sowohl das betreffende Produkt als auch das Flaggschiff als Teil der Marke gesehen werden. Wänke, Bless und Igou (2001) fanden hierfür empirische Bestätigung. Ein durchschnittlich ausgestatteter Toaster profitierte in dieser Untersuchung nur dann von einem Spitzenmodell derselben Marke, wenn die Werbeanzeigen die gemeinsame Marke betonten (Brand Identity). Wurde die gemeinsame Stammmarke nicht hervorgehoben, wirkte das Spitzenmodell als Vergleichsstandard, und der mittelmäßig ausgestattete Toaster fiel in der Bewertung deutlich ab.

117 7.3 · Markenstrategien

schlechteren Bewertung der Marke Unox im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, der »die Feinen« gar nicht gezeigt wurde. Es liegt nahe, dass im Fall der Subkategorisierung »die Feinen« einerseits nicht zur Beurteilung von Unox-Dosensuppen herangezogen wurden, da sie ja nicht zu Unox gehörten. Andererseits aber zeigen die Befunde, dass die Unox-Dosensuppen nun an dieser besonders exklusiven Submarke gemessen wurden und es durch diesen sehr hohen Vergleichsstandard zu einem negativeren Urteil kam. Ähnliche Ergebnisse fanden sich auch in anderen Studien. Negative Informationen über ein Erweiterungsprodukt schadeten in diesen Studien nur dann der Muttermarke, wenn die Erweiterung der Marke ähnlich war (Romeo, 1991) und nicht aufgrund der Kennzeichnung mit einer spezifischen Submarke aus der Marke exkludiert wurde (Milberg, Park & McCarthy, 1997). In einer Studie von Milberg et al. (1997) fand beispielsweise keine Übertragung eines negativen Images von einem Produkt auf die Muttermarke Timex statt, wenn das Produkt der Submarke Calibre by Timex zugeordnet wurde. Tatsächlich fiel die Beurteilung der Marke Timex in diesem Fall sogar noch besser aus als in einer Kontrollgruppe. Es zeigte sich also ein Kontrasteffekt. Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass bei einer Exklusion eines Produkts aus einer Marke Kontrasteffekte wahrscheinlich werden. Umgekehrt sollte die Inklusion eines Produkts in eine Marke mit größerer Wahrscheinlichkeit zu Assimilationseffekten führen. Dies bedeutet aber auch, dass bei einer gelungenen Inklusion in eine Marke die Gefahr besteht, dass das Image der Marke verwässert wird (z. B. Roedder-John, Loken & Joiner, 1998); nämlich genau dann, wenn ein Produkt in die Marke inkludiert wird, das stark vom bisherigen Markenbild abweicht. Die Stärke von Assimilations- und Kontrasteffekten als Folge von Inklusion oder Exklusion eines Produkts in eine Marke hängt davon ab, wie viel andere Informationen Konsumenten neben der Information über die Markenzugehörigkeit haben. Je mehr andere Informationen in eine Beurteilung eingehen, desto geringer wird der Einfluss jeder einzelnen Information sein. Im obigen Beispiel der Erweiterung einer Sportwagenmarke (Wänke et al., 1998) waren die Effekte für Laien daher deutlich ausgeprägter als für Autoexperten. Der Umfang des Wissens über eine Marke steht auch in einem Zusammenhang zur Breite einer Marke. Je mehr unterschiedliche Produkte Konsumenten einer Marke zuordnen, desto größer wird das Wissen über die

Marke sein. Für Marken heißt dies auch, dass bei breiten Marken der Schaden durch ein einzelnes Produkt geringer sein sollte als bei einer engen Marke. In einer Untersuchung, in der systematisch die Markenbreite variiert wurde, zeigte sich dementsprechend, dass der negative Einfluss eines Produkts bei Versagen stärker auf eine enge Marke als auf eine breite Marke wirkte (Einwiller, Wänke & Samochowiec, 2006). Es muss allerdings beachtet werden, dass bei einer breiten Marke ein Produkt leichter inkludiert werden kann. Dies führt zu positiveren Beurteilungen der Erweiterung bei breiteren Marken (Boush & Loken, 1991; Felser, 2001). Ist der Schritt der Inklusion aber erst einmal getan, hat, wie oben ausgeführt, das inkludierte Produkt weniger Einfluss auf die Beurteilung einer breiten Marke als auf die Beurteilung einer engen Marke. 7.3.2 Die optimale Markenbreite Im vorangehenden Abschnitt haben wir schon darauf hingewiesen, dass bei breiten Marken eine Erweiterung der Marke in neue Produktkategorien erleichtert ist und dass auch Mängel bei einzelnen Produkten besser aufgefangen werden können. Mit der Vielfalt des Angebots wächst zudem die Chance, dass Konsumenten genau das Produkt finden, das ihren Bedürfnissen optimal entspricht, dass also eine Passung zwischen Wunsch und Angebot vorliegt (Chernev, 2003). Dies ist insbesondere wichtig, wenn sich die Bedürfnisse der Konsumenten verändern. Verbraucher können dann bei neuen Bedürfnissen innerhalb einer Marke wechseln und müssen nicht zu Wettbewerbern greifen. Ein breites Angebot steigert somit die Wahrscheinlichkeit von Markentreue. Eine Erweiterung, die über eine Produktkategorie hinausgeht (z. B. von Creme auf Shampoo), bietet Konsumenten darüber hinaus die Möglichkeit, viele verschiedene Produkte aus einer »vertrauten Hand« zu erwerben. Marken, die in vielen Produktkategorien vertreten sind, haben mehr Kontaktpunkte zu Konsumenten und eine höhere 7 Markenbekanntheit (Brand Awareness). Markenbekanntheit schafft zum einen Vertrautheit mit der Marke, zum anderen führt sie dazu, dass die Markenprodukte im Verkaufsregal schneller erkannt oder bei gedächtnisbasierten Entscheidungen besser aus dem Gedächtnis abgerufen werden. Vielfalt im Angebot impliziert darüber hinaus Expertise (Berger, Draganska

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Kapitel 7 · Markenmanagement

& Simonson, 2006) und wird zum Teil auch per se schon als positive Abwechslung angestrebt (Ratner, Kahn & Kahneman, 1999; Loewenstein, 1994). Vielfalt bringt aber nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile mit sich (zum Überblick s. Wänke & Greifeneder, 2007). Die Produktion und Vermarktung von vielen unterschiedlichen Produkten und Produkttypen ist mit höheren Kosten verbunden. Außerdem kann die Exklusivität einer Marke oder das Image eines Spezialisten in einem bestimmten Bereich verloren gehen (Berger et al., 2006). Einige empirische Belege deuten auch darauf hin, dass sich Konsumenten in bestimmten Situationen von einem Überangebot verwirrt fühlen und einen Kauf vermeiden. Eindrucksvoll ist die Wirkung der Verkleinerung einer Produktlinie von Procter & Gamble. Das Unternehmen hat nach der Reduzierung seiner »Head and Shoulders Shampoo«-Serie von 26 auf 15 Varianten den Absatz um 10% gesteigert (zititert nach Iyengar & Lepper, 2000). Ein anderes Beispiel für den Nachteil eines breiten Angebots liefert eine Studie von Iyengar und Lepper (2000). Sie stellten in einem Supermarkt einen Probierstand mit Marmeladen auf. Wenn 6 Sorten zum Kosten angeboten wurden, kauften 30% der Konsumenten eine Marmelade dieser Marke – standen dagegen 24 Sorten zum Probieren bereit, kauften nur 3% der Konsumenten eine Marmelade. Verbraucher kauften auch weniger Schokolade, nachdem sie von 30 im Vergleich zu 6 Sorten eine Kostprobe nehmen konnten. Größere Vielfalt kann also dazuführen, dass Konsumenten eine Kaufentscheidung vertagen oder ganz Abstand von dem Kauf nehmen. Darüber hinaus ist auch belegt, dass die Wahl aus einem großen im Vergleich zu einem beschränkten Angebot zu einer niedrigeren Zufriedenheit führen kann. Insbesondere berichteten Verbraucher, die eine Praline aus 6 Optionen wählten, eine höhere Zufriedenheit mit dieser Praline (Iyengar & Lepper, 2000) als Verbraucher, die eine Praline aus 30 Optionen wählten. Psychologisch können mehrere Prozesse zu diesem erstaunlichen Ergebnis geringerer Zufriedenheit nach größerer Auswahl beitragen. Zum einen kann allein die Tatsache einer Entscheidung zwischen 2 attraktiven Optionen bewirken, dass beide in ihrer Attraktivität abnehmen (Brenner, Rottenstreich & Sood, 1999). Denn durch den Vergleich der Alternativen im Verlauf des Entscheidungsprozesses wird die Abwesenheit der Vorteile jeder Option in der jeweils anderen Option besonders augenfällig. Zum anderen könnte sich das nega-

tive Gefühl der Qual der Wahl auf die zur Verfügung stehenden Produkte übertragen. Ein dritter Erklärungsansatz geringerer Konsumzufriedenheit bei breiterem Angebot geht darauf zurück, dass eine Entscheidung für ein Produkt eben auch eine Entscheidung gegen ein anderes bedeutet. Kann man nur eines auswählen, bleiben doch Zweifel, ob nicht das andere Produkt besser gewesen wäre. Es soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass die negativen Effekte der Produktvielfalt bislang wenig repliziert wurden. Neben der Überforderung durch ein Überangebot an attraktiven Alternativen und den negativen Konsequenzen der Qual der Wahl gibt es aber noch einen weiteren Grund, warum Vielfalt nicht unbedingt zu einem höheren Absatz führen muss. Nicht jede Art von Differenzierung in einem Sortiment ist sinnvoll. Tatsächlich zeigte sich in entsprechenden Untersuchungen (Chernev, 2005) dann ein Entscheidungsaufschub, wenn in einem breiten Angebot gleich attraktive Attribute enthalten waren, die sehr gut auch in einem einzigen Produkt kombiniert werden könnten (z. B. Zahnpasta mit Schutz vor Karies oder Zahnpasta mit Schutz vor Zahnstein oder Zahnpasta mit Schutz vor Parodontose). Ein überdifferenziertes Angebot, in dem Alternativen zur Wahl stehen, die man jeweils für unabdingbar hält, wird also kaum mehr Absatz bringen. Produkte, die verschiedene Attribute vereinen (z. B. Zahnpasta mit 3-fach-Schutz), ziehen Käufer von den sehr spezialisierten Produkten ab. 7.3.3 Psychologische Funktionen als Basis

von Markenarchitekturstrategien Zur Einsparung von Marketingkosten ist es sinnvoll, so wenige Marken wie möglich zu führen und Marken möglichst weit zu dehnen. Unsere vorangehenden Ausführungen zeigen aber, dass eine zu weite Dehnung von Marken das Markenimage verwässern kann und schlimmstenfalls Umsatzeinbußen bei den Kernprodukten der Marke zu erwarten sind. Die Frage ist also, was die optimale Strategie zur Führung eines komplexen Markenportfolios in einem Unternehmen ist. Die Optionen, die hier zur Verfügung stehen, sind vielfältig. Stark vereinfacht kann man 3 wesentliche Strategien unterscheiden, die auch in Mischformen verfolgt werden können (Esch, 2003; . Abb. 7.2): 4 Dachmarkenstrategien (auch als Unternehmensmarkenstrategien bezeichnet),

119 7.3 · Markenstrategien

. Abb. 7.2. Markenstrategien

Familienmarke Dachmarke

4 4

Einzelmarkenstrategien, Familienmarkenstrategien.

Bei einer Dachmarkenstrategie wird eine Marke für alle Produkte des Unternehmens verwendet. Siemens wäre ein Beispiel hierfür. Sowohl PCs als auch Telefonanlagen und hoch technisierte Industrieprodukte tragen dasselbe Label. Aaker und Joachimsthaler (2000) bezeichnen Unternehmen mit einer solchen Strategie auch als Branded House. Der extreme Gegenpol ist die Führung von Einzelmarken (Einzelmarkenstrategie), die in der Wahrnehmung des Konsumenten unverbunden sind. Aaker und Joachimsthaler bezeichnen Unternehmen mit einer solchen Strategie als House of Brands. Bei einer Familienmarkenstrategie werden unter einer Marke verschiedene Submarken geführt, die unter Umständen einen starken eigenen Charakter entwickeln können. Ein Beispiel ist die Marke Nivea. Wir haben bereits angesprochen, dass unter dem Markennamen Nivea heute zahlreiche unterschiedliche Produkte zur Körperpflege vertrieben werden. Dazu gehören Submarken wie Nivea Bathcare, Nivea Beauté, Nivea Sun und Nivea Deodorant. Ein Unternehmen kann eine einzelne, aber auch mehrere Strategien parallel verfolgen und in einem Bereich auf eine Einzelmarkenstrategie setzen, während es

in einem anderen Bereich Marken des eigenen Portfolios als Familienmarken führt. Berücksichtigt man nicht nur die Anordnung der Marken im Unternehmen zueinander, sondern auch die Ausrichtung auf bestimmte Zielgruppen, dann kann man zielgruppenspezifische Markierungsstrategien als weitere Option hinzufügen (vgl. Strebinger, 2007). Bei zielgruppenspezifischen Markierungen wird ein Produkt mit einer Markierung versehen, die für eine bestimmte Zielgruppe relevant ist. Während bei der Einzelmarkenstrategie eine Produktmarke, wie z. B. Nutella, für alle Zielgruppen geführt wird, wird beim zielgruppenspezifischen Branding eine Marke nur für eine bestimmte Zielgruppe geführt. Die zielgruppenorientierte Markenstrategie kann in Verbindung mit einer Einzelmarkenstrategie erfolgen (zielgruppenspezifische Einzelmarkenstrategie) oder über unterschiedliche Produktkategorien ausgeweitet werden. Das Label Armani wird beispielsweise über verschiedene Produktkategorien wie Kosmetik, Uhren, Schmuck, Kleidung oder Einrichtungsbedarf geführt. Es wird in allen Fällen aber die gleiche Zielgruppe angesprochen. Die sehr trendy positionierte Marke Perrier ist ebenfalls stark auf eine Zielgruppe ausgerichtet. Unter dieser zum Nestlé-Konzern gehörenden Marke wird aber ausschließlich Mineralwasser angeboten.

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Kapitel 7 · Markenmanagement

Strebinger (2007) plädiert dafür, bei der Entscheidung für eine 7 Markenarchitekturstrategie die psychologischen Nutzen von Marken in den angezielten Segmenten zu berücksichtigen. Er unterscheidet in Anlehnung an Park et al. (1986) 4 wesentliche Nutzen von Marken (. Abb. 7.3), von denen wir 3 schon in den vorangehenden Abschnitten erwähnt haben. So spricht er zunächst davon, dass Marken einen funktionalen Nutzen haben können, da sie mit der Lösung eines spezifischen Problems (z. B. die Wäsche sauber waschen) verbunden werden (7 Abschn. 7.1.2). Darüber hinaus benennt er symbolische Nutzen von Marken. Wir haben zuvor bereits ausführlich dargelegt, dass Konsumenten in diesem Sinne mit einer Marke etwas über sich selbst aussagen können (7 Abschn. 7.2.2). Neben diesen beiden Nutzenformen sieht Strebinger auch noch relationale und experienzielle Nutzen von Marken als bedeutsam an. Relationale Nutzen entstehen aus der Beziehung eines Konsumenten zur Marke. Wir haben hier zuvor davon gesprochen, dass Konsumenten eine Beziehung zu einer Marke aufbauen können, die über eine ökonomische Austauschbeziehung hinausgeht und die auch in schwierigen Zeiten mit gegenseitiger Verlässlichkeit verbunden ist (7 Abschn. 7.2.3). Experienzielle Nutzen entstehen aus Produkterlebnissen, die mit einem bestimmten Geschmackserlebnis oder anderen Erlebnissen im weitesten Sinne verbunden sind. So erwarten Konsumenten unter Umständen ein bestimmtes Geschmackserleben, wenn sie ein Eis von Haägen-Dasz konsumieren, oder sie

. Abb. 7.3. Markennutzen

schätzen möglicherweise die distinkte Atmosphäre, die mit einem Starbucks Coffee House verbunden ist. Die psychologischen Nutzen von Marken lassen sich mit unterschiedlichen Markenarchitekturstrategien unterschiedlich gut bedienen (Strebinger, 2007). Stehen funktionale Nutzen über die gesamte Produktpalette eines Unternehmens im Vordergrund, dann bietet sich eine Markierung über die Dachmarke an. Dies ist beispielsweise bei den Produkten, die von Siemens vertrieben werden, zu einem großen Teil der Fall. Konsumenten, die einen Computer, ein Faxgerät oder ein Industrieprodukt von Siemens kaufen, sind an Problemlösungen interessiert. Diese Produkte werden nicht gekauft, um Selbstaspekte der Konsumenten zu unterstützen. Eine Dachmarkenstrategie bietet sich ebenfalls an, wenn relationale Aspekte für den Konsumenten wichtig sind. Einem Konsumenten, der eine Versicherung erwirbt, fehlen oft die Möglichkeiten, die Angebote eingehend zu prüfen. Für sie oder ihn ist die Verlässlichkeit des Unternehmens zentral. Sind experienzielle Aspekte einer Marke stark ausgeprägt, dann steht dies Markenerweiterungen im Weg. Es besteht dann die Gefahr, dass kein Imagetransfer stattfindet und die Marke verwässert wird. Es ist schwer vorstellbar, eine Marke wie Nutella, deren Markenkern stark durch das Geschmackserlebnis geprägt ist, auf Produkte wie Pasta oder Pizza auszuweiten. In einem solchen Fall wäre daher eine Einzelmarkenstrategie vorteilhaft.

121 7.4 · Steuerung der Markenidentität

Ganz anders ist dies, wenn symbolische Aspekte einer Marke im Vordergrund stehen. In diesem Fall ist die Produktkategorie wenig entscheidend. Eine Person, die nach außen einen hohen Status signalisieren möchte, kann dies mit einem Sportwagen von Porsche ebenso tun wie mit einer Sonnenbrille von Porsche. Wichtig ist, dass die Marke auch diagnostisch für eine Selbstaussage sein kann. Dies ist nicht der Fall, wenn ein Produkt nicht fest mit einer bestimmten Zielgruppe verbunden ist. Eine Sonnenbrille von Porsche, die nicht mehr Mitgliedern einer bestimmten Zielgruppe zugeordnet werden kann, verliert ihren diagnostischen Wert für die Selbstergänzung. Hat eine Marke für den Konsumenten einen deutlichen symbolischen Nutzen, ist eine zielgruppenspezifische Ausrichtung angezeigt. Stehen für Konsumenten verschiedene Nutzen gleichzeitig im Vordergrund, dann sind Familienmarkenstrategien zur Strukturierung des Markenportfolios geeignet. Diese lassen sich auch mit einer Zielgruppenspezifizierung verbinden. So könnte man vermuten, dass Käufer eines Volkswagens an der Qualität des Fahrzeugs interessiert sind (funktionaler Nutzen), dass beim Autokauf zudem aber auch symbolische Aspekte eine Rolle spielen, die eine Ausrichtung der Markenführung auf unterschiedliche Zielgruppen verlangen. Die verschiedenen Modelle eines VW Passat sagen in diesem Sinn tatsächlich etwas anderes über den Käufer aus als die verschiedenen Modelle des VW Beetle (symbolischer Nutzen). Beide Modellreihen geben aber ein ähnliches Qualitätsversprechen (funktionaler Nutzen). Durch die Führung einer Markenfamilie (VW) mit entsprechenden Submarken (Passat, Beetle) können beide Nutzenaspekte bedient werden. Dass der Vermischung von einer zielgruppenspezifischen Ausrichtung und einer Familienmarkenstrategie aber Grenzen gesetzt sind, zeigt das Beispiel des VW Phaeton. Dieses Modell der Luxusklasse musste in den USA wegen Erfolglosigkeit vom Markt genommen werden. Vermutlich können mit diesem Fahrzeug die Erwartungen der Konsumenten in Bezug auf den symbolischen Nutzen in diesem Segment nicht ausreichend unter der Familienmarke Volkswagen angesprochen werden. Das Modell von Strebinger (2007) zur Auswahl einer Markenarchitekturstrategie ist ausschließlich an den Konsumenten orientiert. Neben den Konsumenten gibt es aber noch weitere Zielgruppen der Markenführung (vgl. Esch & Bräutigam, 2001). Mitarbeiter, Handelspartner, Zulieferer, staatliche Behörden und Aktionäre sind

nur einige Beispiele. Für die Ansprache von Anspruchsgruppen wie Aktionären oder Handelspartnern ist die Dachmarkenstrategie besonders geeignet, da diese ihre Entscheidungen und Urteile seltener auf der Basis von Einzelmarken treffen. 7.4

Steuerung der Markenidentität »Einer Marke ohne Persönlichkeit, nicht unähnlich einer Person, fehlen Freunde und sie mag leicht übersehen werden« (Aaker, 1996; Übersetzung durch die Autoren).

Eine Marke, von der niemand eine klare Vorstellung hat, wird wenig Erfolg haben. Marken dagegen mit einer klaren Markenpersönlichkeit oder im weiteren Sinne mit einer klaren 7 Markenidentität haben eine größere Chance, von Konsumenten wahrgenommen und genutzt zu werden. Es ist aber nicht nur wichtig, dass die Identität einer Marke distinkt ist. Natürlich spielen auch die inhaltlichen Merkmale der Markenidentität eine große Rolle. Ein wichtiges Steuerelement der Markenführung ist daher die Festlegung einer Markenidentität. Die Markenidentität bezeichnet das Selbstbild einer Marke, d. h. sie bringt zum Ausdruck, wofür eine Marke steht und wie sie nach außen auftreten soll (Esch, Kiss & Roth, 2004). Neben dem Selbstbild einer Marke ist zur Steuerung der Marke auch wichtig, wie die Marke von Konsumenten und anderen Anspruchsgruppen wahrgenommen wird. Man spricht in diesem Fall vom Markenimage. Fehlt in einem Unternehmen eine feste und eindeutige Vorstellung davon, wie die Identität einer Marke aussehen soll, dann kann es zu einem diffusen Markenimage kommen. Darüber hinaus ist es problematisch, wenn zwischen der Selbstsicht im Unternehmen und dem Image der Marke eine große Diskrepanz besteht. Der erste Schritt zur erfolgreichen Ausrichtung einer Markenidentität ist daher die Festlegung der Markenidentität im Unternehmen und der Vergleich mit dem gegenwärtigen Markenimage der Konsumenten. 7.4.1 Komponenten der Markenidentität Eine Bestimmung und Festlegung der Markenidentität wird erleichtert, wenn man ein vereinfachtes Schema zur Darstellung der Identität heranzieht. Aaker (1996) unterscheidet beispielsweise zwischen einer Kernidentität

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7

Kapitel 7 · Markenmanagement

und erweiterten Identitätskomponenten. Burmann, Meffert und Feddersen (2007) sehen als eine Grundidee des identitätsbasierten Markenmanagements, dass sich das Markennutzenversprechen und Markenverhalten auf der Seite des Unternehmens mit den Markenerwartungen und dem Markenerlebnis der Konsumenten deckt. Als wichtige Grundlage des Führungskonzepts einer Marke sehen sie die Vision (Wohin wollen wir?), die Persönlichkeit (Wie treten wir auf?), die Werte (Woran glauben wir?), die Kompetenzen (Was können wir?) und die Herkunft (Woher kommen wir?). Alle diese Komponenten münden schließlich in die angebotenen Leistungen (Was tun wir?). Auf der Seite des Konsumenten sehen Burmann et al. neben der Markenbekanntheit insbesondere symbolische und funktionale Nutzenassoziationen der Marke als wichtig an. Ein Ansatz, der in der Praxis häufig Verwendung findet, ist das Markensteuerrad von »icon brand navigation« (vgl. Esch, 2003). Das Markensteuerrad basiert auf der Annahme, dass zu einer erfolgreichen Steuerung einer Marke Klarheit darüber bestehen muss, was die grundlegende Kompetenz einer Marke ist (Kompetenz), was für den Konsumenten die ausschlaggebenden Kaufargumente sind (Nutzen und Beweggründe), welche Markenpersönlichkeit die Marke besitzt (Tonalität) und wie sie gegenüber den Konsumenten auftritt (Markenbild). Damit die angestrebte Markenidentität eine Entsprechung im Markenimage der Konsumenten oder anderen Stakeholdergruppen findet, ist ein Ist-Soll-Vergleich notwendig. Werden hier Diskrepanzen festgestellt, ist eine gezielte Steuerung über das Produkt (z. B. Verpackungen, Preis, Verkaufsorte), die Kommunikation und die Mitarbeiter notwendig. 7.4.2 Umsetzung der Markenidentität Die Herausbildung eines klaren und deutlich abgegrenzten Markenimages wird gestützt, wenn alle Marketingmaßnahmen das gleiche Bild der Marke nach außen tragen. Dies erhöht zum einen die Wahrscheinlichkeit, dass die Konsumenten mit dem dargestellten Image in Kontakt kommen und das Bild der Marke erlernen (Esch, 2003). Es verhindert auch, dass das Markenbild durch Inkonsistenzen verwässert wird. Ein wichtiges Instrument der Umsetzung einer Markenidentität ist heute immer noch die klassische Werbekommunikation. Vermehrt wird aber auch die Inszenierung einer Marke

über Events oder Sponsoring wichtig. Eine optimale Gestaltung der Markenkommunikation hängt davon ab, dass man Kenntnisse darüber hat, wie Kommunikationsmaßnahmen von den Rezipienten aufgenommen und verarbeitet werden (s. für einen Überblick Scarabis & Florack, 2007). Bei der Planung von Kommunikationsmaßnahmen ist daher Wissen darüber notwendig, in welchem psychologischen Zustand sich die Rezipienten bei der Aufnahme der Informationen befinden und wie eine spezifisch auf diesen Zustand ausgerichtete Kommunikationsstrategie aussehen muss. Verschiedene Ansätze der identitätsbasierten Markenführung sehen in der unternehmensinternen Markenkommunikation und der Führung der Mitarbeiter eine weitere wichtige Größe zur Steuerung der Markenidentität (Burmann & Zeplin, 2005; Esch & Vallaster, 2005). Mitarbeiter, die sich mit einer Marke und einem Unternehmen identifizieren, tragen wesentlich zum Unternehmenserfolg bei (Frey, Kaminski & Greitemeyer, 2007). Sie können als Markenbotschafter betrachtet werden und sind im Sinne eines Behavioral Branding somit ein entscheidender Faktor des Markenmanagements. Der Begriff des Behavioral Branding umfasst dabei Maßnahmen, die den Aufbau und die Pflege von Marken durch Verhalten und persönliche Kommunikation stützen (Tomczak, Herrmann, Brexendorf & Kernstock, 2005). Dazu gehört nicht nur das Verhalten von Mitarbeitern in einer offiziellen Funktion, sondern auch das Eintreten für die Marke im persönlichen Umfeld. Bei Betrachtung der Effekte unternehmensinterner Markenführung sind 2 psychologische Konstrukte von zentraler Bedeutung. Einerseits das Brand Commitment und andererseits die Identifikation mit der Marke. Der Begriff des Brand Commitment geht zurück auf den Begriff des organisationalen Commitment, der die Bindung zwischen einer Organisation und ihren Mitarbeitern bezeichnet (Meyer & Allen, 1991; Moser, 1996). Organisationales Commitment kann auf eine affektive Bindung zu einem Unternehmen bezogen sein, aber auch auf eine Beziehung zu einem Unternehmen, die besteht, weil keine besseren Alternativen vorhanden sind. Das Konstrukt der Identifikation beschreibt die psychologische Verbindung zwischen einem Mitarbeiter und der Marke, für die er seine Arbeit einsetzt. Je mehr sich ein Mitarbeiter mit seinem Unternehmen und einer Marke identifiziert, desto mehr wird er die Werte, Normen und Interessen des Unternehmens und der Marke in sein Selbstkonzept aufnehmen und nach außen ver-

123 7.5 · Zukunft der Markenführung

treten. Die Interessen und Ziele des Unternehmens und der Marke werden dann als eigene wahrgenommen. Affektives Commitment und Identifikation können als Grundlage für das Engagement für die Marke gesehen werden. Burmann und Zeplin (2005) bezeichnen dies als Brand Citizenship Behavior (7 Übersicht).

Aspekte des Brand Citizenship Behavior (Burmann & Zepplin, 2005) 1. Helping Behavior: Die Mitarbeiter sind freundlich und hilfsbereit gegenüber internen und externen Kunden. Sie übernehmen auch Aufgaben außerhalb der eigenen Zuständigkeit (z. B. bei Eingang einer Beschwerde). 2. Brand Consideration: Die Mitarbeiter berücksichtigen, welche Auswirkung ihr Verhalten auf die Marke hat und welches Verhalten das gewünschte Markenimage stützt. 3. Brand Enthusiasm: Die Mitarbeiter zeigen eigene Initiative zur Stärkung der Marke. 4. Sportsmanship: Die Mitarbeiter sind bereit, sich für die Marke zu engagieren, auch wenn dies hohe eigene Kosten bedeutet (z. B. Überstunden). 5. Brand Endorsement: Die Mitarbeiter empfehlen die Marke auch außerhalb der Arbeit (z. B. gegenüber Freunden). 6. Self-development: Die Mitarbeiter verbessern kontinuierlich ihre Fähigkeiten und tragen so zu qualitativ hochwertigen Produkten der Marke bei. Dazu gehört auch, sich fortlaufend Wissen über die Marke (Wie hat sich die Marke verändert? Was ist der Kern der aktuellen Marke?) und die Kunden anzueignen. 7. Brand Advancement: Die Mitarbeiter tragen im Sinne eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses zur Anpassung der Markenidentität an sich verändernde Bedingungen bei. Sie geben Rückmeldungen von Konsumenten weiter und machen Verbesserungsvorschläge.

Interne Markenkommunikation, Personalentwicklungsmaßnahmen und das Verhalten von Führungskräften werden in der Marketingforschung als wesentliche Faktoren betrachtet, die affektives Commitment und Identifikation der Mitarbeiter stärken. Maßnahmen der internen Markenführung haben über diesen Weg einen

positiven Einfluss auf das Markenimage und letztendlich auf den Markenwert. 7.5

Zukunft der Markenführung

Während in der 1. Hälfte des vergangenen Jahrhunderts die meisten Konsumprodukte noch lokal vertrieben wurden, ermöglichten die zunehmende Verbesserung der Verkehrsverbindungen und der Wegfall von Handelsbarrieren, Güter auch in überregionalen Märkten anzubieten. Heute agieren viele Unternehmen weltweit. Die Globalisierung wirft die Frage auf, inwieweit wirtschaftliche und kulturelle Unterschiede der jeweiligen Märkte unterschiedliche Markenpolitik und -kommunikation erfordern. Regionale Marken für die jeweiligen Märkte verursachen nicht nur ein Mehr an Kosten und Aufwand als eine globale Marke, sie sind auch einem einheitlichen globalen Markenimage und einer Markenidentität abträglich. Andererseits müssen Hersteller befürchten, mit einer nicht auf die lokalen Eigenheiten und kulturellen Bedürfnisse der Zielgruppe abgestimmten Strategie nur suboptimale Ergebnisse zu erzielen. Die Frage, ob internationale Standardisierung mehr oder weniger Erfolg erzielen kann als lokale Spezialisierung, durchzieht die Marketingliteratur der letzten 40 Jahre (s. bereits Elinder, 1965), und sie hat nichts an Aktualität eingebüßt. Einerseits wurde z. B. von Levitt (1983) eine weltweite Angleichung der Verbraucherbedürfnisse prophezeit, die auf eine erhöhte Mobilität der Konsumenten und eine verstärkte Nutzung moderner Kommunikationstechnologien zurückgeht. Andererseits wurde darauf verwiesen, dass trotz Angleichung die Unterschiede größer seien als die Gemeinsamkeiten, und es wurde postuliert, dass der Erfolg international agierender Marken in ihrer Fähigkeit der lokalen Anpassung liege (z. B. Kotler & Bliemel, 2001). Auf den ersten Blick scheint die weltweite Verfügbarkeit von Coca-Cola und McDonalds Levitt Recht zu geben. Bei genauer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass es recht wenig wirklich global standardisierte Marken gibt, also Marken, die weltweit in Namen, Qualität, Verpackung und Image identisch sind. Obwohl McDonalds auf der ganzen Welt vertreten ist, reflektiert das jeweilige Angebot die regionalen Essgewohnheiten, wenn in deutschen Filialen Bier und in französischen Wein angeboten wird (Kloss, 2002). Auch Coca-Cola schmeckt nicht in jedem Land gleich; für die einzelnen Submarken werden sogar unterschied-

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Kapitel 7 · Markenmanagement

liche Bezeichnungen geführt. In deutschsprachigen Ländern wird die kalorienreduzierte Version unter dem Namen »Cola light« angeboten, weil das amerikanische »Diet Coke« zu sehr an Diätnahrung erinnert. Die derzeitige Einführung des zuckerfreien »Coke Zero« ist auch ein Versuch, diese unterschiedlichen Versionen durch ein Produkt zu ersetzen. Wirklich global standardisierte Marken findet man eher im Technikbereich, die Marke IBM ist ein Beispiel, während im Lebensmittelbereich die lokalen Variationen auch bei global agierenden Marken, wie z. B. Nestlé oder Unilever, dominieren (s. auch Kornadt, 1986). Selbst im Falle global standardisierter Marken kann eine Anpassung der Werbekommunikation an die kulturellen Eigenheiten sinnvoll sein. Jack Stahl, der frühere Chief Operations Officer von Coca-Cola äußerte sich eher ablehnend gegenüber globaler Kommunikationsstandardisierung: »Unsere Kunden [...] wollen keine Werbung, die überall gleich aussieht. [...] Wir müssen genau wissen, wie wir einen New Yorker ansprechen wollen oder einen Menschen in einer Stadt in Brasilien« (zitiert nach Kloss, 2002, S. 243). Die meisten global agierenden Unternehmen fahren Mischformen von zentral entwickelter, aber lokal angepasster Werbung oder mischen lokale und globale Werbung, wie beispielsweise McDonalds. Andere, wie BMW oder Nestlé, setzen zwar bestimmte Vorgaben, die in allen Ländern eingehalten werden müssen, sie passen die spezifische Werbung für bestimmte Produkte aber den regionalen Gegebenheiten an. Wieder andere verfolgen in unterschiedlichen Märkten unter-

schiedliche Positionierungsziele. Levi’s Jeans betonten in den 90er Jahren in der amerikanischen Werbung das soziale Gruppengefühl, versuchten aber in Europa ein individualistisches, sexuell attraktives Image aufzubauen. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass Angehörige der jeweiligen Kultur positiver auf kulturkongruente Werbung reagieren (zum Überblick s. Wänke & Haberstroh, 2007). Es ist aber nicht auszuschließen, dass in Zukunft die kulturellen Unterschiede schwächer werden und die vermehrte Darbietung kulturfremder Werbung Kommunikationsgewohnheiten ändern könnte. Eine kulturelle Angleichung der Märkte bedeutet zwar einerseits vermehrte globale Standardisierung der Marken. Andererseits aber ist auch die gegenläufige Entwicklung, ein Trend zur stärker diversifizierten und zielgruppenorientierten Markenpolitik zu erwarten. Die länderspezifische Marktsegmentierung und Markenpolitik wird wohl weniger wichtig werden, und Verbrauchertypologien, in denen Verbraucher aufgrund von Werten, Motiven, Lifestylekomponenten und psychografischen Merkmalen klassifiziert werden, werden zunehmend überregional erstellt werden. Eine junge erfolgreiche Frau in Berlin wird wahrscheinlich mehr mit jungen Karrierefrauen in New York gemeinsam haben als mit einer Hausfrau aus Zwickau. Eine globale Vereinheitlichung, wie sie eine globale Markenwelt mit sich bringt, einerseits und eine individualisierte, auf den jeweiligen Kunden abgestimmte Maßanfertigung (»Customization«) andererseits werden die Entwicklung der Marken im 21. Jahrhundert kennzeichnen.

Fazit Marken können im Sinne eines kognitiven Schemas als Bündel von produktbezogenen Vorstellungen, Assoziationen und Erwartungen gesehen werden. Sie haben einen Einfluss darauf, wie Informationen über die markierten Produkte wahrgenommen, interpretiert und abgespeichert werden. Vermittelt über die Beeinflussung der Informationsverarbeitung prägen sie Urteile und Verhalten. Konsumenten greifen v. a. unter 2 Bedingungen zu Markenprodukten, die schematisiert ihren Präferenzen entsprechen: 1. wenn sie wenig motiviert oder mit anderen Denkinhalten beschäftigt sind und 2. wenn sie die Komplexität der Informationen über Produktalternativen reduzieren müssen. 6

Wie Markenprodukte beurteilt werden und ob sie gekauft werden, hängt nicht nur von der Qualität der Produkte ab. Konsumenten können Marken auch nutzen, um ihr Selbst zu unterstreichen oder in Richtung eines erwünschten Ideals zu ergänzen. Die Beziehung zwischen Konsumenten und Marken kann unter bestimmten Umständen Züge einer gemeinschaftlichen Beziehung annehmen, die von einer rein ökonomischen Austauschbeziehung zu unterscheiden ist. In einer gemeinschaftlichen Beziehung erwarten Konsumenten mehr von einer Marke als eine Leistung für einen entsprechenden Preis. Sie reagieren dann mitunter empfindlich auf Inrechnungstellung von Zusatzleistungen.

125 7 · Literatur

Zur Steuerung der Markenidentität kann das Wissen über die Funktionen von Marken eingesetzt werden. Basierend auf psychologischen Modellen sind Entscheidungen darüber möglich, wie Produktmar-

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Kapitel 7 · Markenmanagement

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8 8 Kundenzufriedenheit und Kundenbindung Friedemann W. Nerdinger, Christina Neumann

8.1

Einführung

– 128

8.2

Definitionsansätze

– 128

8.2.1 Kundenzufriedenheit – 128 8.2.2 Kundenbindung – 130

8.3

Theoretische Ansätze

– 131

8.3.1 Entstehung von Kundenzufriedenheit – 131 8.3.2 Entstehung von Kundenbindung – 134

8.4

Messung von Kundenzufriedenheit und Kundenbindung

8.4.1 Messung der Kundenzufriedenheit – 136 8.4.2 Messung der Kundenbindung – 141

8.5

Zusammenhang zwischen Kundenzufriedenheit und Kundenbindung – 141 Literatur

– 144

K. Moser (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie DOI 10.1007/978-3-540-71637-2_8, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007

– 136

128

Kapitel 8 · Kundenzufriedenheit und Kundenbindung

8.1

Einführung

> Ein Kunde ist die jeweils wichtigste Person in dem Betrieb. Er ist nicht von uns abhängig, sondern wir von ihm. Er bedeutet keine Unterbrechung in unserer Arbeit, sondern ist ihr Inhalt. Er ist kein Außenseiter unseres Geschäfts, er ist ein Teil von ihm. Er ist niemand, mit dem man sich streitet. Denn niemand wird jemals einen Streit mit einem Kunden gewinnen. Ein Kunde ist eine Person, die uns ihre Wünsche mitteilt. Unsere Aufgabe ist es, diese zu seiner Zufriedenheit auszuführen. (Hans Heinrich Path im Kloster Eismar, ca. 12. Jahrhundert)

8

Der Kunde zählt zu den wichtigsten Bestandteilen des immateriellen Vermögens eines Unternehmens, sein Wert bestimmt sich v. a. durch den tatsächlichen Ertrag aus einer bestehenden oder zukünftigen Kundenbeziehung. Kunden verfügen darüber hinaus aber auch über verschiedene Potenziale, die von Unternehmen genutzt werden. Dazu gehört das Potenzial zum Verkaufserfolg, z. B. durch Wiederkäufe oder das sog. Cross-Buying, d. h. durch den Erwerb von zusätzlichen, von der Ursprungsleistung unabhängigen Leistungen eines anderen Geschäftsbereichs (vgl. Tomczak & Rudolf-Sipötz, 2003). Der Kunde kann aber auch durch Weiterempfehlung der Produkte oder Dienstleistungen die Gewinnung neuer Kunden beeinflussen, und er kann bei der Entwicklung neuer Produkte hilfreich sein (Tomczak & Rudolf-Sipötz, 2003). Der eminenten Bedeutung der Kunden stehen aber u. a. die Stagnation der Märkte und ein daraus resultierender zunehmender Verdrängungswettbewerb gegenüber. Diese Entwicklungen erschweren es, neue Kunden zu gewinnen – darin liegt ein Grund, warum das Konzept der 7 Kundenbindung immer wichtiger wird. Für eine verstärkte Bindung des Kunden an das Unternehmen sprechen aber auch die ständig steigenden Kosten der Neukundenakquisition im Vergleich zur Pflege bestehender Kunden (Meffert, 2005). Kundenbindung kann aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden, gewöhnlich ist der Blick aus der Perspektive des Anbieters gemeint. Dazu zählen alle Aktivitäten, die seitens des Leistungserbringers zur Intensivierung der Kundenbeziehung unternommen werden, wie z. B. der Aufbau von Kontaktstellen, die dem Kunden eine direkte Ansprache des Unternehmens erleichtern. Kundenbindung kann aber auch aus Sicht

des Kunden betrachtet werden. Diese nachfragerorientierte Perspektive bezieht sich beispielsweise auf Einstellungen des Kunden zur Geschäftsbeziehung (Diller, 1996). Das ist der Blickwinkel, den gewöhnlich die Wirtschaftspsychologie einnimmt und der auch den folgenden Ausführungen zugrunde liegt. Wie lässt sich Kundenbindung herstellen? Vielfach wird davon ausgegangen, dass Kundenbindung durch 7 Kundenzufriedenheit entsteht. Nicht zuletzt deshalb steht das Thema Kundenzufriedenheit im Fokus von Wissenschaft und Praxis. Die wissenschaftlichen Untersuchungen, die sich mit Kundenzufriedenheit beschäftigen, füllen mittlerweile ganze Bibliotheken – bis zum Jahr 1992 wurden bereits über 15.000 veröffentlichte Untersuchungen gezählt (vgl. Giering, 2000). In der Praxis wenden Unternehmen erhebliche Ressourcen auf, um die Zufriedenheit ihrer Kunden zu messen und möglichst zu steigern (Homburg & Bucerius, 2006). Ob allerdings Kundenzufriedenheit in jedem Fall zu Kundenbindung führt, ist umstritten. Manche Kunden wechseln den Anbieter, obwohl sie mit den Leistungen zufrieden sind; andere bleiben ihm treu, obwohl sie mit dessen Leistung unzufrieden sind (Stauss & Neuhaus, 2006). Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Kundenzufriedenheit und Kundenbindung wird im Folgenden genauer untersucht. Zu diesem Zweck werden zunächst die beiden Konstrukte genauer betrachtet, wobei die wichtigsten theoretischen Ansätze zu ihrer Erklärung ebenso dargestellt werden wie ausgewählte Messansätze. 8.2

Definitionsansätze

8.2.1 Kundenzufriedenheit Die Entwicklung von Kundenzufriedenheit kann auf verschiedene Weise erklärt werden. In der Wissenschaft hat sich das 7 Diskonfirmationsparadigma weitgehend durchgesetzt (auch als C/D-Paradigma = Confirmation/ Disconfirmation-Paradigma bezeichnet; vgl. Homburg & Stock-Homburg, 2006). Demnach entsteht Kundenzufriedenheit, wenn ein Kunde seine aktuellen Erfahrungen bei der Produktnutzung (Ist-Leistung) mit seinen Erwartungen vergleicht (Soll-Leistung). Entspricht die Ist-Leistung der Soll-Leistung, d. h. kommt es zur Bestätigung der Erwartungen (Konfirmation), führt das zu Zufriedenheit. Übertrifft die tatsächliche Leistung die

129 8.2 · Definitionsansätze

erwartete Leistung (positive Diskonfirmation), so entsteht besonders hohe Zufriedenheit. Unzufriedenheit resultiert dagegen, wenn die Ist-Leistung die Erwartungen deutlich nicht erfüllt (negative Diskonfirmation). Nach diesem Ansatz soll Zufriedenheit bei Konfirmation und bei positiver Diskonfirmation entstehen. Demgegenüber gehen andere Autoren davon aus, dass bei Bestätigung der Leistung lediglich Indifferenz entsteht, Zufriedenheit bildet sich demnach erst bei positiver Diskonfirmation (z. B. Hill, 1986). Weiterhin wird angenommen, dass die Grenze zwischen Zufriedenheit und Unzufriedenheit nicht durch einen Punktwert gekennzeichnet ist, sondern es sich hierbei um eine Toleranzzone handelt. Liegt der Vergleichswert von Ist- und Soll-Leistung innerhalb dieses Bereichs, so wird die Leistung als zufriedenstellend eingestuft. Bei einer sehr starken positiven Diskonfirmation sind die Kunden begeistert (Stauss, 1999; vgl. . Abb. 8.1). Bei der Ist-Leistung handelt es sich um das vom Kunden wahrgenommene Leistungsniveau. Eine objektiv gleiche Leistung kann von unterschiedlichen Kunden jeweils unterschiedlich wahrgenommen werden. Dieser subjektiv wahrgenommenen Ist-Leistung stehen als Vergleichsstandard die Erwartungen der Kunden gegenüber; sie stellen das Leistungsniveau dar, welches ein

Kunde fordert. Wichtige Quellen von Erwartungen sind die persönlichen Bedürfnisse des Kunden, seine bisherigen Erfahrungen, mündliche Empfehlungen durch Bekannte sowie Versprechungen des Unternehmens (Zeithaml, Parasuraman & Berry, 1992). Nach dem C/D-Paradigma ist Kundenzufriedenheit das Ergebnis eines kognitiven Vergleichs von wahrgenommener Ist- und Soll-Leistung. Zufriedenheit kann aber auch als Gefühl betrachtet werden; entsprechend wurde in der Forschung zur Kundenzufriedenheit die Bedeutung von Emotionen nachgewiesen (Wirtz & Bateson, 1999). Kundenzufriedenheit kann somit als Einstellung gegenüber einem Objekt definiert werden, die folgende Aspekte umfasst (Homburg, Giering & Hentschel, 1999): 4 die kognitive Komponente, also die Bildung einer Meinung über ein Objekt, z. B. über ein Produkt oder eine Dienstleistung, 4 die emotionale Komponente, d. h. die bei der Bewertung der jeweiligen Objekte auftretenden Gefühle. Der relative Einfluss der kognitiven und emotionalen Komponenten bei der Entstehung von Kundenzufrie-

Begeisterung

. Abb. 8.1. Das Diskonfirmationsparadigma (C/D-Paradigma ). (In Anlehnung an Homburg, Giering & Hentschel, 1999)

8

130

8

Kapitel 8 · Kundenzufriedenheit und Kundenbindung

denheit kann sich im Zeitverlauf verändern. In einer Studie von Homburg, Koschate und Hoyer (2006) stieg der Einfluss der kognitiven Komponente im Zeitverlauf an, während der Einfluss der emotionalen Komponente abnahm. Kundenzufriedenheit sollte daher als dynamisches Konstrukt betrachtet werden. Geht man von der Drei-Komponenten-Theorie der Einstellung aus (vgl. Nerdinger, 2003a), so müsste bei der Definition von Kundenzufriedenheit als Einstellung zusätzlich noch eine Verhaltensbereitschaft berücksichtigt werden. Gemeint ist damit die Absicht eines Kunden, Produkte oder Dienstleistungen wieder zu kaufen oder weiterzuempfehlen. Allerdings konzentriert sich die Messung von Kundenzufriedenheit auf die kognitive und emotionale Komponente (vgl. 7 Abschn. 8.4.1), daher wird die Verhaltensabsicht hier nicht als Definitionsbestandteil von Kundenzufriedenheit angesehen, sondern im Zusammenhang mit der Kundenbindung diskutiert (vgl. 7 Abschn. 8.2.2). Nach dem Modell des Diskonfirmationsparadigmas entsteht Kundenzufriedenheit aufgrund einer bestimmten Transaktion, d. h. aus einer einzigen Kauf- oder Nutzungserfahrung. Demgegenüber zeigt die Forschung, dass sich aufgrund einer einzelnen Transaktion gewöhnlich nur etwas über die Haltung gegenüber einem bestimmten Produkt oder einer bestimmten Dienstleistung aussagen lässt, das Zufriedenheitsurteil über alle bereits stattgefundenen Transaktionen hinweg – die sog. kumulative Zufriedenheit – dagegen aussagekräftiger in Bezug auf den Erfolg eines Unternehmens ist (Giering, 2000). Im Folgenden wird daher Kundenzufriedenheit als zeit-

lich überdauernde Einstellung verstanden, die sich im Verlauf mehrerer Transaktionen entwickelt. Definition Kundenzufriedenheit ist die kognitive und emotionale Bewertung der gesamten Erfahrungen mit einem bestimmten Anbieter und dessen Produkten bzw. Dienstleistungen (vgl. Homburg et al. 1999).

8.2.2 Kundenbindung Kundenbindung umfasst sowohl das bisherige Verhalten als auch die Verhaltensabsicht eines Kunden gegenüber einem Anbieter oder dessen Leistungen. Zum bisherigen Verhalten zählt das tatsächlich gezeigte Wiederkauf- und Weiterempfehlungsverhalten, die Verhaltensabsicht ist v. a. durch Wiederkauf-, Zusatzkauf- (Cross-Selling) sowie Weiterempfehlungsabsicht gekennzeichnet (Meyer & Oevermann, 1995; vgl. . Abb. 8.2). Aus der nachfragerorientierten Perspektive kann Kundenbindung verschiedene Ursachen haben (Meyer & Oevermann, 1995): 4 psychologischeFaktoren (z. B. die Zufriedenheit eines Kunden mit Produkten einer Marke; 7 Info-Box), 4 situative Faktoren (z. B. ob ein Produkt für den Konsumenten bequem zu erwerben ist), 4 rechtliche Faktoren (z. B. der Vertrag mit einem Fitnessstudio über eine bestimmte Mindestlaufzeit),

. Abb. 8.2. Das Konstrukt »Kundenbindung«. (In Anlehnung an Homburg & Faßnacht, 2001)

Wiederkauf

Weiterempfehlung

131 8.3 · Theoretische Ansätze

4

4

ökonomische Faktoren (z. B. ob die Kosten eines bestimmten Produkts deutlich geringer sind als bei vergleichbaren Konkurrenzprodukten), technologische Faktoren (z. B. wenn ein Unternehmen eine Software verwendet, die den Bedürfnissen des Kunden entgegenkommt). Info-Box

Kundenbindung – ein psychisches Konstrukt In Bezug auf Kundenbindung herrscht Uneinigkeit in der Begriffsbestimmung, so betrachten Weinberg und Terlutter (2005) Kundenbindung »als ein psychisches Konstrukt der Verbundenheit oder Verpflichtung einer Person gegenüber einer anderen Person oder einem Unternehmen … Kundenbindung kann auch ein Zustand der Gebundenheit sein, wobei dieser Zustand immer mit psychischen Konsequenzen einhergeht.« (Weinberg & Terlutter, 2005, S. 46) Verbundenheit wird hier als positives Gefühl verstanden, das durch die Zufriedenheit eines Kunden bestimmt wird. Stellen beispielsweise die Leistungen eines Friseurs einen Kunden zufrieden, so kann sich dieser der Person des Friseurs verbunden fühlen und in der Folge das Geschäft weiterempfehlen. Das Gefühl der Verpflichtung kann dagegen von einer Person sowohl positiv als auch negativ erlebt werden (Weinberg & Terlutter, 2005). Geht der Kunde z. B. schon über Jahre hinweg zum selben Friseur, so kann er sich aufgrund einer persönlichen Beziehung gegenüber dem Friseur verpflichtet fühlen. Fühlt er sich dem Friseur zudem verbunden, ist die Beziehung mit einem positiven Gefühl belegt. Ist die Person mittlerweile jedoch mit der Leistung des Friseurs unzufrieden, so kann die Verpflichtung auch negativ empfunden werden. Ursächlich ist dafür, dass Gebundenheit durch den Aufbau von Wechselbarrieren – z. B. durch vertragliche Regelungen – seitens des Anbieters entsteht, wodurch der Kunde in seiner Wahlfreiheit eingeschränkt wird (Bliemel & Eggert, 1998).

8.3

Theoretische Ansätze

8.3.1 Entstehung von Kundenzufriedenheit Das Diskonfirmationsparadigma (7 Abschn. 8.2.1) bildet das Grundmodell zur Erklärung der Entstehung von Kundenzufriedenheit. Eine Reihe von psychologischen Theorien liefert detaillierte Ansätze zur genaueren Erklärung einzelner Aspekte dieses Modells. Dazu zählt die Assimilations-Kontrast-Theorie, die erklärt, wie Vergleichsstandards (Soll-Leistung) oder wahrgenommene Leistungen (Ist-Leistung) nachträglich verändert werden. Mit der Attributionstheorie und der Zwei-FaktorenTheorie der Kundenzufriedenheit kann dagegen der Zusammenhang zwischen Erwartungserfüllung und dem Grad der Zufriedenheit erklärt werden (vgl. Homburg & Stock-Homburg, 2006). Assimilations-Kontrast-Theorie Die Assimilations-Kontrast-Theorie verbindet 2 eigenständige theoretische Ansätze, um die nachträgliche Veränderung der Ist- bzw. Soll-Leistung zu erklären. Die Assimilationstheorie geht aus von der Theorie kognitiver Dissonanz von Festinger (1957; 7 Abschn. 8.3.2), wonach Individuen ein Gleichgewicht ihres kognitiven Systems anstreben. Bezogen auf die Kundenzufriedenheit kann die Konfirmation der Erwartungen als Gleichgewicht angesehen werden. Dieser Zustand sollte demnach erstrebenswert sein. Liegt dagegen Diskonfirmation vor – egal ob in positiver oder negativer Richtung –, sind Individuen bestrebt, die Differenz zwischen Istund Soll-Leistung zu verkleinern. In diesem Fall passen sie entweder die Erwartungen an die wahrgenommene Leistung oder umgekehrt die Wahrnehmung an die Erwartungen an. Dieser Mechanismus wird als Assimilationseffekt bezeichnet (Anderson, 1973). Die Kontrasttheorie geht vom entgegengesetzten Effekt aus. Nehmen Individuen eine Differenz zwischen Erwartung und wahrgenommener Leistung wahr, so neigen sie dazu, diese Differenz zu vergrößern (Anderson, 1973). Bei Übererfüllung der Erwartungen durch die wahrgenommene Leistung wird die Differenz zur Erwartung im Sinne der Kontrasttheorie subjektiv vergrößert. Kunden werden daher zufriedener sein, als dies aufgrund der tatsächlichen Leistung zu erwarten wäre (Churchill & Surprenant, 1982). Umgekehrt werden sie besonders unzufrieden sein, wenn die Erwartung durch die Ist-Leistung nicht erfüllt wird. Dies wird als Kontrasteffekt bezeichnet.

8

132

8

Kapitel 8 · Kundenzufriedenheit und Kundenbindung

Die Assimilations-Kontrast-Theorie, in der beide Ansätze verbunden werden, geht davon aus, dass Individuen Beurteilungen in Abhängigkeit von einem Ankerreiz vornehmen (Hovland, Harvey & Sherif, 1957). Die Erwartung eines Konsumenten kann einen Ankerreiz bilden. Der subjektive Abstand zwischen der Erwartung (Ankerreiz) und der Wahrnehmung bestimmt, wie die wahrgenommene Leistung bewertet wird, d. h. ob der Assimilations- oder der Kontrasteffekt einsetzt. Weicht die wahrgenommene Leistung subjektiv nur relativ wenig von der Erwartung ab, kommt es zur Assimilation, d. h. die wahrgenommene Leistung wird näher an die erwartete Leistung gerückt. Liegt die wahrgenommene Leistung jedoch deutlich über oder unter den Erwartungen, setzt der Kontrasteffekt ein (Sherif & Hovland, 1961). Die Differenz zwischen Erwartung und Wahrnehmung wird in diesem Fall vergrößert. Wie stark darf die Abweichung maximal sein, bzw. wie gering muss sie mindestens sein, damit die jeweiligen Effekte einsetzen? Sherif und Hovland (1961) gehen davon aus, dass sich hierbei die folgenden Bereiche unterscheiden lassen: 4 Bereich der Akzeptanz: Liegt die Differenz in diesem Bereich, tritt der Assimilationseffekt ein, d. h. es erfolgt eine nachträgliche Anpassung der Erwartung bzw. der wahrgenommenen Leistung. 4 Bereich der Ablehnung: In diesem Bereich setzt der Kontrasteffekt ein, d. h. die Differenz zwischen Istund Soll-Leistung wird vergrößert. 4 Bereich der Neutralität: Hier zeigt sich keiner der beiden Effekte, die Erwartung bzw. die wahrgenommene Leistung werden nicht angepasst. Die persönliche Bedeutung des Beurteilungsobjekts ist entscheidend für das Ausmaß der Zone. Ist ein Beurteilungsobjekt für ein Individuum persönlich bedeutsam, so wird der Bereich der Ablehnung größer sein als der Bereich der Akzeptanz. Wenn umgekehrt ein Beurteilungsobjekt persönlich weniger bedeutsam ist, so wird der Bereich der Akzeptanz größer sein und der Ablehnungsbereich entsprechend geringer (zur empirischen Überprüfung im wirtschaftspsychologischen Kontext vgl. Olson & Dover, 1979). Attributionstheorie Die Attributionstheorie beschreibt, wie sich Menschen Ereignisse in ihrer Umwelt erklären, indem sie diesen Ursachen attribuieren, d. h. zuschreiben. Bezogen auf

das Entstehen von Kundenzufriedenheit kann die Attributionstheorie erklären, warum bei gleichen Konfirmationsniveaus unterschiedliche Grade der Zufriedenheit auftreten können (Homburg & Stock-Homburg, 2006). Ursachen für die Erklärung von Ereignissen können nach dem Ort der Entstehung, nach ihrer Kontrollierbarkeit und der zeitlichen Stabilität unterschieden werden (Folkes, 1984). In Bezug auf den Ort der Verursachung bestehen 2 Möglichkeiten, die als internale bzw. externale Attribution bezeichnet werden (Heider, 1958): 4 Internale Attribution: In diesem Fall werden Ereignisse durch Faktoren erklärt, die in der handelnden Person liegen. Beobachtet z. B. der Kunde eines Supermarktes, wie eine Kassiererin einen anderen Kunden unhöflich behandelt, so könnte er das gezeigte Verhalten auf ein Merkmal der Person – z. B. den Charakter der Kassiererin – zurückführen. 4 Externale Attribution: Bei dieser Form wird das Ereignis auf Faktoren der Umwelt zurückgeführt. Erklärt der Kunde das Verhalten der Kassiererin beispielsweise durch ihre starke Belastung aufgrund des hohen Kundenandrangs, dann wird das unpassende Verhalten auf eine in der Umwelt zu findende Ursache zurückgeführt. Der Ort der Verursachung hat große Auswirkungen auf die Zufriedenheit (vgl. zum Folgenden Folkes, 1984). Werden Erwartungen nicht erfüllt, entsteht höhere Unzufriedenheit, wenn der Kunde internal attribuiert, also die Ursache für die schwachen Leistungen beim Anbieter sieht und nicht Merkmale der Umwelt dafür verantwortlich macht. Kontrollierbarkeit bezieht sich darauf, ob ein Handelnder die Ursache beeinflussen konnte. Glaubt ein Konsument, der Anbieter konnte die Ursache für ein Ereignis, das seine Erwartungen nicht erfüllt, kontrollieren, so führt dies zu stärkerer Unzufriedenheit als im Falle wahrgenommener Nichtkontrollierbarkeit. Ist z. B. ein Kunde mit dem Produktangebot im Supermarkt unzufrieden und glaubt, dass es in der Macht des Personals liegt, das Produktangebot zu sichern, so wird er unzufrieden sein. Glaubt er dagegen, dass die Versorgung mit Produkten stark von unbeeinflussbaren Faktoren abhängt – z. B. der Logistik des Versorgers oder der Lage des Supermarktes –, dann wird die Unzufriedenheit deutlich geringer ausfallen. Stabilität ist die dritte Dimension, nach der sich Attributionen unterscheiden lassen. Ursachen können

133 8.3 · Theoretische Ansätze

zeitlich stabil oder variabel sein. Wird z. B. die Erwartung eines Kunden nicht erfüllt und sieht er diese Nichterfüllung als zeitlich stabil an, so wird die Unzufriedenheit größer sein als im umgekehrten Fall (Folkes, 1984). War der Kunde mit der Bedienung an der Fleischtheke unzufrieden und sieht die Bedingungen für die schlechte Bedienung als zeitlich stabil an – z. B. weil Fleischverkäufer nach seiner Meinung generell unfreundlich sind –, so wird er unzufriedener sein als bei einer zeitlich variablen Erklärung – z. B. es handelt sich um eine Aushilfskraft. Letzteres wird sich wieder ändern und lässt Hoffnung auf Besserung. Daher ist in diesem Fall die Unzufriedenheit geringer. Die wesentlichen Annahmen der Attributionstheorie konnte Bitner (1990) für den Dienstleistungsbereich empirisch bestätigen. Zwei-Faktoren-Theorie Die Zwei-Faktoren-Theorie, die in der Arbeitszufriedenheitsforschung entwickelt wurde (Herzberg, Mausner & Snyderman, 1959), erklärt die Entstehung unterschiedlicher Zufriedenheitsniveaus in Abhängigkeit von der Art der Leistung. Nach dieser Theorie sind Arbeitszufriedenheit und Arbeitsunzufriedenheit 2 voneinander unabhängige Dimensionen, d. h. sie können entgegen der weit verbreiteten Annahme nicht als gegensätzliche Pole einer Dimension betrachtet werden (. Abb. 8.3).

Zufriedenheit und Unzufriedenheit werden jeweils durch unterschiedliche Faktoren ausgelöst. Die sog. Hygienefaktoren sind für Unzufriedenheit verantwortlich; werden sie nicht erfüllt, sind Mitarbeiter unzufrieden. Sind diese Faktoren erfüllt, so entsteht nicht Zufriedenheit, sondern lediglich ein neutraler Zustand, der als Nichtunzufriedenheit bezeichnet wird. Hygienefaktoren sind Faktoren, die das Arbeitsumfeld betreffen, wie z. B. die physischen Arbeitsbedingungen oder die Beziehung zu den Kollegen. Zufriedenheit entsteht durch die sog. Motivatoren; im Arbeitsleben werden damit Aspekte der Arbeitstätigkeit wie beispielsweise Lob, Aufstieg und Arbeitsinhalte bezeichnet. Werden die Erwartungen an Motivatoren nicht erfüllt, erleben die Mitarbeiter einen neutralen Zustand der Nichtzufriedenheit. Das nach seinem Entwickler benannte Kano-Modell der Kundenzufriedenheit geht von der Zwei-FaktorenTheorie aus und versucht, die zufriedenheitsbeeinflussenden Faktoren im Konsumbereich zu ermitteln. Diese Faktoren werden nach der Stärke ihres Einflusses auf die Kundenzufriedenheit klassifiziert. Das Modell unterscheidet 3 Arten von Faktoren, die – ähnlich den Hygienefaktoren und Motivatoren – unterschiedliche Zufriedenheitsniveaus verursachen (Bailom, Hinterhuber, Matzler & Sauerwein, 1996; . Abb. 8.4): 4 Basisfaktoren: Kunden setzen diese Faktoren als selbstverständlich voraus, so dass bei Nichterfüllung Unzufriedenheit entsteht und bei Erfüllung ein neutraler Zustand der Nichtunzufriedenheit. Basisfaktoren entsprechen den Hygienefaktoren im Modell von Herzberg. 4 Leistungsfaktoren: Kunden erwarten diese Faktoren. Es besteht ein linearer Zusammenhang zwischen dem Konfirmationsniveau und der Zufriedenheit. 4 Begeisterungsfaktoren: Kunden setzen diese Faktoren nicht als selbstverständlich voraus. Bei positiver Diskonfirmation kann ein starkes Zufriedenheitsniveau erreicht werden bzw. bei Nichterreichung nur ein Zustand der Nichtzufriedenheit. Begeisterungsfaktoren entsprechen den Motivatoren im Modell der Arbeitszufriedenheit. Das Kano-Modell ist v. a. für die Messung von Kundenzufriedenheit wichtig geworden und wird dort wieder aufgegriffen (7 Abschn. 8.4.1).

. Abb. 8.3. Sichtweisen von Zufriedenheit und Unzufriedenheit. (In Anlehnung an Maddox, 1979)

8

134

Kapitel 8 · Kundenzufriedenheit und Kundenbindung

. Abb. 8.4. Das Kano-Modell der Kundenzufriedenheit. (In Anlehnung an Bailom et al., 1996)

8

8.3.2 Entstehung von Kundenbindung Wie bereits festgestellt (7 Abschn. 8.2.2), können verschiedene Ursachen zu Kundenbindung führen. Die psychologischen Bindungsursachen sind dabei am wichtigsten, da sie an den anderen Dimensionen implizit beteiligt sind (Weinberg & Terlutter, 2005). Nachfolgend wird auf ausgewählte verhaltenswissenschaftliche Theorien eingegangen, die das Entstehen von Kundenbindung erklären können (zu weiteren Erklärungsansätzen vgl. u. a. Braunstein, Huber & Herrmann, 2005). Kognitive Dissonanz Nach der Theorie der kognitiven Dissonanz (Festinger, 1957; vgl. zum Folgenden Aronson, Wilson & Akert, 2004) streben Menschen ein Gleichgewicht ihres kognitiven Systems an. Dieses System setzt sich aus einzelnen Kognitionen zusammen, d. h. aus Meinungen oder Wissenseinheiten. Kognitionen können in relevanter und irrelevanter Beziehung zueinander stehen. Ist die Beziehung relevant, so können sie konsonant, d. h. harmonisch, oder aber dissonant sein, d. h. sie passen nicht

zusammen. Kognitive Dissonanz löst eine unangenehme Spannung aus, die danach drängt, die Dissonanz zu reduzieren. Die Motivation zur Beseitigung von Dissonanz hängt von ihrer erlebten Stärke ab, diese ergibt sich aus dem Anteil der konsonanten bzw. dissonanten Elemente sowie deren Wichtigkeit. Ist der relative Anteil der dissonanten Elemente in Bezug auf deren Wichtigkeit größer als der Anteil der konsonanten Elemente, so werden Maßnahmen ergriffen, die kognitive Dissonanz zu reduzieren. Dazu bestehen 3 grundlegende Möglichkeiten: 4 Hinzufügen neuer (konsonanter) Kognitionen, 4 Veränderung dissonanter Kognitionen, 4 Veränderung des Verhaltens. Kognitive Dissonanz kann nach dem Kauf eines Produkts oder der Inanspruchnahme einer Dienstleistung auftreten (Weinberg, 1990). War die Entscheidung für den Kauf von großer subjektiver Bedeutung und standen ähnlich attraktive Alternativen zur Verfügung, kann es leicht zu einem Nachentscheidungskonflikt kommen. Ein solcher Konflikt liegt vor, wenn z. B. ein Kunde nach

135 8.3 · Theoretische Ansätze

dem Besuch eines Friseurs über die Qualität des Ergebnisses unsicher ist. In diesem Fall wird er versuchen, die damit verbundene Dissonanz zu verringern, z. B. indem er dissonante Informationen vermeidet – dazu zählen z. B. Informationen über Qualität und Preis anderer Friseure – und stattdessen nach konsonanten Informationen sucht, die seine Entscheidung rechtfertigen (z. B. positive Äußerungen des Freundeskreises über diesen Friseur). Diese Tendenz, nachträglich seine (Kauf-)Entscheidungen zu rechtfertigen, bestärkt demnach das gewählte Verhalten und unterbindet gleichzeitig die Suche nach Alternativen. Diese beiden Mechanismen der Reduktion kognitiver Dissonanz führen demnach zu verstärkter Bindung des Kunden an einen Anbieter. Wahrgenommenes Risiko Das Verhalten der Konsumenten ist für sie gewöhnlich mit Risiken verbunden, da ihre Handlungen Konsequenzen nach sich ziehen, die unangenehm sein können und sich vorab nur schwer abschätzen lassen (Bauer, 1960). Bei Kaufsituationen können mehrere Risikoarten unterschieden werden (Kuß & Diller, 2001): 4 Funktionale Risiken beziehen sich auf die erwarteten Eigenschaften von gekauften Gütern, wenn sich ein Konsument beispielsweise nicht sicher ist, ob ein gekauftes Kleidungsstück auch wie gewünscht warm hält. 4 Das finanzielle Risiko stellt die Befürchtung eines Konsumenten dar, einen unangemessenen Preis zu zahlen oder die finanzielle Belastung nicht tragen zu können. 4 Ein Konsument sieht sich einem physischen Risiko gegenüber, wenn er Gesundheitsschäden befürchtet, wie z. B. Haltungsschäden bei der Anschaffung eines Computers. 4 Psychologische Risiken kennzeichnen die mangelnde Identifikation mit einem Gut, z. B. wenn sich ein Konsument nicht sicher ist, ob er chemische Haushaltsreiniger überhaupt benutzen soll, weil diese schädlich für die Umwelt sein könnten. Dies wäre dann ggf. nicht mit den eigenen Wertvorstellungen zu vereinbaren. 4 Soziale Risiken spiegeln die Befürchtung wider, im sozialen Umfeld Ansehen oder den Status verlieren zu können (z. B. fragt sich ein Konsument beim Kauf eines Autos, ob die Marke in seinem Freundes- und Bekanntenkreis anerkannt ist oder evtl. Spott hervorrufen könnte).

Ob das wahrgenommene Risiko verhaltenswirksam wird, hängt von der individuellen Toleranzschwelle eines Konsumenten ab. Überschreitet das wahrgenommene Risiko diese Toleranzschwelle, sind Konsumenten bestrebt, das Risiko zu reduzieren (Kroeber-Riel & Weinberg, 2003). Eine Möglichkeit zur Reduktion solcher Risiken bildet die Kundenbindung: Kauft ein Kunde wiederholt z. B. ein Produkt einer bestimmten Marke, so sinkt mit der Zahl der positiven Erfahrungen das Risiko, mit einem Kauf unzufrieden zu sein (Weinberg, 1990). Lerntheoretische Erklärungen Kundenbindung kann auch auf Lernprozesse zurückgeführt werden, wobei die operante Konditionierung sowie das Lernen am Modell relevant sind (Homburg & Stock-Homburg, 2006). Die Theorie der operanten Konditionierung geht von folgendem Zusammenhang aus: Folgt auf ein Verhalten eine positive Konsequenz im Sinne einer Belohnung, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das Verhalten in einer ähnlichen Situation wieder gezeigt wird. Belohnung kann zum einen die positive Konsequenz eines Verhaltens sein oder aber der Entzug einer Bestrafung. Folgt dagegen eine negative Konsequenz im Sinne einer Bestrafung, wird das Verhalten in Zukunft in vergleichbaren Situationen seltener gezeigt. Bestrafung kann sowohl die Darbietung einer negativen Konsequenz nach dem gezeigten Verhalten, als auch die Wegnahme einer Belohnung sein (vgl. Nerdinger, 2003b). Kundenbindung entsteht demnach durch Konsequenzen, die auf ein Verhalten des Kunden folgen – z. B. auf den Kauf einer Ware. Das Verhalten eines Kunden kann durch Zufriedenheit mit der Ware belohnt oder entsprechend durch Unzufriedenheit bestraft werden. Eine Belohnung wird das Verhalten verstärken: Erfüllt ein Produkt oder eine Dienstleistung die Ansprüche eines Kunden, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er das gleiche Produkt wieder kauft. Eine Bestrafung im Sinne von Unzufriedenheit wird dazu führen, dass er das Produkt nicht wieder kauft (Hoyer & MacInnis, 2004). Damit kann die Theorie des operanten Konditionierens Kundenbindung im Sinne einer Folge der erlebten Zufriedenheit erklären. Nach der Theorie des Lernens am Modell kann durch die Beobachtung von Modellen neues Verhalten erlernt werden: Wird beobachtet, dass eine Modellperson für ein bestimmtes Verhalten belohnt wird, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die beobachtende Person das

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136

Kapitel 8 · Kundenzufriedenheit und Kundenbindung

Verhalten imitiert. Dazu muss u. a. das Modell der beobachtenden Person in wichtigen Merkmalen ähnlich sein. Nach dieser Theorie kann Kundenbindung unterschiedlich erklärt werden (Homburg & Stock-Homburg, 2006): 4 Lernen durch Imitation: Ein Kunde zeigt sich gegenüber einem Anbieter loyal, da eine Modellperson sich ebenfalls loyal zu diesem Anbieter verhält. 4 Lernen aus den Konsequenzen des Verhaltens anderer: Ein Modell ist mit einem Anbieter sehr zufrieden, verhält sich loyal und kann so Qualitätsrisiken anderer Anbieter ausschließen. Der Kunde wird das gleiche Verhalten zeigen, da er sich die gleichen positiven Konsequenzen erhofft.

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Die dargestellten Theorien der Kundenbindung und Kundenzufriedenheit ergänzen sich bei der Erklärung dieser Konzepte; in Abhängigkeit von der Fragestellung können damit unterschiedliche Probleme untersucht werden. Zu diesem Zweck müssen aber die Konzepte gemessen werden.

8.4

Messung von Kundenzufriedenheit und Kundenbindung

8.4.1 Messung der Kundenzufriedenheit Die Vielzahl von Methoden zur Messung der Kundenzufriedenheit lässt sich nach verschiedenen Kriterien systematisieren. Häufig wird nach der Art der Messung – objektiv oder subjektiv – und nach der Orientierung des Messinhalts unterschieden (vgl. Bruhn, 2006). Dadurch entsteht folgende Systematisierung (vgl. . Abb. 8.5): 4 Art der Messung: Objektive Messmethoden erfassen die Kundenzufriedenheit durch beobachtbare Größen, die nicht von der subjektiven Wahrnehmung des Konsumenten abhängen wie z. B. Umsatz und Marktanteil. Subjektive Verfahren legen die Wahrnehmung der Kunden zu Grunde. 4 Orientierung des Messinhalts: Ereignisorientierte Verfahren betrachten die Zufriedenheit mit einem speziellen Kontaktereignis, z. B. ein Telefonat. Merkmalsorientierte Verfahren beziehen sich auf Produkt-, Service- oder Interaktionsmerkmale, die der Kunde beurteilt. Problemorientierte Verfahren versuchen die zufriedenheitsrelevanten Schwierigkeiten zu identifizieren, wie z.B die Auswertung von Beschwerden (Bruhn, 2006). Im Folgenden werden ausgewählte Verfahren zur subjektiven Messung der Kundenzufriedenheit erläutert.

SERVQUAL Beschwerde- und Lobanalyse

. Abb. 8.5. Systematisierung der Messansätze von Kundenzufriedenheit. (In Anlehnung an Bruhn, 2006)

137 8.4 · Messung von Kundenzufriedenheit und Kundenbindung

Merkmalsorientierte Verfahren Service Quality: SERVQUAL

Der Service-Quality-Fragebogen – abgekürzt: SERVQUAL – von Parasuraman, Zeithaml und Berry (1985) wurde zur Messung der Dienstleistungsqualität entwickelt. Die Forscher betrachten Dienstleistungsqualität als eine subjektive Größe, d. h. was Kunden als Qualität erleben, ist die Qualität. Ähnlich wie bei der Kundenzufriedenheit wird die Dienstleistungsqualität auf einen Vergleich von Erwartungen und Leistungen zurückgeführt; die daraus resultierende Erwartungs-Wahrnehmungs-Lücke definiert die erlebte Qualität. In diesem Vorgehen wird die Nähe der Dienstleistungsqualität zum Konstrukt der Kundenzufriedenheit ersichtlich (Stauss, 1999), daher kann die Messung von Serviceoder Dienstleistungsqualität als ein spezieller Fall der Zufriedenheitsmessung betrachtet werden. Die theoretische Grundlage des SERVQUAL-Messansatzes bildet das Lückenmodell der Servicequalität (englisch: GAP-Model; vgl. Zeithaml, Parasuraman & Berry, 1992). Dieses Modell wurde auf der Basis einer explorativen Studie entwickelt, an der Unternehmen aus 4 Dienstleistungsbranchen teilnahmen, wobei Vertreter der Unternehmen sowie deren Kunden befragt wurden. Den Anbietern wurden verschiedene Fragen zur Servicequalität gestellt, z. B. zum Verständnis von Servicequalität aus Kundenperspektive, zu Verbesserungsmaßnahmen der Servicequalität und Problemen beim Erbringen hoher Servicequalität. Die Kunden wurden zu ihren Erwartungen an die Dienstleistungen befragt. Aus dem Vergleich der Äußerungen ließen sich Lücken identifizieren, d. h. Konfliktbereiche, die durch unterschiedliche Vorstellungen von Servicequalität zwischen Kunden und Dienstleistern entstehen können. Folgende Lücken können die vom Kunden wahrgenommene Dienstleistungsqualität beeinflussen (Zeithaml et al., 1992, S. 51ff.): 4 Lücke 1: Falsche Vorstellungen des Managements von Kundenerwartungen 4 Lücke 2: Fehlende Normen zur Erfüllung der Kundenwünsche (es genügt nicht, die Erwartungen zu kennen, sondern es müssen auch Leistungsnormen für die Mitarbeiter existieren) 4 Lücke 3: Wenn die Leistung nicht den Normen entspricht 4 Lücke 4: Wenn der Service nicht hält, was die Firma verspricht (diese Lücke entsteht aufgrund übertriebener Werbeversprechen)

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Lücke 5: Erwarteter und erlebter Service seitens des Kunden unterscheiden sich. Diese Lücke umfasst alle vorhergehenden Lücken; um die Lücke 5 zu schließen, müssen die Lücken 1–4 geschlossen werden.

Mit dem SERVQUAL-Fragebogen wird auf der Grundlage der Lücke 5 die Diskrepanz zwischen erwarteter und wahrgenommener Leistung aus Kundensicht erfasst. Zur Operationalisierung des Modells wurden 22 Items entwickelt, die 5 Dimensionen der Dienstleistungsqualität messen (7 Übersicht). Zu jedem Item werden sowohl die Erwartung als auch die Wahrnehmung der tatsächlichen Leistung erfragt; die Differenz der Aussagen bestimmt das Ausmaß der Zufriedenheit. In der 7 Übersicht sind die 5 Qualitätsdimensionen sowie Beispiele der Items mit den Soll- und Ist-Fragen dargestellt. Die Fragen beziehen sich auf Firmen aus der Servicebranche bzw. auf eine bestimmte Firma. Den Fragen sind Zahlen von 1 bis 7 zuzuordnen, wobei 1 für »absolut falsch« und 7 für »absolut richtig« steht (Parasuraman et al., 1985).

Die SERQUAL-Dimensionen und Beispielfragen für die Soll-Ist-Messung (in Anlehnung an Zeithaml et al., 1992, S. 202ff.) Dimension 1: Materielles a) Soll-Frage: Zu hervorragenden Unternehmen der Dienstleistungsbranche … gehören modern aussehende Betriebs-/Geschäftsausrüstungen. b) Ist-Frage: Firma X hat modern aussehende Betriebs-/Geschäftsausrüstungen. Dimension 2: Zuverlässigkeit a) Soll-Frage: Wenn hervorragende Firmen der Branche … versprechen, etwas zu einem bestimmten Termin zu erledigen, wird der Termin eingehalten. b) Ist-Frage: Wenn Firma X verspricht, etwas zu einem bestimmten Termin zu erledigen, hält sie den Termin ein. Dimension 3: Entgegenkommen a) Soll-Frage: Arbeitnehmer hervorragender Firmen der Branche … werden Kunden prompt bedienen. 6

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Kapitel 8 · Kundenzufriedenheit und Kundenbindung

b) Ist-Frage: Mitarbeiter der Firma X bedienen Sie prompt. Dimension 4: Souveränität a) Soll-Frage: Arbeitnehmer hervorragender Firmen der Branche … sind stets gleich bleibend höflich zu den Kunden. b) Ist-Frage: Mitarbeiter der Firma X sind stets gleich bleibend höflich zu Ihnen. Dimension 5: Einfühlung a) Soll-Frage: Hervorragende Unternehmen der Branche … widmen jedem ihrer Kunden individuelle Aufmerksamkeit. b) Ist-Frage: Die Firma X widmet Ihnen individuelle Aufmerksamkeit.

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Zwar kann der vorgenommene Soll-Ist-Vergleich hilfreich bei der Analyse von Schwachstellen sein, das methodische Vorgehen wurde aber auch stark kritisiert. So hat es sich als nicht sinnvoll erwiesen, mit einem universellen Fragebogen alle Dienstleistungen zu untersuchen, vielmehr müssen jeweils die spezifischen Besonderheiten einer konkreten Dienstleistung berücksichtigt werden. Problematisch ist auch, dass sich die definierten Dimensionen und Items in weiteren Studien nur zum Teil replizieren ließen (Groß-Engelmann, 1999). Außerdem finden sich bisher kaum empirische Belege für die Relevanz einer separaten Messung von Wahrnehmung und Erwartung, vielmehr bildet die Messung der aktuellen Ausprägung einer Leistung ohne die separate Erfassung der Erwartungen die Wahrnehmung der Servicequalität aus Kundensicht am besten ab. Diesen Kritikpunkt haben Cronin und Taylor (1992) aufgegriffen und einen Fragebogen zur Messung der Dienstleistungsqualität entwickelt – den sog. SERVPERF (für »service performance«) ‒, der ausschließlich die tatsächliche Leistungsbeurteilung erfasst. Dieser Fragebogen hat sich allerdings in der Praxis kaum durchgesetzt, d. h. trotz der vielfältigen Kritik ist SERVQUAL immer noch eines der am häufigsten eingesetzten Messinstrumente zur Erfassung der Kundenzufriedenheit (Coulthard, 2004). Messung von Merkmalswirkungen

Im Kano-Modell der Kundenzufriedenheit (7 Abschn. 8.3.1) wird zwischen Basis-, Leistungs- und Begeiste-

rungsfaktoren unterschieden. Wie kann man diese Faktoren ermitteln? Zu diesem Zweck wurde ein spezifisches Verfahren entwickelt, das von der explorativen Erhebung von kundenspezifischen Produktanforderungen ausgeht (vgl. zum Folgenden Bailom et al., 1996). Ziel ist dabei eine tiefgehende Analyse der »echten« Kundenprobleme und Bedürfnisse (im Gegensatz zur bloßen Registrierung der geäußerten Wünsche der Kunden). Die so identifizierten Produktanforderungen werden anschließend nach der Stärke ihres Einflusses auf die Zufriedenheit der Kunden eingeordnet, d. h. danach, ob es sich um Basis-, Leistungs- oder Begeisterungsfaktoren handelt. Dies geschieht mithilfe eines Fragebogens, in dem pro Produktanforderung 2 Fragen gestellt werden, eine funktionale und eine dysfunktionale Frage. Die funktionale Frage erfasst die Reaktion des Kunden, wenn das jeweilige Leistungsmerkmal vorhanden ist. Die dysfunktionale Frage bezieht sich auf die Reaktion des Kunden, wenn das Merkmal nicht vorhanden ist (7 Beispiel, in Anlehnung an Bailom et al., 1996). Zusätzlich zu den funktionalen und dysfunktionalen Fragen wird gewöhnlich pro Produkteigenschaft die Beurteilung des derzeitigen Produkts hinsichtlich dieses Merkmals sowie die subjektive Wichtigkeit für den Kunden erfragt. Bei der Auswertung der Daten werden zunächst die Antworten in die Kano-Auswertungstabelle (. Abb. 8.6) eingetragen. So lässt sich das jeweilige Leistungsmerkmal als Basis-, Leistungs- oder Begeisterungsmerkmal identifizieren. Beispiel

Funktionale Frage: Wenn Sie die Kassiererin im Supermarkt begrüßt, wie denken Sie darüber? 1. Das würde mich sehr freuen 2. Das setze ich voraus 3. Das ist mir egal 4. Das könnte ich evtl. in Kauf nehmen 5. Das würde mich sehr stören Dysfunktionale Frage: Wenn Sie die Kassiererin im Supermarkt nicht begrüßt, wie denken Sie darüber? 1. Das würde mich sehr freuen 2. Das setze ich voraus 3. Das ist mir egal 4. Das könnte ich evtl. in Kauf nehmen 5. Das würde mich sehr stören

139 8.4 · Messung von Kundenzufriedenheit und Kundenbindung

. Abb. 8.6. Kano-Auswertungstabelle. (Nach Bailom et al., 1996)

Neben den 3 genannten Faktoren wird auch nach Faktoren unterschieden, denen gegenüber der Kunde indifferent ist, d. h. es ist ihm egal, ob die jeweilige Eigenschaft vorliegt oder nicht. Für diese Faktoren wäre er nicht bereit, Geld auszugeben. In das Feld »Q« fällt ein Leistungsmerkmal, wenn ein Ergebnis als fraglich eingestuft wird, z. B. wenn sowohl bei der funktionalen als auch bei der dysfunktionalen Frage »Würde mich sehr freuen« angegeben wird. Produkteigenschaften, die in das Feld »R« eingeordnet werden, sind vom Kunden nicht gewollt. Anschließend werden die Ergebnisse nach Häufigkeiten zusammengefasst, so dass eine Übersicht entsteht, wie häufig die einzelnen Produkteigenschaften in die jeweilige Faktorkategorie eingestuft wurden. Die KanoMethode ermöglicht Aussagen darüber, ob die Erfüllung einer Produktanforderung die Kundenzufriedenheit steigern kann oder ob damit nur Unzufriedenheit vorgebeugt wird. Je nach Ziel der Befragung ist eine unterschiedliche Tiefe in der Auswertung erforderlich (zum detaillierten Vorgehen vgl. Bailom et al., 1996). Zwar konnten erste Untersuchungen die Reliabilität und Validität des Verfahrens belegen (Sauerwein, 2000), problematisch ist aber insbesondere der hohe Befragungsaufwand, da zu jedem Leistungsmerkmal mindestens

3 Fragen zu stellen sind. Der Fragebogen wird daher sehr lang und die Befragung kostenintensiv. Zudem sind dysfunktionale Fragen z. T. nicht nachvollziehbar, da Kunden das Fehlen einer erwünschten Eigenschaft normalerweise nicht positiv stimmt (Groß-Engelmann, 1999). Ereignisorientierte Verfahren: Methode der kritischen Ereignisse Die Methode der kritischen Ereignisse geht auf Flanagan (1954) zurück, der sie ursprünglich für die Analyse von Arbeit entwickelt hat. Mit dieser Methode werden Informationen über Ereignisse erhoben, die für den beruflichen Erfolg positiv oder negativ sind. Unter einem Ereignis ist beobachtbares menschliches Verhalten zu verstehen, das in bestimmten Situationen gezeigt wird und Rückschlüsse bzw. Vorhersagen auf das künftige Verhalten der Person zulässt. Kritisch ist ein Ereignis, wenn dieses Verhalten Einfluss auf das Ziel der untersuchten Aktivität hat – wenn z. B. in einem Verkaufsgespräch die Unfreundlichkeit des Verkäufers dazu führt, dass der Kunde nichts kauft. Ziel ist es, effektive bzw. ineffektive Verhaltensweisen möglichst umfassend zu identifizieren und konkrete Beispiele hierfür zu sammeln. Flanagan (1954) liefert keine festen Regeln, nach denen die Methode durchzuführen ist, sondern flexible

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Kapitel 8 · Kundenzufriedenheit und Kundenbindung

Info-Box

Kritische Ereignisse in der Begegnung zwischen Mitarbeiter und Kunde

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Bitner et al. (1990) haben Kunden von Fluggesellschaften, Hotels und Restaurants mit der Methode der kritischen Ereignisse befragt. Die Kunden wurden gefragt »Denken Sie an eine Begegnung mit einem Mitarbeiter einer Fluggesellschaft/eines Hotels/eines Restaurants, die Sie besonders zufrieden (unzufrieden) gestellt hat. Erzählen Sie mir bitte genau, was dabei passiert ist.« Rund 700 Ereignisse wurden gesammelt, jeweils ca. die Hälfte zufrieden stellende sowie nicht zufrieden stellende. Die Ereignisse wurden anschließend nach 3 Gruppen geordnet: 4 Reaktionen der Mitarbeiter auf Fehler, z. B. »Das Essen im Restaurant wurde erst nach sehr langer Zeit serviert, aber der Kellner entschuldigte sich und schenkte zum Abschluss eine Flasche Wein.« 4 Reaktionen der Mitarbeiter auf Wünsche und Bedürfnisse der Kunden, z. B. »Das Hotelzimmer war sehr laut, doch der Mitarbeiter an der Rezeption wollte mir kein anderes Zimmer geben.« 4 Spontane Reaktionen der Mitarbeiter, z. B. »Als die Stewardess merkte, dass ich stark hustete, brachte sie mir ein Glas Wasser.« Die identifizierten Faktoren wirken in unterschiedlichem Maße auf die Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit der Kunden ein. Den größten Einfluss auf die Unzufriedenheit der Kunden hat die Reaktion der Servicemitarbeiter auf Fehler. Reagieren Mitarbeiter jedoch positiv auf Fehler, so können Kunden sogar zufrieden gestellt werden, obwohl ursprünglich ein Fehler vorlag. Die Reaktion der Mitarbeiter auf Wünsche und Bedürfnisse der Kunden beeinflusst in erster Linie die Zufriedenheit der Kunden. Durch spontane Handlungen der Mitarbeiter können Kunden begeistert werden, da keine Erwartungen diesbezüglich bestehen. Widersprechen spontane Handlungen jedoch den Wünschen und Bedürfnissen der Kunden, können sie auch hohe Unzufriedenheit auslösen.

Richtlinien, die an jede Situation angepasst werden müssen. Methodische Mindestanforderungen sind jedoch zu beachten (Kaiser, 2005, S. 158): 4 Die von den Befragten geschilderten kritischen Ereignisse müssen sich auf erlebtes Verhalten beziehen. 4 Die befragte Person muss unmittelbar in das Ereignis involviert sein. 4 Die wesentlichen Bestimmungsgrößen der kritischen Ereignisse müssen bei der Schilderung des Erlebnisprozesses enthalten sein. 4 Die kritischen Ereignisse müssen begründet sein, d. h es muss klar werden, warum ein Ereignis als kritisch erachtet wird. Bitner, Booms und Tetreault (1990) haben das Verfahren auf den Bereich der Kundenzufriedenheit angewendet (7 Info-Box). Die mit der Methode der kritischen Ereignisse identifizierten Faktoren können als Basis für konkrete Handlungsempfehlungen einer kundenorientierten Unternehmensführung angesehen werden (vgl. Nerdinger, 2003a). Sie können z. B. Ausgangspunkt für die Entwicklung von firmenspezifischen Kundenzufriedenheitsmessungen sein oder wichtige Hinweise für die Schulung von Mitarbeitern liefern. Allerdings erweist sich die Anwendung dieser Methode als sehr aufwändig, zudem sind die Reliabilität und die Validität der Daten umstritten. Problematisch ist auch, dass der Forscher häufig bei der Auswertung nicht eindeutig interpretierbare Daten subjektiv bewerten muss, z. B. bei der Zuordnung der Ereignisse zu Kategorien. Fraglich ist zudem, ob die vom Kunden genannten Ereignisse wirklich ihre Zufriedenheit beeinflusst haben. So werden jüngere oder gut zur Stimmung passende Ereignisse besser erinnert, wogegen man sich an andere Ereignisse, die möglicherweise für das Zufriedenheitsempfinden bedeutsamer sind, nicht erinnert (Kaiser, 2005). Durch die Methode der kritischen Ereignisse werden nur extreme Ereignisse erfasst, eine Betrachtung von Prozessen findet gewöhnlich nicht statt. Dieser Kritikpunkt ist in der Sequentiellen Ereignismethode berücksichtigt (Stauss & Weinlich, 1996). Das Verfahren, das speziell für die Anwendung im Dienstleistungsbereich entwickelt wurde, berücksichtigt sämtliche Kontaktpunkte zwischen Anbieter und Kunde. Damit werden im Zeitablauf positive und negative Ereignisse in Bezug auf die vom Kunden wahrgenommene Dienstleistungsqualität ermittelt.

141 8.5 · Zusammenhang zwischen Kundenzufriedenheit und Kundenbindung

Problemorientierte Verfahren: Beschwerde- und Lobanalyse Bei Beschwerden äußert der Kunde seine Unzufriedenheit bzw. bei Lob seine besondere Zufriedenheit mit Vorfällen, die die Zweckmäßigkeit und/oder Güte der erlebten Leistung hervorheben bzw. in Frage stellen (Hentschel, 1992). Da diese Form der Kommunikation vom Kunden ausgeht, ist keine spezielle Methode zur Erhebung von Beschwerde und Lob angezeigt. Empfehlenswert sind aber unternehmerische Maßnahmen, die den Kunden die Kommunikation erleichtern, z. B. kostenlose Beschwerdehotlines (Stauss, 1999). Bei der Auswertung der Daten sind verschiedene Analysephasen zu durchlaufen, wie die Selektion geeigneter, d. h. aussagekräftiger Kundenmeldungen, die Bildung von Problemkategorien, die Zuordnung der Beschwerden bzw. der Anerkennungen zu diesen Kategorien sowie die Bestimmung der Häufigkeiten und die Berichterstattung. Da Beschwerden und Lob kundeninitiiert erfolgen, sind die damit gewonnenen Informationen von hoher Relevanz und Aktualität. Zudem ist die Beschwerde- und Lobanalyse eine kostengünstige Methode. Allerdings geben die Informationen nur Ausschnitte der Realität wieder: So sind die sich beschwerenden bzw. lobenden Kunden nicht repräsentativ für die anderen Kunden (Stauss & Hentschel, 1990). Empirisch konnte z. B. ein hoher Anteil von »unvoiced complaints« nachgewiesen werden, d. h. obwohl die Kunden einen Grund gehabt hätten, beschwerten sie sich nicht, u. a. wegen des als zu hoch eingeschätzten Beschwerdeaufwands (Meffert & Bruhn, 1981). 8.4.2 Messung der Kundenbindung Die Entwicklung von Methoden zur Messung der Kundenbindung wurde bislang sträflich vernachlässigt, daher werden im Folgenden nur ansatzweise einige Messmöglichkeiten erwähnt. Ausgangspunkt bildet dabei die Definition von Kundenbindung (7 Abschn. 8.2.2), die sowohl auf das bisherige als auch das zukünftige Verhalten des Konsumenten zielt. Daher muss auch bei der Messung des Konstrukts zwischen der Ex-post-Messung des tatsächlich gezeigten Verhaltens (Grad der Kundenbindung) und der Ex-ante-Messung (Qualität bzw. Stabilität einer Bindung) unterschieden werden. Im Rahmen der Ex-post-Messung der Kundenbindung sind mehrere Messansätze denkbar. So können z. B. Umsatz oder Marktanteil als Indikatoren für Kundenbindung dienen.

Nachteilig sind hierbei jedoch z. B. die fehlende Unterscheidbarkeit zwischen Erst- und Wiederkäufern sowie die Wirkung situativer Einflüsse (z. B. die konjunkturelle Lage). Daneben sind auch Größen wie die Kundenabwanderungsrate sowie die durchschnittliche Dauer einer Kundenbeziehung als Messansatz vorstellbar. Aufgrund der Ex-post-Betrachtung sind diese Größen allerdings nur eingeschränkt für eine aktive Unternehmenssteuerung einsetzbar (Meyer & Oevermann, 1995). Bei der Ex-ante-Messung handelt es sich hauptsächlich um die Messung psychischer Konstrukte, die in Zusammenhang mit der Kundenbindung stehen sollen, z. B. die Beschwerdezufriedenheit, die Wiederkaufabsicht (Meyer & Oevermann, 1995) oder das einstellungsbezogene Commitment (vgl. Moser, 2002). Diese psychischen Konstrukte werden in der Literatur z. T. als Indikator des zukünftigen Verhaltens angesehen. Auf den Zusammenhang zwischen Kundenzufriedenheit und Kundenbindung wird im nachfolgenden Abschnitt eingegangen. 8.5

Zusammenhang zwischen Kundenzufriedenheit und Kundenbindung

Der große Aufwand um die Messung der Kundenzufriedenheit wird nicht zuletzt mit der Erwartung betrieben, dadurch die Bindung der Kunden an das Unternehmen vorhersagen zu können. Das erfordert einen Zusammenhang der Konstrukte – eine Annahme, die nicht unumstritten ist und daher abschließend noch etwas genauer betrachtet wird. Gewöhnlich wird Kundenbindung als eine mögliche Auswirkung von Kundenzufriedenheit betrachtet. Nicht zuletzt deshalb wurde eine Vielzahl empirischer Untersuchungen zum Zusammenhang der beiden Konstrukte durchgeführt. In diesen Arbeiten wird allerdings Kundenbindung gewöhnlich durch die Verhaltensabsicht und nicht das tatsächlich gezeigte Verhalten erfasst. Die Studien lassen sich im Wesentlichen in 3 Kategorien einteilen (Homburg & Bucerius, 2006): 1. Studien, die den Zusammenhang von Kundenzufriedenheit und Kundenbindung betrachten 2. Studien über den funktionalen Verlauf des Zusammenhangs zwischen Kundenzufriedenheit und Kundenbindung 3. Studien zur Analyse von Moderatorvariablen des Zusammenhangs zwischen Kundenzufriedenheit und Kundenbindung

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Kapitel 8 · Kundenzufriedenheit und Kundenbindung

Zunächst zu den Studien der 1. Kategorie. Die Untersuchungen wurden in den verschiedensten Branchen durchgeführt, wobei der Mehrzahl das Diskonfirmationsparadigma zugrunde liegt. Das typische Vorgehen ist in der 7 Info-Box exemplarisch anhand einer Studie dargestellt. Info-Box

Kundenzufriedenheit im Business-to-Business-Bereich

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Patterson, Johnson und Spreng (1997) untersuchten Kundenzufriedenheit im Geschäftskundenbereich. Hierzu befragten sie Unternehmensberater und ihre Klienten. Ziel der Studie war es u. a., den Entstehungsprozess von Kundenzufriedenheit zu untersuchen. Das Diskonfirmationsparadigma diente als Basis für die Untersuchungen. Ausgangspunkt war die Hypothese, dass sich Kundenzufriedenheit positiv auf die Wiederkaufabsicht auswirkt. Gemessen wurden die Erwartung der Kunden vor dem »Kauf« (Durchführung von Projekten) und die Erwartungserfüllung nach dem Kauf im Abstand von 12 Monaten. Die Erwartungen wurden als Vorhersage zukünftiger Leistungen mit 26 Items erfasst, über die ein Index gebildet wurde. Nach Erbringung der Leistung wurde die Wahrnehmung der Leistung mit den gleichen 26 Items gemessen. Diskonfirmation wurde global erfasst (»besser oder schlechter als erwartet«). Zusätzlich wurden die Zufriedenheit mit der Leistung sowie die Wiederkaufabsicht gemessen. Wie sich zeigt, ist das Diskonfirmationsparadigma auch im Geschäftskundenbereich gültig: Je höher die Erwartungen sind, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass die wahrgenommene Leistung die Erwartungen erfüllt. Dagegen wirkt sich die wahrgenommene Leistung positiv auf die Diskonfirmation aus: Je besser die Ist-Leistung eingeschätzt wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Erwartungen erfüllt werden. Zudem wirkt eine positive Diskonfirmation positiv auf die Kundenzufriedenheit. Schließlich fand sich auch ein Zusammenhang von Kundenzufriedenheit und Wiederkaufabsicht, d. h. Kundenzufriedenheit wirkt sich positiv auf die Wiederkaufabsicht aus.

Auch eine Reihe anderer Studien konnte einen positiven Zusammenhang zwischen Kundenzufriedenheit und Aspekten von Kundenbindung nachweisen (vgl. zusammenfassend Homburg & Bucerius, 2006). So konnte beispielsweise Bitner (1990) in einer Studie zur Bewertung von Dienstleistungen bei Fluggästen feststellen, dass Kundenzufriedenheit positiv auf die Wahrnehmung der Dienstleistungsqualität wirkt, die wiederum die Kundenbindung positiv beeinflusst. Gerpott und Rams (2000) befragten Kunden von Mobilfunkbetreibern und fanden einen positiven Zusammenhang zwischen Kundenzufriedenheit und Kundenbindung. Schließlich wurde auch in einer Metaanalyse über 50 Studien zur Kundenzufriedenheit (Szymanski & Henard, 2001) ein Zusammenhang zwischen Kundenzufriedenheit und der Wiederkaufabsicht nachgewiesen. Daneben finden sich aber auch Hinweise, dass es offensichtlich auch Kunden gibt, die trotz Zufriedenheit die Geschäftsbeziehung abbrechen. Einen Erklärungsansatz für dieses Phänomen liefert das Qualitative Kundenzufriedenheitsmodell von Stauss und Neuhaus (2006). Dem Modell liegt die Überlegung zugrunde, dass die Qualität des Zufriedenheitsempfindens, das je nach Persönlichkeit unterschiedlich ausfällt, über den Zusammenhang zwischen den beiden Größen entscheidet. Im Qualitativen Kundenzufriedenheitsmodell werden 5 Zufriedenheitstypen unterschieden (Stauss & Neuhaus, 2006): 4 Fordernd Zufriedene stehen dem Anbieter mit positiven Gefühlen wie Optimismus und Zuversicht gegenüber. Sie erwarten aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen, dass der Anbieter auch in Zukunft steigende Ansprüche zufrieden stellen kann. Die Geschäftsbeziehung möchten sie aufrechterhalten, Leistungssteigerungen sind dafür jedoch Bedingung. 4 Stabil Zufriedene bringen dem Anbieter ebenfalls positive Gefühle der Bestätigung und des Vertrauens entgegen. Im Vergleich zu den fordernd Zufriedenen sind sie jedoch passiv, was die Anforderungen und Ansprüche gegenüber dem Anbieter betrifft. Sie erwarten, dass alles so bleibt, wie gehabt. Die Geschäftsbeziehung möchten sie ohne Veränderungen beibehalten. 4 Resigniert Zufriedene fühlen gegenüber dem Anbieter Gleichgültigkeit. Sie schätzen die Beziehung so ein, dass sie nicht mehr als das bisher schon Erhaltene erwarten können. Dennoch möchten sie die Beziehung aufrechterhalten, da sie auch von anderen Anbietern nicht mehr erwarten.

143 8.5 · Zusammenhang zwischen Kundenzufriedenheit und Kundenbindung

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Stabil Unzufriedene sind vom Anbieter enttäuscht und empfinden Ratlosigkeit. Trotz der Unzufriedenheit verhalten sie sich passiv. Sie erwarten eigentlich mehr, wissen aber nicht was sie dafür machen können. Konsumenten dieses Typs sind zwar zum Wechsel bereit, werden aber aufgrund ihrer Passivität in der Geschäftsbeziehung verharren, bis ein spezieller Anstoß erfolgt. Fordernd Unzufriedene sind in Bezug auf ihr Anspruchs- und Forderungsverhalten sehr aktiv und neigen zum Protest gegenüber dem Anbieter. Sie erwarten, dass sich das bisherige Leistungsangebot erheblich verbessert, und fordern dies auch aktiv ein. Die Geschäftsbeziehung werden sie aufrechterhalten, wenn ihre Forderungen beachtet werden, andernfalls wechseln sie den Anbieter.

Stauss und Neuhaus (2006) konnten diese Typologie auch empirisch belegen. Das Qualitative Kundenzufriedenheitsmodell kann daher – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – auch empirisch überzeugend verdeutli-

chen, dass Kundenzufriedenheit nicht automatisch zu Kundenbindung führen muss (Kaiser, 2005). Die bislang dargestellte 1. Kategorie der Studien stellt einen positiven Zusammenhang zwischen Kundenzufriedenheit und Kundenbindung fest, wobei ein linearer Verlauf unterstellt wird. Die 2. Kategorie von Untersuchungen widmet sich der Frage nach den Formen funktionaler Zusammenhänge. In mehreren Studien wurden unterschiedliche Verlaufsformen festgestellt (vgl. . Abb. 8.7). In einigen Untersuchungen zeigte sich ein progressiver Zusammenhang, der besagt: Wenn die Zufriedenheit hoch ist, wird schon bei einer kleinen Verschlechterung des Zufriedenheitsniveaus die Absicht zum Wiederkauf stark sinken. Wenn dagegen ein Anbieter seine bisher schon zufriedenen Kunden noch etwas mehr zufrieden stellen kann, so hat dies große Auswirkungen auf die Kundenbindung. Dafür finden sich auch empirische Belege. In einer Studie von Jones und Sasser (1995) wurden Kunden aus der Automobilbranche gefragt, ob sie ihr Auto wieder kaufen würden. Zwischen zufriedenen

Kundenloyalität

. Abb. 8.7. Mögliche funktionale Zusammenhänge zwischen Kundenzufriedenheit und Kundenbindung. (In Anlehnung an Homburg & Bucerius, 2006)

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Kapitel 8 · Kundenzufriedenheit und Kundenbindung

Kunden und äußerst zufriedenen Kunden zeigte sich ein deutlicher Unterschied in der Wiederkaufabsicht. Zwischen Kundenzufriedenheit und Kundenbindung kann auch ein sattelförmiger Zusammenhang bestehen. Erst wenn die Kundenzufriedenheit über einem bestimmten Level liegt, hat dies starke Auswirkung auf die Kundenbindung. Kunden sind einem Anbieter emotional erst dann besonders verbunden, wenn ein gewisser Indifferenzbereich überschritten wird. Auch ein solcher Zusammenhang wurde empirisch nachgewiesen (Müller & Riesenbeck, 1991). Jones und Sasser (1995) konnten auch einen degressiven Zusammenhang feststellen. Sie fanden, dass unter gewissen Umständen ein kleiner Anstieg in der Zufriedenheit der Kunden große Auswirkungen auf deren Wiederkaufabsichten haben kann. Ist das Zufriedenheitsniveau der Kunden jedoch schon relativ hoch, so hat eine geringe Verschlechterung nur relativ wenige Auswirkungen auf die Zufriedenheit. Eine vierte Form des funktionalen Verlaufs bildet der S-förmige Zusammenhang. Burmann (1991) untersuchte die Beziehung zwischen Konsumentenzufriedenheit und Marken- und Händlerloyalität im Automobilbereich. Ein S-förmiger Zusammenhang konnte zwischen Konsumentenzufriedenheit und Markenbindung gezeigt werden. Kunden mit einem hohen Zufriedenheitslevel reagieren weniger sensibel auf ein Sinken der Zufriedenheit als Kunden, deren Zufriedenheit unter einem bestimmten Wert liegt. Wie können diese Funktionsverläufe begründet werden? Jones und Sasser (1995) gehen davon aus, dass die unterschiedlichen Verläufe aus der verschieden starken Wettbewerbsintensität der Märkte resultieren. Sie konnten belegen, dass in hoch kompetitiven Märkten progressive und in Märkten mit geringerer Wettbewerbsintensität eher degressive Zusammenhänge vorliegen. Eine allgemein akzeptierte Theorie zur Erklärung der funktionalen Zusammenhänge liegt jedoch noch nicht vor (Homburg & Bucerius, 2006). Die 3. Kategorie von Studien untersucht den Einfluss von Moderatorvariablen auf den Zusammenhang zwischen Kundenzufriedenheit und Kundenbindung. Methodisch betrachtet sind Moderatoren Variablen, die sich stärkend oder schwächend auf den Zusammenhang zwischen 2 anderen Variablen auswirken. In empirischen Untersuchungen ließen sich verschiedene Moderatoren des Zusammenhangs von Kundenzufriedenheit und Kundenbindung identifizieren. Beispielsweise konnten

Seiders, Voss, Gewal und Godfrey (2005) bei einer Befragung von Kunden eines Handelsunternehmens mehrere Moderatorvariablen nachweisen, die den Zusammenhang von Kundenzufriedenheit und Kundenbindung positiv beeinflussen. Besonders wichtig ist das Involvement der Kunden. Involvierte Kunden geben mehr Geld aus, wenn sie mit der Leistung zufrieden sind. Auch das Haushaltseinkommen wirkt positiv auf den Zusammenhang. Da Konsumenten mit einem höheren Haushaltseinkommen mehr Wert auf die Verwendung ihrer Zeit legen, besuchen sie eine größere Anzahl von Händlern und geben bei Händlern, mit denen sie sehr zufrieden sind, mehr Geld aus (vgl. Homburg & Bucerius, 2006). Fazit Die langfristige Bindung von Kunden stellt einen entscheidenden Erfolgsfaktor für Unternehmen dar. Eine wichtige Bedingung der Kundenbindung bildet die Kundenzufriedenheit. Kundenzufriedenheit führt aber nicht automatisch zu Kundenbindung. Der Zusammenhang zwischen diesen beiden Konstrukten ist offensichtlich sehr viel komplexer, als bislang angenommen. Empirische Untersuchungen zeigen verschiedene Formen des Zusammenhangs, d. h. dass Veränderungen der Kundenzufriedenheit zu unterschiedlichen Auswirkungen in der Kundenbindung führen können. Zur Stärkung der Kundenbindung müssen zudem auch andere Faktoren ins Kalkül gezogen werden.

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146

8

Kapitel 8 · Kundenzufriedenheit und Kundenbindung

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9 9 Marketinginstrumente – psychologisch betrachtet Georg Felser

9.1

Psychologie und Marketing – 148

9.2

Produktpolitik

– 149

9.2.1 Passung von Marke und Produkt – 149 9.2.2 Produkt- und Markennamen – 150 9.2.3 Multisensuale Gestaltung von Produkten

9.3

– 152

Preis- und Konditionenpolitik – 153

9.3.1 Preis und Absatz – 153 9.3.2 Preisstruktur – 155 9.3.3 Rückgabegarantien – 156

9.4

Vertriebspolitik

– 157

9.4.1 Direktmarketing – 157 9.4.2 Gestaltung der Verkaufsräume

9.5

Kommunikationspolitik

– 159

– 161

9.5.1 Public Relations – 161 9.5.2 Kommunikation mit Multiplikatoren und die Diffusion von Produktinnovationen – 162 9.5.3 Die direkte Kommunikation mit dem Kunden – 165

Literatur

– 168

K. Moser (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie DOI 10.1007/978-3-540-71637-2_9, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007

148

9

Kapitel 9 · Marketinginstrumente – psychologisch betrachtet

> Das Benediktinerkloster Andechs oberhalb des Ammersees ist seit Jahrhunderten für sein Bier berühmt. Als aber Anfang der neunziger Jahre der Biermarkt in Deutschland stagnierte, brachte das auch die Andechser Klosterbrüder in Bedrängnis. Gemäß ihrer Ordensregel steuerten die Mönche aber nicht nur durch Gebet, sondern auch durch tatkräftige Arbeit dagegen. Heute ist Andechs nicht nur eine berühmte Abtei, sondern auch eine Marke. Unter dem Namen »Kloster Andechs« werden die Erzeugnisse der wohl kleinsten nationalen Biermarke Deutschlands verkauft (90.000 Hektoliter im Jahr). Kloster Andechs ist aber ebenso rege im Tourismus-, Kultur- und Tagungsmarketing. Mit seinen CarlOrff-Festspielen und dem Traum von einem Festspielhaus droht Andechs gar Bayreuth Konkurrenz zu machen. Außerdem sind die Brüder vom Heiligen Berg ins Lizenzgeschäft eingestiegen: Unter dem Andechser Namen wird eine Restaurantkette betrieben. Ausgewählte Premiumprodukte vom Käse, Senf, Brot bis zum Schnupftabak dürfen nach Prüfung der Rohstoffe und Zutaten unter der Dachmarke »Kloster Andechs« vertrieben werden. Wer die Abtei besucht, kann dort neben dem Bier auch reichlich Merchandisingartikel erwerben: Mützen, Taschen, Regenschirme und natürlich Biergläser. Hinter diesen wirtschaftlichen Aktivitäten steht ein Marketingkonzept, das die ursprünglichen Ziele des Benediktinerordens integriert: Die Mönche erwirtschaften keinen Privatbesitz, sondern finanzieren von ihren Erträgen ihre karitativen Projekte, errichten ein Pilgerhotel oder bieten »Ethikberatung« an. (Etscheit, 2002; Wieking, 2000)

9.1

Psychologie und Marketing

»Marketing – das ist doch im Grunde alles Psychologie.« Für eine solche Behauptung finden sich schnell Belege. Die meisten Marketingmaßnahmen setzen voraus, dass bestimmte Annahmen über das Verhalten von Menschen zutreffen, dass Menschen bestimmte Bedürfnisse haben und dass bestimmte psychologische Gesetzmäßigkeiten gelten. Jede Facette des Marketing lässt sich daher aus einem psychologischen Blickwinkel betrachten – dass dies möglich ist, soll der folgende Beitrag belegen.

Und doch lässt sich Marketing nicht vollständig auf Psychologie zurückführen. Das ist nicht nur deshalb so, weil die klassischen Marketingthemen mehr umfassen als nur Annahmen zum menschlichen Verhalten: Zum Beispiel braucht die Preispolitik neben fundierten Erwartungen zum Verhalten im Markt und über die Preiswahrnehmung der Kunden noch eine solide Kosten- und Leistungsrechnung. Die Vertriebspolitik muss nicht nur einkalkulieren, wie die Kunden einzelne Absatzwege wahrnehmen und nutzen, sie braucht zudem auch eine funktionierende Logistik. Wichtiger noch ist aber ein anderer Unterschied zwischen Marketing und Psychologie: Im Grunde meint man mit Marketing immer ein umfassendes Konzept, eine abgestimmte Strategie, die nicht auf ihre Einzelmaßnahmen reduzierbar ist. Dabei erscheint es unwichtig, ob eine Maßnahme zur Verkaufsförderung, die nicht Teil eines Gesamtkonzepts ist, nun »schlechtes Marketing« oder »gar kein Marketing« genannt werden sollte. In jedem Fall ist der charakteristische Blickwinkel des Marketing ein breiter und allgemeiner, der nicht beim Einzelfall und beim operativen Tagesgeschäft stehen bleibt. Die Psychologie konzentriert sich im Vergleich eher auf das Individuum als auf den Markt, sie richtet sich weniger auf das Ganze als auf einzelne Mechanismen und Mikroprozesse. Dies ist keine generelle und zwangsläufige Eigenschaft der Psychologie. Sie zeigt sich aber darin, wie Psychologie – insbesondere hier natürlich Konsumentenpsychologie – betrieben wird. Forschungsarbeiten etwa aus dem Journal of Consumer Research oder dem Journal of Consumer Psychology thematisieren in erster Linie einzelne Effekte und theoretische Annahmen und selten komplexe Modelle des Marktes. Das in weiten Teilen der Psychologie dominierende experimentelle Paradigma ist zudem im Marketing nur begrenzt umsetzbar: Einzelne Elemente einer Marketingkonzeption lassen sich experimentell noch verhältnismäßig leicht testen. Das gesamte Konzept ist aber im Rahmen eines Experiments kaum prüfbar. So ist es schon nahezu unmöglich, den Erfolg eines Produkts im Markt eindeutig kausal auf eine einzelne Werbekampagne zurückzuführen. Marketing besteht aber nur zu einem kleinen Teil aus Werbung: Den Erfolg des ganzen Pakets zu prüfen, ist natürlich noch schwieriger. Von Marketing spricht man natürlich nicht als »Paket«; gebräuchlich ist der Begriff des 7 Marketingmix, an dem sich der Beitrag im Folgenden auch orientieren

149 9.2 · Produktpolitik

wird. Die kommenden Ausführungen ordnen den 4 Elementen des Marketingmix einzelne psychologische Konzepte und Effekte zu, die in diesem Element wichtig werden. So wird es in 7 Abschn. 9.2 unter der Überschrift »Produktpolitik« darum gehen, welche Produkte unter welchem Namen und mit welcher äußeren Gestaltung verkauft werden sollten. In 7 Abschn. 9.3 wird die Preisund Konditionenpolitik unter psychologischen Gesichtspunkten diskutiert. 7 Abschnitt 9.4 diskutiert die psychologische Bedeutung unterschiedlicher Vertriebswege einschließlich der Gestaltung von Verkaufsräumen. Das psychologisch auf den ersten Blick vielleicht reichste Marketingelement ist die Kommunikationspolitik, die in 7 Abschn. 9.5 angesprochen wird. Aus den vielen möglichen Themen werden in diesem Abschnitt die PR-Arbeit im Dienste des Marketing, die Kommunikation mit Multiplikatoren und die direkte Interaktion von Verkäufer und Kunde vertieft. Die Zuordnung von psychologischen Argumenten zu den Elementen des Marketingmix kann selbstverständlich nicht erschöpfend sein. Es lassen sich leicht viele andere Beispiele anführen, von denen ein großer Teil aus anderen Beiträgen im vorliegenden Band ergänzt werden könnten (siehe v. a. 7 Kap. 2–8).

Produktpolitik

9.2

Ob BMW neben seinen Autos auch Rasenmäher, Motorboote oder Spiegelreflexkameras verkauft, hat einen deutlichen Einfluss sowohl auf die Verkaufschancen dieser neuen Produkte als auch auf die Marke BMW selbst (z. B. Maoz & Tybout, 2002). Die Produkte selbst müssen natürlich gewissen Qualitätsstandards genügen, sie sollten dabei aber auch gut aussehen und möglichst alle anderen Sinne angenehm ansprechen. Über all das hinaus sollten sie zu Hersteller und Marke passen (7 Beispiel). Beispiel

»Kloster Andechs-Light; der leichte Genuss« – dieses Bier wird es wohl nie geben. In ihrer Produktpolitik hat sich die Marke darauf festgelegt, nicht allen Kundenwünschen nachzugeben. Das »bayerischkernige Image der jahrhundertealten Brauerei« (Wieking, 2000, S. 62) würde eine Diätversion ihres 6

wichtigsten Produkts nicht vertragen. Auch die weit über Deutschland verteilten Andechser Restaurants sind genau am Markenkern ausgerichtet und sorgfältig ausgestaltet, vermitteln sie doch mit blanken Holztischen und Eckbänken klösterliche Einfachheit. Die Bierdeckel enthalten besinnliche Sprüche und die Speisekarte orientiert sich am Kirchenjahr. Wichtig ist das Produktkonzept dahinter: »Bayerische Kost anbieten kann jeder – wir wollen das Erlebnis ›Kloster Andechs‹ transportieren« (zitiert nach Wieking, 2000, S. 63).

9.2.1 Passung von Marke und Produkt Da mehr als 80% aller neuen Produkte Fortführungen oder Erweiterungen bereits existierender Marken und Produktlinien sind, hat diese letztere Frage der Passung in der Vergangenheit eine große Aufmerksamkeit erfahren. So fragen sich z. B. Maoz und Tybout (2002), ob eine genaue Passung möglicherweise weniger positiv bewertet wird als eine leichte Diskrepanz zwischen Marke und Produkt, da ja das Auflösen von leichter Schemainkongruenz intellektuell stimuliere und angenehm erlebt werde. In der Tat können die Autoren zeigen, dass von den 3 oben zitierten fiktiven BMW-Produkten der Rasenmäher als mittelmäßig passendes Produkt positiver beurteilt wird als das vergleichsweise hoch passende Motorboot oder die unpassende Kamera. Diese Beziehung galt allerdings nur für hoch involvierte Urteiler, die bereit waren, sich mit dem Produkt gedanklich zu beschäftigen. Bei niedrigem Involvement stieg die Bewertung nahezu linear mit dem Grad der Passung an. Eine intellektuelle Stimulation durch eine mittelmäßige Passung von Produkt und Marke wird demnach anscheinend nur von Konsumenten goutiert, die sich mit dem Produkt auseinandersetzen wollen. Im alltäglichen Vorbeirauschen der Produktinformation an niedrig involvierten Kunden dürfte diese Anregung allerdings untergehen: Bei geringem Involvement wird das Produkt am besten bewertet, das auch am besten zur Marke passt. An der Untersuchung von Maoz und Tybout (2002) bleiben allerdings 2 Punkte unbefriedigend: Zum einen muss man methodisch kritisieren, dass in dem vorgestellten Design die Effekte der Passung mit denen des

9

150

9

Kapitel 9 · Marketinginstrumente – psychologisch betrachtet

konkreten Produkts konfundiert sind. Es ist letztlich nicht zu entscheiden, ob die Passung des Rasenmähers oder eine seiner anderen Eigenschaften für die Effekte gesorgt hat. Zum anderen entsteht der Eindruck, die Passung von Produkt und Marke stehe unabhängig von einem Urteiler sozuagen a priori bereits fest. Diese Sichtweise ist sozusagen »unpsychologisch«. Sie lässt nämlich außer Acht, dass Menschen aktiv mentale Kategorien bilden, aus denen sich Zusammengehörigkeit und Diskrepanz von Objekten erst als Folge ergeben. Mit anderen Worten: Passung wird normalerweise nicht vorgefunden, sie wird mental konstruiert. Ob ein Objekt in eine Kategorie gehört, hängt von einer Reihe von Kontextbedingungen ab. Die Variation dieser Bedingungen kann sogar zu völlig gegensätzlichen Kategorisierungen führen. So zeigten z. B. Wänke, Bless und Schwarz (1999), dass dasselbe Produkt je nach Fragestellung unter eine attraktive oder eine unattraktive Kategorie subsumiert und infolgedessen entweder aufoder abgewertet wurde. Den Probanden wurden die Objekte »Hummer«, »Wein«, »Zigaretten« und »Zeitungen« präsentiert. Diese Objekte sollten anhand unterschiedlicher Fragestellungen kategorisiert und in der Folge bewertet werden. Lautete nun die Frage: »Welche Produkte sollte man nicht an Kinder verkaufen?«, gelangte der Wein in die gleiche Kategorie wie die Zigaretten. In dieser mentalen Gesellschaft wurde er deutlich geringer bewertet als in einer Kontrollbedingung. Signifikant positiver als in der Kontrollbedingung erscheint der Wein allerdings, wenn er nach der Frage: »Welche Produkte sind Nahrungsmittel?« in dieselbe Kategorie wandert wie der Hummer. Die Untersuchung von Wänke et al. (1999) zeigt, dass mentale Kategorien ad hoc gebildet werden können und keineswegs a priori feststehen. Daher ist auch der Kontext, den ein neues Produkt und die Marke füreinander bilden, durchaus formbar. Dasselbe Produkt kann je nach Kommunikation entweder als passend oder als unpassend erlebt werden – mit den jeweiligen Begleiterscheinungen (s. insbesondere 7 Kap. 7). 9.2.2 Produkt- und Markennamen Das vermutlich meiststrapazierte Zitat der Literaturgeschichte zum Thema »Namen« enthält eigentlich eine prüfbare wissenschaftliche Hypothese: Die junge Julia Capulet hat sich in Romeo, ein Mitglied der mit ihrer

Sippe verfeindeten Montagues, verliebt. Nun will sie sich einreden, dass der Name ihres Liebsten nichts zur Sache tue und behauptet zu diesem Zweck, dass der sensorische Eindruck beim Schnuppern an einer Rose schließlich auch immer derselbe sei und sich auch dann nicht ändere, wenn man den Namen »Rose« durch einen beliebigen anderen ersetze. So eloquent diese These auch vorgetragen wird, sie ist wohl offenbar falsch: Sensorische Erlebnisse ändern sich deutlich, wenn ein Name hinzukommt.Nachgewiesenistdasz. B.fürGeschmackserlebnisse unter variierenden Namen (z. B. Hoyer & Brown, 1990) oder im Vergleich von Blindverkostung mit korrekter Bezeichnung (z. B. Allison & Uhl, 1964; Brochet, 2002; McClure, Li, Tomlin, Cypert, Montague & Montague, 2004). Die Untersuchung von McClure et al. (2004) replizierte den bekannten Befund, dass die Beurteilung der Marken Pepsi und Coca-Cola sehr unterschiedlich ausfällt, je nachdem, ob Probanden wissen, welche Marken sie trinken. Das Experiment ist insofern bemerkenswert, als hier die Autoren zeigen, dass auch die physiologischen Erregungsmuster zwischen Blindverkostung und markenbewusstem Konsum systematisch variieren. Dies kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass hinter der unterschiedlichen Beurteilung wirklich ein unterschiedliches Geschmackserleben steht. Offenbar wird es sich sowohl für Julias ganz persönliches Schicksal als auch im Leben von Marken als fatal erweisen, wenn man sich über die Bedeutung von Namen hinwegsetzt. Das heutige Marketing kennt den Wert eines Namens und ist sogar bemüht, ihn auf Euro und Cent zu beziffern (Schimanksy, 2007). Namen werden teuer gehandelt: Philip Morris kaufte Kraft für $ 13 Mrd. mit der Begründung, damit habe man einen »ausbaufähigen Markennamen« erworben. Nestlé kaufte Perrier für $ 2,5 Mrd., obwohl Perrier in den meisten Kriterien für ein Mineralwasser seinen Konkurrenten nicht überlegen ist – auch hier wurde v. a. der Markenname bezahlt (Kohli, LaBahn & Thakor, 2001). Im Widerspruch zu dieser offenkundig hohen Bedeutung des Namens wird die Namensgebung selbst in den Unternehmen wenig systematisch betrieben. In einer Untersuchung von Kohli et al. (2001) erklärte eine überwältigende Mehrheit der Unternehmen, relativ unsystematisch, sehr intuitiv und insgesamt »quick and dirty« zu den Produkt- und Markennamen zu kommen. 26% der Unternehmen verzichten auf jegliche Tests zur Überprüfung der Vorschläge, 45% benutzen Fokusgrup-

151 9.2 · Produktpolitik

pen oder andere qualitative Methoden, und 35% benutzen statistische Erhebungen. Das strategische Vorgehen ist ebenfalls nicht systematisch ausgeprägt: Immerhin 21% der befragten Unternehmen erklärten, die endgültige Auswahl sei ganz anderen Kriterien gefolgt als ursprünglich festgelegt worden war. Nur ein Drittel der Unternehmen verwendete (gewichtete) Beurteilungskriterien bei der Auswahl. Wenn Unternehmen Namen vergeben, denken sie in erster Linie daran, sich mit Hilfe des Namens im Markt zu positionieren, von den Mitbewerbern zu differenzieren und ein unverwechselbares Image aufzubauen. Neben diesen psychologischen Wirkungen im Markt muss aber auch daran gedacht werden, dass der Name als Warenzeichen eingetragen und damit geschützt werden kann. Dieser Punkt genießt bei den Unternehmen allerdings nur eine geringe Priorität (s. Kohli et al., 2001, S. 458). Dabei hat dieser Punkt wichtige praktische Konsequenzen, variiert doch der mögliche rechtliche Schutz mit der Art des Namens: Deskriptive Namen (z. B. Laser Jet für einen Drucker) genießen einen geringeren Warenschutz als etwa willkürliche (z. B. Camel für Zigaretten) oder geprägte Namen (Exxon für Gas; Kohli et al., 2001). Unzulässig sind generische Namen, also Namen, die im Grunde die Sache, das Produkt selbst bezeichnen (z. B. Seife für Seife). Man darf also ein Produkt als »Allesreiniger« bezeichnen, man darf es aber nicht so nennen. Psychologisch wäre eine solche Namensgebung voraussichtlich sinnvoll, denn ein generischer Name wie auch z. B. Schonkaffee wirkt außerordentlich suggestiv. Dies zeigt sich auch bei anderen, zulässigen suggestiven Bezeichnungen wie etwa Livio, das den Anklang an hochwertiges Olivenöl nutzt, oder Vileda, das durch den Klang eine hochwertige materielle Beschaffenheit suggeriert. Aber auch Lautverbindungen, die auf den ersten Blick völlig sinnfrei sind, wecken Assoziationen und lösen Erwartungen aus. Peterson und Ross (1972) erzeugten mit dem Computer sinnlose Wörter und ließen sie von Probanden einschätzen. Es zeigte sich u. a., dass bestimmte Lautverbindungen mehr für die eine als die andere Produktkategorie als geeignet erlebt werden (z. B. »whumies« für Frühstücksflocken, aber nicht für Waschmittel). In aller Regel verwenden Firmen bei Produkt- und Markennamen – bewusst oder unbewusst – traditionelle linguistische Mittel (s. auch Bergh, Adler & Oliver,

1987), so etwa Alliterationen (Coca-Cola), Lautmalerei (Sanso, Cracker), Binnenreime (Raum-Traum), Palindrome (Sugus, Omo) oder Akronyme (Haribo, Eduscho). Anfangsplosive (z. B. c, p, t, b und k) werden für Markennamen häufiger verwendet, als sie in der Sprache generell vorkommen. Offenbar werden Wörter mit diesen Anfangsbuchstaben besser erinnert (Schloss, 1981, zitiert nach Kohli et al., 2001). Die Vokale in Markennamen gehen mit Unterschieden in der Wahrnehmung einher. In einer Untersuchung von Klink (2003) waren Vorderzungenvokale (im Deutschen z. B. e, i und a) mit helleren Farben assoziiert als Hinterzungenvokale (im Deutschen o und u). Vorderzungenvokale in Kombination mit Reibelauten waren assoziiert mit kleineren, eher kantigen Figuren (z. B. in Logos). In einer weiteren Studie zeigte Klink (2003), dass z. B. ein Bier stärker, dunkler und »schwerer« erlebt wurde, wenn der Name einen Hinterzungenvokal hatte und das Logo runder, dunkler und größer war. Die beschriebenen Vokalunterschiede entscheiden daher auch darüber, ob eine Eiscreme eher Frish oder Frosh heißen sollte. Yorkston und Menon (2004) stellten ihren Probanden unter diesen Namen 2 fiktive Eismarken vor. Die Namen unterschieden sich nur in dem Vokal. Da Hinterzungenvokale eher größer, schwerer, weicher und dunkler wahrgenommen werden, sollte das Eis unter dem Namen Frosh auch cremiger, weicher und sahniger erlebt werden. Da dies bei Eiscreme auch wünschenswerte Eigenschaften sind, sollte das Eis unter dem Namen Frosh positiver bewertet werden als unter Frish. Sowohl die sensorische Wahrnehmung des Produkts als cremig oder sahnig als auch dessen Bewertung fiel den Hypothesen entsprechend zu Gunsten von Frosh aus. Es liegt nahe, durch eine ausländische Schreibweise Eigenschaften eines attraktiven Landes zu suggerieren. Auch dies tun viele Unternehmen, allerdings darf bei dieser Strategie nicht vergessen werden, dass Länderimages international nicht immer dieselben sind. Überhaupt sollte bei der Namensgebung stets bedacht werden, ob das Unternehmen auch global auftritt oder dies in Zukunft zu erwarten ist. Produktnamen lassen sich unterschiedlich gut in andere Sprachen und Schreibweisen hinüberretten. Wörter und Laute, die nur in einer bestimmten Sprache üblich sind (z. B. Häagen Dasz), bereiten besonders große Übertragungsprobleme, sie können freilich gleichzeitig dazu dienen, bestimmte Länderimages zu aktivieren. In europäischen Ländern sind ausländische Namen in fremder Aussprache relativ

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Kapitel 9 · Marketinginstrumente – psychologisch betrachtet

gebräuchlich (z. B. Lancia, Renault). Hierbei bleibt allerdings die Wirkung bestimmter kulturtypischer linguistischer Mittel oft auf der Strecke (z. B. Toys ‚R' Us) oder es wird eine völlig andere Bedeutung suggeriert als im Ursprungsland (Pizza Hut: Das hutähnliche Logo, mit dem das in Amerika und Europa übliche rote Dach der Filialen angezeigt wird, suggiert in Deutschland statt der eigentlichen »Pizza-Hütte« in der Tat einen »Pizza-Hut«). Bei der Übertragung in ferne Kulturen, wo zusätzlich die Schreibweise gewechselt werden muss, steht man oft vor der Frage der lautangleichenden oder eher bedeutungserhaltenden Übertragung. Im Chinesischen etwa wären Beispiele für eine lautangleichende Übertragung fangtà für Fanta oder kédá für Kodak, eine bedeutungserhaltende Übersetzung ist jízhuang-xiang für Container (Beispiele nach Jinlong, 1994). Nur selten gelingt es, gleichzeitig sowohl lautlich als auch semantisch dem Originalnamen gerecht zu werden. Eine solche Ausnahme ist in China aber anscheinend für Coca-Cola gelungen:

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Kekou kelè ist eine interpretierende lautangleichende Übernahme von Coca-Cola. Die chinesische Übersetzung … klingt phonetisch ähnlich wie Coca-Cola, so dass der Konsument sogleich an ein ausländisches Produkt denkt. Zusätzlich lenkt die Bedeutung der chinesischen Lautfolge die Phantasie jedoch in eine bestimmte Richtung. Denn sie besagt wörtlich: »Es schmeckt gut, und man trinkt es mit Behagen.« Diese reizvolle Übersetzung kann sowohl unter marktpsychologischen wie kommerziellen Gesichtspunkten als ein hervorragendes Beispiel für die Übernahme eines fremden Produktnamens angesehen werden. (Jinlong, 1994, S. 19)

9.2.3 Multisensuale Gestaltung

von Produkten »Blind tasting of great wines is often disappointing« (E. Peynaud, zitiert nach Brochet, 2002, S. 12). Auch die ganz großen Weinkenner bekennen sich offenbar dazu, dass der zentrale geschmackliche Eindruck des Produkts erst aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Sinne und Kognitionen hervorgeht. In der Tat ist nicht nur die Markenkenntnis, wie oben angedeutet, für den sinnlichen Eindruck des Produkts entscheidend. Auch das Aussehen des Produkts, seine Konsistenz, sein Geruch oder die Geräusche, die es macht (7 Info-Box),

oder die Form, in der es dargeboten wird, entscheiden über das Konsumerlebnis. Dies gilt, wie das Zitat zu Anfang nahelegt, z. B. für Weine: Blind und nur auf Basis des Geschmacks lassen sich oft Weißweine nicht von Rotweinen unterscheiden. Info-Box

Akustikdesign Konsumenten schließen daraus, wie ein Produkt beim Gebrauch klingt, auf die Eigenschaften des Produkts. Wenn man beim Staubsaugen noch das Telefonklingeln mehrere Zimmer weiter hören kann, dann ist der Motor des Staubsaugers offensichtlich zu schwach. Wenn die Küchenmaschine beim Kneten des Hefeteigs nicht mehr wie beim Bereiten der Quarkspeise gemütlich brummt, sondern höhere und lautere Klänge vernehmen lässt, dann scheint sie ihrer Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Aber nicht nur Gebrauchsgegenstände, sondern auch Lebensmittel induzieren über die mit ihnen verbundenen Klänge Erwartungen: Das Kauen von Kartoffelchips verursacht ein charakteristisches Krachen und Knacken, und so gehen die Produktentwickler davon aus, dass sich gute Chips auch im Klang von schlechten unterscheiden (Beispiele nach Weidt, 2006). In keinem der genannten Fälle sind die Geräusche der Produkte noch original und ursprünglich. Ein Staubsauger könnte längst nahezu geräuschlos funktionieren, und auch gute Küchenmaschinen klingen bei schwerem Teig anders als beim Sahneschlagen. Im Dienste der Multisensualität manipulieren »Akustikdesigner« bzw. »Lebensmittelakustiker« die natürlichen Geräusche der Produkte so, dass sie bei den Konsumenten die passenden Erwartungen erzeugen. Aber nicht nur scheinbar natürliche Geräusche wie das oben zitierte Brummen der Küchenmaschine werden von den Konsumenten begrüßt. Auch offensichtlich beliebige Zuordnungen von Klängen zu Ereignissen können anscheinend die Kauflust stimulieren. Die Klingeltöne beim Handy sind nur ein besonders prominentes Beispiel. Skurriler noch erscheint das Beispiel eines Kühlschranks, der sich in den USA angeblich »sensationell gut« verkaufe, weil er beim Schließen klinge »wie die Tür einer Cadillac Limousine« (Weidt, 2006, S. 2).

153 9.3 · Preis- und Konditionenpolitik

Und auch Kenner beschreiben einen Weißwein in roter Farbe beim Geschmackstest mit Begriffen, die normalerweise nur auf Rotweine angewendet werden (Brochet, 2002). Einen entsprechenden Effekt erzeugten Tom, Barnett, Lew und Selmants (1987) mit Pudding: Sie ließen ihre Versuchspersonen einen Vanillepudding probieren, der aber schokoladenbraun gefärbt war. Niemand bemerkte den Vanillegeschmack. Margarine hat normalerweise ein weißliches Aussehen und schmeckt ein wenig ölig, Butter sieht gelblich aus und schmeckt eher cremig. Heutzutage wird Margarine mit Karotin eingefärbt, wodurch sie eine gelbliche Färbung wie Butter erhält. Dies ist nach Ergebnissen von Cheskin (1957) erforderlich, da der wenig beliebte ölige Geschmack von Margarine stark mit der weißen Färbung verbunden ist. Cheskin zeigte, dass Versuchspersonen den Geschmack von weißer Butter als ölig und den Geschmack von gelber Margarine als cremig beschreiben. Aber nicht nur geschmackliche, sondern auch physikalische Eigenschaften werden aus dem Aussehen der Produkte abgeleitet: Zum Beispiel sollte Margarine in ihrer hellgelben Farbe eine leichte Rotbeimischung haben, damit sie als streichfähig wahrgenommen wird (Kroeber-Riel, 1993, S. 268). Die Darbietungsform entscheidet nicht nur über das Erleben von Geschmack oder Konsistenz, sondern auch über die Einschätzung von Mengen. Zum Beispiel wird das Fassungsvermögen von dünnen und hohen Behältern deutlich über- bzw. das Volumen von niedrigen und breiten Behältern unterschätzt (Raghubir & Krishna, 1999). Das hat zur Folge, dass Konsumenten größere Mengen eines Getränks in ein niedriges breites Glas gießen als in ein hohes schmales. In der Folge konsumieren sie auch mehr aus niedrigen als aus hohen Gläsern. Diese Fehleinschätzung von Mengen ist zwar erfahrungsabhängig, aber offenbar überwinden Menschen diese Tendenz zur Fehleinschätzung nie ganz. In einer Reihe von Experimenten ließen Wansink und Ittersum (2003) unterschiedliche Probanden Getränke in niedrige oder hohe Gläser schütten. Bei Kindern lag die Differenz zwischen der Menge in dem niedrigen und dem hohen Glas bei durchschnittlich 74%. Das Ausmaß der Unterschätzung nimmt zwar für ältere Probanden ab, aber der Fehler an sich bleibt stabil und wird auch durch Expertise nicht eliminiert: In einer Stichprobe aus erfahrenen Barkeepern, die explizit instruiert wurden, in die Gläser die

gleiche Menge zu geben, betrug der Unterschied immer noch 27%. Der Fehler bleibt zudem nicht auf die Mengenschätzung beschränkt, er erstreckt sich auch auf den Konsum: Die Probanden von Wansink und Ittersum (2003) konsumierten auch größere Mengen der jeweiligen Getränke aus niedrigen und breiten Gläsern. Diese Effekte haben offenkundige Implikationen für die Produktgestaltung: Schlanke Gefäße empfehlen sich, wenn der Konsument das Gefühl haben soll, er bekomme eine große Menge für sein Geld. Breite Gefäße sind zu empfehlen, wenn der Konsument die konsumierte Menge eher unterschätzen soll. Vielleicht sollte man im Rheinland darüber nachdenken, ob man die traditionellen hohen und schmalen »Kölsch-Stängchen« durch breitere Gläser ersetzt; so würde dann im Schatten des Doms genauso reichlich konsumiert wie auf der Münchner Wiesn. 9.3

Preis- und Konditionenpolitik

9.3.1 Preis und Absatz Als Marketinginstrument ist die Preispolitik zwar effektiv, aber auch teuer: Wenn man ein Produkt durch einen günstigen Preis attraktiv macht, dann verringert sich dadurch natürlich der eigene Profit pro verkaufte Einheit. Dieser Verlust muss durch einen höheren Absatz kompensiert werden, und es ist eine Rechenaufgabe, bei welchem Preis der Profit dank erhöhtem Absatz maximal ist. Aber bereits in diese Überlegungen greift die Psychologie mit einschränkenden und z. T. auch widersprechenden Argumenten ein. Zum einen ist es keineswegs immer sicher, dass bei steigendem Preis der Absatz sinkt. In vielen Situationen entscheiden Konsumenten auf der Basis der Konsensheuristik, das heißt: Sie schauen, was vergleichbare andere kaufen und tun dann dasselbe in der Erwartung, dass das, was viele andere machen, so falsch nicht sein kann (für einen Überblick siehe z. B. Felser, 2001). Dieses Verhalten hat allerdings zur Folge, dass ein Gut, das stark nachgefragt ist (und daher nach den Marktgesetzen teurer wird), gleichwohl und zwar genau wegen der starken Nachfrage noch stärker nachgefragt wird. Einen ähnlich paradoxen Effekt hat es, wenn Konsumenten bei ihrer Konsumentscheidung durch Reaktanz

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Kapitel 9 · Marketinginstrumente – psychologisch betrachtet

motiviert werden. Reaktanz als die Folge einer wahrgenommenen Freiheitseinschränkung stellt sich u. a. ein, wenn Güter knapp werden. Die Knappheit kann auf eine hohe Nachfrage zurückgehen, zudem kann sogar der mit der erhöhten Nachfrage einhergehende hohe Preis als weiterer Indikator der Verknappung erlebt werden. Diese Form der Reaktanz soll z. B. von dem Spruch ausgelöst werden: »Es war schon immer etwas teurer, einen besonderen (in manchen Werbeanwendungen auch ›guten‹) Geschmack zu haben.« Reaktanz besteht darin, dass Güter, auf die man nicht ohne weiteres Zugriff hat, aufgewertet werden. Wird der Zugriff durch einen hohen Preis erschwert, kann sich eine erhöhte Nachfrage trotz erhöhtem Preis ergeben. Diese Argumente widersprechen punktuell der Annahme, dass mit steigendem Preis der Absatz sinken muss. Zum anderen muss aber auch die unterstellte Nachfragefunktion selbst noch auf psychologischer Basis spezifiziert werden. Es erscheint unplausibel, dass die Funktion stetig verläuft. Vielmehr ist mit charakteristischen Unstetigkeiten bei bestimmten Preisen zu rechnen; die Unstetigkeiten markieren dann Preisschwellen, oberhalb deren der Absatz unverhältnismäßig stark absinkt. Solche Schwellen werden etwa für Preise unterstellt, die mit einer Neun enden (z. B. Schindler, 1994). Offenbar ist das subjektive Preiserleben eines Produkts als teuer oder billig nicht mit dem objektiven Preis identisch. Dies zeigt sich nicht nur in den Unstetigkeiten der Preis-Absatz-Funktion, sondern auch in dem Phänomen, das Christensen (1989) als die »Psychophysik des Geldausgebens« bezeichnet: Ähnlich wie der subjektive Nutzen materieller Güter nicht linear mit ihrem

. Abb. 9.1. Das Webersche Gesetz und die Preissensibilität

Wert ansteigt, steigt auch der erlebte »negative Nutzen« von Geldausgaben im Bereich niedriger Beträge sehr viel stärker an als im Bereich hoher Ausgaben. Die logarithmische Funktion beim Weberschen Gesetz, die das Verhältnis der Reizintensität zur Empfindungsstärke bezeichnet, gilt anscheinend auch bei dem subjektiven Erleben von Preisen und Ausgaben (Christensen, 1989; . Abb. 9.1). Von großer Bedeutung ist dabei aber, wie Konsumenten Ausgaben gedanklich kategorisieren, welche »mentalen Konten« sie bilden und welche Aufwendungen für sie subjektiv zusammengehören. So kann man z. B. davon ausgehen, dass bei einer Reihe von zusammengehörigen Ausgaben die bisherigen kumulierten Ausgaben den Ausgangsreiz bilden, an dem die folgenden Ausgaben relativiert werden. Fügt man nun am Ende eines Einkaufs (bei relativ hohem Ausgangsreiz) einen weiteren Artikel hinzu, wird der Preis hierfür als weniger gravierend wahrgenommen, als wenn man diesen Artikel gleich zu Anfang (bei einem niedrigen Ausgangsreiz) gewählt hätte (. Abb. 9.1). Christensen (1989) ließ beispielsweise ihre Probanden anhand eines Katalogs eine Stereoanlage zusammenstellen. Manipuliert wurde die Position, an der die Kopfhörer in dem Katalog auftauchten. Wenn die Kopfhörer bereits auf den ersten Seiten enthalten waren, wurde ein wesentlich günstigeres Exemplar gewählt, als wenn die Kopfhörer erst auf den letzten Seiten vorgestellt wurden. Dieser Positionseffekt ist einer von mehreren Gründen, aus denen heraus es für Verkäufer Sinn macht, am Ende des Einkaufs noch einmal zusätzliche Produkte anzubieten: Der für diese Produkte noch anfallende Be-

155 9.3 · Preis- und Konditionenpolitik

trag wird von den Käufern als relativ gering empfunden. 9.3.2 Preisstruktur Die Annahme einer logarithmischen Funktion zwischen objektiven Kosten und subjektivem Empfinden (. Abb. 9.1) macht es auch plausibel, warum Konsumenten Pauschalangebote gegenüber Einzelpreisen auch dann bevorzugen, wenn das Pauschalangebot teurer ist (z. B. Prelec & Loewenstein, 1998). Das mehrfache Bezahlen von kleineren Einzelpreisen würde in der Summe wesentlich schmerzlicher erlebt als das einmalige Bezahlen eines Pauschalpreises. Offenbar ist die Aufteilung bzw. Zusammensetzung der Preise ein wichtiger Faktor bei der Kostenwahrnehmung. Bauer (2000) bezeichnet diese Aufteilung als »7 Preisstruktur«. Dabei unterscheidet er zwischen Preisstruktur im engeren und im weiteren Sinne. Unter die Preisstruktur im engeren Sinne fallen alle Formen der Aufteilung, die sich auf den effektiven Preis auswirken. Zum Beispiel ist das im Falle eines Vertrags für ein Mobiltelefon beim Verhältnis von Grundgebühren zu Einheitenpreisen der Fall: Hier ergeben unterschiedliche Aufteilungen für ein gegebenes Nutzungsverhalten auch unterschiedliche Gesamtpreise. Psychologisch und ökonomisch interessanter ist allerdings die Preisstruktur im weiteren Sinne: Sie umfasst nur die Kommunikation des Preises. Hier ergeben sich für unterschiedliche Preisstrukturen keine unterschiedlichen Endpreise. Zum Beispiel ist es für den Käufer rechnerisch irrelevant, ob ich sage, ich verlange einen Aufschlag bei Kartenzahlung oder ich gewähre einen Rabatt bei Barzahlung. Psychologisch allerdings macht das einen Unterschied. Bauer (2000) zeigt in einer Reihe von Experimenten, dass sich Konsumenten stark davon beeinflussen lassen, wie ein Preis kommuniziert wird. Im oben genannten Beispiel kann man erwarten, dass die Konsumenten mit dem Begriff »Aufschlag« eher einen zusätzlichen Preis bzw. einen vermeidbaren Verlust verbinden. Unter dem Begriff »Rabatt« würde die Transaktion dagegen eher als die Chance auf einen Gewinn erlebt. Nun sind Menschen generell stärker motiviert, einen Verlust zu vermeiden als einen gleich großen und gleich wahrscheinlichen Gewinn zu erzielen (siehe z. B. Tversky & Kahneman, 1991). Daher wird es Konsumenten auch wichtiger

sein, einen Preisaufschlag zu umgehen als einen Rabatt einzustreichen. Die Bereitschaft zur Barzahlung sollte also in der »Aufschlag«-Bedingung stärker sein als in der »Rabatt«-Bedingung. Eine weitere interessante Gestaltungsmöglichkeit durch Preisstrukturen im weiteren Sinne ergibt sich, wenn man komplexe, mehrdimensionale Angebote hat: Diese kann man in Teilpreise für einzelne Angebotskomponenten zerlegen. Wenn ich etwa ein Auto verkaufe, dann kann ich zu einzelnen Komponenten meines Angebots eigens ausweisen, was sie kosten. Anstatt die Kosten für Klimaanlage, Alufelgen und Musikanlage zu aggregieren und nur einen Gesamtpreis mitzuteilen, könnte ich also diese Kosten genau beziffern, so dass der Käufer statt einem Gesamtpreis 4 Einzelpreise vorfindet. Wenn in einer solchen Situation die Konsumenten darüber urteilen, ob es sich um ein günstiges oder ein teures Angebot handelt, müssen sie die Einzelinformationen zu einem Gesamturteil integrieren. Hierbei gehen sie allerdings stark vereinfachend vor. Im Beispiel von . Abb. 9.2 besteht das Gesamtprodukt, ein Auto, aus dem Grundmodell und 3 einzeln ausgewiesenen Ausstattungselementen. Wie . Abb. 9.2 zeigt, ist es anscheinend irrelevant, welchen rechnerischen Anteil die einzelne Komponente am Gesamtpreis hat. So macht das Ausstattungselement 1 vom Gesamtpreis zwar nur 3% aus, bei der Beurteilung der Preisgünstigkeit insgesamt geht es aber mit dem gleichen Gewicht ein wie der Preis für das Grundmodell, der seinerseits immerhin 83% des Gesamtpreises ausmacht.

. Abb. 9.2. Zusammenhänge zwischen einzelnen Preisgünstigkeitsurteilen mit der Beurteilung des Gesamtpreises (bivariate Korrelationen)

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Kapitel 9 · Marketinginstrumente – psychologisch betrachtet

Wenn also nun eines der Ausstattungselemente als günstig wahrgenommen wird, dann beeinflusst diese Wahrnehmung das Gesamturteil genauso stark, wie wenn das Grundmodell günstig erscheint. Die Einzelurteile werden offenbar gleichgewichtig zu einem Gesamturteil integriert. Bei der Preisgestaltung kommt es nun darauf an, möglichst viele Einzelelemente zu bezeichnen, die als günstig erlebt werden. Im Experiment von Bauer bestanden die Ausstattungselemente 1–3 in der einen Bedingung aus eher kostspieligen Elementen, für die die angegebenen Preise sehr günstig wirken mussten: Allradantrieb (689 €), Klimaanlage (519 €) und Alufelgen (349 €). In einer zweiten, der sog. teuren Bedingung wurden mit denselben Preisen Elemente ausgewiesen, die normalerweise nicht viel kosten und die mit den angegebenen Preisen eigentlich deutlich überbezahlt wären: Zentralverriegelung (689 €), elektrische Antenne (519 €) und Fußmatten (349 €). Die objektive Ausstattung des Angebots war unter beiden Bedingungen gleich, denn was in der einen Bedingung als Sonderausstattung ausgewiesen wurde, war in der anderen Bedingung explizit unter das Grundmodell subsumiert. Trotzdem erschien den Probanden dasselbe Auto zum selben Preis deutlich preisgünstiger, wenn die Sonderausstattung aus Elementen bestand, die normalerweise eher kostspielig sind. Dieser starke Unterschied in der Preiswahrnehmung war nicht darauf zurückzuführen, dass die Probanden jeweils unterschiedlich hohe Preise erinnerten: Sollten die Probanden die Preise im Rückblick schätzen, unterschieden sich die Schätzungen in beiden Bedingungen nicht. Wie . Abb. 9.2 zeigt, kümmert es die Konsumenten offenbar genauso viel, ob sie günstige Fußmatten oder ein günstiges Auto bekommen. Für Händler bedeutet dies, dass sie möglichst alle Elemente eines Angebots, die die Konsumenten als teuer wahrnehmen werden, zusammenfassen, alle als günstig erlebten Elemente aber einzeln ausweisen und vielleicht sogar in weitere Einzelkomponenten aufsplitten sollten. Bei der Beurteilung der Preisgünstigkeit achten Konsumenten nämlich sehr viel stärker darauf, wie oft, als darauf, wie viel sie sparen. 9.3.3 Rückgabegarantien In vielen Lebenslagen ist es angenehm und vorteilhaft, wenn man eine einmal getroffene Entscheidung wieder

zurücknehmen und revidieren kann (z. B. Gilbert & Ebert, 2002). Die Möglichkeit, ein Produkt wieder zurückgeben zu können, sollte daher von Konsumenten hoch geschätzt werden. Dies macht es auch für das Marketing zu einer interessanten Option, den Kunden bei der Rückgabe hohe Freiheiten einzuräumen. Das amerikanische Unternehmen Land’s End bietet zu seinen Produkten gar eine lebenslange Geld-zurück-Garantie. Der Erfolg solcher Strategien zeigt, dass Händler mit der Umkehrbarkeit der Konsumentscheidung Geld verdienen können. Psychologisch gesehen enthält dieses Element der Konditionenpolitik allerdings auch Probleme, wie das folgende Experiment zeigt: Gilbert und Ebert (2002) ließen ihre Probanden zwischen 2 Bildern wählen. Ein Teil der Probanden konnte die Wahl nach einigen Tagen noch einmal rückgängig machen, ein anderer Teil traf seine Wahl endgültig und ohne die Möglichkeit der Revision. Einer Kontrollgruppe wurden diese beiden Bedingungen nur geschildert mit der Frage, welche Bedingung die Probanden bevorzugen würden. Eine deutliche Mehrheit entschied sich bei dieser hypothetischen Entscheidung für die reversible Bedingung. Bei der Vorhersage, wie ihnen das gewählte Bild nach einigen Tagen gefallen würde, erwarteten alle Probanden eine leichte Verbesserung gegenüber dem Zeitpunkt der Entscheidung. Die Frage, ob die Entscheidung revidiert werden konnte oder nicht, spielte bei der Vorhersage keine Rolle. Tatsächlich veränderte sich die Zufriedenheit mit dem gewählten Bild weit stärker als von den Probanden vorhergesagt. Wichtiger noch ist aber, dass sich die Zufriedenheit in der reversiblen und der irreversiblen Bedingung in unterschiedliche Richtungen veränderte. Wer seine Wahl wieder rückgängig machen konnte, war nach 2 Tagen erheblich weniger zufrieden mit dem Bild als zum Zeitpunkt der Wahl. Für Probanden, die ihre Entscheidung nicht mehr umkehren konnten, stieg über die Zeit die Zufriedenheit mit dem gewählten Bild dagegen deutlich an. Die Unterschiede zwischen reversibler und irreversibler Wahl waren auch nach 11 Tagen noch immer stabil. Dieser Effekt einer irreversiblen Wahl kann übrigens nicht damit erklärt werden, dass Personen sorgfältiger abwägen, wenn sie ihre Entscheidung nicht mehr rückgängig machen können: Der Effekt stellt sich auch dann ein, wenn die Probanden erst nach ihrer Wahl erfahren, ob sie ihre Entscheidung noch einmal revidieren können oder nicht (Gilbert & Ebert, 2002).

157 9.4 · Vertriebspolitik

Menschen haben generell die Tendenz, sich mit dem zu arrangieren, was sie haben, und nicht allzu lange nach dem zu verlangen, was sie sowieso nicht haben können. Diese Tendenz findet sich in unzähligen Effekten der Psychologie wieder. Gilbert und Ebert (2002) sprechen hier von einem »psychologischen Immunsystem«, das allerdings auf bestimmte auslösende Bedingungen angewiesen ist. Eine dieser Bedingungen ist die Unveränderbarkeit der Umstände. Mit einer Realität, die man noch verändern kann, muss man sich sinnvollerweise nicht abfinden. Mögliche Mängel bleiben salient, eine eventuelle Unzufriedenheit bleibt erhalten. Die Aufwertung des Gegebenen und die Abwertung von nicht realisierten Alternativen setzen erst dann ein, wenn die Umstände nicht mehr geändert werden können. Die adaptive Tätigkeit des »Immunsystems« bleibt typischerweise unbewusst. Daher ist es auch nicht überraschend, dass in der Untersuchung von Gilbert und Ebert (2002) die Probanden ihre spätere Bewertung im Vorhinein weder in ihrer Stärke noch (im Fall der reversiblen Entscheidung) in ihrer Valenz richtig vorhersagen konnten. Diese Befunde lassen eine Konditionenpolitik, die den Konsumenten ein hohes Maß an Freiheit einräumt, ambivalent erscheinen. Lange Fristen für eine Geld-zurück-Garantie, Reservierungen und Entscheidungen in der Schwebe werden zwar einerseits von den Konsumenten begrüßt und steigern damit wohl kurzfristig den Absatz, sie führen aber andererseits letztlich eher zu einer geringeren als zu einer höheren Zufriedenheit. 9.4

Vertriebspolitik

Wie und wo Personen Produkte und Verkäufer antreffen, ist nicht nur eine Frage der Logistik, sondern auch der Motive und Gewohnheiten der Konsumenten. Dies zeigt sich bereits auf demographischer Ebene: Rentner, Großfamilien, gut verdienende Singles oder weniger einkommensstarke Studierende unterscheiden sich deutlich darin, wo, zu welchem Zeitpunkt oder in welchen Mengen sie einkaufen. An die hiermit verbundenen Gewohnheiten müssen sich Anbieter mit ihrer Erreichbarkeit, mit der Lage der Geschäfte und den Öffnungszeiten anpassen. Blackwell, Miniard und Engel (2006) empfehlen, möglichst viele Vertriebskanäle gleichzeitig zu betreiben (»multichannel retailing«), um möglichst viele Konsumenten zu errei-

chen. Immerhin ist es einfacher, das Verkaufsformat den Lebensgewohnheiten der Konsumenten anzupassen, als umgekehrt die Lebensgewohnheiten von Menschen zu verändern (Blackwell et al., 2006, S. 172; s. hierzu aber die 7 Info-Box). Info-Box

Anpassung um jeden Preis? Wer seinen Abend im Biergarten des Klosters Andechs verbringen will, kann dort eine Überraschung erleben: »Das populäre Braustüberl auf dem Heiligen Berg schließt täglich um 21 Uhr, egal wie groß der Andrang noch ist« (Wieking, 2000, S. 63). Die Ordensregeln des Benedikt von Nursia aus dem Jahr 529 sind für die Mönche bis heute bindend. Sie regeln die Nachtruhe wie auch die Verpflichtung zur Gastfreundschaft. Von Letzterem profitieren im Jahr gleich mehrere Hunderttausend Besucher – und lassen sich von den restriktiven Öffnungszeiten nicht abschrecken. Das Festhalten an Ordensregeln erscheint aus marktpsychologischer Perspektive nur auf den ersten Blick unprofessionell: Tatsächlich ist diese Konsequenz ein wichtiger Baustein in der Glaubwürdigkeit, mit der die Marke insgesamt auftritt. Man muss sich übrigens nicht auf Klosterregeln berufen, um mit einer restriktiveren Vertriebspolitik letztlich erfolgreicher zu sein, als wenn man alle Absatzmöglichkeiten gleichzeitig nutzt. Die Frage ist immer, ob man durch das Eingehen auf Kundenwünsche möglicherweise an Profil, Eigenständigkeit und Glaubwürdigkeit einbüßt. Vor dieser Frage stehen z. B. Produkte aus dem Ökobereich, die über lange Zeit nur in speziellen Läden zu haben waren, aber dank dem entsprechenden Verbraucherinteresse zunehmend auch über Discounter vertrieben werden (siehe z. B. Brohmann & Eberle, 2006).

9.4.1 Direktmarketing Formen des Direktmarketing Der Vertriebsweg sollte zu den Gewohnheiten der Konsumenten passen. Hier hat sich in den letzten Jahren viel getan: Physisch vorhandene Verkaufsräume wie etwa einzelne Geschäfte, Filialen größerer Ketten und Einkaufszentren werden in den letzten Jahren tendenziell

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Kapitel 9 · Marketinginstrumente – psychologisch betrachtet

weniger besucht, während andere Formen des Vertriebs auf dem Vormarsch sind. Besonders stark entwickeln sich in jüngster Zeit verschiedene Formen des 7 Direktmarketing, insbesondere der Weg über das Internet. Blackwell et al. (2006, S. 173ff) unterscheiden 6 Formen des Direktmarketing, die im Folgenden näher vorgestellt werden: 4 Direktverkauf (»direct selling«): Zu dieser Kategorie zählt jede Art von Verkauf im persönlichen Kontakt außerhalb der eigentlichen Verkaufsräume, so auch z. B. der Besuch der Avon-Beraterin. Nicht nur der Haustürverkauf fällt hierunter, sondern auch Formen des Verkaufs, die durch die Beziehung der Beteiligten angeregt wurden, so etwa auf Tupper-Parties. Beide Firmen, Avon und Tupperware, haben auch damit begonnen, Kundinnen nicht zuhause, sondern am Arbeitsplatz aufzusuchen. Die Kundinnen seien ohnehin meist berufstätig; zudem seien sie außerhalb der eigenen vier Wände zu höheren Ausgaben bereit als zuhause (s. hierzu auch Solomon, 1999, S. 313). 4 Verkauf auf ein Werbeanschreiben hin (»direct mail ads«): Diese Verkaufsform wird vom Marketing anscheinend unterschätzt, denn Umfragen zufolge begrüßen mehr als die Hälfte der Konsumenten direkte Anschreiben. Die Neigung, solche Anschreiben zu öffnen und zu lesen, sinkt allerdings mit höherem Einkommen und höherer Bildung (zu psychologischen Strategien in Mailings 7 Abschn. 9.4.1). 4 Verkauf über Kataloge (»direct mail catalogs«): Diese Verkaufsform verzeichnet eine deutliche Steigerung über die letzten Jahre. Tendenziell kaufen mehr Frauen als Männer anhand eines Katalogs, außerdem haben Katalogkäufer eine leicht überdurchschnittliche Schulbildung und verhalten sich eher freizeitorientiert. 4 Marketing übers Telefon bzw. Telemarketing: Hier kann man unterscheiden zwischen Anrufen, die das Unternehmen nach außen schickt, dem sog. Outbound Telemarketing, und Anrufen, die das Unternehmen entgegennimmt, dem Inbound Marketing. Der Anteil des Outbound Telemarketing am Gesamtvolumen im Direktmarketing ist mit immerhin 20% erstaunlich hoch, wenn man bedenkt, dass sich viele Konsumenten auf Werbeanrufe hin verärgert zeigen. Der Erfolg beruht offenbar auf 2 wichtigen Bedingungen: zum einen auf der punktgenauen Auswahl der Zielgruppe anhand aussagekräftiger demo-

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graphischer Kriterien und zum anderen auf dem kommunikativen Geschick der Mitarbeiter im Call Center (s. auch 7 Abschn. 9.4.1). Verkauf auf eine Antwort durch die Konsumenten hin (»direct response ads«): Bei dieser Verkaufsart werden zunächst die Konsumenten durch Anzeigen in Zeitungen und Zeitschriften zu einer Reaktion aufgefordert, z. B. zum Einsenden eines Coupons oder eines Bestellscheins. Etwa 20% der Käufe von zuhause aus entfallen auf diese Kategorie. Den größten Zuwachs bei »direct response ads« verzeichnet allerdings der Verkauf über Verkaufsprogramme im Fernsehen, bei denen die Konsumenten ebenfalls zu einer Reaktion aufgefordert werden, etwa eine Nummer anzurufen oder eine URL aufzusuchen. Verkauf über das Internet (»e-commerce«): Die wohl größte Revolution in der Vertriebspolitik hat es in den letzten Jahren durch das Internet gegeben. Der Einkauf über das Internet verringert Einschränkungen durch räumliche Distanzen, Öffnungszeiten oder Lagerhaltung. Das Internet erleichtert den Vergleich von Produkten und Preisen, da man innerhalb desselben Augenblicks weltweit Anbieter identifizieren und prüfen kann. Besonders gut eignet sich der Einkauf übers Internet für Waren, die der Käufer schon einigermaßen kennt, die er nicht sofort benötigt, aber auch für Waren, die er immer wieder einkauft.

Psychologische Strategien in Mailings »Was würden Sie sagen, wenn ich an Ihrer Haustüre klingeln würde, Ihnen einen Schlüssel entgegenhalte und Sie als stolzen Gewinner mit den Worten begrüße: ‚Herzlichen Glückwunsch, das ist Ihr neuer Wagen, und der gehört jetzt Ihnen.’?« Dieser Text ist einem Werbebrief entnommen, allerdings keiner allgemeinen und unpersönlichen Werbung, sondern einem Brief, der höchstpersönlich und vertraulich an Sie adressiert wurde. Hier werden gleich mehrere Strategien der psychologischen Beeinflussung verwendet. Die erste und vermutlich in Mailings auch meistgenutzte Strategie baut auf der generellen menschlichen Verlustaversion (z. B. Tversky & Kahneman, 1991) auf. Da Menschen sehr viel stärker motiviert sind, mögliche Verluste abzuwenden, als gleich hohe und gleich wahrscheinliche Gewinne herbeizuführen (7 Abschn. 9.3.2), wird auch im Anschreiben schon suggeriert, dass Ihnen das Auto bereits gehört. Dies wird noch weiter unterstrichen durch Losnummern, Zugangscodes und sogar

159 9.4 · Vertriebspolitik

einen vorab auf Ihren Namen ausgestellten Fahrzeugschein. Diesen Besitz würden Sie ja offenbar aufs Spiel setzen, wenn Sie die geforderten Schritte nicht unternehmen. Eine weitere Strategie ist die Imagination. Stellen Sie sich das vor: »Ich drücke Ihnen die Schlüssel in die Hand, Sie sitzen hinter dem Steuer des Wagens.« Diese Anschaulichkeit erhöht enorm die subjektive Plausibilität (z. B. Fiedler, 2000), man macht sich dieses Bild immer mehr zu eigen – und empfindet es um so aversiver, wenn man nichts unternimmt, um es zu verwirklichen. Gregory, Cialdini und Carpenter (1982) zeigen, dass mit Hilfe der Imagination die Wahrscheinlichkeit gesteigert werden kann, dass eine Person einem Beeinflussungsversuch nachgibt. Der oben erwähnte Werbebrief verwirklicht auch eine besonders wirksame Form der Personalisierung: Ein Post-it mit der handschriftlich aussehenden Aufschrift »Antworten Sie schnell und gewinnen Sie zusätzlich 5.000 Euro in bar!« Garner (2005b) zeigt, dass Postits eine besonders wirksame Methode sind, um Menschen bei schriftlichen Aufrufen zur Kooperation zu bewegen. Eine weitere Strategie ist das Prinzip der Verknappung. Menschen werten das auf, was knapp ist oder zu werden droht (z. B. Cialdini, 2001; Felser, 2001), und diese allgemeine Regel wird im Mailing an vielen Stellen ausgenutzt. Wiederholt wird zunächst das Auswahlverfahren betont, mit dem Sie überhaupt in die engere Wahl für die Verlosung gekommen sind. Das erhöht die Exklusivität des Angebots und Ihren privilegierten Status. Dann ist aber auch alles gleich sehr, sehr eilig – auch das ist eine Methode, durch Verknappung eine Aufwertung herbeizuführen. Im Umschlag befinden sich noch eine Menge Papiere, die durch Siegel und Stempel Seriosität suggerieren sollen. Solche Zeichen wirken ähnlich wie Attrappen, das heißt: Man sollte nicht zu genau hinschauen. Bei oberflächlicher Betrachtung genügen diese Seriositätsattrappen vermutlich auch. Eine oberflächliche Prüfung darf man tendenziell bei guter Stimmung erwarten (Bless, Bohner, Schwarz & Strack, 1990). Wer also möchte, dass seine Argumente nicht auf Herz und Nieren geprüft werden, der sollte sein Publikum in eine gute Stimmung versetzen. Zum Beispiel, indem er ihnen suggeriert, sie säßen bereits in dem schönen Wagen, den sie ganz sicher schon gewonnen haben … Interessanter erscheint hier allerdings, dass dem Umschlag die Kopie eines internen Schriftverkehrs beiliegt:

ein vertrauliches Memorandum, in dem einige wichtige Eckpunkte der Verlosung betriebsintern abgestimmt werden, so etwa die zeitliche Befristung und die Bedeutung der korrekten Zulassungsnummer für die Verlosung (die übrigens interessanterweise mit Ihrer übereinstimmt). Auch diese Strategie soll die Glaubwürdigkeit der Werbebotschaft erhöhen: Menschen glauben eher Informationen, die gar nicht für sie selbst bestimmt sind, da sie hinter solchen Botschaften keine Beeinflussungsabsicht vermuten müssen (Walster & Festinger, 1962; 7 Abschn. 9.5.3). Das Memo an den Kollegen, das der Kunde zu sehen bekommt, ist daher vertrauenswürdiger als die strategisch wohlüberlegte Rede des Verkäufers. Eine weitere Strategie, diesmal einem anderen Mailing entnommen: Wieder werden Sie namentlich begrüßt, dann geht es weiter: »… würden Sie sich auch als einen Leser einstufen, der sich für Politik und alles, was so in der Welt geschieht, interessiert?« Nun, so etwas verneinen Sie sicher nicht leichtfertig. Vielleicht täten Sie das aber besser, denn in der Folge erhalten Sie ein Angebot, das genau auf Ihre Interessen zugeschnitten ist und bei dem es Ihrem Bekenntnis zu diesen Interessen diametral entgegenliefe, wenn Sie hierzu nein sagten. Die Strategie dahinter ist die »Fuß-in-der-Tür-Technik« (Freedman & Fraser, 1966). Ihr Grundprinzip zeigt sich anschaulich in folgendem Dialog: »Wir sind doch Freunde, oder?« – »Ja.« – »Und Freunde sollten einander helfen.« – »Richtig.« – »Und Geld sollte dabei keine Rolle spielen, nicht wahr?« – »Nein, sollte es nicht …« – »Kannst du mir 100 € leihen?«. Es werden also beim Gegenüber Schritt für Schritt Verhaltensweisen provoziert, die es ihm immer schwieriger machen, die Richtung seines Verhaltens komplett zu ändern, sobald die eigentliche Forderung kommt. Menschen neigen grundsätzlich dazu, die Richtung, die ihr Verhalten genommen hat, nicht ohne Grund zu ändern. Für die Beibehaltung der Richtung aber brauchen sie keine eigenen Gründe. Darauf baut die Fuß-in-derTür-Technik auf. Allerdings zeigt das Beispiel auch, dass sie sicherlich in der direkten Interaktion, etwa beim Outbound Telemarketing, noch leichter anzuwenden ist als im Mailing. 9.4.2 Gestaltung der Verkaufsräume Für die Konsumenten erscheinen die Lage der Geschäfte im Ort und die Gestaltung der Verkaufsräume als beson-

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Kapitel 9 · Marketinginstrumente – psychologisch betrachtet

ders augenfällige Elemente der Vertriebspolitik. Die Menge der möglichen Einflüsse auf die Zufriedenheit der Konsumenten sind beträchtlich (7 Beispiel): Beispielsweise ist bereits im Vorfeld des Einkaufs zu fragen, ob und wie sich Konsumenten über das Geschäft informieren können, ob sie etwa Prospekte oder Kataloge haben, ob das Geschäft leicht zu erreichen ist, ob man dort Parkplätze findet und wie der Transport der Waren geregelt wird. Dieser letztere Punkt ist nicht nur dann für das subjektive Einkaufserleben relevant, wenn es sich um Möbel handelt oder den Wocheneinkauf mit dem Fahrrad in der Innenstadt. Auch Konsumenten, die eigentlich ausreichend motorisiert sind und über Gepäckraum verfügen, könnten es begrüßen, wenn ihnen Mitarbeiter des Geschäfts beim Einpacken der Ware und dem Transport zum Kofferraum behilflich sind. Dieser Service ist in Deutschland unüblich, in den USA jedoch alltäglich.

Im Verkaufsraum selbst können unübersichtliche und überfüllte Gänge, schlecht gekennzeichnete Ware oder ständig abgelenkte Verkäufer das Einkaufserleben beeinträchtigen (Blackwell et al., 2006), insbesondere dann, wenn der Einkauf selbst keine freiwillige Wunschbeschäftigung darstellt (Hui & Bateson, 1991). Ein angenehmes Umfeld im Verkaufsraum kann erheblich zum Verkaufserfolg beitragen. Donovan, Rossiter, Marcoolyn und Nesdale (1994) zeigen, dass die durch das Umfeld induzierte Stimmung 5 Minuten nach Betreten der Verkaufsräume sowohl die im Geschäft verbrachte Zeit als auch die Menge der ungeplanten Käufe vorhersagen kann. Allgemeine Aktivation steht dagegen mit dem Verhalten im Verkaufsraum in keinem eindeutigen Zusammenhang. Die Befunde lassen sich erklären, wenn man den Konsumenten bestimmte Attributionsprozesse unterstellt (strukturell ähnliche Überlegungen deuten auch Donovan et al. an): In einem Verkaufsraum,

Beispiel

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Eine weitgehend immer gleiche Gestaltung, wie man sie etwa bei den Ikea-Filialen antrifft, erleichtert nicht nur die Orientierung. Sie kann überdies auch die Kaufbereitschaft psychologisch unterstützen: Beispielsweise kann eine frühe Präsentation von hochpreisigen Produkten (z. B. Küchen, Wohnzimmer) im Sinne eines Ankereffekts spätere Produkte preisgünstiger erscheinen lassen. Ungeplante, impulsive Käufe sind gegen Ende des Einkaufs wahrscheinlicher als an dessen Anfang. Dies gilt nicht nur, weil – wie oben schon gesagt – spätere Ausgaben im Kontext der bereits verausgabten Summe klein und unscheinbar erscheinen (Christensen, 1989). Konsumenten kaufen auch impulsiver, wenn sie bereits eine anstrengende Tätigkeit hinter sich haben (Vohs & Faber, 2007). Der Impulskauf wirkt dann belohnend und stimmungsregulierend – und ein Einkauf, der eine Reihe von Überlegungen und Entscheidungen abverlangt, kann durchaus als hinreichend anstrengend gelten, um ein solches Bedürfnis nach Stimmungsregulation hervorzurufen (Baumeister, 2002). Offenbar ist es also aus mehreren Gründen sinnvoll, dass Ikea preisreduzierte Rest- und Einzelstücke (deren Kauf der Konsument ja nicht geplant haben kann) eher am Aus- und nicht am Eingang präsentiert. Die unattraktive, lagerartige Gestaltung des Verkaufsraums am Ausgang kann auch positive Effekte auf den Verkauf haben, nämlich dann, wenn die Konsu-

menten dies als Hinweis auf geringen Preis deuten: Eine einfache Faustregel beim Vertrieb besagt, dass jeder Zwischenschritt zwischen Hersteller und Endverbraucher Kosten verursacht. Nach dieser Faustregel werden auch Konsumenten Angebote über unterschiedliche Vertriebskanäle beurteilen; d. h., sie dürften Angebote, die nach einem direkten Vertrieb aussehen, als preisgünstiger erleben, im Vergleich zu Angeboten, die einen indirekten Vertrieb suggerieren. Dies ist einer der Gründe, aus denen etwa der Verkauf von Reisen, Bahn- oder Flugtickets am Terminal oder übers Internet eine lukrative Alternative zum traditionellen Vertrieb über Schalter und Reisebüros darstellt. Auch sog. Factory Outlets sind nicht zuletzt wegen des verkürzten Vertriebsweges attraktiv. Diese Verkaufsstätten werden von den Herstellern selbst betrieben, die denn auch selbst bestimmen, wie die Ware präsentiert und angeboten wird. Oft befinden sich diese Outlets in der Nähe des Produktionsbetriebes. In der Regel werden dort die Waren zu sehr günstigen Preisen verkauft, allerdings handelt es sich dabei aber auch vornehmlich um überschüssige Produkte, Versuchsserien, die nicht auf den Markt gekommen sind, Ware zweiter Wahl oder Auslaufmodelle. Durch den Sonderstatus der Geschäfte wird auch beim Verkauf von Auslaufmodellen oder Ware zweiter Wahl das Image des Unternehmens geschont (Kotler & Bliemel, 1995, S. 858).

161 9.5 · Kommunikationspolitik

der als wenig ansprechend erlebt wird, attribuieren Konsumenten ihre Aktivation auf das Umfeld. Wenn Personen also hoch aktiviert sind, empfinden sie eine unangenehme räumliche Umgebung noch unangenehmer, als wenn sie gering aktiviert gewesen wären. In der Folge sind sie weniger kaufgeneigt. Donovan et al. empfehlen daher, in Verkaufsräumen, die an sich wenig ansprechend gestaltet sind (z. B. in vielen Discountern, vgl. auch die einer Lagerhalle ähnelnde Verkaufsfläche in den Metro-Filialen), auf aktivierende Stimuli (z. B. euphorische Musik, helles Licht, helle Farben) eher zu verzichten. Wie wichtig die Befindlichkeit der Konsumenten in den Verkaufsräumen selbst ist, lässt sich auch daran ablesen, dass mehr als zwei Drittel aller Kaufentscheidungen vor Ort im Geschäft selbst gefällt werden. Die Zahl variiert je nach Produktkategorie und ist erwartungsgemäß am höchsten bei Produkten, die häufig aus einem Impuls heraus gekauft werden, z. B. Süßigkeiten, Kaugummi oder Kosmetik (s. Solomon, 1999, S. 316). Zu den Merkmalen, die das Befinden in den Verkaufsräumen beeinflussen, gehören u. a. Farben und Beleuchtung. Zum Beispiel fanden Bellizi und Hite (1992), dass die Kaufneigung in einer blau gestalteten Umgebung stärker war als bei roter Farbe. Auch hier zeigte sich, dass die Aktivation die Kaufneigung nicht vorhersagt: Obwohl die rote Farbe stärker aktivierte, hatte Blau die angenehmere Stimmung erzeugt, was letztlich offenbar die größere Bedeutung hatte. Was die Beleuchtung betrifft, so wird Tageslicht, soweit möglich, einer künstlichen Beleuchtung vorgezogen. Wal-Mart verzeichnet höhere Absätze in Filialen, die mit Tageslicht beleuchtet werden können. Bei hellerer Beleuchtung untersuchen Konsumenten die Waren intensiver. Allerdings kann Beleuchtung auch so gestaltet werden, dass sie Fehler und Mängel verdeckt. Dies gilt nicht nur für die Waren. Die Modedesignerin Norma Kamali ließ in Verkaufsräumen statt der üblichen Neonbeleuchtung ein pink eingefärbtes Licht anbringen. In diesem Licht sollten die Kundinnen vorteilhafter aussehen; z. B. sollten Runzeln und Falten weniger sichtbar sein. In der Folge probierten und kauften die Kundinnen mehr Bademode als bei der üblichen Beleuchtung (Beispiele zitiert nach Solomon, 1999, S. 316) Der Geruch in den Verkaufsräumen hat eine Reihe von Effekten (z. B. Knoblich, Scharf & Schubert, 2003). Eine besonders auffallende Wirkung finden Spangenberg, Crowley und Henderson (1996) in einem Experi-

ment auf das subjektive Zeiterleben: Probanden in bedufteter Umgebung erlebten ihren Aufenthalt in den Verkaufsräumen als kürzer im Vergleich zu Probanden in einer unbedufteten Umgebung. Dabei lag die Fehleinschätzung bei den Probanden in der unbedufteten Bedingung. Diese waren nämlich der Meinung, sie seien länger in den Verkaufsräumen gewesen, als tatsächlich der Fall war. Auch eine positivere Bewertung der Produkte war zu beobachten, diese war allerdings nicht über alle Produktkategorien gleich stark. 9.5

Kommunikationspolitik

9.5.1 Public Relations Das Unternehmen im nachfolgend geschilderten 7 Beispiel betreibt Kommunikationspolitik, mit Werbung hat diese Maßnahme aber nichts zu tun. Werbung ist zwar eine prominente, aber offenbar bei weitem nicht die einzige Methode, die das Marketing nutzt, um mit Konsumenten zu kommunizieren (zu Werbewirkungs- und Persuasionsforschung s. auch 7 Kap. 2–6 in diesem Band). In der PR-Arbeit sind die Unternehmen auf die Zusammenarbeit mit der Presse angewiesen. Dabei kann diese Pressearbeit durchaus auch in Mitteilungen an eine nichtspezialisierte Tagespresse bestehen. Für die Pflege des Unternehmensimages insbesondere in der Region, wo das Unternehmen ansässig ist, kann diese Arbeit ebenfalls sehr wichtig sein. Adressaten für diese Art der Kommunikation sind nicht nur Kunden und Verbraucher, sondern auch lokale Entscheidungsträger oder potenzielle Arbeitnehmer. Unternehmensimages hängen eng mit der Qualität der Bewerber und ebenso der späteren Arbeitskräfte zusammen: Wer ein entsprechend positives Image hat, wird als Arbeitgeber von höher qualifizierten Bewerbern nachgefragt und findet dementsprechend auch attraktivere Arbeitskräfte (Turban & Cable, 2003). Die PR der Unternehmen werden besonders wichtig in Krisensituationen, etwa wenn der Ruf des Unternehmens bedroht ist. Ein prominentes Beispiel für eine solche Situation ist der Versuch des Shell-Konzerns aus dem Jahr 1995, die nicht mehr benötigte Bohrinsel Brent Spar in der Nordsee zu versenken. Diese Absicht wurde durch Umweltaktivisten von Greenpeace bekannt gemacht und fügte dem Konzern erheblichen Imagescha-

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Kapitel 9 · Marketinginstrumente – psychologisch betrachtet

Beispiel

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Der Hersteller lädt ein in eines der angesagtesten Hotels in einer deutschen Metropole. Es gibt feines Essen, man parliert mit Marketing- und Geschäftsleitung, und nach einer Luxusübernachtung gibt es am nächsten Tag eine Produktpräsentation. Vorher allerdings wird noch etwas für die Bildung getan: Ein unterhaltsamer Fachvortrag über einThema, das mit dem Produkt nur lose zusammenhängt. Es gibt ein exotisches Büffet, und dann werden alle Gäste mit einem Shuttle zu einer Ballonfahrt kutschiert. Die geladenen Gäste sind freilich keine alltäglichen Endverbraucher, sondern Journalisten, die für die Fachpresse schreiben. Sie werden bei dieser Gelegenheit ganz offiziell mit einer Produktneurung vertraut gemacht, dürfen das Produkt natürlich auch ausprobieren und sollten dann bitte, bitte wohlwollend darüber berichten. Der Bericht darf allerdings nicht vor der offiziellen Markteinführung erscheinen, die erst eine Woche später stattfindet. Auch wenn das Hotel sicher eines der teuersten am Ort war und auch die restlichen Wohltaten nicht eben gratis waren, hat diese Marketingmaßnahme das Unternehmen noch immer nur einen Bruchteil dessen gekostet, was es parallel dazu für seine Werbung ausgeben wird. Was genau die Journalisten schreiben werden, hat das Unternehmen zwar nicht mehr im Griff, aber auch Journalisten fühlen sich der Reziprozitätsnorm verpflichtet (z. B. Cialdini, 2001) und werden hoffentlich nach dieser großzügigen Behandlung vor einem totalen Verriss zurückschrecken.

den zu (zum Überblick z. B. Greenpeace, 2005). Die Bedeutung der Medienarbeit ist in diesem Zusammenhang vonseiten des Konzerns stark unterschätzt worden. So konnte beispielsweise Greenpeace mit deutlich übertriebenen Schätzungen der in der Plattform enthaltenen Ölrückstände internationales Aufsehen erregen und weit reichende Boykotts von Shell-Tankstellen auslösen, ohne dass Shell auf diese Informationen angemessen reagierte. Die falschen Schätzungen wurden später von Greenpeace offiziell zurückgenommen, der Imageverlust war dadurch aber nicht zu kompensieren (s. auch Löding, Schulze & Sundermann, 2006). Shell sah sich gezwun-

gen, die Ölplattform an Land zu entsorgen. Erst einige Monate später reagierte der Konzern mit einer Gegenkampagne, zunächst mit dem defensiv angelegten Slogan »Wir haben verstanden«. Auch das Motto der sich daran anschließenden Kampagne lief klar auf die Übernahme von Verantwortung hinaus: »Shell – wir kümmern uns um mehr als Autos.« In der Tat zeigt sich, dass es durchaus positive Konsequenzen haben kann, wenn ein Unternehmen für negative Ereignisse der Vergangenheit öffentlich die Verantwortung übernimmt. Lee, Peterson und Tiedens (2004) können sogar zeigen, dass sich Unternehmen, die in den Jahresberichten explizit eine Teilschuld für eine nicht optimale Unternehmensentwicklung übernehmen, im Folgejahr eine bessere Entwicklung durchlaufen als Unternehmen, die keine Verantwortung übernehmen. Erklärt wird der Effekt damit, dass die Übernahme von Schuld auch Kontrollierbarkeit impliziert, so dass die Anleger davon ausgehen, dass der Kurs von dem Unternehmen positiv beeinflusst werden kann – und wird. Diese Überlegungen scheinen offenbar die Anleger zu ermutigen, so dass die Unternehmen von der zunächst wenig positiven Unternehmensentwicklung letztlich profitieren. Gegenwärtig hat sich unter dem Schlagwort »corporate social responsibility« die Bereitschaft, über die Unternehmenstätigkeit hinaus Verantwortung zu übernehmen, noch erheblich weiter entwickelt. Unternehmen, die sich dieser Verantwortung verschreiben, erklären sich dazu bereit, »auf freiwilliger Basis soziale Belange und Umweltbelange in ihre Unternehmenstätigkeit und in die Wechselbeziehungen mit den Stakeholdern zu integrieren« (Europäische Kommission 2001, zitiert nach Bassen, Jastram & Meyer, 2005, S. 232; vertiefend zu diesem Thema 7 Kap. 17, »Bürgersinn«, in diesem Band). 9.5.2 Kommunikation mit Multiplikatoren

und die Diffusion von Produktinnovationen In der Produktpräsentation aus dem Beispiel im vorherigen Abschnitt richtete sich die Kommunikation an spezielle Multiplikatoren, die an einer wichtigen Schaltstelle für die Weiterleitung der Information sitzen: Hier bestimmen Fachjournalisten, was die interessierten Konsumenten über das Neueste auf dem Markt erfahren

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werden. In anderen Fällen richtet sich die Kommunikation direkt an Endverbraucher, so etwa, als Microsoft vor der Einführung von Windows 95 Beta-Versionen des neuen Betriebssystems an 450.000 Computernutzer ausgegeben hat. Diese Strategie führte nicht nur dazu, dass Mängel im System frühzeitig entdeckt und beseitigt werden konnten. Noch wichtiger war vielleicht der kommunikative Effekt dieser Maßnahme. Jedenfalls war nach dem Start des Verkaufs am 24. August 1995 Windows 95 mit 1 Mio. verkaufter Exemplare innerhalb von 4 Tagen die am schnellsten verkaufte Software aller Zeiten (Marsden, 2004). Wie neue Produkte ihren Weg zum Konsumenten finden, ist eine der wichtigsten Fragen des Marketing. Diese Frage wird umso dringlicher, als sich mittlerweile längst Zeichen einer Innovationsunlust im Markt zeigen (Dethloff, 2004). Offenbar verändert sich insbesondere der Markt für technische Produkte schneller als der Bedarf der Konsumenten. Dethloff (2004) zeigt darüber hinaus, dass die Innovationsmüdigkeit besonders ausgeprägt ist bei Produkten, die sich außerordentlich rasant verändern (z. B. Haushaltsgeräte). Um die Bereitschaft zur Übernahme einer Neuerung einzuschätzen, ist es daher offenbar erforderlich, die Effekte ganzer Serien von Innovationen zu betrachten: Häufige Veränderungen in der Vergangenheit gehen mit einer verringerten Bereitschaft einher, eine weitere Neuerung beim Produkt zu akzeptieren. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass für die Diffusion von Innovationen die persönliche Kommunikation der Konsumenten untereinander eine mindestens so große Rolle spielt wie die Werbung. Batinic und Appel (2007) zeigten die Bedeutung der persönlichen Kommunikation für eine Konsumhandlung experimentell: Sie präsentierten einer Experimentalgruppe einen neuen, den Probanden nicht bekannten Film, der wenig später offiziell in die Kinos kommen sollte (»Terminator 3«). Aus einer Voruntersuchung waren Namen und Adressen von Personen aus dem Freundeskreis der Experimentalund einer Kontrollgruppe bekannt. Diese Freunde wurden in der Folge befragt. Für die Experimentalgruppe zeigte sich, dass 36% der Freunde nach 2 Wochen den Film gesehen hatten. Im Freundeskreis der Kontrollgruppe, der kein Film gezeigt wurde, waren es nur rund 24%. Offenbar hat die bloße Tatsache, dass ein Freund einen Film bereits gesehen hat, einen großen Einfluss auf die eigene Bereitschaft, für diesen Film ins Kino zu gehen.

Frühere Theorien zur Innovationsübernahme gehen davon aus, dass Menschen rationale Entscheidungen darüber treffen, ob sie eine Neuerung übernehmen wollen. Dabei kommt zum einen die Einschätzung des erwartbaren Nutzens, zum anderen aber auch eine persönliche Grundbereitschaft und Offenheit zur Übernahme von Neuerungen zum Tragen (z. B. Rogers, 1995). Für die Gültigkeit eines solchen Modells spricht u. a. die Tatsache, dass einer der wichtigsten Faktoren bei der Innovationsneigung das wahrgenommene Risiko ist (Dethloff, 2004). Die persönliche Offenheit gegenüber Neuerungen ist der zweite Faktor bei der Innovationsübernahme. Diese Offenheit wird als stabiles Merkmal von Personen verstanden. Zu ihrer Messung stehen verschiedene Instrumente zur Verfügung (z. B. King & Summers, 1970; Rogers & Cartano, 1962; s. auch Flynn, Goldsmith & Eastman, 1994). Auch für die Bedeutung dieses zweiten Faktors, der stabilen Personunterschiede bei der Diffusion von Innovationen, gibt es reichlich Evidenz. So zeigt sich etwa in dem oben zitierten Experiment von Batinic und Appel (2007), dass nicht alle Personen gleich gut geeignet sind, die Konsumhandlung bei anderen anzuregen: Es waren v. a. Meinungsführer und Filmkenner, die andere zu einem Kinobesuch anregen konnten. Produktexpertise und Meinungsführerschaft prägen also als differenzielle Merkmale bestimmter zentraler Personen die Konsumgewohnheiten vieler anderer. Insofern ist es eine besondere Aufgabe der Kommunikationspolitik, speziell solche Multiplikatoren anzusprechen. Risikoabschätzung und individuelle Offenheit bestimmen also nachweislich die Wahrscheinlichkeit einer Innovationsübernahme. Aber auch affektive und emotionale Komponenten, die in den Modellvorstellungen von Rogers (1995) erstaunlicherweise nicht vorkommen, spielen bei der Innovationsbereitschaft eine wichtige Rolle. Dies zeigt sich z. B. in dem Befund, dass die Bereitschaft zur Übernahme von Neuerungen eng mit dem Personmerkmal »Hedonismus« zusammenhängt (Dethloff, 2004). Ein jüngeres Modell von Batinic (siehe z. B. Batinic, Haupt & Wieselhuber, 2006) sieht die Diffusion von Innovationen als Prozess, dessen Verlauf wesentlich durch Trendsetter bestimmt wird. Trendsetter sind mehr als reine Innovatoren. Letztere zeichnen sich dadurch aus, dass sie früh eine Technologie aufgreifen, die als neu wahrgenommen wird. Trendsetter tun dies auch, sie neigen aber in der Folge dazu, in der Kommunikation mit

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Kapitel 9 · Marketinginstrumente – psychologisch betrachtet

ihrem sozialen Umfeld bestimmte Aspekte der Neuerung hervorzuheben und andere in den Hintergrund zu drängen. Anders ausgedrückt: Sie lenken die Aufmerksamkeit ihrer Freunde und Bekannten auf bestimmte Aspekte des Angebots und sprechen Empfehlungen aus. Wichtig ist dabei, dass der Trendsetter »das Potential einer Innovation frühzeitig erkennt, ihre Bedeutung in die bestehenden Strömungen einordnet und dies an sein soziales Umfeld weitergibt« (Batinic et al., 2006, S. 61). Ob man nun von Meinungsführern, Innovatoren oder Trendsettern spricht, in jedem Fall zeigt sich, dass Innovationen von bestimmten Personen eher verbreitet werden als von anderen. Gleichwohl sind die Personmerkmale nicht allein entscheidend: Soziale Netzwerke und die darin stattfindenden Kommunikationsprozesse sind für die Diffusion von Neuerungen ebenso wichtig wie die Eigenschaften der zentralen Multiplikatoren. Auch das subjektiv Erlebte der Innovation kann nicht in allen Fällen plausibel machen, warum sich diese Innovation durchgesetzt hat und jene nicht. Manche Trends und Modeerscheinungen lassen sich kaum noch als das Ergebnis einer Risikoabwägung einzelner Meinungsführer beschreiben. Der durchschlagende, wenn auch teilweise kurzfristige Erfolg von Tamagotchis, von weit unterhalb der Hüfte getragenen Schlabberhosen oder verkehrt getragenen Baseballmützen erscheint eher einer Epidemie vergleichbar als einem technologischen Entwicklungsschritt – und doch ist er für das Marketing ebenfalls wichtig. Unter den Bezeichnungen »tipping point research«, »viral culture«, »memetics« oder »buzz marketing« sind Modelle populär geworden, die sich mit der Verbreitung von solchen Modeepidemien, von ansteckenden Ideen (»infectious ideas«) beschäftigen. Marsden (2004; s. auch Gladwell, 2000) führt die Verbreitung von Ideen und Verhaltensweisen auf 3 Faktoren zurück: Das Gesetz der Wenigen (The rule of the few). Ideen werden auch in diesem Modell nicht von allen Personen mit der gleichen Wahrscheinlichkeit weitergetragen. Die Kommunikation des Marketing sollte sich vielmehr an Personen richten, die das sog. ACTIVE-Profil besitzen. Dabei steht ACTIVE als Akronym für die englischsprachige Bezeichnung der folgenden Merkmale: Wer das ACTIVE-Profil besitzt, 4 gehört zu den ersten, die eine Innovation übernehmen (»ahead in adoption«), 4 ist sozial und elektronisch vernetzt (»connected«), 4 reist gern (»travellers«),

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ist wissbegierig (»information hungry«), redet gern (»vocal«) und rezipiert die Medien (»exposed to media«).

Der Verankerungsfaktor (The stickiness factor). Ideen (bzw. Produkte) haben ein unterschiedlich starkes »Ansteckungspotenzial«. Dieser Gedanke erinnert an frühere betriebswirtschaftliche Modelle, die die Wahrscheinlichkeit der Innovationsübernahme aus Merkmalen des Produkts vorhergesagt haben, so etwa den 3 folgenden: relative Vorteilhaftigkeit, Kompatibilität und Komplexität (z. B. Rogers, 1995). In dieser allgemeinen Form erscheinen diese Faktoren ungeeignet, denn zum einen lässt sich nicht sagen, was diese Merkmale im Einzelfall bedeuten sollen, zum anderen hängt die Innovationsbereitschaft ohnehin von der Wahrnehmung dieser Merkmale bei den Konsumenten ab, also von einer psychologischen Größe. In der Weiterführung des Gedankens wird eine Reihe von subjektiven Bewertungen der Produkte hinzugenommen (s. Marsden, 2004). Danach verfügen Ideen und Produkte über ein besonders hohes Ansteckungspotenzial, wenn sie 4 als die Besten ihrer Art wahrgenommen werden (»excellence«), 4 als einzigartig gelten (»uniqueness«), 4 ästhetisch ansprechend sind (»aesthetics«), 4 positive Assoziationen wecken (»association«), 4 ein emotionales Engagement erzeugen (»engagement«), 4 die Werte des Nutzers repräsentieren (»expressive value«), 4 funktionalen Wert haben (»functional value«), 4 nostalgische Gefühle wecken (»nostalgic value«), 4 Charakter und Persönlichkeit besitzen (»personification«), 4 einen angemessenen Gegenwert zu ihrem Preis bieten (»cost«). Die Macht der Umgebung (The power of context). Die ansteckende Idee muss auf passende Kontextbedingungen treffen. Sowohl die sozialen und mentalen als auch die physischen Umweltbedingungen müssen die Idee fördern. Der entscheidende Gedanke hierbei ist, dass Konsumenten üblicherweise in einer Umwelt leben, an die sie sich angepasst haben, dass aber schon leichte Veränderungen dieser Umwelt weitere Anpassungsleistungen auslösen werden. Solche Kontexte können in

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Steuern und Bahnpreisen, in der Architektur der Häuser oder der Versorgung mit Rechnern am Arbeitsplatz bestehen. Dramatisch zeigt sich die Bedeutung solcher kleinen Umweltveränderungen bei der Erforschung von Vandalismus und Kriminalität: Sobald in einer Wohngegend nur eine einzige Fensterscheibe sichtbar zerbrochen ist, steigt die Wahrscheinlichkeit von weiteren Fensterbrüchen sprunghaft an. Die Häufigkeit von Überfällen in der U-Bahn sinkt erheblich, wenn von den Zügen und Wänden die Graffiti entfernt werden (z. B. Kelling & Coles, 1996). In ähnlicher Weise wird also auch erwartet, dass sich Konsumgewohnheiten bereits mit kleinen Variationen in der Umwelt ändern (Gladwell, 2000; Marsden, 2004). Das Marketing muss also neben den Konsumenten auch deren Umwelt erforschen und ggf. beeinflussen. Die Bedeutung von Umweltbedingungen und Kommunikationsstrukturen zeigt sich auch daran, dass Menschen manchmal ganz unverhofft und ohne von ihrer Persönlichkeit dazu prädestiniert zu sein, zu Meinungsführern und Multiplikatoren werden. Berufliche Rollen oder eine bestimmte Lebenserfahrung können einen Menschen für andere zu einem wichtigen Informanten machen. Diese Funktion übernehmen z. B. junge Eltern schnell füreinander, wenn die Verunsicherung beim Umgang mit dem neuen Erdenbürger und der zugehörige Informationsbedarf besonders groß sind. Trotzdem zeigt sich an den geschilderten Modellen, dass es nicht nur auf Rollen und Lebensumstände, sondern wesentlich auch auf Persönlichkeitsmerkmale ankommt: Die Kommunikationspolitik ist gut beraten, wenn sie insbesondere Menschen mit den passenden Merkmalen anspricht, denn offenbar ist nicht jeder zum Multiplikator gleich gut geeignet. 9.5.3 Die direkte Kommunikation

mit dem Kunden Der unmittelbare Kontakt zwischen Unternehmen bzw. Händlern und Kunden ist sicher die pointierteste Form der Kommunikationspolitik. In 7 Abschn. 9.4.1 wurde auf die wachsende Bedeutung des Direktmarketing hingewiesen. Hier finden sich bereits einige Fälle, in denen eine besonders enge Kommunikation zwischen Kunde und Händler besteht. Eine enge Interaktion ist für die Unternehmen nicht nur im Moment des Kaufs bzw. während der Kaufver-

handlungen wichtig. Unter dem Schlagwort Customer Relationship Management (CRM) sind in den letzten Jahren in den Unternehmen Bestrebungen verstärkt worden, existierende Kunden zu halten und zu binden. Diese Strategie ist deshalb besonders sinnvoll, weil es ökonomisch wesentlich effizienter ist, Kunden zu halten und zu binden, als neue hinzuzugewinnen. Reichheld und Sasser (1990) berichten, dass Unternehmen ihren Umsatz je nach Branche zwischen 25 und 85% steigern konnten, wenn sie die Abwanderungsrate ihrer Kunden um 5% senkten. Dies macht die Pflege der Kundenbeziehungen zu einem weiteren wichtigen Baustein der Kommunikationspolitik (Kantsperger, 2005; 7 Kap. 8 in diesem Band). Eine psychologisch besonders interessante Form der Kommunikationspolitik ist aber sicher die Interaktion zwischen Verkäufer und Kunde. Viele Strategien der sozialen Beeinflussung lassen sich am effektivsten in der direkten Interaktion durchführen, so etwa die Fuß-inder-Tür- oder die Tür-ins-Gesicht-Technik (siehe z. B. Cialdini, 2001; Felser, 2001; 7 Info-Box). Dennoch dürfte ein Unterschied bestehen zwischen dem »gerissenen« und auf seinen kurzfristigen Vorteil bedachten Anwender psychologischer Verkaufstricks und dem Verkäufer, der es versteht, Vertrauen und eine langfristige Beziehung aufzubauen. Swan, Bowers und Richardson (1999) stellten in einer Metaanalyse zusammen, von welchen Merkmalen es abhängt, ob Kunden einem Verkäufer vertrauen. Danach haben z. B. Sachverstand und Kompetenz eines Verkäufers einen starken Einfluss auf seine Vertrauenswürdigkeit. Interessanterweise sind aber diese zentralen Verkäufermerkmale nicht die stärksten Determinanten der Vertrauenswürdigkeit: Wichtiger noch als der Sachverstand erscheint in den Befunden von Swan et al. (1999) ein Merkmalskomplex, den sie mit den Begriffen Gutmütigkeit, Fairness und Wohlwollen des Verkäufers umschreiben. Konsumenten unterstellen diese Merkmale, wenn sie den Eindruck haben, der Verkäufer verfolge nicht ausschließlich eigene Interessen. Wird dagegen im Verkaufsgespräch deutlich, dass der Händler z. B. auf eine Provision hofft, löst dies Reaktanz aus und die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Verkaufs sinkt (z. B. Wicklund, Slattum & Solomon, 1970). Im Grunde ist jede deutlich sichtbare Beeinflussungsabsicht des Verkäufers dem Vertrauen und dem Beeinflussungserfolg abträglich. Dies macht auch Kommunikationsformen besonders effektiv, die keine Hinweise auf

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Kapitel 9 · Marketinginstrumente – psychologisch betrachtet

Info-Box

Tür-ins-Gesicht-Technik

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Wir geben einer Bitte sehr viel eher nach, wenn wir bereits eine vorausgehende Bitte zurückgewiesen haben. Auf diesem Grundprinzip operiert die Türins-Gesicht-Technik (Cialdini, Vincent, Lewis, Catalan, Wheeler & Darby, 1975). Der Fragende lässt sich gleichsam absichtlich die Tür vor der Nase zuschlagen, um dann ein zweites Mal an derselben Stelle mit einer Bitte aufzuwarten. Der zweiten Bitte wird mit deutlich erhöhter Wahrscheinlichkeit entsprochen. Deshalb ist bei dieser Technik meist das eigentliche Anliegen des Fragenden erst in der zweiten Bitte enthalten. Die Tür-ins-Gesicht-Technik wird häufig mit anderen Prinzipien der sozialen Beeinflussung kombiniert. Am geläufigsten ist die zusätzliche Ausnutzung des Kontrastprinzips und der Reziprozitätsnorm (Regel der Gegenseitigkeit). Bei der Kombination dieser psychologischen Prinzipien kommt dann eine Technik heraus, die sich anschaulich in folgendem Dialog zeigt: »Könntest du mir 200 € leihen?« – »Nein.« – »Könntest du mir wenigstens 100 € leihen?« Der Fragende hat aus 3 Gründen gute Chancen, seine 100 € zu bekommen. 1. Die befragte Person hat bereits einmal nein gesagt und ihm damit die Tür vor der Nase zugeschlagen (Anwendung der Tür-ins-Gesicht-Technik). 2. Die zweite Bitte wirkt im Vergleich zur ersten klein und harmlos (Kontrastprinzip). 3. Der Fragende ist durch die Reduzierung der befragten Person entgegengekommen. Er kann nun auf die Gegenseitigkeitsnorm hoffen, der zufolge auch die Zugeständnisse in Verhandlungen in einem ausgewogenen Gegenseitigkeitsverhältnis stehen sollten.

eine strategische und mit dem Ziel der Beeinflussung gelenkte Information geben. Dazu zählt eine flüssige, freie und schnelle Sprechweise, insofern nämlich ein flüssiges Sprechen eben nicht kalkuliert wirkt. Felser (2001, S. 322–323) nennt 3 Bedingungen, unter denen eine Verkäuferinformation besonders glaubwürdig ist: 1. Der Empfänger zählt sich selbst gar nicht zum Adressatenkreis (Walster & Festinger, 1962): Zum Beispiel würde der Kunde einer Information mehr Glauben schenken, die er durch Zufall als Zeuge eines Ge-

sprächs zwischen zwei Händlern aufschnappt, als derselben Information, die ihm der Händler direkt und an seine Adresse präsentiert. 2. Die Information wird per Zufall, beiläufig und spontan gegeben, z. B. in Form eines Versprechers, hinter dem man keine Beeinflussungsabsicht vermuten kann. 3. Der Kommunikator »schadet« sich mit der Information selbst, z. B. indem der Verkäufer ein Angebot der Konkurrenz lobt. Da Händler und Verkäufer häufig Repräsentanten eines Unternehmens sind, wird die Verkaufssituation auch davon beeinflusst, was die Kunden über das jeweilige Unternehmen wissen und denken. Das Vertrauen, das der Verkäufer selbst genießen wird, ist umso größer, je höher auch das Vertrauen in die Firma des Verkäufers ist. Diese gleichsinnige Zuschreibung von Vertrauenswürdigkeit kann man als Folge einer mentalen Kategorisierung verstehen, bei der der Verkäufer in die Firma als mentale Kategorie aufgenommen wird und infolgedessen die Verkäufermerkmale an die Merkmale des Unternehmens assimiliert werden. Wie in 7 Abschn. 9.2.1 bereits ausgeführt, sind solche mentalen Kategorisierungen allerdings formbar. Dem Verkäufer mag bei erfolgreichen Unternehmen im Hintergrund eine solche Assimilation hoch willkommen sein, es lassen sich aber durchaus Situationen denken, in denen dies nicht der Fall ist, z. B. wenn das Unternehmensimage durch Krisen und Skandale beeinträchtigt ist. Im Bereich politischer Affären ist zu beobachten, dass manche Politiker im Kontext dieser Affären nicht nur keinen Schaden nehmen, sondern sogar an Ansehen gewinnen (z. B. Schwarz & Bless, 1992). Solche Effekte kann man selbst dann beobachten, wenn die eigene Partei von der Affäre betroffen ist (Bless, Igou, Schwarz & Wänke, 2000). Entscheidend ist hierbei, dass der einzelne Politiker nicht direkt mit der Affäre assoziiert ist und er zudem in der Öffentlichkeit hinreichend bekannt ist, so dass er als eigenständige Persönlichkeit und nicht als »Parteisoldat« gesehen wird (Bless et al., 2000). Vermutlich ist es daher auch für Firmenangehörige möglich, sich dem Kunden gegenüber kontrastierend von dem Unternehmen abzuheben, sofern sie stärker als Person und Individuum auftreten. Sympathie hat bekanntermaßen starke Einflüsse auf die Bereitschaft zur Kooperation (z. B. Cialdini, 2001) und offenbar auch auf das Vertrauen dem Verkäufer ge-

167 9.5 · Kommunikationspolitik

genüber (Swan et al., 1999). Von den wichtigsten Determinanten der Sympathie sind Ähnlichkeit und physische Attraktivität am besten untersucht. Reingen und Kernan (1993) belegen in einer Serie von Experimenten, dass Kunden physisch attraktive Verkäufer nicht nur als geschickter und vertrauenswürdiger wahrnehmen, sondern auch eher auf ihre Vorschläge eingehen und sich bereitwilliger von ihnen beeinflussen lassen. In die Analyse von Swan et al. (1999) sind v. a. Studien eingegangen, bei denen die Sympathie auf der Ähnlichkeit zwischen Verkäufer und Kunde beruht. Welche Rolle z. B. Einstellungsähnlichkeit im Verkauf hat, zeigen Woodside und Davenport (1974) in folgendem Experiment: Die Probanden waren Kunden in einem Schallplattengeschäft. Der Verkäufer stellte nun bei einem Teil der Käufer Einstellungsähnlichkeit her, indem er behauptete, er habe denselben Musikgeschmack wie sie. Die abhängige Variable bestand im Verkauf eines kleinen Reinigungsmittels für Tonköpfe, das den Kunden an der Kasse angeboten wurde. Der Absatz war deutlich höher, wenn zuvor Ähnlichkeit hergestellt wurde. Auch verhältnismäßig nebensächliche Ähnlichkeiten haben eine deutliche Beeinflussungswirkung: Zum Beispiel steigt die Bereitschaft zur Kooperation an, wenn man erfährt, dass die bittende Person am selben Tag Geburtstag(Burger,Messian,Patel,Prado&Anderson, 2004) oder denselben Vornamen (Garner, 2005a) hat wie man selbst. Der letztere Effekt ist übrigens auch in Mailings einsetzbar (7 Abschn. 9.4.1), wenn die ohnehin personalisierten Anschreiben von fiktiven Absendern stammen, die denselben Vornamen haben wie der Adressat. Kunden vertrauen Händlern mehr, mit denen sie schon mehrfach zu tun hatten. Dies ist ein weiterer Befund aus der Metaanalyse von Swan et al. (1999). Der

Effekt der Vertrautheit mit dem Verkäufer auf das Vertrauen ist zwar gering, aber bedeutsam. Hier kann allerdings – zumindest in querschnittlich angelegten Untersuchungen – ein Selektionseffekt vorliegen: VerkäuferKunde-Beziehungen, die nicht von Vertrauen geprägt sind, werden kaum über eine längere Zeit Bestand haben. In diesem Fall wäre nicht das Vertrauen die Folge von längerfristiger Vorerfahrung, sondern umgekehrt: Die Langfristigkeit der Beziehung ergibt sich daraus, dass diese Beziehung durch Vertrauen gekennzeichnet ist. Verkaufstechniken und -strategien gehören nach den Befunden von Swan et al. (1999) allerdings kaum zu den vertrauensbildenden Maßnahmen. In der Metaanalyse wurden vor allem 2 Techniken betrachtet: das gezielte Hinarbeiten auf einen Abschluss (die sog. »closing technique«, eigentlich eine Sammlung von unterschiedlichen Strategien mit immer demselben Ziel) und Techniken des »Einschmeichelns«, also gezielte Versuche, Sympathie zu erzeugen (z. B. Strutton, Pelton & Tanner, 1996). Natürlich sind diese beiden Techniken nicht repräsentativ für das Arsenal an Verkaufsstrategien. Man darf aber bezweifeln, dass unter Einbezug anderer ähnlich offensichtlicher Strategien engere positive Zusammenhänge zwischen dem Einsatz von Verkaufstechniken und dem Aufbau von Vertrauen zu erwarten wären. Man kann von den meisten in diesem Beitrag angesprochenen Marketinginstrumenten als Mittel der psychologischen Beeinflussung und insofern als Strategien sprechen, die eben nur in unterschiedlichem Grade subtil und den Rezipienten wie auch den Anwendern im Marketing in unterschiedlichem Grade bewusst sind. Wenn dies nun den Eindruck verstärkt, dass Marketing im Grunde doch nur aus Psychologie besteht, dann mag dieser Eindruck vielleicht nicht ganz zutreffen, der Wirtschaftspsychologie kann er aber eigentlich nur recht sein.

Fazit Marketing ist ein Gebiet wirtschaftlichen Handelns, das besonders häufig auf psychologisches Wissen zurückgreift. Dies gilt für jede Teilfacette des Marketing: Die Produktpolitik muss sich beispielsweise die Frage stellen, wie einzelne Produkte und Dienstleistungen wahrgenommen werden, wie sie gestaltet werden sollen, damit sie ein hinreichend überzeugendes Qualitätsversprechen abgeben, aber auch, wie sie zu Hersteller, Marke oder der restlichen Produktfamilie pas6

sen. Über Preise und Konditionen können Umsatz und Absatz von Produkten reguliert werden. Allerdings bewerten Kunden Preise selten auf der Basis von exakten Berechnungen; die psychologischen Regeln, die sie stattdessen verwenden, sind aber bekannt und können vom Marketing antizipiert werden. Vermeintliche ökonomische Vorteile für die Konsumenten, wie z. B. Rückgabegarantien, haben auch negative psychologische Nebenwirkungen.

9

168

Kapitel 9 · Marketinginstrumente – psychologisch betrachtet

Über die Vertriebspolitik reguliert das Marketing nicht nur die Verfügbarkeit der Produkte, sondern u. a. auch deren Image, ihre Präsentation gegenüber dem Kunden und damit letztlich auch deren Kaufwahrscheinlichkeit. Welche Vertriebswege von den Konsumenten bevorzugt werden, ändert sich auch über die Zeit und ist nicht zuletzt eine Frage der technischen Randbedingungen, wie der zunehmende Handel über das Internet zeigt.

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Die Kommunikationspolitik des Marketing besteht nicht nur in Werbung, sondern beispielsweise auch in Pressearbeit (PR), Customer Relationship Management oder der direkten Interaktion von Verkäufer und Kunde. Insbesondere zur Verbreitung von Produktneuheiten empfiehlt es sich, die Kommunikationspolitik auf geeignete Multiplikatoren zu konzentrieren.

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Kapitel 9 · Marketinginstrumente – psychologisch betrachtet

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10 10

Methoden der psychologischen Marktforschung Karen Döring, Anja S. Göritz, Klaus Moser

10.1

Formen, Varianten und Ziele psychologischer Marktforschung – 172

10.1.1 10.1.2 10.1.3

Was ist psychologische Marktforschung? – 172 Inhalte und Anwendungsfelder psychologischer Marktforschung Forschungsstrategien – 174

10.2

Messung von Aufmerksamkeit und Erinnerung

10.2.1 10.2.2

Aufmerksamkeitstests – 176 Erinnerungstests – 176

10.3

Erfassen von Verbraucherurteilen, Einstellungen und Werthaltungen – 178

10.3.1 10.3.2

Direkte Verfahren – 179 Indirekte Verfahren und Kreativtechniken – 182

10.4

Erfassen des Konsumentenverhaltens – 185

10.4.1 10.4.2

Verhaltensbeobachtung – 186 Apparative und experimentelle Verfahren – 187

Literatur

– 175

– 188

K. Moser (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie DOI 10.1007/978-3-540-71637-2_10, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007

– 172

172

Kapitel 10 · Methoden der psychologischen Marktforschung

> Es reicht nicht, wenn unsere Manager großartige Wirtschaftsfachleute oder auch tolle Techniker sind, wenn sie den Menschen, also ihren Kunden, längst aus dem Auge verloren haben. (Daniel Goeudevert, Topmanager und Unternehmensberater)

Das vorliegende Kapitel gibt einen Überblick über verschiedene Methoden, die im Rahmen der psychologischen Marktforschung eingesetzt werden. Zunächst gilt es zu klären, was unter psychologischer Marktforschung verstanden wird und auf welche Inhalte sich diese bezieht. Im Anschluss werden wir verschiedene Verfahren darstellen, die in der psychologischen Marktforschung zum Einsatz kommen: Aufmerksamkeitsund Erinnerungstests, Befragungsmethoden, projektive und assoziative Verfahren, Kreativtechniken sowie Verfahren zur Erfassung des Verhaltens werden vorgestellt und anhand ausgewählter Beispiele beschrieben. Das Ziel dieses Kapitels ist es, die Möglichkeiten der psychologischen Marktforschung aufzuzeigen und die bekanntesten Verfahren einzuordnen.

10

qualitative Marktforschung unterteilt. 7 Psychologische Marktforschung – wie der Begriff in diesem Kapitel verwendet wird – kann sich sowohl qualitativer als auch quantitativer Verfahren bedienen, wie im Folgenden noch zu sehen ist. Charakteristisch ist ihr Untersuchungsgegenstand, denn psychologische Marktforschung ist grundsätzlich subjektbezogen, im Mittelpunkt steht die Analyse des Konsumenten und seines Verhaltens. Im Mittelpunkt nichtpsychologischer Marktforschung stehen dagegen beispielsweise die Analyse von Marktdaten (wie Absatz- und Umsatzentwicklung, Marktanteile, etc.), des sozioökonomischen Status bestimmter Konsumentengruppen oder aber der Kaufkraft von Personen bzw. Haushalten. Um das Konsumentenverhalten nicht nur zu erfassen, sondern auch ursächlich verstehen und in gewissem Rahmen vorhersagen zu können, werden Motive, Wünsche, Bedürfnisse und subjektive Vorstellungen des Verbrauchers analysiert. Die Zielsetzungen psychologischer Marktforschung sollen im folgenden Abschnitt anhand typischer Fragestellungen verdeutlicht werden.

10.1

Formen, Varianten und Ziele 10.1.2 psychologischer Marktforschung

10.1.1

Was ist psychologische Marktforschung?

Jede Art von Marktforschung beschäftigt sich mit der Beschaffung von Informationen, die dem besseren Verständnis eines Marktes dienen. Um seine Produkte und Dienstleistungen effektiv auf die Bedürfnisse einer Zielgruppe ausrichten zu können, benötigt jeder Anbieter Kenntnisse über den jeweils relevanten Markt bzw. Teilmarkt. Neben der Sammlung von Marktinformationen beinhaltet dies auch die Präzisierung unklarer Sachverhalte sowie das rechtzeitige Erkennen von Chancen und Risiken für neue oder bestehende Angebote. Übergeordnetes Ziel jeder Marktforschungsaktivität ist letztlich das Absichern von Entscheidungen. Nach Böhler (2004, S. 19) kann Marktforschung daher als »die systematische Sammlung, Aufbereitung, Analyse und Interpretation von Daten über Märkte und Marktbeeinflussungsmöglichkeiten zum Zweck der Informationsgewinnung für Marketing-Entscheidungen« definiert werden. Häufig wird Marktforschung nach der Art der eingesetzten Untersuchungsmethoden in quantitative und

Inhalte und Anwendungsfelder psychologischer Marktforschung

Marktforschungsuntersuchungen, die sich mit Kaufund Verwendungsmotiven auseinandersetzen, werden zusammenfassend als Motivforschung bezeichnet. Im Mittelpunkt steht hierbei die Frage, warum bestimmte Marken und Produkte bzw. Produktkategorien von bestimmten Personen verwendet werden und von anderen nicht. Ziel ist es, die Bedürfnisstruktur der relevanten Zielgruppe zu erkennen und hierdurch die Ursachen ihres Kauf- und Verwendungsverhaltens zu erschließen. Das gewonnene Wissen kann für viele Marketingaktivitäten als Grundlage dienen, z. B. für die Generierung neuer Produktideen, die Optimierung bestehender Produkte oder die Entwicklung von Werbekampagnen. Typische Fragestellungen einer Motivanalyse können lauten: 4 Was ist der zentrale Nutzen der Produktkategorie? Welche konkreten oder latenten Verbraucherbedürfnisse werden durch Kauf und Verwendung des Produkts erfüllt? 4 Aus welchem Grund wird eine bestimmte Marke verwendet? Welche Bedürfnisse ihrer Verwender erfüllt diese Marke besser als andere Marken?

173 10.1 · Formen, Varianten und Ziele psychologischer Marktforschung

4

Aus welchem Grund wird eine bestimmte Marke nicht verwendet? Welche Hemmschwellen bestehen bei den Nichtverwendern bezüglich der Verwendung dieser Marke? Welche Bedürfnisse der Nichtverwender können von anderen Marken besser erfüllt werden, und auf welche Weise?

Um diese Art von Fragestellungen beantworten zu können, wird meist auf qualitative Verfahren wie z. B. Tiefeninterviews (7 Abschn. 10.3.1), projektive und assoziative Techniken oder Kreativworkshops (7 Abschn. 10.3.2.2) zurückgegriffen. Indirekte Verfahren spielen in der Motivforschung eine wichtige Rolle, da den meisten Personen die Gründe für ihr Kaufverhalten nicht oder nur teilweise bewusst sind, so dass sich die direkte Befragung nur begrenzt zu ihrer Analyse eignet (vgl. Haimerl & Roleff, 2001). Auf diese Einschränkung und die Möglichkeiten indirekter Verfahren werden wir in 7 Abschn. 10.3.2 näher eingehen. Ein weiteres Betätigungsfeld psychologischer Marktforschung sind Imageanalysen, die sich mit der Frage

befassen, wie Produkte, Marken oder Firmen von den Konsumenten wahrgenommen werden. Diese Fragestellung ist insofern eng mit der Motivforschung verbunden, als die Analyse der Marken- und Produktwahrnehmung häufig wichtige Anhaltspunkte für die ihrer Verwendung zugrunde liegenden Bedürfnisse liefern kann (7 Beispiel). Unterschiedlich ist jedoch die Blickrichtung: Während Motivforschung darauf abzielt, Ursachen für das Verbraucherverhalten aufzudecken, steht bei der Imageanalyse im Vordergrund, wie Marken, Produkte oder Unternehmen vom Verbraucher wahrgenommen und interpretiert werden. Das Methodenspektrum, das bei einer Imageanalyse zum Einsatz kommt, unterscheidet sich nicht grundsätzlich von dem der Motiv- und Bedürfnisanalyse; neben direkten Befragungsmethoden liegt der Schwerpunkt hier ebenfalls auf projektiven, assoziativen und Kreativtechniken (7 Abschn. 10.3.2 und 1.3.2). Die Frage nach dem Image einer Marke ist zudem eng verknüpft mit der Einstellung zur Marke (vgl. z. B. Trommesdorf, 1980), auf deren Erhebung wir in 7 Abschn. 10.3 näher eingehen.

Beispiel

Ein Autohersteller möchte wissen, aus welchem Grund der Absatz eines seiner Modelle hinter den Erwartungen zurückbleibt. Erste Analysen haben ergeben, dass unabhängige Tests durch Automobilclubs und Fachzeitschriften, die das Modell als qualitativ hochwertig, zuverlässig und sicher ausweisen, in der anvisierten Zielgruppe bekannt sind. Preislich liegt das Fahrzeug im Rahmen vergleichbarer Modelle der Konkurrenz, weshalb sowohl eine ungeeignete Preispolitik als auch mangelnde Produktqualität als Ursachen ausgeschlossen werden können. Das Unternehmen gibt daher eine Imageanalyse in Auftrag, in der die Wahrnehmung des Modells, seiner Nutzer und der Herstellerfirma analysiert werden sollen. Die Stichprobe besteht aus Personen, die sich nach eigenen Angaben innerhalb der nächsten Wochen einen neuen Wagen der entsprechenden Fahrzeugklasse kaufen möchten und bisher kein Modell des Herstellers besitzen. Man entscheidet sich für die Durchführung mehrerer Kreativworkshops mit Teilnehmern verschiedener Altersgruppen, in denen neben Befragung und Beobachtung auch projektive und assoziative Verfahren eingesetzt werden (7 Abschn. 10.4.1 und 10.4.2).

Die Integration und Interpretation dieser Workshops bestätigt, dass die hohe Qualität des untersuchten Modells bekannt und der Preis durchaus attraktiv ist. Auch der Hersteller wird als sympathisch und vertrauenswürdig eingestuft, problematisch ist jedoch das Image des typischen Verwenders des Modells: Dieser wird als altmodisch, kleinbürgerlich, langweilig, spießig und unsympathisch beschrieben und bietet den Probanden kaum Identifikationsmöglichkeiten. Gleichzeitig verdeutlicht die Analyse der Nutzerimages der Fahrzeuge, die aktuell von den Workshopteilnehmern gefahren werden, wie diese selber wahrgenommen werden möchten: Junge bzw. jung gebliebene, moderne und sportliche Fahrer, die unternehmungslustig, weltoffen und kreativ sind und wissen, was »in« ist. Die Zielgruppe orientiert sich stark an Trends und legt bei der Wahl eines Autos großen Wert darauf, sich selbst als modern und sportlich darstellen zu können. Diese Bedürfnisse kann das untersuchte Modell nicht erfüllen, das Nutzerimage stellt in diesem Fall also eine wesentliche Kaufbarriere dar.

10

174

Kapitel 10 · Methoden der psychologischen Marktforschung

Zu den Anwendungsfeldern psychologischer Marktforschung können auch Marktsegmentierungen gezählt werden, mit deren Hilfe sich Verbrauchergruppen identifizieren lassen, die sich bezüglich eines oder mehrerer psychischer Merkmale ähneln. Häufig stehen Einstellungen, Werthaltungen oder Bedürfnisse im Mittelpunkt von Segmentierungen, zu deren bekanntesten Vertretern beispielsweise die Sinus-Milieus der Firma Sinus Sociovision zählen. Segmentiert werden kann über Merkmale des Verbrauchers ebenso wie über markenund produktspezifische Merkmale (vgl. Salcher, 1995). Obwohl hierzu in seltenen Fällen ein qualitatives Vorgehen gewählt wird, kommen bei Segmentierungsstudien in der Regel statistische Gruppierungsverfahren zum Einsatz. 10.1.3

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Forschungsstrategien

Designs Der in einer Studie realisierte Versuchsplan ist für die Aussagekraft der Studienergebnisse entscheidend. Wenn möglich, sollte ein Experiment statt eines Quasiexperiments durchgeführt werden. Bei einem Experiment wird die unabhängige Variable von dem Versuchsleiter gezielt manipuliert, und den Versuchsteilnehmern wird je eine Ausprägung der unabhängigen Variable zufallsgeleitet verabreicht. Zum Beispiel kann man in einer experimentellen Studie jedem Probanden eine von 3 ausgelosten Weinsorten zum Ausprobieren und anschließenden Beurteilen nach Hause schicken. Bei einem Quasiexperiment hingegen begnügt man sich mit einer bereits vorgefundenen Zuordnung von Versuchsteilnehmern zu Ausprägungen der unabhängigen Variablen. Eine entsprechende quasiexperimentelle Studie könnte so aussehen, dass man die Probanden selbst eine von 3 zu testenden Weinsorten aussuchen lässt, oder – was bezüglich der Aussagekraft noch ungünstiger wäre – man bittet Personen zur Abgabe eines Urteils, die bereits regelmäßig einer der 3 Sorten zusprechen. Labor oder Feld Traditionell unterscheidet man im Labor und im Feld durchgeführte Marktforschung. Tendenziell liegen die Stärken der Laborforschung in der genaueren Kontrollierbarkeit der Untersuchungssituation. Auf der anderen Seite kann die Künstlichkeit der Untersuchungssituation dazu führen, dass sich im Labor gefundene Effekte in der

komplexeren Lebenswirklichkeit nicht bewähren. Bei der Forschung im Feld, die in einer weitgehend belassenen natürlichen Umgebung wie z. B. im Kaufhaus stattfindet, ist die Untersuchungssituation häufig nicht engmaschig kontrollierbar, so dass unklar bleibt, worauf ein gefundener Effekt beruht oder warum ein erwarteter Effekt ausgeblieben ist. Allerdings sind einmal im Feld gefunde Effekte häufig stabil, auch wenn sich die Untersuchungssituation inklusive der Versuchsteilnehmer ändert. Dass die Aufteilung in Labor- und Feldforschung keine Dichotomie ist, sondern vielmehr Schattierungen aufweist, zeigt das Beispiel einer Blickbewegungsstudie in einem Kaufhaus, für welche echte Ladenbesucher gewonnen werden können: Durch das aufgesetzte Blickbewegungsmessgerät und das sich Beobachtetfühlen leidet die Natürlichkeit der Versuchssituation. Eine weitere Aufweichung findet die Aufteilung in Labor- und Feldforschung durch die zunehmende Verbreitung von internetbasierter Marktforschung. Der Marktanteil internetbasierter Markt- und Meinungsforschung in Deutschland lag im Jahr 2005 bei 22%. Damit ziehen Online-Interviews erstmalig mit persönlichen Interviews gleich, wobei der Marktanteil von Online-Interviews bereits seit längerer Zeit größer als der von schriftlichen Befragungen ist (ADM, 2006). Je nach konkreter Studie hat die internetbasierte Marktforschung eher Merkmale der Feldforschung oder der Laborforschung: Wird z. B. das Navigationsverhalten echter Verbraucher in einem auch außerhalb der Untersuchung existierenden Onlineshop beobachtet, handelt es sich um Feldforschung. Füllen Versuchsteilnehmer einen Fragebogen jedoch lediglich aus forschungspraktischen Gründen webbasiert aus, den sie auch im Labor oder nach postalischer Zusendung zu Hause hätten ausfüllen können, ist die Versuchsumgebung Internet lediglich als Verlängerung des Labors zu sehen. Die wichtigsten Vorteile der Marktforschung per Internet sind: 4 Datenerhebung unabhängig vom Aufenthaltsort der Versuchsperson und von der Tageszeit, 4 lebensnäheres Stimulusmaterial als bei telefonischen oder schriftlichen Befragungen durch Einbindung multimedialer und interaktiver Elemente, 4 Konstanthaltung von Versuchsleitereffekten sowie 4 keine Kosten für Labor, Verbrauchsmaterialien oder Interviewer.

175 10.2 · Messung von Aufmerksamkeit und Erinnerung

Internetbasierte Marktforschung ist immer auch computerbasierte Forschung. Durch die Computerunterstützung der Datenerhebung ergeben sich folgende Hauptvorteile (Göritz, in Druck): 4 Filterführung, 4 syntaktische Überprüfung der Eingaben in Echtzeit, 4 Kontrolle von Respondenten durch Mitprotokollierung inklusive Erfassung von Beantwortungszeiten, 4 Fehlerreduktion durch automatisierte Datenhandhabung und 4 Vermeidung von Reihenfolgeeffekten durch eine leichter zu realisierende Randomisierung von Itemund Antwortreihenfolgen. Onlinedatenerhebung stellt Marktforscher allerdings auch vor Grenzen und Herausforderungen. Da jedes Forschungsmedium und damit auch das Internet Eigenheiten aufweist, können sich unerwünschte Wechselwirkungen mit der Fragestellung eines Forschungsprojekts ergeben. Beispielsweise kann die technische Unerfahrenheit einiger Probanden bei einer computergestützten Untersuchung ihre Angaben beeinflussen. Internetbasierte Untersuchungen sind selbstredend auf Fragestellungen beschränkt, die mit diesem Medium realisierbar sind. Physiologische Messverfahren sowie Sensorik- und Handhabungstests können über das Internet nicht bzw. nur eingeschränkt durchgeführt werden (Göritz, Batinic & Moser, 2000). Als Kehrseite der größeren Flexibilität und des Fehlens eines Versuchsleiters haben Studienleiter weniger Kontrolle über die Identität der Probanden und über die Teilnahmesituation als bei persönlichem Kontakt im Labor oder einer mündlichen Befragung. Wegen der Selbstselektion der Probanden, des Fehlens eines geeigneten Auswahlrahmens und der unvollständigen Abdeckung der Bevölkerung mit Internetanschlüssen ist es bis heute nicht möglich, bevölkerungsrepräsentative Untersuchungen online durchzuführen (Göritz & Moser, 2000). Aus methodischen und ökonomischen Gründen nutzen viele Marktforschungsinstitute sog. Panels. Ein Panel ist ein Kreis von Personen, welche sich bereit erklärt haben, mehrfach an Untersuchungen teilzunehmen. Panels gibt es sowohl im Offlinebereich (z. B. Haushaltspanel, Fernsehpanel) als auch im Onlinebereich. Ursprünglich wird unter Panel eine Längsschnittstudie verstanden, bei welcher Befragte wiederholt zum selben Thema untersucht werden. Besonders im Onlinebereich – bei sog. Onlinepanels – hat sich dieses Begriffs-

verständnis aufgeweicht: Es muss kein längsschnittlicher Versuchsplan vorliegen, sondern das Panel wird als ein Reservoir von Testpersonen verstanden, die bei Bedarf für anstehende Untersuchungen zeitnah zur Verfügung stehen. Die genauere, aber seltener verwendete Bezeichnung für ein solches Panel lautet Accesspanel. Die Feldzeiten von in Onlinepanels durchgeführten Studien können konkurrenzlos kurz ausfallen. Aus einem Onlinepanel können zielgruppengerechte Stichproben im Rahmen von Querschnitt-, Trend-, Panel- und anderen zeitlichen Designs gezogen werden. Durch das Vorliegen der Stammdaten der Panelisten und ihrer Angaben aus früheren Befragungen können Fragebögen auf neue Items beschränkt werden, und aktuell erhobene können durch Abgleich mit früher erhobenen Daten auf Reliabilität und Konsistenz geprüft werden. Außerdem lassen sich in Onlinepanels Mehrfachteilnahmen derselben Probanden minimieren (Göritz, 2006). 10.2

Messung von Aufmerksamkeit und Erinnerung

Die in diesem Abschnitt vorgestellten Verfahren dienen in erster Linie zur Messung der Werbewirkung und basieren auf der Annahme, dass sich ein Angebot nur dann gegen andere durchsetzen kann, wenn es im Bereich der Aufmerksamkeit des potenziellen Käufers liegt (vgl. 7 Kap. 2). Das Wecken und Steuern von Aufmerksamkeit ist daher ein zentrales Thema der Werbepsychologie, auch wenn eine Aufmerksamkeitswirkung alleine noch keinen Werbeerfolg garantiert. Unmittelbare Aufmerksamkeit zu erlangen, ist im Grunde einfach, beispielsweise durch die Verwendung erotischer oder schockierender Motive. Einige Werber vertreten sogar die These, dass angesichts des ständig wachsenden Produktangebots und zunehmender medialer Übersättigung der Konsumenten nur noch besonders auffällige Werbung eine Chance hat, aufmerksam wahrgenommen zu werden (z. B. Jung & von Matt, 2004). Allerdings darf im Kampf um Aufmerksamkeit »um jeden Preis« die von der Werbung zu vermittelnde Botschaft nicht vernachlässigt werden. Die Problematik der Suche nach immer effektvolleren, schockierenderen Werbemotiven bringen Haimerl und Lebok (2005, S. 4) mit dem Hinweis, dass diese »zwar ein Eye Catcher, aber nicht zwingend ein Kaufgrund« sind, auf den Punkt: Am Beispiel erotischer Werbung konnte wie-

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Kapitel 10 · Methoden der psychologischen Marktforschung

derholt gezeigt werden, dass solche Darstellungen zwar zu erhöhter Aufmerksamkeit führen, die Erinnerung an den Werbeinhalt und somit dessen kognitive Verarbeitung aber einschränken (Grazer & Keesling, 1995; Reichert, Heckler & Jackson, 2001; vgl. auch die Überblicksarbeit von Moser, 1997). Nach diesen Befunden kann es zwar durchaus sinnvoll sein, mit erotischen oder anderen provozierenden Motiven zu werben – nämlich dann, wenn das Werbeziel in hoher Aufmerksamkeitswirkung besteht und eine tiefere Verarbeitung der Werbebotschaft nicht erforderlich ist bzw. sogar vermieden werden soll. In anderen Fällen kann laute, schrille Werbung einem Produkt jedoch mehr Schaden als Nutzen zufügen, beispielsweise wenn hierdurch bereits bestehende Produktverwender verschreckt werden und sich mit der so beworbenen Marke nicht mehr identifizieren können. Dies bereits im Vorfeld zu erkennen und herauszufinden, welche Botschaft letztlich beim Konsumenten ankommt, ist Aufgabe der psychologischen Marktforschung. 10.2.1

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Aufmerksamkeitstests

Zur Überprüfung der Aufmerksamkeitswirkung einer Werbung können apparative Verfahren (wie Blickregistrierung, Tachistoskop, Elektromyogramm etc.), aber auch Befragungsmethoden (von kurzen Selbstbeurteilungsskalen bis zur ausführlichen Exploration) eingesetzt werden. Letztere sind v. a. ergänzend zu apparativen Verfahren sinnvoll, da sie zur Interpretation der gewonnenen Daten beitragen und wertvolle Hinweise zur Optimierung der Werbung liefern können. Ein exploratives Vorgehen hat jedoch den Nachteil, dass die Testsituation für den Befragten klar durchschaubar ist und er daher dem Werbemittel von vornherein mehr Aufmerksamkeit schenken wird, als dies in einem natürlichen Setting der Fall wäre. Diese Einschränkung kann je nach Testaufbau auch auf apparative Verfahren zutreffen, ist hier jedoch weniger bedeutsam, da sich die erhobenen Daten in der Regel einer bewussten Kontrolle durch die Testperson entziehen. Exemplarisch für apparative Aufmerksamkeitstests wollen wir in diesem Abschnitt Blickregistrierungsverfahren vorstellen, während wir auf das Tachistoskop in 7 Abschn. 10.4.2 eingehen. Verfahren der Blickregistrierung bzw. Blickbewegungsregistrierung ermöglichen es zu erfassen, wohin eine Versuchsperson zuerst schaut (zeitlicher Ablauf)

und wie lange sie dies tut (Dauer), wenn sie mit einer neuen Anzeige bzw. einem TV-Spot konfrontiert wird. Das Blickverhalten kann durch 2 Parameter bestimmt werden, durch die Fixation und durch die Sakkaden. Das Blickverhalten verläuft so, dass der Fokus der Aufmerksamkeit jeweils für kurze Zeit an einer bestimmten Stelle der Vorlage verweilt, um sich dann sprunghaft zu verlagern. Die Informationsaufnahme findet während der Fixationen statt, und aus den Fixationsmustern wird deutlich, welche Elemente eines Werbemittels in welcher Reihenfolge aufgenommen wurden. Wenn diese Annahmen stimmen, dann ist auch nachvollziehbar, dass das Fixationsmuster als Prädiktor für die Erinnerung an eine Werbung bzw. an einzelne Elemente fungieren kann (z. B. Krugmann, Fox, Fletcher, Fletcher & Rojas, 1994). Über die Aussagekraft dieser Methode wird allerdings nach wie vor heftig debattiert. Die Kritik resultiert u. a. daraus, dass aus einer kurzen Fixation sowohl geschlossen werden kann, dass das betrachtete Element gut verständlich ist, als auch, dass es für den Rezipienten nicht relevant ist. Möglicherweise ist die Blickregistrierung für verschiedene Zielgruppen unterschiedlich gut geeignet, was die widersprüchliche Befundlage zum Teil erklären könnte (Rosbergen, Pieters & Wedel, 1997). 10.2.2

Erinnerungstests

Testverfahren zur Überprüfung der Erinnerungswirkung von Werbung waren lange Zeit die am häufigsten eingesetzten Verfahren zur Werbewirkungsmessung und sind immer noch weit verbreitet. Dies liegt zum einen an der einfachen Anlage, Durchführung und Auswertung dieser Verfahren, bei denen die Ergebnisse schnell und relativ kostengünstig vorliegen. Zum anderen basieren Erinnerungstests auf der Überlegung, dass die Bekanntheit (»Awareness«) einer Marke oder eines Produkts eine bedeutsame Voraussetzung für den Werbeerfolg ist. Hierüber wird jedoch häufig vernachlässigt, dass es sich – wenn überhaupt – um eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung handelt, weshalb der Indikator »Recall« bzw. »Awareness« über die tatsächliche Effizienz der Werbung nicht viel aussagt (vgl. Rehorn, 1988). So ist beispielsweise der Zusammenhang zwischen Recalltestwerten und persuasiver Wirkung von Werbung seit langer Zeit umstritten (z. B. Koeppler, 1974; Percy & Rossiter, 1997). Insbesondere ist auf eine recht heterogene Befundlage verwiesen worden, wie auf

177 10.2 · Messung von Aufmerksamkeit und Erinnerung

den geringen Zusammenhang zwischen der Valenz der erinnerten Inhalte und der Einstellung (z. B. Srull, 1990) oder der Erinnerung an bestimmte Werbespots und der Bereitschaft, die beworbene Marke zu kaufen. Beattie und Mitchell (1985) fanden z. B., dass Einstellungsänderungen auch ohne entsprechende Recallwerte der Marke feststellbar waren. In verschiedenen Studien zeigte sich, dass es kaum einen Zusammenhang zwischen Einstellung und Erinnerung gibt. Einen interessanten Beitrag zu dieser Frage lieferten Lichtenstein und Srull (1985): Wurden Versuchspersonen unmittelbar zum gleichen Zeitpunkt aufgefordert, ein Urteil abzugeben und Argumente für dieses Urteil zu erinnern, dann fand sich ein geringerer Zusammenhang, als wenn die Personen nur die Argumente analysieren sollten und später dann ein Urteil abzugeben hatten. Dies scheint dafür zu sprechen, dass Einstellungen oft spontan entstehen und sich wenig durch das ansonsten Erinnerte beeinflussen lassen. Obwohl Erinnerungstests als Verfahren zur Evaluation der Werbewirkung also kritisch betrachtet werden müssen, nehmen sie in der Marktforschung bis heute eine zentrale Stellung ein (von Engelhardt, 1999). In der Regel wird die Erinnerungsmessung dabei mit der Erhebung weiterer Kriterien zur Beurteilung der Werbewirkung kombiniert und so die Aussagekraft der Ergebnisse erhöht. In diesem Abschnitt werden nun zunächst klassische Methoden zur direkten Erinnerungsmessung exemplarisch dargestellt, bevor wir auf die neuere Variante der indirekten Erinnerungsmessung eingehen. Direkte Erinnerungsmessung Für die direkte Erinnerungsmessung sind im Wesentlichen 2 Gruppen von Verfahren zu unterscheiden, Rekognitionstests und Reproduktionstests. Verfahren der Wiedererkennung (Rekognition) untersuchen, ob ein Befragter eine bestimmte Vorlage wiedererkennt. Ein wichtiger Einwand gegen diese Art von Rekognitionstest lautet allerdings, dass die Erinnerungsleistung leicht überschätzt werden kann, nämlich dann, wenn die untersuchten Personen einfach immer mit »ja, habe ich wiedererkannt« antworten. Bei Leserschaftsuntersuchungen zeigt sich, dass bis zu 50% der Befragten bei Vorlage von Titelblättern behaupten, diese Zeitschrift gelesen zu haben, auch wenn dies nicht der Fall sein kann (z. B. Simmons, 1961; Marder & David, 1961). Daher wird bei kontrollierten Rekognitionstests i. d. R. eine Auswahl von Vorlagen vorgegeben, wobei gewährleistet ist, dass die Versuchspersonen einige davon nicht gese-

hen haben können. Dies ermöglicht es im Gegensatz zum unkontrollierten Rekognitionstest, das Raten zu kontrollieren (Singh & Cole, 1985). Im Gegensatz zu den Rekognitionsverfahren beruhen Tests der Reproduktion (Recallverfahren) darauf, dass die Versuchspersonen sich aktiv erinnern müssen. Zinkhan (1983) beschreibt verschiedene Varianten von Recalltests, die sich ganz erheblich voneinander unterscheiden: 1. Ungestützte und gestützte Reproduktionstests, wobei die Gedächtnisstütze beispielsweise im Hinweis auf den Kontext der gesehenen Werbung, aber auch auf die Produktgruppe bestehen kann 2. Kurz- und langfristige Reproduktionstests 3. Unterscheidung, ob der Markenname oder Elemente aus der Werbung und ob die Qualität der Werbung oder des beworbenen Produkts zu erinnern sind Der sog. Day-After-Recall-Test (DAR-Test) findet im Bereich der Evaluation von Radio- und Fernsehspots Anwendung. Typischerweise erheben DAR-Tests die Reproduktion von Markennamen sowie weitere Details von Werbespots, die am Tag zuvor auf einem bestimmten Fernsehsender zu sehen waren (Krishnan & Chakravarti, 1999). Problematisch beim DAR ist, dass man bei bloßer Zufallsauswahl nur wenige Rezipienten antrifft, die 24 h zuvor einen ganz bestimmten Werbeblock auch tatsächlich gesehen haben (nach Rehorn, 1988, durchschnittlich 5% der Kontakte). Dies wird zu umgehen versucht, indem entweder sichergestellt wird, dass die Probanden den Werbeblock rezipiert haben oder indem die Probanden sogar instruiert werden, ein ganz bestimmtes Programm – und damit auch den Werbeblock – anzusehen. Nahe liegende Alternative hierzu ist, die Probanden in ein Labor einzuladen, ihnen eine Sendung und in deren Kontext auch Werbespots zu zeigen und sie dann später nach ihrer Erinnerung daran zu befragen. Beide Vorgehensweisen schränken die Natürlichkeit des Kontexts, in dem die Werbung gesehen wurde, ein und haben daher zu Kritik geführt. So halten Percy und Rossiter (1997) den DAR-Test eher für einen Test der Aufmerksamkeit, der keinen Bezug zur tatsächlichen Wirkung einer Werbung habe. Der Starch-Test kann als Variante eines Reproduktionstests (Spotts, Weinberger & Parsons, 1997) oder eines Rekognitionstests (Zinkhan, 1983) bezeichnet werden. Hier geht ein Versuchsleiter mit der Versuchsperson nach dem Lesen einer Zeitschrift diese nochmals

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Kapitel 10 · Methoden der psychologischen Marktforschung

durch und fragt, ob die Versuchsperson die Werbevorlage zuvor gesehen hat (»noted«), näher betrachtet hat, so dass die Marke identifiziert werden konnte (»seen associated«), oder mehr als 50% gelesen hat (»read most«). Der Starch-Test war jahrelang das weltweit am häufigsten eingesetzte Verfahren zur Kontrolle des Werbeerfolgs und wird auch heute noch von einigen Marktforschern angeboten. Dennoch muss hinterfragt werden, ob es sich überhaupt um einen Erinnerungstest handelt. Spotts et al. (1997) sind z. B. der Auffassung, dass »noted« v. a. ein Maß für die anfängliche Aufmerksamkeit und »read most« ein Wert für aufrechterhaltene Aufmerksamkeit seien. Immerhin betrachten sie »seen associated« als eine Variante eines gestützten Reproduktionstests des Markennamens. Nach Rehorn (1988) messen StarchTest-Werte weder Aufmerksamkeitswirkung noch Erinnerung an eine Anzeige, sondern sie sind eher Ausdruck der Bereitschaft, sich mit einer als wiedererkannt bezeichneten Werbeanzeige auseinanderzusetzen. Die Ergebnisse, die mit Reproduktions- und Rekognitionsverfahren gewonnen werden, unterscheiden sich: Rekognitionswerte fallen i. d. R. höher aus als Recallwerte. Zudem vergrößert sich der Abstand zwischen Rekognitions- und Reproduktionsleistung, wenn die zu erinnernden Stimuli selten präsentiert wurden, oder anders formuliert: Rekognition profitiert von Seltenheit, Reproduktion von Häufigkeit. Des Weiteren nimmt die Reproduktionsleistung mit der Menge der insgesamt präsentierten Spots ab, während die Rekognitionsleistung hiervon nicht betroffen ist (Woelke, 2000). Und schließlich wirkt sich die Aktivierung der Probanden auch unterschiedlich aus, sie verbessert Rekognitionsleistungen, aber beeinträchtigt Reproduktionsleistungen. Thorson und Rothschild (1985) empfehlen aufgrund solcher Befunde, für kurzfristige Werbewirkungsprüfungen Reproduktionstests und für längerfristige Prüfungen Rekognitionstests zu verwenden. Indirekte Erinnerungsmessung Bei direkten Tests wird der Erinnerungsprozess dadurch auszulösen versucht, dass auf die spezifische Werbepräsentation Bezug genommen wird und somit kontextuelle Hinweisreize gegeben werden. Diese Form des expliziten Erinnerns kann in bestimmten Fällen der erhofften Wirkung einer Werbung abträglich sein (vgl. Perfect & Askew, 1994), beispielsweise wenn die Erinnerung des Kontextes (»in der Werbung gesehen«) zu einer Abwertung der Marke führt. Mittels impliziter Erinnerungstests

wird daher versucht, Gedächtnisinhalte zu ermitteln, ohne dabei den Kontext, also die Werbung, im Bewusstsein der Versuchspersonen wachzurufen. Hierzu werden Aufgaben vorgegeben, deren Bearbeitung aufgrund des erinnerten Materials erleichtert wird, obwohl sich die Betreffenden an das zuvor Gesehene i. d. R. nicht aktiv zu erinnern vermögen. Ein Beispiel für eine entsprechende Aufgabe könnte etwa darin bestehen, zu einer Reihe vorgegebener Markennamen spontane Assoziationen zu äußern. Wenn sich diese auf die Inhalte beziehen, die zuvor in einer Werbung über diese Marke geäußert wurden, ohne dass sich die befragten Personen daran erinnern, die betreffenden Argumente dort gesehen zu haben, wäre von einer impliziten Erinnerungsleistung auszugehen (vgl. Krishnan & Chakravarti, 1999). Holden und Vanhuele (1999) konnten zeigen, dass bereits die einmalige Präsentation eines bis dahin unbekannten Markennamens dazu führt, dass er noch 24 h später als »bekannt« bezeichnet wird, obwohl die Präsentation oder gar der Kontext nicht mehr erinnert werden. Vermuten lässt sich, dass diese Art von »Primingeffekt« von anderen Faktoren determiniert wird, als dieses bei Gedächtniseffekten der Fall ist, welche mit direkten Tests ermittelt werden. Zudem ist nicht auszuschließen, dass indirekt erfasste Erinnerungsleistungen eher mit Einstellungen zusammenhängen als die Werte aus direkten Erinnerungstests (vgl. Hansen & Wänke, 2007). 10.3

Erfassen von Verbraucherurteilen, Einstellungen und Werthaltungen

Eine offensichtliche Möglichkeit, zu Bewertungen von Produkten, Marken, Werbemitteln etc. zu kommen, sind direkte Beurteilungen durch den Konsumenten. Allerdings sind solche Einschätzungen mit Vorsicht zu behandeln, da sie Urteilsverzerrungen unterliegen können. So sollte beispielsweise darauf verzichtet werden, nach der Wirkung einer Werbung auf die eigene Person zu fragen. Bereits Scott (1912) meinte, dass es kaum jemand gebe, der zugeben würde, dass er oder sie von Werbung zum Kauf eines Produkts beeinflusst wurde. Die Forschung zum sog. Dritte-Person-Effekt vermag dies eindrucksvoll zu belegen. Der Dritte-Person-Effekt beschreibt das robuste Phänomen, dass Personen die Wirkung von Botschaften aus Massenmedien, z. B. Werbung, auf andere Menschen als stärker einschätzen als die Wir-

179 10.3 · Erfassen von Verbraucherurteilen, Einstellungen und Werthaltungen

kung auf sie selbst (Moser & Hertel, 1998) – ein Effekt, der im Übrigen schwächer ausfällt, wenn es um Werbung für Non-Profit-Ziele geht (z. B. Moser & Leitl, 2006). Dem Dritte-Person-Effekt wird i. d. R. dadurch begegnet, dass man nicht direkt fragt, inwiefern ein Werbemittel (TV-Spot, Anzeige, Verpackung etc.) die Einstellung beeinflusst. Stattdessen zieht man Rückschlüsse hierauf, indem man z. B. die Einstellung einer Testgruppe mit der einer Kontrollgruppe vergleicht, die entweder mit keinem oder aber einem anderen Werbemittel konfrontriert wurde. Eine weitere Schwierigkeit bei der Erfassung von Verbraucherurteilen und Einstellungen besteht darin, dass sich Personen oft nicht genau erinnern können, was sie zum Entschluss bewogen hat, ein bestimmtes Produkt zu erwerben. Selbst wenn eine Person bereit wäre, freimütig darüber Auskunft zu geben, was sie zu einer Kaufhandlung motiviert oder wer sie beeinflusst hat, sind Verzerrungen wahrscheinlich, u. a. weil die Quelle einer Information oft schneller vergessen wird als ihr Inhalt. Daher kann es passieren, dass wir meinen, eine Entscheidung aus eigenem Entschluss oder aufgrund der Empfehlung von Freunden gefällt zu haben, obwohl es v. a. die Werbung war, die uns beeinflusst hat. Die gelegentlich zu findende Geringschätzung von Werbung sollte demnach nicht fälschlicherweise so interpretiert werden, dass Werbung nicht wirkt. Werbetreibende sollten sich nicht einfach darauf verlassen, dass ihnen ihre Kunden auskunftsfreudig und aussagekräftig mitteilen (können), ob sie von Werbung – oder von einer anderen Quelle – in ihrer Entscheidung beeinflusst wurden, ein Geschäft zu betreten oder ein Produkt zu erwerben.

Trotz der angeführten Probleme spielen Konsumentenbefragungen in der Marktforschung eine wichtige Rolle, insbesondere wenn Einstellungen und Werthaltungen erfasst werden sollen. Wie bei Erinnerungstest wird auch bei der Erfassung von Urteilen und Bewertungen zwischen 7 direkten und 7 indirekten Verfahren unterschieden, auf die wir im Folgenden getrennt eingehen werden. 10.3.1

Direkte Verfahren

Befragungstechniken im Überblick Bei der Befragung handelt es sich um die am weitesten verbreitete Marktforschungsmethode, was nicht zuletzt ökonomische Ursachen hat. Befragungen können mündlich (sog. Face-to-Face-Interview) oder schriftlich, aber auch telefonisch oder via Internet durchgeführt werden, wodurch sich sowohl die Kosten als auch der Zeitbedarf für Durchführung und Auswertung relativ gering halten lassen. Bei computergestützter Datenerhebung (CAPI, Computer Assisted Personal Interview) entfällt z. B. die Dateneingabe, die zeitaufwändig und fehleranfällig ist, und es kann sofort nach dem letzten Interview mit der Datenanalyse begonnen werden. Auch beim Interview wird zwischen qualitativer und quantitativer Ausrichtung unterschieden. Neben der qualitativen, nichtdirektiven Einzelexploration (. Tab. 10.1) und der quantitativen, meist stark standardisierten Befragung großer Stichproben existieren zahlreiche Mischformen. So enthalten Marktforschungsstudien häufig sog. offene (halbstandardisierte) Fragen, bei denen im Unterschied zu geschlossenen (standardisier-

. Tab. 10.1. Formen des qualitativen Interviews. (In Anlehnung an Kepper, 1999)

Interviewform

Fragestellungen und Zielsetzung

Vorgehen

Exploratives Interview

Möglichst umfassende und vollständige Informationssammlung zu einem bestimmten Sachverhalt; z. B. Experteninterview

Offen, frei, nicht standardisiert; Befragter kann Schwerpunkte setzen

Tiefeninterview

Analyse schwer erfassbarer psychologischer Sachverhalte, z. B. tiefer liegende, vor- oder unbewusste Motive und Einstellungen; häufiger Einsatz in der Motivforschung

Zwangloses Gespräch, von einem geschulten Interviewer unauffällig gelenkt; nachträgliche Interpretation auf Basis psychologischer Theorien

Fokussiertes Interview

Beschäftigung mit einer klar abgegrenzten Thematik; zielgerichtet; evtl. Präsentation von Stimuli (z. B. Werbewirkungstest); Überprüfen von Hypothesen

Interviewer lenkt das Gespräch, folgt weitgehend einem im Vorfeld erstellten Leitfaden

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Kapitel 10 · Methoden der psychologischen Marktforschung

ten) Fragen keine Antwortalternativen vorgegeben sind, so dass der Befragte in der Formulierung seiner Antwort völlig frei ist. Sind offene Fragen Bestandteil einer größeren quantitativen Befragung, dann werden die Antworten im Regelfall zunächst in einem qualitativen Analyseschritt zählbar gemacht und anschließend ebenfalls mit statistischen Verfahren ausgewertet. Hierzu bildet der Marktforscher nachträglich Antwortkategorien und ordnet die Aussagen jedes Befragten dann einer oder mehreren Kategorien zu, so dass die weitere Analyse analog den geschlossenen Fragen erfolgen kann. Der Vorteil dieses Vorgehens liegt darin, dass auch Sachverhalte erfasst werden können, über die im Vorfeld wenig oder kein Wissen bestand und die daher nicht als Antwortalternative vorgegeben werden konnten. Die Kategorisierung führt jedoch zwangsläufig zu einer Reduktion der inhaltlichen Komplexität der Aussagen, die damit hinter der genuin qualitativer Analyseverfahren zurück bleibt. Trotz dieses Nachteils stellen offene Fragen, die quantitativ ausgewertet werden, einen häufig eingesetzten Kompromiss zwischen quantitativer und qualitativer Befragung dar. In der Marktforschung spielt die persönliche Befragung weiterhin eine zentrale Rolle, insbesondere in Fällen, in denen ein Stimulus unter (relativ) kontrollierten Bedingungen vorgelegt und beurteilt werden soll. Persönlicher Kontakt zwischen Interviewer und Befragtem hat zudem den Vorteil, dass Interesse und Kooperationsbereitschaft des Probanden aufrechterhalten und Verständnisprobleme erkannt und geklärt werden können. Im Unterschied zu quantitativen Befragungen besteht eine Voraussetzung qualitativer Interviews darin, dass diese von Interviewern durchgeführt werden, die in psychologischer Gesprächsführung geschult sind. Dies erhöht die Qualität qualitativer Face-to-Face-Interviews im Vergleich zu anderen Befragungsformen, allerdings auch deren Kosten und Zeitbedarf (z. B. für Organisation, Interviewerschulung, Reisen des Interviewers zum Probanden, etc.). Daher gilt es, im Einzelfall abzuwägen, welche Art der Durchführung unter Berücksichtigung der jeweiligen Fragestellung und Zielgruppe am geeignetsten ist. Neben der Befragung von Einzelpersonen kommen in der psychologischen Marktforschung häufig Gruppenbefragungen zum Einsatz, die als Gruppendiskussionen oder Fokusgruppen bezeichnet werden. Bei diesem Verfahren kann sowohl die Generierung von Ideen als auch die qualitative Bewertung von Konzepten oder (meist vorläufigen) Umsetzungen im Vordergrund stehen. Fokusgruppeninterviews werden in der Regel mit

Gruppen von Personen durchgeführt, die ein gemeinsames Interesse oder einen gemeinsamen Hintergrund haben. Sie werden von einem Moderator geleitet und konzentrieren sich auf ein bestimmtes Thema (»Fokus«), über das ca. 1,5–2,5 h diskutiert wird. Zentraler Vorteil dieses Vorgehens gegenüber Einzelexplorationen sind Synergieeffekte, die sog. Gruppendynamik, von der man sich erhofft, »dass in Gruppengesprächen Themen und Ideen wechselseitig aufgegriffen und weitergedacht werden, d. h. Antworten von Gesprächspartnern fungieren als Stimuli für den nächsten Teilnehmer (›Schneeballeffekt‹). Die alltagsnahe Gesprächssituation und die damit verbundene Geborgenheit in der Gruppe fördern spontane und unkontrollierte Reaktionen, Hemmungen können (bei entsprechender Organisation der Gruppe) besser abgebaut werden« (Kepper, 1994, S. 73). Die Objektivität der erhobenen Daten wird durch solche Synergien jedoch stark eingeschränkt, zudem können natürlich keine repräsentativen Daten gewonnen werden, weshalb die Grenzen der Methode klar erkannt werden sollten (Stewart & Shamdasani, 1990). Zur Ideengenerierung sind Fokusgruppen ein nützliches Verfahren, von ihrem Einsatz im Kontext des Testens von Umsetzungen ist eher abzuraten, da sich die Teilnehmer unrealistisch ausführlich mit dem Stimulus beschäftigen und daher untypisch reagieren können. Skalierte Erfassung von Urteilen und Einstellungen Ein einfaches und weit verbreitetes Beurteilungsverfahren sind Statementbatterien, bei denen den Befragten mehrere Aussagen vorgelegt werden und sie den Grad ihrer Zustimmung auf mehrstufigen Likert-Skalen mit Endpunkten wie »trifft zu«/»trifft nicht zu« oder »stimme zu«/»stimme nicht zu« angeben können. Dieses Verfahren hat 2 wesentliche Vorteile: Zum einen fällt die Verbalisierung des eigenen Empfindens vielen Verbrauchern schwer, weshalb sie auf offene Fragen häufig nur oberflächliche Antworten geben (ein typisches Beispiel hierfür sind Geschmacksbeurteilungen, vgl. Salcher, 1995). Vorformulierte Statements ermöglichen es dem Befragten jedoch, über seine Vorstellungen und Eindrücke Auskunft zu geben, ohne selber klare und treffende Worte hierfür finden zu müssen. Hinzu kommt, dass es den Befragten häufig nicht gelingt, sich in der Testsituation »auf Knopfdruck« alle relevanten Aspekte zu einem Thema bewusst zu machen. Statementbatterien stellen hier eine zeitsparende Alternative zur ausführlichen Ex-

181 10.3 · Erfassen von Verbraucherurteilen, Einstellungen und Werthaltungen

ploration dar, um zu umfassenden Beurteilungen zu gelangen. Eine unabdingbare Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die wichtigen Aspekte dem Marktforscher bei der Erstellung einer Statementbatterie bereits bekannt sind, da sonst ein verzerrtes Bild entstehen kann. Besteht daher zu Beginn einer Befragung nur wenig Wissen über mögliche Ursache-und-Wirkung-Zusammenhänge im relevanten Teilmarkt, dann sollten zunächst explorative Interviews mit dem Ziel der Informationssammlung durchgeführt werden. Das Erfassen von Verbraucherbeurteilungen mittels Statementbatterien ist also v. a. dann sinnvoll, wenn bereits wichtige Urteilsdimensionen bekannt sind und es nun gilt, das Profil einer Marke auf diesen Dimensionen zu ermitteln (Imageanalyse) oder Unterschiede zwischen verschiedenen Marken oder Konzepten (z. B. bei Werbepretests) aufzudecken. Der breite Einsatz von Likert-Skalen in der Marktforschung darf jedoch nicht über die Probleme dieser Methode hinwegtäuschen. Validität und Reliabilität der Ergebnisse können z. B. durch die sog. Tendenz zur Mitte (die Befragten kreuzen eine Mittelkategorie an, z. B. weil sie sich keine Gedanken machen wollen), die Tendenz zur Zustimmung (manche Befragten antworten lieber »ja« als »nein«) und die Tendenz zum sozial erwünschten Antworten (Befragte rücken sich durch ihre Antworten in ein positives Licht) gefährdet werden. Der Gefahr einer Verzerrung durch Antworttendenzen versucht man zu begegnen, indem man die Art der Fragestellung variieren lässt (z. B. Umpolen von Items) oder aber auf indirekte Befragungstechniken zurückgreift. Eine gewisse formale Ähnlichkeit zur Likert-Skala weist das semantische Differenzial (Polaritätenprofil) auf. Das semantische Differenzial wurde ursprünglich entwickelt, um die Bedeutung von Wörtern zu untersuchen und ist in den letzten Jahrzehnten zu einem beliebten Instrument zur Einschätzung von Produkten, Firmen, usw. geworden. Es kombiniert die gelenkte Assoziation mit dem Rating. Hierzu werden Skalen vorgegeben, die Adjektivgegensatzpaare wie z. B. »heiß«/»kalt« oder »angenehm«/»unangenehm« als Anker haben. Semantische Differenziale werden u. a. zur Untersuchung des Images von Marken oder Unternehmen eingesetzt. Paarvergleichsmethode und ähnliche Verfahren Oftmals ist es für Befragte schwierig, einzelne Produkte oder Unternehmen isoliert zu beurteilen, wobei sie aber zu einem Vergleich zwischen mehreren Produkten durchaus in der Lage sind. Ein Verfahren, das hier an-

setzt, ist die Paarvergleichsmethode, bei der jeweils 2 Produkte oder Marken miteinander verglichen werden. Auf diese Weise lässt sich beispielsweise die Position einer Marke relativ zu Konkurrenzmarken bestimmen (7 InfoBox). Werden ganze Märkte untersucht, dann kann es ein Ziel sein, mit Hilfe der Paarvergleichsmethode ähnliche Verbraucher zu homogenen Marktsegmenten zusammenzufassen und aus sich unterscheidenden Verbrauchern verschiedene Marktsegmente zu bilden. Info-Box

Ähnlichkeitsurteile über Marken Eine Fragestellung der Marktforschung ist es, die Position einer Marke relativ zu anderen Konkurrenzmarken zu bestimmen. Dies wird dadurch erreicht, dass deren Ähnlichkeit untersucht wird. Werden Märkte untersucht, dann ist es ein Ziel, ähnliche Verbraucher zu homogenen Marktsegmenten zusammenzufassen und aus sich unterscheidenden Verbrauchern verschiedene Marktsegmente zu bilden. Ein Beispiel für die praktische Bedeutung von Ähnlichkeitsurteilen ist der Markennamentransfer, bei dem ein bekannter Markenname für ein neues Produkt verwendet wird. Hiervon erhofft man sich, dass die Konsumenten Ähnlichkeit zwischen altem und neuem Produkt wahrnehmen und in der Folge ihre Einstellung zum alten auch auf das neue Produkt »übertragen« (vgl. Wänke, 1998). »Ähnlich« sind verschiedene Marken, wenn sie zu einer Produktkategorie zusammengefasst werden (Boush, 1999). Allerdings lässt sich zeigen, dass Marken jeweils unterschiedlich gute Beispiele bzw. Exemplare einer Kategorie sind. Wie interessant es ist, ob eine Marke als Prototyp wahrgenommen wird, lässt sich daran zeigen, dass es eine Beziehung zwischen Typikalität und Präferenz gibt (Loken & Ward, 1990). Prototypische Fälle einer Kategorie werden zudem besser erinnert, schneller und mit weniger Fehlern klassifiziert und v. a. als kognitiver Referenzpunkt bei Vergleichsurteilen benutzt (Mervis & Rosch, 1981; Loken & Ward, 1990). Prototyp einer Kategorie zu sein, verspricht Marktvorteile: Wenn ein Konsument beispielsweise ein Produkt einer bestimmten Kategorie kaufen will, aber weder besonders motiviert noch fähig ist, spezifische Marken zu vergleichen, dann wird er sich eher für die prototypische Marke entscheiden (Alba & Hutchinson, 1987).

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Kapitel 10 · Methoden der psychologischen Marktforschung

Mit Paarvergleichen kann auch die sog. Conjoint-Messung arbeiten. Mit Hilfe der Conjoint-Messung möchten Marktforscher etwas über Vorlieben von Verbrauchern hinsichtlich der Merkmale eines Produkts erfahren. Beispielsweise könnte sich eine Fluggesellschaft dafür interessieren, wie wichtig ihren (potenziellen) Kunden die Beinfreiheit im Flugzeug, der Preis einer Flugstrecke oder die Dauer einer bestimmten Flugverbindung sind. Dazu sollen für die typische Kundschaft möglichst repräsentative Testpersonen mehrere Flugangebote paarweise bewerten. Die Flugangebote setzen sich aus Ausprägungen der 3 interessierenden Merkmale zusammen. Ein einzelner Paarvergleich könnte etwa lauten: Ziehen Sie einen 4-stündigen Flug mit knapper Beinfreiheit für 400 EUR einem 3-stündigen Flug mit großer Beinfreiheit für 600 EUR vor? Auf Basis vieler oder sogar aller kombinatorisch möglichen Paarvergleiche wird der Nutzwert – also die subjektive Wichtigkeit – der einzelnen Merkmalsauspägungen errechnet. Die gewonnenen Erkenntnisse fließen in die Produktentwicklung, Preisbestimmung oder Marktsegmentierung ein. ConjointAnalysen werden i. d. R. computergestützt und immer häufiger auch webbasiert durchgeführt. Ebenfalls auf Paarvergleichen basiert die multidimensionale Skalierung (MDS), die auch als Ähnlichkeitsstrukturanalyse bezeichnet wird (Borg & Staufenbiel, 1997). Hierbei handelt es sich um eine Gruppe statistischer Methoden, mit denen sich Objekte auf Basis ihrer Ähnlichkeit zueinander als Punkte in einem möglichst niedrig dimensionierten Raum darstellen lassen. Die Basis bilden Ähnlichkeitsurteile über Objektpaare, die mit statistischen Verfahren in eine räumliche Darstellung überführt werden. Die Distanzen zwischen den Objekten im Raum sollen die erhobenen Ähnlichkeiten bzw. Unähnlichkeiten widerspiegeln (vgl. Backhaus, Erichson, Plinke & Weiber, 2006; Meffert, 1992). 10.3.2

Indirekte Verfahren und Kreativtechniken

Die direkte Befragung eignet sich in erster Linie zur Erfassung bewusster, explizit abgerufener und erinnerter Informationen. Auch wenn ein Befragter nach bestem Wissen und Gewissen antwortet, sind ihm häufig die Gründe für sein Verhalten nicht oder nur unzureichend bewusst. Insbesondere dann, wenn Einstellungen, Werthaltungen oder Emotionen erfasst werden sollen, kön-

nen direkte Befragungstechniken daher schnell an ihre Grenzen stoßen. Oft sieht sich der Fragende einer »sprachlosen Testperson« gegenüber, die die Motive für ihr Verhalten entweder nicht mitteilen kann oder dies nicht möchte (z. B. im Fall von tabuisierten Themen). Um dennoch Einstellungen und Werte der Verbraucher erfassen zu können, werden in der Marktforschung indirekte Verfahren eingesetzt, von denen wir in diesem Abschnitt einige darstellen werden. Projektive und assoziative Verfahren Wenn Artikulationsschwierigkeiten zu überwinden sind oder verdeckte Verhaltensursachen aufgedeckt werden sollen, kann auf projektive und assoziative Techniken zurückgegriffen werden. Bei den assoziativen Verfahren wird die Testperson mit einem Stimulus konfrontiert, auf den sie möglichst schnell und spontan reagieren soll, wozu sie teilweise auch unter Zeitdruck gesetzt wird. Ziel ist es, eine möglichst unreflektierte Verbindung zwischen dem Ausgangsreiz einerseits und Gedächtnis- und Gefühlsinhalten andererseits anzuregen (vgl. KroeberRiel & Weinberg, 2003). Zu den am häufigsten eingesetzten Techniken zählen freie und gelenkte Assoziationen, aber auch Satzergänzungstests sowie das Bilden von Assoziationsketten, das auch als Mindmapping bezeichnet wird. Bei diesem Verfahren werden aufbauend auf der ersten Assoziation des Probanden weitere Assoziationen erfragt, so dass am Ende ein Netzwerk um den Ausgangsreiz entsteht. Projektive Verfahren haben ihren Ursprung in der Psychoanalyse Freuds, nach der die Projektion dazu dient, unangenehme oder angstauslösende Bewusstseinsinhalte abzuwehren. In der Marktforschung eingesetzte projektive Techniken machen sich daher die jedem Menschen innewohnende Tendenz zunutze, eigene Wahrnehmungen nach außen bzw. auf andere Personen zu übertragen. Hierzu wird der Proband aufgefordert, sich zu mehrdeutigem und bezüglich seines Zwecks nicht unmittelbar einsichtigem Stimulusmaterial zu äußern. Häufig enthält dies Material neuartige und spielerische Bestandteile, wodurch die Motivation erhöht und zugleich psychische Kontrollmechanismen und Rationalisierung umgangen werden sollen. Dies erleichtert es dem Befragten nicht nur, seine Gedanken und Gefühle zu äußern, sondern fördert gleichzeitig seine Vorstellungskraft und Kreativität (Schub von Bossiazky, 1992; Kepper, 1999). Um einfache projektive Verfahren handelt es sich bei Ergänzungstechniken, bei denen der Befragte Anfänge

183 10.3 · Erfassen von Verbraucherurteilen, Einstellungen und Werthaltungen

oder Teile von Sätzen oder Geschichten vervollständigen soll (auch bekannt als Satzergänzungstest, Lückenerzähltest etc.). Zu den bekanntesten projektiven Techniken zählt die bereits in 7 Abschn. 10.1.2 im Rahmen der Imageanalyse erwähnte Frage nach dem typischen Verwender eines Produkts oder einer Marke. Eine weitere Gruppe von Verfahren wird als Konstruktionstechniken bezeichnet, denn hierbei gilt es, um verschiedene Stimuli eine Aussage oder eine ganze Geschichte zu konstruieren. So werden den Befragten beim Ballontest (auch Comic-Strip-Test genannt) Bilder vorgelegt, auf denen sich in einer Bildergeschichte Personen z. B. über eine bestimmte Marke unterhalten. Aufgabe der Testperson ist es, in leere Sprechblasen, die den dargestellten Personen zugeordnet sind, Texte zu notieren. Eine Variante hiervon besteht in der Vorgabe kurzer Dialoge, z. B. zwischen einem Verwender und einem Ablehner der interessierenden Marke, die vom Probanden dann weitergeführt werden sollen. Ebenfalls um Konstruktionstechniken handelt es sich bei Bildererzähltest und Geschichtenerzähltest, die auf den in der psychologischen Diagnostik eingesetzten Thematischen Apperzeptionstest (TAT) von Murray (1943) zurückgehen. Vom Ballontest unterscheiden sie sich durch ihr nonverbales Reizmaterial, das in der Regel aus bewusst mehrdeutig gehaltenen Bildern besteht. Die Testperson soll beschreiben, was sie auf den Bildern sieht oder soll auf Basis mehrerer Bilder eine Geschichte erzählen, wodurch Rückschlüsse auf ihre Wahrnehmung und Interpretation bestimmter Sachverhalte oder Zusammenhänge möglich sind. Kreativtechniken Eine weitere Methode zur indirekten Erfassung von Verbraucherurteilen und -bewertungen sind sog. Kreativworkshops, bei denen es sich um eine Erweiterung der Fokusgruppe handelt. Die zugrunde liegende Überlegung ist hierbei, dass mit den herkömmlichen Datengewinnungsmethoden Befragung, Beobachtung und Experiment jeweils nur Teilbereiche eines interessierenden Sachverhalts aufgedeckt werden können (Haimerl & Roleff, 1996, 2001). Da psychologische Marktforschung jedoch darauf abzielt, das Verbraucherverhalten ursächlich zu verstehen und vorherzusagen, benötigt sie ein möglichst umfassendes und ganzheitliches Bild von der jeweils interessierenden Zielgruppe einschließlich aller verhaltensrelevanten Motive und Einstellungen. Haimerl und Roleff (1996) fordern daher eine Kombination

der gängigen Erhebungsmethoden und haben hierzu ein Verfahren namens Psychodrama entwickelt, das Beobachtung und Befragung mit experimentellen Elementen kombiniert und gleichzeitig den raumzeitlichen und sozialen Kontext des untersuchten Verhaltens erfassen bzw. wiederherstellen kann. Zentrale Bedeutung kommt bei diesem v. a. in der Motivforschung eingesetzten Verfahren dem Rollenspiel zu, mit dem sich Situationen wie der Kauf, der Konsum oder die Verwendung eines Produkts oder einer Marke rekonstruieren lassen. Die Teilnehmer eines Psychodramas (die wie bei Gruppendiskussionen rekrutiert werden und keine besonderen Fähigkeiten besitzen müssen) werden zu diesen Situationen nicht befragt, sondern sollen sie in kleinen Gruppen vorspielen. Hierbei sind sie geradezu gezwungen, sich spontan und unüberlegt zu verhalten. Durch Beobachtung der Szenen, Befragung der Teilnehmer in ihrer Rolle sowie experimentelle Veränderungen der Situation (z. B. Austausch der verwendeten Marke) werden auch solche Zusammenhänge deutlich, die den Probanden selbst nicht bewusst bzw. schwer zu verbalisieren sind (vgl. Haimerl & Roleff, 2001). Neben Rollenspielen werden in Kreativworkshops ebenfalls assoziative und projektive Techniken eingesetzt. Ein beliebtes Verfahren zur Analyse des Markenimages ist zudem die Personifizierung, bei der die Instruktion z. B. lauten kann: »Wenn Pepsi als Person auf die Welt käme, wie würde er oder sie dann aussehen? Welche Eigenschaften hätte er oder sie?« etc. Hier stehen die Eigenschaften der Marke bzw. des Produkts im Vordergrund, während bei der projektiven Frage nach dem typischen Nutzer einer Marke die Eigenschaften einer Personengruppe im Vordergrund stehen. Varianten der Personifizierung sind Analogienbildungen mit bekannten Personen des öffentlichen Lebens, aber auch mit Tieren oder Gegenständen. Durch den Einsatz von Imagerytechniken wird versucht, die emotionalen Aspekte von Produkten oder Marken anhand der »inneren Bilder« der Verbraucher zu erfassen (vgl. Salcher, 1995). So sollen die Versuchspersonen z. B. beim Bildzuordnen aus einer größeren Anzahl von Bildern, die Personen in unterschiedlichen Situationen, aber auch Landschaften, Gegenstände etc. darstellen, diejenigen auswählen, die ihrer Meinung nach »am besten zur Marke passen«. Mit Collagentechniken, bei denen aus einer Auswahl verschiedener Zeitschriften Bilder ausgeschnitten und zu neuen Bildern zusammengefügt werden, können zum einen Marken-

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Kapitel 10 · Methoden der psychologischen Marktforschung

bilder und Produktwelten, aber auch emotionale Zustände, die dem Konsumentenverhalten zugrunde liegen, ermittelt werden (. Abb. 10.1). Impliziter Assoziationstest und ähnliche Verfahren Um an Einstellungen und Werthaltungen heranzukommen, welche Verbraucher nicht mitteilen wollen oder können, bedient man sich einer Gruppe indirekter Verfahren, von denen der Implizite Assoziationstest (IAT) (Greenwald, McGhee & Schwartz, 1998) das bekannteste ist. Der IAT misst den Assoziationsgrad von Konzepten folgendermaßen: Auf dem Bildschirm erscheinende Stimuli, z. B. Bilder oder Wörter, sollen so schnell wie möglich per Tastendruck mit der linken oder rechten Hand auf einer von 2 vorgegebenen Dimensionen ein. Abb. 10.1. Collage zum aktuellen Lebensgefühl junger Frauen zwischen 20 und 23 Jahren

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geordnet werden. Beispielsweise könnten dies die Dimensionen »Markenprodukt/No-Name-Produkt« und »gut/schlecht« sein. Handelt es sich bei einem Stimulusbild um ein Markenprodukt, soll mit der einen Hand eine Taste gedrückt werden; handelt es sich hingegen um ein No-Name-Produkt, soll mit der anderen Hand eine andere Taste gedrückt werden. Ist ein Stimuluswort ein Synomym für »gut«, soll ebenfalls mit einer bestimmten Hand eine Taste gedrückt werden; ist es ein Synomym für »schlecht«, soll mit der anderen Hand eine andere Taste gedrückt werden. Liegen nun z. B. für eine Versuchsperson die Konzepte »Markenprodukt« und »gut« semantisch nah beieinander, reagiert sie bei der Klassifikationsaufgabe schneller, wenn die Bewertungen »Markenprodukt« und »gut« mit derselben Taste bzw. Hand erfolgen sollen, als wenn sie mit unter-

185 10.4 · Erfassen des Konsumentenverhaltens

schiedlichen Tasten erfolgen sollen. Umgekehrt reagiert jemand, für den die Konzepte »Markenprodukt« und »schlecht« assoziiert sind, schneller, wenn die Bewertungen »Markenprodukt« und »schlecht« mit derselben Taste erfolgen, als wenn sie mit unterschiedlichen Tasten erfolgen. Dieser Reaktionszeiteffekt unterliegt nicht der bewussten Kontrolle der Versuchsperson, sondern ist das Ergebnis einer automatischen Aktivierung von Gedächtnisstrukturen. Ein Beispiel für eine solche IATStudie liefern Friese, Wänke und Plessner (2006). Sie konnten zeigen, dass die in einem IAT ermittelte Präferenz für Markenprodukte oder No-Name-Produkte spätere Produktentscheidungen besonders gut vorhersagte, wenn der Zeitdruck bei der Produktentscheidung groß war. Die in einem IAT verwendeten Stimuli und Bewertungsdimensionen lassen sich dem jeweiligen Untersuchungszweck anpassen. Beispielsweise könnten zur Erfassung impliziter Markenimages Autobilder und Adjektive als Stimuli auf den Dimensionen »Automarke X/Konkurrenzmarke Y« und »modern/konservativ« bewertet werden. Der IAT hat die Entwicklung verschiedener Verfahrensspielarten inspiriert (vgl. Degner, Wentura & Rothermund, 2006), z. B. der »go/no-go association task« (Nosek & Banaji, 2001) und der »intrinsic affective Simon task« (De Houwer, 2003). Alle diese Verfahren werden computergestützt und z. T. auch webbasiert durchgeführt.

solcher Untersuchungen durch Kombination verschiedener Verfahren erhöhen. Mit sog. ereigniskorrelierten Potenzialen, einer Unterart des Elektroenzephalogramms, bei der Spannungschwankungen auf der Kopfhaut in Reaktion auf dargebotene Reize abgeleitet werden, kann im Rahmen von Werbewirkungstests die Überraschungswirkung einzelner Werbeelemente objektiviert werden. Beim Elektromyogramm wird die elektrische Aktivität einzelner Gesichtsmuskeln in Reaktion auf bestimmte Stimuli erfasst. Das muskuläre Aktivitätsmuster erlaubt Rückschlüsse auf die Valenz und teilweise auch die Qualität der dargebotenen Reize. Schließlich halten auch bildgebende Verfahren Einzug in die Marktforschung. So lässt sich z. B. mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie dem Gehirn bei seiner Auseinandersetzung mit bestimmten Stimuli direkt »zuschauen«. Aufgrund der noch mangelnden Grundlagenkenntnisse über die Informationsverarbeitung im Gehirn ist die Deutung der beobachteten Vorgänge häufig krude und geht im Erkenntnisgewinn nur selten über das hinaus, was mit konventionellen Verfahren ermittelt werden kann. Außerdem sind die Kosten der Verfahrensanwendung erheblich, so dass man mit Recht davon sprechen kann, dass die Marktforschung mit bildgebenden Verfahren noch in den Kinderschuhen steckt.

Physiologische Maße Eine weitere Gruppe indirekter Verfahren wertet körperliche Reaktionen auf konsumrelevante Reize aus. Die körperlichen Reaktionen werden mit verschiedenen Messgeräten erfasst, z. B. auf der Haut angebrachte Elektroden, Pupillenmessgeräte oder Tomografen. Personen können diese körperlichen Reaktionen kaum oder gar nicht bewusst kontrollieren und somit auch nicht verfälschen. Die Aussagekraft einiger dieser Verfahren ist allerdings fraglich, weil manche physiologische Reaktionsmuster unspezifisch oder stark fehleranfällig sind. Beispielsweise kann über die Absenkung des Hautwiderstandes zwar die Intensität einer affektiven Reaktion bestimmt, nicht aber die häufig interessantere Frage beantwortet werden, ob es sich um eine Zu- oder Abwendungsreaktion handelt. Ähnlich verhält es sich bei der Pupillometrie – der Messung des Pupillendurchmessers: Die menschliche Pupille weitet sich bei Erregung, sowohl bei furchtbesetzten als auch ausgesprochen angenehmen Reizen. Teilweise lässt sich die Aussagekraft

10.4

Erfassen des Konsumentenverhaltens

Da alle Marketingmaßnahmen kurz- oder längerfristig darauf abzielen, Kaufverhalten auszulösen bzw. aufrechtzuerhalten, handelt es sich bei der Erfassung des Konsumentenverhaltens um eine wichtige Aufgabe der psychologischen Marktforschung. Auf Basis von Verhaltensbeobachtungen und -messungen lassen sich nicht nur bereits durchgeführte Marketingaktivitäten evaluieren, sondern auch Kaufbarrieren und Optimierungsmöglichkeiten erkennen (z. B. im Fall von Handhabungstests) oder Rückschlüsse von einer Stichprobe auf das Verhalten der Population ziehen (z. B. beim Minimarkttest). Die Wirkung von Werbe- und Verkaufsförderungsaktivitäten kann auf der Verhaltensebene z. B. darüber erhoben werden, ob Kunden Coupons von Anzeigen zurückschicken, gebührenfreie Anrufe tätigen oder Probeabonnements und Werbegeschenke bestellen. Bei An-

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Kapitel 10 · Methoden der psychologischen Marktforschung

fragentests wird über die Werbung den angesprochenen Personen die Möglichkeit geboten, nähere Informationen zu erfragen, z. B. einen gebührenfreien Anruf zu tätigen. Dieses Testverfahren wird insbesondere bei Anzeigen in Fachzeitschriften eingesetzt (Singh & Cole, 1989), allerdings kann man damit nur schon existierende Werbung testen. Zudem sind solche Tests zeitlich aufwändig und nur bei solchen Werbungen anwendbar, in denen es auch tatsächlich etwas zu erfragen gibt. In anderen Fällen begnügt man sich mit vergleichsweise oberflächlichen »Reaktionsmaßen«, wie beispielsweise das Anklicken einer Werbung oder das Ausbleiben von »Zapping« bzw. die Einschaltquote (vgl. Moser, 2002; Moser & Döring, in Druck). Mit der Verbreitung des Internets ist zudem argumentiert worden, die dortige Bannerwerbung sei besonders überzeugend bewertbar, da die »ad clicks«, also die Anzahl der Klicks auf das Werbebanner, bestimmbar sind. Kommt es zu einer Interaktion des Internetnutzers mit dem Werbebanner, so lässt sich auf 2 Ebenen Verhalten messen: Zum einen kann erfasst werden, wie häufig ein Werbebanner angeklickt wird (Klickrate = Verhältnis der Klicks aufs Banner zur Anzeigehäufigkeit in Prozent), und zum anderen, wie häufig es tatsächlich auf Basis eines Werbebanners zu Anfragen bzw. zum Kauf eines Angebots kommt.

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10.4.1

Verhaltensbeobachtung

Beobachtungsverfahren lassen sich nach der Art der Erfassung (persönlich oder apparativ), dem Partizipationsgrad des Beobachters (teilnehmend oder nicht teilnehmend), der Transparenz der Beobachtungssituation (offen oder verdeckt) sowie dem Ort und Umfeld der Beobachtung (vollbiotische bzw. quasibiotische Feldbeobachtung oder Laborbeobachtung) unterscheiden (z. B. Kepper, 1999; Meffert, 1992). Ihr Einsatz basiert auf der Überlegung, dass natürliches Verhalten nur eingeschränkt durch Befragung oder in einer erkennbaren Testsituation erfasst werden kann. Die ideale Vorgehensweise zur Erfassung völlig unbeeinflussten Verhaltens stellt daher eine verdeckte, vollbiotische Beobachtung dar, welche sich jedoch aufgrund ethischer und praktischer Probleme häufig nicht realisieren lässt (vgl. Salcher, 1995). Ein Beispiel für Beobachtungen in vollbiotischen Situationen ist die Kaufverhaltensbeobachtung, die direkt am Kaufort und ohne Wissen des Konsumenten durchgeführt wird. Dies hat den Vorteil, dass

sich das interessierende Produkt im realen Wettbewerbsumfeld befindet und der Konsument es – anders als in einer unverbindlichen Laborsituation – auch tatsächlich bezahlen muss. Um für die Kaufentscheidung ausschlaggebenden Kriterien und Motiven des Konsumenten auf die Spur zu kommen und gleichzeitig die Gefahr der Subjektivität bei der Interpretation zu reduzieren, werden Kaufverhaltensbeobachtungen häufig mit einer kurzen Nachbefragung kombiniert. In Fällen, in denen eine Beobachtung des Konsumentenverhaltens direkt am Kaufort nicht möglich oder zu aufwändig ist, kann auf ein als simulierte Kaufsituation oder Regaltest bezeichnetes Verfahren zurückgegriffen werden. Hierbei wird der Proband im Teststudio vor ein Regal geführt, in dem sich das Testprodukt sowie Konkurrenzprodukte befinden, und dazu aufgefordert, eines der Produkte auszuwählen. Im Anschluss wird der Proband dann zu seinen Entscheidungskriterien befragt. Der Nachteil dieses Vorgehens besteht in der Unnatürlichkeit der Situation, denn die Testperson muss keine tatsächliche Kaufentscheidung treffen und ist sich zudem bewusst, dass sie beobachtet wird. Als Vorteil kann jedoch die Möglichkeit genannt werden, die Situation gezielt zu verändern. Beispielsweise lassen sich durch die Frage: »Welches Produkt hätten Sie gekauft, wenn dieses nicht verfügbar gewesen wäre?« die wichtigsten Wettbewerber des Testprodukts ermitteln. Eine weitere Ergänzung simulierter Kaufsituationen und vollbiotischer Kaufverhaltensbeobachtungen besteht in der Verbindung mit einem sog. Home-Use-Test, bei dem alle Testpersonen, die das interessierende Produkt gewählt haben, dieses mit nach Hause nehmen und dort unter natürlichen Bedingungen ausprobieren können, um danach an einer weiteren kurzen, meist telefonischen Befragung teilzunehmen. Auf diese Weise lässt sich z. B. ermitteln, inwiefern bestimmte Produkterwartungen erfüllt werden, wo bei der Verwendung Schwierigkeiten auftreten und mit welcher Wiederkaufrate unter den gegebenen Bedingungen zu rechnen ist. Gerade die bei der Verwendung eines Produkts benötigten Bewegungs- und Handlungsabläufe lassen sich jedoch in Befragungen kaum erfassen, da sie oftmals automatisiert und ohne bewusste Aufmerksamkeit ablaufen. Daher werden während der Entwicklung neuer Produkte (z. B. technische Geräte) oder Produktverpackungen häufig Handhabungstests durchgeführt, die ebenfalls offen oder verdeckt beobachtet und durch gezielte Fragen ergänzt werden können.

187 10.4 · Erfassen des Konsumentenverhaltens

10.4.2

Apparative und experimentelle Verfahren

Zwei bekannte und bis heute häufig eingesetzte apparative Verfahren zur Erfassung des Verhaltens sind Tachistoskop und Schnellgreifbühne. Beim Tachistoskop handelt es sich um ein Instrument, mit dem ein Bild oder Gegenstand für eine beliebige Zeitspanne – meist nur Sekundenbruchteile – sichtbar gemacht werden kann. Wird die Zeitspanne entsprechend kurz gewählt, dann ist eine bewusste Wahrnehmung des Gegenstands nicht mehr möglich, die Testperson kann somit nur über undifferenzierte »Eindrücke« bzw. emotionale Reaktionen berichten. Im Mittelpunkt der tachistoskopischen Analyse stehen daher Fragen zur Anmutung und Gestaltung von Produkten, Packungen, Anzeigen etc., beispielsweise die Dominanz und Prägnanz einzelner Elemente (vgl. Salcher, 1995). Als Schnellgreifbühne bezeichnet man einen verschließbaren Kasten, in dem mehrere Produkte oder Packungen aufgestellt werden. Ähnlich wie beim Tachistoskop werden diese der Testperson nur kurz gezeigt, und ihre Aufgabe ist es, einen der Gegenstände auszuwählen und herauszunehmen, bevor sich die Klappe wieder schließt. So kann z. B. die Aufmerksamkeitswirkung der Verpackung oder einfach die Bekanntheit der Produkte ermittelt werden. Um eine völlig andere Art der Verhaltenserfassung handelt es sich bei Testmarktverfahren, die sich ebenfalls den experimentellen Verfahren zuordnen lassen. Beispiel hierfür sind Gebietsverkaufstests oder auch Minimarkttests in einem Testmarkt, in dem Produkte in einem begrenzten Markt unter ansonsten realitäts-

nahen Bedingungen vermarktet werden. Hierzu wird beispielsweise in zuvor festgelegten Testhaushalten eine Werbung geschaltet, in vergleichbaren Kontrollhaushalten jedoch nicht. Im Anschluss wird für einen festgelegten Zeitraum das Konsumverhalten der Beworbenen erfasst. Ermöglicht werden solche Vorgehensweisen dadurch, dass sich die beteiligten Haushalte dazu bereit erklären, dass in ihre Fernsehkanäle bestimmte Werbespots eingespeist werden, dass die Rezeption der Werbespots erfasst wird und dass das anschließende Konsumverhalten bzw. Kaufverhalten registriert wird, indem die Daten in den Einkaufsstätten, die über Scanner erfasst werden, von den Marktforschungsinstituten weiter analysiert werden können. Offensichtlich ist ein solches Vorgehen sehr aufwändig, weshalb auch nur wenige Marktforschungsinstitute entsprechende Leistungen anbieten. Ein Beispiel ist die GfK, die in Haßloch einen Testmarkt mit 3000 Haushalten eingerichtet hat. Die Vorteile dieser Vorgehensweise liegen auf der Hand: Es findet eine umfassende Überprüfung von Marktchancen statt, d. h. Reaktionen der Verbraucher, des Handels und der Konkurrenz können beobachtet und analysiert werden. Dennoch lassen sich auch bei diesem Verfahren einzelne Wirkfaktoren der Marketingstrategie kaum isolieren. Kosten und Zeitbedarf sind zudem sehr hoch, die Repräsentativität des Testmarkts ist fraglich, und die Konkurrenz erhält Einblick in eigene Produktentwicklungen. Auch dies sind Gründe dafür, dass häufig auf die in 7 Abschn. 10.4.1 bereits dargestellten Kaufsimulationen mit einer Kombination aus Studio- und Home-Use-Test zurückgegriffen wird (Engelhardt, 1999).

Fazit Unter psychologischer Markforschung verstehen wir die systematische Sammlung, Analyse und Interpretation von Informationen über Konsumenten und deren Motive, Wünsche, Bedürfnisse und subjektive Vorstellungen. Ziel ist es, das Konsumentenverhalten nicht nur zu erfassen, sondern auch ursächlich zu verstehen und auf Basis dieses Verständnisses in einem gewissen Rahmen vorhersagen zu können. Die hier vorgestellten Markforschungsmethoden lassen sich grob in direkte und indirekte Verfahren unterteilen. Zu den direkten Verfahren zählt v. a. die 6

Befragung, die einzeln oder in Gruppen, persönlich, telefonisch oder via Internet erfolgen kann. Erfassen lassen sich so beispielsweise die Werbeerinnerung, Beurteilungen von Marken und Produkten, Motive, Einstellungen, Verhalten etc. Unabhängig vom Untersuchungsgegenstand haben direkte Verfahren jedoch gemeinsam, dass sie von der Testperson relativ leicht durchschaut werden können und zudem nur das erfassen, was dieser auch bewusst ist. Um hierüber hinaus auch nicht oder nur teilweise bewusste Motive, Bedürfnisse und Verhaltenstendenzen aufdecken zu

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Kapitel 10 · Methoden der psychologischen Marktforschung

können, werden häufig indirekte Verfahren eingesetzt. Zu diesen zählen implizite Erinnerungstests, assoziative Verfahren, projektive Verfahren und zahlreiche Kreativtechniken, aber auch physiologische Maße bzw. apparative Verfahren. Auch Feldforschung wie z. B. Verhaltensbeobachtungen, experimentelle Untersuchungen oder Testmarktverfahren lassen sich den indirekten Verfahren zuordnen.

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Während sich viele Sachverhalte mit Hilfe indirekter Verfahren unverfälschter erfassen lassen als in der direkten Befragung, sind die erhobenen Daten häufig mehrdeutig und schwer interpretierbar. Daher wird in der Praxis in der Regel eine Kombination beider Vorgehensweisen gewählt, indem die Ergebnisse indirekter Verfahren durch eine Befragung ergänzt werden.

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10

II

II Haushalten und Verbrauchen: Erhalten von Ressourcen 11

Finanzpsychologie – 193

12

Gesundheit in Wirtschaft und Gesellschaft

13

Work-Life-Balance

14

Berufswahl und berufliche Entwicklung angesichts des Wandels der Arbeit – 265

15

Arbeitslosigkeit

– 221

– 245

– 285

11 11

Finanzpsychologie Stefan Schulz-Hardt, Frank Vogelgesang, Andreas Mojzisch

11.1

Was ist Finanzpsychologie?

11.2

Grundlagen der Finanzpsychologie – 195

11.2.1 11.2.2

Geld- und Preiswahrnehmung – 195 Finanzbezogenes Entscheiden – 200

11.3

Anwendungsgebiete der Finanzpsychologie – 205

11.3.1 11.3.2

Anlegerverhalten – 205 Sparen und Verschuldung

11.4

Fazit und abschließende Bemerkungen Literatur

– 194

– 212

– 216

– 217

K. Moser (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie DOI 10.1007/978-3-540-71637-2_11, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007

194

Kapitel 11 · Finanzpsychologie

> Für Herrn Centmeyer steht fest: Der Euro ist ein Teuro. Das Bier in der Kneipe, die Kinokarten und erst recht die Mieten – alles ist seit der Einführung des Euro teurer geworden. Selbst der nette Bäcker um die Ecke hat bei den Brötchen aufgeschlagen. Um sicher zu gehen und seine Teuro-Hypothese zu überprüfen, hat Herr Centmeyer die Probe aufs Exempel gemacht: Von seinem Lieblingsitaliener hat er zwei Speisekarten mitgenommen: die eine aus der Zeit vor der Euro-Einführung, die andere aus der Zeit danach. Zugegeben: Die Pasta und die Nachspeisen sind auf der Euro-Speisekarte billiger – insgesamt aber, so zieht Herr Centmeyer nach eingehendem Vergleich beider Karten die Bilanz, sind die Preise durch die Euro-Einführung deutlich gestiegen. Herr Centmeyer fühlt sich somit bestätigt. Umso erstaunter ist er daher über das, was in der Zeitung steht: Laut Angaben des Statistischen Bundesamts ist der Verbraucherpreisindex, der die durchschnittliche Preisentwicklung wiedergibt, in den vergangenen Jahren stets konstant gestiegen – kein Ausschlag nach oben durch die Euro-Einführung im Jahr 2002! Ist der Euro also doch kein Teuro? Kann man sich so sehr täuschen? Um diesem Phänomen auf den Grund zu gehen, wendet sich Herr Centmeyer an eine gut befreundete Finanzpsychologin, die ihm erklärt, wie es zu einer solchen Diskrepanz zwischen Preiswahrnehmung und Preisstatistik kommen kann.

11

11.1

Was ist Finanzpsychologie?

Da die Psychologie die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten von Menschen darstellt, legt der Begriff nahe, dass Finanzpsychologie etwas mit der wissenschaftlichen Untersuchung des Erlebens und Verhaltens von Menschen im Umgang mit finanziellen Mitteln zu tun haben muss. Interessanterweise hat diese recht junge psychologische Subdisziplin ihren Ursprung gar nicht in der Psychologie, die lange Zeit ein weitgehendes Desinteresse an finanzwirt- und finanzwissenschaftlichen Fragestellungen zeigte. Als »Gründungsvater« der Finanzpsychologie kann der Wirtschaftswissenschaftler Günter Schmölders angesehen werden, dessen klassische Arbeiten zur Psychologie des Geldes (Schmölders, 1966) und zur Einführung in die Geld- und Finanzpsychologie (Schmölders, 1975) den Grundstein legten für die systematische, empirische Analyse finanzbezogenen mensch-

lichen Erlebens und Verhaltens. Dabei hatte Schmölders ein sehr enges Verständnis des Begriffs Finanzpsychologie, wie schon die Abgrenzung von der Geldpsychologie im Titel des zweitgenannten Werkes vermuten lässt: Seiner Ansicht nach sollte sich Finanzpsychologie mit der verhaltensbezogenen Analyse finanzpolitischer Entscheidungsprozesse sowie den Reaktionen der Bürger auf die Staatswirtschaft (z. B. ihre Steuermoral) beschäftigen. Dass sich die Finanzpsychologie nachfolgend als wesentlich breiteres und sich sehr dynamisch entwickelndes Themengebiet in der Psychologie etablierte, ist verschiedenen wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklungen zu danken. Auf wirtschaftlicher Seite sind Faktoren wie etwa die zunehmende Globalisierung der Wirtschaft oder auch Veränderungen des Finanzwesens (z. B. eine zunehmende Anzahl von Börsengängen) zu nennen, die ein steigendes Interesse an psychologischen Prozessen bei finanzbezogenem Handeln und ein entsprechendes Problembewusstsein mit sich brachten. Nicht zuletzt das Platzen der Börsenblase im Jahr 2000 hat auch bei vielen interessierten Laien das Interesse an der »Psychologie der Börse« geweckt. Wissenschaftlich kam ein wichtiger Motor für die Finanzpsychologie erneut aus den Wirtschaftswissenschaften, in denen sich die Behavioral Finance als verhaltensorientierte Erweiterung der ökonomischen Finanztheorie etablierte. Anliegen der Behavioral Finance (für eine aktuelle Übersicht s. Stracca, 2004) ist es, das Verhalten von Kapitalmarktteilnehmern durch systematischen Einbezug psychologischen Wissens besser erklärbar und vorhersagbar zu machen, als dies auf Grundlage der Standardökonomik möglich ist. Das daraus resultierende Interesse an finanzbezogenem psychologischem Wissen belebte die finanzpsychologische Forschung v. a. im Bereich des Anlegerverhaltens. Heute präsentiert sich die Finanzpsychologie als ein vielfältiges und noch immer wachsendes Themengebiet der Psychologie. Allerdings fehlen übergreifende Darstellungen, wie z. B. Lehrbücher, aus denen sich ein gemeinsames Verständnis von der Breite und den Grenzen dieser Disziplin herleiten ließe. Im Einklang mit Fischer, Kutsch und Stephan (1999) wollen wir sie in diesem Beitrag wie folgt definieren:

195 11.2 · Grundlagen der Finanzpsychologie

Definition Finanzpsychologie ist die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten von Menschen im Umgang mit Geld oder liquiditätsnah investierten bzw. aufgenommenen Mitteln.

Die Untersuchung dieser Thematik erfolgt im Regelfall auf der Mikroebene, setzt also beim einzelnen Wirtschaftssubjekt an. Dabei lässt sich die Finanzpsychologie in eher grundlagenorientierte und eher anwendungsorientierte Forschungsbereiche unterteilen. In ersteren werden die Wahrnehmung von Geld, die Wahrnehmung von Preisen sowie das Urteilen und Entscheiden über Geldmittel im Allgemeinen untersucht, in letzteren hingegen fokussiert man konkrete Anwendungskontexte für finanzbezogenes Urteilen und Entscheiden. Als die 3 größten und bekanntesten Anwendungsbereiche sind das Anlegerverhalten, das Spar- und Verschuldungsverhalten sowie Steuerehrlichkeit und Steuerhinterziehung zu nennen. Diesem Begriffsverständnis folgen wir auch im Aufbau unseres Beitrags, in dem wir zunächst die Grundlagen und anschließend 2 der 3 genannten Anwendungsbereiche der Finanzpsychologie darstellen. Mit dem dritten Anwendungsbereich, der Steuerehrlichkeit und Steuerhinterziehung, beschäftigt sich ausführlich 7 Kap. 18 in diesem Band. 11.2

Grundlagen der Finanzpsychologie

11.2.1

Geld- und Preiswahrnehmung

eines Mittels zur Hervorhebung der Persönlichkeit, der Auszeichnung und Anerkennung sowie von Macht und Status. Damit hatte Geld als ein Mittel zur Kommunikation sozialer Differenzierung soziale und psychologische Funktionen noch vor ökonomischen. Indem Geld verschiedene soziale und psychologische Gegebenheiten, wie Erfolg, Macht, Status, Unabhängigkeit, Sicherheit, Cleverness und Wohlsein, symbolisiert, erhält es symbolische Bedeutungen (Burgoyne, Routh & Ellis, 1999). Als Wertmaßstab, Wertaufbewahrungsund -übertragungsmittel und insbesondere als Tauschund Zahlungsmittel hingegen hat Geld ökonomische Funktionen. Die Vielfalt seiner ökonomischen Funktionen und symbolischen Bedeutungen lassen Geld zu einem generalisierten Sekundärverstärker werden, mit dem sehr verschiedene Bedürfnisse und Motive befriedigt werden können. Als Tauschmittel funktioniert Geld nicht aufgrund seines Gebrauchs- oder Materialwerts, sondern aufgrund der allgemeinen Anerkennung des Wertversprechens, für das es steht (Schmölders, 1966). Mit Anerkennung des Wertversprechens ist das Vertrauen darauf gemeint, »daß das Geld, das man jetzt einnimmt, auch zu dem gleichen Werte wieder auszugeben ist« (Simmel, 1922, S. 164–165, zitiert nach Schmölders, 1966, S. 144). Das Wertversprechen kann beispielsweise durch die Inflation untergraben werden. Bleibt das Vertrauen in das Geld davon aber weitgehend unberührt, so verweist uns dies auf ein interessantes und zentrales Phänomen der Geldpsychologie, nämlich die häufig zu konstatierende Divergenz zwischen Geldwert und dessen Wahrnehmung. Geldwert und Geldwahrnehmung: Die Geldillusion

In diesem Abschnitt beschäftigen wir uns zunächst mit Bedeutungen und Funktionen von Geld. Aus ihnen leiten sich Wert und Wahrnehmung des Geldes her. Wir schließen mit der Wahrnehmung von in Geldeinheiten ausgedrückten Preisen. Geldwahrnehmung Bedeutungen und Funktionen von Geld

Der Ursprung des Geldes liegt Schmölders (1966) zufolge nicht in der Suche nach einem allgemeinen Tauschmittel, sondern im Geltungsstreben und Schmuckbedürfnis von Menschen begründet. Zuerst trat Geld in Form von männlichem Würde- und Rangschmuck in Erscheinung, daraus entwickelte es sich zu Besitzschmuck im Sinne

Der (reale) Geldwert bezeichnet in der Ökonomie die Kaufkraft des Geldes als die Menge aller Güter, die man für einen bestimmten Geldbetrag erwerben kann. Unter Geldwahrnehmung hingegen verstehen wir die Wahrnehmung und Beurteilung des Wertes von Geld vor dem Hintergrund eigener geldwerter Bedürfnisse, u. a. in temporären und sozialen Vergleichen. Der reale, ökonomische Geldwert und der wahrgenommene, psychologische Geldwert können sich deutlich unterscheiden. Dies zeigt sich in der sog. 7 Geldillusion (7 Beispiel). Sie »besteht in der Anschauung, daß die Geldeinheit sich immer gleich bleibt, so dass sie als Wertmaßstab für andere Dinge dienen kann, und dass sie selbst nicht gemessen zu werden braucht« (Fisher, 1948, zitiert nach Schmölders,

11

196

Kapitel 11 · Finanzpsychologie

1966, S. 145). Eine Inflation von 3% beispielsweise führt zu einer Verringerung des Wertes eines Euros um 3%, ohne dass wir seine Kaufkraft plötzlich als die von 97 Cent wahrnähmen. Wir hegen vielmehr die Illusion, sie sei nach wie vor die eines Euros – so ist es schließlich auch unauslöschlich der Münze und, wie wir weiter unten sehen werden, unserem Denken eingeprägt. Beispiel

Empirisch wurde die Geldillusion in den verschiedensten Kontexten gezeigt (siehe u. a. Shafir, Diamond & Tversky, 1997). Bei Gamble, Gärling, Västfjäll und Marell (2003) beispielsweise wählten die Untersuchungsteilnehmer/innen eine Währung mit einer großen Geldeinheit, um Waren zu bezahlen, aber eine Währung mit einer kleinen Geldeinheit für die Auszahlung ihres Gehalts. Obwohl sie in der jeweiligen Währung faktisch immer dieselbe, von ihrer Kaufkraft her identische Geldmenge erhielten bzw. bezahlen mussten, hatten sie also die Illusion, bei Zahlung eines nominell kleineren Betrags (auf Deutschland übertragen z. B. 511 EUR statt 1000 DM) weniger Geld zu verlieren bzw. bei Erhalt nominell höherer Gehälter (z. B. 2000 DM statt 1022 EUR) mehr Geld zu verdienen.

11

Eine psychologische Erklärung für die Geldillusion liefern Shafir et al. (1997): Ökonomische Transaktionen können nominal (in Zahlen) oder real (in Kaufkraft bzw. Wert) repräsentiert werden. Verschiedene Repräsentationen ein und desselben Sachverhalts aber führen oft zu systematisch unterschiedlichen Reaktionen (s. hierzu auch 7 Abschn. 11.2.2). Ein Sachverhalt wird zumeist in demjenigen Bezugssystem (Frame) repräsentiert, das salienter, einfacher oder natürlicher erscheint. Im Falle ökonomischer Transaktionen ist dies die nominale Repräsentation (Zahlen auf Scheinen und Münzen). In diesem Sinne erklären Shafir et al. (1997) die Geldillusion als eine Verzerrung der Einschätzung des realen Wertes einer Transaktion durch eine nominale Einschätzung und definieren sie dementsprechend neu: Definition Die Geldillusion ist die Tendenz, in Zahlen (nominal) anstatt in Kategorien realen Geldwerts zu denken.

Wenn jemand es beispielsweise vorzieht, für seine Geldanlage 4% Zinsen bei 3%iger Inflation zu erhalten statt 2% Zinsen bei 1%iger Inflation, so kommt darin genau diese Tendenz zum Ausdruck. Das Vertrauen der Bürger in ihr Geld bzw. das Misstrauen bezüglich seiner Entwertung hat harte ökonomische Konsequenzen: Wer in die Kaufkraft vertraut, wird eher disponieren. Wer hingegen mit Preissteigerungen rechnet, wird sein Geld möglichst rasch in Produkte umsetzen. Eine daraus resultierende Nachfragesteigerung aber treibt die Preise tatsächlich in die Höhe, und zwar nicht wegen eines aus Inflation resultierenden realen, sondern allein aufgrund eines antizipierten Wertverlusts. Preiswahrnehmung Dimensionen der Preiswahrnehmung

Ebenso, wie es bei der Geldwahrnehmung im Wesentlichen um die Wahrnehmung des Geldwertes geht, steht bei der Preiswahrnehmung die Wahrnehmung des Preiswertes bzw. – dieser Begriff ist gebräuchlicher – der Preishöhe im Vordergrund. Einige Autoren (z. B. Simon, 2006) unterscheiden in diesem Zusammenhang zwischen Preiswahrnehmung im engeren Sinne als der reinen Enkodierung der Preisinformation und Preisbeurteilung als dem darauf aufbauenden Beurteilungsprozess. Wir wollen hier beides unter dem Oberbegriff der Preiswahrnehmung zusammenfassen. Preiswahrnehmung in diesem weiteren Sinne hat eine kognitive, eine affektive und eine konative Dimension (Meffert & Bruhn, 2006). Die kognitive Dimension umfasst das Preiswissen, das Wissen darüber, welche Preise für die jeweilige Person welche Relevanz haben, sowie kognitiv basierte Urteile über die absolute Höhe von Preisen (ist ein Produkt einen bestimmten Preis wert?) und die relative Höhe von Preisen (Preisrelation zu bisherigen Preisen bzw. Preisen von Konkurrenzprodukten). Die affektive Dimension hingegen konstituiert sich aus gefühlsbasierten Urteilen über die Preishöhe sowie über die Relevanz von Preisen. Die konative Dimension schließlich beinhaltet preisbezogene Verhaltensintentionen, wie z. B. die, ab einem bestimmten Preis ein Produkt zu kaufen oder zu verkaufen. Die Preiswahrnehmung ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig, die sowohl in der Person (z. B. verfügbare kognitive Kapazität, persönliche Involviertheit) als auch in der Situation (z. B. Art der Preisdarbietung, Image der Einkaufsstätte) lokalisiert sein können. Eine

197 11.2 · Grundlagen der Finanzpsychologie

ausführliche Erörterung solcher Faktoren erfolgt in 7 Kap. 3 (»Kaufentscheidungen«) sowie 7 Kap. 9 (»Marketinginstrumente – psychologisch betrachtet«) in diesem Band. Wir möchten nachfolgend einige Gesetzmäßigkeiten menschlicher Preiswahrnehmung aufzeigen, aus denen sich die Wirkung konkreter Einflussfaktoren ableiten lässt. Preisschwellen

Unsere interne Preiswahrnehmungsskala, in der wir dem Preis eines Produkts eine subjektive Preishöhe zuordnen, ist nicht immer eine fein abgestufte kontinuierliche Skala, sondern wir unterscheiden oftmals nur wenige, relativ grobe Kategorien wie z. B. »preiswert«, »akzeptabel« und »teuer«. Die Grenzen dieser Kategorien stellen die sog. Preisschwellen dar, bei deren Überschreiten es zu Sprüngen in der wahrgenommenen Preishöhe kommt. Derselbe Preisunterschied zwischen 2 Produkten kann also als relativ gering empfunden werden, wenn beide Preise innerhalb derselben Kategorie lokalisiert sind (Assimilationseffekt), oder als relativ groß erlebt werden, wenn sie zu verschiedenen Kategorien gehören (Kontrasteffekt). Systematisch lassen sich Preisschwellen mit Hilfe der sog. Preis-Absatz-Funktion nachweisen. Sie gibt an, wieviel Prozent der Kunden ein Produkt zu einem bestimmten Preis zu kaufen beabsichtigen. Ermitteln kann man sie beispielsweise, indem man bei den Befragten . Abb. 11.1. Zusammenhang zwischen Preisschwellen und Absatzeinbrüchen. (Aus El Sehity, Kirchler & Brandstätter, 2005)

den Preis eines bestimmten Produkts in kleinen Schritten sukzessive erhöht und jeweils erfragt, ob sie zu dem gegebenen Preis das Produkt kaufen würden oder nicht. Wäre unsere Preiswahrnehmung kontinuierlich oder verteilten sich Preisschwellen bei den Befragten unsystematisch, so müsste sich eine absteigende Gerade ergeben, wenn auf der X-Achse der Preis und auf der Y-Achse der Prozentsatz von Personen mit Kaufabsicht stünde. Überall dort, wo die Funktion hingegen plötzliche Sprungstellen aufweist, befinden sich Preisschwellen, die von einer Vielzahl von Befragten geteilt werden und somit absatzpolitisch relevant sind – hebt man den Preis über eine solche Schwelle hinweg an, so sinkt der Absatz überproportional, wie . Abb. 11.1 illustriert. Preisschwellen befinden sich üblicherweise bei markanten Glattpreisen (dies sind Preise, die mit einer Null enden, z. B. 1,50 EUR). Das Wissen um die Existenz sozial geteilter Preisschwellen erklärt daher möglicherweise die Präferenz vieler Anbieter für die Verwendung bestimmter gebrochener Preise (also Preise, die nicht mit einer Null enden) wie etwa 0,99 EUR oder 1,49 EUR. Solche überproportional häufig vorkommenden gebrochenen Preise werden dominant gebrochene Preise genannt. Wer als Anbieter 1,99 EUR statt 2,00 EUR als Preis wählt, der setzt wohl weniger auf den Kaufanreiz des gesparten Cents als vielmehr auf andere Faktoren – und dies könnte neben einem Primacy-Effekt, dem zufolge man die erste Ziffer des Preises besser erinnert als

11

198

Kapitel 11 · Finanzpsychologie

die nachfolgenden, auch die Erwartung sein, bei 2,00 EUR läge eine sozial geteilte Preisschwelle. Interessanterweise konnte bisher noch nicht eindeutig belegt werden, dass die Verwendung dominant gebrochener Preise anstelle von Glattpreisen verkaufsförderlich ist (vgl. Gedenk & Sattler, 1999). Preisverankerung

Menschen reagieren meistens nicht auf die absolute, sondern vielmehr auf die relative Höhe von Preisen. Sie beurteilen Preise also in Relation zu bestimmten Referenzpreisen. Hierbei gibt es 3 Arten von Referenzpreisen: 1. Externe Referenzpreise als Preisinformationen, die unmittelbar mit dem zu beurteilenden Preis wahrgenommen werden (z. B. Preise von Konkurrenzprodukten, die nebenan im Regal liegen) 2. Interne Referenzpreise als Preiserfahrungen oder -kenntnisse, die aus dem Gedächtnis abgerufen werden 3. Preiserwartungen als Erwartungen darüber, wie sich der Preis eines Produkts in Zukunft entwickeln wird

11

Die Wirkung von Referenzpreisen erfolgt psychologisch über den sog. Ankereffekt, den wir in 7 Abschn. 11.2.2 (Urteilsheuristiken) noch ausführlicher thematisieren werden. Dabei wird ein numerisches Urteil (z. B. über die angemessene Preishöhe) durch einen vorher gesetzten numerischen Anker in dessen Richtung beeinflusst. Ankereffekte sind in vielen Fällen sehr hilfreich, weil sie uns helfen, relativ schnell zu hinreichend genauen Urteilen zu kommen: Wenn ich beispielsweise ein Urteil über den angemessenen Preis für ein neues Cabrio-Modell abgeben soll, dann ist es effizient, wenn ich mich an den Preisen von Mitbewerbern orientiere. Allerdings können Preisanker auch zu unerwünschten Verzerrungen führen, wenn man sie dort verwendet, wo sie ökonomisch nicht sinnvoll sind. Beispielsweise zeigten Jonas, Greitemeyer, Frey und Schulz-Hardt (2002) in einer Serie von Experimenten kurz vor der Einführung des Euro als Bargeldwährung, dass Personen für dieselben Produkte einen höheren subjektiv angemessenen Preis angaben, wenn sie die Schätzungen in Euro statt in DM durchführen sollten. Dieser Effekt lag darin begründet, dass die noch im Gedächtnis befindlichen, nominell höheren DM-Preise die Preisschätzungen in Euro verzerrten. All diejenigen, denen die neuen Euro-Preise auf

den ersten Blick so ungewöhnlich niedrig vorkamen, werden diesen Effekt nachvollziehen können – erwartungsgemäß verschwand er mit zunehmender Gewöhnung an den Euro und gleichzeitig abnehmender Verfügbarkeit der alten DM-Preisanker (Jonas, Greitemeyer, Graupmann & Frey, 2002). Während die obigen Befunde ein Beispiel für die mögliche Verzerrungswirkung interner Referenzpreise geben, können auch externe Referenzpreise zu systematischen und unerwünschten Verzerrungen führen: In einer Studie von Northcraft und Neale (1987) gaben die Probanden beispielsweise umso höhere subjektiv angemessene Preise für dasselbe Immobilienobjekt an, je höher die Preisforderung des Besitzers war, und dieses Ergebnismuster zeigte sich nicht nur bei Laien, sondern auch bei professionellen Immobilienmaklern. Da der Besitzer ein Interesse hat, unabhängig von der Qualität des Objekts einen möglichst hohen Preis zu erzielen, ist seine Preisforderung keine Information, die man in die eigene Preisbeurteilung einbeziehen sollte. Dies zeigt auch, wie Ankereffekte durch Referenzpreise von Anbietern ausgenutzt werden können, nämlich indem sie zunächst überhöhte Preisforderungen stellen. Ein weiteres, etwas subtileres Beispiel hierfür sind »Mondpreise«, also überhöhte Normalpreise, auf die dann ein vermeintlich hoher Rabatt gewährt wird – im Vergleich zu diesem Mondpreis wirkt dann der tatsächliche Preis günstig. Preis-Qualitäts-Relation

Unter der Preis-Qualitäts-Relation versteht man die Tendenz von Menschen, einem höherpreisigen Produkt auch eine höhere Qualität zuzuschreiben. Ebenso wie die Preisverankerung liefert sie ein Beispiel für eine zumeist sinnvolle Heuristik (Vereinfachungsstrategie) für die Preiswahrnehmung, die aber in bestimmten Fällen zu systematischen Verzerrungen oder Fehlern führen kann. Da in der Realität bessere Produkte im Durchschnitt einen höheren Preis haben, führt diese Heuristik meistens zu recht adäquaten Urteilen. In verschiedenen Experimenten konnte allerdings gezeigt werden, dass Menschen sogar beim Vergleich identischer Produkte eine bessere Qualität desjenigen Artikels wahrnehmen, für den (innerhalb realistischer Grenzen) ein höherer Preis zu zahlen ist (Enis & Stafford, 1969; Leavitt, 1954). Die eigene Erfahrung einer positiven Korrelation von Preis und Qualität wird also übergeneralisiert.

199 11.2 · Grundlagen der Finanzpsychologie

Unter dem Oberbegriff der Preis-Qualitäts-Relation wird zumeist auch der sog. Veblen-Effekt geführt (Veblen, 1899, 1986): Bisweilen schließen Menschen nicht von einem hohen Preis auf eine gute Qualität eines Produkts, einer Wertanlage etc., sondern der hohe Preis wird selbst zum Qualitätsmerkmal, da er dem Produkt den Charakter eines Statussymbols verleiht. Wahrnehmung von Preisveränderungen

Bereits aus den Ausführungen zu Preisschwellen ergibt sich, dass Menschen Preisveränderungen nicht 1:1 in ihr Preiswahrnehmungssystem übernehmen, sondern dass es zu psychologischen Verzerrungen in der Preisveränderungswahrnehmung kommt: So lange eine Preiserhöhung oder -senkung nicht dazu führt, dass eine Preisschwelle über- oder unterschritten wird, unterschätzen wir die Preisänderung. Bei Überoder Unterschreitung einer solchen Schwelle hingegen überschätzen wir sie. Im Mittel sollten sich Unter- und Überschätzungen ausgleichen. Unter dieser Voraussetzung können Preisschwellen nicht zu systematischen Unter- und Überschätzungen von Preisentwicklungen führen. Ob es dennoch systematische Fehlwahrnehmungen gibt, ist finanzwissenschaftlich v. a. im Zusammenhang mit der Wahrnehmung von Inflation interessant. In diesem Zusammenhang wurden sowohl systematische Unterschätzungen als auch systematische Überschätzungen nachgewiesen. So belegen die bereits referierten Befunde zur Geldillusion, dass Menschen Inflation im Extremfall völlig ignorieren können. Auf der anderen Seite überschätzten die Befragten in einer Studie von Bates und Gabor (1986) die Teuerung von ausgewählten Lebensmitteln sowohl im Monats- als auch im Jahresrückblick. Hinweise auf die mögliche Moderatorvariable, die zwischen diesen scheinbar divergierenden Befunden vermittelt, ergeben sich aus einer aktuellen Serie von Experimenten, die sich mit der sog. »7 Teuro-Illusion« beschäftigen. Im Zuge der Einführung des Euro als Bargeldwährung kam es zu dem Phänomen, dass die Bevölkerung in Deutschland substanzielle, z. T. extrem hohe Preissteigerungen durch den Euro wahrnahm, während alle offiziellen Statistiken keine solchen überproportionalen Preisanstiege oder etwa eine erhöhte Inflationsrate nachweisen konnten. Während die meisten Erklärungsversuche für diese Diskrepanz eine irreführende Kalkulation bei den entsprechenden Statistiken vermu-

teten, zeigten Traut-Mattausch, Schulz-Hardt, Greitemeyer und Frey (2004), dass illusionäre Preissteigerungswahrnehmungen mit dem Euro verbunden sind. In ihren Experimenten präsentierten sie den Versuchspersonen zweimal hintereinander eine angeblich reale Speisekarte eines italienischen Restaurants, wobei die Preise auf der ersten Karte in DM (Zeit vor der EuroEinführung) und auf der zweiten Karte in Euro (Zeit nach der Euro-Einführung) ausgewiesen waren. Einige Speisen waren günstiger geworden, einige preislich stabil geblieben, und einige waren teurer geworden. Experimentell wurde manipuliert, welche durchschnittliche Preisveränderung von DM zu Euro vorlag, nämlich entweder +15% (steigender Preistrend), 0% (Preisstabilität) oder –15% (sinkender Preistrend). Wie aus . Abb. 11.2 ersichtlich, wurden tatsächliche Preissteigerungen überschätzt, bei tatsächlich stabilen Preisen wurde eine Preiserhöhung wahrgenommen, und bei gefallenen Preisen meinten die Probanden, die Preise seien stabil geblieben. Diese »Teuro-Illusion« erwies sich als sehr robust. Sie trat beispielsweise unvermindert auf, wenn 4 man beide Speisekarten parallel vorliegen hatte und direkt vergleichen konnte, 4 die Preise innerhalb der Speisekarte stabil waren (also z. B. jedes Gericht akkurat von DM in Euro umgerechnet wurde), 4 man die Einzelpreise sogar mit Angabe von Einzelergebnissen vergleichen musste oder 4 ein monetärer Anreiz für eine möglichst genaue Schätzung gegeben war (vgl. Greitemeyer, SchulzHardt, Traut-Mattausch & Frey, 2002; TrautMattausch et al., 2004). Als Ursache für die »Teuro-Illusion« erwiesen sich die Erwartungen der Versuchspersonen: Je höhere Preissteigerungen erwartet wurden, desto höhere Preissteigerungen wurden wahrgenommen. Als vermittelnder Mechanismus dafür, dass die Erwartungen trotz eindeutiger, numerisch klar nachprüfbarer Gegenevidenz in die Preistrendurteile eingingen, zeigte sich eine selektive Fehlerkorrektur: Während Rechenfehler, die entgegen der Preissteigerungserwartung ausfielen, identifiziert und korrigiert wurden, wurden erwartungskonforme Rechenfehler übersehen und beeinflussten so das abschließende Urteil (7 Beispiel).

11

200

Kapitel 11 · Finanzpsychologie

. Abb. 11.2. Durchschnittlicher realer Preistrend und Schätzung des Preistrends in 3 Bedingungen. (Aus Traut-Mattausch et al., 2004, S. 746)

Beispiel

11

So hatte Herr Centmeyer aus dem Eingangsbeispiel die ehemals 17,50 DM für sein Lieblingsgericht versehentlich in 8,25 EUR umgerechnet. Der neue Preis in der Karte lag mit 8,75 EUR deutlich höher. Da die irrtümliche Teuerung Herrn Centmeyers Erwartungen entsprach, hatte er jedoch keinen Anlass, seine eigene Berechnung kritisch zu überprüfen. Dadurch entging ihm, dass das Gericht de facto sogar billiger geworden war, denn bei korrekter Umrechnung hätte es 8,95 EUR kosten müssen.

Durch experimentelle Manipulation der Erwartungen konnte zudem gezeigt werden, dass die Erwartungen tatsächlich die Ursache der Verzerrungen waren (Greitemeyer et al., 2005). Insbesondere wurden tatsächliche Preissteigerungen sogar unterschätzt, wenn zuvor die Erwartung stabiler Preise induziert worden war. Die Erwartungen der Wirtschaftssubjekte liefern somit auch eine Erklärung für die zuvor genannten divergierenden Befunde, nämlich dass reale Preisveränderungen manchmal systematisch unterschätzt und manchmal systematisch überschätzt werden.

11.2.2

Finanzbezogenes Entscheiden

Typen von Entscheidungen Finanzpsychologie beschäftigt sich in allen Anwendungsbereichen mit finanzbezogenen Entscheidungen: Wann werden aus welchen Gründen Aktien gekauft und verkauft? Wann spart man, wann verschuldet man sich? Wovon hängt die Entscheidung für oder gegen eine ehrliche Angabe der Einkommensverhältnisse in der Steuererklärung ab? Zur Erklärung und Prognose benötigt man also Theorien und Modelle menschlichen Entscheidens. Die psychologische Entscheidungsforschung ist ein sehr breites und heterogenes Feld (für einen Überblick siehe z. B. Jungermann, Pfister & Fischer, 1998). Beispielsweise unterscheidet man in der psychologischen Entscheidungsforschung verschiedene Typen von Entscheidungen, und je nach Entscheidungstyp werden unterschiedliche Prozesse der Entscheidungsfindung angenommen. Wir konzentrieren uns hier auf sog. reflektierte Entscheidungen, bei denen die zur Verfügung stehenden Alternativen analysiert und durchdacht werden, da wir davon ausgehen, dass dies für viele, insbesondere bedeutsame finanzbezogene Entscheidungen typisch ist (im Gegensatz etwa zu routinisierten Entscheidungen, bei denen man auf feste Handlungsmuster zurückgreifen kann). Reflektierte Entscheidungen lassen sich weiter differenzieren nach dem Grad des Wissens

201 11.2 · Grundlagen der Finanzpsychologie

über die Konsequenzen, die die Wahl der verschiedenen Entscheidungsalternativen mit sich bringen würde: 4 Entscheidungen unter Sicherheit: Die Konsequenzen aller Alternativen sind bekannt und sicher. 4 Entscheidungen unter Unsicherheit: Die Konsequenzen und ihre subjektiven Wahrscheinlichkeiten sind bekannt. 4 Entscheidungen unter Ambiguität: Die Konsequenzen sind bekannt, nicht aber ihre Eintrittswahrscheinlichkeiten. 4 Entscheidungen unter Unwissenheit: Die Konsequenzen sind, zumindest teilweise, nicht bekannt. Die psychologische Entscheidungsforschung hat sich – wie auch die ökonomische – auf die ersten beiden Situationen konzentriert, obwohl sich argumentieren lässt, dass finanzbezogene Entscheidungen, wie etwa der Kauf und Verkauf von Aktien, höchstens mit sehr vagen Vorstellungen über die Eintrittswahrscheinlichkeiten bestimmter Konsequenzen (etwa Kursgewinne und Kursverluste) verknüpft sind. Die beiden Entscheidungstheorien, die wir im Folgenden vorstellen, weil sie in der Finanzpsychologie am häufigsten aufgegriffen werden, fokussieren ebenfalls auf Entscheidungen unter Sicherheit bzw. Unsicherheit. Es handelt sich um Theorien zu individueller Entscheidungsfindung. Den gesamten Bereich sozial interdependenter Entscheidungen, wie ihn etwa die Spieltheorie behandelt (siehe z. B. von Neumann & Morgenstern, 1944), und kollektiver Entscheidungen (siehe z. B. Schulz-Hardt, Greitemeyer, Brodbeck & Frey, 2002) müssen wir hier aussparen. SEU-Theorie Der Ausdruck SEU steht für Subjectively Expected Utility und charakterisiert die von Edwards (1954) eingeführte Theorie, weil sie annimmt, dass Personen den subjektiven Nutzen kalkulieren, den sie bei den verschiedenen Entscheidungsalternativen zu erwarten haben, und dann die Alternative mit dem höchsten erwarteten Nutzen wählen. Formal bedeutet dies, dass der Entscheider für jede Alternative j folgenden Ausdruck berechnet: SEUj = Σ ujkpjk (k = 1 bis n) mit SEUj = subjektiver Gesamtnutzen von Alternative j ujk = subjektiver Nutzen, den die Konsequenz k bei Wahl von Alternative j hat

pjk = subjektive Wahrscheinlichkeit, dass Konsequenz k bei Wahl von Alternative j eintreten wird Unter den psychologischen Entscheidungstheorien ist die SEU-Theorie diejenige, die dem »Homo oeconomicus« der Wirtschaftswissenschaften (z. B. Kirchgässner, 1991) am nächsten steht. Der Homo oeconomicus verfolgt das Ziel der individuellen Nutzenmaximierung und vermag dieses durch rationales Entscheiden zu realisieren, wobei Rationalität hier die Konsistenz von Entscheidungen mit der stabilen Präferenzstruktur des Entscheiders bedeutet. Diese Rationalität der Entscheidung kommt im obigen SEU-Kalkül deutlich zum Ausdruck. Ebenso wie der Homo oeconomicus lässt die SEU-Theorie dabei zu, dass identische Entscheidungssituationen bei verschiedenen Personen zu unterschiedlichen Entscheidungen führen können, wenn die Personen sich in ihrer stabilen individuellen Risikoneigung unterscheiden. Differenziert wird hier zwischen: 4 risikoscheuen Entscheidern, die eine sichere Alternative (z. B. 5 EUR sicher zu bekommen) einer risikoreichen mit identischem Erwartungswert (z. B. mit Wahrscheinlichkeit 0,5 entweder 10 EUR oder nichts zu bekommen) vorziehen, 4 risikoneutralen Entscheidern, die zwischen beiden Alternativen indifferent sind, und 4 risikofreudigen Entscheidern, die im obigen Beispiel die risikoreiche Alternative präferieren. Als weiteres psychologisches Moment enthält die SEUTheorie die Subjektivität der Nutzen- und Wahrscheinlichkeitswerte. Trotz dieser subjektiven Elemente ist die SEU-Theorie insgesamt eine Theorie, die den Entscheidern eine äußerst aufwändige und stringente Informationsverarbeitung abverlangt, damit diese sich in Einklang mit der Theorie verhalten können. Ihre Verwendung zur Deskription realen Entscheidungsverhaltens ist folgerichtig aufgrund der Tatsache kritisiert worden, dass Entscheider diesen sehr strikten Anforderungen in der Realität oft nicht genügen und bestimmte Axiome, auf denen die Theorie aufbaut, verletzen (z. B. Tversky, 1969). Dies führte zu Revisionen der SEU-Theorie, die mit den empirischen Daten zum Entscheidungsverhalten besser übereinstimmen. Unter ihnen ist die nachfolgend beschriebene Prospect Theory diejenige, die am meisten Forschung angeregt hat und auch in der Finanzpsychologie am häufigsten zur Erklärung und Vorhersa-

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Kapitel 11 · Finanzpsychologie

ge finanzbezogener Entscheidungen herangezogen wird. Prospect Theory Ebenso wie die SEU-Theorie geht die Prospect Theory davon aus, dass Personen ihren subjektiv erwarteten Nutzen maximieren möchten und dass daher der Nutzen und die Wahrscheinlichkeiten der Konsequenzen von Alternativen die Entscheidung bestimmen. Neben diesem gemeinsamen Kern enthält die Prospect Theory jedoch im Vergleich zur SEU-Theorie eine Reihe von Erweiterungen. Eine besteht darin, dass die Prospect Theory von einem 2-phasigen Entscheidungsprozess ausgeht: 4 1. Phase: Editierung des Entscheidungsproblems 4 2. Phase: Evaluation des editierten Entscheidungsproblems

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Die Editierung dient dazu, die Entscheidungssituation psychologisch zu vereinfachen und so für den Entscheider besser handhabbar zu machen. Dies geschieht mit Hilfe verschiedener Editierungsmechanismen wie etwa dem Auf- und Abrunden von Zahlenwerten, die wir hier aber nicht näher besprechen, da sie für die später diskutierten finanzpsychologischen Anwendungen der Theorie nur von untergeordneter Bedeutung sind. In diesem Kontext bedeutsamer sind die beiden Kernelemente der Theorie in der Evaluationsphase des Entscheidungsproblems, nämlich die Wertfunktion und die Entscheidungsgewichtungsfunktion. Die Wertfunktion gibt an, welche psychologischen Werte (Nutzen im Sinne der SEU-Theorie) objektiven Entscheidungsergebnissen zugeord-

. Abb. 11.3. Wertfunktion in der Prospect Theory

net werden. Der Verlauf dieser Wertfunktion ist in . Abb. 11.3 dargestellt. Die Funktion verläuft im Gewinnbereich (dies ist der Bereich rechts vom Nullpunkt) konkav. Daraus folgt, dass man sich im Gewinnbereich risikoscheu verhält (7 Beispiel »Gewinnbereich«). Beispiel

Gewinnbereich Angenommen, man kann zwischen einem sicheren Gewinn von 5 EUR und dem Wurf einer »fairen« Münze wählen, bei der man bei »Zahl« 10 EUR und bei »Kopf« nichts gewinnt. Da der psychologische Wert der 10 EUR nicht doppelt so groß ist wie der psychologische Wert der 5 EUR, ist der psychologische Erwartungswert der Münzwurfalternative geringer als derjenige der sicheren Gewinnalternative, die man folglich wählt.

Im Verlustbereich verhält es sich umgekehrt, da die Funktion hier konvex verläuft (7 Beispiel »Verlustbereich«). Beispiel

Verlustbereich Da die psychologischen »Schmerzen«, die man durch den Verlust von 10 EUR erfährt, nicht doppelt so groß sind wie diejenigen bei Verlust von 5 EUR, wird man eher den Münzwurf wählen (Verlust von 10 EUR oder kein Verlust), als den sicheren Verlust von 5 EUR in Kauf zu nehmen.

Der Verlauf der Wertfunktion ist zudem im Verlustbereich steiler als im Gewinnbereich, so dass das Ausmaß der Risikofreude im Verlustbereich stärker sein sollte als das Ausmaß der Risikoscheu im Gewinnbereich. Dieser Verlauf bedeutet auch, dass ein Verlust von 5 EUR schwerer wiegt als der Gewinn derselben Summe. Ein besonderes Merkmal der Wertfunktion in der Prospect Theory ist, dass der Mittelpunkt des Koordinatensystems, der auch als Referenzpunkt bezeichnet wird, nicht notwendigerweise bei Null liegen muss, sondern dass für objektiv identische Situationen unterschiedliche Referenzpunkte gewählt werden können, woraus ggf. unterschiedliche Entscheidungspräferenzen resultieren. Dies zeigt sich besonders charakteristisch an sog. Fram-

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ing-Effekten, bei denen unterschiedliche Darstellungen desselben Sachverhalts zu unterschiedlichen Referenzpunkten und damit unterschiedlichen Entscheidungen führen (7 Beispiel). Beispiel

In einer klassischen Untersuchung von Tversky und Kahneman (1981) wurden die Probanden befragt, welches von 2 Programmen zur Bekämpfung einer bisher unbekannten asiatischen Krankheit, die das Leben von insgesamt 600 Menschen bedroht, sie bevorzugen. Beim Gewinn-Framing wurden die Alternativen so dargestellt, dass Programm A 200 Menschen sicher retten würde, während Programm B mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/3 alle 600 Menschen retten würde, mit einer Wahrscheinlichkeit von 2/3 jedoch niemand. Der Referenzpunkt sind hier 600 Tote; die Konsequenzen der Alternativen werden als Gewinne interpretiert, und da im Gewinnbereich Risikoscheu dominiert, wurde Programm A bevorzugt. Dies kippte in Risikofreudigkeit um (Wahl von Programm B), wenn der Referenzpunkt 0 Tote war und die Alternativen per Verlust-Framing dargestellt wurden: Entweder sterben 400 Menschen mit Sicherheit (Programm A) oder mit Wahrscheinlichkeit 1/3 stirbt niemand und mit Wahrscheinlichkeit 2/3 sterben alle 600 Menschen (Programm B).

Die Entscheidungsgewichtungsfunktion gibt an, wie Wahrscheinlichkeiten in subjektive Entscheidungsgewichte transformiert werden. Wenn eine Konsequenz eine subjektive Wahrscheinlichkeit von 0,1 aufweist, dann kann sie trotzdem mit einem höheren (oder niedrigeren) Gewicht als 0,1 ins Nutzenkalkül aufgenommen werden – was nach der SEU-Theorie nicht möglich wäre. Die von der Prospect Theory vorhergesagte Entscheidungsgewichtungsfunktion ist in . Abb. 11.4 dargestellt (auf eine spätere Modifikation im Rahmen der weiterentwickelten Cumulative Prospect Theory gehen wir hier aus Gründen der Vereinfachung nicht ein – s. hierzu Tversky & Kahneman, 1992). Der Verlauf zeigt, dass kleine Wahrscheinlichkeiten übergewichtet werden, während mittlere und große Wahrscheinlichkeiten untergewichtet werden. Die Sprungstellen zu den Punkten 0 und 1 hin zeigen die besondere Bedeutung, die Ereignisse mit einer Wahr-

. Abb. 11.4. Entscheidungsgewichtungsfunktion in der Prospect Theory

scheinlichkeit von 0 oder 1 psychologisch aufweisen. Wenn man beispielsweise durch eine Versicherung die Wahrscheinlichkeit eines Totalverlusts der Wohnungseinrichtung (z. B. durch Brand, Einbruch etc.) von 0,05 auf 0 senken kann, dann ist man für diese Versicherung zu viel höheren Zahlungen bereit, als wenn sie die Wahrscheinlichkeit von 0,1 auf 0,05 senkte. Diese besondere Bedeutung sicherer Ereignisse (hier die Sicherheit, keinen Totalverlust zu erleiden) wird auch Sicherheitseffekt genannt. Urteilsheuristiken Sowohl in der SEU-Theorie als auch in der Prospect Theory benötigt der Entscheider Konsequenzen und deren Wahrscheinlichkeiten als Grundlage für seine Wahl. Während diese Daten in Experimenten üblicherweise vorgegeben werden, muss man sie sich in der Realität zumeist selbst erarbeiten. Da Menschen keine Informationsverarbeitungsmaschinen mit unbegrenzter Kapazität und Geschwindigkeit sind, nutzen sie hierfür oftmals nicht alle verfügbaren Informationen, sondern bedienen sich einfacher »Faustregeln«, die man auch als 7 Urteilsheuristiken bezeichnet. Urteilsheuristiken machen sich einen regelhaften Zusammenhang zwischen leicht zu verarbeitenden Hinweisreizen und der in Frage stehenden Urteilsdimension zunutze. Im Folgenden stellen wir die 3 bekanntesten Urteilsheuristiken, die von Tversky und Kahneman (1974) in die Literatur eingeführt wur-

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Kapitel 11 · Finanzpsychologie

den, in ihrer Relevanz für finanzbezogenes Entscheiden dar. Verfügbarkeit

Bei der Verfügbarkeitsheuristik wird die Auftretenswahrscheinlichkeit oder Auftretenshäufigkeit eines Ereignisses geschätzt aufgrund der Leichtigkeit, mit der Beispiele für dieses Ereignis aus dem Gedächtnis abgerufen oder generiert werden können. Diese Verfügbarkeit von Beispielen kann nach Stephan (1999) auf eigenen Erfahrungen beruhen (erfahrungsbasiert), von Fremderfahrungen aus Gesprächen oder den Medien herrühren (gedächtnisbasiert) oder aus der Leichtigkeit resultieren, mit der neue Beispiel konstruiert werden können (einbildungskraftbasiert). Wie bei allen Heuristiken gilt, dass dieses Vorgehen in den meisten Fällen hinreichend genaue Schätzungen ermöglicht (weil häufiger auftretende Ereignisse auch im Gedächtnis leichter zugänglich sein sollten), jedoch unter Umständen systematische Verzerrungen bewirken kann (weil die Leichtigkeit des Abrufs eben auch von anderen Faktoren abhängt; 7 Beispiel). Beispiel

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Wenn ich beispielsweise Termingeschäfte an der Börse tätige, die mit landwirtschaftlichen Produkten zu tun haben, und dafür Risiken für den Ernteertrag einschätzen muss, dann werde ich die Risiken spektakulärer Ereignisse, über die häufig in den Medien berichtet wird (z. B. Naturkatastrophen), systematisch überschätzen und andere Risiken, die weniger mediales Interesse finden, jedoch objektiv häufiger auftreten (z. B. Schädlinge), unterschätzen.

Empirisch wurde die Verfügbarkeitsheuristik u. a. in einer Studie von Stephan (1993) demonstriert: Probanden bekamen Aktienkursveränderungen bekannter und weniger bekannter Unternehmen präsentiert. Kursanstiege und Kursverluste hielten sich in etwa die Waage. Waren nun die bekannten Unternehmen vorrangig unter den Gewinnern zu finden (so dass es im Nachhinein leicht war, Beispiele für Gewinner zu generieren), so nahm die Mehrzahl der Probanden einen Aufwärtstrend der Börse wahr, während mehrheitlich ein Abwärtstrend gesehen wurde, wenn die bekannten Unternehmen überwiegend unter den Verlierern zu finden waren (und man es folglich schwer hatte, Beispiele für Gewinner zu generieren).

Repräsentativität

Die Repräsentativitätsheuristik besteht darin, dass man ein Objekt in diejenige Kategorie einordnet, deren Prototyp es besonders ähnelt. Wenn man auf dem Campus eine Person mit Sakko und Krawatte trifft und sie auf Grundlage dieser Informationen in die Kategorie »Professor« einordnet, so verwendet man die Repräsentativitätsheuristik. Dabei vernachlässigt man allerdings die Basisrate (Häufigkeit der Kategorie in der Population), die, weil für Studierende erheblich größer als für Professoren, eher auf einen besonders gut gekleideten Studenten denn einen Professor hindeutet. Ein Pendant dazu im Finanzbereich wäre beispielsweise, dass man ein junges Start-up-Unternehmen auf Grundlage seiner überzeugenden, an bekannte, erfolgreiche Unternehmen erinnernde »Story« für einen zukünftigen Gewinner in der Internetbranche hielte und dabei nicht berücksichtigte, dass die große Mehrzahl der Start-up-Unternehmen (gerade in der Internetbranche) die ersten 5 Jahre nicht überleben. Allerdings ist, wie Wärneryd (2001) argumentiert, speziell auf Finanzmärkten oftmals auch das gegenteilige Phänomen zu beobachten (d. h. ein Dominieren der Basisrate und ein Vernachlässigen der individuellen Informationen), wenn etwa ganze Marktsektoren uniforme Auf- oder Abwärtsbewegungen in den Kursen zeigen und so beispielsweise ein gesundes, profitables Technologieunternehmen für die kurssenkenden »Verfehlungen« anderer Technologieunternehmen mit »abgestraft« wird. Verankerung

Bei der Verankerungsheuristik nähert sich ein numerisches Urteil demjenigen Wert an, mit dem man den Urteilsgegenstand anfangs vergleicht. Dies lässt sich am Beispiel einer Studie von Kiell und Stephan (1997) illustrieren (7 Beispiel). Beispiel

Professionelle Devisenhändler sollten 6-Wochenund 6-Monats-Prognosen für den amerikanischen Aktienindex Dow Jones, den Wechselkurs des englischen Pfunds und den Goldpreis abgeben. Vor ihrer genauen Schätzung sollten sie aber zunächst sagen, ob der Wert über oder unter einem bestimmten Vergleichswert (dem Ankerwert) liege. Dieser Vergleichswert wurde entweder sehr niedrig oder 6

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sehr hoch gewählt (also beispielsweise 6.600 Punkte vs. 8.000 Punkte beim Dow Jones, der zum Befragungszeitpunkt etwa in der Mitte dazwischen lag). Obwohl die Schätzung aus rationaler Perspektive von diesem Anfangsvergleich unbeeinflusst sein sollte, gab die Gruppe mit niedrigen Ankerwerten im Durchschnitt niedrigere Kursprognosen ab als die Gruppe mit hohen Ankerwerten.

Ähnliche Ankereffekte haben wir bereits in 7 Abschn. 11.2.1 (Preisverankerung) bei der Wirkung von Referenzpreisen kennengelernt. Folgeentscheidungen

Ein finanzpsychologisch besonders interessanter Aspekt menschlichen Entscheidungsverhaltens dreht sich um die Frage, wie vorherige finanzielle Investitionen nachfolgende Entscheidungen beeinflussen. Aus rationaler Sicht sollten sie dies überhaupt nicht tun, da es sich um sog. versunkene Kosten handelt: Ob ich mein altes Auto kürzlich für 2.000 EUR habe reparieren lassen, sollte keinen Einfluss darauf haben, ob ich es nach einem neuerlichen schweren Defekt nochmals reparieren lasse oder verschrotte – denn das Geld, das ich für die erste Reparatur ausgegeben habe, ist so oder so weg (»versunken«). Entsprechend sollten nur die zukünftigen Konsequenzen von Entscheidungsalternativen in die Kalkulation eingehen. Im Gegensatz dazu gibt es aber Evidenz, dass sowohl Laien als auch Experten (d. h. Personen, die aufgrund ihres Berufs – etwa im Bankgeschäft – zum Treffen rationaler Entscheidungen ausgebildet wurden) versunkene Kosten bei ihren Entscheidungen berücksichtigen (z. B. Arkes & Blumer, 1985; Greitemeyer, Schulz-Hardt, Popien & Frey, 2005). Dieser sog. Sunk-Cost-Effekt zeigt sich bei Entscheidungen über die Nutzung von Gütern darin, dass teurere Güter mehr genutzt werden als billigere: Beispielsweise konnten Arkes und Blumer (1985) zeigen, dass Personen, die auf ein Theaterabonnement einen unerwarteten Preisnachlass erhalten hatten, nachfolgend seltener die entsprechenden Veranstaltungen besuchten als Personen, die den vollen Preis bezahlt hatten. Dass ein solches Verhaltensmuster nicht nur ökonomisch irrational ist, sondern auch dysfunktional sein kann, wird jeder nachempfinden können, der sich am Buffet trotz Völlegefühls oder Unwohlseins nach dem

ersten Gang weiter bedient, nur weil er viel Geld dafür bezahlt hat. Außerdem betrifft der Sunk-Cost-Effekt Reallokationsentscheidungen, also Entscheidungen darüber, ob eine Alternative, in die bereits Gelder geflossen sind, abgebrochen, fortgesetzt oder sogar intensiviert werden soll. Verschiedene Studien zeigen, dass die Fortsetzung von Projekten wahrscheinlicher wird, je mehr Mittel bereits dort investiert wurden – auch wenn der Projekterfolg fraglich ist (z. B. Garland & Newport, 1991). Ähnliche Effekte werden in benachbarten Forschungsrichtungen als eskalierendes Commitment (erhöhte Bindung an verlustreiche Handlungen; Staw, 1976) oder auch Entrapment (Festhalten an fehlgehenden Handlungen) bezeichnet. Solchen Befunden ist gemeinsam, dass Menschen unter Umständen sprichwörtlich »gutes Geld dem schlechten hinterherwerfen«. Die zentrale psychologische Erklärung für SunkCost-Effekte (sowohl bei Güternutzungs- als auch bei Reallokationsentscheidungen) wird in der Neigung gesehen, nicht verschwenderisch sein oder erscheinen zu wollen (Arkes & Blumer, 1985). Die Nichtberücksichtigung versunkener Kosten aber wird von den meisten Menschen als Verschwendung interpretiert (z. B. Verkauf des Autos nach vorheriger teurer Reparatur). In der Forschung zu Entrapment und eskalierendem Commitment spricht man in diesem Zusammenhang von einem Selbstrechtfertigungsmotiv (Brockner, 1992). Speziell bei Reallokationsentscheidungen wird zudem die Prospect Theory als Erklärungsansatz herangezogen, da die versunkenen Kosten den Referenzpunkt in den Verlustbereich verschieben und dadurch risikofreudige Entscheidungen begünstigen (Thaler, 1980). Während eine Abbruchentscheidung die sichere Realisierung der Verluste bedeutet, eröffnet weiteres Investieren die Chance auf Ausgleich der Verluste, allerdings mit dem Risiko eines noch viel größeren Verlusts. 11.3

Anwendungsgebiete der Finanzpsychologie

11.3.1

Anlegerverhalten

In beiden hier präsentierten Anwendungsbereichen der Finanzpsychologie besteht ein wesentlicher Grundgedanke darin, Daten über tatsächliches Verhalten von Menschen in diesen Bereichen mit ökonomischen Vor-

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Kapitel 11 · Finanzpsychologie

hersagen über rationales Verhalten zu kontrastieren. Wir beginnen daher beim Anlegerverhalten mit der Frage, wie Menschen sich aus ökonomischer Sicht an Finanzmärkten verhalten sollten.

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Effiziente Märkte und rationales Anlegerverhalten Das ökonomische Standardmodell nimmt an, dass Finanzmärkte »effizient« sind. Effiziente Märkte sind solche, in denen alle zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügbaren Informationen bereits in den Kursen der entsprechenden Finanzwerte (z. B. Aktien) enthalten sind. Die Kursbildung erfolgt also ohne Zeitverlust und unter Berücksichtigung aller Informationen. Die genaue Kurshöhe ergibt sich zu jedem Zeitpunkt ausschließlich aus den zu erwartenden Dividendenzahlungen sowie den zu erwartenden Wertsteigerungen und spiegelt beide akkurat wider. Natürlich wissen Ökonomen, dass die Menschen, die an den Finanzmärkten agieren, nicht unendlich viele Informationen in unendlich kurzer Zeit mit absoluter Genauigkeit verarbeiten können. Im Individualfall sind also Abweichungen vom ökonomischen Standardmodell möglich. Diese Abweichungen sollten aber unsystematisch sein und sich damit auf Marktebene ausgleichen, so dass die Märkte insgesamt effizient und ihre Preisbildung im geschilderten Sinne rational sein sollten. Eine wichtige Konsequenz hieraus ist, dass die Kurse von Finanzwerten einem Zufallsverlauf (Random Walk) folgen sollten. Sie reagieren zwar auf Neuigkeiten, aber da diese Neuigkeiten für den Anleger unvorhersehbar sind (wären sie vorhersehbar, so wären sie ja schon im Preis enthalten), sind die Kurse ebenfalls nicht vorhersagbar. Insbesondere erlauben die Preise von heute keine Prognose des Preises von morgen, was Cootner (1964) mit dem Satz »Prices have no memory« versinnbildlichte. Für den individuellen Investor haben diese ökonomischen Modelle klare Implikationen: Ein rationaler Anleger sollte für seine Kaufs- und Verkaufsentscheidungen ausschließlich sog. Fundamentaldaten (Dividenden, Gewinnzuwächse) berücksichtigen. Er sollte dann und nur dann handeln, wenn a) das zu erwartende marginale Einkommen aus einem alternativen Portfolio (Portfolio = Zusammensetzung des eigenen Wertpapierdepots) höher ist oder b) das Risiko dieses alternativen Portfolios bei identischem erwartetem Einkommen geringer ist als beim gegenwärtigen Portfolio.

Während dies normative Vorgaben der klassischen ökonomischen Theorie sind, bemühen sich sowohl die ökonomische Behavioral-Finance-Forschung als auch die finanzpsychologische Forschung zum Anlegerverhalten, eine möglichst akkurate Deskription tatsächlichen Anlegerverhaltens zu leisten. Es kann nämlich mittlerweile als gesichert gelten, dass viele Anleger nicht den normativen Vorgaben der ökonomischen Standardtheorie folgen. Nach Kelly (1997) sind an Finanzmärkten 3 verschiedene Typen von Anlegern zu finden: 1. Rational Traders: Das Verhalten dieser Personen ist mit der normativen ökonomischen Standardtheorie konform. 2. Passive Investors: Diese Personen stellen sich einmal ein Portfolio zusammen und handeln danach nahezu gar nicht mehr, auch wenn sie es nach den obigen Vorgaben tun sollten. 3. Noise Traders: Diese Personen handeln im Gegensatz zu den passiven Investoren zu viel; sie reagieren auch auf Informationen, die sie normativ ignorieren sollten (z. B. unzuverlässige Gerüchte). Behavioral Finance und Finanzpsychologie haben sich vorrangig darauf konzentriert, Systematiken im Verhalten der letztgenannten Gruppe aufzuzeigen und zu erklären. Der Fokus liegt zudem auf dem Verhalten von Privatanlegern – im Gegensatz etwa zum Verhalten institutioneller Anleger, für die man gemeinhin eine bessere Übereinstimmung mit dem normativen ökonomischen Modell annimmt. Informationsnutzung durch Anleger Wenn Noise Traders definitionsgemäß handeln, obwohl die Informationslage solches Handeln rational nicht rechtfertigt, liegt es nahe, nach Besonderheiten in ihrer Nutzung von Informationen zu suchen. Eine Systematik, die sich herauskristallisiert hat, besteht darin, dass Anleger oftmals zu sehr auf die Valenz von Informationen reagieren (d. h. darauf, was die Information für den Kurs des zugehörigen Finanzwertes impliziert, falls sie denn zutrifft) und Einschränkungen in der Zuverlässigkeit dieser Informationen zu wenig berücksichtigen (z. B. Nelson, Bloomfield, Hales & Libby, 2001). Besonders drastisch zeigte sich dies in einem Experiment von DiFonzo und Bordia (1997; 7 Beispiel).

207 11.3 · Anwendungsgebiete der Finanzpsychologie

Beispiel

Info-Box

DiFonzo und Bordia (1997) konfrontierten die Versuchspersonen mit Neuigkeiten, die je nach experimenteller Bedingung angeblich aus dem Nachrichtenteil des Wall Street Jounal (sehr zuverlässig), aus der Kolumne »Heard on the Street« des Wall Street Jounal (mäßig zuverlässig) oder von einem geschwätzigen und wenig kompetenten Bekannten »Harry« (unzuverlässig) stammten. Trotz dieser klaren Unterschiede in der Zuverlässigkeit der Informationen, die auch in einem Vortest von einer anderen Gruppe von Versuchspersonen erkannt wurden, reagierten die Probanden im Experiment auf alle 3 Typen von Informationen gleichermaßen stark.

Technische Analyse

Wenn man, wie hier geschehen, die Unzuverlässigkeit von Gerüchten ignoriert, wird man viel zu oft (suboptimale) Kauf- und Verkaufsentscheidungen treffen. Darüber hinaus nutzen viele Anleger einen Typ von Informationen, der nach der Efficient Market Hypothesis völlig ignoriert werden sollte, nämlich Informationen über den bisherigen Kursverlauf. Wenn die Finanzwerte einem Random Walk folgen, gibt es keine Möglichkeit, aus Kursverläufen zukünftige Kurse zu prognostizieren. Trotzdem neigen Menschen dazu, (vermeintliche) Muster in Kursverläufen zu erkennen, und sie tendieren insbesondere dazu, die Fortsetzung bestehender Trends zu erwarten, wie Schachter, Oulette, Whittle und Gerin (1987) in 2 Experimenten zeigen konnte. Andreassen (1988) qualifizierte dies dahingehend, dass eine Fortsetzung von Trends speziell dann erwartet wird, wenn die Kursinformationen als Trendinformationen dargeboten werden (d. h. wenn Kursveränderungen statt Kurshöhen angezeigt werden). Oftmals suggeriert also die Verwendung von Charts (grafische Darstellung von Kursverläufen eines Finanzwerts oder eines Indexes von Finanzwerten) überhaupt erst, dass es in dem betreffenden Schaubild einen Trend geben müsse, den es zu entdecken gelte (7 Info-Box). Eine spezielle Vergangenheitsinformation, die rein rational ebenfalls für Entscheidungen über zu tätigende Transaktionen unerheblich sein sollte, ist der Kaufpreis, den man für eine Aktie bezahlt hat. Entscheidungstheoretisch handelt es sich hierbei um versunkene Kosten. Trotzdem verkaufen Anleger Aktien ungern, wenn der Verkaufspreis unter dem vorherigen Kaufpreis liegt (z. B.

Unter dem Oberbegriff der technischen Analyse oder auch Chartanalyse wird eine große Zahl von Techniken zusammengefasst, die darauf abzielen, Systematiken in Kursverläufen aufzudecken und daraus Implikationen für Kaufs- und Verkaufsentscheidungen abzuleiten. Wir wollen hier nicht über die Existenzberechtigung der technischen Analyse oder ihrer verschiedenen Varianten (deren Vertreter z. T. bitter verfeindet sind) urteilen. Uns ist allerdings keine seriöse wissenschaftliche Studie bekannt, in der nachgewiesen werden konnte, dass mit Hilfe solcherTechniken tatsächlich überzufällig gute Kursprognosen möglich sind.

Schachter et al., 1987). Entsprechend hat man bei Anlegern einen systematischen Dispositionseffekt festgestellt, der darin besteht, dass »Verliereraktien« länger gehalten werden als »Gewinneraktien« (Shefrin & Statman, 1985). In diesem Zusammenhang sollte man beachten, dass unsere finanzpsychologischen Betrachtungen zum Anlegerverhalten auf Ebene des individuellen Anlegers erfolgen. Dies ist wichtig, weil Ökonomen oftmals ähnliche Konzepte wie die hier besprochenen verwenden, um Gegebenheiten auf Marktebene zu beschreiben. Beispielsweise wird oftmals von einer »Unterreaktion« bzw. »Überreaktion« auf Neuigkeiten gesprochen: Damit ist gemeint, dass kursrelevante Neuigkeiten entweder zunächst zu wenig in den Aktienkurs eingehen, so dass es nachfolgend zu einem länger anhaltenden Trend kommt, bis schließlich der akkurate Kurs erreicht ist (Unterreaktion), oder dass die kursbezogenen Veränderungen zunächst zu stark ausfallen (Überreaktion) und deshalb nachfolgend durch eine gegenteilige Reaktion korrigiert werden (z. B. DeBondt & Thaler, 1985). Natürlich kann man versuchen, solche Marktphänomene durch die semantisch ähnlichen Phänomene auf individueller Ebene zu erklären. Beispielsweise könnte man argumentieren, Überreaktionen des Finanzmarkts auf Neuigkeiten seien darauf zurückzuführen, dass die Anleger die eingeschränkte Zuverlässigkeit mancher Informationen kollektiv nicht beachten und deshalb individuell gleichgerichtet überreagieren. Allzu assoziative Gleichsetzungen von Mikro- und Makrophänomenen sind aber aus 2 Gründen problematisch:

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Kapitel 11 · Finanzpsychologie

Zum einen gehört zu jedem Anleger, der beispielsweise auf eine positive Information überreagiert und deshalb zu einem bestimmten Preis eine Aktie kaufen möchte, auch immer ein anderer Anleger, der zum selben Preis verkaufen möchte (und dies nicht täte, wenn er dieselbe Überreaktion zeigte). Zum anderen werden Kurse zum größten Teil durch das Verhalten großer institutioneller Anleger bestimmt (wie beispielsweise großer Pensionsfonds), und das Verhalten dieser Anleger ist weit mehr durch festgelegte Strategien und Regeln als durch individuelle kognitive Prozesse ihrer Manager determiniert.

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Affektive Einflüsse auf Anlegerverhalten Die Vorstellung, dass Anleger nicht kühl überlegt und rational handeln, sondern dass ihre Kauf- und Verkaufsentscheidungen durch Emotionen und Stimmungen geprägt werden, ist sicherlich diejenige Assoziation, die Laien am stärksten mit einer »Psychologie der Börse« verbinden. Oftmals werden sogar dem Finanzmarkt selbst solche Emotionen und Stimmungen zugeschrieben. Davon kann sich jeder selbst überzeugen, der sich etwa die aktuellen Berichte von der Frankfurter Börse im Rahmen der Tagesthemen anschaut – dort ist dann oft die Rede davon, die Börse sei an diesem Tag »euphorisch« oder »verstimmt« gewesen, oder der Markt sei gar in eine »tiefe Depression« verfallen. Während affektive Konzepte in solchen Fällen keinerlei Erklärungswert besitzen und nur zu einer Illustration der Kursbewegungen dienen, ist aus finanzpsychologischer Sicht interessant, wie Anlageentscheidungen durch affektive Prozesse der Anleger beeinflusst werden. Einige Marktphänomene legen nahe, dass solche Einflüsse bedeutsam sein könnten – so konnte etwa Saunders (1993) zeigen, dass die Aktienkurse an sonnigen Tagen stärker zum Steigen tendieren als an regnerischen Tagen. Direkte empirische Evidenz für affektive Einflüsse auf Anlegerverhalten ist jedoch dünn gesät. Zwar sind affektive Einflüsse auf Urteilsund Entscheidungsprozesse im Allgemeinen in der Psychologie gut untersucht, aber die konkrete empirische Überprüfung der Übertragbarkeit solcher Erkenntnisse auf den Bereich des Anlegerverhaltens steht nahezu völlig aus. Eine Ausnahme stellt ein Experiment von Au, Chan, Wang und Vertinsky (2003) dar, in dem die Probanden mit einem internetbasierten Handelssystem Devisenhandel zwischen Deutscher Mark und Schweizer

Franken betreiben sollten. Mit Hilfe einer fingierten Rückmeldung auf einen Probedurchgang sowie entsprechender Musik wurde manipuliert, ob sich die Versuchspersonen in positiver, neutraler oder negativer Stimmung befanden. Die Ergebnisse, die im oberen Teil von . Abb. 11.5 dargestellt sind, zeigen, dass Probanden in neutraler Stimmung den meisten Gewinn machten, gefolgt von Probanden in negativer Stimmung. Positive Stimmung erwies sich hingegen als abträglich für den Erfolg. Die beiden unteren Diagramme in . Abb. 11.5 schlüsseln dieses Gesamtergebnis genauer auf. Anleger erzielen bei solchen Devisengeschäften ein umso besseres Ergebnis, je öfter sie die richtige Entscheidung treffen (hier: von DM in Franken umschichten oder umgekehrt) und je mehr Geld sie dann bei solchen richtigen Entscheidungen investieren. Das mittlere Diagramm zeigt, dass der Prozentsatz richtiger Entscheidungen bei positiver Stimmung deutlich geringer ist als bei neutraler oder negativer. Dies deckt sich mit Befunden aus der sozialen Kognitionsforschung, denen zufolge positive Stimmung zu vergleichsweise oberflächlicheren Denkprozessen führt als negative oder neutrale Stimmung (Schwarz & Clore, 1996). Beim Investitionsvolumen pro Entscheidung fallen die Personen mit negativer Stimmung nach unten ab (unteres Diagramm). Auch dies passt zu Erkenntnissen der sozialen Kognitionsforschung, wonach negative Stimmung vorsichtigeres Verhalten bewirkt (Schwarz, 1990). Insgesamt bewirken beide Teilprozesse, dass in neutraler Stimmung die höchsten Gewinne erzielt werden. Der populäre Ratschlag, man solle Anlageentscheidungen in möglichst ausgewogener Stimmung treffen, lässt sich daher durchaus wissenschaftlich untermauern. Ein weiterer affektiver Einfluss auf Anlegerverhalten, der ebenfalls empirisch untersuchte wurde, besteht in sog. affektiven Urteilen. Im normativen ökonomischen Entscheidungsmodell werden Anlageentscheidungen auf Grundlage einer genauen Analyse der Fundamentaldaten der in Frage kommenden Finanzwerte getroffen. Anstelle solcher differenzierten analytischen Urteile treffen Menschen oftmals affektive Globalurteile, die sich beispielsweise im wahrgenommenen Image eines Unternehmens niederschlagen. MacGregor, Slovic, Dreman und Berry (2000) haben solche affektiven Urteile im Anlagekontext empirisch untersucht. Ihre Versuchspersonen sollten die gegenwärtige finanzielle Performance verschiedener Marktsektoren (Biotechnologie,

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Logistik etc.) anhand vorgegebener realer Kursdaten beurteilen und Prognosen für die zukünftige Performance erstellen. Zudem wurden mit Hilfe von Imagemaßen und semantischen Differenzialen affektive Urteile über diese Sektoren erfragt. Sowohl die Einschätzungen der aktuellen Performance als auch die Zukunftsprognosen korrelierten hoch mit den affektiven Urteilen. Diejenigen Sektoren, die den Versuchspersonen »sympathisch« waren, waren also auch diejenigen, denen sie eine gute zukünftige Performance prognostizierten. Da die Befunde korrelativer Natur sind, liefern sie aber noch keinen Beleg dafür, dass positive bzw. negative affektive Urteile positive bzw. negative Prognosen (und damit auch Kauf- bzw. Verkaufsentscheidungen) bewirken. Selbstüberschätzung bei Anlegern Ein Konzept, das oft im Zusammenhang mit affektiven Einflüssen diskutiert wird, das sich aber aus unserer Sicht nicht eindeutig auf affektive (oder kognitive) Prozesse zurückführen lässt, ist die Selbstüberschätzung von Anlegern. Genau genommen werden unter solchen Oberbegriffen unterschiedliche, aber verwandte psychologische Konzepte diskutiert, nämlich: 1. Überoptimismus: Dies bezeichnet den Glauben, dass negative Ereignisse andere Personen mit höherer Wahrscheinlichkeit treffen als einen selbst, während positive Ereignisse für die eigene Person wahrscheinlicher sind als für andere (Weinstein, 1984). 2. Kontrollillusion: Menschen neigen dazu, das Ausmaß ihrer Kontrolle über Ereignisse zu überschätzen, und glauben oft sogar, völlig zufallsabhängige Ereignisse (z. B. Ziehen eines Loses) beeinflussen zu können (Langer, 1975). 3. Overconfidence: Overconfidence liegt vor, wenn die subjektive Sicherheit über die Richtigkeit eigener Urteile die tatsächliche Richtigkeit dieser Urteile übersteigt (Klayman, Soll, Gonzales-Vallejo & Barlas, 1999).

. Abb. 11.5. Performance in Abhängigkeit von der induzierten Stimmung. (Nach Au et al., 2003)

Alle 3 Formen der Selbstüberschätzung sind bei Anlegern nachgewiesen worden, und zwar sowohl bei Laien (Privatanlegern) als auch bei professionellen Anlegern (vgl. z. B. Hilton, 2001; Wärneryd, 2001). Beispielsweise glauben Anleger, dass sie bei Finanzwerten, die sie zumindest einigermaßen kennen, den zukünftigen Kurs prognostizieren können. Daher sind sie bei Prognosen für Finanz-

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Kapitel 11 · Finanzpsychologie

werte aus ihrem Heimatland sicherer als bei Prognosen für ausländische Werte, während sich die Akkuratheit beider Prognosen nicht unterscheidet (Kilka & Weber, 2000). Mit Hilfe solcher Overconfidence versucht man beispielsweise, den sog. Home Country Bias zu erklären, also die Neigung von Anlegern, v. a. Werte aus ihrem Heimatland zu kaufen (z. B. French & Poterba, 1991). Zudem konnte gezeigt werden, dass Selbstüberschätzung abträglich für die Gewinnerzielung an Finanzmärkten ist. Fenton-O’Creevy, Nicholson, Soane und Willman (2003) untersuchten das Ausmaß von Kontrollillusionen bei professionellen Aktienhändlern und korrelierten es mit dem finanziellen Erfolg ihrer Portfolios: Je höher die Kontrollillusionen ausgeprägt waren, desto schlechter gestaltete sich die finanzielle Performance der Portfolios. Ein vermittelnder Mechanismus für diese negative Wirkung der Selbstüberschätzung besteht darin, dass Anleger, die sich selbst stärker überschätzen und daher meinen, Kurse besonders gut vorhersagen zu können, in ihrem Portfolio öfter Wechsel vornehmen als Anleger mit geringerer Selbstüberschätzung. Da erstere keine besseren Prognosen abgeben als letztere, jedoch für jeden Handel entsprechende Gebühren zahlen müssen, verdienen sie unter dem Strich mit ihren Aktienportfolios weniger (Hilton, 2001). Selbstüberschätzung ist daher auch ein Grund, warum Anleger – rational gesehen – viel zu selten in sog. Indexzertifikate investieren (also Wertpapiertitel kaufen, die sich im Einklang mit einem Marktindex wie etwa dem Deutschen Aktienindex DAX bewegen), die sehr gute Risikostreuung bei minimalen Gebühren bieten, und stattdessen glauben, dass sie selbst (oder Manager von aktiv gemanagten Fonds) den Markt durch eigene Portfoliozusammenstellung schlagen können (Moore, Kurtzberg, Fox & Bazerman, 1999). Soziale Einflüsse auf Anlegerverhalten Isaac Newton sagte einmal: »Ich kann die Bahn der Himmelskörper auf Zentimeter und Sekunden genau berechnen, aber nicht, wohin die verrückte Menge einen Börsenkurs treiben kann.« Da die Kurse von Aktien und anderen Finanzwerten letztlich auf einer Art von sozialem Konsens über den angemessenen Preis beruhen, der nicht zwangsläufig den wahren Wert der entsprechenden Aktie widerspiegeln muss, ist sozialer Einfluss ein essenzieller Bestandteil des Anlegerverhaltens. Drei verschiedene Arten sozialen Einflusses auf Anlageentscheidungen werden diskutiert:

1. Einfluss von interpersoneller Kommunikation und Gruppenprozessen 2. Einfluss von Medieninformationen 3. Einfluss der Beobachtung des Verhaltens anderer Anleger Die große Relevanz des ersten Punkts wird unmittelbar daraus ersichtlich, dass viele Anlageentscheidungen mit anderen Personen besprochen, in sog. Aktienclubs diskutiert oder sogar kollektiv von Investorengruppen getroffen werden. Umso erstaunlicher ist es, dass es hierzu praktisch keine empirische Evidenz gibt. Zwar existiert eine umfangreiche Literatur dazu, wie Urteile und Entscheidungen generell durch Kommunikation und Gruppenprozesse beeinflusst werden (für einen Überblick siehe z. B. Schulz-Hardt et al., 2002). Jedoch sind uns keine empirischen Studien bekannt, in denen interpersonale oder intragruppale Kommunikation zu Finanzanlagen erfasst und dann in Relation zu den entsprechenden Anlageentscheidungen gesetzt wurde. Eine gewisse Ausnahme stellt das bereits genannte Experiment von DiFonzo und Bordia (1997) dar, das die Wirkung von Gerüchten verdeutlicht: Obwohl die Versuchspersonen grundsätzlich um die Unzuverlässigkeit von Gerüchten wussten, berücksichtigten sie die Gerüchte in ihren Anlageentscheidungen genauso stark wie zuverlässige Nachrichten. Dieser Befund lässt zumindest ahnen, wie stark Gerüchte in der interpersonalen oder intragruppalen Kommunikation Anlageentscheidungen beeinflussen können. Als weitere Ausnahme lässt sich eine Studie von Barber und Odean (2000) nennen, die die Performance der Wertpapierportfolios von insgesamt 66 sog. Investment Clubs untersucht haben. Investment Clubs sind Gruppierungen von Anlegern, die gemeinsam Finanzanlagen tätigen, zu denen alle ihre Mitglieder Mittel beigesteuert haben. Hier liegen also reale Gruppenentscheidungen über gemeinsame Finanzanlagen vor. Den Ergebnissen von Barber und Odean (2000) zufolge lag die Performance dieser Portfolios leicht unter dem entsprechenden Marktindex. Explizite Vergleiche mit entsprechenden Portfolios von individuellen Privatanlegern wurden aber nicht vorgenommen, so dass Überlegungen über gruppenbezogene Prozessverluste in diesen Investment Clubs sehr spekulativ wären. Etwas besser stellt sich die Befundlage bei Medieneinflüssen dar. Hier konnten sowohl Andreassen (1987) als auch DiFonzo und Bordia (1997) in ihren Experi-

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menten nachweisen, dass Medieninformationen Anleger dazu verleiten, eine Fortsetzung bestehender Trends zu erwarten. Die Ursache hierfür ist, dass Medien Begründungen für Kursveränderungen liefern, auch wenn diese Kursveränderungen vielleicht rein zufällig waren. Sie tendieren zu kohärenter Berichterstattung und berichten daher mehr über Ereignisse, die zur aktuellen Kursveränderung passen, bzw. interpretieren uneindeutige Ereignisse in einer zur Kursveränderung passenden Weise (Kindleberger, 1987). Steigt der Kurs eines Unternehmens, so könnten Zeitungen beispielsweise darüber berichten, dass ein aktueller Wechsel im Vorstand als längst überfälliger Befreiungsschlag anzusehen ist. Bei einem Kursverlust könnte dasselbe Ereignis als Anzeichen einer ernsthaften Krise dargestellt werden. Anleger, die dies lesen, unterstellen dann dem tatsächlichen Zufallsereignis eine Systematik und folgen dem vermeintlichen Trend. Dies verleitet sie zu verstärktem Handel und senkt die Profitabilität ihrer Anlage (Andreassen, 1987; DiFonzo & Bordia, 1997). Solche trendverlängernden Wirkungen von Medieninformationen werden dadurch verstärkt, dass professionelle Trader oft die wichtigste Informationsquelle von Journalisten sind: Wenn nun die Trader an steigende Kurse glauben, dies den Journalisten weitermelden und kurz darauf in den Medien genau dies widergespiegelt bekommen, kommt es zu einem sich selbst verstärkenden Kreislauf (Oberlechner & Hocking, 2004). Im Sinne des vorhin genannten Zitats von Newton, der mit der Unvorhersagbarkeit von Massenverhalten an der Börse haderte, ist die dritte Art von sozialem Einfluss auf Anlegerverhalten besonders interessant: Sozialer Einfluss findet an Finanzmärkten nicht nur in einem direkten Sinne dadurch statt, dass man mit anderen kommuniziert oder Informationen aus den Medien erhält, sondern auch in indirekter Weise dadurch, dass man aus dem Verhalten anderer Personen erschließt, über welche Informationen sie verfügen könnten. Anleger, die über private Informationen verfügen, offenbaren diese durch ihr Verhalten, d. h. durch ihre Kauf- und Verkaufsentscheidungen. Andere, die diese beobachten, erschließen die zugrunde liegende Information, handeln ggf. ebenfalls danach und machen sie dadurch wiederum für andere zugänglich. Solche Prozesse der Informationsweitergabe ohne Kommunikation im eigentlichen Sinne werden auch als Informationskaskaden bezeichnet. Mit Hilfe solcher Informationskaskaden lässt sich ganz rational erklären, wie es zu sog. 7 Herdenverhal-

ten kommen kann, also einer gleichförmigen Verhaltens-

tendenz von Marktteilnehmern (z. B. dass nahezu alle plötzlich bestimmte Aktien kaufen wollen), – und das auch in Situationen, in denen dieses Verhalten objektiv von der tatsächlichen Informationslage her gar nicht gerechtfertigt ist (Banerjee, 1992). Nehmen wir an, 100 Personen halten Aktie A. Von ihnen haben 49 Personen ein Signal (d. h. eine private Information), dass Aktie A fallen wird, 1 Person hat ein Signal, dass sie steigen wird, und 50 Personen haben gar kein Signal zu Aktie A. Aus irgendwelchen Gründen (z. B. weil sie ein ungeduldiger Käufer ist) trifft nun die Person mit dem Signal »steigender Kurs« als erste ihre Entscheidung, und entsprechend ihres Signals entscheidet sie sich für den Kauf weiterer Anteile von Aktie A. Dies beobachtet eine Person, die kein Signal hat. Aus dem Verhalten der ersten Person erschließt sie, dass diese wohl ein Signal für steigenden Kurs erhalten hat, und kauft ebenfalls. Eine dritte Person, die ein Signal für fallenden Kurs erhalten hat, ist jetzt im Konflikt: Sie hat ein Signal zum Verkaufen, jedoch 2 Personen beobachtet, die gekauft haben. Sie weiß, dass nicht alle am Markt über Signale verfügen. Wenn sie (korrekterweise) annimmt, dass jeder zweite ein Signal hat, dann sollte sie davon ausgehen, dass einer der beiden Käufer ein Kaufsignal hatte – und dies wiegt ihr eigenes Signal auf. Sie wartet daher ab (ebenso wie jeder andere, der ein Verkaufssignal hat). Nachdem aber 2 weitere Personen ohne Signal sich zum Kauf entschlossen haben, kalkuliert dieselbe Person, dass es nun wohl schon 2 Personen mit Kaufsignal geben wird, und kauft ebenfalls. Dadurch entsteht ein sich selbst verstärkendes Herdenverhalten, bei dem jeder Beitritt zur Herde weitere Beitritte wahrscheinlicher macht. Das Herdenverhalten führt hier zu einer »Blase«, also einem überhöhten Aktienkurs, denn tatsächlich sprachen ja 49 von 50 Signalen für den Verkauf. Während solche Informationskaskadenmodelle v. a. auf das Herdenverhalten von Privatanlegern zutreffen dürften, kann ein anderes Modell v. a. Herdenverhalten unter professionellen Anlegern, wie z. B. Fondsmanagern, erklären. In diesem Modell des strategisch-rationalen Herdenverhaltens von Scharfstein und Stein (1990) wird angenommen, dass es 2 Typen von Managern gibt: die »smarten« und die »dummen«. »Smarte« Manager haben akkurate Signale, die damit untereinander korreliert sein müssen. »Dumme« Manager haben entweder gar keine oder wertlose und damit zufällig streuende (d. h. unkorrelierte) Signale. Für Manager ist

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Kapitel 11 · Finanzpsychologie

es nun sehr wichtig, smart zu erscheinen, da davon ihre Reputation und damit auch Bezahlung abhängt. Wenn man den Eindruck erwecken will, zu denjenigen zu gehören, die korrelierte Signale erhalten (also den »smarten«), sollte man das Verhalten anderer imitieren – und das gilt nicht nur für die »dummen«, sondern auch für die »smarten« Manager. Auch für Letztere kann es also sinnvoll sein, andere zu imitieren, selbst wenn ihre Signale in eine andere Richtung tendieren. Wenn sie als einzelne außerhalb der Herde richtig liegen, kann dies leicht als Zufallstreffer eines eigentlich »dummen« Managers erscheinen. Wenn sie aus der Herde ausscheren und sich damit irren, büßen sie Reputation ein. Irren sie sich dagegen innerhalb der Herde, so kommt ihnen der Sharing-the-Blame-Effekt zugute, nämlich dass sie für Fehler weniger verantwortlich gemacht werden, wenn andere denselben Fehler machen. Beide Modelle des Herdenverhaltens zeigen, dass die vermeintliche Irrationalität der Börse manchmal ganz rationale Ursachen haben kann. Allerdings ist auch diese Schlussfolgerung, wie viele zuvor, mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten, denn die Modelle des Herdenverhaltens sind bisher in Situationen empirisch überprüft worden, die nur bedingt als typisch für Finanzmärkte gelten können. 11.3.2

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Sparen und Verschuldung

Im Gegensatz zum Anlegerverhalten und auch zur Steuerpsychologie (7 Kap. 18) ist der Bereich des Sparverhaltens und der Verschuldung ein Anwendungsbereich, in dem es vergleichsweise wenig empirische finanzpsychologische Forschung gibt. Vieles von dem, was wir nachfolgend berichten, ist daher noch auf der Ebene plausibler Hypothesen formuliert. Sparen: Motive und Hindernisse Wenn Menschen Geld ansparen, so kann dies in verschiedenen Formen geschehen. Wiswede (1995) nimmt u. a. folgende 2 zentrale Unterscheidungen vor: 1. Kontraktuelles vs. diskretionäres Sparen: Beim kontraktuellen Sparen existiert ein Sparplan, der angibt, in welchen Abständen welche Beträge einer Sparanlage zugeführt werden sollen. Eine Kapitallebensversicherung ist hierfür ein Beispiel. Diskretionäres Sparen stellt im Gegensatz hierzu »Gelegenheitssparen« dar: Ein Betrag, den man gerade übrig

hat, wird beispielsweise auf ein Sparbuch eingezahlt. 2. Vorsorgesparen vs. Konsumsparen: Wie die Begriffe schon aussagen, dient Vorsorgesparen der Absicherung für unvorhergesehene Ereignisse, für das Rentenalter etc., während Konsumsparen das Ansparen von Geld für geplante Konsumausgaben bezeichnet. Damit es überhaupt zum Sparverhalten kommt, bedarf es einer expliziten Motivation hierzu. Das liegt daran, dass es eine sehr starke Kraft gibt, die dem Sparen entgegenwirkt – nämlich die Neigung, eine unmittelbare Bedürfnisbefriedigung dem Aufschieben von Belohnungen (»delay of gratification«) vorzuziehen. Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang davon, dass zukünftige Outcomes (Ergebnisse) sehr stark diskontiert werden (d. h. eine subjektive Wertminderung gegenüber ihrem aktuellen Wert erfahren). Diese Neigung ist vielfach ökonomisch-rational, weil Outcomes umso unsicherer werden, je weiter sie in der Zukunft liegen. Wenn mir jemand anbietet, entweder 100 EUR sofort oder 110 EUR in einem Jahr zu erhalten (ein Zinssatz von 10%), dann könnte es mir unsicher erscheinen, ob diese Person in einem Jahr noch liquide ist, und natürlich muss ich auch ökonomische Faktoren wie die Inflationsrate berücksichtigen. Neben diesen rationalen Ursachen trägt auch der sog. myopische Effekt zur Präferenz von unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung bei: Dieser Effekt besteht darin, dass man Verhaltenskonsequenzen (positive wie negative) generell umso mehr unterschätzt, je weiter sie in der Zukunft liegen. Um Sparverhalten zu initiieren, muss man aber positive Outcomes in der Zukunft in Rechnung stellen, die man durch dieses Sparverhalten erreichen kann, und negative zukünftige Outcomes (z. B. mangelnde Liquidität im Rentenalter) berücksichtigen, die sich ohne Sparverhalten ergäben. Psychologische Erklärungen für Sparverhalten haben sich verschiedener Persönlichkeitseigenschaften (u. a. Fähigkeit zum Belohnungsaufschub, Selbstkontrolle, Risikovermeidung, Locus of Control), sozioökonomischer Variablen (u. a. Alter, Bildung, Einkommen) sowie Gewohnheiten und Einstellungen bedient (für einen Überblick s. Canova, Rattazzi & Webley, 2005). Beispielsweise zeigte sich, dass Personen, die zum Sparen neigen, über einen hohen internen Locus of Control und eine hohe Fähigkeit zum Belohnungsaufschub verfügen.

213 11.3 · Anwendungsgebiete der Finanzpsychologie

Mit Motiven für das Sparen im engeren Sinne beschäftigte sich erstmals Keynes (1936). Er identifizierte 8 verschiedene Motive: 1. Precaution (Sicherheit), 2. Foresight (Vorsorge), 3. Calculation (Rendite erzielen), 4. Improvement (Verbesserung des Lebensstandards), 5. Independence (Unabhängigkeit), 6. Enterprise (Investitionen zum eigenen Vorteil), 7. Pride (Vererben) und 8. Avarice (Habgier). In der Folgezeit wurde eine Anzahl verschiedener Motivsysteme vorgeschlagen. Sie unterscheiden sich neben der Anzahl der einbezogenen Motive in Bezug auf deren Abstraktheit vs. Konkretheit (z. B. »Sicherheit« vs. »Urlaub«), hinsichtlich der Berücksichtigung psychologischer Faktoren (z. B. Selbstkontrolle) sowie bezüglich der Versuche, die unterschiedlichen Motive zueinander in Beziehung zu setzen. Weil gerade Letzteres für ein tiefer gehendes Verständnis der Motivation zum Sparen unerlässlich ist, erhoben Canova et al. (2005) Ziele, die die Entscheidung zum Sparen motivieren, und die allgemeineren Ziele bzw. Interessen »hinter« diesen Zielen. Theoretische Annahmen waren bewusst nicht formuliert worden, sondern die Untersuchungsteilnehmer/innen mussten alle Ziele selbst

. Abb. 11.6. Hierarchische Zielstruktur für Sparverhalten. Die Zahlen an den Pfeilen geben jeweils an, wie häufig das an der Pfeilspitze stehende, übergeordnete Ziel als Grund für das an der Pfeilbasis befindliche, untergeordnete Ziel genannt wurde (n=97). (Aus Canova, Rattazzi & Webley, 2005, S. 30, Abb. 1)

generieren und durch dahinterliegende Ziele begründen. Mittels Netzwerkanalyse wurde die Karte eines hierarchischen kognitiven Schemas generiert, in dem Inhalte und Begründungsabfolgen der Ziele repräsentiert sind. . Abbildung 11.6 zeigt die resultierende hierarchische Struktur über 15 identifizierte, saliente Ziele. Je höher ein Ziel steht, desto öfter ist es das (Meta-)Ziel anderer Ziele (Pfeile weisen auf es hin) und desto seltener hat es selbst übergeordnete Ziele (Pfeile weisen von ihm weg). In anderen Worten: Je höher ein Ziel steht, desto abstrakter bzw. allgemeiner ist es. Dementsprechend finden wir auf der untersten Ebene der Hierarchie konkrete Sparziele wie etwa »Urlaub« oder »Anschaffungen«. Die 3 höchsten Sparentscheidungen motivierenden Ziele in der Hierarchie sind Selbstwert, Freude (Self-Gratification) und Autonomie. Übergeordnete Ziele werden dadurch handlungsleitend, dass sie konkrete Sparziele aktivieren. Insgesamt sind die gefundenen Sparziele den bereits zuvor in der Literatur erwähnten sehr ähnlich. Neu und wesentlich aber ist die auf empirischem Wege erschlossene hierarchische Beziehungsstruktur zwischen ihnen. Die höchsten Ziele (Selbstwert und Freude) sind psychologischer Natur und markieren hedonistische Qualitäten des Sparens, womit deutlich wird, dass neben den negativen Aspekten des Sparens (selbst auferlegtes Leid durch Verzicht) auch positive (Vorgeschmack zukünftigen Genusses) existieren.

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Kapitel 11 · Finanzpsychologie

Sparen über die Lebensspanne Sparverhalten sollte sich in Abhängigkeit vom Lebensalter ändern. Die Ökonomen Modigliani und Brumberg (1954) haben hierzu die sog. Lebenszyklustheorie des Sparens formuliert. Diese Theorie nimmt nur ein zentrales Ziel an, das Sparverhalten motiviert, nämlich die Sicherstellung eines über die Lebensspanne stabilen Konsumniveaus. Einziger Spargrund ist gemäß der Theorie also, Vorsorge für erwartete Einkommenseinbußen zu betreiben. In . Abb. 11.7 sind die Vorhersagen der Theorie veranschaulicht. Die durchgezogene Linie charakterisiert einen idealisierten Einkommensverlauf ab einem Lebensalter von 18 Jahren: Man beginnt mit einem bestimmten, (relativ gesehen) geringen Gehalt. Dieses nimmt dann im Verlauf des Lebens zu und vor dem Eintritt ins Rentenalter wieder ein wenig ab (da beispielsweise bestimmte leistungsabhängige oder sonderdienstabhängige Zulagen weniger werden). Mit dem Eintritt ins Rentenalter kommt es zu einer abrupten Senkung des zur Verfügung stehenden Einkommens. Um angesichts dieses Kurvenverlaufs trotzdem stabil hohe Konsumausgaben tätigen zu können, wie sie durch die obere gestrichelte Gerade gekennzeichnet sind, muss man als rationaler Entscheider das eigene Sparverhalten in charakteristischer Weise über die Lebensspanne verändern. In jüngeren Jahren (in der Grafik bis Mitte 30) ist das Einkommen für das gewünschte Konsumniveau nicht ausreichend. Es ist also rational, sich in jüngeren Jahren etwas zu verschulden, da man ja in der Zeit danach für ca. 30 Jahre ein Einkommen antizipiert, das z. T. deutlich über dem Konsumniveau . Abb. 11.7. Einkommen, Konsum und Ersparnis im Lebenszyklus. (Aus Börsch-Supan & Essig, 2002, S. 12)

liegt. In dieser Zeit sollte man, neben dem Abbau einer möglichen Verschuldung, Geld ansparen, um den Einkommensabfall, der jenseits der Rentengrenze stattfindet und bis unterhalb des Konsumniveaus führt, kompensieren zu können. Die genaue Sparquote in dieser Zeit hängt neben dem gewünschten Konsumniveau nur noch von der antizipierten Lebenserwartung ab. Mit dem Eintritt ins Rentenalter sollte dann sofort entspart werden. Diese Theorie lässt sich sehr gut mit Hilfe von Daten aus der sog. SAVE-Studie (z. B. Börsch-Supan & Essig, 2002) überprüfen. Die zurzeit noch laufende SAVE-Studie ermittelt in einem über 10-jährigen Längs- und Querschnitt das Sparverhalten repräsentativ ausgewählter deutscher Haushalte. Die bisherigen Ergebnisse sind gut mit der Lebenszyklustheorie vereinbar – mit einer gewichtigen Ausnahme: Während gemäß der Theorie im Rentenalter gar kein Sparverhalten mehr beobachtbar sein sollte, werden empirisch in diesem Alter nach wie vor Sparquoten von knapp unter 10% beobachtet (d. h. etwas weniger als 10% des Einkommens werden im Durchschnitt gespart). Zum Vergleich: Die Spitzenwerte der Sparquote liegen bei 14% und werden von den 30- bis 39-Jährigen erreicht. Die Befragungsdaten liefern auch eine mögliche Erklärung für diese relativ hohe Sparquote im Rentenalter: Bei den Fragen nach ihren Spargründen gaben Personen im Rentenalter im Vergleich zu jüngeren Menschen überproportional häufig an, Rücklagen für unvorhersehbare Ereignisse bilden zu wollen. Dies ist insofern irrational, als die älteren Menschen ja im Durchschnitt eine geringere noch verbleibende Lebensspanne haben, in der sol-

215 11.3 · Anwendungsgebiete der Finanzpsychologie

che unerwarteten Ereignisse auftreten könnten. Die Sorge hiervor scheint aber bei den älteren Menschen höher zu sein und könnte – dies muss man, da die obigen Befunde korrelativ sind, mit aller Vorsicht sagen – zu einer theoriekonträr hohen Sparquote führen. Möglicherweise motiviert aber auch die – in der soeben dargestellten Studie nicht erfasste – Sorge um und für die Nachkommen zu fortgesetztem Sparen. Eine gänzlich andere Erklärung für das Sparverhalten älterer Menschen bietet das von Wärneryd (1995, 1999) postulierte Sparen als eine andauernde Gewohnheit (»saving as a continuous habit«), das – im Gegensatz zur obigen Erklärung – nicht durch ein spezifisches Ziel motiviert ist. In einer hierarchischen Regressionsanalyse trugen Sparen als eine andauernde Gewohnheit und Sicherheit signifikant zur Varianzaufklärung der totalen Sparsumme der Sparer bei. Verschuldung und Überschuldung Ebenso, wie es verschiedene Formen des Sparens gibt, sind auch verschiedene Formen der Verschuldung zu unterscheiden. Nach Wiswede (1995) sind dies: 4 Explizite Kreditaufnahme (formale Aufnahme eines festgelegten Konsumkredits, Bausparkredits etc.) vs. implizite Kreditaufnahme (z. B. Verwendung der Kreditkarte, Rückgriff auf den Dispositionskredit des eigenen Girokontos) 4 Kredit für investive Zwecke (wie etwa eine Unternehmensneugründung) vs. Kredit für konsumptive Zwecke (z. B. für eine Urlaubsreise) 4 Verschuldung (Kredit kann in vollem Umfang zurückgezahlt werden) vs. Überschuldung (Kredit kann überhaupt nicht mehr oder nur noch reduziert zurückgezahlt werden) Die letztgenannte Unterscheidung ist finanzpsychologisch besonders bedeutsam, da nicht die Verschuldung, sondern die Überschuldung ein Problemfeld darstellt: So lange aufgenommene Kredite in vollem Umfang zurückgezahlt werden können, können Entscheidungen zur Verschuldung vollständig rational sein – aus der im vorigen Abschnitt behandelten Lebenszyklustheorie lässt sich ja sogar explizit ableiten, dass Verschuldung in jüngeren Jahren rational ist, um das gewünschte stabile Konsumniveau sicherzustellen. Zum Problem sowohl für den Kreditgeber als auch für den Kreditnehmer kommt es, wenn die Grenze zur Überschuldung überschritten wird und die Verbindlichkeiten nicht mehr oder nur noch teilweise bedient werden können.

Kredite werden traditionell als Strafreize angesehen, und zwar sowohl ökonomisch als auch psychologisch: Ökonomisch wirken die Kreditzinsen, die im Normalfall über den Sparzinsen liegen, bestrafend, und psychologisch ist der subjektive Stress zu nennen, den ein Kredit oftmals mit sich bringt. Zwar ist die Einstellung zu Krediten im Zuge des Wertewandels positiver geworden (z. B. Engel, Blackwell & Miniard, 1995), aber nach wie vor empfinden viele Menschen es als eine psychische Belastung, Konsumgüter auf Kredit zu finanzieren. Interessanterweise wird diese psychologische Belastung als weit geringer empfunden, wenn es sich um (zumeist vom Umfang her höhere) Hypotheken auf Eigenheime oder ähnliche Kreditformen handelt (Brown, Taylor & Price, 2005). Für den Übergang von der Verschuldung zur Überschuldung konnten einige typische Auslöser identifiziert werden, darunter in erster Linie plötzliche Arbeitslosigkeit sowie eine Trennung bzw. Scheidung vom Lebenspartner (vgl. Korczak & Pfefferkorn, 1992; Lea, Webley & Levine, 1993). Auch personenbezogene Faktoren sind von Bedeutung: Überschuldungsprobleme treten nach Lea (1999) und Wiswede (1995) v. a. bei Personen auf, die 4 eine positive Einstellung gegenüber Krediten aufweisen, 4 durch Konsum subjektiv stark belohnt werden, 4 extravertiert sind, 4 Budgetplanung nur unzureichend gelernt haben, 4 Belohnungsaufschub nur schwer ertragen können und/oder 4 tatsächliche finanzielle Kreditbelastungen schlecht kalkulieren können. Im Hinblick auf soziodemographische Charakteristika hat sich gezeigt, dass Männer häufiger betroffen sind als Frauen (bei Konstanthalten anderer Faktoren wie etwa des Einkommens) und dass Überschuldung überproportional häufig bei Jugendlichen auftritt (Lea, 1999). Als wichtigste Maßnahme gegen Überschuldung stellt sich die Vereinbarung verbindlicher und leistbarer Zahlungspläne dar. Dies ist umso wichtiger, als die betreffenden Schuldner eine solche realistische Budgetplanung typischerweise vermeiden oder nicht zu leisten vermögen (s. o.). Darauf aufbauend kann man Rückfälle vermeiden oder präventiv vorgehen, indem man die Selbstkontrolle stärkt und Strategien dafür vermittelt, Belohnungsaufschub (beispielsweise durch Imagination zukünftiger Outcomes) als weniger negativ zu erleben (vgl. z. B. Catalano & Sonenberg, 1993).

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Kapitel 11 · Finanzpsychologie

Fazit und abschließende Bemerkungen

11.4 Fazit

Sowohl in den Grundlagen- als auch in den Anwendungsbereichen der Finanzpsychologie gewinnt die finanzpsychologische Analyse menschlichen Urteilens und Entscheidens im Umgang mit Geld besondere Bedeutung durch den Vergleich mit dem strikt rationalen Modell des Homo oeconomicus. Dabei zeigt sich eine Reihe systematischer und gut vorhersagbarer Abweichungen tatsächlichen finanzbezogenen Urteilens und Entscheidens vom Rationalmodell: In der Geldwahrnehmung wird beispielsweise oftmals zu sehr auf den nominalen Geldwert (also auf die reine Zahl) geachtet (Geldillusion). Ebenso basiert die Preiswahrnehmung oft nicht auf einer intensiven Elaboration aller preisrelevanten Merkmale eines Produkts oder einer Dienstleistung, sondern auf dem Vergleich mit Referenzpreisen (Preisverankerung), wobei irrelevante Merkmale zu systematischen Verzerrungen führen können. Abhängig von ihren Erwartungen unter- oder überschätzen Menschen die Inflationsrate systematisch, wie sich deutlich an der »Teuro-Illusion« gezeigt hat (7 Beispiel). Finanzbezogene Entscheidungen werden vielfach nicht nach dem reinen ökonomischen Nutzenkalkül getroffen, sondern durch Heuristiken verkürzt, und je nach subjektivem Gewinn- oder Verlusterleben kann Risikoscheu in Risikofreude umschlagen.

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Beispiel

Herr Centmeyer, unser Protagonist vom Beginn des Kapitels, weiß mittlerweile Bescheid. Für die gefühlte Inflation scheint eine einfache Gesetzmäßigkeit der menschlichen Informationsverarbeitung verantwortlich zu sein: UnsereWahrnehmung wird von unseren Erwartungen beeinflusst. Durch diesen Prozess werden anfängliche Erwartungen eher bestätigt als widerlegt, d. h. Erwartungen werden selbst dann aufrechterhalten, wenn vermehrt widersprechende Informationen vorliegen. Übertragen auf die »Teuro-Illusion« bedeutet dies, dass die Erwartung von Preissteigerungen die Wahrnehmung von Preisveränderungen beeinflussen kann, und zwar so, dass subjektiv Preissteigerungen wahrgenommen werden, wo objektiv gar keine sind. Dies wirkt sich selbst dann aus,

wenn wir die alten DM-Preise nicht erinnern müssen, sondern direkt alte und neue Preise vergleichen können (wie Herr Centmeyer mit beiden Speisekarten zur Hand). Wenn wir ein Ergebnis ausrechnen, das wir nicht erwartet haben, überprüfen wir es genau und entdecken schnell den Fehler. Erwartungskonforme Rechenfehler hingegen übersehen wir leicht. Dies bezeichnet man als selektive Fehlerkorrektur. Herr Centmeyer ist beruhigt: Sein Lieblingsitaliener hat die Preise im Zuge der Euro-Einführung nicht erhöht. Sein anfänglicher, durch eigene Schätz- und Rechenfehler zunächst scheinbar erhärteterVerdacht ist ihm nun etwas peinlich – nur gut, dass er ihn seinem Stammitaliener gegenüber nicht geäußert hat! Solche systematischen Abweichungen vom ökonomisch-rationalen Entscheidungsmodell lassen sich in den Anwendungsbereichen der Finanzpsychologie wiederfinden: Beispielsweise vernachlässigen Anleger systematisch die Zuverlässigkeit von Informationen und überschätzen sich zudem selbst – beides führt dazu, dass sie zu viel handeln und dadurch die Profitabilität ihrer Finanzanlagen senken. Menschen sparen ökonomisch gesehen im Rentenalter zu viel, möglicherweise aus Angst vor unvorhergesehenen Ereignissen. Und, um eine Erkenntnis aus 7 Kap. 18 (in diesem Band) hinzuzufügen: Menschen zahlen erfreulicherweise viel ehrlicher Steuern, als ein ökonomisches Nutzenkalkül dies erwarten ließe, wobei Risikoscheu und eine zu hohe Sorge vor Kontrolle hier eine wichtige Rolle zu spielen scheinen. Diese Befundlage sollte aber nicht im Umkehrschluss zu dem Eindruck führen, der Mensch sei im Umgang mit Geld ein Ausbund an Irrationalität. Psychologen haben eine Vorliebe für Abweichungen von der Rationalität, aber man sollte dabei stets berücksichtigen, dass jeder solchen Abweichung eine Vielzahl von Situationen gegenübersteht, in denen rationales Entscheiden vorliegt. Unseres Erachtens ist die weitgehende Rationalität finanzbezogenen Entscheidens in Anbetracht der massiven Restriktionen seiner Informationsverarbeitungskapazität, denen ein menschlicher Entscheider unterliegt, sogar als bewundernswert zu bezeichnen.

217 11 · Literatur

Dies ändert natürlich nichts daran, dass die Untersuchung menschlicher Abweichungen vom Homo oeconomicus ein sinnvolles und wichtiges Unterfangen ist. Aus unserer Sicht sollten Finanzpsychologen dabei aber zukünftig 2 Fragen stärker in ihre Untersuchungen einbeziehen, die insbesondere für Ökonomen essenziell sind: 1. Was geschieht mit den beobachteten Abweichungen auf Marktebene? Mitteln sie sich aus, oder bleiben sie auch auf dieser Ebene als systematische Abweichungen bestehen? Können sie von anderen (rationaleren) Marktteilnehmern ausgenutzt werden? Beeinflussen sie dabei das Marktgeschehen (also beispielsweise die Aktienkurse)? 2. Verändern sich die Abweichungen vom rationalen Entscheidungsmodell, wenn der Entscheider durch Erfahrung lernen kann? Lernt also beispielsweise ein

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Anleger einen rationaleren Umgang mit Informationen, nachdem er Rückmeldungen über den Erfolg oder Misserfolg seines bisherigen Vorgehens bekommen hat? Die Beantwortung beider Fragen bedeutet aufwändigere Untersuchungsdesigns als sie in der bisherigen finanzpsychologischen Forschung üblich sind, da neben der individuellen auch die kollektive Ebene einbezogen werden und zudem eine Betrachtung der relevanten Verhaltensweisen über längere Zeiträume erfolgen müsste. Der Aufwand wäre aber aus unserer Sicht lohnenswert, da die so gewonnenen Erkenntnisse uns helfen würden, besonders bedeutsame von weniger bedeutsamen Phänomenen zu trennen und so vielleicht auch Grundlagen für Interventionen zu schaffen, um Menschen einen (noch) besseren Umgang mit Geld zu ermöglichen.

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Kapitel 11 · Finanzpsychologie

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11

12 12

Gesundheit in Wirtschaft und Gesellschaft Georg Bauer, Gregor Jenny

12.1

Einführung

– 222

12.1.1 12.1.2 12.1.3

Gesundheitsbegriff – 222 Gesundheitsdynamik in der Gesellschaft – 223 Rahmenmodell zur Gesundheitsentwicklung – 223

12.2

Gesundheit des Individuums

12.2.1 12.2.2 12.2.3 12.2.4 12.2.5 12.2.6 12.2.7 12.2.8

Integratives Modell der Salutogenese – 224 Stress und Stressbewältigung – 225 Gesundheitsressourcen – 226 Kohärenzgefühl – 227 Gesundheitsverhalten – 227 Lebensweise/Lebensstil – 229 Gesundheitskontinuum und Messung von Gesundheit Gesundheitskompetenzen – 231

12.3

Gesundheit in der Gesellschaft

12.3.1 12.3.2 12.3.3 12.3.4

Epidemiologie – 232 Gesundheitliche Ungleichheit zwischen Bevölkerungsgruppen Volkswirtschaftliche Aspekte der Gesundheit – 233 Prävention und Gesundheitsförderung – 235

12.4

Gesundheit im Unternehmen

12.4.1 12.4.2

Arbeitsbezogene gesundheitliche Belastungen und Ressourcen – 236 Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) – 238

12.5

Ausblick

– 241

Literatur

– 241

– 224

– 230

– 232 – 233

– 236

K. Moser (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie DOI 10.1007/978-3-540-71637-2_12, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007

222

Kapitel 12 · Gesundheit in Wirtschaft und Gesellschaft

> Gesundheit ist ein vielschichtiges Thema. Gesundheit wird durch das individuelle Erleben und Verhalten bestimmt, aber ebenso von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen beeinflusst. Gesundheit ist ein Wirtschaftsfaktor: Fehlende Gesundheit verursacht einerseits volks- und betriebswirtschaftliche Kosten, andererseits boomt der privatwirtschaftliche Gesundheitsmarkt. Die Gesellschaftsbereiche, über die sich Gesundheit beeinflussen lässt, gehen mittlerweile weit über das Krankheitsversorgungssystem hinaus – Prävention und Gesundheitsförderung finden im Alltag statt und zunehmend auch in der Arbeitswelt. Dieses Kapitel beschäftigt sich interdisziplinär mit der individuellen »Ressource Gesundheit« und ihrem breiteren Stellenwert in Wirtschaft und Gesellschaft.

12

12.1

Einführung

12.1.1

Gesundheitsbegriff

Die Weltgesundheitsorganisation WHO formulierte bereits im Jahr 1946, dass Gesundheit nicht nur das »Freisein von Krankheit und Gebrechen«, sondern ein »Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens« ist. Gesundheit wird hier zum ersten Mal als multidimensionales Konzept beschrieben, das nicht nur körperliche, sondern gleichermaßen psychische und soziale Faktoren einbezieht. Diese biopsychosoziale Sichtweise ist der Kern moderner Gesundheitsdefinitionen. Die WHO hat ihre erste Gesundheitsdefinition, welche in ihrem Tenor eher statisch und utopisch ist (»vollständiges Wohlbefinden«), 40 Jahre später mit der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung erweitert. Gesundheit und Gesundheitsförderung werden nun dynamischer definiert: Definition 4 Gesundheit steht für ein positives Konzept,

das die Bedeutung sozialer und individueller Ressourcen für die Gesundheit ebenso betont wie die körperlichen Fähigkeiten. 4 Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbe6

stimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. 4 Die Verantwortung für Gesundheitsförderung liegt deshalb nicht nur bei dem Gesundheitssektor, sondern bei allen Politikbereichen (...). 4 Ein guter Gesundheitszustand ist eine wesentliche Bedingung für soziale, ökonomische und persönliche Entwicklung und entscheidender Bestandteil der Lebensqualität. Ottawa-Charta (1986)

Mit diesen Ausschnitten aus der Ottawa-Charta werden weitere Stichworte geliefert, die heute in der Gesundheitsdiskussion einen zentralen Platz haben und dieses Kapitel begleiten werden: 4 Positives Konzept von Gesundheit und Lebensqualität: Die Konzeption von Gesundheit in Abgrenzung zur Negativdefinition (»Abwesenheit von Krankheit«) äußert sich in positiven Konstrukten wie »Wohlbefinden« oder »Handlungsfähigkeit« (siehe z. B. Faltermaier, 2005). Die körperliche, psychische und soziale Gesundheit einer Person wird so zum integralen Bestandteil ihrer Lebensqualität. 4 Ressourcenorientierung und 7 Salutogenese: Mit dem positiven Konzept von Gesundheit stellt sich nicht mehr die Frage, welche Risikofaktoren Menschen krank machen (Pathogenese), sondern: »Was erhält den Menschen (trotz allem) gesund?« Als Antwort darauf hat Antonovsky (1979) das Salutogenesekonzept entwickelt. Die Salutogenese beschreibt personale und soziale Ressourcen, die Belastungen erfolgreich bewältigen helfen und die Gesundheit fördern. 4 Empowerment und 7 Gesundheitskompetenzen: Das Anliegen, dem Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über die eigene Gesundheit zu ermöglichen, entstammt dem Bild eines aktiven Bürgers. Dessen Gesundheitsressourcen und Einflussmöglichkeiten auf gesundheitsförderliche Lebensbedingungen sollen gestärkt werden (»Empowerment«). Eine wichtige Ressource hierfür ist die Gesundheitskompetenz, d. h. die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf die eigene Gesundheit auswirken (Kickbusch, 2006).

223 12.1 · Einführung

4 Gesundheitsverantwortung: Verantwortlich für die

Gesundheit ist nicht nur der aktive Bürger selbst, sondern jeder Gesellschaftsbereich, der auf die Gesundheit des Menschen einwirkt: Die erweiterte Gesundheitsverantwortung umfasst neben der Eigenverantwortung des Einzelnen den schützenden bzw. fordernden Staat mit seiner Gesundheits-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, das auf Prävention ausgerichtete Versorgungssystem sowie die verantwortungsvolle Wirtschaft (Kickbusch, 2006; vgl. auch Ulrich & Maak, 2000). Zusammenfassend ergibt sich aus diesen Konzepten ein dynamisches Verständnis von Gesundheit als Prozess und nicht als Zustand. Basierend auf system- und handlungstheoretischen Modellannahmen ist »Gesundsein« definiert als ein konstruktiver Prozess der Selbstorganisation und der Selbsterneuerung einer Person innerhalb ihrer Umwelt (Udris, 2006). 12.1.2

Gesundheitsdynamik in der Gesellschaft

Das Verständnis von Gesundheit als dynamische Balance zwischen Person und Umwelt sowie die damit einhergehende erweiterte Verantwortung machen Gesundheit zu einem gesellschaftlichen Thema. Die Gesundheitsdynamik in der modernen Gesellschaft wird durch 6 Trends bestimmt (nach Kickbusch, 2006; vgl. auch Rosenbrock, 2001): 1. Die Lebenserwartung hat zugenommen und die Menschen sind länger gesund. Die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt hat sich in Deutschland zwischen 1871 und 2005 fast verdoppelt: von 39 auf 76 Jahre für Männer und von 42 auf 82 Jahre für Frauen (Statistisches Bundesamt). 2. Das Krankheitsspektrum hat sich zu chronischen Krankheiten verschoben, welche z. T. vermeidbar wären. In der Schweiz waren 1901 Infektionskrankheiten (inkl. Tuberkulose) die häufigste Todesursache, 2001 waren es Herz-Kreislauf-Krankheiten (Bopp & Paccaud, 2007). 3. Mit der Globalisierung entstehen neue Gesundheitsrisiken. Einerseits erhöht sich z. B. das Pandemierisiko durch Viren wie SARS oder H5N1 »Vogelgrippe«, andererseits verstärken sich psychosoziale Belastungen durch die zunehmende Unberechen-

barkeit der Markt- und Arbeitsverhältnisse (Angst vor Arbeitsplatzverlust, Hilflosigkeit u. a.; Rantanen, 2001, zitiert nach Ulich & Wülser, 2004). 4. Das (halbstaatliche) Versorgungssystem nimmt einen immer größeren Teil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ein. 2004 beanspruchte das Gesundheitswesen in Deutschland 10,6% des BIP (Statistisches Bundesamt). 5. Der privatwirtschaftliche Gesundheitsmarkt expandiert und ist zu einem wichtigen Faktor des Wirtschaftswachstums geworden. 2002 umfasste der Schweizer Gesundheitssektor 17% der Gesamtbeschäftigung, die Bruttowertschöpfung wurde auf 59 Mrd. Franken geschätzt (Infras, 2006). 6. Das Interesse an der Gesundheit hat signifikant zugenommen – öffentlich wie privat. So hat der Wellnessmarkt 2003 in Deutschland ca. 70 Mrd. Euro umgesetzt (Grönemeyer, 2005, zitiert nach Kickbusch, 2006). Aus Sicht der öffentlichen Gesundheit (Public Health) ist zu beachten, dass trotz zunehmender Gesundheitsausgaben und erhöhter Lebenserwartung nach wie vor starke und teilweise sogar zunehmende Unterschiede hinsichtlich Erkrankungshäufigkeiten und Lebenserwartung zwischen den sozialen Schichten bestehen (vgl. Siegrist & Marmot, 2006). 12.1.3

Rahmenmodell zur Gesundheitsentwicklung

Die erörterten Aspekte des modernen Gesundheitsbegriffs sind im Gesundheitsentwicklungsmodell zusammengefasst (Bauer et al., 2006), welches hier als übergeordnetes Rahmenmodell für die weitere Auseinandersetzung mit dem Thema Gesundheit dient (. Abb. 12.1). Im Zentrum des Modells stehen die körperlichen, psychischen und sozialen Dimensionen des Gesundheitszustandes sowie der individuellen Einflussfaktoren auf die Gesundheit (individuelle Gesundheitsdeterminanten), welche miteinander im Wechselspiel stehen: So kann sich z. B. regelmäßige Bewegung positiv auf das psychische Wohlbefinden, auf die körperliche Fitness und die sozialen Kontakte auswirken. Als individuelle Gesundheitsdeterminanten gelten neben Verhaltensweisen wie Bewegung u. a. Alter, Geschlecht, genetische

12

224

Kapitel 12 · Gesundheit in Wirtschaft und Gesellschaft

. Abb. 12.1. Gesundheitsentwicklungsmodell (Bauer et al., 2006)

12

Dispositionen oder körperliche Konstitution, aber auch Faktoren wie der Bildungsgrad, die Bewältigungskompetenzen, die Persönlichkeitsstruktur und die Lebensweise (Hurrelmann, 2003). Die Gesundheit des Individuums ist darüber hinaus von umweltbezogenen Faktoren beinflusst (umweltbezogene Gesundheitsdeterminanten). Diese umfassen z. B. die wirtschaftliche Lage, die Wohnverhältnisse oder die Arbeitsbedingungen und -anforderungen. Unter den umweltbezogenen Faktoren wird auch das Gesundheitsversorgungssystem eingeordnet. Das Modell zeigt, wie das Individuum in Interaktion mit der Umwelt seine Gesundheit im Alltag kontinuierlich (selbst) erhält und entwickelt. Dieser dynamische Gesundheitsentwicklungsprozess lässt sich nun einerseits aus der pathogenetischen Perspektive betrachten, welche die Auswirkungen von Belastungen und Risikofaktoren auf die Entstehung von Krankheit untersucht. Dagegen betrachtet die Salutogenese, wie sich die Ressourcen einer Person und ihrer Umwelt auf die Entwicklung positiver Gesundheit (z. B. Wohlbefinden, körperliche Fitness) auswirken können. Gleichzeitig illustriert das Modell, welche Interventionsansätze die Gesundheitsentwicklung beeinflussen können. Gesundheitsschutz und Prävention setzen bei

den Risikofaktoren an, wobei Prävention i. d. R. auf die Vermeidung spezifischer Erkrankungen, z. B. auf die Reduktion der Herz-Kreislauf-Erkrankungen, ausgerichtet ist. Die medizinische Versorgung setzt dagegen erst nach Eintritt einer Erkrankung ein. Die 7 Gesundheitsförderung zielt auf die Förderung individueller und umweltbezogener Ressourcen ab und will damit die Entwicklung positiver Gesundheit stärken. 12.2

Gesundheit des Individuums

12.2.1

Integratives Modell der Salutogenese

Aufbauend auf den Arbeiten von Antonovsky (1979) hat Faltermaier (2005) ein Modell der Salutogenese entworfen (. Abb. 12.2), das den salutogenetischen Prozess der Gesundheitsentwicklung mit Fokus auf die individuellen Gesundheitsdeterminanten abbildet. Diese werden aufgeschlüsselt in 4 Gesundheitsressourcen (persönliche wie interpersonale), 4 Identität (7 Kohärenzgefühl, Gesundheitsvorstellungen, -bewusstsein und -kognitionen) sowie

225 12.2 · Gesundheit des Individuums

Gesundheitsressourcen

. Abb. 12.2. Integratives Modell der Salutogenese und der subjektiven/sozialen Konstruktion von Gesundheit (Faltermaier, 2005)

4 Alltagshandeln (sowohl Lebensweise als auch spezi-

12.2.2

Stress und Stressbewältigung

fisches Gesundheitsverhalten). Im Modell wird der Zusammenhang zwischen individuellen Gesundheitsdeterminanten und Anforderungen, Stressoren und Risiken skizziert, die einen Spannungszustand im Menschen erzeugen. Dieser reagiert mit entsprechendem Bewältigungshandeln, welches im erfolgreichen Fall eine gesundheitsförderliche Wirkung entfaltet oder in einen gesundheitsschädlichen Stresszustand mündet. Der Gesundheitszustand selbst (Gesundheitskontinuum) wird als 3 × 3-Matrix verstanden, die aus dem Befinden (Wohlbefinden/Stärke), dem Aktionspotenzial (Handlungs-/Leistungsfähigkeit) und dem Maß an Störungen (Beschwerden/Schmerzen/Probleme/Krankheit) besteht – jeweils körperlich, psychisch und sozial.

Antonovskys Theorie der Salutogenese entspringt seiner grundlegenden Position, dass das Leben – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – mit Leid und Ungleichgewicht verbunden ist. Anforderungen, Stressoren und Risiken gehören zum Leben eines Menschen; die Frage ist für ihn konsequenterweise, wie der dadurch ausgelöste Spannungszustand bewältigt werden kann, damit er nicht in einen gesundheitsschädlichen Stresszustand mündet. »Stress« wird meistens anhand von 3 Kategorien definiert (Zapf & Semmer, 2004): 4 Situations-/stimulusbezogen in Form von Lebensereignissen, die eine Anpassungsleistung erfordern (Stressor) 4 Reaktionsbezogen als psychophysiologisches Reaktionsmuster des Organismus (Stressreaktion/-zustand)

12

226

Kapitel 12 · Gesundheit in Wirtschaft und Gesellschaft

4

Interaktionsbezogen als Wechselspiel zwischen Situation und Individuum, wofür der Ausdruck »transaktional« verwendet wird. Der kognitiven Bewertung einer Situation (»appraisal«) folgt die Bewältigungshandlung (»coping«), die z. B. problemzentriert (Veränderung des Stressors) oder emotionzentriert (Veränderung der belastenden Reaktion, z. B. Entspannung) erfolgt.

Die Bewältigungshandlung erfolgt im Salutogenesemodell (. Abb. 12.2) analog zum kognitiv-transaktionalen Stressmodell von Lazarus (1999): Eine Situation/ Anforderung wird als Stressor (»primary appraisal I«) und als bedrohlich für das Wohlbefinden (»primary appraisal II«) eingeschätzt sowie hinsichtlich der emotionalen und funktionalen Beanspruchung bewertet (»primary appraisal III«). Gleichzeitig werden die für die Bewältigungshandlung mobilisierbaren Ressourcen beurteilt (»secondary appraisal«) und eingesetzt. Anschließend erfolgt die Einschätzung des (bei Bedarf zu korrigierenden) Handlungsverlaufs und des Handlungserfolgs (»tertiary appraisal«). Die erfolgreiche Bewältigungshandlung besitzt für Antonovsky eine salutogenetische Wirkung, die nicht erfolgreiche Bewältigung führt zu einem gesundheitsschädlichen Stresszustand.

12

12.2.3

Gesundheitsressourcen

Gesundheitsressourcen sind im Salutogenesemodell (. Abb. 12.2) als dauerhafte Merkmale und Kräfte einer Person definiert, die einen positiven Einfluss auf das Gesundheitskontinuum entwickeln können. Faltermeier (2005) kategorisiert diese Ressourcen in Anlehnung an die Arbeiten von Antonovsky und benennt entsprechende Konzepte (. Tab. 12.1). Im folgenden Abschnitt wird aus der Fülle von Ressourcen exemplarisch das Kernkonzept der Selbstwirksamkeitserwartung betrachtet. Weitere Informationen zu diesem und anderen Konzepten sowie empirische Befunde finden sich z. B. bei Schwarzer (2005). Die Selbstwirksamkeitserwartung (SWE) gehört zu den Standardkonzepten der Psychologie und wird als wichtiges Element der erfolgreichen Selbstregulation betrachtet. Die SWE ist die subjektive Gewissheit, Anforderungssituationen aufgrund der eigenen Kompetenz bewältigen zu können oder eine schwierige Handlung beginnen und zu Ende führen zu können (Schwarzer, 2004). Dabei wird zwischen allgemeiner und situationsspezifischer SWE unterschieden, die wie folgt operationalisiert werden: 4 Allgemeine SWE: »Wenn ein Problem auftaucht, kann ich es aus eigener Kraft meistern./Die Lösung schwieriger Probleme gelingt mir immer, wenn ich mich darum bemühe« (Jerusalem & Schwarzer, 1999).

. Tab. 12.1. Gesundheitsressourcen (Faltermaier, 2005) Personal-psychisch

Persönlichkeitsmerkmale Kontrollüberzeugung, Selbstwirksamkeitserwartung, Optimismus, Gesundheitswissen, Intelligenz, Widerstandsfähigkeit, Selbstwertgefühl, Ich-Identität Handlungskompetenzen Copingstrategien, soziale Kompetenzen, präventive Lebensorientierung

Sozial-interpersonal

Soziale Unterstützung Soziale Netzwerke, Vertrauensbeziehungen

Körperlich-konstitutionell

Immunkompetenz Stabilität des vegetativen/kardiovaskulären Systems Körperliche Fitness Körpergefühl

Soziokulturell

Kulturelle Stabilität Religiöse/philosophische Überzeugungen

Materiell

Vermögen, Güter, u. a.

227 12.2 · Gesundheit des Individuums

4

Situationsspezifische SWE hinsichtlich eines gesundheitsrelevanten Verhaltens, z. B. des Rauchens: »Ich könnte auch dann dem Rauchen widerstehen, … wenn ich in einer geselligen Runde bin, in der geraucht wird/... wenn ich mich angespannt oder nervös fühle« (Schwarzer, 2004).

Die SWE beruht im Gegensatz zum Optimismus auf der Einschätzung der eigenen Handlungsmöglichkeiten. Entsprechend ist die stärkste Quelle der SWE die internal attribuierte, erfolgreiche Ausführung einer (Bewältigungs-)Handlung. In 7 Kap. 15 (»Arbeitslosigkeit«) werden verschiedene Trainingsmaßnahmen beschrieben, um die SWE zu fördern. 12.2.4

Kohärenzgefühl

Das Kohärenzgefühl (Sense of Coherence, SOC) wurde von Antonovsky (1979) als zentrale salutogenetische Variable eingeführt, die zwischen den Gesundheitsressourcen und der Stressbewältigung vermittelt. Sie besteht aus 3 Komponenten (nach Udris, 2006, 2007; Wydler, Kolip & Abel, 2000): 4 Verstehbarkeit: Verstehe ich, was mit mir und meinem Umfeld geschieht? Ist meine Lebenswelt strukturiert, erklärbar und damit auch zu einem gewissen Grad vorhersehbar, oder ist sie chaotisch und unverständlich? 4 Bewältigbarkeit: Habe ich selbst Einfluss auf das Geschehen? Kann ich mein Umfeld mitgestalten und bin ihm nicht ausgeliefert? Habe ich die nötigen Ressourcen, um mit den Anforderungen umzugehen? 4 Sinnhaftigkeit: Sehe ich einen Sinn in dem, was mit mir und um mich herum geschieht? Ist es lohnenswert, sich dafür einzusetzen und zu engagieren? Das Kohärenzgefühl beeinflusst die Wahrnehmung und Beurteilung von potenziellen Stressoren: Menschen mit hohem Kohärenzgefühl empfinden hohe Anforderungen seltener als Stressoren; sie sind in der Lage, flexibler aus ihren Ressourcen auszuwählen, reagieren zuversichtlicher und zielstrebiger auf ein Problem und beurteilen den Erfolg ihrer Handlung angemessener (Faltermaier, 2005; Bengel, Strittmatter & Willmann, 1998).

12.2.5

Gesundheitsverhalten

Der Wunsch, »ungesunde« Verhaltensweisen zu erklären, zu prognostizieren und zu verändern, motivierte die psychologische Forschung zur Entwicklung von theoretischen Modellen, in denen Einflussgrößen und Wirkmechanismen des Gesundheitsverhaltens abgebildet werden (Stroebe & Stroebe, 1998). Die meisten der nachfolgend genannten Modelle wurden explizit als Modelle des Gesundheitsverhaltens entwickelt, andere stammen aus der handlungs-/motivationspsychologischen Forschung und wurden auf den Gesundheitsbereich angewandt. Gesundheitsverhalten umfasst alle Verhaltensweisen, die sich auf die Gesundheit auswirken können, wie körperliche Aktivität, gesunde Ernährung oder bewusste Entspannung, aber auch die Inanspruchnahme von Früherkennungsmaßnahmen und die Kooperation mit Gesundheitsexperten. Der Verzicht auf gesundheitsschädliches oder -bedrohliches Verhalten wie Rauchen, risikohaftes Sexualverhalten, übermäßigen Alkoholund Drogenkonsum kann ebenfalls hierzu gezählt werden. Dabei muss Gesundheitsverhalten nicht immer bewusst auf die Erhaltung oder Förderung der Gesundheit ausgerichtet sein. So kann z. B. körperliche Bewegung aus der Arbeit, Drogenverzicht aus religiösen Motiven oder Entspannung aus spirituellen Praktiken resultieren. Faltermaier (2005) unterscheidet zudem zwischen Gesundheitsverhalten und Gesundheitshandeln: Modelle des Gesundheitsverhaltens betrachten aufgrund isolierter Variablen eng umgrenzte Verhaltensweisen (z. B. Auftragen von Sonnencreme), während das Gesundheitshandeln ein breiter Komplex von Aktivitäten und Ausdruck einer aktiven Lebensweise ist . Diese resultiert aus der subjektiven Konstruktion von Gesundheit, d. h. aus den (handlungswirksamen) Gesundheitskonzepten/-theorien eines Individuums (in . Abb. 12.2 als »Gesundheitsvorstellungen« aufgeführt; vgl. auch Noack, 1993). Nachfolgend werden 2 unterschiedliche Modelltypen des Gesundheitsverhaltens exemplarisch dargestellt: kontinuierliche Prädiktionsmodelle und dynamische Stadienmodelle. Kontinuierliche Prädiktionsmodelle Den kontinuierlichen Modellen des Gesundheitsverhaltens liegen Hypothesen zugrunde, in welcher Weise einzelne Variablen das Gesundheitsverhalten verändern

12

228

Kapitel 12 · Gesundheit in Wirtschaft und Gesellschaft

. Abb. 12.3. Die Theorie des geplanten Verhaltens (Ajzen 1985, 2002). (Aus Scholz & Schwarzer, 2005)

12

bzw. auf dem Kontinuum der Verhaltenswahrscheinlichkeit verschieben. Diese Variablen sind als Prädiktoren der Intentionsbildung und des Verhaltens konzeptualisiert; sie umfassen individuelle Gesundheitsdeterminanten wie z. B. Kontrollüberzeugungen, Selbstwirksamkeitserwartung oder soziale Unterstützung (. Abb. 12.2 und . Tab. 12.1). Zu den kontinuierlichen Prädiktionsmodellen gehören u. a. die Theorie der Schutzmotivation (»protection motivation theory«, PMT) von Rogers (7 Kap. 4, »Überzeugen durch Argumente«), die sozial-kognitive Theorie von Bandura (7 Kap. 15, »Arbeitslosigkeit«) und die Theorie des geplanten Verhaltens (»theory of planned behavior«, TPB) von Ajzen (1985, 2002). Letztere wird hier im Kontext gesundheitsbezogenen Verhaltens beispielhaft vorgestellt (s. auch 7 Kap. 2, »Werbewirkungsmodelle«). Die TPB enthält 3 Prädiktorvariablen: Einstellung, subjektive Norm und wahrgenommene Verhaltenskontrolle (. Abb. 12.3). Die Einstellung wird als affektive Bewertung des geplanten Verhaltens verstanden (Scholz & Schwarzer, 2005). Sie entsteht aus den – hier gesundheitsbezogenen – Überzeugungen über die Verhaltenskonsequenzen (= Handlungsergebniserwartungen), z. B. »Wenn ich Sport

treibe, werde ich abnehmen, mich fitter fühlen und gesünder sein«, und der Bewertung dieser Konsequenzen, z. B. »Schlank, fit und gesund zu sein, ist erstrebenswert.« Die subjektive Norm bildet sich aus den Erwartungen anderer, bedeutsamer Personen, z. B. »Meine Familie und Freunde meinen, ich sollte mehr Sport treiben«, und der Bereitschaft, in diese Erwartungen einzuwilligen, z. B. »Ich will tun, was sie von mir erwarten« (Beispiele aus Stroebe & Stroebe, 1998). Die wahrgenommene Verhaltenskontrolle ähnelt der SWE und beeinflusst im Modell nicht nur die Intention, sondern auch das Verhalten direkt. Sie setzt sich zusammen aus unterschiedlichen Kontrollfaktoren, im Modell Kontrollüberzeugungen genannt, z. B. »Ich habe keine richtige Sportausrüstung, um Sport zu treiben«, und der subjektiven Stärke, mit der solche internen und externen Faktoren das Verhalten behindern oder fördern, z. B. »Ohne richtige Sportausrüstung ist es für mich sehr schwierig, Sport zu treiben« (Beispiel nach Ajzen, 2002). Dynamische Stadienmodelle Die dynamischen Stadienmodelle bilden unterschiedliche Phasen ab, die eine Person im Prozess der Verhal-

229 12.2 · Gesundheit des Individuums

. Tab. 12.2. »Stages of Change« des transtheoretischen Modells (TTM) am Beispiel »Rauchen« 1

Sorglosigkeit (»precontemplation«)

Das Rauchen wird nicht als Problem betrachtet und es besteht auch keine Absicht, in den nächsten Monaten damit aufzuhören.

2

Bewusstwerden (»contemplation«)

Es wird ernsthaft darüber nachgedacht, innerhalb der nächsten 6 Monate mit dem Rauchen aufzuhören.

3

Vorbereitung (»preparation«)

Das Rauchen soll innerhalb der nächsten 30 Tage aufgegeben werden.

4

Handlung (»action«)

Das Rauchen wurde seit weniger als 6 Monaten aufgegeben.

5

Aufrechterhaltung (»maintenance«)

Das Rauchen wurde seit mehr als 6 Monaten aufgegeben.

tensänderung durchläuft. Diese Phasen respektive Stadien sind als zeitliche Sequenz konzeptualisiert und unterscheiden sich qualitativ voneinander. Als dynamisches Stadienmodell gilt z. B. das Transtheoretische Modell der Verhaltensänderung (TTM) von Prochaska und DiClemente (1983). Das TTM gilt als Initiator der dynamischen Stadienmodelle und ist das am häufigsten angewendete Modell in der Gesundheitsförderung. Das TTM operationalisiert 5 Stadien, »Stages of Change« genannt, die durch einen zeitlichen Rahmen definiert sind. Am Beispiel des Versuchs, mit dem Rauchen aufzuhören, sollen diese Stadien dargestellt werden (. Tab. 12.2). In jeder Phase wägt die Person Pro- und Kontraargumente bezüglich des zu verändernden Verhaltens gegeneinander ab. Zudem bewirken kognitiv-affektive Prozesse (z. B. Bewusstseinserhöhung, Neubewertung der eigenen Person) und verhaltensorientierte Prozesse (z. B. Gegenkonditionierung, Reizkontrolle) das Fortschreiten von einer Stufe zur nächsten (vgl. z. B. Scholz & Schwarzer, 2005). Die Autoren des TTM haben diese Prozesse aus unterschiedlichen psychotherapeutischen Interventionen zusammengestellt und modifiziert, daher der Begriff »transtheoretisch«. Auf der Basis des TTM werden stufengerechte Interventionen entwickelt: Raucher, die sich in der ersten Phase der Sorglosigkeit befinden, erhalten z. B. eine kurze Information über die Vorteile des Nichtrauchens, während Rauchern in der Handlungsphase Unterstützung des neuen Verhaltens angeboten wird, z. B. durch das Einüben alternativer Entspannungsrituale. 12.2.6

Lebensweise/Lebensstil

In den 70er Jahren hat die Alameda County-Studie 7 konkrete, gesundheitsrelevante Verhaltensweisen iden-

tifiziert und zu einem »gesunden vs. ungesunden Lebensstil« zusammengefasst (z. B. Stroebe & Stroebe, 1998): Sieben bis 8 Stunden Schlaf, nicht rauchen, regelmäßig frühstücken, mäßiger Alkoholkonsum (max. 1– 3 Drinks pro Tag), regelmäßige Bewegung, keine bzw. wenige Zwischenmahlzeiten, maximal 10% Übergewicht. Nach knapp 10 Jahren betrug die Todesrate jener Personen, die alle 7 Punkte erfüllten – also einen »gesunden Lebensstil« pflegten – nur 28% (Männer) bzw. 43% (Frauen) der Todesrate jener Personen, die 0–3 Punkte erfüllten – also »ungesund« lebten. Hinsichtlich eines gesundheitsförderlichen Lebensstils stehen diese Verhaltensweisen auch heute noch im Zentrum der Gesundheitsforschung und -beobachtung, weil sie das größte Potenzial zur Verbesserung der Bevölkerungsgesundheit in sich bergen und mittels Kampagnen und Beratung konkret angegangen werden können (Gutzwiller & Paccaud, 2007; vgl. . Abb. 12.6). Wie sowohl das Gesundheitsentwicklungsmodell (. Abb. 12.1) als auch das Salutogenesemodell (. Abb. 12.2) deutlich machen, sind gesundheitlich relevante Verhaltensweisen in ein komplexes »Lebensmodell« eingebunden und mit der Lebensweise eines Menschen verknüpft, welche durch soziale, kulturelle und ökologische Dimensionen (Ressourcen wie Risiken) mitbestimmt ist. Der Begriff »Lebensweise« oder »Lebensstil« bezieht sich auch auf den marktorientierten »Lifestyle« resp. »Healthstyle« (Sigrist, 2006; 7 Beispiel): Was mit der Hinwendung zur Salutogenese und der positiven Konzeption von Gesundheit (Wohlbefinden, Handlungsfähigkeit) begann, überbordet heute in der engen Norm des ästhetisierten, gesunden und jungen Körpers, in omnipräsenten Wellnessangeboten und Fitnessmagazinen sowie in Lifestyledrogen und Discountschönheitschirurgie – »Gesundheit ist machbar«, im wörtlichen Sinne (Kickbusch, 2006).

12

230

Kapitel 12 · Gesundheit in Wirtschaft und Gesellschaft

Beispiel

Beispiel

Trendforscher verwenden im Zusammenhang mit einem marktorientierten gesundheitsbewussten Lebensstil den Begriff »LOHAS – Lifestyles of Health and Sustainability« (Sigrist, 2006). In der Schweiz behaupten rund 20% der Bevölkerung von sich, dass gesundheitliche Überlegungen ihr Leben weitgehend bestimmen (7 Abschn. 12.3.1) – sie gehören zur Gruppe der »Healthy-Lifestylers«, die sich bewusst um Gesundheit und Nachhaltigkeit bemühen. Ein solches Gesundheitsbewusstsein und die entsprechende Lebensweise entwickelt (und verändert) sich im lebensweltlichen Kontext (Familie, Bezugspersonen im sozialen Netzwerk, Beruf etc.), durch lebensgeschichtliche Erfahrungen (Lebenskrisen, eigene Krankheit oder Krankheit im Bezugssystem, Sozialisation des Verhältnisses zum eigenen Körper) und im Kontext des Selbst- und Lebenskonzepts (Selbstsicht, Identität, Lebensziele, Konstruktion des eigenen Selbst; Faltermaier, 2005).

Befinden (Wohlbefinden/Stärke): Ein Überblick zu mehr als 50 Messinstrumenten von Wohlbefinden findet sich bei Mayring (2003). Die »positive Psychologie« – welche analog zur Gesundheitsforschung den Blick von der negativen zur positiven Emotion gewendet hat – operiert mit Konstrukten wie dem Arbeitsengagement (Schaufeli & Bakker, 2004) oder dem (tätigkeitsbezogenen) Flow (Schallberger, 2006). Die »World Database of Happiness« (http://www1.eur.nl/fsw/happiness/) listet Hunderte von Varianten zur Erfassung des Lebensglücks und der Lebenszufriedenheit auf.

12.2.7

12

Gesundheitskontinuum und Messung von Gesundheit

Im Salutogenesemodell (. Abb. 12.2) wird eine 3 × 3Matrix verwendet, um die Vielschichtigkeit der biopsychosozialen Gesundheitskonzeption zu erfassen und abzubilden (Faltermaier, 2005; 7 Beispiel): 4 Befinden (Wohlbefinden/Stärke): körperliches Wohlbefinden, psychisches Wohlbefinden (zufrieden, voller Lebensfreude, glücklich sein etc.), soziales Wohlbefinden (Harmonie, Eingebundensein in befriedigende Beziehungen) 4 Aktionspotenzial (Handlungs-/Leistungsfähigkeit): körperliche Fitness, geistige Leistungsfähigkeit, Erfüllung sozialer Rollen (im Beruf, in der Familie etc.) 4 Maß an Störungen (Beschwerden/Schmerzen/Probleme/Krankheit): diagnostizierte Krankheit, körperliche und psychische Beschwerden, Einschränkung in der sozialen Funktionsfähigkeit

Aktionspotenzial (Handlungs-/Leistungsfähigkeit): Die Handlungs- und Leistungsfähigkeit wird ebenfalls oft kontextspezifisch gemessen: Die arbeitsbezogene Funktionsfähigkeit ist z. B. Gegenstand des Work Ability Index (WAI; Tuomi et al., 2006). Maß an Störungen (Beschwerden/Schmerzen/ Probleme/Krankheit): Krankheiten werden durch Experten anhand eines Klassifikationssystems wie der ICD (International Classification of Diseases) diagnostiziert und kategorisiert. Für Beschwerden stehen standardisierte Erhebungsinstrumente wie die Freiburger Beschwerdeliste zur Verfügung (Fahrenberg, 1995).

Der Gesundheitszustand wird als Gesundheitskontinuum mit den Polen »maximale Gesundheit« und »minimale Gesundheit« verstanden, wobei die Dimensionen der Matrix sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können. So kann eine Person durch Krankheit zwar körperlich stark eingeschränkt sein, aber dennoch über ausgeprägte Lebensfreude und geistige Leistungsfähigkeit verfügen sowie unterschiedliche soziale Rollen erfüllen. Aus der Multidimensionalität des Gesundheitsbegriffs erschließt sich zudem, dass die Messung von Gesundheit ein interdisziplinärer Forschungsgegenstand ist, mit dem sich u. a. die Psychologie, Soziologie, (New) Public Health sowie Sozial- und Präventivmedizin befassen (z. B. Hurrelmann, 2003; Weitkunat, Haisch & Kessler, 1997). Diese Disziplinen messen sowohl den Gesundheitszustand als auch die individuellen und umweltbezogenen Gesundheitsdeterminanten (Ressour-

231 12.2 · Gesundheit des Individuums

cen/Risikofaktoren) sehr unterschiedlich – eindeutig und zweifelsfrei zu erfassen ist nur das Todesereignis (Bopp & Paccaud, 2007). 12.2.8

Gesundheitskompetenzen

4

4 4

Die Gesundheit eines Individuums entwickelt sich in kontinuierlicher Interaktion mit seiner Umwelt – in der Einleitung wurde dieses dynamische Verständnis von Gesundheit als konstruktiver Prozess der Selbstorganisation und -erneuerung beschrieben und entsprechend im Gesundheitsentwicklungsmodell skizziert (. Abb. 12.1). Heute wird jedoch vom Einzelnen verlangt, immer mehr eigenständige gesundheitsbezogene Entscheidungen zu treffen: Die Mitentscheidungsmöglichkeit bzw. -pflicht betrifft z. B. nicht nur Angebote der (Prä-) Diagnostik und Therapie, sondern auch die Bandbreite möglicher Gesundheitsversicherungen und Angebote der Gesundheitsförderung (Hurrelmann, 2003). Berücksichtigt man zudem die Informationsflut zu entsprechenden Angeboten und die Möglichkeit, sich außerhalb der Fachwelt Gesundheitswissen zu erwerben (z. B. im Internet), wird deutlich, dass tatsächlich neue Kompetenzen gefordert sind. Hierfür wurde der Begriff »Health Literacy« bzw. »Gesundheitskompetenz« geprägt: Ein Individuum oder eine Gruppe ist fähig, Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf die eigene Gesundheit auswirken (Kickbusch, 2006). Diese Fähigkeit soll gefördert (»Empowerment«) und auch gefordert werden, da sie Voraussetzung für präventives Gesundheitsverhalten und eine gesundheitsförderliche Lebensweise sind. Kickbusch (2006) unterscheidet folgende Kompetenzbereiche und Gesundheitskompetenzen: 4 Persönliche Gesundheit (Grundkenntnisse über Gesundheit, Wissen und Anwendung von gesundheitsförderlichem und -bewahrendem Verhalten u. a.) 4 Systemorientierung (Zurechtfinden im Gesundheitssystem, kompetenter Partner für die Gesundheitsberufe)

Konsumverhalten (Konsum- und Dienstleistungsentscheidungen unter gesundheitlichen Gesichtspunkten treffen, Durchsetzung von Konsumentenrechten) Gesundheitspolitik (informiert gesundheitspolitisch handeln) Arbeitswelt (Vermeidung von Unfällen und Berufskrankheiten, Einsatz für gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen und Work-Life-Balance)

Eine Schweizer Studie zur Gesundheitskompetenz zeigte auf, dass 85% der Befragten eine aktive Rolle in der medizinischen Entscheidungsfindung spielen möchten, aber nur 49% diese aktive Rolle bei ihrem Hausarzt auch wirklich wahrnehmen können (Wang & Schmid, 2006). Heute werden verschiedene Strategien zur Stärkung der Gesundheitskompetenzen diskutiert (Hurrelmann, 2003; Kickbusch, 2006), z. B. die verbesserte und insbesondere zielgruppengerechte Bereitstellung von Informationen oder kommunale Trainingsprogramme unter Verwendung entsprechend erarbeiteter Materialen. Solche Programme leisten auch einen Beitrag, die gesundheitliche Schere zwischen »den Kompetenten« und »den Inkompetenten« bzw. zwischen den unterschiedlichen sozialen Gesellschaftsschichten zu reduzieren (7 Abschn. 12.3.2; 7 Beispiel). Beispiel

Die irische National Adult Literacy Agency (www. nala.ie) stellt den Health Pack – A resource pack for literacy tutors and healthcare staff zur Verfügung. Dieser richtet sich an Berufspersonal im Gesundheitswesen und umfasst 4 Themenbereiche mit praktischen Tipps zur Verbesserung der Gesundheitskompetenz der Klienten: 1. Gesund-Sein 2. Medikamenteneinnahme 3. Medizinische Formulare ausfüllen 4. Patient-Sein 6

. Abb. 12.4. Health Pack: Ermutigung zur Reflexion

6

12

232

Kapitel 12 · Gesundheit in Wirtschaft und Gesellschaft

So werden z. B. im ersten Teil die Klienten ermutigt, ihren Lebensstil und das Ausmaß, wie dieser ihre Gesundheit beeinträchtigt oder fördert, zu reflektieren (. Abb. 12.4). Mittels einfacher Raster und Grafiken werden subjektive Gesundheitsvorstellungen bewusst gemacht, Expertenmodelle zu den Gesundheitsdeterminanten visualisiert sowie realisierbare Schritte zur Änderung des Lebensstils (auf der Basis des TTM 7 Abschn. 12.2.5) geplant. Neben konkreten Handlungsmöglichkeiten werden im Health Pack auch ein gesundheitsspezifisches Vokabular und Kommunikationstechniken vermittelt, welche den Klienten im Umgang mit den Experten (Zahnarzt, Klinikpersonal etc.) unterstützen und ihn befähigen, Fragen zu stellen und Feedback zu geben.

Bevölkerung (7 Beispiel), sondern auch der Beurteilung des Interventionsbedarfs, der Prioritätensetzung sowie der Rechtfertigung des Einsatzes von (Geld-)Mitteln in der Gesundheitspolitik: So ist gegenwärtig die psychische Gesundheit ein Themenschwerpunkt des Gesundheitsmonitorings, aber auch individuelle Gesundheitsdeterminanten wie Bewegungsarmut, ungesunde Ernährung oder Tabak- und Alkoholkonsum bei Jugendlichen sind prioritäre Anliegen. Die meisten Länder verfügen über Gesundheitsinformationssysteme, die mittels einer limitierten Anzahl definierter Gesundheitsindikatoren spezifische Daten erfassen (via Register oder Bevölkerungsbefragungen) und periodisch Bericht erstatten. In der Schweiz hat das Gesundheitsobservatorium diese Rolle übernommen (www.obsan. ch), in Deutschland nimmt die Gesundheitsberichterstattung des Bundes eine vergleichbare Rolle ein (www.gbe-bund.de). Beispiel

12.3

12

Gesundheit in der Gesellschaft

Betrachtet man die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Gesundheitsentwicklung und den Stellenwert der Gesundheit in der Gesellschaft aus einer Public-Health-Perspektive, so stehen Daten zum Gesundheitszustand und -verhalten der Gesamtbevölkerung im Vordergrund, welche verbunden werden mit Analysen zu den entsprechenden sozialen und volkswirtschaftlichen Konsequenzen (z. B. zur gesundheitlichen Ungleichheit zwischen Bevölkerungsgruppen oder zu den Kosten von Erkrankungen). Zudem interessieren die Wirkmechanismen der Gesundheitsentwicklung auf Bevölkerungsebene, um gesundheitlich ungünstigen Trends (wie gegenwärtig der zunehmenden Fettleibigkeit bei Jugendlichen) mit gezielten Präventions- und Gesundheitsförderungskonzepten zu begegnen. 12.3.1

Epidemiologie

Die populationsbezogene Beobachtung des Gesundheitszustands und die Suche nach Faktoren, welche die Gesundheit der Bevölkerung beeinflussen, sind Gegenstand der deskriptiven und analytischen Epidemiologie. Epidemiologische Daten dienen nicht nur der Bestandsaufnahme (Monitoring) des Gesundheitszustands einer

»Wie geht es Ihnen zurzeit gesundheitlich?« Auf diese Frage antworteten über 80% einer repräsentativen Stichprobe von 19.000 Schweizerinnen und Schweizer mit »gut bis sehr gut« (Schweizerische Gesundheitsbefragung 2002), ebenso rund drei Viertel jener 8000 Deutschen, welche eine korrespondierende Frage im Jahr 2003 beantwortet haben (Robert Koch-Institut). In derselben Schweizer Befragung gibt ein Zehntel der Bevölkerung an, zu leben, ohne sich um die Folgen für die Gesundheit zu kümmern, dagegen sagen rund zwei Zehntel, dass gesundheitliche Überlegungen ihr Leben weitgehend bestimmen. Der große Rest bewegt sich zwischen diesen beiden Polen, d. h. Gedanken an die Erhaltung der Gesundheit beeinflussen das Alltagshandeln zwar, aber dominieren es nicht.

Aus diesen Daten lassen sich Prävalenzen (Krankheitshäufigkeit zu einem gegebenen Zeitpunkt oder Zeitraum) und Inzidenzen (Neuauftreten von Krankheiten während eines Zeitraums) berechnen und analysieren (Ackermann-Liebrich, Paccaud & Morabia, 2007). Außerdem wird kalkuliert, was das absolute und relative Risiko eines Individuums ist, eine Krankheit in einem bestimmten Zeitraum zu bekommen: Eine amerikanische Studie aus den 90er Jahren hat berechnet, dass ein

233 12.3 · Gesundheit in der Gesellschaft

35-jähriger Nichtraucher ein absolutes Risiko von 0,2% hat, vor seinem 65. Lebensjahr an Lungenkrebs zu sterben; ist er starker Raucher (>25 Zigaretten pro Tag), so ist sein relatives Erkrankungsrisiko 30fach höher. Das attributive Risiko gibt Auskunft darüber, auf welche Risikofaktoren die Erkrankungen in einer Population zurückzuführen sind: So sind z. B. bei 35- bis 44-jährigen starken Rauchern 90% der Lungenkrebserkrankungen auf das Rauchen zurückzuführen (Mattson, Pollack & Cullen, 1987). 12.3.2

Gesundheitliche Ungleichheit zwischen Bevölkerungsgruppen

Der Einfluss der sozioökologischen Umwelt auf die Gesundheit der Bevölkerung legt es nahe, nicht nur Durchschnittswerte für die Gesamtbevölkerung zu betrachten, sondern auch Unterschiede zwischen sozialen Gruppen, z. B. nach Alter, Geschlecht und sozialer Stellung. So leben Frauen in der Schweiz im Schnitt 5 Jahre länger als Männer, was v. a. auf unterschiedliches Risikoverhalten (Rauchen, Alkoholkonsum, Verhalten im Straßenverkehr), Suizid und berufliche Risiken (z. B. Arbeitsunfälle, chemische Exposition) zurückgeführt wird. Noch bedeutender sind Unterschiede nach sozialer Schicht. So findet sich in fast allen Ländern ein Sozialgradient in der Gesundheit, d. h. mit steigender sozialer Schicht sinkt die Erkrankungswahrscheinlichkeit und die Lebenserwartung nimmt zu. Soziale Schicht wird dabei durch die 3 Dimensionen Bildung, Berufsstatus und Einkommen definiert: Das unterste Fünftel der deutschen Bevölkerung hat im Vergleich zum obersten Fünftel in jeder Altersstufe eine ungefähr doppelt so hohe Erkrankungs- und Sterberate (Mielck, 2005). In den USA hat eine Studie gezeigt, dass die unterste soziale Schicht durchschnittlich bereits im 45. Lebensjahr die gleiche Anzahl chronischer Gesundheitsprobleme aufweist wie die oberste Schicht erst im 75. Lebensjahr (Rosenbrock, 2001), und in der Schweiz ist die Lebenserwartung in der untersten sozialen Schicht 7 Jahre kürzer als in der obersten (Spoerri, Zwahlen, Egger, Gutzwiller, Minder & Bopp, 2006). Die Wahrscheinlichkeit, zwischen dem 45. und 65. Jahr berufsinvalide zu werden, ist für ungelernte Arbeitnehmer 10-mal so hoch wie bei Akademikern. Nur 57% der Bauarbeiter erreichen mit erhaltener Arbeitsfähigkeit das 65. Lebensjahr, im Gegensatz zu 88% der Forschenden (Gubéran & Usel,

1998). Rosenbrock (2001) weist aufgrund neuerer Studien darauf hin, dass diese gesundheitliche Ungleichheit in Ländern mit neoliberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik weiter zunimmt (vgl. auch 7 Kap. 15, »Arbeitslosigkeit«). . Abbildung 12.5 zeigt, wie soziale Schichtunterschiede zu gesundheitlicher Ungleichheit führen. So haben z. B. Kinder aus niedriger sozialer Schicht schon während der Schwangerschaft und in den wichtigen frühen Entwicklungsphasen ungünstige Belastungs-/Ressourcenkonstellationen. Geringe Bildung, Berufsstatus und Einkommen im Erwachsenenalter gehen mit höheren physischen und psychosozialen Belastungen und geringeren Ressourcen u. a. im Berufsleben einher. Diese Faktoren wirken sich direkt und indirekt über das Gesundheitsverhalten auf die gesundheitliche Ungleichheit aus, die durch Unterschiede in der Gesundheitsversorgung akzentuiert werden kann. 12.3.3

Volkswirtschaftliche Aspekte der Gesundheit

Direkte und indirekte Kosten von Erkrankungen Spricht man über die volkswirtschaftlichen Kosten von Gesundheit, ist meistens die Rede von den direkten und indirekten Kosten von spezifischen Krankheiten. So wurden z. B. 1995 für die Schweiz 1,2 Mrd. CHF für die ambulante und stationäre medizinische Behandlung von tabakbedingten Krankheiten kalkuliert (direkte Kosten) und weitere 3,8 Mrd. CHF für den Produktionsverlust durch vorzeitige Mortalität, verlorene Arbeitskraft und Invalidität (indirekte Kosten). Weitere 4,9 Mrd. CHF wurden als »immaterielle Kosten« für das physische und psychische Leiden der Kranken und ihrer Familien veranschlagt (Vitale, Priez & Jeanrenaud, 1998). In einer Studie zum »Stress« wurden die Kosten beanspruchter medizinischer Leistungen, der Selbstmedikation, Fehlzeiten und des Produktionsausfalls, verursacht durch Stresssymptome in der erwerbstätigen Bevölkerung, für das Jahr 1999 mit 8 Mrd. CHF beziffert (Ramaciotti & Perriard, 2000). Die Kosten arbeitsassoziierter Erkrankungen werden in der Schweiz auf umgerechnet 4–8 Mrd. Euro/Jahr geschätzt, wobei etwa die Hälfte durch psychosoziale Faktoren bei der Arbeit bedingt sind; für die Europäische Union werden die Kosten arbeitsbedingter psychischer Erkrankungen auf 3–4% des Bruttosozialprodukts ge-

12

234

12

Kapitel 12 · Gesundheit in Wirtschaft und Gesellschaft

. Abb. 12.5. Modell zur Erklärung der gesundheitlichen Ungleichheit (Mielck, 2000, 2005)

schätzt (ILO, 2000). Setzt man die Kostenfolgen psychosozialer und physischer Belastungen am Arbeitsplatz ins Verhältnis, so zeigen Zahlen aus Deutschland, dass heute neben starken körperlichen Belastungen (21 Mrd. Euro/Jahr) v. a. psychosoziale Belastungen wie geringer Handlungsspielraum (16 Mrd. Euro/Jahr) und geringe psychische Anforderungen (10,5 Mrd. Euro/Jahr) zu den arbeitsbedingten Behandlungs- und Absenzkosten beitragen (Bödeker, Friedel, Röttger & Schröer, 2002). Ein weiterer volkswirtschaftlicher Kostenfaktor sind die Invalidenrenten. Im Rahmen der demografischen Entwicklung mit zunehmendem Anteil älterer Arbeitnehmer ist die Wirtschaft künftig wieder vermehrt auf den Erhalt der Arbeitsfähigkeit bis hin zum Rentenalter

durch eine alter(n)sgerechte Arbeitsgestaltung angewiesen (Morschhäuser & Schmidt, 2002). Gesundheitsökonomie Die monetäre Bewertung der Gesundheit und die systematische Anwendung ökonomischer Analysekonzepte auf die Gesundheit und das Gesundheitssystem ist das Anwendungsfeld der Gesundheitsökonomie. Ein Analysekonzept der Gesundheitsökonomie ist z. B. jenes der »Zahlungsbereitschaft«: Wie viel Einkommen würden Sie für eine Therapie zur Verfügung stellen, um die Symptome Ihrer Krankheit sofort zu beseitigen, oder welche Versicherungsprämie wären Sie bereit zu zahlen, um eine bestimmte Gesundheitsleistung zu erhalten? Solche

235 12.3 · Gesundheit in der Gesellschaft

Informationen werden z. B. für gesundheitspolitische Entscheidungen oder bei der Entwicklung von Pharmaka verwendet (Szucs, 1997). Staatliche und privatwirtschaftliche Gesundheitsversorgung Der Staat reguliert das Gesundheitswesen bzw. das Krankheitsversorgungssystem mit dem Ziel, die Bezahlbarkeit, Qualität und Zugangsgerechtigkeit zu sichern. Daneben besteht ein vornehmlich privatwirtschaftlicher Gesundheitsmarkt (Sigrist, 2006), der Angebote wie Wellness, Fitness, Gesundheitstourismus, Functional Food, Biolebensmittel, Lifestylemedikamente oder plastische Chirurgie umfasst. Der Wellnessmarkt hat 2003 in Deutschland ca. 70 Mrd. Euro umgesetzt (Grönemeyer, 2005; zitiert nach Kickbusch, 2006) und in den USA im Jahr 2000 ca. 200 Mrd. Dollar, mit einem erwarteten Wachstum auf mehr als 1 Billion Dollar bis 2010 (Pilzer, 2002; zitiert nach Kickbusch, 2006). Nimmt man die Gesundheit als Exportgut (v. a. Pharmaindustrie, Medizinaltechnik, Medizintourismus) hinzu, macht der gesamte Gesundheitssektor in der Schweiz schon heute 14% des BIP und 17% der Beschäftigung aus (Infras, 2006). Der Gesundheitssektor (besonders die Medizinaltechnik) gilt heute zudem als wichtiger Innovationstreiber der Wirtschaft. Die »Wachstumsbranche Gesundheit« wird damit zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor. 12.3.4

Prävention und Gesundheitsförderung

Ein wichtiges Handlungsfeld der staatlichen Gesundheitspolitik zur Verbesserung der Bevölkerungsgesundheit und zur Reduktion gesundheitlicher Ungleichheit sind gezielte Interventionen im Bereich der Gesundheitsdeterminanten. Sie stützen sich auf medizinisches, epidemiologisches und sozialwissenschaftliches Wissen (s. auch Weitkunat et al., 1997). Diese Interventionen werden durch das Begriffspaar »Prävention und Gesundheitsförderung« gekennzeichnet (vgl. auch . Abb. 12.1): 4 Prävention hat das Ziel, Gesundheitsschäden zu verhüten bzw. früh zu erkennen. Dabei wird unterschieden zwischen Primärprävention (Verhinderung von Krankheiten), Sekundärprävention (Früherfassung von Krankheiten bzw. von Risiken) und Tertiärprävention (Verhinderung von Spätfolgen und Rückfallprophylaxe).

4

Gesundheitsförderung umfasst alle der Gesundheit dienlichen Maßnahmen einer Gesellschaft. Die Gesundheitsförderung zielt insbesondere auf die Förderung von Ressourcen ab und will damit die Entwicklung positiver Gesundheit stärken. Die Jakarta-Erklärung zur Gesundheitsförderung des 21. Jahrhunderts (1997) bezeichnet die Gesundheitsförderung als »Schlüsselinvestition« für die soziale und ökonomische Entwicklung der Menschheit.

Prävention und Gesundheitsförderung setzen sowohl bei den individuellen als auch bei den umweltbedingten Gesundheitsdeterminanten an (. Abb. 12.1) – oft wird hierfür das Begriffspaar »verhaltens- versus verhältnisorientierte Intervention« verwendet. Verhaltensorientierte Interventionen können sich auf einzelne Personen (z. B. Raucherentwöhnungsberatung durch den Hausarzt) oder Gruppen (z. B. Suchtpräventionstage in Schulklassen) beziehen, bei denen man aufgrund des direkten Kontakts von einer Tiefenwirkung (Intentionsbildung/Verhaltensänderung durch Stärkung der SWE, Erlernen von Problemlösetechniken etc.) ausgeht. Diesen intensiven, individual- oder gruppenpsychologischen Interventionen stehen bevölkerungsweite Interventionen gegenüber. Diese sollen z. B. in Form von Medienkampagnen oder landesweiten Aktionstagen eine Breitenwirkung (Sensibilisierung durch Informationsvermittlung, Beeinflussung der Risikowahrnehmung etc.) entfalten, so wie die seit 1999 laufende »Alles-im-Griff«-Kampagne zum Thema Rauschtrinken mit dem Slogan »Schau zu dir und nicht zu tief ins Glas« und dem moderaten Furchtappell »1 Glas zu viel und aus das Spiel« (. Abb. 12.6). Der Einsatz von Massenmedien in der Prävention und Gesundheitsförderung folgt den Regeln des sozialen Marketings: Analog zum kommerziellen Marketing wird Gesundheit und Gesundheitsverhalten als Produkt im Markt positioniert und eine gezielte Promotionsstrategie entwickelt (vgl. z. B. Naidoo & Wills, 2003; Weitkunat et al., 1997). Mit dem Internet steht ein neues Interventionsmedium zur Verfügung, in dem sich Breitenwirkung mit einer Tiefenwirkung durch interaktive, phasengerechte Beratungsangebote kombinieren lässt. Beispiele sind Bewegungsförderungsprogramme (z. B. www.allez-hop.ch) und multidimensionale Gesundheitsförderung für Jugendliche (z. B. www.feelok.ch/. de/.at).

12

236

Kapitel 12 · Gesundheit in Wirtschaft und Gesellschaft

. Abb. 12.6. Kampagne zum Thema Rauschtrinken (Bundesamt für Gesundheit, Schweiz)

12

Grundsätzlich empfiehlt es sich, verhaltensorientierte Interventionen auf die Phasen der Verhaltensänderung (s. das TTM in 7 Abschn. 12.2.5) und die Merkmale der Zielgruppe abzustimmen (z. B. Jugendliche mit Migrationshintergrund, Rentner, Erwerbslose etc.). Bei der Definition der Zielgruppe ist die Risikoträgerstrategie, welche sich nur an Personen mit dem entsprechenden Risikopotenzial (z. B. Übergewichtige) richtet, von der Bevölkerungsstrategie zu unterscheiden, welche sich an die Gesamtbevölkerung richtet. Verhältnisorientierte Interventionen setzen bei den Strukturen und Prozessen der Lebensumwelt an. Beispiele sind Rad- und Spazierwege zur Bewegungsförderung, das gesunde Nahrungsmittelangebot in Kantinen, rauchfreie Arbeitsplätze, die Fluoridierung des Trinkwassers zur Kariesprophylaxe oder die gesamte Lebensmittelhygiene (Gutzwiller & Paccaud, 2007). Die jeweiligen Lebens- und Sozialräume berücksichtigt die Gesundheitsförderung im Settingansatz. Wichtige Settings sind insbesondere Schulen (z. B. Netzwerk gesunde Schulen), Krankenhäuser (z. B. Health Promoting Hospitals), Gemeinden (gemeindeorientierte Gesundheitsförderung) oder Betriebe (betriebliche Gesundheitsförderung).

12.4

Gesundheit im Unternehmen

12.4.1

Arbeitsbezogene gesundheitliche Belastungen und Ressourcen

Die Arbeitswelt ist eine der stärksten und zeitintensivsten Quellen gesundheitlicher Belastungen und Ressourcen. Neben den unmittelbaren Einflüssen der Arbeit wirkt der Beruf auch indirekt auf die Gesundheit, indem er individuelle Gesundheitsdeterminanten wie die Persönlichkeitsentwicklung, den Lebensstil und das Gesundheitsverhalten beinflusst. Unter dem Stichwort »Der lange Arm der Arbeit« hatte eine empirische Studie gezeigt, dass Personen in eher passiven, fremdbestimmten Jobs auch ein deutlich passiveres Freizeitverhalten und geringeres politisches Engagement aufwiesen (Meissner, 1971). Zudem zeigt die Work-Life-BalanceForschung, dass Konflikte oder Überforderung bei der Arbeit sich über den betroffenen Arbeitnehmer hinaus negativ auf die Qualität der Partnerschaft und sogar auf die Schulleistungen der Kinder auswirken können (vgl. z. B. Jones, Burke & Westman, 2006; s. auch 7 Kap. 13, »Work-Life-Balance«). Im Produktionssektor stehen physikalische, chemische und biologische Belastungen am Arbeitsplatz im Vordergrund (Lärm, elektromagnetische Felder, Vibrationen, Lösungsmittel, Asbest, Holzstaub etc.) und be-

237 12.4 · Gesundheit im Unternehmen

halten mit neuen Substanzen wie Nanopartikeln hohe Aktualität. In den letzten Jahren sind die psychosozialen Aspekte der Arbeit verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit und der Forschung gerückt. In einer repräsentativen Umfrage im Schweizer Dienstleistungssektor (Bauer, Schmid, Zellweger & Krueger, 2002) gaben jeweils mehr als ein Drittel der Unternehmen an, dass sie in den letzten 5 Jahren starkem ökonomischem Druck ausgesetzt waren, Reorganisationen durchliefen und die Geschäftsabläufe beschleunigten, 12% hatten den Personalbestand abzubauen bzw. zu flexibilisieren. Dieser Trend wirkt sich auch auf die Mitarbeitenden aus, die über kontinuierliche Veränderungen der Arbeitssituation, Beschleunigung und Verdichtung der Arbeit sowie Angst vor Arbeitsplatzverlust berichten: So gaben z. B. bei der letzten Schweizer Gesundheitsbefragung (2002) zwei Drittel der befragten Erwerbstätigen an, laufend Neuerungen und Umstellungen bei der Arbeit bewältigen und vieles gleichzeitig tun zu müssen. In der bereits erwähnten »Stress-Studie« fühlten sich 27% oft bis sehr oft gestresst, 12% der Befragten sehen ihre Gesundheit dadurch beeinträchtigt (Ramaciotti & Perriard, 2000). Die zunehmende Bedeutung psychosozialer Belastungen in der Arbeitswelt bestätigt sich auch in europaweiten Umfragen (Merllié & Paoli, 2002). Die wichtigsten psychosozialen Belastungen und Ressourcen der Arbeitswelt lassen sich gemäß der arbeits- und organisationspsychologischen Forschung wie

in . Tab. 12.3 dargestellt kategorisieren (vgl. Zapf & Semmer, 2004; Udris & Frese, 1999; Ulich & Wülser, 2004). Nachfolgend werden 2 der bekanntesten Modelle kurz vorgestellt, die das Zusammenwirken von Belastungen und Ressourcen im Arbeitssetting zum Gegenstand haben. Das Demand-Control-Modell (Karasek & Theorell, 1990) beschreibt eine 4-Felder-Tafel mit den Achsen »job demands« (Arbeitsbelastungen) und »job decision latitude« (Handlungsspielraum). Gesundheitlich besonders ungünstig ist die Kombination aus niedrigem Handlungsspielraum und stark ausgeprägten Belastungen. Eine Arbeitstätigkeit mit hohem Handlungsspielraum hingegen neutralisiert nicht nur die Wirkung der Belastungen, sondern wird in Kombination mit hohen Anforderungen als aktivierend und herausfordernd erlebt (Stichwort »Arbeitsengagement« – Schaufeli & Bakker, 2004 – und »tätigkeitsbezogener Flow« – Schallberger, 2006; s. auch 7 Abschn. 12.2.7). Das Modell beruflicher Gratifikationskrisen (Siegrist, 1996) beschreibt die Wahrnehmung eines Arbeitnehmenden, sich im Beruf zu verausgaben, aber keinen angemessenen Gegenwert dafür zu erhalten, was in der Folge zu Gesundheitsproblemen führt. Zahlreiche empirische Studien zeigen für mangelnde Handlungsspielräume und berufliche Gratifikationskrisen verschiedene psychische (z. B. Depression) und körperliche Krankheits-

. Tab. 12.3. Gesundheitsrelevante psychosoziale Belastungen und Ressourcen in der Arbeitswelt

Bereiche der Arbeitswelt

Ressourcen

Belastungen

Arbeitsaufgabe und -organisation

Entscheidungsspielräume, Kontrolle Mitsprachemöglichkeit Offene Kommunikation und Feedback Anforderungsvielfalt Möglichkeiten der Handlungsregulation

Quantitative oder qualitative Überforderung Quantitative oder qualitative Unterforderung

Arbeitszeit

Flexible, individualisierte Arbeitszeitmodelle Ausreichende Regenerationsphasen

Nacht- und Schichtarbeit Lange Arbeitszeiten Arbeit auf Abruf

Soziales Umfeld

Soziale Unterstützung Anerkennung der Leistungen

Konflikte mit Kollegen, Vorgesetzten oder Kunden Mobbing

Berufliche Statuskontrolle

Weiterbildungs- und Karrieremöglichkeiten

Arbeitsplatzunsicherheit Kurzarbeitsverträge

Verhältnis Berufs- und Privatleben

Work-Life-Balance

Zeitliche Unvereinbarkeit

12

238

Kapitel 12 · Gesundheit in Wirtschaft und Gesellschaft

folgen (z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen) auf. Ebenfalls in den Bereich der Belastungs-Ressourcen-Konzepte gehören die handlungsregulatorischen Modelle, welche Hindernisse und Ressourcen der Arbeitsumgebung betrachten, die der Zielerreichung des Arbeitnehmenden im Wege stehen oder sie unterstützen (Zapf & Semmer, 2004). Udris (2006) schlägt die Brücke zwischen der herkömmlichen Kategorisierung der arbeitsbezogenen Ressourcen und dem Salutogenesekonzept und ordnet sie neu hinsichtlich ihrer förderlichen Wirkung auf das Kohärenzgefühl (7 Abschn. 12.2.4): 4 Verstehbarkeit: Transparenz, Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten, Ganzheitlichkeit der Aufgaben 4 Bewältigbarkeit: Partizipationsmöglichkeiten, Tätigkeitsspielraum (Entscheidungs-, Kontroll- und Gestaltungsmöglichkeiten), Rückmeldung (Feedback), zeitliche Spielräume, Kooperationsmöglichkeiten, soziale Unterstützung 4 Sinnhaftigkeit: Abwechslung, Anforderungsvielfalt, Lernmöglichkeiten, Entwicklungsperspektiven, Sinnhaftigkeit der Arbeit Aus dieser Zuordnung lassen sich direkt Ansatzpunkte salutogener Arbeitsgestaltung ableiten, die Kernelemente des betrieblichen Gesundheitsmanagements darstellen. 12.4.2

Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM)

12 Die Arbeits-, Sozial- und Gesundheitswissenschaften haben in den letzten Jahren das betriebliche Gesundheitsmanagement als integrativen und interdisziplinären Interventionsansatz entwickelt, der auf dem dargestellten Konzept der Salutogenese aufbaut (ab 7 Abschn. 12.2.1) und die psychosozialen, individuellen und umweltbezogenen Gesundheitsdeterminanten am Arbeitsplatz positiv beeinflusst (Ulich & Wülser, 2004; Bauer & Schmid, 2006). Da diese Determinanten einen großen Anteil der gesundheitlichen Ungleichheit zwischen den beruflichen Positionen erklären können (z. B. Siegrist & Theorell, 2006), ist das BGM gleichermaßen von wirtschafts- wie gesellschaftspolitischer Relevanz.

Definition Betriebliches Gesundheitsmanagement ist die gesundheits- und betriebswirtschaftlich orientierte Überprüfung und Optimierung bestehender betrieblicher Strukturen und Prozesse, die direkt oder indirekt auf die Gesundheit der Mitarbeitenden wirken. Dabei ist der Einbezug und Dialog aller Personengruppen des Systems Unternehmen zentral.

Basierend auf dem Konzept der Salutogenese und von Belastungs-Ressourcen-Modellen (7 Abschn. 12.2 und 12.4) geht es konkret darum, in allen gesundheitsrelevanten Unternehmensbereichen vermeidbare Belastungen zu reduzieren und gezielt gesundheitliche Ressourcen zu fördern (vgl. auch Udris, 2007). Einbezug und Dialog aller Personengruppen sind einerseits wichtig, weil sich nur so zugrunde liegende Probleme identifizieren und systemtaugliche Lösungen erarbeiten lassen. Andererseits können die Beteiligten die mit BGM einhergehenden Änderungen dann besser mittragen und werden gleichzeitig für die selbständige Optimierung ihres Systems in der Zukunft befähigt. Schließlich lässt sich durch den breiten Einbezug der Belegschaft die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass auch die höher belasteten, weniger gebildeten Mitarbeitenden in ausführenden Positionen vom BGM profitieren (s. auch 7 Abschn. 12.3). Maßnahmenfelder des BGM Wie generell in der Gesundheitsförderung (7 Abschn. 12.3) setzt das BGM sowohl verhältnis- als auch verhaltensbezogene Maßnahmen ein. In der Beratungsarbeit hat es sich zudem bewährt, zusätzlich gesundheitsorientierte von arbeitsorientierten BGM-Maßnahmen zu unterscheiden (. Tab. 12.4): Gesundheitsorientierte BGM-Maßnahmen werden auch von Unternehmen selbst mit dem Thema Gesundheit assoziiert. Sie umfassen Kurse zu gesundheitsbezogenen Verhaltensweisen wie Bewegung oder Ernährung. Gleichzeitig sorgen sie für gesundheitsförderliche Verhältnisse wie z. B. rauchfreie Betriebe oder gesundes Kantinenessen, welche das gesunde Verhalten unterstützen. Ausserdem umfassen sie den Bereich der Ergonomie und der Arbeitssicherheit. Arbeitsorientierte BGM-Maßnahmen setzen an Arbeitsfaktoren an, welche gemäß der Forschung der Arbeits- und Organisationspsychologie (z. B. Ulich &

239 12.4 · Gesundheit im Unternehmen

. Tab. 12.4. Ansatzpunkte und Maßnahmenfelder des BGM

Verhalten (kompetente Person)

Verhältnisse (gesunde Organisation)

Gesundheitsorientierte BGM-Maßnahmen

Kurse: 4 Bewegung 4 Ernährung 4 Entspannung 4 Rauchen, Sucht 4 Copingstrategien (z. B. Umgang mit psychosozialen Anforderungen) 4 Ergonomisches Arbeiten 4 Arbeitssicherheit (z. B. Umgang mit physikalischen Risiken)

Rahmenbedingungen: 4 Betriebliches Fitnesscenter 4 Gesundes Kantinenessen 4 Ruheräume 4 Rauchfreies Unternehmen 4 Gesundheits-Leitbild-Regelungen 4 Ergonomische Gestaltung des Arbeitsplatzes/ der Arbeitsmittel 4 Arbeitssicherheit (z. B. bauliche Maßnahmen)

Arbeitsorientierte BGM-Maßnahmen

Personalentwicklung und -führung: 4 Führungsverhalten 4 Teamfähigkeit 4 Berufliche Qualifikation 4 Arbeitsmarktfähigkeit

Arbeitsgestaltung und -organisation: 4 Entscheidungsspielräume 4 Teamarbeit 4 Erweiterung der Arbeitsaufgaben 4 Arbeitsplatzsicherheit 4 Optimierung der Produktionsprozesse

Wülser, 2004) und Public Health (z. B. Badura & Hehlmann, 2003) ebenfalls einen starken Einfluss auf die Gesundheit haben, aber kaum von Unternehmen mit dem Thema Gesundheit in Zusammenhang gebracht werden. Dazu gehört die Kompetenzentwicklung durch Personalentwicklung und -führung sowie auf der Verhältnisseite die gesundheitsförderliche Arbeitsgestaltung und -organisation. Neben den gesundheitsförderlichen sowie primärund sekundärpräventiven Maßnahmen für die Gesamtbelegschaft umfasst BGM ebenso das tertiärpräventive Absenzen- und Casemanagement von bereits erkrankten Mitarbeitenden. Absenzenmanagement ist die systematische Bewirtschaftung von Absenzen auf Ebene der Führungseinheiten und der einzelnen Mitarbeitenden durch Auswertung von Absenzstatistiken und gezielte Intervention bei gehäuften Absenzen. Diese Interventionen umfassen Rückkehrgespräche mit betroffenen Mitarbeitenden, Führungsschulung der Vorgesetzten und ggf. Arbeitsgestaltungsmaßnahmen. Casemanagement setzt bei Langzeitabsenzen an und unterstützt die möglichst schnelle Reintegration am Arbeitsplatz, indem Casemanager die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit und die notwendige Anpassung der Arbeitsbedingungen koordinieren. Die mit BGM angestrebte Verbesserung bestehender Strukturen und Prozesse macht klar, dass Unternehmen mit BGM – neben der Verbesserung der Gesundheit –

durchaus auch betriebswirtschaftliche Effekte auf Ebene der Mitarbeitenden (z. B. verbesserte Motivation, Leistung, Innovationsbereitschaft) und auf Ebene des Betriebs (z. B. verbesserte Abläufe, Produktivität, Dienstleistungsqualität, Unternehmensimage) erzielen können. Dafür stehen Unternehmen heute verschiedenste Instrumente zur Verfügung. Umsetzung von BGM – Instrumente und Ablauf Mittlerweile befassen sich verschiedene öffentliche Institutionen mit dem BGM, so etwa das European Network for Worksite Health Promotion (ENWHP) mit seinen nationalen Kontaktstellen und Foren (www.enwhp.org), Krankenversicherungen (z. B. www.bkk.de) und Gesundheitsämter (Meggeneder, Pelster & Sochert, 2005). Für die Umsetzung von BGM gibt es eine Vielzahl von Einzelinstrumenten, die u. a. in der Toolbox des ENWHP zusammengestellt sind. Besonders entwickelt sind betriebliche Arbeitsanalyseverfahren (vgl. die Toolbox des Bundesamtes für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, www.baua.de) sowie darauf aufbauende Verfahren zur gesundheitsförderlichen Arbeits- und Organisationsgestaltung (Ulich & Wülser, 2004). Ein spezifisches, gut evaluiertes BGM-Instrument ist der betriebliche Gesundheitszirkel, welcher der partizipativen Problemanalyse und Maßnahmenplanung im Unternehmen dient. Um Unternehmen die Umsetzung eines systematischen BGM-Prozesses zu erleichtern, wurde ein von der

12

240

Kapitel 12 · Gesundheit in Wirtschaft und Gesellschaft

Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz finanziertes Instrumentarium mit Analyseinstrumenten, Leitfäden zur Umsetzung von BGM und Präsentationsmaterialien entwickelt, welches auf Deutsch (www.kmu-vital.ch), Französisch (www.pme-vital.ch) und Italienisch (www. pmi-vital.ch) kostenlos im Internet zur Verfügung steht (Bauer & Schmid, 2007). KMU-vital wurde von verschiedenen BGM-Fachinstitutionen mit 10 Pilotunternehmen zunächst für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) entwickelt, eignet sich aber auch für Großunternehmen, welche die Webseite zunehmend in Anspruch nehmen. Das Instrumentarium berücksichtigt die Prinzipien des ENWHP und operationalisiert die oben definierte BGM-Optimierungsstrategie. Das Programm besteht aus 10 aufeinander abgestimmten Modulen (. Abb. 12.7). Ein Einstiegsworkshop zeigt Ziele und Potenzial von BGM im konkreten Unternehmen auf. Veränderungsbedarf wird im Rah-

12

. Abb. 12.7. Programm und Module von KMU-vital (www.kmuvital.ch)

men einer Management- sowie einer Onlinemitarbeitendenbefragung erhoben. Führungskräfte und Mitarbeitende interpretieren gemeinsam die Ergebnisse im Rahmen eines Gesundheitszirkels, setzen Prioritäten, definieren unternehmensspezifische Ziele und planen konkrete Maßnahmen. Die Umsetzungsmodule umfassen die 3 Bereiche Gesundheitsverhalten, Personalentwicklung und Organisationsentwicklung. Ein übergeordneter Programmleitfaden beschreibt den Gesamtablauf und gibt Erfahrungstipps aus der Praxis. Die online verfügbaren Module können mit externer Unterstützung oder von Betrieben selbst umgesetzt werden, wofür zusätzlich eine 2-tägige Schulung angeboten wird. Verbreitung und Wirksamkeit von BGM Die Verbreitung von BGM wurde bisher v. a. für gesundheitsorientierte BGM-Maßnahmen untersucht, wobei sich je nach wirtschafts- und sozialpolitischem Kontext in verschiedenen Staaten große Unterschiede zeigen. So sind in den USA verhaltensbezogene BGM-Maßnahmen sehr verbreitet, da Firmen sich davon eine Prämienreduktion der von ihnen finanzierten Kollektivkrankenversicherungen ihrer Belegschaft versprechen. Diese umfassen primärpräventive Angebote wie Kurse zu Bewegung, Ernährung, Entspannung sowie sekundärpräventive Angebote wie Screeninguntersuchungen und betriebsnahe Behandlungsangebote etwa zu Bluthochdruck oder Übergewicht. Für solche gesundheitsorientierten, verhaltensbezogenen Maßnahmen zeigen amerikanische Studien einen »return of investment« (ROI) zwischen 1:2,3 und 1:5,9, d. h. für jeden eingesetzten Dollar werden zwischen 2,3 und 5,9 Dollar an Krankheitskosten eingespart (vgl. Kreis & Bödeker 2003). Für die Schweiz hat eine Studie gezeigt, dass gesundheitsorientierte, verhaltensbezogene Maßnahmen nur in 10-20% der Unternehmen vorkommen, während arbeitsorientierte BGM-Maßnahmen sich in ein bis zwei Drittel der Unternehmen finden (Bauer et al., 2002). Untersuchungen zeigen, dass Verbesserungen in gesundheitsrelevanten Bereichen wie dem Entscheidungsspielraum, sozialer Unterstützung, klar definierten Arbeitsrollen und positiven Herausforderungen allesamt mit positiven betriebswirtschaftlichen Effekten einhergehen, insbesondere der Reduktion von Fluktuation und Absenzen sowie Steigerung der Produktivität (Bond, Flaxman & Loivette, 2006; vgl. auch Fritz, 2006; Semmer & Zapf, 2004; Kreis & Bödeker, 2003).

241 12 · Literatur

12.5

Ausblick

Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit: Analog zu den Entwicklungen der positiven Psychologie untersucht die Gesundheitspsychologie das Thema zunehmend unter dem Blickwinkel des Wohlbefindens und der Handlungsfähigkeit. Da insbesondere psychosoziale Anforderungen in einer komplexen und dynamischen Gesellschaft unvermeidbar sind, legt die salutogenetische Perspektive den Fokus auf die Ressourcen, die es zur Bewältigung dieser Anforderungen braucht. In den letzten Jahren wurde u. a. das Konzept der Gesundheitskompetenz entwickelt, als Ausdruck für die gesundheitsbezogene Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit eines Menschen. Erste praktische Ansätze zur Förderung der Gesundheitskompetenz bestehen bereits; die weitere Entwicklung dieser Ansätze für unterschiedliche Zielgruppen und Kompetenzbereiche bleibt ein Gegenstand der gesundheitspolitischen Agenda und der Gesundheitsforschung. Die Gesundheit des Individuums entwickelt sich in kontinuierlicher Interaktion mit seiner Umwelt. Der Einfluss der Arbeitswelt auf die Gesundheit der Erwerbsbevölkerung ist ausreichend dokumentiert, und mit dem betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) ist ein konkreter Ansatz vorhanden, um diesen Einfluss zum Nutzen von Mitarbeitenden, Unternehmen und Gesellschaft zu optimieren. Hier müssen Forschung und Politik das gesundheitliche und wirtschaftliche Potenzial solcher Interventionen besser aufzeigen und Unternehmen für deren Einsatz gewinnen. Gesundheit und Wirtschaft stehen in einem intensiven Wechselspiel. Fehlende Gesundheit verursacht einerseits vermeidbare Kosten, andererseits treibt der Gesundheitsmarkt die Wirtschaftsentwicklung an. Zudem ist der Erhalt der Gesundheit und der Arbeitsfähigkeit bis zum Rentenalter Voraussetzung für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Für die Forschung und Gesellschaftspolitik stellt sich die Frage, wo das optimale Verhältnis von Investitionen in gesundheitsförderliche, präventive und kurative Maßnahmen liegt und ab wann der Grenznutzen von Gesundheitsinvestitionen so stark abnimmt, dass limitierte Ressourcen besser in anderen Gesellschaftsbereichen eingesetzt werden. In einer Zeit der Kommerzialisierung und Individualisierung von Gesundheit wird es künftig die zentrale Herausforderung sein, die Erhaltung der »Ressource Gesundheit« weiterhin als wichtige gesellschaftspolitische

Aufgabe zu sehen, was durch die Forschungsergebnisse zu den individuellen und umweltbezogenen Determinanten der Gesundheit (wie den Arbeitsbedingungen) und zur gesundheitlichen Ungleichheit zwischen den Bevölkerungsschichten auch wissenschaftlich legitimiert ist. Fazit Das vorliegende Kapitel hat unter dem psychologischen, auf das Erleben und Verhalten bezogenen Blickwinkel Gesundheit als individuelle und gesellschaftliche Ressource dargestellt. Die salutogenetische Perspektive beschreibt personale und soziale Ressourcen, welche die Gesundheit erhalten und fördern sowie Belastungen erfolgreich bewältigen helfen. Als Ressource wurde u. a. das neuere Konzept der Gesundheitskompetenz dargestellt, ebenso wurden verschiedene Modelle des Gesundheitsverhaltens vorgestellt. Über die individualpsychologische Perspektive hinaus hat das Kapitel den gesellschaftlichen Stellenwert der Gesundheit beschrieben, da dieser gesundheitsrelevante Entscheide in Wirtschaft und Gesellschaft beeinflusst. Als wichtiger Umweltfaktor wurde der Einfluss der Arbeitswelt auf die Gesundheit der Erwerbsbevölkerung dargelegt und gezeigt, wie sich mit dem betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) betriebliche Strukturen und Prozesse gezielt gesundheitsförderlich optimieren lassen.

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242

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Kapitel 12 · Gesundheit in Wirtschaft und Gesellschaft

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12

13 13

Work-Life-Balance Bettina S. Wiese

13.1

Was ist Work-Life-Balance?

13.2

Soziostrukturelle Hintergründe für den Stellenwert von »Work-Life-Balance« – 247

13.3

Psychologische Modellvorstellungen

13.3.1 13.3.2 13.3.3

Stress- und ressourcentheoretische Ansätze – 247 Tätigkeitsanalytische Ansätze – 248 Entwicklungs- und biografieorientierte Ansätze – 249

13.4

Positive und negative Aspekte des Zusammenspiels von Beruf und Familie – 251

13.4.1 13.4.2

Konflikte zwischen Beruf und Familie – 251 Positiver Transfer zwischen Beruf und Familie

13.5

Implikationen für die Praxis

13.5.1 13.5.2

Individuelle und partnerschaftliche Strategien der Balancierung verschiedener Lebensbereiche – 254 Gesetzgeberische und organisationale Regelungen – 256

13.6

Fazit und Ausblick Literatur

– 246

– 247

– 253

– 253

– 261

– 261

K. Moser (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie DOI 10.1007/978-3-540-71637-2_13, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007

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Kapitel 13 · Work-Life-Balance

> Was Work-Life-Balance mit Fußball zu tun hat … Im Sommer 2006 erreicht die Fußballbegeisterung der Deutschen im Rahmen der im eigenen Land stattfindenden Weltmeisterschaft einen Höhepunkt. Von den Medien zunächst skeptisch beurteilt – nicht nur wegen seiner Trainingsmethoden, sondern auch wegen seiner Entscheidung, in der Vorbereitungsphase auf die Meisterschaft regelmäßig zu seiner Familie in die USA zu fahren –, entwickelt sich der Nationaltrainer der deutschen Mannschaft, Jürgen Klinsmann, zum Liebling der Nation. Umso größer ist die Enttäuschung, als Klinsmann bekannt gibt, dass er nicht länger als Nationalmannschaftstrainer zur Verfügung stehen wird. Zu seiner Entscheidung, nach der WM 2006 nicht weiter als Trainer der deutschen Nationalmannschaft zu arbeiten befragt, erklärt Klinsmann in einem Interview mit der ZEIT (14.12.2006): »Oft habe ich in den letzten zwei Jahren, wenn ich zu Haus war, gedacht: Mensch, jetzt bist du bei deiner Familie, aber eigentlich im Kopf ganz woanders.« Und auch auf die folgende Frage weiß er eine klare Antwort. ZEIT: »Wären Sie noch deutscher Nationaltrainer, wenn es möglich gewesen wäre, die Nationalelf und Ihr Familienleben unter einen Hut zu bekommen?« Klinsmann: »Natürlich, dann hätte ich sofort weitergemacht (…)«

13.1

Was ist Work-Life-Balance?

7 Work-Life-Balance ist ein populärer, wenn auch unprä-

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ziser Begriff, der aus wissenschaftlicher Perspektive kein einheitliches Phänomen umfasst, sondern vielmehr ein ganzes Themengebiet, in dessen Vordergrund Fragen zur Beziehung und zum Zusammenspiel von Berufsund Privatleben stehen. Die »Work«-Komponente bezieht sich i. d. R. auf die Erwerbsarbeit, die »Life«-Komponente auf andere Lebensbereiche wie etwa Familie, Freundschaften, Gesundheitsverhalten, soziales und kulturelles Engagement etc., wobei hier in der empirischen Forschung schwerpunktmäßig das Zusammenwirken von Erwerbsarbeit auf der einen und Familie oder Gesundheits-/Erholungsverhalten auf der anderen Seite behandelt wird. Im Fokus des vorliegenden Beitrags steht die Frage nach dem Zusammenspiel von Berufs- und Familienleben (zum Gesundheitsverhalten 7 Kap. 12).

Der Begriff Work-Life-Balance ist genau genommen irreführend, da die Erwerbsarbeit Teil des Lebens und nicht ein dem Leben gegenübergestellter Bereich ist (Resch & Bamberg, 2005). Außerdem können auch Tätigkeiten außerhalb des Erwerbslebens durchaus Arbeit darstellen (z. B. Kindererziehung, Haus- und Gartenarbeit). Überdies sehen viele Menschen die eigene Erwerbstätigkeit nicht nur als ökonomische Notwendigkeit oder Belastung, sondern auch als Quelle für Selbstbestätigung und Selbstverwirklichung. Ein einfaches, im Laienverständnis nicht unübliches Denkmuster, nach dem Menschen den Ausgleich von einer anstrengenden Erwerbstätigkeit in der Ruhe und Erholung des Privatlebens suchen, wird der Wirklichkeit nicht vollends gerecht (vgl. Kastner, 2004). Tatsächlich lassen sich im Erwerbs- und im Privatleben sowohl negative als auch positive Erlebensqualitäten finden. Nach Kastner (2004) ist das Ziel oder Kriterium einer gelungenen Work-Life-Balance die Maximierung von Lebensqualität allgemein, als deren erlebter Ausdruck man das subjektive Wohlbefinden einer Person betrachten kann. Wie von Resch und Bamberg (2005) formuliert, ist dabei aus psychologischer Sicht eben nicht nur der Zustand der Balance zwischen Berufs- und Privatleben von Interesse, sondern wie diese Balance gestaltet wird. Bei diesem Gestaltungsprozess geht es neben der rein zeitlichen Balance v. a. darum, positive Erlebensqualitäten in den verschiedenen Lebensbereichen zu maximieren und negative Erlebensqualitäten zu minimieren, indem das Verhältnis zwischen Anforderungen und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten sowie zwischen Phasen der Anspannung und Erholung optimiert wird (Resch & Bamberg, 2005). Grundsätzlich kann sich die Balance oder Balancierung dabei sowohl auf eine kurzfristige Zeitperspektive, also auf das unmittelbare Alltagshandeln, als auch auf eine längere Zeitperspektive beziehen (vgl. Abele, 2005). Im Ergebnis wird also ein positiver Erlebenszustand angestrebt, der sich aus der Bedürfnis- und Erwartungserfüllung im beruflichen und privaten Bereich ergibt. Mit dem Begriff der Balance ist zugleich eine normative Vorstellung verbunden. Die Metapher der Waage impliziert, dass ein »gleichgewichtiges« Verhältnis von Berufs- und Privatleben anzustreben sei. Allerdings dürfte kaum eine »objektiv« richtige Relation zwischen ihnen existieren, vielmehr ist hier mit deutlichen soziokulturellen, aber auch interindividuellen Unterschieden (inkl. lebenslaufbezogener Veränderungen) zu rechnen.

247 13.3 · Psychologische Modellvorstellungen

13.2

Soziostrukturelle Hintergründe für den Stellenwert von »WorkLife-Balance«

Obgleich sich die psychologische Forschung schon länger damit beschäftigt, wie Berufs- und Privatleben zusammenwirken, scheint das Thema unter dem modernen Begriff »Work-Life-Balance« derzeit eine Renaissance und Ausweitung zu erleben (Resch & Bamberg, 2005). Wie lässt sich dieses wachsende Interesse erklären? Möglicherweise hängt dies mit wachsenden Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie zusammen. Für diese ließen sich eine Reihe von soziostrukturellen Gründen nennen, von denen hier nur einige erwähnt werden können. Es gehört dazu etwa das steigende Bildungsniveau sowie die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen und die dadurch wachsende Zahl nicht nur an Doppelverdienern, sondern auch an Paaren, bei denen sowohl der Mann als auch die Frau eine Karriere im engeren Sinn anstrebt. Weiterhin gehört zu den wichtigen strukturellen Rahmenbedingungen einer erschwerten Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben die zunehmende Instabilität von Paarbeziehungen und damit einhergehend der wachsende Anteil von Alleinerziehenden und Patchworkfamilien. Gerade Personen aus Doppelerwerbshaushalten und Alleinerziehende sind dabei i. d. R. in besonderem Maße auf institutionelle Kinderbetreuungsangebote angewiesen, die gerade für kleinere Kinder nicht immer in ausreichendem Umfang zur Verfügung stehen. Darüber hinaus relevant ist der für viele westliche Industrienationen charakteristische demografische Wandel, bei dem bei sinkender Geburtenrate und zugleich höherer Lebenserwartung immer weniger Erwerbstätige im jüngeren und mittleren Lebensalter für eine zunehmende Zahl pflegebedürftiger älterer Menschen verantwortlich sind. Schließlich erhöhen sich die Anforderungen an die Work-Life-Balancierung auch durch viele der unter dem Stichwort des Strukturwandels diskutierten Merkmale der modernen Arbeitswelt. Zu diesen zählen u. a. die zunehmende Zahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse, eine steigende Eigenverantwortung für die kontinuierliche Weiterqualifikation sowie generell für die berufliche Entwicklung und die eigenen Karrierechancen sowie hohe Anforderungen an die räumliche Mobilität (wodurch z. B. soziale Netzwerke wiederholt aufgebaut werden müssen; vgl. 7 Kap. 4).

13.3

Psychologische Modellvorstellungen

Nachfolgend werden grundlegende Konzepte und Modelle skizziert, auf die in der psychologischen Forschung zur Work-Life-Balance Bezug genommen wird, um die Relation von Erlebens- und Verhaltensprozessen im beruflichen und nichtberuflichen Bereich und deren Konsequenzen für die individuelle Leistungsfähigkeit und Befindlichkeit verstehen und erklären zu können. Diese lassen sich grob untergliedern in die vorwiegend stressund ressourcentheoretisch fundierten sowie tätigkeitsregulativen arbeitspsychologischen Ansätze auf der einen Seite und die biografieorientierten bzw. entwicklungsregulativen Ansätze auf der anderen Seite. 13.3.1

Stress- und ressourcentheoretische Ansätze

Gegenwärtig dominieren Konzepte, die in der stressund ressourcentheoretischen Tradition stehen. Dazu zählt etwa die Rollenstressperspektive, die im Rahmen der Diskussion um die Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie u. a. von Greenhaus und Beutell (1985) vertreten wird (7 Abschn. 13.4.1). Neben dieser Position, dass eine hohe Zahl von Rollen die Wahrscheinlichkeit von Konflikten und von vermindertem Wohlbefinden erhöht (z. B. Goode, 1960), gibt es in der soziologischen Rollenforschung aber auch die Sichtweise, dass Personen von multiplen Rollen profitieren können, da die Teilhabe an unterschiedlichen Umwelten mit Ressourcengewinnen verbunden sei sowie Impulse für die eigene Entwicklung gebe (z. B. Sieber, 1974). In der sozialpsychologischen Selbstkonzeptforschung fanden sich schließlich Hinweise darauf, dass eine größere Zahl von Rollen und ihre Repräsentation im individuellen Selbstkonzept Positivwirkungen in erster Linie dann entfalten, wenn Menschen in einzelnen Lebensbereichen Negativerfahrungen zu verarbeiten haben (z. B. Linville, 1987). Ideen zu kompensatorischen Effekten bzw. Positiveffekten multipler Rollen werden auch unter den Begriff des Role Enhancements subsumiert. In der aktuellen Work-Life-Balance-Forschung werden Positiveffekte unter Termini wie »positiver Spillover« bzw. 7 »positiver Transfer« diskutiert (7 Abschn. 13.4.2). Ein weiterer wichtiger Ansatz ist das aus der arbeitspsychologischen Beanspruchungsforschung stammende

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248

Kapitel 13 · Work-Life-Balance

»Effort-Recovery-Modell« (Mejman & Mulder, 1998), demzufolge sowohl die Qualität als auch die Quantität von Erholung eine zentrale Rolle im Belastungs-Beanspruchungs-Prozess spielen. Gibt es nicht genug Möglichkeiten zur Erholung von der Erwerbsarbeit, z. B., weil eine Person neben der Berufstätigkeit auch noch Hausarbeit zu erledigen hat und sich in der Kindererziehung engagieren muss, kann sich das psychophysische System ggf. nicht hinreichend restabilisieren. Dies führt zu suboptimalen Leistungsvoraussetzungen, da nun zur Aufgabenerfüllung die Anstrengungen verstärkt werden müssen. Daraus resultiert ein erhöhtes Erholungsbedürfnis, das, falls es nicht erfüllt wird, längerfristig in einen chronischen Erschöpfungszustand münden kann. Daneben werden in der Literatur aber auch sog. »Driftprozesse« diskutiert (vgl. Zapf, Dormann & Frese, 1996): Es wird argumentiert, dass Personen mit eher schlechtem Gesundheitszustand oder einer chronisch negativen Grundstimmung überzufällig häufig Arbeitsplätze mit ungünstiger Ressourcenlage (z. B. geringen Handlungsspielräumen) haben. An solchen Arbeitsplätzen werden Mitarbeiter/innen häufig stark negativ beansprucht. Diese insgesamt ungünstige arbeitsplatzbezogene und individuelle Ressourcenlage sowie die damit verbundene Beanspruchung kann möglicherweise ebenfalls zur Genese von Work-Life-Ungleichgewichten beitragen. 13.3.2

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bringen (z. B. Hoff, Grote, Dettmer, Hohner & Olos, 2005; Sellach, Enders-Dragässer & Libuda-Köster, 2006). Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass die reine Zeitbudgeterhebung die Frage nach der Zufriedenheit mit den jeweiligen Aktivitäten und ihrer Gewichtung zunächst offen lässt (7 Beispiel). Beispiel

Wie die Auswertungen der Zeitbudgeterhebung 2001/2002 des Statistischen Bundesamtes in Deutschland, in welche die Tagebuchaufzeichnungen von rund 17.500 Personentagen eingingen, zeigen, finden etwa die Hälfte der Männer und Frauen ihre Zeitaufwendungen für Beruf und Haushalt passend und sind mit dem jeweiligen Arrangement zufrieden (Sellach, Enders-Dragässer & Libuda-Köster, 2006). Unzufriedenheiten sind bei den Frauen etwas ausgeprägter als bei den Männern. Laut den Angaben der Studie des Statistischen Bundesamtes lässt sich dies vorwiegend darauf zurückführen, dass mehr Frauen als Männer mit ihrer eigenen Zeitaufwendung für den Bereich der Hausarbeit unzufrieden sind. Zugleich möchten aber offensichtlich nur wenige Frauen mehr Zeit für den Beruf aufwenden als bisher, denn lediglich 16,6% geben an, dass sie den Umfang ihrer derzeitigen Zeitverwendung für den Beruf für zu gering halten, während immerhin 30,9% angeben, ihr beruflicher Zeitaufwand sei zu hoch.

Tätigkeitsanalytische Ansätze

In den tätigkeitsorientierten Ansätzen geht es zum einen um Zeitbudgetanalysen, zum anderen um die Analyse der objektiven und subjektiven Qualität von Tätigkeiten. In der Zeitbudgetforschung wird herausgearbeitet, wie viel Zeit Personen innerhalb eines festgelegten Zeitraums (z. B. Tag, Woche etc.) für bestimmte Tätigkeiten aufwenden. Die im Alltag realisierte Work-Life-Balance kann so in einer ersten Näherung durch eine Erhebung des prozentualen Zeitbudgets für verschiedene Lebensbereiche erfasst werden. Ein wichtiger Befund ist dabei die nach wie vor geschlechterspezifische Verteilung von Erwerbs- bzw. familienbezogener Arbeit: Männer verwenden im Vergleich zu Frauen mehr Zeit auf die Erwerbsarbeit, während Frauen im Vergleich zu Männern mehr Zeit mit Tätigkeiten in Haushalt und Familie ver-

Konzepte der Work-Life-Balance, die auf die inhaltlichen Qualitäten von Tätigkeiten fokussieren, werden beispielsweise von Kastner (2004) und Resch (z. B. Fenzl & Resch, 2005) vertreten. Kastner (2004) schlägt vor, zwischen investiven Tätigkeiten und konsumtiven Tätigkeiten, zwischen sinnvoll und sinnlos erlebten Tätigkeiten und schließlich zwischen als motivierend und demotivierend empfundenen Tätigkeiten zu unterscheiden. Aus seiner Sicht geht es bei der Work-Life-Balancierung »… um den ›gesunden‹ Ausgleich von investiven und konsumtiven Tätigkeiten, die sich im Idealfall beide im Bereich des lust- und sinnvollen, freiwilligen Handelns bewegen« (Kastner, 2004, S. 8). Auch Resch vertritt eine tätigkeitspsychologische Position. Aus ihrer Sicht setzt die Beantwortung der Frage, wie Menschen ihr Handeln in unterschiedlichen Lebensbereichen koordinieren, eine differenzierte Analyse

249 13.3 · Psychologische Modellvorstellungen

der konkreten Alltagstätigkeiten voraus. Nach Fenzl und Resch (2005) ergibt sich die Koordinierbarkeit im Wesentlichen aus 3 Tätigkeitsmerkmalen: 4 Erhaltungsrelevanz, 4 zeitliche Gebundenheit und 4 Eigendynamik. Erhaltensrelevante Tätigkeiten sind solche, die innerhalb der Handlungsorganisation einer Person Voraussetzungen (z. B. materieller Art) für das zukünftige Handeln schaffen. Je erhaltensrelevanter eine Tätigkeit ist, desto weniger verzichtbar ist sie. Die zeitliche Gebundenheit betrifft das Ausmaß der zeitlichen Auswahlmöglichkeiten für die Handlungsausführung. Besondere Bedeutung für die Koordinierbarkeit hat außerdem die Eigendynamik von Ausführungsbedingungen. Je weniger ein Mensch über die zukünftigen Realisierungsmöglichkeiten der Handlungsdurchführung weiß, desto größer die Eigendynamik. Obwohl erprobte Methoden der Tätigkeitsanalyse vorliegen (Fenzl & Resch, 2005), welche die entsprechende Beschreibung des individuellen Tätigkeitssystems erlauben, fehlt es bisher an Studien, die eine Aussage darüber zuließen, ob ein als schlecht koordinierbar klassifiziertes Tätigkeitssystem in der Konsequenz tatsächlich als beanspruchender erlebt wird als ein besser koordinierbares System. 13.3.3

Entwicklungs- und biografieorientierte Ansätze

In entwicklungs- bzw. biografieorientierten Ansätzen geht es weniger um die unmittelbare tätigkeitsbezogene Balancierung als vielmehr um die mittel- und längerfristige Balancierung verschiedener Lebensbereiche. Diese lässt sich sowohl innerhalb eines zukunftsorientierten zielbezogenen Paradigmas konzeptualisieren als auch in der Rückschau, also in der Bilanzierung des eigenen Lebens bzw. einzelner Lebensphasen. Aus der lebensspannenpsychologischen Perspektive stellt sich hier die Frage, wie die verschiedenen Lebensbereiche in der eigenen Lebensplanung subjektiv gewichtet werden und ob sich gewünschte Formen der Lebensgestaltung, gerade vor dem Hintergrund der jeweils gegebenen soziostrukturellen Rahmenbedingungen (7 Abschn. 13.2), auch tatsächlich realisieren lassen (Wiese & Freund, 2000). Aus einer sozionormativen Perspektive sind persönliches Engagement und erfolgreiche Entwicklungspro-

zesse in beiden Bereichen, Beruf und Familie, wünschenswert (vgl. Heckhausen, 1999). Betrachtet man nun die Zukunftspläne junger Erwachsener, so steht tatsächlich neben dem Wunsch nach einer erfolgreichen und zufriedenstellenden Berufstätigkeit ein ausgefülltes Privatleben, speziell eine stabile Partnerschaft und die Gründung einer eigenen Familie, an der Spitze persönlicher Ziele (Wiese & Freund, 2000). Insgesamt scheint ein balanciertes Engagement in beiden Lebensbereichen ein Ideal darzustellen. Viele Menschen wünschen sich eine gelungene Integration von Berufs- und Familienzielen, ohne die Notwendigkeit stärkerer Abstriche in einem der beiden Lebensbereiche (z. B. Hoff et al., 2005). Auch eine Studie von Salmela-Aro und Wiese (2006), in der den Studienteilnehmer/innen Beschreibungen fiktiver Personen und ihrer Lebenssituation vorgelegt wurden, spricht für das Ideal der Gleichgewichtigkeit: Menschen, die ebenso viele berufliche wie familiäre Ziele angaben, wurde von anderen Personen eine größere Lebenszufriedenheit zugeschrieben als solchen, die entweder ausschließlich von beruflichen oder ausschließlich von familiären Projekten berichteten. Allerdings wird die Realisierung einer balancierten Lebensführung nicht selten auf die Zukunft verschoben. In einer Studie von Wiese (2000) mit noch kinderlosen Frauen und Männern gab zwar rund die Hälfte an, ihnen seien ihre beruflichen Ziele gleichermaßen wichtig wie ihre familienbezogenen, doch immerhin rund einem Drittel war aktuell der berufliche Bereich wichtiger. Nach der Zukunft gefragt, gaben über 70% an, sich dann gleichermaßen beiden Bereichen widmen zu wollen. Von geplanten Prioritätenverschiebungen berichten auch andere Autoren: In einer qualitativen Interviewstudie mit hochqualifizierten bis zum Untersuchungszeitpunkt kinderlosen Akademikern, die regelmäßig mehr als 50 Stunden in der Woche arbeiteten, zeigten Roth und Zakrzewski (2006), dass diese eine Priorisierung von Partnerschaft und Familie planten. Obwohl diese Personengruppe alles in allem mit ihrer gegenwärtigen beruflichen Situation durchaus zufrieden war, bestand also für die Zukunft doch der Wunsch nach mehr Raum für das Privatleben. Da individuelle Ressourcen begrenzt sind, wird auch aus lebensspannenpsychologischer Sicht betont, dass es adaptiv sei, diese Ressourcen zu fokussieren, z. B. durch zeitweise Prioritätensetzungen (Baltes & Baltes, 1990). Der immer spätere Übergang zur Elternschaft kann dabei durchaus als individueller und sozial tolerierter Be-

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Kapitel 13 · Work-Life-Balance

wältigungsversuch betrachtet werden. Ob sich dann tatsächlich eine gleichgewichtige Lebensführung realisieren lässt, ist jedoch keineswegs sicher. So sind der Strategie der zeitlichen Verschiebung der Elternschaft v. a. auf Seiten der Frauen durch ihre Fertilität Grenzen gesetzt. Auch dürfte manche Führungskraft, wenn sie die angestrebte Position erreicht hat, realisieren, dass diese mit neuen Verantwortlichkeiten sowie Aufgaben einhergeht und so möglicherweise weniger denn je Zeit für das Privatleben bleibt. Auch in der Rückschau, beispielsweise bei der Bewertung beruflicher Erfolge, scheint die gleichzeitige Einschätzung privater Entwicklungsprozesse nicht unerheblich zu sein. In einer Dreijahreslängsschnittstudie zur beruflichen Entwicklung jüngerer Erwachsener zeigte sich, dass berufliche Erfolge das individuelle Wohlbefinden umso stärker vorhersagten, je weniger die Studienteilnehmer im gleichen Zeitraum den Eindruck hatten, im partnerschaftlich-familiären Bereich ihren Zielen näher gekommen zu sein (Wiese & Freund, 2005). Mit anderen Worten: Wenn Personen den Eindruck haben, dass es im partnerschaftlich-familiären Bereich weniger nach ihren Vorstellungen läuft als gehofft, kommt dem beruflichen Bereich eine umso stärkere wohlbefindensfördernde Funktion zu.

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Soziodemografische Einflüsse auf die geplante und realisierte Work-Life-Balance Besonders eindrücklich weist die Forschung auf einige charakteristische Geschlechterunterschiede in längerfristigen Balancierungsprozessen hin. Zwar halten Männer und Frauen beide Lebensbereiche mehrheitlich für gleich wichtig, und es finden sich bei gleicher Qualifikation in jüngeren Untersuchungen i. d. R. kaum Unterschiede in den Inhalten beruflicher Ziele, doch bringen Frauen bei ihren Zukunftsplänen den Wunsch nach der Realisierung einer Work-Life-Balance stärker zum Ausdruck (Stief, 2001). Wie Abele (2005) für Akademiker zeigte, bevorzugen Männer mit Blick auf ein Leben mit Kindern nach wie vor das traditionelle Ernährermodell, während Frauen die Variante der Eineinhalb-VerdienerFamilie (Frau Teilzeit, Mann Vollzeit) favorisieren. Trotz dieser von vielen Frauen bereits vor der Familiengründung formulierten Pläne zu einem geringen Erwerbsumfang nach dem Übergang zur Elternschaft, erleben viele Frauen nach der Geburt ihrer Kinder deutliche Diskrepanzen zwischen Wunsch und Realität: Die ursprünglichen Wunschvorstellungen zur Kleinkindbe-

treuung und die spätere tatsächliche Betreuungssituation stimmten bei immerhin 44% der Mütter nicht überein. Auffällig viele Frauen waren entgegen ihrer Planung mit den Kindern zu Hause, statt berufstätig zu sein. Bei den Männern waren Diskrepanzen, sofern sie überhaupt auftraten, eher derart, dass sie in der Lebenssituation mit kleinen Kindern mehr arbeiteten, als sie es sich ursprünglich gewünscht hatten. Auch die biografischen Befunde von Hoff et al. (2005) lassen Geschlechterunterschiede erkennen. Frauen scheinen zu einer stärkeren Kontextualisierung beruflicher Ziele zu neigen, also zur Berücksichtigung der Konsequenzen beruflicher Zielverfolgung und -erreichung für andere Lebenssphären und Personen. Aus ihren quantitativen und qualitativen Analysen haben die Autoren 3 Formen der Lebensgestaltung abgeleitet: eine segmentierende, eine integrierende und eine entgrenzte Form. Segmentation beschreibt eine Lebensgestaltung, bei der Ziele in den beiden Lebensbereichen unabhängig voneinander entworfen und verfolgt werden. Werden Anforderungen in beiden Lebensbereichen im Alltag, aber auch im Rahmen biografischer Weichenstellungen aufeinander bezogen, sprechen Hoff et al. (2005) von Integration. Entgrenzung ist eine eher seltene Form der Lebensgestaltung, bei der das Privatleben komplett hinter das Berufsleben zurücktritt bzw. ausschließlich durch dieses bestimmt wird (z. B. Sozialkontakte nur mit Kollegen). Insgesamt zeigen die Befunde von Hoff et al. (2005), dass Frauen die Lebenssphären Beruf und Familie häufiger integrieren und ausbalancieren, während Männer häufiger segmentieren und dem Beruf gegenüber dem Familienleben Priorität einräumen. Dies scheint sowohl für die biografische Lebensgestaltung als auch für die alltägliche Zeitbudgetierung zu gelten (7 Abschn. 13.3.2). Die Befunde von Hoff et al. (2005) zeigen weiterhin, dass Frauen häufiger als Männern davon berichten, sowohl im beruflichen als auch im familiären Lebensbereich Abstriche gemacht zu haben. Gerade solche Diskrepanzen verdeutlichen, dass es sich lohnt, genauer zwischen individuellen Vorstellungen und Leitbildern auf der einen Seite und Formen des Gleichgewichts bzw. Ungleichgewichts auf der Handlungsebene bzw. der Ebene der tatsächlich realisierten Lebensgestaltung auf der anderen Seite zu unterscheiden (vgl. Hoff et al., 2005). Doch nicht nur für jüngere, sondern auch für ältere Erwerbstätige stellen sich Fragen nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Zwar scheint auf den ersten Blick

251 13.4 · Positive und negative Aspekte des Zusammenspiels von Beruf und Familie

das Konfliktpotenzial besonders hoch, solange die eigenen Kinder noch klein sind, doch ist zu bedenken, dass im höheren Erwerbstätigenalter ggf. noch familiäre Anforderungen hinzukommen, insbesondere die Verantwortung für pflegebedürftige ältere Angehörige (z. B. Kossek, Colquitt & Noe, 2001; Stephens, Franks & Atienza, 1997). 13.4

Positive und negative Aspekte des Zusammenspiels von Beruf und Familie

Insgesamt dominiert in der empirischen Forschung der Fokus auf Probleme der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Dabei sind aber durchaus auch positive Transfereffekte möglich. Deshalb werden in den folgenden Abschnitten sowohl Überlegungen und Befunde zu Formen des Konflikterlebens als auch zu den positiven Aspekten des Zusammenspiels von Beruf und Familie präsentiert. 13.4.1

Konflikte zwischen Beruf und Familie

Die meistverwendete Definition von Konflikten zwischen Berufs- und Familienleben stammt von Greenhaus und Beutell (1985) und steht in der rollenstresstheoretischen Tradition. Danach bezeichnen Konflikte zwischen Beruf und Familie die Erfahrung, dass die Rollenerfüllung in einem Bereich durch die gleichzeitige Rollenerfüllung im anderen Lebensbereich erschwert wird. Konfliktklassifikationen Mittlerweile hat sich in der Literatur v. a. die Unterscheidung von Konflikten nach ihrer jeweiligen Wirkrichtung durchgesetzt (Frone, Yardley & Markel, 1997): a) Störungen des Familienlebens durch berufliche Anforderungen (7 Beruf-Familie-Konflikte; B-F-Konflikte) und b) Konflikte, bei denen partnerschaftlich-familiäre Anforderungen sich beeinträchtigend auf den beruflichen Bereich auswirken (7 Familie-Beruf-Konflikte; F-B-Konflikte). Darüber hinaus haben Greenhaus und Beutell (1985) eine Typologie des Konflikterlebens eingeführt, die auf den postulierten Ursachen basiert, nämlich

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zeitbasierte Konflikte (d. h. die Zeitanforderungen in einem Lebensbereich machen es schwer, den Anforderungen in dem anderen Bereich gerecht zu werden), beanspruchungsbasierte Konflikte (d. h. die psychische Beanspruchung in einem Lebensbereich macht es schwer, den Anforderungen in dem anderen Lebensbereich gerecht zu werden) und verhaltensbasierte Konflikte (d. h. inkompatible Verhaltensanforderungen in den Lebensbereichen: z. B. rational-kühles vs. warmherzig-empathisches Verhalten).

Befunde zu den Ursachen und Konsequenzen des Konflikterlebens Bisher wurden verhaltensbasierte Konflikte nur selten untersucht (z. B. Carlson, 1999), wohingegen sich eine Reihe von Studien zeitbasierten und beanspruchungsbasierten Konflikten widmen. Diese Studien untermauern die vermuteten positiven Beziehungen von zeitlichem Involvement bzw. erlebter psychischer Beanspruchung und Konflikten zwischen Beruf und Familie. Während die B-F-Konflikte v. a. mit beruflichem Engagement und Beanspruchungserleben positiv korreliert sind, scheinen für F-B-Konflikte eher das familienbezogene Engagement und Beanspruchungserleben relevant zu sein (z. B. Frone, Yardley & Markel, 1997; Carlson & Frone, 2003; Wiese, 2004a). Bemerkenswerterweise gibt es Hinweise darauf, dass Indikatoren der psychischen Beanspruchung für das Konflikterleben bedeutsamer sind als das reine Zeitinvestment. So ist für sich genommen das Arbeitspensum zwar deutlich mit dem Konflikterleben verbunden (Major, Klein & Ehrhart, 2002), bei gleichzeitiger Berücksichtigung der subjektiven Beanspruchung spielt aber Letztere die entscheidende Rolle (Wiese, 2004a). Beanspruchung und Erschöpfung sind aber nicht nur Vorläufer von Konflikterleben, sondern ggf. auch dessen Ergebnis. So haben Demerouti, Bakker und Bulters (2004) im Rahmen einer Studie mit 3 Messzeitpunkten (jeweils im Abstand von 6 Wochen) gezeigt, dass reziproke Beziehungen zwischen dem Beruf-FamilieKonflikt-Erleben und dem subjektiven Arbeitsdruck bzw. Erschöpfungszuständen bestehen, die zu einer Akkumulation von Beanspruchung führen können. Die empirische Befundlage zum Erleben von Konflikten zwischen Beruf und Familie und seiner Beziehung zu Indikatoren des subjektiven Wohlbefindens ist

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Kapitel 13 · Work-Life-Balance

mittlerweile sehr umfangreich. Bereits im Jahr 1998 haben Kossek und Ozeki etwa zu der Frage der Befindlichkeitskorrelate des Konflikterlebens eine Metaanalyse publiziert, in der sich durchgängig negative Beziehungen zwischen Konflikterleben (B-F oder F-B) und der allgemeinen Lebenszufriedenheit sowie der Arbeitszufriedenheit zeigten. Ebenso geht das Konflikterleben mit verminderter Partnerschafts- bzw. Familienzufriedenheit einher (Wiese, 2004a; Aryee, Field & Luk, 1999). Mittlerweile liegen auch längsschnittliche Befunde vor, wobei sich größtenteils die erwarteten negativen Beziehungen zum Wohlbefinden bestätigten (Grant-Vallone & Donaldson, 2001; Frone et al., 1997). Eine Studie zu emotionalen Korrelaten des Konflikterlebens zeigte außerdem, dass Konflikte längsschnittlich nicht mit positiven, sondern nur mit negativen Emotionen assoziiert sind. Dies spricht dafür, dass die Abwesenheit von Konflikten allenfalls eine notwendige, aber nicht unbedingt eine hinreichende Bedingung für positive Befindlichkeit ist (Wiese, 2004a). Für diese scheint nicht das Ausbleiben negativer Erlebnisse (keine Konflikte), sondern das Auftreten positiver Geschehnisse entscheidend. Diese können auch selbstinitiiert sein, etwa durch die erfolgreiche Verfolgung persönlich gesetzter Ziele im beruflichen und privaten Bereich (Wiese, 2004a). Besondere Aufmerksamkeit haben darüber hinaus in letzter Zeit die Negativeinflüsse des Konflikterlebens auf den Gesundheitsstatus erfahren (z. B. Grzywacz, 2000; Hammer, Saksvik, Nytrø, Torvath & Bayazit, 2004). Mit Blick auf den Arbeitskontext zeigen Studien negative Zusammenhänge zwischen Konflikterleben und dem organisationalen Commitment sowie positive Beziehungen zu Fehlzeiten und Fluktuation (vgl. Allen, Herst, Bruck & Sutton, 2000). Hinsichtlich soziodemografischer Einflussfaktoren hat Pleck (1977) schon in den 1970er Jahren die These der geschlechtsspezifisch asymmetrisch permeablen Grenzen aufgestellt. Er postulierte, dass Frauen stärker als Männer Konflikte erleben, bei denen sich Anforderungen des Familienlebens negativ auf Anforderungen des Arbeitslebens auswirken (F-B), während Männer häufiger erfahren, dass Anforderungen des Arbeitslebens das Familienleben negativ beeinflussen (BF). Diese These ließ sich nicht durchgängig bestätigen (vgl. Wiese & Freund, 2000). Eine Reihe von Befunden spricht allerdings dafür, dass sowohl Frauen als auch Männer stärkere B-F-Konflikte als F-B-Konflikte erleben (Wiese, 2004a; vgl. auch Wiese, 2000). Sofern überhaupt Geschlechterunterschiede bestehen, sind es die

Frauen, die von stärkeren Konflikten berichten (vgl. Wiese & Freund, 2000). Interessanterweise ist auch die Befundlage hinsichtlich der Prädiktionskraft der Elternschaft gemischt: Nicht immer erleben Eltern stärkere Konflikte zwischen Berufs- und Familienleben als Kinderlose (vgl. Wiese & Freund, 2000). Offensichtlich ist heutzutage auch für Kinderlose die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben eine Herausforderung. Allerdings könnte die nicht selten fehlende Evidenz für Unterschiede zwischen Eltern und Kinderlosen auch Ausdruck von bereits vollzogenen Anpassungen an die Familiensituation sein. Mit anderen Worten, Eltern haben ggf. schon Strategien entwickelt, die ihnen helfen, mit höheren familiären Anforderungen umzugehen, oder sie wählen in der Beurteilung des Konflikterlebens andere soziale Vergleichsgrößen (Vergleich mit anderen Eltern statt mit Kinderlosen). Um dies genauer zu analysieren, sind Daten notwendig, die den Übergang zur Elternschaft und ggf. die Wiedereinstiegsphase ins Berufsleben abbilden. In jüngerer Zeit wurden auch möglichen Altersunterschieden beim Konflikterleben zwischen Beruf und Familie Aufmerksamkeit geschenkt. Während keine linearen Zusammenhänge zwischen Konflikterleben und Alter gefunden wurden (z. B. Thompson & Prottas, 2005; Wiese, 2004b), liefern Grzywacz, Almeida und McDonald (2002) erste Hinweise auf eine kurvilineare Beziehung: Das Konfliktniveau steigt demnach zunächst vom jüngeren zum mittleren Erwachsenenalter an – mit einem Höchststand im Altersbereich zwischen 35 und Mitte 45 – und sinkt dann wieder ab. Mit den Zusammenhängen zwischen überdauernden Persönlichkeitsmerkmalen und Konflikterleben haben sich Grzywacz und Marks (2000) sowie Wayne, Musisca und Fleeson (2004) befasst. Sie berichten eine durchgängig positive Beziehung zwischen Neurotizismus und Konflikterleben. Extraversion und Gewissenhaftigkeit scheinen sich hingegen eher konfliktmindernd auszuwirken. Insbesondere die negative Beziehung zur Gewissenhaftigkeit ist dabei z. T. auch überraschend, da gewissenhafte Personen ja dazu neigen könnten, ein besonders starkes Engagement in beiden Lebensbereichen zu zeigen, was die Wahrscheinlichkeit für Zeitkollisionen erhöhen sollte. Wayne et al. (2003) vermuten jedoch, dass gewissenhafte Menschen zugleich in der Lage sind, Anforderungen besonders effizient zu bewältigen. Zusammenfassend verweisen die Arbeiten zum Konflikterleben auf vielfältige negative Konsequenzen

253 13.5 · Implikationen für die Praxis

sowohl im Bereich des allgemeinen als auch beispielsweise im Bereich des beruflichen Wohlbefindens. Ein zentraler Prädiktor scheint dabei das jeweils bereichsspezifische Beanspruchungserleben zu sein, dessen Reduktion somit auch einen ersten wichtigen Ansatzpunkt für Strategien einer verbesserten Vereinbarkeit von Beruf und Familie darstellt (7 Abschn. 13.5). 13.4.2

Positiver Transfer zwischen Beruf und Familie

Ganz allgemein lässt sich positiver Transfer (synonym: positiver Spillover oder engl. »facilitation«) als das Ausmaß definieren, in dem die Teilhabe an und das positive Erleben in einem Lebensbereich (z. B. Berufsarbeit) durch die Fähigkeiten und Erfahrungen erleichtert wird, die sich aus der Teilhabe an einem anderen Lebensbereich (z. B. Familie) ergeben (Grzywacz & Marks, 2000). Zwar haben einzelne Autoren immer wieder auf mögliche Positivbeziehungen zwischen Beruf und Familie hingewiesen (z. B. Crouter, 1984; Lambert, 1990), die Forschung dazu hat aber gerade in letzter Zeit deutlich zugenommen. Konflikterleben und positive Transfererfahrungen weisen dabei bemerkenswerterweise entweder keine oder allenfalls niedrige bis moderat negative Zusammenhänge auf (Grzywacz & Marks, 2000). Die Befundlage zur Prädiktionskraft soziodemografischer Merkmale ist gemischt. Zum Beispiel finden Thompson und Prottas (2005) keine Geschlechtsunterschiede, während bei Grzywacz und Marks (2000) Frauen einen stärkeren positiven Transfer vom Berufsleben auf den familiären Bereich angeben als Männer. Analog fanden Hoff et al. (2005), dass Frauen auch bei der rückblickenden Bilanzierung etwas häufiger als Männer einen positiven Einfluss des Berufs- auf das Privatleben erinnerten. Heterogen ist auch die bisherige Befundlage zu Zusammenhängen mit dem Lebensalter (keine Zusammenhänge: Thompson & Prottas, 2005; positive Korrelation: Grzywacz et al., 2000). Hinsichtlich überdauernder Persönlichkeitseigenschaften zeigt sich eine durchgängig positive Beziehung zur Extraversion sowie teilweise eine negative Beziehung zwischen Neurotizismus und positivem Spillover (Grzywacz & Marks, 2000; Wayne et al., 2004). Möglicherweise richten Personen mit hoher Extraversionsneigung ihre Aufmerk-

samkeit generell stärker auf Positivaspekte des Alltags(er)lebens, somit auch auf positive Transferprozesse, während für Personen mit hoher Neurotizismusneigung das Gegenteil zutrifft. Quer- und längsschnittliche Studien verweisen außerdem auf gesundheits- und wohlbefindensfördernde Auswirkungen des positiven Spillovers (z. B. Hammer, Cullen, Neal, Sinclair & Shafiro, 2005; Thompson & Prottas, 2005). Bisher erscheint das Konzept des positiven Transfers allerdings als inhaltlich noch etwas undifferenziert. Hier ließe sich beispielsweise zwischen dem Transfer von positiven Stimmungen und dem Transfer von Kompetenzen unterscheiden. Gerade mit Blick auf den Transfer von Kompetenzen wäre es interessant zu wissen, welche Fähigkeiten (z. B. soziale, organisatorische) in einem der Lebensbereiche erworben und dann auf den anderen Lebensbereich übertragen werden. Eine weitere Ebene der Untersuchung positiver Transferprozesse stellen die Beziehungen von beruflichen und familiären Zielen dar. Auch hier gibt es vermutlich nicht nur konfligierende Zielrelationen: Ein Mann, der z. B. beruflich das Ziel hat, Karriere zu machen, und privat v. a. eine glückliche Partnerschaft führen möchte, könnte etwa erleben, dass diese Ziele sich behindern, weil das Karrierestreben nicht genügend Zeit für die Partnerschaft lässt. Er könnte aber auch – und ggf. sogar gleichzeitig – erleben, dass die Ziele einander unterstützen, falls es nämlich der Partnerin besonders gut gefällt, einen erfolgreichen Mann an ihrer Seite zu haben. Insgesamt zeigen die ersten vorliegenden Studien zum positiven Transfer, dass es sich lohnt, diese Positivfacette des Zusammenspiels stärker mit zu berücksichtigen. Positiver Transfer ist offenbar ein vom Konflikterleben abgrenzbarer eigener Bereich der Erfahrungen, der sich positiv auf Gesundheit und Wohlbefinden auswirkt. Allerdings bedarf das Konzept des positiven Transfers sicher noch einer tiefergehenden inhaltlichen Differenzierung und empirischen Prüfung. 13.5

Implikationen für die Praxis

Aus anwendungspraktischer Sicht stellt sich die Frage, wie die Work-Life-Balance im Sinne einer besseren Vereinbarkeit von Beruf- und Familienleben gefördert werden kann. Deshalb werden im Folgenden zum einen individuelle und partnerschaftliche Strategien zur Balancierung verschiedener Lebensbereiche beschrieben,

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254

Kapitel 13 · Work-Life-Balance

zum anderen Maßnahmen des Gesetzgebers sowie betriebsspezifische Reglements hinsichtlich ihrer möglichen positiven, aber auch ihrer potenziell negativen Wirkungen diskutiert. 13.5.1

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Individuelle und partnerschaftliche Strategien der Balancierung verschiedener Lebensbereiche

Einen ersten Ansatzpunkt für die Entwicklung von individuumszentrierten Beratungs- und Trainingsprogrammen für eine verbesserte Vereinbarkeit von Beruf und Familie stellen Befunde aus Studien dar, die zeigen, welche Strategien Betroffene selbst einsetzen und für wirksam halten. Bisher herrscht ein überraschender Mangel an Studien zu dieser Frage. Eine Ausnahme bildet eine Interviewstudie von Wiersma (1994), der die von Eltern berichteten Strategien sammelte und klassifizierte. Allerdings hat er in diesem Zusammenhang nicht die Wirksamkeit dieser Strategien getestet. Seine Daten zeigen, dass die Eltern sich v. a. bemühen, objektive haushalts- und kinderbetreuungsbezogene Verpflichtungen zu reduzieren (z. B. Haushaltshilfen engagieren, sich die Aufgaben aufteilen, Sauberkeitsstandards reduzieren) sowie soziale Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten (z. B. Zeit mit den Kollegen des Partners oder mit Freunden verbringen, Zeit für sich als Paar ohne Kinder einplanen). Für einige dieser Strategien – z. B. Haushaltshilfen oder Babysitter engagieren – werden finanzielle Ressourcen benötigt. Eine andere Gruppe umfasste Strategien, die darauf abzielen, arbeitsbezogene Beanspruchung zu reduzieren, indem Aufgaben delegiert werden. Dies setzt allerdings bereits eine eher privilegierte berufliche Position voraus. Weiterhin wird in jüngerer Zeit den grundlegenden Handlungsstrategien der Selektion, Optimierung und Kompensation (kurz: SOK), die aus der lebensspannenpsychologischen Forschung bekannt sind, eine wichtige Rolle für die Gestaltung der Schnittstelle zwischen Beruf und Familie zugeschrieben. Diese Strategien gelten prinizipiell als wichtige Komponenten einer erfolgreichen Entwicklungsregulation (Baltes & Baltes, 1990). Selektion beschreibt dabei Prozesse der Zielauswahl sowie Prioritätensetzungen, die wichtig sind, um trotz begrenzter Ressourcen, wie Zeit und Energie, erfolgreich Einfluss auf die eigene Entwicklung und Lebensgestaltung nehmen zu können. Allerdings reicht es

nicht, sich Ziele zu setzen, man muss sich auch für ihre Realisierung engagieren. Dieses Engagement wird dabei unter den Oberbegriffen der Optimierung und Kompensation diskutiert. Von Optimierung wird gesprochen, wenn Handlungsmittel auf das Erreichen eines höheren Funktionsniveaus gerichtet sind. Kompensation betrifft das Handeln in Situationen, in denen Ressouceneinbußen drohen oder bereits eingetreten sind. Übertragen auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie könnte z. B. die zeitweise Priorisierung eines der beiden Lebensbereiche ein Ausdruck von Selektion sein (7 Abschn. 13.3.3). Als optimierend wäre z. B. die Weiterentwicklung bereichsspezifischer Kompetenzen zur besseren Bewältigung von Arbeitsanforderungen zu betrachten, und als Kompensationsversuch könnte die Delegation von Aufgaben in Phasen zeitlicher Engpässe, wie z. B. Ferienbetreuung der Kinder durch die Großeltern, hilfreich sein. Quer- und längsschnittliche Befunde finden in der Tat positive Zusammenhänge zwischen dem Einsatz von SOK-Strategien und dem subjektiven Wohlbefinden (Wiese, Freund & Baltes, 2000, 2002), aber eignen sich diese Strategien auch zur Konfliktreduktion? Die Befundlage hierzu ist gemischt (Wiese, 2000; Baltes & Heydens-Gahir, 2003). Baltes und Heydens-Gahir (2003) fanden z. B. keine direkten Beziehungen des SOK-Strategie-Einsatzes zu einem verminderten Konflikterleben. Jedoch halfen diese Strategien bei der Reduktion des bereichspezifischen Stresserlebens, welches ein zentraler Konfliktprädiktor ist (7 Abschn. 13.4.1). Weitere hilfreiche Selbstkontrollstrategien werden von Rosenbaum und Cohen (1999) diskutiert, nämlich emotionale, aufmerksamkeitsbezogene und motivationale Kontrolltechniken (z. B. kognitives Umbewerten von stressreichen Erfahrungen, positive Selbstgespräche, Nutzen von Entspannungsmethoden, Fokussieren der Aufmerksamkeit auf positive Aspekte des Zusammenspiels von Beruf und Familie). Interessanterweise zeigen ausgerechnet Zeitmanagementtechniken keinen durchgängig positiven Effekt auf eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. So ergab eine Studie von Adams und Jex (1999), dass das tägliche Setzen von Prioritäten sogar in positiver Beziehung zum Konflikterleben steht. Individuumszentrierte Strategien für eine verbesserte Vereinbarkeit von Beruf und Familie mögen auf den ersten Blick ausschließlich als Ausdruck individuellen Bemühens erscheinen. Bei genauerer Betrachtung

255 13.5 · Implikationen für die Praxis

setzen einige dieser Strategien – v. a. jene, die eine Belastungsreduktion im häuslichen Bereich sowie die Pflege von Sozialkontakten betreffen – jedoch das Einverständnis und Mitwirken des/der Partners/Partnerin voraus. So müssen sich Partner etwa einigen, wenn es darum geht, sich gewisse Hausarbeiten zu teilen oder einen Teil des Haushaltseinkommens für eine Haushaltshilfe auszugeben. Gegenseitiges Einverständnis sowie Koordinationsbereitschaft sind auch notwendig, wenn es um die Freizeitgestaltung geht (z. B. das Treffen von Freunden). Insofern kann der Einsatz solcher Strategien auch als Indikator gemeinsamer Bewältigungsversuche betrachtet werden (vgl. . Tab. 13.1). Auch die Effekte eines geglückten oder erfolglosen Strategieeinsatzes sind keineswegs nur auf die jeweils handelnde Person beschränkt. Gelingt es jemandem z. B. gut, am Abend von beruflichen Sorgen abzuschalten, dürfte diese Person i. d. R. für die anderen Familienmitglieder ein angenehmerer Interaktionspartner sein als jemand, dem dies nur schlecht gelingt. Überdies ist bekannt, dass es zu Übertragungseffekten auf der Paarebene kommen kann (sog. »Crossover«-Effekte; vgl. Bolger, DeLongis, Kessler & Wethington, 1989). In qualitativen Studien aus der Stressforschung berichten Betroffene beispielsweise, der eigene Arbeitsstress führe zu einem erhöhten häuslichen Stresserleben auf Seiten des/der Partners/in (z. B. Crouter, 1984). Bolger et al. (1989) konnten im Rahmen einer Tagebuchuntersuchung zeigen, dass es v. a. Frauen sind, die sich bei starkem Arbeitsstress des Mannes zu Hause besonders beansprucht fühlen. Die Autoren nehmen an, dass Frauen eher als Männer bereit dazu seien, den anderen bei hoher Arbeitsbelastung durch die Übernahme

häuslicher Pflichten zu entlasten, allerdings um den Preis eines erhöhten eigenen Stresserlebens. Analog finden sich aber auf der anderen Seite auch Übertragungseffekte positiver Befindlichkeit. Eine Tagebuchstudie mit erwerbstätigen Paaren zeigte, dass es positive Zusammenhänge zwischen der Zufriedenheit beider Partner gab (Wiese, 2004a). Verschiedene Studien zeigen, dass soziale Unterstützung durch Familienmitglieder mit einem verringerten Konflikterleben einhergeht (Adams, King & King, 1996; Grzywacz & Marks, 2000). Es scheint für eine beruflich beanspruchte Person günstig zu sein, wenn sie ein Klima erlebt, das es ihr erlaubt, ihre beruflichen Sorgen und Belastungen mitzuteilen. Dies könnte einerseits emotional entlastend wirken und andererseits Gelegenheiten eröffnen, Problemlösestrategien zu entwickeln (vgl. Kossek et al., 2001). Rosenbaum und Cohen (1999) haben in einer Studie mit erwerbstätigen Frauen 2 Formen der partnerschaftlichen Unterstützung untersucht: praktische Unterstützung (z. B. Mithilfe im Haushalt) und emotionale Unterstützung (hier: zum Ausdruck gebrachte Wertschätzung gegenüber der Erwerbstätigkeit der Frau sowie Verständnis für deren berufsbezogene Verpflichtungen). Querschnittlich zeigten sich für beide Unterstützungsformen positive Auswirkungen auf die psychophysische Gesundheit der Frauen, wobei die Effekte allerdings nur von geringer Größe waren. Wie eine Tagebuchstudie von Wiese (2004a) zeigte, wird ein Partner v. a. dann als unterstützend erlebt, wenn man vermutet, dass es ihm gut geht. Dies legt nahe, dass die alltäglich wahrgenommene Zufriedenheit des/der Partners/in eine wichtige emotionale Ressource darstellt.

. Abb. 13.1. Ausgewählte Strategien zur verbesserten alltäglichen Vereinbarkeit von Beruf und Familie auf der Individual- und Paarebene

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256

Kapitel 13 · Work-Life-Balance

Ein unmittelbarer Anlass für die Entwicklung und den Einsatz partnerschaftlicher Strategien ist dann gegeben, wenn Paare im Alltag deutliche F-B-Konflikte erleben, wenn sie sich also z. B. im Berufsalltag häufig durch störende und belastende Gedanken an ihr Familienleben abgelenkt fühlen. Solche Konflikte werden – anders als B-F-Konflikte – nicht selten von beiden Partnern zugleich erlebt (Wiese, 2004a). Dies lässt sich damit erklären, dass partnerschaftlich-familiäre Belastungen, die auf das Arbeitsleben ausstrahlen, mit größerer Wahrscheinlichkeit beide Partner betreffen und entsprechend von beiden bewältigt werden müssen. Berufliche Ereignisse hingegen, die auf das Familienleben wirken, betreffen die Partner zunächst unabhängiger voneinander. Partnerschaftliche Abstimmung ist aber nicht nur für die unmittelbare Alltagsgestaltung notwendig, sondern auch für die mittel- und längerfristige Planung. Es ist anzunehmen, dass für viele Berufstätige die beruflichen und privaten Wünsche von Lebenspartner/innen eine wichtige Bezugsgröße für die eigenen beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten darstellen. Die Frage, wie Paare ihre beruflichen und familiären Ziele realisieren können, gewinnt in Zeiten, in denen die Zahl doppelerwerbs- bzw. -karriereorientierter Paare ansteigt, an Brisanz. Die Koordination der Lebensgestaltung in Paarbeziehungen kann dabei sehr unterschiedliche Formen annehmen. Haben die Partner das Ziel einer egalitären Partnerschaft, muss diese Egalität nicht ausschließlich zeitgleich auf der Alltagsebene realisiert werden. Vielmehr kann diese auch biografisch zeitversetzt praktiziert werden, indem sich die Partner je nach Karrierephase unterschiedlich stark im beruflichen oder häuslichen Arbeitsbereich engagieren. Befunde hierzu liefern beispielsweise Hoff et al. (2005).

13 13.5.2

Gesetzgeberische und organisationale Regelungen

Sowohl auf der gesetzgeberischen Seite als auch auf der betrieblichen Seite finden sich Angebote, die dazu beitragen sollen, Beruf und Familie besser zu vereinbaren. Gesetzgeberische Maßnahmen Auf der gesetzgeberischen Seite können Vereinbarkeitsmaßnahmen beispielsweise infrastruktureller Art sein (z. B. die Bereitstellung von Kinderbetreuungseinrichtungen) oder auch monetäre Transferleistungen betref-

fen (z. B. Kindergeld, Berücksichtigung von Kindern bei der Einkommensbesteuerung). Der bundesdeutsche Gesetzgeber versucht dem Wunsch nach einer Vereinbarkeit von Beruf und Elternschaft außerdem durch einen Rechtsanspruch auf Elternzeiten entgegenzukommen. Erwerbstätige Mütter und Väter haben die Möglichkeit, sich bis zu 3 Jahre lang freistellen zu lassen, um ein Kind in den ersten Lebensjahren selbst betreuen und erziehen zu können, ohne einen Verlust des Arbeitsplatzes zu riskieren. Seit 2001 sieht der Gesetzgeber neben der kompletten Auszeit alternativ auch die Möglichkeit einer bis zu 3-jährigen Teilzeitbeschäftigung vor. Väter und Mütter machen in unterschiedlichem Ausmaß davon Gebrauch. Während sich die meisten Frauen in Deutschland nach der Geburt eines Kindes für eine berufliche Auszeit entscheiden, gilt dies nur für wenige Männer (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2004). Seit 2007 gibt es außerdem bei Inanspruchnahme der Elternzeit mit dem sog. Elterngeld einen verstärkten finanziellen Ausgleich während des ersten Lebensjahres des Kindes. Das Elterngeld ist bis zu einer gewissen Einkommenshöchstgrenze prozentual am Nettogehalt des bisher erwerbstätigen und nun beurlaubten Elternteils orientiert. Die bundesdeutschen Regelungen gehen z. T. deutlich über jene der deutschsprachigen Nachbarländer hinaus. In Österreich beträgt der gesetzlich geregelte Anspruch auf eine familienbedingte berufliche Karenzzeit nach der Geburt eines Kindes bei garantierter Arbeitsplatzsicherheit 24 Monate. Allerdings besteht die Möglichkeit einer bis zu 4-jährigen Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit. In der Schweiz gibt es für Mütter (jedoch nicht für Väter) in den ersten 16 Wochen nach der Geburt die Möglichkeit, sich kündigungsgeschützt beurlauben zu lassen. Die im Vergleich recht langfristige formalrechtliche Arbeitsplatzsicherung in Deutschland garantiert jedoch nicht, dass berufliche Auszeiten für die eigene Karriereentwicklung ohne Konsequenzen bleiben. US-amerikanische Befunde zu beruflichen Auszeiten und vorübergehender Teilzeitbeschäftigung zeigen, dass diese nachhaltig negative Folgen für die Karriere haben, im Sinne einer vergleichsweise negativen Gehaltsentwicklung und einer verringerten Wahrscheinlichkeit von Beförderungen (z. B. Judiesch & Lyness, 1999). Für den deutschsprachigen Raum lassen u. a. die berufsbiografischen Arbeiten von Hoff, Grote und Wahl (2002) auf negative Karrierekonsequenzen diskontinuierlicher Berufsverläufe durch Unterbrechungen der Berufstätigkeit und

257 13.5 · Implikationen für die Praxis

Wechsel in andere Beschäftigungsformen und -felder schließen. Wie lassen sich solche negativen Karriereeffekte erklären? Zum einen kann eine längere Auszeit zu Humankapitalverlusten führen, z. B. Einbußen im fachlichen Know-how und in der sozialen Integration in berufliche Netzwerke. Solche Defizite können die nachfolgende berufliche Entwicklung negativ beeinflussen. Eine alternative oder ergänzende Erklärung für Negativeffekte beruflicher Auszeiten ist eine geschlechtsspezifisch geprägte karrierebezogene Organisationskultur. Diese könnte dazu führen, dass Biografien, die vom männlich geprägten kontinuierlichen Vollzeitbeschäftigungsmodell abweichen, als Ausdruck eines geringen Karriereinteresses und einer mangelnden Karriereeignung interpretiert und entsprechend sanktioniert werden. Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass sich die Länge der Auszeit wesentlich auf die Wahrscheinlichkeit und das Ausmaß negativer beruflicher Folgen auswirkt. Allen und Kollegen haben die Auswirkungen kürzerer Auszeiten von 3 (Allen, Russell & Rush, 1994) bzw. 6 Monaten (Allen & Russell, 1999) im Rahmen fiktiver Personalbeurteilungssituationen analysiert. Eine Auszeit von 3 Monaten hatte keinen negativen Einfluss auf die Fremdbeurteilung. Bei einer 6-monatigen familienbedingten Auszeit zeigten sich negative Effekte auf die Beurteilung der zugeschriebenen beruflichen Werthaltungen. Negative Effekte auf das vermutete organisationale Commitment sowie auf Empfehlungen zur Beförderung ergaben sich lediglich für männliche Zielpersonen. Möglicherweise hatten Beurteiler ein größeres Verständnis dafür, dass Frauen zumindest zeitweise geschlechtstypische Rollen übernehmen. Daraus aber zu schließen, dass längere Elternzeiten von bis zu 3 Jahren – wie sie der deutsche Gesetzgeber gewährt – keine negativen karrierebezogenen Folgen für beruflich qualifizierte Frauen haben, wäre sicher übereilt. So hat Wiese (2005) Personalverantwortliche aus dem Öffentlichen Dienst und der Privatwirtschaft gebeten, die potenziellen beruflichen Folgen einer 1- bzw. 3-jährigen Elternzeit für weibliche Führungskräfte in ihren Organisationen einzuschätzen. Zu beurteilende Folgen waren z. B.: negative Gehaltsentwicklung, Verlust an Mitarbeiterakzeptanz, Know-how-Defizite, nachfolgend geringere Übertragung von Projekt- und Personalverantwortung. Bei 3-jähriger Elternzeit wurde von einem signifikant höheren Risiko negativer beruflicher Konsequenzen ausgegangen als bei 1-jähriger Elternzeit. Dies traf sowohl für

. Abb. 13.2. Auswirkungen der Inanspruchnahme einer 1- vs. 3jährigen Elternzeit auf die vermuteten negativen beruflichen Konsequenzen in der Privatwirtschaft und im Öffentlichen Dienst. (Nach Wiese, 2005)

den Öffentlichen Dienst als auch für die Privatwirtschaft zu, jedoch wurde in der Privatwirtschaft bei 3-jähriger Elternzeit von stärkeren negativen Konsequenzen ausgegangen als im Öffentlichen Dienst (vgl. . Abb. 13.2). Einschränkend sei angemerkt, dass hier als Institutionen des Öffentlichen Dienstes ausschließlich Stadtverwaltungen betrachtet wurden. Damit bleibt offen, ob sich das Befundmuster auch auf andere Institutionen des Öffentlichen Dienstes übertragen lässt. Denkbar ist, dass es Institutionen gibt, in denen Beurteilungunterschiede zur Privatwirtschaft geringer sind. Dies könnte beispielsweise dort zutreffen, wo sich auch im Bereich des Öffentlichen Dienstes relativ langwierige und unsichere Karrierewege finden (z. B. wissenschaftliche Laufbahn an Universitäten/Forschungsinstituten, medizinische Facharztausbildung). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass längere Elternzeiten (>1 Jahr) offensichtlich schlecht mit dem Bild einer beruflich ambitionierten Erwerbstätigen vertragen. So können lange berufliche Auszeiten zwar in Anbetracht der bundesdeutschen Gesetzeslage mit einem Erhalt des beruflichen Status quo vereinbar sein, geht es hingegen um die Vereinbarkeit von Familie und Karriere, ergibt sich ein differenzierteres Bild. Für die weitere Karriereentwicklung sind Versuche des kontinuierlichen Nebeneinanders von Beruf und Familie offensichtlich günstiger, verbunden allerdings mit all ihren Problemen der alltäglichen Vereinbarung und Balancie-

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Kapitel 13 · Work-Life-Balance

rung der Lebenssektoren. Vorübergehende Teilzeitbeschäftigungen stellen hier eine mögliche Lösung dar, da sie eine kontinuierliche Präsenz im Unternehmen gewährleisten.

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Betriebsspezifische Maßnahmen zur Förderung der Work-Life-Balance In der betrieblichen Praxis gibt es eine Reihe von Programmen und Maßnahmen (z. B. Stress- und Entspannungsseminare, Ernährungsberatung), die heute unter den Oberbegriff Work-Life-Balance gefasst werden, aber nicht notwendigerweise neu sind (Resch & Bamberg, 2005). So richten sich viele Strategien darauf, Erholungsmöglichkeiten zu schaffen bzw. die Gesundheitskompetenz zu stärken. Auch arbeitspsychologische Empfehlungen wie die Schaffung von Handlungsspielräumen können einen positiven Einfluss haben. Tatsächlich gehen Handlungsspielräume mit einem verringerten Konflikterleben bezüglich Beruf und Familie einher (z. B. Jacobshagen, Amstad, Semmer & Kuster, 2005) und stellen eine gute Voraussetzung für positive Transferprozesse zwischen den Bereichen dar (z. B. Thompson & Prottas, 2005). Insgesamt hat nicht nur auf staatlicher Ebene, sondern auch auf der Ebene der spezifischen Unternehmenspolitik das Bemühen um Maßnahmen zur familienbezogenen Unterstützung an Bedeutung gewonnen. Eine wachsende Zahl von Unternehmen setzt sich auf der Ebene der Organisationsentwicklung für eine Optimierung der Rahmenbedingungen für die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein. Sie hoffen auf diesem Wege, qualifizierte Fachkräfte zu gewinnen und dauerhaft zu binden. Vor dem Hintergrund austauschtheoretischer Annahmen wird erwartet, dass – zumindest solange in der jeweiligen Branche nicht flächendeckend ein ähnlich hohes Maß an Unterstützung angeboten wird (vgl. Gmür & Schwerdt, 2005) – Mitarbeiter/ innen in solchen Unternehmen bereit sind, sich besonders für die Organisationsbelange einzusetzen und ein hohes Arbeitsengagement zeigen. Einige Firmen lassen sich ihr familienbezogenes Engagement im Rahmen von Auditierungen auch zertifizieren (www.beruf-und-familie.de), um es so gleichzeitig für die interne und externe Unternehmenskommunikation zu nutzen. Generell gilt, dass die Wahrscheinlichkeit für institutionalisierte betriebliche Vereinbarkeitsmaßnahmen mit der Größe von Organisationen bzw. mit dem Vorhandensein eigener Human-Resource-Management-Abteilungen sowie

mit dem Frauenanteil und dem Anteil hoch qualifizierter Mitarbeiter innerhalb der jeweiligen Unternehmensbelegschaft steigt (Hyman & Summers, 2004; Konrad & Mangel, 2000). Zu den wichtigsten konkreten Maßnahmen, die aktuell im Zusammenhang mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Unternehmen diskutiert bzw. implementiert werden, zählen flexible Arbeitszeiten, Telearbeitsmöglichkeiten, Teilzeitarbeit bzw. Job-Sharing, sowie – wenn auch in geringerem Umfang – unmittelbare Angebote im Zusammenhang mit der Kinderbetreuung. In Ländern, die keine staatlich regulierten Ansprüche auf Eltern-/Karenzzeiten haben, gehören schließlich auch noch betriebsinterne Angebote für längerfristige Beurlaubungen dazu. Diese und weitere ausgewählte Beispiele für betriebliche Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie werden in der 7 Übersicht »Betriebliche Maßnahmen« zusammengefasst.

Betriebliche Maßnahmen 4 Kinderbetreuung

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– Betriebskindergarten – Belegplätze in Kinderbetreuungseinrichtungen – Zuschüsse zu Kinderbetreuungskosten – Vermittlungsservice für Kinderbetreuung – Ferienbetreuungsangebote Arbeitszeit und -ort – Flexible Arbeitszeiten – Teilzeitarbeitsplätze – Telearbeitsplätze – Job-Sharing Mobilitätsunterstützung – Arbeitsvermittlung für Ehe-/Lebenspartner – Umzugskostenübernahme Führungskompetenz – Schulungen zur vereinbarkeitsorientierten Personalführung – Mentorenprogramme Freistellungen – Über gesetzliche Ansprüche hinausgehende Beurlaubungsoptionen für Mütter und Väter Informationsbereitstellung – Betriebsinterne Familienbeauftragte – Informationsmaterialien

259 13.5 · Implikationen für die Praxis

Besondere Aufmerksamkeit hat in der Forschung die Einführung flexibler Arbeitszeiten erfahren. Arbeitszeitflexibilität wird von den Erwerbstätigen durchaus wertgeschätzt und gewünscht (vgl. Baltes, Briggs, Huff, Wright & Neuma, 1999). Hinsichtlich des Konflikterlebens ist die Befundlage allerdings gemischt: Parasuraman, Purohit und Godshalk (1996) berichten von einer Konfliktminderung, andere Autoren finden hier keine signifikanten Zusammenhänge (z. B. Wiese, 2004b). Dies mag damit zusammenhängen, dass die Arbeitszeitflexibilisierung nur für bestimmte Arbeitnehmer konfliktmindernd wirkt, für andere aber eher konfliktfördernd, da die zeitlichen Grenzen zwischen Berufs- und Familienleben unklarer werden. Fenzl und Resch (2005) weisen darauf hin, dass zeitliche Flexibilität nicht automatisch mit leichter Koordinierbarkeit (7 Abschn. 13.3.2) gleichzusetzen ist, denn gerade eine geringe zeitliche Bindung könne auch einen erhöhten Planungsaufwand zur Folge haben und für Paare die Synchronisation von gemeinsamer Zeit erschweren. Neue Chancen für die Koordination von Beruf und Familie könnten auch in Telearbeitsformen liegen. Auf der praktischen Ebene sind diese selbstverständlich klar an Fortschritte im Bereich der Informationstechnologien geknüpft. Die Befunde der Telearbeit verweisen dabei sowohl auf positive als auch auf negative Wirkungen (z. B. höheres berufliches Involvement, aber weniger informelles Lernen bei der Arbeit; vgl. Kurland & Bailey, 1999). Hill, Ferris und Märtinson (2003) verglichen Mitarbeiter/innen der IT-Branche, die traditionelle Büroarbeitsplätze innehatten, mit solchen, die entweder von zu Hause aus oder ohne festen Arbeitsplatz arbeiteten (virtuelles Büro). Die günstigsten Effekte auf die subjektive Work-Life-Balance ergaben sich für jene Beschäftigten, die von zu Hause aus arbeiteten. Für Beschäftigte mit virtuellen Arbeitsplätzen ergab sich beim Vergleich mit Personen mit traditionellen Büroarbeitsplätzen ein gemischtes Bild mit relativ positiven Effekten auf die Arbeitsmotivation, aber vergleichsweise negativen Einflüssen auf die Zufriedenheit mit dem Familienleben, was mit den starken Reiseanforderungen bei virtuellen Arbeitsplätze zu tun haben könnte. Alles in allem scheinen insbesondere alternierende Telearbeitsformen (d. h. eine Form der Telearbeit, bei der die Tätigkeit nur zeitweise außerhalb der zentralen Betriebsstätte ausgeführt wird) mit Blick auf die Integration von Beruf und Familie gute Chancen zu bieten (vgl. Winker, 2001).

Für Teilzeitarbeitsplätze wurde bereits erläutert, dass diese zumindest im Vergleich zu längeren kompletten Auszeiten für eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie vorteilhaft sind. Dies entspricht auch der Sicht von Personalverantwortlichen. Diese würden weiblichen Führungskräften in der Familiengründungsphase raten, sich um einen zügigen Wiedereinstieg ins Berufsleben zu bemühen, was aus Expertensicht auch durch eine zeitweise Teilzeittätigkeit realisierbar sei (Wiese, 2005). Eine dauerhafte Teilzeitbeschäftigung dürfte allerdings wiederum Karrieregefahren bergen (vgl. Hoff et al., 2002; Warren, 2004). Betriebskindergärten werden relativ selten realisiert, was angesichts der hohen Einrichtungs- sowie laufenden Kosten nicht verwundert. Gerade für kleinere Unternehmen scheint diese Maßnahme wenig praktikabel. Allerdings gibt es Alternativen, z. B. Belegplätze in externen Kindertagesstätten, betreuungsbezogene Vermittlungsangebote oder individuelle finanzielle Zuschüsse zur Kinderbetreuung. Welche positiven Effekte können aus der Implementierung von Vereinbarkeitsmaßnahmen resultieren? Es liegen Arbeiten vor, die zeigen, dass Maßnahmen wie flexible Arbeitszeiten, Teilzeitarbeitsplätze, Job-Sharing oder Kinderbetreuungsangebote positive Effekte auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie die organisationale Bindung haben (z. B. Caspar & Buffardi, 2004; Grover & Crooker, 1995). Auch die betriebswirtschaftliche Forschung liefert erste Evidenz für positive Effekte auf der Ebene der Produktivitätssteigerung (7 InfoBox). Allerdings weisen Erfahrungsberichte durchaus auch auf Implementierungs- und Akzeptanzprobleme hin. Beispielsweise befürchten Mitarbeiter, der eigenen Karriere durch die Inanspruchnahme spezifischer Angebote zu schaden (Finkel, Olswang & She, 1994). Entsprechend betonen Thompson, Thomas und Maier (1992), dass die positiven Effekte von Maßnahmen, die auf eine Erleichterung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie zielen, durch die Wahrnehmung einer wenig unterstützenden Organisations- bzw. Arbeitskultur deutlich unterminiert werden können. Nach Thompson, Beauvais & Lyness (1999) ist ein familienunterstützendes Organisationsklima eine von Unternehmensangehörigen übereinstimmende Wahrnehmung des Ausmaßes, in dem eine Organisation die Integration von Berufs- und Familienleben wertschätzt und unterstützt. Zu den wesentlichen Facetten zählen die Autoren die Unterstützung durch die Unterneh-

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Kapitel 13 · Work-Life-Balance

Info-Box

Vereinbarkeitsmaßnahmen und betriebswirtschaftliche Leistungsdaten Erste Studien mit objektiven organisationalen Leistungsdaten aus dem privatwirtschaftlichen Bereich weisen auf die produktivitätssteigernde Wirkung der Verfügbarkeit von Vereinbarkeitsmaßnamen hin (vgl. zusammenfassend Gmür & Schwerdt, 2005). In einer Studie mit 49 Lebensversicherungsanbietern zeigtenVandenberg, Richardson und Eastman (1999) für die USA und Kanada eine positive Wirkung auf die Eigenkapitalrate (»return on equity«). Simerly und Tomkiewicz (1997) berichten ebenfalls von positiven Effekten. Ihr Kriterium war die über 5 Jahre gemittelte Kapitalrendite (»return on investment«) in 113 US-amerikanischen Unternehmen der Fertigungswirtschaft. Einschränkend sei hier allerdings angemerkt, dass die Autoren in ihren Analysen die Verfügbarkeit von firmeninternen Programmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie gemeinsam mit anderen innerbetrieblichen Initiativen (z. B. Altersvorsorgeplänen, Gewinnbeteiligung) betrachtet und keine separate Schätzung der Vereinbarkeitsmaßnahmen vorgenommen haben. Wie Konrad und Mangel (2000) am Beispiel von Verkaufszahlen zeigten, hängt die produktivitätssteigernde Wirkung von der spezifischen Zusammensetzung der Belegschaft ab. So fanden sie in ihren Analysen von 195 US-amerikanischen Firmen, dass sich lediglich in solchen mit einem relativ großen Anteil an hoch qualifizierten Mitarbeitern und/ oder einem hohen Frauenanteil Effekte der Verfügbarkeit firmeninterner Maßnahmen auf die Produktivität ergaben.

13 mensleitung und unmittelbare Vorgesetzte bei familiären Angelegenheiten, familienverträgliche Arbeitszeiten und das Ausbleiben negativer Karrierekonsequenzen, wenn familienunterstützenden Maßnahmen in Anspruch genommen werden. Laut US-amerikanischer Studien geht ein familienunterstützendes Organisationsklima mit einem erhöhten affektiven organisationalen Commitment sowie einer vergleichsweise geringen Wechselabsicht und verringertem Konflikterleben einher (Allen, 2001; Kossek et al., 2001; Thompson et al., 1999). Im deutsch-

sprachigen Raum zeigt eine Studie von Wiese (2004b), dass die individuelle Wahrnehmung eines familienunterstützenden Organisationsklimas negativ mit dem Konflikterleben in Bezug auf Berufs- und Familienleben korreliert. Außerdem steht ein solches Klima in positiver Beziehung zur allgemeinen und berufsbezogenen Befindlichkeit. Eine Follow-up-Studie zeigte, dass das Organisationsklima auch noch ein halbes Jahr später einen signifikanten Beitrag zur Vorhersage der allgemeinen und arbeitsbezogenen Befindlichkeit leistete (Wiese, under review). Eine Minderung negativer Emotionen fand sich dabei v. a. bei Frauen und ließ sich im Wesentlichen durch die Reduktion von Konflikten zwischen Berufsund Familienleben erklären. Bei Männern fand sich hingegen eine stärkere längsschnittliche Beziehung zu positiven Emotionen und zur Arbeitszufriedenheit. Wie lassen sich diese Unterschiede erklären? Für Männer hat ein familienunterstützendes Organisationsklima möglicherweise einen stärker ideellen oder symbolischen Wert, für Frauen möglicherweise eine stärker praktische Funktion. Durch eine familienunterstützende Unternehmenspolitik wird auf der symbolischen Seite signalisiert, dass Mitarbeiter als Menschen in ihrem gesamten Lebenskontext wahrgenommen und akzeptiert werden. Dies mag erklären, warum auch andere Autoren zeigen konnten, dass die Verfügbarkeit betriebsinterner Maßnahmen zur Unterstützung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie einen positiven Einfluss auf die betriebliche Verbundenheit hatte, der auch dann auftrat, wenn ein Mitarbeiter persönlich nicht von solchen Maßnahmen profitierte (Caspar & Buffardi, 2004; Grover & Crooker, 1995). Eine der von Thompson et al. (1999) identifizierten Facetten eines unterstützenden Organisationsklimas – die Unterstützung durch Vorgesetzte und Unternehmensleitung bei familienbezogenen Belangen – spricht die wichtige Rolle der sozialen Unterstützung im Arbeitsumfeld an, auf die abschließend noch einmal kurz eingegangen werden soll. Eine hohe Unterstützung durch Arbeitskollegen, Vorgesetze und Mentoren geht mit einem verringerten Konflikterleben einher (z. B. Grzywacz & Marks, 2000), wobei insbesondere immer wieder die zentrale Rolle der unmittelbaren Vorgesetzten betont wird (z. B. Allen, 2001; Holtzman & Glass, 1999). Vorgesetzte sind einerseits in ihrer eigenen Work-LifeBalance Vorbild, andererseits sind sie sowohl zentrale Träger als auch Multiplikatoren einer familienunterstützenden Personalpolitik. Sie haben darüber hinaus i. d. R.

261 13 · Literatur

aber auch die Handlungsspielräume, mit ihren Angestellten nach individuellen Lösungsmöglichkeiten für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu suchen. So überrascht es nicht, dass Personalverantwortliche weiblichen Mitarbeiterinnen in der Familiengründungsphase raten, das Gespräch mit dem Vorgesetzten zu suchen, um gemeinsam zu klären, wie sich die Vorstellungen des Unternehmens mit denen der (zukünftigen) Mutter vereinbaren lassen (Wiese, 2005). 13.6

Fazit und Ausblick

ist eine systematische Wirkungs- und Wirksamkeitsevaluation unverzichtbar. Bisher liegt nur eine geringe Zahl an empirischen Studien vor, die jenseits der Status-quoAnalyse von Konflikten zwischen Berufs- und Privatleben ganz explizit der Frage nach den tatsächlich individuell eingesetzten Strategien (z. B. interne Selbstkontrolle, objektive Anforderungsreduktion, Aufbau sozialer Ressourcen) bzw. von gesetzgeberischer oder betrieblicher Seite implementierten Maßnahmen (z. B. Elternzeit, Arbeitszeitflexibilisierung, Teilzeitarbeit) und ihrer Wirksamkeit nachgehen. Hier ist die Kreativität der psychologischen »Work-Life-Balance«-Forschung nach wie vor in besonderem Maße gefordert.

Fazit Dieses Kapitel behandelt das Thema der Work-LifeBalance unter dem Fokus des Zusammenspiels von Beruf und Familie. Psychologische Modellvorstellungen zur Relation von Handelns- und Erlebensprozessen in diesen Lebensbereichen und ihren Wirkungen auf die Funktionstüchtigkeit und das Wohlbefinden kommen u. a. aus der stresspsychologischen, der arbeitspsychologisch fundierten tätigkeitspsychologischen sowie der biografieorientierten bzw. entwicklungspsychologischen Literatur. Eine Zusammenschau dieser verschiedenen Ansätze verdeutlicht, dass sich das Zusammenspiel von Beruf und Familie sowohl auf der Ebene individueller Leitbilder und Ziele als auch auf der Ebene des Alltagshandelns konzeptualisieren lässt. Weiterhin lässt sich das Zusammenspiel von Berufsund Privatleben sowohl auf einer individuumszentrierten Ebene als auch auf stärker systemischen Ebenen (z. B. Paar, Familie, Organisation) untersuchen, wobei Letztere in der bisherigen Forschung vergleichsweise seltener Gegenstand systematischer Analysen gewesen sind und deshalb zukünftig stärkere Beachtung finden sollten.

Es sollte deutlich geworden sein, dass das Ausbleiben von Konflikten allein eine verkürzte Sichtweise einer gelungenen Work-Life-Balance ist; aber auch die ergänzende Betrachtung positiver Transferprozessen lässt viele Fragen offen, z. B. jene nach den geeigneten alltagsund biografiebezogenene Strategien für eine Work-LifeBalancierung, also für jene Gestaltungsprozesse, die der Maximierung positiven Erlebens sowohl im beruflichen wie auch im privaten Lebensbereich dienen. Gerade hier

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Kapitel 13 · Work-Life-Balance

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13

14 14

Berufswahl und berufliche Entwicklung angesichts des Wandels der Arbeit Gerhard Blickle

14.1

Definitionen: Job, Beruf und Erwerbsarbeit

14.2

Familiäre Lebensverhältnisse und Bildungsbeteiligung als Einflussgrößen der beruflichen Entwicklung – 268

14.3

Anfänge der beruflichen Entwicklung von der Kindheit bis ins frühe Erwachsenenalter – 270

14.4

Psychologische Konzepte der Berufsfindung

14.5

Berufliche Etablierung

14.6

Auswirkungen der veränderten Beschäftigungsverhältnisse auf den Berufsverlauf – 277

14.7

Perspektiven aufgrund des demografischen Wandels in Deutschland – 281 Literatur

– 266

– 272

– 276

– 282

K. Moser (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie DOI 10.1007/978-3-540-71637-2_14, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007

266

Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung angesichts des Wandels der Arbeit

> Das Wichtigste im Leben ist die Wahl des Berufes. Der Zufall entscheidet darüber. (Blaise Plascal) Der Beruf ist das Rückgrat des Lebens und seine Wahl die wichtigste Entscheidung, die der Mensch treffen muß. (Friedrich Nietzsche)

Aufgrund des Wandels der Arbeitswelt gleicht die Berufsbiografie vieler Menschen heute oft einem Flickenteppich. Sie haben schon sehr unterschiedliche Tätigkeiten ausgeführt, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Unterbrechungen durch Zeiten der Arbeitslosigkeit sind nicht ungewöhnlich. Ein Beispiel dafür ist Herr G. (7 Beispiel). Beispiel

14

Herr G. ist 34 und lebt mit einer Partnerin und zwei kleinen Kindern in einer großen süddeutschen Stadt. Beruflich ist er als sog. »fester freier« Mitarbeiter beim Rundfunk tätig, d. h. er hat (nach langen Phasen von Arbeitslosigkeit und journalistischen Gelegenheitsjobs) ein festes Arbeitsverhältnis mit einem garantierten, aber nicht sehr hohen Auftragsvolumen. Er arbeitet ausschließlich im Rahmen kurzfristiger Projekte; Arbeitsaufkommen und Einkommen variieren stark. Er hat keine festen Arbeitszeiten, sondern richtet sich nach Studioterminen, Kollegen, Interviewpartnern usw. Phasen immenser Belastung wechseln mit Perioden geringerer Anforderungen, die er dann für Zusatzaufträge und Weiterbildung nutzt. Herr G. arbeitet nur gelegentlich im Sender, die meiste Arbeit findet zu Hause und bei Recherchen vor Ort statt. Bei Herrn G. sieht jeder Tag anders aus. … Maximal drei Monate weiß er im voraus, was auf ihn zukommt, und er muss immer dafür offen sein, kurzfristig zu disponieren, beruflich wie privat. Urlaub wird dann gemacht, wenn gerade eine Lücke ist. Und wie lange er noch bei seinem derzeitigen Sender so weitermachen kann und will, weiß er nicht (Voß, 1998, S. 481–482).

In diesem Kapitel sollen die psychologischen Hintergründe der Berufsfindung und der beruflichen Entwicklung angesichts des aktuellen Wandels der Arbeitswelt aus der Perspektive der Erwerbstätigen untersucht werden. In 7 Abschn. 14.1 werden zunächst die Begriffe »Job« und »Beruf« einander gegenübergestellt und die generelle Bedeutung der Erwerbsarbeit für die psy-

chische Gesundheit erläutert. Es entspricht den gängigen Alltagsvorstellungen in einer Leistungsgesellschaft, dass jede Person selbst der Schmied ihres beruflichen Glückes sei. Dass dem nicht ganz so sein könnte, darauf hat schon Pascal (s. o.) hingewiesen. Was subjektiv als freie Wahl erscheint, wird durch den Zufall der Geburt in eine bestimmte Familie und ihr soziales Umfeld sehr stark mitgeprägt. Deshalb wird im zweiten Abschnitt (7 Abschn. 14.2) die Bedeutung der sozialen Schichtzugehörigkeit des Elternhauses für den späteren Berufserfolg am Beispiel der PISA-Ergebnisse erläutert. Es folgt die Darstellung der sog. Wachstums- und Explorationsphasen der beruflichen Entwicklung (7 Abschn. 14.3), des Prozesses der Berufsfindung in normativer und deskriptiver Hinsicht (7 Abschn. 14.4) und der beruflichen Etablierung (7 Abschn. 14.5). In 7 Abschn. 14.6 werden 3 Konzepte vorgestellt, die beschreiben sollen, wie Erwerbstätige mit beruflicher Unsicherheit erfolgreich umgehen können. Es handelt sich um das proteanische Laufbahnmodell, das Konzept der entgrenzten Laufbahn sowie das Employability-Konstrukt. Zum Abschluss (7 Abschn. 14.7) wird kurz auf die Perspektiven aufgrund des demografischen Wandels in Deutschland, der voraussichtlich bis zum Jahr 2050 stattfinden wird, eingegangen. 14.1

Definitionen: Job, Beruf und Erwerbsarbeit

So genannte geringfügige oder zeitlich befristete Beschäftigungsverhältnisse werden in der Alltagssprache auch als Job bezeichnet (der Ausdruck »Job« bedeutet wörtlich übersetzt »Klumpen«). Sie sind durch folgende Merkmale gekennzeichnet (Dostal, Stooß & Troll, 1998): 4 Es sind Tätigkeiten zum Geldverdienen. 4 Sie sind kurzfristig angelegt. 4 Sie stellen geringe Qualifikationsanforderungen. 4 Die qualifizierte Ausführung ist schnell erlernbar. 4 Es findet seitens der Ausführenden und der Arbeitgeber ein häufiger Wechsel statt. 4 Seitens der Ausführenden liegt i. d. R. nur eine geringe und instabile Identifikation mit der Aufgabe vor. Im Gegensatz zu einem Job ist berufliche Erwerbsarbeit auf Dauer angelegt. Wer eine Erwerbstätigkeit als Beruf ausüben möchte, strebt ein unbefristetes Beschäfti-

267 14.1 · Definitionen: Job, Beruf und Erwerbsarbeit

gungsverhältnis an. Die Ausübung eines bestimmten Berufes ist in der Regel nicht an einen spezifischen Arbeitgeber gebunden. Der Beruf dient nicht nur dem kurzfristigen Einkommenserwerb, sondern auch der langfristigen Schaffung, Erhaltung und Weiterentwicklung der Lebensgrundlagen für den Berufstätigen und ggf. seine Familie. Dies bedeutet, dass es innerhalb eines Berufes auch Möglichkeiten des Aufstieges und der Zunahme der eigenen Qualifikationen sowie der Vergrößerung der persönlichen Verantwortung gibt. Es bedeutet weiterhin, dass mit dem Beruf eine Absicherung für Krankheit und Alter angestrebt wird. Langfristig ist das Einkommen in einem Beruf so bemessen, dass die berufstätige Person damit ihren Lebensunterhalt und ggf. den ihrer Familie bestreiten und die Ausbildung der Kinder finanzieren kann. Frauen dient der Beruf häufig auch zur Sicherung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit vom Ehe- oder Lebenspartner. Die berufliche Tätigkeit ist ein Teil der persönlichen Identität. Personen wählen einen Beruf und engagieren sich in einer beruflichen Tätigkeit, um damit die Vorstellungen, die sie von sich selbst und der ihnen für sich selbst angemessen erscheinenden sozialen Rolle haben, verwirklichen zu können. Gleichzeitig ist die ausgeübte berufliche Tätigkeit mitdefinierend für den sozialen Status einer Person (vgl. . Tab. 14.1). Ein Beruf stellt hohe Qualifikationsanforderungen. Diese werden durch jahrelange Ausbildung oder ein Studium – z. T. mit anschließenden Referendariaten oder Assistenzzeiten – erworben. Der Erwerb und der Nachweis der beruflichen Qualifikationen sind formal geregelt. Ein spezifischer Beruf ist durch bestimmte Tätigkeitsgegenstände, Arbeitsmittel und eine spezifische Umweltbeschaffenheit charakterisiert und mit bestimmten Rechten und Pflichten verbunden. Beispielsweise haben Pfarrer und Diplompsychologen eine Schweigepflicht in Bezug auf ihnen von ihren Pfarrkindern (Beichtgeheimnis) oder Klienten anvertraute Sachverhalte. Obwohl die konkrete Arbeitstätigkeit einer Person oft nicht ihren Ansprüchen genügt, sondern als belastend und mühselig erlebt wird, ziehen viele Menschen es vor, weiterhin erwerbstätig zu bleiben, anstatt sich arbeitslos zu melden oder in Rente zu gehen. Dies hat häufig finanzielle Gründe. Die Sicherung des Lebensunterhaltes ist daher von Jahoda (1981) auch als »manifeste Funktion der Erwerbsarbeit« bezeichnet worden. Da-

. Tab. 14.1. Die Allensbacher Berufsprestige-Skala 2005 (Allensbacher Archiv, 2005)

Beruf

Prozentwert

Arzt Krankenschwester Polizist Hochschulprofessor Pfarrer/Geistlicher Lehrer Rechtsanwalt Ingenieur Botschafter/Diplomat Apotheker Unternehmer Atomphysiker Spitzenpolitiker Informatiker/Programmierer Schriftsteller Manager in Großunternehmen Offizier Journalist Buchhändler Politiker Fernsehmoderator Gewerkschaftsführer

71 56 40 36 34 31 25 24 23 22 21 21 20 19 15 14 10 10 7 6 6 5

Frage: »Hier sind einige Berufe aufgeschrieben. Könnten Sie bitte die 5 davon heraussuchen, die Sie am meisten schätzen, vor denen Sie am meisten Achtung haben?« (Vorlage einer Liste)

rüber hinaus hat die Erwerbsarbeit aber auch viele sog. latente Funktionen. Sie müssen den Betroffenen nicht immer bewusst sein. Trotzdem haben sie einen positiven Einfluss auf das psychische Wohlbefinden. Diese latenten, positiven Funktionen der Erwerbsarbeit haben sich aus der Forschung an Arbeitslosen und Personen, die altershalber aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind, ergeben (Jahoda, 1981; s. dazu auch 7 Kap. 15): 1. Durch die Erwerbsarbeit wird die Zeit strukturiert. 2. Die Erwerbsarbeit bedingt regelmäßige soziale Kontakte außerhalb der Kernfamilie und bietet die Möglichkeit zu geteilten sozialen Erfahrungen. 3. Sie schafft einen Bezug zu Zielen und Zwecken, die über die betroffene Person selbst hinausreichen. 4. Erwerbsarbeit gibt persönliche Identität und 5. sozialen Status in den Augen der anderen. 6. Und schließlich sorgt Erwerbsarbeit für Aktivierung.

14

268

Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung angesichts des Wandels der Arbeit

14.2

. Abb. 14.1. Warrs Vitaminmodell der Arbeitsbedingungen (Warr 1987)

14

Jahodas 6 Funktionen der Erwerbsarbeit sind später von Warr (1987) in ein umfassenderes Modell der psychischen Gesundheit – das sog. Vitaminmodell – integriert worden (. Abb. 14.1). Warr vergleicht Umweltbedingungen, unter denen Personen tätig sind, mit Vitaminen. Eine Bedingungsgruppe nennt er die Vitamingruppe CE, nämlich Bezahlung, Arbeitssicherheit und soziale Wertschätzung. Eine weitere Gruppe von Umweltbedingungen nennt er die Vitamingruppe AD, nämlich Anforderungsvielfalt, Denk- und Planungsanforderungen, Handlungsspielräume, soziale Kontakte, Teilhabe an übergeordneten, die Einzelperson transzendierenden Zielen sowie Transparenz der Anforderungen und Arbeitsbedingungen. Je nach Vitamingruppe hat die Steigerung der Dosierung unterschiedliche Effekte. Eine geringe und mittlere Dosierung hat bei beiden Vitamingruppen positive Effekte. Je stärker die jeweilige Umweltbedingung ausgeprägt ist, desto höher ist die psychische Gesundheit. Steigert man aber die Dosierung der Vitamine über eine mittlere Ausprägung hinaus, ergeben sich je nach Vitamingruppe unterschiedliche Effekte. In der Vitamingruppe CE (»constant effects«) bewirkt die zunehmende Dosierung keine Steigerung der psychischen Gesundheit. In der Vitamingruppe AD (»additional decrement«) bewirkt die Steigerung der Dosierung sogar ein Absinken der psychischen Gesundheit.

Familiäre Lebensverhältnisse und Bildungsbeteiligung als Einflussgrößen der beruflichen Entwicklung

Die Ausübung sehr vieler beruflicher Tätigkeiten setzt den erfolgreichen Abschluss einer bestimmten Ausbildung bzw. bestimmte Studienabschlüsse zwingend voraus. Der Zugang zu den Ausbildungs- und Studiengängen hängt wiederum vom erfolgreichen Durchlaufen bestimmter Schullaufbahnen ab. Der Zugang zu den meisten beruflichen Tätigkeiten wird also durch den Zugang zu und das Absolvieren von bestimmten Schullaufbahnen kanalisiert (Blau & Duncan, 1967). Diese Schullaufbahnen sind hierarchisch geordnet. Hauptund Realschule führen i. d. R. zu einer beruflichen Ausbildung, das Gymnasium mit dem Abitur als Abschluss zu einem Studium. Das einmal eingeschlagene Schulniveau ist also für die Kinder und Jugendlichen mit sehr langfristigen beruflichen Konsequenzen verbunden (Dauber, Alexander & Entwisle, 1996). Welche Schullaufbahn eine Person absolviert, wird dabei stark von sozialen Faktoren bestimmt. Ein ganz wesentlicher Faktor ist dabei das Elternhaus. Die Eltern prägen durch ihr Erziehungsverhalten und durch die Art ihres Umgangs mit ihren Kindern die Interessen und Werte, die Persönlichkeit, die Fähigkeiten und die Ziele ihrer Kinder. Die materiellen Ressourcen, das Vorbild der Eltern, ihre sozialen Kontakte sowie die Informationen, über die sie verfügen, bieten den Kindern größere oder begrenztere Gelegenheiten, Schullaufbahnen mit eingeschränkten oder weiter reichenden beruflichen Möglichkeiten zu ergreifen und erfolgreich zu durchlaufen (Kirkpatrick Johnson & Mortimer, 2002). Kohn und Schooler (1983) fanden Zusammenhänge zwischen solchen Persönlichkeitsmerkmalen, von denen der Erfolg des Vaters in seiner jeweiligen Berufstätigkeit abhängt, und den Erziehungswerten dieser Väter. Väter, deren Beruf in hohem Umfang eigenständiges Entscheiden erfordert, fördern selbstbestimmtes Handeln bei ihren Kindern. Väter, die beruflich geringe Handlungsspielräume haben und eng durch Vorgesetzte kontrolliert werden, fördern bei ihren Kindern Anpassung und Gehorsam. Insgesamt ist der Beruf der Eltern ein zentraler Indikator für die sozioökonomische Stellung einer Familie. Sie kennzeichnet das Ausmaß an verfügbaren finanziellen Mitteln, an relativer sozialer Macht

269 14.2 · Familiäre Lebensverhältnisse und Bildungsbeteiligung als Einflussgrößen der berufliche Entwicklung

und an gesellschaftlichem Prestige des Herkunftselternhauses. Neben der sozioökonomischen Stellung ist das sog. kulturelle Kapital (Bourdieu, 1983) einer Familie ein weiterer wesentlicher Faktor für die schulischen Erfolgschancen der Kinder. Wichtige Einflussgrößen bzw. Manifestationen des kulturellen Kapitals sind die Sprache, die in der Familie gesprochen wird, das Humankapital der Eltern sowie die kulturelle Praxis der Eltern. In Bezug auf die Familiensprache ist wichtig, ob sie der Verkehrssprache in einer Gesellschaft entspricht oder nicht. Wenn die Familiensprache von der Verkehrssprache abweicht, ist dies ein erheblicher Nachteil für die Kinder. Das Humankapital der Familie ergibt sich aus dem Niveau der Schul- und Berufsausbildungen der Eltern. Die kulturelle Praxis der Familie (z. B. das Ausmaß, in dem Eltern hochwertige Zeitungen, Zeitschriften und Bücher lesen und darüber diskutieren) prägt die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata der Kinder. Kinder haben umso mehr Erfolg in der Schule, wie eine Passung zwischen dem, was in der Schule von den Schülern erwartet wird, und dem, was aufgrund des kulturellen Kapitals in einer Familie praktiziert wird, vorliegt. Neben dem kulturellen spielt das soziale Kapital (Coleman, 1988) ebenfalls eine wichtige Rolle. Soziales Kapital bildet sich in sozialen Netzwerken. Diese Netzwerke vermitteln Ziele und Normen, schaffen Vertrauen, ermöglichen Zusammenarbeit, erzeugen Informationen und sanktionieren Normverletzungen. Das Ausmaß des sozialen Kapitals in einer Familie hängt davon ab, ob es sich um eine vollständige oder unvollständige Familie handelt, ob die Eltern arbeitslos oder in Vollzeit beschäftigt sind und wie der Stil und die Intensität der Kommunikation innerhalb der Familie beschaffen sind. Enge Beziehungen und eine intensive Kommunikation in der Familie stärken das Selbstvertrauen der Kinder und begünstigen intrinsische Arbeitsinteressen (Kirkpatrick Johnson & Mortimer, 2002). Sehr eindrucksvolle aktuelle Belege für die Auswirkungen der sozioökonomischen Stellung der Eltern sowie ihres kulturellen und sozialen Kapitals auf das Niveau der Schulbildung ihrer Kinder liefern die Ergebnisse der PISA-Studien aus Deutschland (Baumert & Schümer, 2001; Ehmke, Hohensee, Heidemeier & Prenzel, 2004). Eine der zentralen Fähigkeiten von Schülern stellt deren Lesekompetenz dar, also die Fähigkeit, auch schwierige und komplexe Texte zu verstehen. Die Chan-

ce, dass ein etwa 15-jähriges Akademiker- im Gegensatz zu einem 15 Jahre alten Facharbeiterkind nicht die Realschule, sondern das Gymnasium besucht, liegt bei circa 3:1. Diese ungleichen Chancen haben aber weder etwas mit den kognitiven Grundfähigkeiten der Schüler noch etwas mit ihrer Lesekompetenz zu tun (s. Baumert & Schümer, 2001, S. 357). Berücksichtigt man neben den Unterschieden im Elternberuf auch die Unterschiede im kulturellen und sozialen Kapital, dann ist die Chancenungleichheit noch deutlicher ausgeprägt. Schüler, die das Glück haben, dass ihre Eltern im oberen Quartil des ökonomischen, sozialen und kulturellen Status in Deutschland liegen, haben eine über 5-mal bessere Chance, das Gymnasium anstatt die Realschule zu besuchen, als Schüler, die das Pech haben, dass ihre Eltern nur dem 25–50%-Statusquartil angehören. Diese ungleichen Chancen haben weder etwas mit den kognitiven Grundfähigkeiten der Schüler noch etwas mit ihrer mathematischen Kompetenz zu tun (s. Ehmke et al., 2004, S. 246). Die Platzierung in einem bestimmten Schultyp hängt neben Leistungsunterschieden von den Empfehlungen der Lehrer beim Übergang von der Grund- in eine weiterführende Schule, dem Wunsch der Eltern sowie den Wünschen der Kinder ab. Zumindest in den USA ist ein Abstieg aus einer höheren Schulform in eine niedrigere wahrscheinlicher als umgekehrt (Hallinan, 1996). Betroffen von dieser Tendenz zur Abwärtsmobilität sind v. a. Mädchen, ältere Schüler und Schüler aus Schichten mit geringerem sozialem Status. Die Zuordnung zu einem bestimmten Schultyp entscheidet auch über den objektiven Leistungsstand. Der Unterschied in Bezug auf die mathematischen Fähigkeiten von Gymnasiasten und Realschülern lag in der zweiten PISA-Studie bei 96 Kompetenzpunkten. Dies entspricht einem durchschnittlichen Zugewinn von 2 Schuljahren. Fast ebenso groß war der Unterschied zwischen Real- und Hauptschülern. Dies bedeutet, dass die Zuordnung zu unterschiedlichen Schulniveaus nicht nur soziale Unterschiede zwischen den Elternhäusern widerspiegelt, sondern auch die Leistungsunterschiede zwischen den Schülern vergrößert (Baumert & Schümer, 2001, S. 365). Wer also als 10-jähriges Kind in seiner Schulbildung am Anfang unten einsteigt, hat trotz gleicher kognitiver Grundfähigkeiten mit zunehmender Schulzeit immer schlechtere Chancen, bei der Lesekompetenz und der mathematischen Kompetenz das gleiche Niveau zu erreichen wie Kinder, die in der gleichen Zeit

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Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung angesichts des Wandels der Arbeit

das Gymnasium besucht haben. Damit sinken auch die Chancen, später erfolgreich an weiterführende Schulen überzuwechseln. Und dies hat wiederum zur Folge, dass trotz gleicher Fähigkeiten und gleicher Leistungsbereitschaft die Zugangschancen zu beruflichen Tätigkeiten mit höherem sozioökonomischem Status je nach Herkunft und Anregungsbedingungen im Elternhaus ganz unterschiedlich ausfallen. Gute individuelle Bildung ist Voraussetzung für akzeptable persönliche Arbeitsmarktchancen. Deshalb ist es wichtig, gleiche Bildungschancen für alle herzustellen. Die Leistungspotenziale von Kindern aus unteren sozialen Schichten und von Migranten sollten in Deutschland – gerade auch im Interesse der Gesamtbevölkerung – viel besser ausgeschöpft werden (Allmendinger & Ebner, 2006). Es ist allerdings wichtig zu erkennen, dass es sich bei diesen Befunden um zusammengefasste statistische Aussagen handelt. Man darf deshalb keine Zwangsläufigkeiten daraus ableiten. Vielmehr erkennt man an Einzelfällen, dass der weitere Berufsweg nicht alleine durch den Schulstart bestimmt wird. Beispielsweise verließ Jürgen Schrempp, der spätere Chef des nachmaligen Automobilunternehmens Daimler-Chrysler, die Schule mit der mittleren Reife und machte eine Berufsausbildung als Kfz-Mechaniker (Grässlin, 1998, S. 33–35). Aufgrund seiner Schulbildung waren seine Chancen, an die Spitze eines Weltkonzerns zu gelangen, also sehr gering. Trotzdem hat er es geschafft.

gaben von Jugendlichen sind beispielsweise der Aufbau von Beziehungen zu Gleichaltrigen, die Akzeptanz des eigenen Körpers, das Erreichen emotionaler Unabhängigkeit von den Eltern, die Vorbereitung auf das Berufsleben und die Auswahl eines Berufes sowie Bemühungen zur Sicherung der späteren wirtschaftlichen Unabhängigkeit. In der Laufbahnentwicklungstheorie (Savickas, 2002) wird das Alter zwischen 4 und 13 Jahren als Wachstumsphase der beruflichen Entwicklung bezeichnet (7 Übersicht). Mit zunehmendem Alter erwartet man von Heranwachsenden, dass sie sich mit ihrer eigenen beruflichen Zukunft befassen, diese als persönliche Herausforderung begreifen lernen, Kriterien für ihre Ausbildungs- und Berufswahlentscheidungen entwickeln und das Selbstvertrauen haben, eine für sie angemessene und realistische berufliche Weichenstellung vorzunehmen (7 Beispiel).

Berufliche Entwicklungsaufgaben im Lebensverlauf nach Savickas (2002) 4 Wachstumsphase

4

14.3

Anfänge der beruflichen Entwicklung von der Kindheit bis ins frühe Erwachsenenalter 4

14

Ein wichtiger Auslöser individueller Entwicklungsprozesse sind sog. Entwicklungsaufgaben, die als geteilte normative Erwartungen von der sozialen Umgebung an das Individuum herangetragen werden. Beispielsweise erwartet man von einem Kind ab einem bestimmten Alter, dass es sich selbst anziehen kann, dass es lernt »bitte« und »danke« zu sagen etc. Entwicklungsaufgaben begleiten uns entlang unserer gesamten Lebensspanne. Die erfolgreiche Bewältigung einer Entwicklungsaufgabe führt zu Zufriedenheit und Anerkennung, während das Versagen bei einer Entwicklungsaufgabe das Individuum unglücklich macht, auf Ablehnung durch die Gesellschaft stößt und zu Schwierigkeiten bei der Bewältigung späterer Entwicklungsaufgaben führt. Entwicklungsauf-

4

4

(zwischen 4. und 13. Lebensjahr) – Zukunftszuwendung – Kontrollerleben – Berufswahlkriterien – Selbstvertrauen Explorationsphase (zwischen 14. und 24. Lebensjahr) – Kristallisation – Spezifikation – Aktualisierung Etablierungsphase (zwischen dem 25. und 44. Lebensjahr) – Stabilisierung – Konsolidierung – Aufstieg Erhaltungsphase (zwischen dem 45. und 64. Lebensjahr) – Sicherung – Aktualisierung – Innovation Ausscheiden aus dem Erwerbsleben (ab dem 65. Lebensjahr)

271 14.3 · Anfänge der beruflichen Entwicklung von der Kindheit bis ins frühe Erwachsenenalter

Beispiel

Berufswünsche von Hauptschülerinnen »Ich würde gerne als Beruf Kraftfahrzeugmechaniker lernen, denn ich habe von diesem Beruf schon sehr viel gehört. Ein Freund von mir ist mit diesem Beruf sehr zufrieden. Da muss man Öl wechseln, Bremsbeläge wechseln, Autowaschen, Lichteinstellen, Abgastests machen, Radstand messen und noch vieles mehr. Ich bin auch sehr begeistert von diesem Beruf. Aber ich glaube Mädchen haben keine Chance, denn Jungs sind in diesem Beruf mehr gefragt als Frauen. Versuchen kann man es trotzdem mal« (Zitat entnommen aus Bamberg, 1996, S. 121). »Ich würde gerne Kindergärtnerin werden, weil ich gerne mit Kindern umgehe. Es macht mir Spaß, etwas zu erklären, wenn sie etwas nicht verstehen. Es würde mir auch Spaß machen, mal so viele Kinder unter mir zu haben. Außerdem möchte ich gerne mit Kindern spielen, basteln, tanzen, spazieren gehen und vieles mehr. Außerdem würde mir die Ausbildung zur Kindergärtnerin auch später, wenn ich selbst einmal Kinder habe, zugute kommen« (Zitat entnommen aus Bamberg, 1996, S. 134).

Eine sichere Bindung an die primären Bezugspersonen stärkt das Zutrauen der Heranwachsenden zu sich selbst, fördert ihren Optimismus sowie ihr Vertrauen in andere Personen. Damit wird eine vorausschauende Haltung und planende Einstellung gegenüber der eigenen beruflichen Zukunft gebahnt und die Grundlagen für die spätere berufliche Planungskompetenz gelegt. Die sichere Bindung an die primären Bezugspersonen schafft auch die Voraussetzung für spätere vertrauensvolle Beziehungen zu Mentoren, Vorgesetzten und Kollegen. Unsichere Bindungen an die primären Bezugspersonen führen dagegen zu einem negativen Selbstkonzept bei den Heranwachsenden, erhöhter Ängstlichkeit, zu ambivalenten oder sogar gleichgültigen Einstellungen gegenüber der eigenen beruflichen Zukunft und z. T. zu antisozialen Einstellungen (»Man kann alles machen, solange man nicht erwischt wird«). Wenn eine heranwachsende Person den Freiraum bekommt, eigene Entscheidungen zu treffen, wenn sie dazu ermutigt wird, kleine kurzfristige Annehmlichkeiten zu Gunsten größerer langfristiger Belohnungen aufzuschieben, wenn sie lernt, mit anderen zu verhan-

deln und für ihre eigenen Rechte einzutreten, entwickelt sich bei ihr ein Gefühl der persönlichen Autonomie und der Kontrolle über die eigenen Entscheidungen. Dies fördert auch die emotionale Unabhängigkeit und stärkt die persönliche Willenskraft. Insgesamt werden damit die Grundlagen für die spätere berufliche Entscheidungskompetenz gelegt. Von einer heranwachsenden Person wird auch erwartet, dass sie Kriterien für die Ausbildungs- und Berufswahl entwickelt. Solche Kriterien können ganz unterschiedlich sein, wie z. B. »Hauptsache, es macht Spaß!«, »Man soll das als Beruf wählen, worin man gut ist!«, »Ich will etwas lernen, wo ich unabhängig und auf niemand angewiesen bin«, »Den Beruf, den man wählt, hat man sein ganzes Leben«, »Man kann den Beruf auch wechseln, wenn er keinen Spaß mehr macht«, »Ich will nie arbeitslos werden!« etc. Die Herausbildung solcher Kriterien fördert das Wissen über die eigene Person und erleichtert es damit, später eine bessere Übereinstimmung zwischen den eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten einerseits und den Angeboten in der Berufswelt herstellen zu können. Die erfolgreiche Problembewältigung in Alltagsdingen zu Hause, in der Schule oder bei Hobbys erhöht die eigene Selbstwirksamkeitseinschätzung, fördert die Selbstakzeptanz und steigert das Selbstwertgefühl. Dies schafft die Grundlagen für das Zutrauen zu sich selbst, die Herausforderungen der Berufswahl und der erforderlichen beruflichen Anpassungen erfolgreich bewältigen zu können. Das Alter zwischen 14 und 24 Jahren wird in der Laufbahnentwicklungstheorie (Savickas, 2002) als Explorationsphase der beruflichen Entwicklung bezeichnet. In dieser Zeit sollen die Personen den Weg von ihren beruflichen Wünschen und Tagträumen zu einer konkreten Stelle in der Arbeitswelt finden. Die Entwicklungsaufgabe besteht also darin, eine Berufswahlentscheidung zu treffen und umzusetzen. Man unterscheidet dabei 3 Aspekte dieser Entwicklungsaufgabe: Kristallisation, Spezifikation und Aktualisierung. Für die Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben haben Jobs von Jugendlichen in Ergänzung zur Schule eine wichtige Bedeutung (Kirkpatrick Johnson & Mortimer, 2002): Jugendliche gewinnen so erste Erfahrungen im Erwerbsleben und können besser für sich ihre beruflichen Interessen und individuellen Arbeitswerte klären. Empirische Studien zeigen, dass diese Jobs bei den Ju-

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272

14

Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung angesichts des Wandels der Arbeit

gendlichen zu einer verbesserten Pünktlichkeit, einem stärkeren Verantwortungsbewusstsein, höherer Zuverlässigkeit, einem größeren Selbstvertrauen und einem verbesserten Bewerbungsverhalten führen. Wenn die Arbeitszeiten im Job allerdings zu lang sind, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit von Substanzmissbrauch (Alkohol und Zigaretten), Delinquenz und einem Absinken der schulischen Leistungen. Gute Schüler haben relativ kurze Arbeitszeiten in ihren Jobs und können deshalb stark davon profitieren. Schlechte Schüler haben dagegen oft zu lange Arbeitszeiten parallel zur Schule, was mit den genannten negativen Effekten einhergeht. Die Kristallisationsaufgabe (7 Übersicht) besteht einerseits darin, durch gezielte Selbsterprobungen zu einer differenzierteren Einschätzung der eigenen beruflichen Interessenfelder (z. B. primär Umgang mit Menschen oder primär Umgang mit Dingen), der eigenen berufsrelevanten Fähigkeiten (liegen z. B. die Stärken eher im sprachlichen Bereich oder im mathematischen Bereich) sowie der Ausprägung der eigenen Arbeitswerte (z. B. Sicherheit des Arbeitsplatzes vs. Abwechslung am Arbeitsplatz) zu gelangen. Es besteht also die Aufgabe, ein differenziertes berufliches Selbstkonzept zu entwickeln. Andererseits soll die berufssuchende Person gezielt Informationen über die Anforderungen, Routinen und Belohnungen in bestimmten Berufsfeldern und Berufen sammeln, um damit eine kognitive Landkarte über die Berufswelt zu entwickeln. Aus dem Vergleich von Selbstkonzept und kognitiver Berufslandkarte sollen sich dann vorläufige Präferenzen für bestimmte Berufsfelder ergeben. Die Spezifikationsaufgabe besteht dann in der Auswahl einer spezifischen Wunschtätigkeit aus den vorläufigen Präferenzen. Die Aktualisierungsaufgabe ist es, den Weg vom Wunsch zu dessen aktiver Realisierung tatsächlich – auch gegen Widerstände und angesichts von Schwierigkeiten – zu gehen. Savickas (2002) berichtet über 3 Stile, mit den Entwicklungaufgaben der Explorationsphase umzugehen. Der sog. informationsorientierte Stil zeichnet sich durch ein aktives Suchverhalten sowie ein eigenständiges, stark problemorientiertes Vorgehen aus. Der normorientierte Stil weist eine sehr enge Anlehnung an die Vorgaben und Erwartungen signifikanter anderer Personen und eine enge Bindung an die Herkunftsfamilie auf. Der vermeidende Stil äußert sich in hinauszögernden und vermeidenden Verhaltensweisen gegenüber beruflichen Entscheidungen. Den Betroffenen fehlen positive Rollenmodelle. Ihr Verhalten hat Defizite

beim problemorientierten Vorgehen und zeichnet sich durch emotionszentrierte Bewältigungsversuche aus. Wenn ein informationsorientierter Stil vorliegt, kann man von einer hohen sog. Berufswahlreife ausgehen. Damit bezeichnet man die Bereitschaft und die Fähigkeit, die Entwicklungsaufgabe der Berufswahl in Angriff zu nehmen und erfolgreich zu bewältigen. Berufswahlreife umfasst folgende Aspekte: 4 Planungskompetenz, 4 Entscheidungskompetenz, 4 Wissen über das Selbst und die relevante berufliche Umwelt sowie 4 die Berufswahlzuversicht. In der Bundesrepublik Deutschland dürfte der Alterskorridor von jungen Erwachsenen ohne Hochschulausbildung für die Explorationsphase in der Tat zwischen 14 und 24 Jahren liegen. Da Hochschulabsolventen hierzulande ihr Studium aber häufig erst nach dem 25. Lebensjahr abschließen, ist für diesen Teil des Berufsnachwuchses die Explorationsphase länger. Durch eine Verkürzung der Gymnasialzeit sowie die Einführung des 3-jährigen Bachelorstudiums als erster berufsqualifizierender Hochschulabschluss wurden in jüngster Zeit aber zielgerichtet politische Maßnahmen initiiert, um eine frühere Berufseinmündung bei Hochschulabsolventen herbeizuführen. 14.4

Psychologische Konzepte der Berufsfindung

Zur Berufsfindung gibt es 2 zentrale psychologische Ansätze, nämlich den passungstheoretischen Ansatz (Matching) sowie die Konzeption der Laufbahnentwicklungstheorie. Beide sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden. Anschließend werden die Haupthindernisse für die Berufsfindung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen vorgestellt. Das Problem der Berufsfindung hat aus psychologischer Sicht 2 Aspekte, nämlich einen normativen und einen deskriptiven. Die normative Frage betrifft das Problem, wie die Berufswahl eigentlich stattfinden sollte. Was sollten die Berufswähler dabei beachten und was sollte man ihnen – z. B. in der Berufsberatung – empfehlen? Die deskriptive Frage betrifft den Sachverhalt, wie sich die Berufsfindung tatsächlich vollzieht und welche Rolle dabei die berufssuchende Person spielt.

273 14.4 · Psychologische Konzepte der Berufsfindung

Die Theorie der Arbeitsanpassung (Dawis, 1996, 2002) und das hexagonale Berufswahlmodell von Holland (Holland, 1996; Spokane, Luchetta & Richwine, 2002) gehen davon aus, dass sich bei Personen im Alter der Berufsfindung, also zwischen 14 und 24 Jahren, bereits stabile individuelle Fähigkeiten und Bedürfnisse (Bedürfnisse werden hier breit im Sinne von Motiven, Temperamentseigenschaften, Interessen oder Werthaltungen verstanden) herausgebildet haben, die für die Dauer des Berufslebens im Großen und Ganzen stabil bleiben (was kleinere Modifikationen aber nicht ausschließt). Nach dem Matchingansatz soll nun eine Passung zwischen dem Beruf mit seinen Anforderungen und seinen Bedürfnisbefriedigungsmöglichkeiten einerseits und den Qualifikationen sowie den Bedürfnissen der Person andererseits hergestellt werden (. Tab. 14.2 zu verschiedenen Aspekten der 7 beruflichen Passung). Im Gegensatz zur Stellenwahl, bei der v. a. die Tätigkeitsanforderungen einer bestimmten Stelle relevant sind, stehen bei der Berufswahl die langfristigen Laufbahnanforderungen im Vordergrund. Wenn man Berufe als spezifische Sequenzen von Aufgaben und Positionen (7 Übersicht) versteht, die Personen im Laufe ihres Erwerbslebens dann möglicherweise durchlaufen, kommt es nach Auffassung der Vertreter des Matchingansatzes darauf an, die Fähigkeiten zu identifizieren, die benötigt werden, um das zu erlernen, was man braucht, um diese Aufgaben später erfolgreich zu erfüllen (potenzialbezogene Passung). Dabei spielt die individuelle Lernfähigkeit eine wichtige Rolle. Die Lernfähigkeit, die benötigt wird, um die notwendigen Kompetenzen und Fertigkeiten zu erwerben, bezeichnet man als Potenzial (Dawis, 1996, S. 83). Welche Größen haben Einfluss auf dieses Potenzial? Wichtige Größen zur Vorhersage des Erfolges beruflicher Ausbildungs- und Trainingsmaßnahmen sind die Persönlichkeitsmerkmale Ehrlichkeit (Integrität) und Ge-

Laufbahnsequenz im Lehrerberuf 4 4 4 4

Lehramtsstudium Referendariat Klassen- und/oder Fachlehrer/in Lehrer/innen mit Unterrichts- und Verwaltungsaufgaben (Fachleitung) 4 Lehrer/innen mit Unterrichts- und Personalaufgaben (stellvertretende Schulleitung) 4 Schulleitung mit Verwaltungs-, Personal-, Öffentlichkeits- und politischen Aufgaben 4 Tätigkeit in der Schulaufsicht und Schulverwaltung

wissenhaftigkeit, das Niveau der Schulbildung sowie einschlägige berufliche Interessen (Schmidt & Hunter, 1998). Wie eine große Zahl von Studien allerdings gezeigt hat, ist die allgemeine Intelligenz die beste Größe zur Vorhersage des Erfolges im Studium (Kunzel, Hezlett & Ones, 2004) sowie in der beruflichen Aus- und Weiterbildung und bei Trainingsmaßnahmen (Hülsheger, Maier, Stumpp & Muck, 2006; Schmidt & Hunter, 2004). Eine empirische Studie der damaligen Bundesanstalt für Arbeit belegt (Engelbrecht, 1994), dass sich verschiedene Berufe deutlich in Bezug auf die durchschnittliche Intelligenz der Berufsausübenden unterscheiden (. Tab. 14.3). Wenn man die Berufsfindung als Problem der richtigen Zuordnung (Matching) versteht, kommt es also zunächst darauf an, abzuklären, ob jemand über das für einen bestimmten Beruf erforderliche Fähigkeits- und Lernpotenzial verfügt. Dies ist die Frage danach, ob jemand zu einem bestimmten Beruf passt. In Bezug auf die Übereinstimmung von Fähigkeitsanforderungen und beruflicher Leistung fanden Dawis und Lofquist (1984) allerdings, dass die Berufszufriedenheit eine wichtige Moderatorvariable darstellt.

. Tab. 14.2. Aspekte der Passung zwischen Beruf und Person

Berufstätigkeit

Aspekte der Passung

Person

Tätigkeitsanforderungen in bestimmten Positionen oder Stellen

Qualifikatorische Passung

Kenntnisse, Fertigkeiten, Fähigkeiten

Befriedigungspotenziale

Bedürfnisbezogene Passung

Bedürfnisse, Motive, Interessen, Werthaltungen

Laufbahnanforderungen

Potenzialbezogene Passung

Ausmaß der Lernfähigkeit

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274

Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung angesichts des Wandels der Arbeit

. Tab. 14.3. Unterschiedliche Intelligenzmittelwerte in verschiedenen Berufen (Gesamtmittelwert M=50, Stichprobenumfang 30.477 Personen, Berufsbezeichnungen nur männlich). (Nach Engelbrecht, 1994)

14

Berufe

Intelligenzmittelwerte

Bäcker Bauschlosser Gas- und Wasserinstallateur Altenpfleger Konditor Landwirt Bekleidungsschneider Einzelhandelskaufmann Drucker Drogist Bürogehilfe Speditionskaufmann Elektromechaniker Industriekaufmann Technischer Zeichner Informationselektriker Bankkaufmann

43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59

Bei niedriger Berufszufriedenheit sagt die Übereinstimmung von individuellen Fähigkeiten und beruflichen Fähigkeitsanforderungen die berufliche Leistung nur begrenzt vorher, bei mittlerer beruflicher Zufriedenheit etwas stärker und bei hoher beruflicher Zufriedenheit sehr gut. Dies verweist auf die Bedeutung der bedürfnisbezogenen Passung. Als weiteres ist nach dem Matchingansatz die Frage zu klären, ob der Beruf zur Person passt. Damit ist gemeint, ob die Art und Intensität der Gratifikationen, die ein bestimmter Beruf bietet, den individuellen Bedürfnissen, also den Motiven, Interessen und Werthaltungen mit ihrem jeweiligen Anspruchsniveau entspricht. Holland (1996) unterscheidet 6 verschiedene primäre berufliche Interessenbereiche, nämlich 4 handwerklich-technische Interessen, 4 forschende Interessen, 4 künstlerische Interessen, 4 soziale Interessen, 4 Interesse an Führungstätigkeiten sowie 4 Interesse an verwaltenden Tätigkeiten. Holland geht weiter davon aus, dass sich bestimmte Interessenbereiche gut ergänzen, wie z. B. technische, forschende und verwaltende Interessen, aber andere Interessenbereiche in sich konflikthaft sind, wie z. B. hand-

werklich-technische vs. soziale Interessen, forschende Interessen vs. Interesse an Führungstätigkeiten oder künstlerische Interessen vs. Interesse an verwaltenden Tätigkeiten. Je klarer und konsistenter das individuelle Interessenprofil ist und je mehr es mit den Inhalten eines bestimmten Berufes übereinstimmt, desto höher wird die spätere Berufszufriedenheit sein, desto langfristiger wird jemand in einem bestimmten Beruf verbleiben und desto besser wird die berufliche Leistung der betreffenden Person ausfallen. Diese Hypothesen von Holland konnten allerdings nicht generell bestätigt werden (Spokane et al., 2002, S. 394–409). Zwar korrelierte die berufliche Zufriedenheit mit der Passung der Interessen im Schnitt bedeutsam, sie variierte jedoch erheblich, und zwar zwischen dem negativen und positiven Bereich. Die Dauer des Verbleibs in einem Beruf korrelierte mit der Passung im Durchschnitt zwar ebenfalls gering, aber bedeutsam positiv; ebenso korreliert die Passung mit der berufliche Leistung gering, aber bedeutsam positiv (Assouline & Meir, 1987). Soweit zum normativen Passungsmodell. Wie findet nun aber die Berufswahl tatsächlich statt? Nach Holland streben Personen von sich aus danach, in beruflichen Umwelten tätig werden zu können, die mit ihren individuellen Interessenschwerpunkten und Fähigkeiten übereinstimmen. Wenn eine Person feststellt, dass eine berufliche Umwelt nicht wirklich ihren Fähigkeiten und Interessen entspricht, verlässt sie diese wieder und sucht nach einer Umwelt, zu der eine höhere Übereinstimmung besteht (Spokane et al., 2002). Man bezeichnet dies als berufliche Gravitationshypothese. Bestätigende Hinweise für die Gravitationshypothese liefert eine Studie von Judge, Higgins, Thoresen und Barrick (1999). Diese Autoren haben Langzeitstudien ausgewertet, bei denen in Kalifornien Persönlichkeitsmerkmale von Personen im Alter zwischen 12 und 14 Jahren erfasst und dann mit dem Berufsprofil ca. 30– 35 Jahre später, also im Alter zwischen 41 und 50 Jahren, in Beziehung gesetzt wurden. Dabei zeigte sich zum einen eine relativ hohe Stabilität der Persönlichkeitsmerkmale (die Durchschnittskorrelation betrug r = .43). Zum anderen zeigte sich eine überzufällige, wenngleich auch nur schwach ausgeprägte Kongruenz zwischen Person und beruflicher Umwelt. Während im passungstheoretischen Ansatz die objektive Merkmalsbeschreibung der Person von ausschlaggebender Bedeutung ist (z. B. die Frage, wie intelligent jemand objektiv ist), steht für die Laufbahnent-

275 14.4 · Psychologische Konzepte der Berufsfindung

wicklungstheorie das Selbstkonzept einer Person als die entscheidende Größe im Vordergrund (s. Savickas, 2002; Abele-Brehm & Stief, 2004). Nicht die objektive Höhe der allgemeinen Intelligenz, sondern das Selbstvertrauen (Selbstwirksamkeit) und das Ausmaß, in dem eine Person sich selbst als entscheidend dafür erachtet, wie erfolgreich sie beruflich sein wird (interner Locus of Control) steuert das Berufswahl- und Berufsfindungsgeschehen. Nicht der objektive Neurotizismus, sondern das Ausmaß der Selbstwertschätzung ist für das Handeln der Personen entscheidend. Nicht die objektiven Bedürfnisse, sondern die konkreten individuellen Wertungen und Formungen von Bedürfnissen und Wünschen dienen der individuellen Bewertung des individuellen Berufsfindungsgeschehens. Es kommt weniger darauf an, was eine Person objektiv leistet und wie gut sie objektiv zu einem bestimmten Beruf passt, sondern wie die betroffene Person selbst die individuelle Passung wahrnimmt und einordnet. Für den Erfolg der Berufsfindung sind folgende Aspekte wichtig: Die Selbstwertschätzung sollte positiv, das Selbstkonzept klar statt diffus, in sich konsistent statt widersprüchlich und die Selbstwirksamkeitseinschätzungen positiv, realistisch und differenziert sein. Nach dieser Auffassung wird die Berufswahl und Berufsfindung als ein von der Person selbst gesteuerter, kontinuierlicher Entscheidungs- und Ausführungsprozess gesehen, der auch nicht immer linear verläuft, sondern in dem es viele Wiederholungen, Überlagerungen und Auslassungen gibt. Nach Auffassung der Laufbahnentwicklungstheorie haben Personen bei diesem Prozess das Ziel vor Augen, im Beruf solche Positionen und Rollen anzustreben, die ihnen die Gelegenheit geben, ihr berufliches Handeln als Bestätigung ihres Selbstkonzeptes zu interpretieren. Wenn Personen nicht die Möglichkeit sehen, ihr Selbstkonzept zu verwirklichen, orientieren sie sich beruflich um und neu. Die Berufsfindung wird von der Laufbahnentwicklungstheorie also als ein Prozess und Versuch der Selbstkonzeptvalidierung verstanden. Hierzu ein Beispiel: Sieverding (1992) ging der Frage nach, warum es zwar in etwa gleich viele weibliche und männliche Absolventinnen des Medizinstudiums, aber wesentlich mehr männliche als weibliche Fachärzte in Deutschland gibt. Sie fand dabei heraus, dass die Absolventinnen des Medizinstudiums glaubten, für eine sich an das Studium anschließende Facharztausbildung in einer Klinik sei es erforderlich, aggressiv, dominant, cool, egoistisch und

hart aufzutreten. Ihr Wunschselbstkonzept war jedoch, auch im Medizinberuf in der Klinik freundlich, hilfreich und herzlich zu sein. Sieverding erklärt mit dieser Diskrepanz zwischen dem Berufskonzept und dem Wunschselbstkonzept, warum viele weibliche Absolventinnen keine weitere Facharztausbildung an einer Klinik anstreben. Hinsichtlich der Haupthindernisse für eine angemessene Berufsfindung kommen der passungs- und der laufbahnentwicklungstheoretische Ansatz zu ähnlichen Einschätzungen, nämlich dass 4 Personen keine klaren beruflichen Präferenzen haben (7 Info-Box Karriere Coaching), 4 sie in sich konfligierende berufliche Wünsche haben, 4 sie unzutreffende Informationen über verschiedene berufliche Umwelten haben, d. h. sie verkennen die beruflichen Umwelten, die zu ihnen passen bzw. eigentlich nicht zu ihnen passen, 4 sie soziale Konflikte haben, weil die beruflichen Erwartungen an sie aus ihrem sozialen Umfeld und insbesondere aus ihrer Familie weit entfernt von ihren eigenen beruflichen Wünschen sind, 4 sie aufgrund der geografischen Lage, der wirtschaftlichen Situation oder aufgrund von Diskriminierungen keinen Zugang zu passenden beruflichen Umwelten haben, Lern-, Qualifizierungs- oder Ausbildungsmöglichkeiten für sie eingeschränkt oder bestimmte Laufbahnmuster (z. B. Übernahme von Führungs- und Personalverantwortung) für Angehörige bestimmter Gruppen nicht zugänglich sind. Probleme bei der Berufsfindung können mit Hilfe der Skala zur Laufbahnproblembelastung von Seifert (1992) erfasst werden (7 Beispiel). Eine ausführliche, aktuelle Darstellung des Vorgehens bei der psychologischen Laufbahnberatung findet sich bei Hohner (2006). Beispiel

Itembeispiele aus der Skala zur Laufbahnproblembelastung bei Ausbildungsabsolventen nach Seifert (1992) in der Adaptation von Blickle (1997): 4 Ich kenne meine hauptsächlichen beruflichen Stärken und Schwächen noch zu wenig. 6

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Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung angesichts des Wandels der Arbeit

4 Ich fühle mich noch zu wenig darüber infor-

miert, welche beruflichen Möglichkeiten ich habe. 4 Ich weiß noch zu wenig darüber Bescheid, welche Anforderungen in den für mich in Frage kommenden beruflichen Tätigkeiten gestellt werden. 4 Es beschäftigt mich, dass meine beruflichen Interessen und meine Fähigkeiten auf verschiedenen Gebieten liegen.

Info-Box

Karriere Coaching

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3000-Dollar-Tuning für den Lebenslauf, von David Goeßmann, Boston Auch wenn eine Coachingstunde 300 bis 500 Dollar kostet, sind viele Eltern gern bereit, für die private Ausbildung ihrer Kinder zu zahlen. In den USA nennt man sie »Helicopter Parents«. Sie heuern private Coaches für alles Mögliche an: Gewichtsverlust, sportliches Training, Collegebewerbungen oder Schauspielern. Der Markt dafür wächst unaufhörlich. Immer neue Nischen werden entdeckt. Ohne den persönlichen Trainer scheint in vielen amerikanischen Familien nichts mehr zu laufen. Auch für die Berufskarriere ihrer Zöglinge sorgen die Eltern. Der Career Coach ist die Zauberformel für den optimalen Berufseinstieg. Der Nachwuchs scheint die Offerten der Eltern gern entgegenzunehmen. Die Coaches gehen die Bewerbungsunterlagen durch. Sie verlangen Rechenschaft über jeden einzelnen Punkt. Analyse von Zielen und Fähigkeiten, Videobewerbungsgespräche und Marketingstrategien stehen außerdem auf dem Coaching-Plan. Alles maßgeschneidert auf den jeweiligen Klienten. Es geht in dem Coaching um weit mehr als den Job. »Wo will ich leben? Ist meine Familie wichtig für mich? Ist meine Freundin wichtig für mich? Wo sehe ich mich in fünf Jahren?« Der Service ist alles andere als billig. Satte 3000 Dollar kostet das Coaching-Paket mit acht eineinhalbstündigen Sitzungen. Das Geschäft mit Career Coaching boomt in den USA. In den letzten 6

zwei Jahren haben die Coaching-Firmen insbesondere die Berufsstarter als Klienten entdeckt. Sie werfen den »Career Services« der Unis vor, keine Ahnung von der Arbeitswelt und ihren Anforderungen zu haben. Es gehe um die Frage: Wie mache ich aus dem Studenten eine auf dem Jobmarkt verkaufbare »Brand«, eine Marke? Die Antwort der selbsternannten Optimierer: Man muss eine zwingende persönliche Geschichte aufbauen. »Du kannst jemandem Techniken für Bewerbungsgespräche beibringen, aber was ist, wenn sie sonst nichts haben, worüber sie sich unterhalten können?« © SPIEGEL ONLINE 2006 Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGELnet GmbH

14.5

Berufliche Etablierung

Im Alter zwischen 25 und 44 Jahren fand in der herkömmlichen Struktur der Berufswelt, die bis Mitte der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in den westlichen Industriegesellschaften vorherrschend war, die berufliche Etablierung statt. Die Entwicklungsaufgabe bestand darin, aus einem befristeten Arbeitsverhältnis oder einer Teilzeitbeschäftigung in eine unbefristete Vollzeitbeschäftigung zu wechseln (7 Übersicht »Berufliche Entwicklungsaufgaben«: Stabilisierung). Wenn dies gelang, konnten die Erwerbstätigen auf eine langfristige, stabile, kalkulierbare und sichere Tätigkeit in ihrer Organisation setzen, die ihnen nach dem einmaligen Erlernen des relevanten Wissens sowie der entsprechenden fachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten überschaubare Aufgaben zumutete (7 Übersicht »Berufliche Entwicklungsaufgaben«: Konsolidierung), was bei entsprechender Loyalität und Einordnungsbereitschaft zu schrittweisem hierarchischen Aufstieg (7 Übersicht »Berufliche Entwicklungsaufgaben«) und betrieblicher Absicherung gegen Lebensrisiken (Unfälle, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Altersarmut) führte. Die Höhe der Bezahlung hing v. a. vom Alter, vom Familienstand, der Dauer der Betriebszugehörigkeit, aber auch vom Geschlecht ab. Die Weiterbildung wurde vom Arbeitsgeber organisiert und finanziert. Auch heute noch wichtige berufliche Etablierungsmechanismen sind Mentoring (Blickle & Schneider,

277 14.6 · Auswirkungen der veränderten Beschäftigungsverhältnisse auf den Berufsverlauf

2007) und Networking (Wolff & Moser, 2006). Es handelt sich dabei um ähnliche, aber doch unterschiedliche Formen der Laufbahnunterstützung. Der Begriff Mentor bezeichnet eine höherrangige, einflussreiche Person männlichen oder weiblichen Geschlechts im Arbeitsumfeld einer Nachwuchskraft, die dort über große berufliche Erfahrung sowie breites berufliches Wissen verfügt und der daran gelegen ist, die berufliche Entwicklung der Nachwuchskraft zu fördern und ihren Aufstieg zu unterstützen. Innerhalb der Mentor-Protegé-(Mentee-)Beziehung nimmt ein Mentor 3 verschiedene Funktionen wahr 4 eine karrierebezogene, 4 eine psychosoziale sowie 4 die Funktion als Rollenmodell. Die karrierebezogene Funktion beinhaltet Unterstützung, die dem Weiterkommen und dem Aufstieg des Protegés innerhalb der Organisation zu Gute kommen soll. Der Mentor fördert die Talente des Protegés, gewährt Einblicke in berufliche Kniffe, zeigt formale und informelle Regeln auf und führt in die Mikropolitik der Organisation ein. Er ermöglicht neue Kontakte, macht Leistungen und Potenzial des Protégés für andere einflussreiche Personen sichtbar, verhilft ihm zu Beförderungen und Versetzungen, unterstützt bei der Karriereplanung und schützt bei drohendem Schaden. Die psychosoziale Funktion betrifft hingegen emotionale Aspekte. Der Mentor hört aktiv zu, erteilt Ratschläge, zeigt Stärken und Schwächen auf und hilft auch bei persönlichen Problemen. Einige Autoren fügen dieser Liste den Aspekt hinzu, dass Mentoren Rollenmodell und Vorbild für die Nachwuchskraft sein können. Bei Protégés konnten in einer Metaanalyse im Vergleich zu nichtprotegierten Personen folgende Unterschiede in Bezug auf den beruflichen Erfolg und die berufliche Zufriedenheit empirisch festgestellt werden (Allen, Eby, Poteet, Lentz & Lima, 2004): Protégés erleben sowohl weniger Rollenstress als auch weniger Rollenkonflikte und ihre Arbeitszufriedenheit ist höher. Protégés steigen schneller auf, sie haben ein höheres Einkommen sowie eine erfolgreichere organisationale Sozialisation. Unter Networking versteht man den Aufbau und die Nutzung von Beziehungen im Berufsleben. In einer netzwerktheoretischen Neukonzipierung des Stellenwertes von Mentor-Protégé-Beziehungen für die Laufbahnentwicklung haben Blickle, Kuhnert und Rieck (2003) darauf aufmerksam gemacht, dass Mentor-Proté-

gé-Beziehungen nur eine Art von laufbahnförderlichen Unterstützungsbeziehungen darstellen (Higgins & Kram, 2001). Denn neben Beziehungen zu Mentoren gibt es auch andere laufbahnförderliche Beziehungen: In der einen Beziehung mag ganz die emotionale Unterstützung im Vordergrund stehen, in einer anderen dagegen der Aspekt des Coachings dominieren, d. h. die fördernde Person unterstützt insbesondere das Erlernen der sachlichen Aspekte der Tätigkeit und gibt dazu wichtige Hinweise und Ratschläge. In einer dritten Beziehung mag die Laufbahnplanung im Mittelpunkt stehen. Die fördernde Person ermutigt dazu, die eigene Karriere in Angriff zu nehmen. Sie gibt Tipps und Hinweise für die berufliche Zukunft und hilft bei der Laufbahnplanung. In einer vierten unterstützenden Beziehung kann der Fokus darauf liegen, dass Sichtbarkeit für die unterstützte Person entsteht: Die fördernde Person sorgt dafür, dass die Leistungen und das Potenzial der Nachwuchskraft einflussreichen Persönlichkeiten positiv auffallen. Im Gegenzug arbeitet die Nachwuchskraft der fördernden Person zu, entlastet sie von Detailaufgaben und bringt eigene Ideen zur Unterstützung der fördernden Person ein. Ein solches Netzwerk von unterstützenden Beziehungen hat zum einen den Vorteil, dass die Abhängigkeit von einzelnen Personen nicht zu groß wird, und zum anderen, dass die unterstützte Person gleichzeitig Zugang zu sehr vielen und sehr unterschiedlichen Informationen bekommt, was nicht der Fall ist, wenn sie nur von einem einzelnen Mentor unterstützt wird. In einer Metaanalyse (Ng, Eby, Sorensen & Feldman, 2005) zeigten sich positive Effekte von Networking auf die Höhe des Einkommens, den Aufstieg und die Berufszufriedenheit. 14.6

Auswirkungen der veränderten Beschäftigungsverhältnisse auf den Berufsverlauf

Das Alter zwischen 45 und 64 Jahren diente in der herkömmlichen Struktur der Berufswelt der Sicherung des erreichten beruflichen Status. Die Entwicklungsaufgabe bestand darin, die erreichte Position zu sichern, das erforderliche Wissen und die eigenen, beruflich notwendigen Fertigkeiten auf dem neuesten Stand zu halten und sein Erfahrungswissen zu nutzen, um neue Aufgaben zu übernehmen (7 Übersicht »Berufliche Entwicklungsaufgaben«). Ausgelöst wurden diese Entwicklungsaufga-

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278

Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung angesichts des Wandels der Arbeit

ben durch sich schrittweise verändernde Technologien in der Branche, durch den Konkurrenzkampf mit dem aufsteigenden Nachwuchs in der eigenen Organisation, die veränderten Ansprüche der heranwachsenden eigenen Kinder in der Familie sowie die nachlassende körperliche Fitness (Savickas, 2002). Aber bereits eine Studie von Mahoney (1987) aus der Mitte der 80er Jahre in den USA zeigte, dass dieses Muster vorwiegend für Berufstätige mit hochrangigen beruflichen Positionen zutreffend war. Hauptsächlich den beruflich ganz Erfolgreichen der 45- bis 64-jährigen Berufstätigen blieb es vorbehalten, in die Erhaltungsphase 7 Übersicht »Berufliche Entwicklungsaufgaben«) der beruflichen Entwicklung zu gelangen. Der größere Teil der Berufstätigen nach dem 45. Lebensjahr musste in dieser Studie aus den USA die Stelle oder sogar die Laufbahn wechseln, was mit beruflichen Reetablierungsphasen oder sogar Reexplorationsphasen verbunden war. Dieser Befund erwies sich als trendweisend (7 neue Leitbilder der beruflichen Entwicklung). Durch die zunehmend globale Vernetzung der nationalen Volkswirtschaften, den weltweiten Siegeszug der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, die Entwicklung weg von der Industrie- und hin zur Informationsgesellschaft sowie die Verbreitung von Unternehmensaufkäufen (»acquisitions«), -zusammenschlüssen (»mergers«), Umstrukturierungen (»business reengineering«) und Verkleinerungen (»downsizing«) als neue Managementkonzepte veränderte sich auch die Art der Bindung der Beschäftigten (. Tab. 14.4) an ihre Organisation (Rousseau, 1995). Während die Beschäftigten vor den 90er Jahren noch auf eine langfristige Tätigkeit in ihrer Organisation setzen konnten, ist heute die Anstellung in einer Organisa-

tion häufig zeitlich befristet und die Weiterbeschäftigung unsicher (Dostal, 2001). Die Berufsbiografie gleicht oft einem Flickenteppich (Lang-von Wins, Mohr & Rosenstiel, 2004). Viele Personen haben schon sehr unterschiedliche Tätigkeiten ausgeführt, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Unterbrechungen durch Zeiten der Arbeitslosigkeit sind nicht ungewöhnlich. Die Bezahlung hängt weniger von Alter, Geschlecht, Familienstand und der Dauer der Betriebszugehörigkeit ab, sondern mehr davon, über welches im Moment erfolgskritische Wissen die Beschäftigten verfügen. Die Weiterqualifizierung fällt zunehmend mehr in die Eigenverantwortung der Beschäftigten. Die Lebensrisiken müssen verstärkt eigenständig abgesichert werden (Voß, 1998). Speziell in der Bundesrepublik Deutschland haben die sog. prekären Beschäftigungsverhältnisse (zeitliche Befristung, Teilzeitbeschäftigung, Scheinselbstständigkeit) stark zugenommen (Allmendinger & Ebner, 2006; Statistisches Bundesamt, 2004, S. 42–47): Im Jahr 1991 waren 11% der abhängig Beschäftigten im Alter von 15–29 nur zeitlich befristet beschäftigt, im Jahr 2003 waren es 20%. Auch die Teilzeitarbeit nahm erheblich in diesem Zeitraum zu: Seit 1991 stieg die Anzahl der abhängig Beschäftigten, die nur ein Teilzeitbeschäftigungsverhältnis hatten, um 2,4 Mio. Personen, also um 51% auf 22% der Erwerbstätigen insgesamt an. Nur noch 78% der Erwerbstätigen gingen im Jahr 2003 einer Vollzeitbeschäftigung nach. Schließlich stieg auch die Anzahl der Selbstständigen beträchtlich an, darunter auch die der Selbstständigen ohne Beschäftigte. Im Jahr 1991 gab es rund 1,4 Mio. Selbstständige ohne Beschäftigte (vgl. dazu 7 Kap. 19). Im Jahr 2003 waren es rund 2 Mio. Selbstständige ohne Beschäftigte in Deutschland. Dies entspricht einem Zuwachs von 42%. Es ist zu vermuten,

. Tab. 14.4. Veränderte Bindung der Beschäftigten an ihr Unternehmen (vgl. Cascio 2003)

14

Alter psychologischer Kontrakt

Neuer psychologischer Kontrakt

Stabilität, Vorhersehbarkeit Langfristigkeit Standardisierte Aufgaben Belohnung von Loyalität Patriarchalische Fürsorge Sicherheit des Arbeitsplatzes Lineare Berufslaufbahnen Lernen am Berufsanfang

Veränderung, Ungewissheit Zeitliche Befristung Flexible Aufgaben Belohnung von Leistung und Wissen Eigenverantwortung Arbeitsplatzunsicherheita Berufliche Patchworkbiografien Lebenslanges berufliches Lernen

a

Im Gegensatz zu den USA steht der Sicherheit des Arbeitsplatzes in Deutschland nicht die Sicherheit gegenüber, schnell wieder irgendwo anders einen Arbeitsplatz zu finden. Dies gilt in Deutschland nur für hochqualifizierte Beschäftigte.

279 14.6 · Auswirkungen der veränderten Beschäftigungsverhältnisse auf den Berufsverlauf

dass ein erheblicher Anteil der Selbstständigen ohne Beschäftigte in Arbeitsverhältnissen arbeitet, die denen einer Scheinselbstständigkeit sehr nahe kommen. Ein Beispiel dafür sind LKW-Fahrer, die nicht mehr als Angestellte, sondern als Selbstständige mit eigenem LKW für dieselbe Spedition tätig sind. Sie arbeiten nicht selbstständig, sondern nach Anweisung, tragen aber die wirtschaftlichen Risiken selbst, müssen ihre Kranken-, Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung alleine finanzieren und haben weder bezahlten Urlaub noch bezahlte Krankheitstage. Schließlich kommt hinzu, dass Erwerbstätigkeiten mit einfachen Anforderungen abgenommen und mit komplexeren Anforderungen zugenommen haben (Reinberg & Schreyer, 2003; . Abb. 14.2). Als normative Leitkonzepte für Berufstätige, die mit diesen veränderten Beschäftigungsverhältnissen konfrontiert sind, wurden 3 ähnliche Metaphern bzw. Konstrukte (Inkson, 2006) vorgeschlagen (. Tab. 14.5): das proteanische Laufbahnmodell (Hall, 2004), das Konzept der entgrenzten Laufbahn (Arthur & Rousseau, 1996; Voß, 1998) sowie das Employability-Konstrukt (Fugate, Kinicki & Ashforth, 2004). In der Odyssee von Homer ist Proteus der Meeresgott, der sich nach Wunsch und Bedarf in einen Löwen, eine Schlange, einen Panther, ein Wildschwein oder in eine andere Gestalt verwandeln kann. Dieses Bild wurde von Hall (2004) aufgegriffen, um das Leitbild einer selbst-

. Abb. 14.2. Veränderung von Tätigkeitsanforderungen

bestimmten beruflichen Anpassungsfähigkeit zu veranschaulichen. In starker gedanklicher Nähe zur Laufbahnentwicklungstheorie postuliert dieses Leitbild für Berufstätige das Ideal der Herausbildung einer individuellen beruflichen Identität (»Was sind meine Stärken?«, »Was sind meine Werte?«, »Was sind meine Ziele?« – Knowing why). Zu diesem Leitbild gehören auch die Herausbildung der Fähigkeit zur Antizipation von neuen Trends und Entwicklungen im eigenen beruflichen Umfeld sowie die Fähigkeit, Einstellungen und Fertigkeiten flexibel den situativen Anforderungen anzupassen. Die berufstätige Person schließt keinen inneren Kontrakt mehr mit ihrer Organisation, sondern mit sich selbst. Sie misst ihren Erfolg nicht an materiellen Fortschritten, sondern an der Verwirklichung selbstgesteckter Ziele. Briscoe, Hall und Frautschy DeMuth (2006) haben einen Fragebogen zur Erfassung proteanischer Einstellungen zur Berufslaufbahn entwickelt. Insgesamt steht die empirische Forschung zu diesem Leitbild aber noch am Anfang. Das Leitbild der Entgrenzung geht von der Annahme aus, dass Berufstätige die Fähigkeit entwickeln sollten, innerhalb einer bestimmten Branche und innerhalb eines bestimmten Berufes flexibel zwischen verschiedenen Laufbahnen (z. B. Fach- und Führungslaufbahnen) und Arbeitgebern, was auch Familienzeiten sowie Phasen beruflicher Selbstständigkeit einschließt, zu wechseln (Arthur & Rousseau, 1996, S. 5). Wechsel werden durch sog. berufliches Kapital ermöglicht und sollen zu einer Erweiterung des beruflichen Kapitals beitragen. Das berufliche Kapital hat 3 Komponenten, nämlich 4 das Knowing why (berufliche Identität und berufliche Werte), 4 das Knowing how (berufliche Fertigkeiten und berufliche Erfahrung) sowie 4 das Knowing whom (Aufbau von persönlichen Netzwerken sowie einer positiven persönlichen Reputation). Die Einstellung von Berufstätigen zu diesem Leitbild der Entgrenzung kann mit Hilfe von 2 Skalen (Boundaryless

. Tab. 14.5. Neue normative Leitkonzepte für Berufstätige (vgl. Inkson, 2006)

Proteanisches Leitbild

Leitbild der Entgrenzung

Employability

Selbstbestimmung und Anpassungsfähigkeit durch Identität und persönliche Werte

Proaktive Entgrenzung durch Akkumulation von Karrierekapital

Bewältigungshandeln durch sichere Identität, Laufbahnanpassungsfähigkeit sowie Human- und Sozialkapital

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280

Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung angesichts des Wandels der Arbeit

Mindset Scale; Organizational Mobility Preference Scale) erfasst werden (Briscoe et al., 2006). Fugate et al. (2004) haben versucht, mit dem Konstrukt der Employability diejenigen Faktoren zu identifizieren, die dazu beitragen, dass eine Person ihre Erwerbstätigkeit auch angesichts prekärer Arbeitsmarktchancen erhalten kann. Das Konstrukt ist stärker deskriptiv orientiert als die beiden Leitbilder. Das Konstrukt der Employability wird von den Autoren als gemeinsame Schnittmenge der beruflichen Identität, der beruflichen Anpassungsbereitschaft sowie des individuellen Sozial- und Humankapitals konzipiert. Aufgrund eines differenzierten beruflichen Selbstkonzeptes, d. h. einer sicheren beruflichen Identität (Career Identity – Knowing why) sowie einer reichhaltigen kognitiven beruflichen Landkarte sollen Personen für sie in Frage kommende Beschäftigungsmöglichkeiten explorieren. Förderlich ist dabei ein informationsorientierter Stil, der sich durch aktives Suchverhalten sowie ein eigenständiges, stark problemorientiertes Vorgehen auszeichnet. Die berufliche Anpassungsfähigkeit wird durch folgende individuelle Einstellungen und Dispositionen gefördert: 4 Optimismus, 4 Lernbereitschaft, 4 Offenheit für Erfahrung, 4 ein internaler Locus of Control sowie 4 eine positive, generalisierte Selbstwirksamkeitserwartung.

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Soziales Kapital manifestiert sich im sozialen Netzwerk einer Person. Netzwerke variieren in Bezug auf ihre Größe und Stärke. Sie verschaffen Informationen und Einfluss und damit die Gelegenheit, berufliche Chancen zu entdecken, und die Möglichkeit, sie zu realisieren. Das individuelle Humankapital manifestiert sich in den individuellen Fähigkeiten, der Schulbildung, dem Studium, der beruflichen Ausbildung, der beruflichen Weiterbildung sowie der Dauer und Intensität der Arbeits- und Berufserfahrung. Eby, Butts und Lockwood (2003) untersuchten die relative Bedeutung der 3 Größen Knowing why (differenziertes berufliches Selbstkonzept), Knowing how (Humankapital) und Knowing whom (Sozialkapital) bei nordamerikanischen Hochschulabsolventen des Absolventenjahrganges 1995, die 2001, also nach 6 Jahren, zu ihrem beruflichen Erfolg, ihren internen Aufstiegschancen sowie zu ihren Chancen am Arbeitsmarkt

befragt wurden. Die Autoren fanden in Übereinstimmung mit der Laufbahnentwicklungstheorie, dass für den bisherigen Laufbahnerfolg und die Beurteilung der eigenen internen Aufstiegschancen ein differenziertes berufliches Selbstkonzept die vergleichsweise höchste Bedeutung hatte. Für die externen Arbeitsmarktchancen hatte das individuelle Humankapital das größte relative Gewicht. In einer systematisch aufgebauten Serie von 7 empirischen Studien konnte Oreg (2003) die Faktoren identifizieren, die eine individuelle Disposition, Veränderungen im Beruf abzulehnen und dagegen Widerstand zu leisten, charakterisieren, nämlich der Wunsch nach Routine, die Abneigung, alte Gewohnheiten aufzugeben, starke emotionale Anspannung, Furcht vor Kontrollverlust, Kurzfristorientierung sowie kognitive Rigidität. Die Akzeptanz von Veränderungen am Arbeitsplatz, so eine Studie von Judge, Thoresen, Pucik und Welbourne (1999), hängt dagegen von folgenden Persönlichkeitsdispositionen ab: generalisierte Selbstwirksamkeitserwartung, internaler Locus of Control, Optimismus und Selbstwertschätzung. Wanberg und Banas (2000) haben Situationsmerkmale identifiziert, welche die Akzeptanz von Veränderungen am Arbeitsplatz begünstigen, nämlich ein unterstützender Führungsstil, Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Veränderung, Informationen über die Veränderungen sowie die Aufrechterhaltung der Handlungskompetenz durch Trainingsangebote. Begünstigende Faktoren für die berufliche Weiterbildungsbereitschaft wurden von Blickle und Schneider (in Druck) zusammenfassend dargestellt. Wichtige Motive für die Weiterbildungsbereitschaft sind das allgemeine Bedürfnis zur persönlichen Weiterentwicklung und Selbstverbesserung, die Hoffnung auf finanzielle Verbesserung, der Wunsch nach Arbeitsplatzsicherung, die Aussicht auf Reputationszuwachs, der Wunsch, das berufliche Fachwissen zu aktualisieren sowie die wahrgenommene Verpflichtung zur Weiterbildung seitens des Arbeitgebers. Begünstigende organisationale Faktoren der Weiterbildungsbereitschaft sind eine vorhandene betriebliche Lernkultur, eine lernförderliche Aufgabengestaltung sowie soziale Unterstützung durch Vorgesetzte und Kollegen. Die Motivation, an Trainingsmaßnahmen teilzunehmen, wird durch eine geringe Ängstlichkeit, eine internale Kontrollüberzeugung, hohe Selbstwirksamkeit, hohe Gewissenhaftigkeit und starke Leistungsmotivation gefördert.

281 14.7 · Perspektiven aufgrund des demografischen Wandels in Deutschland

Die Selbstwirksamkeitserwartungen, die Ausrichtung des Locus of Control, der Optimismus und die Selbstwertschätzung spielen also eine wichtige Rolle für die erfolgreiche Anpassung von Erwachsenen an die veränderten Beschäftigungsverhältnisse. Wie sehr umfangreiche Interventions- und Evaluationsstudien bei Arbeitslosen in den USA der Arbeitsgruppe um Vinokur zeigen, lassen sich diese Größen gezielt durch psychologische Interventionen im Rahmen von Outplacementoder Arbeitslosentrainings steigern (van Ryn & Vinokur, 1992). Diese Interventionen führen auch noch nach 2,5 Jahren zu einer höheren Beschäftigungsquote und mehr Einkommen bei den Betroffenen (Caplan, Vinokur, Price & van Ryn, 1989; Vinokur, van Ryn, Gramlich & Price, 1991; Vinokur & Schul, 1997). Eine ausführliche Darstellung von psychologischen Interventionsmaßnahmen bei Erwerbslosen findet sich bei Zempel und Moser (2001), Outplacementmaßnahmen werden von Hofmann (2001) eingehend dargestellt (siehe dazu auch 7 Kap. 15). 14.7

Perspektiven aufgrund des demografischen Wandels in Deutschland

Mehr als 8 Mio. der fast 11 Mio. Teilzeitbeschäftigten in Deutschland sind Frauen (Wanger, 2005). Häufige Gründe dafür sind die Unterbrechung oder Einschränkung der Erwerbstätigkeit von Frauen aufgrund der Kinderbetreuung sowie der Pflege und Betreuung immer länger lebender Eltern und Großeltern. Diese Einschränkungen und Unterbrechungen wirken sich negativ auf die Karriereentwicklung von Frauen aus (Abele-Brehm & Stief, 2004). Die Einkommen von Frauen in Deutschland liegen derzeit jedoch auch bei Berücksichtigung der kürzeren Arbeitszeiten niedriger als jene der Männer (Achatz, Gartner & Glück, 2004). Außerdem sind Frauen in Führungspositionen immer noch stark unterrepräsentiert (Brader & Lewerenz, 2006), obwohl Frauen inzwischen im Durchschnitt höhere allgemeinbildende Schulabschlüsse haben als Männer (Statistisches Bundesamt, 2005). Nur 38% der Menschen in Deutschland zwischen 55 und 64 Jahren sind noch erwerbstätig. Die Gründe dafür sind eine verminderte Erwerbsfähigkeit (etwa 1,8 Mio. Personen beziehen in Deutschland eine Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeitsrente), eine hohe Gesamtarbeitslosigkeit sowie eine lange Jahre auch staatlich geförderte

Frühverrentungspersonalpolitik der Arbeitgeber (Allmendinger & Ebner, 2006): 15% aller Betriebe stellen grundsätzlich keine älteren Mitarbeiter ein (Bellmann, Kistler & Wahse, 2003). Und nur 2% der Betriebe bieten eine besondere Ausstattung der Arbeitsplätze für Ältere. Es wird geschätzt (Allmendinger & Ebner, 2006), dass sich die Bevölkerung in Deutschland von 82,5 auf 75 Mio. verringern wird. Der Anteil der unter 20-Jährigen wird von 21 auf 16% und der Anteil der 20- bis 59-Jährigen wird von 55 auf 47% sinken. Steigen wird dagegen der Anteil der 60- bis 79-Jährigen von 20 auf 25% und der über 80-Jährigen von 4 auf 12%. Je nach Zuwanderungsintensität schätzt man, dass deshalb das Arbeitskräfteangebot in Deutschland bis zum Jahr 2050 von 44,5 auf 32–38 Mio. Arbeitskräfte absinken wird. Allmendinger und Ebner (2006) gelangen deswegen zu folgender Forderung: Insbesondere die Expansion anspruchsvoller Dienstleistungstätigkeiten erhöht den Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften, während niedrig Qualifizierte zunehmend seltener nachgefragt werden ... Das schrumpfende Arbeitskräfteangebot, die immer älteren Arbeitsanbieter und die erhöhten Qualifikationsanforderungen verlangen nach einer Erhöhung der Erwerbstätigenquoten von Frauen und Älteren sowie nach einer effektiveren und verstärkten Bildung und Weiterbildung (Allmendinger & Ebner, 2006, S. 227).

Ältere Menschen verfügen über Wissen und Erfahrungen, die sie in die Lage versetzen, sich mit neuen Anforderungen kreativ auseinanderzusetzen, insbesondere werden Entscheidungen und Schlussfolgerungen von Älteren mit mehr Bedacht, mit größerer Vorsicht und nüchternem Realismus getroffen (Lehr & Kruse, 2006). Die Risiken bei älteren Beschäftigten resultieren aus einem Nachlassen der Körperkraft, der Verschlechterung der Gesundheit, Verminderungen der Sinnesleistungen, Einbußen in der Informationsverarbeitungsund Reaktionsgeschwindigkeit, verringerter Leistungskapazität des Arbeitsgedächtnisses sowie einer Abnahme der selektiven Aufmerksamkeit (Maintz, 2003). Deshalb wird es zukünftig notwendig sein, Arbeitsaufgaben für ältere Erwerbstätige so zu gestalten, dass sie deren Risiken kompensieren und ihre Stärken zum Tragen bringen.

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282

Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung angesichts des Wandels der Arbeit

Fazit Die berufliche Entwicklung wird durch sog. Entwicklungsaufgaben veranlasst und strukturiert. Jede Phase der beruflichen Entwicklung ist durch spezifische Entwicklungsaufgaben gekennzeichnet. In der herkömmlichen Erwerbsarbeit konnte man folgende Phasen unterscheiden: Wachstums-, Explorations-, Etablierungs-, Erhaltungs- und Rückzugsphase. Infolge der Globalisierung der Weltwirtschaft, der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien sowie veränderten Managementkonzepten sind aber mittlerweile auch Beschäftigungsverhältnisse im mittleren und späten Erwachsenenalter durch Beschäftigungsungewissheit und hohe Flexibilitätserfordernisse gekennzeichnet. Eine erfolgreiche individuelle Anpassung wird durch berufliche Zukunftsorientierung, hohe Selbst-

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wirksamkeitserwartung, einen internalen Locus of Control, Optimismus und Selbstwertschätzung erleichtert. Diese Größen lassen sich gezielt durch psychologische Interventionen im Rahmen von Outplacement- oder Arbeitslosentrainings beschäftigungswirksam steigern. Das schrumpfende Arbeitskräfteangebot, die immer älteren Arbeitsanbieter und die erhöhten Qualifikationsanforderungen bis zum Jahr 2050 in Deutschland verlangen nach einer Erhöhung der Erwerbstätigenquoten von Frauen und Älteren sowie nach einer effektiveren und verstärkten Bildung und Weiterbildung von Älteren, Personen mit niedrigem Bildungsabschluss und niedrigem sozialem Status sowie Beschäftigten in Klein- und Mittelbetrieben.

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14

284

14

Kapitel 14 · Berufswahl und berufliche Entwicklung angesichts des Wandels der Arbeit

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15 15

Arbeitslosigkeit Karsten I. Paul, Klaus Moser

15.1

Forschungsfragen der psychologischen Arbeitslosigkeitsforschung – 286

15.2

Definitionen und ihre Bedeutung: Zum Begriff der Arbeitslosigkeit – 286

15.3

Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit – 288

15.3.1

Existiert ein Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und psychischer Gesundheit? – 288 Moderatoren des Zusammenhangs zwischen Arbeitslosigkeit und psychischer Gesundheit – 289 Das Kausalitätsproblem: Führt Arbeitslosigkeit zu psychischer Beanspruchung oder psychische Beanspruchung zu Arbeitslosigkeit? Wirkmechanismen: Welche Aspekte der Arbeitslosigkeitssituation beeinträchtigen die psychische Gesundheit? – 292

15.3.2 15.3.3 15.3.4

– 291

15.4

Allgemeingesellschaftliche Folgen von Arbeitslosigkeit – 296

15.5

Der Weg zurück in die Erwerbstätigkeit: Hilfe durch die Psychologie? – 297

15.5.1

Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensstrategien, welche die Wiederbeschäftigung fördern – 297 Psychologische Aspekte von Interventionen für Arbeitslose Zeitarbeit – 300 Outplacementberatung – 301

15.5.2 15.5.3 15.5.4

Literatur

– 303

K. Moser (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie DOI 10.1007/978-3-540-71637-2_15, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007

– 298

286

Kapitel 15 · Arbeitslosigkeit

> Irgendwie dachte ich damals, mir kann das nicht passieren, schließlich konnte ich was, war fleißig, anpassungsfähig, die meisten mochten mich. Und außerdem durfte man einer alleinerziehenden Mutter gar nicht so einfach kündigen. So naiv war ich mal. Dann: Viermal arbeitslos. Fast 100 Bewerbungen. Zwölf Vorstellungsgespräche. Ich habe sechsmal was völlig Neues angefangen. Und ein siebtes Mal hätte ich sicher die Kraft nicht mehr. Aber jetzt arbeite ich, gehöre zu dem Teil der Welt, der Arbeit hat. Aber so richtig daran glauben, dass das fürs Leben ist, kann ich nicht mehr. (…) Wenn ich jetzt immer mit dem Schlimmsten rechne und mich das nicht schlafen lässt, wenn ich oft Kopfschmerzen und Blutungen habe, müde bin, mir der Rücken weh tut, ich irgendwie erschöpft bin ohne – zum Glück – richtig krank zu sein, dann hat das sicher auch mit dem kommenden Alter zu tun. Aber diese sechs Neuanfänge in acht Jahren, die Arbeitslosigkeit und die Angst davor, plötzlich wieder arbeitslos zu sein und eines Tages unter der Brücke schlafen zu müssen, das hat mich auch kaputt gemacht. Dabei sage ich mir immer, mach dir keine Gedanken, es kommt sowieso, wie’s kommt. Aus: Jutta F. (1999). Viermal arbeitslos

15.1

15

Forschungsfragen der psychologischen Arbeitslosigkeitsforschung

Berthold Brecht berichtet in einer seiner »Geschichten vom Herrn Keuner«, wie ein Arbeiter vor Gericht gefragt wird, ob er die kirchliche oder die weltliche Form des Eides benutzen wolle. Der Arbeiter antwortet mit dem – an dieser Stelle scheinbar sinnlosen – Satz: »Ich bin arbeitslos«. Später wird über diese Antwort gesagt: »Dies war nicht nur Zerstreutheit. (…) Durch diese Antwort gab er zu erkennen, dass er sich in einer Lage befand, wo solche Fragen, ja vielleicht das ganze Gerichtsverfahren als solches, keinen Sinn mehr haben« (Brecht, 1971, S. 40). Ein Zeitgenosse Brechts, Johannes R. Becher, beschreibt in einem Gedicht ausführlich das Sterben eines Mannes, der sich mit Gas selbst das Leben nimmt. Der Titel des Gedichts lautet: »Tod eines Arbeitslosen« (Becher, 1988, S. 23–24). Bei anderen Dichtern, z. B. Gerhart Hauptmann in seinem berühmten Stück »Die Weber«, finden sich ähnliche Textstellen. 7 Arbeitslosigkeit ist demnach aus der Sicht der Literatur eine Situation, die

tiefgreifende psychische Auswirkungen hat, die Werte, Regeln, Gewohnheiten und die eigene Identität massiv in Frage stellen kann und sich sehr negativ – bis hin zur Provokation von Suiziden – auf das psychische Befinden auswirkt. Wissenschaftler gingen von ähnlichen Annahmen aus und haben sich im Lauf jahrzehntelanger Forschung mit den psychischen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit befasst. Die zentralen Ergebnisse dieser Forschung werden in diesem Kapitel zusammengefasst. Dabei ist festzuhalten, dass diese Forschung nicht nur von Psychologen geleistet wurde, sondern auch von Volkswirten, Soziologen, Kulturwissenschaftlern, Erziehungswissenschaftlern, Medizinern und Angehörigen anderer Disziplinen. Es handelt sich um ein Forschungsfeld, dass von Interdisziplinarität geprägt ist, was sehr gut zu der Tatsache passt, dass Arbeitslosigkeit eine Gesellschaft auf vielfältige Weise und in ihrer Gesamtheit beeinflusst. Die Hauptfragen der psychologischen Forschung zur Arbeitslosigkeit waren: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und psychischer Gesundheit? Wenn ja, ist dann die Arbeitslosigkeit tatsächlich ursächlich verantwortlich für Veränderungen der psychischen Gesundheit? Gibt es Personengruppen, bei denen der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und psychischer Gesundheit besonders stark oder besonders schwach ausfällt? Was sind die Wirkmechanismen, die den negativen Effekt der Arbeitslosigkeit auf die psychische Gesundheit vermitteln? Die Frage nach der Reintegration Arbeitsloser in das Berufsleben wurde in der Forschung ebenfalls häufig thematisiert. Psychologen haben sich dabei v. a. dafür interessiert, welche Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensweisen für eine schnelle Wiedereingliederung ins Arbeitsleben hilfreich sind, aber auch, wie mit psychologischen Maßnahmen dieser Prozess unterstützt werden kann. 15.2

Definitionen und ihre Bedeutung: Zum Begriff der Arbeitslosigkeit

Wir Menschen des 21. Jahrhunderts neigen dazu, Arbeitslosigkeit als einen Fluch der Moderne zu betrachten, der erst mit dem Einsetzen der industriellen Revolution über unsere Gesellschaften hereinzubrechen begann. Vermutlich ist aber nur der Name neu. »Arbeitslosigkeit« und »unemployment« sind Wörter,

287 15.2 · Definition und ihre Bedeutung: Zum Begriff der Arbeitslosigkeit

die erst seit Ende des 19. Jahrhunderts gebräuchlich sind (vgl. Garraty, 1978). Das Problem selbst hingegen dürfte ein alter Begleiter der Menschheit sein. Beispielsweise wird aus dem alten Athen berichtet, dass Perikles große Bauprojekte in Angriff nehmen ließ, um der großen Zahl untätiger Männer eine Beschäftigung zu geben. Zudem schickte er mehrfach Expeditionen aus, die jenseits des Meeres Kolonien gründeten, um eine Überfüllung Athens mit arbeitslosen und daher unruhigen Menschenhaufen zu verhindern (vgl. Garraty, 1978). Ähnliches wird aus Korinth berichtet (vgl. Berndt, 1899). Die für das Stadtbild des Mittelalters so charakteristischen Bettler setzten sich höchstwahrscheinlich nicht nur aus Alten und Kranken zusammen, sondern zu einem erheblichen Teil auch aus Menschen, die wir heute als Arbeitslose bezeichnen würden (vgl. Garraty, 1978). Bis in die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts differenzierte man an diesem Punkt aber nicht, sondern sprach nur pauschal über »die Armen«. Erst danach wurden Menschen, die arbeitsfähig und arbeitswillig sind, aber keine Arbeit finden können, als eigenständige Gruppe wahrgenommen und als »Arbeitslose« bezeichnet. Zu dieser Zeit entstanden auch die Institutionen, die für den gesellschaftlichen Umgang mit Arbeitslosigkeit heute so typisch sind. Beispielsweise richtete man im Deutschen Reich nach 1882 viele sog. Arbeiterkolonien ein, in denen Erwerbslose vom Staat bereitgestellte Arbeit finden konnten; es wurde also etwas geschaffen, was man heute als »zweiten Arbeitsmarkt« bezeichnen würde (vgl. Garraty, 1978). Außerdem wurden, nach ersten Versuchen in den 1840er Jahren, immer mehr Arbeitsvermittlungsstellen eingerichtet, so dass im Laufe der 1890er Jahre jede größere deutsche Stadt einen sog. Arbeitsnachweis besaß (vgl. Niess, 1979). Nach der Jahrhundertwende entstanden in einigen europäischen Staaten dann auch erste Arbeitslosenversicherungen, die aber zunächst noch freiwillig waren und nur einen kleinen Teil der Erwerbstätigen einschlossen. Eine allgemeine Arbeitslosenversicherung mit verpflichtender Teilnahme wurde in Deutschland erst 1927 eingeführt (vgl. Garraty, 1978). Parallel zu dieser Entwicklung wurden auch Erhebungsmethoden entwickelt, mit denen das Ausmaß der Arbeitslosigkeit in einem Land gemessen werden kann. Diese Entwicklung war nicht einheitlich, und in den verschiedenen Ländern der Welt werden auch heute noch recht unterschiedliche Definitionen und Messverfahren von Arbeitslosigkeit verwendet (Hollederer, 2002). Teilweise sind sogar innerhalb ein und desselben Landes

unterschiedliche Messverfahren in Gebrauch, wie z. B. in Deutschland, wo die von der Bundesagentur für Arbeit verwendete Konzeption von Arbeitslosigkeit zu Schätzungen von Arbeitslosenquoten führt, die regelmäßig ca. 2–3 Prozentpunkte höher liegen als die Schätzungen des Statistischen Bundesamtes. Man kann aber feststellen, dass die verschiedenen Definitionen und Messverfahren von Arbeitslosigkeit alle einen gemeinsamen Kern haben. Drei Merkmale von Arbeitslosigkeit sind essenziell und tauchen in jedem ernstzunehmenden Definitionsversuch auf (ILO, 2000): 1. Nichtvorhandensein einer Erwerbsarbeit 2. Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt 3. Suche nach Erwerbsarbeit Ein Arbeitsloser darf also derzeit keiner bezahlten Arbeit nachgehen. Er oder sie muss einem potenziellen Arbeitgeber verfügbar sein, darf also z. B. nicht arbeitsunfähig erkrankt sein oder aus juristischen Gründen nicht imstande sein zu arbeiten (z. B. wegen eines zu geringen Alters). Schließlich muss die Person aktiv auf der Suche nach Erwerbsarbeit sein, z. B. in Form einer entsprechenden Meldung bei der Arbeitsagentur. Dieses Kriterium schließt jene Studierenden, Hausfrauen, Rentner etc. aus, die zwar möglicherweise eine Stelle annehmen würden, wenn sie ihnen direkt angeboten würde, die aber eben nicht aktiv danach suchen (die sog. stille Reserve). Die Umsetzung dieser Kriterien variiert von Land zu Land etwas. Deutsche Arbeitslose dürfen beispielsweise bis zu 15 Stunden pro Woche einer Erwerbsarbeit nachgehen, in anderen Ländern wie z. B. Japan ist es deutlich weniger. Hinzu kommen teilweise Tätigkeiten aus dem Bereich der Schwarzarbeit, so dass »die Arbeitslosen« in der Regel eine recht heterogene Gruppe darstellen, deren Mitglieder sich aber alle durch ein deutliches »Zuwenig« an regulärer Erwerbsarbeit auszeichnen. Insgesamt kann man festhalten, dass es sich bei Arbeitslosigkeit um ein komplexes Phänomen handelt, das neben der Nichtarbeit auch medizinische, juristische und motivationale Aspekte umfasst. Der Umstand, dass Arbeitslosigkeit auch ein motivationales Element enthält, lässt Auswirkungen auf die Psyche naheliegend erscheinen.

15

288

15

Kapitel 15 · Arbeitslosigkeit

15.3

Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit

15.3.1

Existiert ein Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und psychischer Gesundheit?

Gemäß den Ergebnissen der aktuellsten und umfassendsten Metaanalyse zu den psychischen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit lässt sich ein Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und psychischer Gesundheit zweifelsfrei nachweisen (Paul & Moser, 2007). Der Unterschied zwischen Erwerbstätigen und Arbeitslosen ist demnach von mittlerer Stärke, was mit erheblichen praktischen Auswirkungen einhergeht. Unter den Arbeitslosen haben nämlich durchschnittlich 34% der untersuchten Personen mit nennenswerten psychischen Problemen zu kämpfen, während der entsprechende Anteil unter Erwerbstätigen nur 16% beträgt. Der Anteil von Menschen mit deutlichen Befindensproblemen verdoppelt sich also, wenn Arbeitslosigkeit vorliegt! Interessant ist, dass sich der eben dargestellte negative Effekt der Arbeitslosigkeit auf ein breites Spektrum von Indikatoren psychischer Gesundheit bezieht: Unspezifische Störungssymptome, Depressionssymptome, Angstsymptome, Lebenszufriedenheit/emotionales Wohlbefinden sowie Selbstwertgefühl. Bei all diesen Variablen zeigen sich Unterschiede zwischen Arbeitslosen und Erwerbstätigen. Lediglich psychosomatische Störungssymptome bilden eine gewisse Ausnahme. Auch für diese Symptomgruppe lassen sich zwar signifikante Unterschiede nachweisen, die allerdings nur schwach ausfallen. Bei psychosomatischen Symptomen handelt es sich um Gesundheitseinschränkungen wie z. B. Rücken- oder Kopfschmerzen, die zwar körperlich lokalisiert sind, bei denen aber eine psychische Mitverursachung anzunehmen ist. Sie stehen somit an der Grenze zwischen psychischer und physischer Gesundheit. Gleichzeitig zeigen die Ergebnisse großangelegter medizinischer Studien (z. B. Grobe, Döring & Schwartz, 1999), dass Arbeitslosigkeit zwar nachweislich auch mit Einschränkungen der physischen Gesundheit einhergeht, dass dieser Effekt aber nicht sehr stark ausfällt. Man kann zusammenfassend also sagen, dass Arbeitslosigkeit erwiesenermaßen die Gesundheit der Betroffenen in Mitleidenschaft zieht, wobei die psychische Gesundheit noch stärker betroffen zu sein scheint als die körperliche. Der 7 Beispielkasten enthält einige Zitate von Betrof-

fenen zur Veranschaulichung dieser negativen psychischen Auswirkungen. Beispiel

Zitate von Arbeitslosen zur Veranschaulichung der negativen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die psychische Gesundheit »Du bist gefrustet. Das Erste, was dir in den Sinn kommt, ist: ›Was habe ich falsch gemacht‹. Und dann musst du dich selbst davon überzeugen, dass du nichts falsch gemacht hast.« »… fühlt sich an wie verprügelt zu werden.« »Man ist nach 25 Arbeitsjahren plötzlich nichts mehr wert – Alteisen oder Gerümpel … Die brauchen nicht mehr zu kommen, die brauchen wir nicht mehr. Das sich Weggeworfen fühlen.« »Ich fühle mich wie auf einer Insel. Ich sollte weg, und ich habe keinen Schimmer, wann ein Schiff oder ein Flugzeug kommt. Es ist nichts vorhersehbar.« » … solche Tage gibt es auch. Da kommt man dann gar nicht aus dem Bett … wenn man den ganzen Tag sich dann über irgendwelche Dinge Sorgen und Gedanken machen kann.« »Es [=Arbeitslosigkeit] war furchtbar. Ich konnte keine zwei Worte aneinandereihen, ich konnte keine Unterhaltung mit irgendjemandem führen, es war mir egal wie ich aussah, wo ich hinging, um welche Zeit ich morgens aufstand … Ich war sehr sehr unglücklich darüber, wie die Dinge standen.« »Ich bin nicht suizidal, aber es gab Zeiten, da hatte ich das Gefühl, dass es egal ist ob ich noch hier bin oder nicht.« Quellen: Barwinski-Fäh, 1990; Beelmann, 2003; Conti, 1999; Evans, 1986; Übersetzungen aus dem Englischen durch den Erstautor

Dabei sollte ergänzend erwähnt werden, dass natürlich nicht alle Arbeitslosen solche deutlich negativen psychischen Auswirkungen erfahren. Es gibt interindividuelle Unterschiede in der Reaktion auf Arbeitslosigkeit (7 Abschn. 15.3.2). Vielen Betroffenen gelingt es, ihre psychische Stabilität einigermaßen zu bewahren, und manche berichten sogar positive Effekte der Arbeitslosigkeit (Fryer & Payne, 1984). Als Gruppe zeigen Arbeitslose aber eine klare Einschränkung ihrer durchschnittlichen psychischen Gesundheit.

289 15.3 · Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit

Arbeitslosigkeit hat zudem auch Auswirkungen auf das Gesundheitsverhalten. Eine österreichische Studie mit einer großen, bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe kam z. B. zu dem Ergebnis, dass Arbeitslose häufiger Rauchen, häufiger Schlaf- und Beruhigungsmittel einnehmen, weniger Sport treiben, sich seltener die Zähne putzen und seltener zu Vorsorgeuntersuchungen gehen als Erwerbstätige (Rasky, Stronegger & Freidl, 1996). Die Ergebnisse bezüglich des Alkoholkonsums sind uneinheitlich. Bei der Verwendung rein quantitativer Maße, die z. B. die Menge des täglich konsumierten reinen Alkohols abbilden, lassen sich keine konsistenten Mittelwertunterschiede zwischen Arbeitslosen und Erwerbstätigen feststellen. Bei den Arbeitslosen zeigt sich interessanterweise aber eine Polarisierung in der Konsumverteilung. Mit anderen Worten: Unter Arbeitslosen finden sich – im Vergleich zu Erwerbstätigen – mehr Personen, die keinen oder sehr wenig Alkohol zu sich nehmen, aber auch mehr Personen, die viel Alkohol zu sich nehmen. Entsprechend gibt es unter Arbeitslosen dann auch deutlich mehr Menschen, die sich gesundheitsgefährdende oder gesundheitsschädigende Mengen an Alkohol zuführen und als alkoholgefährdet oder -abhängig eingestuft werden müssen (Henkel, 1998). Bei arbeitslosen Alkoholabhängigen gestaltet sich zudem die Therapie deutlich schwieriger als bei Alkoholabhängigen, die eine Stelle haben. Dies zeigt sich beispielsweise in deutlich höheren Therapieabbruch- und Rückfallquoten (Henkel, Zemlin & Dornbusch, 2004). Schließlich zeigen zahlreiche Studien, dass die gravierendste mögliche Folge psychischer Beeinträchtigung, der Suizid, bei Arbeitslosen ebenfalls häufiger auftritt als bei Erwerbstätigen (Platt, 1985). In einer Studie an norwegischen Langzeitarbeitslosen (Claussen, 1998) ließ sich zudem nachweisen, dass Wiederbeschäftigung mit einer deutlichen Reduktion der Intensität von Suizidgedanken einhergeht, was einen Kausalzusammenhang nahelegt (7 Abschn. 15.3.3). 15.3.2

Moderatoren des Zusammenhangs zwischen Arbeitslosigkeit und psychischer Gesundheit

Nach dem Nachweis eines Zusammenhangs zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheit stellt sich nun die Frage, ob dieser Effekt denn bei allen Menschen gleichermaßen auftritt, oder ob sich Personengruppen identifi-

zieren lassen, die besonders stark unter Arbeitslosigkeit leiden. Möglicherweise sollte man solche besonders betroffenen Personengruppen bei der Zuteilung gesellschaftlicher Unterstützungsmaßnahmen privilegieren? Andererseits könnte die Identifikation einer möglichen Personengruppe, die überhaupt nicht unter Arbeitslosigkeit leidet, hilfreiche Hinweise liefern im Hinblick auf erfolgreiche Bewältigungsstrategien bei Arbeitslosigkeit. Metaanalytische Moderatoranalysen zeigen, dass das Geschlecht eine bedeutsame Rolle spielt. Männer leiden stärker unter den psychischen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit als Frauen (Paul & Moser, 2007). Als mögliche Erklärung für dieses Ergebnis wurde die Verfügbarkeit einer Alternativrolle als Hausfrau und Mutter diskutiert, in die sich Frauen zurückziehen können und die möglicherweise psychisch stabilisierend wirkt. Männern ist dies hingegen nicht möglich (Shamir, 1985). In einer israelischen Studie zu dieser Thematik konnten aber keine eindeutigen empirischen Belege für diese Annahme gefunden werden (Shamir, 1985), obwohl Hausfrauen üblicherweise durchaus ein besseres Befinden aufweisen als Arbeitslose (Mohr, 1993; Paul & Moser, 2006). Frauen wurde zudem eine schwächere innere Bindung an die Erwerbsarbeit unterstellt, was den Verlust des Arbeitsplatzes weniger gravierend machen soll. Männer seien dagegen seelisch besonders betroffen, weil ihnen mit dem Arbeitsplatz sozusagen das Herzstück ihrer Identität entrissen wird (Komarovsky, 1940). Im Zuge der Angleichung der Geschlechterrollen hat dieses Argument aber vermutlich etwas an Bedeutung verloren. Eine andere Hypothese könnte hingegen durchaus noch aktuell sein. Sie besagt, dass die Stigmatisierung, die mit männlicher Arbeitslosigkeit verknüpft ist, intensiver ausfällt als die Stigmatisierung weiblicher Arbeitslosigkeit (McFayden, 1995). Bei Paaren ist ein weiterer wichtiger Aspekt in der unterschiedlichen finanziellen Potenz der Partner zu sehen: Männer verdienen im Durchschnitt mehr als Frauen, so dass sich der Verlust des Arbeitsplatzes des Mannes deutlich negativer auf das Gesamthaushaltseinkommen auswirkt als der der Frau. Entsprechend dürften auch die psychischen Auswirkungen deutlicher sein. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass Arbeitsplätze, die Männer einnehmen, zumeist auch hinsichtlich intrinsischer Motivationsaspekte wie z. B. hierarchischer Position, Autonomie, Sozialkontakten usw. attraktiver sind als die Arbeitsplätze, die Frauen einnehmen. Dies bedeutet einen höheren Verlust im Fal-

15

290

15

Kapitel 15 · Arbeitslosigkeit

le männlicher Arbeitslosigkeit und könnte ein weiterer Grund für die stärkeren Beanspruchungssymptome bei Männern sein (Mohr, 1993). Festzuhalten bleibt, dass der moderierende Effekt des Geschlechts zweifellos existiert und sich im historischen Verlauf auch keine Abschwächung erkennen lässt (Paul, 2006). Es lassen sich noch andere Moderatoreffekte identifizieren. Angehörige gewerblich-technischer Berufe werden von Arbeitslosigkeit stärker beeinträchtigt als Angehörige von Büroberufen, was vermutlich durch die unterschiedlichen finanziellen Ressourcen beider Gruppen zu erklären ist. Ein weiterer wichtiger Moderator ist die Dauer der Arbeitslosigkeit: Je länger Menschen arbeitslos sind, desto mehr verschlechtert sich ihr Befinden. Ein möglicher Adaptationseffekt bei sehr langer Arbeitslosigkeitsdauer erscheint dabei wahrscheinlich, konnte aber noch nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden (Paul & Moser, 2007). Ob man sich an Langzeitarbeitslosigkeit also »gewöhnen« kann und sich die psychische Gesundheit irgendwann auf niedrigem Niveau stabilisiert, muss vorerst offen bleiben. Für das Alter konnte metaanalytisch kein Moderatoreffekt aufgezeigt werden, obwohl einzelne Primärstudien einen kurvilinearen Zusammenhang berichten, bei dem besonders Menschen mittleren Alters, nicht aber junge oder ältere Menschen psychisch von Arbeitslosigkeit beeinträchtigt wurden (Jackson & Warr, 1984). Auch die Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder kulturellen Minderheitsgruppe scheint nach metaanalytischen Ergebnissen keinen moderierenden Effekt auf die Verarbeitung von Arbeitslosigkeit zu haben (Paul & Moser, 2007). Ebenfalls kein moderierender Effekt konnte für den Partnerschaftsstatus aufgezeigt werden. Ob jemand alleinstehend ist oder in einer festen Partnerschaft lebt, spielt demnach keine Rolle hinsichtlich der psychischen Beanspruchung durch Arbeitslosigkeit. Singles leiden gleichermaßen unter Arbeitslosigkeit wie Menschen mit Partner. Innerhalb der Gruppe der Arbeitslosen geht ein hohes Ausmaß an sozialer Unterstützung zwar nachweislich mit einem besseren Befinden einher (MyKee-Ryan, Song, Wanberg & Kinicki, 2005). In Partnerschaften kann aber auch »soziale Unterminierung« stattfinden, z. B. wenn der Partner einer arbeitslosen Person diese häufig kritisiert, ihr Vorwürfe macht, sie mit Schuldzuweisungen bezüglich der Arbeitslosigkeit überzieht etc. (Vinokur & van Ryn, 1993). Möglicherweise heben sich beide Prozesse, soziale Unterstützung und soziale Unterminierung, in der

Summe gegenseitig auf, so dass kein Moderatoreffekt nachweisbar ist. Einige Moderatoreffekte, die bisher nicht metaanalytisch, sondern nur in Einzelstudien aufgezeigt wurden, sind ebenfalls von Interesse: An einer Stichprobe asiatischer Zuwanderer in Großbritannien konnte gezeigt werden, dass hohe Religiosität bei Arbeitslosen mit einer geringeren psychischen Symptombelastung einhergeht (Shams & Jackson, 1993). Eine Studie zu den nichtarbeitsbezogenen Aktivitäten arbeitsloser und wiederbeschäftigter Israelis ist ebenfalls erwähnenswert, obwohl kein klarer Moderatoreffekt der Häufigkeit solcher Aktivitäten hinsichtlich der psychischen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit nachgewiesen werden konnte (Shamir, 1986). Innerhalb der Arbeitslosengruppe gingen bestimmte Aktivitäten aber mit einem signifikant verbesserten psychischen Zustand einher: Instandsetzungs- und Verbesserungstätigkeiten am Haus, am Auto oder im Garten, Weiterbildungsaktivitäten, Hilfeleistungen für Freunde oder Verwandte, Sport, sonstige Hobbys. Bei männlichen Arbeitslosen war zudem auch die Beschäftigung mit Kindern mit verbessertem Befinden verknüpft. Ländervergleiche zeigen deutlich, dass der ökonomische Entwicklungsstand einen moderierenden Einfluss ausübt: In reicheren Ländern wirkt sich Arbeitslosigkeit weniger gravierend auf die psychische Gesundheit aus als in ärmeren Ländern (Paul & Moser, 2007). Die Einkommensverteilung spielt aber ebenfalls eine Rolle, da Arbeitslose in egalitäreren Ländern besser mit ihrem Schicksal zurechtkommen als in Ländern, die durch eine stark ungleiche Verteilung finanzieller Ressourcen gekennzeichnet sind. Eine vermittelnde Rolle dürfte hierbei vermutlich die Generosität des staatlichen Arbeitslosenunterstützungssystems spielen, eine Annahme, für die sich auch empirische Hinweise finden. Ob, wie vermutet wurde, die Arbeitsmarktsituation eines Landes eine Rolle spielt, ob also gute Wiederbeschäftigungschancen entlastend wirken, ist noch nicht endgültig geklärt. Gleiches gilt für die Vermutung, dass sich Arbeitslosigkeit in Ländern mit individualistischer Kultur stärker auswirkt als in Ländern mit kollektivistischer Kultur. In beiden Fällen finden sich zwar Hinweise für die Gültigkeit dieser Annahme, die Frage bedarf aber noch weiterer Forschungsanstrengungen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich zwar einige Variablen identifizieren lassen, die die negativen psychischen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit

291 15.3 · Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit

moderieren. Zugleich konnte aber noch keine Gruppe von Personen entdeckt werden, die unempfindlich gegenüber den negativen Effekten von Arbeitslosigkeit ist. Man kann daher festhalten, dass dieser Effekt ein sehr robustes Phänomen ist, das in allen untersuchten Ländern, allen sozialen Schichten, allen Altersstufen, bei beiden Geschlechtern und bereits seit mehreren Jahrzehnten nachweisbar ist. 15.3.3

Das Kausalitätsproblem: Führt Arbeitslosigkeit zu psychischer Beanspruchung oder psychische Beanspruchung zu Arbeitslosigkeit?

Die Tatsache eines querschnittlichen Zusammenhangs zwischen Arbeitslosigkeit und psychischer Gesundheit erlaubt noch nicht die Schlussfolgerung, dass Arbeitslosigkeit sich ursächlich auf das Befinden auswirkt, also sozusagen »krank macht«. Alternative Erklärungsmechanismen wären durchaus vorstellbar und plausibel. Insbesondere gesundheitsbezogene Selektionseffekte auf dem Arbeitsmarkt sind diskutiert worden (Frese & Mohr, 1978; Mastekaasa, 1996). Es ist z. B. denkbar, dass Menschen mit einem schlechten seelischen Befinden leichter ihre Stelle verlieren als gesundheitlich nicht eingeschränkte Personen. Leistungseinbußen und Fehlzeiten aufgrund der psychischen Beanspruchung könnten die Ursache eines solchen Selektionseffekts sein, aber auch ungewöhnliches Benehmen, das Kollegen und Vorgesetzte irritiert, die betroffene Person sozial isoliert und bei Entlassungsentscheidungen daher besonders verwundbar macht. Ebenfalls denkbar ist, dass Personen mit eingeschränkter psychischer Gesundheit, wenn sie erst einmal arbeitslos geworden sind, länger brauchen, um wieder in ein Beschäftigungsverhältnis zurückzufinden. Motivationsprobleme bei der Arbeitssuche könnten hierfür Gründe sein, aber auch negative Auswahlentscheidungen potenzieller Arbeitgeber, die z. B. eine depressionsbedingte traurige Mimik oder selbstkritische Äußerungen im Interview zum Anlass nehmen könnten, Ablehnungen auszusprechen. Auch ein solcher gesundheitsbezogener Selektionseffekt bei der Arbeitsplatzsuche würde zu einer statistischen Häufung von Personen mit schlechten Befindenswerten unter den Arbeitslosen führen und den metaanalytisch identifizierten Befindensunterschied zwischen Arbeitslosen und Erwerbstätigen erklären.

Schließlich ist noch die Möglichkeit zu erwähnen, dass eine dritte Variable sowohl die Wahrscheinlichkeit von Arbeitslosigkeit als auch die Ausprägung der psychischen Gesundheit beeinflusst und der Zusammenhang der beiden letztgenannten Variablen ein rein statistischer ist. Die körperliche Gesundheit ist hier als mögliche konfundierende Variable genannte worden (Winefield, 1995). Es wäre denkbar, dass körperliche Krankheit zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von Arbeitslosigkeit führt und gleichzeitig beeinträchtigend auf die Stimmung wirkt, ohne dass Arbeitslosigkeit und Befinden in einem direkten Kausalverhältnis zueinander stehen müssen. Um Kausalbeziehungen näher zu analysieren, ist es hilfreich, Längsschnittstudien zu betrachten (Kasl, Rodriguez & Lasch, 1998). Metaanalysen der inzwischen mehreren Dutzend Längsschnittstudien im Bereich der psychologischen Arbeitslosigkeitsforschung zeigen, dass Arbeitsplatzverluste mit einer deutlichen Verschlechterung des psychischen Befindens einhergehen, während der Wiedereintritt in die Erwerbsarbeit nach einer Phase der Arbeitslosigkeit von einer deutlichen Verbesserung des Befindens begleitet wird. Bei Jugendlichen zeigt sich, dass ein Wechsel von der Schule in die Erwerbsarbeit ebenfalls mit einer deutlichen Verbesserung der psychischen Gesundheit einhergeht. Junge Menschen, die im Ausbildungssystem verbleiben und z. B. ein Studium aufnehmen, zeigen eine leichte Verbesserung der psychischen Gesundheit. Junge Menschen hingegen, die nach der Schule keine Stelle finden und arbeitslos werden, zeigen eine schwache, nichtsignifikante Verschlechterung ihres Befindens. Arbeitslosigkeit blockiert also offensichtlich die positive Entwicklung der psychischen Gesundheit, die sich normalerweise in dieser Altersphase beobachten lässt. Insgesamt sprechen diese längsschnittlichen Ergebnisse für eine Verursachung von psychischen Beanspruchungssymptomen durch die Arbeitslosigkeit, da auf Wechsel des Erwerbsstatus jeweils Wechsel des Befindens folgen, die auf einen negativen Effekt von Arbeitslosigkeit hindeuten. Ein weiterer Beleg für die Verursachung psychischer Beanspruchungssymptome durch Arbeitslosigkeit findet sich in sog. Fabrikschließungsstudien. Bei solchen Studien werden Fälle von Fabrikstilllegungen oder von aus anderen Gründen erfolgenden schlagartigen Massenentlassungen untersucht. Da in solchen Fällen alle Mitarbeiter gleichermaßen entlassen werden und mögliche Selektions- und Konfundierungseffekte dadurch

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ausgeschlossen sind, liegt letztlich ein quasiexperimentelles Design vor, das vergleichsweise zuverlässige Schlussfolgerungen zur Kausalität erlaubt. Es zeigt sich dabei, dass die Einschränkung der psychischen Gesundheit bei Arbeitslosen in solchen Fabrikschließungsstudien sich nur unwesentlich von der entsprechenden Einschränkung bei anderen Arbeitslosen unterscheidet (Paul, 2006). Man kann daher mit hoher Wahrscheinlichkeit schlussfolgern, dass Arbeitslosigkeit tatsächlich eine Ursache für psychische Gesundheitsstörungen darstellt. Der Umstand, dass eine Kausalwirkung von der Arbeitslosigkeit zur psychischen Gesundheit belegbar ist, schließt die Existenz anderer Erklärungsmuster aber noch nicht aus. Konfundierende Variablen und gesundheitsbezogene Selektionseffekte auf dem Arbeitsmarkt könnten ebenfalls wirksam sein und zumindest einen Teil des Befindensunterschieds zwischen Arbeitslosen und Erwerbstätigen erklären. Es liegen inzwischen auch metaanalytische Befunde vor, die die Existenz der angesprochenen Selektionseffekte bestätigen (Paul & Moser, 2007). Erwerbstätige, die in naher Zukunft ihre Stelle verlieren werden, unterschieden sich schon vorher von Erwerbstätigen, die ihre Stelle nicht verlieren werden dahingehend, dass sie schon vor der Kündigung eine eingeschränkte seelische Gesundheit aufweisen. Unter Arbeitslosen hat eine eingeschränkte seelische Gesundheit ebenfalls negative Auswirkungen, da sie die Wahrscheinlichkeit reduziert, bald einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Bei Jugendlichen zeigt sich ein ähnliches Bild: Jugendliche, die nach der Schule arbeitslos werden, weisen schon in der Schule ein schlechteres psychisches Befinden auf als Jugendliche, die nach der Schule rasch eine Stelle finden werden. Zusammenfassend gesagt zeigt sich metaanalytisch also jeweils, dass eine eingeschränkte psychische Gesundheit mit nachteiligen Konsequenzen auf dem Arbeitsmarkt verknüpft ist, sowohl bei Entlassungen als auch bei der Stellensuche. Es muss allerdings auch gesagt werden, dass diese Effekte schwach ausfallen und nur einen geringen Beitrag zur Erklärung der Befindensunterschiede zwischen Arbeitslosen und Erwerbstätigen leisten. Das Problem möglicher Konfundierungen – also Ergebnisverfälschungen – durch Drittvariablen, z. B. körperliche Gesundheit, kann hier aus Raumgründen nicht eingehend diskutiert werden (für eine eingehende Diskussion s. Paul & Moser, 2001). Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass Arbeitslosigkeit sich gemäß ihrer

Standarddefinition nur auf erwerbsfähige Personen bezieht, oder anders gesagt: Schwer Kranke können nicht arbeitslos sein, da sie nicht arbeitsfähig sind. Die Gefahr einer Konfundierung durch die körperliche Gesundheit dürfte daher geringer sein, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Insgesamt kann man also von einem Teufelskreis sprechen: Eine eingeschränkte psychische Gesundheit erhöht die Wahrscheinlichkeit eines Stellenverlustes. Dieser führt zu einer weiteren Verschlechterung des psychischen Befindens, was wiederum die Chancen auf eine Wiederbeschäftigung reduziert. 15.3.4

Wirkmechanismen: Welche Aspekte der Arbeitslosigkeitssituation beeinträchtigen die psychische Gesundheit?

Der Befund, dass Arbeitslosigkeit psychisches Leiden auslöst, führt natürlich zu der Frage, wodurch dieser Effekt vermittelt wird. Anders gesagt: Die Frage drängt sich auf, warum Arbeitslosigkeit krank machen kann. Zu dieser Frage wurden viele verschiedene Überlegungen angestellt, insbesondere wurde häufig versucht, allgemeine psychologische Theorien auf das spezielle Problem der Arbeitslosigkeit anzuwenden. Arbeitslosigkeit wurde z. B. als Situation interpretiert, die durch die häufige Frustration von Stellensuchanstrengungen und den damit verbundenen wahrgenommenen Kontrollverlust zu erlernter Hilflosigkeit führt und dadurch bei den Betroffenen jene kognitiven, motivationalen und v. a. emotionalen Reaktionen bewirkt, die für diesen Zustand typisch sind (Frese & Mohr, 1978). Passivität, Apathie, Pessimismus, negative Stimmung und Selbstwertverlust wären demnach also Symptome eines Syndroms erlernter Hilflosigkeit. Häufiger zitiert werden allerdings 3 Theorien, die unmittelbar aus der spezifischen wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Phänomen Arbeitslosigkeit heraus entwickelt wurden. Dies sind die Theorie der manifesten und 7 latenten Funktionen der Erwerbsarbeit von Jahoda (1983), das Vitaminmodell von Warr (1987, 2007) und die Handlungsrestriktionstheorie von Fryer (1986). Sie sollen hier etwas ausführlicher dargestellt und um einen neueren Ansatz (Paul & Moser, 2006) ergänzt werden.

293 15.3 · Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit

Manifeste und latente Funktionen der Erwerbsarbeit Nach der Theorie von Jahoda (1983, 1997) werden die negativen psychischen Effekte der Erwerbslosigkeit durch Mangelerlebnisse verursacht, zu denen der Verlust eines Arbeitsplatzes führt. Zum einen ist hier der rein ökonomische Mangel zu nennen (Deprivation der manifesten Funktion der Erwerbsarbeit). Dieser ökonomische Mangel ist nach Meinung von Jahoda in der heutigen Zeit aber deutlich weniger gravierend als früher, beispielsweise während der Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren. Unabhängig hiervon führt Arbeitslosigkeit aber auch noch zu einem Mangel in einigen psychologisch wichtigen »Erfahrungskategorien« (Jahoda, 1983, S. 71), die die Erwerbsarbeit normalerweise verfügbar macht (Deprivation der latenten Funktionen der Erwerbsarbeit). Hierin besteht der spezifische schädigende Effekt der Arbeitslosigkeit, der über die Auswirkungen ökonomischen Mangels hinausgeht. Die Autorin nennt 5 Kategorien (Jahoda, 1983, S. 99): 1. »die Auferlegung einer festen Zeitstruktur, 2. die Ausweitung der Bandbreite sozialer Erfahrungen in Bereiche hinein, die weniger stark emotional besetzt sind als das Familienleben, 3. die Teilnahme an kollektiven Zielsetzungen oder Anstrengungen, 4. die Zuweisung von Status und Identität durch die Erwerbstätigkeit und 5. die verlangte regelmäßige Tätigkeit.« Menschen brauchen nach dieser Theorie also eine von außen gesetzte zeitliche Einteilung des Tagesablaufs, um zufrieden sein zu können, denn »jedermann in einer Industriegesellschaft ist an feste Zeitstrukturen gewöhnt. (…) Wenn nun diese Struktur, wie in der Erwerbslosigkeit, aufgehoben wird, dann stellt ihr Fehlen ein großes psychologisches Problem dar. Ohne Beschäftigung ziehen sich die Tage unendlich lang hin; Langeweile und Zeitverschwendung werden zur Regel« (Jahoda, 1983, S. 45–46). Im 7 Beispielkasten findet sich ein anschauliches Beispiel für den Zerfall der Zeitstruktur bei Arbeitslosen aus der berühmten »Marienthal-Studie« von 1933. Außerdem brauchen Menschen nach dieser Theorie die Möglichkeit, gemeinsame soziale Erfahrungen zu machen, die von anderer Art sind als die emotional stark aufgeladenen Beziehungen innerhalb der eigenen Familie. Das emotional weniger intensive Klima von Kollegenbeziehungen bietet mehr Informationen und mehr

Beispiel

»Einstweilen wird es Mittag«: Der Zeitverwendungsbogen eines 33-jährigen Arbeitslosen in Marienthal. (Nach Jahoda, Lazarsfeld & Zeisel, 1933, S. 84–85) 6–6:30 stehe ich auf, 7–8 wecke ich die Buben auf, da sie in die Schule gehen müssen, 8–9 wenn sie fort sind, gehe ich in den Schuppen, bringe Holz und Wasser herauf, 9–10 wenn ich hinaufkomme, fragt mich immer meine Frau, was sie kochen soll; um dieser Frage zu entgehen, gehe ich in die Au, 10–11 einstweilen wird es Mittag, 11–12 (leer), 12–13 1 Uhr wird gegessen, da die Kinder erst aus der Schule kommen, 13–14 nach dem Essen wird die Zeitung durchgesehen, 14–15 bin ich hinunter gegangen, 15–16 zum Treer [Einzelhändler] gegangen, 16–17 beim Baumfällen im Park zugeschaut, schade um den Park, 17–18 nach Hause gegangen, 18–19 dann nachtmahlen wir, Nudeln in Gries geröstet, 19–20 Schlafen gehen. Für keine der angegebenen Wegstrecken bedarf es bei normalem Gehen mehr als 5 Minuten.

Gelegenheiten für eine eher rationale Einschätzung anderer Menschen. Auch das Gefühl, gebraucht zu werden, ist wichtig für das emotionale Wohlbefinden eines Menschen und wird von Erwerbsarbeit in der Regel vermittelt, während Arbeitslosigkeit typischerweise zu Nutzlosigkeitsgefühlen führt. Nach Jahoda ist es zudem wichtig, die Erfahrung zu machen »dass die Ziele des Kollektivs die Ziele eines Individuums transzendieren. Von dieser täglichen Erfahrung abgeschnitten, leiden die meisten Erwerbslosen unter dem Fehlen einer Zweckbestimmung« (Jahoda, 1983, S. 48). Da außerdem in modernen Industriegesellschaften Status und Prestige durch die Art des Berufs definiert sind und der gesellschaftliche Status wiederum wichtig ist für die Bildung

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Kapitel 15 · Arbeitslosigkeit

und Erhaltung der personalen Identität, führt Arbeitslosigkeit auch in diesen Bereichen zu schwerwiegenden Verlusten. Schließlich zwingt Erwerbsarbeit den Menschen zu regelmäßiger Tätigkeit, was nach dieser Theorie ebenfalls für die psychische Gesundheit notwendig ist und ohne äußeren Zwang nicht ohne weiteres aufrechterhalten werden kann. Im Modell der manifesten und latenten Funktionen der Erwerbsarbeit wird ein allgemeines menschliches Bedürfnis postuliert, jede dieser 5 Erfahrungen regelmäßig zu machen. Werden diese Bedürfnisse blockiert, sind negative seelische Effekte unumgänglich. In den modernen Industriegesellschaften ist die Erwerbsarbeit nach dieser Theorie die einzige gesellschaftliche Institution, die es den Menschen erlaubt, alle diese Bedürfnisse gleichzeitig zu befriedigen. Dies ist zwar nicht der eigentliche Zweck der Erwerbsarbeit, wird aber dennoch von ihr geleistet, während andere Institutionen, z. B. Vereine, Parteien, Kirchen, immer nur einen Teil dieser notwendigen Erfahrungen bieten können. Arbeitslosigkeit führt nach diesem Modell zu gravierendem Mangel in allen diesen Erfahrungskategorien und löst dadurch praktisch zwangsläufig psychisches Leiden aus. In empirischen Untersuchungen zeigt sich, wie von Jahoda vermutet, dass der Zugang zu den latenten Funktionen der Erwerbsarbeit mit dem psychischen Befinden korreliert und dass die 5 latenten Funktionen zusammen einen bedeutsamen Anteil des Befindens erklären können (z. B. Creed & Reynolds, 2001). Erwerbstätige berichten zudem regelmäßig einen besseren Zugang zu den latenten Funktionen als Arbeitslose. Kürzlich konnte anhand einer repräsentativen Stichprobe der deutschen Bevölkerung zudem gezeigt werden, dass Erwerbstätige auch besseren Zugang zu den latenten Funktionen berichten als Hausfrauen/-männer, Studierende und Rentner (Paul & Batinic, in Druck). Dies passt sehr gut zu Jahodas Annahme, dass Erwerbsarbeit in modernen Gesellschaften die ergiebigste Quelle dieser Erfahrungskategorien darstellt. Es muss allerdings festgestellt werden, dass in empirischen Studien regelmäßig auch die finanzielle Situation eine bedeutsame Rolle bei der Erklärung des psychischen Befindens spielt. Das Vitaminmodell Auch beim Vitaminmodell (Warr, 1987, 2007) handelt es sich, wie bei der Theorie von Jahoda, um eine Deprivationstheorie. Warr nennt 9 Umgebungsfaktoren, die nach seiner Ansicht in einer gegebenen Situation die

wichtigsten Determinanten psychischer Gesundheit darstellen. Diese 9 Kategorien von Umgebungsmerkmalen sind: 1. Gelegenheit zur Ausübung von Kontrolle 2. Gelegenheit zum Gebrauch eigener Fertigkeiten 3. Von außen gesetzte Ziele/Anforderungen 4. Vielfalt/Abwechslung 5. Klarheit der Umgebung 6. Verfügbarkeit von Geld 7. Physische Sicherheit 8. Gelegenheit zu zwischenmenschlichem Kontakt 9. Angesehene soziale Stellung Im Fall von Arbeitslosigkeit zeichnet sich die Umgebung nach Meinung dieses Autors durch einen Mangel in allen 9 Umgebungsmerkmalen aus, der auch durch Freizeit- und ehrenamtliche Aktivitäten nur teilweise kompensiert werden kann. Das Vitaminmodell postuliert des Weiteren, dass alle 9 genannten Umgebungsvariablen eine wichtige Rolle für das seelische Wohlbefinden spielen. Der vermutete Zusammenhang zwischen Umgebungsvariable und Wohlbefinden verläuft dabei allerdings nicht linear, sondern analog zum Einfluss von biologischen Vitaminen auf die Gesundheit des Körpers: Ein Mangel führt zu einer Störung der Gesundheit, ab einem bestimmten Schwellenwert stellt sich Beschwerdenfreiheit ein, die auch bei einer weiteren Erhöhung der »Dosis« (z. B. von Vielfalt oder der Verfügbarkeit von Geld) nicht mehr nennenswert verbessert werden kann. Auch bei sehr hohen Ausprägungsgraden der Umgebungsmerkmale behält Warr die Vitaminanalogie bei: Bei sehr hohen Dosen werden manche Vitamine schädlich, andere bleiben harmlos für den Körper. Entsprechend postuliert Warr für einen Teil seiner Umgebungsvariablen (z. B. Gelegenheit zur Ausübung von Kontrolle, Vielfalt/Abwechslung, Gelegenheit für zwischenmenschlichen Kontakt) einen seelisch schädigenden Effekt bei sehr hohen Ausprägungsgraden, während andere Umgebungsvariablen (Verfügbarkeit von Geld, physische Sicherheit, angesehene soziale Stellung) auch in diesen Fällen unschädlich bleiben. Insgesamt führt Arbeitslosigkeit also aufgrund des damit einhergehenden Mangels an allen 9 im Modell spezifizierten Umgebungsvariablen zu einer Verschlechterung der psychischen Gesundheit, wobei Geld nur eine von 9 Variablen ist, während es in der im folgenden dargestellten Handlungsrestriktionstheorie einen besonderen Stellenwert einnimmt.

295 15.3 · Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit

Die Handlungsrestriktionstheorie Der handlungsorientierte Theorieansatz zur Erklärung der psychologischen Wirkungen der Arbeitslosigkeit wurde von Fryer in Opposition zum Deprivationsmodell von Jahoda entwickelt und wendet sich insbesondere gegen das Menschenbild, das nach Ansicht dieses Autors hinter dem Modell von Jahoda steht. Der Mensch erscheint dort nämlich als passives und abhängiges Wesen, das in seinem Wollen und Handeln im Wesentlichen von extrinsischen Motivatoren abhängig ist, angewiesen auf ständige psychische Stützung durch die latenten Funktionen der Erwerbsarbeit (vgl. Fryer, 1986). Diesem Menschenbild stellt die Handlungsrestriktionstheorie das Konzept eines intrinsisch motivierten Individuums gegenüber, das über eine eigenständige Wahrnehmung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verfügt und, darauf aufbauend, seine Lebensumwelt entsprechend seinen Wünschen und Werten zu gestalten versucht. Dabei wird betont, dass Arbeitslosigkeit für manche Menschen eine positive Erfahrung darstellen kann, da sie in diesen Fällen erst den Handlungsspielraum schafft, der für ein sinnerfülltes und selbstgesteuertes Leben notwendig ist und der von der in modernen Gesellschaften üblichen Erwerbsarbeit mit ihren restriktiven und abstumpfenden Arbeitsbedingungen erheblich eingeschränkt wird. In einer qualitativen Studie konnten auch einige Beispiele von Menschen gesammelt werden, für die Arbeitslosigkeit eine Gelegenheit zu persönlichem Wachstum und eher eine positive als eine negative Erfahrung darstellte (Fryer & Payne, 1984). Fryer bestreitet allerdings nicht, dass Erwerbslosigkeit für die Mehrzahl der Betroffenen eine problematische Situation ist, die häufig mit Symptomen eingeschränkter psychischer Gesundheit einhergeht. Er betont aber, dass Arbeitslose nicht einfach nur passive Opfer des Entzugs von Erfahrungskategorien sind, ohne die der Mensch nicht zufrieden leben kann und die nur die Erwerbstätigkeit zu vermitteln vermag, sondern dass auch Arbeitslose planende und handelnde Individuen sind, die versuchen, ihre problematische Situation aktiv gestaltend zu bewältigen. Einen der Hauptgründe für die Probleme Arbeitsloser stellt im Rahmen der Handlungsrestriktionstheorie die mit der Erwerbslosigkeit verbundene Unklarheit der zeitlichen Perspektive dar, denn die Zukunft ist für Arbeitslose weniger klar und vorhersehbar als für Erwerbstätige: Die Arbeitslosigkeitsphase kann noch Jahre dauern, sie kann aber auch schon morgen wieder vorbei

sein. Zudem ist im Falle einer Wiederbeschäftigung unklar, ob ein Umzug notwendig wird, wie hoch der Verdienst sein wird, wie die Arbeitszeiten aussehen werden usw., so dass es sich aus der Sicht der Betroffenen kaum lohnt, konkrete Pläne über die allernächste Zukunft hinaus zu machen. Arbeitslosigkeit verhindert also eine sichere zeitliche Orientierung des Individuums sowie eine planende Gestaltung des eigenen Lebens, was dann zu psychischen Symptomen führt. Ein zweiter für die negativen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit verantwortlicher Faktor ist gemäß der Handlungsrestriktionstheorie der gravierende Mangel an sozialer Macht und an materiellen Ressourcen, der mit der Erwerbslosigkeit einhergeht. In westlichen Gesellschaften ergeben sich die gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten des einzelnen Individuums zu einem erheblichen Teil aus der Macht des Konsumenten und aus der Macht gewerkschaftlich organisierter Arbeit. Beide sind Arbeitslosen aber verschlossen (Fryer & Payne, 1984). Arbeitslosigkeit wirkt nach diesem theoretischen Ansatz daher v. a. deswegen psychologisch destruktiv, weil es die Handlungsmöglichkeiten des an sich handlungswilligen Individuums radikal einschränkt. Dies geschieht insbesondere durch die mit der Erwerbslosigkeit verbundene relative oder absolute Verarmung, die einen Menschen materiell so stark einschränken kann, dass es ihm unmöglich wird, an sich vorhandene Handlungspläne in der Realität zu verwirklichen. Dies gilt auch für so einfache Dinge wie Renovierungsarbeiten am Haus oder die Reparatur von Möbeln (Fryer & Payne, 1986). Wenn ein Arbeitsloser oder eine Arbeitslose dennoch versucht, eigene Handlungspläne in die Tat umzusetzen, steigt durch die finanzielle Notlage außerdem die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns, z. B. aufgrund schlechten Materials und minderwertiger Werkzeuge, die benutzt werden müssen. Dies führt zu Frustration, dem Gefühl des Versagens, und kann bei häufiger Wiederholung zu seelischen Problemen führen (Fryer & Payne, 1986). Zusammenfassend kann man also sagen, dass die negativen psychischen Effekte der Arbeitslosigkeit nach dem handlungstheoretischen Ansatz durch die Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten eines an sich handlungswilligen und -fähigen Individuums entstehen, das in seinen Plänen frustriert und zur Passivität gezwungen wird. Dies geschieht insbesondere durch massive Einschränkung materieller Ressourcen und sozialer Macht, aber auch durch den Verlust einer sicher ab-

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Kapitel 15 · Arbeitslosigkeit

schätzbaren Zukunftsperspektive und der damit verbundenen Möglichkeit zu längerfristiger Planung.

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Die Inkongruenzhypothese Vor kurzem wurde mit der Inkongruenzhypothese ein weiteres Erklärungsmodell für die negativen psychischen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit vorgestellt (Paul & Moser, 2006). Nach dieser Hypothese liegt bei Arbeitslosen eine Inkongruenz zwischen Arbeitswerten und persönlicher arbeitsbezogener Lebensrealität vor, die zu Einschränkungen der psychischen Gesundheit führen kann. Arbeitslose zeichnen sich demnach typischerweise durch eine hohe Wertschätzung der Erwerbsarbeit aus, die aber mit der tatsächlichen Lebenssituation konfligiert. Eine solche mangelnde Übereinstimmung von Lebenszielen und Zielerreichung konnte in der klinischen Psychologie als häufige Ursache psychopathologischer Symptome identifiziert werden (Grawe, 2004). Es liegt daher nahe, den gleichen Symptomentstehungsmechanismus auch bei Arbeitslosen zu vermuten, da diese sich sozusagen per Definition in einer Inkongruenzsituation befinden. Metaanalysen zur Arbeitsbindung von Erwerbstätigen und Arbeitslosen ergaben in der Tat hypothesenkonforme Resultate: Zum einen unterscheiden sich beide Gruppen nur schwach bezüglich ihres »employment commitment«, also ihrer inneren Bindung an die Erwerbsarbeit. Beide Gruppen sind durch hohe Ausprägungen diese Variable gekennzeichnet. Dies führt dazu, dass sich Arbeitslose in einer Inkongruenzsituation befinden (hohe Arbeitsbindung bei Fehlen von Arbeit), nicht aber Erwerbstätige (hohe Arbeitsbindung bei Vorhandensein von Arbeit). Zudem lässt sich belegen, dass inkongruente Ausprägungen der Arbeitsbindung jeweils mit eingeschränkter psychischer Gesundheit einhergehen. Bei Arbeitslosen bedeutet dies, dass Personen, denen Arbeit sehr wichtig ist, stärker leiden als Personen, die Arbeit als weniger wichtig ansehen. Umgekehrt zeigen Erwerbstätige, die der Arbeit eine zentrale Rolle in ihrem Leben einräumen, ein besseres Befinden als Erwerbstätige, die Arbeit als wenig bedeutsam für ihr Leben ansehen. Je nachdem, ob man Arbeit hat oder nicht, geht eine hohe Arbeitsbindung also entweder mit einem besonders guten oder einem besonders schlechten psychischen Gesundheitszustand einher. Eine inkongruente, also nicht zur gegenwärtigen Arbeitssituation passende Arbeitsbindung ist jeweils mit Gesundheitseinschränkungen korreliert. Wie bereits dargestellt, befinden sich Arbeitslose insgesamt, als

Gruppe, in einer Inkongruenzsituation hinsichtlich ihrer Arbeitswerte und ihrer arbeitsbezogenen Lebensrealität, nicht aber die Erwerbstätigen. Eine schlechtere psychische Verfassung ist daher zu erwarten und empirisch auch nachweisbar. 15.4

Allgemeingesellschaftliche Folgen von Arbeitslosigkeit

Der größte Teil psychologischer Forschung zur Arbeitslosigkeitsthematik bezieht sich auf die individuellen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit. Es muss aber betont werden, dass Arbeitslosigkeit sich nicht nur auf die Gruppe der direkt betroffenen Personen negativ auswirkt, sondern auch andere Personengruppen in Mitleidenschaft zieht. Zunächst ist hier die Familie zu nennen. Es gibt mehrere Studien, die zeigen, dass die Lebenspartner von Arbeitslosen eine verminderte Beziehungszufriedenheit berichten (z. B. Aubry, Teft & Kingsbury, 1990). Zudem entwickeln sie – im Vergleich zu ihren arbeitslosen Partnern zeitlich etwas verzögert – auch selbst Depressionssymptome, Angstsymptome, körperliche Beschwerden und andere Anzeichen psychischer Beanspruchung (Liem & Liem, 1988). Es konnten auch negative Effekt von Arbeitslosigkeit auf die Kinder der Betroffenen aufgezeigt werden. In einer amerikanischen Studie beispielsweise gingen die durch Arbeitslosigkeit verursachten Depressionssymptome der Mütter mit häufigerem Bestrafungsverhalten wie z. B. Schlägen oder Drohungen, das Kind zu verlassen, einher. Diese häufigeren Bestrafungen wiederum führten bei den Kindern zu einem häufigeren Auftreten von Konzentrationsstörungen und Depressionssymptomen (McLoyd, Jayaratne, Ceballo & Borquez, 1994). In traditionellen Familien wird zudem häufig von einem Autoritätsverlust des arbeitslosen Vaters berichtet, der zu erheblichen Konflikten besonders mit den älteren Kindern führen kann. Es lässt sich zudem auch zeigen, dass Arbeitslosigkeit des Vaters – vermittelt über Einkommenseffekte, Beeinträchtigungen des Befindens der Mutter sowie Beeinträchtigungen der Vater-Kind-Beziehung – zu einem Absinken des Schulerfolgs der Kinder führt (Eder, 2007). Vielleicht ist dadurch zu erklären, dass bei Kindern aus der Zeit der »großen Depression« in den 30er Jahren noch Jahrzehnte später negative Effekte elterlicher Arbeitslosigkeit nachgewiesen werden konnten (Elder, 1974).

297 15.5 · Der Weg zurück in die Erwerbstätigkeit: Hilfe durch die Psychologie?

Entlassungen ziehen zudem auch diejenigen in Mitleidenschaft, die zwar nicht selbst ihre Stelle verlieren, aber am Arbeitsplatz die Kündigung von Kollegen miterleben müssen. So konnten beispielsweise in Finnland bei den »Überlebenden« eines großflächigen Stellenabbaus psychische Beanspruchungssymptome, zynische Einstellungen gegenüber der entlassenden Organisation sowie erhöhte Fehlzeiten nachgewiesen werden (Kalimo, Taris & Schaufeli, 2003). Allgemein lassen sich deutliche Zusammenhänge zwischen wahrgenommener Arbeitsplatzunsicherheit und negativen psychischen Reaktionen feststellen (Sverke, Hellgren & Näswall, 2002). Geht man von der plausiblen Annahme aus, dass in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit eine allgemeine Angst um den eigenen Arbeitsplatz um sich greift, so sind deutliche negative Effekte bei der gesamten Erwerbsbevölkerung wahrscheinlich, nicht nur bei den direkt Betroffenen. Entsprechend dieser Hypothese konnte in Los Angeles nachgewiesen werden, dass eine Verschlechterung der lokalen Arbeitslosenquote auch negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der erwerbstätigen Einwohner hatte (Dooley, Catalano & Rook, 1988). Man kann zusammenfassend also feststellen, dass die negativen gesundheitlichen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit nicht auf die unmittelbar Betroffenen beschränkt sind. Wenn aber erhebliche Teile der Bevölkerung eines Landes in ihrem psychischen Wohlbefinden beeinträchtigt werden, dürften negative Rückkopplungseffekte auf das Wirtschaftsleben, das ja bekanntermaßen stark von der »Psychologie« der Akteure abhängig ist, hoch wahrscheinlich sein. Möglicherweise entsteht so sogar ein sich selbst verstärkender Kreislauf, bei dem eine Verschlechterung der psychischen Befindlichkeit der Bevölkerung zu Risikoscheu bei wirtschaftlichen Entscheidungen, Investitionszurückhaltung, übertriebenen Sparanstrengungen und anderen Verhaltensweisen führt, die sich negativ auf die Konjunktur auswirken, wodurch das Arbeitslosigkeitsproblem weiter verstärkt wird. Zudem wirkt Arbeitslosigkeit offenbar politisch radikalisierend. So lässt sich belegen, dass Arbeitslose häufiger extrem ausländerfeindliche Haltungen vertreten als Erwerbstätige und stärker dazu neigen, rechtsradikale Parteien zu wählen (Bacher, 2001). Arbeitslosigkeit gefährdet also möglicherweise nicht nur die öffentliche Gesundheit, sondern auch die Funktionsfähigkeit des wirtschaftlichen und politischen Systems.

15.5

Der Weg zurück in die Erwerbstätigkeit: Hilfe durch die Psychologie?

15.5.1

Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensstrategien, welche die Wiederbeschäftigung fördern

Während das Hauptinteresse psychologischer Forschung zur Arbeitslosigkeit immer auf den Folgen für die psychische Gesundheit lag, haben sich einige Forscher auch der Suche nach Determinanten von Wiederbeschäftigung gewidmet. Insbesondere die Frage, ob es bestimmte Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensweisen Arbeitslosen erleichtern, wieder eine Stelle zu finden, wurde untersucht. In einer Metaanalyse solcher Studien zeigt sich, dass die Persönlichkeit einen deutlichen Einfluss auf die Suchintensität Arbeitsloser hat. Insbesondere hohe Extraversions-, hohe Gewissenhaftigkeits- und hohe Offenheitswerte führen zu einer hohen Intensität des Suchverhaltens Arbeitsloser (Kanfer, Wanberg & Kantrowitz, 2001). Ein starkes Selbstwertgefühl sowie eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung gehen ebenfalls mit intensiver Suchtätigkeit einher, während Optimismus interessanterweise keinen Effekt auf das Suchverhalten hat. Es zeigt sich auch, dass die Intensität des Suchverhaltens nachweislich den Erfolg der Stellensuche beeinflusst: Diejenigen Arbeitslosen, die stärker suchen, bekommen mehr Stellenangebote und beenden ihre Arbeitslosigkeitsphase früher als diejenigen, die weniger intensiv suchen. Es muss allerdings gesagt werden, dass diese Zusammenhänge zwar nachweisbar, aber nicht sehr stark sind. Es existieren also noch andere relevante Aspekte des Arbeitsmarktgeschehens, die von den Suchanstrengungen der Arbeitslosen unabhängig sind, aber einen starken Einfluss auf ihren Sucherfolg ausüben. Das Alter und die Ausbildung, aber auch die bisherige Dauer der Arbeitslosigkeit sowie die regionale Arbeitsmarktlage spielen hier eine bedeutende Rolle (Brixy, Gilberg, Hess & Schröder, 2002). Eine weitere relevante Variable dürfte das sprichwörtliche »Vitamin B« sein. In der Metaanalyse von Kanfer et al. (2001) zeigt sich bei der Variablen »soziale Unterstützung« denn auch, dass diese einen vergleichsweise starken Einfluss auf den Sucherfolg hat. Menschen, die nach einer Arbeitslosigkeitsphase wieder eine Beschäftigung finden, geben auf die Frage, wie sie die Stelle gefunden haben,

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Kapitel 15 · Arbeitslosigkeit

»Bekannte« als häufigste Antwort an, knapp gefolgt von »Arbeitsamt« und mit deutlichem Abstand vor »Stellenausschreibung« und »Bewerbung auf Verdacht« (Blaschke, 1987). Interessanterweise sind Bekannte bei Arbeitern noch wichtiger als bei Angestellten, während bei Letzteren der formale Weg über Stellenausschreibungen eine größere Rolle spielt. Die in der Populärliteratur vielgepriesene Netzwerkarbeit (»Networking«) wurde als spezifische Stellensuchstrategie bisher nur selten wissenschaftlich untersucht. In einer amerikanischen Studie gingen mit intensiverer Netzwerkarbeit zwar höhere Chancen auf Wiederbeschäftigung einher, dieser Effekt erbrachte aber keine signifikante zusätzliche Varianzaufklärung zu den Effekten traditioneller Stellensuchtechniken (Wanberg, Kanfer & Banas, 2000). Die tatsächliche Bedeutung der Netzwerkarbeit als Stellensuchmethode ist also noch nicht endgültig geklärt. 15.5.2

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Psychologische Aspekte von Interventionen für Arbeitslose

Interventionsmaßnahmen für Arbeitslose sind recht vielgestaltig und reichen vom Nachholen eines Hauptschulabschlusses über Umschulungsmaßnahmen bis zu Arbeitssurrogaten wie z. B. Ein-Euro-Jobs und Bewerbungs- und anderen Trainings (s. Behle, 2001, für eine Auflistung für Deutschland typischer Maßnahmen bei Jugendlichen). Das Interesse psychologisch orientierter Forscher bestand bisher zumeist darin, die Wirksamkeit bestimmter Maßnahmen im Hinblick auf ihre psychischen Auswirkungen zu evaluieren. Es geht dabei letztlich darum, die Standardfragestellung, ob eine Maßnahme denn die Vermittlungsquote erhöhe, zu ergänzen um einige »weichere«, aber deshalb nicht weniger relevante Kriterien (vgl. Zempel & Moser, 2001). Häufig wurden dabei Trainings evaluiert, die eine Mischung aus Qualifizierungs-, Sozial- und Bewerbungstraining darstellen. Die Resultate sind dabei im Allgemeinen positiv, zumeist führen solche Trainings zumindest kurzfristig zu Verbesserungen des psychischen Wohlbefindens (z. B. Harry & Tiggeman, 1992) und des Selbstwertgefühls (Creed, Hicks & Machin, 1998), die teilweise auch längere Zeit anhalten. Einige der Untersuchungen zur Wirksamkeit solcher Trainings sind von sehr hoher methodischer Qualität, wie z. B. die Evaluation des JOBSProgramms, bei der eine große Stichprobe, die bezüglich demographischer Charakteristika der US-Arbeitslosen-

population sehr ähnelte, mittels eines Kontrollgruppendesigns mit Zufallszuteilung der Untersuchungsteilnehmer zu den Untersuchungsgruppen über einen Zeitraum von mehreren Jahren begleitet wurde (Vinokur, Schul, Vuori & Price, 2000). Dabei zeigte sich, dass das JOBSProgramm, das sich in erster Linie der Vermittlung von Bewerbungstechniken und -fähigkeiten widmet, einen deutlich positiven Effekt sowohl auf die Wahrscheinlichkeit der Wiederbeschäftigung als auch auf die psychische Gesundheit hatte (7 Info-Box). Info-Box

Das JOBS-Programm Das JOBS-Programm wurde an der Universität von Michigan entwickelt und evaluiert. Es handelt sich dabei um ein aus 5 ganztägigen Sitzungen bestehendes Trainingsprogramm mit dem primären Ziel, Arbeitslosen möglichst effektive Techniken der Stellensuche zu vermitteln. Weitere Ziele sind die Stärkung des Selbstwertgefühls und der Selbstwirksamkeit der Teilnehmer sowie eine »Impfung« gegen Rückschläge. Mehrere sorgfältig durchgeführte Evaluationsuntersuchungen belegen die Wirksamkeit des Programms. Zentrale Wirkkomponenten des Programms sind: 4 Einflussnahme des Trainers durch ein positives Verhältnis mit den Kursteilnehmern (Aufbau eines Vertrauensverhältnisses, Wertschätzung und Anerkennung durch den Trainer, positives Feedback, angemessene Selbstoffenbarung des Trainers und dadurch Ermutigung von Selbstoffenbarungen der Gruppenmitglieder) 4 Soziale Unterstützung (Der Trainer artikuliert Empathie, würdigt die Sorgen und Gefühle der Teilnehmer und unterstützt Versuche der Problembewältigung; die gegenseitige Unterstützung der Teilnehmer wird gefördert.) 4 »Impfung« gegen Rückschläge (Die Gruppe antizipiert mögliche Hindernisse und Gründe für Rückschläge bei der Stellensuche und erarbeitet Problemlösungsstrategien.) 4 Training von Fertigkeiten zur Arbeitsplatzsuche (Die Teilnehmer eignen sich Kompetenzen an, die bei der Arbeitssuche hilfreich sind, und üben diese.) 6

299 15.5 · Der Weg zurück in die Erwerbstätigkeit: Hilfe durch die Psychologie?

4 Aktive Lernprozesse (Nutzung des Wissens

und der Fähigkeiten der Teilnehmer, Gruppendiskussionen, Brainstorming) Ablauf des Programms: 4 Sitzung 1: Entdecke deine Fähigkeiten (Demonstration ineffektiver und effektiver Einstellungsinterviews, Einübung der Methode »Denken wie ein Arbeitgeber«, Herausarbeiten eigener Stärken anhand konkreter Beispiele) 4 Sitzung 2: Umgang mit Einstellungshindernissen (Identifikation möglicher Einstellungshindernisse der Teilnehmer, Vermittlung von Kommunikationsstrategien zur Zerstreuung der Bedenken des Arbeitgebers, Übung des Umgangs mit Einstellungshindernissen) 4 Sitzung 3: Offene Stellen finden (Vermittlung verschiedener Suchtechniken auch für den verdeckten Stellenmarkt, z. B. Netzwerkarbeit, informelle Informationsgespräche) 4 Sitzung 4: Lebensläufe, Kontakte, Vorstellungsgespräche (Informationen und Übungen zu Lebenslauf, direktem Telefonkontakt und Einstellungsgesprächen) 4 Sitzung 5: Das vollständige Vorstellungsgespräch und Vorbereitung auf Rückschläge (Übungen zu Vorstellungsgesprächen: Kontrolle der Gesprächsrichtung, Beenden eines Vorstellungsgesprächs; Vorbereitung auf Rückschläge) Übungsbeispiel: »Denken wie ein Arbeitgeber« 4 Beispiel: Der Trainer geht mit den Teilnehmern ein Fallbeispiel durch: Die Teilnehmer sollen dabei mögliche Einstellungshindernisse und die entsprechenden Vorbehalte des Arbeitgebers benennen; anschließend sollen Argumente gesammelt werden, die im Vorstellungsgespräch benutzt werden können, um den Vorbehalten entgegenzutreten. 4 Rollenspiel: Zwei Trainer führen exemplarisch Vorstellungsgespräche vor, die anschließend in der Gruppe diskutiert werden. 4 Übung: Die Teilnehmer üben in Gruppen, die Einstellungsvorbehalte möglicher Arbeitgeber anzusprechen und zu entkräften. Quelle: Curran, Wishart & Ginrich (1999)

Einige Trainings für Arbeitslose wurden auch gezielt so konzipiert, dass psychologische Erkenntnisse und Konzepte eine wesentliche Grundlage der durchgeführten Intervention darstellten. So wurde z. B. ein Training zur gezielten Förderung von Selbstwirksamkeit erfolgreich eingesetzt, um die Suchaktivität und die Wiederbeschäftigungschancen der Trainingsteilnehmer zu verbessern (Eden & Aviram, 1993, 7 Info-Box). Von einem Training zur Steigerung der Eigeninitiative wurden positive Effekte auf die psychische Gesundheit, Selbstwirksamkeit und Selbstsicherheit berichtet (Frese, Garman, Garmeister, Halemba, Hortig, Pulwitt & Schildbach, 2002). In Studien, die die Prinzipien der kognitiv-behavioralen Psychotherapie für Trainings mit Arbeitslosen adaptierten, wurden positive Effekte hinsichtlich der psychischen Gesundheit, des Bewältigungsverhaltens und der Wiederbeschäftigungswahrscheinlichkeit der Teilnehmer gefunden (z. B. Creed, Machin & Hicks, 1999). Info-Box

Selbstwirksamkeitstraining für Arbeitslose Selbstwirksamkeit lässt sich als die Überzeugung definieren, dass man dazu fähig ist, physische, intellektuelle und emotionale Ressourcen zu mobilisieren, um Erfolg zu haben (Beispielitem: »Wenn ich mir etwas vornehme, bin ich mir auch sicher, dass ich es umsetzen kann«). Trainingsablauf: Es fanden mehrere Sitzungen mit 4- bis 5-minütigen Videosequenzen statt, in denen erfolgreiche Aspekte des Suchens eines Arbeitsplatzes dargestellt wurden. Im Anschluss: 4 Diskussion des im Video gezeigten Verhaltens 4 Rollenspiele des Verhaltens 4 Feedback von anderen Teilnehmern und vom Seminarleiter (verbale Bekräftigung) 4 Zusammenfassung am Ende jeder Sitzung Ergebnisse der Evaluation: 4 Das Training erhöht die Selbstwirksamkeit. 4 Das Training bewirkt intensivere Arbeitsplatzsuche. 4 Das Training führt zu größerem Erfolg bei der Stellensuche bei jenen Personen, die zuvor geringere Selbstwirksamkeit aufwiesen. Quelle: Eden & Aviram (1993)

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Die Sinnhaftigkeit solcher psychologisch orientierter Trainings für Arbeitslose ist allerdings auch in Frage gestellt worden (Fryer, 1999). Kritisch kann z. B. angemerkt werden, dass aufgrund ihrer hohen Kosten solche Trainings wohl immer ein Privileg einer Minderheit der Arbeitslosen bleiben werden, was Fragen nach der Zuteilungsgerechtigkeit aufwirft (Montada, 1994). Es stellt sich auch die Frage, welchen Nutzen beispielsweise ein Bewerbungstraining haben kann, wenn es einfach keine Stellen gibt, auf die die Arbeitslosen sich bewerben können. Zudem konnte gezeigt werden, dass ein starkes Hoffnungsgefühl hinsichtlich eines Arbeitsplatzes, wenn es unerfüllt bleibt, zu besonders schlechtem psychischem Befinden führt (Frese & Mohr, 1987). Wenn solche Trainings also unerfüllbare Hoffnungen wecken, könnten sie sogar schädlich sein. 15.5.3

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Zeitarbeit

Zeit- bzw. Leiharbeit hat in den letzten Jahren im Zuge einschlägiger Arbeitsmarktreformen starke öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Eine Hoffnung war dabei, dass Zeitarbeit für Arbeitslose als Sprungbrett in ein dauerhaftes Beschäftigungsverhältnis dienen kann, also die Wiedereingliederung in die Arbeitswelt erleichtert. Tatsächlich sind gegenwärtig zwar nur 1,2% aller Erwerbstätigen in Deutschland in Leiharbeit beschäftigt. Es handelt sich dabei aber immerhin um ca. 450.000 Menschen. Dies entspricht einer Verzehnfachung der Anzahl von Zeitarbeitern seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts (Antoni & Jahn, 2006). Man kann also durchaus von einem Boom dieser Beschäftigungsform sprechen, dessen Ende derzeit noch nicht abzusehen ist. Aus psychologischer Sicht ist von großem Interesse, ob die Spezifika der Beschäftigungsform Zeitarbeit Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden haben. Das »Dreiecksverhältnis« zwischen Zeitarbeitsfirma und entleihendem Unternehmen, in dem der oder die Beschäftigte sich befindet, könnte z. B. zu Loyalitätskonflikten und damit einhergehenden Befindensverschlechterungen führen. Die für Zeitarbeit typische Notwendigkeit, sich immer wieder neuen Arbeitsaufgaben und Arbeitsbedingungen anpassen und sich in neue organisationale Rahmenbedingungen einfügen zu müssen, könnte ebenfalls belastend wirken. Hinzu kommt, dass Zeitarbeitnehmer oft schlechter bezahlt werden als reguläre Arbeitnehmer, weniger Qualifizierungsmöglich-

keiten erhalten und eine höhere Arbeitsplatzunsicherheit erfahren (Kalleberg, Reskin & Hudson, 2000). Insgesamt scheint Zeitarbeit also durch eine Häufung von Belastungsfaktoren gekennzeichnet zu sein. Die empirischen Ergebnisse zu dieser Frage sind aber bisher noch nicht sehr eindeutig; neben Untersuchungen, die negative Effekte der Zeitarbeit auf das psychische Befinden belegen konnten, finden sich auch solche, denen ein solcher Nachweis nicht gelang. Dabei zeigt sich, dass der Art des organisationalen Commitments im Kontext von Zeitarbeit offenbar eine wichtige Moderatorrolle hinsichtlich der Auswirkungen auf das Befinden zukommt. So ergab sich bei einer Längsschnittstudie mit deutschen Zeitarbeitnehmern, dass Personen, die eine starke Bindung an das Einsatzunternehmen berichteten, durch den für die Zeitarbeit typischen Wechsel des Einsatzunternehmens in ihrem Befinden deutlich beeinträchtigt wurden. Berichteten die Zeitarbeitnehmer hingegen eine starke Bindung an das verleihende Unternehmen, schienen sie von einem Wechsel des Einsatzunternehmens hinsichtlich ihres Befindens sogar profitieren zu können (Galais & Moser, 2007a). Die Mehrheit der so Beschäftigten bezeichnet Zeitarbeit als eine Notlösung und erhofft sich einen baldigen Wechsel in eine Festanstellung bei einem der Klientenunternehmen. Etwa die Hälfte der Zeitarbeitnehmer war vor der Zeitarbeit arbeitslos und versucht auf diesem Weg, den Widereinstieg in die Normalbeschäftigung zu schaffen (CIETT, 2000). Aus psychologischer Sicht ergibt sich dabei die Frage, ob bestimmte Persönlichkeitsmerkmale hierbei hilfreich oder hinderlich sein können. Da Zeitarbeitnehmer aus einer Außenseiterposition heraus versuchen müssen, Entscheidungsträger des entleihenden Unternehmens von ihren Qualitäten als Mitarbeiter zu überzeugen, sollten soziale Fertigkeiten eine zentrale Rolle beim Prozess der Übernahme spielen. Empirische Ergebnisse bestätigen denn auch, dass gute soziale Fertigkeiten die Chancen auf eine Übernahme durch ein entleihendes Unternehmen erhöhen (Galais & Moser, 2007b). Insgesamt ergibt sich also der Eindruck, dass Zeitarbeit zwar durch eine Häufung von Belastungsfaktoren gekennzeichnet ist, dass eine möglicherweise daraus resultierende psychische Beanspruchung aber auch stark von den Bewältigungsmechanismen der Zeitarbeitnehmer abhängt, z. B. von der Art des Commitments. Bei der Frage, ob Zeitarbeit als »Sprungbrett« in ein Normalarbeitsverhältnis dienen kann, scheinen soziale Fertig-

301 15.5 · Der Weg zurück in die Erwerbstätigkeit: Hilfe durch die Psychologie?

keiten eine Rolle zu spielen. Wie die starke Zunahme der Zeitarbeit hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit letztlich zu bewerten ist, ist derzeit noch nicht geklärt. Fraglich ist dabei u. a., was eigentlich die adäquate Vergleichsgruppe ist. Die sog. Normalbeschäftigten? Oder Arbeitslose? Im ersten Fall dürfte die Bilanz der Zeitarbeit eher negativ, im zweiten Fall eher positiv ausfallen. 15.5.4

Outplacementberatung

Neben der Zeitarbeit wurden in den letzten Jahren in Deutschland noch andere neuartige Maßnahmen zur Verbesserung der Wiedereingliederungschancen Arbeitsloser propagiert und getestet. Insbesondere 7 Outplacement ist hier zu nennen. Dabei handelt es sich um eine Maßnahme, die deutliche Überschneidungen mit einem klassischen Anwendungsfeld der angewandten Psychologie aufweist, nämlich der Karriereberatung. Somit ist Outplacement für Psychologen auch ein interessantes Berufsfeld von Relevanz. Die zunehmende Verbreitung von Outplacementberatung auch in Deutschland ist eine noch recht neue Entwicklung. Diese aus den USA stammende Form von Personalberatung für Fach- und Führungskräfte lässt sich definieren als »… die vom Arbeitgeber finanzierte Beratung und Unterstützung eines freizusetzenden Mitarbeiters bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz, der seinen Qualifikationen und Bedürfnissen entspricht« (von Rundstedt, 1999, S. 344). Das entlassende Unternehmen übernimmt also die Kosten der Beratung, was zunächst überraschen mag, aber plausibel wird, wenn man sich vor Augen führt, dass Unternehmen auf diese Weise teure Rechtsstreitigkeiten vermeiden und lange Restlaufzeiten teurer Arbeitsverträge verkürzen können. Zudem wirkt es sich positiv auf das Unternehmensimage und das Klima innerhalb des Unternehmens aus, wenn deutlich wird, dass das Unternehmen auch im Falle einer Trennung zu seiner Verantwortung für die eigenen Mitarbeiter steht. Die Vorteile für die freigesetzten Mitarbeiter sind offensichtlich: Er bzw. sie vermeidet Arbeitslosigkeit, erhält Hilfe bei der Bewältigung des Trennungstraumas, bekommt eine individuelle Karriereberatung, erhöht die eigenen Chancen bei der Arbeitssuche etc. (Heizmann, 2003). Inhaltlich kann die Outplacementberatung, die zumeist als Einzelberatung stattfindet, in 3 Phasen unter-

gliedert werden (Heizmann, 2003). In der ersten Phase, die der Situationsanalyse und der Zielsetzung gewidmet ist, werden die Trennungsgründe analysiert und die häufig traumatische Trennungserfahrung emotional verarbeitet. Dann wird – u. a. mit Hilfe psychologischer Testverfahren – ein Stärken-und-Schwächen-Profil erstellt, woraufhin die beruflichen Ziele des Klienten geklärt werden. Die Leitfragen dieser Phase lauten: »Was kann ich? Was will ich? Was braucht der Markt?«. Die zweite Phase dient der Vorbereitung der »Bewerbungskampagne« (Heizmann, 2003, S. 64). Hier werden die notwendigen Bewerbungsunterlagen wie Anschreiben und Lebenslauf formuliert und Arbeitszeugnisse überprüft und ggf. zu ändern versucht, z. B. indem man mit dem Verfasser bzw. der Verfasserin die Intention bestimmter Formulierungen bespricht und ggf. auf Änderung dringt. Zudem werden mögliche Zugangswege zum Stellenmarkt ermittelt, wobei der verdeckte Stellenmarkt besondere Aufmerksamkeit erhält. Dieser kann beispielsweise durch Kontaktnetzarbeit und Initiativbewerbungen erschlossen werden. Außerdem wird in dieser Phase versucht, das Kommunikationsverhalten des Klienten zu optimieren, so dass er oder sie in Bewerbungsgesprächen einen möglichst günstigen Eindruck vermitteln kann. Dabei werden üblicherweise auch Rollenspiele und Videofeedback eingesetzt. Die dritte Phase ist schließlich der Durchführung der Bewerbungskampagne im Arbeitsmarkt gewidmet. Hier nimmt sich die Outplacementberaterin (derzeit üben zumeist Frauen diese Beratungstätigkeit aus) zunehmend zurück und beschränkt sich eher auf eine Supervisions- und Coachingfunktion. Diese einzelnen Phasen sind zeitlich jedoch nicht streng voneinander getrennt, sondern überschneiden sich erheblich. Bei befristetem Outplacement wird meist eine Beratungsdauer zwischen 3 und 9 Monaten vereinbart (Heizmann, 2003). Unbefristete Outplacementberatung, die erst nach dem erfolgreichen Abschluss der Probezeit an einem neuen Arbeitsplatz endet, ist aber ebenfalls nicht selten. Nach Angaben der Unternehmen, die Outplacementberatung anbieten, liegt die Vermittlungsquote innerhalb eines Jahres bei über 95%. Inwieweit solchen Angaben allerdings Glauben geschenkt werden kann, muss offen bleiben, da unabhängige Evaluierungen von Outplacementberatung bisher sehr selten sind (Hofmann, 2001). Zudem besteht auch die Möglichkeit, Klienten in für sie nicht wirklich geeignete Stellenangebote oder in eine wenig erfolgversprechende Selbststän-

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digkeit »hineinzuberaten«, was bei ausschließlicher Verwendung von Vermittlungsquoten als Evaluationsmethode als Erfolg gewertet wird, letztlich aber nur den Mangel an weicheren Erfolgskriterien wie z. B. Beratungszufriedenheit und Arbeitszufriedenheit am neuen Arbeitsplatz reflektiert. Eine der wenigen Studien, bei denen eine Kontrollgruppe verwendet wurde, konnte in der Schweiz gute Erfolge von Gruppenoutplacement belegen (Haari, 1999). Zweifellos stellt Outplacementberatung trotz ihres wenig glücklichen Namens (sinnvollere Alternativen wie »Newplacement« oder »Career-Tansition-Counselling« konnten sich bisher nicht durchsetzen) eine positive Entwicklung hinsichtlich des Umgangs mit ArbeitsFazit Fazit und Ausblick

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Es kann festgestellt werden, dass die psychologische Arbeitslosigkeitsforschung bereits sehr große Fortschritte hinsichtlich des Nachweises gemacht hat, dass Arbeitslosigkeit sich schädlich auf die psychische Gesundheit auswirkt. Dieser Effekt steht inzwischen außer Zweifel, eine Erkenntnis, die Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft bei ihren Handlungen berücksichtigen sollten. Die Länderunterschiede legen die Schlussfolgerung nahe, als politisches Ziel eine Kombination von wirtschaftlicher Entwicklung bei zugleich eingeschränkter Einkommensungleichheit und hoher Generosität des Arbeitslosenunterstützungssystems anzustreben. Auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, d. h. den Ergebnissen von Moderatoranalysen aufbauende konkrete Hinweise bezüglich der Allokation von gesellschaftlichen Ressourcen in dem Sinne, dass man jenen besonders unter die Arme greift, denen es im Falle von Arbeitslosigkeit am schlechtesten geht, erscheinen aber noch etwas verfrüht. Die genaue Wirkweise der identifizierten Moderatoreffekte ist nämlich noch nicht völlig klar. Ein Moderatoreffekt besagt zunächst nur, dass der Unterschied zwischen Arbeitslosen und Erwerbstätigen bei der einen sozialen Gruppe größer ist als bei der anderen Gruppe. Wie dies zustande kommt, bleibt vorerst unklar. Männer könnten beispielsweise unter Arbeitslosigkeit mehr leiden als Frauen. Sie könnten aber auch mehr von Erwerbsarbeit profitieren als diese. Beides würde zu dem beschriebenen Moderatoreffekt führen, würde aber 6

losigkeit dar: Teilweise langjährige Mitarbeiter werden nicht plötzlich ins Nichts entlassen. Vielmehr nimmt das Unternehmen auch bei der Trennung noch seine Verpflichtung gegenüber dem Mitarbeiter wahr und hilft ihm oder ihr bei der beruflichen Neuorientierung. Dass dabei in jüngster Zeit zunehmend auch freigesetzte Mitarbeiter unterhalb der Führungskräfteebene in den Genuss von Outplacementberatung kommen, ist sicherlich eine positive Entwicklung. Sie wird durch die Verbreitung von Methoden des Gruppenoutplacement gefördert, die die Kosten für den einzelnen Teilnehmer erheblich reduzieren und es dadurch ermöglichen, den Kreis der Teilnehmer deutlich auszuweiten (Hofmann, 2001).

recht unterschiedliche politische Schlussfolgerungen nahelegen. Welcher der beiden möglichen Mechanismen den Moderatoreffekt des Geschlechts besser erklärt, ist gegenwärtig aber noch nicht geklärt. Ähnliche Probleme lassen sich bei den anderen hier berichteten Moderatoreffekten identifizieren. Man kann aber bei aller gebotenen Vorsicht bereits schlussfolgern, dass männliche Arbeitslose, Arbeitslose aus gewerblichtechnischen Berufen und Langzeitarbeitslose Personengruppen darstellen, die bei der Planung politischer Maßnahmen keinesfalls unberücksichtigt bleiben sollten, da sie einem besonders hohen Risiko arbeitslosigkeitsbedingter negativer psychischer Gesundheitseffekte ausgesetzt sind. Noch ungenügend erforscht sind die mediierenden Faktoren, die den negativen Effekt der Arbeitslosigkeit vermitteln. Hier existieren inzwischen zwar mehrere theoretische Modelle – und teilweise wurde bereits auch empirische Evidenz gesammelt, die für die Gültigkeit dieser Modelle spricht. Diese Evidenz ist aber noch nicht sehr stark, und die bei solchen Fragen besonders relevanten Längsschnittstudien fehlen bisher fast völlig. Auch die Forschung zu den Copingstrategien, die Arbeitslose zur Bewältigung der Arbeitslosigkeit verwenden, erscheint noch verbesserungsbedürftig, da bisher wenige spezifische Faktoren als relevant identifiziert werden konnten. Hinsichtlich des Stellensuchprozesses wäre ebenfalls noch manches zu erforschen. Die Resultate bezüglich des Networking sind z. B. noch nicht sehr schlüssig.

303 15 · Literatur

Andere wichtige Variablen, wie z. B. die Misserfolgsverarbeitung, welche für den Umgang mit bei der Stellensuche praktisch immer auftretenden Ablehnungen besonders relevant ist, scheinen in diesem Zusammenhang überhaupt noch nicht untersucht worden zu sein. Auch die Frage, welche Verhaltensweisen und Persönlichkeitseigenschaften günstig für den Übergang von Zeitarbeit zu Normalbeschäftigung sind, muss noch weiter erforscht werden. Und während bereits viele Evaluationen von Trainings für Arbeitslose durchgeführt wurden und eine metaanalytische Zusammenfassung solcher Studien auch zu einem deutlich positiven Gesamteffekt solcher Trainings bezüglich des psychischen Befindens kommt (Paul & Moser, 2007), stand die Outplacementberatung bisher noch zu wenig im Fokus des Forschungsinteresses. Unabhängige Erfolgsmessungen hinsichtlich »harter« wie »weicher« Kriterien sind rar und die Frage, welche Aspekte des Outplacement was bewirken, ist ebenfalls noch weitgehend ungeklärt. Dies ist umso bedauerlicher, als das Vorgehen beim Outplacement, insbesondere beim Gruppenoutplacement, zumindest teilweise dem entspricht, was Kieselbach (2001) als »sozialen Geleitschutz« (S.385) zur gesellschaftlichen Begleitung

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beruflicher Transitionsprozesse gefordert hat. Da aufgrund von wirtschaftlichen Flexibilisierungs- und Globalisierungsprozessen Phasen des beruflichen Übergangs immer häufiger werden, ist eine Normalisierung und Entstigmatisierung solcher Phasen unumgänglich, um den Individuen eine positive Bewältigung zu ermöglichen. Daher wird die Verwirklichung von Interventionskonzepten notwendig, die staatliche und privatwirtschaftliche Bemühungen integrieren (Kieselbach, 2001). Sie sollten verschiedene Beratungs- und Begleitungsangebote umfassen und die Handlungsfähigkeit des Einzelnen erhalten, indem ihm oder ihr die Angst vor einer ungewissen Zukunft soweit wie möglich genommen wird. Phasen des beruflichen Übergangs sollten zudem als Moratorium aufgefasst werden, die eine Fähigkeits- und persönlichkeitsbezogene Weiterentwicklung ermöglichen und als solche eine für das betroffene Individuum akzeptierbare soziale Identität bereitstellen. Wenn diese Integration gelingt, kann Arbeitslosigkeit vielleicht eines Tages in höherem Maße als Gelegenheit zu persönlicher Orientierung und psychischem Wachstum genutzt werden, als es heute der Fall ist.

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Kapitel 15 · Arbeitslosigkeit

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15

III

III Bürger sein: Bewerten und Gestalten von Ressourcen 16

Wirtschaftliche Leitbilder und Einstellungen

– 309

17

Bürgersinn

18

Kontraproduktives Verhalten durch Schädigung öffentlicher Güter – 357

19

Berufliche Selbstständigkeit – 379

– 337

16 16

Wirtschaftliche Leitbilder und Einstellungen Gerhard Scherhorn

16.1

Ansätze eines neuen Denkens

16.1.1 16.1.2 16.1.3

Leitbilder nachhaltiger Entwicklung – 310 Überproduktion durch Externalisierung – 311 Wie wird der Wettbewerb nachhaltig? – 313

16.2

Problematische Entwicklungen

16.2.1 16.2.2

Kapitalismus versus Marktwirtschaft – 316 Finanzkapital versus Produktivkapital – 318

16.3

Revision von Grundbegriffen

16.3.1 16.3.2 16.3.3

Märkte – 321 Marktgüter – 325 Marktfreie Güter – 327

Literatur

– 310

– 316

– 321

– 332

K. Moser (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie DOI 10.1007/978-3-540-71637-2_16, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007

310

Kapitel 16 · Wirtschaftliche Leitbilder und Einstellungen

> Der Nachhaltigkeit verpflichtete Unternehmen 4 ersetzen national oder international produzierte Erzeugnisse durch Produkte, die auf örtlicher und regionaler Ebene geschaffen werden, 4 übernehmen die Verantwortung für ihre Rückwirkungen auf die Umwelt, 4 benötigen keine fremden Kapitalquellen, um wachsen und gedeihen zu können, 4 wählen Produktionsverfahren, die menschlich, angemessen, würdig und in sich befriedigend sind, 4 schaffen langlebige und dauerhaft nützliche Erzeugnisse, deren Gebrauch oder Verwendung zukünftige Generationen nicht schädigt, 4 verwandeln Konsumenten durch Aufklärung in Kunden. Hawken, 1996

16

16.1

Ansätze eines neuen Denkens

16.1.1

Leitbilder nachhaltiger Entwicklung

Selbstorganisation Unter dem Eindruck, dass wir mit der Natur, »von der wir ein Teil sind« (Meyer-Abich, 1997), uns selbst zerstören, wandeln sich die Einstellungen zur Wirtschaft und ihren Institutionen. Es ist bisher erst ein Wandel auf der obersten Abstraktionsebene, im paradigmatischen Denken. Er ist nicht auf den akademischen Raum beschränkt, hat aber die Bereiche der Lehre, der politischen Konzepte und des Alltagshandelns erst am Rande erfasst. Unverkennbar zeigt er ein Bestreben, das menschliche Handeln einem nachhaltigen Umgang mit dem Ganzen der Natur anzunähern. Doch ist es noch keineswegs sicher, dass die neuen Leitbilder sich gegen den Widerstand der alten durchsetzen werden: das Paradigma der Selbstorganisation gegen die rationalistische Vorstellung von der Plan- und Beherrschbarkeit der Realität, die Ökonomie des Raumschiffs Erde gegen das Trugbild von den offenen Grenzen, das kooperative Menschenbild gegen das egozentrische vom Kampf aller gegen alle. Die 3 Leitbilder stehen in einem inneren Zusammenhang: Sie sind geistige Voraussetzungen für nachhaltige Entwicklung. Doch die ihnen entgegenstehenden Konzepte von der rationalen Beherrschbarkeit des Lebens, der Unerschöpflichkeit der Mittel und der rein egoistischen Natur des Menschen sind tief verwurzelt.

Die Industriegesellschaft hat sich seit dem Kommerzialisierungsprozess, der mit der industriellen Revolution des 18. Jahrhunderts begann (McKendrick, Brewer & Plumb, 1982), so sehr daran gewöhnt, durch das Haben materieller Konsumgüter das Sein zu symbolisieren oder zu ersetzen, dass das »Habenwollen« (Ulrich, 2006) zum Motor dieser Gesellschaft geworden ist. Dahinter steht die Verheißung des Industriezeitalters, die Lösung aller Probleme sei von der Verbesserung der äußeren Lebensbedingungen zu erwarten (Polanyi 1941/1978, S. 59–70) und diese vom Fortschritt der technischen Verfahren und Produkte. Heute wird nicht nur das Vertrauen in die grenzenlose Erfüllungskraft des Konsums revidiert, sondern auch die ihm zugrundeliegende rationalistische Überschätzung des technischen Produkts. Sie hat Produktion und Konsum nach dem Muster des Uhrwerks und des Computers als programmierbar betrachtet und auch im Menschen nicht mehr als eine Maschine gesehen. Das erweist sich mehr und mehr als Anachronismus; in den Naturwissenschaften tritt an die Stelle der mechanistischen Auffassung inzwischen das Paradigma der Selbstorganisation (Brödner, 1997, S. 29–30). In der Evolution hat dieses Prinzip bewiesen, dass es sich auf einem begrenzten Planeten einzurichten und von einfachsten Formen zu komplexen Systemen aufzusteigen vermag – Systemen, die niemals im Gleichgewicht sind, sondern sich unablässig neu organisieren (Küster, 2005). Raumschiff Erde Für die Menschen war deshalb ihre natürliche Mitwelt über Millionen Jahre eine prekäre Grundlage, die auch unter günstigen Umständen nur eine begrenzte Anzahl von ihnen tragen konnte. Die frühen Jäger- und Sammlergesellschaften passten sich durch Subsistenzwirtschaft an die Unstetigkeit ihrer Lebensbedingungen an. Sie orientierten sich an den auch in schlechten Zeiten erreichbaren Mindesterträgen und waren damit zufrieden, nutzten also die besseren Zeiten nicht zu Mehrkonsum und Bevölkerungswachstum, sondern zu weniger Arbeit und mehr Spiel und Muße, Ritus und Kunst (Sieferle & Müller-Herold, 1996). In den letzten 3 Jahrhunderten hat der technische Fortschritt den entgegengesetzten Kurs ermöglicht, indem er in den Industriegesellschaften einen Überfluss an materiellen Gütern hervorbrachte; doch zugleich ließ er die Weltbevölkerung rapide ansteigen. Beides wurde erkauft durch Abwälzung privater Kosten auf die natür-

311 16.1 · Ansätze eines neuen Denkens

liche und soziale Mitwelt, deren Belastbarkeit man für grenzenlos hielt. Doch schon heute sind die Grenzen erreicht und z. T. überschritten, obwohl nun erst die weniger entwickelten Gesellschaften ihren Anteil an den schrumpfenden Ressourcen einfordern. So schließt sich das Fenster des Traums von den offenen Grenzen wieder, und ein neues Leitbild vom »Raumschiff Erde« (Boulding, 1966) entsteht. Es wird seit der Brundtland-Kommission (Hauff, 1987) und der Weltkonferenz in Rio 1992 mit der Formel »nachhaltige Entwicklung« umschrieben. Sie eröffnet 2 Perspektiven: Einerseits wird ein erhaltender und erneuernder Umgang mit den begrenzten Ressourcen das materielle Wachstum reduzieren, andererseits wird eine soziale und technische Entwicklung, die im Einklang mit der Evolution der Natur (von der wir ein Teil sind) steht, das qualitative Wachstum steigern. Darin liegt das Besondere, Zukunftsfähige des Nachhaltigkeitsprinzips. Es fordert erstens einen Fortschrittsbegriff, der die Risiken des technisch Machbaren an der Belastbarkeit der natürlichen und sozialen Mitwelt misst und folglich eine nüchtern positive Einstellung zur Begrenzung der Rohstoffentnahmen und der Schadstoffemissionen hat. Zweitens aber eröffnet es die Chance, nach dem Vorbild der Evolution in einem offenen, solar gespeisten System geschlossene Stoffkreisläufe, Cluster von wechselseitig resteverwertenden Produktionsstätten (Pauli, 1999), Systeme regenerierender Abwasserbehandlung und anderer Synergien (Braungart & McDonough, 2003) aufzubauen und mit alledem Leben in höhere Ordnungen zu transformieren: Wir können Negentropie (Dürr, 1997: »Syntropie«) schaffen, statt permanent die Entropie zu vermehren, d. h. wir können die Erde blühender und das Leben erfüllter machen, als sie bis jetzt geworden sind, wenn wir uns selbst als Teil der Natur sehen.

Fortdauern überholter Vorstellungen und Ansprüche lässt es so sehr als nicht hinnehmbaren Verzicht erscheinen, dass Rückfälle in die kaum überwundene Tradition der rücksichtslosen Aneignung und Verteidigung von knappen Ressourcen drohen. Denn auch das dritte der neuen Leitbilder hat sich noch nicht durchgesetzt. Dass der evolutionäre Vorteil des Menschen aus der Kooperation erwachsen konnte, dem Zusammenwirken an einem gemeinsamen Ziel (Herbig, 1986), wird in der neueren Forschung auf gesellschaftliche Institutionen zurückgeführt, die Kooperation sichergestellt haben, indem sie es ermöglichten, dass den nicht kooperativ Handelnden fühlbar Missbilligung signalisiert wurde (Fehr & Gächter, 2002). Das ist inzwischen durch Untersuchungen auf mehreren Kontinenten bestätigt worden (Henrich et al., 2006). Die Bestätigung kommt zur rechten Zeit, denn für das Ziel der nachhaltigen Entwicklung steht die Bewahrung der gemeinsamen Lebensgrundlagen im Mittelpunkt, und die erfordert ein kooperatives Handeln, verbietet also insbesondere das Abwälzen privater Kosten. Aber die gesellschaftlichen Bedingungen sind noch zu wenig an dieses Ziel angepasst. Bisher belohnen sie eher das überkommene Desinteresse an den externen Wirkungen des eigenen Handelns und benachteiligen diejenigen, die diese vermeiden wollen, z. B. im Personenverkehr oder bei der Emission von Schadstoffen: Noch sind z. B. klimaschädliche Automobile komfortabler und angesehener als klimafreundliche, noch ist die Emission von Schadstoffen billiger als das verantwortliche Entwickeln und Erproben unschädlicher Ersatzstoffe.

Kooperation Auf die Chancen dieser zweiten Perspektive sind viele Menschen allerdings noch so wenig vorbereitet, dass sie in ihr vorerst keine Kompensation für die materiellen Einbußen sehen können, die sich mit der ersten Perspektive verbinden: Heute muss man damit rechnen, dass sich der materielle Konsum für die Mehrzahl der Menschen in den Industrieländern »wieder auf einem niedrigeren Niveau einpendeln wird, wie es für die älteren Hochkulturen üblich war« (Sieferle, 1997, S. 26). Den Beginn dieses Einpendelns erleben wir heute; doch das

Abwälzung von Kosten Das Ziel der nachhaltigen Entwicklung ist notwendig geworden, weil das industrielle Wirtschaften von der eigenen Substanz lebt: Es verbraucht das Naturkapital und gefährdet das Human- und Sozialkapital (7 Abschn. 16.2.2), denn es bezieht seine Dynamik daraus, dass es nur einen Teil der Kosten, die es verursacht, auch selbst trägt, einen anderen Teil aber abwälzt. Kosten sind Aufwendungen, die man auf sich nimmt, um für die Nutzung von Ressourcen ein Entgelt oder eine Entschädigung zu zahlen, genutzte Stoffe und bean-

16.1.2

Überproduktion durch Externalisierung

16

312

16

Kapitel 16 · Wirtschaftliche Leitbilder und Einstellungen

spruchte Ökosysteme wiederherzustellen oder zu ersetzen, Beeinträchtigung von Umwelt oder Gesundheit zu vermeiden, aber auch – was oft übersehen wird – Schutzbefohlene wie z. B. Arbeitnehmer, Hauptschüler, Drittweltbauern nicht ihrer Lebenschancen zu berauben. Private Kosten sind Aufwendungen für ein Produkt (Sache, Dienst), dessen Nutzen allein oder überwiegend Privaten (Menschen, Privathaushalten, Unternehmen) zufließt, öffentliche Kosten sind Aufwendungen für Gemeinschaftsgüter, die für eine Vielzahl von Privaten von Nutzen sind. Solche Aufwendungen werden abgewälzt (externalisiert), wenn das eigentlich verantwortliche private oder öffentliche Subjekt sie unterlässt und damit andere Teile des Systems belastet. Belastet wird zum einen die natürliche Mitwelt in Gestalt des Klimas, der Biodiversität, des Lebens in den Ozeanen, der Regenerationskraft des Bodens und des Grundwassers, der Leistungsfähigkeit der Ökosysteme, zum anderen die soziale Mitwelt in Gestalt der menschlichen Gesundheit, der Lebensqualität, der Bildungschancen, der staatlichen oder kommunalen Infrastruktur, der unbezahlten Arbeit, der übervorteilten oder ausgegrenzten (marginalisierten) Menschen. Problematisch ist die Externalisierung erst, wenn die Belastung von den Eigenkräften des natürlichen oder sozialen Systems nicht aufgefangen und abgeleitet werden kann, sondern dessen Bestand oder Funktionsfähigkeit vermindert – anders formuliert: wenn sie zum Substanzverzehr führt. Für die natürliche Mitwelt hat man zwar lange angenommen, sie könnte die Abfälle und Emissionen der Menschen ohne Schaden absorbieren und die Rohstoffentnahmen fielen nicht ins Gewicht. Aber diese unreflektierte Vorstellung konnte schon prähistorische Gesellschaften (Diamond, 2006) und auch das klassische Altertum (Weeber, 1990) nicht vor dem Raubbau an Rohstoffvorräten, vor der Abholzung der Wälder und der Verkarstung des Bodens bewahren. Erst recht ist die soziale Mitwelt so oft das Objekt von Aneignung und Versklavung gewesen, dass die industrielle Kostenabwälzung auf die Natur (und auf Menschen in anderen Ländern) als Entlastung für die Arbeiterklasse (v. a. ihre männlichen Mitglieder) angesehen und zur Grundlage der Verheißung des Industriezeitalters werden konnte, »alle menschlichen Probleme könnten durch das Vorhandensein einer unbeschränkten Menge materieller Güter gelöst werden« (Polanyi, 1941/1978, S. 68). Dass die Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen von Anfang an um den Gegenwert

des Raubbaus an Teilen der natürlichen und sozialen Mitwelt überhöht war, ist erst spät ins Bewusstsein gedrungen und auch heute noch wenig präsent. Subventionierung von Marktgütern Dies ist auch deshalb so, weil alle davon profitieren, jedenfalls von der Abwälzung privater Kosten, denn sie hat die Waren billiger gemacht als sie sein müssten, wenn alle Kosten in Rechnung gestellt würden. Das Ergebnis ist Wohlstand: Die Verbilligung der Marktgüter erhöht die Nachfrage nach ihnen, die Produzenten können mehr absetzen und die Konsumenten mehr kaufen, als wenn sie für die vollen Kosten aufkommen müssten. Doch die Kehrseite ist übermäßige Produktion: Der Wohlstand hätte weniger zugenommen, wenn alle Kosten von den Produzenten und Konsumenten selbst getragen worden wären. Die Preise der Agrarprodukte wären höher, wenn die Landwirtschaft nicht einen Teil ihrer Kosten auf den Boden, das Grundwasser, die Tiergesundheit abgewälzt hätte. Der Anteil der Nahrungsausgaben am Budget der privaten Haushalte, der 1950 noch bei über 40% lag, wäre nicht auf weniger als 20% gesunken, sondern läge vielleicht in der Nähe von 30%. Die Preise der Industrieprodukte wären höher, wenn die Industrie schon seit Jahrzehnten Kosten aufgewendet hätte, um die Emission von Schadstoffen zu vermeiden, toxische Chemikalien durch ungiftige zu ersetzen, Abfälle so weit wie möglich in »closed loops« wiederaufzubereiten, Abgaben für die Verringerung der Vorräte an fossiler Energie zu zahlen bzw. die Entwicklung erneuerbarer Energieformen zu finanzieren. Man kann es nicht deutlich genug sagen: Gemessen an dem, was nachhaltige Entwicklung wäre, ist ein Teil des industriellen Wohlstands Überproduktion. Damit ist nicht Überschussproduktion gemeint, die unverkäuflich ist, sondern Produktion im Übermaß, die abgesetzt wird, weil sie billiger ist, als sie sein müsste. Doch das bleibt unkenntlich, weil als Wohlstand die Summe der zu den verbilligten Preisen gekauften Güter betrachtet wird, wie es bei der Berechnung des Sozialprodukts immer noch üblich ist. Dann ist das Produktionsergebnis ein erfreulich gesteigertes Wohlstandsniveau. Aber es ist z. T. mit Substanzverzehr erkauft, weil zu wenig in die Erneuerung der Produktionsgrundlagen investiert wurde. Die Externalisierung schafft Überproduktion, weil sie die Marktgüter verbilligt, also gleichsam subventioniert, und es uns dadurch ermöglicht, über unsere Verhältnisse zu leben.

313 16.1 · Ansätze eines neuen Denkens

Diese Subvention wird in manchen Fällen aus den öffentlichen Haushalten bezahlt. In solchen Fällen spricht man von »Defensivausgaben« des Staates oder der Gemeinde (Leipert, 1989). Sie sind defensiv, weil sie dazu dienen, den vorigen Zustand wiederherzustellen, also den Substanzverzehr zu kompensieren, beispielsweise durch Reinigung des verschmutzten Abwassers, durch Sanierung von Kunstwerken, die vom »sauren Regen« beschädigt wurden, durch Sanierung von Altlasten oder Lagerung radioaktiver Abfälle. Ein Wohlfahrtseffekt ist am ehesten gegeben, wenn die Übernahme der Defensivausgabe einer genuinen öffentlichen Aufgabe entspricht. Er ist zweifelhaft, wenn die öffentliche Hand die externen Kosten einzelner Gruppen, Verbände oder Unternehmen trägt. Ebenso bedenklich ist es, wenn genuin öffentliche Kosten auf Umwelt oder Gesellschaft abgewälzt werden. Doch kann ich diese Probleme hier nicht behandeln; der Beitrag ist allein der substanzverzehrenden Externalisierung privater Kosten gewidmet. Der Sog der Bereicherung Das eigentlich Problematische daran ist die Bereicherung auf Kosten der Substanz – auf Kosten des Natur-, Human- und Sozialkapitals (7 Abschn. 16.2.2). Sie wird nicht so genannt, und sie wird erst recht nicht gemessen. Denn Produzenten und Konsumenten profitieren gemeinsam von der Abwälzung, die einen durch höheren Absatz, die anderen durch niedrigere Preise, vielleicht auch durch höhere Qualität, z. B. schwerere und schnellere Autos (7 Beispiel »Profit durch Externalisierung«). Die Externalisierung bringt ihnen privaten Nutzen, sie privilegiert sie vor den anderen, denen sie schadet – bestimmten Menschengruppen (z. B. Lärmempfindlichen), der Umwelt (dem Klima, der Biodiversität), der Gesellschaft (z. B. den Staaten und Kommunen, die für die Beseitigung von Schäden aufkommen), den Menschen in anderen Ländern, die durch Abfallentsorgung oder Minderentlohnung belastet werden, den künftigen Generationen, für die weniger Ressourcen übrigbleiben, als die gegenwärtigen Generationen übernommen haben. Doch die Distanz zu den Geschädigten (vgl. Princen, 2002) ist meist so groß, dass die Nutznießer den Schaden, den sie anrichten, nicht direkt vor Augen haben; zudem verteilt der Schaden sich meist auf eine diffuse Gesamtheit, so dass die Nutznießer die individuelle Schädigung für unerheblich halten können.

Beispiel

Profit durch Externalisierung Die Autofahrer z. B. verursachen nicht nur die privaten Kosten, die sie mit den Anschaffungs-, Inspektions- und Kraftstoffpreisen begleichen; sie sind auch verantwortlich für externe Kosten: für die Lärmbelästigung, die Krebserzeugung durch den Abrieb der Reifen, die wald- und klimaschädlichen Emissionen des Motors, die nichtversicherten Unfallfolgen (z. B. Ausfall des Ernährers), die Verringerung der Rohstoffvorräte und fossilen Energiequellen und die Infrastruktur des Straßenverkehrs (Straßen, Verkehrspolizei usw.). All das summiert sich zu einer Gesamtheit von Ausgaben und Lasten, die sie mit der Kraftfahrzeug,- Mineralöl- und Ökosteuer nur zum Teil finanzieren; nach einer sehr wohlwollenden Berechnung des Umweltbundesamtes haben diese Steuern 1994 allenfalls 42% davon gedeckt, eher weniger (Huckestein & Verron, 1999).

So entsteht die Vorstellung, dass 7 Nachhaltigkeit Verzicht bedeute, Verzicht auf ein Privileg, auf das »gute Recht« zur Abwälzung privater Kosten, also auf die Verbilligung des privaten Konsums. Das erschwert die Erkenntnis, dass die Abwälzung unrecht ist und nicht dadurch reingewaschen wird, dass man sich an die Vorteile gewöhnt hat und nun davon abhängig fühlt. Auch Politiker gehen in diese Falle, wenn sie z. B. vor dem Argument einknicken, der Verzicht auf 7 Externalisierung werde Arbeitsplätze kosten. Auch für sich selbst nehmen Politiker – und andere Personen mit Vorbildfunktion – das Recht in Anspruch (gerade beim eigenen Kfz), private Kosten auf die Allgemeinheit abzuwälzen, statt in der Revision schädlich wirkender Ansprüche und Gewohnheiten voranzugehen. 16.1.3

Wie wird der Wettbewerb nachhaltig?

Rückständige Verbrauchersozialisation Nachhaltige Entwicklung setzt somit bei den Konsumenten die Einsicht voraus, dass gerade die Verbilligung und Überproduktion der Marktgüter Schaden anrichtet. Dieser Einsicht wirkt der »7 heimliche Lehrplan« der Konsumentensozialisation diametral entgegen. Sozialisiert werden die Verbraucher ja nicht nur anhand des

16

314

Kapitel 16 · Wirtschaftliche Leitbilder und Einstellungen

offiziellen Lehrplans im Schulunterricht, sondern auch durch diffuse Einflüsse der Familie, des Güterangebots und der Werbung, der Massenmedien und gesellschaftlichen Vorbilder, die noch kaum am Ziel der nachhaltigen Entwicklung orientiert sind, sondern eher das Interesse an der Überproduktion spiegeln. Beispielsweise sind die Verbraucher seit den 1950er Jahren zu der Illusion erzogen worden, die Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion in Erzeugung und Verarbeitung habe die Prozess- und Produktqualität der Nahrungsmittel – in geschmacklicher, gesundheitlicher und ökologischer Hinsicht – auf gleich hohem Stand gehalten oder sogar noch verbessert. So konnten sie bedenkenlos das jeweils billigste Fleisch aus der Tiefkühltheke kaufen. Diese »Qualitätsillusion« (Scherhorn, 2001) ist heute so tief eingewurzelt, dass ein allzu großer Teil der Verbraucher in Fragen gesunder Ernährung orientierungslos geworden ist (7 Beispiel »Fehlernährung: Desinformation und Bequemlichkeit«). Beispiel

16

Fehlernährung: Desinformation und Bequemlichkeit 50% der Frauen und 67% der Männer in Deutschland sind übergewichtig. Ernährungsbedingte Krankheiten verursachen ein Drittel der Kosten des Gesundheitssystems, 1993 waren das 70 Mrd. €. Die Regierung kündigte einen nationalen Aktionsplan Ernährung für Mitte 2007 an. Er soll insbesondere auch die Verantwortung der Wirtschaft gegenüber Kindern und Jugendlichen in der Werbung behandeln (Mitteilung des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz vom 26.2.2007, www.bmelv.de/cln_044/nn_749110/ DE/03-Ernaehrung/01-Aufklaerung/Eckpunktepapier [20.6.2007]). Hauptursachen des Übergewichts sind: übermäßiger Fettkonsum (der Fettanteil der Ernährung liegt bei 40%, sollte aber nur bei 25% liegen), Essen ohne Nährstoffe (zuckerreiche Speisen und Getränke, Weißmehlprodukte, Fastfood), Bewegungsmangel durch übermäßiges Fernsehen, Autofahren, sitzende Lebensweise (vgl. u. a. Angres, Hutter & Ribbe, 2001).

Auch im Bereich der industriell gefertigten Markenartikel lenkt die heimliche Verbrauchererziehung durch An-

gebot, Medien und Vorbilder von den negativen Auswirkungen der Externalisierung ab, hier v. a. von der Verfälschung der Preisrelationen. Diese ergibt sich daraus, dass Marktgüter verbilligt sind und deshalb immer attraktiver gemacht werden können, 7 marktfreie Güter aber nicht. Die marktfreien Güter – selbstbestimmte Entfaltung, gesunde Lebensführung, menschliche Zuwendung, soziale Eingebundenheit, gemeinschaftsbezogenes Handeln – kann man nicht kaufen, sondern muss sie gleichsam selbst herstellen, d. h. ihre Verwirklichung oder Vernachlässigung hängt von unserem eigenen Bemühen, Geschick und Zeitaufwand ab: Wenn das aber als aufwendiger empfunden wird als der Kauf subventionierter Marktgüter, so werden sie von deren Expansion an den Rand gedrängt (vgl. 7 Abschn. 16.3.3). Zu der Verdrängung trägt die heimliche Verbrauchererziehung nach Kräften bei. Zum Beispiel werden in Shows und Werbespots Marktgüter mit Attraktivität und Reichtum verbunden, die weit über der Norm liegen und für durchschnittliche Menschen unerreichbar sind. Das macht die Zuschauer mit ihrem gegenwärtigen Leben unzufrieden, wie Studien von Rahtz, Sirgy und Meadow (1988a, 1988b, 1989) in den USA und Sirgy et al. (1998) in Canada, Australien, China und der Türkei bestätigt haben. Auch Experimente von Richins (1991) haben gezeigt, dass Werbung für Parfum und Sportkleidung mit attraktiven weiblichen Modellen in den betrachtenden Frauen das Gefühl einer Diskrepanz zwischen ihrer eigenen Attraktivität und derjenigen fördert, die ihnen in der Werbung als ideal vorgespiegelt wird (vgl. Kasser, 2002, S. 53–57). Die so erzeugte Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität bringt Menschen dazu, Marktgüter zur »symbolischen Selbstergänzung« zu verwenden (Braun & Wicklund, 1989), d. h. sie an die Stelle marktfreier Güter zu setzen. Neben dem Hauptstrom einer Verbrauchersozialisation, die de facto vom Interesse an der Überproduktion der Marktgüter bestimmt wird, ist die explizite Nachhaltigkeitsinformation bisher nur in den Nischen derer wirksam, die sich anders orientieren wollen. Sie reicht vom »nachhaltigen Warenkorb« des Rats für Nachhaltige Entwicklung (www.nachhaltigkeitsrat.de) bis zu einer Vielfalt von Initiativen wie dem Internetportal der Bürgerstiftung Zukunftsfähiges München (www.lifeguide-muenchen.de) und ist ein sehr deutliches Zeichen dafür, dass sich Widerstand regt. Aber noch ist das Verbraucherbewusstsein vom Leitbild eines nachhaltigen Konsums sehr weit entfernt.

315 16.1 · Ansätze eines neuen Denkens

Illusorische Konsumentensouveränität Dennoch wird die Verantwortung für nachhaltigen Konsum noch immer gern den Konsumenten zugeschoben. Sehr verbreitet ist die Auffassung, die Konsumenten könnten sich für nachhaltigen Konsum entscheiden, wenn sie nur wollten; und dann würden sie durch ihre Kaufhandlungen die Produzenten schon dazu bringen, die dafür nötigen Produkte herzustellen und anzubieten. Da sie das offensichtlich nicht tun, wird gefolgert, sie wollten in Wahrheit keinen nachhaltigen Konsum, sondern profitierten lieber von der Externalisierung der Kosten. Und solange sie sich so entscheiden, müsse man das respektieren, denn schließlich beruhe die Marktwirtschaft auf dem freien Wettbewerb, und dessen Sinn sei es, den Konsumenten die freie Wahl zu gewährleisten. – Doch wie kann man von »freier Wahl« sprechen, wenn Marktgüter einerseits mit großem Aufwand attraktiv gemacht werden und andererseits verschleiert wird, dass sie in Relation zu den »Schattenpreisen« der marktfreien Güter verbilligt sind, so dass diese im Vergleich zu ihnen überteuert erscheinen? Die skizzierte Auffassung verkehrt den Sinn der 7 Konsumentensouveränität ins Gegenteil. Das Konzept »consumer sovereignty« (Hutt, 1940) besagt genau genommen, die Märkte sollten so verfasst sein, dass die Anbieter sich so verhalten können, dass die Konsumenten zu Kaufentscheidungen befähigt werden, durch die sie die Produktion gemäß ihren Bedürfnissen steuern. Man kann nicht im Ernst annehmen, die Konsumenten könnten die Produktion in die Richtung nachhaltigen Konsums steuern, wenn die Marktbedingungen Externalisierung fördern, weil das Nachhaltigkeitsziel noch gar keinen Eingang in die Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik gefunden hat. Ob Konsumenten sich das Nachhaltigkeitsziel zu eigen gemacht haben oder nicht, ist an ihrem Verhalten erst dann abzulesen, wenn sie vom Markt und seinen Randbedingungen – einschließlich der Massenmedien und der gesellschaftlichen Berichtssysteme – nicht mehr daran gehindert werden, sich im Sinne nachhaltigen Konsums zu entscheiden. Bisher freilich hat die Situation sich weltweit immer noch weiter verschlechtert (Gardner, Assadourian & Sarin, 2004), v. a. die Emission von Klimaschadstoffen. Das Ziel: Externalisierung von Nutzen Nachhaltige Entwicklung erfordert mehr als die Politik »den Grundsätzen freier Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb« zu verpflichten (Entwurf der EU-Ver-

fassung, Artikel III-177). Denn das deutsche, das europäische und das weltweite (WTO, NAFTA) Wettbewerbsrecht schützt keinswegs den nachhaltigen freien Wettbewerb der Unternehmen, die sich am Prinzip der »Corporate Responsibility« orientieren (vgl. 7 Kap. 17, »Bürgersinn«), sondern unterschiedslos auch den »freien« Wettbewerb derer, die die nachhaltigeren Angebote mit Hilfe von Externalisierungsvorteilen auskonkurrieren. Um dem Prinzip der nachhaltigen Entwicklung zu genügen, muss der Wettbewerb nicht nur vor Marktbeherrschung geschützt werden, sondern auch vor der Externalisierung privater Kosten (Scherhorn, 2005a). Dazu genügt es nicht, die Externalisierung zu verbieten, denn die Negation, so unerlässlich sie in diesem Fall ist, hat wenig motivierende Kraft. Es geht um mehr. Allgemein bezeichnet der Begriff Externalisierung die Erzeugung von externen Effekten, also Nebenfolgen des eigenen Handelns für die natürliche und soziale Mitwelt, und das müssen nicht abgewälzte Kosten sein. Externe Effekte können auch in der Übertragung von Nutzen bestehen. Nutzen wird z. B. externalisiert, wenn eine Häufung von Unternehmen, die in die Qualifikation ihrer Mitarbeiter investieren, in einer Stadt oder Region allen zugutekommt, weil es dort deshalb viele gutausgebildete Arbeitnehmer gibt. Dass das einzelne Unternehmen seine Arbeitnehmer qualifiziert, also die Kosten der Ausbildung nicht auf andere abwälzt, nützt dann nicht nur ihm selbst: Es kommt auch den anderen Unternehmen zugute, die die Qualifikation brauchen, und auch den Arbeitnehmern und dem Standort. Das gilt analog, wenn Unternehmen ihre Produkte so konzipieren, produzieren und vermarkten, dass sie dabei die Qualität ihrer natürlichen und sozialen Mitwelt erhalten oder möglichst sogar verbessern, indem sie zur Syntropie beitragen (7 Abschn. 16.1.1). Zwar ist die Kopie von Produkten kontraproduktiv und muss durch Patente verhindert werden, aber vor der variierenden Nachahmung des am Markt Erfolgreichen gibt es keinen Schutz und darf ihn nicht geben, denn zusammen mit der Innovation ist es die Nachahmung und Verbesserung, die den Wettbewerb vorantreibt. Wenn also nachhaltiger Wettbewerb negativ dadurch definiert ist, dass keine privaten Kosten mit substanzverzehrender Wirkung externalisiert werden, dann ist sein positives Kennzeichen das Wetteifern in Leistungen, die von einer Externalisierung von Nutzen begleitet sind, und erst dann wird der tiefere Sinn des Wettbewerbsprinzips erfüllt.

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316

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Kapitel 16 · Wirtschaftliche Leitbilder und Einstellungen

16.2

Problematische Entwicklungen

16.2.1

Kapitalismus versus Marktwirtschaft

Expansion des Kapitals Vielen erscheint es zweifelhaft, ob von der gegenwärtigen kapitalistischen Wirtschaftsordnung erwartet werden kann, sich von der Externalisierung der Kosten zu verabschieden. Der Hinweis auf die nicht wenigen Unternehmen, die sich den Grundsätzen der Corporate Social Responsibility zuwenden, schafft darüber keine Klarheit, denn nicht nur die Mitgliedschaft in Nachhaltigkeitsinitiativen wie Global Reporting Initiative, Social Accountability 8000, World Business Council for Sustainable Development oder Global Compact ist freiwillig, es steht auch im Belieben des einzelnen Mitglieds, welche der von diesen Gruppen formulierten Grundsätze es jeweils einhält (Milke, 2006). Nur eine kleine Minderheit von 8% der Bevölkerung traut es denn auch der Industrie zu, »sinnvolle Lösungen für die Probleme im Bereich des Umweltschutzes zu erarbeiten« (Kuckartz, Rädiker & Rheingans-Heintze 2006, S. 29). Doch sei daran erinnert, dass in Deutschland in den 1950er bis 1990er Jahren eine Wirtschaftsordnung galt, die als »soziale Marktwirtschaft« bezeichnet wurde. Die Deregulierung des Kapitalverkehrs im Zeichen der Globalisierung hat den Sprachgebrauch verändert, man spricht jetzt vom Kapitalismus, und das zu Recht, denn die soziale Marktwirtschaft wurde deshalb so genannt, weil sie den Ansprüchen des Kapitals soziale Grenzen setzte; in einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung aber werden manche Grenzen aufgehoben, so dass 3 Ansprüche sich besser durchsetzen können, nämlich Monopolpräferenz, Bindungslosigkeit und Expansionsprivileg. Die Monopolpräferenz kann man bis zu den Anfängen des Kapitalismus zurückverfolgen, als im ausgehenden Mittelalter »das Fernhandel treibende Großbürgertum, ein vielfach verflochtener Personenkreis« (Ploetz, 1980, S. 515), aus weit entlegenen Ländern Gewürze, Heringe oder Seide herbeischaffte und damit große Summen verdiente. So entstanden in der Renaissance die ersten großen Handelshäuser. Sie finanzierten Fürstenhöfe bis hin zum Kaiserhof und handelten sich dafür staatliche Monopole ein wie die Fugger. Heute würden sie sich vielleicht um regionale Trinkwassermonopole bewerben. Aber die Monopolpräferenz kann auch ohne staatlichen Monopolschutz auf ihre Rech-

nung kommen; ein deregulierter Raum kann schon genügen, wie Augar (2005) am Beispiel der führenden Unternehmen im Investmentbanking zeigt. Auch das zweite Merkmal wurde dem Kapitalismus in die Wiege gelegt, seine soziale Bindungslosigkeit. Der Kapitalismus hat den Spätfeudalismus des 15. und 16. Jahrhunderts abgelöst (Wallerstein, 1986), als die Grundherren den Boden und den Ertrag für sich beanspruchten, von dem ihnen vorher nur der »Zehnte« zugestanden hatte (vgl. Meyer-Abich, 1992, S. 33). Sie gingen zu großflächigem Landbau über, vertrieben die Bauern vom Land und erreichten, dass ihnen das »Bauernlegen« rechtlich zugestanden wurde. Bauernlegen war nach Meyers Lexikon von 1924 »die Einziehung eines dienstpflichtigen Bauerngutes durch die das Obereigentum besitzende Gutsherrschaft«. Der im 18. Jahrhundert aufkommende industrielle Kapitalismus hat das Prinzip der sozialen Bindungslosigkeit von der landwirtschaftlichen auf die technische Produktion übertragen; »patriarchalische« Unternehmer waren nicht die Regel. Heute wirkt es sich in Schwellenländern in extrem niedrigen Löhnen, extrem langen Arbeitszeiten und extrem schlechten Arbeitsbedingungen aus; in den reifen Industrieländern tritt es eher als Marginalisierung in Erscheinung (7 Abschn. 16.2.2). Schrittweise ausbreiten konnte sich das »kapitalistische Weltsystem«, weil einerseits die Staaten, denen zur Steigerung ihres Steueraufkommens an der Ausbreitung der Geldwirtschaft gelegen war, mit den großen Unternehmen zusammenarbeiteten, andererseits aber die Interessensphäre der Unternehmen stets größer war als das Gebiet, das der jeweilige Staat kontrollieren konnte. Da das Kapital diese Unterstützung und zugleich diesen Vorsprung an Bewegungsfreiheit hatte, konnte es »die Absorption seiner externen Kosten durch politische Gebilde« erzwingen (vgl. 7 Abschn. 16.1.2) und mit den privaten Erträgen seine Expansion finanzieren (Wallerstein, 1986, S. 517). Damit ist der dritte nichtnachhaltige Aspekt des Kapitalismus angesprochen, das Expansionsprivileg, die Befreiung von Restriktionen, die eine Ausbreitung über räumliche, qualitative oder zeitliche Grenzen hinweg behinderten. In räumlicher Hinsicht war das Kapital zwar meist mobiler als die Produktionsfaktoren Arbeit und Natur, seine freie Transferierbarkeit aber doch meist durch nationale Grenzen und Ausfuhrbeschränkungen behindert. Die Globalisierung hat diese Beschränkungen weitestgehend aufgehoben.

317 16.2 · Problematische Entwicklungen

In qualitativer Hinsicht hat es in der Geschichte des Geldwesens meist Beschränkungen und Regeln gegeben: Die Formen des Bar- und Buchgeldes wurden staatlich geregelt, die Transaktionen, die Formen der handelbaren Wertpapiere, die Verfahren bei der Ausgabe und beim Rückkauf, die zulässigen Geschäftszweige von Banken. In den letzten Jahren wurden die meisten qualitativen Vorschriften für das internationale Geschäft an Banken und Börsen aufgehoben. Im Erfinden neuer Geldanlageprodukte haben die Emittenten nahezu freie Hand, es gibt kaum Kontrollen, Transparenzpflichten oder Vorgaben für die Mindestqualität der Produkte. In zeitlicher Hinsicht sind Arbeit und Natur zyklischen Erneuerungsprozessen unterworfen, das Kapital dagegen kann sich mit Zins und Zinseszins unbegrenzt vermehren. Die Deregulierung des Kapitalverkehrs hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Geldvermögen exponentiell wachsen; seit den 1990er Jahren drängen sie die beiden anderen Faktoren zurück. Die Kapitalansprüche an das Produktionsergebnis wachsen auf Kosten der Produktionsfaktoren Arbeit und Natur exponentiell an, die Schere zwischen Kapital- und Arbeitseinkommen hat sich weit geöffnet. Unterwerfung der Märkte Die 3 Tendenzen gelten für natürliche Personen weniger als für juristische, besonders das Expansionsprivileg, denn das vom einzelnen Menschen angehäufte Kapital unterliegt nicht viel anders als Arbeit und Natur einem zyklischen Verlauf. Das Vermögen, das eine Person im Lauf ihres Lebens ansammelt, wird nach ihrem Tod früher oder später wieder verteilt und verbraucht. Das Expansionsprivileg gilt vielmehr für das große Kapital, denn das ist rechtlich nicht natürlichen Personen zugeordnet, auch wenn diese de facto darüber verfügen. Es wird in Kapitalgesellschaften verwaltet, die eine voraussetzungslose Haftungsbeschränkung genießen – die Eigentümer haften nur bis zur Höhe ihrer Kapitalanteile, nicht etwa mit ihrem Vermögen wie Einzelunternehmer und private Haushalte. Die Privilegierung der juristischen Person sichert die exponentielle Kapitalexpansion. Sie wird noch von manchen anderen Privilegien ergänzt, z. B. der Gewährung von Markenschutz für juristische Personen (Bannas, 2003) oder dem Vorrang der kreditgebenden Banken vor den Arbeitnehmern und Lieferanten in Insolvenzverfahren. Und auch die Monopolpräferenz und die Bindungslosigkeit

sind für die großen Kapitalgesellschaften typischer als für die Einzelunternehmen und Personengesellschaften. So sind nicht die vielen kleinen und mittleren Unternehmen der Motor der Kapitalexpansion, sondern die großen. Mit Braudel kann man sagen, dass der Kapitalismus von wirtschaftlichen Aktivitäten vorangetrieben wird, die sich an der Spitze abspielen. Er schwimmt gleichsam »auf einer doppelten Schicht, die aus dem materiellen Leben [der sog. Lebenswelt] und der Marktwirtschaft gebildet wird. Er repräsentiert den Bereich der großen Profite« (Braudel, 1986, S. 99). Man täuscht sich, wenn man Marktwirtschaft und Kapitalismus gleichsetzt, denn vom Kapitalismus wird »der Markt immer wieder umgangen oder verfälscht und der Preis willkürlich durch faktische oder gesetzlich verordnete Monopole diktiert« (Braudel, 1986, S. 45). Marktwirtschaft ist nach Braudel ein »transparenter« Austausch zwischen Händlern und ihren Tauschpartnern, seien sie Produzenten oder Konsumenten, »bei dem jede Partei schon im voraus die Regeln und den Ausgang kennt und die stets bescheidenen Profite ungefähr einkalkulieren kann« (Braudel, 1986, S. 50). In der Sphäre des Kapitalismus dagegen agiert eine andere Kategorie von Unternehmern. Sie werden denn auch nicht Händler genannt, sondern Handelsherren oder Global Players. Ihr Ziel sind die großen Profite. Sie suchen z. B. durch Aufkaufen der Ware bei den Produzenten, durch Ausnutzung von Informationsvorsprüngen oder national unterschiedlicher Besteuerung oder mit Hilfe staatlicher Monopolrechte »die traditionellen Marktregeln zu überwinden« und die Bedingungen für »ungleiche Tauschgeschäfte« zu schaffen. Diese Strategien führen »zur Akkumulation beträchtlichen Kapitals« in den Händen weniger großer Unternehmen (Braudel, 1986, S. 51, 53). Sicher kann man in der Realität nur einen ungefähren Trennstrich ziehen zwischen den großen Unternehmen und Kapitalien, die nach Braudel den Kapitalismus repräsentieren, und den vielen kleineren, die den Ozean bilden, auf dem er navigiert. Aber für die wirtschaftlichen Leitbilder und Einstellungen ist nicht das Abstecken der Terrains relevant, sondern ob der von Braudel herausgearbeitete prägende Unterschied gesehen und in seinen Auswirkungen gewürdigt wird. Er kann jedenfalls erklären, warum die Ansprüche des Kapitalismus sich politisch und gesellschaftlich

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Kapitel 16 · Wirtschaftliche Leitbilder und Einstellungen

durchsetzen. Große Unternehmen genießen wegen ihrer besonderen Sichtbarkeit hohes Ansehen als arbeitgebende Organisationen, obwohl die kleinen und mittleren deutlich mehr Menschen beschäftigen und nicht selten menschlich befriedigendere Arbeitsbedingungen bieten. Große Unternehmen können die Masse ihrer Beschäftigten gegenüber der Regierung wirksam als Drohpotenzial ausspielen, sie können sich die Kosten der Information und politischen Einflussnahme besser leisten als kleinere Unternehmen oder gar Konsumenten, sie haben insgesamt eine wesentlich größere Chance, dass ihre Ansprüche im Regierungshandeln Berücksichtigung finden (Downs, 1968, S. 247–252), ihr Größenwachstum überflügelt die kleinen und mittleren Staaten, und nicht selten gelingt es ihnen, Märkte ihren Interessen zu unterwerfen statt, wie in der Marktwirtschaft, von der Entwicklung auf den Märkten gesteuert zu werden. 16.2.2

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Finanzkapital versus Produktivkapital

Verzehr der realen Substanz So kann man es auch erklären, warum dem Kapitalismus in der öffentlichen Diskussion so wenig zugetraut wird, dass er aktiv – also von sich aus – dazu beiträgt, die Externalisierung privater Kosten zu beenden. Er kann kein Interesse daran haben, Kapitalexpansion und Monopolpräferenz einzudämmen, die beide bei großen Unternehmen im Allgemeinen viel ausgeprägter – und folgenreicher – sind als bei kleinen. Erst recht kann ihm nichts daran liegen, die Bindungslosigkeit in eine verantwortliche Haltung zu überführen, zumal sie im 20. Jahrhundert von der Wirtschaftswissenschaft vehement verteidigt worden ist. Das Unternehmen, so wurde gelehrt, hat nur eine einzige Aufgabe, nämlich Gewinn zu machen. Sicher hat es dabei die geltenden Gesetze zu beachten, aber darüber hinaus keine ökologischen oder sozialen Rücksichten zu nehmen, denn die verfälschen die optimale Allokation der Produktionsfaktoren. Doch inzwischen hat diese Lehre Gegenwind. Auch in Unternehmen wird allmählich anerkannt, dass sie eine gesellschaftliche und ökologische Verantwortung haben, die über die Befolgung der Gesetze – also der ethischen Minimalvorschriften – hinausgeht. Dazu müssen allerdings im Unternehmen Bedingungen existieren, die ökologische und soziale Verant-

wortlichkeit bewirken, exakter bezeichnet mit dem englischen Accountability: »Being responsible to an audience with reward or sanction power« (Beu, 2001). Je größer aber das Unternehmen, desto steiler im Allgemeinen die Hierarchie; in Hierarchien ist der Einzelne v. a. den Vorgesetzten verantwortlich und selber daran interessiert, seine Konkurrenten um die nächsthöhere Position zu überrunden. Schon deshalb wird dort durch Accountability eher das eigennützige Handeln betont. Und die Anreizstruktur orientiert dieses Handeln am Finanzkapital. So sind Manager von Kapitalgesellschaften rechtlich nur dazu angehalten, sich der Kapitalrendite verantwortlich zu fühlen (§ 93 AktGes.). Sie werden durch Boni, Aktienoptionen und den Druck der Finanzmärkte dazu angehalten, den Shareholder Value zu maximieren. Das setzt einen starken Anreiz auf das Externalisieren von Kosten. So ist es »in der Struktur des Unternehmens angelegt«, dass sie den kurzfristigen Vorteil des Kapitals – und ihren eigenen – zu Lasten der Allgemeinheit verfolgen; das Unternehmen ist dann »die perfekte Externalisierungsmaschine« (Mitchell 2002, s. 81). Die Externalisierung privater Kosten aber bewirkt Substanzverzehr. Substanz ist hier nicht das Geldoder Finanzkapital, sondern das Real- oder Produktivkapital, und produziert wird nicht nur mit dem Anlageoder Wirtschaftskapital, also der Summe der Grundstücke, Schürfrechte, Produktionsanlagen, Maschinen, Computer – die Produktion ist nicht minder auf die naturgegebenen Rohstoffe, auf die Dienste der Ökosysteme und auf die Intaktheit der globalen Gemeinschaftsgüter (»global commons«) Biodiversität, Boden, Klima, Luft und Wasser angewiesen, kurz: auf das Naturkapital, die wertschaffende Fähigkeit der natürlichen Mitwelt. Die Produktion bedarf ebenso der menschlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, des Humankapitals. Es wird auch als »Arbeitskapital« bezeichnet und ist dann ein Synonym für Erwerbsfähigkeit (Woll, 1996, S. 37). In seiner weiteren, bildungsökonomischen Bedeutung ist der Begriff auf die menschliche Aufnahme-, Erlebnisund Leistungsfähigkeit insgesamt bezogen. Humankapital kann nur aufgebaut und erneuert werden, wenn den Menschen geeignete Bildungs- und Entfaltungschancen zugänglich sind (Sen, 2000). Die Produktion ist schließlich auch auf die Fähigkeit der Gesellschaft zu kooperativem Zusammenhalt und kohärenter Entwicklung angewiesen, die man als Sozial-

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kapital bezeichnet (u. a. Putnam, 1993, 2000). Das Sozialkapital beruht auf den Institutionen, die die Reziprozität des sozialen Verhaltens und die Redistribution der wirtschaftlichen Güter sichern (Polanyi 1941/1978, S. 74–86), und ist in dem sozialen Charakter des Menschen begründet, der sich in der Evolution herausgebildet hat (vgl. Herbig, 1986). Gefährdet wird es, wenn die Gegenseitigkeit der sozialen Beziehungen in Familien, Kommunen und im Staatswesen in Frage steht und insbesondere das Vertrauen in die Verteilungsgerechtigkeit untergraben wird. Die Gesamtheit der 4 Kapitalien bildet das Produktivkapital, und mit diesem wird nur dann nachhaltig gewirtschaftet, wenn von den Erlösen aus dem Verkauf der Produkte so viel reinvestiert wird, dass es sich immer wieder erneuert oder sogar im Umfang zunimmt. Auf diese Weise bleibt die Substanz erhalten oder wird vermehrt. Doch Manager von Kapitalgesellschaften sind oft nur auf das Finanzkapital verpflichtet. Unter dem gesamtwirtschaftlichen Aspekt ist das kontraproduktiv, aus der Unternehmensperspektive dagegen scheinbar unbedenklich, denn betriebswirtschaftlich gesehen kann die Substanzerhaltung auch darin bestehen, dass die Erlöse als liquides Vermögen angesammelt werden, während sich die reale Produktionsgrundlage verbraucht. Das Produktivkapital wird dann in Geld zurückgeführt, z. B. indem man die Produktion so lange fortführt und die Erlöse in Wertpapieren anlegt, bis die Produktionsanlagen erschöpft sind. Der Geldwert des Kapitals bleibt erhalten, er kann ja woanders wieder produktiv angelegt werden. Das Unternehmen zieht mit seinem Geld weiter, aber es hat reale Produktionsmittel verbraucht, und wenn das nichterneuerbare Stoffe waren, so hat es reale Substanz verzehrt, obwohl es seine monetäre »Substanz« erhalten hat. Darin zeigt sich das Kurzsichtige der monetären Substanzerhaltung: Sie bewirkt realen Substanzverzehr, wenn sie naturgegebene Produktionsgrundlagen zerstört. Wenn z. B. der fruchtbare Boden durch Rohstoffabbau oder landwirtschaftliche Übernutzung erodiert und es anderswo keinen ungenutzten Boden mehr zu kaufen gibt, so kann man das angesammelte Geldvermögen vielleicht noch in anderen Branchen einsetzen, aber nicht mehr zur Erzeugung von landwirtschaftlichen Produkten (7 Beispiel).

Beispiel

Die Einwohner der Pazifikinsel Nauru leben von den Zinsen eines Fonds, der ihnen als Entschädigung für die Zerstörung des fruchtbaren Inselbodens zugesprochen wurde. Die Kolonialmächte hatten Guano für den Export im Tagebau gewonnen und den Boden bis auf den nackten Fels abgetragen. Da die landwirtschaftliche Produktionsgrundlage zerstört ist und Fischfang und Tourismus nicht genügend hergeben, ist die Inselbevölkerung darauf angewiesen, dass es anderswo noch Produktionsmöglichkeiten gibt, in die die Fondsmittel investiert werden können, und dass die Erträge ausreichen, um die benötigten Lebensmittel zu importieren (Scherhorn & Wilts, 2001; vgl. auch Scherhorn, 2002).

Das Gleiche gilt für den ersatzlosen Verbrauch fossiler Energiequellen und mineralischer Rohstoffe, es gilt für die Zerstörung von Ökosystemen, für die Erwärmung des Klimas: Was das Naturkapital zur Produktion beitragen kann, bleibt nur erhalten, wenn ein Teil der Erträge aus seiner wirtschaftlichen Nutzung dazu verwendet wird, es wiederherzustellen oder es zu ersetzen, so dass die reale Substanz erhalten bleibt. Nur das kann man nachhaltig nennen. Die reale Substanz wird verzehrt, wenn zugunsten der Vermehrung des Geldvermögens zu wenig von den Erlösen für die Erneuerung oder die Substitution der verbrauchten Produktionsgrundlagen reinvestiert wird. Das ist das Gegenteil von Nachhaltigkeit, denn wenn das Wachstum der Produktion mit einem Verzehr realer Substanz zugunsten der Ansammlung von Geld erkauft wird, dann wird das Volumen des Finanzkapitals immer größer, während das Realkapital zurückgeht. Die Vermehrung des anlagesuchenden Geldes aber erhöht den Gewinndruck auf das Realkapital, was den realen Substanzverzehr noch weiter beschleunigt. Dadurch wird schließlich auch das Finanzkapital entwertet, denn es entfernt sich immer weiter von seiner realen Grundlage. Wie sehr diese bereits dezimiert wurde, zeigt die Bilanz des Naturkapitals: Zerstörung der Regenwälder, Überfischung der Weltmeere, Übernutzung und Erosion landwirtschaftlich nutzbaren Bodens, Sinken der Grundwasserspiegel, Zunahme von Trinkwasserknappheit, Ausbreitung der Wüsten, Häufigkeit der Sandstürme, Erwärmung des Klimas, Zunahme von Unwetterschäden (Brown, 2006). Es zeigt sich auch am Human- und Sozial-

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Kapitel 16 · Wirtschaftliche Leitbilder und Einstellungen

kapital: Die Emissionen des industriellen Wirtschaftens vervielfachen die gesundheitlichen Belastungen. Die rasante Expansion des Finanzkapitals vergrößert Verteilungsunterschiede und erhöht soziale Spannungen. Der arbeitsparende technische Fortschritt bewirkt, dass ein wachsender Teil der arbeitswilligen Menschen in der Produktion von Waren und Diensten nicht mehr gebraucht und dadurch an den Rand der Gesellschaft gedrängt wird. In weniger entwickelten Ländern wird die kleinbäuerliche Subsistenzwirtschaft millionenfach zerstört, in den Städten aber entstehen nicht annähernd so viele Arbeitsplätze neu. Armutswanderungen und die Konkurrenz um Trinkwasser erhöhen zwischenstaatliche Konflikte.

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Gewinn ohne Verantwortung für die Produktion Das Kontraproduktive an der externalisierenden Wirtschaftsweise liegt offenbar darin, dass die einzelnen Wirtschaftssubjekte bestrebt sind, Gewinn zu erzielen, ohne die volle Verantwortung für die Produktion zu übernehmen. Das gilt schon für die Abwälzung privater Kosten auf das Naturkapital: Man emittiert beispielsweise Schadstoffe, weil die Vermeidung der Emission teurer wäre, schädigt dadurch aber das Klima, den Boden, das Grundwasser, die Flüsse und Meere und gefährdet die Gesundheits- und Lebenschancen vieler Menschen. Es gilt in ähnlicher Weise für die Abwälzung privater Kosten auf das Sozialkapital: Im Interesse hohen Gewinns spart man beispielsweise Aufwendungen für die Verbesserung von Arbeitsbedingungen, trägt dadurch aber u. U. zu einer höheren Morbidität und Mortalität der Arbeitnehmer bei (vgl. Evans, Barer & Marmor, 1994). Auch unterlassene Maßnahmen zur Verhütung einer sozialen Desintegration z. B. von Kindern, Jugendlichen, Frauen oder Migranten kommen einer Abwälzung von Verantwortung gleich, die sich auf das Sozialkapital zerstörerisch auswirken kann. Und es gilt erst recht, wenn der Gewinn durch Absaugen von Wirtschaftskapital erzielt wird, wie es immer häufiger vorkommt. Auch das sind Formen der Externalisierung: Banken verkaufen beispielsweise Kredite, die sie Unternehmen gewährt haben, deren Tilgung ihnen aber zu lange dauert oder zweifelhaft erscheint, mit einem Abschlag weiter an andere Unternehmen, die sich auf die Verwertung solcher Kredite spezialisiert haben. Diese kündigen die Kredite, auch wenn Zins und Tilgung regelmäßig gezahlt werden, vorzeitig und treiben die Schuldner in neue Verschuldung und nicht selten in Zwangsversteigerung (7 Beispiel).

Beispiel

Profit ohne Produktion Aus einem Spiegel-Interview des Wirtschaftsrechtlers Prof. Uwe H. Schneider (2006a, S. 100; vgl. auch Schneider, 2006b): Private-Equity-Gesellschaften finanzieren den Kaufpreis für ein von ihnen übernommenes Unternehmen »in erster Linie mit Fremdkapital, das von der erworbenen Gesellschaft zurückbezahlt werden muss. Und dann wird das Eigenkapital abgeräumt. Viele dieser angeblichen Investoren sind in Wahrheit Eigenkapitalräuber … Zunächst gründen die Käufer eine neue Gesellschaft ... Die nimmt ein Darlehen auf und erwirbt damit das Unternehmen. Anschließend werden beide Gesellschaften miteinander verschmolzen. Die Darlehensschulden liegen nun beim aufgekauften Unternehmen …« Interviewer: »… das die Zinsen bedient und somit seinen Kaufpreis selbst bezahlt.« Schneider: »Richtig. Allerdings müssen die ›neuen Investoren‹ einen gewissen Teil des Kaufpreises selbst aufbringen. Doch fließen diese Mittel nicht dem Unternehmen, sondern dem Verkäufer zu. Das verhindert aber nicht, dass das aufgekaufte Unternehmen in der Folge auch diesen Teil des Kaufpreises den Eigenkapitalräubern erstatten muss.« Interviewer: »Wie funktioniert das?« Schneider: »Das Unternehmen wird in eine GmbH umgewandelt … und das Stammkapital wird herabgesetzt. Das freie Vermögen wird dann bis zur Grenze des rechtlich Zulässigen an die neuen Gesellschafter ausgezahlt. Zur Finanzierung werden Tochtergesellschaften und Betriebsstätten abgestoßen, Immobilien verkauft, die Kosten gedrückt und neue Verbindlichkeiten begründet. Die Investitionen werden gekürzt, im schlimmsten Fall wird sogar die Forschung eingestellt.« Nachdem sich die Private-Equity-Gesellschaft bedient hat, wird das Unternehmen nach einiger Zeit »an einen weiteren Finanzinvestor weitergereicht, der es weiter auspresst. Neudeutsch heißt das ›secondary buyout‹. Manche werden an die Börse gebracht. Dann haben die neuen Aktionäre das Problem. Und gelegentlich bleibt nur noch das Insolvenzverfahren.«

321 16.3 · Revision von Grundbegriffen

Man kann zwar einen Unterschied darin sehen, ob die Abwälzung das Natur- bzw. Sozialkapital verringert oder ob der Gewinn durch Absaugen von Wirtschaftskapital erzielt wird, denn im ersten Fall werden immerhin noch reale Werte produziert, wenn auch unter den wahren Kosten, während im zweiten Fall wirklich Gewinne ganz ohne Produktion erzielt werden. Aber in beiden Fällen wird das Finanzkapital auf Kosten des Realkapitals erhöht und sind die Kapitalmärkte daran gehindert, die Schaffung realer Werte zu fördern. Gemeinsam ist beiden Fällen, dass die Abwälzung von Verantwortung erlaubt und üblich ist und z. T. sogar gefördert wird. Das lenkt den Blick auf die Strukturen und Institutionen, die hinter den unmittelbaren Verursachern einer Externalisierung stehen, und insbesondere auf die staatlichen Instanzen, die dafür verantwortlich sind, dass die Verursachung nicht wirksam unterbunden wird. Bisher sind die meisten Externalisierungshandlungen nicht verboten, im Zuge der Globalisierung wurden zudem viele einschränkende Vorschriften aufgehoben (7 Abschn. 16.2.1), also können die Akteure sich durch Wettbewerb oder Vorschriften dazu gezwungen fühlen. Folglich muss stets auch gefragt werden, wieweit der politische und soziokulturelle Rahmen die Externalisierungspraxis fördert und wie das geändert werden kann. 16.3

Revision von Grundbegriffen

16.3.1

Märkte

Der Markt als kollektive Aktion Konsumgütermärkte sind heute so organisiert, dass sie Externalisierung fördern und nachhaltigen Konsum erschweren (Scherhorn 2005a, 2005b). Es ist z. B. gut belegt, dass Konsumenten ihr Umweltbewusstsein umso weniger in umweltschonendes Verhalten umsetzen, je höher die Kosten dieses Verhaltens sind (Diekmann & Preisendörfer, 1992). Dahinter steht aber, dass nicht die Kosten für umweltschonendes Verhaltens zu hoch, sondern die Kosten des umweltschädigenden Konsums zu niedrig sind. So kommt es einer ungerechten Belastung gleich, wenn z. B. der verantwortungsbewusste Autofahrer, der sich bemüht, kraftstoffsparend und deshalb langsamer zu fahren oder öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, sich als der Dumme fühlt, weil das Verkehrssystem sein Verhalten erschwert und verteuert, während es

das der anderen, die von der Externalisierung unbekümmert profitieren, erleichtert und verbilligt. Ernst Ulrich von Weizsäckers geflügeltes Wort »Die Preise müssen die ökologische Wahrheit sagen« (Weizsäcker, 1992, S. 141) muss man deshalb nicht so verstehen, dass es ökonomische Anreize geben sollte, das Richtige zu tun. Viel wichtiger wäre, dass es keine Anreize gäbe, das Falsche zu tun (Neuner, 2001, S. 362–368). Auf den Konsumgütermärkten aber wimmelt es von falschen Anreizen für Externalisierung. Deren Diskrepanz zu den öffentlichen Appellen für umweltschonendes Handeln wirkt wie ein »double bind« und lähmt die Nachhaltigkeit, denn man wird verbal ermahnt, nachhaltig zu handeln, beim Kauf und bei der Nutzung aber werden die belohnt, die es nicht tun. Einige Beispiele: 4 Vielen Haushalten wird die Abfalltrennung erschwert, weil es insbesondere für kleine Wohnungen in höheren Stockwerken keine geeigneten Behälter gibt oder in der Wohnung bzw. vor dem Haus kein Platz ist. 4 Langlebige und reparaturfreundliche Produkte werden nicht angeboten, Einzelteile sind gar nicht mehr reparierbar, oft wird gleich das ganze Produkt ersetzt. 4 Die Emission von Schadstoffen ist unsichtbar; sie sollte sichtbar sein, wie es in Japan praktiziert worden ist (Tsuru & Weidner, 1985), wo Unternehmen verpflichtet wurden, luftverschmutzende Emissionen öffentlich anzuzeigen. 4 Die »Stadt der kurzen Wege« existiert nicht und wird auch nicht geplant. 4 Die Bahn muss ihre Kosten weitgehend selbst tragen, der motorisierte Straßenverkehr dagegen darf Emissionen, Lärm, nicht versicherte Unfallkosten, Benachteiligung der Fußgänger, Verstopfung und Verschandelung der Städte auf die Allgemeinheit abwälzen. 4 Politiker sieht man nur in großen Limousinen fahren, der Fuhrpark des Bundestages enthielt bisher keine verbrauchsarmen Fahrzeuge. Jedes dieser Beispiele deutet darauf hin, dass sich auf dem jeweiligen Markt eine kollektive Aktion gegen nachhaltigen Konsum vollzieht. Denn nachhaltiger Konsum ist stets auch ein Beitrag zur Erhaltung und Kultivierung von »common goods«. Der Beitrag wird aber erschwert und verhindert, solange die Normalität darin besteht, dass Produzenten und Konsumenten von einer

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Externalisierung privater Kosten profitieren, die zur Produktion von »common bads« führt. Aus eigener Kraft können sich nur wenige der Externalisierung verweigern. Sie ist attraktiv, weil sie Produktionsverfahren, Produkte und Konsummuster subventioniert. Zugleich ist sie suggestiv, denn darauf zu verzichten, während Konkurrenten weiter davon profitieren, wird von vielen Konsumenten als ungerecht und von vielen Produzenten sogar als existenzgefährdend empfunden. Solange das gilt, ist nachhaltiger Konsum ein vom »mainstream« abweichendes Verhalten, und zu diesem ist nur eine Minderheit von Hochmotivierten fähig (Scherhorn, 1994), die es durchhalten können, sich für die Abweichung – den Verzicht aufs Autofahren z. B. – rechtfertigen zu müssen. Die Entscheidungen der Mehrheit dagegen werden von den externalisierungsfreundlichen Rahmenbedingungen der Märkte bestimmt. Unter nachhaltigkeitsfördernden Rahmenbedingungen würde das Handeln der Mehrheit nicht »common bads« produzieren, sondern »common goods«. So oder so aber fungiert der Markt in Sachen Nachhaltigkeit als kollektive Aktion. Der Begriff der kollektiven Aktion oder des kollektiven Handelns (Überblick: Udéhn, 1993) bezeichnet ein gleichgerichtetes Handeln zur Bewahrung oder Herstellung eines Gemeinschaftsguts. Bisher denkt man dabei überwiegend an das Handeln in Gruppen, Verbänden, sozialen Bewegungen. Doch ebenso gut kann ein Gemeinschaftsgut, wie die Schonung des Klimas, vom Markt produziert werden, indem die Beteiligung an der Verminderung von Klimagasemissionen sich nach dem Prinzip der Marktentwicklung (Heuss, 1965) ausbreitet. An Nachhaltigkeit orientierte Märkte muss man sich nicht als fertige, sondern als sich entwickelnde Strukturen vorstellen – als Strukturen aus Rahmenbedingungen, Institutionen und Verhaltensweisen, die sich in Richtung Nachhaltigkeit entwickeln. Rückblickend kann man feststellen, dass Rahmenbedingungen und Institutionen ihr Entstehen schon immer kooperativen Aktionen verdankten, die in den sozialen Netzwerken interagieren, in die auch die staatlichen Instanzen eingebunden sind. Mit dem Begriff »kooperative Aktion« ist die Initiative von kleineren oder größeren Gruppen gemeint, die sich dafür einsetzen, dass Regeln verabredet oder Vorschriften erlassen oder Abkommen geschlossen oder Institutionen errichtet werden, die die Rahmenbedingungen verändern. Solche Aktionen gehen etwa von Unternehmen oder Industrieverbänden aus, die eine ungünstige Vorschrift

– z. B. für den Einbau von Rußfiltern in Dieselmotoren – verhindern oder eine günstige Entscheidung – z. B. für die Steuerbefreiung des Flugbenzins – beibehalten wollen. Oder es sind Initiativen von Parlamentsabgeordneten oder von Verbraucher- oder Umweltgruppen oder Bürgerinitiativen, Vereine von materiell Betroffenen oder Foren für fachlich Interessierte wie etwa der Juristentag, der sich für eine rechtliche Regelung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen eingesetzt hat. Nicht selten sind es auch Initiativen von kleinen informellen Gruppen, die sich nur für eine einzelne Aktion zusammenfinden, etwa um im Gemeinderat zu erreichen, dass im Flächennutzungsplan ein Baugebiet für Solarhäuser ausgewiesen wird. Es ist zwar bisher nicht systematisch erforscht, aber sehr plausibel, dass die allermeisten marktrelevanten Institutionen, wie die Börsen oder das Markenregister, die Stiftung Warentest oder das AGBGesetz, aus kooperativen Aktionen entstanden oder von ihnen angeregt worden sind. In den letzten Jahrzehnten beteiligen sich zunehmend Gruppen und Organisationen an den kooperativen Aktionen, die nicht für die Interessen einer Marktseite sprechen, sondern für Menschenrechte, für Umweltschutz, gegen Korruption, gegen Auswüchse der Globalisierung, kurz: für Facetten des Gemeinwohls. Auf diese Weise erweitert sich der zivilgesellschaftliche Diskurs, den die kooperativen Aktionen transportieren. Im weiteren Sinn gehören ja auch die Vertreter von Marktinteressen zur Zivilgesellschaft, aber ihre Funktion erfüllt diese erst, wenn auch Gemeinwohlinteressen vertreten sind. Damit wird die Trennung zwischen Markt und kollektiver Aktion obsolet. Bisher ist man gewohnt, beim Begriff der kollektiven Aktion an ein gleichgerichtetes Handeln in Verbänden oder in sozialen Bewegungen zu denken. Tatsächlich aber breitet sich die Gleichrichtung des Handelns, z. B. die Beteiligung am Klimaschutz, sehr oft nach dem Modell der Marktentwicklung (Heuss, 1965) aus. Wenn sich auf einem Markt ein neues Produkt wie z. B. die Energiesparlampe durchsetzt, so bewirkt die Diffusion dieser Innovation eine Gleichrichtung des Verhaltens, denn immer mehr Menschen kaufen und nutzen das Produkt, und das Ergebnis kann dem einer kollektiven Aktion für Nachhaltigkeit entsprechen. Der marktliche Diffusionsprozess kann eine beträchtliche CO2-Reduktion herbeiführen, wenn viele Menschen die Innovation übernehmen, oder sogar alle. So gut wie alle Haushalte haben inzwischen ein Fernsehgerät, warum

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sollten nicht eines Tages alle Haushalte Stromsparlampen und andere energiesparende Einrichtungen verwenden? Die Gleichrichtung kommt aber nicht schon dadurch zustande, dass Anbieter anbieten und Nachfrager nachfragen, sondern erst dadurch, dass sie dabei innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen operieren. Zur Einführung und Weiterentwicklung von Rahmenbedingungen tragen die skizzierten kooperativen Aktionen bei. In der Vergangenheit haben sie meist die Externalisierung gefördert, heute geht es darum, den Rahmen für nachhaltige Entwicklung zu errichten, damit Märkte zu kollektiven Aktionen für nachhaltige Entwicklung werden. Und das muss Schritt für Schritt, Markt für Markt geschehen, denn in jedem Markt gibt es andere Vorschriften, Verhaltensregeln und Gewohnheiten, die revidiert werden müssen, weil sie die Externalisierung von Kosten der Produktion, des Vertriebs, des Konsums oder der Entsorgung begünstigen. Sie sind das Ergebnis der Einbettung von Märkten in soziale Netzwerke (Granovetter, 1985), die die Unsicherheit im Wettbewerb mildern (Fligstein, 2001, S. 69), und dies auch dadurch, dass sie die Unternehmen in die sozialen Werte und Beziehungen ihres kulturellen Umfeldes einbinden. Pflichten für Unternehmen In den in 7 16.2.2 skizzierten Bedingungsgefügen hat das Kapital keine Chance zu verantwortlichem Handeln. Um diese Chance zu eröffnen, muss man Konstellationen schaffen, die von Kooperation und direkter Kommunikation zwischen Gleichgestellten geprägt sind. In solchen Situationen kann Accountability das gemeinschaftsbewusste Handeln stärken (Roberts, 2001), etwa nach dem Konzept der »stakeholder empowered corporate governance« (vgl. Kuhndt, Tuncer, Andersen & Liedtke, 2004): Nicht nur den Anteilseignern werden spezifische Informationsrechte und Sanktionsmöglichkeiten eingeräumt, so dass das Management sich ihnen verantwortlich fühlt, sondern z. B. auch Mitarbeitern, Kunden oder Umweltverbänden – kurz: allen, die einen wichtigen Einsatz (»stake«) im Unternehmen haben. Es wird auch in Zukunft wohl dem einzelnen Unternehmen überlassen sein, ob es sich dem Konzept oder einem ähnlichen anschließt und wie intensiv es dieses verwirklicht. Für die Breitenwirkung muss auf andere Weise gesorgt werden, v. a. durch Aufnahme des Ziels der nachhaltigen Entwicklung in das nationale und internationale Wettbewerbsrecht (7 Abschn. 16.1.3). Das

würde durch den in den USA verfochtenen Vorschlag sinnvoll ergänzt, die Institution der Charter of Incorporation wiederzubeleben. Sie wurde erstmals von der englischen Krone eingeführt, die in der Charta den Companies, die sie zur Ausbeutung der Kolonien gründete (z. B. die East Indian Company), im Ausgleich zu den ihnen erteilten Privilegien Pflichten auferlegte. Ebenso haben später die US-Bundesstaaten den frühen amerikanischen Corporations eine Charta oder Satzung gegeben, in der dem Haftungsprivileg bestimmte Verantwortlichkeiten gegenüberstanden. Die Corporations haben durch langjährige Lobbyarbeit erreicht, dass die Satzungen Ende des 19. Jahrhunderts durch höchstrichterliche Entscheidung abgeschafft wurden. Dahinter stand keine historische Notwendigkeit, sondern Machtinteresse und Ausnutzung des »pervertierten Liberalismus« (Mitchell, 2002, S. 92) im Gesellschaftsrecht, das Kapitalgesellschaften wie natürliche Personen behandelt, ihnen aber die Privilegien juristischer Personen gewährt. Aus der Aufarbeitung des Vorgangs ist in den USA eine Bewegung entstanden, die eine zeitgemäße Form der »Charter of Incorporation« fordert (vgl. u. a. Goodrich, 1967; Grossman & Adams, 1993; Zinn, 2001). Eine Charta der Kapitalgesellschaft heute würde das Unternehmen daran erinnern, dass es mit der Haftungsbegrenzung ein großes Privileg genießt, dem eine besondere Verantwortlichkeit in ökologischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht gegenübersteht. Ökonomisch kann die Haftungsbeschränkung allein dann gerechtfertigt werden, wenn das Kapital der Gesellschafter in reale Produktion investiert wird. Für reine Finanzanlagen und Devisenspekulation darf sie nicht oder nur unter strengen Einschränkungen gelten. Ökologisch gesehen haben Kapitalgesellschaften wegen ihrer oft weltumspannenden Wirtschaftsmacht ein besonders großes Potenzial, ihre Kosten auf die Umwelt abzuwälzen, sei es im eigenen Land oder in Übersee, weil die Distanz zwischen denen, die die Entscheidungen über die Extraktion von Rohstoffen und die Emission von Schadstoffen fällen, und denen, die darunter zu leiden haben, besonders groß ist (Princen, 2002). Also müssen ihre Privilegien nicht nur an ein Externalisierungsverbot geknüpft sein, sondern auch an ein Gebot, die Distanz zu verringern, z. B. durch Verträge des Unternehmens mit den Produzenten in Entwicklungsländern, die diesen Umweltschutzvorschriften auferlegen und ihnen faire Entlohnung zusichern. Und weil sie besondere Möglichkeiten haben, externalisierte Kosten zu verschleiern (»shading

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costs«, vgl. Princen 2002, S. 106–116), muss es auch besondere Transparenzpflichten geben. Schließlich zeigt die Erfahrung, dass Kapitalgesellschaften sich in Übersee oft in besonderem Maß ihrer sozialen Verantwortung entziehen und folglich auch auf diese verpflichtet werden müssen, auf die Aus- und Weiterbildung von Arbeitnehmern, auf humane Gestaltung der Arbeitsbedingungen auch in Sonderwirtschaftszonen, auf ein autonomieförderndes Management (vgl. etwa Deci, Connell & Ryan, 1989) und nicht zuletzt auf die Mitfinanzierung der kulturellen Gemeinschaftsgüter, von denen das Unternehmen an seinen Standorten profitiert. Sicher würde eine solche Charta nur im äußersten Fall angewandt, um einem Unternehmen bei Pflichtverletzungen die »license to operate« zu entziehen. Aber die Verantwortung der Unternehmen wäre konkreter fixiert als bisher, nämlich als Mahnung an jedes einzelne Unternehmen. Bisher gilt sie nur für diejenigen, die sich freiwillig etwa den OECD-Leitsätzen oder den Global-Compact-Prinzipien unterwerfen (Milke, 2006). Und wegen der großen Schwierigkeiten, die Pflichten der Unternehmen in rechtlich zwingende Formen zu fassen, wird auch unter einer Charter of Incorporation die Übernahme von Verantwortung de facto freiwillig bleiben. Das ist im Prinzip auch richtig so, denn sie nützt nur etwas, wenn Überzeugung dahinter steht, und die wird eher durch die beharrliche Einwirkung der Stakeholder gefördert als durch rechtliche Zwänge. Aber jedes Unternehmen hätte in seiner eigenen Charta die Erinnerung an seine Privilegien und die Mahnung an seine Pflichten vor Augen. Schon die Diskussion darüber könnte bei vielen, die bisher weit abseits stehen, das Bewusstsein schärfen. Das wäre dringend nötig, denn die Entwicklung zur Nachhaltigkeit braucht inzwischen hohe Geschwindigkeit, um noch rechtzeitig zu greifen (Brown, 2006, S. 18: »The challenge is to build a new economy and to do it at wartime speed before we miss so many of nature’s deadlines that the economic system begins to unravel.«). Und für die nötige Beschleunigung könnte die Forderung sorgen, dass die »license to operate« an 3 Pflichten jedes Unternehmens gebunden wird: 1. Gewinn ohne Externalisierung zu erzielen, 2. selbst zu deklarieren, was dies zur Zeit für seine Produkte und Verfahren bedeutet, und 3. sich der kritischen Diskussion darüber zu stellen.

Ethisches Investment Im Idealfall bestehen auch die Anteilseigner darauf, dass das Unternehmen seine Renditeziele mit ökologischen und sozialen Zielen in Einklang bringt, indem sie sich bei ihren Geldanlageentscheidungen an ethischen Kriterien orientieren. Ethisches Investment ist die individuelle Entscheidung von Investoren, ihr Geld so natur-, sozialund kulturverträglich anzulegen, dass sie in dem Bewusstsein leben können, an ethisch einwandfreien Geschäften beteiligt zu sein (Darmstädter Definition, 2004). Das ist anspruchsvoll, denn es erfordert Information. Den meisten Anlegern ist es entweder egal, ob sich die Unternehmen, von denen sie Anteile kaufen, an ethische Grundsätze halten, oder sie vertrauen blind darauf, oder sie überlassen die Entscheidung einem Anlageberater oder Fondsmanagement. Ethisches Investment verdient aber diesen Namen nur, wenn die Anleger selbst wissen, was sie tun. Da es inzwischen kompetente Rating-Agenturen gibt, ist das nicht einmal schwer. Und da Geldanleger für ethisches Investment bei weitem keine solche Vielfalt an Informationen brauchen wie Konsumenten für nachhaltiges Konsumieren, ist es auch zumutbar, von ethisch denkenden Investoren zu verlangen, dass sie sich um eine solide Einschätzung des Unternehmens oder Fonds bemühen, an dem sie sich beteiligen. Auf Rendite müssen sie nicht verzichten. Die meisten Unternehmen, die im ethisch-ökologischen Ranking gut abschneiden, verdienen gut, zahlen passable Dividenden, und ihre Kurse entwickeln sich zufriedenstellend, denn im Vergleich zu konventionell wirtschaftenden Firmen haben sie oft das modernere, innovativere Management. Die extremen Gewinne von 12 oder 20% allerdings, die heute auf Finanzmärkten gern als der erstrebte Normalfall verkündet werden, sind mit ethischem Investment vielleicht im Fall einer jungen und schnell wachsenden Branche mit großen Nachhaltigkeitsfortschritten (Beispiel: Solartechnik) vereinbar. Meist aber werden sie mit gewinnmonopolisierenden Praktiken erzielt wie beim Investmentbanking (Augar, 2005) oder mit räuberischen Methoden wie beim Absaugen des Eigenkapitals durch Private-Equity-Geschäfte (Schneider, 2006a, 2006b) – kurz: »ohne Produktion« (7 Abschn. 16.2.2) – und sind durch ethische Grundsätze nicht gedeckt. Dass solche Praktiken wegen des Fehlens einer angemessenen internationalen Kapitalmarktkontrolle nicht verboten sind, ändert daran nichts. Doch es verstärkt die Herausforderung, sich in einem zu Geldgier verführen-

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den Umfeld nicht korrumpieren zu lassen, sondern auf »sauberen Gewinnen« (Hoffmann & Scherhorn, 2002) zu bestehen. Möglich ist das. Geldanleger können sich auf die Firmen konzentrieren, die im ethisch-ökologischen Ranking an der Spitze liegen. Ihre Geschäftspolitik mag höchsten Ansprüchen noch nicht genügen, aber für eine relativ saubere Geldanlage reicht sie aus. Das ist die Wirkung des Prinzips »Best in Class«: Wenn Geldanleger die Unternehmen bevorzugen, die im ethisch-ökologischen Rating eine deutlich bessere Note bekommen als der Durchschnitt ihrer Branche, wird der Wettbewerb zu einem »ethischen Wettbewerb«. Unternehmen verspüren, dass entschiedenere Kultur-, Naturund Sozialverträglichkeit ihnen zu besserem Image und leichterer Finanzierung verhilft, also werden sie im Streben nach verantwortlichem Wirtschaften bestärkt. Das an den europäischen Börsen nach ethischen Kriterien angelegte Geld, vor 20 Jahren noch verschwindend wenig, wird inzwischen auf rd. 1 Billion Euro geschätzt (Eurosif, 2006), das sind über 10% des Gesamtmarktes, und das Wachstum hält an. Allein in den Jahren 2003–2005 ist die Summe des nachhaltigen Anlagekapitals in Europa um 36% gestiegen. 16.3.2

Marktgüter

Optionenvielfalt frustriert Durch sozioökonomische Untersuchungen (u. a. Kopytoff, 1986; Cross, 2000; Manno, 2002) rückt stärker ins Bewusstsein, dass die Unfähigkeit der Industriegesellschaft zu maßvollem Wachstum mit der 7 Kommerzialisierung (»commoditization«) zusammenhängt, dem Prozess der Transformation von marktfreien Ansprüchen, Tätigkeiten und Tauschrelationen in marktgängige Produkte und Dienstleistungen, kurz: der Verwandlung von menschlichen Beziehungen in Waren (»commodities«). Zum Problem ist dieser kulturelle Prozess geworden, weil die Externalisierung ihn, indem sie die Waren verbilligt, nicht nur über die naturgegebenen Grenzen der Umwelt hinaus treibt, sondern auch über die des Menschen. Hiervon soll in diesem und dem folgenden Abschnitt die Rede sein. Dass es in der Nachfrage nach Konsumgütern Sättigungstendenzen gibt, war in der Wirtschaftswissenschaft nie umstritten: Der Grenznutzen eines Gebrauchsguts sinkt umso weiter ab, je mehr man von dem Produkt bereits besitzt, und für Verbrauchsgüter gilt, dass sie

zwar immer wieder gekauft werden müssen, wenn sie verzehrt sind, dass aber der Anteil dieser Käufe am Gesamtbudget bei zunehmendem Einkommen abnimmt. Trotzdem glauben Ökonomen nicht daran, dass die Zuwachsraten der Konsumgüternachfrage bei immer weiter steigendem Sozialprodukt abnehmen werden, weil sie auf den Appeal der immer neuen Produkte setzen, die die abnehmende Aufnahmefähigkeit für die alten Produkte kompensieren (Witt, 2001). Die bisherige Entwicklung gibt ihnen darin recht. Für die Zukunft muss man das nicht als gegeben nehmen, jedenfalls nicht in den reifen Industriegesellschaften, in denen es keinen nennenswerten Nachholbedarf mehr gibt. Dort wird die Annahme obsolet, die der Vorstellung vom immerwährenden Wachstum der Konsumgüternachfrage zugrundeliegt, nämlich dass das Glück, nüchterner formuliert das subjektive Wohlbefinden, mit der Anzahl und Vielfalt der verfügbaren Konsumgüter immer weiter zunimmt. In den USA hat die periodische Erhebung der »satisfaction with life« schon vor Jahrzehnten ergeben, dass die Zufriedenheit der Menschen auf hohem Wohlstandsniveau trotz weiter steigenden Volkswohlstands nicht mehr zunimmt (Scitovsky, 1976), während sie in armen Ländern durchaus noch zunehmen kann (Inglehart, 1998). Neuere Studien zeigen sogar, dass in den USA das Wohlbefinden abgenommen hat (Lane, 2000; Myers, 2000) – nicht nur das subjektive, sondern auch das objektive Wohlgefühl, gemessen an der Häufigkeit von Krankheiten, Depressionen, Selbstmorden u. v. a. Und das, obwohl die Zunahme an Wohlstand, gemessen am Qualitätszuwachs der Produkte, noch wesentlich größer war, als durch die Wachstumsraten des amtlich gemessenen Sozialprodukts ausgewiesen wird (Bresnahan & Gordon, 1997). Ähnliche Befunde werden aus Europa berichtet (Easterlin, 1995), aus Japan (Diener & Oishi, 2000) und Russland (Ryan et al., 1999). Einer der Gründe dafür liegt in den Entscheidungskosten. Je größer die Vielfalt der Wahlmöglichkeiten (Optionen), desto mehr Informationen braucht man, um sicher zu sein, dass man die beste Wahl getroffen hat, also ist schon die Entscheidungsvorbereitung mühsamer. Je mehr Informationen erwünscht wären, desto mehr Kompromisse muss man eingehen, da man alle Informationen weder bekommt noch verarbeiten kann, also ist die Entscheidung frustrierender. Die Frustration wird durch die Kumulation der Opportunitätskosten noch weiter verstärkt, denn unter mehr Optionen zu entschei-

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Kapitel 16 · Wirtschaftliche Leitbilder und Einstellungen

den bedeutet auch, mehr Optionen abzuwählen, also wächst das Bedauern über die entgangenen Befriedigungen (Schwartz, 2004, S. 116, 139, 151). Man kann all dem entgehen, wenn man nach Simon (1956) nicht die beste Option für erstrebenswert hält (»maximizing«), sondern sich mit einer befriedigenden begnügt (»satisficing«). Diese Einstellung widerspricht zwar der einstweilen noch herrschenden Auffassung vom immerwährenden Wachstum. Aber zum Ziel der nachhaltigen Entwicklung passt sie besser. Und vieles spricht dafür, dass man früh mit ihr anfangen sollte. Denn je größer der Wohlstand, als desto geringer wird der Grenznutzen einer weiteren Steigerung empfunden, aber als desto größer der Grenzschaden einer Einbuße in gleicher Höhe: Mit dem Reichtum nimmt die Verlustaversion zu (Kahneman & Tversky, 1984) und deshalb wohl auch der Widerstand gegen die Zumutung nachhaltigen Konsums, wenn dieser auf ein Zurückfahren von Ansprüchen hinausläuft. Die Folgerung, besser früh anzufangen, gilt aber nicht nur im Lebenszyklus der einzelnen Menschen, sie gilt auch im Fortgang der gesellschaftlichen Entwicklung: Je höher das Wohlstandsniveau bereits ist, an das sich die Mehrheit der Gesellschaft gewöhnt hat oder an dem sie sich orientiert, desto überzeugter sind die Menschen davon, dass unterhalb dieses Niveaus kein angemessenes Leben möglich ist. Denn je verbreiteter eine Information, desto stärker wird auch beim Einzelnen der Glaube an ihre Wahrheit (Kahneman & Tversky, 1974). Deshalb sehen Vielfernseher die Welt so, wie sie ihnen in den Fernsehprogrammen vorgeführt wird, ja sie nehmen den »histrionischen« Sozialcharakter an, den die Medien verkörpern (Winterhoff-Spurk, 2005).

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Materialismus macht krank All diese Erkenntnisse sind signifikant für den sich verbreitenden Zweifel an der Bekömmlichkeit unbegrenzten Wohlstandswachstums; zugleich bestärkt es ihn. Denn wäre der Zweifel nicht, hätten die Forscher dann diese Fragen untersucht, und würde die Gesellschaft ihre Antworten beachten? Das gilt auch für die Ausbreitung der kritischen Forschungen zur materialistischen Werthaltung. Durch psychologische Forschung auf allen Kontinenten wurde im letzten Jahrzehnt nachgewiesen, dass es Menschen krank macht, wenn die Konsumleitbilder trotz steigendem Wohlstand einseitig auf Waren fixiert bleiben, weil dadurch soziale Beziehungen verarmen (Kasser, 2002).

Die meisten von Kasser zitierten Untersuchungen haben entweder die 3 materialistischen Präferenzen für finanziellen Erfolg, soziale Beachtung und attraktives Äußeres gemessen oder vergleichbare Materialismusskalen verwendet. In einigen Studien wurden den 3 Dimensionen des Materialismus 3 konträre Dimensionen gegenübergestellt, nämlich menschliche Beziehungen, Einsatz für die Gemeinschaft und persönliches Wachstum. Deci (1995) hat die beiden Gegensatztriaden im Anschluss an Fromm (1980) als Werte des Habens und Werte des Seins charakterisiert. Die letzteren sind intrinsisch motiviert, sie befriedigen Bedürfnisse nach Kompetenz, Selbstbestimmtheit und Verbundenheit. Bei den materialistischen Präferenzen sind die begehrten Ergebnisse – Reichtum, Ansehen und Attraktivität – instrumentell für die imaginative Überhöhung eines unsicheren Selbst. »Geld verschafft Macht und materielle Güter. Berühmtheit öffnet Türen und lässt Geschenke regnen. Ein attraktives Äußeres zieht glamouröse Begleiter an, erleichtert das Selbstmarketing und verleiht nicht endende Aufmerksamkeit« (Deci, 1995, S. 127). Dass Geld und Besitz von zentraler Bedeutung sind, ist sicher die Kernbotschaft konsumorientierter Industriegesellschaften, doch sind damit typischerweise zwei andere verbunden: das »richtige« Image zu haben und sozial angesehen zu sein … Die Medien verknüpfen diese Werte, indem sie gutaussehende Berühmtheiten präsentieren, um Produkte anzupreisen. Die zugrundeliegende Botschaft ist, dass der Besitz dieser Produkte das Image verbessern und das Ansehen bestärken wird. Image und Ansehen haben mit dem Besitz gemeinsam, dass sie auf einen Wert außerhalb des Selbst fokussiert sind, und dass man, um sie zu bekommen, nach externen Belohnungen streben muss. Wenn wir uns an solchen »extrinsischen« Werten orientieren, suchen wir Befriedigung außerhalb von uns selbst, ob nun in Geld, im Spiegel oder im Bewundertwerden (Kasser, 2002, S. 9, Übersetzung durch den Autor).

In der Tat zeigte sich, dass Menschen, für die die Werte des Habens einen größeren Stellenwert haben als die des Seins, in der Kindheit weniger warm, liebevoll, zärtlich und anerkennend behandelt, aber mit mehr Verboten und Kritik belegt worden waren, und dass sie eine geringere Chance hatten, ihre eigenen Gefühle auszudrücken und sie selbst zu sein (Kasser, Ryan, Sax & Samerof, 1995). Williams, Cox, Hedberg und Deci (2000) fanden, dass materialistische Teenager bei ihren Eltern relativ

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wenig Interesse an ihren Zielen und wenig Verständnis für ihre Gefühle erlebt und relativ wenig Wahlmöglichkeiten bekommen hatten. Laut einer anderen Studie (Cohen & Cohen, 1996) waren die Eltern von Teenagern mit hoher materialistischer Orientierung überfürsorglich, besitzergreifend, bevormundend; sie verhängten strenge Strafen für Ungezogenheit, und sie waren inkonsistent in ihren Reaktionen, vermittelten also keine klare Struktur. So geht eine stark materialistische Wertorientierung oft auf Kosten der menschlichen Beziehungen. Studenten/Studentinnen mit starker Betonung der Werte Reichtum, Ansehen und Image hatten weniger enge Beziehungen mit Freunden und Liebespartnern (Kasser & Ryan, 2001). Studien in 40 Nationen zufolge legen materialistische Personen weniger Wert auf Ziele wie »Ich wünsche mir eine enge, intime Beziehung« oder »Ich will anderen helfen, ihr Leben zu verbessern« oder »Ich will für andere sorgen, die mich brauchen« oder »Für mich ist es wichtig, warme Beziehungen zu anderen zu haben« (Schwartz & Sagiv, 1995). Sie haben in ihrer Sozialisation verlernt, in der eigenen Kompetenz, im selbstbestimmten Tun, in menschlichen Beziehungen, im Einsatz für eine gemeinsame Aufgabe – kurz: in intrinsisch motivierten Handlungen – Befriedigung zu finden. Deshalb neigen sie zum passiven Genuss äußerer Stimuli auf Kosten des eigenen aktiven Handelns, haben ein weniger sicheres Selbstwertgefühl und sind weniger vital, ihr psychisches Wohlbefinden ist geringer, sie sind weniger zufrieden mit ihrem Leben, ihrer Familie, ihren Freunden, ihrem Einkommen. Zugleich haben sie mehr depressive und Angstgefühle, zeigen häufiger gestörtes Sozialverhalten, destruktive Einstellungen, körperliche Stress-Symptome und Suchterscheinungen. All das ist vielfach belegt. Die Materialismusskalen sind mit ähnlichen Resultaten auf fast allen Kontinenten angewandt worden. Kasser (2002) berichtet über Studien mit amerikanischen, australischen, englischen, dänischen, deutschen, indischen, rumänischen, russischen und südkoreanischen Studenten sowie amerikanischen, australischen, canadischen, chinesischen, deutschen, türkischen Erwachsenen und sowohl Studenten wie Erwachsenen aus Singapur. Am ausführlichsten haben Cohen und Cohen (1996) die »mental disorders« der »Materialisten« untersucht. Sie fanden starke Zusammenhänge mit Trennungsangst, Beziehungsangst (Angst vor Nähe), Misstrauen (Paranoia), histrionischen Charakterzügen, Narzissmus, passiver Aggressivität, Abhängig-

keit und Sucht, Abwertung und Vermeidung sozialer Beziehungen. Alles in allem entspricht der materialistische Lebensstil mit seiner Überbewertung von Geld, Ansehen und äußerer Attraktivität nicht dem Ideal vom guten Leben. 16.3.3

Marktfreie Güter

Das gute Leben Das gute Leben als philosophisches Thema hat über die Jahrtausende nicht an Bedeutung verloren. Nur hatte sich in den letzten 2 Jahrhunderten »eine gewisse Reserve gegenüber Theorien« eingestellt, »die sagen, gut zu leben heiße, so und so zu leben, und zwar für alle Menschen, ganz unabhängig von ihren unterschiedlichen Vorstellungen, Wünschen, Interessen« (Stemmer, 1998, S. 53). Die Reserve ging nicht so weit, dass man auch Lebensweisen als potenziell gut betrachtet hätte, die den Menschen frustrieren oder krank machen (7 Abschn. 16.3.2), denn dann könnte auch ein destruktives Leben gut genannt werden. Aber das Wissen über die Natur des Menschen reichte für begründete objektive Aussagen über eine gute Lebensführung nicht aus, und so konnte das Denken durch die utilitaristische Vorstellung blockiert werden, man brauche die Qualität der Bedürfnisse nicht zu prüfen, weil es allein auf die Quantität ankomme, auf die Intensität des Lust- oder Nutzenempfindens. Für den Utilitaristen Bentham gab es keine Rechtfertigung, philosophische Studien höher zu bewerten als das Kegeln: Wenn beide Beschäftigungen gleich befriedigend seien, so seien sie auch gleich gut (Birnbacher, 1985, S. 122). Erst die kognitive Bedürfnis- und Motivationsforschung hat eine Grundlage geschaffen, auf der substanzielle Aussagen darüber vertretbar erscheinen, worin ein gutes Leben bestehen kann und worin nicht. Es sind Aussagen bestmöglicher Aufklärung über unsere Bedürfnisse und Information über die Wirkungen unseres Handelns (Stemmer, 1998, S. 71). Die Aufklärung über die Bedürfnisse beruht auf der Beobachtung, dass Menschen nicht immer einem authentischen Bedürfnis folgen, weil es verdrängt wurde und an seine Stelle ein Ersatzbedürfnis getreten ist. Wer isst, weil er sich nicht geliebt fühlt, stillt weder den Hunger noch das Verlangen nach Liebe oder das Leiden am Liebesentzug. Er lenkt sich von diesem Verlangen oder Leid ab, und auch das nur vorübergehend. Denn weil das zugrundeliegende Bedürfnis nicht gestillt wird, kann es

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auch nicht zurücktreten und anderen Platz machen. Das wäre das Normale: Das Bedürfnis (das Gefühl eines Sehnens, Verlangens, Brauchens oder Wünschens) taucht auf, wird erlebt und erfüllt, tritt zurück, und ein anderes Gefühl tritt ins Bewusstsein. Ein unerfülltes Bedürfnis aber wird zum inneren Defizit, es bleibt dominant, und deshalb ist vieles oder im Extremfall alles, was einer tut, von dem Defizit geprägt. Diese Erkenntnis gibt zwar niemandem eine Handhabe, andere über ihre »wahren« Bedürfnisse zu belehren. Aber sie eröffnet uns die Möglichkeit, fallweise für uns selbst herauszufinden, ob wir einem Ersatzbedürfnis folgen, und darüber nachzudenken, welches authentische Bedürfnis es wohl ersetzen soll, warum es an dessen Stelle getreten ist, und wie wir dieses wieder in seine Rechte einsetzen können. Das leichter verständlich zu machen, ist das Verdienst von Maslows Bedürfnishierarchie. Er schlug vor, die normale Entwicklung des Menschen als Befriedigung von Grundbedürfnissen zu begreifen, die aufeinander aufbauen (Maslow, 1954). Den Sockel bilden die physiologischen und die Sicherheitsbedürfnisse, auf ihm ruhen die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Liebe, nach Beachtung und Anerkennung, und darüber die Bedürfnisse nach kompetenter Anwendung und Entwicklung der eigenen Anlagen, nach Herausforderung und Bewährung, nach Wissen und Verstehen, Erklären und Gestalten, kurz: nach Selbstverwirklichung und innerem Wachstum. Wird ein Grundbedürfnis daran gehindert, sich zu entfalten und in den Zusammenhang mit den anderen zu integrieren, so stört das die normale Entwicklung und hinterlässt ein inneres Defizit, das sich in Neurose und somatischer Erkrankung auswirken kann. Eine Möglichkeit, mit dem Defizit zu leben, ist die Progression (Freud: Sublimierung): Ein unerfülltes Bedürfnis aus einer der unteren Kategorien wird auf die oberste Kategorie umgelenkt, z. B. auf geistige oder künstlerische Tätigkeit. Häufiger besteht der Ersatz in der Regression, im Zurückfallen auf eine niedrigere Bedürfniskategorie (Alderfer, 1972; Schnabl, 1979), das nicht selten Suchtcharakter annimmt, weil das ersetzte Bedürfnis unbefriedigt bleibt. Wenn in der Entwicklung eines Menschen ein gravierendes Defizit an Selbstverwirklichung entstanden ist, so wird er vielleicht im Streben nach Anerkennung (Geltungssucht) Ersatz suchen; wenn das Defizit im Bereich von Geltung oder von Zuwendung liegt, so wird die Kompensation vielleicht im Verlangen nach materieller Sicherheit (Habsucht, Geiz), nach oralem Genuss (Ess-

sucht, Rauchen, Alkohol) oder attraktiven Marken (Kaufsucht) gesucht. Geld und materielle Güter sind bevorzugte Mittel der Regression (Schmidbauer, 1995). So legt es die in 7 Abschn. 16.3.2 dargelegte Information über die Wirkungen menschlichen Handelns nahe, die materialistische Werthaltung als Ergebnis einer Regression zu betrachten, in der Bedürfnisse, denen die authentische Befriedigung durch marktfreie Güter versagt ist, durch das Verlangen nach Marktgütern ersetzt werden. Die Kompensation gelingt nicht, weil wir die marktfreien Güter (7 Abschn. 16.1.3) nur selbst hervorbringen oder von anderen geschenkt bekommen können: produktives Tun, gesunde Lebensführung, menschliche Zuwendung, soziale Eingebundenheit, gemeinschaftsbezogenes Handeln. Wir können sie mit Marktgütern anreichern, aber das andauernde Bestreben, sie mehr und mehr durch Marktgüter zu ersetzen, macht Menschen krank, löst den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf, verursacht Desintegration und Anomie. Eine zeitnahe Antwort auf die Frage, welches Leben für den Menschen gut ist, liegt also in der Balance der Marktgüter und der marktfreien Güter. Wo die Balance jeweils liegt, kann weiter konkretisiert werden, wenn man spezifische Verhaltensbereiche untersucht. So wurde beispielsweise für den Fernsehkonsum in den USA festgestellt, dass die enge Verbindung des Fernsehens mit Bewegungsmangel und ungesunder Ernährung das Risiko für Fettleibigkeit und Diabetes II proportional zu der Zeit steigert, die mit Fernsehen verbracht wird (Hu, Li, Colditz, Willett & Manson, 2001). Und »wer viel TVUnterhaltung sieht, nimmt weniger an Projekten der Wohngemeinde, am Vereinsleben, an sozial-karitativen Aktivitäten teil. Unterhaltungsseher haben zudem ein deutlich geringeres Interesse an Politik.« (WinterhoffSpurk, 2005, S. 156) Die mit dem Fernsehen verbundene einseitige Häufung marktgebundener, materialistischer Befriedigungen geht mit einer krankmachenden Vernachlässigung marktfreier Befriedigungen einher. Und das, obwohl diese Freizeitbeschäftigung, der passive Fernsehkonsum, so wenig innere Belohnung hinterlässt wie keine andere, so dass ihre Bevorzugung nur dadurch erklärt werden kann, dass sie noch weniger psychische Energie erfordert (Csikszentmihalyi, 1995, S. 266). Zum guten Leben gehört das Fernsehen offenbar nur in geringen Dosen. Diese können etwas größer sein, wenn mit höherem Aufwand psychischer Energie – mit aktiver und selektiver Interessenahme also – ferngesehen wird, denn dann ist auch der Nutzen in Gestalt

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marktfreier Befriedigungen größer (Scherhorn, 1997, S. 215–216). Suffizienz und Ökosuffizienz Unter dem Aspekt der nachhaltigen Entwicklung kommt man zu einem ähnlichen Schluss. Nachhaltige Entwicklung erfordert Menschen, die ihre Ansprüche an die soziale und natürliche Mitwelt so »suffizient« begrenzen, dass sie einem Abbau der Überproduktion (7 Abschn. 16.1.2) keinen Widerstand entgegensetzen. Der Begriff Suffizienz wurde eingeführt, um den Blick auf die Güternachfrage zu lenken (Durning, 1992). Der Anlass war, und ist, eine deprimierende Erfahrung: Zwar gelingt es nach und nach, die Güter ökoeffizienter, also mit geringerem Verbrauch an naturgegebenen Ressourcen pro Gut zu produzieren, aber die Einsparungen werden durch Mehrnachfrage und Mehrproduktion wieder zunichte gemacht (European Environmental Agency, 1999). So wird nach wie vor festgestellt, dass in Sachen »sustainable consumption and production« kaum Fortschritte erzielt worden sind (United Nations, 2002). Die Konsequenz aus dieser Erfahrung wurde schon früh gezogen (Sachs, 1993). In heutiger Formulierung lautet sie: Nachhaltige Entwicklung in Konsum und Produktion ist nur zu erreichen, wenn Ökoeffizienz und Ökosuffizienz gesteigert, also die Extraktion von Ressourcen und Emission von Schadstoffen pro Produkt und die Nachfrage nach den Produkten verringert werden. In seiner allgemeinen Bedeutung ist Suffizienz allerdings eher ein Beitrag zum Konzept des guten Lebens als zum Nachhaltigkeitskonzept. Das englische Wort »sufficient« bedeutet genug, genügend, hinreichend. Es fordert nicht, auf das Notwendige zu verzichten, sondern mit dem Ausreichenden zufrieden zu sein. Diese Forderung stößt auf Widerstand, weil die Begrenzung auf das Ausreichende meist negativ bewertet wird. Schon in der Schule lernt man, »ausreichend« und sogar »befriedigend« nicht mit »gut« zu assoziieren, sondern mit »nicht gut genug«. Selbst das Respektieren der im eigenen Organismus angelegten Grenzen ist unlustbehaftet. Die Lust an der momentanen Befriedigung bringt Menschen immer wieder dazu, »risks to long-term well being« einzugehen; das impulsive Streben »to want more of a good thing« ist ein normaler Bestandteil unseres alltäglichen Verhaltens (Princen, 2000, S. 2). Es gibt zwar die »Weisheit des Körpers« (Cannon, 1932) – die innere Stimme, die uns sagt, wann wir satt sind oder dass wir den Wechsel von Entspannung und Bewegung brauchen. Doch im

Lauf eines jeden Lebens entstehen Strebungen und Gewohnheiten, die dieses instinktive Wissen überspielen. Deshalb brauchen wir Anleitung, um das rechte Maß zu finden. Eine Regel des maßvollen Handelns stand auf dem Apollotempel in Delphi. In der verbreiteten lateinischen Übersetzung lautet sie: »Ne quid nimis«, »Nichts zuviel«. Sie soll der menschlichen Neigung gegensteuern, sich unkontrolliert Handlungen zu überlassen, die im Moment befriedigend zu sein scheinen (7 Info-Box). Suffizienz in diesem allgemeinen Sinn läuft darauf hinaus, das Konzept des guten Lebens um die Beachtung der künftigen Bedürfnisse zu erweitern. Das Konzept wird dadurch vollständiger, die »Balance« wird durch das »rechte Maß« ergänzt. Aber es bleibt am Wohlergehen des Individuums orientiert. Ökosuffizienz dagegen Info-Box

Die Logik der Suffizienz Scitovsky (1976) zufolge wird der mit der Bedürfnisbefriedigung einhergehende Prozess der Aktivierung betroffener Gehirnzentren – Beispiele: der Vorgang der Sättigung beim Essen, der Spannungsaufbau beim Krimilesen – im zentralen Nervensystem als lustvoll empfunden, weshalb wir in Versuchung sind, sie über die optimale Aktivierung hinaus fortzusetzen (die »Verführungskraft der Lust«). Auch der Zustand der optimalen Aktivierung selbst – Beispiele: das Gesättigtsein oder das Gespanntsein – wird als angenehm empfunden, und deshalb sind wir in Versuchung, ihn ständig beibehalten zu wollen (die »Verführungskraft des Behagens«). Doch das Zuviel an Befriedigung eines Bedürfnisses wird schädlich, wenn es bewirkt, dass andere Bedürfnisse, die ebenfalls wichtig sind, vernachlässigt werden. Die vernachlässigten Bedürfnisse oder Ziele sind künftige Bedürfnisse, aufschiebbare Ziele. Sie lassen sich eine Zeit lang ungestraft hintanstellen, weil die Vernachlässigung sich erst später auswirkt. Sie werden zurückgedrängt von Bedürfnissen, deren Nichterfüllung man im Augenblick als Unlust empfindet. So liegt die Logik der Suffizienz im Maßhalten bei gegenwärtigen Bedürfnissen, wenn sie zukünftige gefährden. Umsichtiges »Selbstmanagement« besteht zu einem guten Teil aus der Kunst des rechten Maßes (Schelling, 1984).

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soll die Ökoeffizienz so wirksam ergänzen, dass in der Gesamtwirtschaft keine Externalisierung mehr zustandekommt, also keine Überproduktion mehr entsteht. Das ist eine gesamtwirtschaftliche Zielsetzung. Sie ist durch suffizientes Handeln der Individuen nicht zu verwirklichen. Gewiss würde eine balancierte und maßvolle Lebensführung aller Individuen auf die Gesamtheit der nachgefragten Marktgüter dämpfend wirken; in diesem Sinn ist sie eine Voraussetzung für nachhaltige Entwicklung; doch findet sich kein Argument dafür, dass sie die Gesamtnachfrage just auf das Niveau begrenzen würde, auf dem es keine Überproduktion gibt. Dazu müssten die Einzelnen sich an Vorstellungen darüber orientieren, welchen Anteil des »Umweltraums« (Opschoor, Constanza, Jaeger, Liberatore & Grundlach, 1995; BUND & MISEREOR, 1996) bei jedem einzelnen Gut sie beim jeweiligen Stand der Ökoeffizienz maximal beanspruchen können. Das erfordert Emissionszertifikate, Verbrauchsrichtlinien, Grenzwerte für toxische Inhaltsstoffe usw., also öffentliche Vorgaben für individuelles Handeln. Empirisch stellen wir denn auch fest, dass jene Menschen, die sich im Konsum zurückhalten, eher suffizient als ökosuffizient handeln, dass sie sich eher an ihren Vorstellungen vom guten Leben orientieren als am rechten Maß im Umweltverbrauch. Es geht ihnen um ein einfaches Leben (Schenk, 1997), ein gesundes Leben oder um die Erkenntnis »weniger ist mehr«. Zwar ist dabei oft auch die allgemeine Sorge um die naturgegebenen Ressourcen wirksam, so in dem Verlangen nach Gerechtigkeit, das dem suffizienten Konsumhandeln der italienischen Gruppe »Bilanci di Giustizia« zugrundeliegt (Valer, 1999), oder in der Motivation der Konsumenten, die bewusst ohne Auto auskommen (Autofrei leben, 2000). Aber es wäre Zufall, wenn das Maßhalten aller Einzelnen zu einem nachhaltigkeitskonformen Niveau der Gesamtnachfrage führte; und es sind ja gar nicht alle suffizient, sondern nur eine Minderheit, die dafür bei weitem nicht groß genug ist. So ist Suffizienz, ebenso wie die Balance der Marktgüter mit den marktfreien Gütern, eine notwendige und wichtige, aber keine ausreichende Bedingung für nachhaltige Entwicklung. Ökosuffizienz aber kann nur durch eine Politik bewirkt werden (Segal, 1999), die den individuellen Ansprüchen die erwähnten suffizienzfördernden Rahmenbedingungen setzt. Princen zufolge konditioniert eine ökologisch rationale Gesellschaft die individuellen Entscheidungen so, dass sie bei der Extraktion von Ressourcen und der Erzeugung von Abfällen

und Emissionen die Intaktheit der Ökosysteme gewährleisten müssen (Princen, 2005, S. 26). Bisher aber sind die Entscheidungen der Produzenten und der Konsumenten so konditioniert (Scherhorn, 2006), dass es noch immer normal ist, jeden Tag Fleisch zu essen, weil die Nahrungsmittel durch Externalisierung verbilligt sind, übers Wochenende nach Mallorca zu fliegen, weil die Flüge dank der Zerstörung des Klimas so erschwinglich sind, oder schwere Autos zu fahren, weil man nur die Hälfte der Kosten zu tragen braucht – und dass man das alles als sein gutes Recht betrachten kann. Die Rettung der Gemeinschaftsgüter Auch die Gemeinschaftsgüter sind nur durch eine Politik der Ökosuffizienz zu retten. Zu ihnen gehören zum einen die Gemeinschaftseinrichtungen mit begrenztem Zugang (»common pool resources«) wie die Gemeindealp, zum anderen die naturgegebenen Lebensgrundlagen wie Wasser, Boden, Atemluft, Atmosphäre, Klima, Biodiversität, von deren Nutzung niemand ausgeschlossen werden kann. Sie werden als »global commons« oder »open access resources« bezeichnet. Gemeinschaftsgüter schonend zu behandeln, ist in beiden Fällen eine Aufgabe, die gemeinsames ökosuffizientes Handeln verlangt. Da die schonende Behandlung des Gemeinschaftsgutes vom Einzelnen verlangt, dass er/sie bei der Nutzung maßhält, besteht die Aufgabe in der Rationierung der Ansprüche an das Gemeinschaftsgut. Und da der Zugriff vielen zusteht, die Bereitschaft zur Kooperation aber soziale Kontrolle voraussetzt (7 Abschn. 16.1.1), ist das Problem bei der Rationierung die Überwachung. Wenn sie nicht greift, wird das gemeinsame Gut übernutzt, weil zu viele die Regeln nicht einhalten und sich als »free rider« bereichern. Diese Einsicht hat Hardin (1968) unter dem Titel Die Trägödie der Allmende veröffentlicht und damit die Aufmerksamkeit auf die Vernachlässigung der Gemeinschaftsgüter gelenkt. Allerdings bezog er sich auf allmendenartige Gemeinschaftsgüter, eine Bürgerweide beispielsweise, die von den Gemeindemitgliedern mit grasenden Kühen beschickt wird. Er schilderte, wie die Einzelnen allmählich ihren Sinn für den privaten Vorteil schärfen, weil sie merken, dass es möglich ist, unwidersprochen mal eine Kuh mehr auf die Weide zu schicken; sie haben dann einen Vorteil auf Kosten der anderen, und die anderen merken es gar nicht oder schreiten jedenfalls nicht dagegen ein. Auf diese Weise schwächt sich der Sinn für das Gemeinschaftsgut ab. Einzelne

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schicken immer mehr Tiere auf die Weide, die anderen tun es ihnen nach, schließlich wird die Wiese übernutzt, und dann kommt man überein zu sagen, teilen wir sie auf, machen wir Privateigentum daraus. Das ist eine einleuchtende Erklärung, allerdings nur für die Übernutzung der allen zugänglichen Gemeinschaftsgüter. Doch gerade auf die Allmenden – Gemeinschaftsgüter mit beschränktem Zugang, »common pool resources« – trifft sie nicht zu. Allmenden haben sehr lange funktioniert. Wo sie bestehen blieben, funktionieren sie noch heute, in der Schweiz z. B. (Netting, 1981). In Deutschland ist das Gemeineigentum an den Allmenden durch die Bodengesetze des 19. Jahrhunderts abgeschafft worden, aber das geschah deshalb, weil die lehnsrechtlichen Obereigentümer seit dem 16. Jahrhundert ihre Lehen zu ihrem Privateigentum erklärt hatten (7 Abschn. 16.2.1). Dass die Allmenden vor der Abschaffung schlecht funktioniert hätten, ist eine Legende. Es ist schwer vorstellbar, dass eine Allmende deshalb funktionsunfähig wird, weil die Einzelnen ständig gegen das Gemeininteresse verstoßen. Da die Allmende dadurch definiert ist, dass nur wenige an ihr teilhaben und dass es Dorfbewohner sind, die sich untereinander kennen, ist es wahrscheinlicher, dass sie schon den ersten Versuch zur Bereicherung missbilligen würden. So etwas wird erkannt und spricht sich herum. Die Bewohner eines Dorfes achten sehr darauf, dass keiner sich herausnimmt, gegen das Gemeingut zu verstoßen, denn es ist ja auch ihr eigenes Wohl, gegen das verstoßen würde. Im Gegensatz dazu stehen die »global commons«, zu denen alle freien Zugang (»open access«) haben. Jeder kann sie benutzen, wie die Luft oder die Atmosphäre. Jeder Autofahrer und jede Fluggesellschaft kann sie als Mülleimer für die Abgase benutzen. Für sie gilt Hardins Analyse, denn ihre Problematik liegt darin, dass sie eben nicht als gemeinsame knappe Ressourcen, sondern als »freie Güter« betrachtet werden: Diese Betrachtungsweise muss umgedreht werden, damit die gemeinsame Rationierung möglich wird. Doch dass das kleinere Übungsfeld für das Erfüllen von Gemeinschaftsaufgaben, die Allmenden, verdrängt worden ist, hat auch die gemeinsame Sorge für die »open access resources« diskreditiert. So hat es zu der Auffassung kommen können, Schwarzfahrerverhalten sei für die Einzelnen die ökonomisch rationale Antwort auf die Frage, ob sie ihren Beitrag zu einer Gemeinschaftsaufgabe leisten sollen (Olson, 1965), und die Lösung des Problems könne nur im Privateigentum oder in zentraler Regulierung bestehen.

Inzwischen wissen wir, wie zahlreich die Möglichkeiten sind, die Nutzung von «common pool resources« so zu organisieren, dass die Nutzer Überinvestition und Übernutzung vermeiden (Ostrom, 1990). Sie können z. B. die Kapazitäten für Holzeinschlag und -verarbeitung begrenzen, Schonzeiten für gefährdete Tierarten vereinbaren, den Zugang zu einem regionalen Verkehrsnetz für die Allgemeinheit sperren (Fallstudien zu allen 3 Verfahren: Princen, 2005, S. 159–340). Im Kern geht es um Rationierung, und die ist auch bei Open-AccessRessourcen möglich. Die Nutzer können sich auf Fangquoten einigen oder die Menge der Schadstoffemissionen begrenzen. Regierungshandeln ist dabei unerlässlich; es muss Instrumente der Rationierung zur Verfügung stellen, wie die CO2-Zertifikate, und für die Kontrolle sorgen. Gerade die dringendsten Probleme sind wirklich global, und ihre Lösung ist auch auf die Bereitschaft der Regierungen angewiesen, bindende Vereinbarungen abzuschließen oder zu unterstützen. Auf allen Ebenen ist die entscheidende Voraussetzung der Mut, »schmerzliche Entscheidungen über Wertvorstellungen zu treffen … Werte, die der Gesellschaft früher nützten, müssen wir unter den veränderten Bedingungen … über Bord werfen und durch andere ersetzen.« (Diamond, 2006, S. 646) Es sind v. a. die eingangs skizzierten Werthaltungen von der Planbarkeit der Realität, von der Unbegrenztheit der materiellen Ressourcen, von der Priorität des Eigeninteresses (7 Abschn. 16.1.1). Alle spezifischen Werte, die hinter der Ausbeutung der Commons stehen, ob hinter den klimaschädlichen Emissionen oder der Überfischung der Ozeane, hinter der Verwüstung fruchtbarer Böden oder der Zerstörung der Artenvielfalt, haben in diesen 3 Wertvorstellungen ihren Rückhalt. Noch haben wir kaum begonnen, sie zu revidieren.

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Fazit Ein Hindernis für den Übergang zu einem natur- und sozialverträglichen, zukunftsfähigen Wirtschaften liegt darin, dass wir noch nicht gelernt haben, es klar von der bisherigen Wirtschaftsweise abzugrenzen: Wir haben keine gängigen Begriffe, weder für die Handlungsmuster, die wir hinter uns lassen, noch für die neuen, an denen wir uns orientieren wollen. Das war oft so in Zeiten des Umbruchs. Man hat das Neue erst definitiv benennen können, wenn es schon vertraut war. Bis dahin müssen Provisorien genügen, um sich verständlich zu machen. Als vorläufige Bezeichnung für das nichtnachhaltige Wirtschaften verwende ich Substanzverzehr, und für das nachhaltige Substanzerhaltung. In meinem Beitrag will ich exemplarisch darstellen, welche Herausforderungen es für das Denken bedeutet, von einer Wirtschaft des Substanzverzehrs in eine der Substanzerhaltung zu wechseln. Exemplarisch deshalb, weil wir noch nicht wissen können, ob die derzeitigen Ansätze sich halten werden; sicher werden sie weiterentwickelt, vielleicht auch von besseren abgelöst. Darauf kommt es jetzt nicht an. Wichtig ist, zu erkennen, dass wir, um den neuen Aufgaben gerechtzuwerden, neue Denkansätze brauchen. Das sind erstens Leitbilder der nachhaltigen Entwicklung (7 Abschn. 16.1.1) mit ihren Implikationen

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für die Charakterisierung der überholten Denk- und Verhaltensmuster, die wir erst einmal durchschauen müssen, um sie überwinden zu können (7 Abschn. 16.1.2), und für die Veränderungen, die wir aus der Erkenntnis der bisherigen Defizite heraus entwickeln müssen (7 Abschn. 16.1.3). Es sind zweitens Folgerungen für die Beurteilung der bisherigen Wirtschaftsordnung (7 Abschn. 16.2.1) und ihrer Fehlentwicklungen (7 Abschn. 16.2.2). Es sind drittens Entwürfe zur Revision theoretischer Konzepte, die den ökologischen Umbau der Gesellschaft fundieren können: die Dichotomie zwischen Markt und kollektiver Aktion überwinden (7 Abschn. 16.3.1), die Grenzen des Kommerzialisierungsprozesses erkennen (7 Abschn. 16.3.2) und an die Stelle der Vernachlässigung der marktfreien Güter die Vorstellung einer Balance zwischen marktgängigen und marktfreien Gütern setzen (7 Abschn. 16.3.3). Dabei soll auch deutlich werden, dass wir nicht mehr ganz am Anfang stehen. Von dem Vorgelegten ist vieles bereits durch Untersuchungen fundiert, auch wenn der tastende, vorläufige Charakter der Befunde nicht zu verkennen ist. Doch gerade darin liegt die Faszination, die von einer neuen Denkrichtung ausgeht: Es gibt noch vieles zu entdecken. Teils explizit, teils zwischen den Zeilen werden, hoffe ich, den Lesern die offenen Fragen in die Augen springen.

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16

17 17

Bürgersinn Theo Wehner, Gian-Claudio Gentile, Stefan T. Güntert

17.1

Begriffsverständnis und konzeptionelle Einordnung

17.1.1 17.1.2

Bürgersinn und Freiwilligkeit in der Tätigkeitsgesellschaft Dimensionen des Bürgersinns – 339

17.2

Freigemeinnützige Tätigkeit

17.2.1 17.2.2 17.2.3

Definition und gesellschaftliche Bedeutung – 341 Motivation zu freigemeinnütziger Tätigkeit – 344 Freigemeinnützige Tätigkeit aus Sicht der Arbeitswelt

17.3

Bürgerschaftliches Engagement von Unternehmen – 347

17.3.1

Die Rolle von Unternehmen in der Gesellschaft – die akademische Perspektive – 347 Formen des Engagements von Unternehmen – die praxisorientierte Perspektive – 349 Formen und Bedeutung des Corporate Volunteering – 350 Corporate Volunteering und psychologische Freiwilligenforschung – 352 Kein Corporate Volunteering ohne individuelles Volunteering – 352

17.3.2 17.3.3 17.3.4 17.3.5

Literatur

– 338 – 338

– 341

– 346

– 354

K. Moser (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie DOI 10.1007/978-3-540-71637-2_17, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007

338

Kapitel 17 · Bürgersinn

> Urs Mäder wird von seiner Firma angeboten, für mindestens 2 Jahre ein technisches Entwicklungsprojekt in einem Schwellenland zu leiten. Damit könnte er sich einen Wunsch erfüllen, den er seit seinem Studium verfolgt, und doch kommen ihm nun große Zweifel. Dies, obwohl ihn seine Frau – auch sie ist Mitte 40 – bedenkenlos begleiten würde und die Kinder in einem Alter sind, in welchem ihnen ein Kulturwechsel attraktiv erscheint. Als er seinen Bedenken nachspürt, gelingt es ihm rasch herauszufinden, dass es sich nicht um private Gründe oder Unsicherheitsgefühle – die Zukunft betreffend – handelt. Es wird ihm seine Verwurzelung in der Region deutlich, die er gar nicht bewusst gestaltet hatte. Während er schon 5-mal umgezogen ist, hatte er einerseits immer wieder erlebt, dass er persönliche Beziehungen auch über räumliche Distanzen hinweg halten konnte und andererseits jeweils rasch einen neuen Sportverein oder den Kontakt zu den Familien neuer Kollegen fand. Was ihm bei diesen »Sowohl-als-auch-Überlegungen« neu zu sein schien, ist ein Gefühl der »Verwurzelung«, das sich als 7 bürgerschaftliches Engagement bezeichnen lässt: Er arbeitet aktiv im Elternbeirat der lokalen Schule mit, auch wenn seine Kinder nicht mehr im schulpflichtigen Alter sind. Er nutzt den Sportverein nicht nur zum körperlichen Ausgleich, sondern trainiert die Jugendmannschaft und unterstützt den Vorstand bei der Realisierung technischer Instandhaltungsaufgaben. Dies verweist ihn darauf, dass er neben dem Beruf Bürgerarbeit verrichtet; Arbeit, die es ihm ermöglicht, persönlichen Sinn zu generieren und gleichzeitig der Gesellschaft etwas zurückzugeben.

17

17.1

Begriffsverständnis und konzeptionelle Einordnung

17.1.1

Bürgersinn und Freiwilligkeit in der Tätigkeitsgesellschaft

Handeln in der Gesellschaft wird nicht nur aufgrund beruflicher Orientierungen oder Karriereplanungen motiviert, es sind nicht nur Konsumgewohnheiten, private Eingebundenheit oder familiäre Verpflichtungen, die Entscheidungen zugrunde liegen, sondern auch Bürgersinn als eine Orientierung im sozialen Raum. Geht

man davon aus – wie es in der Auseinandersetzung über den Begriff der 7 Tätigkeitsgesellschaft geschieht (Senghaas-Knobloch, 1999) –, dass der Gesellschaft die bezahlbare Arbeit, nicht jedoch die Betätigungsfelder ausgehen, so sind Fragen des Bürger-Seins jenseits von Staat und Markt in einem Wirtschaftssystem von großer Bedeutung. Als Teil eines psychologischen Lehrbuchs wird sich dieses Kapitel mit dem gleichzeitigen Individuum-Sein und Bürger-Sein und den Verschränkungen beschäftigen. Wir werden einen Schwerpunkt auf die 7 freigemeinnützige Arbeit (Volunteering) und das freigemeinnützige Engagement von Unternehmen (Corporate Volunteering und Corporate Citizenship) legen, aber auch verschiedene andere Arten des Bürger-Seins einordnen. Zwei in verschiedenen Disziplinen beheimatete Begriffsfelder geben der Vielfalt der Themen, denen sich das folgende Kapitel widmen wird, einen Rahmen und der theoretischen Auseinandersetzung eine gemeinsame Orientierung: aus der Soziologie die Begriffe Bürger und Bürgerschaft und aus der Psychologie die Freiwilligkeit bzw. Freigemeinnützigkeit. Die soziologische Begrifflichkeit hebt den Kontext des Handelns und die Charakteristik des Menschen als gesellschaftliches Wesen (»zóon politikón«) hervor, während die psychologische Perspektive mit der Freiwilligkeit die Frage der Motivation stellt. Der Begriff des »Bürgers« taucht in der Bezeichnung von auf den ersten Blick recht unterschiedlichen Phänomenen auf: 4 Eine Person, die einen Teil ihrer Freizeit dafür einsetzt, ein Amt in einem Verein zu übernehmen, leistet bürgerschaftliches Engagement. 4 Ein Mitarbeiter, der sich hilfsbereit seinen Arbeitskollegen gegenüber verhält, zeigt Organizational Citizenship Behavior. 4 Dass Unternehmen über ihre wirtschaftlichen Beziehungen hinaus gesellschaftliche Verantwortung tragen, bringt das Konzept Corporate Citizenship zum Ausdruck. Allen 3 Beispielen ist gemeinsam, dass ein Akteur – sei es ein Individuum oder eine Organisation – sich selbst in Beziehung zu einem größeren Ganzen setzt und entsprechend handelt, wobei dieses Handeln von der Gesellschaft wertgeschätzt wird. Während mit dem Begriff des »Bürger-Seins« die Eingebundenheit in einen größeren Zusammenhang angesprochen wird, stellt der zweite »rote Faden«, der sich

339 17.1 · Begriffsverständnis und konzeptionelle Einordnung

durch die Themenlandschaft legen lässt, motivationale Bezüge her. »Freiwilligkeit« ist ein Leitmotiv in den verschiedenen Beispielen, und zwar unabhängig davon, ob Individuen oder Organisationen die Akteure sind. Personen, die in ihrer Freizeit unentgeltliche Freiwilligenarbeit leisten, bevorzugen eben diese Bezeichnung für ihr Engagement. Im angelsächsischen Sprachraum wird mit »Volunteering« ebenfalls der Wille als ein Wesensmerkmal dieser Tätigkeiten hervorgehoben. Weiter kann das Organizational Citizenship Behavior auch als »freiwilliges Arbeitsengagement« (Hertel, Bretz & Moser, 2000) verstanden werden, das über diejenigen Leistungen hinausgeht, welche von Vorgesetzten eingefordert werden können. Nimmt man die verbindenden Begriffe »BürgerSein« und »Freiwilligkeit« zusammen, so kann das die vielfältigen Phänomene Verbindende wie folgt umschrieben werden: Menschen (bzw. Organisationen) setzen sich selbst mit einem größeren gesellschaftlichen Kontext auseinander, in Übereinstimmung mit persönlichen Wertvorstellungen und Anliegen, jedoch ohne dass äußere Belohnungen und Anreize, Zwang oder gesellschaftliche Normen im Vordergrund stünden. 17.1.2

Dimensionen des Bürgersinns

Wir werden 3 Gesichtspunkte zur Orientierung vorschlagen, um die verschiedenen Arten und Formen von Bürgersinn zu ordnen (vgl. . Abb. 17.1). Eine Dimension, hinsichtlich der sich verschiedene Phänomene des Bürger-Seins deutlich unterscheiden

. Abb. 17.1. Dimensionen zur Strukturierung der Arten und Formen des Bürgersinns

können, ist die der Aktivität. Bleiben wir zur Illustration beim Engagement einzelner Personen. Das Eintreten für ein bestimmtes gesellschaftliches Anliegen kann in unterschiedlichem Maße eigene »praktische« Tätigkeit verlangen. Das Spektrum reicht vom Unterschreiben einer Petition über die finanzielle Unterstützung durch Spenden bis zur Mitarbeit in einer Freiwilligeninitiative oder gar zur Gründung einer solchen. Jede Art von Engagement verlangt in unterschiedlich starkem Maße persönliches Involvement und konkretes Tätigwerden. Aus der ersten Orientierung, welche die Dimension der Aktivität ermöglicht, lassen sich weitere Merkmale ableiten, anhand derer sich die vielfältigen Phänomene des Bürgersinns detaillierter miteinander vergleichen lassen, so z. B.: 4 Zeitliche Intensität: Mit welchem Zeitaufwand ist das Engagement verbunden? 4 Zeitliche Perspektive: Ist das Engagement ein einmaliges Ereignis – evtl. mit der Möglichkeit von Wiederholungen – oder grundsätzlich auf Kontinuität angelegt? 4 Kooperation: Wird das Engagement in Zusammenarbeit mit anderen Personen erbracht? 4 Vertragliche Bindung: Werden Ziele und Formen des Engagements vertraglich fixiert? Hinsichtlich des Handlungskontexts lassen sich auf einer allgemeinen Ebene die Bereiche der Erwerbsarbeit und der Nichterwerbsarbeit voneinander abgrenzen. Im Kontext der Erwerbsarbeit findet sich etwa die Freiwilligkeit des Organizational Citizenship Behavior (OCB; Organ, 1988), außerhalb der Erwerbsarbeit zeigt sich die Vielfalt bürgerschaftlichen Engagements. Die Suche nach Parallelen zwischen den beiden Bereichen, was motivationale Grundlagen und Erfolgsfaktoren betrifft, lohnt sich, unter der Voraussetzung, dass die Spezifität des Kontexts berücksichtigt bleibt. Während die Aktivitätsdimension vereinfacht als bipolar angesehen werden kann, liegt dies für den Handlungskontext weniger nahe. Innerhalb der Nichterwerbsarbeit lassen sich weitere Handlungskontexte unterscheiden und einander gegenüberstellen; so können gemeinschaftliche Tätigkeiten, die auf eine Gruppe bezogen sind, der die handelnde Person selbst angehört (z. B. Tätigkeiten im Rahmen eines Musikvereins), mit solchen verglichen werden, deren Ziel die Gestaltung gesellschaftlicher Bedingungen ist (etwa die Mitarbeit in einer Tierschutzorganisation). Begriffe wie Bürgersinn, Engagement und Freiwilligkeit haben eine grundsätzlich positive Konnotation.

17

340

17

Kapitel 17 · Bürgersinn

Wann immer Menschen sich selbst in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang eingebunden sehen, Verantwortung jenseits der eigenen Belange übernehmen und aktive Mitgestaltung der Gesellschaft anstreben, wird dies von einer großen Mehrheit wertgeschätzt – kritische Distanzierung ist zumindest selten. Bürgerschaftliches Engagement, durch das Bedürftige wie etwa kranke, einsame oder alte Menschen unmittelbar Hilfe erhalten, wird begrüßt und als unterstützungswürdig angesehen. Problematisch an der positiven Sicht auf verschiedene Formen des Bürgersinns ist, dass diesen Vorstellungen unausgesprochene Annahmen darüber zugrunde liegen können, welche Art von Engagement akzeptabel ist (Piliavin, Grube & Callero, 2002). Dass der gesellschaftliche Konsens keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt sich etwa bei Initiativen, die mit anderen Organisationen das Ziel teilen mögen, Bedürftigen (z. B. Kindern aus armen Familien) zu helfen, jedoch nach »radikalen« Lösungen suchen, indem sie auf gesellschaftliche Wurzeln sozialer Probleme aufmerksam machen und für strukturelle Veränderungen (z. B. gesetzliche Ansprüche) eintreten. Zur Orientierung wird daher die Systemwirkung als 3. Dimension eingeführt, mit ihrer Gegenüberstellung von Systemerhaltung und Systemerweiterung. Diese Perspektive erlaubt es, den Kreis der Phänomene, in denen man Bürgersinn üblicherweise erkennen würde, zu öffnen und das Hinterfragen des gesellschaftlichen und organisationalen Status quo zu integrieren. Die gesellschaftliche Bewertung eines bestimmten Engagements kann sich im Laufe der Zeit wandeln und hängt von der Perspektive des Bewertenden ab. Für den Kontext der Erwerbsarbeit bedeutet dies beispielsweise, dass nicht nur das systemerhaltende OCB für die Organisation erstrebenswert ist, sondern auch die systemerweiternden, kritischen Kräfte aus einer längerfristigen Perspektive wichtig werden können. Kritik und Widerstand würden zwar – sofern der Organisationsnutzen gewahrt bleibt – dem OCB-Gedanken nicht widersprechen, dennoch kann »unbequemes« Verhalten mit der OCB-Dimension »Verträglichkeit« in Konflikt geraten. Um den potenziellen Nutzen von Protest und Nichtanpassung hervorzuheben, betrachten daher Piliavin et al. (2002) auch Principled Organizational Dissent (POD) als prosoziales Verhalten im Kontext von Unternehmen. Als eine Form des POD kann man das Whistleblowing (»Verpfeifen«) ansehen, welches z. B. darin bestehen kann, die Öffentlichkeit über Missstände in Unternehmen zu informieren. Dennoch wird Whistle-

blowing häufig als ein wenig konstruktives Verhalten betrachtet, da es keinen Raum für die gemeinsame Bearbeitung eines Missstandes mehr zulässt. Die Suche nach Dimensionen von Bürgersinn ist mit unserem Vorschlag nicht abgeschlossen. Vielmehr soll die Strukturierung dazu anregen, das jeweilige Phänomen, mit dem man sich auseinandersetzt, zu verorten und Ähnlichkeiten und Eigenheiten klarer zu erkennen. Die Motivation, welche den Dimensionen zugrunde liegt, sei nochmals zusammengefasst: 4 Die Dimension der Aktivität unterstreicht die psychologisch relevante Tatsache, dass persönliches Tätigsein qualitativ etwas anderes ist als eine Spende von Zeit oder Geld. 4 Die Unterscheidung von Handlungskontexten macht auf die Chancen und Grenzen eines Transfers von Erkenntnissen und Methoden zwischen den Bereichen aufmerksam. 4 Die Diskussion der Systemwirkung soll dafür sensibilisieren, dass Freiwilligkeit bzw. Bürgerschaftlichkeit zwar grundsätzlich und mehrheitlich begrüßt werden, jedoch keinesfalls frei von Konfliktpotenzial sind. Als weiteres zentrales Merkmal könnte man die jeweiligen Nutzenaspekte in Betracht ziehen, also die Frage, welchen persönlichen Nutzen die Akteure von ihrem Engagement erwarten, und ob eine Reziprozität von Geben und Nehmen entdeckt werden kann. Die Diskussion des verbindenden Elements der Freiwilligkeit zeigt, dass Erklärungen durch äußere Anreize, Zwang oder sozialen Druck nicht zufriedenstellen können. Wir werden bei der Diskussion der Motive Freiwilliger auf diese Fragen ausführlicher eingehen. Im Weiteren wird das Kapitel auf folgende AkteurKontext-Konstellationen näher eingehen: 4 Einzelpersonen als Akteure in der Gesellschaft (7 Abschn. 17.2), 4 Unternehmen als gesellschaftliche Akteure (7 Abschn. 17.3). Dabei legen wir das Schwergewicht auf solche Phänomene des Bürgersinns, bei denen die Akteure selbst konkret tätig werden und die folglich auf der Aktivitätsdimension hoch einzustufen sind. Die freigemeinnützige Tätigkeit wird aufgrund ihres zeitlichen Umfangs, der längerfristigen, nachhaltigen Perspektive und der Organisiertheit ausführlicher dargestellt, da sich Fragen der Motivation und der Gestaltungsmöglichkeiten an dieser

341 17.2 · Freigemeinnützige Tätigkeit

Art des Bürger-Seins paradigmatisch untersuchen lassen. Jedoch sollen zunächst weitere Formen des Bürgersinns vorgestellt und anhand der 3 genannten Dimensionen eingeordnet werden. Menschen können sich für andere Menschen, für Dinge, Ideen und Werte nicht nur dadurch einsetzen, dass sie selbst konkret aktiv werden. Als Alternative zur Zeit kann Geld gespendet werden. Auf der Aktivitätsdimension unterscheidet sich die Geldspende deutlich vom Tätigwerden in der Freiwilligenarbeit; eine intensive Auseinandersetzung mit einem Problemfeld und entsprechende Handlungskompetenz sind nicht notwendig. Das Spenden kann als Reaktion auf ein konkretes Ereignis – z. B. eine Naturkatastrophe – erfolgen oder mag den Charakter einer Gewohnheit oder Tradition annehmen. Das Spenden integriert den Aspekt der bewussten Auseinandersetzung, wenn sich Personen im Vorfeld aktiv über bestimmte Projekte und Organisationen, deren Ziele und Erfolge informieren oder langjährige Patenschaften für einzelne Personen oder Projekte übernehmen. Bei einer Geld- oder Sachspende überlässt der Geber dem Empfänger die Entscheidung über den konkreten Einsatz der Mittel weitgehend – Ausnahmen sind die sog. zweckgebundenen Spenden. Bei Stiftungen hingegen behält der Geldgeber starken Einfluss auf die Mittelverwendung, definiert Themenbereiche, die unterstützt werden sollen, und wird auf diese Weise in der Gesellschaft sichtbar, auch wenn letztlich die konkrete Arbeit von einigen, vielleicht sehr unterschiedlichen Organisationen und in einer Vielzahl von Projekten geleistet wird. Das Spenden – ebenso das Leisten freigemeinnütziger Arbeit – ist stets mit der Möglichkeit verbunden, dass der eigene Aufwand keine Anerkennung und Wertschätzung erfährt. Der Spender bzw. Freiwillige muss ferner darauf vertrauen, dass seine Leistungen Teil eines Ganzen werden, dessen Ziele und Wirkungen weiterhin mit den eigenen Überzeugungen und Werten vereinbar sind. Vor diesem Hintergrund lässt sich das Stiften als Modell der Freiwilligkeit betrachten, welches die eigene Wohltätigkeit mit dem persönlichen Nutzen enger verbindet. Kritisch mag man nüchternen Utilitarismus, Instrumentalisierung oder die Befriedigung von Eitelkeiten hinter dem Stiftungsgedanken erkennen, positiv jedoch eine »Winwin-Situation«, welche eine nachhaltigere Identifikation der Stifter mit gesellschaftlichen Belangen fördert. Als Stifter können sowohl Privatpersonen als auch Unternehmen (s. hierzu 7 Abschn. 17.3.2) fungieren.

Während bei freigemeinnütziger Tätigkeit Dienstleistungen erbracht oder Produkte hergestellt werden, gibt es Formen bürgerschaftlichen Engagements, bei denen im Vordergrund steht, die persönliche Meinung für oder gegen eine bestimmte Sache bzw. die Unterstützung für eine politische Position zum Ausdruck zu bringen. Beispiele sind verschiedene Arten von gesellschaftlichem Protest – wie die Teilnahme an Demonstrationen – oder der Boykott bestimmter Produkte. Der Kontext dieses Handelns ist i. d. R. die Gesellschaft, denn die Positionen, für die man sich engagiert, sollen in einer breiteren Öffentlichkeit sichtbar werden. Was die Systemwirkungen anbelangt, sind der Gegensatz und Konflikt von Positionen bestimmendes Merkmal der meisten Formen bürgerschaftlichen Protests. Die Ziele, für die eine Person eintritt, können unterschiedlich stark mit eigenen Interessen verbunden sein. Während die Teilnahme an einer Demonstration gegen die Einführung von Studiengebühren sowohl aus Eigeninteresse als auch aus Solidarität motiviert sein kann, treten bei einer Demonstration für die Entschuldung von Entwicklungsländern persönliche Nutzenerwartungen in den Hintergrund. 17.2

Freigemeinnützige Tätigkeit

17.2.1

Definition und gesellschaftliche Bedeutung

Das breite Spektrum bürgerschaftlichen Engagements ist von Begriffsvielfalt und Uneinigkeit bezüglich geeigneter Definitionen gekennzeichnet. Für den angloamerikanischen Raum hingegen ist »volunteering« der akzeptierte Begriff für verschiedene Arten freigemeinnütziger Aktivität, die nicht notwendig mit einem Ehrenamt verbunden sein müssen, sondern auch einfache Mithilfe umfassen. Im deutschen Sprachraum reicht die Vielfalt vom Ehrenamt über die Freiwilligenarbeit bis zum bürgerschaftlichen Engagement. Je nach Themenbereich wählen die freiwillig tätigen Personen andere Bezeichnungen für ihr eigenes Engagement, was verdeutlicht, dass die Suche nach einem integrierenden Begriff und die Arbeit an einer einheitlichen Erfassung des Bereichs nicht leicht sein werden. »Freiwilligenarbeit« und »Ehrenamt« sind jedoch für 48% bzw. 32% der freiwillig tätigen Personen die Bezeichnungen, die am besten das Selbstverständnis abbilden (Rosenbladt, 2000). »Bürgerengagement« wird hingegen nur von 6% präferiert.

17

342

Kapitel 17 · Bürgersinn

Die Bezeichnung »bürgerschaftliches Engagement« hat eine deutlich politische Konnotation, soll jedoch jede Art von freiwilligem Engagement ansprechen. 7 Bürgerschaftliches Engagement wird als Entwicklungselement einer »Bürgergesellschaft« angesehen, in welcher der Bürger als »citoyen« (Staatsbürger) und weniger als »bourgeois« (Wirtschaftsbürger) aktiv wird (vgl. Bonß, 2002). Definition Wehner, Mieg und Güntert (2006) definieren freigemeinnützige Tätigkeit als unbezahlte, organisierte, soziale Arbeit, d. h. als persönliche, gemeinnützige Tätigkeit, die mit einem Zeitaufwand verbunden ist und prinzipiell auch von einer anderen Person ausgeführt und potenziell bezahlt werden könnte.

17

Diese Definition trennt vom Bereich der freigemeinnützigen Arbeit die Haus- und Familienarbeit, denn zum einen findet diese nicht im Kontext von Organisationen statt; v. a. aber ist die Familie ein Element von Gemeinwesen und nicht selbst Gemeinwesen, so dass familiäre Fürsorge und Hausarbeit nicht als soziale Arbeit gelten. Ebenso werden die Beziehungsarbeit, das persönliche Hobby und die Eigenarbeit abgetrennt, denn in diesen Fällen ist eine Bezahlung kaum vorstellbar. Das Spenden von Geld wird wegen des geringen Zeitaufwands ausgeschlossen. Aufgrund des Kriteriums, dass freigemeinnützige Arbeit prinzipiell auch von einer dritten Person ausgeführt werden kann, scheiden viele Tätigkeiten im persönlichen Umfeld aus, bei denen die handelnde Person nicht von anderen ersetzt werden könnte – man denke etwa an die Unterstützung von Freunden bei persönlichen Problemen. Außerdem wird gelegentlich zwischen formeller und informeller Freiwilligenarbeit unterschieden, um freigemeinützige Tätigkeiten im Rahmen von Organisationen von Engagementformen wie der Nachbarschaftshilfe abzugrenzen. Zunehmend besteht in verschiedenen Ländern für Empfänger von Sozialhilfeleistungen die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit eines »Zuverdienstes« durch gemeinnützige Arbeit; in diesem Fall jedoch ist die Tätigkeit nicht mehr freigemeinnützig. Warum verwenden wir den Begriff der Arbeit – zusätzlich zu jenem der Tätigkeit? Während der Begriff der Tätigkeit den Akzent auf die Perspektive des Indivi-

duums und seine Motiviertheit legt, rückt der Arbeitsbegriff die soziale Dimension in den Vordergrund; je nach Kontext kann es daher sinnvoll sein, einen der beiden Begriffe zu bevorzugen. Unter Arbeit verstehen wir Leistungen, die von einem Individuum unter der Bedingung gesellschaftlicher Arbeitsteilung erbracht werden (vgl. Weber, 1921). Eine Leistung ist nicht immer an bestimmte Tätigkeiten gebunden, manche Leistung lässt sich durch sehr verschiedene Tätigkeiten erbringen. Wesentlich ist, dass die Arbeit im sozialen Raum erfolgt und prinzipiell auch von anderen geleistet werden könnte. Es gibt Bereiche, in denen die Unbezahltheit das einzige Merkmal ist, das zwischen den Tätigkeiten Freiwilliger und denen bezahlter Mitarbeitender unterscheidet. Knapp ein Viertel aller freigemeinnützigen Tätigkeiten in Deutschland gelten als »arbeitsmarktnah«, was bedeutet, dass die Tätigkeiten Freiwilliger in ähnlicher Form auch beruflich, also gegen Bezahlung ausgeübt werden (Gensicke, Picot & Geiss, 2006). Das Nebeneinander von bezahlten und unbezahlten Mitarbeitenden innerhalb einer Organisation kann wechselseitigen Argwohn befördern und die Mitarbeit Freiwilliger der Kritik aussetzen (vgl. Graeff & Weiffen, 2001). Im Folgenden wird die freigemeinnützige Tätigkeit hinsichtlich der 3 in 7 Abschn. 17.1 vorgeschlagenen Dimensionen diskutiert. Die Bezeichnung als Tätigkeit unterstreicht, dass diese Art von Engagement und Bürgersinn aktive Teilhabe erfordert und dass die Chance, persönlich tätig zu werden, nicht mit der Option, für einen bestimmten Zweck Geld zu spenden, verglichen werden kann. Betrachtet man die freigemeinnützige Tätigkeit als prosoziales Verhalten – eine ebenfalls lohnende Perspektive –, so treten die qualitativen Unterschiede zwischen Sach- und Geldspenden auf der einen und dem Spenden von Zeit und Anstrengung auf der anderen Seite in den Hintergrund. Die Hervorhebung des Tätigkeitsaspekts hingegen erlaubt es, freigemeinnützige Arbeit mit Erwerbsarbeit zu vergleichen und daraus für die Analyse der motivationalen Grundlagen sowie für die Aufgabengestaltung und Organisation zu profitieren. Freigemeinnützige Tätigkeiten können sich auf der Aktivitätsdimension voneinander unterscheiden. Wenngleich das persönliche Tätigsein gleichermaßen erforderlich ist, kann der Grad des Involviertseins deutlich variieren, z. B. im zeitlichen Ausmaß, der Qualität der Aufgaben (Ausführung und Unterstützung versus Planung und Entscheidung) oder der erforderlichen Verantwortungsübernahme.

343 17.2 · Freigemeinnützige Tätigkeit

Freigemeinnützige Tätigkeiten sind in ihrer Systemwirkung mehrheitlich eher stabilisierend als das System verändernd oder überwindend. Ob es das Engagement in kulturellen oder Sportvereinen ist oder die karitative Arbeit für bedürftige Menschen, die Leistungen Freiwilliger werden von der Gesellschaft mehrheitlich begrüßt, von der Politik lobend erwähnt und z. T. steuerlich bevorzugt behandelt. In diesem Zusammenhang spielt es zunächst keine Rolle, ob eine positive Grundhaltung der Freigemeinnützigkeit gegenüber auch von den Freiwilligen selbst als gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung erlebt wird; vielmehr ist festzuhalten, dass die meisten Formen freigemeinnütziger Tätigkeit mit bestehenden gesellschaftlichen Strukturen nicht nur vereinbar sind, sondern auch als bereichernd und unterstützend bewertet werden. Piliavin, Dovidio, Gaertner und Clark (1981) fordern in einer früheren Definition des prosozialen Verhaltens, als welches sie Volunteering diskutieren, dass das Handeln von der Gesellschaft als »beneficial to other people and to the ongoing political system« (S. 4) bestimmt werden muss. Dass diese »Verträglichkeit« nicht für alle Arten freigemeinnütziger Tätigkeit gilt und zudem einem zeitlichen Wandel unterliegen kann, lässt sich exemplarisch am Bereich des Umweltschutzes illustrieren: Eine Bürgerinitiative gegen den Bau eines Atomkraftwerks mag noch vor wenigen Jahrzehnten als störendes Werk einer Minderheit kritisiert worden sein, während heute die Ablehnung dieser Art der Energiegewinnung und die Suche nach Alternativen bei einem größeren Teil der Bevölkerung Zustimmung finden. Ein Verständnis von bürgerschaftlichem Engagement, bei welchem Bürger aus einem in gesellschaftlichem Konsens zusammengestellten Sortiment von Betätigungsfeldern passende Aufgaben auswählen, für die sie Zeit und Anstrengung aufbringen wollen, ist zumindest einseitig und übersieht das Konfliktpotenzial der Freiwilligkeit. Freigemeinnützige Tätigkeit kann gerade auch dann entstehen, wenn Personen einen Handlungsbedarf erkennen, der radikale gesellschaftliche Veränderungen erfordert. Die Dimension des Kontexts wurde gewählt, um die Reflexion auf das Entdecken von Parallelen zwischen verschiedenen Arten und Formen der Freiwilligkeit zu lenken. Im Bereich freigemeinnütziger Tätigkeit kann der Kontext der »Bürgerschaft« weiter differenziert werden. Die freiwilligen Leistungen können einerseits einer Gruppe oder Organisation zugute kommen, der man selbst angehört und von deren Zielen die handelnde Person

selbst profitiert, andererseits einem Zweck dienen, der zeitlich und räumlich entferntere gesellschaftliche Wirkungen umfasst. Beispiele für diese Unterscheidung sind die ehrenamtliche Vorstandstätigkeit in einem Sportverein, dessen aktives Mitglied man selbst ist, gegenüber der Arbeit für Amnesty International zum Schutz der Menschenrechte auch in entfernten Ländern. Bevor auf die Frage der Motivation und die Frage der Qualität eingegangen wird, sollen einige Fakten zum Umfang und zur Bedeutung freigemeinnütziger Arbeit zusammengetragen werden. Dass die gesellschaftliche Relevanz freigemeinnütziger Tätigkeit weit über das Potenzial individueller Selbstverwirklichung hinaus reicht, erkennt man nicht erst, seit die Vereinten Nationen das Jahr 2001 zum »Internationalen Jahr der Freiwilligen« erklärten. Von Seiten der Politik wird regelmäßig in der Stärkung freiwilligen Bürgerengagements eine Chance zur Staatsentlastung gesehen. Nationale und international vergleichende Erhebungen zum Stand des Volunteering wurden durchgeführt (z. B. Gaskin, Smith & Paulwitz, 1996). Solange jedoch keine Definitionsklarheit besteht, sind die vergleichenden Aussagen vorsichtig zu interpretieren. Eine sehr gute Deskription für Deutschland leistet der Freiwilligensurvey, die umfassendste bundesweite, 1999 und 2004 durchgeführte Repräsentativbefragung (von Rosenbladt, 2000; Gensicke et al., 2006). Die breite Datenbasis der Studie – rund 15.000 repräsentativ ausgewählte Personen wurden befragt – erlaubt Aussagen zum Umfang und zur Art freigemeinnütziger Arbeit – differenziert nach Engagementbereichen, Regionen, Altersgruppen und weiteren soziodemografischen Variablen. Der Survey untersucht neben dem zeitlichen und inhaltlichen Umfang der Tätigkeiten, deren qualifizierende bzw. Qualifikation voraussetzende Aspekte, Motive und Erwartungen der Freiwilligen, Formen der Gratifikation und organisationale Rahmenbedingungen. 1999 waren in Deutschland 34%, im Jahr 2004 36% der Bevölkerung ab 14 Jahren freiwillig engagiert. Die großen Felder freiwilligen Engagements waren sowohl 1999 als auch 2004 die Bereiche Sport und Bewegung (11%/11% der Bevölkerung), Schule und Kindergarten (6%/7%), Kirche und Religion (5,5%/6%), Freizeit und Geselligkeit (5,5%/5%), Kultur und Musik (5%/5,5%) sowie der soziale Bereich (4%/5,5%). Vereine sind von herausragender Bedeutung für das freiwillige Engagement: 43% aller Freiwilligentätigkeiten wurden 1999 und 2004 in diesem organisatorischen Umfeld geleistet.

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344

Kapitel 17 · Bürgersinn

Personen, die stärker in die Gesellschaft integriert sind, engagieren sich auch häufiger freiwillig: So liegen die Engagementquoten (für das Jahr 2004) bei Erwerbstätigen (40%) und bei Personen im mittleren Lebensalter (40‒49 Jahre: 42%) über dem Durchschnitt von 36%, während jene bei Arbeitslosen (27%) oder bei Rentnern und Pensionären (28%) deutlich niedriger liegen. Freigemeinnützige Tätigkeit Einzelner kann vom Arbeitgeber auf verschiedene Weise unterstützt werden: durch zeitliche Freistellungen, flexible Arbeitszeiten oder etwa die Erlaubnis, die Infrastruktur des Betriebes zu nutzen. Nach dem Freiwilligensurvey 2004 gaben 29% der Befragten an, sie würden in ihrem Engagement durch den Arbeitgeber unterstützt; 53% der Befragten hingegen sahen keine Unterstützung des Arbeitgebers (18% hielten eine entsprechende Unterstützung für nicht notwendig). Die größte Unterstützung erhalten mit 62% Personen, die sich im Bereich der beruflichen Interessenvertretung engagieren, am geringsten fällt die Unterstützung mit 14% im Bereich der Freizeit und Geselligkeit aus. Wie in 7 Abschn. 17.3 dargestellt werden wird, ist die Unterstützung individueller freigemeinnütziger Tätigkeit durch den Arbeitgeber eine von mehreren Engagementformen, welche unter den Begriff des bürgerschaftlichen Engagements von Unternehmen gefasst werden können. 17.2.2

17

Motivation zu freigemeinnütziger Tätigkeit

Von den psychologischen Teildisziplinen beschäftigt sich bislang die Sozialpsychologie am stärksten mit der freigemeinnützigen Arbeit. Volunteering wird als prosoziales Verhalten untersucht, welches im Kontext von Gruppen oder Organisationen stattfindet, geplant wird und über einen längeren Zeitraum fortbesteht (Penner, Dovidio, Piliavin & Schroeder, 2005). Im Unterschied zur spontanen Hilfeleistung basiert freigemeinnützige Tätigkeit weniger stark auf einem Gefühl persönlicher Verpflichtung, sondern ist das Ergebnis einer bewussten – zum Teil wohlüberlegten – Entscheidung. Penner et al. (2005) sehen darin einen Grund für die in der Volunteeringforschung dominierenden Fragen zur Motivation der Freiwilligen, verglichen mit der Suche nach situativen Faktoren im Bereich des Hilfeverhaltens. Der Großteil psychologischer Erkenntnisse über das Helfen beruht auf Situationen, in denen potenzielle

Helfer angesichts einer unerwarteten Gelegenheit zu helfen – z. B. einer Notsituation – sich unmittelbar für oder gegen einen sofortigen Einsatz entscheiden müssen – meist zugunsten einer fremden Person. Wenngleich etwa das Phänomen nicht eingreifender Zuschauer in Notsituationen viel psychologische Forschung ausgelöst hat (z. B. Latané & Darley, 1970), ist Volunteering eine weit verbreitete und alltägliche Form prosozialen Handelns, an welchem sich sowohl die motivationalen Abläufe vor und nach der Entscheidung für die Tätigkeit als auch die Faktoren, von denen nachhaltiges Engagement abhängt, und besonders die Bedeutung von Organisationsstrukturen und Prozessen untersuchen lassen. Omoto, Snyder und Berghuis (1993) plädieren daher für die freigemeinnützige Tätigkeit als Paradigma zur Untersuchung prosozialen Handelns und sehen die Chance, psychologische Theorien in diesem natürlichen Kontext zu überprüfen. Viel Forschung zur freigemeinnützigen Arbeit angeregt hat die Frage nach den Gründen, welche Personen dazu bewegen, freiwillig Aufgaben zu übernehmen und das Engagement aufrechtzuerhalten. Aufgrund der besonderen Qualität freigemeinnütziger Tätigkeit als geplantes Helfen – als freiwilliges, andauerndes und nachhaltiges prosoziales Handeln – empfiehlt sich ein motivationaler Zugang, um das Bemühen um eine Gelegenheit zum Engagement, die Entscheidung für ein spezifisches Angebot und die mehrjährige Leistungsbereitschaft zu erforschen. Aus diesem Grund wenden Clary et al. (1998) die funktionale Analyse auf freigemeinnützige Tätigkeiten an. Zentral für den funktionalen Ansatz ist die Annahme, dass Personen dieselben Einstellungen haben bzw. in dieselben Tätigkeiten involviert sein können, obwohl die psychologischen Funktionen, denen die Gedanken, Gefühle und Handlungen jeweils dienen, verschieden sind. Langandauerndes, engagiertes Handeln wird durch eine Passung der motivationalen Belange des Individuums einerseits und der Angebote der Situation andererseits erklärt. Am stärksten wurden funktionalistische Ideen in der Einstellungsforschung entwickelt (Katz, 1960; Smith, Bruner & White, 1956). Anknüpfend an diese Tradition wählen Clary et al. (1998) als Ausgangspunkt die Überlegung, dass dieselben zentralen Themen aus der funktionalen Analyse auch für die motivationale Grundlage des Volunteering gelten. Hohe Zufriedenheit und Leistungsgüte werden nur dann möglich, wenn die »Tätigkeitsangebote« den Motiven der Freiwilligen entsprechen.

345 17.2 · Freigemeinnützige Tätigkeit

Clary et al. (1998) beschreiben 6 Funktionen, welche das Volunteering für die Freiwilligen erfüllen kann. Um gemäß dieser funktionalen Analyse die Motive Freiwilliger erfassen zu können, entwickelten Clary et al. (1998) außerdem das Volunteer Functions Inventory. In . Tab.17.1 werden die Skalen kurz erläutert und anhand je eines Items vorgestellt. Für den deutschsprachigen Raum entwickelten Bierhoff und Schülken (2001) den Fragebogen zur ehrenamtlichen Einstellungsstruktur – ein Instrument, das sich ebenfalls am funktionalen Ansatz orientiert und dessen Skalen teilweise mit jenen bei Clary et al. (1998) übereinstimmen. Die Skalen lassen sich in 2 Gruppen unterteilen, die einer egoistischen bzw. einer altruistischen Orientierung entsprechen. Diese Unterscheidung ist trotz fragwürdiger Konnotationen – immerhin übernimmt auch der »egoistisch« motivierte Freiwillige prosoziale Verantwortung! – von praktischer Relevanz. Freiwillige gewichten den Gemeinschafts- bzw. Selbstbezug unterschiedlich stark. Die Möglichkeit, selbst von der eigenen Tätigkeit zu profitieren, scheint das Aufrechterhalten des freigemeinnützigen Engagements zu begünstigen; so können Omoto und Snyder (1995) – für Freiwillige aus dem Bereich der AIDS-Hilfe – zeigen, dass eine ausgeprägt altruistische Motivation zwar positiv mit der Ar-

beitszufriedenheit zusammenhängt, dass Freiwillige jedoch bei größerem persönlichen Nutzen länger freiwillig tätig bleiben. Die Tatsache, dass viele Freiwillige multiple Motive für ihr Engagement angeben, spricht jedoch nach Clary und Snyder (1999) dagegen, den verschiedenartigen Tätigkeiten eine Motivation zugrunde zu legen, die klar entweder altruistisch oder egoistisch orientiert ist; einerseits seien gewisse Motive bereits an sich Kombinationen beider Orientierungen, andererseits lägen häufig Motive beider Kategorien gemeinsam vor. Die Übernahme von sozialer und politischer Verantwortung kann nicht nur als Altruismus interpretiert werden, sondern lässt sich auch als das Meistern einer Entwicklungsaufgabe verstehen. Dass die Bereitschaft zu freigemeinnütziger Arbeit in der Altersgruppe von 40‒60 Jahren stärker ausgeprägt ist, korrespondiert mit der von Erikson (1973) für das mittlere Erwachsenenalter benannten Herausforderung »Generativität versus Stagnation«. Freigemeinnützige Tätigkeit kann Raum dafür bieten, die eigenen Erfahrungen für andere nutzbar zu machen und durch die Mitgestaltung der Gemeinschaft und Gesellschaft für die nachfolgende Generation Sorge zu tragen. Bereits Erikson nennt das soziale Engagement und die politische Arbeit als Felder, in denen Generativität jenseits der eigenen Familie erfah-

. Tab. 17.1. Volunteer Functions Inventory: Definition der jeweiligen Funktion sowie ein Beispielitem zu jeder Skala. (Nach Clary & Snyder, 1999; freie Übersetzung der Originalitems)

Funktion

Definition

Beispielitem

Werte (»values«)

Die Person ist freigemeinnützig tätig, um Werten wie der Nächstenliebe entsprechend zu handeln bzw. um diese auszudrücken.

Ich finde, es ist wichtig, anderen zu helfen.

Lernen (»understanding«)

Der Freiwillige strebt danach, mehr von der Welt kennen zu lernen und über sie zu lernen, und möchte ungenutzte Fertigkeiten einsetzen.

In der Freiwilligenarbeit kann ich durch Erfahrungen aus erster Hand lernen.

Wachstum (»enhancement«)

Die Person kann durch die freigemeinnützige Tätigkeit psychologisch wachsen und sich weiterentwickeln.

Freiwilligenarbeit steigert mein Selbstwertgefühl.

Karriere (»career«)

Der Freiwillige verfolgt das Ziel, durch seine Tätigkeit bedeutsame Erfahrungen für den Beruf zu sammeln.

Durch die Freiwilligenarbeit kann ich dort, wo ich gerne arbeiten möchte, einen Fuß in die Tür bekommen.

Soziale Bindung (»social«)

Die freigemeinnützige Arbeit ermöglicht es der Person, ihre sozialen Beziehungen zu stärken und auszuweiten.

Leute, die ich kenne, sind ebenfalls als Freiwillige engagiert.

Schutz (»protective«)

Die Person nutzt die Freiwilligenarbeit, um negative Gefühle wie Schuld zu reduzieren oder um eigene Probleme zu bearbeiten.

In der Freiwilligenarbeit kann ich gut meine eigenen Sorgen vergessen.

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Kapitel 17 · Bürgersinn

ren wird; seine Ideen werden in jüngerer Zeit explizit auf die freigemeinnützige Arbeit bezogen (Snyder & Clary, 2004). 17.2.3

17

Freigemeinnützige Tätigkeit aus Sicht der Arbeitswelt

Was motiviert Freiwillige zu ihrem Engagement, lautet die Frage, der sozialpsychologische Forschung am meisten Aufmerksamkeit gewidmet hat. Auch aus anwendungsorientierter Perspektive lässt sich eine »Motivationsfrage« stellen: Wie motivierend ist freigemeinnützige Arbeit? Der Bereich freigemeinnütziger Arbeit ist zunächst ein Anwendungsfeld arbeits-, organisations- und wirtschaftspsychologischen Wissens. Die zu beobachtende Tendenz, Freiwilligenarbeit »professioneller« zu gestalten und Qualitätssicherung zu betreiben, zeigt, dass zahlreiche neue Anwendungsgebiete entstehen: sei es die Rekrutierung, Begleitung und Weiterbildung von Freiwilligen, die Organisation der Zusammenarbeit von bezahlten Mitarbeitenden und Freiwilligen, die Entwicklung einer Anerkennungskultur oder die Gestaltung freigemeinnütziger Aufgaben, die mehr als nur Resttätigkeiten sein sollen. Auch wenn eine schlichte Übertragung von Managementrezepten aus der Erwerbsarbeit vermutlich zu kurz greift, lohnt sich gleichwohl das Erproben bekannter Konzepte, wenn dabei die besondere Qualität der Freiwilligkeit kritisch reflektiert wird. Freigemeinnützige Arbeit kann jedoch nicht nur als Anwendungsfeld, sondern auch als Lernfeld genutzt werden. Dass viele Freiwillige den Sinngehalt ihres Engagements hervorheben, lässt erwarten, dass freigemeinnützige Arbeit sinnvolle Tätigkeit in einem Ausmaß ist, welches sich bei vielen Erwerbsarbeitstätigkeiten aufgrund restriktiver Bedingungen nicht mehr realisieren lässt. Wer sich vor dem Hintergrund eines verstärkten Ressourcenansatzes dem »Nicht-Verschleiß-Aspekt« von Arbeit zuwendet, kann die Freiwilligenarbeit als Paradigma wählen und dort u. a. Engagement, Arbeitsfreude, Begeisterung oder den Erholungswert von Tätigkeiten untersuchen. Aus einer anwendungsorientierten arbeitswissenschaftlichen Sicht werden freigemeinnützige Tätigkeiten in ihrem Bezug zu konkreten Arbeitsaufgaben und Organisationsstrukturen betrachtet. Freiwillige investieren Zeit und Anstrengung, erhalten jedoch keinen Lohn,

maximal eine Entschädigung. Daraus könnte man auf hohe Autonomie und intrinsische Motivation, auf persönliche Sinngenerierung und ein Bedürfnis nach Generativität, zumindest jedoch auf das Ausbleiben von Entfremdung schließen. In der Literatur werden Merkmale von Erwerbsarbeitstätigkeiten genannt, welche die Entstehung einer Motivation aus der Aufgabe selbst heraus fördern. Ulich (2005) führt als Gestaltungsmerkmale humaner Arbeit an: 4 Ganzheitlichkeit 4 Anforderungsvielfalt 4 Möglichkeiten der sozialen Interaktion 4 Autonomie 4 Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten 4 Zeitelastizität und stressfreie Regulierbarkeit 4 Sinnhaftigkeit Auch freigemeinnützige Arbeitstätigkeiten kann man mit diesen Maßstäben konfrontieren, denn auch stark »altruistische« Beweggründe garantieren keine Motivation der Freiwilligen. Dabei ist jedoch davon auszugehen, dass die relative Bedeutsamkeit verschiedener Tätigkeitsmerkmale bei Erwerbs- und Freiwilligenarbeit unterschiedlich ausfällt; so übernehmen Freiwillige häufig auch einfache Tätigkeiten, die in der Erwerbsarbeit als Unterforderung erlebt würden. Dies wird durch eine Studie gestützt, in der sowohl Freiwillige als auch Erwerbstätige darum gebeten wurden, die oben genannten Humankriterien in eine Rangreihe der persönlichen Relevanz für die jeweilige Arbeit zu bringen (s. Wehner et al., 2006). Das Ergebnis: Für die Freiwilligen steht die Sinnhaftigkeit an erster, für die Erwerbstätigen jedoch erst an vierter Stelle. Außerdem wird die Sinnhaftigkeit in Bezug auf die freigemeinnützige Arbeit deutlich positiv von den anderen Merkmalen abgegrenzt. Dieser Befund steht mit anderen Ergebnissen aus der Freiwilligenforschung im Einklang (vgl. Wehner, Ostendorp & Ostendorp, 2002), die zeigen, dass »Sinnproduktion« eines der starken Motive ist, freigemeinnützig tätig zu werden. Auf dem zweiten Rangplatz folgt die Autonomie, was sich gut mit dem Attribut freigemeinnütziger Arbeit verträgt, dass sie unabhängig von existenziellen Überlegungen gewählt wird. Trotz evt. neuer Gewichtung oder notwendiger Differenzierung kann der erste Schritt in der Anwendung des Bewährten bestehen. In diesem Sinne wurde das Job Characteristics Model von Hackman und Oldham (1976), eine bewährte Theorie der Arbeitsmotivation,

347 17.3 · Bürgerschaftliches Engagement von Unternehmen

auf freigemeinnützige Tätigkeiten aus dem sozial-karitativen Bereich übertragen (Güntert & Wehner, 2005). Dabei werden 5 Tätigkeitsmerkmale als die Arbeitsmotivation und die Zufriedenheit beeinflussende Faktoren angenommen: 1. Autonomie, 2. Vielfalt, 3. Ganzheitlichkeit, 4. Bedeutsamkeit und 5. Rückmeldung aus der Tätigkeit. Beispiel

Der Gedanke, dass freiwilliges Engagement vielfältige Funktionen erfüllen kann, stimmt gut mit Urs Mäders persönlicher Erfahrung überein; in allen Aufgaben, die er bislang neben seiner Arbeitstätigkeit übernommen hat, kann er sowohl altruistische als auch selbstbezogene Seiten entdecken. Gewiss hatten seine Freunde ihn manchmal schon gefragt, warum er seine Freizeit nicht stärker für sich selbst als für andere nutzen möchte. Dieser Gegensatz blieb Urs Mäder immer fremd; viel wichtiger war für ihn, dass er etwas Sinnvolles leisten und seine Freiwilligenarbeit als eine Bereicherung erleben konnte. Wenngleich es auch lästige Aufgaben gab, zweifelte er nie am Sinn seines freiwilligen Engagements. Urs Mäder fällt auf, dass er dies von seiner Erwerbsarbeit nicht behaupten kann. Irritiert vom Ungleichgewicht zwischen privatem Sinnerleben und der alltäglichen Arbeitsbewältigung sucht Herr Mäder das Gespräch mit Arbeitskollegen. Diese können seinen Schilderungen und Erklärungsversuchen nur zustimmen und zeichnen durch das Einbringen eigener Erlebnisse ein noch differenzierteres Bild. Angeregt durch das gemeinsame Gespräch, finden sich die Diskussionsteilnehmer bald in einer tiefgreifenden Auseinandersetzung darüber, wie sie sich als »gute Bürger« im Rahmen des Angestelltenverhältnisses einbringen könnten. Im weiteren Verlauf richtet sich ihre Aufmerksamkeit immer stärker auf die Rolle des Unternehmens in der Gesellschaft, d. h. dessen Möglichkeiten und Grenzen, sich aktiv für gemeinnützige Zwecke zu engagieren. Nebst ersten Ideen müssen die Teilnehmer zur Kenntnis nehmen, dass die Argumente für bzw. gegen ein entsprechendes Vorhaben sehr vielfältig sind.

Verschiedene freigemeinnützige Tätigkeiten wurden hinsichtlich dieser sog. Kerndimensionen untersucht. Verglichen mit Erwerbsarbeitstätigkeiten zeichnen sich die freigemeinnützigen Tätigkeiten durch hohe Werte auf den Dimensionen Autonomie und Ganzheitlichkeit aus. Die beste Vorhersage der Zufriedenheit leisten jedoch die Bedeutsamkeit der Aufgaben und die Rückmeldung, welche die Freiwilligen aus der Tätigkeit selbst erhalten. Es ist folglich entscheidend, dass der Sinn, den die Arbeit für andere Menschen hat, auch beim konkreten Tun erfahren und nicht nur abstrakt bewusst wird. Zwischen freigemeinnütziger unbezahlter Arbeit und freiwilligem Arbeitsengagement in der Erwerbsarbeit sind Parallelen, was die zugrundeliegende Motivation betrifft, zu erwarten. In beiden Fällen werden Leistungen über die Notwendigkeit bzw. die Vorschrift hinaus erbracht (7 Beispiel). 17.3

Bürgerschaftliches Engagement von Unternehmen

Bürgersinn bzw. Bürger-Sein wird nicht nur mit Individuen in Verbindung gebracht, sondern vermehrt auch mit Organisationen, speziell Unternehmen. Als »institutionelle Akteure« übernehmen diese im Zusammenspiel von Staat und Wirtschaft zentrale Aufgaben. Was lange Zeit unter dem Begriff der »sozialen Marktwirtschaft« gut funktioniert hat, gerät im sog. postindustriellen Zeitalter (Beck, 1999) immer stärker unter Druck. Die aktuelle Diskussion um Globalisierung und Arbeitslosigkeit sowie das Ringen um die Sicherung sozialstaatlicher Systeme werfen nicht nur Fragen der Wirksamkeit politischer Steuerungsmöglichkeiten auf; auch Unternehmen und deren Verantwortung innerhalb staatlicher und globaler Systeme sowie deren Einbindung in das Gemeinwesen werden diskutiert. 17.3.1

Die Rolle von Unternehmen in der Gesellschaft – die akademische Perspektive

Wie in der Unternehmensethik, so werden auch im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements von Unternehmen unterschiedliche Standpunkte bezüglich der Möglichkeit unternehmerischen Handelns diskutiert, wobei klassisch auf 2 sich gegenüberstehende Pole ver-

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Kapitel 17 · Bürgersinn

wiesen wird. Während die wirtschaftsliberale Position keine Einschränkung bei der Verfolgung ökonomischer Handlungsprinzipien vorsieht, solange sich Unternehmen an ethische Standards halten, stellt der republikanische Liberalismus ethische Aspekte über die Realisierung ökonomischer Gewinnziele (Osterloh & Tiemann, 1995). Die im Folgenden vorgestellten Konzepte sind zwischen diesen beiden Polen zu verorten. Eines der bekanntesten und am meisten diskutierten Konzepte in diesem Bereich ist Corporate Social Responsibility (CSR). Als Selbstregulationsinstrument für Unternehmen in Bezug auf sozial verträgliches Handeln gedacht, wurde der Begriff in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zum ersten Mal verwendet (Wood & Logsdon, 2001). Die akademische Diskussion um die inhaltliche Ausgestaltung und Operationalisierung des Konzepts hat in den 70er Jahren begonnen (vgl. Matten, Crane & Chapple, 2003). Als eine der meistzitierten und heute noch gebrauchten Konzeptualisierungen ist die »Pyramid of Corporate Social Responsibility« zu nennen (Carroll, 1991). Carroll unterteilt CSR in 4 Verantwortungsfelder: ein ökonomisches, ein legales, ein ethisches und ein philanthropisches Feld. Grundlegend hat ein Unternehmen profitabel zu sein. Darauf aufbauend soll es legalen Rahmenbedingungen in der jeweiligen Gesellschaft und dann ethischen Grundsätzen folgen. Diese Letzteren sind zwar freiwillig einzuhalten, allerdings sind sie mit einer Erwartungshaltung aus der Gesellschaft verbunden. Ebenfalls erwünscht, aber weniger zu erwarten, ist die vierte und letzte Stufe, welche freigemeinnütziges Engagement in sozialen, kulturellen oder anderen gemeinnützigen Bereichen fordert (Carroll, 1991; s. auch Matten et al. 2003). Die Kritik am CSR-Ansatz bezieht sich v. a. auf 2 Aspekte. Einerseits löst der normative Duktus Reaktanz bei den Unternehmen aus, andererseits scheint das Konzept noch zu wenig praktikabel (s. Schwerpunktheft von Gentile & Wehner, 2007). Vor dem Hintergrund dieser ablehnenden Haltung gegenüber CSR setzte sich in den 90er Jahren das Konzept Corporate Citizenship (CC) durch – auf Deutsch »bürgerschaftliches Engagement von Unternehmen« (Enquete-Kommission, 2003). CC findet v. a. bei Vertretern der Wirtschaft Anklang, da Unternehmen als Bürger unter »Gleichen« bzw. als Mitglieder einer lokalen Gemeinschaft mit Rechten und Pflichten wahrgenommen werden. Entsprechend geht es bei CC nicht um mangelnde Verantwortungsübernahme, wie dies bei

CSR implizit unterstellt wird, sondern um eine (meist) freiwillige Unterstützung gemeinschaftlicher Anliegen. Genau dies wird jedoch von akademischer Seite immer wieder kritisiert. Der Bezug zu anderen Gesellschaftsbereichen wird bei CC verengt (z. B. Corporate Community Involvement; s. hierzu 7 Abschn. 17.3.2) oder dem CSR-Konzept gleichgestellt gesehen (Matten et al., 2003; Carroll, 1998). Wood und Logsdon (2001) argumentieren, bezugnehmend auf die angeführte Kritik, für ethisch basierte Normen, welche bewusst auch für CC gelten müssen. Unter Einbezug einer kommunitaristischen Perspektive werden Unternehmen als Bürger – allerdings als Bürger zweiter Klasse, d. h. mit reduzierten Rechten und Pflichten im Vergleich zu Individuen – bzw. Mitglieder einer funktionierenden Gemeinschaft definiert. Als Teil dieser Gemeinschaft sind sie aus der Perspektive des 7 Kommunitarismus in Bezug auf das Wohlergehen derselben verpflichtet, was die Maximierung des eigenen Nutzens, wie dies beispielsweise aus wirtschaftsliberaler Position vertreten wird, ausschließt. Matten und Crane (2005) plädieren in diesem Zusammenhang für eine andere Verwendung des Begriffs »Bürger« (Citizen). Sie sehen die Unternehmen stärker in der Rolle des Staates, welcher die Rechte und Pflichten der individuellen Bürger garantiert. Territorial beschränkte bürgerliche, politische und soziale Rechte der Staatsbürger sind nach Auffassung der Autoren durch den Prozess der Globalisierung gefährdet bzw. durch den Staat nicht mehr vollständig zu garantieren. Vermehrt sehen sie global tätige Unternehmen, welche die Verantwortung für die Ermöglichung und Einhaltung der Bürgerrechte beanspruchen. Nach Matten und Crane sollte deshalb das Konzept CC in Bezug auf diesen Anspruch redefiniert werden. Dass sich eine solche Entwicklung in ihren Auswirkungen ambivalent darstellt, thematisieren die Autoren mit der Frage der Haftbarkeit bzw. Kontrollierbarkeit von Unternehmen im Vergleich zum Staat. Aus dieser Perspektive ist CC nicht die gewünschte Lösung gesellschaftlicher Probleme, sondern eine kritisch zu diskutierende Entwicklung, welche aus gesellschaftspolitischer Sicht nicht unterschätzt werden sollte.

349 17.3 · Bürgerschaftliches Engagement von Unternehmen

17.3.2

Formen des Engagements von Unternehmen – die praxisorientierte Perspektive

Auch wenn die Begriffsverwendung die gleiche wie in der akademischen Diskussion ist, so orientiert man sich in der Praxis stärker an der Umsetzung der Konzepte anhand konkreter Instrumente. Das Feld kann in 2 große (Freiwilligen-)Bereiche unterteilt werden. Auf der einen Seite ist dies Corporate Social Responsibility (CSR) und auf der anderen Corporate Citizenship (CC). In beiden Feldern sind verschiedene Formen bzw. Instrumente des Engagements vorzufinden. Unter CSR wird allgemein ein Konzept verstanden, welches auf freiwilliger Basis die soziale und ökologische Verantwortung von Unternehmen in allen Bereichen der Unternehmenstätigkeit und in der Wechselbeziehung mit Stakeholdern meint (Pommerening, 2005; Dresewski, 2004). Dabei gilt es die verschiedenen Anspruchsgruppen zu berücksichtigen und bei der Verfolgung des Unternehmenszwecks mit einzubeziehen. Auf der Ebene der Instrumente sind nach Pommerening (2005, S. 15‒ 19) 3 Gruppen zu unterscheiden: 1. Verhaltenskodizes: Mit ihnen verpflichtet sich ein Unternehmen freiwillig zur Befolgung bestimmter sozialer, ökologischer oder sonstiger Prinzipien über die Gesetzeskonformität hinaus (z. B. OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen). 2. Labels: Mit deren Hilfe kann die Produktion bestimmter Produkte und der Handel damit für die Einhaltung vorgeschriebener Standards, wie sie z. B. in der landwirtschaftlichen Produktion gelten, zertifiziert und registriert werden (z. B. Bio-Siegel). 3. Standards: Sie geben Unternehmen vor, wie sie ihre Verantwortung gegenüber der Gesellschaft wahrnehmen können. Hier kann grundsätzlich zwischen Prozess- und Performancestandards unterschieden werden (z. B. ISO-Norm 14001). Das zweite wichtige Feld ist CC, worunter eine Unternehmensstrategie verstanden wird, bei der alle gesellschaftsbezogenen Aktivitäten eines Unternehmens auf übergeordnete Unternehmensziele ausgerichtet werden (Dresewski, 2004). Während CSR in allen Bereichen der Unternehmenstätigkeit wirkt, nimmt CC v. a. die gesellschaftsbezogenen Aktivitäten ins Blickfeld, welche nicht direkt mit dem Kerngeschäft des Unternehmens zu tun haben. Die wichtigsten CC-Instrumente sind:

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Corporate Community Involvement: Hier steht die Einbindung des Unternehmens in das Gemeinwesen durch freiwillige Beiträge im Zentrum (Schubert, Littmann-Wernli & Tingler, 2002). Engagement in diesem Bereich ist eher kurz- bis mittelfristig angelegt. Es können 2 Instrumente unterschieden werden: Corporate Volunteering: Das von einem Unternehmen unterstützte gemeinnützige Engagement, an dem sich die Mitarbeitenden des Unternehmens freiwillig beteiligen und bei dem ggf. zusätzlich sachliche und monetäre Ressourcen investiert werden (Schubert et al., 2002); Beispiele folgen in 7 Abschn. 17.3.3. Corporate Giving: Die ethisch motivierte Unterstützung der ideellen Ziele gemeinnütziger Organisationen v. a. mit Geld- und Sachmitteln. Diese erfolgt ohne Gegenleistung und ist steuerabzugsfähig (Dresewski, 2004). Beispiele hierfür sind: 5 Matching funds: Die Vervielfachung von mitarbeiterseitig initiierten Spenden bis zu einem abgesprochenen Betrag durch die Unternehmung. 5 Cause Related Marketing: Der Produktverkauf und die Unterstützung eines sozialen Zwecks werden miteinander gekoppelt. 5 Sponsoring: Als klassische Engagementform, wobei hier die Trennschärfe zwischen Gemeinnutzen und Eigennutzen am wenigsten gegeben ist. Corporate Foundations: Von Unternehmen zum Zweck der Förderung des Gemeinwohls gegründete Stiftungen. Hier wird ein längerfristiges Engagement verfolgt. Die Stiftungen sind finanziell vom Unternehmen abhängig, sind aber rechtlich eigenständig (Pommerening, 2005). Beispiele hierfür sind die Bertelsmann-Stiftung, die Novartis-Stiftung oder die Körber-Stiftung.

Wie in . Abb. 17.2 dargestellt, sind aus anwendungsorientierter Perspektive die inhaltliche Aufteilung der Konzepte und die jeweiligen Instrumente für die Umsetzung sehr zentral. Hingegen steht aus akademischer Sicht die jeweilige Beobachterperspektive im Mittelpunkt des Interesses, welche unternehmerischem Handeln ganz unterschiedliche Rahmenbedingungen bzw. Rollen auferlegt (vom Interessenvertreter über den Bürger bis hin zur Übernahme staatlicher Funktionen). Als bemerkenswert festzuhalten ist die relative Eigenständigkeit beider Felder. Was aus den unterschiedlichen ethisch-normativen Beobachterperspektiven als not-

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Kapitel 17 · Bürgersinn

. Abb. 17.2. Perspektiven, Konzepte und Instrumente bürgerschaftlichen Engagements von Unternehmen

wendig erscheint, findet in der praktischen Umsetzung oft nur wenige Anschlussmöglichkeiten. Die Operationalisierung abstrakter Begriffe wie »Responsibility« oder »Citizen« für die Rolle von Unternehmen in der Gesellschaft ist derzeit noch nicht gelungen. Umgekehrt fließen bislang nur wenige Erkenntnisse aus der Praxis in die Entwicklung neuer Konzepte, was die Annäherung der beiden Felder unterstützen würde. Als mögliches Bindeglied, welches diesen gegenseitigen Austausch zwischen den Bereichen fördern würde, ist deshalb die empirische Forschung zu sehen. Sie ermöglicht eine kritischere Auseinandersetzung mit gefordertem und bereits geleistetem Engagement. Wo dies aus der Perspektive der psychologischen Forschung möglich ist und gewinnbringend umgesetzt werden kann, soll exemplarisch am Konzept Corporate Volunteering erläutert werden. 17.3.3

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Formen und Bedeutung des Corporate Volunteering

Beim Corporate Volunteering (CV) steht v. a. der Einsatz von Mitarbeitenden für die Erfüllung gemeinnütziger Zwecke durch Unternehmen im Vordergrund. Als zentrales definitorisches Element ist die Freiwilligkeit der Mitarbeiter herauszustreichen, die mit der Unterstützung bzw. durch die Initiative des Arbeitgebers einen gemeinnützigen Beitrag leisten. Der Ausgangspunkt und die inhaltliche Ausgestaltung können dabei verschiedene Formen annehmen. . Tabelle 17.2 bietet eine Übersicht zu den wichtigsten CV-Formen, der jeweiligen Einsatzdauer und der Anzahl der betroffenen Mitarbeitenden.

Die Bedeutung von CV im Rahmen des bürgerschaftlichen Engagements von Unternehmen zeigt sich in verschiedenen Aspekten. Ein zentraler Aspekt ist die Verwendung von CV im Rahmen der CC-Strategie. Hier interessiert v. a. die Häufigkeit, mit der CV im Vergleich zu den anderen Instrumenten (Coporate Giving oder Stiftungen) eingesetzt wird. In einer bundesweit durchgeführten Studie von Maaß und Clemens (2002) wurden Klein-, Mittel- und Großunternehmen zu verschiedenen Engagementformen befragt (Mehrfachnennungen waren möglich). Es zeigt sich folgendes Bild: 215 von 228 befragten Unternehmensvertretern geben Geldspenden und Schenkungen als Umsetzungsmaßnahmen an. Probonodienstleistungen, als eine spezifische Form von CV, werden von drei Vierteln der Befragten genannt. Erst an vierter bis sechster Stelle (130 Nennungen und weniger) stehen Engagementformen, welche den oben dargestellten CV-Formen entsprechen (Mitarbeiterfreistellung, Nutzungsgestattung etc.). Seltene Maßnahmen sind Stiftungsgründungen. CC-Instrumente im Bereich Corporate Community Involvement werden häufiger angewendet, als dies in Bezug auf Stiftungen der Fall ist, wofür Maaß und Clemens (2002) den hohen finanziellen Aufwand für Stiftungsgründungen anführen. Der Vergleich zwischen Geld-/Sachspenden und dem Einsatz von Humanressourcen fällt klar zu Gunsten des Corporate Giving aus. Als traditionelles Feld der freigemeinnützigen Unterstützung kommt dieses Instrument häufig zur Anwendung. Die Freistellung von Mitarbeitenden für gemeinnützige Zwecke wird zwar unterstützt, jedoch geschieht dies meist nur aufgrund äußerer Anlässe bzw. Anfragen der Mitarbeitenden. Eine aktive Gestaltung von Pro-

351 17.3 · Bürgerschaftliches Engagement von Unternehmen

. Tab. 17.2. Formen des Corporate Volunteering. (Nach Dresewski, 2004; Schöffmann, 2001)

Inhaltliche Ausgestaltung

Einsatzdauer Mitarbeitende (MA)

Anzahl Personen

Secondments

Freistellung bei voller Bezahlung für die Durchführung konkreter Projekte in gemeinnützigen Institutionen für mehrere Monate

Mehrere Tage bis Monate

Einzelne MA

Mentorprogramme (Patenschaften, Tutorate)

Einzelne MA beraten und begleiten einige Stunden pro Monat Personen z. B. in Schulen oder gemeinnützigen Institutionen

Einzelne Tage, über längeren Zeitraum

Einzelne MA

Unterstützung und Anerkennung des Engagements der MA durch die Unternehmung

Von informeller Erleichterung über Gewährung flexibler Arbeitszeiten bis zu aktiver Zusammenarbeit mit Mittleragenturen

Einzelne Tage über das ganze Jahr verteilt

Einzelne MA

Aktionstage

Reparatur-, Reinigungs- oder Bauunterstützung bei gemeinnützigen Einrichtungen

Einmal jährlich, meistens 1 Tag

Einzelne MA bis zur ganzen Belegschaft

Individuelle und Teamentwicklungseinsätze

Einsätze in gemeinnützigen Institutionen als Fachunterstützung oder Hilfskraft

Einzelne Tage oder Wochen

Einzelne MA und Teams

grammen ist in Deutschland noch eher die Ausnahme, was sich allgemein auch bei den Auslösern für CC-Aktivitäten zeigt: externe Anfragen 60,5%, betriebliche Anlässe 37,7%. In die gleiche Richtung weisen die Resultate von Herzig (2006), der im Rahmen seiner Studie Corporate Volunteering in Germany: survey and empirical evidence unterschiedliche Dimensionen von CV in ihrer Häufigkeit beschreibt. Mit 31% werden die Initiativen und die Kontrolle von CV-Aktivitäten von den Mitarbeitenden getragen. Unternehmen sind mit 23% deutlich weniger oft in der leitenden Funktion. Auch bei der Regelmäßigkeit der Anwendung von CV verdeutlicht sich dieser Eindruck. Während 33% der befragten Unternehmen ihre Mitarbeitenden systematisch bzw. regelmäßig im Rahmen von unternehmensseitig initiierten CV-Aktivitäten freistellen, unterstützen 61% bereits bestehendes Engagement ihrer Mitarbeitenden mit zeitlichen bzw. finanziellen Ressourcen. Auch hier liegt die Initiative und Kontrolle der Aktivität hauptsächlich bei den einzelnen Mitarbeitenden und folgt nicht einer Strategie für die aktive und regelmäßige Gestaltung von CV-Aktivitäten seitens des Unternehmens. Die im Folgenden ausgewählten Befunde aus der Studie von Herzig (2006) geben weitere Informationen zum aktuellen Stand von CV in Deutschland sowie wichtiger Merkmalsdimensionen (Mehfachnennungen möglich): 4 Die befragten Großunternehmen weisen trotz ihrer globalen Ausrichtung der Geschäftstätigkeit schwer-

4

4

punktmäßig ein lokales bzw. regionales Engagement auf (76%). Mit knapp einem Zehntel liegt das internationale bzw. nationale Engagement deutlich hinter diesem Wert (s. auch Wegner, 2007). Hauptengagementfelder sind die Kinder- und Jugendförderung (76%) sowie die Förderung der Bildung (58%). Mit etwas mehr als 40% folgen der Sport, die Umwelt sowie die Unterstützung behinderter Menschen (s. auch Wegner, 2007). Der am meisten genannte Nutzen aus den zur Auswahl gestellten Antwortkategorien ist mit 85% die Entwicklung der Sozialkompetenz der Mitarbeitenden, dicht gefolgt von der Verbesserung des Unternehmensimage und einer Steigerung der Motivation der Mitarbeitenden (beides 74%).

Während Geld-/Sachspenden v. a. eine nach außen gerichtete Wirkung haben, ist dies bei CV-Aktivitäten um den Aspekt unternehmensinterner Interessen erweitert. Für das Unternehmen kann die Personal- und Organisationsentwicklung als eines der Hauptanliegen formuliert werden, während das Engagement den Mitarbeitenden die Gelegenheit zur beruflichen wie auch persönlichen Kompetenzentwicklung bietet. CV zeigt sich als Instrument für die Verwirklichung vielfältiger Motive und erhoffter Nutzenerwartungen. Es werden sowohl öffentlichkeits- und kunden- als auch personalbezogene Ziele verfolgt. Unternehmen sehen

17

352

Kapitel 17 · Bürgersinn

im Engagement die Möglichkeit zur aktiven Mitgestaltung des gesellschaftlichen Umfeldes, was mit dem »Aufbau sozialen Kapitals« (Habisch, 2003) auch begrifflich auf den Punkt gebracht wird. Nebst diesen vielfältigen Möglichkeiten sind auch die Umsetzungserfordernisse, wie z. B. Freistellungskosten und Koordinationsaufwand, oder die Motive der Beteiligten zu berücksichtigen. Insbesondere gilt es die Interessen sowohl des Unternehmens als auch der Mitarbeitenden zu kennen. Da dies bislang nur sehr schwach erforscht ist, thematisch jedoch nahe am Feld psychologischer Freiwilligenforschung liegt, werden im Folgenden Anknüpfungspunkte sowie weiterführende Fragestellungen formuliert. 17.3.4

17

Corporate Volunteering und psychologische Freiwilligenforschung

Wenn von Unternehmen und deren Verantwortung gegenüber der Gesellschaft bzw. unterschiedlichen Stakeholdern die Rede ist, dann sind immer auch die für die Unternehmensausrichtung verantwortlichen Personen angesprochen. Ob Geschäftsführer, HR-Manager oder Betriebsinhaber, es sind die Führungskräfte, welche Entscheidungen bezüglich verantwortungsvollen unternehmerischen Handelns (mit-)tragen müssen. Dabei stellt sich die Frage, mit welcher Entscheidungsgrundlage bzw. bezogen auf welche Motive sie dies tun und welche Auswirkungen es auf den Engagementprozess gibt. Wehner und Gentile (2007) können anhand der Resultate einer Befragung von schweizerischen Unternehmensrepräsentanten [Patron (Inhaber), Geschäftsführer und HR-Manager, n=103] zeigen, dass zum einen die betriebliche Funktion und zum anderen der Engagementbereich bei den Befragten zu unterschiedlichen sozialen Handlungsorientierungen (Geulen, 1977) führen. So weisen beispielsweise Inhaber im Vergleich zu den Managementvertretern eine sozialer ausgeprägte Handlungsorientierung auf. Das Management ist stärker an die Verwirklichung ökonomischer Interessen gebunden und verfügt über weniger Entscheidungsfreiheit und Legitimation für die Unterstützung gemeinnützigen Engagements, als dies bei Inhabern der Fall ist. Nebst den Entscheidungsträgern kommt bei CV den Mitarbeitenden bzw. deren Beteiligung als Freiwillige eine zentrale Rolle zu. Ein differenzierteres Wissen darüber, wer von der Belegschaft bei entsprechenden Pro-

jekten mitmacht und wer nicht, wer in der Freizeit bereits freiwillig tätig ist und wer nicht sowie welches förderliche organisationale Rahmenbedinungen sind, ist aus psychologischer Perspektive von großer Bedeutung. Erkenntnisse aus der Freiwilligenforschung, wie sie zu Beginn dieses Kapitels gezeigt wurden (7 Abschn. 17.2.3), erlauben hierfür interessante Vergleichs- und Transfermöglichkeiten: zum einen in Bezug auf die Gestaltung von Arbeit wie auch der Arbeitsbeziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, zum anderen bezüglich zu erwartender Wirkungen solcher Projekte auf die Motivation der Mitarbeitenden und deren Kompetenzentwicklung. Schließlich hat die Beantwortung dieser Fragen auch Einfluss auf das Unternehmen, d. h. dessen Entwicklung im Rahmen sich wandelnder Ansprüche und Erwartungen seitens unterschiedlicher Interessengruppen. 17.3.5

Kein Corporate Volunteering ohne individuelles Volunteering

Wir haben freigemeinütziges Engagement als zentralen Bestandteil einer Orientierung im sozialen Raum, d. h. von Bürgersinn herausgestrichen. Aus individualpsychologischer Perspektive hat sich gezeigt, dass die Fragen nach den Motiven für prosoziales Verhalten bzw. nach der motivierenden Wirkung gemeinnütziger Arbeit und deren Gestaltung am stärksten von der aktuellen Forschung aufgegriffen werden. Wie für das Konzept Corporate Volunteering exemplarisch gezeigt wurde, haben Erkenntnisse aus der Freiwilligenforschung auch für freigemeinütziges Engagement von Unternehmen ihre Relevanz. Aus dieser Perspektive ist freigemeinnütziges Engagement der »institutionellen Akteure« ohne die Bereitschaft zur freiwilligen Teilnahme der Mitarbeitenden nicht denkbar (7 Beispiel). Dementsprechend stellen sich auch hier die Fragen nach den Motiven für solche Engagementvorhaben bzw. deren jeweiliger Gestaltung. Die Beantwortung dieser Fragen sowie der Vergleich mit bestehenden Erkenntnissen aus der Freiwilligenforschung tragen so nicht nur zu einer Validierung vorhandener akademischer Konzepte und praxisorientierter Erfahrungsberichte bei. Sie erlauben auch die gezielte Weiterentwicklung und Gestaltung künftigen Engagements von Unternehmen unter Einbezug der Mitarbeitenden.

353 17.3 · Bürgerschaftliches Engagement von Unternehmen

Beispiel

Beeindruckt und überrascht von der Vielfalt an Engagementmöglichkeiten für Unternehmen, beschließt Herr Mäder, sich mit dem Personalvorstand zu unterhalten. Wie sich herausstellt, kennt der Personalvorstand bereits einige Engagementformen, wodurch es zu einem interessanten Ideen- und Meinungsaustausch kommt. Auf die Frage, ob sich die Geschäftsleitung ein Engagement vorstellen könnte, erhält Herr Mäder keine klare Antwort. Da sich die Firma künftig strategisch stärker auf nachhaltige Entwicklungsprojekte ausrichten wird, sehe man hierin bereits einen wertvollen Beitrag. Gegenüber Corporate-Citizenship-Projekten gebe es noch Vorbehalte. Herr Mäder, der noch keine Entscheidung getroffen hat, lässt sich die vergangenen Gespräche mit seiner Familie und den Arbeitskollegen sowie die Eindrücke aus der Literaturrecherche durch den Kopf gehen. Dabei wird ihm Folgendes klar: Seiner Familie und ihm ist

es stets gut gelungen, sich an ein neues Umfeld anzupassen und soziale Kontakte zu knüpfen. Wichtig war dabei immer, dass er bzw. die anderen Familienmitglieder in der Freizeit einer Tätigkeit nachgingen, welche sie als sinnvoll und ausgleichend erlebt hatten. Alles andere kam wie von selbst. Sein Beruf macht ihm immer noch viel Spaß, jedoch kommt angesichts zunehmender administrativer Aufgaben die ursprüngliche Tätigkeit als Maschinenbauer zu kurz. Mit dem Entwicklungsprojekt würde sich dies ändern. Unter dem Aspekt der Generativität betrachtet, ergibt sich hier sogar die Gelegenheit, sein langjähriges Know-how weiterzugeben und so das geringere Sinnerleben im Beruf auszugleichen. Herr Mäder entschließt sich nach einer letzten Runde im Familienrat dazu, das Angebot seiner Firma anzunehmen und so seinen Traum des Auslandsaufenthaltes zu verwirklichen.

Fazit Die Vielfalt der Phänomene des Bürgersinns lässt sich entlang der 3 Dimensionen Aktivität (Grad des konkreten persönlichen Involviertseins), Systemwirkung (erhaltend oder erweiternd) und Handlungskontext (z. B. Erwerbsarbeit bzw. Nichterwerbsarbeit) strukturieren. Dank internationaler Erhebungen und zahlreicher sozialpsychologischer Studien liegt bezüglich des freigemeinnützigen Engagements von Individuen eine umfassende Datenbasis vor. Von der Sozialpsychologie wurde individuelles Volunteering als prosoziales Handeln paradigmatisch erforscht; zur Erfassung der Motive Freiwilliger wurden vor dem Hintergrund eines funktionalen Ansatzes Instrumente entwickelt. Aus einer anwendungsorientierten Perspektive stellt sich der Bereich freigemeinnütziger Tätigkeiten nicht nur als mögliches Transferfeld dar, sondern wird zum Lernfeld, was Phänomene der Freiwilligkeit im Kontext der Erwerbsarbeit betrifft. Unter den Begriffen Corporate Social Responsibility und Corporate Citizenship werden vermehrt auch Organisationen, d. h. insbesondere Unternehmen,

mit Bürgersinn in Verbindung gebracht. Während die akademische Diskussion ethisch-normativ geprägt ist, liegt bei der praktischen Anwendung der Fokus auf entsprechenden Umsetzungshilfen. In beiden Bereichen fehlt es zurzeit an deskriptiv-empirischen Arbeiten. Der vorliegende Beitrag zeigt deshalb, wie der Erfahrungsschatz aus dem Bereich individuellen freiwilligen Engagements genutzt werden kann, um in Bezug auf das bürgerschaftliche Engagement von Unternehmen Forschungsfragen zu schärfen sowie erfolgskritische Faktoren zu identifizieren. Dem Leitsatz »Kein Corporate Volunteering ohne individuelles Volunteering« folgend, wird gezeigt, dass die Motive und Handlungsorientierungen der Mitarbeitenden sowie die organisationalen Rahmenbedingungen beim Corporate Volunteering eine entscheidende Rolle spielen. Die Beantwortung von Fragen nach den Beweggründen für die Teilnahme bzw. die Nichtteilnahme an Corporate-Volunteering-Projekten sowie von Fragen der Gestaltung entsprechender Vorhaben steht noch aus.

17

354

Kapitel 17 · Bürgersinn

Literatur

17

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17

18 18

Kontraproduktives Verhalten durch Schädigung öffentlicher Güter Erich Kirchler, Julia Pitters

18.1

Produktivität – Kontraproduktivität

18.1.1

Zur Bestimmung des Begriffs – 358

18.2

Soziale Dilemmata

18.3

Umweltschädliches Verhalten

18.4

Vandalismus

18.5

Wirtschaftskriminalität und Schattenwirtschaft

18.5.1 18.5.2

Wirtschaftskriminalität – 366 Schattenwirtschaft – 367

18.6

Steuerhinterziehung

18.6.1 18.6.2 18.6.3 18.6.4

Steuern als soziales Dilemma – 368 Perspektive der Nutzenmaximierung – 368 Psychologische Einflussfaktoren – 370 Integrierende Folgerungen – 373

18.7

Ausblick und Zusammenfassung Literatur

– 358

– 360 – 363

– 364

– 368

– 374

– 376

K. Moser (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie DOI 10.1007/978-3-540-71637-2_18, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007

– 366

358

18

Kapitel 18 · Kontraproduktives Verhalten durch Schädigung öffentlicher Güter

> Die einzige dauerhafte Form irdischer Glückseligkeit liegt im Bewußtsein der Produktivität. (Carl Zuckmayer, 1896–1977)

18.1

Produktivität – Kontraproduktivität

18.1.1

Zur Bestimmung des Begriffs

Unter Produktivität wird im weitesten Sinne die Summe produktiver Maßnahmen und Verhaltensweisen verstanden. Produktivität ist gleichzeitig die Voraussetzung für dauerhaftes Überleben von Organismen. Der Begriff findet in verschiedenen Disziplinen Verwendung: In der Ökologie wird die Fitness einer Spezies durch ihre Produktivität bestimmt (Townsend, Harper & Begon, 2003). In der Psychologie wird Produktivität mit Glück in Verbindung gebracht und dieses als grundlegende Handlungsmotivation angesehen. Erich Fromm definiert Produktivität als »die Realisierung der dem Menschen eigenen Möglichkeiten, also den Gebrauch der eigenen Kräfte« (Fromm, 1947, S. 59). In der Volks-

wirtschaftslehre wird unter Produktivität das (Mengen-) Verhältnis zwischen erzeugten Gütern und dafür investierten Mitteln verstanden (Stocker, 2004). Mit wachsender Produktivität steigt der Wohlstand. Das Gegenteil von Produktivität ist Destruktivität oder 7 »Kontraproduktivität«. Analog wird damit also die Summe kontraproduktiver Maßnahmen und Verhaltensweisen beschrieben. Kontraproduktivität würde aus ökologischer Perspektive nicht nur Stillstand, sondern Vernichtung bedeuten. Aus psychologischer Perspektive würde Kontraproduktivität die Zerstörung der eigenen Kräfte bezeichnen. Für die Volkswirtschaft würden kontraproduktive Handlungen zum Schwund von Wohlstand führen. Den genannten Definitionen zufolge müssten Menschen bestrebt sein, sich produktiv zu verhalten, da dauerhafte Unproduktivität zu Stillstand und Kontraproduktivität zu Verlusten führt. Definition Kontraproduktivität beschreibt die Summe kontraproduktiver Maßnahmen und Verhaltensweisen, die zur Schädigung öffentlicher Güter beitragen.

Beispiel

Fall 1. Heinrich K. ist selbständig. Er hat sich eine eigene kleine Softwarefirma aufgebaut. Das erforderte anfangs viel Mut und Durchhaltevermögen. Er steht unter dem zusätzlichen Druck, monatlich genug zu verdienen, weil er eine Familie zu versorgen hat. Nach 5 Jahren hat er es geschafft, einen ausreichenden Stammkundenkreis aufzubauen, der ihm die Einstellung von 2 Kollegen ermöglichte. Trotzdem bleibt kein Geld für große Urlaubsreisen oder ein neues Auto. Außerdem sind die Renovierung seiner Büroräume sowie eine neue Computerausstattung dringend notwendig. Anfang des Jahres erhält Heinrich K. einen Großauftrag: Dieses Geschäft würde ihm so viel bringen, dass er sein Büro komplett neu renovieren könnte. Wenn er diese Einnahmen dem Finanzamt meldet, wird er in eine höhere Steuerklasse eingestuft, und es bleibt nur noch die Hälfte des Geldes übrig. Er beschließt, die Summe von 38.000 EUR nicht dem Finanzamt zu melden. Die Steuerhinterziehung fliegt nicht auf.

Fall 2. Heinrich K. ist selbständig. … Da Heinrich K. in seinem Beruf sehr konzentriert sein muss, geht er gern

mit Freunden feiern. An einem Abend hat er viel getrunken. Auf dem Heimweg kommt er an einer abgelegenen Bushaltestelle vorbei und fragt sich, ob Glas so einfach bricht, wie man es immer in den Filmen sieht. Plötzlich montiert Heinrich K. einen Straßenpfosten ab und schlägt damit gegen die Scheibe der Bushaltestelle, so lange bis das Glas zerbricht. Ein dort parkender Bus und eine nahe stehende Telefonzelle sind seine weiteren »Testobjekte«. Am Ende wirft er Steine auf eine Ampel, bis das Licht ausgeht, und geht anschließend nach Hause. Die Zeitung berichtet über einen Sachschaden durch 7 Vandalismus in Höhe von 19.000 EUR. Der Täter ist unbekannt.

Fall 3. Heinrich K. ist selbständig. … Er überlegt, wie er zu dem nötigen Geld kommen kann, weil seine Firma in den nächsten Jahren nicht mehr abwerfen wird. Eines Nachts bringt er die wertvollen Dinge in Sicherheit und setzt seine Büroräume unter Wasser. Er meldet der Versicherung einen Wasserschaden durch Rohrbruch. Der Sachschadenwird auf 19.000 EUR geschätzt.DieVersicherung bezahlt. Der Versicherungsbetrug fliegt nicht auf.

359 18.1 · Produktivität – Kontraproduktivität

Dieses Kapitel beschäftigt sich einerseits mit den Ursachen von kontraproduktivem Handeln und andererseits mit der Frage, warum dieses Verhalten häufig gesellschaftliche Duldung erfährt. Zentrale Bedeutung kommt dem Begriff der Kontraproduktivität im Zusammenhang mit der Schädigung öffentlicher Güter zu. Zur thematischen Veranschaulichung wurden Fallbeispiele konstruiert (7 Beispielkasten). In jedem Beispiel ist der gleiche finanzielle Schaden entstanden. Welchen Fall beurteilen Sie am verwerflichsten? In welchem Fall können Sie sich am meisten mit Heinrich K. identifizieren und welches Strafmaß würden Sie in den einzelnen Fällen verhängen? Die gleichen Fragen wurden an Studierende einer Fachhochschule in Österreich gerichtet. Den 125 Teilnehmern wurde jeweils ein Fall vorgelegt. Sie bewerteten auf einer 6-stufigen Skala das Delikt als moralisch vertretbar oder verwerflich und gaben an, wie sehr sie sich mit dem Täter identifizieren können (1 = »unmoralisch« bzw. »geringe Identifikation«; 6 = »moralisch« bzw. »hohe Identifikation«). Zusätzlich wurde erhoben, welches Strafmaß sie auf einer 10-stufigen Skala von 1 = »keine Strafe« bis 10 = »mehr als 3 Jahre Freiheitsstrafe« angemessen fanden. Obwohl jeder Tatbestand den gleichen finanziellen Schaden beschreibt, wurden

die Fälle unterschiedlich beurteilt (. Abb. 18.1): Die Bewertung der Steuerhinterziehung unterscheidet sich in allen Dimensionen signifikant von den anderen Fällen [für die moralische Bewertung mit F(2,122) = 16,10, p < 0,01, η2 = 0,21; für die Identifikation mit dem Täter mit F(2,122) = 16,86, p < 0,01, η2 = 0,22, für das verhängte Strafmaß mit F(2,122) = 7,19, p < 0,01, η2 = 0,11]. Mit Vandalismus identifizierten sich die Teilnehmenden am wenigsten; diese Tat wurde auch als besonders unmoralisch bewertet. Mit dem Versicherungsbetrug identifizierten sich die Studierenden eher, bewerteten diesen auch als weniger unmoralisch, obwohl sie den Täter am härtesten bestrafen würden. Bei der Steuerhinterziehung hingegen war die Identifikation mit der beschriebenen Person am höchsten; die Tat wurde weniger als unmoralisch empfunden und vergleichsweise am mildesten bestraft. Ähnliche Ergebnisse ermittelten Orviska und Hudson (2002): Die Inanspruchnahme ungerechtfertigten Profits wird wesentlich negativer bewertet als die Hinterziehung von Steuern im gleichen Ausmaß. Die 3 Fälle demonstrieren, wie öffentliche Güter geschädigt werden und wie kontraproduktives Verhalten bewertet wird. »Heinrich K.« steht jeweils vor einem sozialen Dilemma.

. Abb. 18.1. Fallstudie: Mittelwerte (Standardabweichungen) zur moralischen Bewertung, Identifikation mit dem Täter und zum Strafmaß für die 3 Delikte

18

360

18

Kapitel 18 · Kontraproduktives Verhalten durch Schädigung öffentlicher Güter

18.2

Soziale Dilemmata

Definition Ein 7 soziales Dilemma beschreibt einen Konflikt, in dem die individuell gewinnbringende Handlung, würde sie von allen gewählt werden, für die Gesamtheit einen Verlust darstellt.

Zahlreiche Alltagssituationen, wie Müll trennen, Fahrschein lösen, Steuern zahlen, stellen soziale Dilemmata dar. Individuen stehen vor der Entscheidung, entweder sich einen eigenen Vorteil zu verschaffen und der Allgemeinheit zu schaden oder auf einen egoistischen Vorteil zu verzichten und der Allgemeinheit zu dienen. Wer öffentliche Verkehrsmittel benutzt, ohne zu bezahlen, profitiert. Wenn die Mehrzahl der Nutzer keinen Fahrschein löst, kann der öffentliche Verkehr nicht mehr finanziert werden und alle tragen die dadurch entstehenden Unannehmlichkeiten. Wer seine Steuern nicht ordnungsgemäß entrichtet, maximiert seinen Gewinn. Aber wieder würde das individuell-rationale Handeln aller oder einer Vielzahl von Bürgern für jeden Einzelnen einen Verlust bedeuten, wenn dadurch öffentliche Güter nicht länger zur Verfügung gestellt werden können. Soziale Dilemmata werden von Kahan und Rapoport (1974) als 2 gegensätzliche Arten von Rationalität bezeichnet: Nichtkooperation ist durch eine »individuelle« oder »egozentrische« Rationalität motiviert. Die daraus resultierenden Gewinne sind höher als jene einer kooperativen Entscheidung. Im Gegensatz dazu favorisiert die »kollektive« Rationalität Kooperation, da der eigene Profit bei Zusammenarbeit größer ist, als wenn niemand kooperiert. Soziale Dilemmata lasen sich anhand von 3 Charakteristika definieren (Dawes, 1980; Messick & Brewer (1983): 1. Eine nichtkooperative Entscheidung bringt demjenigen, der sie trifft, mehr Profit als eine kooperative Entscheidung. 2. Eine nichtkooperative Entscheidung ist für die Beteiligten, verglichen mit einer kooperativen Entscheidung, schädlicher. 3. Der entstandene aggregierte Nachteil für die beteiligten Personen durch eine nichtkooperative Entscheidung ist größer als der Profit des nicht kooperativen Beteiligten.

Einerseits können soziale Dilemmata als Beitrags-, andererseits als Entnahmesituationen beschrieben werden: 4 »Give-Some«- oder »Public-Good-Dilemmata« bedeuten, dass ein kollektiver Beitrag zu positiven Konsequenzen aller beteiligten Personen führt. Hierbei geht es um das Erreichen eines Kollektivgutes (Dawes, 1980). Der Einzelne entscheidet, zur Erhaltung dieses Gutes beizutragen oder dieses Gut als »Trittbrettfahrer« zu nutzen (Messick & Brewer, 1983). 4 »Take-some«- oder »Ressourcendilemmata« stellen eine Situation dar, in welcher Personen an einem öffentlichen Gut partizipieren. Extensive Nutzung des Gutes führt aber zu dessen Zerstörung. Wenn der Einzelne zu viel nimmt, besteht das Risiko der Übernutzung mit der Folge, dass das öffentliche Gut nicht länger verfügbar ist. Soziale Dilemmata stellen Individuen vor eine Entscheidung unter Unsicherheit. In der klassischen Entscheidungsforschung wird angenommen, dass Menschen rational handeln und bestrebt sind, ihren persönlichen Nutzen zu maximieren. Handelnde werden als rational kalkulierende Wesen beschrieben (Gravelle & Rees, 2004). Eduard Spranger prägte dazu den Begriff des »Homo oeconomicus« (Waschulewski, 2002). Experimente zum Verhalten in sozialen Dilemmasituationen basieren methodisch auf der Spieltheorie (v. Neumann & Morgenstern, 1944; Luce & Raiffa, 1957). Eingebettet in die neoklassische Wirtschaftstheorie basiert die Spieltheorie auf Axiomen, die zu logischen Präferenzordnungen und stabilen Entscheidungsregeln zur Erreichung des maximalen individuellen Nutzens führen. Reale Situationen sind jedoch häufig sehr komplex, während gleichzeitig die Möglichkeiten der Informationsbeschaffung und -verwertung beschränkt sind. Vernunftsgemäß kann folglich nicht von der besten, sondern nach Anwendung einfacher Verhaltensregeln von einer hinreichend befriedigenden Lösung ausgegangen werden (Gigerenzer, 1997). Die Prospect-Theorie beschreibt, wie die Axiome der Rationalitätstheorie verletzt werden können (Kahneman & Tversky, 1979, 1984). Im Unterschied zur klassischen Nutzentheorie wird in der Prospect-Theorie der Ausgang einer Entscheidung unter Unsicherheit nicht als absolute Größe kodiert, sondern als Gewinn oder Verlust in Bezug auf einen Referenzpunkt. Das Risikoverhalten wird anhand einer Wertfunktion abgebildet, die am Referenzpunkt einen

361 18.2 · Soziale Dilemmata

Knick aufweist und für Gewinne konkav und für Verluste konvex verläuft (. Abb. 18.2). Durch die Krümmung wird das psychophysikalische Prinzip abgebildet, dass ein Unterschied zwischen 0 und 50 als größer empfunden wird als ein Unterschied zwischen 500 und 550. Für Verluste verläuft sie jedoch steiler als für Gewinne, da ein Verlust von 50 EUR stärker gewichtet wird als ein Gewinn von 50 EUR. Werden Entscheidungen im Gewinnbereich gefällt, verhalten sich Menschen eher risikoavers. Sie bevorzugen einen sicheren kleineren gegenüber einem unsicheren größeren Gewinn. In Verlustsituationen hingegen verhalten sich Menschen eher riskant. Ein möglicher größerer Verlust wird einem sicheren kleineren Verlust vorgezogen. Übertragen auf soziale Dilemmata befinden sich Personen in einem Public-Good-Dilemma in einer Verlustsituation. Der sichere eigene Verlust kann auf Kosten eines größeren Verlustes für die Allgemeinheit wettgemacht werden. In diesem Fall ist unkooperatives Handeln naheliegend. Ein Ressourcendilemma könnte hingegen als eine Gewinnsituation beschrieben werden (Jerdee & Rosen, 1974). Personen müssten risikoavers agieren, um nicht zu riskieren, durch die extensive Nutzung oder Schädigung eines öffentlichen Gutes in eine Verlustsituation zu geraten. Wie kann die Bewertung der eingangs beschriebenen Fälle von Steuerhinterziehung, Vandalismus und Versi-

. Abb. 18.2. Wertfunktion der Prospect-Theorie

cherungsbetrug durch die Erkenntnisse aus der Prospect-Theorie analysiert werden? Im Fall der Steuerhinterziehung besteht die persönliche Wahl zwischen einem sicheren kleineren Verlust und einem eventuellen größeren Verlust. Letzterer würde sich aus den Konsequenzen fehlender Steuergelder ergeben, falls die Mehrheit der Steuerzahler weniger Abgaben entrichtet, bzw. dann drohen, wenn Kontrollen durchgeführt und Sanktionen verhängt werden. Nach der Prospect-Theorie würden sich Beteiligte entsprechend risikofreudig verhalten und den eigenen sicheren Verlust durch Hinterziehung trotz eines möglichen höheren Verlustes abwehren. Während der Fall der Steuerhinterziehung ein Public-Good-Dilemma darstellt, beschreiben Vandalismus und Versicherungsbetrug ein Ressourcendilemma. Eine Person hat keinen Schaden, könnte aber aufgrund einer ungesetzlichen Handlung einen Gewinn (in Form von Spaß oder Geld) erzielen. Nach der Prospect-Theorie wäre hier riskantes Verhalten unwahrscheinlicher, weil kein Verlust abzuwenden ist, sondern erst entstehen würde, wenn die illegale Handlung aufgedeckt und bestraft wird. In Übereinstimmung mit der Fallbeurteilung scheint nun Steuerhinterziehung rational, Vandalismus und Versicherungsbetrug wären hingegen eher vernunftwidrig. Bisher wurde das Verhalten in sozialen Dilemmasituationen als mehr oder minder rationale Entscheidung beschrieben. Tatsächlich ist nicht anzunehmen, dass Menschen immer Vor- und Nachteile abwägen und die für sie vorteilhafteste Option wählen. Neben Verhaltensanomalien spielen auch sozialpsychologische Faktoren wie Selbstkontrollprobleme, Emotionen, soziale Präferenzen und intrinsische Motivation eine Rolle (Frey & Benz, 2001). Ebenso determinieren Fairness, Normen und Altruismus ökonomisches Verhalten. Auch in der Ökonomie werden diese Aspekte vermehrt in die Forschung einbezogen: Fehr und Gächter (2000) unterscheiden z. B. zwischen positiven und negativen Reziprozitätsnormen. Sie zeigen anhand von Vertrauens- bzw. Ultimatumspielen, dass die Mehrheit ihrer Teilnehmer bereit ist, einen gerechten Beitrag zu leisten und umgekehrt das Verhalten anderer bei Missachtung zu bestrafen, ohne selbst davon zu profitieren. Wie auch in vielen anderen sozialen Beziehungen (Eltern-KindBeziehung, Paarbeziehung, Arzt-Patient-Beziehung) ist in ökonomischen Situationen Vertrauen in den Kooperationspartner notwendig (7 Info-Box). Wenn kein Ver-

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Kapitel 18 · Kontraproduktives Verhalten durch Schädigung öffentlicher Güter

trauen besteht, können selbst kooperative Personen unkooperativ werden, indem sie aus Fairnessgründen Egoisten bestrafen und entsprechend den eigenen Beitrag entziehen. Info-Box

Einfluss von Vertrauen auf ökonomische Entscheidungen Mit einer ungewöhnlichen Methode wiesen Kosfeld, Heinrichs, Zak, Fischbacher und Fehr (2005) den Einfluss von Vertrauen bei ökonomischen Entscheidungen nach: Sie zeigten, dass das Hormon Oxytocin Vertrauen in unsere Mitmenschen weckt. Hierzu führten sie in der Schweiz ein ökonomisches Vertrauensexperiment durch: Teilnehmern wurde entweder die Rolle eines Investors oder eines Treuhänders zugewiesen. Die Investoren verfügten zu Beginn des Versuchs jeweils über 12 Franken. Sie hatten die Möglichkeit, dem Treuhänder 0, 4, 8 oder 12 Franken zu übergeben, woraufhin der Betrag verdreifacht wurde. Im Idealfall besaß der Treuhänder somit am Ende 48 Franken. Den Gewinn konnte dieser entweder mit dem Investor teilen oder unfairerweise für sich selbst behalten. Sich dessen bewusst, musste der Investor zu Beginn des Experiments auf das Wohlwollen des anderen vertrauen. In der Experimentalgruppe inhalierten die Teilnehmer zuvor über ein im Handel erhältliches Nasenspray das Bindungshormon Oxytocin. Während in dieser Gruppe 45% der Probanden ihrem Gegenüber stark vertrauten und entsprechend den größten Geldbetrag überwiesen, taten dies in der Kontrollgruppe ohne Oxytocin nur 21%.

Dass diese über das Nutzenmaximierungsprinzip hinausgehenden Einsichten erst spät in den Wirtschaftswissenschaften aufgegriffen wurden, liegt mitunter an der Schwierigkeit, diverse Erkenntnisse in eine umfassende Metatheorie einzubetten. Die sozialpsychologische Herangehensweise, jedes neu auftauchende Phänomen mit einer Partialtheorie zu erklären, ist in der Ökonomie eher unbeliebt (Fehr, 2001). Menschen sind häufig nicht nur auf unmittelbare Fairness bedacht, sondern darüber hinaus bereit, Hilfe zu leisten ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Ehrenamtliche Tätigkeiten, Tierschutz oder humanitäre Hilfe sind Beispiele für diese Art selbstlosen Verhaltens. Eine

sozialpsychologische Erklärung für altruistisches Verhalten in Form von Hilfeleistung bietet die EmpathieAltruismus-Theorie von Batson (1991). Demnach hängt Hilfeleistung von der Empathie gegenüber einer hilfsbedürftigen Person ab: Ist die Empathie groß, wird uneigennützig geholfen, bei geringer Empathie wird nur dann geholfen, wenn es sich durch soziale oder materielle Belohnung auszahlt. Zur Gewährleistung öffentlicher Güter, die sich nicht durch den Markt regulieren lassen, ist die Bereitschaft zur Kooperation über den egoistischen Nutzen hinaus schließlich notwendig. Es stellt sich die Frage, ob die angeführten Determinanten von Kooperationsbereitschaft, wie Vertrauen oder Empathie, die sich auf Personen beziehen, ebenso auf öffentliche Güter anwenden lassen. Wenn Kooperationsbereitschaft durch Vertrauen in Personen gefördert wird, sollte sie ebenso durch Vertrauen in ein System (Organisation, Steuersystem, Umwelt) erzeugt werden können. Gleichermaßen verspricht die Empathie-Altruismus-Theorie dann Hilfsbereitschaft, wenn Empathie besteht. Demnach sollte »Hilfsbereitschaft« in Form von Kooperation zur Erhaltung eines öffentlichen Guts erzeugt werden, wenn die Institution, welche die Mittel zur Finanzierung der öffentlichen Güter sammelt, positiv bewertet wird. Die Voraussetzung für das Vorhandensein von Vertrauen oder Empathie besteht in dem Erkennen eines Austauschverhältnisses zwischen einer Person und einem System. Dabei verhindert vielfach die soziale Distanz, die beispielsweise zwischen einem Individuum und einem Finanzamt besteht, dass sich Personen einer möglichen Interdependenzbeziehung bewusst sind. Wenn kein Austauschverhältnis erkannt wird und sich entsprechend schädliche Konsequenzen, die sich aus unkooperativem Verhalten ergeben würden, nicht abschätzen lassen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich Menschen egoistisch und langfristig kontraproduktiv verhalten. . Tabelle 18.1 unterscheidet Dilemmasituationen und die schädlichen Folgen von nichtkooperativem Verhalten auf der Basis unterschiedlicher Systemebenen. Selbst auf Individualsystemebene lässt sich eine Dilemmasituation zwischen Geist und Körper beschreiben. Unterlassene »Kooperation mit dem Körper« würde sich in gesundheitsschädlichen Folgen äußern. Je komplexer die Austauschbeziehungen sind, desto schwieriger wird es, Beteiligte von kooperativem Verhalten zu überzeugen. Ein Beispiel ist das Verhältnis der Bürger zur Europäischen Union: Nach Ergebnissen des

363 18.3 · Umweltschädliches Verhalten

. Tab. 18.1. Dilemmata und Folgen von unterlassener Kooperation auf verschiedenen Ebenen

Systemebene

Interaktion zwischen …

Beispiel für nichtkooperatives Verhalten

Dilemma Individueller kurzfristiger Nutzen

Schädigende Folge

Individualsystem

Geist und Körper

Ungesunder Lebenswandel durch fehlende Bewegung; Missbrauch von Genussmitteln

Anstrengungsvermeidung; Spaß; Anerkennung

Kranker Organismus

Mikrosystem

2 Individuen

»Gefangenendilemma«; sich einen eigenen Vorteil zum Nachteil anderer verschaffen

Reduktion des eigenen Verlustes

Nichtkooperatives Verhalten beider führt zu schlechterem Ergebnis insgesamt

Mesosystem

Teilnehmern einer Gruppe

Vereinsbeitrag nicht bezahlen

Nutzung ohne eigene Kosten

Verein kann nicht lange bestehen

Makrosystem

Individuum und einem kollektiven System

Vandalismus; Umweltzerstörung; Steuerhinterziehung

Spaß; Bequemlichkeit; persönliche Bereicherung

Irreparable Schäden; Ressourcen verbrauchen sich

Eurobarometers (Europäische Kommission, 2006) schätzt die Mehrheit der Deutschen ihren Wissensstand über die EU als eher gering ein. Mehrheitlich falsch sind die Schätzungen über die Verteilung des EU-Budgets. Nur 42% der Deutschen und 46% der Europäer haben ein positives Bild von der EU. Noch geringer ist das Vertrauen in europäische Institutionen. Wenn Bürger weder über ausreichendes Wissen verfügen noch Empathie oder Vertrauen empfinden, ist es schwierig, sie von der Leistung eines Beitrags an die EU zu überzeugen. Um die Motive kontraproduktiven Handelns näher analysieren zu können, liegt der nachfolgende Fokus auf ausgewählten Delikten. 18.3

Umweltschädliches Verhalten

Darüber, wer die Welt erschaffen hat, läßt sich streiten. Sicher ist nur, wer sie vernichten wird. (George Adamson, 1906–1989)

Als umweltrelevantes Verhalten werden sämtliche Handlungen definiert, die sich lokal oder global, direkt oder indirekt auf die Umwelt auswirken (Homburg & Matthies, 1998). Es kann sich dabei um schädigende oder schützende Aktionen handeln. Diese können bewusst oder unbewusst ausgeführt werden. Als Beispiele für die derzeit bedrohlichsten Umweltprobleme sind die globale Klimaerwärmung, die Zerstö-

rung der Ozonschicht, die Ausbeutung natürlicher Ressourcen, die Überfischung der Meere, die Verschmutzung von Luft und Trinkwasservorräten oder die Auswirkungen toxischer Chemikalien (Kaiser & Fuhrer, 2003) zu nennen. Die gemeinsame Ressource »Natur«, stellt Menschen vor ein klassisches Ressourcendilemma. In diesem Fall wird unkooperatives Verhalten jedoch vielfach nicht sanktioniert, sondern beispielsweise von Arbeitgebern in Form von Mobiltelefonen (schädliche Strahlungen) oder Mobilität (vermehrter CO2Ausstoß) sogar vorausgesetzt. Die schädigenden Folgen des egoistischen Verhaltens, die möglicherweise erst nachfolgende Generationen treffen, sind den Handelnden häufig nicht bewusst. Die Definition von Produktivität bzw. Kontraproduktivität führt in diesem Zusammenhang zu einem Paradoxon: Aus ökonomischer Perspektive entsteht durch Produktivität Wachstum. Gleichzeitig zerstört Produktivität durch umweltschädigende Nebenwirkungen die Wachstumsgrundlage. Produktivität im ökonomischen Verständnis kann also gleichzeitig Kontraproduktivität im ökologischen Sinne bedeuten (Wiswede, 2000). Aus ökonomischer Sicht lässt sich dieses Problem nur lösen, wenn der Umwelt Besitzrechte zugesprochen werden und für die Nutzung von Ressourcen ein entsprechender Preis verlangt wird (Becker, 1976). Kritiker betonen jedoch, dass die Natur außer den nachfolgenden Generationen niemandem gehöre und

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Kapitel 18 · Kontraproduktives Verhalten durch Schädigung öffentlicher Güter

dementsprechend nicht vermarktet werden könne. Konzepte der Nachhaltigkeit, wie Projekte über regenerative Energieformen, zielen auf Lösungen, die sicherstellen, dass ökonomische Notwendigkeiten realisiert werden können, ohne die Umwelt nachfolgender Generationen zu schädigen. In der psychologischen Forschung reduziert sich die Analyse des Umweltdilemmas nicht auf externe Anreize. Vielmehr können Menschen auch intrinsisch zu Umweltschutz veranlasst werden, indem sie spezielle Umweltwerte ausbilden (Frey & Stutzer, 2006). Häufige Verwendung findet in diesem Zusammenhang die Theorie des geplanten Handelns (Ajzen, 1991): Umweltrelevantes Verhalten hängt nach dieser von 3 Faktoren ab: 4 der Einstellung gegenüber der Thematik, beeinflusst durch die erwarteten Konsequenzen des eigenen Verhaltens, 4 den subjektiven Normen und 4 der Überzeugung, dass genügend Ressourcen vorhanden sind, um umweltrelevantes Verhalten ausführen zu können. Mit Hilfe dieser Theorie konnte beispielsweise die Verkehrsmittelwahl von Studenten der Universität Gießen analysiert werden (Bamberg & Schmidt, 1993). Ein weiterer Erklärungsansatz ist das Normaktivierungsmodell von Schwarz (1973): Nach diesem Modell wird altruistisches Verhalten, das zum Umweltschutz notwendig ist, von der Aktivierung persönlicher Normen bestimmt. Mit persönlichen Normen werden internalisierte moralische Vorstellungen beschrieben, die situationsabhängig aus sozialen Normen abgeleitet werden. Soziale Normen werden als wahrgenommene Handlungserwartungen von bedeutsamen anderen, die durch soziale Interaktion gelernt wurden, definiert. Jedoch bedroht nur das Brechen der persönlichen Normen den Selbstwert. Die Aktivierung der persönlichen Normen führt zu einem aktuellen Gefühl der moralischen Verpflichtung zur Hilfeleistung, das sich positiv auch auf den Umweltschutz auswirken könnte. Dieses Verpflichtungsgefühl wird zusätzlich davon beeinflusst, welche Konsequenzen bei Erfüllung und welche bei Unterlassung zu erwarten sind, sowie der Zuschreibung der persönlichen Verantwortung. Das Modell wurde vielfach zur Erklärung umweltrelevanten Verhaltens herangezogen. Cialdini, Reno und Kallgren (1990) vermuteten eine Wirkung der Aktivierung von sozialen Normen auf das

Wegwerfverhalten. Sie unterscheiden dabei injunktive Normen (die Ansicht, welche Verhaltensweisen von anderen geschätzt werden) von deskriptiven Normen (die Wahrnehmung, wie sich andere tatsächlich verhalten). Der Einfluss injunktiver Normen wurde in einem bekannten Feldexperiment untersucht: In diesem wurden Scheibenwischer mit Flyern bestückt; die Besitzer der Autos waren Studenten, die gerade aus der Bibliothek zu ihrem Fahrzeug gingen. In der einen Bedingung lief ein Mann vorbei, der eine herumliegende Papiertüte aufhob und in den Mülleimer warf, in der anderen Bedingung blieb diese liegen. In der ersten Bedingung warfen nur 7% der Studenten den Flyer auf den Boden; in der zweiten Bedingung waren es 37%. Die Autoren der Studie schließen, dass injunktive Normen implizit Einfluss ausübten (Reno, Cialdini & Kallgren, 1993). Zur Aktivierung deskriptiver Normen zeigten Cialdini, Reno und Kallgren (1990), dass sich Menschen in einer sauberen Umgebung, in der ein einzelnes Müllstück herumliegt, noch ordentlicher als in einer durchweg sauberen Umgebung verhalten. Ein auffälliges Stück Abfall aktiviert deskriptive Normen, die Menschen dazu bringen, sich selbst vorbildlicher zu verhalten als der »Normbrecher«. 18.4

Vandalismus

Wie zu Beginn des Kapitels im zweiten Fallbeispiel demonstriert wurde (7 Abschn. 18.1.1), ist Vandalismus ein Beispiel für kontraproduktives Verhalten auf Makroebene. Der Begriff Vandalismus geht auf den französischen Bischof Henri-Babtiste Grégoire (1794) zurück, der erstmals mit diesem Wort die sinnlose Ermordung und Zerstörung von Kunstwerken durch radikale Jakobiner im Anschluss an die Französische Revolution beschrieb. Auch heute bezeichnet Vandalismus die im weitesten Sinne bewusste illegale Beschädigung oder Zerstörung fremden Eigentums, die unter dem Delikt »Sachbeschädigung« im Strafgesetzbuch verankert ist. Einen Streitfall bilden Graffitis, bei denen nicht klar ersichtlich ist, ob die dahinterstehende Motivation Ausdruck von Kunst oder Zerstörungswut ist. Definition Vandalismus bezeichnet die bewusste illegale Beschädigung oder Zerstörung fremden Eigentums.

365 18.4 · Vandalismus

Vandalismus verursacht in Deutschland jährliche Schäden von etwa 1 Mrd. EUR. Unter den Tätern befinden sich meistens Jugendliche und überwiegend Männer. Beschädigt werden v. a. Güter, die der Allgemeinheit dienen, wie Bahnhofseinrichtungen, Busse, Sitzpolsterungen in öffentlichen Verkehrsmitteln, Hausfassaden, Telefonzellen, Universitätsgebäude und Bibliotheken. Beschädigte Statuen oder Gebäude, beschmierte Wände und Müll strahlen wenig Sicherheit aus und können ihrerseits weitere vandalistische Akte provozieren. Problematisch sind dabei nicht nur die materiellen, sondern auch die sozialen Kosten. Vestermark und Blaufeld (1987) beschreiben, welche Vorfälle materielle und welche soziale Kosten verursachen. Beispielsweise bedeuten Schäden, die zu Schulausfall führen, sowohl materielle als auch soziale Kosten. Werden rassistische Graffitis an Wände gesprüht, verursacht dieses Verhalten in erster Linie soziale Kosten. Welche Motive vandalistischem Verhalten zugrunde liegen können, erörtert Goldstein (1996) anhand dreier verschiedener Theorien: 1. Zerstörerische Handlungen können anhand der Ästhetiktheorie (Allen & Greenberger, 1978) beschrieben werden: In der Ästhetikforschung gibt es eine Anzahl von Faktoren, die für ästhetische Erfahrungen verantwortlich gemacht werden. Nach den Autoren sollten genau diese Variablen auch Spaß an der Zerstörung eines Objekts hervorrufen. Die Hauptfaktoren sind dabei Komplexität, Vorhersagbarkeit und Neuheit. Personen widmen komplexen Objekten und Situationen mehr Zeit und genießen sie mehr. Einfache Objekte und Situationen hingegen erzeugen schnell Langeweile. Unerwartetheit und Neuheit von Ereignissen führen ebenso zu Überraschung und positiver Aufgeregtheit. Zur Überprüfung des Effektes von Unerwartetheit entwickelten Allen und Greenberger (1978) 2 Filme, in denen jeweils eine Sequenz das Zertrümmern von 4 Glasscheiben zeigte. Während in der Kontrollbedingung alle 4 Glasscheiben beim ersten Schlag zersprangen, musste in der Experimentalbedingung zur Zerstörung der vierten Scheibe mehrmals dagegengeschlagen werden. Teilnehmer wurden anschließend gefragt, wie sehr sie sich an dem Film erfreut haben. Der zweite Film wurde signifikant positiver bewertet als der erste. 2. Das Vandalismusphänomen, das v. a. häufig in Schulen auftritt, wird von Csikszentmihalyi und Larsen

(1978) mit der »Enjoyment Theory« analysiert: Mittels Tagebuchstudien fanden sie, dass sich Teenager in der Schule mehr langweilen als in jeder anderen Situation. Sie folgern, dass Schulvandalismus von 3 wesentlichen Faktoren abhängt: a) vom extrinsischen Belohnungs- und Bestrafungssystem (z. B. durch Noten), das ermutigt bzw. erzwingt, die Regeln zu befolgen, b) von der Glaubwürdigkeit des »Mittels zum Zweck«, wenn also der Glaube an ein erfolgreiches Leben durch gute Schulbildung verloren geht, und c) von der »Schule-macht-keinen-Spaß-Mentalität«, wenn die Schule weniger zu bieten hat als das, was kriminelle Aktivitäten versprechen. Die Theorie betont v. a. den dritten Aspekt, der die relative intrinsische Belohnung durch Vandalismus oder das Genießen von Vandalismus und anderen unsozialen Verhaltensweisen beschreibt. 3. Eine dritte Erklärung für vandalistisches Verhalten wird von Fisher und Baron (1982) mit der Gerechtigkeits-Kontroll-Theorie vorgenommen. Sie sehen das Motiv in wahrgenommener Ungerechtigkeit. Individuen versuchen, durch zerstörerisches Handeln subjektiv erlebte Gerechtigkeit herzustellen. Diese sozialpsychologische Theorie bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen wahrgenommener Ungerechtigkeit und der Fähigkeit, die Ungerechtigkeit zu kontrollieren. Von der wahrgenommenen Kontrolle hängt es ab, wie Personen einen Gerechtigkeitsausgleich herbeiführen: Ist die Kontrolle hoch, werden gesellschaftlich akzeptierte Mittel eingesetzt. Ist die empfundene Ungerechtigkeit hoch und die Kontrolle niedrig, folgen Passivität und Hilflosigkeit. Vandalismus ist dabei eine Art, das Gefühl der fehlenden Kontrolle zu kanalisieren. In einer amerikanischen Fragebogenstudie (De More, Fisher & Baron, 1988) wurde Studierenden erzählt, die Studie untersuche das Zusammenleben im Studentenheim. Tatsächlich aber zielten die Fragen (die teils auf die Inhalte abgestimmt waren) auf die Messung des Gerechtigkeitsempfindens und auf die Kontrollwahrnehmung ab. Im Anschluss folgten mehrere Items, in denen Studierende nach ihrem vandalistischen Verhalten in der Universität gefragt wurden. Mittels Regressionsanalyse fanden die Autoren einen signifikanten Zusammenhang zwischen Gerechtigkeitsempfinden,

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Kapitel 18 · Kontraproduktives Verhalten durch Schädigung öffentlicher Güter

wahrgenommener Kontrolle und Vandalismus: Studierende, die Ungerechtigkeit spürten und darüber geringe Kontrolle empfanden, tendierten eher zu Vandalismus als andere. Die beiden ersten Theorien postulieren einen hedonistischen, nutzenmaximierungsorientierten Ansatz. Dabei sieht die Ästethiktheorie die Ursachen für Vandalismus in der Beschaffenheit von zerstörbaren Gütern, während sich die Enjoyment Theory auf die Tätigkeit bezieht: Individuen randalieren, weil es ihnen im Vergleich zu anderen Alternativen am meisten Spaß macht. Die Gerechtigkeits-Kontroll-Theorie hingegen betont den Gerechtigkeitsaspekt. 18.5

Wirtschaftskriminalität und Schattenwirtschaft

18.5.1

Wirtschaftskriminalität

Wirtschaftskriminalität beschreibt ein komplexes Kriminalitätsfeld und nicht eine einzelne festgelegte Straftat oder eine klar abgrenzbare Ansammlung von Delikten. Ein wesentlicher Bestandteil ist die Unternehmerkriminalität. Sutherland (1949) ordnet diesem Begriff kriminelle Aktivitäten von Personen mit hohem sozialen Status zu, die ihre Position missbrauchen, indem sie Gesetze zu ihrem eigenen Vorteil missachten. Braithwaite (1994) beschreibt Wirtschaftskriminalität als das Verhalten von Kooperationen oder von deren Mitgliedern, das gesetzlich geächtet und strafbar ist. Die Vorteile illegaler Handlungen dienen dabei nicht dem individuellen Profit, sondern Organisationszielen. Aus Profitgier, zur Kostensenkung, Unterhaltung eines Schwarzmarkts oder um einen Rivalen außer Gefecht zu setzen, nehmen Unternehmen beispielsweise Umweltverschmutzung, finanzielle Bestechung, zweifelhafte Arbeitsverhältnisse und den Vertrieb unsicherer Produkte in Kauf. Der Wirtschaftskriminalität werden strafrechtlich Delikte zugeordnet, die im Rahmen tatsächlicher oder vorgetäuschter wirtschaftlicher Betätigung begangen werden und über die Schädigung des Einzelnen hinaus das Wirtschaftsleben beeinträchtigen oder die Allgemeinheit schädigen. Zu diesen zählen z. B. Gründungsschwindel, Insolvenzdelikte, Buchführungsdelikte, Betrug, Untreue, Produktpiraterie, Bestechung, Vorteils-

nahme, Computerkriminalität, Insiderhandel, Subventionsbetrug, Geldwäsche und Steuerhinterziehung. Wirtschaftskriminalität bedeutet für die Gesellschaft nicht nur hohe finanzielle Kosten, sondern kann auch beispielsweise durch Verbreitung eines unsicheren Produkts gesundheitsschädliche Folgen mit sich bringen. Simpson (2002, S. 14) spricht in diesem Zusammenhang sogar von dem vielleicht »gefährlichsten Verbrechen der Welt«. Wirtschaftskriminalität kann Unternehmen in zweifacher Hinsicht treffen: Sie können entweder durch interne oder externe Täter zu Opfern werden oder selbst von kriminellen Straftaten gegen andere ökonomisch profitieren. Wird ein Delikt jedoch aufgedeckt, können die Folgen für ein Unternehmen verheerend sein. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Pricewaterhousecoopers führte in Zusammenarbeit mit der Universität Halle-Wittenberg Befragungen mit Zuständigen für Kriminalprävention und -aufklärung durch. 3634 Unternehmen aus 34 Ländern wurden zum Thema Wirtschaftskriminalität befragt. Beinahe die Hälfte der Unternehmen weltweit waren zwischen 2003 und 2005 Opfer eines Wirtschaftsdelikts. Die Zahl der Vergehen nahm in jüngster Vergangenheit deutlich zu. Der jährliche Schaden für betroffene deutsche Unternehmen betrug im Durchschnitt 3,4 Mio. EUR (Nestler & Salvenmoser, 2005). Die individuellen Ursachen für die kriminellen Handlungen wurden von den befragten Experten in 3 Faktoren gesehen: 4 Faktor Anreiz (zu aufwendiger Lebensstil, Unzufriedenheit, berufliche Enttäuschung), 4 Faktor Gelegenheit (unzureichende interne Kontrollen, Zusammenarbeit von Unternehmensmitgliedern und Externen) und dem 4 Faktor Rechtfertigung (mangelndes Werte- und Unrechtsbewusstsein, Leugnung der finanziellen Konsequenzen für das Unternehmen). Ähnliche Motive führt auch Fetchenhauer (1998) in Bezug auf Versicherungsbetrug an. Simpson (2002) beschreibt Möglichkeiten, gegen Wirtschaftskriminalität anzukämpfen: In einer umfangreichen Analyse schlägt sie als Alternative zu der wenig wirkungsvollen »Verfolgung und Bestrafung« Methoden vor, die auf soziale Kontrolle abzielen und die Beschämung der Kriminellen durch die Bekanntmachung der Unternehmen und der Akteure in der Öffentlichkeit propagieren.

367 18.5 · Wirtschaftskriminalität und Schattenwirtschaft

18.5.2

Schattenwirtschaft

Definition 7 Schattenwirtschaft wird als Oberbegriff für alle wirtschaftlichen Tätigkeiten angesehen, die außerhalb der statistisch erfassten Wirtschaft stattfinden.

Um das heterogene Feld der Schattenwirtschaft näher zu bestimmen, unterscheiden Enste und Schneider (2005) zwischen einem offiziellen und einem inoffiziellen Sektor. Im offiziellen Sektor finden Aktivitäten wie öffentliche Wirtschaft, öffentliche Haushalte und Privatwirtschaft statt, die staatlich verwaltet und besteuert werden können. Zum inoffiziellen Sektor gehören alle privatwirtschaftlichen Aktivitäten, die zwar zur Wertschöpfung beitragen, jedoch nicht in die Berechnung des Bruttoinlandsproduktes mit eingehen. Problematisch ist die Zuordnung von Tätigkeiten zur Schattenwirtschaft, wenn es um ehrenamtliche Arbeit geht, die zwar legal ausgeübt wird, jedoch nicht offiziell erfasst werden kann. Ebenso problematisch sind Nachbarschaftshilfe oder die punktuelle Aushilfe bei Reinigungsarbeiten oder Kinderaufsicht. Gleichermaßen umstritten wie die Begriffsdefinition ist die Messung der Schattenwirtschaft. Enste und Schneider (2005) versuchen unter Anwendung diverser Methoden den weltweiten Anteil zu bestimmen. Da direkte Methoden wie Befragungen häufig nur sozial erwünschte Ergebnisse liefern, basieren ihre Messungen zusätzlich auf einem monetären Ansatz, der davon ausgeht, dass Schattenwirtschaftsaktivitäten aus Gründen fehlender Transparenz mit Bargeld abgewickelt werden. Dabei wird von einer normalen Entwicklung des Bargeldbedarfs ohne Schattenwirtschaft ausgegangen. Die Bemessungsgrundlage stellt schließlich die Differenz zwischen dem für das Bruttoinlandsprodukt erforderlichen und dem tatsächlichen Bargeldumlauf. . Tabelle 18.2 zeigt eine Übersicht der geschätzten Schattenwirtschaft in den OECD-Ländern für 2005 (Schneider, 2006). Der geringste Anteil an Schattenwirtschaft wird in den USA, in der Schweiz, Österreich und Japan vermutet. Seit 1990 wurde jedoch für alle Länder ein Zuwachs registriert. In Entwicklungsländern macht der Anteil geschätzter Schattenwirtschaftsaktivitäten meist mehr als die Hälfte des gesamten Bruttoinlandsprodukts aus. Wenn, wie eingangs postuliert, Koopera-

. Tab. 18.2. Schattenwirtschaft in 21 OECD-Ländern für 2005. (Aus Schneider, 2006, S. 15)

OECD-Länder

Schattenwirtschaft in Prozent des offiziellen BIP, 2005

USA Schweiz Österreich/Japan Neuseeland Niederlande/Großbritannien Australien Frankreich Kanada Irland Deutschland Dänemark Finnland Schweden Norwegen Belgien Portugal Spanien Italien Griechenland Durchschnitt über 21 OECD-Länder

8,2 9,0 10,3 11,7 12,0 12,6 13,8 14,3 14,8 15,4 16,5 16,6 17,5 17,6 20,1 21,2 21,3 24,4 27,6 15,6

tionsbereitschaft von Vertrauen bestimmt wird, so scheint das Vertrauen der Menschen in den Ländern, in denen die meisten Schattenwirtschaftsaktivitäten vermutet werden, in ihren Staat sehr gering zu sein. Afrikanische Länder, die weltweit durch die meisten ernsthaften Krisen bedroht sind (Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung, 2006), sind ein treffendes Beispiel. Auch wenn Schattenwirtschaft insgesamt über die Jahre zugenommen hat, behaupten die meisten Bürger, nicht involviert zu sein. In einer australischen Studie wurden mehr als 1000 Bürger befragt, ob sie Schwarzarbeit in Anspruch nehmen würden. Mehr als 90% gaben an, nichts damit zu tun zu haben. Nur 8% gaben zu, in einem der Jahre 2000 oder 2002 diese beansprucht zu haben, und nur 2% beichteten, in beiden Jahren in Schwarzarbeit involviert gewesen zu sein. Von Schwarzarbeitsaktivitäten wird wenig und eher flexibel Gebrauch gemacht. Personen, die anführten, in Schwarzarbeit verwickelt zu sein, hatten zusätzlich weniger moralische Vorbehalte gegenüber Steuerhinterziehung als andere (Braithwaite, Schneider, Reinhart & Murphy, 2003). Einen konkreten Fall von Schattenwirtschaft stellt die Hinterziehung von Einkommenssteuern dar. Für das

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Kapitel 18 · Kontraproduktives Verhalten durch Schädigung öffentlicher Güter

eingangs angeführte Beispiel (7 Abschn. 18.1.1) wurde mehr Verständnis aufgebracht als für Vandalismus oder Versicherungsbetrug. Der nachfolgende Abschnitt beschäftigt sich mit einer detaillierten Ursachenanalyse. 18.6

Steuerhinterziehung

18.6.1

Steuern als soziales Dilemma

Die Forderung von Einkommenssteuerzahlungen stellt Bürger vor ein soziales Dilemma: Steuerpflichtige können entweder hinterziehen und den individuellen Verlust vermeiden oder den geforderten Beitrag an den Staat leisten. Letzteres würde sich durch die Bereitstellung öffentlicher Güter unter der Voraussetzung auszahlen, dass alle ehrlich sind. Um die eigennützige Variante weniger attraktiv zu machen, wird Hinterziehung durch die Gesetzgebung bestraft, sofern sie durch Kontrollen aufgedeckt werden kann. Es gibt mehrere Möglichkeiten, Steuern zu vermeiden. Aus makroökonomischer Sicht spielt es jedoch keine Rolle, ob dem Staat das Geld fehlt, weil Steuern illegal hinterzogen werden, weil sie durch Abschreibung und Nutzen von Schlupflöchern umgangen werden oder weil sie aufgrund von Steuerflucht, also dem Anlegen des Geldes in »Steueroasen« wie Monaco oder Liechtenstein, nicht gezahlt werden. In jedem Fall bedeutet die Vermeidung von Abgaben generell und von Steuern speziell eine Reduktion des Staatshaushaltes. Aus individueller Perspektive machen Steuerumgehung, -flucht und -hinterziehung einen deutlichen Unterschied: Anhand von 3 Szenarien, in denen jeweils ein Fall von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung und Steuerflucht beschrieben wurde, zeigten Kirchler, Maciejovsky und Schneider (2003), dass Teilnehmer zwischen diesen 3 Formen deutlich unterschieden. Steuerhinterziehung wurde mit Illegalität, Strafe und dem Risiko, kontrolliert zu werden, assoziiert. Bei Steuerflucht wurde v. a. an die legale Intention, Steuern zu sparen, und an die Kosten des Standortwechsels gedacht. Steuerumgehung wurde hingegen mit Legalität und Cleverness in Verbindung gebracht. In allen Fällen wurde Steuervermeidung kaum negativ bewertet. Aus makroökonomischer Sicht ist es ebenso gleichgültig, aus welchen Gründen Menschen Steuern zahlen, solange die Steuergelder zur Verfügung stehen. Aus individueller Perspektive lassen sich hingegen unterschied-

liche Motive definieren: McBarnet (2001) unterscheidet eine »committed compliance« (Steuerzahler bezahlen freiwillig) von einer »capitulative compliance« (Steuerzahler geben den Widerstand gegen Steuerzahlungen auf und zahlen) und einer »creative compliance« (Steuerzahler definieren die Auflagen innerhalb der Gesetze zu ihren Gunsten). Die Bedeutung des Interaktionsverhältnisses zwischen Steuerzahlern und Finanzbehörde wird abschließend diskutiert. Zunächst wird die Perspektive des Steuerzahlers fokussiert. 18.6.2

Perspektive der Nutzenmaximierung

Wie schon in Bezug auf soziale Dilemmata diskutiert wurde, geht das ökonomische Standardmodell davon aus, dass Individuen und Gruppen ihren Nutzen maximieren, indem sie Steuern reduzieren. Das von Allingham und Sandmo (1972) entwickelte Modell der Steuerhinterziehung beginnt mit der Annahme, dass Steuerzahler die Wahl zwischen 2 Alternativen besitzen: Sie können entweder das wahre Einkommen angeben oder weniger angeben, als sie tatsächlich verdienen. Bei der zweiten Alternative hängt der Nutzen davon ab, ob das Finanzamt das Vergehen entdeckt. Falls die fehlenden Angaben unentdeckt bleiben, verspricht die zweite Möglichkeit mehr Gewinn. Finden jedoch eine Steuerprüfung und Sanktionen statt, ist der Verlust größer. Die Theorie geht davon aus, dass Steuerzahler die beiden möglichen Ausgänge gegeneinander abwägen und jene Option auswählen, die den größten Profit verspricht. Zur Abwägung ihrer Entscheidung ziehen Steuerpflichtige nach der ökonomischen Standardtheorie v. a. die Kontrollwahrscheinlichkeit und das Strafmaß heran. In zahlreichen Laborexperimenten wurde der Einfluss von Kontrollen und Strafen überprüft. In einer Studie von Slemrod, Blumenthal und Christian (2001) wurde an 1700 zufällig ausgewählte US-amerikanische Bürger ein Brief versendet, in dem zeitnahe Steuerkontrollen angekündigt wurden. Zusätzlich erhielten die Bürger die Information, dass sowohl die aktuellen als auch vorangegangene Steuererklärungen überprüft würden. Eine Kontrollgruppe erhielt keinen Brief. Es zeigte sich, dass Klein- und Mittelverdiener, die ein Schreiben mit Kontrollankündigung erhalten hatten, ihre Steuer-

369 18.6 · Steuerhinterziehung

zahlungen im Vergleich zum Vorjahr erhöhten. Die Gruppe der besser Verdienenden hingegen zahlte unerwartet sogar weniger Steuern. Mason und Calvin (1978) konnten ebenfalls einen signifikanten Zusammenhang zwischen wahrgenommener Prüfwahrscheinlichkeit und der Bereitschaft, Steuern zu zahlen, nachweisen. Gërxhani und Schramm (in press) verglichen unter Berücksichtigung verschiedener Berufs- und Einkommensgruppen den Einfluss der Kontrollwahrscheinlichkeit auf die Zahlbereitschaft albanischer und niederländischer Teilnehmer. Während in den Niederlanden die Kontrollwahrscheinlichkeit die Steuerehrlichkeit beeinflusste, wurde in dem postkommunistischen Albanien kein signifikanter Unterschied gefunden. Wärneryd und Walerud (1982) fanden in einer schwedischen Telefonbefragung keinen Effekt. Spicer und Thomas (1982) variierten die Prüfwahrscheinlichkeiten in einem experimentellen Setting über 24 Spielrunden, in welchen Steuern zu zahlen waren. In den ersten 8 Runden betrug die Prüfwahrscheinlichkeit 5%, im mittleren Drittel stieg sie auf 25% und in den letzten 8 Runden sank sie auf 15%. Eine andere Gruppe wurde ohne exakte Wahrscheinlichkeitsangaben nur über geringe, hohe und mittlere Kontrollwahrscheinlichkeiten informiert. Eine weitere Gruppe erhielt keine Informationen über die Kontrollwahrscheinlichkeit. Die Steuerehrlichkeit stieg wie erwartet mit der Prüfwahrscheinlichkeit an. Präzise Information hatte einen stärkeren Effekt als vage Information. Insgesamt waren die Effekte jedoch gering. Friedland, Maital und Rutenberg (1978) zeigten, dass hohe Strafen im Vergleich zu geringen die Bereitschaft, Steuern zu deklarieren, erhöhten, auch wenn die Prüfwahrscheinlichkeit proportional vermindert wurde. Baldry (1987) konnte jedoch keinen Einfluss der Strafhöhe auf die Deklarationsbereitschaft nachweisen. Die sich vielfach widersprechenden Forschungsergebnisse lassen keinen eindeutigen Schluss zu, ob der Einfluss der Strafhöhe größer ist oder der Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden. Aufgrund einer Analyse von 8 Studien, die in den USA und der Schweiz durchgeführt wurden, schließen Pommerehne und WeckHannemann (1992), dass der Warneffekt, den Strafhöhe und Prüfwahrscheinlichkeit besitzen, wenn überhaupt vorhanden, sehr gering ist (siehe auch Andreoni, Erard & Feinstein, 1998). Das rationale Entscheidungsmodell trifft bezüglich Einkommenshöhe keine eindeutigen Vorhersagen.

Auch hier zeigen Studien unterschiedliche Ergebnisse: Während Pommerehne und Weck-Hannemann (1996) anhand einer Schweizer Stichprobe zunehmende Hinterziehungstendenzen bei steigendem Einkommen feststellten, fanden Park und Hyun (2003) bei koreanischen Steuerzahlern keinen Einfluss der Einkommensklassen auf die Steuerehrlichkeit. Die Annahme, dass Individuen ökonomisch vernünftige Entscheidungen treffen, muss auch im Steuerkontext eingeschränkt werden, da menschliche Informationsverarbeitungsfähigkeiten limitiert sind. Die Komplexität von Situationen veranlasst Menschen auch bei Steuerentscheidungen dazu, kognitive Heuristiken heranzuziehen, die oftmals zu inkonsistenten Bewertungen führen (McCaffrey & Baron, 2004). Zur Erforschung von Verhaltensanomalien im Steuerkontext wird die Prospect-Theorie häufig angewandt: Kirchler und Maciejovsky (2001) zeigten beispielsweise, dass sich Personen bei erwarteten Steuerrückzahlungen ehrlicher und somit weniger riskant verhielten als bei befürchteten Nachzahlungen. Aus Sicht der Finanzbehörden könnte das Problem der Steuerhinterziehung zwar durch jährliche Kontrollen gelöst werden, der bürokratische Aufwand wäre jedoch nicht finanzierbar. In Wahrheit liegt die Wahrscheinlichkeit, einer Steuerprüfung unterzogen zu werden, beispielsweise in den USA bei weniger als einem Prozent (Alm, Jackson, & McKee, 2004). Alternativ könnten besonders hohe Strafen verhängt werden, so dass sich durch den schwerwiegenden Verlust bei einer Kontrolle Hinterziehung nicht mehr lohnt. Die Differenz zwischen denen, die es treffen würde, und jenen, die hinterziehen, ohne entdeckt zu werden, ließe jedoch die Strafe überproportional hoch erscheinen. Zugleich würde die Wahrscheinlichkeit steigen, dass Betroffene weitere Steuern hinterziehen, um den erlittenen Schaden zu kompensieren. Simpson (2002) berichtet, dass Wirtschaftskriminalität, seit es vermehrte Fahndungen gibt, sogar zugenommen hat. Alm, Sanchez und deJuan (1995) fordern die Regierungen auf, die Kontrolle des Steuersystems nicht nur auf Strafen und Überprüfungen zu reduzieren. Vielmehr bedarf es eines facettenreichen Ansatzes, der sowohl positive Verstärker bei größerer Zahlbereitschaft verspricht als auch die soziale Verpflichtung von Steuerzahlungen betont. Die unterschiedlichen Befunde von ökonomischen Einflussfaktoren auf die Steuerehrlichkeit, die sich so-

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Kapitel 18 · Kontraproduktives Verhalten durch Schädigung öffentlicher Güter

wohl bei Verwendung unterschiedlicher als auch gleicher Methoden ergeben, die differierenden Länderergebnisse und die beschränkten Möglichkeiten der Informationsverarbeitung lassen die Annahme, dass Steuerzahlungen ausschließlich durch Nutzenmaximierung motiviert sind, zweifelhaft erscheinen. Zudem stellt sich die Frage, warum bei einer derart geringen Prüfwahrscheinlichkeit nicht wesentlich mehr Steuern hinterzogen werden. 18.6.3

Psychologische Einflussfaktoren

Um eine Einkommenssteuererklärung abgeben zu können, muß man Philosoph sein, es ist zu schwierig für einen Mathematiker. (Albert Einstein, 1879–1955)

Wie bereits dargestellt wurde, stellen Steuerforderungen Steuerpflichtige vor ein soziales Dilemma. Die Voraussetzung aber, dass Steuerzahler die Situation als Dilemma bewerten, wird nur durch ausreichendes Wissen über Steuern erfüllt. Steuergesetze sind überaus komplex, und das Wissen darüber ist als gering einzustufen. Da immer neue globale Entwicklungen zu berücksichtigen sind, deren Auswirkungen sich in Gesetzen nicht klar abbilden lassen, werden die Grenzen zwischen dem, was sie legalisieren bzw. unter Strafe stellen, immer schwieriger zu durchschauen. Für OECD-Länder besteht nicht nur die Schwierigkeit, einheitliche Steuergesetze zu definieren, sondern auch, sie einheitlich zu interpretieren. Schmölders zeigte bereits 1959 anhand einer Befragung von deutschen Politikern des Finanzministeriums, dass selbst diese wenig Wissen über die Steuergesetze besaßen. Die Schwierigkeit, Steuergesetze zu verstehen, wird zusätzlich durch formale Strukturen erschwert. Deutsche Gesetzestexte wurden von Moser (1994) einer sprachwissenschaftlichen Analyse unterzogen. Er kam zu dem Schluss, dass der hohe Abstraktionsgrad der Sprache, die Länge und Kompliziertheit der Sätze und die Benutzung von Abkürzungen einen fachfremden Leser überfordern. Eine Stichprobe von 2000 australischen Steuerzahlern wurde von Sakurai und Braithwaite (2003) nach ihrem Wissen über Steuern befragt. Mehr als ein Drittel der Befragten gaben an, sich nicht kompetent genug zu fühlen, um die Einkommenssteuererklärung selbst zu erledigen. Ein Viertel schrieb sich nur ein wenig Kompe-

tenz zu, und nur 12% behaupteten, in diesem Bereich sehr kompetent zu sein. In einer Studie von Kirchler, Maciejovsky und Schneider (2003) wurde das objektive Wissen über Steuern bei Finanzbeamten, Wirtschaftsstudenten, Wirtschaftsanwälten und Unternehmern anhand eines Multiple-Choice-Tests untersucht, welches sie mit erhobenen Fairnesseinstellungen zu Steuerumgehung, Steuerflucht und Steuerhinterziehung korrelierten. Finanzbeamte schnitten dabei am besten ab, gefolgt von Wirtschaftsstudenten und Wirtschaftsanwälten. Unternehmer erzielten die schlechtesten Ergebnisse. Für Wirtschaftsanwälte und Unternehmer zeigte sich außerdem, dass ein profundes Steuerwissen positiv mit der wahrgenommenen Fairness gegenüber Steuerumgehung korrelierte. Für die Stichprobe der Finanzbeamten galt hingegen, dass Steuerumgehung mit zunehmendem Wissen eher verurteilt wurde. Steuergesetze kaum zu verstehen, bedeutet eine Einschränkung der Entscheidungsfreiheit und kann reaktantes Verhalten auslösen (Pelzmann, 2006). Äußert sich Reaktanz nicht in Steuerumgehung, gerade weil die Möglichkeiten dazu aufgrund mangelnden Wissens nicht vorhanden sind, kann sie sich gleichermaßen in einer negativen Einstellung gegenüber Steuern manifestieren. Tatsächlich wird der Steuerbegriff nicht automatisch mit positiven Assoziationen verknüpft. In einer österreichischen Studie untersuchte Kirchler (1998), welche Einstellungen gegenüber Steuern vorhanden sind. Er ließ dazu 171 Arbeiter, Angestellte, Beamte, Unternehmer und Studenten frei ihre Gefühle und Gedanken zu diesem Begriff beschreiben. Auf diese Weise wurden 1003 Assoziationen produziert, die sich in 547 verschiedenen Wörtern abbilden ließen. Die verschiedenen Assoziationen wurden kategorisiert und die Häufigkeiten wurden mittels Korrespondenzanalyse ausgewertet. Während Selbstständige und Unternehmer den Steuerbegriff v. a. mit einer Behinderung der Arbeit, Bürokratie und Intransparenz sowohl der Gesetze als auch der Verwendung öffentlicher Gelder in Verbindung brachten, kritisierten Arbeiter eher die Regierung und die Politiker allgemein. Jedoch waren sich die Arbeiter ebenso der öffentlichen Güter bewusst, die sie durch die Steuergelder erhielten. Angestellte sahen in Steuern eine Sicherung des sozialen Wohlstands und nannten Steuerzahlungen ein notwendiges Übel. Beamte wiederum bewerteten Steuergelder als Chance für einen sozialen Ausgleich. Sie sahen aber gleichzeitig

371 18.6 · Steuerhinterziehung

die Möglichkeit, dass sich Steuersünder bereichern könnten. Schließlich dachten Studenten, die am wenigsten mit Steuerzahlungen konfrontiert waren, an Theorien und technische Konzepte, erwähnten Namen von Politikern, Comicfiguren oder sinnlose Worthülsen. Insgesamt überwog der Anteil negativer Assoziationen deutlich. Jeder erwartet vom Staat Sparsamkeit im Allgemeinen und Freigiebigkeit im Besonderen. (Anthony Eden, 1897–1977)

Als weiterer Aspekt bleibt zu hinterfragen, welche sozialen Repräsentationen Steuerzahler über den Begriff »Staat« besitzen, an den sie ihre Abgaben entrichten und von dem sie gleichermaßen profitieren. Inkonsequenterweise sind die meisten Menschen zwar für eine Senkung der Steuern, gleichzeitig aber für die Erhöhung der Staatsausgaben (Kirchler, 2003; Tyszka, 1994). Zur Untersuchung sozialer Repräsentation gegenüber Steuerzahlern ließ Kirchler (1998) Teilnehmer einen »typischen Steuerzahler«, einen »ehrlichen Steuerzahler« und einen »unehrlichen Steuerzahler« bewerten. Der ehrliche Steuerzahler wurde erwartungsgemäß am positivsten und als hart arbeitende intelligente Person angesehen. Der typische Steuerzahler hingegen wurde am negativsten bewertet und für dumm und faul befunden. Überraschend ist v. a., dass Steuersünder eher als fleißig und intelligent bewertet wurden. Steuerhinterziehung wird also weniger als kriminelles Delikt, sondern vielmehr als clevere Handlung angesehen. Lewis (1979) zeigte, dass Einstellungen zu Steuern mit der Höhe des Einkommens zusammenhängen: Menschen mit höherem Einkommen hatten eine negativere Einstellung gegenüber Steuern insgesamt und progressiven Steuerraten im Besonderen. Sie empfanden Steuerumgehung fairer als Personen mit niedrigem Einkommen und forderten dafür entsprechend geringere Strafen. Negative Einstellungen gegenüber Steuern können ebenso aus wahrgenommener Ungerechtigkeit resultieren. Wenn die Steuergesetze so komplex sind und nur die Reichen es sich leisten können, die Schlupflöcher durch die Hilfe von Steuerberatern zu entdecken, fühlen sich gewöhnliche Steuerzahler durch das System benachteiligt. Wie aber sollte eine gerechte Besteuerung aussehen? Wir können die Besteuerung niemals populär, aber wir können sie fair machen. (Richard Milhous Nixon, 1913–1994)

Mit dieser Frage befasste sich beispielsweise eine Studie von Roberts, Hite und Bradley (1994). Sie befragten Teilnehmer einmal auf abstrakte Weise nach ihren Präferenzen hinsichtlich progressiven Steuerraten (bei denen die Steuerrate mit wachsendem Einkommen steigt) und einer »Flat Tax« (Einheitssteuer, bei der die Steuerrate in allen Gehaltsstufen gleich ist) sowie einer progressiven gegenüber einer regressiven Besteuerung (bei der die Steuerrate bei steigendem Einkommen sinkt). Bei dieser Art von Fragestellung wurde die progressive Besteuerung (75%) der Flat Tax und diese der regressiven Besteuerung vorgezogen. In einer anderen Bedingung bekamen die Teilnehmenden folgende Beispiele vorgelegt: 1. »Andy und Bob sind gleich alt. Andy hat ein zu versteuerndes Einkommen von 40.000 $ pro Jahr. Bob verdient 20.000 $ im Jahr. In Hinblick auf die Fairness, wie viel sollte Ihrer Meinung nach Andy mehr zahlen als Bob?« 2. »Frank hatte im letzten Jahr ein zu versteuerndes Einkommen von 16.000 $. In diesem Jahr hat er den Job gewechselt und verdient 24.000 $. In Hinblick auf die Fairness, wie viel mehr Einkommenssteuern sollte Frank in diesem Jahr bezahlen?« Im ersten Beispiel sprachen sich nur 12% für eine progressive Steuerrate aus, während 61% meinten, Andy sollte doppelt so viel zahlen wie Bob. Es fanden sogar 27%, dass eine regressive Steuerrate am fairsten sei; Andy solle zwar mehr als Bob zahlen, aber nicht doppelt so viel. Auch im zweiten Beispiel favorisierten nur 18% eine progressive Steuerrate und zwei Drittel eine Flat Tax. Diese Untersuchung zeigt, dass eine progressive Steuerrate häufig missverstanden wird: Personen glauben, dass progressive Besteuerung bedeutet, mehr zu zahlen, aber nicht, dass sich die Prozentanteile erhöhen. Mit Fairnessüberlegungen beschäftigte sich schon Schmölders (1960). In seiner Studie befanden drei Viertel der deutschen Steuerzahler, ihre Steuerlast sei zu hoch, während ein Viertel die Abgaben als angemessen einstufte. Schmölders (1975) glaubt, dass eine Steuerrate von 50% das absolute Maximum dessen sei, was Menschen akzeptieren. In der sozialpsychologischen Gerechtigkeitsforschung werden 3 Formen von Gerechtigkeit unterschieden: 4 Unter distributiver oder Verteilungsgerechtigkeit werden der gerechte Austausch von Ressourcen und

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Kapitel 18 · Kontraproduktives Verhalten durch Schädigung öffentlicher Güter

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der Ausgleich von Aufwendungen und Profit verstanden (Walster, Walster & Berscheid 1978). Hierbei finden Gerechtigkeitsprinzipien wie Gleichheitsprinzip, Bedürfnisprinzip oder Beitragsprinzip Anwendung. Prozedurale Gerechtigkeit bezieht sich auf den Prozess eines Verfahrens (Lind & Tyler 1988). Als gerecht wird der Ausgang eines Prozesses erlebt, wie z. B. die Bestrafung eines Täters oder die Belohnung bei besonderer Leistung. Retributive Gerechtigkeit beschreibt die Angemessenheit von Sanktionen bei Verletzung von Normen (Hassebrauck, 1985).

Die Steuergesetzgebung muss sich mit der Frage beschäftigen, welches der gängigen Gerechtigkeitsprinzipien angewendet werden soll. Das Gleichheitsprinzip würde von jedem den gleichen Betrag, gewissermaßen eine Kopfsteuer fordern und scheidet nach unserer Gesetzeslage aus. Das Bedürfnisprinzip stellt Grundbedürfnisse in den Mittelpunkt. Demnach dürften Menschen nur so besteuert werden, dass die Befriedigung von Grundbedürfnissen gewährleistet ist. Dieser Forderung wird dadurch nachgekommen, dass es ein steuerfreies Grundgehalt gibt. Nach dem Beitragsprinzip müssten Steuerzahlungen von dem Beitrag abhängen, den eine Person fähig ist, dem Staat zu leisten. Ein gutes Gehalt, das durch besondere Leistung verdient wurde, dürfte demnach nicht durch entsprechend hohe Steuerforderungen bestraft werden. In Realität wird diesem Prinzip durch einen Grenzsteuersatz Rechnung getragen (Porschke & Witte, 2002). Werden die bisher angeführten Aspekte resümiert, kann festgehalten werden, dass die Steuergesetze undurchschaubar und die spontanen Assoziationen zu Steuern entsprechend negativ sind. Bei längerem Nachdenken sehen Personen jedoch die Notwendigkeit der Existenz von Steuergeldern, äußern Bereitschaft, diese zu zahlen, und sind im konkreten Fall sogar für das Beitragsprinzip, indem sie die Flat Tax gerechter finden als die progressive Besteuerung. Steuerumgeher werden paradoxerweise als clever angesehen. Es stellt sich dann aber die Frage, warum diese »clevere Handlung« von den meisten Steuerpflichtigen unterlassen wird? Nach der Theorie des geplanten Verhaltens (Fishbein & Ajzen, 1975) und der Theorie des überlegten Handelns (Ajzen, 1991) sind die besten Prädiktoren für das Auftreten einer geplanten freiwilligen Handlung, in diesem Fall

Steuern zu zahlen, die Einstellung gegenüber dieser Verhaltensweise, subjektive Normen und die Wahrnehmung, das Verhalten kontrollieren zu können. Auch wenn erstere negativ ist, würden ebenso Normvorstellungen und die Möglichkeit zur Hinterziehung eine Rolle spielen. Die unterschiedlichen Befunde in verschiedenen Ländern legen nahe, dass sowohl kulturelle Werte und soziale Normen als auch Moralvorstellungen die Deklarationsbereitschaft beeinflussen. Normen müssen auf unterschiedlichen Ebenen betrachtet werden: Auf der Individualebene handelt es sich um internalisierte Standards, auf einer sozialen Ebene beziehen sie sich auf Verhaltensweisen in sozialen Gruppen und auf kollektiver oder nationaler Ebene werden Normen schließlich zu kulturellen Standards, die sich in Gesetzen oder Traditionen widerspiegeln. Anhand eines Feldexperiments zeigte Wenzel (2005), dass es im Steuerkontext eine klare Unterscheidung zwischen injunktiven Normen und deskriptiven Normen gibt. Steuerzahler unterstellen also anderen, Steuern zu hinterziehen, und glauben, dass andere dieses Verhalten angemessen finden. Sie selbst hingegen verurteilen dieses Verhalten. Er ließ eine Zufallsstichprobe von australischen Steuerzahlern sowohl einen Fragebogen ausfüllen, in dem sie ihre persönliche Sichtweise bezüglich Ehrlichkeit und Steuerreduzierungen erläutern sollten, als auch einen, in dem sie angewiesen wurden, das Verhalten anderer Steuerzahler einzuschätzen. Einige Wochen später erhielt eine Gruppe die Rückmeldung, dass die Diskrepanz zwischen den eigenen injunktiven Steuerzahlnormen und denen anderer geringer ist als eingeschätzt. Zwei Gruppen bekamen diese Information nicht und stellten die Kontrollgruppen dar. Eine davon hatte auch den Fragebogen nicht bekommen. Nach Erhebungsschluss wurde durch die Finanzbehörde Einsicht genommen, welche Steuerzahlungen aus den jeweiligen Stichproben eingegangen waren: Die Manipulationen beeinflussten tatsächlich das Steuerzahlverhalten: Die Gruppe, in der injunktive Normen aktiviert waren, forderte signifikant weniger Steuererleichterungen für über die Arbeit hinausgehende Aufwendungen ein. Diese Ergebnisse legen nahe, dass nicht nur soziale Normen, sondern auch das Verstehen des Verhaltens anderer Steuerzahler wichtig für die eigene Steuereinstellung sind. Schließlich bleiben Moralvorstellungen zu berücksichtigen, die sich in der Definition nur schwer von Normen trennen lassen.

373 18.6 · Steuerhinterziehung

Man soll seine Steuern dem Staat zahlen, wie man seiner Geliebten einen Blumenstrauß schenkt. (Novalis, 1772–1801)

Steuermoral würde auf einem aggregierten gesellschaftlichen Level die intrinsische Motivation, Steuern zu zahlen, beschreiben. Braithwaite und Ahmed (2005) bezeichnen Steuermoral als die internale Verpflichtung, Steuern abzuführen. Wird Steuermoral als soziale Repräsentation verstanden, kann sie als das soziale geteilte Wissen, die geteilten Annahmen über und die Bewertung von Steuerangelegenheiten angesehen werden. Das Konzept der Steuermoral wurde von Strümpel (1966, 1969) und später auch von Frey und Eichenberger (2002) untersucht: Insgesamt wurde gefunden, dass eine hohe Steuermoral mit der freiwilligen Bereitschaft, Steuern zu zahlen, korreliert und auf einer Makroebene, dass hohe Steuermoral in einem Land negativ mit Schattenwirtschaft korreliert. Torgler (2003) analysierte Daten aus dem »World Value Survey« und konnte demonstrieren, dass Vertrauen in die Regierung und Religiosität einen positiven Einfluss auf die Steuermoral ausüben. Torgler (2005) berichtet auch, dass Steuermoral in Lateinamerika niedriger ist, wenn Personen andere kennen, die ebenfalls hinterziehen oder davon gehört haben. Umgekehrt argumentieren Lamnek, Olbrich und Schaefer (2000), dass Arbeit und Erfolg fundamentale Werte der christlichen Tradition seien. Reichtum wird als Resultat aus harter Arbeit angesehen. Demzufolge könnten Schattenwirtschaftsaktivitäten auch als Tugend statt als Sünde betrachtet werden: Zu behalten, was man ehrlich verdient hat, wird als weniger kriminell angesehen, als sich an Gütern zu bereichern, die man nicht besitzt. Dieser Ansatz würde sich ebenso zur Erklärung der unterschiedlichen Bewertung der eingangs angeführten Fälle (7 Abschn. 18.1.1) anbieten. Die Bereitschaft, Steuern zu zahlen, scheint von diversen Faktoren abzuhängen. In diesem Abschnitt wurden sowohl ökonomische Annahmen wie Prüfwahrscheinlichkeit und Strafhöhe als auch psychologische Faktoren wie Wissen über Steuergesetze und die Verwendung der Steuergelder, soziale Repräsentationen, Einstellungen, Normen und Moralvorstellungen sowie Gerechtigkeitsüberlegungen behandelt. Nachfolgend wird versucht, die vorangegangenen Überlegungen in einem Modell zu integrieren.

18.6.4

Integrierende Folgerungen

Ein hoher und dabei friedliebender Steuerzahler ist immer für den ministeriellen Standpunkt der angenehmste Staatsbürger. (Otto von Bismarck, 1815–1898)

Obwohl weniger Steuern hinterzogen werden als nach der ökonomischen Standardtheorie anzunehmen wäre, haben die Schattenwirtschaftsaktivitäten in den letzten Jahren zugenommen. Bei der Ursachenanalyse bleiben psychologische Variablen wie Einstellungen, Gerechtigkeitswahrnehmungen, soziale Normen und Moralvorstellungen in der ökonomischen Theorie weitgehend unberücksichtigt. Vernachlässigt wurde außerdem das Verhältnis zwischen Steuerzahler und Finanzamt. Bisher lag der Fokus v. a. auf der Perspektive des Steuerzahlers. Steuerpflichtige stehen jedoch mit dem Finanzamt in einem Interaktionsverhältnis. Diese Tatsache erschwert die Analyse zusätzlich, weil auch die Perspektive der Finanzbehörden zu berücksichtigen ist. Nutzenmaximierung aus der Perspektive des Finanzamtes würde bedeuten, die effizienteste »Geldeintreibungsmethode« zu wählen. Wenn die Finanzbehörden den Eindruck haben, dass Steuerzahler nur versuchen, ihren eigenen Nutzen zu maximieren, würden auch sie eine »Räuber-und-GendarmMentalität« entwickeln. Sie würden danach trachten, den Räuber zu fangen und das Fehlverhalten zu bestrafen. Steuerhinterzieher auf der anderen Seite würden ihrerseits versuchen, raffinierte Strategien zu entwickeln, um nicht belangt zu werden. Um Menschen bei ökonomischen Entscheidungen zu Kooperation zu bewegen, bedarf es des Vertrauens in Institutionen und Behörden. Dass Vertrauen seitens der Finanzbehörden nicht vollständig vorhanden ist, zeigen sie durch ihre Kontrollen. Umgekehrt vertrauen Steuerpflichtige nicht immer in die Kompetenzen der Finanzbehörden. Das österreichische Finanzministerium versucht aktuell, mit einer Kampagne für Vertrauen zu werben, in der einmal umgekehrt die vom Staat fälschlich beanspruchten Gelder aufgedeckt werden sollen. Hierbei werden die Steuerzahler aufgefordert, ihre zu viel bezahlten Gelder wieder zurückzuholen. Folgt man der Empathie-Altruismus-Theorie (Batson, 1991), würde Empathie zwischen dem Finanzamt und dem Steuerzahler die Entscheidung für die Leistung eines kollektiven Beitrags positiv beeinflussen. Damit Finanzbehörden Empathie ausstrahlen, müssten sie ein

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Kapitel 18 · Kontraproduktives Verhalten durch Schädigung öffentlicher Güter

Kundenverhältnis entwickeln und Qualität anbieten. Steuerzahler könnten daraufhin freiwillig zu kooperieren beginnen, unter der Voraussetzung, dass die Steuergesetze verständlich und transparent und die Steuerzahlbedingungen fair sind. Mehr Überzeugung und Aufklärung von Seiten der Steuerbehörden fordert auch Braithwaite (2003). Sie sollten nicht in dem Stereotyp des feindlichen Finanzamtes verharren, das lediglich versucht, Steuerwidrigkeiten aufzuspüren und hart zu bestrafen. Die Involvierung des Volkes in politische Entscheidungen würde nach Meinung von Kirchgässner, Feld und Savioz (1999) die Sensibilisierung für das Allgemeinwohl stärken und zu Kooperationsbereitschaft beitragen. Unter allen Ländern bietet die Schweiz ihren Bürgern die weitestgehenden Möglichkeiten, durch und über ihre Gesetze direkt mitzubestimmen. Die geringen Schattenwirtschaftsaktivitäten wären Indiz für eine höhere Kooperationsbereitschaft. Wenn also Vertrauen in und Empathie für die Finanzbehörden gering sind, kann nur durch starke Macht der Behörden Kooperation erzwungen werden. Ist das Vertrauen in die Behörden hoch, ist weniger Macht notwendig, weil Steuerpflichtige ohnehin freiwillig kooperieren. Das folgende Modell von Kirchler (2007) veranschaulicht die vorhergehenden Annahmen (. Abb. 18.3).

. Abb. 18.3. Erzwungene versus freiwillige Kooperation in Abhängigkeit von der Macht der Steuerbehörden und dem Vertrauen in den Staat

18.7

Ausblick und Zusammenfassung

Es stellt sich abschließend die Frage, ob dieses für den Steuerkontext entwickelte Modell auch auf andere behandelte Bereiche, in denen es zu Kontraproduktivität kommt, wie Versicherungsbetrug, Vandalismus oder umweltschädigendes Verhalten, anzuwenden ist. Hierzu muss die Interaktion zwischen dem Individuum und dem für das öffentliche Gut Zuständigen betrachtet werden: Im Fall des Versicherungsbetrugs besteht eine Interaktion zwischen der Versicherung und den Versicherten. Da sich Versicherungen im Gegensatz zum Finanzamt jedoch in einer Konkurrenzsituation befinden, müssen sie automatisch ein Vertrauensverhältnis zu ihren Kunden aufbauen. Ihre Machtausübung ist begrenzt, weil Kunden sonst die Versicherung wechseln können. Zur Förderung der Kooperationsbereitschaft, im Sinne eines Verzichts auf unangemessene Versicherungsforderungen, muss eher das Verhältnis zu den anderen Versicherten betont werden, beispielsweise durch Schaffung einer gemeinsamen Identität. Fetchenhauer (1998) entwickelte zur Analyse der Ursachen von Versicherungsbetrug ein umfassendes Modell. Durch eigene empirische Studien begründet, integriert er in seinem Modell sowohl rationale Annahmen als auch differenzielle und situationsbezogene Aspekte. Er folgert

375 18.7 · Ausblick und Zusammenfassung

u. a., dass die Wahrscheinlichkeit zu betrügen maßgeblich von der konkreten Situation und der moralischen Bewertung der eigenen Handlung bestimmt wird, und schlägt als Präventionsmaßnahme vor, die moralischen Schranken zu erhöhen. Im Fall von Vandalismus ist es schwieriger, eine Interaktion zwischen öffentlichen Gütern, wie Bushaltestellen, Museen oder Statuen, und den Nutzern zu beschreiben, da die Zuständigen, wie Stadt, Kirche oder Staat, schwer zu personalisieren sind. Eine verwahrloste Umgebung besitzt dennoch Aufforderungscharakter zu kriminellen Handlungen (Goldstein, 1996). Sie vermittelt fehlende Sicherheit und fehlenden Schutz. Feindliches Verhalten kann hier durch mangelndes Vertrauen hervorgerufen werden und muss durch das Gesetz sanktioniert werden. Würden die Zuständigen durch Instandhaltung und Betonung des Nutzens und der Schönheit dieser Güter Vertrauen wecken, könnte leichter Kooperationsbereitschaft erzielt werden. Ein interessantes Phänomen zeigte sich in diesem Zusammenhang bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland: Während aufgrund dieses emotionalen Ereignisses vermehrte Ausschreitungen und Vandalismus erwartet wurden, verlief die Weltmeisterschaft auffallend friedlich. Die permanente positive Berichterstattung vermittelte während dieser Zeit ein derart großes Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen allen Fußballinteressierten, dass der Staat als Initiator freundschaftlicher als zuvor erlebt wurde und somit wenig Interesse be-

stand, ihn durch Vandalismus und andere Delikte zu schädigen. An Stellen mit eindeutig zugeordneten Kompetenzen besteht leichter die Möglichkeit, ein empathisches Vertrauensklima hervorzurufen und dementsprechend unkooperatives Verhalten abzuwehren. Beim Umweltschutz ist dieses durch das Fehlen eines Verantwortlichen am schwierigsten. Zwar haben sich dieser globalen Problematik Organisationen wie Greenpeace angenommen, Umweltsünden werden jedoch nur dort verurteilt, wo eindeutig durch das Verhalten einer Person oder Gruppe ein direkt spürbarer Schaden entsteht. Aufsehenerregende Einzelfälle, wie beispielsweise das Stranden eines Öltankers an einer touristisch genutzten Küste, bringen mehr Sanktionen mit sich als identische Ölverluste irgendwo auf dem Ozean, obwohl aus ökologischer Perspektive beides gleichermaßen zu verurteilen wäre. Die kritische Auseinandersetzung der reicheren Länder mit Umweltsünden, die in der Vergangenheit begangen wurden, als die Natur vornehmlich besiegt und nicht geschützt werden musste, zeigt jedoch, dass sich die Umwelt in der westlichen Kultur ein immer freundlicheres und schützenswerteres »Image« verschafft hat. Die Möglichkeiten der modernen Berichterstattung könnten helfen, Menschen das Umweltdilemma vor Augen zu führen und durch Betonung einer lebensnotwendigen Austauschbeziehung Kooperationsbereitschaft auch auf dieser Ebene zu fördern.

Fazit Dieses Kapitel befasst sich mit kontraproduktivem Verhalten und der Schädigung öffentlicher Güter. Identische Schäden werden je nach eingesetztem Mittel von Bürgern unterschiedlich bewertet. Zur Erklärung muss eine individuelle Perspektive eingenommen werden: Wenn Personen vor der Wahl stehen, sich für einen persönlichen oder gemeinschaftlichen Nutzen zu entscheiden, sind sie mit einem sozialen Dilemma konfrontiert. Soziale Dilemmata lassen sich auf allen Interaktionsebenen finden. Der Komplexitätsgrad verhindert oftmals, dass sich Menschen eines Dilemmas bewusst sind. Aus ökonomischer Sicht entscheiden sich Individuen, beeinflusst durch einen Gewinn- oder Verlustkontext, für die scheinbar gewinnbringendste Handlung. Die Nutzenmaximierungstheorie vernach6

lässigt jedoch auch Faktoren wie Fairness, Vertrauen und Altruismus und muss daher durch weitere Theorien ergänzt werden. Als Beispiele für Kontraproduktivität werden umweltschädliches Verhalten, Vandalismus, Wirtschaftskriminalität und Schattenwirtschaft anhand verschiedener Theorien erörtert. Das soziale Dilemma der Einkommenssteuer wird explizit aus ökonomischer und psychologischer Perspektive beleuchtet. Nach dem ökonomischen Standardmodell der Steuerhinterziehung werden Steuerpflichtige lediglich durch Kontrollen und Strafen vom Hinterziehen abgehalten. Von rationalen Entscheidungen kann jedoch nur ausgegangen werden, wenn ausreichendes Wissen über Steuergesetze, Strafmaß und Kontrollwahrscheinlichkeiten vorhanden ist. Dieses Wissen ist allgemein als

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Kapitel 18 · Kontraproduktives Verhalten durch Schädigung öffentlicher Güter

gering einzustufen. Des Weiteren verfügen Menschen über soziale Repräsentationen von Staat und Steuern, die überwiegend negativ sind. Bei der Einstellung zu Steuern hängt es zusätzlich davon ab, welche Assoziationen gerade aktiviert werden. Fragt man nach spontanen Assoziationen, sind die Reaktionen ablehnend, stellt man eine grundsätzliche Sinnfrage zur Existenz von Steuergeldern, ist die Mehrheit von der Notwendigkeit überzeugt. Steuerzahler erwarten eine gerechte Verteilung der Steuerlasten. Wie schwierig die Definition von Gerechtigkeit in diesem Zusammenhang ist, zeigt sich bei der Wahl des besseren Steuersystems. Teilnehmer einer Befragungsstudie zogen Begriffe wie prozedurale Gerechtigkeit vor. Im konkreten Fall sprachen sie sich aber für eine Flat Tax aus. Die Tatsache, dass die Ergebnisse im Ländervergleich differieren, spricht für einen Einfluss von kultu-

Die Autoren danken Pia Christina Kirchler für die kritische Lektüre einer früheren Version dieses Beitrags.

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rellen Aspekten auf die Bereitschaft, Steuern zu zahlen. Diese lassen sich ebenso anhand verschiedener injunktiver und deskriptiver Normen wie andersartiger Moralvorstellungen erklären. Um die verschiedenen Befunde zu integrieren, wird ein Ansatz gewählt, der die Interaktionsform zwischen Steuerzahler und Finanzbehörde berücksichtigt: Ist das Vertrauen in die Finanzbehörde hoch, kann eine freiwillige Kooperationsbereitschaft erzielt werden. Ist das Vertrauen in die Finanzbehörde gering, kann Kooperation nur durch die Kontroll- und Bestrafungsmacht erzwungen werden. Das interaktive Modell von Kirchler (2007) könnte gleichermaßen für andere Bereiche, in denen es zu Kontraproduktivität kommt, angewendet werden, auch wenn beispielsweise beim Umweltschutz durch fehlende Zuständigkeiten das Verhältnis nicht offensichtlich ist.

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19 19

Berufliche Selbstständigkeit Günter F. Müller

19.1

Bedeutung einer psychologischen Betrachtungsweise

19.2

Psychologische Erklärungen beruflich selbstständigen Verhaltens – 381

19.2.1 19.2.2 19.2.3 19.2.4

Frühkindliche Prägungen und Sozialisation – 381 Persönlichkeitsspezifische Dispositionen – 383 Selbstständigkeitsrelevante Kernkompetenzen – 384 Entwicklung von Absichten für eine selbstständige Erwerbstätigkeit

19.3

Erfolgsfaktoren beruflicher Selbstständigkeit

19.3.1 19.3.2 19.3.3

Erfolgsindikatoren – 387 Erfolgsunterstützende Faktoren – 388 Erfolgsabträgliche Faktoren – 391

19.4

Förderung beruflich selbstständigen Verhaltens

19.4.1 19.4.2

Ausbildung – 393 Weiterbildung und Beratung

19.5

Perspektiven einer psychologischen Betrachtungsweise Literatur

– 380

– 386

– 387

– 393

– 393

– 396

K. Moser (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie DOI 10.1007/978-3-540-71637-2_19, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007

– 395

380

19

Kapitel 19 · Berufliche Selbstständigkeit

> Sir Winston Churchill wird folgende Äußerung zugeschrieben: »Es gibt Leute, die halten den Unternehmer für einen Wolf, den man totschlagen müsse. Andere meinen, der Unternehmer sei eine Kuh, die man ununterbrochen melken könne. Nur wenige sehen in ihm das Pferd, das den Karren zieht …« Die Äußerung lässt Widersprüchlichkeiten im Bild selbstständig oder unternehmerisch tätiger Menschen erkennen, die auch heute noch weit verbreitet sind. Dass stereotype, einseitige Sichtweisen der Realität beruflicher Selbstständigkeit nicht gerecht werden, ist bei differenzierter Betrachtung rasch erkennbar. Ein ausgewogeneres Bild vermitteln auch psychologische Erkenntnisse, um die es in diesem Kapitel gehen wird.

19.1

Bedeutung einer psychologischen Betrachtungsweise

Berufliche Selbstständigkeit ist ein Forschungsgegenstand, dessen psychologische Untersuchung in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht hat (vgl. Moser, Batinic & Zempel, 1999; Müller, 2000a; Lang-von Wins, 2004; Baum, Frese & Baron, 2007). Als Thema der Wirtschaftspsychologie besitzt dieser Forschungsgegenstand bereits eine gewisse Tradition (vgl. Lang-von Wins & Kaschube, 2007). Inzwischen gibt es jedoch auch profunde Beiträge aus anderen Disziplinen der angewandten Psychologie (Müller, 2003, 2004a). Das Besondere einer psychologischen Betrachtungsweise ist der personenbezogene Fokus. Im Mittelpunkt des Interesses steht der arbeitende Mensch in seiner Auseinandersetzung mit Aufgaben und Anforderungen, die eine selbstständige Berufstätigkeit mit sich bringt (7 unternehmerische Persönlichkeit). Diese Auseinandersetzung findet ihren Niederschlag in Verhaltensweisen, die sich von Verhaltensweisen bei abhängiger Beschäftigung unterscheiden können und auch auf den Ebenen psychischer und sozialer Faktoren nachweisbar sind (Stewart, 2000; Frese, 1998; Müller, 2003). Sie ergeben sich aus Besonderheiten beruflicher Selbstständigkeit, wozu u. a. eine erwerbswirksame Vermarktung von Produkten oder Dienstleistungen gehört, die in eigener Regie und mit eigenem Kapitalhaftungsrisiko erfolgt. Die psychologische Bedeutung beruflicher Selbstständigkeit erschließt sich, wenn erwerbstätige Personen für sie wichtige Merkmale ihrer Arbeit beschreiben sollen. Dabei zeigt sich, dass selbstständig tätige Personen

in einer ganzen Reihe von Punkten zu anderen Einschätzungen ihrer Arbeit als abhängig beschäftigte Personen kommen (Redwisch & Pikal, 2000). So sind sie der Ansicht, mehr Einfluss auf die Gestaltung und Bemessung ihres Arbeitsentgelts zu haben, leichter persönliche Weiterbildungsinteressen verfolgen zu können und freier in der Bestimmung ihrer Arbeitsziele und Tätigkeitsinhalte zu sein. Ihre Einschätzungen lassen zudem erkennen, dass sie mehr Möglichkeiten zur Neugestaltung von Tätigkeitsbereichen besitzen, weniger eingeschränkt bei der Festlegung des Arbeitspensums sind und weniger Schwierigkeiten haben, neue Ideen bei ihrer Arbeit zu realisieren. In Industrienationen sind abhängige Beschäftigungsverhältnisse der Regelfall. In Deutschland hat sich der Anteil selbstständiger Erwerbstätigkeit seit Jahren kaum verändert und liegt mit leichten Schwankungen bei etwa 10% (vgl. Prellberg 2005). Im internationalen Vergleich stellt dies eine leicht unterdurchschnittliche Selbstständigkeitsquote dar. Der Quote von neuen Unternehmensgründungen und Selbstständigkeitsinitiativen steht, ebenfalls mit leichten Schwankungen, zumeist eine ähnlich große Quote an Unternehmenskonkursen und Rückzügen aus der Selbstständigkeit gegenüber, so dass sich der Anteil selbstständiger Erwerbstätigkeit insgesamt bisher durch keine nennenswerte Dynamik auszeichnet. Veränderungen lassen sich allenfalls bei der Zusammensetzung der Selbstständigkeitsquote erkennen. In den letzten Jahren hat der Anteil von Hochschulabsolventen und Frauen sehr stark zugenommen (Strohmeyer, 2004). Zudem wurden vermehrt Ein-Personen-Unternehmen gegründet (Lutz, 2004). Auch der Anteil von Selbstständigkeitsinitiativen in verschiedenen Erwerbsbranchen variiert. Aktuell ist ein Rückgang im Handel und produzierenden Gewerbe feststellbar, während der Bereich unternehmensnaher und konsumorientierter Dienstleistungen nach wie vor rege Gründeraktivitäten verzeichnet (Heger & Metzger, 2006). Über berufliche Selbstständigkeit und Unternehmertum wird inzwischen in zahlreichen Wissenschaftsdisziplinen geforscht (s. www.babson.edu oder www.gforum.de). Zu den Forschungsschwerpunkten der Psychologie gehören in erster Linie individuelle und soziale Aspekte beruflich selbstständigen Arbeitsverhaltens. Solche Aspekte beinhalten die Untersuchung von Fragen, welche Bedürfnisse, Motive, Eigenschaften, Fähigkeiten, Wissensvoraussetzungen und Handlungskompetenzen den Schritt in die berufliche Selbstständigkeit

381 19.2 · Psychologische Erklärungen beruflich selbstständigen Verhaltens

begünstigen und von welchen intra- und interindividuellen Bedingungen es abhängt, wie ökonomisch und psychologisch erfolgreich eine selbstständige Erwerbstätigkeit betrieben wird. Es liegt eine Reihe psychologischer Theorien zur Erklärung beruflich selbstständigen Verhaltens vor, die im nun folgenden ersten Kapitelabschnitt beschrieben werden. Es schließt sich die Darstellung über 7 Erfolgsfaktoren beruflicher Selbstständigkeit und Konzepte einer 7 Förderung unternehmerischen Verhaltens an. Welche Perspektiven für eine weitergehende psychologische Untersuchung beruflicher Selbstständigkeit denkbar sind, wird in einem letzten Kapitelabschnitt diskutiert. 19.2

Psychologische Erklärungen beruflich selbstständigen Verhaltens

Beruflich selbstständiges Verhalten psychologisch zu erklären, bedeutet, Erwerbstätigkeit außerhalb abhängiger Beschäftigungsverhältnisse auf spezifische Einflüsse dispositioneller, motivationaler, emotionaler und/oder kognitiver Faktoren zurückzuführen. Die im Folgenden beschriebenen Theorien enthalten interessante und überwiegend auch empirisch bestätigte Annahmen und Aussagen über individuelle und/oder soziale Besonderheiten, die verantwortlich dafür sein können, dass Personen selbstständig tätig werden, sind oder bleiben wollen. 19.2.1

Frühkindliche Prägungen und Sozialisation

Psychoanalytische Theorien und Studien führen auch berufsspezifische Neigungen und Initiativen auf frühkindliche Erfahrungen und Prägungen im Elternhaus zurück (Kets de Vries, 1986; Goebel, 1991; Strenger & Burak, 2006). Nach Kets de Vries (1986) können Beweggründe, eine selbstständige Berufslaufbahn einzuschlagen, aus ambivalenten und emotional belastenden familiären Beziehungskonstellationen resultieren. Dass es insbesondere unterentwickelte Beziehungen zu den Vätern sind, die Kinder zu prägen scheinen und im späteren Leben Wünsche nach einer unternehmerischen Tätigkeit aufkommen lassen, haben auch Strenger und Burak (2006) gefunden. Strenger und Burak sprechen

hier vom »Leonardo-Effekt«, da Siegmund Freud in seiner Analyse Leonardo da Vincis erstmals Folgen psychologischer »Vaterlosigkeit« beschrieben hat. Zumindest für spätere männliche Unternehmer scheint nicht selten zu gelten, dass diese ihre Väter als einflussschwach, häufig abwesend und/oder emotional distanziert in Erinnerung behalten haben (Malach-Pines, Sadeh, Dvir & YafeYanai, 2002). Oftmals sind Väter selbst unternehmerisch tätig und die meiste Zeit beruflich unterwegs gewesen. Als leidvoll werden zudem fehlende oder unterentwickelte Gefühlsbindungen empfunden, so dass die Vaterrolle auch aus diesen Gründen wenig positiven Identifikationswert für das Kind besitzt und stattdessen zur Projektionsfläche wird für enttäuschte Hoffnungen, unbefriedigte Bedürfnisse und unbestimmte Ängste, dem Vater gegenüber versagt zu haben. Unterdrückte Aggressionen dem sich entziehenden Vater gegenüber und Gefühle der Hilflosigkeit können nach psychoanalytischer Deutung im späteren Berufsleben zu übersteigerter Selbstdarstellung und exzessiver unternehmerischer Rastlosigkeit führen (»manic defense«, Kets de Vries, 1986, S. 863). Psychologische Vaterlosigkeit kann sich auch auf die Mutter-Kind-Beziehung auswirken. Hier würde der Leonardo-Effekt eher positive Auswirkungen vermuten lassen. Da Söhne keinen oder nur geringen väterlichen Autoritätsdruck verspüren und ihre Neugier nicht oder nur wenig durch ödipale Ängste eingeschränkt wird, haben sie potenziell größere Freiräume, ein starkes Selbst zu entwickeln. Bei Leonardo da Vinci ist dies offensichtlich der Fall gewesen, weil die Mutter eine so offene und entspannte Beziehung zu ihrem Sohn gepflegt hat, dass sich dessen kreative Talente ungestört entfalten konnten. Allerdings gibt es auch Hinweise auf Einflüsse weniger günstiger Mutter-Kind-Beziehungen. Schilderungen mancher der von Kets de Vries (1985, 1986) untersuchten Unternehmer ergaben, dass Mütter bestrebt gewesen sind, väterliches Rollenverhalten zu übernehmen, und dazu neigten, ein ausgesprochen dominantes, überkritisches und einengendes Erziehungsverhalten an den Tag zu legen. Strenge, Unnachgiebigkeit, Verbote und Kontrolle sind den Unternehmern als sehr belastend und blockierend in Erinnerung geblieben. Nach Kets de Vries hat dies im späteren Leben ebenfalls dazu beigetragen, eine berufliche Selbstständigkeit anzustreben. In diesen Fällen jedoch nicht aus Beweggründen heraus, innovative Talente zu entfalten, sondern aufgrund von Bedürfnissen, Autorität und Bevormundung abzuweh-

19

382

19

Kapitel 19 · Berufliche Selbstständigkeit

ren und Handlungsfreiheit zu erlangen, die in der Kindheit nicht vorhanden gewesen ist. Späteres Unternehmertum kann psychoanalytischen Erklärungen zufolge also sowohl aus kreativitätsförderlichen als auch neuroseanfälligen Familienkonstellationen resultieren. Auf ein verbindendes Element entsprechender Einflüsse ist Goebel (1991) in seinen Untersuchungen gestoßen. Der Umgang mit unvollständigen oder problematischen Elternbeziehungen verlangt Kindern Ungewissheits- oder Ambiguitätstoleranz ab, die dazu befähigt, sich mit den Widersprüchlichkeiten unvollständiger Familienkonstellationen arrangieren zu können. Empirisch lässt sich in der Tat belegen, dass unternehmerisch tätige Personen nicht nur ungewissheitstoleranter als Angehörige der berufstätigen Normalbevölkerung sind (Goebel, 1991), sie weisen auch gegenüber abhängig beschäftigten Personen vergleichbarer Berufsbranchen höhere Ausprägungen auf (Müller, 2000b). Mit Einflüssen des Elternhauses wird berufliche Selbstständigkeit auch motivationspsychologisch erklärt (vgl. McClelland, 1987). Anders als in psychoanalytischen Ansätzen werden Eltern jedoch als Vermittler gesellschaftlicher Werte und Überzeugungen betrachtet, die diese durch Vorbild und Erziehungsverhalten an ihre Kinder weitergeben. Teilen Eltern Werte und Überzeugungen, die Individualität und Eigenverantwortung betonen, belohnen sie Kinder, die von sich aus Aktivitäten entfalten und die Initiative ergreifen. Zudem halten sie Kinder dazu an, unabhängige Sichtweisen zu entwickeln und Handlungen an persönlichen Maßstäben auszurichten. Kinder werden ermutigt, Aufgaben in Angriff zu nehmen, und darin bestärkt, gute Arbeitsergebnisse zu erzielen. Sie bilden Erwartungen heraus, die auf Erfolg gerichtet sind, und entwickeln Bedürfnisse, diesen Erwartungen entsprechend zu handeln. Aus solch einer Erziehung und Sozialisation resultiert ein ausgeprägtes Leistungsmotiv (»need for achievement«), das Personen später Berufsfelder aufsuchen lässt, in denen sie anspruchsvolle Tätigkeiten vorfinden, Erfolgserwartungen befriedigen können und Arbeitsbedingungen haben, die individuelle Ausgestaltungsmöglichkeiten bieten. Dass als Erwerbstätigkeit in diesem Fall auch berufliche Selbstständigkeit großen Anreiz besitzt, spiegelt sich darin wider, dass die Stärke des Leistungsmotivs sowohl die Wahl beeinflusst, eine selbstständige oder unternehmerische Berufslaufbahn einzuschlagen, als auch mit dem Erfolg korreliert, den beruflich selbstständige Personen

bei ihrer Tätigkeit haben (vgl. Collins, Hanges & Locke, 2004). Prägenden Einfluss hat schließlich auch, wie Söhne und Töchter von ihren Eltern dazu erzogen werden, ein entsprechendes Geschlechterstereotyp zu übernehmen. Bei Söhnen wird zumeist eine Selbstwahrnehmung sozialisiert, die mit dem Männlichkeitsstereotyp übereinstimmt (»dominant«, »durchsetzungsbereit«, »rational«, »willensstark«), während die bei Töchtern sozialisierte Selbstwahrnehmung zumeist mit dem Weiblichkeitsstereotyp übereinstimmt (»hilfsbereit«, »anpassungsfähig«, »kooperativ«, »warmherzig«). Das Bild des Unternehmers setzt sich nach wie vor eher aus Merkmalen zusammen, die denen des Männlichkeitsstereotyps entsprechen (vgl. Kirchler, 1997). Dass Frauen weniger oft selbstständig oder unternehmerisch tätig sind als Männer (22,5% vs. 77,5%, vgl. Fehrenbach & Leicht, 2002), kann daher auch durch sozialisierte Erwartungshaltungen erklärt werden, die Mädchen aufgrund ihres Selbstbilds dem betreffenden Berufsfeld gegenüber entwickeln. Hinzu kommt, dass im familiären, schulischen und außerschulischen Umfeld wenige weibliche Vorbilder vorhanden sind, deren Beispiel ein Interesse an beruflicher Selbstständigkeit wecken kann. Auch bei eigenem Familienbetrieb scheinen Töchter oft benachteiligt zu sein, wenn es um die Frage geht, wer den Betrieb weiterführen soll (Keese, 1999). Nach Scherer, Brodzinski und Wiebe (1990) müssen selbstständig tätige Frauen häufiger ihr eigenes Rollenverständnis hinterfragen und mit mehr Vorurteilen rechnen, die Mitarbeiter, Geschäftspartner oder Repräsentanten berufsrelevanter Einrichtungen ihnen gegenüber zum Ausdruck bringen. Geschlechtsrollenstereotyp und eine berufsfeldspezifische Erwartung tragen dazu bei, dass Frauen weniger zuversichtlich sind, in der Selbstständigkeit reüssieren zu können. Ihre Überzeugung, Herausforderungen des Arbeitslebens gewachsen zu sein, wird auch davon beeinflusst,wiegroßderAnteilvonFraueninunterschiedlichen Berufsfeldern ist. Berufsfelder, in denen sie sich unterrepräsentiert fühlen, werden von ihnen als weniger attraktiv und anstrebenswert erachtet (Clement, 1987). Allerdings scheinen Einflüsse einer geschlechtsrollentypischen Sozialisation auf die Bereitschaft von Frauen, sich selbstständig zu machen, schwächer zu werden (Strohmeyer, 2004).

383 19.2 · Psychologische Erklärungen beruflich selbstständigen Verhaltens

19.2.2

Persönlichkeitsspezifische Dispositionen

Genetische Prädisposition, frühkindliche Prägung und eine Erziehung, die sich durch unterstützendes und anregendes Elternverhalten auszeichnet (vgl. Schmitt-Rodermund, 2005), tragen dazu bei, dass sich bei Personen relativ zeitstabile Fähigkeiten herausbilden, die später für eine selbstständige oder unternehmerische Tätigkeit qualifizieren können. Der Einfluss einer genetischen Prädisposition scheint hierbei relativ groß zu sein. Um die Größe eines entsprechenden Einflusses zu schätzen, wurde eine Studie durchgeführt, in der die berufliche Situation von über 1000 eineiigen und zweieiigen Zwillingen untersucht wurde (Nicolaou, Shane, Cherkas, Hunkin & Spector, 2006). Dabei zeigte sich, dass die Affinität zu einer selbstständigen oder unternehmerischen Berufstätigkeit zu einem Anteil von knapp 50% auf genetischer Prädisposition beruht. Persönlichkeitspsychologisch bewegt sich die Forschung zumeist im Rahmen faktorenanalytischer Erklärungsansätze. Eine Metaanalyse von Untersuchungsergebnissen, in denen allgemeine Persönlichkeitsmerkmale(»bigfive«-Faktoren)gemessenwurden,unterstreicht die Bedeutung von Persönlichkeitsmerkmalen wie Gewissenhaftigkeit und Offenheit für Erfahrungen (Zhao & Seibert, 2006). Insgesamt ist die Größe von Zusammenhängen mit Indikatoren beruflicher Selbstständigkeit jedoch eher moderat. Bei berufsfeldspezifischeren Dispositionen wie Leistungsmotivstärke, internale Kontrollüberzeugung oder Risikoneigung sind größere Zusammenhänge gefunden worden (Müller, 2000c). Selbstständigkeitsrelevante Eigenschaftsmerkmale können zu Typologien der unternehmerischen Persönlichkeit zusammengefasst werden (Miner, 2000; Müller & Gappisch, 2005). Miner fand 4 Persönlichkeitstypen: 1. Der Typus des individuellen Leistungsträgers (»personal achiever type«) zeichnet sich durch große Leistungsmotivstärke, Initiative, Selbstwirksamkeit, Identifikation mit der Aufgabe und ein starkes Wissens- und Informationsbedürfnis aus. 2. Der Typus des Unternehmensmanagers (»real manager type«) besitzt Stärken in der Führung und Kontrolle anderer Personen. Sein Handeln wird durch Konkurrenzdenken oder Machtstreben bestimmt, ebenso durch Interessen, sich als Autorität beweisen zu können.

3. Der Typus des innovativen Fachexperten (»expert idea generator type«) zeichnet sich durch Kreativität, Einfallsreichtum, profundes Fachwissen und Problemlösekompetenz aus. Sein Denken und Handeln wird davon bestimmt, neue Produkte zu kreieren oder eingeführte Produkte zu verbessern. 4. Der Typus des begeisternden Starverkäufers (»empathic supersales person type«) schließlich besitzt eine stark kommunikative und empathische Orientierung. Ihn interessiert, gute und emotional tragfähige Beziehungen zu Geschäftspartnern und Mitarbeitern aufbauen zu können. Produkte und Dienstleistungen sind eher Mittel zum Zweck und weniger Selbstzweck, wie dies beim individuellen Leistungsträger oder innovativen Fachexperten der Fall ist. Müller und Gappisch (2005) überprüften, ob diese bei US-amerikanischen Unternehmern gefundene Typologie auch bei Selbstständigen in Deutschland replizierbar ist. Unter Verwendung eines eigens zur Diagnose unternehmerischer Potenziale entwickelten Testverfahrens ließen sich Übereinstimmungen, aber auch Unterschiede und Erweiterungen feststellen. Repliziert werden konnte der Leistungs-, Manager- und Verkäufertypus. Ein eigenständiger Erfindertypus hingegen war nicht identifizierbar.KreativitätsförderlicheMerkmale(intuitiveProblemlöseorientierung, Ungewissheitstoleranz) wies bei deutschen Selbstständigen der Verkäufertypus auf. Erstmals gefunden und bislang noch nicht beschrieben wurden ein Typus, der sich durch kontrollierte Ausdauer auszeichnet, und ein Typus, der einen ich-bezogenen Aktivismus pflegt. Der kontrollierte Ausdauertypus ist belastbar, stressresistent und emotional stabil. Zudem besitzt er allgemeine Antriebsstärke und analytische Problemlösekompetenz. Der ich-bezogene Aktivitätstypus ist antriebsstark und selbstbewusst. Einer stark entwickelten internalen Kontrollüberzeugung steht dabei eine unterentwickelte soziale Anpassungsfähigkeit gegenüber. In welchem Umfang ein bestimmter Typus oder eine bestimmte Typuskombination den Erfolg beruflich selbstständigen Verhaltens beeinflusst, ist noch weitgehend unerforscht. Es ist jedoch zu vermuten, dass unterschiedliche Anforderungen von Berufsbranchen, in denen Personen selbstständig oder unternehmerisch tätig sein können, auch mit unterschiedlichen Eignungsvoraussetzungen korrespondieren, wenn sich Erfolg bei der Tätigkeit einstellen soll. Hinweise in dieser Richtung

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384

Kapitel 19 · Berufliche Selbstständigkeit

Info-Box

Selektions- vs. Adaptionsthese

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In der psychologischen Selbstständigkeitsforschung ist eine Zeitlang kontrovers diskutiert worden, wie feststellbare Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitsmerkmalen einerseits und beruflicher Selbstständigkeit andererseits zu interpretieren seien. Es wurden u. a. 2 Hypothesen vertreten: Die Selektionshypothese besagt, dass Personen aufgrund dispositioneller Merkmale eine Affinität zu selbstständigen Berufstätigkeiten besitzen, Persönlichkeitsausprägungen also zu den Ursachenfaktoren für eine entsprechende Berufswahl gehören. In der Adaptionshypothese wird die Auffassung vertreten, dass sich selbstständigkeitsrelevante Persönlichkeitsmerkmale erst durch die Auseinandersetzung mit unternehmerischen Aufgaben herausbilden, typische Persönlichkeitsausprägungen also auch Auswirkung beruflicher Selbstständigkeit sein können. Ergeb-

liefert eine Studie, in der Typusbesonderheiten von Unternehmern in Branchen der sog. Old und New Economy analysiert wurden (Stilz, 2006). Unternehmer der Old Economy operieren in etablierten Wirtschaftssegmenten mit immer noch relativ stabiler Nachfrage. Daher sollten sie weniger stark als Unternehmer einer marktdynamischeren New Economy mit Anforderungen konfrontiert sein, rasch, kreativ und flexibel in ihren Geschäftsfeldern operieren zu müssen. Dies bildet sich in der Tat auch in typusspezifischen Unterschieden ab. Persönlichkeitsmerkmale, die einen ideenreichen Akquisitionstypus auszeichnen (intuitive Problemlöseorientierung, Ungewissheitstoleranz, soziale Anpassungsfähigkeit), weisen bei Unternehmern aus der New Economy deutlich stärkere Ausprägungen auf als bei Unternehmern, deren Organisationen der Old Economy zuzurechnen sind. Über branchenbezogene Unterschiede hinaus kann als empirisch gesichert gelten, dass die generelle Bereitschaft, sich beruflich selbstständig zu machen, und die tatsächliche Realisierung dieser Absicht damit korreliert, wie typuskomplex Personen sind (Miner, 2000). Typuskomplexität korreliert zudem mit der Arbeits- und Lebenszufriedenheit selbstständig tätiger Personen, trägt also auch dazu bei, wie subjektiv erfolgreich die eigene Tätigkeit erlebt wird (Müller & Gappisch, 2005).

nisse von Untersuchungen, die Brandstätter (1997) und Müller (1999b) durchgeführt haben, sprechen eher für die Selektionshypothese. In beiden Untersuchungen wurden Persönlichkeitsausprägungen abhängig Beschäftigter, selbstständig Tätiger und Selbstständigkeitsambitionierter (Teilnehmer eines Existenzgründerseminars) gemessen und miteinander verglichen. Persönlichkeitsmerkmale waren Leistungsmotivstärke, internale Kontrollüberzeugung, emotionale Stabilität, Risikoneigung, Problemlöseorientierung und Durchsetzungsbereitschaft. Bei Gültigkeit der Adaptionsthese wäre zu erwarten gewesen, dass die Merkmalsausprägungen bei selbstständigkeitsambitionierten Personen eher mit denen abhängig Beschäftigter übereinstimmen. Tatsächlich unterschieden sie sich jedoch von denen abhängig Beschäftigter und stimmten eher mit denen bereits selbstständig tätiger Personen überein.

19.2.3

Selbstständigkeitsrelevante Kernkompetenzen

Persönlichkeitsmerkmale korrespondieren mit eher allgemeinen Handlungstendenzen und umfassenderen Kategorien offener Verhaltensweisen, während spezifische Verhaltensweisen stärker von Dispositionen beeinflusst werden, die auf der Ebene eng umgrenzter Fertigkeiten und Kompetenzen angesiedelt sind. Zu den Kernkompetenzen beruflich selbstständigen Verhaltens gehört zum einen die Fertigkeit, Eigeninitiative (»personal initiative«) entfalten zu können (Frese, Fay, Hilburger, Leng & Tag, 1997; Rauch & Frese, 2000). Besonderheiten von Eigeninitiative lassen sich handlungstheoretisch begründen. Ein wesentliches Merkmal ist, dass Arbeitsziele selbst gesetzt werden und längerfristig angelegt sind. Eine starke Zielbildung verstärkt die Anstrengungsbereitschaft und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass auch Frustrationen und Rückschläge besser verkraftet und überwunden werden können. Ebenfalls relevant ist eine spezielle Art der Umfeldorientierung. Personen mit Eigeninitiative verfügen über eine betont explorierende Umfeldorientierung. Diese erleichtert es ihnen, Gelegenheiten zu erkennen, wie sich Arbeitziele schneller erreichen oder veränderten Umständen anpassen lassen. Weitere Besonderheiten betreffen die Planung, strategische Ausrichtung und Kontrolle

385 19.2 · Psychologische Erklärungen beruflich selbstständigen Verhaltens

des Arbeitsverhaltens. Zu den Merkmalen von Eigeninitiative gehört eine proaktive Handlungsplanung, die gelegentlich auch opportunistisch sein kann, wenn Umfeldbedingungen für eigene Zwecke instrumentalisierbar erscheinen. Typisch ist außerdem, dass Prozesse und Ergebnisse der eigenen Tätigkeit anhand selbst definierter Standards evaluiert werden und dass Feedback zur Kontrolle des eigenen Arbeitsverhaltens häufig selbst gesucht und eingeholt wird. Eigeninitiative korreliert mit anspruchsvoller Zielsetzung, aktiver Informationssuche, Delegation von Verantwortung und konsequentem Zeitmanagement (vgl. Utsch, 1998). Positive Einflüsse auf den geschäftlichen Erfolg von Unternehmern und das Wachstum ihrer Betriebe sind ebenfalls nachweisbar (Rose, Kumar & Yen, 2006). Eine zweite Kernkompetenz beruflich selbstständigen Verhaltens ist es, sich selbst führen zu können (Stewart, 2000; Neck, Neck, Manz & Godwin, 1999). Selbstführungskompetenz umfasst implizites bzw. intuitives und explizites bzw. reflektierbares Wissen über Möglichkeiten, psychische Potenziale aktivieren und das eigene Denken, Fühlen und Wollen wirkungsvoll kontrollieren und zielgerichtet steuern zu können. Hinzu kommt Erfahrungswissen über den erfolgreichen Einsatz von Selbstführungsstrategien und die daraus resultierende Überzeugung, durch Anwendung solcher Strategien auch künftig wünschenswerte Ergebnisse zu erzielen. Eigeninitiative korrespondiert mit der kognitiv-rationalen Seite kompetenter Selbstführung (»thought selfleadership«). Der kognitiv-rationalen Seite kompetenter Selbstführung lässt sich der Bereich bewusst und absichtsvoll reflektierter, geplanter, kontrollierter und gesteuerter Aspekte des Arbeitsverhaltens zuordnen. Es gibt jedoch einen weiteren Bereich kompetenter Selbstführung, der die Veränderung weitgehend automatisierter, habitualisierter oder stark eingeschliffener Reaktionen und Verhaltensweisen betrifft. Strategien zur erfolgreichen Veränderung von Routinen und Gewohnheiten werden aus der Lerntheorie von Bandura (1986) und Prinzipien der Verhaltensmodifikation durch operante Konditionierung abgeleitet (vgl. Neck & Manz, 2007). Fertigkeiten, von diesen Strategien Gebrauch zu machen, beinhalten eine möglichst unvoreingenommene Beobachtung von situativen Verhaltensauslösern und aktive Einflussnahme darauf (»Stimulusmanagement«), eine probeweise oder systematische Variation eigener Verhaltensweisen (»Reaktionsmanagement)

und eine Verstärkung und Belohnung der Exposition eines gewünschten neuen oder veränderten Verhaltens und die Unterdrückung oder Bestrafung eines unerwünschten alten oder unangepassten Verhaltens (»Konsequenzenmanagement«). Zudem trägt eine Reihe von kognitiv-rationalen Strategien dazu bei, die Selbstführungskompetenz zu erhöhen. Zu ihnen gehört, 4 sich anspruchsvolle Arbeitsziele zu setzen und die hierfür erforderlichen Veränderungen des eigenen Verhaltens einzuleiten, 4 den Erwerb neuer Verhaltensweisen durch gedankliches Probehandeln zu beschleunigen, 4 die Ausführung neuer Verhaltensweisen durch aktives Wiederholen zu verbessern, 4 Motivation aus natürlichen bzw. intrinsisch belohnenden Anreizen zielgerichteten Verhaltens zu schöpfen, 4 Denkhaltungen zu entwickeln, die sich an Chancen und Möglichkeiten (»opportunity thinking«) und nicht an Risiken und Erschwernissen (»obstacle thinking«) von Veränderungen orientieren. Untersuchungen an studentischen Kollektiven zeigten, dass Selbstführungskompetenz mit der Stärke unternehmerischer Berufsorientierungen und der Präferenz für eine selbstständige Tätigkeit nach dem Studium korreliert (Müller, 2005). Kompetenzvoraussetzungen für berufliche Selbstständigkeit beinhalten neben Eigeninitiative und Selbstführung auch fachliches Wissen und soziale Fertigkeiten (Markman, 2007). Fachkompetenz zeichnet sich durch branchenspezifische Kenntnisse mit einem besonderen Grad an Einzigartigkeit (»uniqueness«) aus, mit der eine Wettbewerbsfähigkeit von Produkten oder Dienstleistungen zu erreichen ist, die mit solchen Kenntnissen entwickelt, verbessert oder vermarktet werden können. Chandler und Hanks (1994) stellten fest, dass fachkompetentere Geschäftsinhaber expansivere Unternehmen führten. Zur Bedeutung der Sozialkompetenz liegen ähnliche Befunde vor. Sinha (1996) untersuchte Inhaber kleinerer Unternehmen, die sich anhand öffentlich zugänglicher Wirtschaftsdaten als unterschiedlich erfolgreich einstufen ließen. Am höchsten korrelierte die Fertigkeit, Einfluss auf andere auszuüben (»manipulative skill«), mit ökonomischem Erfolg. Baron und Markman (2003) fanden, dass auch eine differenzierte soziale Wahrnehmung, Flexibilität sozialen Verhaltens, Über-

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Kapitel 19 · Berufliche Selbstständigkeit

zeugungskraft, kommunikative Ausdrucksstärke und Selbstpräsentationsgeschick erfolgsrelevante Komponenten sozialer Kompetenz von Selbstständigen sind. Selbstständigkeitsrelevante Kernkompetenzen können erworben, trainiert oder durch berufliche Erfahrungen verbessert werden. Sie stellen ein wichtiges Verbindungsglied zwischen eher zeitstabilen Persönlichkeitsmerkmalen einerseits und konkreten unternehmerischen Verhaltensweisen andererseits dar (vgl. Müller, 2000c). Während Persönlichkeitsmerkmale dazu beitragen, eine generelle Affinität zu einer selbstständigen Berufstätigkeit zu entwickeln und in die Tat umzusetzen, gehören Kernkompetenzen zu den Bedingungen, die den Erfolg konkreter unternehmerischer Arbeits- und Verhaltensweisen beeinflussen. 19.2.4

Entwicklung von Absichten für eine selbstständige Erwerbstätigkeit

Ein weiterer Ansatz, der zur Erklärung herangezogen werden kann, wie sich Absichten herausbilden, selbstständig tätig sein zu wollen, ist die Theorie geplanten Handelns von Ajzen und Madden (1986; vgl. auch Krueger, Reilly & Carsrud, 2000; Jacob & Richter, 2005). Dieser Theorie zufolge hängt die Stärke von Intentionen, ein bestimmtes Zielverhalten auszuführen, von 3 Faktoren ab: 1. der Einstellung zum Zielverhalten, 2. dem empfundenen normativen Druck des sozialen Umfelds und 3. der wahrgenommenen Kontrollierbarkeit des Zielverhaltens. Die Einstellung setzt sich aus den Erwartungen möglicher Konsequenzen des Zielverhaltens und den Bewertungen dieser Konsequenzen zusammen. Für eine ins Auge gefasste Selbstständigkeit kann es sich bei solchen Erwartungen um finanzielle Vorteile, Unabhängigkeit von Zwängen abhängiger Beschäftigungsverhältnisse, Vielseitigkeit von Arbeitsaufgaben oder individuelle Entwicklungsperspektiven handeln. Wie subjektiv bedeutsam materielle Belange, Autonomie, Aufgabenvielfalt oder berufliches Vorwärtskommen erscheinen, sollte die Stärke und Richtung der Einstellung einer selbstständigen Berufstätigkeit gegenüber beeinflussen. Sind Personen der Meinung, dass der Schritt in die Selbstständigkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit vorteilhafte Konse-

quenzen für sie haben wird, würden sie der Theorie zufolge eine positive Einstellung diesem Verhalten gegenüber besitzen und in die gleiche Richtung gehende Verhaltensabsichten herausbilden. Neben der Einstellung werden Verhaltensabsichten auch von Erwartungshaltungen des sozialen Umfelds beeinflusst. Solche Erwartungshaltungen können Personen als unterstützenden oder blockierenden normativen Druck empfinden. Sie setzen sich ebenfalls aus 2 Komponenten zusammen: Im gegebenen Zusammenhang etwa aus Erwartungen, ob und in welchem Ausmaß relevante Bezugspersonen den Schritt in eine berufliche Selbstständigkeit begrüßen würden, und der Motivation, sich den Erwartungen relevanter Bezugspersonen gemäß verhalten zu wollen. Analog zu positiven Einflüssen einer wertschätzenden Einstellung beruflicher Selbstständigkeit gegenüber würde die Theorie auch positive Einflüsse des sozialen Umfelds erwarten lassen, wenn Personen einen unterstützenden normativen Druck für ihr Vorhaben wahrnehmen und zudem stark motiviert sind, erwartungskonform zu handeln. Während bei der ersten Komponente des subjektiv erlebten sozialen Drucks der Aufforderungscharakter des sozialen Umfelds absichtsunterstützend wirkt, können für das Zustandekommen der Konformitätsmotivation neben Anreizen der sozialen Situation (z. B. Lob oder Anerkennung) auch personenspezifische Merkmale (z. B. soziale Anpassungsfähigkeit) eine Rolle spielen. Der dritte Einflussfaktor für Richtung und Stärke von Verhaltensabsichten ist die Einschätzung eigener Ressourcen und Möglichkeiten, die betreffenden Absichten realisieren und hierfür notwendige Aktivitäten entfalten zu können. Die wahrgenommene Kontrollierbarkeit des Verhaltens wirkt sich nicht nur intentional aus, sondern kann zudem auch unmittelbar verhaltenswirksam werden. Gollwitzer (1993) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Verhaltensabsichten bzw. Zielintentionen und Verhaltensvorsätzen bzw. Durchführungsintentionen. Absichten etwa, sich beruflich selbstständig machen zu wollen, würden danach eine höhere Realisierungswahrscheinlichkeit erwarten lassen, wenn Personen neben Zielintentionen, z. B. einen Betrieb zu übernehmen, auch Durchführungsintentionen herausbilden, d. h. festlegen, wo, wann, wie und ggf. mit wem sie eine Betriebsübernahme realisieren möchten. Wahrgenommene Verhaltenskontrolle ist konzeptuell mit Selbstwirksamkeit (»self-efficacy«) verwandt, die nach Bandura (1986) auf der Überzeugung

387 19.3 · Erfolgsfaktoren beruflicher Selbstständigkeit

beruht, Herausforderungen mit den eigenen Fähigkeiten bewältigen zu können. Theoretisch postulierte Zusammenhänge wurden empirisch an Absichten von Studierenden überprüft, sich im späteren Berufsleben selbstständig machen oder eine unternehmerische Karriere einschlagen zu wollen (Krueger, Reilly & Carsrud, 2000; Jacob & Richter, 2005; Zhao, Seibert & Hills, 2005). Es ließ sich belegen, dass solche Absichten umso stärker ausgeprägt waren, je positiver die Studierenden einer möglichen selbstständigen Tätigkeit gegenüber eingestellt waren, je mehr soziale Unterstützung sie für ein derartiges Vorhaben erwarteten und je zuversichtlicher sie waren, mit ihrem erworbenen Wissen und vorhandenem Fähigkeitspotenzial den Anforderungen beruflicher Selbstständigkeit gewachsen zu sein. Zusammenfassend ergibt sich: Psychologische Theorien erklären berufliche Selbstständigkeit im Kontext personenspezifischer Bedingungsfaktoren. Diese Bedingungsfaktoren scheinen zu einem gewissen Anteil genetischen Ursprungs zu sein. Ein weiterer Anteil dürfte frühkindlichen Prägungen und Sozialisationserfahrungen im Elternhaus zugeschrieben werden. Aus beiden Quellen speist sich vermutlich die Stärke einer allgemeinen Affinität zu Berufstätigkeiten, die selbstständiges oder unternehmerisches Handeln ermöglichen. Wenn Personen über entsprechende Anlagen und Potenziale verfügen, ist es wahrscheinlicher, dass sie sich von Erwerbsformen außerhalb abhängiger Beschäftigungsverhältnisse angezogen fühlen. Ob, wann, wie erfolgreich und wie lange sie tatsächlich selbstständig oder unternehmerisch tätig werden, kann aufgrund persönlichkeitsspezifischer Dispositionen allein nicht vorhergesagt werden. Man kann davon ausgehen, dass der Anteil selbstständig tätiger Personen in der erwerbstätigen Bevölkerung deutlich unter dem Anteil von Personen liegt, die über unternehmerisches Eignungspotenzial verfügen (Müller, 1999c). Neben der generellen Affinität zu einer selbstständigen oder unternehmerischen Berufstätigkeit müssen zumeist noch andere Bedingungen erfüllt sein, damit Erwerbsinitiativen in eigener Regie gestartet werden und eine erfolgreiche Entwicklung nehmen. Zu diesen Bedingungen gehören Kompetenzen, ebenso Einstellungen, Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und situative Gegebenheiten (mehr zu erfolgsrelevanten Kontextfaktoren im folgenden Kapitelabschnitt).

19.3

Erfolgsfaktoren beruflicher Selbstständigkeit

19.3.1

Erfolgsindikatoren

Der Erfolg beruflich selbstständigen Verhaltens kann an einer Vielzahl von Indikatoren festgemacht werden, die bei genauer Betrachtung über ökonomischen Erfolg hinausreichen. Dies muss speziell aus psychologischer Perspektive betont werden, da sich Erfolg im psychologischen Sinn nicht nur aus manifesten, sondern auch aus latenten Wirkungen des Arbeitsverhaltens zusammensetzt. Erfolg darf also nicht nur an von außen beobachtbaren Indikatoren und anhand objektiver Kriterien bemessen werden, sondern schließt gleichberechtigt auch Indikatoren und Kriterien mit ein, die nur einer introspektiven Beobachtung zugänglich sind und subjektiven Bewertungen unterliegen (vgl. Moser & Schuler, 1999). Als grundlegender Erfolgsindikator kann zunächst einmal gelten, den Schritt in die berufliche Selbstständigkeit überhaupt zu tun. Der Prozess, der diesem Schritt vorausgeht, umfasst eine mehr oder weniger lange und tiefe gedankliche Beschäftigung mit dem Vorhaben sowie verschiedene Verhaltensaktivitäten, die ihrerseits ebenfalls dazu beitragen müssen, das betreffende Vorhaben zu realisieren. Ein weiterer Erfolgsindikator ist die Dauer der beruflichen Selbstständigkeit und die Art ihrer Beendigung. Typisch ökonomische Indikatoren wie Umsatzzahlen, Gewinnmargen, Investitionen, Wachstumskennziffern oder Einkommensverhältnisse sind Erfolgskriterien, die nicht immer nur den Leistungen des individuellen Verhaltens von Selbstständigen zugeschrieben werden können. Als aggregierte Größen spiegeln sie den individuellen Beitrag zum ökonomischen Erfolg umso weniger wieder, je größer das Unternehmen ist und je mehr Personen daran beteiligt sind, Umsätze zu erzielen oder Gewinne zu erwirtschaften. Eine psychologische Untersuchung des Erfolgs beruflicher Selbstständigkeit ist auf der Personenebene angesiedelt. Werden psychologische, mittels Test, Befragung oder Beobachtung gemessene Merkmale selbstständig tätiger Personen zu Leistungen in Beziehung gesetzt, die aus der Zusammenarbeit in Teams oder ganzen Unternehmen resultieren, können nurmehr bedingt Rückschlüsse gezogen werden, wie individuell erfolgreich das Verhalten der selbstständig tätigen Person(en) gewesen ist. Was ökonomische Erfolgskriterien betrifft, ist eine psychologische Analyse unternehmerischen Verhaltens immer

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Kapitel 19 · Berufliche Selbstständigkeit

dann auf der richtigen Ebene angesiedelt, wenn der Erfolg unmittelbar oder größtenteils aus Aktivitäten der selbstständig tätigen Person selbst resultiert. Dies kann zumeist jedoch nur bei Klein- bzw. Kleinstunternehmen und Selbstständigen als gegeben vorausgesetzt werden, die Ein-Personen-Anbieter von Produkten oder Dienstleistungen sind. Bei subjektiven, psychologischen Erfolgskriterien ergibt sich eine vergleichbare Problematik nicht, weil Indikatoren unmittelbar an Personen erhoben werden, die selbstständig tätig sind. Erfolg im psychologischen Sinne wird auf individueller Erlebensebene gemessen. Es kann sich dabei um Messungen mit einem direkten Bezug zu objektiven Erfolgskriterien handeln. Hierzu würden die Selbsteinschätzung des unternehmerischen Erfolgs und die Beurteilung der eigenen Leistung als Selbstständige/r gehören. Ebenso, in welchem Umfang Personen der Ansicht sind, selbst gesetzte Unternehmensziele erreicht zu haben. Neben Kriterien, die auf der Selbsteinschätzung des materiellen Geschäftserfolgs beruhen, sind aus psychologischer Sicht v. a. Kriterien interessant, die Erfolg an affektiver Befindlichkeit, sozialemotionalem Wohlergehen sowie körperlicher und seelischer Gesundheit bemessen. Hier ist es in erster Linie die Arbeits-, Berufs- und Lebenszufriedenheit, in der sich eine als mehr oder weniger erfolgreich erlebte Selbstständigkeit ausdrücken kann. Auch die Gefühlsbindung (»emotional commitment«) an eine selbstständige oder unternehmerische Berufstätigkeit lässt sich als Erfolgsindikator betrachten. Sind Partner und angestellte Mitarbeiter vorhanden, ist nicht selten auch am wahrgenommenen Team- und Betriebsklima erkennbar, wie erfolgreich die Arbeit im eigenen Unternehmen erlebt wird. Darüber hinaus sind gesundheitsbezogene Kriterien zu nennen. Der Erfolg beruflicher Selbstständigkeit kann sich hier u. a. darin ausdrücken, dass Personen Erfüllung und Spaß bei der Arbeit empfinden, sich wohl fühlen bei dem, was sie tun, ihrer Tätigkeit einen hohen Befriedigungswert zuschreiben und selbst Dauerbelastungen oder Aufgabenvielfalt nicht als Überforderung und Beeinträchtigung ihrer Leistungskraft erleben. Ökonomische und psychologische Erfolgsindikatoren korrelieren nur wenig miteinander (vgl. Moser & Schuler, 1999). Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass es sich um weitgehend unabhängige Dimensionen des Erfolgs selbstständiger Erwerbstätigkeit handelt. Von einer subjektiv erfüllenden und als zufriedenstellend erlebten Selbstständigkeit darf daher nicht automa-

tisch auf gute Geschäftszahlen geschlossen werden (und umgekehrt). Nach subjektiven Kriterien scheint berufliche Selbstständigkeit eine relativ erfolgreiche Erwerbsform zu sein (Moser, Zempel, Galais & Batinic, 2000). Trotz größerer Unsicherheiten, was regelmäßige Einkünfte betrifft, und einer höheren Wahrscheinlichkeit, starken Arbeitsbelastungen ausgesetzt zu sein, zeichnet sich ab, dass persönlichkeitsförderliche und gesundheitszuträgliche Kriterien überwiegen (Müller, 1999a; Kieschke & Schaarschmidt, 2005). Hierzu gehört, als wie befriedigend tätigkeitsbezogene Leistungsherausforderungen eingeschätzt werden, und ebenso, wie zufriedenstellend das Ausmaß an Kompetenzentfaltung und Selbstverwirklichung bei der Arbeit erscheint. Auch lassen sich arbeitsbezogene Verhaltens- und Erlebensmuster diagnostizieren, die neben einer ausgeprägten und emotional positiv besetzten Leistungsbereitschaft eine vergleichbar starke Bereitschaft erkennen lassen, sich gezielt und wirkungsvoll von beruflichen Anforderungen lösen und innere Ruhe und Ausgeglichenheit finden zu können. Dies stimmt mit Erkenntnissen überein, wonach Unternehmensgründer (verglichen mit einem Durchschnittskollektiv Erwerbstätiger) trotz objektiv stärkerer Arbeitsbelastungen einen geringeren allgemeinen Beschwerdedruck verspüren (Goebel, 1990). 19.3.2

Erfolgsunterstützende Faktoren

Große Bedeutung kann der persönlichen Eignung zugeschrieben werden, die sich aus stabilen, z. T. bereits genetisch festgelegten oder früh geprägten Persönlichkeitsmerkmalen einerseits und variablen, durch Ausbildung, Erfahrung oder Training erworbenen Kompetenzen andererseits zusammensetzt. Ebenfalls große Bedeutung besitzen Unterstützungsfaktoren des jeweiligen Umfelds erwerbsfähiger Personen, die sich aus Faktoren des unmittelbaren sozialen bzw. lokalen Umfelds und Faktoren des mittelbaren ökonomischen und gesellschaftlichen Umfelds zusammensetzen. Eine dritte Kategorie von Unterstützungsfaktoren, deren Einfluss bislang noch wenig erforscht worden ist, sind glückliche Zufälle, Gelegenheiten oder Umstände, die dazu beitragen, eine vielleicht schon länger vorhandene Absicht, sich selbstständig zu machen, Realität werden zu lassen, oder die plötzlich und unvermutet vielversprechende Wachstumschancen für ein bereits existierendes Unternehmen eröffnen.

389 19.3 · Erfolgsfaktoren beruflicher Selbstständigkeit

Die Bedeutung der persönlichen Eignung schwankt je nachdem, ob sie für Persönlichkeits- oder Kompetenzmerkmale festgestellt und zu ökonomischen oder psychologischen Erfolgskriterien in Beziehung gesetzt wird. Persönlichkeitsmerkmale scheinen in größerem Umfang dazu beizutragen, dass die komplexen und vielschichtigen Aktivitäten, die den Überlegungen, sich selbstständig zu machen, zumeist vorausgehen, mit der Entscheidung abgeschlossen werden, den Schritt in die Selbstständigkeit tatsächlich auch zu tun. Überdies spiegelt sich die persönlichkeitsspezifische Eignung auch substanziell in subjektiven Erfolgskriterien wieder (z. B. Arbeits- und Lebenszufriedenheit, vgl. Müller & Gappisch, 2005). Kompetenzmerkmale auf der anderen Seite besitzen eine größere Bedeutung für die Ausgestaltung konkreter unternehmerischer Arbeits- und Verhaltensweisen. Eignung, die auf der Ausprägung von Kompetenzmerkmalen beruht, korrespondiert stärker mit ökonomischen Erfolgskriterien (Frese, 2007). Es gibt eine relativ große Anzahl erfolgsrelevanter Persönlichkeitsmerkmale,deren Ausprägungen zwischen selbstständig tätigen und abhängig beschäftigen Personen variieren. Diese Persönlichkeitsmerkmale lassen sich 4 unterschiedlichen Kategorien von Eignungsfaktoren zuordnen (Müller, 2000c): 1. Motivationale Eignungsfaktoren enthalten Merkmale wie Leistungsmotivstärke, internale Kontrollüberzeugung und Unabhängigkeitsstreben. 2. Zu affektiven Eignungsfaktoren gehören Antriebsstärke, Belastbarkeit und emotionale Stabilität. 3. Kognitive Eignungsfaktoren setzen sich aus den Merkmalen analytische und intuitive Problemlöseorientierung, Risikoneigung und Ungewissheitstoleranz zusammen. 4. Sozialen Eignungsfaktoren können Durchsetzungsbereitschaft und Anpassungsfähigkeit zugeordnet werden. Ergebnisse neuerer Untersuchungen sprechen dafür, die Kategorie motivationaler Eignungsfaktoren zu erweitern und in diese auch das Persönlichkeitsmerkmal Ausdauer/Beharrlichkeit (»perseverance«) aufzunehmen (Baum & Locke, 2004). In ähnlicher Weise lassen sich Kompetenzmerkmale klassifizieren. Ihre Bedeutung leitet sich nach Lang-von Wins und Triebel (2006) daraus her, dass diese Merkmale Personen befähigen, wirkungsvoll in neuartigen Situationen zu agieren (Handlungskompetenz),

zweckmäßige Lösungen für konkrete Aufgabenstellungen zu finden (Fachkompetenz), effektiv und konstruktiv mit anderen Personen zusammenzuarbeiten (Sozialkompetenz), Techniken und Verfahren anzuwenden, die in unterschiedlichen Kontexten zu wünschenswerten Ergebnissen führen (Methodenkompetenz), sowie nach Werten, Normen und Grundsätzen zu leben, die eine integre und bedürfnisgerechte Selbstentwicklung ermöglichen (persönliche Kompetenz). Werden Bezüge zu Erfolgsfaktoren beruflicher Selbstständigkeit hergestellt, würden sich Eigeninitiative der Kategorie Handlungskompetenz und Einzigartigkeit (»uniqueness«) von Wissen der Kategorie Fachkompetenz zuordnen lassen. Fertigkeiten der Beeinflussung und Überzeugung würden in die Kategorie soziale Kompetenz, sich selbst führen in die Kategorien Methodenkompetenz (proaktive Verhaltens- und Umfeldgestaltung) und persönliche Kompetenz (innere Transparenz, Zielsetzung) fallen. Im Rahmen von Ansätzen, in denen Kompetenz als allgemeine Disposition betrachtet wird, die Personen qualifiziert, eigenverantwortlich zu handeln (Erpenbeck & von Rosenstiel, 2003) (7 Beispiel), kommt kompetenter Selbstführung eine herausgehobene Bedeutung zu, da sie sich aus zahlreichen Fertigkeiten zusammensetzt, die für den Erfolg beruflicher Selbstständigkeit eine Rolle spielen (vgl. Neck, Neck, Manz & Godwin, 1999). Beispiel

Otto Kern ist Designer, Modemacher und Gründer einer Firma, die die Kleiderkollektion »Otto Kern« zu einer führenden Modemarke gemacht hat. Er beschreibt sein Erfolgsgeheimnis wie folgt: »Man muss eine Marktlücke erst einmal erkennen. Dann spielt der richtige Zeitpunkt eine wichtige Rolle, das Glück, im richtigen Moment die richtigen Leute zu treffen« (Jenewein & Dinger, 1998, S. 129). Otto Kern erkannte durch Aushilfstätigkeit bei einem Herrenausstatter sehr frühzeitig, dass für taillierte Hemden eine große Nachfrage besteht. Solche Hemden selbst zu entwerfen und herzustellen, lag nahe, weil die Mutter eine Wäschefabrik betrieb, mit der Waren schnell und kostengünstig produziert werden konnten. Nach Innovationen wie Waschseite und Rolodruck ließ sich die Kollektion erweitern und die Marke auch international etablieren. Hinzu kamen Begeg6

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Kapitel 19 · Berufliche Selbstständigkeit

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nungen, aus denen äußerst erfolgreiche Marketingstrategien und Werbeaktionen hervorgingen. Otto Kern hat die Mehrzahl seiner Firmenanteile inzwischen verkauft, um sich wiederum mehr kreativ betätigen zu können.

Zu den Erfolgsfaktoren des unmittelbaren sozialen Umfelds gehören in erster Linie Partner, die den Schritt in die Selbstständigkeit begleiten möchten. Feststellbar ist, dass Teamgründungen zumeist eine ökonomisch erfolgreichere Entwicklung als Einzelgründungen nehmen (Kirchhoff, Klandt & Winand, 1994). Lechler und Gemünden (2003) untersuchten über 150 Gründer- und Unternehmerteams aus dem Industrie- und IT-Bereich, um herauszufinden, welche interaktions-, kommunikations- und kooperationsrelevanten Faktoren zu Erfolgsunterschieden zwischen Unternehmensteams beitragen. Dabei zeigte sich: 4 Kooperationsrelevante Fach- und Sozialkompetenz (Branchenerfahrung, Heterogenität der Branchenerfahrung, Erfahrung mit Teamarbeit) korreliert mit quantitativen bzw. »harten« Erfolgsindikatoren, insbesondere Umsatzzahlen. 4 Interaktions- und kommunikationsrelevante Faktoren wie wechselseitige Unterstützung, Gruppen zusammenhalt, gemeinsames Engagement und konstruktives Konfliktmanagement korrelieren ausschließlich mit qualitativen bzw. »weichen« Erfolgsindikatoren (Kundenzufriedenheit, subjektive Erfolgseinschätzung, wahrgenommener Wettbewerbsvorteil). 4 Beziehungen zwischen interaktions- und kommunikationsrelevanten Faktoren einerseits und qualitativen Erfolgsindikatoren andererseits sind nicht in allen Phasen der unternehmerischen Entwicklung gleich. Als besonders erfolgskritisch stellen sich in diesem Zusammenhang die ersten Geschäftsjahre heraus. Zu Personen des unmittelbaren sozialen Umfelds gehören neben Gründungspartnern auch relevante Bezugspersonen (7 Abschn. 19.2.4; 7 Beispiel). In einer repräsentativen Gründerstudie wurde von Brüderl, Preisendörfer und Ziegler (1998) die Bedeutung sozialer Netze untersucht. Die Forscher unterscheiden zwischen starken sozialen Netzen und engen Bindungen zu Bezugspersonen und schwachen sozialen Netzen und lockeren Bindungen zu Bezugspersonen. Ihre Befunde verdeutlichen:

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Die Überlebenschancen der untersuchten Selbstständigkeitsinitiativen waren um durchschnittlich 12% besser, wenn den Gründern positive Erwartungshaltungen aus starken sozialen Netzen (Eheoder Lebenspartner, Eltern, Verwandte und Freunde) entgegengebracht wurden, und um weitere 10%, wenn sie zudem emotionale Unterstützung durch Ehe- oder Lebenspartner erhielten. Selbstständigkeitsinitiativen entwickelten sich auch ökonomisch (Umsatzzuwachs) um durchschnittlich 17% erfolgreicher, wenn Unterstützung durch starke soziale Netze vorhanden war. Weitere 14% erbrachten schwache soziale Netze, d. h. Unterstützung durch ehemalige Arbeitskollegen, Bekannte und geschäftlich nutzbare Berufskontakte. Von Greve (1995) wurde gefunden, dass sich auch die Bedeutung sozialer Netze im Verlauf einer Unternehmensentwicklung verändert. Vor und während der Unternehmensgründung wird in erster Linie die Unterstützung starker sozialer Netze in Anspruch genommen, während sich länger unternehmerisch tätige Personen zunehmend schwacher sozialer Netze bedienen, um Kundenbeziehungen anzubahnen und Zugang zu geschäftlich interessanten Kontakten zu erhalten. Beispiel

Eine Pädagogin, die sich mit einem Projekt »Kinderfreizeit mit Tieren« selbstständig gemacht hat, merkt an: »… mein Mann sorgt mit seinem Job für unsere finanzielle Absicherung, damit ich etwas aufbauen konnte, ohne große Kredite aufnehmen zu müssen. … Wir haben eine gut funktionierende Familie und einen Freundeskreis, auf den man sich verlassen kann. Als ich kürzlich einen Unfall hatte, haben alle dafür gesorgt, dass die Kinderfreizeiten zumindest auf kleiner Flamme weitergeführt werden konnten …«. Ein Einzelhandelskaufmann, der ein Kioskgeschäft übernommen hat, erinnert sich: »In erster Linie hatmichmeineFrauunterstütztundgesagt:›Mach’s!‹. In zweiter Linie eine Bekannte, die die Buchführung gemacht hat. Und in dritter Linie eine Freundin der Familie, die sich mit Steuerfragen auskennt …«. Für 2 freiberufliche Bühnenbildner kam Unterstützung »vom Mann im Hintergrund, der uns in kaufmännischen Dingen den Rücken freihält« (alle Zitate aus Medienkoffer Selbstständigkeit, 2000).

391 19.3 · Erfolgsfaktoren beruflicher Selbstständigkeit

Zum mittelbaren sozialen Umfeld gehören ökonomische, kulturelle und politische Rahmenbedingungen beruflicher Selbstständigkeit. Davidson und Wiklund (1997) fanden, dass wirtschaftliche und politische Unterschiede auf regionaler Ebene kaum Auswirkungen auf die Häufigkeit von Unternehmensgründungen haben. Unterschiedliche Auswirkungen gehen offenbar eher von globaleren Rahmenbedingungen aus (McGrath, 1999). In individualistischen Wirtschaftskulturen (USA, Europa) herrscht im Allgemeinen ein unternehmerfreundlicheres Klima vor als in kollektivistischen Wirtschaftskulturen (China, Japan). Ein bestimmender Faktor dürfte hierbei die Einschätzung von Risiken sein, die mit einem Schritt in die Selbstständigkeit verbunden sind. In individualistischen Wirtschaftskulturen, die Werte wie Autonomie, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung betonen, nehmen Personen leichter unternehmerische Risiken auf sich als in kollektivistischen Wirtschaftskulturen, für die Werte wie Gruppenzugehörigkeit, Solidarität und soziale Verantwortung im Vordergrund stehen. Daraus resultieren einerseits niedrigere Hemmschwellen, sich selbstständig zu machen, andererseits jedoch auch ein geringerer Verantwortungsdruck, wenn es zur Gründung oder Übernahme eines Unternehmens kommt und Konsequenzen eines möglichen Scheiterns bedacht werden müssen. Je nach wirtschaftskulturellem Umfeld können sich Strategien unternehmerischer Handlungsplanung eher erfolgsförderlich oder -hinderlich auswirken. Während detailliertes und genaues Planen in sicherheitsbetonten Wirtschaftskulturen wie etwa Deutschland ein Erfolgsfaktor für Gründungsinitiativen sein kann, wirkt es sich in risikofreudigeren Wirtschaftskulturen wie etwa Irland eher nachteilig aus (Rauch, 1998). Ähnliche Unterschiede scheint es bei einem mehr oder weniger ausgeprägten Wettbewerbsklima (Rauch & Frese, 2000) und bei einer mehr oder weniger gut entwickelten Wirtschaft in Ländern der Dritten Welt zu geben (Frese, 2000). 19.3.3

Erfolgsabträgliche Faktoren

In über der Hälfte aller Fälle scheitern Existenzgründungen während der ersten 5 Jahre ihres Bestehens (Headd, 2003; Bender 2006). Gründe hierfür mögen in politischen, wirtschaftlichen oder infrastrukturellen Rahmenbedingungen liegen, die sich der Kontrolle durch Selbstständige entziehen und Anpassungsleistungen er-

fordern, die ein Teil der Selbstständigen nicht (mehr) erbringen kann. Daneben scheitern Gründungen aber auch oftmals an Finanzierungsschwierigkeiten, die bereits mit einem zu gering bemessenen Startkapital beginnen und sich über eine unzureichende Finanzplanung, finanzielle Ausfälle, schlechte Zahlungsmoral und Wegfall von Kunden zu einer existenziellen Krise ausweiten können. Inzwischen ist jedoch erkannt worden, dass eine gewisse Blauäugigkeit in betriebswirtschaftlichen Belangen nicht der einzige Grund ist und dass oft auch Qualifikations-, Eignungs- und Kompetenzdefizite für ein Scheitern von Selbstständigkeitsinitiativen verantwortlich sind. Zum »Härtetest« vor einem Unternehmensstart gehört seither, und zwar in dieser Reihenfolge: 1. Feststellung der persönlichen Eignung und Leistungsfähigkeit des Gründers 2. Feststellung der Marktfähigkeit der jeweiligen Produkte oder Dienstleistungen 3. Feststellung der Tragfähigkeit der Kapitalausstattung und Finanzplanung Zu erfolgsabträglichen Faktoren würden in erster Linie nicht vorhandene erfolgsförderliche Eignungsausprägungen gehören. Allerdings muss auch das Vorhandensein erfolgsförderlicher Eignungsausprägungen nicht notwendig vor dem Scheitern als Unternehmer oder Selbstständiger schützen. Dazu haben Baron (2000) und Baron und Markman (2005) interessante Forschungsergebnisse veröffentlicht. Erkenntnisse ihrer Untersuchungen machen deutlich, dass unternehmerisch tätige Personen auf Grund einer ausgeprägten Handlungsorientierung und Neigung, die Initiative zu ergreifen, anfälliger für schemageleitetes, »heuristisches« Denken sind und Gefahr laufen, speziell in komplexen Problem- und Entscheidungssituationen durch weniger sorgfältige Informationsverarbeitung einer fehlerhaften Einschätzung und Urteilsbildung aufzusitzen. Starke Ausprägungen selbstständigkeitsrelevanter Eigenschaften wie internale Kontrollüberzeugung, Unabhängigkeitsstreben oder Antriebsstärke tragen nicht selten ebenfalls dazu bei, dass unternehmerisch tätige Personen sich selbst überschätzen, zu optimistische Ergebniserwartungen entwickeln oder Erfolge aus vergangenen Geschäften verallgemeinern und vorschnell daraus auf den erfolgreichen Ausgang augenblicklicher Geschäfte schließen. Auch bei Selbstständigen mit zu stark ausgeprägter Risikoneigung kann vermutet werden, dass sie anfällig für eine die Tatsachen verzerrende Realitätswahrnehmung sind. Ihr kogni-

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Kapitel 19 · Berufliche Selbstständigkeit

tives Handicap besteht darin, dass sie Konsequenzen möglicher Entscheidungsalternativen nicht eingehend genug daraufhin analysieren, wie mit kalkulierbarer Wahrscheinlichkeit vorteilhafte Ergebnisse zu erreichen sind. Haben sie in der Start- und Frühphase ihres Unternehmens zudem noch die Erfahrung gemacht, mit riskanten Entscheidungen viel gewinnen zu können, stellt sich nicht selten »gelernte Sorglosigkeit« (Frey & Schultz-Hardt, 1997) und die Überzeugung ein, man sei in der Lage, gefährliche Situationen auch in Zukunft meistern zu können. Es müssen nicht immer nur individuelle Fehlleistungen sein, die Selbstständigkeitsinitiativen scheitern lassen. Auch der soziale Kontext kann dazu beitragen, Unternehmen in den Konkurs zu treiben. Teamgründungen mögen im Durchschnitt zwar Startvorteile gegenüber Einzelgründungen haben (7 Abschn. 19.3.2), in der weiteren Entwicklung von Unternehmen können sich Startvorteile jedoch auch ins Gegenteil verkehren. So ist es z. B. möglich, dass eine durchaus wünschenswerte Heterogenität der Partner in Bezug auf Bedürfnisse und Fähigkeiten zu Kommunikationsproblemen und Kompetenzgerangel führt, dass Partner erst im Verlaufe ihrer Zusammenarbeit entdecken, nicht die gleichen Überzeugungen und Werthaltungen zu teilen, oder dass ursprünglich gleichberechtigte Partner miteinander in Konflikt geraten, wenn veränderte Geschäftsanforderungen eine neue Aufgabenverteilung notwendig machen. Handelberg, Vyakarnam und Jacobs (1998) begleiteten Gründungsteams über einen längeren Zeitraum hinweg und beobachteten, dass sich die Unternehmen häufig über eine Ausdifferenzierung und Verschiebung von Verantwortlichkeiten entwickelten, mit denen nicht alle Partner immer gleich gut zurechtkamen. Hier kann das Ausscheiden einzelner Partner durchaus existenzielle Krisen heraufbeschwören, wie folgendes Zitat aus der Dokumentation eines konkreten Einzelfalls beleuchtet: Zwischen (… beiden Partnern …) kam es immer häufiger zu Meinungsverschiedenheiten. Irgendwann bereute (… der Gründungsinitiator …), keinen formalen Vertrag geschlossen zu haben. Nach anderthalb Jahren stritten sich die beiden nur noch. Das blieb den Kunden nicht verborgen, und auch die Mitarbeiter (…) sahen es mit Befremden. Kurz vor dem endgültigen Zerwürfnis zog der Kompagnon die Reißleine und stieg aus. Seither führt (… der Gründungsinitiator …) die Geschäfte alleine und ist froh, dass die Sache so glimpflich ausgegangen ist (Demmer, 2005).

Paradoxerweise können Gefahren aber auch daraus entstehen, dass sich Gründungspartner zu gut verstehen und so viel Wert auf Harmonie und soziales Einvernehmen legen, dass Problemlösungen und Entscheidungen ungeachtet sachlicher Erfordernisse dem Konsensprinzip und Gruppenzusammenhalt untergeordnet werden. Dieses in der sozialpsychologischen Forschung als »Gruppendenken« (»groupthink«) bekannte Phänomen hat v. a. dann negative Auswirkungen, wenn in Gründerteams sehr ähnliche Einstellungen vorhanden sind, »Teamspirit« oder Einmütigkeit große Bedeutung besitzen und Zeit- oder Entscheidungsdruck vorhanden ist (vgl. Frey & Schultz-Hardt, 2000). Gründungspartner, deren Zusammenarbeit auf Sympathie oder Freundschaft beruht, befinden sich nicht selten in einer Situation, die das soziale Einvernehmen über eine unter Umständen nur kontrovers erreichbare Problemlösung stellt. Ist durch den Wettbewerb um Kunden und AufträInfo-Box

Konkurs der Unternehmensgruppe Kirch – Arroganz des Erfolgs? Nach Ansicht der Sozial- und Wirtschaftspsychologen Frey und Greitemeyer (2002) haben die zunächst erzielten und z. T. sehr eindrucksvollen Erfolge der Unternehmensgruppe »gelernte Sorglosigkeit« entstehen lassen, so dass Entscheidungen der Unternehmensführung nicht mehr kritisch hinterfragt, sondern als sakrosankt eingeschätzt wurden. Erfolgsaura und Charisma Leo Kirchs und die in maßgeblichen Entscheidungsgremien geteilte Ansicht, auf dem richtigen Weg zu sein, verstellten selbst dann noch den Blick für die Realität, als sich Fehlentwicklungen längst abzuzeichnen begannen und geschäftliche Misserfolge zunahmen. Brisanz erhielt die Situation zudem dadurch, dass es auch im Umfeld mächtige Protagonisten gab, für die ein Konkurs der Unternehmensgruppe mit Gesichtsverlust verbunden gewesen wäre. So wurde das Unternehmen selbst dann noch durch Banken und politische Interventionen unterstützt, als eine Rettung für Experten längst nicht mehr möglich erschien. Mit dem Ende äußerten sich sodann viele Akteure und Beteiligte, dass sie immer schon gewusst hätten, wie die Sache ausgeht (»Knew-it-all-along-Phänomen«), um von der eigenen Verantwortung abzulenken.

393 19.4 · Förderung beruflich selbstständigen Verhaltens

ge zudem schnelles Handeln erforderlich, kann es leicht zu Fehlentscheidungen kommen, die Gefahren für das Unternehmen heraufbeschwören. »Escalation of commitment«, ein weiteres ebenfalls aus der Sozialpsychologie bekanntes Phänomen, verhindert zudem nicht selten, dass die Partner aus ihren Fehlern lernen. Um sich selbst und anderen nicht eingestehen zu müssen, falsch gehandelt zu haben, neigen die Partner dazu, an einmal getroffenen Entscheidungen festzuhalten und die Angemessenheit dieser Entscheidungen sogar noch dadurch zu unterstreichen, dass sie umso nachdrücklicher am eingeschlagenen Kurs festhalten. Destruktive Wirkungen dieser Phänomene haben möglicherweise auch dazu beigetragen, den spektakulären Konkurs eines prominenten Unternehmens zu beschleunigen (7 Info-Box). 19.4

Förderung beruflich selbstständigen Verhaltens

19.4.1

Ausbildung

In Deutschland gibt es erst seit relativ kurzer Zeit Ausund Weiterbildungsangebote, die explizit auf berufliche Selbstständigkeit oder die Gründung bzw. Übernahme eines Unternehmens vorbereiten (vgl. Klandt, 2004). In den USA besitzt »entrepreneurial education« schon eine etwas längere Tradition (vgl. Vesper, 1980). Sie ist dort zumeist an Universitäten angesiedelt, wobei sich Konzeption und Zuschnitt von Lehr- und Lernmethoden primär an allgemeinen Anforderungen selbstständiger Tätigkeit orientieren. In der universitären Ausbildung wird hier wie dort propagiert, eine reine Wissensvermittlung durch aktivierende Lernformen, konkrete Übungserfahrungen und individuell ausgestaltbare Lernaufgaben anzureichern. Veranstaltungen sollten 4 eine eigenständige Erarbeitung von Wissensinhalten ermöglichen, 4 eine Umsetzung von Wissen in konkrete Unternehmenspläne thematisieren, 4 Vorträge und Präsentationen von Unternehmern und Gründungsberatern beinhalten, 4 Exkursionen zu erfolgreichen Jungunternehmen im Programm haben, 4 fachliches Wissen durch Planspiele und soziale Kompetenz durch Projektarbeit vertiefen.

Als besonders geeignete Methode, selbstständigkeitsrelevantes Wissen zu vermitteln, wird der Einsatz komplexer, zumeist computerunterstützter Planspiele angesehen (Klandt, 1998). Es gibt Planspiele, in denen betriebswirtschaftliche Aufgaben und Anforderungen simuliert werden, die für die ersten Jahre einer Unternehmensgründung charakteristisch sind (Schmitt-Rodermund & Schröder, 2004). In anderen Planspielen kann der Umgang mit Investoren und Kunden (Low, Venkataraman & Srivatsan, 1994), die Planung und Implementierung von Innovationen (Robbins, 1994), die Vorbereitung gründungsrelevanter Marktentscheidungen (Thavikulwat, 1995) oder das Verhalten in teils kooperativen, teils konkurrenzbetonten Geschäftswelten geübt werden (Robinson, 1996). Universitäre Ausbildungskonzepte sind in ihrer Effektivität empirisch bislang erst ansatzweise untersucht worden. Ergebnisse von Evaluationsstudien aus den USA sprechen auf den ersten Blick dafür, dass sich der Besuch entsprechender Veranstaltungen positiv auf die Anzahl von Unternehmensgründungen (+18,2%, vgl. Charney & Liebcap, 2000) und die Überlebensrate in der Selbstständigkeit (+22%, vgl. Menzies & Paradi, 2002) auswirkt. Bei der Interpretation dieser Zahlen ist jedoch Vorsicht angebracht. Der Selbstselektionsanteil von Studierenden, die sich durch »entrepreneurial education« angesprochen fühlen, kann beträchtlich sein, so dass hinter festgestellten Erfolgszahlen neben Auswirkungen eines bestimmten Ausbildungsangebots auch Auswirkungen schon vorher vorhandener persönlicher Affinitäten von Studierenden oder Wechselwirkungen zwischen Lerninhalten und Eignungsvoraussetzungen vermutet werden können. Untersuchungsergebnisse aus Deutschland lassen im Vergleich zu Befunden aus den USA bislang eine eher ernüchternde Bilanz erkennen (Isfan, Moog & Backes-Gellner, 2005; Jacob & Richter, 2005). 19.4.2

Weiterbildung und Beratung

Außeruniversitäre Weiterbildung findet zu einem großen Teil in Existenzgründerseminaren öffentlicher oder privater Anbieter statt. Das mit solchen Seminaren verfolgte Weiterbildungsziel besteht üblicherweise darin, eine möglichst breite Palette selbstständigkeitsrelevanten Wissens zu vermitteln. Existenzgründerseminare werden nur zum kleineren Teil von Personen besucht,

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Kapitel 19 · Berufliche Selbstständigkeit

die aus eigenem Antrieb eine berufliche Veränderung anstreben und von den Perspektiven einer selbstständigen Erwerbstätigkeit angesprochen werden. Es überwiegen Teilnehmer, für die berufliche Selbstständigkeit eher eine aus der Not geborene Perspektive ist. Dies trifft besonders für Seminare öffentlicher Anbieter zu (z. B. Agentur für Arbeit), deren Teilnehmer oftmals Arbeitssuchende oder Beschäftigte sind, deren Arbeitsplätze von Streichung bedroht sind. Auch wenn zielgruppenspezifische Besonderheiten berücksichtigt werden, stehen in fast allen Seminaren dieser Art betriebswirtschaftliche Inhalte im Vordergrund. Diese reichen von Finanzierungskonzepten und Fördermöglichkeiten über rechtliche und steuerliche Aspekte (Gesellschaftsformen, Arbeits-, Vertrags-, Patentrecht) bis hin zu Themen wie Versicherung, Controlling, Marketing und Organisation. Wenn eine Vermittlung betriebswirtschaftlichen Wissens nicht durch individuelle Beratungsangebote und Unterstützung in finanziellen Belangen ergänzt wird, ist die Erfolgsquote derartiger Weiterbildungsangebote gering. Kombiniert mit Beratung, wie ein passgenauer Geschäftsplan entwickelt und formal korrekt gestaltet werden sollte und wie eine solide Finanzierung zu erreichen ist, können jedoch auch Existenzgründerseminare einen wertvollen Beitrag zur Förderung unternehmerischen Verhaltens leisten. Eine erste deutschlandweite Evaluation der beiden von der Agentur für Arbeit aufgelegten Programme »Existenzgründerzuschuss« und »Überbrückungsgeld«, deren Inanspruchnahme auch Bildungs- und Beratungsmaßnahmen einschließt, hat gezeigt, dass nach 16 Monaten noch zwischen 70 und 80% der geförderten Personen selbstständig tätig gewesen sind (Marco, Kritikos & Wießner, in Druck). Im Mittelpunkt herkömmlicher Existenzgründungsberatung steht zumeist die Entwicklung und Überprüfung von Geschäftsplänen und Finanzierungskonzepten. Beide Beratungsschwerpunkte sind nach wie vor sehr wichtig, um den Erfolg eines Gründungsvorhabens abschätzen zu können. Der »Härtetest« (7 Abschn. 19.3.3) würde hier jedoch einen weiteren Beratungsschwerpunkt nahe legen, der bisher vernachlässigt worden ist: die Diagnose der persönlichen Eignung und Leistungsfähigkeit von Gründern und eine Besprechung möglicher Konsequenzen, die sich aus festgestellten Stärken und Schwächen für das Gründungsvorhaben ergeben können. Zur Feststellung der persönlichen Eignung ist mit dem Fragebogen zur Diagnose unternehmerischer Potenziale

(F-DUP) ein speziell für berufliche Selbstständigkeit zugeschnittenes Testverfahren entwickelt worden (Müller, 2004b, Müller & Gappisch, 2005). In der Standardversion misst der Test 7, in der erweiterten Version 12 Eignungsmerkmale. Ein Summenwert der Ausprägung aller getesteten Merkmale ermöglicht die Abschätzung des unternehmerischen Gesamtpotenzials. Ein Ausprägungsprofil einzelner Merkmale gibt Aufschluss, welche Stärken und Schwächen vorhanden sind. Ein aufwändigeres Verfahren ist zumeist erforderlich, um die Leistungsfähigkeit von Gründern abschätzen zu können. Hierfür reichen Testdiagnosen allein nicht aus. Zu ergänzen wären Beobachtungen in selbstständigkeitsrelevanten Leistungsprüfsituationen, wie sie etwa die als Assessment Center konzipierte »Hohenheimer Gründerdiagnose« enthält (Schuler & Rolfs, 2000). Neben einer stärker diagnostischen Ausrichtung lässt sich die Beratung von Existenzgründern und Existenzgründerinnen auch durch Coaching verbessern (Göbel & Frese, 1998; Scholz, 2000). Coaching impliziert eine zumeist längerfristige Begleitung von Gründern, wobei weniger die fachliche Weiterbildung vor einer Unternehmensgründung, sondern eine Beratung im Vordergrund steht, die der Entwicklung unternehmerisch relevanter sozialer und persönlicher Kompetenzen dient. Eignungsdiagnosen und Coaching müssen nicht nur einer individuellen Gründungsberatung vorbehalten bleiben. Sie können auch Gründungsteams den Start in die Selbstständigkeit erleichtern. Zumeist bestimmen Fachinteressen und wechselseitige Sympathien, nicht selten auch Zufälle, wie sich Gründungsteams finden und zusammensetzen. Ob die Partner auch die nötige unternehmerische Eignung besitzen, bleibt oftmals offen. Eignungsdiagnosen eröffnen eine Reihe von Möglichkeiten. Da es im Team auf die Summe individueller Eignungspotenziale ankommt, müssen Schwächen einzelner Partner nicht notwendig als Risikofaktoren eingestuft werden, wenn diese durch Stärken anderer Partner ausgeglichen werden können. Die Feststellung ähnlicher oder einander ergänzender Potenziale ermöglicht es zudem, Gründungsteams fundiert zu beraten, wie eine sinnvolle Rollen- und Aufgabenverteilung aussehen könnte und welche selbstständigkeitsrelevanten Kompetenzen ggf. zu trainieren wären, falls nach wie vor Eignungsdefizite vorhanden sein sollten. Optimale Eignungsvoraussetzungen sind zwar notwendige, jedoch noch keine hinreichenden Bedingungen, damit sich eine gut funktionierende Zusammenarbeit zwischen den

395 19.5 · Perspektiven einer psychologischen Betrachtungsweise

Partnern entwickelt. Belastungsdruck, geschäftliche Unsicherheit und Entscheidungszwänge beinträchtigen nicht selten die Kooperation. Hier kann Teamcoaching einen wichtigen Beitrag leisten und die Partner befähigen, konstruktiver mit Konflikten und Spannungen umzugehen, interne Abstimmungs- und Kommunikationsprozesse zu verbessern und die Arbeitsbeziehungen so zu organisieren, dass das Team von Synergien zu profitieren vermag. 19.5

Perspektiven einer psychologischen Betrachtungsweise

Die Ausführungen dieses Kapitels dürften gezeigt haben, dass sich eine psychologische Betrachtungsweise beruflicher Selbstständigkeit durch interessante Theorien und empirisch fundierte Erkenntnisse auszeichnet und das Verständnis einer Erwerbsform zu vertiefen vermag, die wirtschaftlich und gesellschaftlich bedeutsam ist. Die selbstständig tätigen Personen, die bisher im Fokus psychologischer Untersuchungen gestanden haben, können als »Economic Entrepreneurs« bezeichnet werden, als Unternehmer, die sich mit eigenen Erwerbsinitiativen in Markt- und Wirtschaftskreisläufen bewegen und dort erfolgreich tätig sind. Bei ihnen stehen zumeist individuelle Erwerbsinteressen im Vordergrund. Hauptbeweggrund ihres unternehmerischen Handelns ist, Erträge zu erwirtschaften, um den materiellen Lebensstandard zu sichern und Wohlstand zu vermehren. Auch der Nutzen für Kunden und Geschäftpartner, der Beitrag zum Gemeinwohl (z. B. Arbeitsplätze zu schaffen) oder (Re)Investitionen in das Unternehmen dienen letztlich diesem Zweck. Berufliche Selbstständigkeit und Unternehmertum müssen jedoch nicht notwendig nur ökonomisch motiviert sein. Ein erweitertes Verständnis dieser Arbeits- und Erwerbsform schließt auch den 7 »Social Entrepreneur« mit ein, dessen Initiativen im Non-Profit-Bereich oder Bürgersektor angesiedelt sind (Bornstein, 2004). Dieser Unternehmer folgt weniger individuellen Erwerbsinteressen, obwohl dies nicht bedeuten muss, dass er etwa nur ehrenamtlich tätig ist. Er bewegt sich mit seinen Vorhaben hauptsächlich in zivilgesellschaftlichen Kreisläufen und engagiert sich insbesondere dort, wo aufgrund problematischer Entwicklungen oder sozialer Missstände Veränderungen erforderlich sind (Bekämpfung von Armut, Analphabetismus,

Krankheit, Umweltzerstörung, Schutz von Kindern, Behinderten, Benachteiligten, Minderheiten). Bornstein (2004) dokumentiert Initiativen einer Reihe prominenter Sozialunternehmer wie Muhammad Yunus (Grameen Bank, Bangladesch), James Grant (Child Survival, USA) und Veronica Khose (häusliche Pflege für AIDS-Patienten, Südafrika) und beschreibt Eindrücke, die er aus Interviews mit diesen und anderen Vertretern einer weltweit größer werdenden Klasse entsprechend engagierter Persönlichkeiten gewonnen hat. Der erfolgreiche Social Entrepreneur zeichnet sich seiner Meinung nach durch 6 Eigenschaften aus, die auf gewisse Besonderheiten, daneben aber auch auf Gemeinsamkeiten mit dem Economic Entrepreneur hinweisen: Ein wesentlicher Unterschied bestehe in der Motivation des Unternehmers, die aus einer langfristigen Perspektive und einer Zielvision großer persönlicher Bedeutsamkeit resultiere. Ein zweiter Unterschied sei die ethische Grundlage dieser Motivation. Es wird in diesem Zusammenhang Fábio Rosa zitiert, der in Brasilien ein Projekt betreibt, ländliche Gebiete mit Solarenergie zu versorgen: Ich versuche einen kleinen Teil jener Welt zu verwirklichen, in der ich gerne leben würde. Für mich ist ein Projekt nur dann sinnvoll, wenn es geeignet ist, Menschen glücklicher zu machen und zur Erhaltung der Umwelt beizutragen, und wenn es die Hoffung auf eine bessere Zukunft nährt (Bornstein, 2004, S. 312).

Von der Neigung, an einem in der Vergangenheit erfolgreichen Geschäftsmodell festzuhalten, selbst wenn sich die Anzeichen für eine Krise mehren, scheint auch der Social Entrepreneur nicht verschont zu werden (z. B. wäre daran vor 8 Jahren beinahe die Grameen Bank gescheitert). Auch die Bereitschaft, Anerkennung für unternehmerische Leistungen mit anderen zu teilen, neue Geschäftsideen auszuprobieren, noch unerschlossene Marktnischen und Kundenbedürfnisse zu entdecken oder beharrlich an der Verwirklichung einer unternehmerischen Vision zu arbeiten, sind Merkmale, die sich in ähnlicher Weise beim Economic Entrepreneur finden lassen. Letztlich dürften Social und Economic Entrepreneur mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede aufweisen. Der Social Entrepreneur zeichnet sich allenfalls durch besondere Akzentuierungen bei den Werten und Beweggründen seines Handelns und bei den Domänen aus, in denen er sich mit seinen Initiativen bewegt. Es ist daher vermutlich nicht erforderlich, spezifische Theorien

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Kapitel 19 · Berufliche Selbstständigkeit

zu entwickeln, um das Verhalten des Social Entrepreneurs zu erklären. Gleichwohl könnte es angesichts der zunehmenden Verbreitung von Social Entrepreneurship interessant sein, dieser Form beruflicher Selbstständigkeit in der psychologischen Forschung künftig mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Fazit Berufliche Selbstständigkeit und Unternehmertum können inzwischen, wie die Ausführungen dieses Kapitels verdeutlicht haben dürften, als wichtige Gebiete wirtschaftspsychologischer Forschung und Anwendung betrachtet werden. Es gibt interessante und empirisch bewährte Theorien, die eine Erklärung beruflich selbstständigen und unternehmerischen Verhaltens ermöglichen. Über dispositionelle und situative Bedingungen beruflicher Selbstständigkeit liegen zudem eine ganze Reihe fundierter Erkenntnisse vor, die Aufschlüsse über Erfolgs- und Misserfolgfaktoren unternehmerischen Verhaltens geben. Mit der Anwendung entsprechender Erkenntnisse, wie sich Aus- und Weiterbildung für berufliche Selbstständigkeit verbessern und Beratungsangebote für Existenzgründer optimieren lassen, wird zudem ein wichtiger gesellschaftlicher Beitrag geleistet. Dies gilt auch und in besonderer Weise für die Erforschung von Fragen, die das Verhältnis zwischen ökonomischem und sozialem Unternehmertum beleuchten.

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Kapitel 19 · Berufliche Selbstständigkeit

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Epilog 20

Wirtschaftspsychologie und die Natur des Menschen

– 401

20 20

Wirtschaftspsychologie und die Natur des Menschen Klaus Moser, Roman Soucek

20.1

Wirtschaftspsychologie als angewandte Wissenschaft – 402

20.2

Die Natur des Menschen

20.2.1 20.2.2 20.2.3

Der Mensch als rational handelndes Wesen – 405 Der Mensch als Nutzenmaximierer – 406 Ökonomische Psychologie – 407

20.3

Ethische Fragestellungen in der Wirtschaftspsychologie – 410

20.3.1 20.3.2 20.3.3

Wissenschaft – 410 Unternehmen – 412 Konsumenten – Verbraucher – Bürger – 413

Literatur

– 404

– 414

K. Moser (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie DOI 10.1007/978-3-540-71637-2_20, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007

402

Kapitel 20 · Wirtschaftspsychologie und die Natur des Menschen

> Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden. (Hans Jonas)

20

Auf den nachfolgenden Seiten soll in einer Rückschau auf die vorstehenden Lehrbuchkapitel nochmals gefragt werden, welche Beiträge genau von einer Wirtschaftspsychologie für die Erklärung wirtschaftlichen Verhaltens zu erwarten sind. Dabei wird zunächst reflektiert, inwiefern es sich bei der Wirtschaftspsychologie um »angewandte Psychologie« handelt. Danach greifen wir die im Einleitungskapitel formulierte These auf, dass wirtschaftspsychologische Anwendungen immer Annahmen über die Natur des Menschen und seine Bedürfnisse machen, an die sich die Erörterung einiger ethischer Fragestellungen anschließt, die sich im Bereich der Wirtschaftspsychologie ergeben. Darüber hinaus eröffnen wir den Blick auf eine umfassende Wirtschaftspsychologie und damit auf mögliche zukünftige – bisher noch weniger beachtete – Anwendungsfelder. 20.1

Wirtschaftspsychologie als angewandte Wissenschaft

In welchem Verhältnis stehen psychologische Theorien und Methoden zur Anwendung auf praktische wirtschaftliche Probleme? Handelt es sich bei der Wirtschaftspsychologie um »angewandte Psychologie« oder um »psychologisierendes Praktikerwissen«? Antworten auf diese Fragen können mit der Entwicklung und fortschreitenden Anwendung wirtschaftspsychologischer Methoden, Theorien, Konzepte und Instrumente immer wieder neu gegeben werden. Ein Blick zurück in die Geschichte der Wirtschaftspsychologie zeigt, dass bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts Überlegungen hierzu angestellt wurden, wobei das »Verhältnis von Theorie und Praxis« v. a. im Bereich der Werbepsychologie bereits früh diskutiert wurde. So äußerte bereits Poffenberger (1925) die Auffassung, dass die Psychologie aus 3 verschiedenen Perspektiven heraus für den Bereich der Werbung von Bedeutung sei. Zum einen seien es die Kenntnisse über Fakten und allgemeine Gesetze des menschlichen Erlebens und Verhaltens. Den zweiten Beitrag der Psychologie für die Werbepraxis sieht Poffenberger in der Aufklärung der Grenzen allgemeiner Gesetze durch Untersuchungen über die Unterschiede zwischen Individuen, den Geschlechtern, den Alters-

gruppen usw. Der dritte und nach Auffassung von Poffenberger wichtigste Beitrag der Psychologie besteht in der Bereitstellung von Methoden zur Bewertung von geplanten oder bereits durchgeführten Werbemaßnahmen. Wie bereits im Einleitungskapitel erläutert wurde, ist die erstgenannte Idee, nämlich »allgemeine Gesetze« der Psychologie zu berücksichtigen, für eine Gestaltungswissenschaft so lange unvermeidbar, wie sie soziale Systeme gestaltet und/oder ihre Umwelt sozialen Charakter hat. Aber wie genau ist es gemeint, wenn Wirtschaftspsychologie eine »angewandte Psychologie« ist? Am Beispiel verschiedener Persuasionsprinzipien und -strategien wurde dies in vorliegendem Lehrbuch mehrfach erläutert, wenn etwa sozialpsychologische Gesetzmäßigkeiten auf Probleme der Werbegestaltung und -wirkung angewandt wurden. Allerdings sind an dieser Stelle 2 wichtige Einschränkungen angebracht: Erstens sind solche Anwendungen weniger strenge »logische« Deduktionen, sondern eher Demonstrationen der Anwendbarkeit einer Theorie. Dies bedeutet, dass fehlgeschlagene Ableitungen nur selten zur Widerlegung der Theorien führen, sondern dass man gemeinhin eher von der Nichtanwendbarkeit einer Theorie in einem bestimmten Anwendungsbereich ausgeht. Anhänger bestimmter Theorien der Einstellungsänderung, des Lernens oder der sozialen Wahrnehmung werden also gerne darauf verweisen, wie die Kapitel dieses Buches einmal mehr die große praktische Bedeutung ihrer Theorien demonstrieren, sie werden aber eventuelle kritische Passagen in aller Regel nicht zum Anlass der Revision der theoretischen Annahmen machen, sondern diese ignorieren oder als Spezialfälle abtun (vgl. weiterführend u. a. Moser, Gadenne & Schröder, 1988). Zweitens entwickeln Anwendungsdisziplinen aus guten Gründen spezielle Theorien und Modelle. Dies lässt sich etwa im Bereich der Werbewirkungsmodelle zeigen, die eben nicht nur sozialpsychologische Einstellungsänderungsmodelle umfassen. Hierfür gibt es mehrere Gründe: 1. Grundlagenorientierte psychologische Theorien (z. B. Theorien zur Einstellungsänderung) machen restriktive Annahmen, die dem Ideal der experimentellen Kontrolle geschuldet sind. Beispielsweise werden sie so formuliert, dass dann auch Personen gezielt bestimmten Botschaften ausgesetzt werden und die Wirkungen relativ zeitnah erfasst werden. Demgegenüber müssen wirtschaftspsychologisch relevante Werbewirkungsmodelle berücksichtigen, dass

403 20.1 · Wirtschaftspsychologie als angewandte Wissenschaft

etwa beim genannten Anwendungsbeispiel bereits die Bereitschaft von Rezipienten, sich einer persuasiven Botschaft auszusetzen, eine ernsthafte Herausforderung ist – oder dass auf der anderen Seite die »abhängige Variable« sich im Grunde aus einer Kombination von Wirkungen zusammensetzt. 2. Werbewirkungsmodelle müssen auf institutionelle Vorkehrungen oder technologische Entwicklungen Rücksicht nehmen. Beispielsweise sind aus rechtlichen Gründen manche persuasiven Botschaftsvarianten nicht gestattet, andere aus finanziellen oder technischen Gründen nicht realisierbar. 3. Werbewirkungsmodelle haben ihre Funktion in einem sozialen Zusammenspiel von Interessen der verschiedenen Beteiligten. In diesem Band wurden verschiedene Funktionen von Werbewirkungsmodellen diskutiert (7 Kap. 2). Drei Aspekte seien in Erinnerung gerufen, der ordnungsstiftende Sinn, der heuristische Wert und die politische Funktion. So mögen manche Werbekreative so viel Wert auf Aufmerksamkeitswirkung legen, weil diese auch eine Chance ist, einen der begehrten »Awards« für angeblich besonders kreative Werbung zu gewinnen. Marktforscher hingegen präferieren solche Modelle, zu deren Komponenten sie auch tatsächlich Überprüfungsmethoden haben. Für Entscheider in Unternehmen sollen es am besten plausible und einfache Modelle sein – die nicht etwa zu ungewöhnlichen Schlussfolgerungen führen. In der Tat ist nämlich vieles von dem, was in der Wirtschaftspsychologie getan wird, schlicht Resultat einer Orientierung am Verhalten signifikanter anderer Personen oder Institutionen. Beispielsweise lässt sich zeigen, dass Stilmittel in der Werbegestaltung zyklischen Modewellen folgen (Fay, 1999). Es dürfte viel dafür sprechen, dass wirtschaftspsychologische Anwendungen nur in den seltensten Fällen durch psychologische Theorien inspiriert worden sind, sehr viel bedeutsamer dürfte die dritte weiter oben von Poffenberger (1925) angesprochene Interpretation von »Anwendung« sein, nämlich die Anwendung von Evaluationsmethoden (7 Kap. 10). Dabei ist eigentlich nicht zu übersehen, dass die Anwendung dieser Methoden letztlich nur Sinn macht, wenn man auch angemessene Theorien über Werbewirkung hat (7 Beispiel).

Beispiel

Wenn wir finden, dass durch erotische Stilelemente in der Werbung Aufmerksamkeit gewonnen, aber die Erinnerungsleistung beeinträchtigt wird (Moser, 1997), dann ergeben sich ganz unterschiedliche Konsequenzen für die Bewertung solcher Werbung; wer der Auffassung ist, Werbewirkung bestehe in nichts anderem als der Auslösung von Aufmerksamkeit, der wird ganz anders auf solche Untersuchungsbefunde reagieren als wer meint, Werbung ohne Erinnerungseffekte könne unmöglich etwas bewirken. Um es deutlich zu sagen: Auch der sprichwörtliche »hemdsärmlige Praktiker« kommt nicht ohne Theorien wie die genannte (oder auch noch einfachere) aus; ob sie dann richtig sind, steht aber auf einem anderen Blatt.

Vieles von dem, was »Wirtschaftspsychologie« heute ist, stellt eine Kombination von angewandter Psychologie, psychologischer Technologie und Praktikerwissen dar. In einer sich rasch verändernden Umwelt mögen Alltagserfahrungen und Praktikerwissen, womöglich gar über Generationen hinweg weitergegeben, an Bedeutung verlieren. Aus welchem Erfahrungswissen soll man auch schon ableiten, wie das Internet Einkaufsgewohnheiten verändert oder ob SMS-Technik auch für Werbung genutzt werden kann? Psychologisches Denken, psychologische Methoden und – mit einiger Anstrengung – auch psychologische Grundlagenforschung können die entstehenden Lücken teilweise füllen. Was lange Zeit in der Gestaltung solch unterschiedlicher Anwendungsbereiche wie Werbung, Schulunterricht oder Mitarbeiterführung selbstverständlich war, wird durch technologische Entwicklung, sozialen Wandel, auch durch die zunehmende Erforschung psychologischer Gesetzmäßigkeiten zur Disposition gestellt. Dabei geht eine Wirtschaftspsychologie, wie sie in diesem Lehrbuch vorgestellt wurde, über »klassische« Anwendungsfelder wie die Werbepsychologie deutlich hinaus. Überspitzt formuliert ist es das Anliegen jenes Teilbereichs der Wirtschaftspsychologie, der sich mit der »Konsumtionsseite« beschäftigt hat, lange Zeit gewesen, eben diese Konsumtion zu beeinflussen und den Menschen als »hoffentlich« willfähriges Objekt von Marketingmaßnahmen zu sehen, welche wiederum durch psychologisches Wissen optimiert werden können. Dies mag auch die lange Zeit vorherrschende Abneigung gegen diesen Bereich der

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404

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Kapitel 20 · Wirtschaftspsychologie und die Natur des Menschen

Wirtschaftspsychologie unter jenen erklären, die Psychologie auch studieren vor dem Hintergrund einer respektvollen Perspektive auf den Menschen. Wirtschaftspsychologie ist ein interdisziplinäres Fach, da grundlegende psychologische Erkenntnisse und Methoden in Bereichen angewendet werden, die originär Gegenstand der Wirtschaftswissenschaften sind. Aufgrund dieser interdisziplinären Ausrichtung sieht sich die Wirtschaftspsychologie mit unterschiedlichen Annahmen über Bedürfnisse und »Funktionsweisen« des Menschen konfrontiert, die in den unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen dominieren. Dieses betrifft Annahmen über das wirtschaftliche Verhalten des Individuums ebenso im Bereich der Mikroökonomik wie auf der aggregierten Ebene der Makroökonomik. Die Wirtschaftspsychologie kann dabei oft einen Beitrag zur Erklärung wirtschaftlichen Verhaltens leisten, wenn sie über die wirtschaftlich-rationale Sichtweise des Menschen hinausgeht und ergänzende Aussagen über die Natur des Menschen erfolgreich vermitteln und integrieren kann. So gesehen lässt sich Wirtschaftspsychologie auch in dem Sinne betreiben, dass aus der Perspektive der Wirtschaftswissenschaften nach psychologischer Fundierung gefragt wird. In der Tat lässt sich v. a. seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts eine verstärkte Öffnung der Wirtschaftswissenschaften für psychologische Fragestellungen feststellen, so etwa im Bereich der verhaltensorientierten Entscheidungsforschung. 20.2

Die Natur des Menschen

Wirtschaftspsychologie ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, die sowohl Themen, Theorien, Methoden und Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaften als auch der Psychologie umfasst. Man kann dies aber auch aus Sicht dieser beiden Disziplinen beschreiben: Auf der einen Seite greifen die Wirtschaftswissenschaften Erkenntnisse der psychologischen Forschung auf, um Abweichungen vom regelmäßig postulierten ökonomischrationalen Verhalten des einzelnen Marktakteurs zu erklären. (Genau genommen könnte man natürlich auch sagen, dass dies nur eine besonders einfache psychologische Theorie ist, nämlich dass menschliches Verhalten im mehr oder weniger fortgesetzten Abwägen zwischen unterschiedlich nützlichen Alternativen sowie der Entscheidung für die dann beste besteht.) Auf der anderen

Seite muss sich eine Psychologie, die beansprucht, den Menschen umfassend zu beschreiben und zu erklären, auch damit befassen, dass der Mensch in vielfältiger Weise wirtschaftlich aktiv ist. In der Tat wäre es seltsam, wenn psychologische Theorien nicht den Anspruch hätten, auch das Verhalten von Menschen im wirtschaftlichen Kontext erklären zu können. Wie aber soll sich die Wirtschaftspsychologie ihrem Erkenntnisgegenstand nähern? Eine Antwort darauf lautet, sich die ökonomische Betrachtung zu eigen zu machen und sie dann »psychologisch« zu durchdringen. Beispielsweise tritt für Ökonomen der Mensch 1. als Konsument auf dem Gütermarkt auf und bietet 2. seine Arbeitsleistung und sein Kapital auf dem Faktormarkt an. Die »klassische« Arbeits- und Organisationspsychologie beschäftigt sich mit dem Faktormarkt, und zwar insbesondere mit dem Menschen als Anbieter von Arbeitskraft. Diesen Band einleitend wurde bereits erläutert, dass dieses in diesem Lehrbuch nicht behandelt wird. Sehr wohl haben wir aber erörtert, dass wir zentrale Beiträge der Wirtschaftspsychologie dort sehen, wo sich Ökonomen mit Konsumentenverhalten befassen: Sektion I hätte auch mit »Konsumentenpsychologie« überschrieben werden können. Menschen treten aber nicht nur als Konsumenten auf, sondern bieten auch »Kapital« auf dem Faktormarkt an. Darunter können wir – jedenfalls psychologisch – nicht nur finanzielle Mittel verstehen, sondern alle Ressourcen, die es zu erhalten und zu vermehren gilt. Gewiss wollen wir nicht so weit gehen zu sagen, dass auch Gesundheit explizit als Faktor angeboten wird, es drängt sich allerdings die These auf, dass zumindest gewisse »Trade-offs« vorgenommen werden. Die Beschäftigung mit Problemen der »Work-Life-Balance« (7 Kap. 13) kann auch so verstanden werden, nämlich dass Gesundheit und persönliches Wohlbefinden quasi zugunsten der Berufskarriere vernachlässigt oder gar »geopfert« werden. In der Annäherung an wirtschaftswissenschaftliche Themen sieht sich die Wirtschaftspsychologie mit unterschiedlichen Annahmen über das Erleben und Verhalten des Menschen im wirtschaftlichen Kontext konfrontiert. Im Bereich der Wirtschaftswissenschaften beschäftigt sich insbesondere die Mikroökonomie mit dem Verhalten einzelwirtschaftlicher Akteure. Diese Disziplin verstand lange Zeit den Menschen als rational handelnden Marktteilnehmer, der versucht, seinen eigenen

405 20.2 · Die Natur des Menschen

Nutzen zu maximieren (Homo oeconomicus). Allerdings stieß die Mikroökonomik mit dieser Sichtweise an ihre Grenzen. Nicht nur, dass der Mensch in seiner Rationalität begrenzt ist (Simon, 1955), er handelt auch keineswegs ausschließlich eigennützig. Zumindest ein enges Verständnis von Rationalität scheint nicht nur empirisch falsch zu sein, es scheint auch die Aussagekraft theoretischer Modelle sowie Erkenntnisse über die Natur des Menschen im Wirtschaftsleben einzuschränken. 20.2.1

Der Mensch als rational handelndes Wesen

Insbesondere in der neoklassischen Wirtschaftstheorie (z. B. Söllner, 2001) herrscht die Auffassung vom Menschen als Homo oeconomicus vor: Der Mensch fällt Entscheidungen rational und möchte dadurch seinen eigenen Nutzen maximieren. Allerdings führte diese Annahme v. a. die experimentelle Wirtschaftsforschung an die Grenzen der Erklärung menschlichen Verhaltens. In der Tat führte bereits Simon (1955) vor mehr als 50 Jahren den Begriff der begrenzten Rationalität ein. Er trägt der Tatsache Rechnung, dass keine vollkommene Rationalität vorliegen kann, da dem einzelnen Akteur nicht alle verfügbaren Informationen aufgrund von Unsicherheit bzw. Ungewissheit vorliegen und der Informationskapazität des Menschen Grenzen gesetzt sind (7 Beispiel). In der weiteren Entwicklung wurden v. a. in der ökonomischen Literatur Heuristiken der Entscheidungsfindung sowie Entscheidungsanomalien beschrieben (Frey & Eichenberger, 1989), wobei »Entscheidungsanomalien« als Abweichungen von rationalen Entscheidungen zu verstehen sind. Beispiel

Ein bekanntes Beispiel für begrenzte Rationalität ist der Besitztumseffekt (Thaler, 1980), wonach der wahrgenommene Wert eines Guts höher ist, wenn man es erst einmal besitzt. Dies gilt nicht nur für gebraucht gekaufte Autos oder Lotterielose, sondern auch für Aktien. Solche Phänomene interessieren daher auch die Forschungsrichtung der »behavioral finance« (Shiller, 2003) und werden von Seiten der Psychologie durch das Forschungsfeld der Finanzpsychologie (7 Kap. 11) untersucht.

Nicht nur durch das Aufzeigen systematischer Verzerrungen z. B. bei der Preiswahrnehmung leistet die Finanzpsychologie einen wichtigen Beitrag zur Erklärung und Vorhersage vermeintlich irrationalen Handelns. Bemerkenswert ist, dass sich die Finanzpsychologie – beispielsweise mit der Erforschung des Anlegerverhaltens – insbesondere mit dem Finanzmarkt beschäftigt, der interessanterweise der ökonomischen Vorstellung eines idealen Marktes besonders nahe kommt. (Ein idealer Markt weist folgende Merkmale auf: Homogenität der Güter, Wettbewerb, Markttransparenz und keine räumliche Ausdehnung des Marktes.) Wenn man beispielsweise das Verhalten von Akteuren auf Arbeitsmärkten untersucht und feststellt, dass ihre Entscheidungen für einen Arbeitgeber nicht nur am Ideal eines möglichst hohen Einkommens orientiert sind (Moser & Zempel, 2004), dann wird dies gerne mit der deutlichen Entfernung eines Arbeitsmarktes von einem idealen Markt begründet (Wagner & Jahn, 2004). Auf einem idealen Markt wie dem Finanzmarkt hingegen sollte das Marktverhalten der Akteure nicht durch »Artefakte des Marktes« beeinflusst werden (z. B. beschränkter Zugang zu Informationen oder dem Markt insgesamt). Wenn sich aber selbst hier Entscheidungsanomalien finden lassen, lässt sich dies auf prinzipiellere Probleme mit allzu einfachen Annahmen über die Natur menschlichen Handelns zurückführen. Wie genau können nun aber Wirtschaftswissenschaften und Psychologie zusammenfinden? Zum einen können Erkenntnisse in ein gemeinsames Modell einfließen, wie es im Rahmen der auch in diesem Lehrbuch mehrfach angeführten Prospect Theory geschehen ist (Frey & Eichenberger, 1989). Hier wurde die individuelle Erwartungsnutzenfunktion der Mikroökonomie modifiziert, um die empirisch beobachteten Verhaltensweisen in das theoretische Konzept der Erwartungsnutzenfunktion zu integrieren. Durch die Gewichtung von Wahrscheinlichkeiten ober- und unterhalb des Referenzpunktes wird die unterschiedliche Risikoneigung in das Modell integriert (7 Kap. 11). Letztlich bleibt die Prospect Theory aber eine deskriptive Entscheidungstheorie, die lediglich beobachtetes Verhalten in einem theoretischen Modell abbildet (Thaler, 2000). Ein anderer Weg zur Integration von Erkenntnissen beider Disziplinen besteht in der Klärung von Randbedingungen und Grenzen, unter bzw. in denen rationales Handeln stattfindet. Diese Herangehensweise begreift (begrenzt) rationale Entscheidungen als lediglich eine

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Kapitel 20 · Wirtschaftspsychologie und die Natur des Menschen

Möglichkeit unter vielen, wie in 7 Kap. 3 dieses Bandes mit der Typologisierung von Kaufentscheidungen deutlich wird (s. auch Becker, 2003). Darüber hinaus werden in Kap. 3 Kaufentscheidungen als zielorientiertes Verhalten interpretiert, wobei die Ziele, die einer Entscheidung zugrunde liegen, außerhalb eines wirtschaftlichrationalen Nutzenkalküls liegen oder dieses zumindest ergänzen können. Beispielsweise spielen für Entscheider Ziele wie die Vermeidung negativer Emotionen (»später nichts bereuen wollen«) oder die Rechtfertigbarkeit von Entscheidungen (»vor anderen eine gute Figur abgeben wollen«) eine Rolle. Allerdings stellt sich durchaus die Frage, ob Wirtschaftspsychologie sich hierdurch nicht eher zu einer »Hilfswissenschaft« entwickelt. Denn nach wie vor kann argumentiert werden, dass beispielsweise durch eine einfach zu rechtfertigende Entscheidung ein subjektiver Nutzen für das Individuum entsteht, der dann ergänzend in einer individuellen Erwartungsnutzenfunktion berücksichtigt werden muss. Insofern handelt es sich bei der Frage nach der Rationalität von Entscheidungen darum, zu klären, welche Inhalte Gegenstand eines rationalen Entscheidungsmodells sind. In diesem Sinne kann Rationalität als die Berücksichtigung jener Entscheidungskriterien verstanden werden, die für das Individuum von Bedeutung sind, auch wenn sie außerhalb eines wirtschaftlich-rationalen Nutzenkalküls liegen. 20.2.2

Der Mensch als Nutzenmaximierer

Das Menschenbild des Homo oeconomicus unterstellt dem Menschen eine eigennützige Nutzenmaximierung. Nutzen ergibt sich aus der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Diese beziehen sich nicht nur auf die physiologischen Bedürfnisse des Menschen, die anerkanntermaßen gewissen Sättigungserscheinungen unterliegen, sondern auch auf soziale Bedürfnisse. Ökonomen ziehen es vor, sich über den Inhalt der konkreten Bedürfnisse wenige Gedanken zu machen. Es werden Bedürfnisse unterstellt, die es durch Güter im weitesten Sinne zu befriedigen gilt und deren Wert bestimmt werden kann. Wenn man zudem annimmt, dass Menschen unter gegebenen Umständen wertvollere Güter weniger wertvolleren vorziehen, dann gibt es nur noch ein Problem, nämlich eine allgemeine Maßeinheit für »Wert« zu finden: der Geldwert. Dass solch eine Überlegung sofort dazu führt, das Anhäufen von Geld zu empfehlen – da

Info-Box

Die andere Seite des Reichseins Ein besonders unangenehmer Aspekt des Reichseins ist der Umstand, dass Reiche stets darauf bestehen, nicht wegen ihres Geldes geliebt zu werden. Dabei ist es vollkommen unmöglich, jemanden wegen seines Geldes zu lieben. Man kann ihn allenfalls trotz seines Geldes lieben, denn Geld macht die meisten Menschen anspruchsvoll, wehleidig, kompliziert und komplexiert. Ganze Bibliotheken, Tausende Theaterstücke und Filme verdanken dieser Problematik ihre Existenz. Reiche heiratsfähige Menschen fürchten nichts so sehr, wie an jemanden zu geraten, der es auf ihr Geld abgesehen hat. Und je größer die Angst davor ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass genau das geschieht. Prinzessin Caroline von Monaco wurde ihre ganze Jugend hindurch davor gewarnt, sich mit einem Playboy einzulassen, der nur ihr Geld will – das Resultat war, dass sie auf Philip Junot hereinfiel, der genau den Typus verkörpert, vor dem ihre Eltern sie gewarnt hatten. Dazu statt weiterer deprimierender Fallstudien lieber ein Witz. Zwei New Yorker Ladys sehen sich nach ewiger Zeit wieder. Die eine trägt einen riesigen Diamanten am Finger. »Ach wie schön der ist«, sagt die eine. »Ja«, sagt die andere, »das stimmt. Schade nur, dass der Platnik-Fluch auf ihm lastet.« Was denn der Platnik-Fluch sei, will die erste wissen, darauf die andere: »Herr Platnik« (von Schönburg, 2007, S. 188–189).

damit ja die Bedürfnisse bestmöglich befriedigt werden können – liegt eigentlich auf der Hand. Welche dramatischen Folgen dies haben kann, illustriert die 7 InfoBox. Vor dem Hintergrund der Maximierung des eigenen Nutzens müssten Menschen bevorzugt nichtkooperative Strategien verfolgen, wie beispielsweise am bekannten Gefangenendilemma der Spieltheorie deutlich wird. Die empirische Forschung zu sozialen Dilemmata zeigt dagegen, dass nicht ausschließlich der eigene Nutzen im Vordergrund steht. In 7 Kap. 18 werden diese Aspekte anhand von Beispielen wie Vandalismus oder Steuerhinterziehung ausführlich diskutiert. Insbesondere am Beispiel der Steuerhinterziehung wird deutlich, dass rein ökonomische Modelle das tatsächliche Ausmaß der Hinterziehung nicht erklären können, denn auf Grundlage

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der Abwägung zwischen dem Nutzen der Steuerhinterziehung und der Wahrscheinlichkeit, überführt zu werden, müssten mehr Menschen Steuern hinterziehen. Eine weitere Annäherung an die Realität wird erst durch die Berücksichtigung von Variablen wie Einstellungen, Steuermoral, Gerechtigkeit und sozialen Normen deutlich. Tatsächlich verbreitet sich in der Ökonomie zunehmend die Einsicht, dass es neben materiellen Präferenzen auch handlungsleitende soziale Präferenzen gibt, denen kein unmittelbarer materieller Nutzen gegenübersteht. Solche soziale Präferenzen sind insbesondere die Normen der Fairness und der Reziprozität (Fehr & Schmidt, 2001). Menschen entscheiden sich in vielen Fällen nicht nur deshalb für eine Alternative (z. B. einen Urlaubsort zu buchen, ein Produkt zu bezahlen, an einer Lotterie teilzunehmen, anderen ein Geschenk zu kaufen), weil sie davon etwas »haben«, sondern weil sie die entsprechende Transaktion als fair empfinden und das Prinzip der Reziprozität gewahrt sehen. Die Orientierung menschlichen Verhaltens an solchen sozialen Normen widerspricht klar dem Menschenbild des Homo oeconomicus, das dem Menschen stets die Maximierung des eigenen Nutzens unterstellt. Weitere Beispiele für nicht eigennütziges Handeln sind Engagement im Umweltschutz, Einsatz als Wahlhelfer oder Ehrenämter in Sportvereinen (Mieg & Wehner, 2005). Solche gemeinnützige Tätigkeiten werden in 7 Kap. 18 diskutiert. Hier wird v. a. aufgezeigt, dass im Gegensatz zur Erwerbsarbeit die »Sinnproduktion« eines der starken Motive ist, die freiwilligen gemeinnützigen Tätigkeiten zugrunde liegt. Offensichtlich gibt es also zentrale Bedürfnisse und Bewertungskategorien, die eine Ökonomie, die nur den unmittelbaren ökonomischen Nutzen als handlungsleitend sieht, in Erklärungsnöte bringt. Noch bezeichnender ist allerdings, dass der eher schwache Zusammenhang zwischen Einkommen und persönlichem Glück ein Rätsel für Ökonomen darstellen muss (vgl. Rojas, 2007). Zusammenfassend wurde durch diese Reflexion des Bildes vom Menschen in der klassischen Ökonomik deutlich, dass dieses tatsächliches Verhalten nur unzureichend abbildet und durch psychologische Erkenntnisse bereichert werden kann, man möchte sagen: bereichert werden muss!

20.2.3

Ökonomische Psychologie

Bislang befasste sich der vorliegende Beitrag mit dem wirtschaftlich-rationalen Verhalten von Individuen und stellte damit unterschiedliche Annahmen über menschliches Verhalten der Mikroökonomik einerseits und der Psychologie anderseits auf derselben Aggregatsebene dar. Dabei wurde dargelegt, dass nichtrationales Verhalten durch psychologische Ansätze erklärt und mikroökonomische Modelle um diese Erkenntnisse bereichert werden können. An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob psychologische Faktoren wirtschaftlichen Handelns ebenfalls auf der höheren Aggregatsebene, der Makroökonomik, eine Wirkung entfalten. Manifestieren sich also Abweichungen vom rationalen Entscheidungsmodell einzelner Individuen auf der makroökonomischen Ebene, können psychologische Faktoren sogar Entwicklungen ganzer Märkte und Volkswirtschaften erklären? In diesem Kontext wurden von Ökonomen 2 Argumente gegen die Bedeutung »psychologischer Faktoren« hervorgebracht: 1. Es würden sich die – ja nur zufällig verteilten – Anomalien durch die Aggregation individuellen Verhaltens gegenseitig eliminieren, so dass ein »durchschnittliches« Verhalten resultiert, für das die einzelnen Anomalien keine Rolle mehr spielen. Man könnte dieses Argument auch schlicht auf den Nenner bringen, dass psychologische Effekte zwar vielleicht ganz interessant, aber im Grunde unerheblich seien. Dieser Argumentation kann allerdings nicht gefolgt werden, sofern die Anomalien systematisch auftreten. Eben dies ist der Fall, wie die psychologische Forschung dargelegt hat (Thaler, 1986). Beispielsweise sind regelmäßig auftretende Übertreibungen an Finanzmärkten auf weitgehend kollektiv auftretende Phänomene wie z. B. den »Januareffekt«, also eine fast immer zu findende »Begeisterung« der Investoren an Finanzmärkten zu Jahresbeginn, zurückzuführen (Thaler, 1987). 2. Es wird argumentiert, dass »irrationales« Verhalten auf Dauer nicht im Wettbewerb bestehen könne und letztlich die rationalen Akteure das Marktgeschehen dominieren würden. Hiergegen gibt es 3 Punkte anzuführen. Erstens muss auf den Gegeneinwand verwiesen werden, dass die ausscheidenden Marktteilnehmer regelmäßig durch neue Teilnehmer ersetzt werden, die erneut und gleichermaßen den Anomalien unterliegen. Zweitens wurde gefunden, dass Ex-

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Kapitel 20 · Wirtschaftspsychologie und die Natur des Menschen

perten als entscheidende Akteure, die das Marktgeschehen zum großen Teil beeinflussen, gleichermaßen Entscheidungsanomalien unterliegen (Frey, 1990; Frey & Eichenberger, 1989; 7 Beispiel). Drittens ist unklar, ob diese Annahme überhaupt ernsthaft falsifizierbar – und nicht etwa tautologisch – ist, denn was, wenn gefunden werden würde, dass die erfolgreicheren Akteure Anomalien zeigen, weil sie sich nur dann gegenüber den Investoren mit ihrem Verhalten legitimieren können? Beispiel

Die als »Entscheidungsanomalien« beschriebenen Urteilsheuristiken sind keinesfalls auf Laien beschränkt, sondern treten auch bei Experten auf. Beispielsweise werden auch die Entscheidungen von Experten an Finanzmärkten durch irrelevante Informationen (»anchor effect«) oder durch die Art und Weise der Beschreibung desselben Szenarios (»framing effect«) beeinflusst. Solche Ergebnisse unterstützen die Annahme, dass Urteilsheuristiken bei Laien wie auch Experten »automatisch« angewendet werden und kaum bewusst beeinflusst oder kontrolliert werden können (Stephan & Kiell, 2006). Es handelt sich hierbei zudem um systematische Verzerrungen, d. h. sie sind auch auf der aggregierten Ebene von ganzen Märkten zu beobachten.

Insgesamt sind somit durchaus systematische »psychologische« Verzerrungen auf der makroökonomischen Ebene zu erwarten, wenngleich aktuelle Erkenntnisse auf eine Kontextabhängigkeit des Einflusses von irrational vs. rational handelnden Individuen auf das Marktergebnis hindeuten (Fehr & Tyran, 2005). In der Konsequenz sollten sich Ökonomen fragen, welche Entscheidungsanomalien in der jeweils untersuchten Situation bedeutsam sein könnten, anstatt den Marktteilnehmern rationales Verhalten per Definition zu unterstellen. Ein weiteres Beispiel, wie versucht wurde, wirtschaftspsychologische Modellvorstellungen und Methoden auf gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge zu übertragen, ist die Entwicklung von Maßen zur Vorhersage der konjunkturellen Entwicklung. Die Ausgangsannahme lautet, dass wirtschaftliches Handeln der relevanten Akteure (Unternehmer, Investoren, Führungskräfte, Mitarbeiter, Verbraucher) maßgeblich durch psychologische Faktoren wie Vertrauen, Erwartungen,

Ängste oder Optimismus beeinflusst wird. Wenn diese verstärkt und mehr oder weniger gleichgerichtet auftreten, kann dies Effekte auf ganze Volkswirtschaften haben, man kann also von »psychologischen Bestimmungsfaktoren« der wirtschaftlichen Entwicklung sprechen. Am bekanntesten sind wohl in diesem Zusammenhang die monatlich in Deutschland von der Gesellschaft für Konsumforschung erhobenen Indikatoren zum »Konsumentenvertrauen«, die beanspruchen, ökonomische Entwicklungen prognostizieren zu können (z. B. Kamakura & Gessner, 1986; Vuchelen, 2004). Bisher haben wir 2 Beispiele vorgestellt, wie psychologische Perspektiven auch auf der makroökonomischen Ebene eine Rolle spielen können. Insgesamt ist dies ein wenig bearbeitetes Gebiet, zumindest aus Sicht der Psychologie. Theorien ökonomischer Entwicklung und ökonomischen Wandels kommen aber nicht völlig ohne psychologische Annahmen aus, auch wenn sie eher von Ökonomen oder Soziologen formuliert werden. Ein berühmtes Beispiel, wie eine psychologische Perspektive hier angewandt werden kann, sind die klassischen Untersuchungen von McClelland (1961) zur Rolle des Leistungsmotivs für die ökonomische Entwicklung von ganzen Kulturen. Interessant ist, dass McClelland und Mitarbeiter sogar Interventionsprogramme entwickelt haben, die über die Förderung des Leistungsmotivs bei Selbstständigen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung ganzer Regionen nehmen wollen (McClelland & Winter, 1969). Mit diesem Gedanken, nämlich dass die Förderung von wirtschaftlicher Selbstständigkeit auch ein erstes Beispiel einer Intervention auf makroökonomischer Ebene sein kann, kommen wir nun zur Frage, welche Rolle psychologische Theorien und Methoden für die Wirtschaftspolitik spielen können. Wirtschaftspolitische Aufgaben ergeben sich v. a. dann, wenn Marktmechanismen zu Fehlallokationen führen bzw. die Erreichung gesellschaftlicher Ziele sichergestellt werden soll. Offensichtlich beschränkt sich die öffentliche Hand nicht auf ein Minimum von unverzichtbaren Aufgaben, sondern greift gestaltend durch Transfers und Subventionen ein, wobei »Gerechtigkeit« und »gutes Leben« 2 zentrale Leitideen sind. Beispielsweise werden in Deutschland Steuern erhoben, um das sog. Kindergeld an Eltern zu bezahlen. Diese Umverteilung – letztendlich von kinderlosen Bürgern zu solchen mit Kindern – soll sowohl die Gerechtigkeit (im Sinne eines Ausgleichs der Belastungen, die Eltern durch die Erziehung erfahren) als auch die Lebenssituation der

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Kinder verbessern. Psychologische Erkenntnisse sind hier an verschiedenen Stellen gefragt, beispielsweise wenn es darum geht, was denn genau als »gerecht« empfunden wird – oder auch durch welche Mittel und Wege ein solches Empfinden hergestellt werden kann. Darüber hinaus sind von Transfers und Subventionen Einstellungs- und Verhaltenseffekte bei den Marktteilnehmern zu erwarten, die so gar nicht immer gewollt sind. An 2 anderen Beispielen, nämlich Subventionen für Unternehmen und Transferleistungen für Arbeitslose, sei dies verdeutlicht. Gut gemeinte Anschubeffekte und Ausgleich sozialer Härten können konterkariert werden, wenn hieraus von den Akteuren vermeintlich selbstverständliche Ansprüche abgeleitet werden. Gefühle von Ungerechtigkeit resultieren beispielsweise dort, wo regelmäßige Subventionen in Frage gestellt werden, etwa in der Landwirtschaft. Im Bereich der Arbeitsmarktpolitik ist die eventuelle Korrumpierung der Eigeninitiative dank eben solcher Transferleistungen ein in der Öffentlichkeit gerne diskutiertes Thema. Dabei wissen Wirtschaftspsychologen schon länger, dass Eigeninitiative ohnehin bei Arbeitslosen schwach ausgeprägt ist und dass vor diesem Hintergrund arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zur Förderung der Selbstständigkeit ausgerechnet bei Arbeitslosen vorhersagbar wenig Erfolg beschieden sein musste (vgl. 7 Kap. 15). Jenseits der Diskussion spezifischer Transfers und Subventionen scheinen uns 2 Themen von eher prinzipiellerer Bedeutung für staatliches Handeln im wirtschaftlichen Kontext zu sein, das Erheben von Steuern, und es sei es auch nur für wenige grundsätzliche Aufgaben (Recht, innere und äußere Sicherheit, Katastrophenschutz), und Reformen im Allgemeinen. Staatliche Aufgaben können ohne Steuern in aller Regel nicht bewältigt werden. Das »subjektive Belastungsgefühl«, das Individuen wie Unternehmen erleben und das meist aus der Höhe der zu entrichtenden Steuern resultiert, hat verschiedene Folgen, die gemeinhin unter der Überschrift »Steuermoral« diskutiert werden. Ausgehend von der Annahme, dass sich individuelle Marktteilnehmer nicht vollkommen »steuermoralisch« verhalten, sind verschiedene Teilaspekte zu unterscheiden: Verschweigen von Zinseinkünften, Schwarzarbeit, Fälschen von Belegen, Einkäufe ohne Rechnung oder Verzicht auf wirtschaftliche Aktivitäten (z. B. Überstunden) aufgrund hoher Steuerbelastung sind beispielhaft zu nennen. Allgemeiner formuliert handelt es sich hierbei um kontraproduktives Verhalten, das verschiedene Ur-

sachen haben kann: fehlendes Unrechtsbewusstsein, geringe subjektive Sanktionswahrscheinlichkeit, Gefühle von Ungerechtigkeit oder vermeintlich verbreitete soziale Normen. Wie wir gesehen haben, werden verschiedene persönliche Strategien zur Reduzierung der Steuerlast von Verbrauchern unterschiedlich bewertet (vgl. auch Kirchler, Maciejovsky & Schneider, 2003). Für die Finanzpolitik ist die Förderung der Steuermoral durch geeignete finanzpolitische Maßnahmen ein wichtiges Ziel, über die Wirksamkeit spezifischer Maßnahmen ist allerdings wenig bekannt. Wie in 7 Kap. 18 erörtert wurde, kann das Bezahlen von Steuern als ein soziales Dilemma analysiert werden, so dass aus der entsprechenden Literatur einige Empfehlungen abgeleitet werden könnten (z. B. Biel & Thøgersen, 2007). Schließlich sind wirtschafts- und sozialpolitische Reformen alleine schon aufgrund des technologischen und sozialen Wandels unvermeidbar, wenn es etwa zu Arbeitsplatzverlusten aufgrund von Innovationen oder Bevölkerungszuwachs aufgrund von Verbesserungen im Gesundheitswesen oder Migration kommt. Es ist naheliegend, dass die Reaktionen auf staatliche Reformen von persönlichen Bedürfnissen (»Bin ich davon betroffen?«), individuellen Kosten-Nutzen-Abwägungen (»Was habe ich davon?«) sowie der empfundenen Gerechtigkeit der Maßnahmen (»Warum soll gerade ich mich mehr einschränken?«) abhängen. Insbesondere aus der organisationspsychologischen Forschung über die Auswirkungen von weitgreifenden Veränderungen ist bekannt, welch große Rolle die wahrgenommene Gerechtigkeit für die Reaktionen auf solche einschneidende Ereignisse spielt (s. auch 7 Kap. 4). Dies ist umso mehr zu beachten, als bereits Studien aus den 80er Jahren haben zeigen können, dass es eine relativ starke Norm zu geben scheint, überhaupt gegen Reformen zu sein, es scheint also regelrechte psychologisch motivierte Reformbarrieren zu geben (Baron & Jurney, 1993). Gerechtigkeit zu erfahren ist v. a. dann bedeutsam, wenn sich Menschen verunsichert fühlen; haben sie hingegen großes Vertrauen, spielt die wahrgenommene Gerechtigkeit keine erhebliche Rolle (Van den Bos, Wilke & Lind, 1998). Vertrauen bedeutet v. a. Bereitschaft zur Verletzlichkeit; wenn diese nicht (mehr) gegeben ist, braucht es andere Vorkehrungen, zu denen insbesondere Methoden und Institutionen zur Wahrung oder Wiederherstellung von erlebter Gerechtigkeit zählen.

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Kapitel 20 · Wirtschaftspsychologie und die Natur des Menschen

20.3

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Ethische Fragestellungen in der Wirtschaftspsychologie

Im ersten Abschnitt dieses Kapitels wurde die Wirtschaftspsychologie als angewandte Wissenschaft vorgestellt, die sich mit dem wirtschaftlichen Handeln des Menschen befasst. Bereits einer der »Gründerväter« der Wirtschaftspsychologie, Hugo Münsterberg, formulierte eine deutliche Position, nämlich dass die Aufgabe der Psychologie nicht darin bestehe, sich zu Wertfragen zu äußern (Münsterberg, 1912). Warum sollen wir uns also heute, rund ein Jahrhundert später, nun doch mit ethischen Fragen befassen? Wir meinen, dass es hierfür durchaus Gründe gibt. Vorangestellt sei, dass wir unter »ethischen Fragestellungen« all das verstehen wollen, was gutes (bzw. »richtiges«) und böses (bzw. »falsches«) Handeln betrifft. Uns geht es dabei weniger um eine philosophische Abhandlung als um die Identifikation »relevanter« Themen, mit denen sich wirtschaftspsychologisch Interessierte auseinandersetzen sollten ‒ und eigentlich auch müssen. Der Fokus liegt dabei nicht nur auf der Wirtschaftspsychologie als Wissenschaft, sondern auch auf den wirtschaftlichen Akteuren, also Unternehmen und Individuen. 20.3.1

Wissenschaft

Ein wesentlicher Anspruch der meisten angewandten Disziplinen ist es, Gestaltungswissen zu generieren, zu systematisieren und sich auch an seiner Umsetzung zu beteiligen. Wissenschaftliches Handeln ist mit einer ganzen Reihe von Herausforderungen konfrontiert, die wir in 3 Bereiche aufteilen: Manipulation, wissenschaftliche Methode und Unabhängigkeit. Manipulation Ob es hier Grenzen gibt, die nicht überschritten werden sollten, ist immer dann zu fragen, wenn die Auseinandersetzung mit Gestaltungsfragen »Manipulation« bedeutet (s. auch 7 Kap. 5). Beispielsweise gibt die Wirtschaftspsychologie wirtschaftlichen Akteuren mit Erkenntnissen über Persuasionsstrategien Methoden an die Hand, die man als »Manipulationsinstrumente« interpretieren könnte. Unter dem Stichwort »geheime Verführer« wurde etwa kritisiert, dass die Markt- und Werbepsychologie ethisch fragwürdige »Psychotechnik« zur Verfügung stelle. Der Einsatz dieser Techniken wider-

spreche fundamentalen menschlichen Werten: Manipulation sei verwerflich, zumal dann, wenn sie die manipulierte Person nicht bemerken könne – so in etwa lautet die Kritik an der »Praxis« subliminaler Beeinflussung. Wir meinen, dass hier tatsächlich verschiedene Diskussionsebenen zu unterscheiden sind: 4 Erstens ist zu fragen, wie wirksam denn solch manipulative Techniken tatsächlich sind, gegen die man sich vermeintlich nicht wehren kann. Hier hat sich gezeigt, dass es wohl mehr Mythos als Realität ist, dass es subliminale Beeinflussung gibt (Moser, 2002). 4 Zweitens ist die weit gewichtigere Frage, ob es denn nicht auch manipulative Methoden gibt, derer sich die beeinflussten Personen bewusst sind oder jedenfalls sein könnten, die sie aber nicht wirklich als solche wahrnehmen. Hierfür gibt es Hinweise, wenn etwa Menschen gemeinhin der Auffassung sind, nicht sie selbst, sehr wohl aber andere würden sich von Werbung beeinflussen lassen (Moser & Hertel, 1998). 4 Drittens lässt sich diese Debatte sehr grundsätzlich dahingehend führen, ob es nicht überhaupt unzulässig sei, Kausalgesetze über menschliches Verhalten zu formulieren. Zum einen wird dies ab und an mit dem Thema »Willensfreiheit« in Zusammenhang gebracht, was ja ausschließe, dass es Gesetze geben könne, die eine Zwangsläufigkeit menschlichen Verhaltens postulieren. Von Praktikern der Wirtschaftspsychologie wird an dieser Stelle ergänzend gerne vorgebracht, dass doch die Manipulationsmöglichkeiten in Anbetracht der Vielzahl von fehlgeschlagenen Produkteinführungen und der oft so geringen Beachtung von Werbung überhaupt nicht so groß sein könnten. Da wir meinen, dass es bei dieser Debatte eher um eine – durchaus widersprüchliche – Auseinandersetzung um die Leistungsfähigkeit einer wissenschaftlichen Disziplin geht, enthalten wir uns einer weiterführenden Stellungnahme. Zum anderen wird die Ablehnung von wirtschaftspsychologischer Forschung mit der »menschlichen Natur« in Zusammenhang gebracht, dass es die Freiheit des Menschen einschränke, Gesetzmäßigkeiten seines Verhaltens zu kennen und auf dieses dann Einfluss zu nehmen. Die Gegenfrage stellt sich: Ist es wirklich angemessen und wünschenswert, auf Wissen zu verzichten, selbst dann, wenn dies zu »Manipulationswissen« führt? Kann nicht in zumindest einigen Fällen »Manipula-

411 20.3 · Ethische Fragestellungen in der Wirtschaftspsychologie

tion« z. B. durch Werbung sogar als wünschenswert gelten, etwa wenn für Non-Profit-Themen wie »Gesünder essen« oder »Mehr Zeit für Kinder« geworben wird? Wissenschaftliche Methode Eine zweite Herausforderung stellt die Bewertung der Art dar, wie in der Wirtschaftspsychologie von forschenden Akteuren Erkenntnisse gewonnen und Methoden umgesetzt werden. Da es hierzu bereits eine ausführliche Diskussion und Literatur gibt und einschlägige Berufsverbände auch Richtlinien erlassen haben, was etwa den integren Umgang mit Daten oder die Behandlung von Probanden angeht (vgl. u. a. Bortz & Döring, 2006), sei an dieser Stelle nur auf eine Besonderheit hingewiesen, die wirtschaftspsychologische Forschung stärker als andere Bereiche der Psychologie betrifft: Befragungen zu Einstellungen, Absichten und Präferenzen, wobei es Akteure im Geschehen gibt, die ein Interesse daran haben, dass die Inhalte »real« werden und sich beispielsweise in tatsächlichen anschließenden Handlungen ausdrücken. In der Tat ist es eine kritisch zu diskutierende Angelegenheit, ob Marktforschung akzeptabel ist, die nach Einstellungen und Kaufabsichten fragt, wenn sich zeigen lässt, dass sich durch eben solche Fragen entsprechende Handlungen auslösen lassen (vgl. Greenwald, Carnot, Beach & Young, 1987). Unabhängigkeit Eine dritte Herausforderung betrifft Neutralität und Unabhängigkeit der Wissenschaft, also das sog. Wertfreiheitspostulat der Wirtschaftspsychologie als Wissenschaft. Wir nennen 5 ineinander verwobene Problempunkte: 1. Einseitige Darstellung von Forschungsergebnissen: Auch wenn Wissen frei verfügbar ist und von jedem genutzt werden kann, hängt seine Anwendung oft von der Art ab, wie es potenziellen Anwendern vermittelt wird. In der Tat sind auch in diesem Lehrbuch die Interpretationen von Ergebnissen zumeist aus »Anbieterperspektive«, also aus der Perspektive von Unternehmen, vorgenommen worden, zumindest in Sektion I. Natürlich kommen als potenzielle Interessenten an Ergebnissen der Wirtschaftspsychologie nicht nur Anbieter, sondern z. B. auch Verbraucher, Verbände oder politische Entscheidungsträger in Frage. Zugestanden sei, dass durch die übliche Art der Darstellung von Forschungsergebnissen die Ver-

wendbarkeit aus Sicht des einzelnen Konsumenten nicht immer einfach sein dürfte. 2. Einseitige Förderung der Macht einzelner Akteure: In einer an möglichst egalitärer Machtverteilung interessierten Gesellschaft, die die Souveränität des Einzelnen (und damit auch jedes einzelnen Konsumenten) betont, steht die einseitige Anwendung entsprechender Erkenntnisse im Widerspruch zu einem hohen gesellschaftlichen Wert. Wenn sich etwa die Markt- und Werbepsychologie v. a. damit befasst, wie Persuasionstechniken wirken, dann klingt dies danach, dass hier ein Beitrag dazu geleistet wird, die Macht der Produzenten über die Konsumenten zu stärken. 3. Auswahl von Forschungsfragen: Bereits die Auswahl von Forschungsfragen sollte unabhängig sein, v. a. nicht so erfolgen, dass mit einiger Gewissheit nur ganz bestimmte Akteure davon Vorteile haben. Dem steht aber eine recht offensichtliche Einseitigkeit der meisten wirtschaftspsychologischen Projekte entgegen. Hierfür gibt es sicherlich mehrere Gründe. Einer ist die Verknüpfung von Forschung und Lehre und das Interesse der Mehrzahl der Studierenden an Erkenntnissen für eine berufliche Tätigkeit in abhängiger Beschäftigung in einem mehr oder weniger großen Unternehmen. Ein anderer mag auch die Finanzierung von Forschungsaktivitäten durch Wirtschaftsunternehmen sein. Natürlich, so möchte man sagen, handelt es sich bei der Wirtschaftspsychologie um eine anwendungsbezogene Wissenschaft, deren inhaltliche Fragestellungen sich oft aus der Praxis heraus ergeben, was bedeutet, dass die fördernden Unternehmen ein entsprechendes – auch wirtschaftliches – Interesse an den Forschungsergebnissen haben. 4. Parteiische Interpretationen von Forschungsergebnissen: Ein Sprichwort besagt: »Wer die Kapelle bezahlt, dirigiert die Musik.« Durch den »guten Willen« eines fördernden Wirtschaftsunternehmens nicht käuflich zu werden, ist demnach eine Herausforderung, und sei es auch »nur«, wenn einzelne Wissenschaftler in Versuchung geraten, Forschungsförderung durch eine parteiische Interpretation von Untersuchungsergebnissen zu honorieren. Als prominentes Beispiel kann hier die von der Tabakindustrie finanzierte Forschung zu den gesundheitlichen Risiken des Rauchens genannt werden, die den Zusammenhang zwi-

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Kapitel 20 · Wirtschaftspsychologie und die Natur des Menschen

schen Rauchen und Krebs zu trivialisieren versucht hat (Proctor, 2000). 5. Institutionen als Hintergrund: Da sich Wirtschaftspsychologie in einem bestimmten Zielsystem bewegt, da es immer um Fragen der wirksamen Gestaltung geht, wird meistens – zumindest implizit – eine Reihe von Randbedingungen als akzeptabel an- oder jedenfalls hingenommen. Besonders drastisch mag dies deutlich werden, wenn es um Teilaspekte menschlichen Verhaltens geht, die gerne mit einem wertenden Unterton diskutiert werden. Wer beispielsweise das Thema Steuerhinterziehung (7 Kap. 18) untersucht, tut dies in einem nur schwer vermeidbaren Umfang aus einer wertenden Perspektive heraus. Dies wird spätestens daran deutlich, dass im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Gestaltungsaufgaben die Erforschung von Interventionsmöglichkeiten die Erhöhung der Steuermoral behandelt (Wenzel, 2005). In der Hauptsache beobachtet, erklärt und beschreibt die Wirtschaftspsychologie das wirtschaftliche Verhalten des Menschen. Diese Diskussion möglicher Probleme soll nicht ein Bild der Wirtschaftspsychologie vermitteln, die sich ständig in »ethischen Grenzlagen« bewegt, sie sollten aber mit bedacht werden. Und warum sollten Beiträge in wissenschaftlichen Zeitschriften nicht nur »Konsequenzen für das Management«, sondern auch »Konsequenzen für das Individuum« diskutieren? Wie dem auch sei: Wirtschaftspsychologinnen und -psychologen sind auch in der Wissenschaft Akteure und müssen es sich gefallen lassen, dass nach ihrer Verantwortung für eine ethisch vertretbare Anwendung wirtschaftspsychologischer Erkenntnisse gefragt wird. Es sind keineswegs nur »die Unternehmen«, deren Verantwortlichkeit zu diskutieren ist. 20.3.2

Unternehmen

Unternehmen sind zielorientierte Systeme, und sie setzen hierzu Mittel ein, die diskutierbar sind. Hierzu zählen beispielsweise Marketinginstrumente (vgl. 7 Kap. 9). Insofern Unternehmen einzuwirken versuchen, können sie der Manipulation verdächtigt werden. Da wir dieses Thema bereits im vorstehenden Abschnitt behandelt haben, diskutieren wir es hier nur noch ergänzend. Grenzen werden dort überschritten, wo auf Individuen einge-

wirkt wird, die sich nicht wehren können, beispielsweise Kinder. Allerdings hat bereits Wiswede (1972) bemerkt, dass es nicht für alle Beteiligten unbedingt so klar zu sein scheint, was denn für Kinder gut ist: Sollten Kinder mit der (Werbe-)Realität nicht möglichst früh vertraut gemacht werden? Wenn bestimmte Praktiken – wirtschaftspsychologisch fundiert oder nicht – kritisiert werden, dann scheint dies auf 2 wesentliche Ansatzpunkte zurückzuführen zu sein: Unternehmen handeln wider die menschliche Natur und sie handeln unverantwortlich. Was ist damit gemeint? Im Einleitungskapitel wurde die These vorgebracht, dass Unternehmen im Grunde Artefakte sind, die auf ein Ziel hin gestaltet sind, dabei aber auf ihre Umwelt hin angepasst werden müssen, um dieses Ziel erreichen zu können. Zu dieser Umwelt gehört auch die menschliche Natur, z. B. die Bedürfnisse und Handlungsmöglichkeiten des Menschen oder seine Motivation und Fähigkeit, Reize aus der Umwelt zu verarbeiten. Nun ist es allerdings verführerisch, Artefakte so in »Einklang« mit ihrer Umwelt zu bringen, dass die Umwelt ihnen angepasst wird, und genau dies scheint der Kern der Auseinandersetzung zu sein. Ist es nicht so, dass künstliche Bedürfnisse geschaffen werden? Wer sagt z. B., dass es der menschlichen Natur entspricht, mehrere Tausend Kilometer zu fliegen (und dabei die natürliche Umwelt zu beschädigen), nur um sich an einem Sandstrand von (unterbezahltem) Personal alkoholische Getränke servieren zu lassen, einen Sonnenbrand zu riskieren und sich zu langweilen? Oder um ein anderes Beispiel zu nennen: Wenn man potenziellen Konsumenten Problemlösungen anbieten möchte, muss man zuerst wissen, was ihr Problem ist. Was aber genau sind eigentlich die wirklichen Probleme z. B. 16-jähriger Mädchen? Ist ihnen Werbung dabei »behilflich«, ihre Identitätsfragen zu beantworten – oder trägt sie eher zur Induzierung und Stabilisierung von Rollenstereotypen bei, die dabei helfen, »bauchfreie« T-Shirts zu verkaufen? Nun möchte manch einer einwenden, dass etwa die werbetreibenden Unternehmen diese sozialen Stereotypen durchaus nicht erfunden haben, dass zwar im Vergleich zu realen Verhältnissen in der Werbung überproportional oft Menschen gezeigt werden, die jung, gesund und wohlhabend sind – aber ist dies gleich ethisch verwerflich? Dagegen lässt sich anführen: Unternehmen sind für die Folgen ihres Tuns verantwortlich, sie nehmen Einfluss, also können sie nicht im Falle uner-

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wünschter Effekte auf die Eigenverantwortung des Einzelnen verweisen, zugleich aber Methoden und Verfahren anwenden, die diese Eigenverantwortung außer Kraft setzen. Wenn sie ihren Beitrag zu einem »guten Leben« leisten wollen, dann reicht es nicht, auf Gewalt (missbräuchliche Kontrolle) und Deformation (wider die menschlichen Bedürfnisse) zu verzichten, sondern dann ist auch ihr gestaltender Beitrag gefragt. Solche Überlegungen finden sich jedenfalls in einem Trend wieder, nicht nur darauf zu verweisen, dass es doch »entsprechende« Kontrollinstanzen gebe. Nicht nur, dass der Staat im Sinne des gesellschaftlichen Interesses und zum Schutz des Individuums durch gesetzliche Verordnungen Grenzen setzt, wie z. B. mit dem Verbot der Tabakwerbung im Fernsehen. Nicht nur, dass es Einrichtungen wie den Deutschen Werberat gibt, der Werbung hinsichtlich der Gesetzeskonformität sowie übergeordneter moralischer Prinzipien beurteilt und ermahnend eingreift. Unternehmen erkennen (wieder?) ihre gesellschaftliche Verantwortung (7 Kap. 17), wobei wir durchaus zwischen Corporate Social Responsibility und Corporate Citizenship unterscheiden sollten. (Corporate Social Responsibility bezieht sich dabei auf das Kerngeschäft des Unternehmens, wogegen bei Corporate Citizenship übergeordnete gesellschaftlichen Aktivitäten im Mittelpunkt stehen.) Aber natürlich ist in jedem Einzelfall zu fragen, welche Zielsetzungen hinter einem entsprechenden Engagement wirklich stehen, kann man doch solches Engagement auch als Teil der eigennützigen Öffentlichkeitsarbeit eines Unternehmens verstehen (vgl. Proctor, 2000). 20.3.3

Konsumenten – Verbraucher – Bürger

Der vorangehende Abschnitt betrachtete die individuellen Konsumenten zum großen Teil als Objekt, um nicht zu sagen »Opfer« wirtschaftspsychologisch fundierter Aktivitäten. An dieser Stelle eröffnet die Beschränkung auf eine »rein ökonomische« Perspektive zumindest auf den ersten Blick eine interessante alternative Sichtweise. Demnach sind Konsumenten ebenso wie Produzenten gleichberechtigte Marktteilnehmer; sie steuern durch ihre Nachfrage den Absatz der angebotenen Güter – genauso wie die Produzenten versuchen, z. B. durch Marketingmaßnahmen die Nachfrage zu beeinflussen. Wir nehmen dies zum Anlass, die Diskussion um

ethische Aspekte nicht nur darauf zu begrenzen, ausschließlich Forderungen an Wirtschaft und Wissenschaft zu formulieren, sondern auch das Individuum und insbesondere sein wirtschaftliches Verhalten zur Debatte zu stellen. Individuen haben bereits durch ihr Auftreten am Markt ethische Verantwortung (Hoyos, 2005). Sie drückt sich beispielsweise in der Akzeptanz der Bedingungen aus, unter denen Produkte hergestellt werden, ob etwa Lebensmittel aus artgerechter Tierhaltung stammen. So weit, so schlecht, möchte man sagen. Denn in 7 Kap. 16 wurde mit Nachdruck hinterfragt, inwieweit Konsumenten in ihrer Entscheidung, »nachhaltig« zu konsumieren, wirklich frei sind und durch ihre Kaufhandlungen das Angebot der Produzenten beeinflussen können. Anstatt mit den Ressourcen im Sinne eines reflektierten Konzepts von »Verbraucher« hauszuhalten oder gar mündig zu verzichten, zu opponieren oder Gegenangebote zu unterbreiten, also aktive Bürger zu sein, bleiben die meisten passive Konsumenten. Liegt dies tatsächlich an einer »heimlichen Verbrauchererziehung«, was immerhin ein Sammelbegriff für diverse Phänomene zu sein scheint? Es gibt deutliche Belege dafür, dass es dem Individuum schwer gemacht wird, nachhaltig zu konsumieren. Ein Beispiel ist die wirtschaftliche Verflechtung von Unternehmen und die Fertigung durch ausländische Tochter- und Subunternehmen, die die Transparenz des Produktionsprozesses für die Konsumenten erschweren. Gleichwohl gibt es viele Initiativen, die versuchen, die Produktionsbedingungen offenzulegen und dadurch die Souveränität des Verbrauchers sicherzustellen (z. B. http://www.oeko-fair.de). Individuen haben nicht nur Verantwortung, indem sie als Konsumenten auf dem Gütermarkt auftreten, sondern sie bieten auch auf dem Faktormarkt Kapital an, indem sie dieses Kreditinstituten gegen Zinszahlungen zur Verfügung stellen oder in bestimmte Unternehmen z. B. in Form von Fondsbeteiligungen investieren. Hinter sog. ethischen Investments steht die Überlegung, dass Anleger mit ihrem Kapital nicht solche Unternehmen unterstützen wollen, die ihre Gewinne mit Geschäften erwirtschaften, die den ethischen Prinzipien des Investors widersprechen. Beispielsweise könnte ein Befürworter der Energiegewinnung aus regenerativen Energiequellen durch seine Beteiligung an einem Fonds den Bau von Atomkraftwerken nicht unterstützen wollen. Tatsächlich hat hierauf der Finanzmarkt reagiert: Infolge der Sensibilisierung der Geldanleger werden z. B.

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Kapitel 20 · Wirtschaftspsychologie und die Natur des Menschen

Umweltfonds angeboten, die lediglich Aktien von »ökologisch korrekten« Unternehmen enthalten (Hoyos, 2005). Schließlich gibt es weitere Optionen für das Individuum, sich positiv ethischen Herausforderungen zu stellen, beispielsweise in der Form 4 selbstloser finanzieller Unterstützung guter Zwecke (durch Spenden oder Stiftungen), 4 des freigemeinnützigen Engagements außerhalb der Erwerbsarbeit, 4 des Arbeitnehmers, der das gemeinnützige Engagement seines Arbeitgebers unterstützt (und vielleicht sogar einfordert), wie dies beim Corporate Volunteering der Fall ist, 4 sich an der Erhaltung öffentlicher Güter zu beteiligen und insbesondere auf kontraproduktives Verhalten wie mutwillige Zerstörungen, Schattenwirtschaft und/oder Steuerhinterziehung zu verzichten. Am Beispiel der Steuerhinterziehung wird gerne argumentiert, dass Individuen zwischen der Steuerzahlung und der Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, abwägen. Dieser Überlegung zufolge müssten eigentlich aufgrund der geringen Aufdeckungswahrscheinlichkeit mehr Steuern hinterzogen werden. Wir hatten aufgezeigt, dass vermutlich weitere Motive bei den Individuen eine wichtige Rolle spielen, wie z. B. Fairness (»Jeder muss ja schließlich etwas abgeben«) und Reziprozität (»Schließlich bekomme ich ja auch etwas dafür«). Selbst wenn man solche Motive als wenig bedeutsam abtut, bedeutet dies nicht gleich, dass psychologische Aspekte beim Entrichten von Steuern keine Rolle spielen. So setzt eine »rationale« Entscheidung Wissen über das Steuersystem, die Wahrscheinlichkeit, kontrolliert zu werden, und die Folgen von entdeckter Steuerhinterziehung voraus. Die Komplexität des Steuersystems – wie es etwa derzeit in Deutschland existiert – mag zu negativen Einstellungen gegenüber der Steuer führen, die aber z. B. aufgrund fehlenden Wissens nicht in Steuerumgehung resultiert, sondern in negativen Einstellungen verbleibt. Das Steuersystem mag dann als »ungerecht« bezeichnet werden, weil sich angeblich nur die Reichen Steuerberater leisten können, die für sie »Steuerschlupflöcher« entdecken. Solche Überlegungen bringen uns zurück zur Frage, wie es denn ggf. erreicht werden kann, dass sich Individuen an Regeln halten, mehr noch: dass sie ethische Normen befolgen, zu denen nicht zuletzt die eingangs er-

wähnte Verantwortung für zukünftige Generationen zählt. Kann man also von Menschen, die im eigenen Interesse handeln und versuchen, ihren Nutzen zu maximieren, erwarten, dass sie zugunsten des derzeitigen und zukünftigen Allgemeinwohls auf einen Teil des vermeintlichen eigenen Nutzens verzichten? Wie wir gesehen haben, handelt es sich v. a. dann um ein wirkliches Dilemma, wenn individuelles Vorteilsstreben tatsächlich so stark ausgeprägt ist, dass es alles andere dominiert. Dass aber erstens gar nicht so eindeutig ist, was dieses Vorteilsstreben im Einzelnen bedeutet, und dass zweitens menschliches Verhalten auch stark von sozialen Präferenzen und einer Vielzahl auch auf Gemeinschaft und »Geben« orientierten Lebenszielen geprägt wird, ist nicht nur ein interessantes Phänomen, es kann auch zur Hoffnung Anlass geben, dass die großen Herausforderungen der nahen Zukunft (Klimaveränderungen, Bevölkerungswachstum, Ressourcenverknappung) noch zu bewältigen sein werden.

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Anhang Glossar

– 418

Sachverzeichnis

– 425

K. Moser (Hrsg.), Wirtschaftspsychologie DOI 10.1007/978-3-540-71637-2_1, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007

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Glossar

Glossar A Arbeitslosigkeit. Eine Situation, die gekennzeichnet ist

durch 4 das Nichtvorhandensein einer Erwerbsarbeit, 4 Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt, 4 Suche nach Erwerbsarbeit. Details der Definition von Arbeitslosigkeit variieren in verschiedenen Ländern, diese 3 Kernelemente sind aber immer enthalten. B Beruf-Familie-Konflikt (B-F-Konflikt). Der B-F-Konflikt

bezeichnet Störungen des Familienlebens (F) durch gleichzeitige Anforderungen im beruflichen Bereich (B). Berufliche Entwicklungsaufgaben. Ein wichtiger Auslöser beruflicher Entwicklungsprozesse sind sog. Entwicklungsaufgaben, die als geteilte normative Erwartungen von der sozialen Umgebung an das Individuum herangetragen werden. Die erfolgreiche Bewältigung einer Entwicklungsaufgabe führt zu Zufriedenheit und Anerkennung, während das Versagen bei einer Entwicklungsaufgabe das Individuum unglücklich macht, auf Ablehnung durch die Gesellschaft stößt und zu Schwierigkeiten bei der Bewältigung späterer Entwicklungsaufgaben führt. Berufliche Passung. Das normative Passungsmodell der Berufsfindung postuliert die Wichtigkeit einer objektiven Passung zwischen individuellen Lernpotenzialen und den spezifischen Anforderungen bestimmter Berufe sowie der Passung zwischen den Bedürfnissen von Personen und den Gratifikationen, die sie innerhalb eines bestimmten Berufes erlangen können. Für die Laufbahnentwicklungstheorie kommt es dagegen weniger darauf an, was eine Person objektiv leisten kann und leistet und wie gut sie objektiv zu einem bestimmten Beruf passt, sondern wie die betroffene Person selbst die individuelle Passung wahrnimmt und einordnet. Die Kongruenz mit dem Selbstkonzept einer Person ist dort also die entscheidende Größe beruflicher Passung.

Bürgerschaftliches Engagement. Der besonders in der politischen Diskussion verwendete Begriff hebt die gesellschaftliche Bedeutung freigemeinnützigen Engagements hervor. Bürgerschaftliches Engagement ist freiwillig, nicht auf materiellen Gewinn gerichtet, gemeinwohlorientiert, findet im öffentlichen Raum statt und wird i. d. R. gemeinschaftlich ausgeübt. Die Bezeichnung »bürgerschaftlich« betont Motive und Wirkungen wie etwa die Übernahme von Verantwortung für andere oder den Erwerb gemeinschaftlicher Kompetenz. Der Begriff wird zunehmend auch auf das Engagement, das von Unternehmen geleistet wird, ausgedehnt. Viele der bürgerschaftlich bzw. freiwillig Engagierten präferieren die Bezeichnungen »»Freiwilligenarbeit« oder »Ehrenamt« für ihre Tätigkeit.

D DirektesVerfahren. Verfahren, deren Zielsetzung für die Testperson leicht durchschaubar ist, z. B. wenn direkt nach einer Einstellung, Erinnerung oder Verhaltensabsicht gefragt wird. Direkte Verfahren sind gut interpretierbar, können aber nur das erfassen, was der Testperson bewusst ist und was diese auch preisgeben will. Direktmarketing. Beim Direktmarketing entsteht ein

direkter Kontakt zwischen Kunde und Unternehmen. Dies kann geschehen, indem das Unternehmen die Kunden etwa in Anschreiben oder Anrufen direkt anspricht. Zum Direktmarketing zählen aber auch Formen, in denen umgekehrt der Kunde den Kontakt mit dem Unternehmen aufnimmt, etwa indem er das Unternehmen anruft, eine Mail schickt oder direkt dort Waren bestellt. Diskonfirmationsparadigma. Das Diskonfirmations-

paradigma erklärt die Entstehung von Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit durch den Vergleich der erwarteten Leistung (Soll-Leistung) mit der vom Kunden subjektiv wahrgenommenen Leistung (Ist-Leistung). Werden die Erwartungen erfüllt (Konfirmation) bzw. übererfüllt (positive Diskonfirmation), entsteht Zufriedenheit, bei Nichterfüllung (negative Diskonfirmation) Unzufriedenheit.

419 Glossar

E Einstellungsübertragung. Die Einstellung zur Werbung

wird auf die beworbene Marke übertragen. Handelt es sich um emotionale Werbung, wird die Übertragung mit Merkmalen der Werbegestaltung und nicht mit deren Argumenten begründet.

ten, die der Abwälzende selbst tragen müsste, indem er die Aufwendungen begleicht oder die Belastung vermeidet. Durch die Unterlassung macht er sie zu externen Kosten, spart also interne Kosten ein. Es sind private Kosten, wenn sie durch eine private Nutzung (Fischfang, Autofahren) entstehen; es sind öffentliche Kosten, wenn sie für ein Gemeinschaftsgut (Denkmal, Polizei) anfallen.

Elaboration-Likelihood–Model (ELM; auch: Verarbeitungs-Wahrscheinlichkeits-Modell). Das ELM unter-

scheidet zwischen zentraler und peripherer Verarbeitung von Argumenten/Informationen. Beim zentralen Weg, der bei hoher Motivation/Fähigkeit wahrscheinlich ist, wirkt sich v. a. die Qualität von Informationen auf Einstellungsänderungen aus. Beim peripheren Weg (bei niedriger Motivation/Fähigkeit) hingegen sind periphere Reize (z. B. der Status des Senders) entscheidend. Emotionale Konditionierung. Ein unbekannter Marken-

name wird gemeinsam mit emotionsauslösenden Reizen (Begriffe, Bilder, Gerüche, Musik) dargeboten, so dass die emotionale Bedeutung der Reize auf die Marke übertragen wird. Entscheidungsstrategie. Entscheidungsstrategien be-

schreiben unterschiedliche Vorgehensweisen bei Kaufentscheidungen. Im Vordergrund steht dabei, welche Produkte und welche Produkteigenschaften in welcher Reihenfolge beachtet werden. Die Strategien unterscheiden sich in der aufgenommenen Informationsmenge, dem produkt- vs. eigenschaftsorientierten Vorgehen, dem kompensatorischen vs. nonkompensatorischen Vorgehen und der Selektivität, mit der Produkte oder Eigenschaften herausgegriffen werden. Erfolg beruflicher Selbstständigkeit. Sammelbegriff für

ökonomische und psychologische Bewertungskriterien beruflich selbstständigen und/oder unternehmerischen Verhaltens. Ökonomische Kriterien sind Umsatzzahlen, Gewinnmargen, Investitionen und Wachstumskennziffern, psychologische Kriterien tätigkeitsbezogene Gefühlsbindungen, die Selbsteinschätzung unternehmerischer Leistungen, Arbeitszufriedenheit und Wohlbefinden.

F Familie-Beruf-Konflikt (F-B-Konflikt). F-B-Konflikte be-

zeichnen Störungen des Berufslebens (B) durch gleichzeitige Anforderungen im familiären Bereich (F). Feedbackeffekt. Produkte, die unter einer Marke ge-

führt werden, können einen Einfluss auf das Image der Marke haben. Ist dies der Fall, spricht man von einem Feedbackeffekt. Feedbackeffekte können auftreten bei erfolgreichen Produkten, aber im ungünstigen Fall auch bei Produkten, die aufgrund von Fehlern oder mangelnder Qualität schlecht beurteilt werden. Förderung beruflicher Selbstständigkeit. Summe von Maßnahmen mit dem Ziel, die individuelle Bereitschaft, sich beruflich selbstständig zu machen, zu verstärken und die Häufigkeit von Unternehmensgründungen zu erhöhen. Fördermaßnahmen in der Ausbildung sind Teil universitärer Studiengänge. Zu den Fördermaßnahmen in der Weiterbildung gehören Existenzgründerseminare sowie Beratungs- und Coachingangebote. Freigemeinnützige Tätigkeit. Unter freigemeinnütziger Tätigkeit wird unbezahlte, organisierte, soziale Arbeit verstanden, die mit einem Zeitaufwand verbunden ist und persönlich erbracht wird; daher wird etwa das Spenden von Geld in dieser Definition nicht mit eingeschlossen. Freigemeinnützige Tätigkeiten einer bestimmten Person könnten prinzipiell auch von einer anderen Person ausgeführt werden und könnten bezahlt werden, sofern es für die entsprechenden Leistungen einen Markt oder staatliche Finanzierung gäbe.

G Externalisierung. Abwälzung eigener Verantwortung auf

Gefühl als Motiv. Das Modell betont die motivierende

andere. Abgewälzt werden entweder Aufwendungen, z. B. für die Regeneration eines durch Tagebau zerstörten Ökosystems, oder Lasten, z. B. Lärmbelästigung. Es sind Kos-

Wirkung von Gefühlen, die in der Werbung als Folge der Nutzung der beworbenen Marken in Aussicht gestellt werden.

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Glossar

Geldillusion. Personen orientieren ihr Denken und wirtschaftliches Handeln nicht am realen, sondern am nominalen Wert des Geldes (also seinem Zahlenwert). Der Geldillusion unterliegt beispielsweise eine Person, die eine Erhöhung ihres Nominallohns von 3% zum Anlass nimmt, ihre Nachfrage nach Konsumgütern zu steigern, obwohl die Inflationsrate ebenfalls 3% beträgt und ihr Reallohn somit unverändert geblieben ist.

Heuristic-Systematic-Model (HSM auch: heuristischsystematisches Modell). Das HSM besagt, dass Men-

Gesundheitsförderung. Gesundheitsförderung umfasst alle der Gesundheit dienlichen Maßnahmen einer Gesellschaft. Die Gesundheitsförderung zielt insbesondere auf die Förderung von Ressourcen ab und will damit die Entwicklung positiver Gesundheit stärken.

schen Informationen systematisch (bei hoher Motivation/Fähigkeit) und heuristisch (bei niedriger Motivation/Fähigkeit) verarbeiten können; somit ist das HSM dem ELM sehr ähnlich. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass das HSM zusätzlich zwischen 3 Motiven unterscheidet: 4 dem Verteidigungsmotiv, nach dem Menschen ihre Meinungen beibehalten möchten, 4 dem Wahrheitsmotiv, nach dem Menschen sich eine realistische Meinung bilden möchten, und 4 dem sozialen Motiv, nach dem Menschen bestimmte soziale Ziele (z. B. Anerkennung) erreichen möchten.

Gesundheitskompetenz. Gesundheitskompetenzen sind

Hierarchie-von-Effekten-Modell. Vor allem in den

die Fähigkeiten eines Individuums oder einer Gruppe, Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf die eigene Gesundheit auswirken.

1970er Jahren bekannt gewordene Unterscheidung von verschiedenen Werbewirkungsmodellen, wobei diese eine unterschiedliche »hierarchische« Abfolge von Werbewirkungseffekten unterstellen. Die 3 bekanntesten Hierarchie-von-Effekten-Modelle sind die Lernhierarchie (»learn-feel-do«), die Dissonanz-AttributionsHierarchie (»do-feel-learn«) und die Geringes-Involvement-Hierarchie (»learn-do-feel«).

Glaubwürdigkeit (»credibility«). Glaubwürdigkeit ist im engen Sinne eines der zentralen Merkmale des Senders, die darüber entscheiden, ob die Kommunikation überzeugend wirkt. Wichtige Determinanten sind Vertrauenswürdigkeit und Kompetenz. Im weiteren Sinne bezieht sich Glaubwürdigkeit auch auf Merkmale der Botschaft, des Kontextes und des Kanals der Kommunikation.

H Heimlicher Lehrplan. Im offiziellen Lehrplan stehen die vorgeschriebenen Lehrinhalte, der heimliche Lehrplan enthält die erwünschten oder in Kauf genommenen Wirkungen wie z. B. Gewöhnung an Stillsitzen, Frontalunterricht, Benotung, Lernen durch Zuhören und Memorieren statt durch Eigentätigkeit. Analog dazu wird dem heimlichen Lehrplan der Verbrauchererziehung (durch Schule, Familie, Peergroup, Beruf, Massenmedien, Werbung) zugeschrieben, dass er z. B. den Ersatz von marktfreien durch marktgängige Güter propagiert. Herdenverhalten. Uniformes Verhalten von Marktteil-

nehmern (z. B. dass nahezu alle plötzlich bestimmte Aktien kaufen wollen) selbst in Situationen, in denen dies objektiv von der Informationslage her nicht gerechtfertigt ist.

I Imagetransfer. Als Imagetransfer bezeichnet man die

Übertragung eines Markenimages auf Produkte, die unter der Marke geführt werden. Einen Imagetransfer erhofft man sich insbesondere bei Produkten, die im Rahmen einer Produktlinien- oder Markenerweiterung neu unter der Marke geführt werden. Indirekte Verfahren. Verfahren, deren Zielsetzung nicht

unmittelbar durchschaut werden kann, z. B. projektive und assoziative Techniken. Hierdurch lassen sich auch kritische Themen und schwer verbalisierbare Sachverhalte erfassen; die erhobenen Daten sind allerdings häufig mehrdeutig und schwer interpretierbar. Involvement. Unter Involvement ist ein individueller, interner Zustand der Erregung oder Aktiviertheit eines Menschen zu verstehen, wobei dieser Zustand unterschiedlich intensiv sein kann, unterschiedlich lange andauern kann und im Allgemeinen auch auf bestimmte Objekte oder Ereignisse gerichtet ist.

421 Glossar

K Kohärenzgefühl (Sense of Coherence). Kohärenzgefühl

beschreibt das Gefühl eines Menschen, das Leben sei verstehbar, sinnvoll und bewältigbar. Kommerzialisierung (»commoditization«). Der Prozess der Transformation von marktfreien Ansprüchen, Tätigkeiten und Tauschrelationen in marktgängige Produkte und Dienstleistungen, also der Verwandlung von informellen in professionelle Dienste und von menschlichen Beziehungen in Waren (»commodities«). Zum Problem wird dieser kulturelle Prozess durch die Externalisierung, soweit diese die Marktgüter verbilligt und dadurch die Balance der marktfreien und der marktgängigen Güter gefährdet. Kommunitarismus. Der Kommunitarismus sieht die Ursache der postmoderne Krisen moderner Gesellschaften (Entsolidarisierung, Werteverfall, Legitimitäts-, Identitäts- und Sinnkrise) in einem radikalen, von der Ideologie des Neoliberalismus geförderten Individualismus, um im Gegenzug die notwendige Rückbesinnung auf Bedeutung und Wert von Gemeinschaft (»community«) zu fordern. Kommunikationskomponenten. Kommunikationskomponenten sind der Kontext, der Sender, die Botschaft, der Kanal und der Empfänger.

Kundenbindung. Kundenbindung umfasst das bisherige Wiederkauf- und Weiterempfehlungsverhalten von Kunden sowie die Absicht zum Wiederkauf, Zusatzkauf bzw. zur Weiterempfehlung. Kundenzufriedenheit. Kundenzufriedenheit ist die

kognitive und emotionale Bewertung der gesamten Erfahrungen mit einem bestimmten Anbieter und dessen Produkten. L Latente Funktionen von Arbeit. Nach Jahoda (1983) er-

möglicht Erwerbsarbeit – ohne dass dies ihr eigentlicher Zweck wäre – das Erleben von 5 Arten von Erfahrungen, die wichtig für die Aufrechterhaltung der psychischen Gesundheit sind. Diese 5 latenten Funktionen sind: 4 Zeitstruktur, 4 Sozialkontakt, 4 Teilhabe an kollektiven Zielen, 4 Status/Identität, 4 Aktivität. Im Fall von Arbeitslosigkeit kommt es zu einem Mangel hinsichtlich dieser 5 latenten Funktionen, was zu einer Verschlechterung der psychischen Gesundheit führt. M

Konsumentensouveränität. Der Begriff ist an das Kon-

zept der Volkssouveränität angelehnt und soll ausdrücken, dass die Konsumenten durch ihre Kaufentscheidungen die Produktion gemäß ihren Bedürfnissen steuern, ähnlich wie die Wähler durch ihre Wahlentscheidungen. Wie bei den politischen Wahlen setzt dies voraus, dass den Konsumenten geeignete Alternativen angeboten werden, dass sie äußere und innere Entscheidungsfreiheit haben und dass sie zutreffend informiert sind.

Manipulation. Manipulation besteht, wenn folgende

Kriterien einer Kommunikation erfüllt sind: Der Sender beeinflusst den Empfänger bewusst. Der Sender nimmt keine Rücksicht auf mögliche Nachteile für den Empfänger. 4 Der Sender verfolgt damit den eigenen Vorteil. 4 Der Sender verwendet dabei nicht oder kaum zu durchschauende Techniken und lässt dem Empfänger damit das Gefühl der freien Entscheidung. 4 4

Markenarchitektur. Die Anordnung und Verbindung Kontingenzansatz. Der Kontigenzansatz beschreibt bei

Kaufentscheidungen, wie die Wahl einer Entscheidungsstrategie in Abhängigkeit von Zielen der Konsumenten und Kontextfaktoren getroffen wird. Kontraproduktivität. Die Summe von Maßnahmen und Verhaltensweisen, die zur Schädigung öffentlicher Güter beitragen.

von Marken in einem Unternehmen wird als Markenarchitektur bezeichnet. Unternehmen können Marken isoliert führen (Einzelmarkenstrategie) oder aber in verschiedener Art und Weise miteinander verbinden. So ist es beispielsweise möglich, unter einer Dachmarke verschiedene Submarken zu führen.

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Glossar

Markenbekanntheit (Brand Awareness). Die Anzahl von Personen, die eine Marke kennen, wird als Markenbekanntheit bezeichnet. Es wird in der Marktforschung unterschieden, ob die Markenbekanntheit gestützt (»Kennen Sie die Marke XY? – ja/nein«) oder ungestützt (»Welche Marken im Bereich XY kennen Sie?«) erfasst wird. Markenerweiterung. Die Erweiterung einer Marke in eine neue Produktkategorie wird als Markenerweiterung bezeichnet (z. B. von Porsche Automobilen zu Porsche Sonnenbrillen). Markenidentität. Eigenschaften einer Marke, die diese

klar und unterscheidbar von anderen Marken abgrenzen. Markenimage. Die Wahrnehmung einer Marke durch

die Verbraucher. Das Markenimage entspricht im Gedächtnis repräsentierten Assoziationen und Wissensstrukturen. Marketingmix. Unter dem Begriff »Marketingmix« fasst man die verschiedenen Tätigkeitsfelder des Marketing zusammen. Mit der Bezeichnung »Mix« soll dabei angedeutet werden, dass das Marketing auf das Zusammenspiel dieser Felder ausgerichtet und somit keine auf ein Gebiet allein beschränkte Tätigkeit ist. Üblicherweise unterscheidet man 4 Elemente des Marketingmix: 1. Produktpolitik 2. Preis- und Konditionenpolitik 3. Vertriebspolitik 4. Kommunikationspolitik.

schaftlichen Lebens- und Produktionsgrundlagen anzustreben, damit auch die künftigen Generationen keine geringere Chance haben als die heutigen, ihre Grundbedürfnisse (Brundtland-Report: Basic Needs) zu erfüllen. Eine kürzere Formulierung dafür ist »die Substanz erhalten«, eine konkretere »keine nichtabsorbierbaren privaten Kosten auf Umwelt und Gesellschaft abwälzen (externalisieren)«. Neue Leitbilder der beruflichen Entwicklung. Durch die zunehmend globale Vernetzung der nationalen Volkswirtschaften, den weltweiten Siegeszug der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, die Entwicklung weg von der Industrie- und hin zur Informationsgesellschaft sowie die Verbreitung von Unternehmensaufkäufen (»acquisitions«), -zusammenschlüssen (»mergers«), Umstrukturierungen (»business reengineering«) und Verkleinerungen (»downsizing«) als neue Managementkonzepte nahm die Beschäftigungssicherheit in vielen Berufen stark ab. Die neuen Leitbilder der beruflichen Entwicklung fordern den Aufbau von sog. beruflichem Kapital. Das berufliche Kapital hat 3 Komponenten: 1. das Knowing why (berufliche Identität und berufliche Werte), 2. das Knowing how (berufliche Fertigkeiten und berufliche Erfahrung) sowie das 3. Knowing whom (Aufbau von persönlichen Netzwerken und sowie einer positiven persönlichen Reputation).

O Marktfreie Güter. Im Unterschied zu den Produkten und

Outplacement. Eine vom Arbeitgeber finanzierte Bera-

Diensten, die gegen Zahlung eines Preises ihren Besitzer wechseln (marktgängige oder Marktgüter), werden die marktfreien Güter gleichsam eigenproduziert: selbstbestimmte Entfaltung, gesunde Lebensführung, menschliche Zuwendung, soziale Geborgenheit, Einsatz für die Gemeinschaft. Ihre Verwirklichung oder Vernachlässigung hängt vom eigenen Wertschätzen, Bemühen, Geschick und Zeitaufwand ab. Um diese Faktoren konkurrieren sie mit den Marktgütern.

tungsleistung, bei der einem freizusetzenden Mitarbeiter Unterstützung bei der Suche nach einem neuen, qualifikations- und bedürfnisangemessenen Arbeitsplatz gegeben wird. Die Beratung findet üblicherweise als Einzelund teilweise auch als Gruppenberatung statt und umfasst verschiedene Elemente wie z. B. Aufarbeitung der Trennungserfahrung, Situationsanalyse, Zielformulierung, Erstellung eines Stärken- und Schwächenprofils, Planung des Vorgehens bei der Bewerbung, Unterstützung bei der Formulierung von Bewerbungsunterlagen, Training für Bewerbungsgespräche und Supervision des Bewerbungsprozesses.

N Nachhaltigkeit. Nachhaltige Entwicklung bedeutet, die

Erhaltung und Kultivierung der natürlichen und gesell-

423 Glossar

P

S

Persuasion. Persuasion ist die Veränderung von Einstel-

Salutogenese. Salutogenese beschreibt personale und

lungen durch soziale Einflussnahme im Rahmen von Kommunikationsakten.

soziale Ressourcen, die Belastungen erfolgreich bewältigen helfen und die Gesundheit fördern. Im Vordergrund steht die Frage, was den Menschen gesund erhält, und nicht, was den Menschen krank macht (Pathogenese).

Positiver Transfer. Positiver Transfer bezeichnet im Rahmen der Lebensgestaltung das Ausmaß, in dem die Teilhabe an und das positive Erleben in einem Lebensbereich (z. B. Berufsarbeit) durch die Fähigkeiten und Erfahrungen erleichtert werden, die sich aus der Teilhabe an einem anderen Lebensbereich (z. B. Familie) ergeben. Preisstruktur. Zur Preisstruktur zählt alles, was die Aufteilung und Kommunikation von Preisen betrifft. Preisstrukturen können sich auf den effektiven Preis eines Produktes auswirken. Dies gilt z. B., wenn sich der Preis auf eine Grundgebühr und Einheitenpreise aufteilt. Zu Preisstrukturen gehören aber auch rechnerisch irrelevante Variationen bei der Darstellung von Preisen. So ist es z. B. ökonomisch irrelevant, ob man für ein mehrdimensionales Angebot einen Pauschalpreis angibt oder ob man bei gleicher Endsumme für einzelne Komponenten des Angebots die Preise eigens ausweist. Diese beiden unterschiedlichen Kommunikationsformen desselben Endpreises werden allerdings von Konsumenten als sehr unterschiedlich attraktiv bewertet. Produktlinienerweiterung. Die Ausdehnung einer Marke innerhalb einer Produktkategorie, z. B. durch die Spezifizierung eines vorhandenen Produkts, wird als Produktlinienerweiterung bezeichnet (z. B. Hinzufügen eines »Shampoo for Men« zur Shampooserie). Psychologische Marktforschung. Die systematische Sammlung, Analyse und Interpretation von Informationen über Konsumenten und deren Motive, Wünsche, Bedürfnisse und subjektive Vorstellungen mit dem Ziel, das Konsumentenverhalten zu erfassen und ursächlich zu verstehen.

R Rationale Kaufentscheidung. Eine rationale Kaufent-

scheidung meint die Wahl des optimalen Produkts, das i. d. R. durch die Beachtung, Gewichtung und Integration aller Informationen über die angebotenen Produkte ermittelt wird.

Schattenwirtschaft. Schattenwirtschaft wird als Ober-

begriff für alle wirtschaftlichen Tätigkeiten angesehen, die außerhalb der statistisch erfassten Wirtschaft stattfinden. Social Entrepreneur. Unternehmer, der nicht in wirtschafts-, sondern bürgernahen Sektoren aktiv ist und weniger von individuellen Erwerbsinteressen geleitet wird als von Interessen, sich dort zu engagieren, wo aufgrund problematischer gesellschaftlicher Entwicklungen und sozialer Missstände Veränderungen erforderlich sind (Bekämpfung von Armut, Analphabetismus, Umweltzerstörung; Schutz von Kindern, Benachteiligten, Minderheiten). Soziales Dilemma. Ein soziales Dilemma bezeichnet einen Konflikt, in dem die individuell gewinnbringende Handlung, würde sie von allen gewählt werden, für die Gesamtheit einen Verlust darstellt.

T Tätigkeitsgesellschaft. Vor dem Hintergrund steigender

Arbeitslosigkeit in früh industrialisierten Ländern gerät das Modell der Lohnarbeitsgesellschaft immer stärker in die Kritik. Erwerbsarbeit, als eine Form von Tätigkeit, soll künftig stärker in Bezug zu anderen Tätigkeitsformen wie z. B. Hausarbeit und freigemeinnützige Arbeit gesetzt werden. Ziel ist die Neubewertung des gesamten Spektrums menschlicher Tätigkeit, wobei dies nicht nur anhand geldökonomischer Werte gemessen werden soll. Durch die Gleichgewichtung unterschiedlicher Tätigkeiten in der Gesellschaft soll die Arbeitslosigkeit reduziert und gleichzeitig eine Aufwertung anderer Tätigkeitsformen außerhalb der Erwerbsarbeit ermöglicht werden. Teuro-Illusion. Im deutschsprachigen Raum nachgewiesenes Phänomen, dass im Zusammenhang mit der Einführung des Euros systematisch stärkere Preissteigerungen wahrgenommen werden, als tatsächlich erfolgt

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Glossar

sind. Dieses Phänomen beruht v. a. auf der Erwartung von Preissteigerungen und auf dem Mechanismus der selektiven Fehlerkorrektur: Je höhere Preissteigerungen erwartet werden, desto höhere Preissteigerungen werden auch wahrgenommen. Bei der Umrechnung von der alten Währung in die neue werden nur solche Rechenfehler korrigiert, die den Erwartungen widersprechen, nicht jedoch solche, die mit ihnen im Einklang stehen.

und der in Frage stehenden Urteilsdimension zunutze. Da der Zusammenhang zwischen diesen Hinweisreizen und der tatsächlichen Ausprägung des Urteilsgegenstands jedoch nicht perfekt ist, kann es zu systematischen Urteilsverzerrungen oder Urteilsfehlern kommen. V

Theorie der Schutzmotivation. Diese Theorie zeigt auf,

Vandalismus. Vandalismus bezeichnet die bewusste illegale Beschädigung oder Zerstörung fremden Eigentums.

wie Motivation und Fähigkeit von Rezipienten erhöht werden können, um Einstellungs- und Verhaltensänderungen zu erreichen.

W

Trade-off. Wenn kein Produkt 2 wichtige Produkteigen-

schaften in sich vereint, muss ein Kompromiss gewählt werden, d. h. es wird zugunsten einer positiv ausgeprägten Produkteigenschaft auf eine andere positive Eigenschaft verzichtet und dafür eine negative Ausprägung dieser Eigenschaft in Kauf genommen.

Werbewirkungsmodell. Ein System von theoretischen Aussagen, das empirisch überprüfbare Hypothesen über das Zusammenspiel verschiedener psychologischer Prozesse bei der Entstehung von Werbewirkung formuliert.

gleichen Gefühle wie die Protagonisten in der Werbung, wenn sie die beworbenen Marken verwenden, und sie entwickeln nach wiederholter Nutzung eine emotionale Bindung zu den Marken.

Work-Life-Balance. Work-Life-Balance bezeichnet ein Themengebiet, in dessen Vordergrund Fragen zur funktionalen alltags- und biografiebezogenen Relation zwischen Berufs- und Privatleben stehen. Der Prozess der Balancierung dient der Maximierung positiver Erlebensqualitäten bzw. Minimierung negativer Erlebensqualitäten in den verschiedenen Lebensbereichen.

U

Z

Unternehmerische Persönlichkeit. Typus von Person,

Zwei-Prozess-Modell. Eine Familie von Modellvorstellungen, in denen angenommen wird, dass in Abhängigkeit von einem oder mehreren Moderatoren (Randbedingungen) einer von 2 Prozessen besonders bedeutsam ist. Beispiele für Zwei-Prozess-Modelle sind das Verarbeitungswahrscheinlichkeitsmodell und das heuristischsystematische Modell.

TransformationelleWerbung. Konsumenten erleben die

die aufgrund einer genetischen Prädisposition, frühkindlichen Prägung und Sozialisation im Elternhaus eine Affinität zu beruflicher Selbstständigkeit besitzt. Die unternehmerische Persönlichkeit zeichnet sich durch Eigenschaften und Kompetenzen aus, deren Ausprägungen empirisch fundierte Unterschiede zu abhängig beschäftigten Personen erkennen lassen. Urteilsheuristik. Kognitive »Faustregeln« bei der Ur-

teilsbildung, die in vielen Situationen hinreichend genaue Urteile bei geringem Verarbeitungsaufwand erlauben. Sie machen sich einen regelhaften Zusammenhang zwischen leicht zu verarbeitenden Hinweisreizen

Zweiseitige Argumentation. Als Argument wird eine Aussage bezeichnet, die als Begründung für eine weitere Aussage herangezogen wird. Zweiseitige Argumentation besagt, dass neben Argumenten, die für eine bestimmte Meinung/Entscheidung sprechen (einseitige Argumentation), auch Gegenargumente genannt werden.

425

A–E

Sachverzeichnis A Ablenkung 81 Absenzenmanagement 239 Accesspanel 175 AIDA-Modell 14 Aktivität, elektrodermale 90 Akustikdesign 152 Alkoholkonsum 289 Alleinerziehende 247 Alternative-Wege-Modell 19, 20 Ambiguität 382 Ankereffekt 198 Anlegerverhalten 194, 205 Anstrengungsvermeidung 40 Arbeitsanalyseverfahren 239 Arbeitslosigkeit 266, 278, 286 Arbeitsplatzunsicherheit 237, 278, 297 Argumentation, zweiseitige 57, 58, 77, 78 Argumentationskette 55 Assimilationseffekt 115, 117, 131 Assoziationstest, impliziter 184 Attraktivität 21, 71, 76, 82 Attribution 132 Aufmerksamkeit 19, 81, 175, 176 Ausprobieren 17, 18 Austauschbeziehung 113 Autonomie 213, 346, 347

B Ballontest 183 Begeisterung 129, 133 Behavioral Finance 194 Bereuen 44 Berufswahlreife 272 Beschwerdeanalyse 136, 141 Besitztumseffekt 405 Bewältigungsstrategie 43 Bewerbungstraining 298

Bildererzähltest 183 Blickregistrierung 176 Blindtest 109 Boykott 341 Brand Awareness 24 Brand Citizenship Behavior 123 Brand Commitment 122 Bumerangeffekt 63

C Captive-Product-Pricing 73 Casemanagement 239 Chancenungleichheit 269 Coaching 394 Collagentechnik 183 Commitment 6, 17, 205, 260, 300 – eskalierendes 205 Corporate Citizenship 338, 348 Corporate Community Involvement 349 Corporate Giving 349 Corporate Social Responsibility 348 Corporate Volunteering 349, 350, 352, 414 Cross-Selling 130 Customer-lock-in 73 Customer Relationship Management (CRM) 165

D Dachmarke 116, 119, 120 Day-After-Recall-Test 177 Dienstleistungsqualität 142 Dilemma, soziales 360, 406 Direktmarketing 157, 158 Diskonfirmationsparadigma 128, 130, 142 Dispositionseffekt 207

Dissonanz 16, 62, 78, 131, 134, 135 – kognitive 134, 135 Drama 95 Dritte-Person-Effekt 90, 178

E Effekt – asymmetrisch dominierter 46 – myopischer 212 Effort-Recovery-Modell 248 Eigeninitiative 384 Einschaltquote 186 Einstellung 70, 71, 91, 129, 130, 173, 228 – und Verhalten 71 Einstellung zur Werbung 23 Elaboration-Likelihood-Model 54 Elektromyogramm 90, 176, 185 Emotional Flow 95, 96 Emotional Integration 95 Emotionalisierung 4, 35 Emotionstypologie 87 Employability 279, 280 Empowerment 222, 231 Engagement, bürgerschaftliches 338 Entgrenzung 250, 279 Entscheidungen 32, 200 – aufschieben 32 – Typen von 200 Entscheidungen unter Unsicherheit 33 Entscheidungskosten 325 Entwicklungsaufgaben 270, 276–278, 345 Epidemiologie 232 Ereignismethode, sequentielle 140 Erinnerung 176 Erinnerungstest, impliziter 178 Erwerbsarbeit , latente Funktionen der 292–294 Ethik 74 Ethisches Investment 324, 413 Ethos 3

426

Sachverzeichnis

Expertenstatus von Quellen 21 Externalisierung 311, 313, 315, 321, 322, 324, 330

F Fabrikschließungsstudien 291, 292 Factory Outlets 160 Familienmarke 119 Fernsehprogramm 101 Flaggschiffprodukt 116 Fokusgruppe 180 Framing-Effekt 39 Funktionen von Einstellungen 22 Furchtappell 6, 58, 59, 99, 100 Fuß-in-der-Tür-Technik 159

G Geldillusion 195, 196, 216 Geldpsychologie 194 Gemeinschaftsgüter 330 Generativität 345 Gerechtigkeit 63, 330, 365, 371, 408, 409 Geruch 39 Gestaltungswissenschaft 2 Gesundheitskompetenz 222, 231, 241, 258 Gesundheitsmanagement, betriebliches 238 Gesundheitsmarkt 223 Gesundheitsökonomie 234 Gesundheitsressourcen 224–226 Gewinn-Framing 203 Glaubwürdigkeit 70, 94 global commons 331 Gratifikationskrisen 237 Gravitationshypothese 274 Grundlagenwissenschaft 2 Gruppenoutplacement 302 Gutes Leben 327, 408 Güter, marktfreie 314

H Habituierung 77 Handhabungstest 186 Handlungsrestriktionstheorie 292, 295 Handlungsspielraum 237, 258, 261 Herdenverhalten 211 Heuristic-Systematic-Model 54 Hierarchie-von-Effekten-Modelle 16 Hilflosigkeit, erlernte 292 Home-Use-Test 186 Home Country Bias 210 Humor 98 Hypothesentheorie 62

I Identität 22, 267 – soziale 22 Imageanalyse 173 Imagerytechnik 183 Imagetransfer 115, 116 Impulskauf 35, 71, 160 Informations-Display-Matrize 36 Informationskaskaden 211 Informationssuche, externe 42 Informationsüberflutung 4 Inkongruenz 98 Inkongruenzhypothese 296 Inokulationstheorie 58 internationale Standardisierung 123 Interventionen 235, 236 – verhaltensorientierte 235 – verhältnisorientierte 236 Involvement 16, 17, 19, 26, 27, 59, 77–79, 93 IIrreführung 60

J JOBS-Programm 298

K Kano-Modell der Kundenzufriedenheit 133, 134, 138 Kapital 269, 279 – berufliches 279 – kulturelles 269 – soziales 269 Karriere-Coaching 276 Kaufentscheidungen 33, 34, 315 – extensive 33, 34 – habitualisierte 34 – impulsive 33 – limitierte 34 Kauferleichterung 24, 26 Kaufsucht 35 Kognition-in-Persuasion-Modell 22 Kohärenzgefühl 227 Kompetenz 72, 75, 76, 82 Komplexität 38, 40, 50 Kompromisseffekt 46 Konditionierung 13, 91, 135 – emotionale 91 – klassische 12, 13, 91 – operante 135 Konflikte 251, 256 Konsensheuristik 153 Konsum, demonstrativer 5 Konsumentensouveränität 315 Konsumentensozialisation 313 Konsumsparen 212 Kontingenzansatz 36 Kontraproduktivität 358 Kontrasteffekt 21, 115, 117, 131 Kontrolle, Theorie der kognizierten 62 Kontrollillusion 209 Kreativtechnik 182, 183 Kundenloyalität 143

L Ladenatmosphäre 39 Ladendesign 39 Laufbahnproblembelastung 275

427 Sachverzeichnis

Lebensbereiche, Balancierung verschiedener 254 Lebensqualität 222, 246 Lebensstil 229, 230 Lebenszyklustheorie des Sparens 214 Leistungsmotiv 382 Leitbild 239 Leonardo-Effekt 381 Lifestyle 235 Lobanalyse 136, 141 Logos 3 Luxus 25

M Magnetresonanztomografie, funktionelle 185 Manipulation 72, 73 Marken-Kunden-Beziehungen 114 Markenarchitekturstrategie 118, 120, 121 Markenbekanntheit (Brand Awareness) 117 Markenbreite 117 Markenidentität 121, 122 Markenimage 121 Markenname 4, 150, 151 Markenpersönlichkeit 113 Markentreue 27, 34–36, 117 Marketing 148 Marketingmix 4, 148, 149 Marktforschung 5, 174 – internetbasierte 174 Marktsegmentierung 174 Materialismus 326, 327 Mentoring 276 Methode der kritischen Ereignisse 139 Mimik 90 Mindmapping 182 Minimarkttest 187 Minoritäteneinfluss 64 Modell der kognitiven Reaktionen 15 Motive 25 – informationale (informationelle) 25, 26, 97

– transformationale (transformationelle) 25, 26, 97 Musik 39 Muttermarke 117

N Nachhaltigkeit 7, 310, 311, 314, 324 need for cognition 55, 61 Negative Emotion 42–44, 49 – Minimierung 43 – Vermeidung 42, 49 – Verminderung 44 Networking 277 Noise Traders 206 Normen – deskriptive 364, 372 – injunktive 364, 372

O Offenheit 54, 55, 58, 59 Ökoeffizienz 330 Ökosuffizienz 329 Onlineshopping 50 Optimismus 227 Organizational Citizenship Behavior 338, 339 Outbound Telemarketing 158 Outplacement 281, 301

P Pathos 3 Persönlichkeit 114, 252, 253, 297, 383, 389 – einer Marke 114 Perspektive, lebensspannenpsychologische 249 PISA-Studien 269 Point of Purchase 113 Prävalenz 232

E–R

Preis-Qualitäts-Relation 198 Preise, dominant gebrochene 197 Preisschwelle 197, 199 Preiswahrnehmung 195–197 Primacy-Effekt 197 Product Placements 86 Produktlinienerweiterung 115 Produktvielfalt 118 Prospect Theory 201, 202, 360, 361, 405 Proteanisches Leitbild 279 Pseudoerklärung 60 Public Health 223 Public Relations 74

Q Qualitätsillusion 314

R Rationalismus, kritischer 54 Rationalität 32, 47, 48 Rauchen 289 Reaktanz 63, 77, 153, 154 Recallverfahren 177 Rechtfertigung 45 Referenzpreise 198 Regaltest 186 Regret Theory 44, 45 Reiz-Reaktions-Modelle 12 Rekognition 24, 177 Religiosität 290 Repräsentativität 204 Reproduktion 24 Risikoneigung 201 Risikoträgerstrategie 236 Rollenstress 247 Rossiter-Percy-Gitter 97 Rückgabegarantie 156

428

Sachverzeichnis

S Salutogenese 222, 224, 226, 238 Satisficing 37 Sättigung 77 Schattenwirtschaft 367 Scheinargument 60 Schema 108–110, 213 Schnellgreifbühne 187 Schutzmotivation 64 Secondments 351 Sekundärverstärker 195 Selbstdarstellung 64, 111, 112 Selbstergänzung, symbolische 314 Selbstkonzept 122, 275 Selbstorganisation 310 Selbstregulation 111 Selbstüberschätzung 209, 210 Selbstwert 112 Selbstwertgefühl 288 Selbstwertschutztheorie 63 Selbstwirksamkeit 299 Selbstwirksamkeitserwartung 226, 228 Self-Assessment Manikin 88, 89 SERVQUAL 136–138 SEU-Theorie 201 Sexappeal 20 Sharing-the-Blame-Effekt 212 Sicherheitseffekt 203 Sinnhaftigkeit 346 Sinnproduktion 346, 407 Social Entrepreneur 395 Sokratesfrage 59 Spenden 341, 342 Spill-over (Spillover) 115, 116, 247, 253 Starch-Test 177, 178 Status-quo-Effekt 35 Status-quo-Option 43 Statussymbol 199 Steuerhinterziehung 359, 368 Steuermoral 194, 373 Stiftungen 341, 349 Stimmung 78, 80, 86, 97, 101, 110, 116, 161, 208 Störungen 15 Stress 225, 237 Substanzerhaltung 319

Substanzverzehr 312, 318, 319 Suche – externe 41 – interne 41 Sucht 98 Suffizienz 329 Suggestivfrage 59 Suizid 289 Sunk-Cost-Effekt 205 Sympathie 166

T Tachistoskop 176, 187 Tätigkeit, freigemeinnützige 341 Teilzeitarbeit 259 Telearbeit 259 Testimonial 71 Teuro-Illusion 199, 216 Textverständlichkeit 57 Theorie der Schutzmotivation 228 Theorie des geplanten Verhaltens (Handelns) 26, 228, 364, 386 Theorie des überlegten Handelns 372 Tiefeninterview 179 Trade-off 43, 44 Trendsetter 163 Tür-ins-Gesicht-Technik 166

U Überreaktion 207 Überschuldung 215 Ungleichheit 233, 234 Unimodel 22 Unterreaktion 207 Unterschied, kultureller 124 Unterstützung, soziale 228, 255, 260, 297 Urteilsheuristiken 203, 408

V Vandalismus 359, 361, 364, 365, 375 Veblen-Effekt 199 Verankerung 204 Verantwortung 222, 318, 320 Verarbeitungs-WahrscheinlichkeitsModell 19, 20 Verarbeitungsstrategie, erlebnisorientierte 22 Verbrauchererziehung, heimliche 413 Verfahren, projektive 182 Verfügbarkeit 204 Verhalten, prosoziales 344, 352 Verhaltensänderung, Transtheoretisches Modell der 229 Verkaufspraktiken 74 Verkaufsraum 160 Verkaufstechnik 167 Verlust-Framing 203 Verlustaversion 326 Vermittlungsmodell, duales 93 Verpackung 49, 79 Versicherungsbetrug 359, 361, 374 Versicherungsprämie 234 Verständlichkeit 56 Vertrauen 50, 73, 75, 76, 361, 362, 373 Vertrauenswürdigkeit 72, 82 Vitaminmodell 268, 292, 294 Volunteering 339, 343, 344 Vorsorgesparen 212

W Wärme 24 warmth monitor 89 wearout 99 Weiterempfehlung 130 Werbung 13, 14, 23, 94, 98 – emotionalisierende 23 – erotische 98 – unterschwellige 13, 14 Whistleblowing 340

429 Sachverzeichnis

Wiederholung 23, 27, 76 Wiederkauf 130 Wirtschaftskriminalität 366 Wirtschaftspolitik 408 Wohlbefinden 230, 250, 251, 253, 254, 288, 300 Work-Life-Balance 246

Z Zeitarbeit 300 Zeitbudget 248 Zeitdruck 40, 42, 55, 110 Zirkumplexstruktur der Emotionen 88

S–Z