Wiener Ausgabe sämtlicher Werke: Band 2 Sladek / Italienische Nacht 9783110493245, 9783110487787

In both versions of Sladek, Horváth deals with the problem of nationalist secret societies in the Weimar Republic. In It

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German Pages 605 [606] Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Sladek oder: Die schwarze Armee / Sladek, der schwarze Reichswehrmann
Vorwort
Lesetext
Konzeption 1: Sladek oder: Die schwarze Armee
Endfassung in drei Akten (elf Bildern) (K1/TS1)
Prosaexposé (K1/TS2)
Konzeption 2: Sladek, der schwarze Reichswehrmann
Endfassung in drei Akten (K2/TS1)
Werkverzeichnis (K2/E1)
Werkverzeichnis (K2/E2)
Werkverzeichnis (K2/E4)
Sladek oder: Die schwarze Armee. Historie (Endfassung, emendiert)
Sladek, der schwarze Reichswehrmann. Historie (Endfassung, emendiert)
Kommentar
Chronologisches Verzeichnis
Konzeption 1
Konzeption 2
Endfassungen, emendiert
Übersichtsgrafik Tab1: Textvergleich K1/TS1 und K2/TS1
Ein Wochenendspiel / Italienische Nacht
Vorwort
Lesetext
Vorarbeit: Wochenend am Staffelsee – Lustspiel
Figurenlisten (VA/E1–E2)
Strukturplan in drei Akten (VA/E3)
Strukturplan in drei Akten und neun Bildern (VA/E4)
Werktitel (VA/E5)
Konfigurationspläne und Dialogskizze (VA/E6)
Konzeption 1: Ein Wochenendspiel in drei Akten
Strukturplan in zwei Akten, Figurenlisten (K1/E2–E4)
Figurenliste (K1/E5)
Strukturplan in drei Akten (K1/E6)
Werkverzeichnis, Strukturplan in drei Akten (K1/E7–E8)
Strukturplan in drei Akten und sieben Bildern (K1/E10)
Strukturplan in drei Akten und elf Bildern (K1/E11)
Strukturplan in drei Akten und acht Bildern, Notiz (K1/E12–E13)
Werkverzeichnis, Figurenliste (K1/E14–E15)
Fragmentarische Fassung des 1. und 2. Bildes des I. Aktes (K1/TS1)
Strukturplan in drei Akten und elf Bildern (K1/E16)
Strukturpläne in drei Akten (K1/E17–E19)
Notizen zum II. Akt mit Replik (K1/E20)
Notizen zum III. Akt (K1/E21)
Konzeption 2: Ein Wochenendspiel in sieben Bildern
Strukturplan in zwei Teilen und sieben Bildern (K2/E1)
Strukturplan in sieben Bildern (K2/E2)
Strukturplan in sieben Bildern (K2/E3)
Strukturpläne in sieben Bildern (K2/E4–E7)
Strukturpläne (K2/E8–E12)
Werktitel, Figurenliste (K2/E13–E14)
Strukturpläne in sieben Bildern, Dialogskizze (K2/E15–E17)
Notizen (K2/E18–E19)
Werktitel, Strukturplan in sieben Bildern (K2/E20–E22)
Strukturplan in sieben Bildern (K2/E23)
Strukturplan in sieben Bildern (K2/E24)
Konzeption 3: Ein Wochenendspiel in sechs Bildern
Strukturplan in vierzehn Bildern (K3/E1)
Werkverzeichnisse (K3/E2–E3)
Fragmentarische Fassung „Der Schlemihl“ (K3/TS1)
Fragmentarische Fassung des ersten Bildes „Der Feldherrnhügel“ (K3/TS2)
Endfassung Ein Wochenendspiel (K3/TS3)
Konzeption 4: Italienische Nacht in sieben Bildern
Fragmentarische Fassung einiger Bilder (K4/TS1)
Endfassung Italienische Nacht (Arcadia-Fassung) (K4/TS2)
Konzeption 5: Italienische Nacht in sieben Bildern – Adaptierungsarbeiten
Dialogskizze, Repliken, Strukturplan in drei Bildern, Notizen (K5/E1–E6)
Fragmentarische Fassung des III. Bildes (K5/TS1/A1)
Fragmentarische Fassung des 3. Bildes (K5/TS1/A2)
Fragmentarische Fassung eines Bildes (K5/TS2/A1)
Replik (K5/E7)
Fragmentarische Fassung eines Bildes (K5/TS2/A2)
Fragmentarische Fassung eines Bildes (K5/TS2/A3)
Fragmentarische Fassung eines Bildes (K5/TS2/A4)
Fragmentarische Fassung (K5/TS3)
Endfassung Italienische Nacht (Propyläen-Fassung) (K5/TS4)
Ein Wochenendspiel. Volksstück (Endfassung, emendiert)
Italienische Nacht. Volksstück (Arcadia-Fassung) (Endfassung, emendiert)
Italienische Nacht. Volksstück (Propyläen-Fassung) (Endfassung, emendiert)
Kommentar
Chronologisches Verzeichnis
Vorarbeit
Konzeption 1
Konzeption 2
Konzeption 3
Konzeption 4
Konzeption 5
Endfassungen, emendiert
Übersichtsgrafik Tab2: Textvergleich K3/TS3, K4/TS2 und K5/TS4
Anhang
Editionsprinzipien
1 Textteil
1.1 Genetisches Material
1.1.1 Diplomatische Transkription und Faksimile (Entwürfe)
1.1.2 Lineare Textkonstitution (Fassungen)
1.1.3 Kritisch-genetischer Apparat
1.2 Emendierte Endfassungen (Normierter Lesetext)
2 Kommentarteil
2.1 Chronologisches Verzeichnis
2.2 Simulationsgrafiken
Siglen und Abkürzungen
Literaturverzeichnis
Inhalt (detailliert)
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Wiener Ausgabe sämtlicher Werke: Band 2 Sladek / Italienische Nacht
 9783110493245, 9783110487787

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Ödön von Horváth Wiener Ausgabe

I

Ödön von Horváth

Wiener Ausgabe sämtlicher Werke Historisch-kritische Edition Am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek und am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung der Karl-Franzens-Universität Graz herausgegeben von Klaus Kastberger

Band 2

De Gruyter II

Ödön von Horváth

Sladek Italienische Nacht Herausgegeben von Nicole Streitler-Kastberger unter Mitarbeit von Sabine Edith Braun und Martin Vejvar

De Gruyter III

Die Forschungsarbeiten an der Wiener Ausgabe werden unterstützt vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF; P23563-G20) und von der Kulturabteilung der Stadt Wien. Dank an die Österreichische Nationalbibliothek (Wien) und die Wienbibliothek im Rathaus für die Überlassung von Reprorechten an den Faksimiles. Die Forschungsarbeiten an der Ausgabe werden seit Oktober 2015 am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung der Karl-Franzens-Universität Graz durchgeführt.

ISBN 978-3-11-048778-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-049324-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-049154-8

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Ü Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

IV

Inhalt Sladek oder: Die schwarze Armee / Sladek, der schwarze Reichswehrmann Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Lesetext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Konzeption 1: Sladek oder: Die schwarze Armee . . . Konzeption 2: Sladek, der schwarze Reichswehrmann Sladek oder: Die schwarze Armee. Historie (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . Sladek, der schwarze Reichswehrmann. Historie (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . .

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Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Chronologisches Verzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersichtsgrafik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ein Wochenendspiel / Italienische Nacht Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lesetext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorarbeit: Wochenend am Staffelsee – Lustspiel . . . . . . . . . . . . . . . Konzeption 1: Ein Wochenendspiel in drei Akten . . . . . . . . . . . . . . Konzeption 2: Ein Wochenendspiel in sieben Bildern . . . . . . . . . . . . Konzeption 3: Ein Wochenendspiel in sechs Bildern . . . . . . . . . . . . . Konzeption 4: Italienische Nacht in sieben Bildern . . . . . . . . . . . . . Konzeption 5: Italienische Nacht in sieben Bildern – Adaptierungsarbeiten Ein Wochenendspiel. Volksstück (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Italienische Nacht. Volksstück (Arcadia-Fassung) (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Italienische Nacht. Volksstück (Propyläen-Fassung) (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V

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Inhalt

Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Chronologisches Verzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 Übersichtsgrafik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 Editionsprinzipien . . . Siglen und Abkürzungen Literaturverzeichnis. . . Inhalt (detailliert) . . .

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Ödön von Horváth

Sladek oder: Die schwarze Armee Sladek, der schwarze Reichswehrmann

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Vorwort

Vorwort Sladek oder: Die schwarze Armee. Historie Uraufführung: am 26. März 1972 in den Münchner Kammerspielen (Regie: Oswald Döpke). Dauer der Schreibarbeiten: Frühjahr/Sommer 1927 bis Mai 1928. Kein genetisches Material überliefert. Erstdruck: Sladek oder: Die schwarze Armee. Historie in drei Akten (elf Bildern). Berlin: Volksbühnen-Verlag 1928. Sladek, der schwarze Reichswehrmann. Historie Uraufführung: am 13. Oktober 1929 durch die „Aktuelle Bühne“ am Lessing-Theater, Berlin (Regie: Erich Fisch). Dauer der Schreibarbeiten: Frühjahr bis Sommer 1929. Umfang des genetischen Materials: 4 Blatt an Entwürfen (Werkverzeichnisse). Erstdruck: Sladek, der schwarze Reichswehrmann. Historie aus dem Zeitalter der Inflation in drei Akten. Berlin: Volksbühnen-Verlag 1929.

Datierung und Druck Der Vertrag von Versailles, der Deutschland nur eine Armee von 100.000 Mann zugestand, führte letztlich dazu, dass sich im Geheimen zahlreiche paramilitärische Organisationen gründeten.1 Zu ihnen zählte auch die „Schwarze Reichswehr“ oder „Schwarze Armee“, in deren Namen zahlreiche Gewaltverbrechen verübt wurden. Ein solches bildet auch den Hintergrund für Horváths Stücke Sladek oder: Die schwarze Armee (1928) und Sladek, der schwarze Reichswehrmann (1929). Horváths Beschäftigung mit der Problematik der Fememorde in der Weimarer Republik geht mindestens auf das Jahr 1927 zurück. Traugott Krischke verweist in seinen Erläuterungen zur Entstehung von Sladek auf Kurt R. Grossmann, der in seiner Ossietzky-Biografie davon spricht, dass auch der Schriftsteller Horváth bis Ende Mai 1927 die umfangreichen Materialien im Büro der Deutschen Liga für Menschenrechte in der Wilhelmstraße sichtete.2 Horváths Kontakte zur Liga sind damit belegt

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Vgl. Gudrun Kampelmüller/Elisabeth Prantner: Ödön von Horváth – „ein getreuer Chronist seiner Zeit“. Politische Ideologien und die daraus resultierende Sprache in Ödön von Horváths Werken Sladek oder die schwarze Armee und Italienische Nacht. In: Helmut Bartenstein (Hg.): Politische Betrachtungen einer Welt von Gestern. Öffentliche Sprache in der Zwischenkriegszeit. Stuttgart: Heinz 1995 (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, Bd. 279), S. 13–51, hier S. 13. Vgl. KW 2, S. 145.

3

Vorwort

und reichen von der Mitte der zwanziger Jahre bis in die frühen dreißiger Jahre.3 Noch auf einem Blatt, das Entwürfe zu Geschichten aus dem Wiener Wald enthält, wahrscheinlich also erst 1930 verwendet wurde, befindet sich ein Adressabdruck in Tinte, der als „Liga für Menschenrechte“ entziffert werden kann.4 Carl Ossietzky, der seit April 1926 Redakteur von Siegfried Jacobsohns Zeitschrift Die Weltbühne war, gehörte zum Vorstand der Liga. Die Weltbühne hatte bereits seit dem 18. August 1925 unter dem Titel Die Vaterländischen Verbände über die Fememorde in Deutschland berichtet.5 In einem anonym erschienenen, nur mit drei Sternen gekennzeichneten Artikel, als dessen Verfasser sich später der ehemalige Offizier der „Schwarzen Reichswehr“ und Pazifist Carl Mertens (1902–1932) zu erkennen gab, heißt es: Ich bin in die vaterländische Bewegung gekommen, ehrlich begeistert vom Ideal des nationalen Gedankens. Was ich dort fand, war ein Sumpf der niedrigsten Gesinnung und erbärmlichster Leidenschaften, eine Atmosphäre von Mordlust und Zynismus. Mit Entsetzen wandte ich mich zur Flucht.6

Mertens, der sich publizistisch immer wieder gegen die Reichswehr und die vaterländischen Verbände äußerte und auch wegen Landesverrats angeklagt wurde, könnte Pate gestanden haben für den Journalisten Franz bzw. Schminke in Horváths Sladek.7 Die Weltbühne publizierte nach Mertens’ Artikel weitere Beiträge über die „Schwarze Reichwehr“ und die „Feme“.8 Der Schauspieler Joseph Breitbach legte Zeugnis davon ab, dass Horváth ein ständiger und begeisterter Leser der Zeitschrift war.9 Der Autor übernahm aus dem Plaidoyer für Schulz von Berthold Jacob, das am 22. März 1927 in der Weltbühne erschienen war, sogar Teile wörtlich für die beiden Fassungen von Sladek.10 Wie mit dem 1930 entstandenen Stück Ein Wochenendspiel bzw. Italienische Nacht11 bearbeitete er mit Sladek ein unmittelbar tagespolitisches Thema, nämlich die Bedrohung der Weimarer Republik durch die Reichswehr und die Geheimbünde.12 Diese hatten nichts anderes im Sinne als „die gewaltsame Beseitigung der demokratischen Verfassung und die Errichtung einer nationalen Diktatur.“13 In seinem Buch

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8 9 10 11 12

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Vgl. hierzu und zum Folgenden auch Hans-Peter Rüsing: Die nationalistischen Geheimbünde in der Literatur der Weimarer Republik. Joseph Roth, Vicki Baum, Ödön von Horváth, Peter Martin Lampel. Frankfurt am Main [u.a.]: Peter Lang 2003 (= Historisch-kritische Arbeiten zur Deutschen Literatur, Bd. 33), S. 151–153. Es handelt sich um das Blatt mit der Signatur BS 37 b, Bl. 5; vgl. dazu den Kommentar zu WA 3/K2/E9. Vgl. KW 2, S. 145. Zit. n. ebd. Rüsing behauptet, Mertens sei Horváths „wichtigste Quelle“ gewesen; vgl. Rüsing 2003 (Anm. 3), S. 152. Vgl. ebd. und KW 2, S. 146. Vgl. KW 2, S. 146. Vgl. ebd. Vgl. den zweiten Teil dieses Bandes. Zur „Schwarzen Reichswehr“ und den Fememorden vgl. insbesondere: Bernhard Sauer: Schwarze Reichswehr und Fememorde. Eine Milieustudie zum Rechtsradikalismus in der Weimarer Republik. Berlin: Metropol 2004 (= Reihe Dokumente, Texte, Materialien / Zentrum für Antisemitismusforschung, Bd. 50). Rüsing 2003 (Anm. 3), S. 150.

4

Vorwort

Verschwörer (1924) schreibt Emil Julius Gumbel, der selbst Pazifist und Beiträger der Weltbühne war, von der „staatspolitische[n] Unfähigkeit der Sozialdemokratie“14: Das Offizierskorps war monarchistisch und im Grunde für die Fortführung der Massenschlächterei, die gesamten Mannschaften antimonarchistisch, republikanisch, revolutionär. Bei dem Aufbau eines neuen Heeres hätte man nur die aus dem Mannschaftsstand hervorgegangenen Feldwebelleutnants und Offiziersstellvertreter zu wirklichen Offizieren machen müssen. In dem dadurch offenkundigen Klassengegensatz zwischen diesen und den alten Offizieren hätte man sofort die sicherste Verankerung des republikanischen Gedankens in der Armee gehabt.15

Wahrscheinlich im Mai 1928 war die erste Fassung des Stückes unter dem Titel Sladek oder: Die schwarze Armee fertig. In einem Brief vom 28. Mai 1928 an den bekannten Berliner Schriftsteller und Theaterkritiker Julius Bab schreibt Horváth: Sehr verehrter Herr Bab, ich habe vor einigen Tagen dem Verlag mein neues Stück übersandt und wollte Ihnen wieder ein Exemplar persönlich zukommen lassen – ich bin aber leider noch immer nicht fertig mit der Korrektur der Durchschläge. Ich bin Anfang Juni in Berlin und hoffe Sie, sehr verehrter Herr Bab, erreichen zu können und bin schon wieder neugierig, wie Sie dies Stück beurteilen werden. Mit den ergebensten Empfehlungen Ihr Ödön Horváth16

Der Autor arbeitete seit dem Volksstück Revolte auf Côte 3018 (1927) mit dem Volksbühnen-Verlag zusammen. Dieser erstellte auch die Theaterstammbücher für dessen zweite Fassung Die Bergbahn und für das Volksstück Zur schönen Aussicht (beide 1927) und sollte bis 1929 Horváths Verlagsadresse bleiben. Ab dem 11. Jänner 1929 stand er beim Ullstein Verlag unter Vertrag.17 Seine Posse Rund um den Kongreß (1929) hatte er zunächst noch dem Volksbühnen-Verlag angeboten, dieser musste dann aber unter großem Bedauern von Verlagsleiter Bruno Henschel darauf verzichten.18 Am 4. Jänner 1929 wurde Die Bergbahn an der Berliner Volksbühne erfolgreich uraufgeführt. Nur einen Tag später las Horváth ebendort aus seinem Sladek, wahrscheinlich aus der ersten Fassung.19 Die Überarbeitung dieser zur zweiten Fassung, Sladek, der schwarze Reichswehrmann, dürfte erst im Laufe des Jahres 1929 erfolgt sein. Traugott Krischke vermutet, dass politische Veränderungen – der Rücktritt des durch geheime Finanzgeschäfte diskreditierten Reichswehrministers Otto Geßler und

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Emil Julius Gumbel: Verschwörer. Zur Geschichte und Soziologie der deutschen nationalistischen Geheimbünde 1918–1924. Mit einem Vorwort zur Neuausgabe von Karin Buselmeier und zwei Dokumenten zum Fall Gumbel. Frankfurt am Main: Fischer 1984, S. 138. Vgl. auch das Weißbuch über die Schwarze Reichswehr. Hg. v. der Deutschen Liga für Menschenrechte. Berlin: Verlag der Neuen Gesellschaft 1925. Gumbel 1984 (Anm. 14), S. 138. Brief Ödön von Horváths an Julius Bab vom 28. Mai 1928, zitiert nach dem hs. Original im BabArchiv, Archiv der Künste, Berlin, Signatur 445. Vgl. den Vertrag vom 11. Jänner 1929, masch. Original im Vertragsarchiv des Ullstein-Buchverlags, ohne Signatur. Vgl. den Brief Bruno Henschels an Ödön von Horváth vom 23. Juli 1929, Abschrift im Vertragsarchiv des Ullstein-Buchverlags, ohne Signatur. Vgl. KW 2, S. 147.

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Vorwort

seine Ablöse durch den republikstreuen Wilhelm Groener – den Ausschlag für die Umarbeitung gaben.20 Dieser hatte sich bereits Mitte März 1928 „zu einem gesunden und vernünftigen Pazifismus“ bekannt, allerdings zu keinem, der einer „knechtischen Gesinnung“ entspringt.21 Die unmittelbare Bedrohung der Republik schien damit und durch den Ausgang der Wahlen zum vierten Reichstag im Mai 1928 nicht mehr gegeben.22 Horváth hatte dies wohl erkannt und dementsprechend dem Sladek einen anderen Ausgang gegeben. „Solche Vorgänge machten aus Horváths dokumentarischem Zeitstück ein historisches Drama, denn die Vorgänge von 1923 waren 1929 bereits historisch geworden.“23 Die Überarbeitung dürfte zügig vor sich gegangen sein. Im zweiten Februarheft 1929 der Zeitschrift Das Theater erscheinen das zweite, dritte und vierte Bild des ersten Aktes der Fassung K1/TS1 bereits unter dem Titel von K2, Sladek, der schwarze Reichswehrmann (vgl. K1/TS3).24 Diese Bilder wird es jedoch in K2/TS1 nicht mehr in dieser Form geben.25 Man kann also davon ausgehen, dass die zweite Fassung zu diesem Zeitpunkt noch nicht fertig und auch noch nicht begonnen war. Sie ist wahrscheinlich erst zwischen Frühjahr und Sommer 1929 entstanden und im Sommer oder Frühherbst 1929 im Volksbühnen-Verlag unter dem Titel Sladek, der schwarze Reichswehrmann erschienen. In der Zeitschrift Theater heute wurde 1967 die zweite Fassung, Sladek, der schwarze Reichswehrmann, abgedruckt.26 Die erste Fassung, Sladek oder: Die schwarze Armee, erschien 1969 in einem Auswahl-Band der Dramen Horváths, der neben Sladek die Stücke Italienische Nacht, Geschichten aus dem Wiener Wald, Kasimir und Karoline und Hin und her enthält.27 Traugott Krischke hat beide Fassungen in die Gesammelten Werke von 1970/71 aufgenommen.28

Das genetische Konvolut und seine Chronologie Das genetische Konvolut zum Werkprojekt Sladek umfasst neben den beiden Stammbüchern, die die Endfassungen in elf Bildern bzw. drei Akten enthalten, nur vier Blatt an handschriftlichen Entwürfen, die jedoch erst nach Abschluss der Arbeit an den beiden Fassungen entstanden sind. Aus der eigentlichen Werkgenese ist kein genetisches Material überliefert.29 Diese kann dennoch in zwei Konzeptionen unterteilt werden, da die beiden Endfassungen nicht nur vom Titel her divergieren, sondern

20 21 22 23 24 25 26 27 28 29

Vgl. ebd. Zit. n. ebd. Vgl. ebd. Ebd. Hervorhebungen im Original (Zitate Horváths), vgl. in diesem Vorwort, S. 16. Horváth 1929b. Vgl. dazu die Übersichtsgrafik Tab1 im Kommentar zu diesem Band. Horváth 1967b. Horváth 1969, S. 5–79. GW I, S. 407–482 bzw. S. 483–527. Vgl. den im Vorwort zu Italienische Nacht zitierten Brief Horváths an den Leiter der Münchener Stadtbibliothek, Hans Ludwig Held, in dem der Autor behauptet, dass er sämtliche Materialien zu seinen Werken nach deren Drucklegung vernichtet; vgl. das Vorwort zum zweiten Teil dieses Bandes, S. 209f.

6

Vorwort

auch makrostrukturell deutlich unterschieden sind und so zwei unterschiedliche Konzeptionsphasen markieren: Konzeption 1: Sladek oder: Die schwarze Armee Konzeption 2: Sladek, der schwarze Reichswehrmann

Konzeption 1: Sladek oder: Die schwarze Armee Mit K1/TS1 ist eine Fassung des Stückes in drei Akten und elf Bildern gegeben, die wesentlich breiter angelegt ist als die spätere Fassung K2/TS1. Die Akt- und Bilderfolge von K1/TS1 lautet: Erster Akt I. Das Ende einer Diskussion II. Bei Anna III. Im Weinhaus zur alten Liebe IV. Bei Anna Zweiter Akt V. Im Hauptquartier der schwarzen Armee VI. Immer noch unter der Erde VII. Freies Feld Dritter Akt VIII. Die Justiz der Wiedererstarkung IX. Nordseehafen X. Der Fall Sladek XI. Rummelplatz

Ähnlich wie die Fassung in drei Teilen von Geschichten aus dem Wiener Wald30 (1931) erzählt K1/TS1 in breiter, episodischer Form die Geschichte eines kleinen Soldaten der schwarzen Armee, des Sladek. Die Handlung verläuft vom Beitritt des arbeitslosen Sladek zur schwarzen Armee und der Zusammenkunft mit dem Journalisten Franz bis zum Mord an seiner mütterlichen Geliebten Anna Schramm, zeigt die Verhaftung Sladeks, seinen Prozess, sein Freikommen durch eine Amnestie und seine letztliche Flucht nach Nicaragua, die jedoch nur noch angedeutet, nicht mehr gezeigt wird. Der Begriff „Historie“, den Horváth gattungstypologisch für sein Stück verwendet, deckt damit einerseits den Aspekt des Geschichtlichen ab – im Sinne der shakespeareschen „Histories“, den Geschichtsdramen –, dem das Drama vom Stofflichen her entspricht, andererseits den Aspekt des Narrativen, den es durchläuft. Durch die Darstellung eines Gerichtsprozesses im dritten Akt nähert sich die Historie dem Justiz-Drama, ähnlich wie der spätere Roman Jugend ohne Gott (1937) in seiner zweiten Hälfte eine Art Justiz-Roman ist.31 Damit stellt Horváth selbst den Konnex her zu der Denkschrift Acht Jahre politische Justiz, die 1927 von der Deutschen Liga für Menschenrechte herausgegeben wurde.32 Mit dem letzten Bild „Rummelplatz“ sucht der Autor erstmals einen Locus auf, der für sein weiteres Werk Symptomcharakter haben wird. Wie in Kasimir und Karoline (1932) und Ein Kind unserer Zeit 30 31 32

Vgl. WA 3/K5/TS12. Vgl. WA 15. Vgl. KW 2, S. 145.

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Vorwort

(1938) ist es die Welt der Abnormitäten, der Karussells und des Tingel-Tangels, die ihn anzieht, weil sie ihm ein (Gegen-)Bild scheint für eine Gesellschaft, die vieles ausstellt und nur wenig wirklich zeigt.33 Ebenfalls zu K1 zu zählen ist ein Prosaexposé mit dem Titel „Sladek oder die Schwarze Reichswehr“, das am 27. Jänner 1929 im fünften Beiblatt des Berliner Tageblatts veröffentlicht wurde (K1/TS2). Der Text erscheint in einem Sammelartikel mit dem Titel Drei Autoren werden aggressiv … und einem Geleitwort von Leopold Jessner.34 Neben Horváths Text werden darin Prosaexposés Hans Borchardts (1888–1951) zu seinem Stück Die Musik der nahen Zukunft (1928) und Peter Martin Lampels (1894–1965) zu seinem Stück Giftgas in Berlin (1929) abgedruckt. Allen drei Stücken gemeinsam ist die pazifistische Tendenz bzw. die Anprangerung von (geheimen) Aktivitäten der Reichswehr.35 Überdies zu K1 zählt der Abdruck des zweiten bis vierten Bildes des ersten Aktes von K1/TS1 unter dem Titel von K2, „Sladek, der schwarze Reichswehrmann“, in der Zeitschrift Das Theater im Februar 1929 (K1/TS3).36 Da dieser Teilabdruck textidentisch mit den entsprechenden Bildern von K1/TS1 ist, wird er im vorliegenden Band nicht wiedergegeben.

Konzeption 2: Sladek, der schwarze Reichswehrmann Das Stück erfährt in K2 eine starke Verdichtung. Horváth reduziert die elf Bilder auf drei Akte, die folgende Titel tragen: „Strasse“, „Im Weinhaus zur alten Liebe“ und „Kiesgrube“. Eine genaue Gegenüberstellung der beiden Fassungen liefert die Übersichtsgrafik Tab1 im Kommentar zu diesem Band. Über die möglichen politischen Gründe für die Umarbeitung des Stückes wurde im vorhergehenden Abschnitt schon spekuliert. Wirkliche Belege dafür gibt es nicht. Die Handlung erfährt in K2 eine Reduktion auf wenige Schauplätze und Figuren. Möglicherweise ist sie auch den (beschränkten) Möglichkeiten der „Aktuellen Bühne“ des Lessing-Theaters geschuldet, die die Uraufführung verantwortete. Teilweise werden Dialoge gekürzt, Figuren weggelassen und Repliken zwischen Figuren verschoben. Der dritte Akt von K1/TS1, der in narrativer Weise das weitere Schicksal des Sladek nach dem Mord an Anna Schramm und der Auflösung der schwarzen Armee darstellt, fällt in K2/TS1 fast zur Gänze weg. Stattdessen setzt Horváth seine Hauptfigur einem tragischen Schicksal aus. Wo in K1/TS1 der ironische Schluss der Verunreinigung der hinteren Wand des Flohzirkus steht, für die Sladek von einem Polizisten ermahnt wird, endet das Zwischenspiel Sladeks bei der Schwarzen Reichswehr in K2/TS1 letal. Die ebenfalls zu K2 zu rechnenden Werkverzeichnisse E1–E4 sind alle nach Fertigstellung der zweiten Fassung des Sladek entstanden, also erst nach Mai 1929. Das früheste Werkverzeichnis E1 dürfte kurz vor der Uraufführung des Sladek im September 1929 verfasst worden sein. Denn dieser Entwurf befindet sich im Notizbuch Nr. 6, das Horváth auf seiner Reise zur Weltausstellung in Barcelona im September 1929 ver33

34 35 36

Vgl. Ingrid Haag: Zeigen und Verbergen. Zu Horváths dramaturgischem Verfahren. In: Traugott Krischke (Hg.): Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 138–153. Horváth 1929a. Vgl. dazu den Kommentar zu K1/TS2 im „Chronologischen Verzeichnis“. Horváth 1929b.

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Vorwort

wendet hat und in dem sich die ersten Entwürfe zum späteren ersten Teil des Romans Der ewige Spießer mit dem Titel Herr Kobler wird Paneuropäer befinden. In E1 notiert Horváth die bereits fertiggestellten Stücke Die Bergbahn, Sladek, der schwarze Reichswehrmann und Rund um den Kongreß und versieht die ersten beiden mit den Orten der Ur- bzw. Zweitaufführung: „Hamburger Kammerspiele“, „Volksbühne“ und „Lessingtheater“. In E2, der sich ebenfalls im Notizbuch Nr. 6 befindet, vermerkt er dieselben Titel wie in E1, erweitert um die Werktitel „Herr Reithofer wird selbstlos“ und „Der europäische Spiessbürger“ aus der Werkgenese des Romans Der ewige Spießer, die hier noch als getrennte Werkprojekte betrachtet werden. In E4, der im Kontext der Werkgenese von Kasimir und Karoline entstanden und wahrscheinlich auf den Winter 1931/32 oder das Frühjahr 1932 zu datieren ist, notiert Horváth neuerlich ein Werkverzeichnis, das abgeschlossene und in Planung befindliche Werkprojekte vermischt. Hier finden sich etwa unter der Kategorie „Prosa und frühe dramatische Arbeiten“ die Titel: „Der ewige Spiesser“, „Norden“, „Bergbahn“ und „Sladek“, unter der Kategorie „Volksstücke“: „Italienische Nacht“, „Geschichten aus dem Wiener Wald“, „Kasimir und Karoline“ und „Die Kleinen, die man hängt“. Zuletzt vermerkt er unter „Zauberpossen“: „Himmelwärts“ und versieht diesen Eintrag mit der Bemerkung „usw.“. Die Werkverzeichnisse E1–E4 zeigen, dass Horváth den Sladek zu seinen wichtigeren Arbeiten zählte, während etwa das zu den erwähnten Zeitpunkten bereits fertiggestellte Volksstück Zur schönen Aussicht (Erstdruck 1927; Uraufführung 1969) in keinem der drei Werkverzeichnisse angeführt wird.

Uraufführung und Rezeption Da die Uraufführung der zweiten Fassung des Sladek früher stattfand als jene der ersten Fassung, wird hier zuerst die Uraufführung von Sladek, der schwarze Reichswehrmann behandelt. Diese fand am 13. Oktober 1929 als Matinee der „Aktuellen Bühne“ des Lessing-Theaters Berlin statt. Regie führte Erich Fisch, das Bühnenbild stammte von Elfriede Liebthal. In der Rolle des Sladek war Otto Matthies zu sehen, die Anna wurde von Lotte Lieven gespielt, Schminke von Fritz Ritter und der Hauptmann von Erich Thormann.37 Horváth war spätestens seit der äußerst erfolgreichen Uraufführung von Die Bergbahn am 4. Jänner 1929 in Berlin kein Unbekannter mehr.38 Das Volksstück wurde in allen wichtigen Zeitungen prominent besprochen, so etwa im Berliner Börsen-Courier von Emil Faktor, im Berliner Tageblatt von Alfred Kerr, im 8-Uhr-Abendblatt von Kurt Pinthus, in der Vossischen Zeitung von Monty Jacobs, in der Frankfurter Zeitung von Bernhard Diebold und in der Neuen Leipziger Zeitung von Erich Kästner.39 Ein ähnlicher Besprechungsreigen wurde auch der Historie Sladek, der schwarze Reichswehrmann zuteil. Der weiter oben erwähnte Julius Bab, dem Horváth wahrscheinlich bereits im Mai oder Juni 1928 die erste Fassung des Sladek zur Lektüre zur Verfügung gestellt hatte, schrieb in der Berliner Volkszeitung:

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Vgl. Traugott Krischke (Hg.): Horváth auf der Bühne. 1926–1938. Eine Dokumentation. Wien: Edition S 1991, S. 61. Vgl. etwa den Brief Horváths an Lotte Fahr vom 15.1.1929, Kryptonachlass Ödön von Horváth im Nachlass Traugott Krischke, ÖLA 84/S 57. Vgl. Krischke 1991 (Anm. 37), S. 35–55.

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Vorwort

In diesem jungen Mann mit dem ungarischen Namen, von dem die Volksbühne im vorigen Jahr schon „Die Bergbahn“ brachte, stecken mehr Möglichkeiten zu einem wirklichen deutschen Dramatiker als in den meisten Autoren, die die letzten Bühnenjahre uns gezeigt haben.40

Später spricht Bab vom „Talent eines wirklich dramatischen Dichters“41, das Horváth mit dem Sladek unter Beweis gestellt habe. Aber er kritisiert: „Es ist wenig oder jedenfalls noch nicht genug im szenischen Aufbau, in der dramatischen Steigerung.“42 Und da Bab bereits die erste Fassung des Sladek gelesen hatte, kann er zu einem Vergleich der beiden Versionen ansetzen, der, was nicht überrascht, für die erste Fassung vorteilhafter ausfällt: Das Stück, ursprünglich in einer größeren Anzahl von Szenen locker gefügt, ist jetzt zu drei Akten zusammengezogen, die aber etwas willkürlich im Schauplatz und ärmer in der Handlung wirken. Es bleibt mehr dichterische Charakterstudie als groß ausladendes Drama.43

Den Schluss, in dem der Bundessekretär gegenüber Schminke die Existenz der schwarzen Reichswehr schlichtweg leugnet, bezeichnet Bab gar als „alber[n]“.44 Es ist offensichtlich, dass ihm das „locker gefügt[e]“ Stück in der ersten Fassung besser gefallen hat, obwohl er später sowohl an Italienische Nacht als auch an Geschichten aus dem Wiener Wald genau dieses Episoden- oder Skizzenhafte kritisieren wird.45 Die Inszenierung erntet von dem Kritiker zaghaftes Lob. Sie sei „nicht schlecht“ gewesen, besonders hebt er die „einfachen und eindrucksvollen Bühnenbilder“ von Elfriede Liebthal hervor. Von der schauspielerischen Leistung heißt es gar, dass die „Darstellung“ bewiesen habe, „wieviele unerkannte Schauspielertalente in Berlin herumlaufen“.46 Entscheidend scheint indes die Bemerkung zur politischen Tendenz des Stückes. Bab schreibt diesbezüglich: Horváth sieht den jungen Burschen Sladek, der sich von der schwarzen Reichswehr anwerben läßt und Mitschuldiger eines Fememordes wird, bei aller Gegnerschaft gegen seine Sache nicht mit den Augen eines politischen Artikelschreibers, sondern mit den Augen eines Dichters.47

Der Schluss des Stückes mache jedoch das Dichterische fast wieder zunichte. Das Ende von Babs Rezension lässt indes keine Zweifel darüber aufkommen, dass er Horváth für einen „echten Dichte[r]“ hält: Dieser dünn pointierte Epilog wirkt, als ob es sich wirklich wieder nur um ein Stück Tendenz, ein Plakat zur politischen Erinnerung handele. In Wahrheit handelt es sich um mehr: um die in der Luft der erregten Zeit gewachsene Begabung eines echten Dichters, eines dramatischen Gestalters, auf dessen Weg man wird achten müssen.48

Das wird Bab tun. Er wurde zu einem getreuen Fürsprecher Horváths in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren, mit dem der Autor wiederholt auch brief-

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[Julius] Bab: Ödön Horváth: „Sladek“. Premiere im Lessing-Theater. In: Berliner Volkszeitung, 14.10.1929. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. das Vorwort in WA 3, S. 5 und 30. Bab 1929 (Anm. 40). Ebd. Ebd.

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Vorwort

lichen Kontakt hatte.49 Bab wird sich auch in Kritiken zu Italienische Nacht und Geschichten aus dem Wiener Wald durchaus positiv zu Horváth äußern.50 Er bleibt mit seiner Einschätzung des Sladek jedoch so ziemlich alleine. Das Gros der Kritiken spricht dem Stück nicht nur die Aktualität ab, sondern dem Dichter sogar die Gestaltungsfähigkeit. Am gnädigsten verfährt dabei noch Erich Kästner, der in der Neuen Leipziger Zeitung schreibt: „Horváth zeigte sich entweder nicht entschlossen genug, ein Einzelschicksal zu dramatisieren, oder es gelang ihm nicht zureichend, die Epoche zu gestalten.“51 Und bereits zuvor hatte er moniert: [D]ie Darstellung jener Epoche ist zu flach geraten; das Private frißt zuviel Raum und Zeit; die mangelnde dramatische Ökonomie drängt das historisch Allgemeine viel zu sehr in den Hintergrund.52

Auch Alfred Kerr kommt, wenn auch in anderer Diktion, in seiner Besprechung auf einen ähnlichen Nenner: „Propagandastück mit Kunst? Manchmal. Zwischendurch Spuren eines Dichters.“53 Er gesteht Horváth zwar zu, dass er seit der Bergbahn, die Kerr immerhin als „beachtungswürdig“ bezeichnet, „aufwärts“ fahre.54 Schränkt dies aber wieder ein, wenn er schreibt: „Er kommt nicht zur Firngrenze. Immerhin zum Knieholz.“55 Im Vergleich zu Tendenzstücken anderer Autoren – Kerr nennt diesbezüglich Richard Duschinsky und Friedrich Wolf –, zeichne Horváth aus, dass er „beim Hineinblick in die Menschen“ der „Reichere“ sei.56 Zum Nachteil gereiche ihm jedoch, dass er kein „drei Stunden sättigendes ‚Stück‘“ baue: Sondern er streut eine Handvoll Auftritte; skizzig der ganze Bau; gibt anfangs politische Weltanschauung in runden Gestaltbildern – hernach bloß Weltanschauung in Dokumenten.57

Kerr gesteht Horváth immerhin zu, dass er Entwicklungsmöglichkeiten habe.58 Deutlich gegen Horváths Sladek spricht sich indes Herbert Ihering im Berliner Börsen-Courier aus: Ein törichtes Stück. Ödön Horváth, der früher eine Episode beim Bau der Zugspitzbahn dramatisiert hat, glaubt jetzt, ein Stück der Schwarzen Reichswehr geschrieben zu haben. Aber „Sladek, der schwarze Reichswehrmann“[,] überzeugt noch weniger als die „Bergbahn“. Horváth, ein junger ungarischer Schriftsteller, hat Talent für humoristische Episoden, … aber für ein Stück, das den Wirbel der Inflation, die Geschichte der schwarzen Reichswehr behandeln will? Nein, ein Zeitrichter ist Herr Horváth nicht.59

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Vgl. dazu die Briefe Horváths an Bab vom 15. Oktober 1929, 4. November und 14. Dezember 1930 sowie vom 14. Juni, 22. und 30. November 1931, Julius-Bab-Archiv, Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Signaturen 446–451. Vgl. das Vorwort im zweiten Teil dieses Bandes und jenes in WA 3. Erich Kästner: Schwarze Reichswehr auf der Bühne. In: Neue Leipziger Zeitung, 19.10.1929. Ebd. Alfred Kerr: Ödön von Horváth: „Sladek, der schwarze Reichswehrmann“. Aktuelle Bühne (Lessing-Theater). In: Berliner Tageblatt, 14.10.1929. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Herbert Ihering: Aktuelle Bühne: Sladek, der schwarze Reichswehrmann. In: Berliner BörsenCourier, 14.10.1929.

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Während Ihering noch rein ästhetische Einwände formuliert, gehen die Angriffe der nationalkonservativen Kritik auf Horváth ins Persönliche. Paul Fechter polemisiert schon im Titel seiner Besprechung gegen den Autor: „Kindertheater“, nennt er Horváths Stück und stößt sich naturgemäß vor allem an der Herkunft des Autors: Ödön Horváth […] ist Ungar. Urteilte man nur nach dieser Fememordkomödie, so müßte man sagen, der sympathischeste Zug an diesem Autor ist, daß er sich scheut, in seiner Muttersprache zu dichten. Daß er jedoch unser geliebtes Deutsch zur Herstellung seiner Dramen benutzt, ist nicht edel und bundesbrüderlich von ihm. Denn diese dreiaktige Geschichte von der Schwarzen Reichswehr ist wirklich nicht schön. Sie ist kindisch dramatisierte Schauergeschichte aus dem Feme-Märchenbuch der deutschen Linksparteien – dauernd so dicht an der Grenze kindlicher Komik entlanggedichtet, daß im dritten Akt die Zuschauer in drohender Heiterkeit begannen mitzuspielen.60

Horváths Stück wird zuletzt als „Unsinn“ bezeichnet und als linke Tendenzdichtung abgetan, wobei Fechter auch hier keine Gelegenheit zu bösestem Sarkasmus auslässt: „[D]ie Linke hat wirklich Pech mit den Leuten, die ihre Politik dichten.“61 In der Schlusspointe nimmt er neuerlich auf die Herkunft des Autors Bezug: „Von Herrn Horváth aber wär’s nett, wenn er vielleicht am Ende doch anfinge, ungarisch zu dichten.“62 Jenseits dieser nationalistisch motivierten Kritik stößt sich ein Großteil der Kritiker an der vermeintlichen Aktualität des Stückes. Dass sich die junge SchauspielerGruppe des Lessing-Theaters, von der Horváths Sladek uraufgeführt wurde, „Aktuelle Bühne“ nennt, davon fühlt sich das Gros der Kritik geradezu provoziert, bezieht sich Horváth doch mit seiner Thematik der Fememorde und der schwarzen Reichswehr auf die frühen zwanziger Jahre. So schreibt Norbert Falk in der B.Z. am Mittag: Schwarze Reichswehr und Fememorde – zeitnah also. Es gibt zeitnähere und nächste Themen; das wäre nicht so zu betonen, wenn die Veranstalter der Aufführung nicht: „Aktuelle Bühne“ im Firmenschild trügen. Atmosphäre von 1923.63

Julius Knopf überbietet dies noch mit folgenden Worten: Die aktuelle Dramatik hat ihre Berechtigung. Die „Aktuelle Bühne“ hat keine Berechtigung. Denn sie ist eine Stümperei, da sie derartige klägliche Stücke verabfolgt, wie diesen „Sladek“-Unfug.64

Und Monty Jacobs spricht der aktuellen Tendenzdichtung überhaupt die Berechtigung ab: Der Leiter der „Aktuellen Bühne“, Herr Fisch, wird hiermit darüber aufgeklärt, daß die Mode des „aktuellen“, nichts als aktuellen Theaters zum Glück schon längst wieder vorbei ist. Es hat sich nämlich schnell herumgesprochen, daß das Herabsinken vom Wesentlichen zum Aktuellen eine geistige Verflachung bedeutet.65 60

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F. [i.e. Paul Fechter]: Kindertheater. Horváth: „Sladek, der schwarze Reichswehrmann“. In: Deutsche Allgemeine Zeitung (Berlin), 14.10.1929. Ebd. Ebd. Norbert Falk: Ödön Horwath: Der schwarze Reichswehrmann. Gestern mittag im Lessing-Theater. In: B.Z. am Mittag (Berlin), 14.10.1929. Julius Knopf: „Sladek, der schwarze Reichswehrmann“. Matinee der Aktuellen Bühne im Lessing-Theater. In: Berliner Börsen-Zeitung, 14.10.1929. Monty Jacobs: Sladek, der schwarze Reichswehrmann. Aktuelle Bühne im Lessing-Theater. In: Vossische Zeitung (Berlin), 14.10.1929.

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Vorwort

Das Gros der Kritiken war also negativ. Dementsprechend wurde das Stück Sladek, der schwarze Reichswehrmann im Oktober 1929 nur einmal gespielt und nach der Uraufführung sofort wieder vom Programm abgesetzt.66 Erst 1967 wurde es in einem Wiener Kellertheater, dem Ateliertheater, als österreichische Erstaufführung wieder gegeben.67 1968 folgte eine Inszenierung im Kleinen Haus des Staatstheaters Kassel, die als deutsche Erstaufführung gehandelt wurde, da das Stück 1929 nur in einer Matinee gespielt worden war.68 1971 wurde es im Theater am Turm in Frankfurt am Main neuerlich aufgeführt.69 Schon in der Besprechung der Uraufführung von 1929 durch Julius Bab ist angeklungen, dass die ursprüngliche Fassung des Stückes unter dem Titel Sladek oder: Die schwarze Armee möglicherweise die reichere und bessere sein könnte.70 Die Umarbeitung der Fassung in elf Bildern (K1/TS1) zu jener in drei Akten (K2/TS1), die wahrscheinlich durch politische Entwicklungen angeregt wurde, hinderte ja nicht – dies haben einzelne Rezensionen gezeigt71 –, dass das Stück auch in seiner Kurzfassung nicht mehr den aktuellen historischen Gegebenheiten entsprach. Das heißt, die Historie schilderte tatsächlich historische Zustände, die aber – dies sollte die weitere geschichtliche Entwicklung zeigen – nicht für alle Zeiten überholt waren. In Italienische Nacht (1930) wird der Autor die Problematik der Bedrohung der Republik durch das rechte politische Lager in Komödienform noch einmal bearbeiten.72 Die Uraufführung der Fassung in elf Bildern, also von Sladek oder: Die schwarze Armee, fand erst am 26. März 1972 in den Münchner Kammerspielen unter der Regie von Oswald Döpke statt. In der Rolle des Sladek spielte Peter Mati´c, Louise Martini gab die Anna Schramm, und Werner Kreindl übernahm die Rolle des Franz. In einer Nebenrolle war Monica Bleibtreu zu sehen. Döpke verfilmte das Stück schließlich sogar 1976 mit Marius Müller-Westernhagen als Sladek, Louise Martini als Anna Schramm und Günter Pfitzmann als Knorke.73 Die Besprechungen zur Uraufführung in München 1972 fielen, wie schon jene zur Uraufführung von Sladek, der schwarze Reichswehrmann 1929 in Berlin, äußerst kontrovers aus, in Summe aber – getragen von der Horváth-Renaissance der sechziger und frühen siebziger Jahre – deutlich positiver. Paul Kruntorad urteilte etwa im Wiener Kurier: Beide Fassungen sind im Grund verschiedene Stücke. Jede hat seine [sic!] Berechtigung. […] In der späteren verbindet Horváth mit der frühen Einsicht in die politischen Mechanismen des Nazismus das Gespür für das individuelle Charakterbild, das den Nazismus möglich gemacht hat. In der ersten fehlt diese Dimension. Sladek ist nur ein Aufhänger für eine Abfolge von Szenenbildern aus der politischen Geschichte Weimars.74

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Vgl. Krischke 1991 (Anm. 37), S. 62. Vgl. in der Theatersammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, Signatur ÖLA 28/S 627. Vgl. ebd. ÖLA 28/S 628. Vgl. ebd. ÖLA 28/S 629. Vgl. Bab 1929 (Anm. 40). Vgl. etwa Falk 1929 (Anm. 63) und Knopf 1929 (Anm. 64). Vgl. den zweiten Teil dieses Bandes. Vgl. die Besetzungsliste zu Sladek oder Die schwarze Armee (BRD 1976, R: O. Döpke) auf www.imdb.com (letzter Zugriff: 4.7.2016). Paul Kruntorad: Zur Münchner Horváth-Premiere. Frühe Einsicht in die Mechanismen. In: Kurier (Wien), 31.3.1972.

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Insgesamt hält Kruntorad jedoch „Sladek Nr. 1“ für die „weniger dankbare Rolle“ und kritisiert an der Inszenierung, die den Sladek als wenig intelligenten Vorläufer eines nationalsozialistischen Mitläufers präsentierte: „Debilität ist keine ausreichende Erklärung der Verführbarkeit.“75 In der Frankfurter Rundschau titelte Annemarie Czaschke dementsprechend Analyse eines Mitläufers und sieht Horváth und Brecht entgegen der landläufigen Meinung, die die beiden gegeneinander ausspielte, als „Dramatiker derselben Generation“ und „entschiedene politische Gegner des Naziregimes“.76 Sie bezeichnet die Uraufführung von Sladek oder: Die schwarze Armee deshalb als „Verdienst“, bringe sie doch dem Publikum „diesen eindeutigen politischen Aspekt bei Horváth“ zur Kenntnis.77 Im Sladek erkennt sie einen Mitläufer der ersten Stunde und in der schwarzen Armee „eine illegale Vorläuferorganisation der späteren SA“.78 So kommt sie zu dem Schluss, dass „[e]ine derartige historische Analyse aus dem Jahre 1928 […] rückblickend geradezu prophetisch [anmutet]“.79 Wolfgang Drews sieht das in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kritischer. Während er in der Inszenierung „mit einer Serie von Filmprojektionen“ die „Methode Piscator“ angewandt findet, die in diesem Falle eine Reihe von Kontexten zur politischen Gegenwart der Weimarer Republik liefere, beklagt er, dass dem Stück genau das eigentlich fehle: Die „Historie in drei Akten“ als solche verzichtet weitgehend auf das Zeitkolorit und beinahe ganz auf die schwankende Umwelt, begnügt sich mit den Desperados der zunächst offiziös gebilligten, später offiziell abgelehnten halbmilitärischen Haufen der Weimarer Republik. Das ist die Schwäche der ersten und der zweiten Version, weder der trocken treffliche Dialog noch der geradezu prophetische Scharfblick des Autors vermag sie wettzumachen.80

Auch bei Drews fällt also der Hinweis auf den „prophetische[n] Scharfblick des Autors“ und auf seine Dialogkunst bei gleichzeitiger Relativierung seiner Fertigkeiten in puncto Zeitschilderung. Im Vergleich der beiden Fassungen gibt Drews der zweiten den Vorzug, sie wirke heute noch „freier und frischer“.81 Dementsprechend fällt sein Fazit ambivalent aus: „Geschichtsstunde für die Nachgeborenen, Rekapitulation für die Überlebenden.“82 Und er schließt mit dem Aperçu: „Wer den großen Horváth nicht kennt, hat ihn an diesem Abend nicht kennengelernt.“83 Deutlich negativ war die Besprechung Joachim Kaisers in der Süddeutschen Zeitung. Er nimmt eine Aporie in dem Stück wahr, die er darauf zurückführt, dass Abschreiben und Gestalten vom Autor nicht wirklich zu einer Einheit verbunden werden konnten:

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Ebd. Annemarie Czaschke: Analyse eines Mitläufers. Ödön von Horváths „Sladek oder die Schwarze Armee“ jetzt uraufgeführt. In: Frankfurter Rundschau, 30.3.1972. Ebd. Ebd. Ebd. Wolfgang Drews: Anfänge des großen Horváth. Die erste Fassung des „Sladek“. Uraufführung in München. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.3.1972. Ebd. Ebd. Ebd.

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Vorwort

Wenn nun Horváth selber gleichsam die „Verantwortung“ übernimmt, wenn er bildet, statt abzuschreiben, dann kommt da sofort ein Moment von Kolportage, von Melodram, von Unwahrscheinlichkeit ins Ganze, er macht die Figuren dann zu „seinen“ Theaterfiguren – aber weil er sie nicht ganz herstellt, sondern an Typen und Fakten klebt, entsteht ein Zwiespalt. Kein fesselnder, vielmehr ein lähmender langweiliger Zwiespalt zwischen „Historischem“ und „Geschriebenem“.84

Die von ihm konstatierte „Leblosigkeit des Stückes“ glaubt er zuletzt damit erklären zu können, dass Autoren mit ihren Figuren bis zu einem gewissen Teil „identisch“ sein müssen, dass Horváth dies aber mit den „Faschisten“, die er zeige, nicht sei und diese deshalb gewissermaßen „im Reagenzglas“ vorführe.85 Hannes S. Macher geht in den Düsseldorfer Nachrichten sogar so weit zu schreiben, dass das Stück „[b]esser in der Schublade geblieben“ wäre und die Horváth-Uraufführung den Münchner Kammerspielen einen „Reinfall“ beschert habe: „Dem ganzen Stück mangelt es einfach an dramatischer Dichte und am Horváthschen Kolorit.“86 Auch er gesteht Horváth, wie andere vor ihm, prophetische Fähigkeiten zu, doch beklagt er einen Mangel an dramatischer Ursachenforschung, wenn er schreibt: Der Prophet Horváth hat die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zwar heraufkommen sehen, als Dramatiker aber bekam er die Ursprünge dieser Katastrophe und die Ursachen des deutschen „Heil“-Gebrülls nicht in den Griff.87

Sein Fazit fällt deshalb deutlich negativ aus: „Ein Stück für Philologen und HorváthForscher, aber nichts Abendfüllendes.“88 Anders sieht das Ingrid Seidenfaden in der Bayerischen Staatszeitung. Auch sie lobt die prophetischen Künste des Autors. Darauf kann sich die Kritik von 1972 trotz ihrer Diversität einigen: „Das Vorfeld von Faschismus und Nazismus ist erschreckend genau abgesteckt, in Vorgängen und vor allem in der Sprache.“89 In der Verquickung von Erotik und Männerbund, die Horváth plastisch nachzeichne, sieht sie überdies [e]ine schlechthin geniale Auslegung der riesigen Verführungskraft der militanten nationalistischen Männerbünde der zwanziger Jahre auf Typen wie diesen kleinen Mann, Leute, die sich dumpf und irgendwie erfüllen, bestätigen wollen.90

In einem Interview mit der Berliner Zeitschrift Tempo unter dem Titel Typ 1902, der auf Ernst Glaesers (1902–1963) Roman Jahrgang 1902 (1928) anspielt, hat Horváth (Jg. 1901) darauf hingewiesen, dass sein Sladek nicht als Individuum, sondern als Typus zu verstehen ist:

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Joachim Kaiser: Verlorener Haufen im Reagenzglas. Horváths „Sladek oder Die schwarze Armee“ an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt. In: Süddeutsche Zeitung (München), 28.3.1972. Ebd. Hannes S. Macher: Besser in der Schublade geblieben. Horváth-Uraufführung bescherte Münchner Kammerspielen einen Reinfall. In: Düsseldorfer Nachrichten, 30.3.1972. Ebd. Ebd. Ingrid Seidenfaden: Die Tragödie eines leeren Kopfes. An Horváth vorbeiinszeniert: eine späte Uraufführung in München. In: Bayerische Staatszeitung (München), 30.3.1972. Ebd.

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Sladek ist als Figur ein völlig aus unserer Zeit herausgeborener und nur durch sie erklärbarer Typ; er ist, wie ein Berliner Verleger ihn einmal nannte, eine Gestalt, die zwischen Büchners Wozzek und de[m] Schwejk liegt. Ein ausgesprochener Vertreter jener Jugend, jenes „Jahrgangs 1902[“], der in seiner Pubertät die „große Zeit“, Krieg und Inflation, mitgemacht hat, ist er der Typus des Traditionslosen, Entwurzelten, dem jedes feste Fundament fehlt, und der so zum Prototyp des Mitläufers wird. Ohne eigentlich Mörder zu sein, begeht er einen Mord. Ein pessimistischer Sucher, liebt er die Gerechtigkeit – ohne daß er an sie glaubt, er hat keinen Boden, keine Front … Die inhaltliche Form meines Stückes ist historisches Drama, denn die Vorgänge sind bereits historisch geworden. Aber seine Idee, seine Tendenz ist ganz heutig. Ich glaube, daß ein wirklicher Dramatiker kein Wort ohne Tendenz schreiben kann. Es kommt nur darauf an, ob sie ihm bewußt wird oder nicht. Allerdings lehne ich durchaus die dichterischen Schwarz-Weiß-Zeichnungen, auch im sozialen Drama, ab. Da ich die Hauptprobleme der Menschheit in erster Linie von sozialen Gesichtspunkten aus sehe, kam es mir bei meinem „Sladek“ vor allem darauf an, die gesellschaftlichen Kräfte aufzuzeigen, aus de[nen] dieser Typus entstanden ist.91

Dass es Horváth gelungen ist, diese „gesellschaftlichen Kräfte aufzuzeigen“, daran hat die Kritik ihre Zweifel geäußert. Mehr scheint ihm dies noch in der ersten Fassung gelungen zu sein als in der zweiten. Bemerkenswerterweise hat Horváth einen ähnlichen Typus wie den Sladek noch einmal, 1938, mit der Figur des Soldaten im Roman Ein Kind unserer Zeit nachgezeichnet. Der Sladek und der Soldat sind im Grunde eine Figur, auch wenn der Soldat erst 1917 geboren ist.92 Der Leitsatz Sladeks: „In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht“ präfiguriert jenen des Soldaten: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge.“93 Auch dass der „Einzelne“ „nichts zählt“, findet sich sowohl in beiden Fassungen des Sladek als auch in Ein Kind unserer Zeit.94 Leitmotivartig wiederholen sich auch in beiden Texten die Reflexionen der Hauptfigur über das (selbstständige) Denken.95 Der „ewig[e] Kamp[f] zwischen Individualismus und Kollektivismus“ (K1/TS2) durchzieht Horváths Werk vom Sladek (1928/29) über Der ewige Spießer (1930) bis zu Ein Kind unserer Zeit (1938). Sie war zweifellos die entscheidende Frage seiner Zeit, und es gehört zu seinen wesentlichsten literarischen Leistungen, dass er sich ihr immer wieder gestellt hat. In der literaturwissenschaftlichen Forschung zu Ödön von Horváth kommt dem Frühwerk kaum die Beachtung zu, die ihm gebühren würde. Dementsprechend sind die Forschungsarbeiten zu den beiden Fassungen des Sladek marginal. Beate Hein Bennett hat bereits 1975 eine vergleichende Studie zu den Soldaten-Figuren bei Jakob Michael Reinhold Lenz, Georg Büchner und Ödön von Horváth vorgenommen; ein Forschungsansatz, der bis heute kaum mehr aufgegriffen wurde.96 Gudrun Kampelmüller und Elisabeth Prantner haben die „Politische Ideologie und die daraus resul-

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W. E. O.: Typ 1902. Gespräch mit Ödön Horvath. In: Tempo (Berlin), 13.10.1929. Vgl. WA 16/K3/TS18/Horváth 1938b, S. 16. WA 16/K3/TS18/Horváth 1938b, S. 19. Vgl. K1/TS1/SB Volksbühne 1928, S. 55, K2/TS1/SB Volksbühne 1929, S. 44 und WA 16/K3/TS18/ Horváth 1938b, S. 24. Vgl. etwa K1/TS1/SB Volksbühne 1928, S. 10f., K2/TS1/SB Volksbühne 1929, S. 7 und WA 16/K3/ TS18/Horváth 1938b, S. 34 und das Kapitel „Das denkende Tier“ ebd., S. 125–137. Beate Hein Bennett: Soldiers Woyzeck Sladek. The Development of the Time-Server. A Translation and Comparative Analysis of those Plays by Jakob M. R. Lenz, Georg Büchner, and Ödön von Horváth. Univ.-Diss. University of Columbia, South Carolina, 1975.

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tierende Sprache in Ödön von Horváths Werken Sladek oder die schwarze Armee und Italienische Nacht“ untersucht.97 Sie konstatieren: Der extreme Wortschatz, den die Protagonisten in Horváths Werken zur Artikulation ihrer politischen Einstellung verwenden, macht die Sprecher unglaubwürdig, ja beinahe lächerlich. Die verwendeten ideologischen Begriffe werden ad absurdum geführt.98

Sladeks Sprache demaskiere ihn als „Protoyp“ der „Dummheit“ und des „Egoismus“ der „politisch verführten Masse“.99 Norbert Abels hat im Rahmen eines Sammelbands zu den „Einzelfällen“ der österreichischen Literatur Sladek oder: Die schwarze Armee behandelt.100 Horváth habe im Sladek „hellsichtig“ dargestellt, wie „der zur puren Phraseologie gewordene Traditionalismus der die Republik bejahenden Kräfte […] dem Aktivismus der Reaktion nicht mehr gewachsen ist“.101 Der „Phraseologie“ der Sozialdemokratie setze der Autor die neuartige „Terminologie“ der „Schwarzen Armee“ gegenüber, die bald die terminologische Vorherrschaft übernehme: Die von Horváth verwendete Terminologie der „Schwarzen Armee“ gerät schon ein paar Jahre später, etwa in Baeumlers Männerbund und Wissenschaft zum Jargon der nationalsozialistischen Welteroberungspläne.102

Abels listet die „Kaskade gängiger Ressentiments“ auf, die am Beginn des Sladek stehen und die Schlagrichtung der „Schwarzen Armee“ deutlich machen: Da gibt es – synonym verwendet –[,] den „Judenknecht“, den deutsche Frauen schändenden syphilitischen Neger, den „Novemberling“, „das Schwein“, den perversen Sadisten, den „jüdischjesuitischen Fetzen von Weimar“ und das „pazifistische Gesindel“.103

Den Sladek kennzeichne aber eine „im gleichsam präexistenten Stadium abgebrochene Entwicklung“104, eine „präexistente Kauerstellung“, die der „abgedichteten Höhle der Volksgemeinschaft“105 entspreche. Demgemäß spiegle sich sein Ich ständig im ganzen Volk. Erst durch sein „Halt“ bei der Ermordung Annas gewinne er Kontur, trete er von der „Präexistenz“ ins „Dasein“.106 Hans Peter-Rüsing konstatiert in seiner Arbeit über Die nationalistischen Geheimbünde in der Literatur der Weimarer Republik: Der Widerspruch etwa zwischen dem Anspruch der nationalistischen Geheimbündler, Retter des Vaterlandes und Hüter deutscher Moral zu sein, und einer Realität, die gekennzeichnet war durch eine nahezu unvorstellbare Rohheit und Brutalität hochverräterisch ambitionierter Mörder, durchzieht leitmotivisch beide Fassungen des „Sladek“-Dramas.107

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Kampelmüller/Prantner 1995 (Anm. 1). Ebd., S. 17. Ebd., S. 27. Norbert Abels: „Überall kauert der Tod und lauert“. Zu Ödön von Horváths „Sladek oder Die schwarze Armee“. In: Karlheinz Auckenthaler (Hg.): Lauter Einzelfälle. Bekanntes und Unbekanntes zur neueren österreichischen Literatur. Bern/Wien [u.a.]: Peter Lang 1996 (= New Yorker Beiträge zur Österreichischen Literaturgeschichte, Bd. 5), S. 335–344. Ebd., S. 337. Ebd. Ebd., S. 340. Ebd., S. 342. Ebd., S. 343. Ebd. Rüsing 2003 (Anm. 3), S. 152.

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Vorwort

Und wenig später schreibt er: Beide Fassungen des „Sladek“-Stückes lassen keinen Zweifel daran, dass die Reichswehr letztlich auch für die begangenen Fememorde die Verantwortung trägt.108

Thomas Rothschild hat zuletzt Bernhard Schlinks Der Vorleser mit Horváths Sladek quergelesen.109 Er zeigt auf, wie die Schuld der Täter oft mit den Argumenten der mangelnden Bildung und sozialen Benachteiligung relativiert werde, wie ein solcher Relativierungsdiskurs aber letztlich an der Wahrheit vorbeigehe, in der es immer Alternativen zum Schuldigwerden gebe. Horváth entschuldige, anders als Schlink die KZ-Aufseherin Hanna Schmitz, seinen Sladek nicht etwa als deterministisch gesteuert, sondern setze die Phrasenhaftigkeit seiner Sprache und sein Mitläufertum einer eindeutigen Kritik aus. Dies gelinge ihm nicht zuletzt, indem er aufzeige, dass es, mit der Figur des Franz/Schminke, Alternativen zu Sladeks Handeln gebe.110 Für Hanna Schmitz‘ Verhalten in der Zeit des Nationalsozialismus wie für Sladeks Mitschuld an der Ermordung Annas gelte aber folgende Prämisse: „[E]s zählt, nicht nur juristisch, was man getan hat, nicht, was man unter bestimmten Umständen vielleicht getan hätte.“111 Damit ist aber Sladeks Schuld letztlich unentschuldbar.

108 109

110 111

Ebd. Thomas Rothschild: Unschuldig schuldig? Bernhard Schlinks Hanna Schmitz und Ödön von Horváths Sladek. In: Stefan Hermes/Amir Muhi´c (Hg.): Täter als Opfer? Deutschsprachige Literatur zu Krieg und Vertreibung im 20. Jahrhundert. Hamburg: Kovacˇ 2007, S. 115–128. Vgl. ebd., S. 124–128. Ebd., S. 126.

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Lesetext

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Konzeption 1: Sladek oder: Die schwarze Armee

21

Endfassung in drei Akten (elf Bildern)



K1/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

SLADEK oder: Die schwarze Armee

Stammbuch Volksbühnen-Verlag, Berlin 1928, o. Pag. (S. I)

Historie in drei Akten (11 Bildern) von Ödön Horváth

5



P E R S O N E N.

SB Volksbühne 1928, o. Pag. (S. 1)

10

S LADEK F RANZ A NNA K NORKE S ALM H ORST H ALEF R UEBEZAHL D AS F RAEULEIN H AUPTMANN

15

20

D ER B UNDESSEKRETAER D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER E IN K RIMINALKOMMISSAR R ICHTER E IN P OLIZIST

25

) ) ) ) )

dieselbe Person

Z WEI M ATROSEN S TAATSANWALT R ECHTSANWALT L OTTE , DAS M AEDCHEN Z WEI ANDERE M AEDCHEN D IE H ANDLESERIN D IE B UNDESSCHWESTER H AKENKREUZLER , S OLDATEN

30

B

35

N

Z e i t : Die Inflation und Tage der Wiedererstarkung. O r t : Deutsches Reich. 40



Seite 5 - 36 5 15

Erster Akt: I. Das Ende einer Diskussion II. Bei Anna

31

BDAS

M AEDCHEN N ]

korrigiert aus: das Mädchen

22

SB Volksbühne 1928, o. Pag. (S. 3)

Endfassung in drei Akten (elf Bildern)

K1/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

III. Im Weinhaus zur alten Liebe IV. Bei Anna B

23 33

N

37 - 70 37 47 63

Zweiter Akt: V. Im Hauptquartier der schwarzen Armee VI. Immer noch unter der Erde VII. Freies Feld B

5

N

Dritter Akt: VIII. Die Justiz der Wiedererstarkung IX. Nordseehafen X. Der Fall Sladek XI. Rummelplatz B

10

71 - 102 71 77 87 95

N

15



E R S T E R A K T.

SB Volksbühne 1928, o. Pag. (S. 5)

I. Das Ende einer Diskussion.

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Strasse. Hakenkreuzler prügeln F RANZ aus einem Saale, in dem mit Musik eine rechtsradikale Versammlung steigt. (Präsentiermarsch) Nacht. 25

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E IN H AKENKREUZLER Raus! Raus mit dem roten Hund! E IN A NDERER Da! Da! Du Judenknecht! D IE B UNDESSCHWESTER (erscheint im Tor) Was hat der gesagt? Wir hätten den Krieg verloren? Solche Subjekte haben uns Sieger erdolcht und das Vaterland der niederen Lust perverser Sadisten ausgeliefert! Am Rhein schänden syphilitische Neger deutsche Frauen, jawohl, das deutsche Volk hat seine Ehre verloren! Wir müssen, müssen, müssen sie wieder erringen und sollten zehn Millionen deutscher Männer auf dem Felde der Ehre fallen! D IE H AKENKREUZLER Heil! F RANZ Sie! Woher nehmen Sie das Recht das Volk ehrlos zu nennen? Woher haben Sie den traurigen Mut, zehn Millionen Tote zu fordern?! Sie sind kein Mensch, gnädige Frau! D IE B UNDESSCHWESTER Novemberling! Novemberling! E IN H AKENKREUZLER Zerreisst ihm das Maul! 얍 Zerreisst es der bezahlten Kreatur! K NORKE (erscheint im Tor) Halt! Bundesbrüder, beschmutzt Euch nicht! -- Sie sind B

N

B

1

B

alten LiebeN ]

N

korrigiert aus: alten )

Liebe ) 5

B

der f ArmeeN ]

10

B

WiedererstarkungN ]

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B

Hund!N ]

39

B

nicht! --N ]

korrigiert aus: der ) schwarzen Armee ) korrigiert aus: Wieder- ) erstarkung ) korrigiert aus: Hund ! überzählige und fehlende Leerzeichen werden in TS1 stillschweigend korrigiert; vgl. Kommentar korrigiert aus: nicht! - die Setzung und Zahl von Bindestrichen wird in TS1 stillschweigend vereinheitlicht; vgl. Kommentar

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SB Volksbühne 1928, S. 6

Endfassung in drei Akten (elf Bildern)

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K1/TS1 (Grundschicht)

doch der sogenannte Pazifist, der berüchtigte sogenannte Redakteur, das Schwein Franz -F RANZ (unterbricht ihn) Ja. K NORKE Freut mich ausserordentlich, Sie persönlich kennen gelernt zu haben. Hätten Sie die grosse Güte, folgende kleine Anfrage zu beantworten! Ihre „grosse“ Nation bricht den Versailler Vertrag, Ihren geliebten „Friedens“-Vertrag und besetzt mit Flammenwerfern die Ruhr. Sie proklamiert die rheinische Republik, sie wird das ganze wehrlose, verratene Deutsche Reich „erobern“, von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt, trotz feierlicher Proteste mit verdorrter Hand! F RANZ Der Versailler Vertrag ist das Werk des Imperialismus, ist die Kriegserklärung des internationalen Kapitals an das Proletariat. E IN H AKENKREUZLER Juden aller Länder, vereinigt Euch! K NORKE Sie wollen, dass das Vaterland französische Kolonie wird? F RANZ Sie wissen, dass ich das nicht will! D IE B UNDESSCHWESTER (lacht) F RANZ Ich komme aus dem besetzten Gebiet. K NORKE Ich auch. F RANZ Die französische Reaktion raubt an der Ruhr, Brot und Recht. Soldat ist Soldat. Sie haben Schwarzrotgold verbrannt. 얍 K NORKE Bravo! D IE H AKENKREUZLER Bravo! F RANZ Bravo. Das deutsche Proletariat stellt sich zum Kampf. Ohne Gewehre, ohne Generäle. Der Friedenswille der Massen ist stärker als alle Bajonette der internationalen Reaktion! Der Militarismus wird an der sittlichen Kraft der schaffenden Arbeit zerschellen, ohne Blut! K NORKE Leitartikel! Tinte! D IE B UNDESSCHWESTER Blut bleibt Blut! K NORKE Krieg ist Krieg! Der passive Widerstand ist die Ausgeburt jüdischer Niedertracht! Eine rote Feigheit! In Berlin feiern internationale Halunken den jüdischjesuitischen Fetzen von Weimar! Bundesbrüder! Bald marschiert die nationale Armee und rottet das pazifistische Gesindel aus! Rache für Strassburg! Rache für Schlesien! Für Schleswig! Für Schlageter! D IE H AKENKREUZLER Heil! Heil! G ESANG (aus dem Saal) Drum Brüder schliesst die Runde Und hebt die Hand zum Schwur, In unserem heiligen Bunde Gilt eine Losung nur: Das Hakenkreuz soll flattern Uns führen in der Nacht Bis unsere Schüsse rattern Einst in der Freiheitsschlacht! K NORKE , DIE B UNDESSCHWESTER UND D IE H AKENKREUZLER (ab in den Saal; nur vier bleiben zurück.) B

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Lesetext

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„Friedens“-VertragN ]

korrigiert aus: „Friedens”vertrag

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SB Volksbühne 1928, S. 7

Endfassung in drei Akten (elf Bildern)

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K1/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

얍 G ESANG (aus dem Saal) Kam’rad reich mir die Hände, Fest wolln beisamm wir stehn, Mag man uns auch bekämpfen Der Geist kann nicht vergehn! Hakenkreuz am Stahlhelm Schwarzweissrotes Band, Sturmabteilung Hitler Werden wir genannt! Wir lassen uns, wir lassen uns Von Ebert nicht regieren! Hei Judenrepublik! Hei Judenrepublik! Schlagt zum Krüppel den Doktor Wirth! Knattern die Gewehre, tack tack tack, Aufs schwarze und das rote Pack! Schlagt tot den Walther Rathenau Die gottverdammte Judensau! (Plötzlich Stille) F RANZ (lehnt die Stirne an die Wand und spuckt Blut.) E RSTER H AKENKREUZLER Der hat seinen Teil. Z WEITER H AKENKREUZLER Noch lange nicht, Kamerad! D RITTER H AKENKREUZLER Ein beschnittener Saujud ist ein anständiger Mensch neben einem arischen Juden. Dem BblutN ja bloss die Nase. Das ist nur Vorschuss. Z WEITER H AKENKREUZLER Wenns losgeht, wird er sich verbluten. V IERTER H AKENKREUZLER Wann gehts denn los? D RITTER H AKENKREUZLER Bald. Z WEITER H AKENKREUZLER Wenns losgeht, dann kommt ein Gesetz, dass sich jeder 얍 Jud einen Rucksack kaufen muss. Was er hineinbringt, das darf er mitnehmen nach Jerusalem. Was er nicht hineinbringt, gehört uns. Wisst Ihr, wieviel polnische Juden in Deutschland wuchern? Zwanzig Millionen! E RSTER H AKENKREUZLER Bei uns in der Schule haben wir nur einen Juden. Wir reden alle nicht mit ihm, aber der Schuft ist gescheit. Neulich hat er als einziger den ollen Cicero übersetzen können, dann haben wir ihn aber verprügelt! Er war ganz blau, und seine Brille ist zerbrochen. Sein Vater, der alte Itzig, hat sich beim Rektor beschwert, aber der hat gesagt, das wären ja nur Streiche der Jugend, und Knaben die nicht raufen, aus denen wird kein tüchtiger Krieger. Wir haben dem Rektor nämlich gesagt, dass der Jud frech war, darum haben wir ihn gedroschen. Er hat es sofort geglaubt. Träumst Du? Z WEITER H AKENKREUZLER Nein. Ich hab nur nachgedacht über diese Judenfrage. Gestern haben sie auf dem Markt so eine plattfüssige Rebekka geohrfeigt. Sie hat nämlich behauptet, dass die Aepfel faul sind, die man ihr verkauft hat, das Dreckmensch. Die Leute haben gelacht. (Heilrufe und Musiktusch im Saal.)

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B

blutN ]

korrigiert aus: blut’ uneinheitliche Apostrophierungen werden in TS1 stillschweigend korrigiert; vgl. Kommentar

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SB Volksbühne 1928, S. 8

SB Volksbühne 1928, S. 9

Endfassung in drei Akten (elf Bildern)

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K1/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

D RITTER H AKENKREUZLER Das Schlusswort! Los! (Ab in den Saal mit dem E RSTEN und Z WEITEN H AKENKREUZLER.) 얍 G ESANG (aus dem Saal) Wir treten zum Beten vor Gott den Gerechten, Er waltet und haltet ein strenges Gericht. Er lässt von den Schlechten nicht die Guten knechten, Sein Name sei gelobt! Er vergisst uns nicht! V IERTER H AKENKREUZLER (nähert sich langsam F RANZ ) F RANZ (hört ihn und wendet sich ihm zu) Zurück! Das war eine grosse Heldentat. Alle gegen einen. V IERTER H AKENKREUZLER Ich hab Dich nicht geschlagen. F RANZ Danke. V IERTER H AKENKREUZLER Bitte. Sie hätten Dich fast erschlagen, aber das hätt mir leid getan, denn Du hast recht gehabt, und ich hab die Gerechtigkeit lieb. Du hast sehr recht gehabt, wir haben unsere Ehre nicht verloren -- aber darauf kommts nicht an. Man muss nur selbständig denken. Du bist ein sogenannter Idealist. F RANZ Wer bist Du? V IERTER H AKENKREUZLER Ich heisse Sladek. -- Man muss nur selbständig denken. Ich denk viel. Ich denk den ganzen Tag. Gestern hab ich gedacht, wenn ich studiert hätt, dann könnt ich was werden. Ich hab nämlich Talent zur Politik. Ich bin ein sogenannter zurückgezogener Mensch. Ich red nur mit Leuten, die selbständig denken 얍 können. Ich freu mich, dass ich mit Dir reden kann, -- Du bist auch allein, das hab ich bei der Diskussion bemerkt. Wir sind verwandt. Ich hab mir das alles genau überlegt, das mit dem Staat, Krieg, Friede, diese ganze Ungerechtigkeit. Man muss dahinter kommen, es gibt da ein ganz bestimmtes Gesetz. Es ist immer dasselbe. Ein ganz bestimmter Plan, das ist klar, sonst wär ja alles sinnlos. Das ist das grosse Geheimnis der Welt. F RANZ Und? S LADEK In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. Das ist der Sinn des Lebens, das grosse Gesetz. Es gibt nämlich keine Versöhnung. Die Liebe ist etwas Hinterlistiges. Liebe, das ist der grosse Betrug. Ich habe keine Angst vor der Wahrheit, ich bin nämlich nicht feig. F RANZ Ich auch nicht. S LADEK Das weiss ich. Aber Du hast da einen Denkfehler. Lach mich nicht aus, bitte. F RANZ Ich lach nicht. S LADEK Du denkst nämlich immer daran, das ganze Menschengeschlecht zu beglükken. Aber das wird es nie geben, weil doch zuguterletzt nur ich da bin. Es gibt ja nur mich. Mich, den Sladek. Das Menschengeschlecht liebt ja nicht den Sladek. Und wie es um den Sladek steht, so geht es den Völkern. Es liebt uns zur Zeit niemand. Es gibt auch keine Liebe. Wir sind verhasst. Allein. F RANZ Was verstehst Du unter dem Wir? 얍 S LADEK Das Vaterland. F RANZ Was verstehst Du unter Vaterland? S LADEK Zuguterletzt mich. Das Vaterland ist das Land, wo man geboren wird und dann nicht heraus kann, weil man die anderen Sprachen nicht versteht. Nämlich

SB Volksbühne 1928, S. 10

B N

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B

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] DiskussionN ]

B N B

N

gestrichen: nicht korrigiert aus: Diskuission

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SB Volksbühne 1928, S. 11

SB Volksbühne 1928, S. 12

Endfassung in drei Akten (elf Bildern)

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Lesetext

alle Theorien über den sogenannten Marxismus, die kommen für mich heut nicht in Betracht, weil ich selbständig denken kann. F RANZ (spöttisch) Du denkst zu selbständig. S LADEK Man muss. Man muss. Es kann ja sein, dass mal wieder alle armen Leut gegen die Reichen ziehen, aber das ist glaub ich aus. Sie haben ja die Roten erschlagen. Viele Rote. Ich war nämlich bei Spartakus. Nur im Geist, aus besonderen Gründen. Damals hab ich ein Lied gehört, dass das Herz links schlägt, aber es gibt ja kein Herz, es gibt nur einen Muskelapparat. Bist Du für diese Republik? F RANZ Das ist noch keine Republik, das wird erst eine. S LADEK Das ist nichts und wird nichts, weil es nämlich auf einer Lüge aufgebaut ist. F RANZ Auf was für einer Lüge? S LADEK Dass es eine Versöhnung gibt. F RANZ Wenn es keine Versöhnung gäbe, so müsste man sie erfinden. S LADEK (lächelt) Du bist nicht dumm. F RANZ Wieso? (Stille) F RANZ Ich lüge nie. 얍 S LADEK In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. F RANZ Heute ist allerdings die ganze Welt voll Blut und Dreck. S LADEK Ich denk nicht an morgen. Ich leb ja vielleicht nur heut. Heut sind alle Staaten gegen uns. Sie besetzen unser Land, drücken uns zusammen. Weil wir wehrlos sind, das ist dann immer so. Es würde nichts schaden, wenn noch einige Millionen fallen würden, wir sind nämlich zu viel. Wir haben keinen Platz. Wir verbreiten uns, als hätts keinen Weltkrieg gegeben. Es wird bald alles eine Stadt, das ganze deutsche Reich. Wir brauchen unsere Kolonien wieder, Asien, Afrika -- wir sind wirklich zu viel . Schad, dass der Krieg aus ist! F RANZ Du wagst es zu bedauern, dass der Krieg aus ist? S LADEK Ja. Ich wags. F RANZ Bist Du ein Mensch? S LADEK Ich bin ein Mensch, es ist aber immer Krieg. F RANZ Es gibt auch Frieden. S LADEK Ich erinner mich nicht daran. F RANZ So tust Du mir leid. S LADEK Jetzt lügst Du. F RANZ Zu blöd. S LADEK Ich hab nämlich keine Angst vor der Wahrheit. F RANZ Warst Du Soldat? S LADEK Nein. Als der Krieg ausbrach war ich zwölf Jahr alt. Ich seh nur älter aus. F RANZ Du gehörst verboten. 얍 S LADEK Dass ich mal verboten werd, ist schon möglich. Weil ich zuviel weiss. (Stille) F RANZ Kennst Du die schwarze Armee? S LADEK Das darf man nicht sagen! F RANZ Aha! Warum? B

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K1/TS1 (Grundschicht)

N

B N

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F RANZ N ] zu vielN ] B N] B B

SB Volksbühne 1928, S. 13

eingefügt korrigiert aus: zuviel Absatz eingefügt

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SB Volksbühne 1928, S. 14

Endfassung in drei Akten (elf Bildern)

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K1/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

S LADEK (schweigt) F RANZ Ich habe gehört, dass sich draussen auf den Feldern Soldaten sammeln. Sie haben Kanonen und Maschinengewehre und tragen die Kokarde mit dem Adler der Republik verkehrt. Abgeschossen. Stimmts? S LADEK (schweigt) F RANZ Ich habe gehört, dass diese Soldaten siegreich nach Paris marschieren wollen, über die Leiche des eigenen Volkes. S LADEK Das geht Dich nichts an! F RANZ Doch! Sogar sehr! -- Sie nennen sich die schwarze Armee, weil sie nur als Geheimnis existieren können. Und der es verrät, der stirbt. S LADEK In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. F RANZ Man sollt jede Armee verraten, Du Soldat! (Ab) S LADEK (allein; ruft ihm nach) Du bist ein sogenannter Idealist, Du Schuft! G ESANG (aus dem Saal) Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd, In das Feld in die Freiheit gezogen! Im Felde da ist der Mann noch was wert, Da wird das Herz noch gewogen. Da tritt kein anderer für ihn ein, 얍 Auf sich selber steht er da ganz allein!

SB Volksbühne 1928, S. 15

II. 25

Bei Anna. Sie sitzt an der Nähmaschine. Auf der Strasse spielt eine Drehorgel das Deutschlandlied. Sie steht auf und schliesst das Fenster. Es pocht an die Türe. Sie öffnet.

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K NORKE (tritt ein) Tag. Könnte man Herrn Sladek sprechen? A NNA Er muss jeden Augenblick kommen. K NORKE Sie sind Frau Schramm? A NNA Ja. K NORKE Angenehm. Schramm schrumm schrimm-schrimm schrumm schramm. Das war mal ein Schlager, so vor zwanzig Jährchen. Geht die Uhr? Genau? A NNA So ziemlich. Will der Herr warten? K NORKE (setzt sich) Fünf Minuten. Dieser Sladek ist pünktlich. Primadonna! Primadonna! A NNA Er hat keine Uhr. K NORKE Und singen kann er auch nicht. A NNA Woher kennen Sie Herrn Sladek? K NORKE Das weiss ich nicht mehr. A NNA Sie kennen ihn schon seit länger? K NORKE Sind Sie mit ihm verwandt? A NNA Nein. K NORKE Sie sind seine Wirtin? A NNA Ja. 얍 K NORKE Sonst nichts?

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SB Volksbühne 1928, S. 16

Endfassung in drei Akten (elf Bildern)

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K1/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

A NNA Wieso? K NORKE (blickt in die Zeitung) Die Mark hat sich gefestigt. Zürich notiert zweiundzwanzig Milliarden. Zürich liegt am Züricher See. Ich war auch in China. (Er schlägt auf den Tisch, schnellt empor und läuft herum) Jawohl, in Ostasien, junge Frau! Aber so ein lammfrommes Volk wie das deutsche habe ich nirgends getroffen! Pensionierte Bürokraten würden revoltieren! Da die Zeitung! Die Republik, dieser Büttel der Botschafterkonferenz, erfrecht sich zu befehlen, die letzten Waffen abzuliefern! Auf einen Wink der Entente kastrieren wir uns selbst! Den Schuften, der nur eine versteckte Patrone verratet, den möcht ich massieren, bis ihm die pazifistische Seele zum grossen jüdischen Gott fliegt! Verzeihen Sie meine Erregung. -- Ah! Kriegsbilder! Wer ist denn der? Sieht so verzweifelt drein. A NNA Das war mein Mann. Er hat sich schlecht photographiert, aber vielleicht war er damals so. K NORKE Gefallen? A NNA Nein. K NORKE Ich dachte, Sie wären Witwe? A NNA Er ist vermisst. Ich warte zwar nicht mehr, obwohl es noch vorkommen soll, dass ein Vermisster plötzlich erscheint. Russland ist gross, Sibirien ist weit. K NORKE Apropos Russland: Haben Sie die neue polnische Note gelesen? 얍 A NNA Ich lese keine Zeitung. Die liest nur Sladek. K NORKE Er liest viel. A NNA Nur die Zeitung. K NORKE Er weiss allerhand für sein Alter. Seine Ansichten sind zwar etwas verworren, aber zuguterletzt gesund. A NNA Wenn er nur Zeit hat, grübelt er. K NORKE Die neue polnische Note ist der Gipfel der Verleumdung. Lauter Verbrecher! A NNA Wer? K NORKE Diese Polen! Jeder einzelne Pole ist ein geborener Lügner! A NNA Ich glaube, der einzelne Pole lügt auch nicht mehr als der einzelne Deutsche. K NORKE Hoppla! A NNA Die Zeitungen sollten endlich aufhören, die Völker gegeneinander zu hetzen. Es hat doch gar keinen Sinn. K NORKE Was Sie nicht sagen! A NNA Ich finde es sehr richtig, dass die Regierung die Bevölkerung auffordert, alle Waffen abzuliefern. Das ist endlich ein gutes Gesetz. Wir haben uns vier Jahre lang gemordet, das reicht. Ich würde jede versteckte Patrone anzeigen. Sofort. K NORKE Das würde ich an Ihrer Stelle unterlassen. A NNA Warum? Wer der Regierung nicht folgt, der wird doch bestraft. K NORKE Zum Strafen gehört Gewalt. Die Regierung hat keine, kann ich Ihnen flüstern. Heutzutag ist oft das Gegenteil Gesetz. Sagen Sie: Was wissen 얍 Sie über versteckte Patronen? A NNA Ich weiss, wer Sie sind und was Sie wollen. K NORKE Wie war das? A NNA Ich kenne Sie. Vom Sehen. K NORKE Wer bin ich? A NNA Sie kommen manchmal in die Stadt. Im Auto. K NORKE Was für Auto?

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SB Volksbühne 1928, S. 17

SB Volksbühne 1928, S. 18

Endfassung in drei Akten (elf Bildern)

Lesetext

A NNA Das habe ich alles beobachtet. K NORKE Was alles? A NNA Sie wollen aus dem Sladek einen Soldaten machen. K NORKE So? A NNA Sie werben für die schwarze Armee. K NORKE Es gibt keine schwarze Armee! A NNA Doch. (Stille) K NORKE Ich warne Sie. A NNA Ich bitte Sie. Ich bitte Sie, lassen Sie mir den Sladek. Es fällt mir schwer, darüber zu reden. Wenn sich eine Frau in meinem Alter an einen um fünfzehn Jahre jüngeren Mann hängt, so ist das immer mütterlich, und sie lässt ihn nicht aus den Augen. Sladek ist ja noch ein Junge, der sich an nichts erinnern kann, als an Krieg. Er kann sich den Frieden gar nicht vorstellen, so misstrauisch ist er. Er ist in der grossen Zeit gross geworden, das merkt man. Ich lasse ihn nicht aus den Augen, ich habe gehorcht und spioniert -- mich kann man nämlich nicht betrügen. Was mein ist, bleibt mein. K NORKE Ist der Sladek Ihr Eigentum? A NNA Ja. 얍 K NORKE Nein. A NNA Wen ich liebe, der gehört mir. K NORKE Will er Ihnen gehören? A NNA Wie meinen Sie das? K NORKE Der Sladek ist ausgewachsen und denkt nicht daran. A NNA Das hat er Ihnen gesagt? K NORKE Fragen Sie ihn selbst. (Stille) A NNA Wollen Sie mir helfen? K NORKE Ich warne Sie. A NNA Ich bitte Sie. Bitte, sagen Sie dem Sladek kein Wort, dass ich weiss, dass er von mir will. Bitte, sagen Sie ihm doch, er wäre zum Soldaten untauglich, sagen Sie es ihm, bitte, lassen Sie ihn hier. Ihre Soldaten werden auch ohne Sladek marschieren, aber ich -- --. Ich hab schon mal alles für das Vaterland geopfert. Ich lass mir nichts mehr rauben. Ich verrate die ganze Armee den Polen. Noch heut. K NORKE Kaum. S LADEK (kommt; nickt Knorke zu) A NNA Der Herr wartet schon auf Dich. Wo warst Du so lange? S LADEK Ich hab mich geärgert. A NNA Wer hat Dich geärgert? S LADEK Freut Dich das? A NNA Mich? S LADEK Lass uns allein, bitte. K NORKE Nicht nötig, Sladek. Frau Schramm hat mich soeben gebeten, Dir mitzuteilen, Du seiest untauglich zum Soldaten, da sie sonst alles den Polen verrät. B

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K1/TS1 (Grundschicht)

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ich allesN ] ] B N] B

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korrigiert aus: ichralles Absatz eingefügt Absatz eingefügt

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SB Volksbühne 1928, S. 19

Endfassung in drei Akten (elf Bildern)

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K1/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

S LADEK Anna! 얍 A NNA Nein, so ein Schuft! K NORKE Ich weiss, dass Du das Maul gehalten hast, aber Frau Schramm hat Dir nachspioniert. Dadurch zwingt uns Frau Schramm, uns mit ihrer Persönlichkeit zu beschäftigen. Verstanden? Sladek, bist Du tauglich? S LADEK Tauglich. K NORKE Nach wie vor. Wir treffen uns beim Fräulein. Auf Wiedersehen! (Ab) S LADEK (starrt A NNA an) Auf Wiedersehen. (Stille) A NNA Was ist das für ein Fräulein? S LADEK Das Fräulein. Das ist ein Lokal. A NNA Lüg nicht! S LADEK Du wirst noch blöd vor lauter Eifersucht. A NNA Lieber blöd! Sladek! Ich hab ja so Angst um Dich! Ich seh es ja, wie hungerig Dich die Weiber anschaun -S LADEK (unterbricht sie) Ich bin Dir treu. A NNA Nein, Du nimmst nur Rücksicht, aber dann wünschst Du, ich soll nicht -- mehr sein. Du, Du wirst einfach weggehen, ich werde Dich überall suchen und nirgends finden. S LADEK Anna. Weisst Du, was das heisst, eine Armee vor dem Feinde zu verraten? Weisst Du, was die Soldaten mit dem Verräter tun? A NNA Sie sollen mich erschlagen. S LADEK Sie werden Dich erschlagen. A NNA Es liegt an Dir. Bleib, bitte, und ich verrate nichts. Nichts. Weisst Du, was das heisst, wenn ich Dich verliere? Bleib, bitte, bitte, bitte -- schau, ich schäme mich ja schon 얍 gar nicht mehr, so hänge ich an Dir. Was denkst Du jetzt? S LADEK Was ich denk, langweilt Dich, hast Du gesagt. A NNA Nein! S LADEK Was ich denk, ist dumm, hast Du gesagt! Hast Du gesagt! Ich hab nämlich ein sogenanntes Gedächtnis, ein ausgezeichnetes Gedächtnis. A NNA Wie Du Dir alles merkst. S LADEK Alles. A NNA Dass Du nur nichts vergisst! S LADEK Nichts. Glotz nicht. A NNA Ich glotz nicht. Ich hab nur gesagt, Du sollst nicht so viel denken, weil ich nichts von Politik versteh. Ich komme nicht mit. S LADEK Man muss nur selbständig denken. Ich kam zu Dir zerlumpt. Bei mir in der Familie haben sie sich um ein Stück Brot gehasst. Du warst für mich ein höheres Wesen, Du hattest eine Zweizimmerwohnung und hast Kriegsanleihen gezeichnet. Du hast für Kaufmannsfrauen geschneidert, ich hab mich waschen können. Du hast mir einen Wintermantel gekauft. Danke. A NNA Bitte. S LADEK Du bist meine erste Liebe. A NNA Sei nicht boshaft. S LADEK Ich bin nicht boshaft . Ich wollt nur sagen, dass die erste Liebe eine riesige Rolle im Leben spielt. Hab ich gehört. B

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boshaftN ]

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korrigiert aus: bishaft

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SB Volksbühne 1928, S. 20

SB Volksbühne 1928, S. 21

Endfassung in drei Akten (elf Bildern)

K1/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

A NNA Sladek. Du bist schon tot. S LADEK Warum? A NNA (klammert sich an ihn) So sag es doch! 얍 Sag, dass alles aus ist! Aus, aus -S LADEK Sag es Du. A NNA Ich kann es nicht, -- wie dumm ich bin, wie dumm -S LADEK Es ist nicht aus. A NNA Nimm keine Rücksicht! Quäl mich nicht! Sag es endlich, lass mich los! S LADEK Gut. Es ist aus. A NNA Schau mich an. (Stille) S LADEK So wirds nicht anders. A NNA Doch. S LADEK Du weisst immer alles besser. A NNA Du kannst nicht lieben, Du kannst nur lieb sein. S LADEK Genügt das nicht? (Stille) A NNA (lächelt) Schau mich nicht so an -- Du Riese. Du kleiner Riese. Du bleibst, Du bleibst. Du Jung, Du -- es ist dunkel, die Erde ist noch kalt, aber die Sonne war schon warm. Das ist der zunehmende Mond. S LADEK Heuer gibts kein Frühjahr. Auf dem Ozean liegen lauter Wolken, ganze Berge. Das kommt alles noch über uns, steht in der Zeitung. A NNA Ist doch alles nicht wahr, ist doch alles anders --. Komm, gib mir einen Kuss --. Das war doch kein Kuss. So. So -- (Sie küsst ihn, reisst sich plötzlich los und taumelt zurück) Was tust Du?! Was fällt Dir ein, wenn ich Dich küss?! S LADEK Ich küss nicht gern so, so sinnlich. A NNA Du Schwein. Du Schwein -S LADEK Ich bin ein Schwein. (Ab)

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SB Volksbühne 1928, S. 22

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III.

SB Volksbühne 1928, S. 23

Im Weinhaus zur alten Liebe. S ALM , H ORST , H ALEF , K NORKE und R UEBEZAHL sind die einzigen Gäste. D AS F RAEULEIN bedient. B

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D AS F RAEULEIN Die Herren sind Soldaten? S ALM Wir sehen nur so aus. D AS F RAEULEIN Ich liebe die Uniform. Ich bin eine Deutsche aus Metz. Wir hatten viel mit den Herren Soldaten zu tun. Wenns wieder Krieg gäb, das wär fein! H ORST Sie werdens noch erleben, Mädchen. D AS F RAEULEIN Ich wär auch glücklich mit einem Manöver. Die Herren sind doch Soldaten? R UEBEZAHL Wir sind keine Soldaten, dumme Kuh! 9 15 34–35

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D AS F RAEULEIN Pardon! Seien Sie nur nicht wild, Sie Grosser! Die Herren haben doch Uniform. K NORKE Wir haben uns nur noch nicht umgezogen seit dem Krieg. D AS F RAEULEIN (lacht) Oh pfui, wie pikant! H ALEF Sehr geehrtes Mädchen. Ich bin zwar kein Soldat, aber ich interessiere mich für Manöver. Ueberhaupt für Uebungen -- (er schäkert mit ihr.) K NORKE (zu S ALM ) Sie heisst Schramm. Mit dem seltenen Vornamen Anna. Sie wohnt in der Prinzenstrasse unter sechs und hat sich an den Sladek gehängt. Sie ist im gefährlichen Alter und 얍 könnte für ihren Bubi auch sterben. S ALM Ein schöner Abend heute abend. K NORKE Sie weiss alles, vielleicht auch das, was ihr bevorsteht. Sie wird trotzdem jede versteckte Patrone der Republik abliefern und alles den Polen verraten. Sie ist toll. S ALM Ein schöner Abend heute abend. K NORKE Ich verstehe, Leutnantleben. Liebling, wir verstehen uns wie ein Liebespaar. Es ist ein schöner Abend heute abend, und es wird für manches Kind keinen schöneren mehr geben. S ALM Was, wenn Sladek nicht kommt? K NORKE Er kommt. Er hasst sie nämlich. S ALM Warum? K NORKE Warum hasst man einen Menschen? Entweder weil er einem nichts gibt oder zuviel gegeben hat. Sie wird ihn ausgehalten haben. Sie muss mal sehr geil gewesen sein. H ORST Das Schandweib gehört totgeprügelt. S ALM Könntest Du sie totprügeln? H ORST Im Interesse des Vaterlandes, jederzeit. Wir hatten zu Hause einen reinrassigen Dobermann. Dem habe ich einmal die Beine zusammengebunden und losgeprügelt bis ich nicht mehr konnte. Das Vieh gab keinen Ton von sich. Es gibt so stolze Köter. Es hat mich nur angeschaut. S ALM Du bist so herrlich hemmungslos, so göttlich selbstverständlich. Das soll Wodka sein! Ich habe meine Jugend vergeudet. H ORST Bitte, nur nicht sentimental! S ALM Nein, ich bin nur traurig. Wenn man 얍 so zurückdenkt: Damals, Du wirst erst sechs Jahr gewesen sein, damals war ich Hauslehrer in Siebenbürgen. Was ich dort bei den Rumäninnen Kraft liess -- ja, das Weib hasst den Mann, auch in der Tierwelt gibt es dafür Beispiele. Ich hab erst in der Gefangenschaft mein besseres Ich entdeckt, ich danke es dem Krieg, er wies mich den rechten Weg. Horst. Du folgtest meinem Rufe. H ORST Halt! Ich habe um meiner Ideale willen und nicht aus persönlichen Gefühlchen Papa und Mama verlassen. Ich wär auch ohne Dich durchgebrannt -- jetzt hätte ich bald das Abitur. Wozu? Die Tat gilt mehr als das Wissen, die Waffe mehr als das Wort. S ALM Sei nicht grausam. H ORST Quält Dich die Wahrheit? Stehst Du über dem Vaterland? Dass Du immer Illusionen brauchst! S ALM Wie der kleine Kerl quälen kann -R UEBEZAHL Salm! Du hast ein Profil wie Bruno Kastner, aber ich hab kein Geld. Hast Du Geld? Gib mir Geld.

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K1/TS1 (Grundschicht)

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S ALM Besauf Dich nicht! R UEBEZAHL Poussier Deinen Knaben und leck mich am Arsch! Hab keine Angst, ich halt das Maul auch im Delirium. Aber ich wiederhole: Es wäre besser gewesen, wenn wir das Schwein nicht zuerst in den Wald, sondern gleich draussen im Fort --. Jetzt haben wir die Sauce im Auto, rot gebatikt. S ALM Kusch! R UEBEZAHL Wir sind unter uns, Tante Frieda. 얍 Die einzigen Gäste. Hast Du Geld? Ist das ein Dorf! D AS F RAEULEIN Die Herren sind mit dem Auto gekommen? H ALEF Wir sind Geschäftsreisende. Wir vertreten eine grosse Lebensversicherung. Unser Chef ist ein jüdischer Kommerzienrat und jener neunzehnjährige Jüngling ist sein Sohn. H ORST Ich bin erst siebzehn. H ALEF Und was Du schon für Hüften hast! S ALM Halef, es gibt Dinge, die jenseits des Witzes liegen. H ALEF Zu Befehl, Majestät! Ich fürchte nur, dass er die moderne Linie verliert. D AS F RAEULEIN Dass sich die moderne Linie derart durchsetzt, ist nur eine Folge der Unterernährung. Der Kriegskost. R UEBEZAHL Jaja, man sieht kaum mehr Busen. D AS F RAEULEIN Sind Sie blind? H ALEF Ja, er ist blind. Ich hingegen sehe ungewöhnlich scharf. K NORKE Ich auch. H ALEF (umarmt sie) Ha Du, als wär kein Krieg gewesen! Ich liebe den Frieden. Du kannst mal mit mir fahren, im Auto. D AS F RAEULEIN Nein, das ist mir zu gefährlich. R UEBEZAHL (scharf) Wie meinen Sie das? D AS F RAEULEIN (droht mit dem Finger) Nanana, Sie ganz Böser! Sie können mich nicht hypnotisieren. Ich fahre aus Prinzip mit keinem Herrn mehr durch die Nacht. Da war einmal ein Chauffeur, ein geborener Oesterreicher, der lud mich ein zur Mondscheinpartie und auf der Landstrasse wollte er 얍 mich vergewaltigen. Ich habe gesagt: Mein Herr, das kann man nicht so ohne weiteres. Er hat gesagt: Ist das aber eine Hure! Und dann hat er mich auch noch beschimpft. S LADEK (kommt) D AS F RAEULEIN Guten Abend der Herr! S LADEK (bleibt stehen) Guten Abend. K NORKE Sladek! Hier! -- Nun? S LADEK Ich bin da. Ich halt mein Wort. Ich bin bereit. K NORKE Das freut uns ausserordentlich. S ALM Haben wir noch Benzin? H ALEF Dreieinhalb Tropfen. Nicht ganz. S ALM (zu H ORST ) Kauf das bessere Oel. Nimm Halef mit. H ORST und H ALEF (ab) R UEBEZAHL Wir brauchen bald ein neues Auto. K NORKE (zu S LADEK ) Und wie geht es der gnädigen Frau? S LADEK Es ist aus. Radikal. K NORKE Man gratuliert. S LADEK Danke. D AS F RAEULEIN (spielt am Grammophon die Träumerei von Schumann.)

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K1/TS1 (Grundschicht)

K NORKE Du weisst, was mit einer gnädigen Frau geschieht, die Soldaten vor dem Feinde verrät? S LADEK Sie hat noch nichts verraten. K NORKE Aber sie wird uns verraten. S LADEK Wenn sie uns verrät, so gebührt ihr nichts anderes. K NORKE Soll man warten, bis einen der Feind vernichtet? S LADEK Nein. In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. S ALM Wir sind Natur. 얍 K NORKE Du bist auch Natur. S LADEK Ja. K NORKE Also? S LADEK Also. S ALM Zur Sache. K NORKE Du wartest hier. Wir haben es nur zu melden und sind in zwei Stunden wieder da. Dann erlauben wir uns, der gnädigen Frau unsere Aufwartung zu machen. Du hast doch den Schlüssel? S LADEK Ja. K NORKE Du lässt die Haustüre offen. Verstanden? Wir warten unten zehn Minuten, dann wirst Du einen Pfiff hören, und dann sind wir auch schon droben. Die zehn Minuten brauchen wir, Du musst ihr etwas vorspielen, damit sie nur nichts ahnt und schreit. Sie ist nämlich raffiniert, das weisst Du ja. Sag ihr, Du seiest zurückgekehrt, hättest alles bereut -- es ist alles ungeschehen und Du liebst sie. Verstanden? S LADEK Ja. S ALM Sladek. Falls Du es Dir überlegen solltest -S LADEK (unterbricht ihn) Ihr müsst mir nicht drohen. Ich hab keine Angst. Ich hab mir das alles genau überlegt und kann selbständig denken. Das ist anerkannt. S ALM Das spielt keine Rolle. S LADEK Oho! S ALM Zahlen! Es wird Zeit. D AS F RAEULEIN Alles zusammen? S ALM Wir sind eine Familie. R UEBEZAHL Sein Vater ist mein Sohn. 얍 K NORKE (zu S LADEK ) Also: in zwei Stunden. (Ab) S LADEK Auf Wiedersehen. S ALM (zu R UEBEZAHL ) Auf! Los, sonst weint der General. (Ab) R UEBEZAHL (sauft aus) Herr General. Wir brauchen ein neues Auto. Einen Autobus. (Ab) D AS F RAEULEIN Auf Wiedersehen die Herren! Auf Wiedersehen! (Sie beschäftigt sich mit ihrem Strumpfband.) S LADEK (beobachtet sie) Auf Wiedersehen. D AS F RAEULEIN Der Herr kennt die Herren? Das waren doch Soldaten? Nicht? Oder? -- So antworten Sie doch! Sind Sie taub? S LADEK Ja. D AS F RAEULEIN Die Männer heutzutag sind alle originell. -- Was wünscht der Herr? Trinken wir eine Flasche Wein? S LADEK Was kostet das? B

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K1/TS1 (Grundschicht)

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D AS F RAEULEIN Eine Milliarde. S LADEK Und, was kosten Sie? D AS F RAEULEIN Wie meint das der Herr? S LADEK Wenns nicht stimmt, so sagen Sies nur. Ich hab gehört, dass Sie sich für eine Milliarde ausziehen. D AS F RAEULEIN Manche Herren trinken lieber Wein. S LADEK Ich nicht. Ich krieg nämlich keinen Rausch. Ich spei nur alles voll. D AS F RAEULEIN Ist das so schlimm? Dann ziehe ich mich lieber aus. S LADEK Eine Milliarde ist viel Geld. D AS F RAEULEIN Der Herr sind Kaufmann? S LADEK Ich bin kein Schieber. D AS F RAEULEIN Also redlich verdient? 얍 S LADEK Nein. D AS F RAEULEIN Geschenkt? S LADEK Nein. D AS F RAEULEIN Es geht mich auch nichts an. S LADEK Ich hab die Milliarde gestohlen. Ich kenn nämlich eine Witwe, die hat noch drei im Schrank. Sie verdient sehr schön und liebt mich, das heisst: Eigentlich gibt es keine Liebe. Man muss nur selbständig denken. Es ist ein glattes Geschäft. Sie hat sich den Sladek gekauft. Ich hab mich ihr ganz gegeben, aber sie ist so eifersüchtig, dass ich nicht zum Arbeiten komm. Sie will herrschen, drum lässt sie mich um jede Million betteln. Da hab ich die Milliarde gestohlen, sie gehört mir, ich bin im Recht. Gib mir eine Zigarette. D AS F RAEULEIN Du gefällst mir immer besser. Gib mir die Milliarde. S LADEK Zieh Dich aus. D AS F RAEULEIN Hernach. S LADEK Nein. Hernach wird man geprellt. D AS F RAEULEIN Du hast viel mit schlechten Frauen verkehrt. S LADEK Eigentlich nur mit Huren. D AS F RAEULEIN Pfui! Sowas sagt man nicht! S LADEK Sie weiss, dass ich fort will, aber sie sieht es nicht ein. Ich bin zu rücksichtsvoll. Alles hat ein End. Diesmal radikal. -- Weisst Du, was das Furchtbarste ist? Wenn man will und nicht kann. D AS F RAEULEIN (lacht) S LADEK Lach nicht! 얍 D AS F RAEULEIN Das ist doch komisch! S LADEK Nein, das ist tragisch. Wenn etwas schon lange tot ist, vielleicht nie gelebt hat, und man redet damit, als wärs gesund. Ich bin nicht feig und wollt nie Theater spielen und habs doch getan. Sie hat es gewusst, dass sie nur winseln muss und ich verlier die Kraft. Weil ich ein anständiger Mensch bin, zuguterletzt. Aber damit Geschäfte machen, das ist ein Verbrechen. D AS F RAEULEIN Du musst wenig gearbeitet haben, um auf solche Gedanken zu kommen. S LADEK Ich hab noch nie richtig gearbeitet. Sie hat es nicht gern gesehen, dass ich was verdien. Sie hatte Angst, ich könnt ohne sie leben. Sie hat mich lieber ausgehalten, das ist das berühmte mütterliche Gefühl. Auch so ein Verbrechen. D AS F RAEULEIN (beugt sich über ihn) Sprich nicht mehr. Das ist mir alles zu hoch. Gib mir die Milliarde --

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K1/TS1 (Grundschicht)

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S LADEK Du hast so eine schöne Haut -D AS F RAEULEIN Ich bin auch ein Sonntagskind. S LADEK Ich nicht. -- Du bist so weich. D AS F RAEULEIN Das hat jede Frau. S LADEK Nein, nicht jede. D AS F RAEULEIN Was der kleine Mann für grosse Augen hat. Schau mich an. Wohin schaust Du denn? S LADEK Ich schau Dich an. D AS F RAEULEIN Nein. S LADEK Doch. D AS F RAEULEIN Du schaust mich an und doch 얍 nicht an. Hinter mir ist nichts. Ich glaube, Du findest den richtigen Kontakt zum Weibe nicht. S LADEK Möglich. D AS F RAEULEIN Gib mir die Milliarde, dann zieh ich mich aus. S LADEK (gibt sie ihr) D AS F RAEULEIN (küsst ihn) Danke. (Sie zieht sich aus) Du bist ein einsamer Mensch. Du musst öfters kommen, sonst wirst Du noch melancholisch. Das Weib ist die Krone der Schöpfung. S LADEK Zieh Dich ganz aus. D AS F RAEULEIN Nein. Heute regnet es, und ich bin sehr empfindlich. S LADEK Zieh Dich ganz aus. D AS F RAEULEIN Nein! Ich werde krank. S LADEK Ich hab Dir die Milliarde gegeben, und Du hast versprochen -D AS F RAEULEIN (unterbricht ihn) Nichts habe ich versprochen! Willst Du, dass ich mir den Tod hole? S LADEK Das geht mich nichts an! Ich lass mich nicht betrügen! D AS F RAEULEIN Schreien Sie nicht so mit mir, Sie! S LADEK Kusch, Krone der Schöpfung! D AS F RAEULEIN Ich bin doch kein Hund! Ich bin ein Mensch, Sie! Hinaus! Zurück oder ich schrei! Ich schrei, Du Lump, Du Dieb! Hier wird nicht gehasst, hier wird geliebt! (Sie schreit.)

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IV.

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Bei Anna. Sie liegt im Bett. Auf der Strasse hält ein Auto. Sie lauscht und richtet sich auf. 40

S LADEK (tritt ein) (Stille) A NNA Guten Abend, Sladek. S LADEK Guten Abend, Anna. (Stille) A NNA Ich dachte, Du bist Soldat. Und schon in Uniform. B N

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K1/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

S LADEK Nein. -- Es ist offen, vorne, das Hemd. A NNA (knöpft es rasch zu) S LADEK Lass es nur. A NNA Ja, es wird nichts geschehen. S LADEK Anna -- Ich bin gekommen, um wieder bei Dir zu bleiben. A NNA (starrt ihn an) Das ist nicht wahr. S LADEK Doch. A NNA (sieht sich ängstlich um) Wo warst Du? S LADEK Bei den Soldaten. Ich hab mir das alles überlegt. A NNA (steht plötzlich auf, wirft sich rasch ein Tuch um, behält ihn aber immer im Auge; tritt zu ihm) Was willst Du von mir? -- Was denkst Du jetzt? S LADEK Dass alles wieder gut wird. A NNA Das gibt es nicht. S LADEK Ich hab Dich lieb. A NNA Nein. Nein. S LADEK Ich lüg nicht. 얍 A NNA Heut abend hättest Du mich erschlagen können. S LADEK Ich hab Dich nie gehasst. A NNA Doch. Und mit Recht. Ja, mit Recht. (Stille) A NNA Ich bin daran schuld. Es war nicht recht von mir, dass ich Dich mit aller Gewalt hielt, dass ich daran dachte, mit Dir ein Leben lang zusammen --. Ich hätte längst abtreten müssen, aber ich dachte nur an mich. Ich hab Dich gequält, ich war Dir überall im Weg. Ich hab über Dich bestimmt, jetzt ist es mir, als hätt ich das alles berechnet. Verzeih mir. Es ist mir plötzlich klar geworden. Klar. Klar. (Stille) A NNA Geh, bitte. Es hat keinen Sinn, dass Du bei mir bleibst. Das ist sicher nur so ein plötzliches Gefühl für mich, das bildest Du Dir ein. Es ist aus. Warum bin ich nicht zwanzig Jahre jünger? Warum hab ich Dich damals getroffen? Es war ein reiner Zufall, das Leben ist grausam. Nein, nicht Du -- ich hab Dich genommen, ich hab mich an Dich gekettet, ich hab Dir alles gegeben, alles verlangt. Und dann hab ich immer etwas gesucht, es ist Dir nicht aufgefallen. Du bist eine andere Welt. Du siehst anders, hörst anders, denkst anders. -- Geh, Sladek. Geh, wohin Du willst. Es ist wirklich nicht schön hier. Ich halt Dich nicht. Marschier mit Deinen Soldaten, ich werde keine einzige versteckte Patrone anzeigen, ich geh auch nicht zu den Polen, ich verrate 얍 nichts. Geh, bitte. Ich bleib zurück. (Der Pfiff ertönt.) S LADEK (versteinert) A NNA Du bist jung. Ich bin schon grau. Zwischen uns stehen hundert Jahr. S ALM , H ORST , R UEBEZAHL (erscheinen und stürzen sich auf A NNA .) S ALM Drauf!

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SB Volksbühne 1928, S. 35

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K1/TS1 (Grundschicht)

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A NNA Sladek! Was ist das?! Was ist das?! R UEBEZAHL Das ist das! A NNA Hilfe! Hilfe -- au! R UEBEZAHL Das Mensch plärrt! A NNA Sladek! Sladek! S LADEK Halt! S ALM (mit dem Revolver; zu S LADEK ) Zurück! Zurück! R UEBEZAHL (ersticht A NNA ) Verrat uns! Verrat uns! Vieh! A NNA (bricht zusammen und winselt) Au -- Sladek, Du schlechter Mensch -- Du, Du, Du -- (sie stirbt) (Stille) S ALM (zu S LADEK ) Hände hoch! Was sollte das Halt? S LADEK Weil sie unschuldig war. S ALM Das gibt es nicht. S LADEK Doch. S ALM Seit wann? S LADEK Seit zwei Minuten. S ALM Und? S LADEK Ihr könnt nichts dafür. S ALM Das rettet Dich, Du Idiot. Sonst -S LADEK (unterbricht ihn) Ich hab keine Angst. Ich bin nicht feig. In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. (Stimmen unten) H ORST Da spricht wer. 얍 S ALM Rasch! Fort! R UEBEZAHL Sie hat sich bemacht. S LADEK Radikal. B N

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ENDE DES ERSTEN AKTES.

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Z W E I T E R A K T. V.

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Im Hauptquartier der schwarzen Armee.

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Ein Fort. S LADEK ist noch in Zivil. Er steigt mit H ALEF , H ORST und R UEBEZAHL unter die Erde hinab.

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S LADEK Wann fass ich meine Uniform? R UEBEZAHL Das wird eine Galauniform, Du Gardist! H ALEF Mit Fangschnüren und Pour le mérite . Nimm Platz, Herr Sladek. Wir sind bei Muttern. Drei Meter unter der Erde. B

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K1/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

S LADEK (setzt sich) Ich dachte, sechs Meter. H ALEF Vielleicht. Auch das. Wie gesagt. R UEBEZAHL Jetzt möcht ich mich rasieren. S LADEK Ist das hier das Fort, das Hauptquartier? H ALEF Zu Befehl. Wir sind noch ungeborene Seelen. Wir warten auf den Storch und hoffen, nicht abgetrieben zu werden. Ich quatsch viel. Bist Du auch nervös? S LADEK Nein. H ORST Es hat stark geregnet, zuvor. H ALEF Ob es noch immer regnet? Wenn ich was geworden wär, wär ich Komiker geworden. Man muss sich nur auslachen lassen und verdient Geld. 얍 S LADEK (ernst) Das ist sehr komisch. H ALEF Ja. R UEBEZAHL Ich möcht wiedermal auf eine Redoute. In Frack und steifer Brust. Ab und zu verblöde ich, dann möcht ich Grosskaufmann sein. Konfektion. H ALEF Du warst doch Reisender? R UEBEZAHL Kurz. -H ALEF Weisst Du, was mir an dem Fräulein missfällt? Dass sie braune Zähne hat. S LADEK Sie hat keine Seele. Sie betrügt. H ALEF Hast Du eine Seele? S LADEK Was ist das: Seele? H ALEF Du hast doch soeben gesagt, dass das Fräulein keine Seele hat! S LADEK Ich? R UEBEZAHL Du! Heilige Grossmutter Gottes! S LADEK Ich muss mich versprochen haben. H ORST Frauen sind Formen. Sie regen uns an. S LADEK Wenn sie nur anregen würden. Zum Beispiel diese Anna -R UEBEZAHL (unterbricht ihn) Halt das Maul! Halt das Maul! H ALEF Mein Herr. Es ist hier Sitte, dass man darüber nicht spricht, zumindest inoffiziell nicht. Du musst Dich den Gesetzen des gesellschaftlichen Lebens fügen. (Stille) H ORST Ob es noch immer regnet? R UEBEZAHL Zuguterletzt sind die Dreckjuden selbst daran schuld. H ALEF Nicht? H ORST Ja. S LADEK Wann fass ich die Uniform? H ALEF Es müssen noch einige Formalitäten erledigt werden. 얍 S LADEK Was für Formalitäten? (Er erhebt sich) R UEBEZAHL Halt! Wohin? S LADEK Ich muss mal. H ALEF Du bleibst. S LADEK Aber ich muss -H ALEF Beherrsch Dich. S LADEK Wieso? H ALEF Wir haben Befehl, einen gewissen Sladek schärfstens zu bewachen. Du bist gefangen. B

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K1/TS1 (Grundschicht)

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S LADEK Gefangen? H ALEF Vorerst. S LADEK Was hab ich denn getan? H ALEF Eine grosse Dummheit, Du Idiot. Was hast Du gesagt, Rindvieh? Dass sie unschuldig war, hast Du gesagt. Das hat der Salm sofort dem Hauptmann gemeldet. Es gibt viele Unschuldige, Du Trottel. Auch an Halsentzündungen sterben Unschuldige, aber so darf man nicht denken, Du Maulesel. S LADEK In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. R UEBEZAHL Wie oft sagst Du das in einer Stunde? H ALEF Es dreht sich ja nur um Formalitäten, aber solche Formalitäten werden hier mit besonderer Liebe behandelt. (Stille) S LADEK (hat sich wieder gesetzt; zu H ALEF ) Bist Du Türke? H ALEF Ich? S LADEK Ja. Weil Du Halef heisst. Ich kannte einen Halef, der hat türkischen Honig verkauft. Aber der hiess eigentlich auch nicht Halef. 얍 H ALEF Ich verkaufe türkischen Honig und bin ein geborener Sachse. S LADEK Dresden soll schön sein. H ORST Wer war schon in Nürnberg? R UEBEZAHL Nürnberg ist schön. H ORST Ja. Dort haben sie eine herrliche Folterkammer in der Burg. Ich habe nach der ersten Kommunion meine Grossmutter besucht, die lebt in Nürnberg. Die kennt jede Daumenschraube, die hat mir das alles erklärt. Meine Mutter hat Krämpfe bekommen, ich und meine Grossmutter haben lachen müssen. Zum Beispiel die eiserne Jungfrau -H AUPTMANN , S ALM , K NORKE (kommen) R UEBEZAHL (ab, knapp an H AUPTMANN vorbei, ohne ihn zu grüssen) H AUPTMANN (hält einen Augenblick und sieht ihm nach; tritt dann rasch auf S LADEK zu, der sich erhoben hat.) Sladek, ich habe erfahren, dass Du der Ueberzeugung bist, die Landesverräterin Anna Schramm sei unschuldig hingerichtet worden. S LADEK Sie wollt nichts verraten, hat sie mir gesagt. Ich glaub keiner Frau, aber diesmal wars eine ausserordentliche Ausnahme. H AUPTMANN Sie war also unschuldig? S LADEK Ja. H AUPTMANN Und? S LADEK Da gibts kein Und. Es lässt sich nämlich nichts ändern. H AUPTMANN Und wenn es sich ändern liesse? S LADEK Man kann nicht. H AUPTMANN Du hast Halt gerufen. Weisst Du, 얍 dass man unter Umständen mit einem solchen Halt die nationale Revolution vernichten kann? S LADEK Daran hab ich nicht gedacht. Ich hab nur an die Gerechtigkeit gedacht. Es war mir plötzlich als wären meine Ansichten über die Natur falsch und ich hätt die Wahrheit vergessen. Ich kann nämlich selbständig denken -H AUPTMANN (unterbricht ihn) Halt das Maul! Du hast nicht selbständig zu denken! Du bist Soldat. Dreitausend Sladeks sind erst ein Regiment. Du bist nur ein Teil. Selbständige Teile sind überflüssig, also schädlich, also werden sie vernichtet. Verstanden? S LADEK Ja.

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K1/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

H AUPTMANN Und betreffs der Unschuld Deiner Anna Schramm: Für das Vaterland muss jeder Soldat jede Schuld tragen. Jederzeit. S LADEK Man kann ja nichts dafür. H AUPTMANN Du hast dafür zu können! Das ist Deine Pflicht! Du weisst, was Pflicht ist? Gehorchen. Bedingungslos. -- Solltest Du Dich noch einmal unterstehen Halt zu rufen, so sperre ich Dich ein bis zum jüngsten Gericht. Du weisst, wohin. Abtreten! (Er lässt ihn stehen.) S LADEK (zu H ALEF ) Darf ich jetzt austreten? H ALEF Du darfst. Halt! Glaubst Du an das jüngste Gericht? S LADEK Nein. Ich bin nicht religiös. (Ab) H AUPTMANN (zu S ALM ) Du hast diesen Krüppel gebracht, behalt ihn. S ALM Danke. 얍 H AUPTMANN Er hat sich bereits ausserordentlich bewährt und kann selbständig denken. K NORKE Freilich ist er blöd, aber besser blöd als feig. Ich kannte seinen Bruder, wir haben nebeneinander gewohnt, als ich aus Tsingtau kam, vor dem Krieg. Der war sehr klug und gebildet, aber im Felde musste man ihn hängen, weil er bei einem Sturmangriff seinen Feldwebel von hinten erschossen hat. Die Sladeks sind alle verbittert. Es war mal eine bessere Familie. H AUPTMANN Ich wiederhole: Die Art dieser letzten Bestattung ist in ihrem unglaublichen Leichtsinn nicht zu überbieten. Ihr habt gesoffen? S ALM Keinen Tropfen. H AUPTMANN So seid Ihr gefährlich grosszügig. -- Ich bin von lauter Verrätern umgeben, aber ich fange immer nur die Vorhut, an die Leitung komme ich nicht heran, ich bin zu ehrlich. D ER B UNDESSEKRETAER (erscheint) S ALM , K NORKE , H ALEF , H ORST (ab) (Stille) H AUPTMANN (fixiert den Bundessekretär) Sie kommen aus Berlin? D ER B UNDESSEKRETAER Von der massgebenden Stelle. H AUPTMANN Sie sehen: Ich bin bereit. D ER B UNDESSEKRETAER Danke. H AUPTMANN Schnarcht die massgebende Stelle noch? Sie wird unter dem Sowjetstern erwachen. D ER B UNDESSEKRETAER Die politische Verantwortung fordert, für die bewaffnete Aktion den günstigsten Augenblick abzu-얍passen. H AUPTMANN Ich warte. D ER B UNDESSEKRETAER Wir haben zwar die Ministerliste, aber die Führer der Verbände müssen noch manche Frage bereinigen. H AUPTMANN Ich warte. D ER B UNDESSEKRETAER Sie sind sich noch nicht einig, Nord und Süd! H AUPTMANN Ich warte. Vorerst! D ER B UNDESSEKRETAER Das wissen wir. Deshalb bin ich da. H AUPTMANN Freut mich! D ER B UNDESSEKRETAER Umso besser! Sie sind ein Mensch, dem man ab und zu seine Lage klar machen muss. Sie samt Ihren Soldaten unterstehen einer massgebenden B N

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Stelle, die die geheime, gegen alle aussenpolitischen Verpflichtungen erfolgte Aufstellung ihrer Armee vor der Republik mit dem Schutze vor äusseren Feinden begründet, in Wahrheit aber die nationale Diktatur erstrebt. Offiziell muss die massgebende Stelle republikanisch tun, um inoffiziell die Republik unterhöhlen zu können. Offiziell tragen Sie die Verantwortung, inoffiziell befiehlt die massgebende Stelle. Sie können praktisch nur bestehen, weil und solange Sie offiziell nicht bestehen. Vorerst existieren Sie überhaupt nicht. H AUPTMANN Danke. Die massgebende Stelle ist feig. Sie betet um die nationale Revolution, aber drückt sich vor jedem festen Entschluss. Das liegt an der 얍 Berliner Luft. D ER B UNDESSEKRETAER Und der preussischen Regierung. H AUPTMANN Es muss kommen, wie in Ungarn. D ER B UNDESSEKRETAER Die Diktatur. Plebs bleibt Plebs. Gäbs keine Neger am Rhein und keine Inflation, fühlten sich unsere lieben Deutschen in Schwarzrotdreck sauwohl. H AUPTMANN Nie. Ich glaube an den zweiten Befreiungskrieg. Mit dem Sturze der Republik stürzt auch Versailles. D ER B UNDESSEKRETAER Kaum. H AUPTMANN Oho! D ER B UNDESSEKRETAER Kaum, Hauptmann. Unsere Truppen und vor allem unsere Waffen reichen wohl zur Niederschlagung des inneren, aber niemals des äusseren Feindes. Die nationale Diktatur wird die Erfüllungspolitik der Rathenau und Genossen weiterführen müssen. Predigen wir das Gegenteil, so nur als Propaganda. Wir lügen dabei nicht, denn zuguterletzt ist alles möglich. (Stille) H AUPTMANN Ich sehe, man treibt mit mir wieder ein unehrliches Spiel. Ich glaube, die massgebende Stelle wäre sogar imstande mich dem Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik auszuliefern. D ER B UNDESSEKRETAER Wenn Sie ohne Erlaubnis anfangen wollten zu existieren, ja. H AUPTMANN Wenn alles missglückt, jederzeit. Dann wird an meine nationale Treue appelliert, damit ich alles allein verantworten darf. Auch meine Justiz. D ER B UNDESSEKRETAER Was für Justiz? 얍 H AUPTMANN Spielen Sie nicht die unberührte Jungfrau, Feigling. Leute wie Sie sollten politisch links stehen. Sagen Sie der massgebenden Stelle einen schönen Gruss, und wenn sich die vertrottelten Oberlehrer und verkalkten Exzellenzen in den Bünden und Verbänden, Orden und Parteien nicht bald einigen, dann fange ich an zu existieren! Die nationale Bewegung wäre ein Debattierklub ohne meine Arbeit! Ich habe die Truppen gesammelt, ich habe die Gewalt, ich bin die Macht! Ich marschiere auch allein! Die nationale Revolution bin ich! Ich und meine Kameraden, der Landsknecht hat schon einmal einen Staat gerettet, wir haben Spartakus erschlagen, im Baltikum gekämpft, in Oberschlesien -- und?! Wir lassen uns nicht wieder vogelfrei vertreiben, verachtet, verspottet, verdreckt! D ER B UNDESSEKRETAER (lächelt sarkastisch; verbeugt sich steif und rasch ab.) H AUPTMANN (allein; starrt ihm nach; geht auf und ab) (Trompetensignal) B

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H AUPTMANN (hält und lauscht; grinst; knurrt) Ich marschiere, ich marschiere -H ALEF (kommt) Hauptmann! H AUPTMANN Was gibts? H ALEF Der Salm lässt fragen, was mit dem Kerl geschehen soll, den der Posten gestern beschlagnahmt hat -- der drunten liegt. Er hat soeben gestanden, dass er uns für fünfzig Dollar an die Interalliierte Kontrollkommission verraten wollte. 얍 H AUPTMANN Das hat er gelogen. Der verrät nichts für fünfzig Dollar, das habe ich gleich gesehen. Hinter dem steht eine andere Macht. -- Man muss ihn mit besonderer Vorsicht verhören. H ALEF Soll er noch geprügelt werden? H AUPTMANN Wer hat ihn geprügelt? H ALEF Ich nicht. H AUPTMANN Wer? H ALEF Rübezahl. (Stille) H AUPTMANN Du. Ist das wahr, dass dieser Rübezahl gedroht hat, mich für den Fall, dass er kein Geld von mir bekommt, glattweg niederzuknallen? H ALEF Er war besoffen. H AUPTMANN Besoffen oder nüchtern! Du hast das gehört? H ALEF Ich war dabei. H AUPTMANN Ich muss darauf bestehen, dass mir dergleichen sofort gemeldet wird! H ALEF Ruhe, Herr General! Ruhe. Wagst Du, einen derart verdienstvollen Mann zu bestrafen, und wenn ja, kannst Du es denn? Nein. Du kannst Dich nur lächerlich machen. Sonst nichts. R UEBEZAHL (erscheint) Majestät. Ich hab soeben gehorcht. (Er grinst) H AUPTMANN Du bekommst Deinen Teil. R UEBEZAHL Das klingt komisch. H AUPTMANN Abtreten. R UEBEZAHL Drohst Du mir? Du? Mir? H AUPTMANN Nein. Denn ich habe Angst, dass Du mich niederknallst. R UEBEZAHL (grinst) Fürchte Dich nicht, Liliputaner! H AUPTMANN Zurück! Hinaus! R UEBEZAHL Bell nicht, Pintscher! Bell nicht, 얍 sonst schlag ich Dir die Koppel um das Maul, dass Dir das Gott-mit-uns in der Fresse steht! H AUPTMANN (fixiert ihn; beherrscht sich; rasch ab)

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VI. Immer noch unter der Erde.

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F RANZ lehnt an der Wand. H AUPTMANN kommt. S LADEK folgt ihm mit aufgepflanztem Seitengewehr und hält in der Türe als Wache. Endlich in Uniform. 45

H AUPTMANN Sie haben also gestanden, dass Sie für fünfzig Dollar der französischen Spionagezentrale Material über geheime Rüstungen beschaffen sollten? 14

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F RANZ Sind Sie hier das Oberkommando? H AUPTMANN Ja. F RANZ Werde ich wieder geprügelt? H AUPTMANN Ich werde mich nicht entschuldigen, dass Sie misshandelt worden sind, aber ich missbillige es. F RANZ Ich verlange, vor ein ordentliches Gericht gestellt zu werden. H AUPTMANN Sie werden nach einem ordentlichen Gesetze bestraft. F RANZ Ich verlange, nach dem Strafgesetzbuch abgeurteilt zu werden. H AUPTMANN Solange das Strafgesetzbuch von der Interalliierten Militärkommission zensiert wird, solange bin ich das ordentliche Gericht im Namen des 얍 deutschen Volkes. F RANZ Dazu haben Sie kein Recht. H AUPTMANN Machen Sie sich nicht lächerlich. F RANZ So schlachten Sie mich doch ab. Was wollen Sie denn noch von mir? H AUPTMANN Sie werden nicht geschlachtet. F RANZ Nein. Totgeprügelt. H AUPTMANN Nein. Sie werden begnadigt. Unter einer Bedingung. F RANZ Es gibt keine Bedingung, unter der ich begnadigt werden könnte. H AUPTMANN Hier bin ich der Herr. F RANZ Machen Sie sich nicht lächerlich. H AUPTMANN Ich pflege mich nicht lächerlich zu machen, Sie! Ich verbitte mir jede Unverschämtheit. Hier bin ich der Herr. F RANZ Ich wollte Sie nur aufmerksam machen, dass Sie mich nicht begnadigen dürfen, weil Sie ja befürchten müssen, dass ich alle Ihre Geheimnisse verrate, sobald ich frei bin. H AUPTMANN Sobald Sie frei sind, wird es keine Geheimnisse mehr geben. Ich warte nur auf das Signal der massgebenden Stelle. Morgen oder übermorgen. Sobald ich marschiere, sind Sie frei. Auf mein Ehrenwort. Allerdings: Unter einer Bedingung. F RANZ Bitte? H AUPTMANN Ich weiss, wer Sie sind. Auch ich habe meine Spione. Es ist gelogen, dass Sie das Vaterland für fünfzig Dollar verkaufen wollten. Sie hätten es auch ohne einen Papierpfennig verraten, Sie sind Agent der dritten Internationale. 얍 F RANZ Nein. H AUPTMANN Doch! Sie spielen nur die Rolle des gemeinsten Verräters, um Ihre Genossen zu schützen! Meine Bedingung lautet: Lassen Sie mich die Waffenlager der Kommunistischen Partei erfassen, und Sie sind auf der Stelle begnadigt. Auf Ehrenwort. F RANZ Die Kommunisten haben keine Waffen mehr. Spartakus ist tot. H AUPTMANN Gibt es keine rote Armee? F RANZ In Russland. H AUPTMANN Und in Deutschland. F RANZ Nein. Hier gibt es nur Schwarz oder Weiss. Ich bin kein Agent der dritten Internationale. Ich bekämpfe jeden Terror, auch den roten. H AUPTMANN Mit was denn? F RANZ Mit der Kraft der Idee. H AUPTMANN Idiot. F RANZ Danke. H AUPTMANN Sie sind sogenannter Pazifist?

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F RANZ Ja. H AUPTMANN Sie verraten aus Prinzip? F RANZ Aus Prinzip. H AUPTMANN Die eigene Armee. F RANZ Jede Armee. H AUPTMANN Nein! Nur die deutsche. Den Verbrechern von Versailles. F RANZ Ich hasse Versailles. H AUPTMANN Aber verraten den deutschen Soldaten der Kontrollkommission. F RANZ Nein! Ich kenne keine Kontrollkommission. Ich kenne auch keine deutschen Soldaten, ich kenne nur Landsknechte der Reaktion, deren Geheimnis ich enthüllen wollte -- Sie zielen 얍 auf Versailles und treffen das deutsche Volk. Sie und Versailles erstreben dasselbe: Die ewige Entrechtung des vierten Standes. H AUPTMANN Sie Narr! F RANZ Sie haben nur fünftausend Mann. Glauben Sie, dass Sie ohne schwere Artillerie, ohne Flugzeuge, ohne Tanks und ähnlichen Mordmaschinen, mit nur fünftausend Soldaten den Versailler Vertrag zerreissen können? H AUPTMANN Hätte ich nicht die schwarze Armee, wäre das ganze Vaterland längst vom Feinde besetzt. F RANZ Sie vergessen, dass Sie ein Geheimnis sind. Wie kann sich denn der Feind vor Soldaten fürchten, von deren Existenz er nichts wissen darf? Herr! Sie marschieren nur gegen das eigene Volk. Gegen die deutsche Republik. H AUPTMANN Was ist das: Deutsche Republik? Die Republik ist die Hure der Juden und Jesuiten. Sie sind sogenannter Pazifist. Das heisst: Ein Schuft ohne vaterländisches Verantwortungsgefühl. F RANZ Ich bin Pazifist. Das heisst: Stärkstes Verantwortungsgefühl für den einzelnen Menschen. H AUPTMANN (schreit) Und Verrat am Vaterland! Der Einzelne ist eine Null! F RANZ (schreit) Es geht um Millionen Einzelne! Das Volk ist das Vaterland, und Krieg ist das grösste Verbrechen am Volk! Was das Volk aufbaut, wird zerstört durch den Grössenwahn der 얍 Berufssoldaten und die rücksichtslose Kalkulation verrückter Aktionäre! Es ist falsch kalkuliert worden. Die Bücher wurden aber bereits überprüft und die Betrüger verurteilt. Bald wird das Urteil vollstreckt, im Namen des Volkes. Das ist noch keine Republik, das wird erst eine! H AUPTMANN Krieg ist ein Naturgesetz. F RANZ Und wäre es ein Naturgesetz, so bekämpf ich eben die Natur! Ich stelle gegen die Anarchie der Zerstörung das Gesetz des Aufbaus, die Ordnung gegen das Chaos! Sie wollen zurück, ich vorwärts! Sie wollen die nationale Diktatur, das Zurücksinken in den Schlamm niedrigster Instinkte -- Sie werden scheitern, und sollten Sie noch so fest überzeugt sein, recht zu haben. Ich stelle den einen Weltstaat gegen den verbrecherischen Wahnsinn der Raubstaaten! Ich kämpfe mit den Waffen der Idee, Sie können mich totschlagen, die Idee stirbt bekanntlich nie, aber Ihre Waffen sind bereits verrostet und werden bald zu Staub. Ihre Zeit der Raubritter ist in Blut und Dreck zusammengebrochen -- ihr Tag ist versunken. Es ist noch tiefe Nacht. Wer die Nacht überlebt, der wird die Diktatur der Menschenrechte schauen. (Stille) B

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H AUPTMANN (stiert ihn an) Sie haben sich selbst überführt. Ich liess Sie quatschen. Wagen Sie noch zu leugnen, ein Agitator Moskaus zu sein? 얍 F RANZ Ich habe nichts mit Moskau zu tun. H AUPTMANN Sie wollen die Bedingung nicht erfüllen? F RANZ Ich kenne kein kommunistisches Waffenlager. H AUPTMANN Lügen Sie nicht, Feigling! (Stille) F RANZ Ist es nicht feig, mich hier so abzuschlachten? H AUPTMANN Es geht um das Vaterland. F RANZ Sie betrachten sich als Vaterland? H AUPTMANN (fast etwas unsicher) Ich kämpfe für das Vaterland. Für seine Grösse, seine alte Macht. Das verstehen Sie nicht. Deutschland kann nur unter der nationalen Diktatur gesunden. Ihr Weltreich ist Mist -- vielleicht ein schöner Traum. Ich habe mich mit diesen Sachen nicht so beschäftigt. Ich bin Soldat. Ich hab einen traumlosen Schlaf. (Stille) H AUPTMANN Ich biete Ihnen eine letzte Gelegenheit : Wollen Sie auf meine Bedingungen eingehen? F RANZ Ich kann ja nicht. Ich bin kein Kommunist. Ich gehöre keiner Partei an. Ich bin allein. H AUPTMANN Das ist gelogen. Weshalb hätten Sie denn gesagt, Sie wollten alles für fünfzig Dollar verraten, wenn Sie niemanden zu beschützen hätten? F RANZ Ich habe gelogen, weil ich wusste, dass es damit aus ist. Wenn ich gesagt hätte, dass ich Pazifist bin und kein gemeiner Verräter, so hätte man mich länger gequält. Ich wollte möglichst rasch totgeprügelt werden. Es war reiner Egoismus. 얍 H AUPTMANN Pazifismus ist Egoismus. F RANZ (lächelt) Richtig. Ich bin zu meinem persönlichsten Vergnügen hier, wie Sie ja wissen. (Stille) H AUPTMANN Sie sind verrückt. Gemeingefährlich verrückt. Glauben Sie denn, Sie Narr, dass es jemals Frieden geben wird? F RANZ Nein. Das glaube ich nicht. (Er wankt etwas) H AUPTMANN (braust auf) Machen Sie keinen Narren aus mir, Sie! F RANZ Ich mache mir keinen Narren aus Ihnen. Ich glaube, wir verstehen uns. Sie haben ja von Ihrem Standpunkte aus vollständig recht -- es kommt aber nur auf die Höhe des Standpunktes an, und wie tief oder hoch man über dem eigenen Standpunkte stehen will -- oder kann -- (Er fasst sich an den Kopf) Ich bitte das Verhör zu unterbrechen -- auf kurze Zeit. Ich habe einen zu schweren Kopf. Man hat mir nämlich auf den Kopf geschlagen, das kommt davon -- (Er lächelt und setzt sich.) H AUPTMANN (starrt ihn an; wendet sich plötzlich ab) Sladek! S LADEK Zu Befehl! B

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H AUPTMANN Falls die anderen zurückkommen sollten, so melde ihnen, Du hättest Befehl, dass niemand diesen Mann in irgendeiner Form verhören darf. Du hast das durchzuführen. Verstanden? S LADEK Zu Befehl! H AUPTMANN Hier verhöre nur ich. (Ab) (Pause) S LADEK (plötzlich) Sie werden Dich nicht 얍 mehr schlagen. F RANZ (sieht ihn erstaunt an; spöttisch) Ich danke sehr. S LADEK Ich dank auch sehr, dass Du mich nicht verraten hast. D IE Z WEI (fixieren sich) S LADEK (lächelt) Ja, dass Du nämlich nicht gesagt hast, dass Du mich kennst. Ich hätt dadurch Unangenehmes gehabt, ich wär nämlich leicht in einen Verdacht gekommen, der ja gar nicht stimmt, weil wir uns doch nur kennen, aber immer das Gegenteil denken. F RANZ Wieso? S LADEK Das weisst Du doch. F RANZ Nein. S LADEK Das gibt es doch nicht. F RANZ Wer bist Du? S LADEK Ich? F RANZ Ja, Du. S LADEK Du kennst mich nicht? F RANZ Nein. (Stille) S LADEK Ich hab Dich gleich erkannt. Ich bin der Sladek. F RANZ Sladek? Kenn ich nicht. S LADEK Du hast Dich mal zur Diskussion gemeldet, man hätt Dich fast erschlagen, aber das hätt mir leid getan, denn ich hab die Gerechtigkeit lieb, obwohl es sie nicht gibt. Wir haben debattiert, ich red nämlich nur gern mit intelligenten Menschen, die selbständig denken können, obwohl man das nicht soll. Ich bin nämlich ein sogenannter zurückgezogener Mensch. 얍 Ich erinner mich an jedes Wort. F RANZ Ja, das war jene Diskussion. Aber an Dich kann ich mich nicht erinnern. S LADEK Das tut mir leid, dass Du mich vergessen hast. F RANZ (fast etwas spöttisch) Ich bitte um Verzeihung, aber ich kenne so viele Menschen -S LADEK (unterbricht ihn) Bitte, bitte! Der einzelne zählt ja auch nichts, das ist natürlich, obwohl man da komische Erfahrungen machen kann. (Stille) F RANZ Ueber was haben wir denn debattiert? S LADEK Das lässt sich nicht so einfach sagen. Zum Beispiel über das Morden in der Natur, das sich nicht ändert, über das Versöhnen, das es nie geben wird, und über die Gerechtigkeit, die es auch nicht gibt, aber wie gesagt, man kann da komische Erfahrungen machen. Wir haben über Weltpolitik debattiert. Deine Nase hat geblutet. B

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(Stille) S LADEK Es freut mich, dass Du zuvor gesagt hast, Du glaubst nicht daran, dass es jemals Frieden geben wird, dass es also nur Gewalt gibt und sonst nichts. Dass Du Dich zu meiner Ansicht über den Sinn des Lebens bekehrt hast, das freut mich, denn Du bist ein sogenannter intelligenter Mensch. Hörst Du mich? F RANZ (hatte den Kopf in den Händen vergraben; apathisch) Ja. S LADEK Es freut mich, dass ich wieder mit Dir reden kann, hier komm ich kaum dazu, denn hier darf man nicht selbständig denken, es ist auch besser, 얍 aber man kann es sich nicht verbieten. Vielleicht leider. (Stille) S LADEK Der intelligente Mensch gibt seinen Denkfehler zu, ich denk heut auch etwas anders, obwohl ich immer recht gehabt hab, aber es war alles durcheinander. Nämlich ich hab den Fehler gemacht, dass ich mich in den sogenannten Mittelpunkt der Welt gestellt hab, mich, den Sladek, obwohl dieser Sladek nur ein Teil ist. Ich hab mich mit dem Vaterland verwechselt. (Stille) S LADEK Ich hab mir das alles genau überlegt. Der Einzelne ist nur ein Teil des Vaterlandes, und dieser Teil darf als Einzelner zum Beispiel nicht morden. Es wird zwar immer gemordet, weil man ja nicht anders kann, aber das darf der Einzelne nur als Teil, obwohl ja ganz zuguterletzt alles für den Einzelnen ist. Es ist aber komisch, dass, wenn man sich als Teil selbständig macht, zum Beispiel beim Morden, man das Gefühl hat, als sollt man doch anders tun, obwohl man doch muss. Das ist sehr kompliziert. (Stille) S LADEK Hörst Du mich? F RANZ (wie vorher) Ja. S LADEK Das sind so Sachen. Das ist Dein Fehler, dass Du sagst, Du nimmst Rücksicht auf den einzelnen Teil. Wer das richtig tut, der muss sich zuguterletzt selbst umbringen, denn es wird immer gemordet in der Natur. Dem geht es wie der Republik: Die will keinen umbringen, also wird sie umgebracht. Ohne Mord gibt es kein Leben, geht 얍 es nicht weiter. Es muss nämlich immer weiter gehen, das ist auch so ein Naturgesetz. Es wird zwar nicht besser, aber man weiss das nicht. Der einzelne Teil allein zählt nämlich nichts, man darf nur an das Ganze denken. (Stille) S LADEK Zum Beispiel für das Vaterland darf der Einzelne als Teil zum Beispiel jeden Mord begehen. Jederzeit. -- Ich war mal bei der Hinrichtung einer Landesverräterin. Das war eine Frau. B N

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F RANZ (horcht auf) S LADEK Das erzähl ich jetzt nur Dir, weil Du nämlich auch ein intelligenter Mensch bist und ich komm hier wie gesagt nicht dazu, drüber zu reden. F RANZ Bitte. S LADEK Eine Landesverräterin gehört im Interesse des Ganzen erledigt, das ist doch klar. Es war auch alles in Ordnung, auch wenn sie unschuldig gewesen sein sollte, aber wir konnten nicht anders, wir mussten sie hinrichten, das sind manchmal so Umstände. Auch Unschuldige müssen für das Ganze fallen, das wird nicht anders. Wir hatten recht. Das ist jetzt nur für Dich persönlich, weil, wie gesagt, Du selbständig denken kannst und vielleicht das verstehst. Nämlich ich versteh alles, nur das nicht, dass es mir manchmal ist, als hätten die Leut, die diese Frau hingerichtet haben, obwohl sie doch vollkommen im Recht waren, weil sie nicht anders tun konnten, doch unrecht getan. Das 얍 ist sehr interessant. F RANZ Sehr. (Stille) F RANZ Wer war diese Frau? S LADEK Das ist Geheimnis. Dieses Ganze, verstehst Du, ist nur unter uns -F RANZ Meinst Du? S LADEK Das hab ich nur Dir gesagt, bitte. F RANZ Warum? S LADEK Es ist nur unter uns. Unter uns beiden. F RANZ (spöttisch) Ich danke Dir für das grosse Vertrauen. S LADEK Du wirst mich nicht betrügen. F RANZ Wieso? S LADEK Bitte. (Stille) F RANZ (nähert sich ihm) Du betrügst Dich selbst. Du denkst als Teil zu selbständig, davon werden Deinesgleichen blöd. Jetzt weiss ich, wer Du bist. S LADEK Jetzt erst? F RANZ Du bist der Sladek. S LADEK Ja. F RANZ Das ist sehr interessant. Ich weiss auch, wer Deine „Landesverräterin“ war. S LADEK Wer? F RANZ Sie hiess Anna. S LADEK Nein! F RANZ Doch! Und ihr „Henker“ heisst Sladek. S LADEK Lüg nicht! F RANZ Das ist sehr interessant, Herr Sladek, denn die Justiz hat noch keine Ahnung, dass dieses Verbrechen eine „Hinrichtung im Interesse des Vaterlandes“ ist. Die Polizei nimmt Mord an, einen höchst „selbständigen“ Mord. S LADEK Ich bin kein Mörder. F RANZ In der Natur wird gemordet, das än-얍dert sich nicht. Die Polizei sagt, wie der Herr es in jeder Zeitung nachlesen kann, dass es ein verkommenes Subjekt naB N

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mens Sladek war, das die mütterliche Liebe einer alternden Frau in egoistischster Weise ausnützte. Ein arbeitsscheuer Lump, liess er sich aushalten und trieb sich mit ihren kleinen Ersparnissen, die er ihr aus dem Schranke stahl, mit Huren herum. Und weil sie das nicht mehr mitansehen wollte, hat er sie in bestialischer Weise ermordet. Die Hauseinwohner hörten Frau Schramm „Sladek!“ rufen und fanden sie abgeschlachtet. Auf die Ergreifung des Mörders hat der Staatsanwalt eine Belohnung ausgesetzt. S LADEK Wieviel? F RANZ Viel. (Stille) S LADEK Das ist alles nicht wahr. Das ist alles ganz anders gewesen. F RANZ Das war alles für das Vaterland? S LADEK Ja, aber es gibt keine Gerechtigkeit. F RANZ Es gibt auch keine, aber wir haben Justiz und Polizei, solange es so selbständig denkende Sladeks geben wird. S LADEK Es ist arg, dass man denken kann. H AUPTMANN (kommt) Ich sehe, Sie haben sich schon erholt. -- Sladek! Was wollte er von Dir? Bist Du taub, Idiot? S LADEK Er hat nur gefragt, wann er wieder verhört wird. H AUPTMANN Jetzt. -- Sie haben mich betrogen. Sie hätten sich gar nicht zu erholen brauchen. 얍 F RANZ Ich habe Sie nicht betrogen. H AUPTMANN Sie Komödiant. Sie mussten das Verhör abbrechen, weil Sie sich selbst widersprochen haben und nicht weiter fanden! Ich lasse nicht locker! Es dreht sich um Ihre Behauptung, Sie glaubten nicht, dass es jemals Frieden geben wird. Dabei haben Sie den Mut, mir einreden zu wollen, Sie seien kein Agent Moskaus und kämpften lediglich mit den „Waffen der Idee“, Sie seien Pazifist und predigten den ewigen Frieden! Antwort! F RANZ Dass Sie sich über diesen scheinbaren Widerspruch derart den Kopf zerbrechen, hat wohl weniger seinen Grund in Ihrer unberechtigten Empörung, betrogen worden zu sein, als in dem berechtigten Gefühl, erkannt worden zu sein. H AUPTMANN Ich verbitte mir das! F RANZ Sie verstehen mich, das habe ich Ihnen bereits gesagt. Denn Sie sind ja ganz meiner Meinung, nur können Sie es nicht vertragen zu hören, wie Sie eigentlich denken, und deshalb wollen Sie mich nun zwingen, das Gegenteil zu behaupten. H AUPTMANN Sie sind wirklich verrückt. F RANZ (lächelt) Ja, gemeingefährlich. Und was den ewigen Frieden anlangt, so glaube ich wirklich nicht daran, aber ich predige ihn, da ich zuguterletzt an keinen Fortschritt glaube, weil ich weiss, dass es nur einen Fortschritt gibt, wenn man keine Rück-얍sicht auf den einzelnen Menschen nimmt. Es dreht sich doch zuguterletzt alles um den einzelnen Menschen, darum predige ich den radikalsten Fortschritt, das Reich der unpersönlichen Masse. Es gibt nämlich keinen Fortschritt, solange es die Einzelnen gibt. Das ist doch alles Betrug, nicht wahr? -- Sie nehmen zwar keine Rücksicht auf den einzelnen Menschen, Sie sind die Diktatur, Sie predigen nicht den Frieden, Sie erklären den Krieg, und glauben doch an keiB

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nen Fortschritt. Ich auch nicht. Aber vielleicht gibt es doch einen Fortschritt, und wir Beide täuschen uns nur. Das wäre doch möglich, nicht wahr? Die Pflicht abzutreten oder fanatisch das Gegenteil zu behaupten, sonst werden sie ja verrückt vor Verzweiflung oder Ueberhebung. Wir müssen bei einer bestimmten Grenze aufhören zu denken, das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Ich habe kein Recht, das Hoffen des einzelnen Menschen auf den Frieden zu zerstören. Ich habe die Pflicht zum Betrug. Und ganz zuguterletzt ist das ja gar kein Betrug, denn es dreht sich ja eigentlich nicht darum, wie es der Menschheit tatsächlich ergeht, sondern was sich der einzelne Mensch einbildet. Wir verstehen uns. H AUPTMANN Nein. Ich bin kein Betrüger. Die nationale Diktatur wird dem deutschen Vaterlande seine stolze Weltmachtstellung zurückerobern, trotz aller 얍 überstaatlichen Mächte! Das ist mein Glaube! F RANZ Ist das kein Betrug? H AUPTMANN Ich verbitte mir das! F RANZ Sie sind überzeugt, dass die Rückeroberung einer sogenannten stolzen Weltmachtstellung wirklich zuguterletzt eine Besserung bedeutet? H AUPTMANN Das „zuguterletzt“ geht mich nichts an! F RANZ Sehen Sie! H AUPTMANN Was? F RANZ Denn zuguterletzt dreht es sich hier nur um Ihre einzelne Person. Das wird Ihnen manchmal klar. H AUPTMANN Wieso? F RANZ Ich habe Ihnen schon gesagt: Die Zeit der Raubritter ist vorbei: Ihre Zeit. Sie werden scheitern, denn Sie müssen scheitern. H AUPTMANN Was Sie nicht sagen, Sie Prophet! F RANZ Ich glaube es zu wissen. H AUPTMANN Das ist Ihr Betrug! F RANZ (lächelt) „Zuguterletzt“ vielleicht. Aber das „zuguterletzt“ geht mich nun nichts mehr an, da Sie Ihren Standpunkt verleugnen. H AUPTMANN Was für Standpunkt? F RANZ Höher oder tiefer. Sie haben kein Recht, um Ihrer einzelnen Person willen rücksichtslos nach Ihrer Erkenntnis zu handeln. -- Vielleicht habe ich mich aber geirrt, und Sie können vielleicht gar keine Pflichten haben. H AUPTMANN Quatsch! Du Idiot. Du Philosoph. -- Und was meine Zeit betrifft, die 얍 Du die Zeit der Raubritter nennst: Der letzte Beweis ist immer meine Faust! F RANZ (lächelt) Zuguterletzt. (Stille) H ALEF (kommt) Hauptmann! H AUPTMANN Raus! Raus sage ich! H ALEF Quassel nicht, Herr General! Wir sind nämlich umzingelt. H AUPTMANN Umzingelt? Wer? Wir? H ALEF (nähert sich ihm; unterdrückt) Wir. Glotz nicht. H AUPTMANN Wer hat uns umzingelt? H ALEF Die anderen. Sie sind in der Nacht gekommen, jetzt wird es Tag droben, da hat sie der Posten entdeckt. Sie haben Artillerie aufgefahren. Um das ganze Fort. H AUPTMANN Was sind das für Soldaten? H ALEF Reguläre. H AUPTMANN Reguläre?

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H ALEF Sie haben einen Parlamentär gesandt mit der weissen Fahne als hätten wir Krieg. Es stinkt, Herr General. H AUPTMANN (stürzt hinaus.) 5

VII. Freies Feld. 10

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D ER B UNDESSEKRETAER und zwei reguläre S OLDATEN mit weisser Fahne warten auf den H AUPTMANN . Der Morgen graut. -- Der H AUPTMANN kommt mit H ALEF , hält ohne zu grüssen und fixiert den B UNDESSEKRETAER. 얍 D ER B UNDESSEKRETAER (verbeugt sich leicht) Hauptmann. Im Auftrage der massgebenden Stelle habe ich Ihnen den Beschluss zu überbringen betreffs Ihrer zukünftigen Verwendung, wenn ich mich so ausdrücken darf. Ihre sogenannte Armee wurde seinerzeit aufgestellt erstens als Grenzschutz, da ein etwaiger Einbruch irregulärer feindlicher Formationen befürchtet werden musste, zweitens als eine Art Notpolizei, die die Aufgabe hatte, auf dem Lande versteckte Waffen zu sammeln oder im Falle eines bolschewistischen Aufstandes neben dem regulären Militär als Selbstschutz eingesetzt zu werden. Da sich aber nun die innerpolitische Lage überraschenderweise derart konsolidiert hat, dass zur Niederschlagung einer kaum zu erwartenden Linksrevolution die vorhandenen regulären Machtmittel des Staates vollständig ausreichen, andererseits die aussenpolitische Lage -H AUPTMANN (unterbricht ihn) Das ist gelogen. Jedes Wort. Es ist eine Schande! Meine Soldaten sind keine Polizei, keine Nachtwächter, das ist die Armee der nationalen Revolution! Wir haben uns gefunden, nicht um diesen Staat zu schützen, sondern um diese Republik zu zertreten, wir kämpfen für die nationale Diktatur und nicht für die internationale Schweinedemokratie! D ER B UNDESSEKRETAER -- andererseits die aussen-얍politische Lage die Möglichkeit, wenn auch nicht einer Versöhnung, so doch der wirtschaftlichen Annäherung der Nationen erhoffen lässt. Wir Deutsche müssen trotz aller Demütigungen diesen Weg betreten aus nationalem Interesse, um die bürgerliche Wirtschaftsordnung zu festigen. Die massgebende Stelle musste sich also entschliessen -- dieser Entschluss fiel ihr nicht leicht -- die sofortige Auflösung Ihrer, ich wiederhole: sogenannten Armee zu befehlen. Die massgebende Stelle wird ihr Möglichstes tun betreffs Unterbringung Ihrer Leute in einen bürgerlichen Beruf. H AUPTMANN Danke. B N (Stille) B N B H AUPTMANN N Das habe ich eigentlich erwartet, dass ich wieder verraten werde. Wir verzichten auf den bürgerlichen Beruf, dazu muss man geboren sein. Ich denke nicht daran, Verbrechern an deutschen Gedanken, und nennen sie sich auch massgebende Stelle, zu gehorchen! Sagen Sie es ihr, dass ich auf die Festigung der bürgerlichen Wirtschaftsordnung pfeife, dass ich an keine Versöhnung glaube und dass ich kämpfen werde, bis Deutschland wieder gefürchtet wird! 38 39 40

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D ER B UNDESSEKRETAER Ich mache Sie aufmerksam: Falls Sie sich nicht freiwillig auflösen , so haben wir die Gewalt, es zu erzwingen. Unter allen Umständen, mit allen Mitteln! Das Wohl des deutschen Volkes kommt vor Ihrem Landsknechtehrgeiz! Sie sind umzin-얍gelt und -H AUPTMANN (unterbricht ihn) Mit Artillerie! Ich weiche nicht! Sie sind in der Nacht herangeschlichen und wollen mich fangen, ich breche am hellichten Tage durch und trage die Fahne bis Berlin! D ER B UNDESSEKRETAER Ich bitte Sie, nicht zu deklamieren. Ergeben Sie sich, oder Sie tragen die volle Verantwortung für ein völlig sinnloses Blutvergiessen. Es ist deutsches Blut. H AUPTMANN Sie sind kein deutsches Blut! Sie beugen sich vor Schwarzrotdreck! Ich beuge mich nicht! Lieber deutsches Blut vergiessen, als die nationale Wiedergeburt vernichten! Ich fürchte mich nicht! D ER B UNDESSEKRETAER Ich mache Sie aufmerksam, dass die Inflation anfängt aufzuhören. Ergeben Sie sich -H AUPTMANN (unterbricht ihn) Nein! D ER B UNDESSEKRETAER Falls Sie sich fügen, so kann ich Ihnen inoffiziell erklären, dass ich für meine Person alles daransetzen werde, Sie vor Strafe zu bewahren. Sie verstehen mich? H AUPTMANN Strafe? Strafe? Wofür? Dass ich mich nicht verraten lasse?! D ER B UNDESSEKRETAER Sie sind ein Mensch, dem man ab und zu seine Lage klar machen muss -H AUPTMANN (unterbricht ihn) Ich verzichte! Ich sehe klar! Ich kenne Freund und Feind! (Stille) D ER B UNDESSEKRETAER Ich gebe Ihnen Bedenkzeit. H AUPTMANN Unnötig! 얍 D ER B UNDESSEKRETAER Sollten Sie nicht die weisse Fahne hissen, so eröffnen wir, so weh es uns auch tut und so gerne wir es vermeiden möchten, das Feuer. Die Verantwortung tragen Sie, dass wir für das deutsche Vaterland gezwungen sind, auf deutsche Männer zu schiessen. H AUPTMANN Ich übernehme die Verantwortung. D ER B UNDESSEKRETAER Sie werden sie tragen. (Ab mit den beiden regulären Soldaten) (Pause. Morgenwind) H AUPTMANN Diese Hunde! Diese Hunde! Die gemeinsten Verräter sitzen hinter den eigenen Kulissen! -- Hast Du gehört, dass sich die massgebende Stelle versöhnen will? H ALEF Ja, das hab ich auch gehört. H AUPTMANN Lauter Hunde! Glaubst denn Du an den Frieden? H ALEF Ich weiss nichts. H AUPTMANN Es hat keinen Frieden zu geben, Halef! Jetzt fangen wir an zu existieren! Wir! -- Lauf zu Salm, er soll sofort mit den Seinen -H ALEF (unterbricht ihn) Salm ist samt seiner Puppe und Herrn Rübezahl verschwunden, als es bekannt wurde, dass wir umzingelt sind. Fort. Ausgerückt. B

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H AUPTMANN Ausgerückt? H ALEF Hast Du das gehört, was dieser Bonze sagte, das mit der Strafe? H AUPTMANN Hast Du Angst? H ALEF Ja. Ich hab Angst. H AUPTMANN So verschwind, feiges Vieh! H ALEF Zu Befehl! Ich lös mich selbst auf. 얍 Das würde ich an Deiner Stelle auch tun. (Ab) H AUPTMANN Halt das Maul! Noch bin ich nicht verreckt! Erst wenn mich die Würmer fressen, dann löse ich mich auf! Ich bin noch ich! S OLDATEN DER SOGENANNTEN A RMEE (erscheinen.) H AUPTMANN Soldaten! Die nationale Armee marschiert, trotz aller feilen Huren der Politik, die den lieben, der sie verachtet! Die regulären Regimenter knieen vor Schwarzrotdreck -- die eigenen Bundesbrüder haben uns umzingelt und drohen, uns in wenigen Minuten niederzuschiessen, wenn wir nicht reuig um Gnade betteln. Wer sich ergibt, ist kein Soldat! Man will uns vernichten! Sie winseln um Frieden beim Feind und wollen uns für immer verbieten! Sie wollen es nicht, dass wir existieren, sie erdolchen uns zum zweiten Male, sie schämen sich der nationalen Revolution! E IN S OLDAT (tritt vor) Hauptmann! Ich bin Soldat. Ich kämpfe gegen den Feind. Ich hasse diese Republik, aber ich schiesse nicht sinnlos auf deutsche Soldaten. H AUPTMANN Das sind keine Soldaten, das sind Halunken! D ER S OLDAT Das sind Deutsche wie wir. H AUPTMANN Wenn das noch Deutsche sind, dann ist jeder Rote ein Deutscher! E IN Z WEITER S OLDAT Ist er auch! Ist er auch! (Stille) H AUPTMANN Wer war das? 얍 D ER ZWEITE S OLDAT (tritt vor) Ich. H AUPTMANN Du, Du Hund. Du Hund! (Er schlägt ihm vor die Brust, dass er zurücktaumelt) (In der Ferne fällt ein Kanonenschuss.) E IN D RITTER S OLDAT (tritt vor den H AUPTMANN und drängt ihn langsam zurück) Hauptmann! Ich ergebe mich. Ich mag nicht mehr. Ich war vier Jahr im Feld, der Krieg ist aus. Aus! Verstanden? Sie haben mich zu Dir gezwungen, Deine Herren Barone, sonst hätten sie meine Familie vernichtet, die feinen Herren Gutsbesitzer! Ich scheiss auf Deine nationale Revolution! Jetzt ist Schluss mit dem Krieg! Ich geh nicht mehr unter die Erde, ich bin bei lebendigem Leibe verschimmelt! H AUPTMANN (zieht den Revolver) Zurück! Das ist Verrat vor dem Feind! Meuterei! D ER DRITTE S OLDAT (schlägt ihm den Revolver aus der Hand und gibt ihm eine gewaltige Ohrfeige) Da hast Du Verrat! Da hast Du Meuterei! H AUPTMANN (brüllt) Wache! Wache! D ER DRITTE S OLDAT (ohrfeigt ihn) Da hast Du Wache! Da hast Du Wache! (Kanonenschuss) D ER ZWEITE S OLDAT Wir fallen nicht für Dich! D ER ERSTE S OLDAT Auf dem Felde Deiner privaten Ehre! B

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D ER DRITTE S OLDAT Auf keinem Felde Eurer sogenannten Ehre! Kameraden! Die weisse Fahne! Die weisse Fahne! (Kanonenschuss) S OLDATEN (fliehend ab) 얍 H AUPTMANN (allein) S LADEK (kommt) Hauptmann. Sie haben die Gefangenen befreit. Ich glaub, es ist Meuterei. Sie haben mich geohrfeigt, besonders der eine. Sie sagen, man schiesst -- Hauptmann! Du bist voll Blut. H AUPTMANN (lächelt böse) So? S LADEK (blickt empor) Was surrt da? Wie das surrt -(in der Nähe schlägt eine Granate ein.) H AUPTMANN Sie zielen hierher! Sie müssen mich treffen! Marsch, Sladek! Das gilt nur mir! Nur mir! S LADEK Mir auch. H AUPTMANN Nur mir! Nur mir! Wo bist denn Du?! Wer seid denn Ihr?! Nichts! Nichts! Marsch, Sladek! Marsch! S LADEK Ich hab keine Angst. In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. Es surrt. H AUPTMANN Sie beschiessen mich mit Artillerie! S LADEK (deutet auf das Fort) Hauptmann! Die weisse Fahne! R EGULAERE S OLDATEN (erscheinen rings auf den Hügeln) H AUPTMANN (lacht die S OLDATEN aus) S LADEK (hebt die Hände hoch: Ergibt sich.) B

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D R I T T E R A K T. VIII.

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Die Justiz der Wiedererstarkung. Der U NTERSUCHUNGSRICHTER verhört den verhafteten F RANZ . 35

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F RANZ Ich protestiere gegen meine Verhaftung. D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER (dieselbe Person wie der Bundessekretär) Sie geben zu, diesen Artikel verfasst zu haben? F RANZ Ja. D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Sie behaupten in diesem Artikel, dass eine massgebende Stelle der deutschen Republik entgegen unseren aussenpolitischen Verpflichtungen heimlich Soldaten geworben und ausgebildet hat, die unter dem Kommando eines ehemaligen Hauptmanns eine sogenannte schwarze Armee gebildet haben. Sie schreiben fernerhin, dass diese Truppen zum Schutze ihrer Existenz Selbstjustiz übten -- Sie reden von Feme. Sie wagen die ungeheuerliche Be10 10 20

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hauptung, dass aus Angst vor Enthüllung Menschen zu Tode gemartert wurden und nicht nur verratsverdächtige, sondern auch vollkommen Unschuldige. Sie „enthüllen“, dass der Hauptmann 얍 zuguterletzt der Gefangene seiner eigenen Feme wurde, die aus moralisch und geistig minderwertigen Subjekten bestand, die zuguterletzt also die wahre Befehlsgewalt hatten. Sie berühren hier auch ein Verbrechen, einen nachgewiesenermassen ganz gewöhnlichen Mord, nämlich den Fall Sladek. Leider konnte dieser Sladek noch immer nicht verhaftet werden. F RANZ Leider. Sonst würde er es Ihnen selbst erzählen, dass das kein „gewöhnlicher“ Mord war, sondern eine sogenannte Hinrichtung im sogenannten Interesse des sogenannten Vaterlandes. Er hat es mir selbst erzählt, als ich mich in der Gewalt der Feme befand, die mich totgeprügelt hätte, wäre die ganze schwarze Armee nicht von der massgebenden Stelle aufgelöst worden. D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Ich warne Sie in Ihrem eigenen Interesse. F RANZ Danke. D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Sie ziehen in Ihrem Schrieb den Schluss, dass die massgebende Stelle offenbar den Bankrott ihrer innerpolitischen Pläne erkannte und deshalb die sogenannte schwarze Armee zwang, sich aufzulösen. Sie erzählen hier ein Märchen von einer Schlacht mit Artillerie. F RANZ Das ist kein Märchen. D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Es gab keine Schlacht mit Artillerie, es gab lediglich den lächerlichen Putschver-얍such einer winzigen Gruppe Ultrarechtsradikaler, eine Wahnsinnstat nationalkommunistischer Haufen! F RANZ Das ist nicht wahr. Das war die Armee der sogenannten nationalen Revolution! Das waren die Söldner der Reaktion, die unter der Maske der nationalen Diktatur die Entrechtung und Versklavung des eigenen Volkes erstrebten! D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Das ist krankhaft. F RANZ Die schwarze Armee sollte die Republik stürzen, das heisst: die Plattform zur Schaffung des wahren Volksstaates mit Artillerie zertrümmern. D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Es gab keine schwarze Armee! F RANZ Ich selbst sollte totgeprügelt werden, weil ich der Republik dienen wollte! Ist es nicht grotesk, dass mich nun die Justiz dieser Republik, für deren Leben ich fast fiel, verurteilen will, weil ich sie vor ihren falschen Freunden warne? D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Nein, das ist nicht grotesk. F RANZ Dass Sie das als gerecht empfinden, darüber bin ich mir klar. D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Sie sind verhaftet wegen eines Verbrechens des versuchten Landesverrates. Des „versuchten“, merken Sie sich das! Ich warne Sie. -Ein jeder Deutsche hat die Pflicht, auch entgegen Gesetz gewordenen, uns aufgezwungenen aussenpolitischen Verpflichtungen zu wissen, was dem Deutschen Reiche schadet; zeigt er dafür 얍 kein Gefühl, so ist er entweder ein gemeingefährlicher Phantast oder ein Feind des Landes. Des Staates Wohl gebietet, ihn vom Fleck weg zu verhaften. F RANZ Das Wohl des wahren Staates ist das Wohl des Volkes. Der alte Staat sorgte allein für das Wohl seiner herrschenden Schicht -- und ist zusammengebrochen. Noch herrscht die alte Schicht über dem Schutt. Sie will eine Ruine renovieren und sie mit Kanonen und Paragraphen befestigen. Das Volk schreitet aber über Schutt und baut sich sein Haus, trotz allem! Ein einfaches Haus, ohne Fassaden aus „grosser Zeit“. D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Sie sind Pazifist?

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F RANZ Ich wäre glücklich, wenn wir ein internationales Strafgesetzbuch hätten, das die Macht besässe, den Krieg zu sühnen genau wie den Mord. Dass es trotzdem Kriege geben wird, nehme ich als unerbittliche Tatsache, aber nicht als Ausrede. D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Wir haben leider keine Wehrmacht mehr. Leider. Si vis pacem, para bellum, sagt der Lateiner. Können Sie lateinisch? F RANZ Nein. D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Das heisst: Wenn Du Frieden willst, rüste Dich zum Krieg. F RANZ (lächelt) Das habe ich verstanden, obwohl ich nicht lateinisch kann. (Stille) D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER (räuspert sich) 얍 Ihr Artikel kann uns Wehrlosen nur schaden. Das ist Wasser auf die Mühle der gehässigsten feindlichen Propaganda. Das ist Verrat, denn Sie hindern des Deutschen Reiches Wiedererstarkung, indem das Ausland kraft solcher Artikel an unserem aufrechten Verständigungswillen zweifelt. F RANZ Wer meuchelte die aufrechten Versöhnungsfreunde? Aus innenpolitischen Gründen verschlechterten jene Verbrecher gewissenlos die verzweifelte Lage des Volkes! Mein Artikel kämpft für den ehrlichen Frieden gegen lichtscheue Machenschaften -D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER (unterbricht ihn) Es gab keine schwarze Armee! Alle Ihre Behauptungen sind glatte Fälschungen! F RANZ Ich selbst sollte ja ermordet werden! Ich werde alles beweisen! D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Ich warne Sie, wie gesagt: in Ihrem eigensten Interesse. Sie sind eines Verbrechens des versuchten Landesverrates angeklagt, beweisen Sie mir aber, dass es tatsächlich eine schwarze Armee gab, so sind Sie eines Verbrechens des vollendeten Landesverrates überführt und kommen kaum unter zwei Jahren Zuchthaus davon. F RANZ Ich kann also nur verurteilt werden? D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Nur. So oder so. F RANZ Es gibt also keine Verteidigung? D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Keine für Landesverräter. (Stille) D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Sie sind doch 얍 Pazifist? Oder Kommunist? F RANZ Es hat mir einmal einer gesagt, ich hätte einen Denkfehler, -- das habe ich mir schon vorher gestanden, nur habe ich falsche Konsequenzen gezogen. Wissen Sie, was meinen Pazifismus betrifft, so ist das richtig, dass meine Ehrfurcht vor der einzelnen Kreatur übertrieben ist, trotz all dem Elend, das ich sah. Der Glaube an die Unantastbarkeit jedes lebendigen Wesens führt in die Labyrinthe des Betruges. Es gibt nämlich Kreaturen, verfassungsmässig organisierte Kreaturen, die moralisch derart verkommen sind, dass es selbst der liebe Gott aufgegeben hat, sie bessern zu wollen. Selbst er hat im Tempel sofort zur Knute gegriffen, ohne auch nur ein Wort für ihr Seelenheil zu verschwenden. Die kann nämlich selbst der liebe Gott persönlich nicht bekehren, -- sie gehören aus dem Tempel der Menschheit wie räudige Hunde mit Fusstritten verjagt, sie, die das Heiligste verhandeln, sie gehören vernichtet, die zu verludert sind, um es sich auch nur vor-

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stellen zu können, dass es auch anderes gibt. -- Der Hauptmann hatte recht, obwohl er es gar nicht ahnte: Das „zuguterletzt“ geht uns nichts an. D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Sie sind also Terrorist? F RANZ Ich muss. D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Sie bekämpfen also 얍 den Staat an sich? F RANZ Ihren Staat. D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Es gibt nur einen Staat, Sie, und der wird sich zu schützen wissen! Auch der Wurm krümmt sich, wenn er getreten wird.

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IX. Nordseehafen. 15

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S LADEK spricht mit zwei M ATROSEN auf einem stillen Kai. Es wird bald abend. E RSTER M ATROSE Wie? Was? Du willst um das Kap der guten Hoffnung herum nach Südamerika? S LADEK Ich denk. E RSTER M ATROSE Um das Kap der guten Hoffnung? S LADEK Nach Nicaragua . Z WEITER M ATROSE In Südamerika? E RSTER M ATROSE Mittelamerika, Kamel! Mittelamerika! S LADEK So? Möglich. Z WEITER M ATROSE Wen hast Du denn in Nicaragua , Du Neger? Erbtante? Erbonkel? S LADEK Niemand. Ich fahr auch anderswohin. Nur möglichst bald, bitte. Hier ist es nicht schön. Ich hörte von Nicaragua -- da dacht ich: Dorthin, der Name war mir so sympathisch, er ist so sehr fremd, so ganz anders, wie hier. Hier ist es doch wirklich nicht schön. Zum Beispiel: Immer 얍 nur Nebel. Ich möcht mal ganz anderswohin. Das ist alles. E RSTER M ATROSE Wer bist denn Du? S LADEK Ich? Z WEITER M ATROSE Du! S LADEK Warum? E RSTER M ATROSE Darum. Ich glaub, wir kennen uns. Bist Du denn nicht der Kerl, der bei der Frau, der Witwe -- die alte Schraube hatte sich in ihren Aftermieter verknallt, aber plötzlich fiel es auf, dass ihr Fräulein Tochter trächtig war -- ich hab diesen Herrn Aftermieter nur mal flüchtig gesehen, Du siehst so aus, als ob -- Das war in Triest. S LADEK Nein, das ist ein sogenannter Irrtum. Ich war noch nie in Triest, ich hab ja nur gefragt, ob Ihr mich mitnehmen wollt als irgendetwas, wie eine Kiste, Ihr seid doch Matrosen. Ich kann auch etwas kochen, ich wollt nämlich eigentlich Kellner werden, aber ich trag auch Kohlen, wenn es sein muss. Nur fort. B

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Z WEITER M ATROSE Du hast was ausgefressen? S LADEK Was? Wieso? E RSTER M ATROSE Was würd man uns für Dich zahlen? S LADEK Für mich? Wer? E RSTER M ATROSE Der Staatsanwalt. (Stille) S LADEK Ich hab doch nichts getan, obwohl auch Belohnungen auf die Ergreifung unschuldiger Verbrecher ausgesetzt werden, oft, ich bin keiner. Es werden, glaub ich, sehr viele verfolgt, 얍 schuldig und unschuldig, da kann man nichts machen, das lässt sich nicht anders organisieren. Dass ich aus Europa will, das hat einen sogenannten bevölkerungspolitischen Grund. Es ist nämlich zu eng hier -- ich hab zum Beispiel immer das Gefühl, man müsst ein Fenster aufmachen, damit frische Luft herein kann, es ist zu dumpf hier. (In der Ferne ertönt die Internationale.) E RSTER M ATROSE Hörst Du? Z WEITER M ATROSE Ja. S LADEK Nehmt mich mit, bitte. Nach Nicaragua . Z WEITER M ATROSE Wir fahren nicht nach Nicaragua . Wir fahren überhaupt nicht. S LADEK Ihr seid doch Matrosen. E RSTER M ATROSE Rindvieh. S LADEK Wieso? E RSTER M ATROSE Wir warten doch genau wie Du, dass sich manches ändert. Wir würden nach Nicaragua rudern, sogar um Dein Kap der guten Hoffnung herum, Elefant, aber heut trifft auf hundert Matrosen ein Kahn. S LADEK Ihr habt also auch nichts zu tun? E RSTER M ATROSE Weil wir faul sind, hat neulich ein Professor gesagt. S LADEK Da hat er sich geirrt, wir sind nämlich nicht faul, wir sind zuviel, auch wenn wir faul wären. Das war eigentlich mein erster wirklicher Gedanke auf der Welt. Wenn wir zwanzig Millionen weniger wären, das wär fein. E RSTER M ATROSE Wir sind nur um zehntausend zu-얍viel, aber diese zehntausend wiegen zwanzig Millionen. (Tumult in der Ferne.) S LADEK Man schreit. Z WEITER M ATROSE Das hat doch alles keinen Sinn. E RSTER M ATROSE Sondern? Z WEITER M ATROSE Sie werden mit Schupo und Sipo die Strassen säubern, und wer weitergeht, wird wieder erschossen, aber sie werden ihn nicht amnestieren. S LADEK Wen? E RSTER M ATROSE Das weisst Du nicht? S LADEK Vielleicht. Z WEITER M ATROSE Sie haben ihn zu Zuchthaus verurteilt, weil er es bewiesen hat, dass es eine schwarze Armee gab, die uns über den Haufen schiessen wollte, wie tolle Hunde. E RSTER M ATROSE Sie nennen das Landesverrat. Ueberall. B

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Z WEITER M ATROSE Ich hab den mal reden gehört, vor zwei Jahren. Er ist ein braver Mann. E RSTER M ATROSE Er war in den ewigen Frieden verliebt, heut wird er wohl bekehrt sein! Er hat gegen Moskau geschwätzt, gegen die Tat, er wollt die Republik mit der Gösch gesundbeten. Z WEITER M ATROSE Er ist ein braver Kerl. (In der Ferne fällt ein Schuss; Kreischen; Musik bricht ab.) E RSTER M ATROSE Das deutsche Volk einig in seinen Stämmen und gewillt den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern, gibt sich den Artikel 48. 얍 (Rasch ab) S LADEK (zum ZWEITEN M ATROSEN , der dem ERSTEN folgen will) Halt! Kennst Du eigentlich die Reichsverfassung? Z WEITER M ATROSE Und ob! S LADEK Ich möcht sie gern mal lesen. Ich bin nämlich in der letzten Zeit etwas von der Gewalt abgekommen, es ist ja schon richtig, dass alles Gewalt ist, aber trotzdem möcht man mal sozusagen ruhig sein können, nicht? Z WEITER M ATROSE Nein! Noch lange nicht, Du Schleimer! Noch lange nicht! (Ab) S LADEK (allein) Das hab ich auch schon gehört. Ich hab Hunger. (Stille) S LADEK Ob sie einen erschossen haben, zuvor? Wahrscheinlich. Jetzt ist wieder alles vorbei, das Meer ist auch still und gross und tief. Sozusagen majestätisch. Ich dacht mir das Meer eigentlich grün, es ist nämlich grau. Auch so einen Hafen hab ich mir anders gedacht, sozusagen romantischer, aber es ist doch nicht so dreckig. Was ist eigentlich besser: Verhungern oder verdursten? In der Wüste waren mal Reisende, die haben nirgends Wasser gefunden, und haben ihr eigenes Blut gesoffen, bis nichts mehr drinnen war -- man müsst ein Kamel sein, dann hielt man es länger aus. Und dabei gibt es auf der Welt mehr Wasser als Land. Das ist falsch. Es müsst mehr Land geben, das wär gerechter, wir sind nämlich wirklich zuviel. Was ist denn jetzt nur die 얍 Hauptstadt von Nicaragua ? (Stille) S LADEK Nicaragua ist sicher schön. Dort gibt es keinen Winter, nur Palmen, und es wächst alles von allein. Man kann so ohne weiteres satt sein. Ich möcht mich dort unter einen Baum legen und kein Haus mehr sehen, und dann müsst ein Bächlein so dahinfliessen, und dann würd ich sagen: Das gibt es auch. (Stille) S LADEK Der Dampfer. Der grosse Dampfer. Vier Stock hoch oder wahrscheinlich noch höher. Und ganz beleuchtet, von oben bis unten, der fährt bald fort und lässt so manchen zurück, der Dampfer. Dort gibt es sicher belegte Brötchen und berühmte Weiber und auch Gesellschaftsspiele. Allerhand. Und diese Dreckweiber

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sind so fein herausgeputzt, die lecken sich den ganzen Tag die Glasur, meistens Amerikanerinnen. Ob der Dampfer nicht doch vielleicht untergeht? Ja, Sladek, wenn Du als einzelner draussen stirbst, dann wirst Du in das Meer geworfen mit einem Kranz, das ist ja bekannt. Und was es da drunten für Fische gibt, grosse und kleine, das ist alles bekannt. Man sollte so durch das Meer durchschaun können, so bis fünftausend Meter, das wär eine Erfindung! Und erst: Wenn man so die Erde durchschaun könnt! Ich glaub nicht daran, dass die Erde eine Kugel ist, ich denk, sie ist flach, aber man sagt halt das Gegenteil, das plappert einer dem anderen nach. 얍 Das ist ja keine Kugel, das ist doch unmöglich. (Er starrt in das Wasser. Es dämmert.) K NORKE und H ALEF (kommen) S LADEK (bemerkt sie nicht) H ALEF (unterdrückt) Du schwörst, dass er kommt? Ich wette, dass wir umsonst warten. Der bringt es doch fertig, sich freiwillig zu stellen und feierlich alles zu unterschreiben, was dieser Schuft veröffentlicht hat. K NORKE Kaum. Der Hauptmann ist zwar eitel, aber zuguterletzt intelligent. Er hat mir sein Ehrenwort gegeben, dass er kommt. Ich habe den Pass besorgt und alles andere. Wir sind schändlich betrogen. Rein juristisch waren das nämlich korrekte Morde -- und der Herr Staatsanwalt wird wohl nicht umhin können anzuklagen. H ALEF Ich wette, er besteigt auch das Schafott aus Eitelkeit. K NORKE Wir sind alle vielleicht eitel, aber noch nicht verrückt. H ALEF Der Hauptmann ist ein Narr. K NORKE Alle grossen Männer waren Narren, lehrt die Geschichte. H ALEF Ein ehemaliger Unteroffizier denkt ein zweiter Alexander zu sein, weil er zum Offizier befördert worden ist. Ich hab es bald gemerkt, das ist kein grosser Mann, aber trotzdem ein Narr. Ein Trommler, kein General! K NORKE Salm ist bereits drüben. Sein Vetter ist Farmer. H ALEF Ist es wahr, dass der kleine Horst tot ist? 얍 K NORKE An Malaria. H ALEF Ich habe gehört, dass ihn der Rübezahl bei der Ueberfahrt über Bord geworfen hat. K NORKE Auch möglich. (Stille. Es ist Nacht geworden.) H ALEF Es wird allmählich Zeit. Ich wette, dass er nicht kommt. H AUPTMANN (kommt) S LADEK (erkennt den H AUPTMANN ) H AUPTMANN (sehr leise) Ich hätte fast mein Ehrenwort gebrochen. Es ist doch feig, sich so zu verkriechen, aber zuguterletzt kann keiner von mir verlangen, dass ich mich für gemeine Verräter sinnlos opfere, nicht? S LADEK Hauptmann! K NORKE Was ist das?! S LADEK Ich. K NORKE Was heisst das: „Ich“? S LADEK Ich. (Er nähert sich) Hauptmann, ich hab Dich gleich erkannt, obwohl es finster ist. (Er erkennt K NORKE und H ALEF ) Du, Ihr seid auch da! Ist das ein Zufall? Das ist aber sehr gut, da könnt Ihr mir nämlich helfen, sicher, ich muss nämlich B

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K1/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

fort, in eine andere Welt, ich hab zwar eigentlich nichts getan, aber selbst das, was ich getan haben soll, das hab ich ja alles für ein Vaterland getan, wofür ich verfolgt werd wie ein gemeiner Verbrecher, derweil war doch das alles ideal -- Was, was habt Ihr denn? K NORKE Was hast denn Du? S LADEK Ich? -- Halt! Ich bin doch der Sladek, 얍 Kameraden! K NORKE Ich bin nicht Dein Kamerad! H AUPTMANN Ich kenne Dich. K NORKE Himmel, halt das Maul, Du kennst ihn nicht, was soll denn das?! H AUPTMANN Ich kenne Dich. Du bist der feige Hund, der als erster nach der weissen Fahne schrie, ich werde diese Fresse nie vergessen! S LADEK Das ist ein Irrtum! H AUPTMANN Du bist der! Diese Fresse, diese Fresse -K NORKE Nein, das ist nicht der! S LADEK Ich bin ein anderer. H AUPTMANN (versetzt ihm einen Tritt) Da hast Du den anderen! Da hast Du den anderen! S LADEK (krümmt sich) Au – K NORKE Einer wie der andere! Ist der das wert, dass Du hängst?! H ALEF Da kommt schon wer! K NORKE Fort! Wir kennen keinen Sladek! (Rasch ab mit H AUPTMANN und H ALEF .) S LADEK (allein) Wir kennen keinen Sladek. Wir kennen keinen Sladek. -- Wenn einer das Talent hat, verwechselt zu werden, so ist das schlimm. Es erinnert sich keiner an ihn, in diesem Fall an den Sladek. Alles an ihm wird radikal vergessen, draussen und drinnen, als wär einfach nichts da, es kommt ja auch nicht auf so einen einzelnen Sladek an, trotzdem --. Nein, es hat keinen Sinn mehr zu denken, ich wollt, ich könnt bis Nicaragua schwimmen. Warum bin ich kein Fisch? (Stille) S LADEK Ob die Fische die 얍 Sternlein sehen? Ich hab mal gehört, dass jeder einzelne mit den Sternlein zusammenhängt, das ist freilich Mist, aber unter welchem Sternlein könnt ich geboren sein? Man sollt das ausrechnen können und ein Kind nur dann auf die Welt lassen, wenn grad ein guter Stern droben ist. Einmal hat mir die alte Kartlerin gesagt, 1922 wird Polen vernichtet, Frankreich halb vernichtet, Paris ganz, England im Meer versinken und der Vesuv ausbrechen, ganz fürchterlich -- und Deutschland wird wieder Monarchie und der bayerische Rupprecht wird zum Deutschen Kaiser gekrönt, in Berlin. Das hätt schon voriges Jahr sein sollen, aber man kann nichts geben auf Prophezeiungen, obwohl es eine sogenannte Vorsehung sicher gibt. Es geht nämlich alles nach einem bestimmten Gesetz, das ist traurig. Ich hab mal gedacht, dass, wenn kein Gesetz wär, wär das ganze Leben sinnlos, aber es ist trotzdem sinnlos, das ist nämlich ein schlechtes Gesetz. E IN K RIMINALKOMMISSAR und ZWEI D ETEKTIVE (sind erschienen) D ER K OMMISSAR (dieselbe Person wie der Untersuchungsrichter) Im Namen des Gesetzes! Sladek, ich verhafte Sie! B

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SB Volksbühne 1928, S. 85

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NicaraguaN ] ] B N] BS LADEK N ] B

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korrigiert aus: Nikaragua Absatz eingefügt Absatz eingefügt eingefügt

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SB Volksbühne 1928, S. 86

Endfassung in drei Akten (elf Bildern)

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K1/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

S LADEK (mechanisch) Mich? D ER K OMMISSAR Sie! Leugnen Sie nicht, Sie sind der Sladek, wir wissen alles! Im Namen des Gesetzes verhafte ich Sie wegen Mord an der Witwe Schramm. 얍 S LADEK Also doch. E IN D ETEKTIV (fesselt ihn an sich) D ER K OMMISSAR Widerstand ist sinnlos. S LADEK Das weiss ich, meine Herren.

SB Volksbühne 1928, S. 87

X. Der Fall Sladek. Mit R ICHTER, S TAATS - und R ECHTSANWALT . Unter dem Gekreuzigten.

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R ICHTER (dieselbe Person wie der Kriminalkommissar) Ihr Name? S LADEK Sladek. R ICHTER Geboren? S LADEK Am 7. Juli 1902, in Hohenstein, das ist an der Grenze. R ICHTER Beruf? S LADEK Ich wollt Kellner werden. R ICHTER Und? S LADEK Ich bin keiner geworden. R ICHTER Sie haben sich von der ermordeten Witwe Schramm aushalten lassen? S LADEK Nein. R ICHTER Sondern? S LADEK Sie hat mir nichts geschenkt, das war nämlich ein richtiges Geschäft, das wir abgeschlossen haben, das war nur scheinbar, dass ich von ihr gelebt hab so ohne weiteres, ich hab ihr nämlich für das alles auch etwas gegeben. 얍 S TAATSANWALT Was denn? S LADEK Mich. (Man hört die Oeffentlichkeit lachen) R ICHTER Angeklagter. Ich warne Sie! S LADEK Warum? Wieso? R ICHTER Schweigen Sie! -- Angeklagter! Bekennen Sie sich schuldig? S LADEK Das ist sehr kompliziert. Da kann man sehr schwer was sagen, weil es zuviel zu sagen gäb. Es ist alles richtig, dass Anna und ich uns nicht so recht verstanden haben, wenigstens oft, dass es Streit gab, dass es sogar zu sogenannten Tätlichkeiten kam, des öfteren sogar, dass ich ihr auch mal aus dem Schrank was nahm und mit fremden Weibern zu Gartenunterhaltungen ging, das geb ich alles zu, denn ich hab die Gerechtigkeit lieb, aber deshalb fühl ich mich nicht schuldig. Wenn ich nämlich so nachdenk, so war das doch nur der Altersunterschied. Meine Herren! Als ich sie kennen lernte, war sie um fünfzehn Jahr jünger, als zuletzt, obwohl bis dahin nur vier Jahr vergangen sind, aber der Reiz war schon eigentlich nach zwei Jahr weg, der natürliche Reiz --. Meine Herren, das alles ist doch kein Problem, das ist nur traurig. R ECHTSANWALT Ich beantrage, den Angeklagten auf seinen Geisteszustand hin untersuchen zu lassen.

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SB Volksbühne 1928, S. 88

Endfassung in drei Akten (elf Bildern)

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Lesetext

S TAATSANWALT Ich beantrage, den Antrag der Verteidigung abzulehnen und den Angeklagten mit den schärfsten Mitteln 얍 zu zwingen, sich der Würde des Gerichtes entsprechend zu benehmen. S LADEK Wie? R ICHTER Angeklagter! Sie leugnen also, die Witwe Schramm ermordet zu haben? S LADEK Ich leugne es sogar sehr, ich hab noch nie jemand ermordet. R ICHTER Sie wiederholen also, dass dieser Mord ein sogenannter Fememord war, ein Akt verbrecherischer Selbstjustiz der sogenannten schwarzen Armee. Angeklagter, heute können wir laut über jene verworrene Zeit sprechen, wir sehen klar. Jene furchtbaren Tage der Inflation haben wir nun gottlob überwunden. Das deutsche Volk befindet sich im kraftvollen Wiederaufstieg, es hat Unglaubliches ertragen und Ungeheueres vollbracht. (Man hört die Oeffentlichkeit applaudieren.) S LADEK Ich kann trotz Wiederaufstieg undsoweiter nur sagen, dass ich sozusagen unschuldig bin. S TAATSANWALT „Sozusagen“! S LADEK Zuguterletzt. Ich hab immer darüber geredet, dass in der Natur eben gemordet wird und dass sich das nicht ändert, aber -- meine Herren, ich war sehr dagegen. Als ich hernach mit den vier Soldaten in jenem Auto nach dem Hauptquartier fuhr, da hat es schaurig geregnet in der Nacht, ich werd das nie vergessen. R ICHTER Die vier Soldaten sind verschollen. S LADEK Alle. Ich glaub, in Nicaragua . S TAATSANWALT Sie gestehen also, dass Sie in 얍 jener Nacht mit vier Soldaten in der Prinzenstrasse erschienen sind und dass diese vier Soldaten die Witwe Schramm ermordet haben? S LADEK Ja. S TAATSANWALT Was haben Sie sich denn dabei gedacht? S LADEK Ich? Zuerst: Dass man sie umbringen muss. S TAATSANWALT Danke. S LADEK Bitte. S TAATSANWALT Das genügt. S LADEK Nein, das genügt nicht, denn hernach war ich sehr dagegen, aber da war schon alles vorbei. Ich hab sogar „Halt!“ gerufen, denn ich hab an die Gerechtigkeit gedacht, und wegen diesem „Halt!“ hätten sie mich gar auch erschossen, wenn ich nicht gewusst hätt, dass sich nichts ändern lässt, -- ich hab aber plötzlich trotzdem „Halt!“ gerufen, es war nämlich nicht mehr nötig sie umzubringen, weil sie es sich überlegt hat. Sie hätte nichts verraten. Sicher. R ECHTSANWALT Was wollte sie denn verraten? S LADEK Die schwarze Armee. R ICHTER Ich mache Sie aufmerksam, dass es für das Schicksal des Angeklagten keine Bedeutung hat, den Komplex der sogenannten schwarzen Armee hier aufzurollen. Jene Männer waren alte Soldaten, die für des Vaterlandes Wohl zu kämpfen glaubten, verworrene fanatische Idealisten --. Aber in diesem Falle Sladek darf man wohl mit Recht bezweifeln, ob das alles so ideal -얍 S LADEK (unterbricht ihn) Oho! B

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K1/TS1 (Grundschicht)

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NicaraguaN ]

SB Volksbühne 1928, S. 89

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korrigiert aus: Nikaragua

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SB Volksbühne 1928, S. 90

SB Volksbühne 1928, S. 91

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Lesetext

R ICHTER Sie sind nicht gefragt! Mord bleibt Mord, und der Mörder ist in jedem Falle persönlich verantwortlich! S LADEK Aber ich dachte -R ICHTER (unterbricht ihn) Ruhe! Sie haben die Witwe Schramm ermorden wollen, das haben Sie gestanden! Jetzt reden Sie. S LADEK Was soll ich da reden, bitte? Ich hab immer selbständig gedacht und dann hab ich aber überall gehört, dass der Einzelne nichts zählt, dass er sich für das Ganze aufopfern muss, ob er nun will oder nicht -- das hab ich so lang gehört, bis ich es glaubte, es ist ja auch so, aber trotzdem ist da ein Fehler, nämlich der, dass ich hier nun als Einzelner für etwas, was ich als Teil tat, getan haben soll --. Ich hab nämlich mit all diesen Problemen gerungen. (Man hört die Oeffentlichkeit lachen) S LADEK Ich hab doch alles, was ich ja gar nicht tat, nur tun wollte, für das Vaterland getan, das war alles sozusagen ideal. Ich hätt sie nie umgebracht, wenn dies Vaterland nicht gewesen wär, ich hab mich ja zuguterletzt geopfert, aber das wird nirgends anerkannt. Ohne dieses Vaterland hätt es vielleicht zwischen mir und ihr nur einen Wortwechsel gegeben, höchstens, dass ich ihr eine heruntergehaut hätte, und dann wär das aus gewesen , wie jedes Liebesverhältnis. 얍 R ECHTSANWALT Der Angeklagte ist das Geschöpf einer kranken Zeit. Ein Mensch, der sich an unsere stolze Vergangenheit nicht erinnert, der in der grossen Zeit die Stimme wechselte und der anfing zu denken, als wir den Krieg verloren haben, das spricht Bände. Ohne Sinn für Moral negiert er alles allgemeinmenschlich-Gefühlsmässige und grübelt über lauter Selbstverständlichkeiten: Er beschäftigt sich nur mit sich selbst, aber ohne jede Kultur. Ich bitte um mildernde Umstände für ein Gespenst: Hier sitzt die Zeit der Inflation. S LADEK Ich bitte, mich als Menschen zu betrachten und nicht als Zeit. R ECHTSANWALT Ich bitte, den Angeklagten auf seinen Geisteszustand hin untersuchen zu lassen. R ICHTER Das Gericht beschliesst, Zeugen zu vernehmen. F RANZ (kommt) R ECHTSANWALT (schnellt empor) Ich protestiere gegen die Vereidigung dieses Zeugen! Ein wegen Landesverrat Verurteilter -F RANZ (unterbricht ihn) Und „Begnadigter“. Freilich sässe ich noch heute im Zuchthaus, gäbe es morgen keine Wahl! Der neudeutsche Staat -R ICHTER (unterbricht ihn) Keine Tiraden, bitte! S TAATSANWALT Der Zeuge nimmt es auf seinen Eid, dass ihm der Angeklagte Sladek gestanden hat, die Witwe Schramm ermordet zu haben. F RANZ Ja. S LADEK Nein. 얍 R ICHTER Schweigen Sie! S LADEK Ich hab noch nie jemand ermordet! F RANZ Ich selbst hätte ermordet werden sollen, diese Bestien! Wagst Du es denn zu leugnen, dass Du es mir selbst erzählt hast, wie jene Bedauernswerte im sogenannten Interesse des sogenannten Vaterlandes „hingerichtet“ wurde? B

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K1/TS1 (Grundschicht)

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S LADEK N ] aus gewesenN ] BLandesverratN] B B

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SB Volksbühne 1928, S. 92

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eingefügt korrigiert aus: ausgewesen korrigiert aus: Ladesverrat

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SB Volksbühne 1928, S. 93

Endfassung in drei Akten (elf Bildern)

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K1/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

S LADEK Das geb ich schon zu, aber ich hab Dir nie gesagt, dass ich sie umgebracht hab. F RANZ Er lügt! Er lügt. (Stille) S LADEK Ich weiss, dass Du nicht lügst. -- Also müssen wir uns missverstanden haben. F RANZ Ich habe Dich verstanden. S LADEK Nein, ich bin unverstanden. Hab ich Dir nicht zweimal gesagt, dass ich ein sogenannter zurückgezogener Mensch bin, und dass alles, was ich Dir so sag, nur für Dich persönlich ist? Du hast das vergessen. Ich hab über das alles nachgedacht, was Du dem Hauptmann gesagt hast --. Du hast mich sozusagen bekehrt: Zuguterletzt gibt es wirklich nur den Sladek. Und jetzt? Hier? In diesem Saal? F RANZ (fast gewollt spöttisch) Du hast mich sozusagen bekehrt, dass man keine Rücksicht nehmen soll auf den Sladek, weil sonst das Ganze nicht vorwärts kommt. Wie ich mich auch betrogen habe, es werden immer welche vernichtet. S LADEK Immer nur für das Ganze geopfert werden -- wo bleibt denn da der Sladek? F RANZ Ich lasse mich nicht mehr hindern, 얍 hörst Du? S LADEK Ja. F RANZ Du gehst mich nichts an. S LADEK Jetzt lügst Du. F RANZ Meinst Du? S LADEK Das ist nicht schön von Dir. R ICHTER Keine Privatgespräche! -- Angeklagter! Leugnen hat doch keinen Sinn. Denken Sie an Gott. S TAATSANWALT Gott kennt Sie, Sladek! S LADEK Mich kennt kein Gott. Meine Herren, was ist das: Gott? Ein alter Mann mit einem langen Bart. Was kennt der? Nichts kennt der, denn der lebt zu sehr weit droben, da sieht er auch nur das Ganze, das merkt man nämlich, denn wie es hier unten zuguterletzt zugeht --. Meine Herren! Mein Herr Verteidiger war so freundlich zu sagen, dass ich ein Gespenst sei -- vielleicht --, aber ich bitte zu berücksichtigen, dass ich wahrscheinlich ein sogenanntes ungeborenes Gespenst bin. Meine Herren! Vielleicht hol ich das alles nach und vergess das alles --. Nehmen wir nur mal an: Ich hätt jemand ermordet, so bitt ich Sie trotzdem: Lassen Sie mich los, vielleicht wird doch was daraus, ich glaub nämlich allmählich selbst, dass ich noch ein sogenanntes ungeborenes Gespenst bin. R ECHTSANWALT Ich beantrage, den Angeklagten auf seinen Geisteszustand hin untersuchen zu lassen. S LADEK Aber -S TAATSANWALT Ich beantrage lebenslängliches 얍 Zuchthaus und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte. S LADEK Wieso? B

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AlsoN ] soN ]

korrigiert aus: also korrigiert aus: si

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SB Volksbühne 1928, S. 94

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SB Volksbühne 1928, S. 95

Endfassung in drei Akten (elf Bildern)

K1/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

XI. Rummelplatz. 5

Mit Wachsfiguren, Karussell, Flohzirkus und Akrobaten. Die Sonne scheint. L OTTE , DAS M AEDCHEN Heuer wird der Sommer schön. Ich hoffe, dass der Nordpol jetzt endlich überflogen wird. E IN ANDERES M AEDCHEN In der Zeitung steht, dass in London sieben zu eins für gewettet wird. E IN DRITTES M AEDCHEN Lass doch die Zeitung! Wart Ihr schon bei dem Mann mit den Kamelbeinen und weiblichen Brüsten? Na so was! Da drüben ist übrigens der Zwerg, das ist auch ein Hermaphrodit -- und in dem Kabinett steht das Bett von Haarmann, dem bekannten Massenlustmörder. L OTTE Nein, nicht in die Schreckenskammer, da streik ich! Ich vertrag keine Wachsfiguren, dann schon lieber richtige Verbrecher! D AS M AEDCHEN MIT DER Z EITUNG Habt Ihr das gelesen, dass wieder einer ausgerissen ist, ein Mörder, der ist bloss zwei Jahre gesessen -- dann hat er einen Geldbriefträger überfallen, der hat ihm gleich alles gegeben, so, 얍 dass er jetzt fein heraussen ist. Das ist das Beste, nur gleich alles hingeben. L OTTE (blickt in die Zeitung) Sieht so weit ganz nett aus. D AS M AEDCHEN MIT DER Z EITUNG Das Profil ist gewöhnlich. Wer ihn fängt, kriegt tausend Mark. D AS DRITTE M AEDCHEN Ich würd ihn nie erkennen. L OTTE Es reissen zuviel aus. D AS M AEDCHEN MIT DER Z EITUNG Vor drei Tagen der Verrückte -- und sie haben ihn noch immer nicht, das ist doch gemeingefährlich. L OTTE Es ist alles so unwahrscheinlich. S LADEK (erscheint) D AS DRITTE M AEDCHEN (blickt in die Zeitung) Ja, die Hüte werden wieder breiter. Hoffentlich hält das Wetter, jetzt hat es jeden Sonntag geregnet. Ich hab keinen Mantel mit. L OTTE Es gibt schon keine Männer mehr. Man muss sich schon wirklich anstrengen als Frau. Nur gut, dass ich keine Jungfrau mehr bin. D AS M AEDCHEN MIT DER Z EITUNG Das Bett von diesem Haarmann möcht ich schon gern sehen. L OTTE So geht doch! Ich warte hier -- (Sie stösst zufällig an S LADEK an) Verzeihung! D AS DRITTE M AEDCHEN Wir sind gleich wieder da. (Ab mit dem anderen Mädchen.) L OTTE Ich warte. E INE H ANDLESERIN (zu S LADEK ) Wollen der Herr sich nicht aus der Hand lesen lassen? 얍 Vergangenheit und Zukunft. S LADEK Danke. D IE H ANDLESERIN Sehen Sie, das Fräulein interessiert sich schon für Ihre Zukunft -B

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BDAS BMIT BMIT BMIT BMIT

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M AEDCHEN N ] f Z EITUNG N ] f Z EITUNG N ] f Z EITUNG N ] f Z EITUNG N ]

SB Volksbühne 1928, S. 96

korrigiert aus: das Mädchen korrigiert aus: mit f Zeitung korrigiert aus: mit f Zeitung korrigiert aus: mit f Zeitung korrigiert aus: mit f Zeitung

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SB Volksbühne 1928, S. 97

Endfassung in drei Akten (elf Bildern)

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K1/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

L OTTE (schnippisch) Sogar sehr. D IE H ANDLESERIN Hören Sie? S LADEK Ja. Was kostet das mit der Zukunft? D IE H ANDLESERIN Nur zwanzig Pfennig. S LADEK Das geht. D IE H ANDLESERIN Also zeigen Sie. Hm -- die Vergangenheit -- So machen Sie doch keine Faust! S LADEK Nein, ich will nur die Zukunft. D IE H ANDLESERIN Ohne Vergangenheit? S LADEK Ja, ohne. D IE H ANDLESERIN Wie Sie wollen. S LADEK Ich will. D IE H ANDLESERIN Sie sind aus kultiviertem Hause -- Techniker, dabei aber stark künstlerisch veranlagt -- mehr Sinn für Architektur als für Gemälde -S LADEK Stimmt. D IE H ANDLESERIN Sie leben viel an der See, eigentlich ohne Sorgen, aber Sie leiden viel in der Phantasie -S LADEK Auch das. D IE H ANDLESERIN Das ist eben Ihre künstlerische Ader. -- Verschlossener Charakter, Achtung vor dem Weibe, Familiensinn. L OTTE (lächelt) S LADEK (wird verlegen) D IE H ANDLESERIN Und die Zukunft --: Sie fahren bald fort, das steht ganz deutlich da. Sehr weit sogar, über das Meer --. Sehr reich werden Sie zwar kaum, denn dazu sind Sie zu fein, zu wenig brutal -- aber Sie werden auch fernerhin 얍 gut leben und ungefähr achtzig Jahr alt werden. S LADEK Das wär schön. L OTTE Na klar. D IE H ANDLESERIN Zwanzig Pfennig, bitte. S LADEK (zahlt und fixiert schüchtern L OTTE ) Das wär auch schön. Das wär sogar sehr schön, wenn --. Verzeihen Sie, wenn Sie mit mir -- Sie fahren doch auch gern Karussell? Das wär doch schön, Fräulein. L OTTE Das wär schon schön, aber ich muss auf meine Freundinnen warten, die kommen jeden Augenblick. S LADEK Das ist nicht schön. Es wär nämlich wirklich sehr schön gewesen, wenn wir jetzt zum Beispiel Karussell gefahren wären, oder überhaupt: Es gibt hier ja so viel zum Sehen, aber so allein, da geht man nur immer an allem vorbei -- ich kenn nämlich keinen Menschen. L OTTE Sie sind hier fremd? S LADEK Sehr fremd. L OTTE Sind Sie nicht Engländer? S LADEK Stimmt. L OTTE In der Zeitung steht, dass in London sieben zu eins gewettet wird, dass es ihnen gelingen wird, den Nordpol zu überfliegen. S LADEK Was? Wem? L OTTE Na, den Nordpol! S LADEK Den Nordpol? L OTTE Na Sie wissen doch!

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SB Volksbühne 1928, S. 98

Endfassung in drei Akten (elf Bildern)

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FunkstationN ] vorgesternN ] BEinN ] BS LADEK N ] B N] BOHNE M ANTEL N ] BOHNE M ANTEL N ] B B

SB Volksbühne 1928, S. 99

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Lesetext

S LADEK Ueberfliegen? L OTTE Sie sind komisch. S LADEK Sehr komisch. Ja, freilich, ich hab 얍 nur jetzt länger keine Zeitung gelesen, ich war nämlich sozusagen unwohl, aber jetzt fällt mir wieder alles ein. Also überfliegen werden sie ihn, den Nordpol. L OTTE Ich hoffe es. S LADEK Ich auch. L OTTE So Sportsleute sind doch wirklich Helden. Sie setzen für den Fortschritt einfach ihr Leben aufs Spiel. Es sind ja auch zu ihrer Unterstützung alle Funkstationen bereit, ich kann an nichts anderes mehr denken. S LADEK Wissen Sie, es gibt so Sportsleute, die haben sich auch geopfert, zwar vielleicht nicht gerade für den Fortschritt, aber für sonst was, doch die hat keine einzige Funkstation unterstützt, ja, denen hat man es hernach gar nicht geglaubt, dass --. Verstehen Sie mich? L OTTE Nein. S LADEK Zum Beispiel im Krieg. Und besonders hernach -L OTTE Sie meinen den Weltkrieg? S LADEK Ja. L OTTE Da habe ich vorgestern einen fabelhaften Film gesehen vom Weltkrieg. Besonders die Regie war unerhört. Es war ein amerikanischer Film. S LADEK So. Ein amerikanischer. L OTTE Sind die besten. Durch so einen Film kann man sich den Krieg erst richtig vorstellen, besser als durch Bücher. Sehen Sie dort den Seiltänzer! Der ist auch fabelhaft! S LADEK So ein Seiltänzer ist auch ein schwie-얍riger Beruf. L OTTE Können Sie gut tanzen? S LADEK Kaum. (Schweigen) S LADEK Ich kann Verschiedenes. Ich hab eine Zeitlang immer gedacht, dass ich eigentlich nichts kann, aber dann bin ich immer darauf gekommen, dass man doch vielleicht kann. (Die Sonne verschwindet plötzlich.) L OTTE Himmel, das wird doch nicht regnen! S LADEK Möglich. D IE BEIDEN M AEDCHEN (kommen rasch zurück) D AS M AEDCHEN OHNE M ANTEL Siehst Du, dass es regnet! Nein, das ist entsetzlich! D AS ANDERE M AEDCHEN Das hört bald auf. D AS M AEDCHEN OHNE M ANTEL Nein, das regnet jetzt durch! Kleider, Schuhe -warum hab ich nur keinen Mantel mit?! L OTTE Wir könnten ins Kino. D AS ANDERE M AEDCHEN Zu dem amerikanischen Kriegsfilm? B

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K1/TS1 (Grundschicht)

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korrigiert aus: Funksttion korrigiert aus: vorgetsren korrigiert aus: ein eingefügt Absatz eingefügt korrigiert aus: ohne Mantel korrigiert aus: ohne Mantel

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SB Volksbühne 1928, S. 100

Endfassung in drei Akten (elf Bildern)

Lesetext

L OTTE Nein, der ist zwar fabelhaft, aber zweimal schau ich mir ihn nicht an. D AS ANDERE M AEDCHEN Freilich, das ist langweilig. D AS M AEDCHEN OHNE M ANTEL Jetzt regnets! Dass aber auch keine von uns einen Schirm hat! (Alle drei M AEDCHEN rasch ab) S LADEK (allein) Ich hab eigentlich noch nie einen Schirm gehabt. Und dieser Nordpol --. (Es regnet) E IN P OLIZIST (erscheint; es ist dieselbe Person wie der Richter) Halt! S LADEK (erstarrt) D ER P OLIZIST Ich muss Ihre Personalien fest-얍stellen. Sie wissen, weshalb. -- Sie wurden beobachtet. Sie haben zuvor Ihr Bedürfnis nicht in der Bedürfnisanstalt, sondern an der hinteren Wand des Flohzirkusses verrichtet. Warum? Das ist strengstens verboten. Sie haben den Flohzirkus verunreinigt. Ihr Name? S LADEK Was kostet das? D ER P OLIZIST Fünf Mark. Ihr Name? S LADEK Das ist ein sogenannter schwieriger Name, ein sehr langer, sozusagen ein ausländischer Name, ich bin nämlich gerade im Begriffe nach weit fort -(Schiffsirene) D ER P OLIZIST (unterdrückt) Halt! Ihren Pass. Ihre Papiere. S LADEK Hier -- aber das Schiff fährt in wenigen Minuten. D ER P OLIZIST Welches Schiff? S LADEK Ich kann das Wort nicht aussprechen. D ER P OLIZIST (blättert; stutzt) Wohin? S LADEK Nach Nicaragua . Ich hab keinen Fahrschein. Ich arbeit mit an der Ueberfahrt. (Stille) D ER P OLIZIST (blättert noch immer; sehr leise) Sie sind amnestiert. S LADEK Man hat unter mich einen Schlussstrich gezogen. Hoffentlich fehlt kein Stempel. Sagen Sie: Gibt es in Nicaragua einen deutschen Konsul? D ER P OLIZIST Natürlich. S LADEK Das ist sehr gut. (Stille) D ER P OLIZIST (gibt ihm die Papiere zurück) Es ist in Ordnung. 얍 S LADEK Ich will auch den Flohzirkus nicht mehr verunreinigen. D ER P OLIZIST (lässt ihn stehen) Das ist auch strengstens verboten. (Ab) S LADEK Es soll wirklich nicht mehr vorkommen -B

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K1/TS1 (Grundschicht)

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SB Volksbühne 1928, S. 101

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M ANTEL N ] ] BNicaraguaN ] B N] BP OLIZIST N ] BNicaraguaN ] BOHNE B N

korrigiert aus: ohne Mantel Absatz eingefügt korrigiert aus: Nikaragua Absatz eingefügt korrigiert aus: P OLOZIST korrigiert aus: Nikaragua

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SB Volksbühne 1928, S. 102

Prosaexposé



K1/TS2 (Grundschicht)

Lesetext

„Sladek oder die Schwarze Reichswehr“ Von Ödön von Horváth. B N

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Wer ist Sladek? – Geboren am 7. Juli 1902 an der böhmischen Grenze, gestorben in den Tagen der Wiedererstarkung nach der Inflation. Seinen Vater, einen Drogisten, hatte er kaum gekannt. Er liebte sein Grabkreuz aus kunstgewerblichen Gründen nicht. In der Familie Sladek hasste man sich um ein Stück Brot. Sladek wollte Kellner werden, ist aber keiner geworden, denn er lernte eine um fünfzehn Jahre ältere Frau kennen, eine Schneiderin, deren Mann als Soldat in Sibirien starb. Von ihr liess er sich aushalten, sie bewachte und beschützte ihn aus Eifersucht und Hörigkeit. 1918 stand Sladek bei Spartakus, 1920 bei Hitler. „Sladek ist,“ so schrieb mir Carl Mertens, „die dumpfe Kriegsjugend, die durch die Ereignisse frühreif wurde, ohne je in sich und mit sich fertig zu werden, dumpfes Brüten und Tasten, nicht schlecht, gutmütig und doch – vom Holze aus dem Mörderhelfer geschnitzt werden, Nachwuchs des kleinen Mittelstandes mit seinen Trancezuständen, das ist das Gros der vaterländischen Verbände, der Fortbildungsschulen und der Dilettantenbühnenvereine.“ Sladek ist also „Kriegsjugend“. Man kann diese Jugend in drei Gruppen teilen: die zahlenmässig kleine bewusst politisch Proletarische, die Grossbürgerliche mit dem Sexualzentrum und die Jugend einer sterbenden Kaste: des Mittelstandes. Sladek gehört zur letzteren. Er ist naturnotwendig Pessimist, liest nur Zeitungen, bildet sich ein, selbständig denken zu können und ist sehr stolz darauf. Sein Wahlspruch lautet: „In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht.“ Er gerät in die Kreise der Schwarzen Reichswehr und wird wegen eines Fememordes begnadigt. „Man hat unter mich einen Schlussstrich gezogen“, sagt er und – inzwischen betritt schon fast eine neue Generation den Plan, die den Krieg nur aus amerikanischen Filmen kennt und sich an die Inflation nur dunkel erinnert. Ich behandelte das historische Material nicht als Reportage, sondern ich versuchte auf dem Hintergrunde dieses Zeitbildes Stationen des ewigen Kampfes zwischen Individualismus und Kollektivismus, Egoismus und Altruismus, Internationalismus und Nationalismus, diesem Totengräber der Völker, zu gestalten.

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]

gestrichen: [Nachdruck verboten.]

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Berliner Tageblatt, 27.1.1929, 5. Beiblatt

Konzeption 2: Sladek, der schwarze Reichswehrmann

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Endfassung in drei Akten



K2/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

Sladek, der schwarze Reichswehrmann

Stammbuch Volksbühnen-Verlag, Berlin 1929, o. Pag. (S. I)

Historie aus dem Zeitalter der Inflation in drei Akten 5

von Ödön Horváth 10

얍 PERSONEN:

SB Volksbühne 1929, S. 1

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S LADEK A NNA S CHMINKE H AUPTMANN K NORKE R UEBEZAHL S ALM H ORST H ALEF D ER B UNDESSEKRETAER D AS F RAEULEIN D IE B UNDESSCHWESTER H AKENKREUZLER . R EICHSWEHR.

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Erster Akt: Strasse. Zweiter Akt: Im Weinhaus zur alten Liebe. Dritter Akt: Kiesgrube.

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E R S T E R A K T. Strasse. Hakenkreuzler prügeln Schminke aus einem Saale, in dem mit Musik eine rechtsradikale Versammlung steigt. (Präsentiermarsch) Nacht. E IN H AKENKREUZLER Raus! Raus mit dem roten Hund! E IN A NDERER Da! Da. Du Judenknecht! D IE B UNDESSCHWESTER (erscheint im Tor) Was hat der gesagt? Wir hätten den Krieg verloren? Solche Subjekte haben uns Sieger erdolcht und das Vaterland der niederen Lust perverser Sadisten ausgeliefert! Am Rhein schänden syphilitische Neger deutsche Frauen, jawohl, das deutsche Volk hat seine Ehre verloren! Wir müssen, müssen, müssen sie wieder erringen und sollten zehn Millionen deutscher Männer auf dem Felde der Ehre fallen! B

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Da.N ]

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korrigiert aus: Da . überzählige und fehlende Leerzeichen werden in TS1 stillschweigend korrigiert; vgl. Kommentar

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SB Volksbühne 1929, S. 3

Endfassung in drei Akten

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K2/TS1 (Grundschicht)

D IE H AKENKREUZLER Heil! S CHMINKE Sie! Woher nehmen Sie das Recht das Volk ehrlos zu nennen? Woher haben Sie den traurigen Mut zehn Millionen Tote zu fordern?! Sie sind kein Mensch, gnädige Frau! D IE B UNDESSCHWESTER Novemberling! Novemberling! E IN H AKENKREUZLER Zerreisst ihm das Maul! Zerreisst es der bezahlten Kreatur! K NORKE (erscheint im Tor) Halt! Bundesbrüder, beschmutzt Euch nicht! -- Sie sind doch der sogenannte Pazifist, der berüchtigte sogenannte Redakteur, das Schwein Peter Schminke. -S CHMINKE (unterbricht ihn) Ja. K NORKE Freut mich ausserordentlich, Sie 얍 persönlich kennengelernt zu haben, Herr Schminke. Hätten Sie die grosse Güte, folgende kleine Anfrage zu beantworten! Ihre „grosse“ Nation bricht den Versailler Vertrag, Ihren geliebten „ Friedens“-Vertrag und besetzt mit Flammenwerfern die Ruhr. Sie proklamiert die rheinische Republik, sie wird das ganze wehrlose, verratene Deutsche Reich „erobern“, von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt, trotz feierlicher Proteste mit verdorrter Hand! S CHMINKE Der Versailler Vertrag ist das Werk des Imperialismus, ist die Kriegserklärung des internationalen Kapitals an das Proletariat. E IN H AKENKREUZLER Juden aller Länder, vereinigt Euch! K NORKE Sie wollen, dass das Vaterland französische Kolonie wird? S CHMINKE Sie wissen, dass ich das nicht will! D IE B UNDESSCHWESTER (lacht) S CHMINKE Ich floh aus dem besetzten Gebiet. K NORKE Ich auch. S CHMINKE Der Friedenswille der Massen ist stärker als alle Bajonette der internationalen Reaktion! K NORKE Leitartikel! Tinte! S CHMINKE Der Militarismus wird an der sittlichen Kraft der schaffenden Arbeit zerschellen, ohne Gewehre, ohne Generäle, ohne Blut! D IE B UNDESSCHWESTER Blut bleibt Blut! K NORKE Krieg ist Krieg! Der passive Widerstand ist die Ausgeburt jüdischer Niedertracht! Eine rote Feigheit! In Berlin feiern internationale Halunken den jüdischjesuitischen Fetzen von Weimar! 얍 Bundesbrüder! Bald marschiert die nationale Armee und rottet das pazifistische Gesindel aus! Rache für Strassburg! Rache für Schlesien! Für Schleswig! D IE B UNDESSCHWESTER Für Schlageter! D IE H AKENKREUZLER Heil! G ESANG (aus dem Saal) Drum Brüder schliesst die Runde Und hebt die Hand zum Schwur, In unserem heiligen Bunde Gilt eine Losung nur: Das Hakenkreuz soll flattern B

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Friedens“-VertragN ] marschiertN ]

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korrigiert aus: nicht! - die Setzung und Zahl von Bindestrichen wird in TS1 stillschweigend korrigiert; vgl. Kommentar korrigiert aus: Friedens“vertrag korrigiert aus: mar[s] c hiert

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K2/TS1 (Grundschicht)

Uns führen in die Nacht Bis unsere Schüsse rattern Einst in der Freiheitsschlacht! K NORKE , DIE B UNDESSCHWESTER und DIE H AKENKREUZLER (ab in den Saal; nur vier bleiben zurück.) G ESANG (aus dem Saal) Kam’rad reich mir die Hände, Fest wolln beisamm wir stehn, Mag man uns auch bekämpfen Der Geist kann nicht vergehn! Hakenkreuz am Stahlhelm Schwarzweissrotes Band, Sturmabteilung Hitler Werden wir genannt! Wir lassen uns, wir lassen uns Von Ebert nicht regieren! Hei Judenrepublik! Hei Judenrepublik! Schlagt zum Krüppel den Doktor Wirth! Knattern die Gewehre, tack tack tack, Aufs schwarze und das rote Pack! Schlagt tot den Walther Rathenau Die gottverdammte Judensau! (Plötzlich Stille) S CHMINKE (lehnt die Stirne an die Wand und 얍 spuckt Blut.) E RSTER H AKENKREUZLER Der hat seinen Teil. Z WEITER H AKENKREUZLER Noch lange nicht, Kamerad! D RITTER H AKENKREUZLER Ein beschnittener Saujud ist ein anständiger Mensch neben einem arischen Juden. Dem blut ja bloss die Nase. Das ist nur Vorschuss. Z WEITER H AKENKREUZLER Wenns losgeht wird er sich verbluten. V IERTER H AKENKREUZLER Wann gehts denn los? D RITTER H AKENKREUZLER Bald. Z WEITER H AKENKREUZLER Wenns losgeht, dann kommt ein Gesetz, dass sich jeder Jud einen Rucksack kaufen muss. Was er hineinbringt, das darf er mitnehmen nach Jerusalem. Was er nicht hineinbringt, gehört uns. Wisst Ihr, wieviel polnische Juden in Deutschland wuchern? Zwanzig Millionen! -- Träumst Du? V IERTER H AKENKREUZLER Nein. Ich hab nur nachgedacht über diese Judenfrage. -(Heilrufe und Musiktusch im Saal) E RSTER, ZWEITER und DRITTER H AKENKREUZLER (rasch ab in den Saal) G ESANG (aus dem Saal) Wir treten zum Beten vor Gott den Gerechten, Er waltet und haltet ein strenges Gericht. Er lässt von den Schlechten nicht die Guten knechten, Sein Name sei gelobt! Er vergisst uns nicht! B

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korrigiert aus: blut’ uneinheitliche Apostrophierungen werden in TS1 stillschweigend korrigiert; vgl. Kommentar korrigiert aus: blos korrigiert aus: Erster f Hakenkreuzler

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SB Volksbühne 1929, S. 6

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K2/TS1 (Grundschicht)

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V IERTER H AKENKREUZLER (nähert sich langsam Schminke) S CHMINKE (hört ihn und wendet sich ihm zu) Zurück! Das war eine grosse Heldentat. 얍 V IERTER H AKENKREUZLER Ich hab Dich nicht geschlagen. S CHMINKE Danke. VIERTER HAKENKREUZLER Bitte. Sie hätten Dich vielleicht erschlagen, aber das hätt mir leid getan, denn Du hast recht gehabt, und ich hab die Gerechtigkeit lieb. Du hast sehr recht gehabt, wir haben unsere Ehre nicht verloren -- aber darauf kommts nicht an. Man muss nur selbständig denken. Du bist ein sogenannter Idealist. S CHMINKE Wer bist Du? V IERTER H AKENKREUZLER Ich bin der Sladek. -- Man muss nur selbständig denken. Ich denk viel. Ich denk den ganzen Tag. Gestern hab ich gedacht, wenn ich studiert hätt, dann könnt ich was werden. Ich hab nämlich Talent zur Politik. Ich bin ein sogenannter zurückgezogener Mensch. Ich red nur mit Leuten, die selbständig denken können. Ich freu mich, dass ich mit Dir reden kann, -- Du bist auch allein, das hab ich bei der Diskussion bemerkt. Wir sind verwandt. Ich hab mir das alles genau überlegt, das mit dem Staat, Krieg, Friede, diese ganze Ungerechtigkeit. Man muss dahinter kommen, es gibt da ein ganz bestimmtes Gesetz. Ein ganz bestimmter Plan, das ist klar, sonst wär ja alles sinnlos. Das ist das grosse Geheimnis der Welt. S CHMINKE Und? S LADEK In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. Das ist der Sinn des Lebens, das grosse Gesetz. Es gibt nämlich keine Versöhnung. Die Liebe ist etwas Hinterlistiges. Liebe, das ist 얍 der grosse Betrug. Ich hab keine Angst vor der Wahrheit, ich bin nämlich nicht feig. S CHMINKE Ich auch nicht. S LADEK Das weiss ich. Aber Du hast da einen Denkfehler. Lach mich nicht aus, bitte. S CHMINKE Ich lach nicht. S LADEK Du denkst nämlich immer daran, das ganze Menschengeschlecht zu beglükken. Aber das wird es nie geben, weil doch zuguterletzt nur ich da bin. Es gibt ja nur mich. Mich, den Sladek. Das Menschengeschlecht liebt ja nicht den Sladek. Und wie es um den Sladek steht, so geht es den Völkern. Es liebt uns zur Zeit niemand. Es gibt auch keine Liebe. Wir sind verhasst. Allein. S CHMINKE Was verstehst Du unter dem Wir? S LADEK Das Vaterland. S CHMINKE Was verstehst Du unter Vaterland? S LADEK Zuguterletzt mich. Das Vaterland ist das Land, wo man geboren wird und dann nicht heraus kann, weil man die anderen Sprachen nicht versteht. Nämlich alle Theorien über den sogenannten Marxismus, die kommen für mich heut nicht in Betracht, weil ich selbständig denken kann. S CHMINKE (spöttisch) Du denkst zu selbständig . S LADEK Man muss. Man muss. Es kann ja sein, dass mal wieder alle armen Leut gegen die Reichen ziehen, aber das ist glaub ich aus. Sie haben sich Rote erschlaB

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korrigiert aus: kommst korrigiert aus: selbstständig korrigiert aus: nicht, korrigiert aus: selbstständig korrigiert aus: selbstständig gestrichen: s

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gen. Damals hab ich ein Lied gehört, dass das Herz links schlägt, aber es gibt ja kein Herz, es gibt nur einen Muskelapparat. Bist Du für diese Republik? S CHMINKE Das ist noch keine Republik, das wird erst eine. 얍 S LADEK Das ist nichts und wird nichts, weil es nämlich auf einer Lüge aufgebaut ist. S CHMINKE Auf welcher Lüge? S LADEK Dass es eine Versöhnung gibt. S CHMINKE Wenn es keine Versöhnung gäbe, so müsste man sie erfinden. S LADEK (lächelt) Du bist nicht dumm. S CHMINKE Wieso? (Stille) S CHMINKE Ich lüge nie. S LADEK In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. S CHMINKE Heute ist allerdings überall nur Blut und Dreck. S LADEK Ich denk nicht an morgen. Ich leb ja vielleicht nur heut. Heut sind alle Staaten gegen uns. Sie drücken uns zusammen. Weil wir wehrlos sind, das ist dann immer so. Es würde nichts schaden, wenn noch einige Millionen fallen würden, wir sind nämlich zu viel. Wir haben keinen Platz. Wir verbreiten uns, als hätts keinen Weltkrieg gegeben. Es wird bald alles eine Stadt, das ganze deutsche Reich. Wir brauchen unsere Kolonien wieder, Asien, Afrika -- wir sind wirklich zu viel. Schad, dass der Krieg aus ist! S CHMINKE Du wagst es zu bedauern, dass der Krieg aus ist? S LADEK Wieso? S CHMINKE Bist Du ein Mensch? S LADEK Ich bin ein Mensch, es ist aber immer Krieg. S CHMINKE Es gibt auch Frieden. S LADEK Ich erinner mich nicht daran. S CHMINKE So tust Du mir leid. S LADEK Jetzt lügst Du. 얍 S CHMINKE Zu blöd. S LADEK Ich hab nämlich keine Angst vor der Wahrheit. S CHMINKE Warst Du Soldat? S LADEK Nein. Als der Krieg ausbrach war ich zwölf Jahr alt. Ich seh nur älter aus. S CHMINKE Du gehörst verboten. S LADEK Dass ich mal verboten werd, ist schon möglich. Weil ich zuviel weiss. (Stille) S CHMINKE Kennst Du die schwarze Reichswehr? S LADEK Das darf man nicht sagen! S CHMINKE Aha! Warum? S LADEK (schweigt) S CHMINKE Ich habe gehört, dass sich draussen auf den Feldern Soldaten sammeln. Sie haben Kanonen und Maschinengewehre und tragen die Kokarde mit dem Adler der Republik verkehrt. Abgeschossen . Stimmts? S LADEK (schweigt) B

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Absatz eingefügt korrigiert aus: Abgesch ossen

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K2/TS1 (Grundschicht)

S CHMINKE Ich habe gehört, dass diese Soldaten siegreich nach Paris marschieren wollen, über die Leiche des eigenen Volkes. S LADEK Das geht Dich nichts an! S CHMINKE Doch! Sogar sehr! -- Sie nennen sich schwarze Soldaten, weil sie nur als Geheimnis existieren können. Und der es verrät, der stirbt. S LADEK In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. S CHMINKE Man sollt jede Armee verraten, Du Soldat! (er will rasch ab) S LADEK (ruft ihm nach) Du bist ein sogenannter Idealist, Du Schuft! (Halef, Rübezahl, Salm und Horst erscheinen überraschend und versperren Schminke den Weiterweg ; er hält und starrt sie an) G ESANG (aus dem Saal) Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd, In das Feld in die Freiheit gezogen! 얍 Im Felde da ist der Mann noch was wert, Da wird das Herz noch gewogen. Da tritt kein anderer für ihn ein, Auf sich selber steht er da ganz allein! H AUPTMANN (erscheint im Tor) Herr Schminke! S CHMINKE (wendet sich ihm ruckartig zu; fixiert ihn) Sie sind hier das Oberkommando? H AUPTMANN (spöttisch) Zu Befehl, Herr Schminke. (Stille) S CHMINKE Ich verlange vor ein ordentliches Gericht gestellt zu werden, Sie verstehen mich. H AUPTMANN Wir verstehen uns. Sie werden nach einem ordentlichen Gesetze bestraft. S CHMINKE Ich verlange nach dem Strafgesetzbuch abgeurteilt zu werden. H AUPTMANN Solange das Strafgesetzbuch von der Interalliierten Militärkommission zensiert wird, solange bin ich das ordentliche Gericht. S CHMINKE Dazu haben Sie kein Recht. H AUPTMANN Machen Sie sich nicht lächerlich. (Stille) H AUPTMANN Wir sind informiert. Sie haben Material über geheime Rüstungen -- sogenannter Pazifist? Sie verraten aus Prinzip? S CHMINKE Aus Prinzip. H AUPTMANN Die eigene Armee. S CHMINKE Jede Armee. H AUPTMANN Nein, nur die deutsche. Den Verbrechern von Versailles. S CHMINKE Machen Sie sich nicht lächerlich. H AUPTMANN Idiot. S CHMINKE Ich kenne keine deutsche Armee, ich kenne nur Landsknechte der Reaktion, deren Geheimnis ich enthüllen wollte -- Sie zielen auf Versailles und treffen das deutsche Volk. B

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얍 H AUPTMANN Idiot. S CHMINKE Danke. Sie haben nur fünftausend Mann. Glauben Sie, dass Sie ohne schwere Artillerie den Versailler Vertrag zerreissen können? Und Sie vergessen, dass Sie ein Geheimnis sind. Wie kann sich denn der Feind vor Soldaten fürchten, von deren Existenz er nichts wissen darf? Sie marschieren ja gegen das eigene Volk. R UEBEZAHL (schlägt ihn mit einer Stange von rückwärts nieder; Schminke bricht lautlos bewusstlos zusammen) H ORST (lacht leise) H AUPTMANN (zu Horst) Kusch! R UEBEZAHL Nanana! Man wird doch noch lächeln dürfen -S ALM (zum Hauptmann) Das Auto steht drüben. H AUPTMANN Wer fahrt? S ALM Ich. H AUPTMANN Salm, also es bleibt dabei: Ihr schafft den jetzt in die Kiesgrube, aber, dass ihm nichts „widerfährt“, verstehst Du? S ALM Nein, Kiesgrube ist Kiesgrube. H AUPTMANN Später. Ich will ihn noch einmal verhören. Vorher. Ich glaub es nämlich nicht, dass er uns um Geld verraten wollte. Hinter dem steht eine andere Macht. Ich bin von lauter Verrätern umgeben, aber ich fange nur immer die Vorhut an die Leitung komme ich nicht dran. H ORST (lacht wieder leise) H ALEF (beugt sich rasch über Schminke und untersucht ihn) Quatsch! Wenn ich so gesund wäre, würde ich heiraten. R UEBEZAHL Was fehlt Dir denn? H ALEF Nichts. 얍 S ALM Keine Privatgespräche! Los! R UEBEZAHL , H ORST , H ALEF (schaffen Schminke fort) H AUPTMANN (zu BSalmN) Ist das wahr, dass dieser Rübezahl gedroht hat, mich, wenn er keine schweizer Franken von mir bekommen sollte, niederzuknallen? S ALM Er war besoffen. H AUPTMANN Besoffen oder nüchtern! Du hast das gehört? S ALM Ich war dabei. H AUPTMANN Ich muss darauf bestehen, dass mir dergleichen sofort gemeldet wird! S ALM Ruhe, Herr General! Ruhe. Wagst Du einen derart verdienstvollen Mann zu bestrafen, und wenn ja, kannst Du es denn? Nein, Du kannst Dich nur lächerlich machen. Sonst nichts. R UEBEZAHL (erscheint) Majestät. Ich habe soeben gehorcht. (Er grinst) S ALM (ab) H AUPTMANN Du bekommst Deinen Teil. R UEBEZAHL Das klingt komisch. H AUPTMANN Abtreten. R UEBEZAHL Drohst Du mir? Du? Mir? H AUPTMANN Nein. Denn ich habe Angst, dass Du mich niederknallst. R UEBEZAHL (grinst) Fürchte Dich nicht, Liliputaner! H AUPTMANN Abtreten! 29

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R UEBEZAHL Bell nicht, Pintscher! Bell nicht; sonst schlag ich Dir die Koppel um das Maul, dass Dir das Gott-mit-uns in der Fresse steht! H AUPTMANN (fixiert ihn; beherrscht sich) S ALMS S TIMME Rübezahl! Rübezahl! R UEBEZAHL (ab) D ER B UNDESSEKRETAER (erscheint im Tor und verbeugt sich vor dem Hauptmann) 얍 Hauptmann! Ich habe Ihnen Beweise ehrlichster Bewunderung zu überbringen. Man ist begeistert. Ihre planmässige Bearbeitung des flachen Landes, diese prachtvolle erhebende Stimmung in jeder Ihrer Versammlungen -H AUPTMANN (unterbricht ihn) Wer ist begeistert? D ER B UNDESSEKRETAER Die massgebende Stelle. H AUPTMANN Sie kommen aus Berlin? D ER B UNDESSEKRETAER (lächelt hinterlistig) Von der massgebenden Stelle. H AUPTMANN Sie sehen: ich bin bereit. (Stille) H AUPTMANN Schnarcht die massgebende Stelle noch? Sie wird unter dem Sowjetstern erwachen. D ER B UNDESSEKRETAER Die politische Verantwortung fordert, für die bewaffnete Aktion den günstigsten Augenblick abzupassen. H AUPTMANN Ich warte. D ER B UNDESSEKRETAER Wir haben zwar die Ministerliste, aber die Führer der Verbände müssen noch manche Frage bereinigen. H AUPTMANN Ich warte. D ER B UNDESSEKRETAER Sie sind sich noch nicht einig, Nord und Süd. H AUPTMANN Ich warte. Vorerst! D ER B UNDESSEKRETAER Das wissen wir. Deshalb bin ich da. H AUPTMANN Freut mich! D ER B UNDESSEKRETAER Umso besser! Sie sind ein Mensch, dem man ab und zu seine Lage klar machen muss. Sie samt Ihren Soldaten unterstehen einer massgebenden Stelle, die die geheime, gegen alle aussenpolitischen Verpflichtungen erfolgte Aufstellung Ihrer Armee vor der Republik mit dem Schutze vor äusseren Feinden begründet, in Wahrheit aber die nationale Diktatur erstrebt. Offi-얍ziell muss die massgebende Stelle republikanisch tun, um inoffiziell die Republik unterhöhlen zu können. Offiziell tragen Sie die Verantwortung, inoffiziell befiehlt die massgebende Stelle. Sie können praktisch nur bestehen, weil und solange Sie offiziell nicht bestehen. Vorerst existieren Sie überhaupt nicht. H AUPTMANN Danke. Die massgebende Stelle ist feig. Sie betet um die nationale Revolution, aber drückt sich vor jedem festen Entschluss. Das liegt an der Berliner Luft. D ER B UNDESSEKRETAER Und der preussischen Regierung. H AUPTMANN Es muss kommen, wie in Ungarn. N

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D ER B UNDESSEKRETAER Die Diktatur. Plebs bleibt Plebs. Gäbs keine Neger am Rhein und keine Inflation, fühlten sich unsere lieben Deutschen in Schwarzrotdreck sauwohl. H AUPTMANN Nie. Ich glaube an den zweiten Befreiungskrieg. Mit dem Sturze der Republik stürzt auch Versailles. D ER B UNDESSEKRETAER Kaum. H AUPTMANN Oho! D ER B UNDESSEKRETAER Kaum. Unsere Waffen reichen wohl zur Niederschlagung des inneren, aber niemals des äusseren Feindes. Die nationale Diktatur wird die Erfüllungspolitik der Rathenau und Genossen weiterführen müssen. Predigen wir das Gegenteil, so nur als Propaganda. Wir lügen dabei nicht, denn zuguterletzt ist alles möglich. (Stille) H AUPTMANN Ich sehe, man treibt mit mir wieder ein unehrliches Spiel. Ich glaube, 얍 die massgebende Stelle wäre sogar imstande, mich dem Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik auszuliefern. D ER B UNDESSEKRETAER Wenn Sie ohne Erlaubnis anfangen wollten zu existieren, ja. H AUPTMANN Wenn alles missglückt, jederzeit. Dann wird an meine nationale Treue appelliert, damit ich alles allein verantworten darf. Auch meine Justiz. D ER B UNDESSEKRETAER Was für Justiz? H AUPTMANN Spielen Sie nicht die unberührte Jungfrau, Feigling. Leute wie Sie sollten politisch links stehen. Sagen Sie der massgebenden Stelle einen schönen Gruss, und wenn sich die vertrottelten Oberlehrer und verkalkten Exzellenzen in den Bünden und Verbänden, Orden und Parteien nicht bald einigen, dann fange ich an zu existieren. Die nationale Revolution bin ich. Der Landsknecht hat schon einmal einen Staat gerettet, wir haben Spartakus erschlagen, wir lassen uns nicht wieder vogelfrei verdrecken! D ER B UNDESSEKRETAER (lächelt sarkastisch; verbeugt sich steif und rasch ab.) H AUPTMANN (allein; starrt ihm nach) G ESANG (aus dem Saal) Deutschland, Deutschland über alles Ueber alles in der Welt! Wenn es stets zu Schutz und Trutze Brüderlich zusammenhält. Deutschland, Deutschland über alles Ueber alles in der Welt! H AUPTMANN (erblickt Sladek; nähert sich ihm langsam misstrauisch; leise) Wer bist Du? S LADEK Ich bin der Sladek. Ich will zu Euch. H AUPTMANN Wer sind denn wir? S LADEK Das darf man nicht sagen. 얍 H AUPTMANN Kennst Du mich? S LADEK Vom Sehen . H AUPTMANN Wer bin ich? B

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korrigiert aus: niemald korrigiert aus: H AUPTMANN ; korrigiert aus: ihn korrigiert aus: sehen

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K2/TS1 (Grundschicht)

S LADEK Ich glaube, dass Du richtig gehst. Ich habe nämlich die Gerechtigkeit lieb und kann selbständig denken. H AUPTMANN (lässt ihn langsam stehen, will in den Saal und trifft im Tor Knorke) Du. Wer ist denn das? K NORKE Der Sladek. Der gehört zu uns. Ich war mit seinem Bruder befreundet, als ich aus Tsingtau kam 1912. Es war mal eine bessere Familie. S LADEK Wann fass ich meine Uniform? K NORKE Bald. H AUPTMANN (ist anderswo) Sehr bald. (ab in den Saal) (Stille) S LADEK Du, Knorke. Ich muss mal austreten. Wo kann man hier eigentlich austreten? K NORKE Im zweiten Stock. S LADEK Im ersten nicht? K NORKE Nein. Nur im zweiten. S LADEK So hoch -- (ab in den Saal) K NORKE (liest in einer Zeitung im Haustorschein) A NNA S CHRAMM (kommt) Guten abend, Herr Knorke. K NORKE Ach, Frau Schramm! Sie wünschen? A NNA Könnt ich den Sladek sprechen? K NORKE In fünf Minuten. Sladek ist pünktlich. Primadonna! Primadonna! A NNA Er hat keine Uhr. K NORKE Und singen kann er auch nicht. A NNA Woher kennen Sie Sladek? K NORKE Das weiss ich nicht mehr. A NNA Sie kennen ihn schon seit länger? K NORKE Sind Sie mit ihm verwandt? A NNA Nein. 얍 K NORKE Sie sind doch seine Wirtin? A NNA Ja. K NORKE Sonst nichts? A NNA Wieso? K NORKE (blickt in die Zeitung) Die Mark hat sich gefestigt. Zürich notiert zweiundzwanzig Milliarden. Zürich liegt am Züricher See. (er wirft wütend die Zeitung fort) Pensionierte Bürokraten würden revoltieren! Die Republik dieser Büttel der Botschafterkonferenz erfrecht sich unsere letzten Waffen zu fordern. Auf einen Wink der Entente kastrieren wir uns selbst! Den Schuften, der nur eine versteckte Patrone verratet, den möcht ich massieren, bis ihm die pazifistische Seele zum grossen jüdischen Gott fliegt! Ihr Herr Gatte ist doch auch gefallen? A NNA Nein. K NORKE Ich dachte, Sie wären Witwe? A NNA Er ist vermisst. Ich warte zwar nicht mehr, obwohl es noch vorkommen soll, dass ein Vermisster plötzlich erscheint. Russland ist gross, Sibirien ist weit. K NORKE Apropos Russland: Haben Sie die neue polnische Note gelesen? A NNA Ich lese keine Zeitung. Die liest nur Sladek. B

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korrigiert aus: selbstständig korrigiert aus: zweiten korrigiert aus: See korrigiert aus: Botschafterkonferenz,

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K NORKE Er liest viel. A NNA Nur die Zeitung. K NORKE Er weiss allerhand für sein Alter. Seine Ansichten sind zwar etwas verworren, aber zuguterletzt gesund. A NNA Wenn er nur Zeit hat, grübelt er. K NORKE Die neue polnische Note ist der Gipfel der Verleumdung. Lauter Verbrecher! A NNA Wer? 얍 K NORKE Diese Polen! Jeder einzelne Pole ist ein geborener Lügner! A NNA Ich glaube, der einzelne Pole lügt auch nicht mehr als der einzelne Deutsche. K NORKE Hoppla! A NNA Die Zeitungen sollen endlich aufhören, die Völker gegeneinander zu hetzen. Es hat doch gar keinen Sinn. K NORKE Was Sie nicht sagen! A NNA Ich finde es sehr richtig, dass die Regierung die Bevölkerung auffordert, alle Waffen abzuliefern. Das ist endlich ein gutes Gesetz. Wir haben uns vier Jahre lang gemordet, das reicht. Ich würde jede versteckte Patrone anzeigen. Sofort. K NORKE Das würde ich an Ihrer Stelle unterlassen. A NNA Warum? Wer der Regierung nicht folgt, der wird doch bestraft. K NORKE Zum Strafen gehört Gewalt. Die Regierung hat keine, kann ich Ihnen flüstern. Heutzutage ist oft das Gegenteil Gesetz. Sagen Sie: Was wissen Sie über versteckte Patronen? A NNA Ich weiss, wer Sie sind und was Sie wollen. K NORKE Wie war das? A NNA Ich kenne Sie. Vom Sehen. K NORKE Wer bin ich? A NNA Sie kommen manchmal in die Stadt. Im Auto. K NORKE Was für Auto. A NNA Das habe ich alles beobachtet. K NORKE Was alles? A NNA Sie wollen aus dem Sladek einen Soldaten machen. K NORKE So? 얍 A NNA Sie werben für die schwarze Reichswehr. K NORKE Es gibt keine schwarze Reichswehr! A NNA Doch. (Stille) K NORKE Ich warne Sie. A NNA Ich bitte Sie. Ich bitte Sie, lassen Sie mir den Sladek. Es fällt mir schwer, darüber zu reden. Wenn sich eine Frau in meinem Alter an einen um fünfzehn Jahre jüngeren Mann hängt, so ist das immer mütterlich, und sie lässt ihn nicht aus den Augen. Sladek ist ja noch ein Junge, der sich an nichts erinnern kann, als an Krieg. Er kann sich den Frieden garnicht vorstellen, so misstrauisch ist er. Er ist in der grossen Zeit gross geworden, das merkt man. Ich lasse ihn nicht aus den Augen, ich habe gehorcht und spioniert -- mich kann man nämlich nicht betrügen. Was mein ist, bleibt mein. K NORKE Ist der Sladek Ihr Eigentum? A NNA Ja. B

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verste\c/kte Absatz eingefügt

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K2/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

K NORKE Nein. A NNA Wen ich liebe, der gehört mir. K NORKE Will er Ihnen gehören? A NNA Wie meinen Sie das? K NORKE Der Sladek ist ausgewachsen und denkt nicht daran. A NNA Das hat er Ihnen gesagt? K NORKE Fragen Sie ihn selbst. (Stille) A NNA Wollen Sie mir helfen? K NORKE Ich warne Sie. A NNA Ich bitte Sie. Bitte, sagen Sie dem Sladek kein Wort, dass ich weiss, dass er von mir will. Bitte, sagen Sie ihm doch, er wäre zum Soldaten untauglich, sagen Sie es ihm, bitte, lassen Sie ihn hier. Ihre Soldaten werden auch ohne 얍 Sladek marschieren, aber ich -- -- -- Ich hab schon mal alles für das Vaterland geopfert. Ich lass mir nichts mehr rauben. Ich verrate die ganze Armee den Polen. Noch heut. K NORKE Kaum. S LADEK (kommt; erblickt Anna) A NNA Wo warst Du so lange? S LADEK Ich hab mich geärgert. A NNA Wer hat Dich geärgert? S LADEK Freut Dich das? A NNA Mich? S LADEK Lass uns allein, bitte. K NORKE Nicht nötig, Sladek. Frau Schramm hat mich soeben gebeten, Dir mitzuteilen, Du seiest untauglich zum Soldaten, da sie sonst alles den Polen verrät. S LADEK Anna! A NNA Nein, so ein Schuft! K NORKE Ich weiss, dass Du das Maul gehalten hast, aber Frau Schramm hat Dir nachspioniert. Dadurch zwingt uns Frau Schramm, uns mit ihrer Persönlichkeit zu beschäftigen. Verstanden? Sladek, bist Du tauglich? S LADEK Tauglich. K NORKE Nach wie vor. Wir treffen uns beim Fräulein. Auf Wiedersehn! (Ab) S LADEK (starrt Anna an) Auf Wiedersehn. (Stille) A NNA Was ist das für ein Fräulein? S LADEK Das Fräulein. Das ist ein Lokal. A NNA Lüg nicht! S LADEK Du wirst noch blöd vor lauter Eifersucht. A NNA Lieber blöd! Sladek! Ich hab ja so Angst um Dich. Ich seh es ja, wie hungrig Dich 얍 die Weiber anschaun -S LADEK (unterbricht sie) Ich bin Dir treu. A NNA Nein, Du nimmst nur Rücksicht, aber dann wünschest Du, ich soll nicht -mehr sein. Du, Du wirst einfach weggehen, ich werde Dich überall suchen und nirgends finden. B

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ausgewachsenN ] ] BseiestN ] BnirgendsN ] B

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SB Volksbühne 1929, S. 21

korrigiert aus: ausgewaschen (vgl. K1/TS1/SB Volksbühne 1928, S. 19) Absatz eingefügt korrigiert aus: seieest korrigiert aus: nirgens

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SB Volksbühne 1929, S. 22

Endfassung in drei Akten

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K2/TS1 (Grundschicht)

S LADEK Anna, weisst Du, was das heisst, eine Armee vor dem Feinde zu verraten? Weisst Du, was die Soldaten mit dem Verräter tun? A NNA Sie sollen mich erschlagen. S LADEK Sie werden Dich erschlagen. A NNA Es liegt an Dir. Bleib, bitte, und ich verrate nichts. Nichts. Weisst Du, was das heisst, wenn ich Dich verliere? Bleib, bitte, bitte, bitte -- schau, ich schäme mich ja schon gar nicht mehr, so hänge ich an Dir. Was denkst Du jetzt? S LADEK Was ich denk, langweilt Dich, hast Du gesagt. A NNA Nein! S LADEK Was ich denk, ist dumm, hast Du gesagt! Hast Du gesagt! Ich hab nämlich ein sogenanntes Gedächtnis, ein ausgezeichnetes Gedächtnis. A NNA Wie Du Dir alles merkst. S LADEK Alles. A NNA Dass Du nur nichts vergisst! S LADEK Nichts. Glotz nicht. A NNA Ich glotz nicht. Ich hab nur gesagt, Du sollst nicht so viel denken, weil ich nichts von Politik versteh. Ich komme nicht mit. S LADEK Man muss nur selbständig denken. Ich kam zu Dir zerlumpt. Bei mir in der Familie haben sie sich um ein Stück 얍 Brot gehasst. Du warst für mich ein höheres Wesen, Du hattest eine Zweizimmerwohnung und hast Kriegsanleihe gezeichnet. Du hast für Kaufmannsfrauen geschneidert, ich hab mich waschen können. Du hast mir einen Wintermantel gekauft. Danke. A NNA Bitte. S LADEK Du bist meine erste Liebe. A NNA Sei nicht so boshaft. S LADEK Ich bin nicht boshaft. Ich wollt nur sagen, dass die erste Liebe eine riesige Rolle im Leben spielt. Hab ich gehört. A NNA Sladek. Du bist schon tot. S LADEK Warum? A NNA (klammert sich an ihn) So sag es doch! Sag, dass alles aus ist! Aus, aus -S LADEK Sag es Du. A NNA Ich kann es nicht, -- wie dumm ich bin, wie dumm -S LADEK Es ist nicht aus. A NNA Nimm keine Rücksicht! Quäl mich nicht! Sag es endlich, lass mich los! S LADEK Gut. Es ist aus. A NNA Schau mich an. (Stille) S LADEK So wirds nicht anders. A NNA Doch. S LADEK Du weisst immer alles besser. A NNA Du kannst nicht lieben, Du kannst nur lieb sein. S LADEK Genügt das nicht? (Stille) B

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selbständigN ] ] B N] B

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korrigiert aus: selbstständig Absatz eingefügt Absatz eingefügt

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SB Volksbühne 1929, S. 23

Endfassung in drei Akten

K2/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

A NNA (lächelt) Schau mich nicht so an -- Du Riese. Du kleiner Riese. Du bleibst, Du bleibst. Du Jung, Du -- es ist dunkel, die Erde ist noch kalt, aber die Sonne war schon warm. Das ist der zunehmende Mond. S LADEK Heuer gibts kein Frühjahr. Auf dem Ozean liegen lauter Wolken, ganze Berge. Das kommt alles noch über uns, 얍 steht in der Zeitung. A NNA Ist doch alles nicht wahr, ist doch alles anders --. Komm, gib mir einen Kuss --. Das war doch kein Kuss. So. So -- (Sie küsst ihn, reisst sich plötzlich los und taumelt zurück) Was tust Du? Was fällt Dir ein, wenn ich Dich küsse?! S LADEK Ich küss nicht gern so, so sinnlich. A NNA Du Schwein. Du Schwein -- -S LADEK Ich bin ein Schwein. (Ab) B

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SB Volksbühne 1929, S. 24

Ende des ersten Aktes. 15



Z W E I T E R A K T. Im Weinhaus zur alten Liebe. B

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SB Volksbühne 1929, S. 26

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S ALM , H ORST, H ALEF, K NORKE und R UEBEZAHL sind die einzigen Gäste, LEIN bedient.

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DAS

F RAEU -

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D AS F RAEULEIN Die Herren sind Soldaten? S ALM Wir sehen nur so aus. D AS F RAEULEIN Ich liebe die Uniform. Ich bin eine Deutsche aus Metz. Wir hatten viel mit den Herren Soldaten zu tun. Wenns wieder Krieg gäb, das wär fein! H ORST Sie werdens noch erleben, Mädchen. D AS F RAEULEIN Ich wär auch glücklich mit einem Manöver. Die Herren sind doch Soldaten? R UEBEZAHL Wir sind keine Soldaten, dumme Kuh ! D AS F RAEULEIN Pardon! Seien Sie nur nicht wild, Sie Grosser! Die Herren haben doch Uniform. K NORKE Wir haben uns nur noch nicht umgezogen seit dem Krieg. D AS F RAEULEIN (lacht) Oh pfui, wie pikant! H ALEF Sehr geehrtes Mädchen. Ich bin zwar kein Soldat, aber ich interessiere mich für Manöver. Ueberhaupt für Uebungen -- (er schäkert mit ihr.) K NORKE (zu Salm) Sie heisst Schramm. Mit dem seltenen Vornamen Anna. Sie wohnt in der Prinzenstrasse unter sechs und hat sich an den Sladek gehängt. Sie ist im gefährlichen Alter und könnte für ihren Bubi auch sterben. S ALM Ein schöner Abend heute abend. K NORKE Sie weiss alles, vielleicht auch das, was ihr bevorsteht. Sie wird trotzdem jede versteckte Patrone der Republik 얍 abliefern und alles den Polen verraten. Sie ist toll. B

1–2 17 19 20–21 30

B

\Du f Du --/

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Du f Du --N ] ZWEITER AKT.N] B N] BDAS F RAEULEIN N ] BKuhN ]

korrigiert aus: Zweiter Akt. Leerzeile eingefügt korrigiert aus: Das Fräulein korrigiert aus: KUh

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SB Volksbühne 1929, S. 27

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K2/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

S ALM Ein schöner Abend heute abend. K NORKE Ich verstehe, Leutnantleben. Liebling, wir verstehen uns wie ein Liebespaar. Es ist ein schöner Abend heute abend, und es wird für manches Kind keinen schöneren mehr geben. S ALM Was, wenn Sladek nicht kommt? K NORKE Er kommt. Er hasst sie nämlich. S ALM Warum? K NORKE Warum hasst man einen Menschen? Entweder weil er einem nichts gibt oder zuviel gegeben hat. Sie wird ihn ausgehalten haben. Sie muss mal sehr geil gewesen sein. H ORST Das Schandweib gehört totgeprügelt. S ALM Könntest Du sie totprügeln? H ORST Im Interesse des Vaterlandes, jederzeit. Wir hatten zu Hause einen reinrassigen Dobermann. Dem habe ich einmal die Beine zusammengebunden und losgeprügelt bis ich nicht mehr konnte. Das Vieh gab keinen Ton von sich. Es gibt so stolze Köter. Es hat mich nur angeschaut. S ALM Du bist so herrlich hemmungslos, so göttlich selbstverständlich. Das soll Wodka sein! Ich habe meine Jugend vergeudet. H ORST Bitte, nur nicht sentimental! S ALM Nein, ich bin nur traurig. Wenn man so zurückdenkt: Damals, Du wirst erst sechs Jahre gewesen sein, damals war ich Hauslehrer in Siebenbürgen. Was ich dort bei den Rumäninnen Kraft liess -- ja, das Weib hasst den Mann, auch in der Tierwelt gibt es dafür 얍 Beispiele. Ich hab erst in der Gefangenschaft mein besseres Ich entdeckt, ich danke es dem Krieg, er wies mich den rechten Weg. Horst, Du folgtest meinem Rufe. H ORST Halt! Ich habe um meiner Ideale willen und nicht aus persönlichen Gefühlchen Papa und Mama verlassen. Ich wäre auch ohne Dich durchgebrannt -- jetzt hätte ich bald das Abitur. Wozu? Die Tat gilt mehr als das Wissen, die Waffe mehr als das Wort. S ALM Sei nicht grausam. H ORST Quält Dich die Wahrheit? Stehst Du über dem Vaterlande? Dass Du immer Illusionen brauchst! S ALM Wie der kleine Kerl quälen kann -R UEBEZAHL Salm! Du hast ein Profil wie Bruno Kastner, aber ich hab kein Geld. Hast Du Geld? Die Schweiz ist ein gelobtes Land. S ALM Besauf Dich nicht! R UEBEZAHL Poussier Dein Knäblein, Pädagog! Ich halt das Maul im Delirium, jedoch möchte ich nur bemerken, dass es vorschriftsmässiger gewesen wäre, wenn wir das Schwein Schminke postwendend in der Kiesgrube -- -S ALM (unterbricht ihn) Kusch! R UEBEZAHL (grinst) Wir sind unter uns, Tante Frieda. Ist das ein Dorf! -- Wie das klingt „unter uns“. H ALEF Wie? R UEBEZAHL Keine Ahnung. Ab und zu verblöde ich. Dann möchte ich Grosskaufmann sein. Konfektion. K NORKE Ich möcht wieder mal auf eine Redoute. Mit Frack und steifer Brust. B

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Land.N ]

eingefügt

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SB Volksbühne 1929, S. 28

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K2/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

R UEBEZAHL Nein, das ist nicht das Ideal. 얍 Das Ideal ist ein kleines Häuschen auf dem Lande -- und die Fenster müssten so niedrig sein, dass man von draussen hereinsehen kann, dass man das Sofa sehen kann. Und die Bilder. D AS F RAEULEIN Die Herren sind mit dem Auto gekommen? H ALEF Wir sind Geschäftsreisende. Wir vertreten eine grosse Lebensversicherung. Unser Chef ist ein jüdischer Kommerzienrat und jener neunzehnjährige Jüngling ist sein Sohn. H ORST Ich bin erst siebzehn. H ALEF Und was Du schon für Hüften hast! S ALM Halef, es gibt Dinge, die jenseits des Witzes liegen. H ALEF Zu Befehl, Majestät! Ich fürchte nur, dass er die moderne Linie verliert. D AS F RAEULEIN Dass sich die moderne Linie derart durchsetzt, ist nur eine Folge der Unterernährung. Der Kriegskost. R UEBEZAHL Jaja, man sieht kaum mehr Busen. D AS F RAEULEIN Sind Sie blind? H ALEF Ja, er ist blind. Ich hingegen sehe ungewöhnlich scharf. K NORKE Ich auch. H ALEF (umarmt sie) Ha Du, als wär kein Krieg gewesen! Ich liebe den Frieden. Du kannst mal mit mir fahren, im Auto. D AS F RAEULEIN Nein, das ist mir zu gefährlich. R UEBEZAHL (scharf) Wie meinen Sie das? D AS F RAEULEIN (droht mit dem Finger) Nanana, Sie ganz Böser! Sie können mich nicht hypnotisieren. Ich fahre aus Prinzip mit keinem Herrn mehr durch die Nacht. Da war einmal ein Chauffeur, ein geborener Oesterreicher, der lud mich ein 얍 zur Mondscheinpartie und auf der Landstrasse wollte er mich vergewaltigen. Ich habe gesagt: Mein Herr, das kann man nicht so ohne weiteres. Er hat gesagt: Ist das aber eine Hure! Und dann hat er mich auch noch beschimpft. S LADEK (kommt) D AS F RAEULEIN Guten Abend der Herr! S LADEK (bleibt stehen) Guten Abend. K NORKE Sladek! Hier! -- Nun? S LADEK Ich bin da. Ich halt mein Wort. Ich bin bereit. K NORKE Das freut uns ausserordentlich. S ALM Haben wir noch Benzin? H ALEF Dreieinhalb Tropfen. Nicht ganz. S ALM (zu Horst) Kauf das bessere Oel . Nimm Halef mit. H ORST und H ALEF ( ab ) R UEBEZAHL Wir brauchen bald ein neues Auto. K NORKE (zu Sladek) Und wie geht es der gnädigen Frau? S LADEK Es ist aus. Radikal. K NORKE Man gratuliert. S LADEK Danke. D AS F RAEULEIN (spielt am Grammophon die Träumerei von Schumann.) K NORKE Du weisst, was mit einer gnädigen Frau geschieht, die Soldaten vor dem Feinde verrät?

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] OelN ] BabN ] B N B

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O[i]|e|l korrigiert aus: Ab

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SB Volksbühne 1929, S. 30

Endfassung in drei Akten

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K2/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

S LADEK Sie hat noch nichts verraten. K NORKE Aber sie wird uns verraten. S LADEK Wenn sie uns verrät, so gebührt ihr nichts anderes. K NORKE Soll man warten, bis einen der Feind vernichtet? S LADEK Nein. In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. S ALM Wir sind Natur. 얍 K NORKE Du bist auch Natur. S LADEK Ja. K NORKE Also? S LADEK Also. S ALM Zur Sache. S LADEK (sonderbar erregt) Meine Herren! Als ich sie kennen lernte, war sie um fünfzehn Jahre jünger, als zuletzt, obwohl bis dahin nur vier Jahre vergangen sind, aber der Reiz war schon eigentlich nach zwei Jahr weg, der natürliche Reiz --. Meine Herren, das alles ist doch kein Problem, das ist nur traurig. S ALM Zur Sache. K NORKE Du wartest hier. Wir haben es nur zu melden und sind bald wieder da. Dann erlauben wir uns, der gnädigen Frau unsere Aufwartung zu machen. Du hast doch den Schlüssel? S LADEK Ja. K NORKE Du lässt die Haustür offen, verstanden ? Wir warten unten zehn Minuten, dann wirst Du einen Pfiff hören, und dann sind wir auch schon droben. Die zehn Minuten brauchen wir, Du musst ihr etwas vorspielen, damit sie nur nichts ahnt und schreit. Sie ist nämlich raffiniert, das weisst Du ja. Sag ihr, Du seiest zurückgekehrt, hättest alles bereut -- es ist alles ungeschehen und Du liebst sie, verstanden ? S LADEK Ja. S ALM Sladek, falls Du es Dir überlegen solltest -S LADEK (unterbricht ihn) Ihr müsst mir nicht drohen. Ich habe keine Angst. 얍 Ich hab mir das alles genau überlegt und kann selbständig denken. Das ist anerkannt. S ALM Das spielt keine Rolle. S LADEK Oho! S ALM Zahlen! D AS F RAEULEIN Alles zusammen? S ALM Wir sind eine Familie. R UEBEZAHL Sein Vater ist mein Sohn. S LADEK Wann fass ich meine Uniform? K NORKE (zu Sladek) Bald. S LADEK Auf Wiedersehn. S ALM (zu Rübezahl) Los, sonst weint der General! B

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Nein.N ] ] BverstandenN ] BnämlichN ] BverstandenN ] BfallsN ] BselbständigN ] B

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korrigiert aus: Nein, Absatz getilgt korrigiert aus: Verstanden korrigiert aus: nähmlich korrigiert aus: Verstanden

[F]|f|alls korrigiert aus: selbstständig

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SB Volksbühne 1929, S. 32

Endfassung in drei Akten

K2/TS1 (Grundschicht)

R UEBEZAHL Weisst Du, was ich jetzt gesehen hab? Mein Häuschen. Es ist wirklich das Einzige. Wenn alles mit Deutschland klappt, dann kauf ich mir die niedrigen Fenster -- (ab) S ALM (zu Knorke; deutet auf Sladek; leise) Der Kerl ist doch blöd? K NORKE Besser blöd als feig. (ab mit Salm) D AS F RAEULEIN Auf Wiedersehn die Herren! Auf Wiedersehn! (Sie beschäftigt sich mit ihrem Strumpfband.) S LADEK (beobachtet sie) Auf Wiedersehn. D AS F RAEULEIN Der Herr kennt die Herren? Das waren doch Soldaten? Nicht? Oder ? -- So antworten Sie doch! Sind Sie taub? S LADEK Ja. D AS F RAEULEIN Die Männer heutzutag sind alle originell. -- Was wünscht der Herr? Trinken wir eine Flasche Wein? S LADEK Was kostet das? D AS F RAEULEIN Eine Milliarde. S LADEK Und, was kosten Sie? D AS F RAEULEIN Wie meint das der Herr? S LADEK Wenns nicht stimmt, so sagen Sies 얍 nur. Ich habe gehört, dass Sie sich für eine Milliarde ausziehen. D AS F RAEULEIN Manche Herren trinken lieber Wein. S LADEK Ich nicht. Ich krieg nämlich keinen Rausch. Ich spei nur alles voll. D AS F RAEULEIN Ist das so schlimm? Dann ziehe ich mich lieber aus. S LADEK Eine Milliarde ist viel Geld. D AS F RAEULEIN Der Herr sind Kaufmann? S LADEK Ich bin kein Schieber. D AS F RAEULEIN Also redlich verdient? S LADEK Nein. D AS F RAEULEIN Geschenkt? S LADEK Nein. D AS F RAEULEIN Es geht mich auch nichts an. S LADEK Ich habe die Milliarde gestohlen. Ich kenn nämlich eine Witwe, die hat noch drei im Schrank. Sie verdient sehr schön und liebt mich, das heisst: Eigentlich gibt es keine Liebe. Man muss nur selbständig denken. Es ist ein glattes Geschäft. Sie hat sich den Sladek gekauft. Ich hab mich ihr ganz gegeben, aber sie ist so eifersüchtig, dass ich nicht zum Arbeiten komm. Sie will herrschen, drum lässt sie mich um jede Million betteln. Da hab ich die Milliarde gestohlen, sie gehört mir, ich bin im Recht. Gib mir eine Zigarette. D AS F RAEULEIN Du gefällst mir immer besser. Gib mir die Milliarde. S LADEK Zieh Dich aus. D AS F RAEULEIN Hernach. S LADEK Nein. Hernach wird man geprellt. D AS F RAEULEIN Du hast viel mit schlechten Frauen verkehrt. 얍 S LADEK Eigentlich nur mit Huren. B

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hab?N ] DasN ] BOderN ] BselbständigN ] BSladekN ] B B

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hab[e]|?| [d]|D|as [o]|O|der korrigiert aus: selbstständig korrigiert aus: S LADEK

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SB Volksbühne 1929, S. 34

Endfassung in drei Akten

K2/TS1 (Grundschicht)

D AS F RAEULEIN Pfui! Sowas sagt man nicht! S LADEK Sie weiss, dass ich fort will, aber sie sieht es nicht ein. Ich bin zu rücksichtsvoll. Alles hat ein End. Diesmal radikal. -- Weisst Du, was das Furchtbarste ist? Wenn man will und kann nicht. D AS F RAEULEIN (lacht) S LADEK Lach nicht! D AS F RAEULEIN Das ist doch komisch! S LADEK Nein, das ist tragisch. Wenn etwas schon lange tot ist, vielleicht nie gelebt hat, und man redet damit, als wärs gesund. Ich bin nicht feig und wollt nie Theater spielen und habs doch getan. Sie hat es gewusst, dass sie nur winseln muss und ich verlier die Kraft. Weil ich ein anständiger Mensch bin, zuguterletzt. Aber damit Geschäfte machen, das ist ein Verbrechen. D AS F RAEULEIN Du musst ewig gearbeitet haben, um auf solche Gedanken zu kommen. S LADEK Ich hab noch nie richtig gearbeitet. Sie hat es nicht gern gesehen, dass ich was verdien. Sie hatte Angst, ich könnte ohne sie leben. Sie hat mich lieber ausgehalten, das ist das berühmte mütterliche Gefühl. Auch so ein Verbrechen. D AS F RAEULEIN (beugt sich über ihn) Sprich nicht mehr. Das ist mir alles zu hoch. Gib mir die Milliarde -S LADEK Du hast so eine schöne Haut -D AS F RAEULEIN Ich bin auch ein Sonntagskind. S LADEK Ich nicht. -- Du bist so weich. D AS F RAEULEIN Das hat jede Frau. S LADEK Nein, nicht jede. D AS F RAEULEIN Was der kleine Mann für grosse Augen hat. Schau mich an. Wohin schaust 얍 Du denn? S LADEK Ich schau Dich an. D AS F RAEULEIN Nein. S LADEK Doch. D AS F RAEULEIN Du schaust mich an und doch nicht an. Hinter mir ist nichts. Ich glaube, Du findest den richtigen Kontakt zum Weibe nicht. S LADEK Möglich. D AS F RAEULEIN Gib mir die Milliarde, dann zieh ich mich aus. S LADEK ( gibt sie ihr) D AS F RAEULEIN (küsst ihn) Danke. (Sie zieht sich aus) Du bist ein einsamer Mensch. Du musst öfters kommen, sonst wirst Du noch melancholisch. Das Weib ist die Krone der Schöpfung. S LADEK Zieh Dich ganz aus. D AS F RAEULEIN Nein. Heute regnet es und ich bin sehr empfindlich. S LADEK Zieh Dich ganz aus. D AS F RAEULEIN Nein! Ich werde krank. S LADEK Ich hab Dir die Milliarde gegeben, und Du hast versprochen -B

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FurchtbarsteN ] nichtN ] BgibtN ] BmusstN ] Bes undN ] Bich binN ] B B

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korrigiert aus: Furchbarste korrigiert aus: nich korrigiert aus: Gibt korrigiert aus: muss korrigiert aus: esdund korrigiert aus: ich{h}bin

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SB Volksbühne 1929, S. 35

Endfassung in drei Akten

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D AS F RAEULEIN (unterbricht ihn) Nichts habe ich versprochen! Willst Du, dass ich mir den Tod hole? S LADEK Das geht mich nichts an! Ich lass mich nicht betrügen! D AS F RAEULEIN Schreien Sie nicht so mit mir, Sie! S LADEK Kusch, Krone der Schöpfung! D AS F RAEULEIN Ich bin doch kein Hund! Ich bin ein Mensch, Sie! Hinaus! Zurück oder ich schrei! Ich schrei, Du Lump, Du Dieb! Hier wird nicht gehasst, hier wird geliebt! (sie schreit und flieht) S LADEK (allein; starrt ihr nach) A NNA (erscheint) Guten Abend, Sladek. (Stille) A NNA Ich dachte, Du bist Soldat. Und schon in Uniform. 얍 S LADEK Nein. -- Es ist offen, vorne, das Kleid. A NNA (knöpft es rasch zu) S LADEK Lass es nur. A NNA Ja, es wird nichts geschehen. -- Ich bin Dir wiedermal nachgeschlichen. Ich habe Dir nur noch etwas mitzuteilen, dann geh ich wieder. S LADEK Anna -- Ich wollte wieder zu Dir kommen. A NNA (starrt ihn entsetzt an) Das ist nicht wahr! S LADEK Doch. A NNA (sieht sich ängstlich um) Wo warst Du? S LADEK Bei den Soldaten. Ich hab mir das alles überlegt. A NNA Was willst Du von mir? -- Was denkst Du jetzt? S LADEK Dass alles wieder gut wird. A NNA Das gibt es nicht. S LADEK Ich hab Dich lieb. A NNA Nein. Nein. S LADEK Ich lüge nicht. A NNA Heut abend hättest Du mich erschlagen können. S LADEK Ich hab Dich nie gehasst. A NNA Doch. Und mit Recht. Ja, mit Recht. Das wollte ich Dir sagen. (Stille) A NNA Ich bin daran schuld. Es war nicht recht von mir, dass ich Dich mit aller Gewalt hielt, dass ich daran dachte, mit Dir ein Leben lang zusammen --. Ich hätte längst abtreten müssen, aber ich dachte nur an mich. Ich hab Dich gequält, ich war Dir überall im Weg. Ich hab über Dich bestimmt, jetzt ist es mir, als hätt ich das alles berechnet. Verzeih mir. Es ist mir plötzlich klar geworden. Klar. Klar. (Stille) B

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K2/TS1 (Grundschicht)

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Absatz eingefügt eingefügt korrigiert aus: Anna -.

mi[e]|r| Absatz eingefügt eingefügt korrigiert aus: mir, Absatz eingefügt

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SB Volksbühne 1929, S. 36

Endfassung in drei Akten

K2/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

얍 B A NNA N Geh, bitte. Es hat keinen Sinn, dass B N Du bei mir bleibst. Das ist sicher nur so ein plötzliches Gefühl für mich, das bildest Du Dir ein. Es ist aus. Warum bin ich nicht zwanzig Jahre jünger? Warum hab ich Dich damals getroffen? Es war ein reiner Zufall, das Leben ist grausam. Nein, nicht Du -- ich hab Dich genommen, 5 ich hab mich an Dich gekettet, ich hab Dir alles gegeben, alles verlangt. Und dann hab ich immer etwas gesucht, es ist Dir nicht aufgefallen. Du bist eine andere Welt. Du siehst anders, hörst anders, denkst anders. -- Geh, Sladek. Geh, wohin Du willst. Es ist wirklich nicht schön hier. Ich halt Dich nicht. BMarschierN mit Deinen Soldaten, ich werde keine einzige versteckte Patrone anzeigen, ich geh 10 auch nicht zu den BPolen.N Ich verrate nichts. Geh, bitte. Ich bleib zurück. S ALM , BH ORST ,N R UEBEZAHL (erscheinen hinter Anna) S LADEK (erblickt sie und versteinert) A NNA Du bist jung. Ich bin schon grau. Zwischen uns stehen hundert BJahr.N S ALM Drauf! 15 A NNA Sladek! Was ist das!? Was ist das?! R UEBEZAHL ( BstürztN sich auf Anna) Was ist das! A NNA Hilfe! Hilfe! -- au! R UEBEZAHL Das Mensch plärrt! A NNA Sladek! Sladek! 20 S LADEK Halt! S ALM (mit dem Revolver; zu Sladek) Zurück! Zurück! R UEBEZAHL (ersticht Anna) Verrat uns! Verrat uns! Vieh! A NNA (bricht zusammen und winselt) 얍 Au -- Sladek, Du schlechter Mensch -- Du, Du, Du -- -- (sie stirbt) 25 (Stille) S ALM (zu Sladek) Hände hoch! Was sollte das Halt? S LADEK Weil sie unschuldig war. S ALM Das gibt es nicht. S LADEK Doch. 30 S ALM Seit wann? S LADEK Seit zwei Minuten. Sie wollt nichts verraten, hat sie gesagt. Ich glaub keiner Frau, aber diesmal wars eine ausserordentliche Ausnahme. S ALM Und? S LADEK Da gibts kein Und. 35 S ALM Du hast Halt gerufen. Weisst Du, dass ein solches Halt die nationale Revolution vernichten kann? S LADEK Daran hab ich nicht gedacht. Ich hab nur an die Gerechtigkeit gedacht. Es war mir plötzlich als wären meine Ansichten über die Natur falsch und ich hätt die Wahrheit vergessen. Ich kann nämlich BselbständigN denken -40 S ALM (unterbricht ihn) Du hast nicht selbständig zu denken! Du bist Soldat. S LADEK Man kann ja nichts dafür. 1 1 8 10 11 13 16 39

A NNA N ] ] BMarschierN ] BPolen.N ] BH ORST ,N ] BJahr.N ] BstürztN ] BselbständigN ] B

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eingefügt Leerzeile getilgt

Ma\r/schier korrigiert aus: Polen, korrigiert aus: H ORST . korrigiert aus: Jahr, korrigiert aus: stürtz korrigiert aus: selbstständig

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SB Volksbühne 1929, S. 37

SB Volksbühne 1929, S. 38

Endfassung in drei Akten

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K2/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

S ALM Du hast dafür zu können! Das ist Deine Pflicht! S LADEK Ihr könnt nichts dafür. S ALM Das rettet Dich Du Trottel. Sonst -S LADEK (unterbricht ihn) Ich hab keine Angst. Ich bin nicht feig. In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. R UEBEZAHL Wie oft hör ich das noch?! (Stimmen unten) H ORST Da spricht wer. 얍 S ALM Rasch! Fort! R UEBEZAHL Sie hat sich bemacht. S LADEK Radikal.

SB Volksbühne 1929, S. 39

Ende des zweiten Aktes. 15



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D R I T T E R A K T.

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SB Volksbühne 1929, S. 40

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Kiesgrube. Schminke sitzt apathisch an der Wand, bewacht von Horst, Halef und Sladek. Sladek ist endlich in Uniform mit aufgepflanztem Seitengewehr. Am oberen Rande der Grube steht der Hauptmann und wartet auf Salm, Knorke und Rübezahl. Es wird allmählich Tag.

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H ALEF Jetzt möcht ich mich rasieren. H ORST Es hat stark geregnet, zuvor. S LADEK Obs wieder regnen wird? (Stille) H ALEF Zuguterletzt sind die Dreckjuden selbst daran schuld. S LADEK Ich glaub eigentlich nicht, dass es eine Zukunft gibt. H ORST (zu Sladek) Du hast Dich für das Fräulein interessiert? S LADEK Sie hat keine Seele. Sie betrügt. H ALEF Hast Du eine Seele? S LADEK Was ist das: Seele? H ALEF Du hast doch gerade gesagt, dass das Fräulein keine Seele hat ! S LADEK Ich? H ORST Du! S LADEK Ich muss mich versprochen haben. Das ist sehr komisch. (Stille) S LADEK Sag: Du bist doch Türke? H ALEF Ich? S LADEK Ja. Weil Du Halef heisst. Ich kannte einen Halef, der hat türkischen Honig verkauft. Aber der hiess eigentlich auch nicht Halef. B

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H ALEF Ich verkaufe türkischen Honig und bin ein geborener Sachse. S LADEK Dresden soll schön sein. H ORST Wer war schon in Nürnberg? H ALEF Nürnberg ist schön. 얍 H ORST Ja. Dort haben sie eine herrliche Folterkammer in der Burg. Ich habe nach der ersten Kommunion meine Grossmutter besucht, die lebt in Nürnberg. Die kennt jede Daumenschraube, die hat mir das alles erklärt. Meine Mutter hat Krämpfe bekommen, ich und meine Grossmutter haben lachen müssen. Zum Beispiel die eiserne Jungfrau -H AUPTMANN (ruft) Halef! H ALEF Majestät! H AUPTMANN Wo bleibt der Salm? H ORST (lacht leise) H AUPTMANN Wer lacht da? H ORST Der Sladek. S CHMINKE Nein, ich! (Stille) H AUPTMANN (steigt langsam in die Grube hinab. Er spricht leise mit Halef und Horst) S CHMINKE (lauscht) H AUPTMANN Der Salm sollte doch schon hier sein. H ALEF Schon längst. H ORST (ironisch) Er wollte hier sein. H AUPTMANN (zu Horst) Wie alt bist Du? -- Ihr habt wieder gesoffen? H ALEF Nur der Salm. Und unsere rechte Hand: Herr Rübezahl, das deutsche Märchen. H AUPTMANN Ihr seid gefährlich grosszügig. Holt mir den Salm. Und diese rechte Hand. Aber schleunigst! Es wird doch bald Tag. H ALEF und H ORST ( ab ) H AUPTMANN (nähert sich langsam Schminke) Sie haben soeben gelacht? S CHMINKE Ueber diese Kiesgrube. H AUPTMANN Sie kennen die Bedingung unter der ich Sie begnadige. S CHMINKE Es gibt keine Bedingung unter der ich begnadigt werden könnte. Machen Sie sich nicht lächerlich! 얍 H AUPTMANN Ich pflege mich nicht lächerlich zu machen. S CHMINKE Pardon! Ich wollte Sie nur aufmerksam machen, dass Sie mich nicht begnadigen dürfen, weil Sie ja befürchten müssen, dass ich alle Ihre Geheimnisse verrate, sobald ich frei bin. H AUPTMANN Sobald Sie frei sind, wird es keine Geheimnisse mehr geben. Ich warte nur auf das Signal der massgebenden Stelle. Sobald ich marschiere, sind Sie frei. Allerdings unter der bekannten Bedingung, dass Sie mir Ihre Auftraggeber, auf deren Befehl hin Sie Geheimnisse verraten -S CHMINKE (unterbricht ihn) Ich bin ganz allein. H AUPTMANN Lügen Sie nicht, Feigling! (Stille) B

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SB Volksbühne 1929, S. 42

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K2/TS1 (Grundschicht)

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S CHMINKE Ist es nicht feig, mich hier in dieser Kiesgrube --? H AUPTMANN Es geht um das Vaterland. S CHMINKE Sie betrachten sich als Vaterland? H AUPTMANN (fast etwas unsicher) Ich kämpfe für das Vaterland. Für seine Grösse, seine alte Macht. Das verstehen Sie nicht. Ihr Weltreich ist Mist -- vielleicht ein schöner Traum. Ich habe mich mit diesen Sachen nicht so beschäftigt. Ich bin Soldat. Ich hab einen traumlosen Schlaf. (Stille) H AUPTMANN Sie sind verrückt. Gemeingefährlich verrückt. Glauben Sie denn, Sie Idiot, dass es jemals Frieden geben wird? S CHMINKE Nein, das glaube ich nicht. (Er wankt etwas) H AUPTMANN (braust auf) Machen Sie sich keinen Narren aus mir, Sie! S CHMINKE Ich mache mir keinen Narren aus 얍 Ihnen. Ich glaube, wir verstehen uns. Sie haben ja von Ihrem Standpunkt aus vollständig recht -- es kommt aber nur auf die Höhe des Standpunktes an, und wie tief oder hoch man über dem eigenen Standpunkte stehen will -- oder kann -- (Er fasst sich an den Kopf) Ich bitte das Verhör zu unterbrechen -- Ich habe einen zu schweren Kopf. Man hat mir nämlich auf den Kopf geschlagen, das kommt davon -- (Er lächelt und setzt sich.) Werde ich wieder geprügelt? H AUPTMANN ( wendet sich plötzlich ab und steigt langsam aus der Kiesgrube; wartet wieder oben) (Pause) S LADEK (plötzlich) Sie werden Dich nicht mehr schlagen. S CHMINKE (sieht ihn erstaunt an; spöttisch) Ich danke sehr. S LADEK Ich dank auch sehr, dass Du mich nicht verraten hast. D IE Z WEI (fixieren sich) S LADEK (lächelt) Ja, dass Du nämlich nicht gesagt hast, dass Du mich kennst. Ich hätt dadurch Unangenehmes gehabt, ich wär nämlich leicht in einen Verdacht gekommen, der ja garnicht stimmt, weil wir uns doch nur kennen, aber immer das Gegenteil denken. S CHMINKE Wieso? S LADEK Das weisst Du doch. S CHMINKE Nein. S LADEK Das gibt es doch nicht. S CHMINKE Wer bist Du? S LADEK Ich? S CHMINKE Ja, Du. S LADEK Du kennst mich nicht? 얍 S CHMINKE Nein. (Stille) S LADEK Ich hab Dich gleich erkannt. Ich bin der Sladek. S CHMINKE Sladek? Kenn ich nicht. B N

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SB Volksbühne 1929, S. 44

Endfassung in drei Akten

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K2/TS1 (Grundschicht)

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S LADEK Du hast Dich mal zur Diskussion gemeldet, man hätt Dich fast erschlagen, aber das hätt mir leid getan, denn ich hab die Gerechtigkeit lieb, obwohl es sie nicht gibt. Wir haben debattiert, ich red nämlich nur gern mit intelligenten Menschen, die selbständig denken können, obwohl man das nicht soll. Ich bin nämlich ein sogenannter zurückgezogener Mensch. Ich erinner mich an jedes Wort. Wir haben über Weltpolitik debattiert. Deine Nase hat geblutet. S CHMINKE Ja, das war jene Diskussion. Aber an Dich kann ich mich nicht erinnern. S LADEK Das tut mir leid dass Du mich vergessen hast. S CHMINKE (fast etwas spöttisch) Ich bitte um Verzeihung, aber ich kenne so viele Menschen -S LADEK (unterbricht ihn) Bitte, bitte! Der Einzelne zählt ja auch nichts, das ist natürlich, obwohl man da komische Erfahrungen machen kann. (Stille) S LADEK Es freut mich, dass Du zuvor gesagt hast, Du glaubst nicht daran, dass es jemals Frieden geben wird, dass es also nur Gewalt gibt und sonst nichts. Dass Du Dich zu meiner Ansicht über den Sinn des Lebens bekehrt hast, das freut mich, denn Du bist ein sogenannter intelligenter Mensch. Hörst Du mich? S CHMINKE (hatte den Kopf in den Händen vergraben; apathisch) Ja. 얍 S LADEK Der intelligente Mensch gibt seinen Denkfehler zu, ich denk heut auch etwas anders, obwohl ich immer recht gehabt hab, aber es war alles durcheinander. Ich hab mich mit dem Vaterland verwechselt. (Stille) S LADEK Es wird zwar immer gemordet, weil man ja nicht anders kann, aber das darf der Einzelne nur als Teil, obwohl ja ganz zuguterletzt alles für den Einzelnen ist. Es ist aber komisch, dass, wenn man sich als Teil selbständig macht, zum Beispiel beim Morden, man das Gefühl hat, als sollt man doch anders tun, obwohl man doch muss. Hörst Du mich? S CHMINKE (wie vorher) Ja. S LADEK Zum Beispiel für das Vaterland darf der Einzelne als Teil zum Beispiel jeden Mord begehen. -- Ich war mal bei der Hinrichtung einer Landesverräterin. Das war eine Frau. S CHMINKE (horcht auf) S LADEK Eine Landesverräterin gehört im Interesse des Ganzen erledigt, das ist doch klar. Es war auch alles in Ordnung, auch wenn sie unschuldig gewesen sein sollte, aber wir konnten nicht anders, wir mussten sie hinrichten, das sind manchmal so Umstände. Das ist jetzt nur für Dich persönlich, weil, wie gesagt, Du selbständig denken kannst und vielleicht das verstehst. Nämlich ich versteh alles, nur das nicht, dass es mir manchmal ist, als hätten die Leut, die diese Frau hingerichtet haben, obwohl sie doch vollkommen im Recht waren, weil sie nicht anders tun konnten, doch unrecht getan. Das ist 얍 sehr interessant. B

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SB Volksbühne 1929, S. 46

Endfassung in drei Akten

K2/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

S CHMINKE Sehr. (Stille) S CHMINKE Wer war diese Frau? S LADEK Das ist Geheimnis. Dieses Ganze, verstehst Du, ist nur unter uns -S CHMINKE Meinst Du? S LADEK Das hab ich nur Dir gesagt, bitte. S CHMINKE Warum? S LADEK Es ist nur unter uns. Unter uns beiden. S CHMINKE (spöttisch) Ich danke Dir für das grosse Vertrauen. S LADEK Du wirst mich nicht betrügen. S CHMINKE Wieso? S LADEK Bitte. (Stille) S CHMINKE Du betrügst Dich selbst. Du denkst als Teil zu selbständig, davon werden Deinesgleichen blöd. Jetzt weiss ich, wer Du bist. S LADEK Jetzt erst? S CHMINKE Du bist der Sladek. S LADEK Ja. S CHMINKE Das ist sehr interessant. (Stille) S LADEK Das ist alles nicht wahr. Das ist alles ganz anders gewesen . S CHMINKE Das war alles für das Vaterland? S LADEK Ja, aber es gibt keine Gerechtigkeit. Es ist arg, dass man denken kann. H AUPTMANN (steigt wieder herab) Sladek! Was wollte er von Dir? S LADEK Er hat nur gefragt, wann er wieder verhört wird. H AUPTMANN Jetzt. (er tritt vor Schminke und fixiert ihn) S CHMINKE Sie verstehen mich, das habe ich Ihnen bereits gesagt . Denn Sie sind ja ganz meiner Meinung, nur können Sie es nicht vertragen zu hören, wie Sie 얍 eigentlich denken, und deshalb wollen Sie mich nun zwingen, das Gegenteil zu behaupten. H AUPTMANN Verrückt. S CHMINKE (lächelt) Vielleicht gemeingefährlich. Wir müssen ja bei einer bestimmten Grenze aufhören zu denken, das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Ich habe kein Recht, das Hoffen des einzelnen Menschen auf den Frieden zu zerstören. Ich habe die Pflicht zum Betrug. Und ganz zuguterletzt ist das ja gar kein Betrug, denn es dreht sich ja eigentlich nicht darum, wie es der Menschheit tatsächlich ergeht, sondern was sich der einzelne Mensch einbildet. Wir verstehen uns. H AUPTMANN Finden Sie? S CHMINKE (lächelt) Und was den ewigen Frieden anlangt, so glaube ich wirklich nicht daran, aber ich predige ihn, da ich zuguterletzt an keinen Fortschritt glaube, weil ich weiss, dass es nur einen Fortschritt gibt, wenn man keine Rücksicht auf den einzelnen Menschen nimmt. Es dreht sich doch zuguterletzt alles um den B N

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SB Volksbühne 1929, S. 47

Endfassung in drei Akten

K2/TS1 (Grundschicht)

einzelnen Menschen, darum predige ich den radikalsten Fortschritt, das Reich der unpersönlichen Masse. Es gibt nämlich keinen Fortschritt, solange es die Einzelnen gibt. Das ist doch alles Betrug, nicht wahr? H ALEF (kommt rasch) Hauptmann! H AUPTMANN Wo sind die anderen?! H ALEF Verschwunden. (er nähert sich ihm; unterdrückt) Es stinkt, Herr General. Wir sind nämlich umzingelt. H AUPTMANN Umzingelt? Wer? Wir? 얍 H ALEF Wir. Glotz nicht. H AUPTMANN Wer hat uns umzingelt? H ALEF Die anderen. Sie sind in der Nacht gekommen, jetzt wird es Tag, da hat sie der Posten entdeckt. Sie haben Artillerie aufgefahren. Um unser ganzes Fort. H AUPTMANN Was ist das für Artillerie? H ALEF Reguläre. H AUPTMANN Reguläre? H ALEF Sie haben einen Parlamentär gesandt mit der weissen Fahne. Als hätten wir Krieg. D ER B UNDESSEKRETAER (erscheint am oberen Rande der Kiesgrube) Im Auftrage der massgebenden Stelle habe ich Ihnen den Beschluss zu überbringen betreffs Ihrer zukünftigen Verwendung, wenn ich mich so ausdrücken darf. Ihre sogenannte Armee wurde seinerzeit aufgestellt erstens als Grenzschutz, da ein etwaiger Einbruch irregulärer feindlicher Formationen befürchtet werden musste, zweitens als eine Art Notpolizei, die die Aufgabe hatte auf dem Lande versteckte Waffen zu sammeln oder im Falle eines bolschewistischen Aufstandes neben dem regulären Militär als Selbstschutz eingesetzt zu werden. Da sich aber nun die innerpolitische Lage überraschender Weise derart konsolidiert hat, dass zur Niederschlagung einer kaum zu erwartenden Linksrevolution die vorhandenen regulären Machtmittel des Staates vollständig ausreichen, andererseits die aussenpolitische Lage -H AUPTMANN (unterbricht ihn) Das ist gelogen. Jedes Wort. Es ist eine Schande! Meine Soldaten sind keine Nachtwächter, das ist die Armee der nationalen Revolution! 얍 D ER B UNDESSEKRETAER -- andererseits die aussenpolitische Lage die Möglichkeit, wenn auch nicht einer Versöhnung, so doch der wirtschaftlichen Annäherung der Nationen erhoffen lässt. Wir Deutschen müssen trotz aller Demütigungen diesen Weg betreten aus nationalem Interesse, um die bürgerliche Wirtschaftsordnung zu festigen. Die massgebende Stelle musste sich also entschliessen -- dieser Entschluss fiel ihr nicht leicht -- die sofortige Auflösung Ihrer, ich wiederhole: sogenannten Armee zu befehlen. Die massgebende Stelle wird ihr Möglichstes tun betreffs Unterbringung Ihrer Leute in einen bürgerlichen Beruf. H AUPTMANN Danke. (Stille) B

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SB Volksbühne 1929, S. 49

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K2/TS1 (Grundschicht)

H AUPTMANN Das hab ich erwartet, dass ich wieder verraten werde. Wir verzichten auf den bürgerlichen Beruf, dazu muss man geboren sein. Ich denke nicht daran, Verbrechern an deutschen Gedanken, und nennen sie sich auch massgebende Stelle, zu gehorchen! Sagen Sie es ihr, dass ich auf die Festigung der bürgerlichen Wirtschaftsordnung pfeife, dass ich an keine Versöhnung glaube und dass ich kämpfen werde, bis Deutschland wieder gefürchtet wird! D ER B UNDESSEKRETAER Ich mache Sie aufmerksam: Falls Sie sich nicht freiwillig auflösen, so haben wir die Gewalt. -H AUPTMANN (unterbricht ihn) Mit Artillerie! Ich weiche nicht! D ER B UNDESSEKRETAER Ich bitte Sie, nicht zu deklamieren. Ergeben Sie sich, oder Sie tragen die volle Verantwortung für ein völlig sinnloses Blutvergiessen. 얍 Es ist deutsches Blut. H AUPTMANN Lieber deutsches Blut vergiessen, als die nationale Wiedergeburt vernichten! Ich fürchte mich nicht! D ER B UNDESSEKRETAER Ich mache Sie aufmerksam, dass die Inflation anfängt aufzuhören. Ergeben Sie sich -H AUPTMANN (unterbricht ihn) Nie! D ER B UNDESSEKRETAER Falls Sie sich fügen, so kann ich Ihnen inoffiziell erklären, dass ich für meine Person alles dransetzen werde, Sie vor Strafe zu bewahren. Sie verstehen mich? H AUPTMANN Strafe? Strafe? Wofür? Dass ich mich nicht verraten lasse?! D ER B UNDESSEKRETAER Sie sind ein Mensch, dem man ab und zu seine Lage klar machen muss -H AUPTMANN (unterbricht ihn) Ich verzichte! Ich sehe klar! Ich kenne Freund und Feind! (Stille) D ER B UNDESSEKRETAER Ich gebe Ihnen Bedenkzeit. H AUPTMANN Unnötig! D ER B UNDESSEKRETAER Sollten Sie nicht die weisse Fahne hissen, so eröffnen wir, so weh es uns auch tut und so gerne wir es vermeiden möchten, das Feuer. H AUPTMANN Machen Sie sich nicht lächerlich. D ER B UNDESSEKRETAER Sie verkennen sich. (rasch ab) (Pause. Morgenwind) H AUPTMANN Diese Hunde. Die gemeinsten Verräter sitzen hinter den eigenen Kulissen! -- Hast Du gehört, dass sich die massgebende Stelle versöhnen will? H ALEF Ja, das hab ich auch gehört. H AUPTMANN Glaubst denn Du an den Frieden? H ALEF Ich weiss nichts. H AUPTMANN Es hat keinen Frieden zu geben, Halef! Jetzt fangen wir an zu existieren! 얍 Wir! -- Lauf zu Salm, er soll sofort -H ALEF (unterbricht ihn) Salm ist samt seiner Puppe verschwunden. Unsere rechte Hand. Fort. Ausgerückt. N

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H AUPTMANN Ausgerückt. H ALEF Hast Du das gehört, was dieser Bonze sagte, das mit der Strafe? H AUPTMANN Hast Du Angst? H ALEF Wir sind betrogen. Rein juristisch waren das nämlich korrekte Morde -- und der Herr Staatsanwalt wird wohl nicht umhin können anzuklagen. -- Vielleicht hat der Herr Staatsanwalt bereits eine Belohnung für die Ergreifung der Mörder ausgesetzt. H AUPTMANN (ist anderswo) Wieviel? H ALEF Viel. ( Stille ) H AUPTMANN Hast Du Angst? H ALEF Ja. Ich hab Angst. H AUPTMANN So verschwind, feiges Vieh! H ALEF Zu Befehl ! Ich lös mich selbst auf. Das würd ich an Deiner Stelle auch tun. H AUPTMANN Halt das Maul! Noch bin ich nicht verreckt . Ich bin noch ich! H ALEF Hauptmann! Ich bin Soldat. Ich hasse diese Republik, aber ich schiesse nicht sinnlos auf deutsche Soldaten. H AUPTMANN Das sind keine Soldaten, das sind Halunken! H ALEF Das sind Deutsche wie wir. H AUPTMANN Wenn das noch Deutsche sind, dann ist jeder Rote ein Deutscher! H ALEF Vielleicht! Vielleicht ! (Stille) H AUPTMANN (nähert sich ihm langsam und schlägt ihn plötzlich vor die Brust, dass er zurücktaumelt) 얍 (In der Ferne fällt ein Kanonenschuss) H ALEF Jetzt ist Schluss! Ich war vier Jahre im Feld, der Krieg ist aus! Aus! Ich fall nicht für Dich! Auf dem Felde Deiner privaten Ehre! (er flieht) (In der Ferne fällt ein Kanonenschuss) S LADEK Hauptmann! H AUPTMANN Was ist das?! (verwirrt) S LADEK Ich. H AUPTMANN Wer ist das: „Ich“? S LADEK Ich. (Er nähert sich) Hauptmann, Du bist ganz weiss. H AUPTMANN (lächelt böse) So? S LADEK (blickt empor) Was surrt da? Wie das surrt -( In der Nähe schlägt eine Granate ein.) H AUPTMANN Sie zielen hierher! Sie müssen mich treffen! Marsch, Sladek! Das gilt nur mir! Nur mir! S LADEK Mir auch. H AUPTMANN Nur mir! Nur mir! Wer bist denn Du?! Nichts! Nichts! Marsch, Sladek! Marsch! B

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SB Volksbühne 1929, S. 52

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K2/TS1 (Grundschicht)

S LADEK Ich hab keine Angst. In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. Es surrt. H AUPTMANN Sie beschiessen mich mit Artillerie! Nur mich! (In der Kiesgrube schlägt eine Granate ein) H AUPTMANN (verschwindet im Pulverdampf) S LADEK (bricht getroffen langsam in die Knie) S CHMINKE (lacht) S LADEK Du lachst --? Du lachst , wenn ich getroffen bin --? S CHMINKE (gewollt spöttisch) Du hast mich belehrt: Du darfst ja nichts zählen, sonst kommt das „Ganze“ nicht vom Flecke. 얍 Du hast mich belehrt. Ich danke Dir. S LADEK Bitte. (Stille) S LADEK Es surrt. Immer nur für das Ganze geopfert werden -- wo bleibt denn da der Sladek? S CHMINKE Ich lasse mich nicht mehr hindern. Hörst Du? S LADEK Ja. S CHMINKE Du gehst mich nichts an. S LADEK Jetzt lügst Du. S CHMINKE Meinst Du? S LADEK Das ist nicht schön von Dir. R EGULAERE R EICHSWEHR (erscheint am oberen Rande der Kiesgrube) D ER B UNDESSEKRETAER (tritt vor) Peter Schminke! Schminke! S CHMINKE Hier! D ER B UNDESSEKRETAER (hält ihm ein Zeitungsblatt entgegen) Sie behaupten in diesem Artikel, dass eine massgebende Stelle der deutschen Republik entgegen unserer aussenpolitischen Verpflichtungen heimlich Soldaten geworben und ausgebildet hat, die unter dem Kommando eines ehemaligen Hauptmanns eine sogenannte schwarze Reichswehr gebildet haben. Sie schreiben fernerhin, dass diese Truppen zum Schutze ihrer Existenz Selbstjustiz übten -- Sie reden von Feme. Sie wagen die ungeheuerliche Behauptung, dass aus Angst vor Enthüllung Menschen zu Tode gemartert wurden und nicht nur verratsverdächtige, sondern auch vollkommen Unschuldige. Sie „enthüllen“ hier auch ein Verbrechen, einen nachgewiesenermassen ganz gewöhnlichen Mord, nämlich den Fall Sladek. 얍 S CHMINKE (zu Sladek) Wagst Du es zu leugnen, dass Du es mir selbst erzählt hast, wie jene Bedauernswerte im sogenannten Interesse des sogenannten Vaterlands „hingerichtet“ wurde? S LADEK Das ist sehr kompliziert -D ER B UNDESSEKRETAER Jener Sladek ist ein verkommenes Subjekt, das die mütterliche Liebe einer alternden Frau in egoistischer Weise ausnützte. Ein arbeitsscheuer Lump, liess er sich aushalten und trieb sich mit ihren kleinen Ersparnissen, die er ihr aus dem Schranke stahl, mit Huren herum. Und weil sie das nicht mehr mitansehen wollte, hat er sie in bestialischer Weise ermordet. B

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Endfassung in drei Akten

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K2/TS1 (Grundschicht)

S LADEK (lauscht) Es surrt. Es surrt -D ER B UNDESSEKRETAER Ihr Artikel kann uns Wehrlosen nur schaden. Das ist Wasser auf die Mühle der gehässigsten feindlichen Propaganda. Sie hindern des Deutschen Reiches Wiedererstarkung, indem das Ausland kraft solcher Artikel an unserem aufrechten Verständigungswillen zweifelt. Es gab keine schwarze Reichswehr! Alle Ihre Behauptungen sind glatte Fälschungen! Landesverrat! Landesverrat! S CHMINKE Ich selbst sollte ermordet werden, weil ich der Republik dienen wollte! Dass Sie das als gerecht empfinden , darüber bin ich mir klar. D ER B UNDESSEKRETAER Sie sind Pazifist? S CHMINKE Nein! D ER B UNDESSEKRETAER Sie sind Terrorist ? S CHMINKE Ich muss. S LADEK Das hab ich auch schon gehört. Das hab ich auch schon gehört -얍 D ER B UNDESSEKRETAER Sie bekämpfen den Staat an sich? S CHMINKE Ihren Staat! D ER B UNDESSEKRETAER Es gibt nur einen Staat und der wird sich zu schützen wissen! Auch der Wurm krümmt sich, wenn er getreten wird! S LADEK -- auch der Wurm krümmt sich, wenn er getreten wird -- (er bricht ganz zusammen) (Musik in der Ferne) D ER B UNDESSEKRETAER Die furchtbaren Tage der Inflation haben wir nun gottlob überwunden. Das deutsche Volk befindet sich im kraftvollen Wiederaufstieg. Es hat Unglaubliches ertragen und Ungeheueres vollbracht. S LADEK Ich bitte mich als Menschen zu betrachten und nicht als Zeit -- (er stirbt) G ESANG (Männer, Frauen, Kinder) Einigkeit und Recht und Freiheit Für des Deutschen Vaterland! Danach lasst uns alle streben Brüderlich mit Herz und Hand! Deutschland, Deutschland über alles Ueber alles in der Welt! B

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Werkverzeichnis

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 8v

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Werkverzeichnis

K2/E1

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Werkverzeichnis

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 11

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Werkverzeichnis

K2/E2

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Lesetext

Werkverzeichnis

IN 221.001/4 – BS 45 a [4], Bl. 7

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Werkverzeichnis

K2/E4

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Lesetext

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Sladek oder: Die schwarze Armee (Endfassung, emendiert)

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Sladek oder: Die schwarze Armee

Endfassung, emendiert

SLADEK oder: Die schwarze Armee Historie in drei Akten (11 Bildern) von Ödön Horváth

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dieselbe Person

Z WEI M ATROSEN S TAATSANWALT R ECHTSANWALT L OTTE , DAS M ÄDCHEN Z WEI ANDERE M ÄDCHEN D IE H ANDLESERIN D IE B UNDESSCHWESTER H AKENKREUZLER , S OLDATEN Z e i t : Die Inflation und Tage der Wiedererstarkung. O r t : Deutsches Reich.

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Erster Akt: I. Das Ende einer Diskussion II. Bei Anna III. Im Weinhaus zur alten Liebe IV. Bei Anna

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Lesetext

Sladek oder: Die schwarze Armee

Endfassung, emendiert

Lesetext

Zweiter Akt: V. Im Hauptquartier der schwarzen Armee VI. Immer noch unter der Erde VII. Freies Feld 5

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Dritter Akt: VIII. Die Justiz der Wiedererstarkung IX. Nordseehafen X. Der Fall Sladek XI. Rummelplatz

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I. Das Ende einer Diskussion.

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Straße. H AKENKREUZLER prügeln F RANZ aus einem Saale, in dem mit Musik eine rechtsradikale Versammlung steigt. (Präsentiermarsch) Nacht. E IN H AKENKREUZLER Raus! Raus mit dem roten Hund! E IN A NDERER Da! Da! Du Judenknecht! D IE B UNDESSCHWESTER (erscheint im Tor.) Was hat der gesagt? Wir hätten den Krieg verloren? Solche Subjekte haben uns Sieger erdolcht und das Vaterland der niederen Lust perverser Sadisten ausgeliefert! Am Rhein schänden syphilitische Neger deutsche Frauen, jawohl, das deutsche Volk hat seine Ehre verloren! Wir müssen, müssen, müssen sie wieder erringen, und sollten zehn Millionen deutscher Männer auf dem Felde der Ehre fallen! D IE H AKENKREUZLER Heil! F RANZ Sie! Woher nehmen Sie das Recht, das Volk ehrlos zu nennen? Woher haben Sie den traurigen Mut, zehn Millionen Tote zu fordern?! Sie sind kein Mensch, gnädige Frau! D IE B UNDESSCHWESTER Novemberling! Novemberling! E IN H AKENKREUZLER Zerreißt ihm das Maul! Zerreißt es der bezahlten Kreatur! K NORKE (erscheint im Tor.) Halt! Bundesbrüder, beschmutzt euch nicht! – Sie sind doch der sogenannte Pazifist, der berüchtigte sogenannte Redakteur, das Schwein Franz – F RANZ (unterbricht ihn.) Ja. K NORKE Freut mich außerordentlich, Sie persönlich kennengelernt zu haben. Hätten Sie die große Güte, folgende kleine Anfrage zu beantworten! Ihre „große“ Nation bricht den Versailler Vertrag, Ihren geliebten „Friedens“-Vertrag und besetzt mit Flammenwerfern die Ruhr. Sie proklamiert die rheinische Republik, sie wird das ganze wehrlose, verratene Deutsche Reich „erobern“, von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt, trotz feierlicher Proteste mit verdorrter Hand! F RANZ Der Versailler Vertrag ist das Werk des Imperialismus, ist die Kriegserklärung des internationalen Kapitals an das Proletariat.

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E IN H AKENKREUZLER Juden aller Länder, vereinigt euch! K NORKE Sie wollen, daß das Vaterland französische Kolonie wird? F RANZ Sie wissen, daß ich das nicht will! D IE B UNDESSCHWESTER (lacht.) F RANZ Ich komme aus dem besetzten Gebiet. K NORKE Ich auch. F RANZ Die französische Reaktion raubt an der Ruhr, Brot und Recht. Soldat ist Soldat. Sie haben Schwarzrotgold verbrannt. K NORKE Bravo! D IE H AKENKREUZLER Bravo! F RANZ Bravo. Das deutsche Proletariat stellt sich zum Kampf. Ohne Gewehre, ohne Generäle. Der Friedenswille der Massen ist stärker als alle Bajonette der internationalen Reaktion! Der Militarismus wird an der sittlichen Kraft der schaffenden Arbeit zerschellen, ohne Blut! K NORKE Leitartikel! Tinte! D IE B UNDESSCHWESTER Blut bleibt Blut! K NORKE Krieg ist Krieg! Der passive Widerstand ist die Ausgeburt jüdischer Niedertracht! Eine rote Feigheit! In Berlin feiern internationale Halunken den jüdischjesuitischen Fetzen von Weimar! Bundesbrüder! Bald marschiert die nationale Armee und rottet das pazifistische Gesindel aus! Rache für Straßburg! Rache für Schlesien! Für Schleswig! Für Schlageter! D IE H AKENKREUZLER Heil! Heil! G ESANG (aus dem Saal) Drum Brüder schließt die Runde Und hebt die Hand zum Schwur, In unserem heiligen Bunde Gilt eine Losung nur: Das Hakenkreuz soll flattern Uns führen in der Nacht Bis unsere Schüsse rattern Einst in der Freiheitsschlacht! K NORKE , DIE B UNDESSCHWESTER und DIE H AKENKREUZLER (ab in den Saal; nur vier bleiben zurück.) G ESANG (aus dem Saal) Kam’rad reich mir die Hände, Fest wolln beisamm wir stehn, Mag man uns auch bekämpfen Der Geist kann nicht vergehn! Hakenkreuz am Stahlhelm Schwarzweißrotes Band, Sturmabteilung Hitler Werden wir genannt! Wir lassen uns, wir lassen uns Von Ebert nicht regieren! Hei Judenrepublik! Hei Judenrepublik! Schlagt zum Krüppel den Doktor Wirth! Knattern die Gewehre, tack tack tack,

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Aufs schwarze und das rote Pack! Schlagt tot den Walther Rathenau Die gottverdammte Judensau! (Plötzlich Stille) F RANZ (lehnt die Stirne an die Wand und spuckt Blut.) E RSTER H AKENKREUZLER Der hat seinen Teil. Z WEITER H AKENKREUZLER Noch lange nicht, Kamerad! D RITTER H AKENKREUZLER Ein beschnittener Saujud ist ein anständiger Mensch neben einem arischen Juden. Dem blut ja bloß die Nase. Das ist nur Vorschuß. Z WEITER H AKENKREUZLER Wenns losgeht, wird er sich verbluten. V IERTER H AKENKREUZLER Wann gehts denn los? D RITTER H AKENKREUZLER Bald. Z WEITER H AKENKREUZLER Wenns losgeht, dann kommt ein Gesetz, daß sich jeder Jud einen Rucksack kaufen muß. Was er hineinbringt, das darf er mitnehmen nach Jerusalem. Was er nicht hineinbringt, gehört uns. Wißt Ihr, wieviel polnische Juden in Deutschland wuchern? Zwanzig Millionen! E RSTER H AKENKREUZLER Bei uns in der Schule haben wir nur einen Juden. Wir reden alle nicht mit ihm, aber der Schuft ist gescheit. Neulich hat er als einziger den ollen Cicero übersetzen können, dann haben wir ihn aber verprügelt! Er war ganz blau, und seine Brille ist zerbrochen. Sein Vater, der alte Itzig, hat sich beim Rektor beschwert, aber der hat gesagt, das wären ja nur Streiche der Jugend, und Knaben, die nicht raufen, aus denen wird kein tüchtiger Krieger. Wir haben dem Rektor nämlich gesagt, daß der Jud frech war, darum haben wir ihn gedroschen. Er hat es sofort geglaubt. Träumst du? Z WEITER H AKENKREUZLER Nein. Ich hab nur nachgedacht über diese Judenfrage. Gestern haben sie auf dem Markt so eine plattfüßige Rebekka geohrfeigt. Sie hat nämlich behauptet, daß die Äpfel faul sind, die man ihr verkauft hat, das Dreckmensch. Die Leute haben gelacht. (Heilrufe und Musiktusch im Saal) D RITTER H AKENKREUZLER Das Schlußwort! Los! (ab in den Saal mit dem E RSTEN und Z WEITEN H AKENKREUZLER ) G ESANG (aus dem Saal) Wir treten zum Beten vor Gott den Gerechten, Er waltet und haltet ein strenges Gericht. Er läßt von den Schlechten nicht die Guten knechten, Sein Name sei gelobt! Er vergißt uns nicht! V IERTER H AKENKREUZLER (nähert sich langsam F RANZ .) F RANZ (hört ihn und wendet sich ihm zu.) Zurück! Das war eine große Heldentat. Alle gegen einen. V IERTER H AKENKREUZLER Ich hab dich nicht geschlagen. F RANZ Danke. V IERTER H AKENKREUZLER Bitte. Sie hätten dich fast erschlagen, aber das hätt mir leid getan, denn du hast recht gehabt, und ich hab die Gerechtigkeit lieb. Du hast sehr recht gehabt, wir haben unsere Ehre nicht verloren – aber darauf kommts nicht an. Man muß nur selbständig denken. Du bist ein sogenannter Idealist. F RANZ Wer bist du? V IERTER H AKENKREUZLER Ich heiße Sladek. – Man muß nur selbständig denken. Ich denk viel. Ich denk den ganzen Tag. Gestern hab ich gedacht, wenn ich studiert

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hätt, dann könnt ich was werden. Ich hab nämlich Talent zur Politik. Ich bin ein sogenannter zurückgezogener Mensch. Ich red nur mit Leuten, die selbständig denken können. Ich freu mich, daß ich mit dir reden kann, – du bist auch allein, das hab ich bei der Diskussion bemerkt. Wir sind verwandt. Ich hab mir das alles genau überlegt, das mit dem Staat, Krieg, Friede, diese ganze Ungerechtigkeit. Man muß dahinterkommen, es gibt da ein ganz bestimmtes Gesetz. Es ist immer dasselbe. Ein ganz bestimmter Plan, das ist klar, sonst wär ja alles sinnlos. Das ist das große Geheimnis der Welt. F RANZ Und? S LADEK In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. Das ist der Sinn des Lebens, das große Gesetz. Es gibt nämlich keine Versöhnung. Die Liebe ist etwas Hinterlistiges. Liebe, das ist der große Betrug. Ich habe keine Angst vor der Wahrheit, ich bin nämlich nicht feig. F RANZ Ich auch nicht. S LADEK Das weiß ich. Aber du hast da einen Denkfehler. Lach mich nicht aus, bitte. F RANZ Ich lach nicht. S LADEK Du denkst nämlich immer daran, das ganze Menschengeschlecht zu beglükken. Aber das wird es nie geben, weil doch zu guter Letzt nur ich da bin. Es gibt ja nur mich. Mich, den Sladek. Das Menschengeschlecht liebt ja nicht den Sladek. Und wie es um den Sladek steht, so geht es den Völkern. Es liebt uns zur Zeit niemand. Es gibt auch keine Liebe. Wir sind verhaßt. Allein. F RANZ Was verstehst du unter dem Wir? S LADEK Das Vaterland. F RANZ Was verstehst du unter Vaterland? S LADEK Zu guter Letzt mich. Das Vaterland ist das Land, wo man geboren wird und dann nicht heraus kann, weil man die anderen Sprachen nicht versteht. Nämlich alle Theorien über den sogenannten Marxismus, die kommen für mich heut nicht in Betracht, weil ich selbständig denken kann. F RANZ (spöttisch) Du denkst zu selbständig. S LADEK Man muß. Man muß. Es kann ja sein, daß mal wieder alle armen Leut gegen die Reichen ziehen, aber das ist, glaub ich, aus. Sie haben ja die Roten erschlagen. Viele Rote. Ich war nämlich bei Spartakus. Nur im Geist, aus besonderen Gründen. Damals hab ich ein Lied gehört, daß das Herz links schlägt, aber es gibt ja kein Herz, es gibt nur einen Muskelapparat. Bist du für diese Republik? F RANZ Das ist noch keine Republik, das wird erst eine. S LADEK Das ist nichts und wird nichts, weil es nämlich auf einer Lüge aufgebaut ist. F RANZ Auf was für einer Lüge? S LADEK Daß es eine Versöhnung gibt. F RANZ Wenn es keine Versöhnung gäbe, so müßte man sie erfinden. S LADEK (lächelt.) Du bist nicht dumm. F RANZ Wieso? (Stille) F RANZ Ich lüge nie. S LADEK In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. F RANZ Heute ist allerdings die ganze Welt voll Blut und Dreck. S LADEK Ich denk nicht an morgen. Ich leb ja vielleicht nur heut. Heut sind alle Staaten gegen uns. Sie besetzen unser Land, drücken uns zusammen. Weil wir wehrlos sind, das ist dann immer so. Es würde nichts schaden, wenn noch einige Mil-

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lionen fallen würden, wir sind nämlich zu viel. Wir haben keinen Platz. Wir verbreiten uns, als hätts keinen Weltkrieg gegeben. Es wird bald alles eine Stadt, das ganze deutsche Reich. Wir brauchen unsere Kolonien wieder, Asien, Afrika – wir sind wirklich zu viel. Schad, daß der Krieg aus ist! F RANZ Du wagst es zu bedauern, daß der Krieg aus ist? S LADEK Ja. Ich wags. F RANZ Bist du ein Mensch? S LADEK Ich bin ein Mensch, es ist aber immer Krieg. F RANZ Es gibt auch Frieden. S LADEK Ich erinner mich nicht daran. F RANZ So tust du mir leid. S LADEK Jetzt lügst du. F RANZ Zu blöd. S LADEK Ich hab nämlich keine Angst vor der Wahrheit. F RANZ Warst du Soldat? S LADEK Nein. Als der Krieg ausbrach, war ich zwölf Jahr alt. Ich seh nur älter aus. F RANZ Du gehörst verboten. S LADEK Daß ich mal verboten werd, ist schon möglich. Weil ich zuviel weiß. (Stille) F RANZ Kennst du die schwarze Armee? S LADEK Das darf man nicht sagen! F RANZ Aha! Warum? S LADEK (schweigt.) F RANZ Ich habe gehört, daß sich draußen auf den Feldern Soldaten sammeln. Sie haben Kanonen und Maschinengewehre und tragen die Kokarde mit dem Adler der Republik verkehrt. Abgeschossen. Stimmts? S LADEK (schweigt.) F RANZ Ich habe gehört, daß diese Soldaten siegreich nach Paris marschieren wollen, über die Leiche des eigenen Volkes. S LADEK Das geht dich nichts an! F RANZ Doch! Sogar sehr! – Sie nennen sich die schwarze Armee, weil sie nur als Geheimnis existieren können. Und der es verrät, der stirbt. S LADEK In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. F RANZ Man sollt jede Armee verraten, du Soldat! (ab) S LADEK (allein; ruft ihm nach.) Du bist ein sogenannter Idealist, du Schuft! G ESANG (aus dem Saal) Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd, In das Feld in die Freiheit gezogen! Im Felde da ist der Mann noch was wert, Da wird das Herz noch gewogen. Da tritt kein anderer für ihn ein, Auf sich selber steht er da ganz allein!

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II. Bei Anna. 5

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Sie sitzt an der Nähmaschine. Auf der Straße spielt eine Drehorgel das Deutschlandlied. Sie steht auf und schließt das Fenster. Es pocht an die Türe. Sie öffnet. K NORKE (tritt ein.) Tag. Könnte man Herrn Sladek sprechen? A NNA Er muß jeden Augenblick kommen. K NORKE Sie sind Frau Schramm? A NNA Ja. K NORKE Angenehm. Schramm schrumm schrimm-schrimm schrumm schramm. Das war mal ein Schlager, so vor zwanzig Jährchen. Geht die Uhr? Genau? A NNA So ziemlich. Will der Herr warten? K NORKE (setzt sich.) Fünf Minuten. Dieser Sladek ist pünktlich. Primadonna! Primadonna! A NNA Er hat keine Uhr. K NORKE Und singen kann er auch nicht. A NNA Woher kennen Sie Herrn Sladek? K NORKE Das weiß ich nicht mehr. A NNA Sie kennen ihn schon seit länger? K NORKE Sind Sie mit ihm verwandt? A NNA Nein. K NORKE Sie sind seine Wirtin? A NNA Ja. K NORKE Sonst nichts? A NNA Wieso? K NORKE (blickt in die Zeitung.) Die Mark hat sich gefestigt. Zürich notiert zweiundzwanzig Milliarden. Zürich liegt am Züricher See. Ich war auch in China. (Er schlägt auf den Tisch, schnellt empor und läuft herum.) Jawohl, in Ostasien, junge Frau! Aber so ein lammfrommes Volk wie das deutsche habe ich nirgends getroffen! Pensionierte Bürokraten würden revoltieren! Da die Zeitung! Die Republik, dieser Büttel der Botschafterkonferenz, erfrecht sich zu befehlen, die letzten Waffen abzuliefern! Auf einen Wink der Entente kastrieren wir uns selbst! Den Schuft, der nur eine versteckte Patrone verrät, den möcht ich massieren, bis ihm die pazifistische Seele zum großen jüdischen Gott fliegt! Verzeihen Sie meine Erregung. – Ah! Kriegsbilder! Wer ist denn der? Sieht so verzweifelt drein. A NNA Das war mein Mann. Er hat sich schlecht photographiert, aber vielleicht war er damals so. K NORKE Gefallen? A NNA Nein. K NORKE Ich dachte, Sie wären Witwe? A NNA Er ist vermißt. Ich warte zwar nicht mehr, obwohl es noch vorkommen soll, daß ein Vermißter plötzlich erscheint. Rußland ist groß, Sibirien ist weit. K NORKE Apropos Rußland: Haben Sie die neue polnische Note gelesen? A NNA Ich lese keine Zeitung. Die liest nur Sladek. K NORKE Er liest viel. A NNA Nur die Zeitung.

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K NORKE Er weiß allerhand für sein Alter. Seine Ansichten sind zwar etwas verworren, aber zu guter Letzt gesund. A NNA Wenn er nur Zeit hat, grübelt er. K NORKE Die neue polnische Note ist der Gipfel der Verleumdung. Lauter Verbrecher! A NNA Wer? K NORKE Diese Polen! Jeder einzelne Pole ist ein geborener Lügner! A NNA Ich glaube, der einzelne Pole lügt auch nicht mehr als der einzelne Deutsche. K NORKE Hoppla! A NNA Die Zeitungen sollten endlich aufhören, die Völker gegeneinander zu hetzen. Es hat doch gar keinen Sinn. K NORKE Was Sie nicht sagen! A NNA Ich finde es sehr richtig, daß die Regierung die Bevölkerung auffordert, alle Waffen abzuliefern. Das ist endlich ein gutes Gesetz. Wir haben uns vier Jahre lang gemordet, das reicht. Ich würde jede versteckte Patrone anzeigen. Sofort. K NORKE Das würde ich an Ihrer Stelle unterlassen. A NNA Warum? Wer der Regierung nicht folgt, der wird doch bestraft. K NORKE Zum Strafen gehört Gewalt. Die Regierung hat keine, kann ich Ihnen flüstern. Heutzutag ist oft das Gegenteil Gesetz. Sagen Sie: Was wissen Sie über versteckte Patronen? A NNA Ich weiß, wer Sie sind, und was Sie wollen. K NORKE Wie war das? A NNA Ich kenne Sie. Vom Sehen. K NORKE Wer bin ich? A NNA Sie kommen manchmal in die Stadt. Im Auto. K NORKE Was für Auto? A NNA Das habe ich alles beobachtet. K NORKE Was alles? A NNA Sie wollen aus dem Sladek einen Soldaten machen. K NORKE So? A NNA Sie werben für die schwarze Armee. K NORKE Es gibt keine schwarze Armee! A NNA Doch. (Stille) K NORKE Ich warne Sie. A NNA Ich bitte Sie. Ich bitte Sie, lassen Sie mir den Sladek. Es fällt mir schwer, darüber zu reden. Wenn sich eine Frau in meinem Alter an einen um fünfzehn Jahre jüngeren Mann hängt, so ist das immer mütterlich, und sie läßt ihn nicht aus den Augen. Sladek ist ja noch ein Junge, der sich an nichts erinnern kann als an Krieg. Er kann sich den Frieden gar nicht vorstellen, so mißtrauisch ist er. Er ist in der großen Zeit groß geworden, das merkt man. Ich lasse ihn nicht aus den Augen, ich habe gehorcht und spioniert – Mich kann man nämlich nicht betrügen. Was mein ist, bleibt mein. K NORKE Ist der Sladek Ihr Eigentum? A NNA Ja. K NORKE Nein. A NNA Wen ich liebe, der gehört mir. K NORKE Will er Ihnen gehören? A NNA Wie meinen Sie das?

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K NORKE Der Sladek ist ausgewachsen und denkt nicht daran. A NNA Das hat er Ihnen gesagt? K NORKE Fragen Sie ihn selbst. (Stille) A NNA Wollen Sie mir helfen? K NORKE Ich warne Sie. A NNA Ich bitte Sie. Bitte, sagen Sie dem Sladek kein Wort, daß ich weiß, daß er von mir will. Bitte, sagen Sie ihm doch, er wäre zum Soldaten untauglich, sagen Sie es ihm, bitte, lassen Sie ihn hier. Ihre Soldaten werden auch ohne Sladek marschieren, aber ich – –. Ich hab schon mal alles für das Vaterland geopfert. Ich laß mir nichts mehr rauben. Ich verrate die ganze Armee den Polen. Noch heut. K NORKE Kaum. S LADEK (kommt; nickt K NORKE zu.) A NNA Der Herr wartet schon auf dich. Wo warst du so lange? S LADEK Ich hab mich geärgert. A NNA Wer hat dich geärgert? S LADEK Freut dich das? A NNA Mich? S LADEK Lass uns allein, bitte. K NORKE Nicht nötig, Sladek. Frau Schramm hat mich soeben gebeten, dir mitzuteilen, du seiest untauglich zum Soldaten, da sie sonst alles den Polen verrät. S LADEK Anna! A NNA Nein, so ein Schuft! K NORKE Ich weiß, daß du das Maul gehalten hast, aber Frau Schramm hat dir nachspioniert. Dadurch zwingt uns Frau Schramm, uns mit ihrer Persönlichkeit zu beschäftigen. Verstanden? Sladek, bist du tauglich? S LADEK Tauglich. K NORKE Nach wie vor. Wir treffen uns beim Fräulein. Auf Wiedersehen! (ab) S LADEK (starrt A NNA an.) Auf Wiedersehen. (Stille) A NNA Was ist das für ein Fräulein? S LADEK Das Fräulein. Das ist ein Lokal. A NNA Lüg nicht! S LADEK Du wirst noch blöd vor lauter Eifersucht. A NNA Lieber blöd! Sladek! Ich hab ja so Angst um dich! Ich seh es ja, wie hungrig dich die Weiber anschaun – S LADEK (unterbricht sie.) Ich bin dir treu. A NNA Nein, du nimmst nur Rücksicht, aber dann wünschst du, ich soll nicht – mehr sein. Du, du wirst einfach weggehen, ich werde dich überall suchen und nirgends finden. S LADEK Anna. Weißt du, was das heißt, eine Armee vor dem Feinde zu verraten? Weißt du, was die Soldaten mit dem Verräter tun? A NNA Sie sollen mich erschlagen. S LADEK Sie werden dich erschlagen. A NNA Es liegt an dir. Bleib, bitte, und ich verrate nichts. Nichts. Weißt du, was das heißt, wenn ich dich verliere? Bleib, bitte, bitte, bitte – schau, ich schäme mich ja schon gar nicht mehr, so hänge ich an dir. Was denkst du jetzt? S LADEK Was ich denk, langweilt dich, hast du gesagt.

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A NNA Nein! S LADEK Was ich denk, ist dumm, hast du gesagt! Hast du gesagt! Ich hab nämlich ein sogenanntes Gedächtnis, ein ausgezeichnetes Gedächtnis. A NNA Wie du dir alles merkst. S LADEK Alles. A NNA Daß du nur nichts vergißt! S LADEK Nichts. Glotz nicht. A NNA Ich glotz nicht. Ich hab nur gesagt, du sollst nicht so viel denken, weil ich nichts von Politik versteh. Ich komme nicht mit. S LADEK Man muß nur selbständig denken. Ich kam zu dir zerlumpt. Bei mir in der Familie haben sie sich um ein Stück Brot gehaßt. Du warst für mich ein höheres Wesen, du hattest eine Zweizimmerwohnung und hast Kriegsanleihen gezeichnet. Du hast für Kaufmannsfrauen geschneidert, ich hab mich waschen können. Du hast mir einen Wintermantel gekauft. Danke. A NNA Bitte. S LADEK Du bist meine erste Liebe. A NNA Sei nicht boshaft. S LADEK Ich bin nicht boshaft. Ich wollt nur sagen, daß die erste Liebe eine riesige Rolle im Leben spielt. Hab ich gehört. A NNA Sladek. Du bist schon tot. S LADEK Warum? A NNA (klammert sich an ihn.) So sag es doch! Sag, daß alles aus ist! Aus, aus – S LADEK Sag es du. A NNA Ich kann es nicht, – wie dumm ich bin, wie dumm – S LADEK Es ist nicht aus. A NNA Nimm keine Rücksicht! Quäl mich nicht! Sag es endlich, laß mich los! S LADEK Gut. Es ist aus. A NNA Schau mich an. (Stille) S LADEK So wirds nicht anders. A NNA Doch. S LADEK Du weißt immer alles besser. A NNA Du kannst nicht lieben, du kannst nur lieb sein. S LADEK Genügt das nicht? (Stille) A NNA (lächelt.) Schau mich nicht so an – du Riese. Du kleiner Riese. Du bleibst, du bleibst. Du Jung, du – Es ist dunkel, die Erde ist noch kalt, aber die Sonne war schon warm. Das ist der zunehmende Mond. S LADEK Heuer gibts kein Frühjahr. Auf dem Ozean liegen lauter Wolken, ganze Berge. Das kommt alles noch über uns, steht in der Zeitung. A NNA Ist doch alles nicht wahr, ist doch alles anders –. Komm, gib mir einen Kuß –. Das war doch kein Kuß. So. So – (Sie küsst ihn, reißt sich plötzlich los und taumelt zurück.) Was tust du?! Was fällt dir ein, wenn ich dich küß?! S LADEK Ich küß nicht gern so, so sinnlich. A NNA Du Schwein. Du Schwein – S LADEK Ich bin ein Schwein. (ab)

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III. Im Weinhaus zur alten Liebe. 5

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S ALM , H ORST , H ALEF , K NORKE und R ÜBEZAHL sind die einzigen Gäste. D AS F RÄULEIN bedient. D AS F RÄULEIN Die Herren sind Soldaten? S ALM Wir sehen nur so aus. D AS F RÄULEIN Ich liebe die Uniform. Ich bin eine Deutsche aus Metz. Wir hatten viel mit den Herren Soldaten zu tun. Wenns wieder Krieg gäb, das wär fein! H ORST Sie werdens noch erleben, Mädchen. D AS F RÄULEIN Ich wär auch glücklich mit einem Manöver. Die Herren sind doch Soldaten? R ÜBEZAHL Wir sind keine Soldaten, dumme Kuh! D AS F RÄULEIN Pardon! Seien Sie nur nicht wild, Sie Großer! Die Herren haben doch Uniform. K NORKE Wir haben uns nur noch nicht umgezogen seit dem Krieg. D AS F RÄULEIN (lacht.) Oh pfui, wie pikant! H ALEF Sehr geehrtes Mädchen. Ich bin zwar kein Soldat, aber ich interessiere mich für Manöver. Überhaupt für Übungen – (Er schäkert mit ihr.) K NORKE (zu S ALM ) Sie heißt Schramm. Mit dem seltenen Vornamen Anna. Sie wohnt in der Prinzenstraße unter sechs und hat sich an den Sladek gehängt. Sie ist im gefährlichen Alter und könnte für ihren Bubi auch sterben. S ALM Ein schöner Abend heute abend. K NORKE Sie weiß alles, vielleicht auch das, was ihr bevorsteht. Sie wird trotzdem jede versteckte Patrone der Republik abliefern und alles den Polen verraten. Sie ist toll. S ALM Ein schöner Abend heute abend. K NORKE Ich verstehe, Leutnantleben. Liebling, wir verstehen uns wie ein Liebespaar. Es ist ein schöner Abend heute abend, und es wird für manches Kind keinen schöneren mehr geben. S ALM Was, wenn Sladek nicht kommt? K NORKE Er kommt. Er haßt sie nämlich. S ALM Warum? K NORKE Warum haßt man einen Menschen? Entweder weil er einem nichts gibt oder zuviel gegeben hat. Sie wird ihn ausgehalten haben. Sie muß mal sehr geil gewesen sein. H ORST Das Schandweib gehört totgeprügelt. S ALM Könntest du sie totprügeln? H ORST Im Interesse des Vaterlandes, jederzeit. Wir hatten zu Hause einen reinrassigen Dobermann. Dem habe ich einmal die Beine zusammengebunden und losgeprügelt, bis ich nicht mehr konnte. Das Vieh gab keinen Ton von sich. Es gibt so stolze Köter. Es hat mich nur angeschaut. S ALM Du bist so herrlich hemmungslos, so göttlich selbstverständlich. Das soll Wodka sein! Ich habe meine Jugend vergeudet. H ORST Bitte, nur nicht sentimental! S ALM Nein, ich bin nur traurig. Wenn man so zurückdenkt: Damals, du wirst erst

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sechs Jahr gewesen sein, damals war ich Hauslehrer in Siebenbürgen. Was ich dort bei den Rumäninnen Kraft ließ – Ja, das Weib haßt den Mann, auch in der Tierwelt gibt es dafür Beispiele. Ich hab erst in der Gefangenschaft mein besseres Ich entdeckt, ich danke es dem Krieg, er wies mich den rechten Weg. Horst. Du folgtest meinem Rufe. H ORST Halt! Ich habe um meiner Ideale willen und nicht aus persönlichen Gefühlchen Papa und Mama verlassen. Ich wär auch ohne dich durchgebrannt – Jetzt hätte ich bald das Abitur. Wozu? Die Tat gilt mehr als das Wissen, die Waffe mehr als das Wort. S ALM Sei nicht grausam. H ORST Quält dich die Wahrheit? Stehst du über dem Vaterland? Daß du immer Illusionen brauchst! S ALM Wie der kleine Kerl quälen kann – R ÜBEZAHL Salm! Du hast ein Profil wie Bruno Kastner, aber ich hab kein Geld. Hast du Geld? Gib mir Geld. S ALM Besauf dich nicht! R ÜBEZAHL Poussier deinen Knaben, und leck mich am Arsch! Hab keine Angst, ich halt das Maul auch im Delirium. Aber ich wiederhole: Es wäre besser gewesen, wenn wir das Schwein nicht zuerst in den Wald, sondern gleich draußen im Fort –. Jetzt haben wir die Sauce im Auto, rot gebatikt. S ALM Kusch! R ÜBEZAHL Wir sind unter uns, Tante Frieda. Die einzigen Gäste. Hast du Geld? Ist das ein Dorf! D AS F RÄULEIN Die Herren sind mit dem Auto gekommen? H ALEF Wir sind Geschäftsreisende. Wir vertreten eine große Lebensversicherung. Unser Chef ist ein jüdischer Kommerzienrat, und jener neunzehnjährige Jüngling ist sein Sohn. H ORST Ich bin erst siebzehn. H ALEF Und was du schon für Hüften hast! S ALM Halef, es gibt Dinge, die jenseits des Witzes liegen. H ALEF Zu Befehl, Majestät! Ich fürchte nur, daß er die moderne Linie verliert. D AS F RÄULEIN Daß sich die moderne Linie derart durchsetzt, ist nur eine Folge der Unterernährung. Der Kriegskost. R ÜBEZAHL Jaja, man sieht kaum mehr Busen. D AS F RÄULEIN Sind Sie blind? H ALEF Ja, er ist blind. Ich hingegen sehe ungewöhnlich scharf. K NORKE Ich auch. H ALEF (umarmt sie.) Ha du, als wär kein Krieg gewesen! Ich liebe den Frieden. Du kannst mal mit mir fahren, im Auto. D AS F RÄULEIN Nein, das ist mir zu gefährlich. R ÜBEZAHL (scharf) Wie meinen Sie das? D AS F RÄULEIN (droht mit dem Finger.) Nanana, Sie ganz Böser! Sie können mich nicht hypnotisieren. Ich fahre aus Prinzip mit keinem Herrn mehr durch die Nacht. Da war einmal ein Chauffeur, ein geborener Österreicher, der lud mich ein zur Mondscheinpartie, und auf der Landstraße wollte er mich vergewaltigen. Ich habe gesagt: Mein Herr, das kann man nicht so ohne weiteres. Er hat gesagt: Ist das aber eine Hure! Und dann hat er mich auch noch beschimpft. S LADEK (kommt.)

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D AS F RÄULEIN Guten Abend, der Herr! S LADEK (bleibt stehen.) Guten Abend. K NORKE Sladek! Hier! – Nun? S LADEK Ich bin da. Ich halt mein Wort. Ich bin bereit. K NORKE Das freut uns außerordentlich. S ALM Haben wir noch Benzin? H ALEF Dreieinhalb Tropfen. Nicht ganz. S ALM (zu H ORST ) Kauf das bessere Öl. Nimm Halef mit. H ORST und H ALEF (ab) R ÜBEZAHL Wir brauchen bald ein neues Auto. K NORKE (zu S LADEK ) Und wie geht es der gnädigen Frau? S LADEK Es ist aus. Radikal. K NORKE Man gratuliert. S LADEK Danke. D AS F RÄULEIN (spielt am Grammophon die Träumerei von Schumann.) K NORKE Du weißt, was mit einer gnädigen Frau geschieht, die Soldaten vor dem Feinde verrät? S LADEK Sie hat noch nichts verraten. K NORKE Aber sie wird uns verraten. S LADEK Wenn sie uns verrät, so gebührt ihr nichts anderes. K NORKE Soll man warten, bis einen der Feind vernichtet? S LADEK Nein. In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. S ALM Wir sind Natur. K NORKE Du bist auch Natur. S LADEK Ja. K NORKE Also? S LADEK Also. S ALM Zur Sache. K NORKE Du wartest hier. Wir haben es nur zu melden und sind in zwei Stunden wieder da. Dann erlauben wir uns, der gnädigen Frau unsere Aufwartung zu machen. Du hast doch den Schlüssel? S LADEK Ja. K NORKE Du läßt die Haustüre offen. Verstanden? Wir warten unten zehn Minuten, dann wirst du einen Pfiff hören, und dann sind wir auch schon droben. Die zehn Minuten brauchen wir, du mußt ihr etwas vorspielen, damit sie nur nichts ahnt und schreit. Sie ist nämlich raffiniert, das weißt du ja. Sag ihr, du seiest zurückgekehrt, hättest alles bereut – es ist alles ungeschehen, und du liebst sie. Verstanden? S LADEK Ja. S ALM Sladek. Falls du es dir überlegen solltest – S LADEK (unterbricht ihn.) Ihr müßt mir nicht drohen. Ich hab keine Angst. Ich hab mir das alles genau überlegt und kann selbständig denken. Das ist anerkannt. S ALM Das spielt keine Rolle. S LADEK Oho! S ALM Zahlen! Es wird Zeit. D AS F RÄULEIN Alles zusammen? S ALM Wir sind eine Familie. R ÜBEZAHL Sein Vater ist mein Sohn.

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K NORKE (zu S LADEK ) Also: in zwei Stunden. (ab) S LADEK Auf Wiedersehen. S ALM (zu R ÜBEZAHL ) Auf! Los, sonst weint der General. (ab) R ÜBEZAHL (sauft aus.) Herr General. Wir brauchen ein neues Auto. Einen Autobus. (ab) D AS F RÄULEIN Auf Wiedersehen, die Herren! Auf Wiedersehen! (Sie beschäftigt sich mit ihrem Strumpfband.) S LADEK (beobachtet sie.) Auf Wiedersehen. D AS F RÄULEIN Der Herr kennt die Herren? Das waren doch Soldaten? Nicht? Oder? – So antworten Sie doch! Sind Sie taub? S LADEK Ja. D AS F RÄULEIN Die Männer heutzutag sind alle originell. – Was wünscht der Herr? Trinken wir eine Flasche Wein? S LADEK Was kostet das? D AS F RÄULEIN Eine Milliarde. S LADEK Und, was kosten Sie? D AS F RÄULEIN Wie meint das der Herr? S LADEK Wenns nicht stimmt, so sagen Sies nur. Ich hab gehört, daß Sie sich für eine Milliarde ausziehen. D AS F RÄULEIN Manche Herren trinken lieber Wein. S LADEK Ich nicht. Ich krieg nämlich keinen Rausch. Ich spei nur alles voll. D AS F RÄULEIN Ist das so schlimm? Dann ziehe ich mich lieber aus. S LADEK Eine Milliarde ist viel Geld. D AS F RÄULEIN Der Herr sind Kaufmann? S LADEK Ich bin kein Schieber. D AS F RÄULEIN Also redlich verdient? S LADEK Nein. D AS F RÄULEIN Geschenkt? S LADEK Nein. D AS F RÄULEIN Es geht mich auch nichts an. S LADEK Ich hab die Milliarde gestohlen. Ich kenn nämlich eine Witwe, die hat noch drei im Schrank. Sie verdient sehr schön und liebt mich, das heißt: Eigentlich gibt es keine Liebe. Man muß nur selbständig denken. Es ist ein glattes Geschäft. Sie hat sich den Sladek gekauft. Ich hab mich ihr ganz gegeben, aber sie ist so eifersüchtig, daß ich nicht zum Arbeiten komm. Sie will herrschen, drum läßt sie mich um jede Million betteln. Da hab ich die Milliarde gestohlen, sie gehört mir, ich bin im Recht. Gib mir eine Zigarette. D AS F RÄULEIN Du gefällst mir immer besser. Gib mir die Milliarde. S LADEK Zieh dich aus. D AS F RÄULEIN Hernach. S LADEK Nein. Hernach wird man geprellt. D AS F RÄULEIN Du hast viel mit schlechten Frauen verkehrt. S LADEK Eigentlich nur mit Huren. D AS F RÄULEIN Pfui! So was sagt man nicht! S LADEK Sie weiß, daß ich fort will, aber sie sieht es nicht ein. Ich bin zu rücksichtsvoll. Alles hat ein End. Diesmal radikal. – Weißt du, was das Furchtbarste ist? Wenn man will und nicht kann. D AS F RÄULEIN (lacht.)

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S LADEK Lach nicht! D AS F RÄULEIN Das ist doch komisch! S LADEK Nein, das ist tragisch. Wenn etwas schon lange tot ist, vielleicht nie gelebt hat, und man redet damit, als wärs gesund. Ich bin nicht feig und wollt nie Theater spielen und habs doch getan. Sie hat es gewußt, daß sie nur winseln muß, und ich verlier die Kraft. Weil ich ein anständiger Mensch bin, zu guter Letzt. Aber damit Geschäfte machen, das ist ein Verbrechen. D AS F RÄULEIN Du mußt wenig gearbeitet haben, um auf solche Gedanken zu kommen. S LADEK Ich hab noch nie richtig gearbeitet. Sie hat es nicht gern gesehen, daß ich was verdien. Sie hatte Angst, ich könnt ohne sie leben. Sie hat mich lieber ausgehalten, das ist das berühmte mütterliche Gefühl. Auch so ein Verbrechen. D AS F RÄULEIN (beugt sich über ihn.) Sprich nicht mehr. Das ist mir alles zu hoch. Gib mir die Milliarde – S LADEK Du hast so eine schöne Haut – D AS F RÄULEIN Ich bin auch ein Sonntagskind. S LADEK Ich nicht. – Du bist so weich. D AS F RÄULEIN Das hat jede Frau. S LADEK Nein, nicht jede. D AS F RÄULEIN Was der kleine Mann für große Augen hat. Schau mich an. Wohin schaust du denn? S LADEK Ich schau dich an. D AS F RÄULEIN Nein. S LADEK Doch. D AS F RÄULEIN Du schaust mich an und doch nicht an. Hinter mir ist nichts. Ich glaube, du findest den richtigen Kontakt zum Weibe nicht. S LADEK Möglich. D AS F RÄULEIN Gib mir die Milliarde, dann zieh ich mich aus. S LADEK (gibt sie ihr.) D AS F RÄULEIN (küsst ihn.) Danke. (Sie zieht sich aus.) Du bist ein einsamer Mensch. Du mußt öfters kommen, sonst wirst du noch melancholisch. Das Weib ist die Krone der Schöpfung. S LADEK Zieh dich ganz aus. D AS F RÄULEIN Nein. Heute regnet es, und ich bin sehr empfindlich. S LADEK Zieh dich ganz aus. D AS F RÄULEIN Nein! Ich werde krank. S LADEK Ich hab dir die Milliarde gegeben, und du hast versprochen – D AS F RÄULEIN (unterbricht ihn.) Nichts habe ich versprochen! Willst du, daß ich mir den Tod hole? S LADEK Das geht mich nichts an! Ich laß mich nicht betrügen! D AS F RÄULEIN Schreien Sie nicht so mit mir, Sie! S LADEK Kusch, Krone der Schöpfung! D AS F RÄULEIN Ich bin doch kein Hund! Ich bin ein Mensch, Sie! Hinaus! Zurück, oder ich schrei! Ich schrei, du Lump, du Dieb! Hier wird nicht gehaßt, hier wird geliebt! (Sie schreit.)

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IV. Bei Anna. 5

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Sie liegt im Bett. Auf der Straße hält ein Auto. Sie lauscht und richtet sich auf. S LADEK (tritt ein.) (Stille) A NNA Guten Abend, Sladek. S LADEK Guten Abend, Anna. (Stille) A NNA Ich dachte, du bist Soldat. Und schon in Uniform. S LADEK Nein. – Es ist offen, vorne, das Hemd. A NNA (knöpft es rasch zu.) S LADEK Laß es nur. A NNA Ja, es wird nichts geschehen. S LADEK Anna – Ich bin gekommen, um wieder bei dir zu bleiben. A NNA (starrt ihn an.) Das ist nicht wahr. S LADEK Doch. A NNA (sieht sich ängstlich um.) Wo warst du? S LADEK Bei den Soldaten. Ich hab mir das alles überlegt. A NNA (steht plötzlich auf, wirft sich rasch ein Tuch um, behält ihn aber immer im Auge; tritt zu ihm.) Was willst du von mir? – Was denkst du jetzt? S LADEK Daß alles wieder gut wird. A NNA Das gibt es nicht. S LADEK Ich hab dich lieb. A NNA Nein. Nein. S LADEK Ich lüg nicht. A NNA Heut abend hättest du mich erschlagen können. S LADEK Ich hab dich nie gehaßt. A NNA Doch. Und mit Recht. Ja, mit Recht. (Stille) A NNA Ich bin daran schuld. Es war nicht recht von mir, daß ich dich mit aller Gewalt hielt, daß ich daran dachte, mit dir ein Leben lang zusammen –. Ich hätte längst abtreten müssen, aber ich dachte nur an mich. Ich hab dich gequält, ich war dir überall im Weg. Ich hab über dich bestimmt, jetzt ist es mir, als hätt ich das alles berechnet. Verzeih mir. Es ist mir plötzlich klar geworden. Klar. Klar. (Stille) A NNA Geh, bitte. Es hat keinen Sinn, daß du bei mir bleibst. Das ist sicher nur so ein plötzliches Gefühl für mich, das bildest du dir ein. Es ist aus. Warum bin ich nicht zwanzig Jahre jünger? Warum hab ich dich damals getroffen? Es war ein reiner Zufall, das Leben ist grausam. Nein, nicht du – ich hab dich genommen, ich hab mich an dich gekettet, ich hab dir alles gegeben, alles verlangt. Und dann hab ich immer etwas gesucht, es ist dir nicht aufgefallen. Du bist eine andere Welt. Du siehst anders, hörst anders, denkst anders. – Geh, Sladek. Geh, wohin du willst. Es ist wirklich nicht schön hier. Ich halt dich nicht. Marschier mit deinen Soldaten, ich werde keine einzige versteckte Patrone anzeigen, ich geh auch nicht zu den Polen, ich verrate nichts. Geh, bitte. Ich bleib zurück.

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(Der Pfiff ertönt.) S LADEK (versteinert.) A NNA Du bist jung. Ich bin schon grau. Zwischen uns stehen hundert Jahr. S ALM , H ORST , R ÜBEZAHL (erscheinen und stürzen sich auf A NNA .) S ALM Drauf! A NNA Sladek! Was ist das?! Was ist das?! R ÜBEZAHL Das ist das! A NNA Hilfe! Hilfe – au! R ÜBEZAHL Das Mensch plärrt! A NNA Sladek! Sladek! S LADEK Halt! S ALM (mit dem Revolver; zu S LADEK ) Zurück! Zurück! R ÜBEZAHL (ersticht A NNA .) Verrat uns! Verrat uns! Vieh! A NNA (bricht zusammen und winselt.) Au – Sladek, du schlechter Mensch – du, du, du – (Sie stirbt.) (Stille) S ALM (zu S LADEK ) Hände hoch! Was sollte das Halt? S LADEK Weil sie unschuldig war. S ALM Das gibt es nicht. S LADEK Doch. S ALM Seit wann? S LADEK Seit zwei Minuten. S ALM Und? S LADEK Ihr könnt nichts dafür. S ALM Das rettet dich, du Idiot. Sonst – S LADEK (unterbricht ihn.) Ich hab keine Angst. Ich bin nicht feig. In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. (Stimmen unten) H ORST Da spricht wer. S ALM Rasch! Fort! R ÜBEZAHL Sie hat sich bemacht. S LADEK Radikal.

ENDE DES ERSTEN AKTES.

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V. Im Hauptquartier der schwarzen Armee.

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Ein Fort. S LADEK ist noch in Zivil. Er steigt mit H ALEF , H ORST und R ÜBEZAHL unter die Erde hinab. S LADEK Wann faß ich meine Uniform? R ÜBEZAHL Das wird eine Galauniform, du Gardist!

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H ALEF Mit Fangschnüren und Pour le mérite. Nimm Platz, Herr Sladek. Wir sind bei Muttern. Drei Meter unter der Erde. S LADEK (setzt sich.) Ich dachte, sechs Meter. H ALEF Vielleicht. Auch das. Wie gesagt. R ÜBEZAHL Jetzt möcht ich mich rasieren. S LADEK Ist das hier das Fort, das Hauptquartier? H ALEF Zu Befehl. Wir sind noch ungeborene Seelen. Wir warten auf den Storch und hoffen, nicht abgetrieben zu werden. Ich quatsch viel. Bist du auch nervös? S LADEK Nein. H ORST Es hat stark geregnet, zuvor. H ALEF Ob es noch immer regnet? Wenn ich was geworden wär, wär ich Komiker geworden. Man muß sich nur auslachen lassen und verdient Geld. S LADEK (ernst) Das ist sehr komisch. H ALEF Ja. R ÜBEZAHL Ich möcht wieder mal auf eine Redoute. In Frack und steifer Brust. Ab und zu verblöde ich, dann möcht ich Großkaufmann sein. Konfektion. H ALEF Du warst doch Reisender? R ÜBEZAHL Kurz. – H ALEF Weißt du, was mir an dem Fräulein mißfällt? Daß sie braune Zähne hat. S LADEK Sie hat keine Seele. Sie betrügt. H ALEF Hast du eine Seele? S LADEK Was ist das: Seele? H ALEF Du hast doch soeben gesagt, daß das Fräulein keine Seele hat! S LADEK Ich? R ÜBEZAHL Du! Heilige Großmutter Gottes! S LADEK Ich muß mich versprochen haben. H ORST Frauen sind Formen. Sie regen uns an. S LADEK Wenn sie nur anregen würden. Zum Beispiel diese Anna – R ÜBEZAHL (unterbricht ihn.) Halt das Maul! Halt das Maul! H ALEF Mein Herr. Es ist hier Sitte, daß man darüber nicht spricht, zumindest inoffiziell nicht. Du mußt dich den Gesetzen des gesellschaftlichen Lebens fügen. (Stille) H ORST Ob es noch immer regnet? R ÜBEZAHL Zu guter Letzt sind die Dreckjuden selbst daran schuld. H ALEF Nicht? H ORST Ja. S LADEK Wann faß ich die Uniform? H ALEF Es müssen noch einige Formalitäten erledigt werden. S LADEK Was für Formalitäten? (Er erhebt sich.) R ÜBEZAHL Halt! Wohin? S LADEK Ich muß mal. H ALEF Du bleibst. S LADEK Aber ich muß – H ALEF Beherrsch dich. S LADEK Wieso? H ALEF Wir haben Befehl, einen gewissen Sladek schärfstens zu bewachen. Du bist gefangen. S LADEK Gefangen?

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H ALEF Vorerst. S LADEK Was hab ich denn getan? H ALEF Eine große Dummheit, du Idiot. Was hast du gesagt, Rindvieh? Daß sie unschuldig war, hast du gesagt. Das hat der Salm sofort dem Hauptmann gemeldet. Es gibt viele Unschuldige, du Trottel. Auch an Halsentzündungen sterben Unschuldige, aber so darf man nicht denken, du Maulesel. S LADEK In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. R ÜBEZAHL Wie oft sagst du das in einer Stunde? H ALEF Es dreht sich ja nur um Formalitäten, aber solche Formalitäten werden hier mit besonderer Liebe behandelt. (Stille) S LADEK (hat sich wieder gesetzt; zu H ALEF ) Bist du Türke? H ALEF Ich? S LADEK Ja. Weil du Halef heißt. Ich kannte einen Halef, der hat türkischen Honig verkauft. Aber der hieß eigentlich auch nicht Halef. H ALEF Ich verkaufe türkischen Honig und bin ein geborener Sachse. S LADEK Dresden soll schön sein. H ORST Wer war schon in Nürnberg? R ÜBEZAHL Nürnberg ist schön. H ORST Ja. Dort haben sie eine herrliche Folterkammer in der Burg. Ich habe nach der ersten Kommunion meine Großmutter besucht, die lebt in Nürnberg. Die kennt jede Daumenschraube, die hat mir das alles erklärt. Meine Mutter hat Krämpfe bekommen, ich und meine Großmutter haben lachen müssen. Zum Beispiel die eiserne Jungfrau – H AUPTMANN , S ALM , K NORKE (kommen.) R ÜBEZAHL (ab, knapp am H AUPTMANN vorbei, ohne ihn zu grüßen) H AUPTMANN (hält einen Augenblick und sieht ihm nach; tritt dann rasch auf S LADEK zu, der sich erhoben hat.) Sladek, ich habe erfahren, daß du der Überzeugung bist, die Landesverräterin Anna Schramm sei unschuldig hingerichtet worden. S LADEK Sie wollt nichts verraten, hat sie mir gesagt. Ich glaub keiner Frau, aber diesmal wars eine außerordentliche Ausnahme. H AUPTMANN Sie war also unschuldig? S LADEK Ja. H AUPTMANN Und? S LADEK Da gibts kein Und. Es läßt sich nämlich nichts ändern. H AUPTMANN Und wenn es sich ändern ließe? S LADEK Man kann nicht. H AUPTMANN Du hast Halt gerufen. Weißt du, daß man unter Umständen mit einem solchen Halt die nationale Revolution vernichten kann? S LADEK Daran hab ich nicht gedacht. Ich hab nur an die Gerechtigkeit gedacht. Es war mir plötzlich, als wären meine Ansichten über die Natur falsch, und ich hätt die Wahrheit vergessen. Ich kann nämlich selbständig denken – H AUPTMANN (unterbricht ihn.) Halt das Maul! Du hast nicht selbständig zu denken! Du bist Soldat. Dreitausend Sladeks sind erst ein Regiment. Du bist nur ein Teil. Selbständige Teile sind überflüssig, also schädlich, also werden sie vernichtet. Verstanden? S LADEK Ja.

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H AUPTMANN Und betreffs der Unschuld deiner Anna Schramm: Für das Vaterland muß jeder Soldat jede Schuld tragen. Jederzeit. S LADEK Man kann ja nichts dafür. H AUPTMANN Du hast dafür zu können! Das ist deine Pflicht! Du weißt, was Pflicht ist? Gehorchen. Bedingungslos. – Solltest du dich noch einmal unterstehen Halt zu rufen, so sperre ich dich ein bis zum jüngsten Gericht. Du weißt, wohin. Abtreten! (Er lässt ihn stehen.) S LADEK (zu H ALEF ) Darf ich jetzt austreten? H ALEF Du darfst. Halt! Glaubst du an das jüngste Gericht? S LADEK Nein. Ich bin nicht religiös. (ab) H AUPTMANN (zu S ALM ) Du hast diesen Krüppel gebracht, behalt ihn. S ALM Danke. H AUPTMANN Er hat sich bereits außerordentlich bewährt und kann selbständig denken. K NORKE Freilich ist er blöd, aber besser blöd als feig. Ich kannte seinen Bruder, wir haben nebeneinander gewohnt, als ich aus Tsingtau kam, vor dem Krieg. Der war sehr klug und gebildet, aber im Felde mußte man ihn hängen, weil er bei einem Sturmangriff seinen Feldwebel von hinten erschossen hat. Die Sladeks sind alle verbittert. Es war mal eine bessere Familie. H AUPTMANN Ich wiederhole: Die Art dieser letzten Bestattung ist in ihrem unglaublichen Leichtsinn nicht zu überbieten. Ihr habt gesoffen? S ALM Keinen Tropfen. H AUPTMANN So seid ihr gefährlich großzügig. – Ich bin von lauter Verrätern umgeben, aber ich fange immer nur die Vorhut, an die Leitung komme ich nicht heran, ich bin zu ehrlich. D ER B UNDESSEKRETÄR (erscheint.) S ALM , K NORKE , H ALEF , H ORST (ab) (Stille) H AUPTMANN (fixiert den B UNDESSEKRETÄR.) Sie kommen aus Berlin? D ER B UNDESSEKRETÄR Von der maßgebenden Stelle. H AUPTMANN Sie sehen: Ich bin bereit. D ER B UNDESSEKRETÄR Danke. H AUPTMANN Schnarcht die maßgebende Stelle noch? Sie wird unter dem Sowjetstern erwachen. D ER B UNDESSEKRETÄR Die politische Verantwortung fordert, für die bewaffnete Aktion den günstigsten Augenblick abzupassen. H AUPTMANN Ich warte. D ER B UNDESSEKRETÄR Wir haben zwar die Ministerliste, aber die Führer der Verbände müssen noch manche Frage bereinigen. H AUPTMANN Ich warte. D ER B UNDESSEKRETÄR Sie sind sich noch nicht einig, Nord und Süd! H AUPTMANN Ich warte. Vorerst! D ER B UNDESSEKRETÄR Das wissen wir. Deshalb bin ich da. H AUPTMANN Freut mich! D ER B UNDESSEKRETÄR Umso besser! Sie sind ein Mensch, dem man ab und zu seine Lage klar machen muß. Sie samt Ihren Soldaten unterstehen einer maßgebenden Stelle, die die geheime, gegen alle außenpolitischen Verpflichtungen erfolgte Aufstellung ihrer Armee vor der Republik mit dem Schutze vor äußeren Feinden begründet, in Wahrheit aber die nationale Diktatur erstrebt. Offiziell muß die

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maßgebende Stelle republikanisch tun, um inoffiziell die Republik unterhöhlen zu können. Offiziell tragen Sie die Verantwortung, inoffiziell befiehlt die maßgebende Stelle. Sie können praktisch nur bestehen, weil und solange Sie offiziell nicht bestehen. Vorerst existieren Sie überhaupt nicht. H AUPTMANN Danke. Die maßgebende Stelle ist feig. Sie betet um die nationale Revolution, aber drückt sich vor jedem festen Entschluß. Das liegt an der Berliner Luft. D ER B UNDESSEKRETÄR Und der preußischen Regierung. H AUPTMANN Es muß kommen wie in Ungarn. D ER B UNDESSEKRETÄR Die Diktatur. Plebs bleibt Plebs. Gäbs keine Neger am Rhein und keine Inflation, fühlten sich unsere lieben Deutschen in Schwarzrotdreck sauwohl. H AUPTMANN Nie. Ich glaube an den zweiten Befreiungskrieg. Mit dem Sturze der Republik stürzt auch Versailles. D ER B UNDESSEKRETÄR Kaum. H AUPTMANN Oho! D ER B UNDESSEKRETÄR Kaum, Hauptmann. Unsere Truppen und vor allem unsere Waffen reichen wohl zur Niederschlagung des inneren, aber niemals des äußeren Feindes. Die nationale Diktatur wird die Erfüllungspolitik der Rathenau und Genossen weiterführen müssen. Predigen wir das Gegenteil, so nur als Propaganda. Wir lügen dabei nicht, denn zu guter Letzt ist alles möglich. (Stille) H AUPTMANN Ich sehe, man treibt mit mir wieder ein unehrliches Spiel. Ich glaube, die maßgebende Stelle wäre sogar imstande, mich dem Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik auszuliefern. D ER B UNDESSEKRETÄR Wenn Sie ohne Erlaubnis anfangen wollten zu existieren, ja. H AUPTMANN Wenn alles mißglückt, jederzeit. Dann wird an meine nationale Treue appelliert, damit ich alles allein verantworten darf. Auch meine Justiz. D ER B UNDESSEKRETÄR Was für Justiz? H AUPTMANN Spielen Sie nicht die unberührte Jungfrau, Feigling. Leute wie Sie sollten politisch links stehen. Sagen Sie der maßgebenden Stelle einen schönen Gruß, und wenn sich die vertrottelten Oberlehrer und verkalkten Exzellenzen in den Bünden und Verbänden, Orden und Parteien nicht bald einigen, dann fange ich an zu existieren! Die nationale Bewegung wäre ein Debattierklub ohne meine Arbeit! Ich habe die Truppen gesammelt, ich habe die Gewalt, ich bin die Macht! Ich marschiere auch allein! Die nationale Revolution bin ich! Ich und meine Kameraden, der Landsknecht hat schon einmal einen Staat gerettet, wir haben Spartakus erschlagen, im Baltikum gekämpft, in Oberschlesien – und?! Wir lassen uns nicht wieder vogelfrei vertreiben, verachtet, verspottet, verdreckt! D ER B UNDESSEKRETÄR (lächelt sarkastisch; verbeugt sich steif und rasch ab.) H AUPTMANN (allein; starrt ihm nach; geht auf und ab.) (Trompetensignal) H AUPTMANN (hält und lauscht; grinst; knurrt.) Ich marschiere, ich marschiere – H ALEF (kommt.) Hauptmann! H AUPTMANN Was gibts? H ALEF Der Salm lässt fragen, was mit dem Kerl geschehen soll, den der Posten gestern beschlagnahmt hat – der drunten liegt. Er hat soeben gestanden, daß er uns für fünfzig Dollar an die Interalliierte Kontrollkommission verraten wollte.

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H AUPTMANN Das hat er gelogen. Der verrät nichts für fünfzig Dollar, das habe ich gleich gesehen. Hinter dem steht eine andere Macht. – Man muß ihn mit besonderer Vorsicht verhören. H ALEF Soll er noch geprügelt werden? H AUPTMANN Wer hat ihn geprügelt? H ALEF Ich nicht. H AUPTMANN Wer? H ALEF Rübezahl. (Stille) H AUPTMANN Du. Ist das wahr, daß dieser Rübezahl gedroht hat, mich für den Fall, daß er kein Geld von mir bekommt, glattweg niederzuknallen? H ALEF Er war besoffen. H AUPTMANN Besoffen oder nüchtern! Du hast das gehört? H ALEF Ich war dabei. H AUPTMANN Ich muß darauf bestehen, daß mir dergleichen sofort gemeldet wird! H ALEF Ruhe, Herr General! Ruhe. Wagst du, einen derart verdienstvollen Mann zu bestrafen, und wenn ja, kannst du es denn? Nein. Du kannst dich nur lächerlich machen. Sonst nichts. R ÜBEZAHL (erscheint.) Majestät. Ich hab soeben gehorcht. (Er grinst.) H AUPTMANN Du bekommst deinen Teil. R ÜBEZAHL Das klingt komisch. H AUPTMANN Abtreten. R ÜBEZAHL Drohst du mir? Du? Mir? H AUPTMANN Nein. Denn ich habe Angst, daß du mich niederknallst. R ÜBEZAHL (grinst.) Fürchte dich nicht, Liliputaner! H AUPTMANN Zurück! Hinaus! R ÜBEZAHL Bell nicht, Pintscher! Bell nicht, sonst schlag ich dir die Koppel um das Maul, daß dir das Gott-mit-uns in der Fresse steht! H AUPTMANN (fixiert ihn; beherrscht sich; rasch ab)

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VI. Immer noch unter der Erde. 35

F RANZ lehnt an der Wand. H AUPTMANN kommt. S LADEK folgt ihm mit aufgepflanztem Seitengewehr und hält in der Türe als Wache. Endlich in Uniform.

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H AUPTMANN Sie haben also gestanden, daß Sie für fünfzig Dollar der französischen Spionagezentrale Material über geheime Rüstungen beschaffen sollten? F RANZ Sind Sie hier das Oberkommando? H AUPTMANN Ja. F RANZ Werde ich wieder geprügelt? H AUPTMANN Ich werde mich nicht entschuldigen, daß Sie mißhandelt worden sind, aber ich mißbillige es. F RANZ Ich verlange, vor ein ordentliches Gericht gestellt zu werden. H AUPTMANN Sie werden nach einem ordentlichen Gesetze bestraft. F RANZ Ich verlange, nach dem Strafgesetzbuch abgeurteilt zu werden.

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H AUPTMANN Solange das Strafgesetzbuch von der Interalliierten Militärkommission zensiert wird, solange bin ich das ordentliche Gericht im Namen des deutschen Volkes. F RANZ Dazu haben Sie kein Recht. H AUPTMANN Machen Sie sich nicht lächerlich. F RANZ So schlachten Sie mich doch ab. Was wollen Sie denn noch von mir? H AUPTMANN Sie werden nicht geschlachtet. F RANZ Nein. Totgeprügelt. H AUPTMANN Nein. Sie werden begnadigt. Unter einer Bedingung. F RANZ Es gibt keine Bedingung, unter der ich begnadigt werden könnte. H AUPTMANN Hier bin ich der Herr. F RANZ Machen Sie sich nicht lächerlich. H AUPTMANN Ich pflege mich nicht lächerlich zu machen, Sie! Ich verbitte mir jede Unverschämtheit. Hier bin ich der Herr. F RANZ Ich wollte Sie nur aufmerksam machen, daß Sie mich nicht begnadigen dürfen, weil Sie ja befürchten müssen, daß ich alle Ihre Geheimnisse verrate, sobald ich frei bin. H AUPTMANN Sobald Sie frei sind, wird es keine Geheimnisse mehr geben. Ich warte nur auf das Signal der maßgebenden Stelle. Morgen oder übermorgen. Sobald ich marschiere, sind Sie frei. Auf mein Ehrenwort. Allerdings: Unter einer Bedingung. F RANZ Bitte? H AUPTMANN Ich weiß, wer Sie sind. Auch ich habe meine Spione. Es ist gelogen, daß Sie das Vaterland für fünfzig Dollar verkaufen wollten. Sie hätten es auch ohne einen Papierpfennig verraten, Sie sind Agent der dritten Internationale. F RANZ Nein. H AUPTMANN Doch! Sie spielen nur die Rolle des gemeinsten Verräters, um Ihre Genossen zu schützen! Meine Bedingung lautet: Lassen Sie mich die Waffenlager der Kommunistischen Partei erfassen, und Sie sind auf der Stelle begnadigt. Auf Ehrenwort. F RANZ Die Kommunisten haben keine Waffen mehr. Spartakus ist tot. H AUPTMANN Gibt es keine rote Armee? F RANZ In Rußland. H AUPTMANN Und in Deutschland. F RANZ Nein. Hier gibt es nur Schwarz oder Weiß. Ich bin kein Agent der dritten Internationale. Ich bekämpfe jeden Terror, auch den roten. H AUPTMANN Mit was denn? F RANZ Mit der Kraft der Idee. H AUPTMANN Idiot. F RANZ Danke. H AUPTMANN Sie sind sogenannter Pazifist? F RANZ Ja. H AUPTMANN Sie verraten aus Prinzip? F RANZ Aus Prinzip. H AUPTMANN Die eigene Armee. F RANZ Jede Armee. H AUPTMANN Nein! Nur die deutsche. Den Verbrechern von Versailles. F RANZ Ich hasse Versailles.

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H AUPTMANN Aber verraten den deutschen Soldaten der Kontrollkommission. F RANZ Nein! Ich kenne keine Kontrollkommission. Ich kenne auch keine deutschen Soldaten, ich kenne nur Landsknechte der Reaktion, deren Geheimnis ich enthüllen wollte – Sie zielen auf Versailles und treffen das deutsche Volk. Sie und Versailles erstreben dasselbe: Die ewige Entrechtung des vierten Standes. H AUPTMANN Sie Narr! F RANZ Sie haben nur fünftausend Mann. Glauben Sie, daß Sie ohne schwere Artillerie, ohne Flugzeuge, ohne Tanks und ähnliche Mordmaschinen, mit nur fünftausend Soldaten den Versailler Vertrag zerreißen können? H AUPTMANN Hätte ich nicht die schwarze Armee, wäre das ganze Vaterland längst vom Feinde besetzt. F RANZ Sie vergessen, daß Sie ein Geheimnis sind. Wie kann sich denn der Feind vor Soldaten fürchten, von deren Existenz er nichts wissen darf? Herr! Sie marschieren nur gegen das eigene Volk. Gegen die deutsche Republik. H AUPTMANN Was ist das: Deutsche Republik? Die Republik ist die Hure der Juden und Jesuiten. Sie sind sogenannter Pazifist. Das heißt: Ein Schuft ohne vaterländisches Verantwortungsgefühl. F RANZ Ich bin Pazifist. Das heißt: stärkstes Verantwortungsgefühl für den einzelnen Menschen. H AUPTMANN (schreit.) Und Verrat am Vaterland! Der einzelne ist eine Null! F RANZ (schreit.) Es geht um Millionen einzelne! Das Volk ist das Vaterland, und Krieg ist das größte Verbrechen am Volk! Was das Volk aufbaut, wird zerstört durch den Größenwahn der Berufssoldaten und die rücksichtslose Kalkulation verrückter Aktionäre! Es ist falsch kalkuliert worden. Die Bücher wurden aber bereits überprüft und die Betrüger verurteilt. Bald wird das Urteil vollstreckt, im Namen des Volkes. Das ist noch keine Republik, das wird erst eine! H AUPTMANN Krieg ist ein Naturgesetz. F RANZ Und wäre es ein Naturgesetz, so bekämpf ich eben die Natur! Ich stelle gegen die Anarchie der Zerstörung das Gesetz des Aufbaus, die Ordnung gegen das Chaos! Sie wollen zurück, ich vorwärts! Sie wollen die nationale Diktatur, das Zurücksinken in den Schlamm niedrigster Instinkte – Sie werden scheitern, und sollten Sie noch so fest überzeugt sein, recht zu haben. Ich stelle den einen Weltstaat gegen den verbrecherischen Wahnsinn der Raubstaaten! Ich kämpfe mit den Waffen der Idee, Sie können mich totschlagen, die Idee stirbt bekanntlich nie, aber Ihre Waffen sind bereits verrostet und werden bald zu Staub. Ihre Zeit der Raubritter ist in Blut und Dreck zusammengebrochen – Ihr Tag ist versunken. Es ist noch tiefe Nacht. Wer die Nacht überlebt, der wird die Diktatur der Menschenrechte schauen. (Stille) H AUPTMANN (stiert ihn an.) Sie haben sich selbst überführt. Ich ließ Sie quatschen. Wagen Sie noch zu leugnen, ein Agitator Moskaus zu sein? F RANZ Ich habe nichts mit Moskau zu tun. H AUPTMANN Sie wollen die Bedingung nicht erfüllen? F RANZ Ich kenne kein kommunistisches Waffenlager. H AUPTMANN Lügen Sie nicht, Feigling! (Stille) F RANZ Ist es nicht feig, mich hier so abzuschlachten? H AUPTMANN Es geht um das Vaterland.

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F RANZ Sie betrachten sich als Vaterland? H AUPTMANN (fast etwas unsicher) Ich kämpfe für das Vaterland. Für seine Größe, seine alte Macht. Das verstehen Sie nicht. Deutschland kann nur unter der nationalen Diktatur gesunden. Ihr Weltreich ist Mist – vielleicht ein schöner Traum. Ich habe mich mit diesen Sachen nicht so beschäftigt. Ich bin Soldat. Ich hab einen traumlosen Schlaf. (Stille) H AUPTMANN Ich biete Ihnen eine letzte Gelegenheit: Wollen Sie auf meine Bedingungen eingehen? F RANZ Ich kann ja nicht. Ich bin kein Kommunist. Ich gehöre keiner Partei an. Ich bin allein. H AUPTMANN Das ist gelogen. Weshalb hätten Sie denn gesagt, Sie wollten alles für fünfzig Dollar verraten, wenn Sie niemanden zu beschützen hätten? F RANZ Ich habe gelogen, weil ich wußte, daß es damit aus ist. Wenn ich gesagt hätte, daß ich Pazifist bin und kein gemeiner Verräter, so hätte man mich länger gequält. Ich wollte möglichst rasch totgeprügelt werden. Es war reiner Egoismus. H AUPTMANN Pazifismus ist Egoismus. F RANZ (lächelt.) Richtig. Ich bin zu meinem persönlichsten Vergnügen hier, wie Sie ja wissen. (Stille) H AUPTMANN Sie sind verrückt. Gemeingefährlich verrückt. Glauben Sie denn, Sie Narr, daß es jemals Frieden geben wird? F RANZ Nein. Das glaube ich nicht. (Er wankt etwas.) H AUPTMANN (braust auf.) Machen Sie keinen Narren aus mir, Sie! F RANZ Ich mache mir keinen Narren aus Ihnen. Ich glaube, wir verstehen uns. Sie haben ja von Ihrem Standpunkte aus vollständig recht – Es kommt aber nur auf die Höhe des Standpunktes an, und wie tief oder hoch man über dem eigenen Standpunkte stehen will – oder kann – (Er fasst sich an den Kopf.) Ich bitte das Verhör zu unterbrechen – auf kurze Zeit. Ich habe einen zu schweren Kopf. Man hat mir nämlich auf den Kopf geschlagen, das kommt davon – (Er lächelt und setzt sich.) H AUPTMANN (starrt ihn an; wendet sich plötzlich ab.) Sladek! S LADEK Zu Befehl! H AUPTMANN Falls die anderen zurückkommen sollten, so melde ihnen, du hättest Befehl, daß niemand diesen Mann in irgendeiner Form verhören darf. Du hast das durchzuführen. Verstanden? S LADEK Zu Befehl! H AUPTMANN Hier verhöre nur ich. (ab) (Pause) S LADEK (plötzlich) Sie werden dich nicht mehr schlagen. F RANZ (sieht ihn erstaunt an; spöttisch) Ich danke sehr. S LADEK Ich dank auch sehr, daß du mich nicht verraten hast. D IE ZWEI (fixieren sich.) S LADEK (lächelt.) Ja, daß du nämlich nicht gesagt hast, daß du mich kennst. Ich hätt dadurch Unangenehmes gehabt, ich wär nämlich leicht in einen Verdacht gekommen, der ja gar nicht stimmt, weil wir uns doch nur kennen, aber immer das Gegenteil denken. F RANZ Wieso? S LADEK Das weißt du doch.

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F RANZ Nein. S LADEK Das gibt es doch nicht. F RANZ Wer bist du? S LADEK Ich? F RANZ Ja, du. S LADEK Du kennst mich nicht? F RANZ Nein. (Stille) S LADEK Ich hab dich gleich erkannt. Ich bin der Sladek. F RANZ Sladek? Kenn ich nicht. S LADEK Du hast dich mal zur Diskussion gemeldet, man hätt dich fast erschlagen, aber das hätt mir leid getan, denn ich hab die Gerechtigkeit lieb, obwohl es sie nicht gibt. Wir haben debattiert, ich red nämlich nur gern mit intelligenten Menschen, die selbständig denken können, obwohl man das nicht soll. Ich bin nämlich ein sogenannter zurückgezogener Mensch. Ich erinner mich an jedes Wort. F RANZ Ja, das war jene Diskussion. Aber an dich kann ich mich nicht erinnern. S LADEK Das tut mir leid, daß du mich vergessen hast. F RANZ (fast etwas spöttisch) Ich bitte um Verzeihung, aber ich kenne so viele Menschen – S LADEK (unterbricht ihn.) Bitte, bitte! Der einzelne zählt ja auch nichts, das ist natürlich, obwohl man da komische Erfahrungen machen kann. (Stille) F RANZ Über was haben wir denn debattiert? S LADEK Das läßt sich nicht so einfach sagen. Zum Beispiel über das Morden in der Natur, das sich nicht ändert, über das Versöhnen, das es nie geben wird, und über die Gerechtigkeit, die es auch nicht gibt, aber wie gesagt, man kann da komische Erfahrungen machen. Wir haben über Weltpolitik debattiert. Deine Nase hat geblutet. (Stille) S LADEK Es freut mich, daß du zuvor gesagt hast, du glaubst nicht daran, daß es jemals Frieden geben wird, daß es also nur Gewalt gibt und sonst nichts. Daß du dich zu meiner Ansicht über den Sinn des Lebens bekehrt hast, das freut mich, denn du bist ein sogenannter intelligenter Mensch. Hörst du mich? F RANZ (hatte den Kopf in den Händen vergraben; apathisch) Ja. S LADEK Es freut mich, daß ich wieder mit dir reden kann, hier komm ich kaum dazu, denn hier darf man nicht selbständig denken, es ist auch besser, aber man kann es sich nicht verbieten. Vielleicht leider. (Stille) S LADEK Der intelligente Mensch gibt seinen Denkfehler zu, ich denk heut auch etwas anders, obwohl ich immer recht gehabt hab, aber es war alles durcheinander. Nämlich ich hab den Fehler gemacht, daß ich mich in den sogenannten Mittelpunkt der Welt gestellt hab, mich, den Sladek, obwohl dieser Sladek nur ein Teil ist. Ich hab mich mit dem Vaterland verwechselt. (Stille) S LADEK Ich hab mir das alles genau überlegt. Der einzelne ist nur ein Teil des Vaterlandes, und dieser Teil darf als einzelner zum Beispiel nicht morden. Es wird zwar immer gemordet, weil man ja nicht anders kann, aber das darf der einzelne nur als Teil, obwohl ja ganz zu guter Letzt alles für den einzelnen ist. Es ist aber

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komisch, daß, wenn man sich als Teil selbständig macht, zum Beispiel beim Morden, man das Gefühl hat, als sollt man doch anders tun, obwohl man doch muß. Das ist sehr kompliziert. (Stille) S LADEK Hörst du mich? F RANZ (wie vorher) Ja. S LADEK Das sind so Sachen. Das ist dein Fehler, daß du sagst, du nimmst Rücksicht auf den einzelnen Teil. Wer das richtig tut, der muß sich zu guter Letzt selbst umbringen, denn es wird immer gemordet in der Natur. Dem geht es wie der Republik: Die will keinen umbringen, also wird sie umgebracht. Ohne Mord gibt es kein Leben, geht es nicht weiter. Es muß nämlich immer weiter gehen, das ist auch so ein Naturgesetz. Es wird zwar nicht besser, aber man weiß das nicht. Der einzelne Teil allein zählt nämlich nichts, man darf nur an das Ganze denken. (Stille) S LADEK Zum Beispiel für das Vaterland darf der einzelne als Teil zum Beispiel jeden Mord begehen. Jederzeit. – Ich war mal bei der Hinrichtung einer Landesverräterin. Das war eine Frau. F RANZ (horcht auf.) S LADEK Das erzähl ich jetzt nur dir, weil du nämlich auch ein intelligenter Mensch bist, und ich komm hier wie gesagt nicht dazu, drüber zu reden. F RANZ Bitte. S LADEK Eine Landesverräterin gehört im Interesse des Ganzen erledigt, das ist doch klar. Es war auch alles in Ordnung, auch wenn sie unschuldig gewesen sein sollte, aber wir konnten nicht anders, wir mußten sie hinrichten, das sind manchmal so Umstände. Auch Unschuldige müssen für das Ganze fallen, das wird nicht anders. Wir hatten recht. Das ist jetzt nur für dich persönlich, weil, wie gesagt, du selbständig denken kannst und vielleicht das verstehst. Nämlich ich versteh alles, nur das nicht, daß es mir manchmal ist, als hätten die Leut, die diese Frau hingerichtet haben, obwohl sie doch vollkommen im Recht waren, weil sie nicht anders tun konnten, doch unrecht getan. Das ist sehr interessant. F RANZ Sehr. (Stille) F RANZ Wer war diese Frau? S LADEK Das ist Geheimnis. Dieses Ganze, verstehst du, ist nur unter uns – F RANZ Meinst du? S LADEK Das hab ich nur dir gesagt, bitte. F RANZ Warum? S LADEK Es ist nur unter uns. Unter uns beiden. F RANZ (spöttisch) Ich danke dir für das große Vertrauen. S LADEK Du wirst mich nicht betrügen. F RANZ Wieso? S LADEK Bitte. (Stille) F RANZ (nähert sich ihm.) Du betrügst dich selbst. Du denkst als Teil zu selbständig, davon werden deinesgleichen blöd. Jetzt weiß ich, wer du bist. S LADEK Jetzt erst? F RANZ Du bist der Sladek. S LADEK Ja.

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F RANZ Das ist sehr interessant. Ich weiß auch, wer deine „Landesverräterin“ war. S LADEK Wer? F RANZ Sie hieß Anna. S LADEK Nein! F RANZ Doch! Und ihr „Henker“ heißt Sladek. S LADEK Lüg nicht! F RANZ Das ist sehr interessant, Herr Sladek, denn die Justiz hat noch keine Ahnung, daß dieses Verbrechen eine „Hinrichtung im Interesse des Vaterlandes“ ist. Die Polizei nimmt Mord an, einen höchst „selbständigen“ Mord. S LADEK Ich bin kein Mörder. F RANZ In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. Die Polizei sagt, wie der Herr es in jeder Zeitung nachlesen kann, daß es ein verkommenes Subjekt namens Sladek war, das die mütterliche Liebe einer alternden Frau in egoistischster Weise ausnützte. Ein arbeitsscheuer Lump, ließ er sich aushalten und trieb sich mit ihren kleinen Ersparnissen, die er ihr aus dem Schranke stahl, mit Huren herum. Und weil sie das nicht mehr mitansehen wollte, hat er sie in bestialischer Weise ermordet. Die Hauseinwohner hörten Frau Schramm „Sladek!“ rufen und fanden sie abgeschlachtet. Auf die Ergreifung des Mörders hat der Staatsanwalt eine Belohnung ausgesetzt. S LADEK Wieviel? F RANZ Viel. (Stille) S LADEK Das ist alles nicht wahr. Das ist alles ganz anders gewesen. F RANZ Das war alles für das Vaterland? S LADEK Ja, aber es gibt keine Gerechtigkeit. F RANZ Es gibt auch keine, aber wir haben Justiz und Polizei, solange es so selbständig denkende Sladeks geben wird. S LADEK Es ist arg, daß man denken kann. H AUPTMANN (kommt.) Ich sehe, Sie haben sich schon erholt. – Sladek! Was wollte er von dir? Bist du taub, Idiot? S LADEK Er hat nur gefragt, wann er wieder verhört wird. H AUPTMANN Jetzt. – Sie haben mich betrogen. Sie hätten sich gar nicht zu erholen brauchen. F RANZ Ich habe Sie nicht betrogen. H AUPTMANN Sie Komödiant. Sie mußten das Verhör abbrechen, weil Sie sich selbst widersprochen haben und nicht weiter fanden! Ich lasse nicht locker! Es dreht sich um Ihre Behauptung, Sie glaubten nicht, daß es jemals Frieden geben wird. Dabei haben Sie den Mut, mir einreden zu wollen, Sie seien kein Agent Moskaus und kämpften lediglich mit den „Waffen der Idee“, Sie seien Pazifist und predigten den ewigen Frieden! Antwort! F RANZ Daß Sie sich über diesen scheinbaren Widerspruch derart den Kopf zerbrechen, hat wohl weniger seinen Grund in Ihrer unberechtigten Empörung, betrogen worden zu sein, als in dem berechtigten Gefühl, erkannt worden zu sein. H AUPTMANN Ich verbitte mir das! F RANZ Sie verstehen mich, das habe ich Ihnen bereits gesagt. Denn Sie sind ja ganz meiner Meinung, nur können Sie es nicht vertragen zu hören, wie Sie eigentlich denken, und deshalb wollen Sie mich nun zwingen, das Gegenteil zu behaupten. H AUPTMANN Sie sind wirklich verrückt.

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F RANZ (lächelt.) Ja, gemeingefährlich. Und was den ewigen Frieden anlangt, so glaube ich wirklich nicht daran, aber ich predige ihn, da ich zu guter Letzt an keinen Fortschritt glaube, weil ich weiß, daß es nur einen Fortschritt gibt, wenn man keine Rücksicht auf den einzelnen Menschen nimmt. Es dreht sich doch zu guter Letzt alles um den einzelnen Menschen, darum predige ich den radikalsten Fortschritt, das Reich der unpersönlichen Masse. Es gibt nämlich keinen Fortschritt, solange es die einzelnen gibt. Das ist doch alles Betrug, nicht wahr? – Sie nehmen zwar keine Rücksicht auf den einzelnen Menschen, Sie sind die Diktatur, Sie predigen nicht den Frieden, Sie erklären den Krieg und glauben doch an keinen Fortschritt. Ich auch nicht. Aber vielleicht gibt es doch einen Fortschritt, und wir beide täuschen uns nur. Das wäre doch möglich, nicht wahr? Die Pflicht abzutreten oder fanatisch das Gegenteil zu behaupten, sonst werden sie ja verrückt vor Verzweiflung oder Überhebung. Wir müssen bei einer bestimmten Grenze aufhören zu denken, das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Ich habe kein Recht, das Hoffen des einzelnen Menschen auf den Frieden zu zerstören. Ich habe die Pflicht zum Betrug. Und ganz zu guter Letzt ist das ja gar kein Betrug, denn es dreht sich ja eigentlich nicht darum, wie es der Menschheit tatsächlich ergeht, sondern was sich der einzelne Mensch einbildet. Wir verstehen uns. H AUPTMANN Nein. Ich bin kein Betrüger. Die nationale Diktatur wird dem deutschen Vaterlande seine stolze Weltmachtstellung zurückerobern, trotz aller überstaatlichen Mächte! Das ist mein Glaube! F RANZ Ist das kein Betrug? H AUPTMANN Ich verbitte mir das! F RANZ Sie sind überzeugt, daß die Rückeroberung einer sogenannten stolzen Weltmachtstellung wirklich zu guter Letzt eine Besserung bedeutet? H AUPTMANN Das „zu guter Letzt“ geht mich nichts an! F RANZ Sehen Sie! H AUPTMANN Was? F RANZ Denn zu guter Letzt dreht es sich hier nur um Ihre einzelne Person. Das wird Ihnen manchmal klar. H AUPTMANN Wieso? F RANZ Ich habe Ihnen schon gesagt: Die Zeit der Raubritter ist vorbei: Ihre Zeit. Sie werden scheitern, denn Sie müssen scheitern. H AUPTMANN Was Sie nicht sagen, Sie Prophet! F RANZ Ich glaube es zu wissen. H AUPTMANN Das ist Ihr Betrug! F RANZ (lächelt.) „Zu guter Letzt“ vielleicht. Aber das „zu guter Letzt“ geht mich nun nichts mehr an, da Sie Ihren Standpunkt verleugnen. H AUPTMANN Was für Standpunkt? F RANZ Höher oder tiefer. Sie haben kein Recht, um Ihrer einzelnen Person willen rücksichtslos nach Ihrer Erkenntnis zu handeln. – Vielleicht habe ich mich aber geirrt, und Sie können vielleicht gar keine Pflichten haben. H AUPTMANN Quatsch! Du Idiot. Du Philosoph. – Und was meine Zeit betrifft, die du die Zeit der Raubritter nennst: Der letzte Beweis ist immer meine Faust! F RANZ (lächelt.) Zu guter Letzt. (Stille) H ALEF (kommt.) Hauptmann! H AUPTMANN Raus! Raus sage ich!

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H ALEF Quassel nicht, Herr General! Wir sind nämlich umzingelt. H AUPTMANN Umzingelt? Wer? Wir? H ALEF (nähert sich ihm; unterdrückt) Wir. Glotz nicht. H AUPTMANN Wer hat uns umzingelt? H ALEF Die anderen. Sie sind in der Nacht gekommen, jetzt wird es Tag droben, da hat sie der Posten entdeckt. Sie haben Artillerie aufgefahren. Um das ganze Fort. H AUPTMANN Was sind das für Soldaten? H ALEF Reguläre. H AUPTMANN Reguläre? H ALEF Sie haben einen Parlamentär gesandt mit der weißen Fahne, als hätten wir Krieg. Es stinkt, Herr General. H AUPTMANN (stürzt hinaus.)

VII. Freies Feld.

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D ER B UNDESSEKRETÄR und zwei reguläre S OLDATEN mit weißer Fahne warten auf den H AUPTMANN . Der Morgen graut. – Der H AUPTMANN kommt mit H ALEF , hält ohne zu grüßen und fixiert den B UNDESSEKRETÄR. D ER B UNDESSEKRETÄR (verbeugt sich leicht.) Hauptmann. Im Auftrage der maßgebenden Stelle habe ich Ihnen den Beschluß zu überbringen, betreffs Ihrer zukünftigen Verwendung, wenn ich mich so ausdrücken darf. Ihre sogenannte Armee wurde seinerzeit aufgestellt erstens als Grenzschutz, da ein etwaiger Einbruch irregulärer feindlicher Formationen befürchtet werden mußte, zweitens als eine Art Notpolizei, die die Aufgabe hatte, auf dem Lande versteckte Waffen zu sammeln oder im Falle eines bolschewistischen Aufstandes neben dem regulären Militär als Selbstschutz eingesetzt zu werden. Da sich aber nun die innerpolitische Lage überraschenderweise derart konsolidiert hat, daß zur Niederschlagung einer kaum zu erwartenden Linksrevolution die vorhandenen regulären Machtmittel des Staates vollständig ausreichen, andererseits die außenpolitische Lage – H AUPTMANN (unterbricht ihn.) Das ist gelogen. Jedes Wort. Es ist eine Schande! Meine Soldaten sind keine Polizei, keine Nachtwächter, das ist die Armee der nationalen Revolution! Wir haben uns gefunden, nicht um diesen Staat zu schützen, sondern um diese Republik zu zertreten, wir kämpfen für die nationale Diktatur und nicht für die internationale Schweinedemokratie! D ER B UNDESSEKRETÄR – andererseits die außenpolitische Lage die Möglichkeit, wenn auch nicht einer Versöhnung, so doch der wirtschaftlichen Annäherung der Nationen erhoffen läßt. Wir Deutsche müssen trotz aller Demütigungen diesen Weg betreten, aus nationalem Interesse, um die bürgerliche Wirtschaftsordnung zu festigen. Die maßgebende Stelle mußte sich also entschließen – dieser Entschluß fiel ihr nicht leicht –, die sofortige Auflösung Ihrer, ich wiederhole: sogenannten Armee zu befehlen. Die maßgebende Stelle wird ihr Möglichstes tun betreffs Unterbringung Ihrer Leute in einen bürgerlichen Beruf. H AUPTMANN Danke. (Stille)

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H AUPTMANN Das habe ich eigentlich erwartet, daß ich wieder verraten werde. Wir verzichten auf den bürgerlichen Beruf, dazu muß man geboren sein. Ich denke nicht daran, Verbrechern an deutschen Gedanken, und nennen sie sich auch maßgebende Stelle, zu gehorchen! Sagen Sie es ihr, daß ich auf die Festigung der bürgerlichen Wirtschaftsordnung pfeife, daß ich an keine Versöhnung glaube, und daß ich kämpfen werde, bis Deutschland wieder gefürchtet wird! D ER B UNDESSEKRETÄR Ich mache Sie aufmerksam: Falls Sie sich nicht freiwillig auflösen, so haben wir die Gewalt, es zu erzwingen. Unter allen Umständen, mit allen Mitteln! Das Wohl des deutschen Volkes kommt vor Ihrem Landsknechtehrgeiz! Sie sind umzingelt und – H AUPTMANN (unterbricht ihn.) Mit Artillerie! Ich weiche nicht! Sie sind in der Nacht herangeschlichen und wollen mich fangen, ich breche am hellichten Tage durch und trage die Fahne bis Berlin! D ER B UNDESSEKRETÄR Ich bitte Sie, nicht zu deklamieren. Ergeben Sie sich, oder Sie tragen die volle Verantwortung für ein völlig sinnloses Blutvergießen. Es ist deutsches Blut. H AUPTMANN Sie sind kein deutsches Blut! Sie beugen sich vor Schwarzrotdreck! Ich beuge mich nicht! Lieber deutsches Blut vergießen, als die nationale Wiedergeburt vernichten! Ich fürchte mich nicht! D ER B UNDESSEKRETÄR Ich mache Sie aufmerksam, daß die Inflation anfängt aufzuhören. Ergeben Sie sich – H AUPTMANN (unterbricht ihn.) Nein! D ER B UNDESSEKRETÄR Falls Sie sich fügen, so kann ich Ihnen inoffiziell erklären, daß ich für meine Person alles daransetzen werde, Sie vor Strafe zu bewahren. Sie verstehen mich? H AUPTMANN Strafe? Strafe? Wofür? Daß ich mich nicht verraten lasse?! D ER B UNDESSEKRETÄR Sie sind ein Mensch, dem man ab und zu seine Lage klar machen muß – H AUPTMANN (unterbricht ihn.) Ich verzichte! Ich sehe klar! Ich kenne Freund und Feind! (Stille) D ER B UNDESSEKRETÄR Ich gebe Ihnen Bedenkzeit. H AUPTMANN Unnötig! D ER B UNDESSEKRETÄR Sollten Sie nicht die weiße Fahne hissen, so eröffnen wir, so weh es uns auch tut, und so gerne wir es vermeiden möchten, das Feuer. Die Verantwortung tragen Sie, daß wir für das deutsche Vaterland gezwungen sind, auf deutsche Männer zu schießen. H AUPTMANN Ich übernehme die Verantwortung. D ER B UNDESSEKRETÄR Sie werden sie tragen. (ab mit den beiden regulären S OLDATEN ) (Pause. Morgenwind) H AUPTMANN Diese Hunde! Diese Hunde! Die gemeinsten Verräter sitzen hinter den eigenen Kulissen! – Hast du gehört, daß sich die maßgebende Stelle versöhnen will? H ALEF Ja, das hab ich auch gehört. H AUPTMANN Lauter Hunde! Glaubst denn du an den Frieden? H ALEF Ich weiß nichts. H AUPTMANN Es hat keinen Frieden zu geben, Halef! Jetzt fangen wir an zu existieren! Wir! – Lauf zu Salm, er soll sofort mit den Seinen –

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H ALEF (unterbricht ihn.) Salm ist samt seiner Puppe und Herrn Rübezahl verschwunden, als es bekannt wurde, daß wir umzingelt sind. Fort. Ausgerückt. H AUPTMANN Ausgerückt? H ALEF Hast du das gehört, was dieser Bonze sagte, das mit der Strafe? H AUPTMANN Hast du Angst? H ALEF Ja. Ich hab Angst. H AUPTMANN So verschwind, feiges Vieh! H ALEF Zu Befehl! Ich lös mich selbst auf. Das würde ich an deiner Stelle auch tun. (ab) H AUPTMANN Halt das Maul! Noch bin ich nicht verreckt! Erst wenn mich die Würmer fressen, dann löse ich mich auf! Ich bin noch ich! S OLDATEN DER SOGENANNTEN A RMEE (erscheinen.) H AUPTMANN Soldaten! Die nationale Armee marschiert, trotz aller feilen Huren der Politik, die den lieben, der sie verachtet! Die regulären Regimenter knien vor Schwarzrotdreck – Die eigenen Bundesbrüder haben uns umzingelt und drohen, uns in wenigen Minuten niederzuschießen, wenn wir nicht reuig um Gnade betteln. Wer sich ergibt, ist kein Soldat! Man will uns vernichten! Sie winseln um Frieden beim Feind und wollen uns für immer verbieten! Sie wollen es nicht, daß wir existieren, sie erdolchen uns zum zweiten Male, sie schämen sich der nationalen Revolution! E IN S OLDAT (tritt vor.) Hauptmann! Ich bin Soldat. Ich kämpfe gegen den Feind. Ich hasse diese Republik, aber ich schieße nicht sinnlos auf deutsche Soldaten. H AUPTMANN Das sind keine Soldaten, das sind Halunken! D ER S OLDAT Das sind Deutsche wie wir. H AUPTMANN Wenn das noch Deutsche sind, dann ist jeder Rote ein Deutscher! E IN Z WEITER S OLDAT Ist er auch! Ist er auch! (Stille) H AUPTMANN Wer war das? D ER ZWEITE S OLDAT (tritt vor.) Ich. H AUPTMANN Du, du Hund. Du Hund! (Er schlägt ihm vor die Brust, daß er zurücktaumelt.) (In der Ferne fällt ein Kanonenschuß.) E IN D RITTER S OLDAT (tritt vor den H AUPTMANN und drängt ihn langsam zurück.) Hauptmann! Ich ergebe mich. Ich mag nicht mehr. Ich war vier Jahr im Feld, der Krieg ist aus. Aus! Verstanden? Sie haben mich zu dir gezwungen, deine Herren Barone, sonst hätten sie meine Familie vernichtet, die feinen Herren Gutsbesitzer! Ich scheiß auf deine nationale Revolution! Jetzt ist Schluß mit dem Krieg! Ich geh nicht mehr unter die Erde, ich bin bei lebendigem Leibe verschimmelt! H AUPTMANN (zieht den Revolver.) Zurück! Das ist Verrat vor dem Feind! Meuterei! D ER DRITTE S OLDAT (schlägt ihm den Revolver aus der Hand und gibt ihm eine gewaltige Ohrfeige.) Da hast du Verrat! Da hast du Meuterei! H AUPTMANN (brüllt.) Wache! Wache! D ER DRITTE S OLDAT (ohrfeigt ihn.) Da hast du Wache! Da hast du Wache! (Kanonenschuß) D ER ZWEITE S OLDAT Wir fallen nicht für dich! D ER ERSTE S OLDAT Auf dem Felde deiner privaten Ehre! D ER DRITTE S OLDAT Auf keinem Felde eurer sogenannten Ehre! Kameraden! Die weiße Fahne! Die weiße Fahne!

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(Kanonenschuß) S OLDATEN (fliehend ab) H AUPTMANN (allein) S LADEK (kommt.) Hauptmann. Sie haben die Gefangenen befreit. Ich glaub, es ist Meuterei. Sie haben mich geohrfeigt, besonders der eine. Sie sagen, man schießt – Hauptmann! Du bist voll Blut. H AUPTMANN (lächelt böse.) So? S LADEK (blickt empor.) Was surrt da? Wie das surrt – (In der Nähe schlägt eine Granate ein.) H AUPTMANN Sie zielen hierher! Sie müssen mich treffen! Marsch, Sladek! Das gilt nur mir! Nur mir! S LADEK Mir auch. H AUPTMANN Nur mir! Nur mir! Wo bist denn du?! Wer seid denn ihr?! Nichts! Nichts! Marsch, Sladek! Marsch! S LADEK Ich hab keine Angst. In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. Es surrt. H AUPTMANN Sie beschießen mich mit Artillerie! S LADEK (deutet auf das Fort.) Hauptmann! Die weiße Fahne! R EGULÄRE S OLDATEN (erscheinen rings auf den Hügeln.) H AUPTMANN (lacht die S OLDATEN aus.) S LADEK (hebt die Hände hoch: ergibt sich.) ENDE DES ZWEITEN AKTES.

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D R I T T E R A K T. VIII. 30

Die Justiz der Wiedererstarkung. D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER verhört den verhafteten F RANZ .

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F RANZ Ich protestiere gegen meine Verhaftung. D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER (dieselbe Person wie der B UNDESSEKRETÄR ) Sie geben zu, diesen Artikel verfaßt zu haben? F RANZ Ja. D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Sie behaupten in diesem Artikel, daß eine maßgebende Stelle der deutschen Republik entgegen unseren außenpolitischen Verpflichtungen heimlich Soldaten geworben und ausgebildet hat, die unter dem Kommando eines ehemaligen Hauptmanns eine sogenannte schwarze Armee gebildet haben. Sie schreiben fernerhin, daß diese Truppen zum Schutze ihrer Existenz Selbstjustiz übten – Sie reden von Feme. Sie wagen die ungeheuerliche Behauptung, daß aus Angst vor Enthüllung Menschen zu Tode gemartert wurden und nicht nur verratsverdächtige, sondern auch vollkommen Unschuldige. Sie „enthüllen“, daß der Hauptmann zu guter Letzt der Gefangene seiner eigenen Feme wurde, die aus moralisch und geistig minderwertigen Subjekten bestand, die zu guter Letzt also die wahre Befehlsgewalt hatten. Sie berühren hier

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auch ein Verbrechen, einen nachgewiesenermaßen ganz gewöhnlichen Mord, nämlich den Fall Sladek. Leider konnte dieser Sladek noch immer nicht verhaftet werden. F RANZ Leider. Sonst würde er es Ihnen selbst erzählen, daß das kein „gewöhnlicher“ Mord war, sondern eine sogenannte Hinrichtung im sogenannten Interesse des sogenannten Vaterlandes. Er hat es mir selbst erzählt, als ich mich in der Gewalt der Feme befand, die mich totgeprügelt hätte, wäre die ganze schwarze Armee nicht von der maßgebenden Stelle aufgelöst worden. D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Ich warne Sie in Ihrem eigenen Interesse. F RANZ Danke. D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Sie ziehen in Ihrem Schrieb den Schluß, daß die maßgebende Stelle offenbar den Bankrott ihrer innerpolitischen Pläne erkannte und deshalb die sogenannte schwarze Armee zwang, sich aufzulösen. Sie erzählen hier ein Märchen von einer Schlacht mit Artillerie. F RANZ Das ist kein Märchen. D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Es gab keine Schlacht mit Artillerie, es gab lediglich den lächerlichen Putschversuch einer winzigen Gruppe Ultrarechtsradikaler, eine Wahnsinnstat nationalkommunistischer Haufen! F RANZ Das ist nicht wahr. Das war die Armee der sogenannten nationalen Revolution! Das waren die Söldner der Reaktion, die unter der Maske der nationalen Diktatur die Entrechtung und Versklavung des eigenen Volkes erstrebten! D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Das ist krankhaft. F RANZ Die schwarze Armee sollte die Republik stürzen, das heißt: die Plattform zur Schaffung des wahren Volksstaates mit Artillerie zertrümmern. D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Es gab keine schwarze Armee! F RANZ Ich selbst sollte totgeprügelt werden, weil ich der Republik dienen wollte! Ist es nicht grotesk, daß mich nun die Justiz dieser Republik, für deren Leben ich fast fiel, verurteilen will, weil ich sie vor ihren falschen Freunden warne? D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Nein, das ist nicht grotesk. F RANZ Daß Sie das als gerecht empfinden, darüber bin ich mir klar. D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Sie sind verhaftet wegen eines Verbrechens des versuchten Landesverrates. Des „versuchten“, merken Sie sich das! Ich warne Sie. – Ein jeder Deutsche hat die Pflicht, auch entgegen Gesetz gewordenen, uns aufgezwungenen außenpolitischen Verpflichtungen zu wissen, was dem Deutschen Reiche schadet; zeigt er dafür kein Gefühl, so ist er entweder ein gemeingefährlicher Phantast oder ein Feind des Landes. Des Staates Wohl gebietet, ihn vom Fleck weg zu verhaften. F RANZ Das Wohl des wahren Staates ist das Wohl des Volkes. Der alte Staat sorgte allein für das Wohl seiner herrschenden Schicht – und ist zusammengebrochen. Noch herrscht die alte Schicht über dem Schutt. Sie will eine Ruine renovieren und sie mit Kanonen und Paragraphen befestigen. Das Volk schreitet aber über Schutt und baut sich sein Haus, trotz allem! Ein einfaches Haus, ohne Fassaden aus „großer Zeit“. D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Sie sind Pazifist? F RANZ Ich wäre glücklich, wenn wir ein internationales Strafgesetzbuch hätten, das die Macht besäße, den Krieg zu sühnen, genau wie den Mord. Daß es trotzdem Kriege geben wird, nehme ich als unerbittliche Tatsache, aber nicht als Ausrede.

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D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Wir haben leider keine Wehrmacht mehr. Leider. Si vis pacem, para bellum, sagt der Lateiner. Können Sie lateinisch? F RANZ Nein. D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Das heißt: Wenn du Frieden willst, rüste dich zum Krieg. F RANZ (lächelt.) Das habe ich verstanden, obwohl ich nicht lateinisch kann. (Stille) D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER (räuspert sich.) Ihr Artikel kann uns Wehrlosen nur schaden. Das ist Wasser auf die Mühle der gehässigsten feindlichen Propaganda. Das ist Verrat, denn Sie hindern des Deutschen Reiches Wiedererstarkung, indem das Ausland kraft solcher Artikel an unserem aufrechten Verständigungswillen zweifelt. F RANZ Wer meuchelte die aufrechten Versöhnungsfreunde? Aus innenpolitischen Gründen verschlechterten jene Verbrecher gewissenlos die verzweifelte Lage des Volkes! Mein Artikel kämpft für den ehrlichen Frieden gegen lichtscheue Machenschaften – D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER (unterbricht ihn.) Es gab keine schwarze Armee! Alle Ihre Behauptungen sind glatte Fälschungen! F RANZ Ich selbst sollte ja ermordet werden! Ich werde alles beweisen! D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Ich warne Sie, wie gesagt: in Ihrem eigensten Interesse. Sie sind eines Verbrechens des versuchten Landesverrates angeklagt, beweisen Sie mir aber, daß es tatsächlich eine schwarze Armee gab, so sind Sie eines Verbrechens des vollendeten Landesverrates überführt und kommen kaum unter zwei Jahren Zuchthaus davon. F RANZ Ich kann also nur verurteilt werden? D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Nur. So oder so. F RANZ Es gibt also keine Verteidigung? D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Keine für Landesverräter. (Stille) D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Sie sind doch Pazifist? Oder Kommunist? F RANZ Es hat mir einmal einer gesagt, ich hätte einen Denkfehler, – das habe ich mir schon vorher gestanden, nur habe ich falsche Konsequenzen gezogen. Wissen Sie, was meinen Pazifismus betrifft, so ist das richtig, daß meine Ehrfurcht vor der einzelnen Kreatur übertrieben ist, trotz all dem Elend, das ich sah. Der Glaube an die Unantastbarkeit jedes lebendigen Wesens führt in die Labyrinthe des Betruges. Es gibt nämlich Kreaturen, verfassungsmäßig organisierte Kreaturen, die moralisch derart verkommen sind, daß es selbst der liebe Gott aufgegeben hat, sie bessern zu wollen. Selbst er hat im Tempel sofort zur Knute gegriffen, ohne auch nur ein Wort für ihr Seelenheil zu verschwenden. Die kann nämlich selbst der liebe Gott persönlich nicht bekehren, – sie gehören aus dem Tempel der Menschheit wie räudige Hunde mit Fußtritten verjagt, sie, die das Heiligste verhandeln, sie gehören vernichtet, die zu verludert sind, um es sich auch nur vorstellen zu können, daß es auch anderes gibt. – Der Hauptmann hatte recht, obwohl er es gar nicht ahnte: Das „zu guter Letzt“ geht uns nichts an. D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Sie sind also Terrorist? F RANZ Ich muß. D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Sie bekämpfen also den Staat an sich? F RANZ Ihren Staat.

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D ER U NTERSUCHUNGSRICHTER Es gibt nur einen Staat, Sie, und der wird sich zu schützen wissen! Auch der Wurm krümmt sich, wenn er getreten wird.

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IX. Nordseehafen. S LADEK spricht mit zwei M ATROSEN auf einem stillen Kai. Es wird bald Abend.

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E RSTER M ATROSE Wie? Was? Du willst um das Kap der guten Hoffnung herum nach Südamerika? S LADEK Ich denk. E RSTER M ATROSE Um das Kap der guten Hoffnung? S LADEK Nach Nicaragua. Z WEITER M ATROSE In Südamerika? E RSTER M ATROSE Mittelamerika, Kamel! Mittelamerika! S LADEK So? Möglich. Z WEITER M ATROSE Wen hast du denn in Nicaragua, du Neger? Erbtante? Erbonkel? S LADEK Niemand. Ich fahr auch anderswohin. Nur möglichst bald, bitte. Hier ist es nicht schön. Ich hörte von Nicaragua – da dacht ich: Dorthin, der Name war mir so sympathisch, er ist so sehr fremd, so ganz anders wie hier. Hier ist es doch wirklich nicht schön. Zum Beispiel: immer nur Nebel. Ich möcht mal ganz anderswohin. Das ist alles. E RSTER M ATROSE Wer bist denn du? S LADEK Ich? Z WEITER M ATROSE Du! S LADEK Warum? E RSTER M ATROSE Darum. Ich glaub, wir kennen uns. Bist du denn nicht der Kerl, der bei der Frau, der Witwe – Die alte Schraube hatte sich in ihren Aftermieter verknallt, aber plötzlich fiel es auf, daß ihr Fräulein Tochter trächtig war – Ich hab diesen Herrn Aftermieter nur mal flüchtig gesehen, du siehst so aus, als ob – Das war in Triest. S LADEK Nein, das ist ein sogenannter Irrtum. Ich war noch nie in Triest, ich hab ja nur gefragt, ob ihr mich mitnehmen wollt als irgendetwas, wie eine Kiste, ihr seid doch Matrosen. Ich kann auch etwas kochen, ich wollt nämlich eigentlich Kellner werden, aber ich trag auch Kohlen, wenn es sein muß. Nur fort. Z WEITER M ATROSE Du hast was ausgefressen? S LADEK Was? Wieso? E RSTER M ATROSE Was würd man uns für dich zahlen? S LADEK Für mich? Wer? E RSTER M ATROSE Der Staatsanwalt. (Stille) S LADEK Ich hab doch nichts getan, obwohl auch Belohnungen auf die Ergreifung unschuldiger Verbrecher ausgesetzt werden, oft, ich bin keiner. Es werden, glaub ich, sehr viele verfolgt, schuldig und unschuldig, da kann man nichts machen, das läßt sich nicht anders organisieren. Daß ich aus Europa will, das hat einen sogenannten bevölkerungspolitischen Grund. Es ist nämlich zu eng hier – Ich hab zum

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Beispiel immer das Gefühl, man müßt ein Fenster aufmachen, damit frische Luft herein kann, es ist zu dumpf hier. (In der Ferne ertönt die Internationale.) E RSTER M ATROSE Hörst du? Z WEITER M ATROSE Ja. S LADEK Nehmt mich mit, bitte. Nach Nicaragua. Z WEITER M ATROSE Wir fahren nicht nach Nicaragua. Wir fahren überhaupt nicht. S LADEK Ihr seid doch Matrosen. E RSTER M ATROSE Rindvieh. S LADEK Wieso? E RSTER M ATROSE Wir warten doch genau wie du, daß sich manches ändert. Wir würden nach Nicaragua rudern, sogar um dein Kap der guten Hoffnung herum, Elefant, aber heut trifft auf hundert Matrosen ein Kahn. S LADEK Ihr habt also auch nichts zu tun? E RSTER M ATROSE Weil wir faul sind, hat neulich ein Professor gesagt. S LADEK Da hat er sich geirrt, wir sind nämlich nicht faul, wir sind zu viel, auch wenn wir faul wären. Das war eigentlich mein erster wirklicher Gedanke auf der Welt. Wenn wir zwanzig Millionen weniger wären, das wär fein. E RSTER M ATROSE Wir sind nur um zehntausend zu viel, aber diese zehntausend wiegen zwanzig Millionen. (Tumult in der Ferne) S LADEK Man schreit. Z WEITER M ATROSE Das hat doch alles keinen Sinn. E RSTER M ATROSE Sondern? Z WEITER M ATROSE Sie werden mit Schupo und Sipo die Straßen säubern, und wer weitergeht, wird wieder erschossen, aber sie werden ihn nicht amnestieren. S LADEK Wen? E RSTER M ATROSE Das weißt du nicht? S LADEK Vielleicht. Z WEITER M ATROSE Sie haben ihn zu Zuchthaus verurteilt, weil er es bewiesen hat, daß es eine schwarze Armee gab, die uns über den Haufen schießen wollte wie tolle Hunde. E RSTER M ATROSE Sie nennen das Landesverrat. Überall. Z WEITER M ATROSE Ich hab den mal reden gehört, vor zwei Jahren. Er ist ein braver Mann. E RSTER M ATROSE Er war in den ewigen Frieden verliebt, heut wird er wohl bekehrt sein! Er hat gegen Moskau geschwätzt, gegen die Tat, er wollt die Republik mit der Gösch gesundbeten. Z WEITER M ATROSE Er ist ein braver Kerl. (In der Ferne fällt ein Schuß; Kreischen; Musik bricht ab.) E RSTER M ATROSE Das deutsche Volk einig in seinen Stämmen und gewillt, den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern, gibt sich den Artikel 48. (rasch ab) S LADEK (zum ZWEITEN M ATROSEN , der dem ERSTEN folgen will) Halt! Kennst du eigentlich die Reichsverfassung? Z WEITER M ATROSE Und ob! S LADEK Ich möcht sie gern mal lesen. Ich bin nämlich in der letzten Zeit etwas von der Gewalt abgekommen, es ist ja schon richtig, daß alles Gewalt ist, aber trotzdem möcht man mal sozusagen ruhig sein können, nicht?

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Z WEITER M ATROSE Nein! Noch lange nicht, du Schleimer! Noch lange nicht! (ab) S LADEK (allein) Das hab ich auch schon gehört. Ich hab Hunger. (Stille) S LADEK Ob sie einen erschossen haben, zuvor? Wahrscheinlich. Jetzt ist wieder alles vorbei, das Meer ist auch still und groß und tief. Sozusagen majestätisch. Ich dacht mir das Meer eigentlich grün, es ist nämlich grau. Auch so einen Hafen hab ich mir anders gedacht, sozusagen romantischer, aber es ist doch nicht so dreckig. Was ist eigentlich besser: verhungern oder verdursten? In der Wüste waren mal Reisende, die haben nirgends Wasser gefunden und haben ihr eigenes Blut gesoffen, bis nichts mehr drinnen war – Man müßt ein Kamel sein, dann hielt man es länger aus. Und dabei gibt es auf der Welt mehr Wasser als Land. Das ist falsch. Es müßt mehr Land geben, das wär gerechter, wir sind nämlich wirklich zu viel. Was ist denn jetzt nur die Hauptstadt von Nicaragua? (Stille) S LADEK Nicaragua ist sicher schön. Dort gibt es keinen Winter, nur Palmen, und es wächst alles von allein. Man kann so ohne weiteres satt sein. Ich möcht mich dort unter einen Baum legen und kein Haus mehr sehen, und dann müßt ein Bächlein so dahinfließen, und dann würd ich sagen: Das gibt es auch. (Stille) S LADEK Der Dampfer. Der große Dampfer. Vier Stock hoch oder wahrscheinlich noch höher. Und ganz beleuchtet, von oben bis unten, der fährt bald fort und läßt so manchen zurück, der Dampfer. Dort gibt es sicher belegte Brötchen und berühmte Weiber und auch Gesellschaftsspiele. Allerhand. Und diese Dreckweiber sind so fein herausgeputzt, die lecken sich den ganzen Tag die Glasur, meistens Amerikanerinnen. Ob der Dampfer nicht doch vielleicht untergeht? Ja, Sladek, wenn du als einzelner draußen stirbst, dann wirst du in das Meer geworfen mit einem Kranz, das ist ja bekannt. Und was es da drunten für Fische gibt, große und kleine, das ist alles bekannt. Man sollte so durch das Meer durchschaun können, so bis fünftausend Meter, das wär eine Erfindung! Und erst: Wenn man so die Erde durchschaun könnt! Ich glaub nicht daran, daß die Erde eine Kugel ist, ich denk, sie ist flach, aber man sagt halt das Gegenteil, das plappert einer dem anderen nach. Das ist ja keine Kugel, das ist doch unmöglich. (Er starrt in das Wasser. Es dämmert.) K NORKE und H ALEF (kommen.) S LADEK (bemerkt sie nicht.) H ALEF (unterdrückt) Du schwörst, daß er kommt? Ich wette, daß wir umsonst warten. Der bringt es doch fertig, sich freiwillig zu stellen und feierlich alles zu unterschreiben, was dieser Schuft veröffentlicht hat. K NORKE Kaum. Der Hauptmann ist zwar eitel, aber zu guter Letzt intelligent. Er hat mir sein Ehrenwort gegeben, daß er kommt. Ich habe den Paß besorgt und alles andere. Wir sind schändlich betrogen. Rein juristisch waren das nämlich korrekte Morde – und der Herr Staatsanwalt wird wohl nicht umhin können anzuklagen. H ALEF Ich wette, er besteigt auch das Schafott aus Eitelkeit. K NORKE Wir sind alle vielleicht eitel, aber noch nicht verrückt. H ALEF Der Hauptmann ist ein Narr. K NORKE Alle großen Männer waren Narren, lehrt die Geschichte. H ALEF Ein ehemaliger Unteroffizier denkt ein zweiter Alexander zu sein, weil er zum Offizier befördert worden ist. Ich hab es bald gemerkt, das ist kein großer Mann, aber trotzdem ein Narr. Ein Trommler, kein General!

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K NORKE Salm ist bereits drüben. Sein Vetter ist Farmer. H ALEF Ist es wahr, daß der kleine Horst tot ist? K NORKE An Malaria. H ALEF Ich habe gehört, daß ihn der Rübezahl bei der Überfahrt über Bord geworfen hat. K NORKE Auch möglich. (Stille. Es ist Nacht geworden.) H ALEF Es wird allmählich Zeit. Ich wette, daß er nicht kommt. H AUPTMANN (kommt.) S LADEK (erkennt den H AUPTMANN .) H AUPTMANN (sehr leise) Ich hätte fast mein Ehrenwort gebrochen. Es ist doch feig, sich so zu verkriechen, aber zu guter Letzt kann keiner von mir verlangen, daß ich mich für gemeine Verräter sinnlos opfere, nicht? S LADEK Hauptmann! K NORKE Was ist das?! S LADEK Ich. K NORKE Was heißt das: „Ich“? S LADEK Ich. (Er nähert sich.) Hauptmann, ich hab dich gleich erkannt, obwohl es finster ist. (Er erkennt K NORKE und H ALEF .) Du, ihr seid auch da! Ist das ein Zufall? Das ist aber sehr gut, da könnt ihr mir nämlich helfen, sicher, ich muß nämlich fort, in eine andere Welt, ich hab zwar eigentlich nichts getan, aber selbst das, was ich getan haben soll, das hab ich ja alles für ein Vaterland getan, wofür ich verfolgt werd wie ein gemeiner Verbrecher, derweil war doch das alles ideal – Was, was habt ihr denn? K NORKE Was hast denn du? S LADEK Ich? – Halt! Ich bin doch der Sladek, Kameraden! K NORKE Ich bin nicht dein Kamerad! H AUPTMANN Ich kenne dich. K NORKE Himmel, halt das Maul, du kennst ihn nicht, was soll denn das?! H AUPTMANN Ich kenne dich. Du bist der feige Hund, der als erster nach der weißen Fahne schrie, ich werde diese Fresse nie vergessen! S LADEK Das ist ein Irrtum! H AUPTMANN Du bist der! Diese Fresse, diese Fresse – K NORKE Nein, das ist nicht der! S LADEK Ich bin ein anderer. H AUPTMANN (versetzt ihm einen Tritt.) Da hast du den anderen! Da hast du den anderen! S LADEK (krümmt sich.) Au – K NORKE Einer wie der andere! Ist der das wert, daß du hängst?! H ALEF Da kommt schon wer! K NORKE Fort! Wir kennen keinen Sladek! (rasch ab mit H AUPTMANN und H ALEF ) S LADEK (allein) Wir kennen keinen Sladek. Wir kennen keinen Sladek. – Wenn einer das Talent hat, verwechselt zu werden, so ist das schlimm. Es erinnert sich keiner an ihn, in diesem Fall an den Sladek. Alles an ihm wird radikal vergessen, draußen und drinnen, als wär einfach nichts da, es kommt ja auch nicht auf so einen einzelnen Sladek an, trotzdem –. Nein, es hat keinen Sinn mehr zu denken, ich wollt, ich könnt bis Nicaragua schwimmen. Warum bin ich kein Fisch? (Stille)

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S LADEK Ob die Fische die Sternlein sehen? Ich hab mal gehört, daß jeder einzelne mit den Sternlein zusammenhängt, das ist freilich Mist, aber unter welchem Sternlein könnt ich geboren sein? Man sollt das ausrechnen können und ein Kind nur dann auf die Welt lassen, wenn grad ein guter Stern droben ist. Einmal hat mir die alte Kartlerin gesagt, 1922 wird Polen vernichtet, Frankreich halb vernichtet, Paris ganz, England im Meer versinken und der Vesuv ausbrechen, ganz fürchterlich – und Deutschland wird wieder Monarchie und der bayerische Rupprecht wird zum Deutschen Kaiser gekrönt, in Berlin. Das hätt schon voriges Jahr sein sollen, aber man kann nichts geben auf Prophezeiungen, obwohl es eine sogenannte Vorsehung sicher gibt. Es geht nämlich alles nach einem bestimmten Gesetz, das ist traurig. Ich hab mal gedacht, daß, wenn kein Gesetz wär, wär das ganze Leben sinnlos, aber es ist trotzdem sinnlos, das ist nämlich ein schlechtes Gesetz. E IN K RIMINALKOMMISSAR und ZWEI D ETEKTIVE (sind erschienen.) D ER K OMMISSAR (dieselbe Person wie der U NTERSUCHUNGSRICHTER ) Im Namen des Gesetzes! Sladek, ich verhafte Sie! S LADEK (mechanisch) Mich? D ER K OMMISSAR Sie! Leugnen Sie nicht, Sie sind der Sladek, wir wissen alles! Im Namen des Gesetzes verhafte ich Sie wegen Mordes an der Witwe Schramm. S LADEK Also doch. E IN D ETEKTIV (fesselt ihn an sich.) D ER K OMMISSAR Widerstand ist sinnlos. S LADEK Das weiß ich, meine Herren.

X. Der Fall Sladek. Mit R ICHTER, S TAATS - und R ECHTSANWALT . Unter dem Gekreuzigten.

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R ICHTER (dieselbe Person wie der K RIMINALKOMMISSAR ) Ihr Name? S LADEK Sladek. R ICHTER Geboren? S LADEK Am 7. Juli 1902, in Hohenstein, das ist an der Grenze. R ICHTER Beruf? S LADEK Ich wollt Kellner werden. R ICHTER Und? S LADEK Ich bin keiner geworden. R ICHTER Sie haben sich von der ermordeten Witwe Schramm aushalten lassen? S LADEK Nein. R ICHTER Sondern? S LADEK Sie hat mir nichts geschenkt, das war nämlich ein richtiges Geschäft, das wir abgeschlossen haben, das war nur scheinbar, daß ich von ihr gelebt hab so ohne weiteres, ich hab ihr nämlich für das alles auch etwas gegeben. S TAATSANWALT Was denn? S LADEK Mich. (Man hört die Öffentlichkeit lachen.) R ICHTER Angeklagter. Ich warne Sie!

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S LADEK Warum? Wieso? R ICHTER Schweigen Sie! – Angeklagter! Bekennen Sie sich schuldig? S LADEK Das ist sehr kompliziert. Da kann man sehr schwer was sagen, weil es zuviel zu sagen gäb. Es ist alles richtig, daß Anna und ich uns nicht so recht verstanden haben, wenigstens oft, daß es Streit gab, daß es sogar zu sogenannten Tätlichkeiten kam, des öfteren sogar, daß ich ihr auch mal aus dem Schrank was nahm und mit fremden Weibern zu Gartenunterhaltungen ging, das geb ich alles zu, denn ich hab die Gerechtigkeit lieb, aber deshalb fühl ich mich nicht schuldig. Wenn ich nämlich so nachdenk, so war das doch nur der Altersunterschied. Meine Herren! Als ich sie kennenlernte, war sie um fünfzehn Jahr jünger als zuletzt, obwohl bis dahin nur vier Jahr vergangen sind, aber der Reiz war schon eigentlich nach zwei Jahr weg, der natürliche Reiz –. Meine Herren, das alles ist doch kein Problem, das ist nur traurig. R ECHTSANWALT Ich beantrage, den Angeklagten auf seinen Geisteszustand hin untersuchen zu lassen. S TAATSANWALT Ich beantrage, den Antrag der Verteidigung abzulehnen und den Angeklagten mit den schärfsten Mitteln zu zwingen, sich der Würde des Gerichtes entsprechend zu benehmen. S LADEK Wie? R ICHTER Angeklagter! Sie leugnen also, die Witwe Schramm ermordet zu haben? S LADEK Ich leugne es sogar sehr, ich hab noch nie jemand ermordet. R ICHTER Sie wiederholen also, daß dieser Mord ein sogenannter Fememord war, ein Akt verbrecherischer Selbstjustiz der sogenannten schwarzen Armee. Angeklagter, heute können wir laut über jene verworrene Zeit sprechen, wir sehen klar. Jene furchtbaren Tage der Inflation haben wir nun gottlob überwunden. Das deutsche Volk befindet sich im kraftvollen Wiederaufstieg, es hat Unglaubliches ertragen und Ungeheures vollbracht. (Man hört die Öffentlichkeit applaudieren.) S LADEK Ich kann trotz Wiederaufstieg und so weiter nur sagen, daß ich sozusagen unschuldig bin. S TAATSANWALT „Sozusagen“! S LADEK Zu guter Letzt. Ich hab immer darüber geredet, daß in der Natur eben gemordet wird und daß sich das nicht ändert, aber – meine Herren, ich war sehr dagegen. Als ich hernach mit den vier Soldaten in jenem Auto nach dem Hauptquartier fuhr, da hat es schaurig geregnet in der Nacht, ich werd das nie vergessen. R ICHTER Die vier Soldaten sind verschollen. S LADEK Alle. Ich glaub, in Nicaragua. S TAATSANWALT Sie gestehen also, daß Sie in jener Nacht mit vier Soldaten in der Prinzenstraße erschienen sind, und daß diese vier Soldaten die Witwe Schramm ermordet haben? S LADEK Ja. S TAATSANWALT Was haben Sie sich denn dabei gedacht? S LADEK Ich? Zuerst: Daß man sie umbringen muß. S TAATSANWALT Danke. S LADEK Bitte. S TAATSANWALT Das genügt. S LADEK Nein, das genügt nicht, denn hernach war ich sehr dagegen, aber da war schon alles vorbei. Ich hab sogar „Halt!“ gerufen, denn ich hab an die Gerechtigkeit gedacht, und wegen diesem „Halt!“ hätten sie mich gar auch erschossen,

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wenn ich nicht gewußt hätt, daß sich nichts ändern läßt, – Ich hab aber plötzlich trotzdem „Halt!“ gerufen, es war nämlich nicht mehr nötig, sie umzubringen, weil sie es sich überlegt hat. Sie hätte nichts verraten. Sicher. R ECHTSANWALT Was wollte sie denn verraten? S LADEK Die schwarze Armee. R ICHTER Ich mache Sie aufmerksam, daß es für das Schicksal des Angeklagten keine Bedeutung hat, den Komplex der sogenannten schwarzen Armee hier aufzurollen. Jene Männer waren alte Soldaten, die für des Vaterlandes Wohl zu kämpfen glaubten, verworrene fanatische Idealisten –. Aber in diesem Falle Sladek darf man wohl mit Recht bezweifeln, ob das alles so ideal – S LADEK (unterbricht ihn.) Oho! R ICHTER Sie sind nicht gefragt! Mord bleibt Mord, und der Mörder ist in jedem Falle persönlich verantwortlich! S LADEK Aber ich dachte – R ICHTER (unterbricht ihn.) Ruhe! Sie haben die Witwe Schramm ermorden wollen, das haben Sie gestanden! Jetzt reden Sie. S LADEK Was soll ich da reden, bitte? Ich hab immer selbständig gedacht, und dann hab ich aber überall gehört, daß der einzelne nichts zählt, daß er sich für das Ganze aufopfern muß, ob er nun will oder nicht – Das hab ich so lang gehört, bis ich es glaubte, es ist ja auch so, aber trotzdem ist da ein Fehler, nämlich der, daß ich hier nun als einzelner für etwas, was ich als Teil tat, getan haben soll –. Ich hab nämlich mit all diesen Problemen gerungen. (Man hört die Öffentlichkeit lachen.) S LADEK Ich hab doch alles, was ich ja gar nicht tat, nur tun wollte, für das Vaterland getan, das war alles sozusagen ideal. Ich hätt sie nie umgebracht, wenn dies Vaterland nicht gewesen wär, ich hab mich ja zu guter Letzt geopfert, aber das wird nirgends anerkannt. Ohne dieses Vaterland hätt es vielleicht zwischen mir und ihr nur einen Wortwechsel gegeben, höchstens, daß ich ihr eine heruntergehaut hätte, und dann wär das aus gewesen, wie jedes Liebesverhältnis. R ECHTSANWALT Der Angeklagte ist das Geschöpf einer kranken Zeit. Ein Mensch, der sich an unsere stolze Vergangenheit nicht erinnert, der in der großen Zeit die Stimme wechselte, und der anfing zu denken, als wir den Krieg verloren haben, das spricht Bände. Ohne Sinn für Moral negiert er alles AllgemeinmenschlichGefühlsmäßige und grübelt über lauter Selbstverständlichkeiten: Er beschäftigt sich nur mit sich selbst, aber ohne jede Kultur. Ich bitte um mildernde Umstände für ein Gespenst: Hier sitzt die Zeit der Inflation. S LADEK Ich bitte, mich als Menschen zu betrachten und nicht als Zeit. R ECHTSANWALT Ich bitte, den Angeklagten auf seinen Geisteszustand hin untersuchen zu lassen. R ICHTER Das Gericht beschließt, Zeugen zu vernehmen. F RANZ (kommt.) R ECHTSANWALT (schnellt empor.) Ich protestiere gegen die Vereidigung dieses Zeugen! Ein wegen Landesverrat Verurteilter – F RANZ (unterbricht ihn.) Und „Begnadigter“. Freilich säße ich noch heute im Zuchthaus, gäbe es morgen keine Wahl! Der neudeutsche Staat – R ICHTER (unterbricht ihn.) Keine Tiraden, bitte! S TAATSANWALT Der Zeuge nimmt es auf seinen Eid, daß ihm der Angeklagte Sladek gestanden hat, die Witwe Schramm ermordet zu haben.

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F RANZ Ja. S LADEK Nein. R ICHTER Schweigen Sie! S LADEK Ich hab noch nie jemand ermordet! F RANZ Ich selbst hätte ermordet werden sollen, diese Bestien! Wagst du es denn zu leugnen, daß du es mir selbst erzählt hast, wie jene Bedauernswerte im sogenannten Interesse des sogenannten Vaterlandes „hingerichtet“ wurde? S LADEK Das geb ich schon zu, aber ich hab dir nie gesagt, daß ich sie umgebracht hab. F RANZ Er lügt! Er lügt. (Stille) S LADEK Ich weiß, daß du nicht lügst. – Also müssen wir uns missverstanden haben. F RANZ Ich habe dich verstanden. S LADEK Nein, ich bin unverstanden. Hab ich dir nicht zweimal gesagt, daß ich ein sogenannter zurückgezogener Mensch bin, und daß alles, was ich dir so sag, nur für dich persönlich ist? Du hast das vergessen. Ich hab über das alles nachgedacht, was du dem Hauptmann gesagt hast –. Du hast mich sozusagen bekehrt: Zu guter Letzt gibt es wirklich nur den Sladek. Und jetzt? Hier? In diesem Saal? F RANZ (fast gewollt spöttisch) Du hast mich sozusagen bekehrt, daß man keine Rücksicht nehmen soll auf den Sladek, weil sonst das Ganze nicht vorwärts kommt. Wie ich mich auch betrogen habe, es werden immer welche vernichtet. S LADEK Immer nur für das Ganze geopfert werden – wo bleibt denn da der Sladek? F RANZ Ich lasse mich nicht mehr hindern, hörst du? S LADEK Ja. F RANZ Du gehst mich nichts an. S LADEK Jetzt lügst du. F RANZ Meinst du? S LADEK Das ist nicht schön von dir. R ICHTER Keine Privatgespräche! – Angeklagter! Leugnen hat doch keinen Sinn. Denken Sie an Gott. S TAATSANWALT Gott kennt Sie, Sladek! S LADEK Mich kennt kein Gott. Meine Herren, was ist das: Gott? Ein alter Mann mit einem langen Bart. Was kennt der? Nichts kennt der, denn der lebt zu sehr weit droben, da sieht er auch nur das Ganze, das merkt man nämlich, denn wie es hier unten zu guter Letzt zugeht –. Meine Herren! Mein Herr Verteidiger war so freundlich zu sagen, daß ich ein Gespenst sei – vielleicht –, aber ich bitte zu berücksichtigen, daß ich wahrscheinlich ein sogenanntes ungeborenes Gespenst bin. Meine Herren! Vielleicht hol ich das alles nach und vergeß das alles –. Nehmen wir nur mal an: Ich hätt jemand ermordet, so bitt ich Sie trotzdem: Lassen Sie mich los, vielleicht wird doch was daraus, ich glaub nämlich allmählich selbst, daß ich noch ein sogenanntes ungeborenes Gespenst bin. R ECHTSANWALT Ich beantrage, den Angeklagten auf seinen Geisteszustand hin untersuchen zu lassen. S LADEK Aber – S TAATSANWALT Ich beantrage lebenslängliches Zuchthaus und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte. S LADEK Wieso?

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XI. Rummelplatz. 5

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Mit Wachsfiguren, Karussell, Flohzirkus und Akrobaten. Die Sonne scheint. L OTTE , DAS M ÄDCHEN Heuer wird der Sommer schön. Ich hoffe, daß der Nordpol jetzt endlich überflogen wird. E IN ANDERES M ÄDCHEN In der Zeitung steht, daß in London sieben zu eins für gewettet wird. E IN DRITTES M ÄDCHEN Laß doch die Zeitung! Wart ihr schon bei dem Mann mit den Kamelbeinen und weiblichen Brüsten? Na so was! Da drüben ist übrigens der Zwerg, das ist auch ein Hermaphrodit – und in dem Kabinett steht das Bett von Haarmann, dem bekannten Massenlustmörder. L OTTE Nein, nicht in die Schreckenskammer, da streik ich! Ich vertrag keine Wachsfiguren, dann schon lieber richtige Verbrecher! D AS M ÄDCHEN MIT DER Z EITUNG Habt ihr das gelesen, daß wieder einer ausgerissen ist, ein Mörder, der ist bloß zwei Jahre gesessen – Dann hat er einen Geldbriefträger überfallen, der hat ihm gleich alles gegeben, so, daß er jetzt fein heraußen ist. Das ist das Beste, nur gleich alles hingeben. L OTTE (blickt in die Zeitung.) Sieht soweit ganz nett aus. D AS M ÄDCHEN MIT DER Z EITUNG Das Profil ist gewöhnlich. Wer ihn fängt, kriegt tausend Mark. D AS DRITTE M ÄDCHEN Ich würd ihn nie erkennen. L OTTE Es reißen zu viel aus. D AS M ÄDCHEN MIT DER Z EITUNG Vor drei Tagen der Verrückte – und sie haben ihn noch immer nicht, das ist doch gemeingefährlich. L OTTE Es ist alles so unwahrscheinlich. S LADEK (erscheint.) D AS DRITTE M ÄDCHEN (blickt in die Zeitung.) Ja, die Hüte werden wieder breiter. Hoffentlich hält das Wetter, jetzt hat es jeden Sonntag geregnet. Ich hab keinen Mantel mit. L OTTE Es gibt schon keine Männer mehr. Man muß sich schon wirklich anstrengen als Frau. Nur gut, daß ich keine Jungfrau mehr bin. D AS M ÄDCHEN MIT DER Z EITUNG Das Bett von diesem Haarmann möcht ich schon gern sehen. L OTTE So geht doch! Ich warte hier – (Sie stößt zufällig an S LADEK an.) Verzeihung! D AS DRITTE M ÄDCHEN Wir sind gleich wieder da. (ab mit dem anderen Mädchen) L OTTE Ich warte. E INE H ANDLESERIN (zu S LADEK ) Wollen der Herr sich nicht aus der Hand lesen lassen? Vergangenheit und Zukunft. S LADEK Danke. D IE H ANDLESERIN Sehen Sie, das Fräulein interessiert sich schon für Ihre Zukunft – L OTTE (schnippisch) Sogar sehr. D IE H ANDLESERIN Hören Sie? S LADEK Ja. Was kostet das mit der Zukunft? D IE H ANDLESERIN Nur zwanzig Pfennig. S LADEK Das geht.

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D IE H ANDLESERIN Also zeigen Sie. Hm – die Vergangenheit – so machen Sie doch keine Faust! S LADEK Nein, ich will nur die Zukunft. D IE H ANDLESERIN Ohne Vergangenheit? S LADEK Ja, ohne. D IE H ANDLESERIN Wie Sie wollen. S LADEK Ich will. D IE H ANDLESERIN Sie sind aus kultiviertem Hause – Techniker, dabei aber stark künstlerisch veranlagt – mehr Sinn für Architektur als für Gemälde – S LADEK Stimmt. D IE H ANDLESERIN Sie leben viel an der See, eigentlich ohne Sorgen, aber Sie leiden viel in der Phantasie – S LADEK Auch das. D IE H ANDLESERIN Das ist eben Ihre künstlerische Ader. – Verschlossener Charakter, Achtung vor dem Weibe, Familiensinn. L OTTE (lächelt.) S LADEK (wird verlegen.) D IE H ANDLESERIN Und die Zukunft –: Sie fahren bald fort, das steht ganz deutlich da. Sehr weit sogar, über das Meer –. Sehr reich werden Sie zwar kaum, denn dazu sind Sie zu fein, zu wenig brutal – aber Sie werden auch fernerhin gut leben und ungefähr achtzig Jahr alt werden. S LADEK Das wär schön. L OTTE Na klar. D IE H ANDLESERIN Zwanzig Pfennig, bitte. S LADEK (zahlt und fixiert schüchtern L OTTE .) Das wär auch schön. Das wär sogar sehr schön, wenn –. Verzeihen Sie, wenn Sie mit mir – Sie fahren doch auch gern Karussell? Das wär doch schön, Fräulein. L OTTE Das wär schon schön, aber ich muß auf meine Freundinnen warten, die kommen jeden Augenblick. S LADEK Das ist nicht schön. Es wär nämlich wirklich sehr schön gewesen, wenn wir jetzt zum Beispiel Karussell gefahren wären, oder überhaupt: Es gibt hier ja so viel zum Sehen, aber so allein, da geht man nur immer an allem vorbei – Ich kenn nämlich keinen Menschen. L OTTE Sie sind hier fremd? S LADEK Sehr fremd. L OTTE Sind Sie nicht Engländer? S LADEK Stimmt. L OTTE In der Zeitung steht, daß in London sieben zu eins gewettet wird, daß es ihnen gelingen wird, den Nordpol zu überfliegen. S LADEK Was? Wem? L OTTE Na den Nordpol! S LADEK Den Nordpol? L OTTE Na Sie wissen doch! S LADEK Überfliegen? L OTTE Sie sind komisch. S LADEK Sehr komisch. Ja freilich, ich hab nur jetzt länger keine Zeitung gelesen, ich war nämlich sozusagen unwohl, aber jetzt fällt mir wieder alles ein. Also überfliegen werden sie ihn, den Nordpol.

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L OTTE Ich hoffe es. S LADEK Ich auch. L OTTE So Sportsleute sind doch wirklich Helden. Sie setzen für den Fortschritt einfach ihr Leben aufs Spiel. Es sind ja auch zu ihrer Unterstützung alle Funkstationen bereit, ich kann an nichts anderes mehr denken. S LADEK Wissen Sie, es gibt so Sportsleute, die haben sich auch geopfert, zwar vielleicht nicht gerade für den Fortschritt, aber für sonst was, doch die hat keine einzige Funkstation unterstützt, ja, denen hat man es hernach gar nicht geglaubt, daß –. Verstehen Sie mich? L OTTE Nein. S LADEK Zum Beispiel im Krieg. Und besonders hernach – L OTTE Sie meinen den Weltkrieg? S LADEK Ja. L OTTE Da habe ich vorgestern einen fabelhaften Film gesehen, vom Weltkrieg. Besonders die Regie war unerhört. Es war ein amerikanischer Film. S LADEK So. Ein amerikanischer. L OTTE Sind die besten. Durch so einen Film kann man sich den Krieg erst richtig vorstellen, besser als durch Bücher. Sehen Sie dort den Seiltänzer! Der ist auch fabelhaft! S LADEK So ein Seiltänzer ist auch ein schwieriger Beruf. L OTTE Können Sie gut tanzen? S LADEK Kaum. (Schweigen) S LADEK Ich kann Verschiedenes. Ich hab eine Zeitlang immer gedacht, daß ich eigentlich nichts kann, aber dann bin ich immer darauf gekommen, daß man doch vielleicht kann. (Die Sonne verschwindet plötzlich.) L OTTE Himmel, das wird doch nicht regnen! S LADEK Möglich. D IE BEIDEN M ÄDCHEN (kommen rasch zurück.) D AS M ÄDCHEN OHNE M ANTEL Siehst du, daß es regnet! Nein, das ist entsetzlich! D AS ANDERE M ÄDCHEN Das hört bald auf. D AS M ÄDCHEN OHNE M ANTEL Nein, das regnet jetzt durch! Kleider, Schuhe – warum hab ich nur keinen Mantel mit?! L OTTE Wir könnten ins Kino. D AS ANDERE M ÄDCHEN Zu dem amerikanischen Kriegsfilm? L OTTE Nein, der ist zwar fabelhaft, aber zweimal schau ich mir ihn nicht an. D AS ANDERE M ÄDCHEN Freilich, das ist langweilig. D AS M ÄDCHEN OHNE M ANTEL Jetzt regnets! Daß aber auch keine von uns einen Schirm hat! (alle drei M ÄDCHEN rasch ab) S LADEK (allein) Ich hab eigentlich noch nie einen Schirm gehabt. Und dieser Nordpol –. (Es regnet.) E IN P OLIZIST (erscheint; es ist dieselbe Person wie der R ICHTER.) Halt! S LADEK (erstarrt.) D ER P OLIZIST Ich muß Ihre Personalien feststellen. Sie wissen, weshalb. – Sie wurden beobachtet. Sie haben zuvor Ihr Bedürfnis nicht in der Bedürfnisanstalt, sondern an der hinteren Wand des Flohzirkusses verrichtet. Warum? Das ist strengstens verboten. Sie haben den Flohzirkus verunreinigt. Ihr Name?

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S LADEK Was kostet das? D ER P OLIZIST Fünf Mark. Ihr Name? S LADEK Das ist ein sogenannter schwieriger Name, ein sehr langer, sozusagen ein ausländischer Name, ich bin nämlich gerade im Begriffe nach weit fort – (Schiffsirene) D ER P OLIZIST (unterdrückt) Halt! Ihren Paß. Ihre Papiere. S LADEK Hier – aber das Schiff fährt in wenigen Minuten. D ER P OLIZIST Welches Schiff? S LADEK Ich kann das Wort nicht aussprechen. D ER P OLIZIST (blättert; stutzt.) Wohin? S LADEK Nach Nicaragua. Ich hab keinen Fahrschein. Ich arbeit mit an der Überfahrt. (Stille) D ER P OLIZIST (blättert noch immer; sehr leise) Sie sind amnestiert. S LADEK Man hat unter mich einen Schlußstrich gezogen. Hoffentlich fehlt kein Stempel. Sagen Sie: Gibt es in Nicaragua einen deutschen Konsul? D ER P OLIZIST Natürlich. S LADEK Das ist sehr gut. (Stille) D ER P OLIZIST (gibt ihm die Papiere zurück.) Es ist in Ordnung. S LADEK Ich will auch den Flohzirkus nicht mehr verunreinigen. D ER P OLIZIST (läßt ihn stehen.) Das ist auch strengstens verboten. (ab) S LADEK Es soll wirklich nicht mehr vorkommen –

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Sladek, der schwarze Reichswehrmann Historie aus dem Zeitalter der Inflation in drei Akten 5

von Ödön Horváth 10

PERSONEN:

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S LADEK A NNA S CHMINKE H AUPTMANN K NORKE R ÜBEZAHL S ALM H ORST H ALEF D ER B UNDESSEKRETÄR D AS F RÄULEIN D IE B UNDESSCHWESTER H AKENKREUZLER . R EICHSWEHR .

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Erster Akt: Straße. Zweiter Akt: Im Weinhaus zur alten Liebe. Dritter Akt: Kiesgrube.

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E R S T E R A K T.

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Straße. H AKENKREUZLER prügeln S CHMINKE aus einem Saale, in dem mit Musik eine rechtsradikale Versammlung steigt. (Präsentiermarsch) Nacht. E IN H AKENKREUZLER Raus! Raus mit dem roten Hund! E IN A NDERER Da! Da. Du Judenknecht! D IE B UNDESSCHWESTER (erscheint im Tor.) Was hat der gesagt? Wir hätten den Krieg verloren? Solche Subjekte haben uns Sieger erdolcht und das Vaterland der niederen Lust perverser Sadisten ausgeliefert! Am Rhein schänden syphilitische Neger deutsche Frauen, jawohl, das deutsche Volk hat seine Ehre verloren! Wir müssen, müssen, müssen sie wieder erringen, und sollten zehn Millionen deutscher Männer auf dem Felde der Ehre fallen! D IE H AKENKREUZLER Heil! S CHMINKE Sie! Woher nehmen Sie das Recht, das Volk ehrlos zu nennen? Woher haben Sie den traurigen Mut, zehn Millionen Tote zu fordern?! Sie sind kein Mensch, gnädige Frau!

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D IE B UNDESSCHWESTER Novemberling! Novemberling! E IN H AKENKREUZLER Zerreißt ihm das Maul! Zerreißt es der bezahlten Kreatur! K NORKE (erscheint im Tor.) Halt! Bundesbrüder, beschmutzt euch nicht! – Sie sind doch der sogenannte Pazifist, der berüchtigte sogenannte Redakteur, das Schwein Peter Schminke. – S CHMINKE (unterbricht ihn.) Ja. K NORKE Freut mich außerordentlich, Sie persönlich kennengelernt zu haben, Herr Schminke. Hätten Sie die große Güte, folgende kleine Anfrage zu beantworten! Ihre „große“ Nation bricht den Versailler Vertrag, Ihren geliebten „Friedens“-Vertrag und besetzt mit Flammenwerfern die Ruhr. Sie proklamiert die rheinische Republik, sie wird das ganze wehrlose, verratene Deutsche Reich „erobern“, von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt, trotz feierlicher Proteste mit verdorrter Hand! S CHMINKE Der Versailler Vertrag ist das Werk des Imperialismus, ist die Kriegserklärung des internationalen Kapitals an das Proletariat. E IN H AKENKREUZLER Juden aller Länder, vereinigt euch! K NORKE Sie wollen, daß das Vaterland französische Kolonie wird? S CHMINKE Sie wissen, daß ich das nicht will! D IE B UNDESSCHWESTER (lacht.) S CHMINKE Ich floh aus dem besetzten Gebiet. K NORKE Ich auch. S CHMINKE Der Friedenswille der Massen ist stärker als alle Bajonette der internationalen Reaktion! K NORKE Leitartikel! Tinte! S CHMINKE Der Militarismus wird an der sittlichen Kraft der schaffenden Arbeit zerschellen, ohne Gewehre, ohne Generäle, ohne Blut! D IE B UNDESSCHWESTER Blut bleibt Blut! K NORKE Krieg ist Krieg! Der passive Widerstand ist die Ausgeburt jüdischer Niedertracht! Eine rote Feigheit! In Berlin feiern internationale Halunken den jüdischjesuitischen Fetzen von Weimar! Bundesbrüder! Bald marschiert die nationale Armee und rottet das pazifistische Gesindel aus! Rache für Straßburg! Rache für Schlesien! Für Schleswig! D IE B UNDESSCHWESTER Für Schlageter! D IE H AKENKREUZLER Heil! G ESANG (aus dem Saal) Drum Brüder schließt die Runde Und hebt die Hand zum Schwur, In unserem heiligen Bunde Gilt eine Losung nur: Das Hakenkreuz soll flattern Uns führen in die Nacht Bis unsere Schüsse rattern Einst in der Freiheitsschlacht! K NORKE , DIE B UNDESSCHWESTER und DIE H AKENKREUZLER (ab in den Saal; nur vier bleiben zurück.) G ESANG (aus dem Saal) Kam’rad reich mir die Hände, Fest wolln beisamm wir stehn,

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Mag man uns auch bekämpfen Der Geist kann nicht vergehn! Hakenkreuz am Stahlhelm Schwarzweißrotes Band, Sturmabteilung Hitler Werden wir genannt! Wir lassen uns, wir lassen uns Von Ebert nicht regieren! Hei Judenrepublik! Hei Judenrepublik! Schlagt zum Krüppel den Doktor Wirth! Knattern die Gewehre, tack tack tack, Aufs schwarze und das rote Pack! Schlagt tot den Walther Rathenau Die gottverdammte Judensau! (Plötzlich Stille) S CHMINKE (lehnt die Stirne an die Wand und spuckt Blut.) E RSTER H AKENKREUZLER Der hat seinen Teil. Z WEITER H AKENKREUZLER Noch lange nicht, Kamerad! D RITTER H AKENKREUZLER Ein beschnittener Saujud ist ein anständiger Mensch neben einem arischen Juden. Dem blut ja bloß die Nase. Das ist nur Vorschuß. Z WEITER H AKENKREUZLER Wenns losgeht, wird er sich verbluten. V IERTER H AKENKREUZLER Wann gehts denn los? D RITTER H AKENKREUZLER Bald. Z WEITER H AKENKREUZLER Wenns losgeht, dann kommt ein Gesetz, daß sich jeder Jud einen Rucksack kaufen muß. Was er hineinbringt, das darf er mitnehmen nach Jerusalem. Was er nicht hineinbringt, gehört uns. Wißt ihr, wieviel polnische Juden in Deutschland wuchern? Zwanzig Millionen! – Träumst du? V IERTER H AKENKREUZLER Nein. Ich hab nur nachgedacht über diese Judenfrage. – (Heilrufe und Musiktusch im Saal) E RSTER , ZWEITER UND DRITTER H AKENKREUZLER (rasch ab in den Saal) G ESANG (aus dem Saal) Wir treten zum Beten vor Gott den Gerechten, Er waltet und haltet ein strenges Gericht. Er läßt von den Schlechten nicht die Guten knechten, Sein Name sei gelobt! Er vergißt uns nicht! V IERTER H AKENKREUZLER (nähert sich langsam S CHMINKE .) S CHMINKE (hört ihn und wendet sich ihm zu.) Zurück! Das war eine große Heldentat. V IERTER H AKENKREUZLER Ich hab dich nicht geschlagen. S CHMINKE Danke. V IERTER H AKENKREUZLER Bitte. Sie hätten dich vielleicht erschlagen, aber das hätt mir leid getan, denn du hast recht gehabt, und ich hab die Gerechtigkeit lieb. Du hast sehr recht gehabt, wir haben unsere Ehre nicht verloren – aber darauf kommts nicht an. Man muß nur selbständig denken. Du bist ein sogenannter Idealist. S CHMINKE Wer bist du? V IERTER H AKENKREUZLER Ich bin der Sladek. – Man muß nur selbständig denken. Ich denk viel. Ich denk den ganzen Tag. Gestern hab ich gedacht, wenn ich stu-

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diert hätt, dann könnt ich was werden. Ich hab nämlich Talent zur Politik. Ich bin ein sogenannter zurückgezogener Mensch. Ich red nur mit Leuten, die selbständig denken können. Ich freu mich, daß ich mit dir reden kann, – du bist auch allein, das hab ich bei der Diskussion bemerkt. Wir sind verwandt. Ich hab mir das alles genau überlegt, das mit dem Staat, Krieg, Friede, diese ganze Ungerechtigkeit. Man muß dahinter kommen, es gibt da ein ganz bestimmtes Gesetz. Ein ganz bestimmter Plan, das ist klar, sonst wär ja alles sinnlos. Das ist das große Geheimnis der Welt. S CHMINKE Und? S LADEK In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. Das ist der Sinn des Lebens, das große Gesetz. Es gibt nämlich keine Versöhnung. Die Liebe ist etwas Hinterlistiges. Liebe, das ist der große Betrug. Ich hab keine Angst vor der Wahrheit, ich bin nämlich nicht feig. S CHMINKE Ich auch nicht. S LADEK Das weiß ich. Aber du hast da einen Denkfehler. Lach mich nicht aus, bitte. S CHMINKE Ich lach nicht. S LADEK Du denkst nämlich immer daran, das ganze Menschengeschlecht zu beglükken. Aber das wird es nie geben, weil doch zu guter Letzt nur ich da bin. Es gibt ja nur mich. Mich, den Sladek. Das Menschengeschlecht liebt ja nicht den Sladek. Und wie es um den Sladek steht, so geht es den Völkern. Es liebt uns zurzeit niemand. Es gibt auch keine Liebe. Wir sind verhasst. Allein. S CHMINKE Was verstehst du unter dem Wir? S LADEK Das Vaterland. S CHMINKE Was verstehst du unter Vaterland? S LADEK Zu guter Letzt mich. Das Vaterland ist das Land, wo man geboren wird und dann nicht heraus kann, weil man die anderen Sprachen nicht versteht. Nämlich alle Theorien über den sogenannten Marxismus, die kommen für mich heut nicht in Betracht, weil ich selbständig denken kann. S CHMINKE (spöttisch) Du denkst zu selbständig. S LADEK Man muß. Man muß. Es kann ja sein, daß mal wieder alle armen Leut gegen die Reichen ziehen, aber das ist, glaub ich, aus. Sie haben sich Rote erschlagen. Damals hab ich ein Lied gehört, daß das Herz links schlägt, aber es gibt ja kein Herz, es gibt nur einen Muskelapparat. Bist du für diese Republik? S CHMINKE Das ist noch keine Republik, das wird erst eine. S LADEK Das ist nichts und wird nichts, weil es nämlich auf einer Lüge aufgebaut ist. S CHMINKE Auf welcher Lüge? S LADEK Daß es eine Versöhnung gibt. S CHMINKE Wenn es keine Versöhnung gäbe, so müßte man sie erfinden. S LADEK (lächelt.) Du bist nicht dumm. S CHMINKE Wieso? (Stille) S CHMINKE Ich lüge nie. S LADEK In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. S CHMINKE Heute ist allerdings überall nur Blut und Dreck. S LADEK Ich denk nicht an morgen. Ich leb ja vielleicht nur heut. Heut sind alle Staaten gegen uns. Sie drücken uns zusammen. Weil wir wehrlos sind, das ist dann immer so. Es würde nichts schaden, wenn noch einige Millionen fallen würden, wir sind nämlich zu viel. Wir haben keinen Platz. Wir verbreiten uns, als hätts

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keinen Weltkrieg gegeben. Es wird bald alles eine Stadt, das ganze deutsche Reich. Wir brauchen unsere Kolonien wieder, Asien, Afrika – wir sind wirklich zu viel. Schad, daß der Krieg aus ist! S CHMINKE Du wagst es zu bedauern, daß der Krieg aus ist? S LADEK Wieso? S CHMINKE Bist du ein Mensch? S LADEK Ich bin ein Mensch, es ist aber immer Krieg. S CHMINKE Es gibt auch Frieden. S LADEK Ich erinner mich nicht daran. S CHMINKE So tust du mir leid. S LADEK Jetzt lügst du. S CHMINKE Zu blöd. S LADEK Ich hab nämlich keine Angst vor der Wahrheit. S CHMINKE Warst du Soldat? S LADEK Nein. Als der Krieg ausbrach, war ich zwölf Jahr alt. Ich seh nur älter aus. S CHMINKE Du gehörst verboten. S LADEK Daß ich mal verboten werd, ist schon möglich. Weil ich zuviel weiß. (Stille) S CHMINKE Kennst du die schwarze Reichswehr? S LADEK Das darf man nicht sagen! S CHMINKE Aha! Warum? S LADEK (schweigt.) S CHMINKE Ich habe gehört, daß sich draußen auf den Feldern Soldaten sammeln. Sie haben Kanonen und Maschinengewehre und tragen die Kokarde mit dem Adler der Republik verkehrt. Abgeschossen. Stimmts? S LADEK (schweigt.) S CHMINKE Ich habe gehört, daß diese Soldaten siegreich nach Paris marschieren wollen, über die Leiche des eigenen Volkes. S LADEK Das geht dich nichts an! S CHMINKE Doch! Sogar sehr! – Sie nennen sich schwarze Soldaten, weil sie nur als Geheimnis existieren können. Und der es verrät, der stirbt. S LADEK In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. S CHMINKE Man sollt jede Armee verraten, du Soldat! (Er will rasch ab.) S LADEK (ruft ihm nach.) Du bist ein sogenannter Idealist, du Schuft! (H ALEF , R ÜBEZAHL , S ALM und H ORST erscheinen überraschend und versperren S CHMINKE den Weiterweg; er hält und starrt sie an.) G ESANG (aus dem Saal) Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd, In das Feld in die Freiheit gezogen! Im Felde da ist der Mann noch was wert, Da wird das Herz noch gewogen. Da tritt kein anderer für ihn ein, Auf sich selber steht er da ganz allein! H AUPTMANN (erscheint im Tor.) Herr Schminke! S CHMINKE (wendet sich ihm ruckartig zu; fixiert ihn.) Sie sind hier das Oberkommando? H AUPTMANN (spöttisch) Zu Befehl, Herr Schminke. (Stille)

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S CHMINKE Ich verlange vor ein ordentliches Gericht gestellt zu werden, Sie verstehen mich. H AUPTMANN Wir verstehen uns. Sie werden nach einem ordentlichen Gesetze bestraft. S CHMINKE Ich verlange nach dem Strafgesetzbuch abgeurteilt zu werden. H AUPTMANN Solange das Strafgesetzbuch von der Interalliierten Militärkommission zensiert wird, solange bin ich das ordentliche Gericht. S CHMINKE Dazu haben Sie kein Recht. H AUPTMANN Machen Sie sich nicht lächerlich. (Stille) H AUPTMANN Wir sind informiert. Sie haben Material über geheime Rüstungen – sogenannter Pazifist? Sie verraten aus Prinzip? S CHMINKE Aus Prinzip. H AUPTMANN Die eigene Armee. S CHMINKE Jede Armee. H AUPTMANN Nein, nur die deutsche. Den Verbrechern von Versailles. S CHMINKE Machen Sie sich nicht lächerlich. H AUPTMANN Idiot. S CHMINKE Ich kenne keine deutsche Armee, ich kenne nur Landsknechte der Reaktion, deren Geheimnis ich enthüllen wollte – Sie zielen auf Versailles und treffen das deutsche Volk. H AUPTMANN Idiot. S CHMINKE Danke. Sie haben nur fünftausend Mann. Glauben Sie, daß Sie ohne schwere Artillerie den Versailler Vertrag zerreißen können? Und Sie vergessen, daß Sie ein Geheimnis sind. Wie kann sich denn der Feind vor Soldaten fürchten, von deren Existenz er nichts wissen darf? Sie marschieren ja gegen das eigene Volk. R ÜBEZAHL (schlägt ihn mit einer Stange von rückwärts nieder; S CHMINKE bricht lautlos bewußtlos zusammen.) H ORST (lacht leise.) H AUPTMANN (zu H ORST ) Kusch! R ÜBEZAHL Nanana! Man wird doch noch lächeln dürfen – S ALM (zum H AUPTMANN ) Das Auto steht drüben. H AUPTMANN Wer fahrt? S ALM Ich. H AUPTMANN Salm, also es bleibt dabei: Ihr schafft den jetzt in die Kiesgrube, aber, daß ihm nichts „widerfährt“, verstehst du? S ALM Nein, Kiesgrube ist Kiesgrube. H AUPTMANN Später. Ich will ihn noch einmal verhören. Vorher. Ich glaub es nämlich nicht, daß er uns um Geld verraten wollte. Hinter dem steht eine andere Macht. Ich bin von lauter Verrätern umgeben, aber ich fange nur immer die Vorhut, an die Leitung komme ich nicht dran. H ORST (lacht wieder leise.) H ALEF (beugt sich rasch über S CHMINKE und untersucht ihn.) Quatsch! Wenn ich so gesund wäre, würde ich heiraten. R ÜBEZAHL Was fehlt dir denn? H ALEF Nichts. S ALM Keine Privatgespräche! Los!

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R ÜBEZAHL , H ORST , H ALEF (schaffen S CHMINKE fort.) H AUPTMANN (zu S ALM ) Ist das wahr, daß dieser Rübezahl gedroht hat, mich, wenn er keine Schweizer Franken von mir bekommen sollte, niederzuknallen? S ALM Er war besoffen. H AUPTMANN Besoffen oder nüchtern! Du hast das gehört? S ALM Ich war dabei. H AUPTMANN Ich muß darauf bestehen, daß mir dergleichen sofort gemeldet wird! S ALM Ruhe, Herr General! Ruhe. Wagst du einen derart verdienstvollen Mann zu bestrafen, und wenn ja, kannst du es denn? Nein, du kannst dich nur lächerlich machen. Sonst nichts. R ÜBEZAHL (erscheint.) Majestät. Ich habe soeben gehorcht. (Er grinst.) S ALM (ab) H AUPTMANN Du bekommst deinen Teil. R ÜBEZAHL Das klingt komisch. H AUPTMANN Abtreten. R ÜBEZAHL Drohst du mir? Du? Mir? H AUPTMANN Nein. Denn ich habe Angst, daß du mich niederknallst. R ÜBEZAHL (grinst.) Fürchte dich nicht, Liliputaner! H AUPTMANN Abtreten! R ÜBEZAHL Bell nicht, Pintscher! Bell nicht; sonst schlag ich dir die Koppel um das Maul, daß dir das Gott-mit-uns in der Fresse steht! H AUPTMANN (fixiert ihn; beherrscht sich.) S ALMS S TIMME Rübezahl! Rübezahl! R ÜBEZAHL (ab) D ER B UNDESSEKRETÄR (erscheint im Tor und verbeugt sich vor dem H AUPTMANN .) Hauptmann! Ich habe Ihnen Beweise ehrlichster Bewunderung zu überbringen. Man ist begeistert. Ihre planmäßige Bearbeitung des flachen Landes, diese prachtvolle erhebende Stimmung in jeder Ihrer Versammlungen – H AUPTMANN (unterbricht ihn.) Wer ist begeistert? D ER B UNDESSEKRETÄR Die maßgebende Stelle. H AUPTMANN Sie kommen aus Berlin? D ER B UNDESSEKRETÄR (lächelt hinterlistig.) Von der maßgebenden Stelle. H AUPTMANN Sie sehen: Ich bin bereit. (Stille) H AUPTMANN Schnarcht die maßgebende Stelle noch? Sie wird unter dem Sowjetstern erwachen. D ER B UNDESSEKRETÄR Die politische Verantwortung fordert, für die bewaffnete Aktion den günstigsten Augenblick abzupassen. H AUPTMANN Ich warte. D ER B UNDESSEKRETÄR Wir haben zwar die Ministerliste, aber die Führer der Verbände müssen noch manche Frage bereinigen. H AUPTMANN Ich warte. D ER B UNDESSEKRETÄR Sie sind sich noch nicht einig, Nord und Süd. H AUPTMANN Ich warte. Vorerst! D ER B UNDESSEKRETÄR Das wissen wir. Deshalb bin ich da. H AUPTMANN Freut mich! D ER B UNDESSEKRETÄR Umso besser! Sie sind ein Mensch, dem man ab und zu seine Lage klar machen muß. Sie samt Ihren Soldaten unterstehen einer maßgebenden

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Stelle, die die geheime, gegen alle außenpolitischen Verpflichtungen erfolgte Aufstellung Ihrer Armee vor der Republik mit dem Schutze vor äußeren Feinden begründet, in Wahrheit aber die nationale Diktatur erstrebt. Offiziell muß die maßgebende Stelle republikanisch tun, um inoffiziell die Republik unterhöhlen zu können. Offiziell tragen Sie die Verantwortung, inoffiziell befiehlt die maßgebende Stelle. Sie können praktisch nur bestehen, weil und solange Sie offiziell nicht bestehen. Vorerst existieren Sie überhaupt nicht. H AUPTMANN Danke. Die maßgebende Stelle ist feig. Sie betet um die nationale Revolution, aber drückt sich vor jedem festen Entschluß. Das liegt an der Berliner Luft. D ER B UNDESSEKRETÄR Und der preußischen Regierung. H AUPTMANN Es muß kommen wie in Ungarn. D ER B UNDESSEKRETÄR Die Diktatur. Plebs bleibt Plebs. Gäbs keine Neger am Rhein und keine Inflation, fühlten sich unsere lieben Deutschen in Schwarzrotdreck sauwohl. H AUPTMANN Nie. Ich glaube an den zweiten Befreiungskrieg. Mit dem Sturze der Republik stürzt auch Versailles. D ER B UNDESSEKRETÄR Kaum. H AUPTMANN Oho! D ER B UNDESSEKRETÄR Kaum. Unsere Waffen reichen wohl zur Niederschlagung des inneren, aber niemals des äußeren Feindes. Die nationale Diktatur wird die Erfüllungspolitik der Rathenau und Genossen weiterführen müssen. Predigen wir das Gegenteil, so nur als Propaganda. Wir lügen dabei nicht, denn zu guter Letzt ist alles möglich. (Stille) H AUPTMANN Ich sehe, man treibt mit mir wieder ein unehrliches Spiel. Ich glaube, die maßgebende Stelle wäre sogar imstande, mich dem Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik auszuliefern. D ER B UNDESSEKRETÄR Wenn Sie ohne Erlaubnis anfangen wollten zu existieren, ja. H AUPTMANN Wenn alles mißglückt, jederzeit. Dann wird an meine nationale Treue appelliert, damit ich alles allein verantworten darf. Auch meine Justiz. D ER B UNDESSEKRETÄR Was für Justiz? H AUPTMANN Spielen Sie nicht die unberührte Jungfrau, Feigling. Leute wie Sie sollten politisch links stehen. Sagen Sie der maßgebenden Stelle einen schönen Gruß, und wenn sich die vertrottelten Oberlehrer und verkalkten Exzellenzen in den Bünden und Verbänden, Orden und Parteien nicht bald einigen, dann fange ich an zu existieren. Die nationale Revolution bin ich. Der Landsknecht hat schon einmal einen Staat gerettet, wir haben Spartakus erschlagen, wir lassen uns nicht wieder vogelfrei verdrecken! D ER B UNDESSEKRETÄR (lächelt sarkastisch; verbeugt sich steif und rasch ab.) H AUPTMANN (allein; starrt ihm nach.) G ESANG (aus dem Saal) Deutschland, Deutschland über alles Über alles in der Welt! Wenn es stets zu Schutz und Trutze Brüderlich zusammenhält. Deutschland, Deutschland über alles Über alles in der Welt!

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H AUPTMANN (erblickt S LADEK ; nähert sich ihm langsam mißtrauisch; leise) Wer bist du? S LADEK Ich bin der Sladek. Ich will zu euch. H AUPTMANN Wer sind denn wir? S LADEK Das darf man nicht sagen. H AUPTMANN Kennst du mich? S LADEK Vom Sehen. H AUPTMANN Wer bin ich? S LADEK Ich glaube, daß du richtig gehst. Ich habe nämlich die Gerechtigkeit lieb und kann selbständig denken. H AUPTMANN (läßt ihn langsam stehen, will in den Saal und trifft im Tor K NORKE .) Du. Wer ist denn das? K NORKE Der Sladek. Der gehört zu uns. Ich war mit seinem Bruder befreundet, als ich aus Tsingtau kam 1912. Es war mal eine bessere Familie. S LADEK Wann faß ich meine Uniform? K NORKE Bald. H AUPTMANN (ist anderswo.) Sehr bald. (ab in den Saal) (Stille) S LADEK Du, Knorke. Ich muß mal austreten. Wo kann man hier eigentlich austreten? K NORKE Im zweiten Stock. S LADEK Im ersten nicht? K NORKE Nein. Nur im zweiten. S LADEK So hoch – (ab in den Saal) K NORKE (liest in einer Zeitung im Haustorschein.) A NNA S CHRAMM (kommt.) Guten abend, Herr Knorke. K NORKE Ach, Frau Schramm! Sie wünschen? A NNA Könnt ich den Sladek sprechen? K NORKE In fünf Minuten. Sladek ist pünktlich. Primadonna! Primadonna! A NNA Er hat keine Uhr. K NORKE Und singen kann er auch nicht. A NNA Woher kennen Sie Sladek? K NORKE Das weiß ich nicht mehr. A NNA Sie kennen ihn schon seit länger? K NORKE Sind Sie mit ihm verwandt? A NNA Nein. K NORKE Sie sind doch seine Wirtin? A NNA Ja. K NORKE Sonst nichts? A NNA Wieso? K NORKE (blickt in die Zeitung.) Die Mark hat sich gefestigt. Zürich notiert zweiundzwanzig Milliarden. Zürich liegt am Züricher See. (Er wirft wütend die Zeitung fort.) Pensionierte Bürokraten würden revoltieren! Die Republik dieser Büttel der Botschafterkonferenz erfrecht sich, unsere letzten Waffen zu fordern. Auf einen Wink der Entente kastrieren wir uns selbst! Den Schuft, der nur eine versteckte Patrone verrät, den möcht ich massieren, bis ihm die pazifistische Seele zum großen jüdischen Gott fliegt! Ihr Herr Gatte ist doch auch gefallen? A NNA Nein.

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K NORKE Ich dachte, Sie wären Witwe? A NNA Er ist vermißt. Ich warte zwar nicht mehr, obwohl es noch vorkommen soll, daß ein Vermißter plötzlich erscheint. Rußland ist groß, Sibirien ist weit. K NORKE Apropos Rußland: Haben Sie die neue polnische Note gelesen? A NNA Ich lese keine Zeitung. Die liest nur Sladek. K NORKE Er liest viel. A NNA Nur die Zeitung. K NORKE Er weiß allerhand für sein Alter. Seine Ansichten sind zwar etwas verworren, aber zu guter Letzt gesund. A NNA Wenn er nur Zeit hat, grübelt er. K NORKE Die neue polnische Note ist der Gipfel der Verleumdung. Lauter Verbrecher! A NNA Wer? K NORKE Diese Polen! Jeder einzelne Pole ist ein geborener Lügner! A NNA Ich glaube, der einzelne Pole lügt auch nicht mehr als der einzelne Deutsche. K NORKE Hoppla! A NNA Die Zeitungen sollen endlich aufhören, die Völker gegeneinander zu hetzen. Es hat doch gar keinen Sinn. K NORKE Was Sie nicht sagen! A NNA Ich finde es sehr richtig, daß die Regierung die Bevölkerung auffordert, alle Waffen abzuliefern. Das ist endlich ein gutes Gesetz. Wir haben uns vier Jahre lang gemordet, das reicht. Ich würde jede versteckte Patrone anzeigen. Sofort. K NORKE Das würde ich an Ihrer Stelle unterlassen. A NNA Warum? Wer der Regierung nicht folgt, der wird doch bestraft. K NORKE Zum Strafen gehört Gewalt. Die Regierung hat keine, kann ich Ihnen flüstern. Heutzutage ist oft das Gegenteil Gesetz. Sagen Sie: Was wissen Sie über versteckte Patronen? A NNA Ich weiß, wer Sie sind, und was Sie wollen. K NORKE Wie war das? A NNA Ich kenne Sie. Vom Sehen. K NORKE Wer bin ich? A NNA Sie kommen manchmal in die Stadt. Im Auto. K NORKE Was für Auto. A NNA Das habe ich alles beobachtet. K NORKE Was alles? A NNA Sie wollen aus dem Sladek einen Soldaten machen. K NORKE So? A NNA Sie werben für die schwarze Reichswehr. K NORKE Es gibt keine schwarze Reichswehr! A NNA Doch. (Stille) K NORKE Ich warne Sie. A NNA Ich bitte Sie. Ich bitte Sie, lassen Sie mir den Sladek. Es fällt mir schwer, darüber zu reden. Wenn sich eine Frau in meinem Alter an einen um fünfzehn Jahre jüngeren Mann hängt, so ist das immer mütterlich, und sie läßt ihn nicht aus den Augen. Sladek ist ja noch ein Junge, der sich an nichts erinnern kann als an Krieg. Er kann sich den Frieden gar nicht vorstellen, so mißtrauisch ist er. Er ist in der großen Zeit groß geworden, das merkt man. Ich lasse ihn nicht aus den Augen, ich

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habe gehorcht und spioniert – Mich kann man nämlich nicht betrügen. Was mein ist, bleibt mein. K NORKE Ist der Sladek Ihr Eigentum? A NNA Ja. K NORKE Nein. A NNA Wen ich liebe, der gehört mir. K NORKE Will er Ihnen gehören? A NNA Wie meinen Sie das? K NORKE Der Sladek ist ausgewachsen und denkt nicht daran. A NNA Das hat er Ihnen gesagt? K NORKE Fragen Sie ihn selbst. (Stille) A NNA Wollen Sie mir helfen? K NORKE Ich warne Sie. A NNA Ich bitte Sie. Bitte, sagen Sie dem Sladek kein Wort, daß ich weiß, daß er von mir will. Bitte, sagen Sie ihm doch, er wäre zum Soldaten untauglich, sagen Sie es ihm, bitte, lassen Sie ihn hier. Ihre Soldaten werden auch ohne Sladek marschieren, aber ich – – – Ich hab schon mal alles für das Vaterland geopfert. Ich lass mir nichts mehr rauben. Ich verrate die ganze Armee den Polen. Noch heut. K NORKE Kaum. S LADEK (kommt; erblickt A NNA .) A NNA Wo warst du so lange? S LADEK Ich hab mich geärgert. A NNA Wer hat dich geärgert? S LADEK Freut dich das? A NNA Mich? S LADEK Lass uns allein, bitte. K NORKE Nicht nötig, Sladek. Frau Schramm hat mich soeben gebeten, dir mitzuteilen, du seiest untauglich zum Soldaten, da sie sonst alles den Polen verrät. S LADEK Anna! A NNA Nein, so ein Schuft! K NORKE Ich weiß, daß du das Maul gehalten hast, aber Frau Schramm hat dir nachspioniert. Dadurch zwingt uns Frau Schramm, uns mit ihrer Persönlichkeit zu beschäftigen. Verstanden? Sladek, bist du tauglich? S LADEK Tauglich. K NORKE Nach wie vor. Wir treffen uns beim Fräulein. Auf Wiedersehn! (ab) S LADEK (starrt A NNA an.) Auf Wiedersehn. (Stille) A NNA Was ist das für ein Fräulein? S LADEK Das Fräulein. Das ist ein Lokal. A NNA Lüg nicht! S LADEK Du wirst noch blöd vor lauter Eifersucht. A NNA Lieber blöd! Sladek! Ich hab ja so Angst um dich. Ich seh es ja, wie hungrig dich die Weiber anschaun – S LADEK (unterbricht sie.) Ich bin dir treu. A NNA Nein, du nimmst nur Rücksicht, aber dann wünschest du, ich soll nicht – mehr sein. Du, du wirst einfach weggehen, ich werde dich überall suchen und nirgends finden.

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S LADEK Anna, weißt du, was das heißt, eine Armee vor dem Feinde zu verraten? Weißt du, was die Soldaten mit dem Verräter tun? A NNA Sie sollen mich erschlagen. S LADEK Sie werden dich erschlagen. A NNA Es liegt an dir. Bleib, bitte, und ich verrate nichts. Nichts. Weißt du, was das heißt, wenn ich dich verliere? Bleib, bitte, bitte, bitte – schau, ich schäme mich ja schon gar nicht mehr, so hänge ich an dir. Was denkst du jetzt? S LADEK Was ich denk, langweilt dich, hast du gesagt. A NNA Nein! S LADEK Was ich denk, ist dumm, hast du gesagt! Hast du gesagt! Ich hab nämlich ein sogenanntes Gedächtnis, ein ausgezeichnetes Gedächtnis. A NNA Wie du dir alles merkst. S LADEK Alles. A NNA Daß du nur nichts vergißt! S LADEK Nichts. Glotz nicht. A NNA Ich glotz nicht. Ich hab nur gesagt, du sollst nicht so viel denken, weil ich nichts von Politik versteh. Ich komme nicht mit. S LADEK Man muß nur selbständig denken. Ich kam zu dir zerlumpt. Bei mir in der Familie haben sie sich um ein Stück Brot gehaßt. Du warst für mich ein höheres Wesen, du hattest eine Zweizimmerwohnung und hast Kriegsanleihe gezeichnet. Du hast für Kaufmannsfrauen geschneidert, ich hab mich waschen können. Du hast mir einen Wintermantel gekauft. Danke. A NNA Bitte. S LADEK Du bist meine erste Liebe. A NNA Sei nicht so boshaft. S LADEK Ich bin nicht boshaft. Ich wollt nur sagen, daß die erste Liebe eine riesige Rolle im Leben spielt. Hab ich gehört. A NNA Sladek. Du bist schon tot. S LADEK Warum? A NNA (klammert sich an ihn.) So sag es doch! Sag, daß alles aus ist! Aus, aus – S LADEK Sag es du. A NNA Ich kann es nicht, – wie dumm ich bin, wie dumm – S LADEK Es ist nicht aus. A NNA Nimm keine Rücksicht! Quäl mich nicht! Sag es endlich, laß mich los! S LADEK Gut. Es ist aus. A NNA Schau mich an. (Stille) S LADEK So wirds nicht anders. A NNA Doch. S LADEK Du weißt immer alles besser. A NNA Du kannst nicht lieben, du kannst nur lieb sein. S LADEK Genügt das nicht? (Stille) A NNA (lächelt.) Schau mich nicht so an – du Riese. Du kleiner Riese. Du bleibst, du bleibst. Du Jung, du – Es ist dunkel, die Erde ist noch kalt, aber die Sonne war schon warm. Das ist der zunehmende Mond. S LADEK Heuer gibts kein Frühjahr. Auf dem Ozean liegen lauter Wolken, ganze Berge. Das kommt alles noch über uns, steht in der Zeitung.

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A NNA Ist doch alles nicht wahr, ist doch alles anders –. Komm, gib mir einen Kuß –. Das war doch kein Kuß. So. So – (Sie küßt ihn, reißt sich plötzlich los und taumelt zurück.) Was tust du? Was fällt dir ein, wenn ich dich küsse?! S LADEK Ich küß nicht gern so, so sinnlich. A NNA Du Schwein. Du Schwein – – S LADEK Ich bin ein Schwein. (ab)

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Im Weinhaus zur alten Liebe. S ALM , H ORST, H ALEF, K NORKE und R ÜBEZAHL sind die einzigen Gäste, DAS F RÄULEIN bedient. D AS F RÄULEIN Die Herren sind Soldaten? S ALM Wir sehen nur so aus. D AS F RÄULEIN Ich liebe die Uniform. Ich bin eine Deutsche aus Metz. Wir hatten viel mit den Herren Soldaten zu tun. Wenns wieder Krieg gäb, das wär fein! H ORST Sie werdens noch erleben, Mädchen. D AS F RÄULEIN Ich wär auch glücklich mit einem Manöver. Die Herren sind doch Soldaten? R ÜBEZAHL Wir sind keine Soldaten, dumme Kuh! D AS F RÄULEIN Pardon! Seien Sie nur nicht wild, Sie Großer! Die Herren haben doch Uniform. K NORKE Wir haben uns nur noch nicht umgezogen seit dem Krieg. D AS F RÄULEIN (lacht.) Oh pfui, wie pikant! H ALEF Sehr geehrtes Mädchen. Ich bin zwar kein Soldat, aber ich interessiere mich für Manöver. Überhaupt für Übungen – (Er schäkert mit ihr.) K NORKE (zu S ALM ) Sie heißt Schramm. Mit dem seltenen Vornamen Anna. Sie wohnt in der Prinzenstraße unter sechs und hat sich an den Sladek gehängt. Sie ist im gefährlichen Alter und könnte für ihren Bubi auch sterben. S ALM Ein schöner Abend heute abend. K NORKE Sie weiß alles, vielleicht auch das, was ihr bevorsteht. Sie wird trotzdem jede versteckte Patrone der Republik abliefern und alles den Polen verraten. Sie ist toll. S ALM Ein schöner Abend heute abend. K NORKE Ich verstehe, Leutnantleben. Liebling, wir verstehen uns wie ein Liebespaar. Es ist ein schöner Abend heute abend, und es wird für manches Kind keinen schöneren mehr geben. S ALM Was, wenn Sladek nicht kommt? K NORKE Er kommt. Er haßt sie nämlich. S ALM Warum? K NORKE Warum haßt man einen Menschen? Entweder weil er einem nichts gibt oder zuviel gegeben hat. Sie wird ihn ausgehalten haben. Sie muß mal sehr geil gewesen sein. H ORST Das Schandweib gehört totgeprügelt.

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S ALM Könntest du sie totprügeln? H ORST Im Interesse des Vaterlandes, jederzeit. Wir hatten zu Hause einen reinrassigen Dobermann. Dem habe ich einmal die Beine zusammengebunden und losgeprügelt, bis ich nicht mehr konnte. Das Vieh gab keinen Ton von sich. Es gibt so stolze Köter. Es hat mich nur angeschaut. S ALM Du bist so herrlich hemmungslos, so göttlich selbstverständlich. Das soll Wodka sein! Ich habe meine Jugend vergeudet. H ORST Bitte, nur nicht sentimental! S ALM Nein, ich bin nur traurig. Wenn man so zurückdenkt: Damals, du wirst erst sechs Jahre gewesen sein, damals war ich Hauslehrer in Siebenbürgen. Was ich dort bei den Rumäninnen Kraft ließ – Ja, das Weib haßt den Mann, auch in der Tierwelt gibt es dafür Beispiele. Ich hab erst in der Gefangenschaft mein besseres Ich entdeckt, ich danke es dem Krieg, er wies mich den rechten Weg. Horst, du folgtest meinem Rufe. H ORST Halt! Ich habe um meiner Ideale willen und nicht aus persönlichen Gefühlchen Papa und Mama verlassen. Ich wäre auch ohne dich durchgebrannt – Jetzt hätte ich bald das Abitur. Wozu? Die Tat gilt mehr als das Wissen, die Waffe mehr als das Wort. S ALM Sei nicht grausam. H ORST Quält dich die Wahrheit? Stehst du über dem Vaterlande? Daß du immer Illusionen brauchst! S ALM Wie der kleine Kerl quälen kann – R ÜBEZAHL Salm! Du hast ein Profil wie Bruno Kastner, aber ich hab kein Geld. Hast du Geld? Die Schweiz ist ein gelobtes Land. S ALM Besauf dich nicht! R ÜBEZAHL Poussier dein Knäblein, Pädagog! Ich halt das Maul im Delirium, jedoch möchte ich nur bemerken, daß es vorschriftsmäßiger gewesen wäre, wenn wir das Schwein Schminke postwendend in der Kiesgrube – – S ALM (unterbricht ihn.) Kusch! R ÜBEZAHL (grinst.) Wir sind unter uns, Tante Frieda. Ist das ein Dorf! – Wie das klingt „unter uns“. H ALEF Wie? R ÜBEZAHL Keine Ahnung. Ab und zu verblöde ich. Dann möchte ich Großkaufmann sein. Konfektion. K NORKE Ich möcht wieder mal auf eine Redoute. Mit Frack und steifer Brust. R ÜBEZAHL Nein, das ist nicht das Ideal. Das Ideal ist ein kleines Häuschen auf dem Lande – und die Fenster müßten so niedrig sein, daß man von draußen hereinsehen kann, daß man das Sofa sehen kann. Und die Bilder. D AS F RÄULEIN Die Herren sind mit dem Auto gekommen? H ALEF Wir sind Geschäftsreisende. Wir vertreten eine große Lebensversicherung. Unser Chef ist ein jüdischer Kommerzienrat, und jener neunzehnjährige Jüngling ist sein Sohn. H ORST Ich bin erst siebzehn. H ALEF Und was du schon für Hüften hast! S ALM Halef, es gibt Dinge, die jenseits des Witzes liegen. H ALEF Zu Befehl, Majestät! Ich fürchte nur, daß er die moderne Linie verliert. D AS F RÄULEIN Daß sich die moderne Linie derart durchsetzt, ist nur eine Folge der Unterernährung. Der Kriegskost.

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R ÜBEZAHL Jaja, man sieht kaum mehr Busen. D AS F RÄULEIN Sind Sie blind? H ALEF Ja, er ist blind. Ich hingegen sehe ungewöhnlich scharf. K NORKE Ich auch. H ALEF (umarmt sie.) Ha du, als wär kein Krieg gewesen! Ich liebe den Frieden. Du kannst mal mit mir fahren, im Auto. D AS F RÄULEIN Nein, das ist mir zu gefährlich. R ÜBEZAHL (scharf) Wie meinen Sie das? D AS F RÄULEIN (droht mit dem Finger.) Nanana, Sie ganz Böser! Sie können mich nicht hypnotisieren. Ich fahre aus Prinzip mit keinem Herrn mehr durch die Nacht. Da war einmal ein Chauffeur, ein geborener Österreicher, der lud mich ein zur Mondscheinpartie, und auf der Landstraße wollte er mich vergewaltigen. Ich habe gesagt: Mein Herr, das kann man nicht so ohne weiteres. Er hat gesagt: Ist das aber eine Hure! Und dann hat er mich auch noch beschimpft. S LADEK (kommt.) D AS F RÄULEIN Guten Abend, der Herr! S LADEK (bleibt stehen.) Guten Abend. K NORKE Sladek! Hier! – Nun? S LADEK Ich bin da. Ich halt mein Wort. Ich bin bereit. K NORKE Das freut uns außerordentlich. S ALM Haben wir noch Benzin? H ALEF Dreieinhalb Tropfen. Nicht ganz. S ALM (zu H ORST ) Kauf das bessere Öl. Nimm Halef mit. H ORST und H ALEF (ab) R ÜBEZAHL Wir brauchen bald ein neues Auto. K NORKE (zu S LADEK ) Und wie geht es der gnädigen Frau? S LADEK Es ist aus. Radikal. K NORKE Man gratuliert. S LADEK Danke. D AS F RÄULEIN (spielt am Grammophon die Träumerei von Schumann.) K NORKE Du weißt, was mit einer gnädigen Frau geschieht, die Soldaten vor dem Feinde verrät? S LADEK Sie hat noch nichts verraten. K NORKE Aber sie wird uns verraten. S LADEK Wenn sie uns verrät, so gebührt ihr nichts anderes. K NORKE Soll man warten, bis einen der Feind vernichtet? S LADEK Nein. In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. S ALM Wir sind Natur. K NORKE Du bist auch Natur. S LADEK Ja. K NORKE Also? S LADEK Also. S ALM Zur Sache. S LADEK (sonderbar erregt) Meine Herren! Als ich sie kennenlernte, war sie um fünfzehn Jahre jünger als zuletzt, obwohl bis dahin nur vier Jahre vergangen sind, aber der Reiz war schon eigentlich nach zwei Jahr weg, der natürliche Reiz –. Meine Herren, das alles ist doch kein Problem, das ist nur traurig. S ALM Zur Sache.

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K NORKE Du wartest hier. Wir haben es nur zu melden und sind bald wieder da. Dann erlauben wir uns, der gnädigen Frau unsere Aufwartung zu machen. Du hast doch den Schlüssel? S LADEK Ja. K NORKE Du läßt die Haustür offen, verstanden? Wir warten unten zehn Minuten, dann wirst du einen Pfiff hören, und dann sind wir auch schon droben. Die zehn Minuten brauchen wir, du musst ihr etwas vorspielen, damit sie nur nichts ahnt und schreit. Sie ist nämlich raffiniert, das weißt du ja. Sag ihr, du seiest zurückgekehrt, hättest alles bereut – es ist alles ungeschehen, und du liebst sie, verstanden? S LADEK Ja. S ALM Sladek, falls du es dir überlegen solltest – S LADEK (unterbricht ihn.) Ihr müßt mir nicht drohen. Ich habe keine Angst. Ich hab mir das alles genau überlegt und kann selbständig denken. Das ist anerkannt. S ALM Das spielt keine Rolle. S LADEK Oho! S ALM Zahlen! D AS F RÄULEIN Alles zusammen? S ALM Wir sind eine Familie. R ÜBEZAHL Sein Vater ist mein Sohn. S LADEK Wann faß ich meine Uniform? K NORKE (zu S LADEK ) Bald. S LADEK Auf Wiedersehn. S ALM (zu R ÜBEZAHL ) Los, sonst weint der General! R ÜBEZAHL Weißt du, was ich jetzt gesehen hab? Mein Häuschen. Es ist wirklich das einzige. Wenn alles mit Deutschland klappt, dann kauf ich mir die niedrigen Fenster – (ab) S ALM (zu K NORKE ; deutet auf S LADEK ; leise) Der Kerl ist doch blöd? K NORKE Besser blöd als feig. (ab mit S ALM ) D AS F RÄULEIN Auf Wiedersehn, die Herren! Auf Wiedersehn! (Sie beschäftigt sich mit ihrem Strumpfband.) S LADEK (beobachtet sie.) Auf Wiedersehn. D AS F RÄULEIN Der Herr kennt die Herren? Das waren doch Soldaten? Nicht? Oder? – So antworten Sie doch! Sind Sie taub? S LADEK Ja. D AS F RÄULEIN Die Männer heutzutag sind alle originell. – Was wünscht der Herr? Trinken wir eine Flasche Wein? S LADEK Was kostet das? D AS F RÄULEIN Eine Milliarde. S LADEK Und, was kosten Sie? D AS F RÄULEIN Wie meint das der Herr? S LADEK Wenns nicht stimmt, so sagen Sies nur. Ich habe gehört, daß Sie sich für eine Milliarde ausziehen. D AS F RÄULEIN Manche Herren trinken lieber Wein. S LADEK Ich nicht. Ich krieg nämlich keinen Rausch. Ich spei nur alles voll. D AS F RÄULEIN Ist das so schlimm? Dann ziehe ich mich lieber aus. S LADEK Eine Milliarde ist viel Geld. D AS F RÄULEIN Der Herr sind Kaufmann? S LADEK Ich bin kein Schieber.

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D AS F RÄULEIN Also redlich verdient? S LADEK Nein. D AS F RÄULEIN Geschenkt? S LADEK Nein. D AS F RÄULEIN Es geht mich auch nichts an. S LADEK Ich habe die Milliarde gestohlen. Ich kenn nämlich eine Witwe, die hat noch drei im Schrank. Sie verdient sehr schön und liebt mich, das heißt: Eigentlich gibt es keine Liebe. Man muß nur selbständig denken. Es ist ein glattes Geschäft. Sie hat sich den Sladek gekauft. Ich hab mich ihr ganz gegeben, aber sie ist so eifersüchtig, daß ich nicht zum Arbeiten komm. Sie will herrschen, drum läßt sie mich um jede Million betteln. Da hab ich die Milliarde gestohlen, sie gehört mir, ich bin im Recht. Gib mir eine Zigarette. D AS F RÄULEIN Du gefällst mir immer besser. Gib mir die Milliarde. S LADEK Zieh dich aus. D AS F RÄULEIN Hernach. S LADEK Nein. Hernach wird man geprellt. D AS F RÄULEIN Du hast viel mit schlechten Frauen verkehrt. S LADEK Eigentlich nur mit Huren. D AS F RÄULEIN Pfui! So was sagt man nicht! S LADEK Sie weiß, daß ich fort will, aber sie sieht es nicht ein. Ich bin zu rücksichtsvoll. Alles hat ein End. Diesmal radikal. – Weißt du, was das Furchtbarste ist? Wenn man will und kann nicht. D AS F RÄULEIN (lacht.) S LADEK Lach nicht! D AS F RÄULEIN Das ist doch komisch! S LADEK Nein, das ist tragisch. Wenn etwas schon lange tot ist, vielleicht nie gelebt hat, und man redet damit, als wärs gesund. Ich bin nicht feig und wollt nie Theater spielen und habs doch getan. Sie hat es gewußt, daß sie nur winseln muß, und ich verlier die Kraft. Weil ich ein anständiger Mensch bin, zu guter Letzt. Aber damit Geschäfte machen, das ist ein Verbrechen. D AS F RÄULEIN Du mußt ewig gearbeitet haben, um auf solche Gedanken zu kommen. S LADEK Ich hab noch nie richtig gearbeitet. Sie hat es nicht gern gesehen, daß ich was verdien. Sie hatte Angst, ich könnte ohne sie leben. Sie hat mich lieber ausgehalten, das ist das berühmte mütterliche Gefühl. Auch so ein Verbrechen. D AS F RÄULEIN (beugt sich über ihn.) Sprich nicht mehr. Das ist mir alles zu hoch. Gib mir die Milliarde – S LADEK Du hast so eine schöne Haut – D AS F RÄULEIN Ich bin auch ein Sonntagskind. S LADEK Ich nicht. – Du bist so weich. D AS F RÄULEIN Das hat jede Frau. S LADEK Nein, nicht jede. D AS F RÄULEIN Was der kleine Mann für große Augen hat. Schau mich an. Wohin schaust du denn? S LADEK Ich schau dich an. D AS F RÄULEIN Nein. S LADEK Doch. D AS F RÄULEIN Du schaust mich an und doch nicht an. Hinter mir ist nichts. Ich glaube, du findest den richtigen Kontakt zum Weibe nicht.

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S LADEK Möglich. D AS F RÄULEIN Gib mir die Milliarde, dann zieh ich mich aus. S LADEK (gibt sie ihr.) D AS F RÄULEIN (küßt ihn.) Danke. (Sie zieht sich aus.) Du bist ein einsamer Mensch. Du mußt öfters kommen, sonst wirst du noch melancholisch. Das Weib ist die Krone der Schöpfung. S LADEK Zieh dich ganz aus. D AS F RÄULEIN Nein. Heute regnet es, und ich bin sehr empfindlich. S LADEK Zieh dich ganz aus. D AS F RÄULEIN Nein! Ich werde krank. S LADEK Ich hab dir die Milliarde gegeben, und du hast versprochen – D AS F RÄULEIN (unterbricht ihn.) Nichts habe ich versprochen! Willst du, daß ich mir den Tod hole? S LADEK Das geht mich nichts an! Ich laß mich nicht betrügen! D AS F RÄULEIN Schreien Sie nicht so mit mir, Sie! S LADEK Kusch, Krone der Schöpfung! D AS F RÄULEIN Ich bin doch kein Hund! Ich bin ein Mensch, Sie! Hinaus! Zurück oder ich schrei! Ich schrei, du Lump, du Dieb! Hier wird nicht gehaßt, hier wird geliebt! (Sie schreit und flieht.) S LADEK (allein; starrt ihr nach.) A NNA (erscheint.) Guten Abend, Sladek. (Stille) A NNA Ich dachte, du bist Soldat. Und schon in Uniform. S LADEK Nein. – Es ist offen, vorne, das Kleid. A NNA (knöpft es rasch zu.) S LADEK Laß es nur. A NNA Ja, es wird nichts geschehen. – Ich bin dir wieder mal nachgeschlichen. Ich habe dir nur noch etwas mitzuteilen, dann geh ich wieder. S LADEK Anna – Ich wollte wieder zu dir kommen. A NNA (starrt ihn entsetzt an.) Das ist nicht wahr! S LADEK Doch. A NNA (sieht sich ängstlich um.) Wo warst du? S LADEK Bei den Soldaten. Ich hab mir das alles überlegt. A NNA Was willst du von mir? – Was denkst du jetzt? S LADEK Daß alles wieder gut wird. A NNA Das gibt es nicht. S LADEK Ich hab dich lieb. A NNA Nein. Nein. S LADEK Ich lüge nicht. A NNA Heut abend hättest du mich erschlagen können. S LADEK Ich hab dich nie gehasst. A NNA Doch. Und mit Recht. Ja, mit Recht. Das wollte ich dir sagen. (Stille) A NNA Ich bin daran schuld. Es war nicht recht von mir, daß ich dich mit aller Gewalt hielt, daß ich daran dachte, mit dir ein Leben lang zusammen –. Ich hätte längst abtreten müssen, aber ich dachte nur an mich. Ich hab dich gequält, ich war dir überall im Weg. Ich hab über dich bestimmt, jetzt ist es mir, als hätt ich das alles berechnet. Verzeih mir. Es ist mir plötzlich klar geworden. Klar. Klar.

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(Stille) A NNA Geh, bitte. Es hat keinen Sinn, daß du bei mir bleibst. Das ist sicher nur so ein plötzliches Gefühl für mich, das bildest du dir ein. Es ist aus. Warum bin ich nicht zwanzig Jahre jünger? Warum hab ich dich damals getroffen? Es war ein reiner Zufall, das Leben ist grausam. Nein, nicht du – ich hab dich genommen, ich hab mich an dich gekettet, ich hab dir alles gegeben, alles verlangt. Und dann hab ich immer etwas gesucht, es ist dir nicht aufgefallen. Du bist eine andere Welt. Du siehst anders, hörst anders, denkst anders. – Geh, Sladek. Geh, wohin du willst. Es ist wirklich nicht schön hier. Ich halt dich nicht. Marschier mit deinen Soldaten, ich werde keine einzige versteckte Patrone anzeigen, ich geh auch nicht zu den Polen. Ich verrate nichts. Geh, bitte. Ich bleib zurück. S ALM , H ORST , R ÜBEZAHL (erscheinen hinter A NNA .) S LADEK (erblickt sie und versteinert.) A NNA Du bist jung. Ich bin schon grau. Zwischen uns stehen hundert Jahr. S ALM Drauf! A NNA Sladek! Was ist das!? Was ist das?! R ÜBEZAHL (stürzt sich auf A NNA .) Was ist das! A NNA Hilfe! Hilfe! – Au! R ÜBEZAHL Das Mensch plärrt! A NNA Sladek! Sladek! S LADEK Halt! S ALM (mit dem Revolver; zu S LADEK ) Zurück! Zurück! R ÜBEZAHL (ersticht A NNA .) Verrat uns! Verrat uns! Vieh! A NNA (bricht zusammen und winselt.) Au – Sladek, du schlechter Mensch – du, du, du – – (Sie stirbt.) (Stille) S ALM (zu S LADEK ) Hände hoch! Was sollte das Halt? S LADEK Weil sie unschuldig war. S ALM Das gibt es nicht. S LADEK Doch. S ALM Seit wann? S LADEK Seit zwei Minuten. Sie wollt nichts verraten, hat sie gesagt. Ich glaub keiner Frau, aber diesmal wars eine außerordentliche Ausnahme. S ALM Und? S LADEK Da gibts kein Und. S ALM Du hast Halt gerufen. Weißt du, daß ein solches Halt die nationale Revolution vernichten kann? S LADEK Daran hab ich nicht gedacht. Ich hab nur an die Gerechtigkeit gedacht. Es war mir plötzlich, als wären meine Ansichten über die Natur falsch, und ich hätt die Wahrheit vergessen. Ich kann nämlich selbständig denken – S ALM (unterbricht ihn.) Du hast nicht selbständig zu denken! Du bist Soldat. S LADEK Man kann ja nichts dafür. S ALM Du hast dafür zu können! Das ist deine Pflicht! S LADEK Ihr könnt nichts dafür. S ALM Das rettet dich, du Trottel. Sonst – S LADEK (unterbricht ihn.) Ich hab keine Angst. Ich bin nicht feig. In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. R ÜBEZAHL Wie oft hör ich das noch?!

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(Stimmen unten) H ORST Da spricht wer. S ALM Rasch! Fort! R ÜBEZAHL Sie hat sich bemacht. S LADEK Radikal. Ende des zweiten Aktes.

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Kiesgrube. S CHMINKE sitzt apathisch an der Wand, bewacht von H ORST , H ALEF und S LADEK . S LADEK ist endlich in Uniform mit aufgepflanztem Seitengewehr. Am oberen Rande der Grube steht der H AUPTMANN und wartet auf S ALM , K NORKE und R ÜBEZAHL . Es wird allmählich Tag.

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H ALEF Jetzt möcht ich mich rasieren. H ORST Es hat stark geregnet, zuvor. S LADEK Obs wieder regnen wird? (Stille) H ALEF Zu guter Letzt sind die Dreckjuden selbst daran schuld. S LADEK Ich glaub eigentlich nicht, daß es eine Zukunft gibt. H ORST (zu S LADEK ) Du hast dich für das Fräulein interessiert? S LADEK Sie hat keine Seele. Sie betrügt. H ALEF Hast du eine Seele? S LADEK Was ist das: Seele? H ALEF Du hast doch gerade gesagt, daß das Fräulein keine Seele hat! S LADEK Ich? H ORST Du! S LADEK Ich muß mich versprochen haben. Das ist sehr komisch. (Stille) S LADEK Sag: Du bist doch Türke? H ALEF Ich? S LADEK Ja. Weil du Halef heißt. Ich kannte einen Halef, der hat türkischen Honig verkauft. Aber der hieß eigentlich auch nicht Halef. H ALEF Ich verkaufe türkischen Honig und bin ein geborener Sachse. S LADEK Dresden soll schön sein. H ORST Wer war schon in Nürnberg? H ALEF Nürnberg ist schön. H ORST Ja. Dort haben sie eine herrliche Folterkammer in der Burg. Ich habe nach der ersten Kommunion meine Großmutter besucht, die lebt in Nürnberg. Die kennt jede Daumenschraube, die hat mir das alles erklärt. Meine Mutter hat Krämpfe bekommen, ich und meine Großmutter haben lachen müssen. Zum Beispiel die eiserne Jungfrau – H AUPTMANN (ruft.) Halef! H ALEF Majestät! H AUPTMANN Wo bleibt der Salm? H ORST (lacht leise.)

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H AUPTMANN Wer lacht da? H ORST Der Sladek. S CHMINKE Nein, ich! (Stille) H AUPTMANN (steigt langsam in die Grube hinab. Er spricht leise mit H ALEF und H ORST .) S CHMINKE (lauscht.) H AUPTMANN Der Salm sollte doch schon hier sein. H ALEF Schon längst. H ORST (ironisch) Er wollte hier sein. H AUPTMANN (zu H ORST ) Wie alt bist du? – Ihr habt wieder gesoffen? H ALEF Nur der Salm. Und unsere rechte Hand: Herr Rübezahl, das deutsche Märchen. H AUPTMANN Ihr seid gefährlich großzügig. Holt mir den Salm. Und diese rechte Hand. Aber schleunigst! Es wird doch bald Tag. H ALEF und H ORST (ab) H AUPTMANN (nähert sich langsam S CHMINKE .) Sie haben soeben gelacht? S CHMINKE Über diese Kiesgrube. H AUPTMANN Sie kennen die Bedingung, unter der ich Sie begnadige. S CHMINKE Es gibt keine Bedingung, unter der ich begnadigt werden könnte. Machen Sie sich nicht lächerlich! H AUPTMANN Ich pflege mich nicht lächerlich zu machen. S CHMINKE Pardon! Ich wollte Sie nur aufmerksam machen, daß Sie mich nicht begnadigen dürfen, weil Sie ja befürchten müssen, daß ich alle Ihre Geheimnisse verrate, sobald ich frei bin. H AUPTMANN Sobald Sie frei sind, wird es keine Geheimnisse mehr geben. Ich warte nur auf das Signal der maßgebenden Stelle. Sobald ich marschiere, sind Sie frei. Allerdings unter der bekannten Bedingung, daß Sie mir Ihre Auftraggeber, auf deren Befehl hin Sie Geheimnisse verraten – S CHMINKE (unterbricht ihn.) Ich bin ganz allein. H AUPTMANN Lügen Sie nicht, Feigling! (Stille) S CHMINKE Ist es nicht feig, mich hier in dieser Kiesgrube –? H AUPTMANN Es geht um das Vaterland. S CHMINKE Sie betrachten sich als Vaterland? H AUPTMANN (fast etwas unsicher) Ich kämpfe für das Vaterland. Für seine Größe, seine alte Macht. Das verstehen Sie nicht. Ihr Weltreich ist Mist – vielleicht ein schöner Traum. Ich habe mich mit diesen Sachen nicht so beschäftigt. Ich bin Soldat. Ich hab einen traumlosen Schlaf. (Stille) H AUPTMANN Sie sind verrückt. Gemeingefährlich verrückt. Glauben Sie denn, Sie Idiot, daß es jemals Frieden geben wird? S CHMINKE Nein, das glaube ich nicht. (Er wankt etwas.) H AUPTMANN (braust auf.) Machen Sie sich keinen Narren aus mir, Sie! S CHMINKE Ich mache mir keinen Narren aus Ihnen. Ich glaube, wir verstehen uns. Sie haben ja von Ihrem Standpunkt aus vollständig recht – Es kommt aber nur auf die Höhe des Standpunktes an, und wie tief oder hoch man über dem eigenen Standpunkte stehen will – oder kann – (Er fasst sich an den Kopf.) Ich bitte das Verhör

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zu unterbrechen – Ich habe einen zu schweren Kopf. Man hat mir nämlich auf den Kopf geschlagen, das kommt davon – (Er lächelt und setzt sich.) Werde ich wieder geprügelt? H AUPTMANN (wendet sich plötzlich ab und steigt langsam aus der Kiesgrube; wartet wieder oben.) (Pause) S LADEK (plötzlich) Sie werden dich nicht mehr schlagen. S CHMINKE (sieht ihn erstaunt an; spöttisch) Ich danke sehr. S LADEK Ich dank auch sehr, daß du mich nicht verraten hast. D IE Z WEI (fixieren sich.) S LADEK (lächelt.) Ja, daß du nämlich nicht gesagt hast, daß du mich kennst. Ich hätt dadurch Unangenehmes gehabt, ich wär nämlich leicht in einen Verdacht gekommen, der ja gar nicht stimmt, weil wir uns doch nur kennen, aber immer das Gegenteil denken. S CHMINKE Wieso? S LADEK Das weißt du doch. S CHMINKE Nein. S LADEK Das gibt es doch nicht. S CHMINKE Wer bist du? S LADEK Ich? S CHMINKE Ja, du. S LADEK Du kennst mich nicht? S CHMINKE Nein. (Stille) S LADEK Ich hab dich gleich erkannt. Ich bin der Sladek. S CHMINKE Sladek? Kenn ich nicht. S LADEK Du hast dich mal zur Diskussion gemeldet, man hätt dich fast erschlagen, aber das hätt mir leid getan, denn ich hab die Gerechtigkeit lieb, obwohl es sie nicht gibt. Wir haben debattiert, ich red nämlich nur gern mit intelligenten Menschen, die selbständig denken können, obwohl man das nicht soll. Ich bin nämlich ein sogenannter zurückgezogener Mensch. Ich erinner mich an jedes Wort. Wir haben über Weltpolitik debattiert. Deine Nase hat geblutet. S CHMINKE Ja, das war jene Diskussion. Aber an dich kann ich mich nicht erinnern. S LADEK Das tut mir leid, daß du mich vergessen hast. S CHMINKE (fast etwas spöttisch) Ich bitte um Verzeihung, aber ich kenne so viele Menschen – S LADEK (unterbricht ihn.) Bitte, bitte! Der einzelne zählt ja auch nichts, das ist natürlich, obwohl man da komische Erfahrungen machen kann. (Stille) S LADEK Es freut mich, daß du zuvor gesagt hast, du glaubst nicht daran, daß es jemals Frieden geben wird, daß es also nur Gewalt gibt und sonst nichts. Daß du dich zu meiner Ansicht über den Sinn des Lebens bekehrt hast, das freut mich, denn du bist ein sogenannter intelligenter Mensch. Hörst du mich? S CHMINKE (hatte den Kopf in den Händen vergraben; apathisch) Ja. S LADEK Der intelligente Mensch gibt seinen Denkfehler zu, ich denk heut auch etwas anders, obwohl ich immer recht gehabt hab, aber es war alles durcheinander. Ich hab mich mit dem Vaterland verwechselt. (Stille)

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S LADEK Es wird zwar immer gemordet, weil man ja nicht anders kann, aber das darf der einzelne nur als Teil, obwohl ja ganz zu guter Letzt alles für den einzelnen ist. Es ist aber komisch, daß, wenn man sich als Teil selbständig macht, zum Beispiel beim Morden, man das Gefühl hat, als sollt man doch anders tun, obwohl man doch muß. Hörst du mich? S CHMINKE (wie vorher) Ja. S LADEK Zum Beispiel für das Vaterland darf der einzelne als Teil zum Beispiel jeden Mord begehen. – Ich war mal bei der Hinrichtung einer Landesverräterin. Das war eine Frau. S CHMINKE (horcht auf.) S LADEK Eine Landesverräterin gehört im Interesse des Ganzen erledigt, das ist doch klar. Es war auch alles in Ordnung, auch wenn sie unschuldig gewesen sein sollte, aber wir konnten nicht anders, wir mussten sie hinrichten, das sind manchmal so Umstände. Das ist jetzt nur für dich persönlich, weil, wie gesagt, du selbständig denken kannst und vielleicht das verstehst. Nämlich ich versteh alles, nur das nicht, daß es mir manchmal ist, als hätten die Leut, die diese Frau hingerichtet haben, obwohl sie doch vollkommen im Recht waren, weil sie nicht anders tun konnten, doch unrecht getan. Das ist sehr interessant. S CHMINKE Sehr. (Stille) S CHMINKE Wer war diese Frau? S LADEK Das ist Geheimnis. Dieses Ganze, verstehst du, ist nur unter uns – S CHMINKE Meinst du? S LADEK Das hab ich nur dir gesagt, bitte. S CHMINKE Warum? S LADEK Es ist nur unter uns. Unter uns beiden. S CHMINKE (spöttisch) Ich danke dir für das große Vertrauen. S LADEK Du wirst mich nicht betrügen. S CHMINKE Wieso? S LADEK Bitte. (Stille) S CHMINKE Du betrügst dich selbst. Du denkst als Teil zu selbständig, davon werden deinesgleichen blöd. Jetzt weiß ich, wer du bist. S LADEK Jetzt erst? S CHMINKE Du bist der Sladek. S LADEK Ja. S CHMINKE Das ist sehr interessant. (Stille) S LADEK Das ist alles nicht wahr. Das ist alles ganz anders gewesen. S CHMINKE Das war alles für das Vaterland? S LADEK Ja, aber es gibt keine Gerechtigkeit. Es ist arg, daß man denken kann. H AUPTMANN (steigt wieder herab.) Sladek! Was wollte er von dir? S LADEK Er hat nur gefragt, wann er wieder verhört wird. H AUPTMANN Jetzt. (Er tritt vor S CHMINKE und fixiert ihn.) S CHMINKE Sie verstehen mich, das habe ich Ihnen bereits gesagt. Denn Sie sind ja ganz meiner Meinung, nur können Sie es nicht vertragen zu hören, wie Sie eigentlich denken, und deshalb wollen Sie mich nun zwingen, das Gegenteil zu behaupten.

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H AUPTMANN Verrückt. S CHMINKE (lächelt.) Vielleicht gemeingefährlich. Wir müssen ja bei einer bestimmten Grenze aufhören zu denken, das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Ich habe kein Recht, das Hoffen des einzelnen Menschen auf den Frieden zu zerstören. Ich habe die Pflicht zum Betrug. Und ganz zu guter Letzt ist das ja gar kein Betrug, denn es dreht sich ja eigentlich nicht darum, wie es der Menschheit tatsächlich ergeht, sondern was sich der einzelne Mensch einbildet. Wir verstehen uns. H AUPTMANN Finden Sie? S CHMINKE (lächelt.) Und was den ewigen Frieden anlangt, so glaube ich wirklich nicht daran, aber ich predige ihn, da ich zu guter Letzt an keinen Fortschritt glaube, weil ich weiß, daß es nur einen Fortschritt gibt, wenn man keine Rücksicht auf den einzelnen Menschen nimmt. Es dreht sich doch zu guter Letzt alles um den einzelnen Menschen, darum predige ich den radikalsten Fortschritt, das Reich der unpersönlichen Masse. Es gibt nämlich keinen Fortschritt, solange es die einzelnen gibt. Das ist doch alles Betrug, nicht wahr? H ALEF (kommt rasch.) Hauptmann! H AUPTMANN Wo sind die anderen?! H ALEF Verschwunden. (Er nähert sich ihm; unterdrückt) Es stinkt, Herr General. Wir sind nämlich umzingelt. H AUPTMANN Umzingelt? Wer? Wir? H ALEF Wir. Glotz nicht. H AUPTMANN Wer hat uns umzingelt? H ALEF Die anderen. Sie sind in der Nacht gekommen, jetzt wird es Tag, da hat sie der Posten entdeckt. Sie haben Artillerie aufgefahren. Um unser ganzes Fort. H AUPTMANN Was ist das für Artillerie? H ALEF Reguläre. H AUPTMANN Reguläre? H ALEF Sie haben einen Parlamentär gesandt mit der weißen Fahne. Als hätten wir Krieg. D ER B UNDESSEKRETÄR (erscheint am oberen Rande der Kiesgrube.) Im Auftrage der maßgebenden Stelle habe ich Ihnen den Beschluß zu überbringen betreffs Ihrer zukünftigen Verwendung, wenn ich mich so ausdrücken darf. Ihre sogenannte Armee wurde seinerzeit aufgestellt, erstens als Grenzschutz, da ein etwaiger Einbruch irregulärer feindlicher Formationen befürchtet werden mußte, zweitens als eine Art Notpolizei, die die Aufgabe hatte auf dem Lande versteckte Waffen zu sammeln oder im Falle eines bolschewistischen Aufstandes neben dem regulären Militär als Selbstschutz eingesetzt zu werden. Da sich aber nun die innerpolitische Lage überraschenderweise derart konsolidiert hat, daß zur Niederschlagung einer kaum zu erwartenden Linksrevolution die vorhandenen regulären Machtmittel des Staates vollständig ausreichen, andererseits die außenpolitische Lage – H AUPTMANN (unterbricht ihn.) Das ist gelogen. Jedes Wort. Es ist eine Schande! Meine Soldaten sind keine Nachtwächter, das ist die Armee der nationalen Revolution! D ER B UNDESSEKRETÄR – andererseits die außenpolitische Lage die Möglichkeit, wenn auch nicht einer Versöhnung, so doch der wirtschaftlichen Annäherung der Nationen erhoffen läßt. Wir Deutschen müssen trotz aller Demütigungen diesen Weg betreten aus nationalem Interesse, um die bürgerliche Wirtschaftsordnung zu festigen. Die maßgebende Stelle mußte sich also entschließen – dieser Ent-

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schluß fiel ihr nicht leicht – die sofortige Auflösung Ihrer, ich wiederhole: sogenannten Armee zu befehlen. Die maßgebende Stelle wird ihr Möglichstes tun betreffs Unterbringung Ihrer Leute in einen bürgerlichen Beruf. H AUPTMANN Danke. (Stille) H AUPTMANN Das hab ich erwartet, daß ich wieder verraten werde. Wir verzichten auf den bürgerlichen Beruf, dazu muß man geboren sein. Ich denke nicht daran, Verbrechern an deutschen Gedanken, und nennen sie sich auch maßgebende Stelle, zu gehorchen! Sagen Sie es ihr, daß ich auf die Festigung der bürgerlichen Wirtschaftsordnung pfeife, daß ich an keine Versöhnung glaube, und daß ich kämpfen werde, bis Deutschland wieder gefürchtet wird! D ER B UNDESSEKRETÄR Ich mache Sie aufmerksam: Falls Sie sich nicht freiwillig auflösen, so haben wir die Gewalt. – H AUPTMANN (unterbricht ihn.) Mit Artillerie! Ich weiche nicht! D ER B UNDESSEKRETÄR Ich bitte Sie, nicht zu deklamieren. Ergeben Sie sich, oder Sie tragen die volle Verantwortung für ein völlig sinnloses Blutvergießen. Es ist deutsches Blut. H AUPTMANN Lieber deutsches Blut vergießen als die nationale Wiedergeburt vernichten! Ich fürchte mich nicht! D ER B UNDESSEKRETÄR Ich mache Sie aufmerksam, daß die Inflation anfängt aufzuhören. Ergeben Sie sich – H AUPTMANN (unterbricht ihn.) Nie! D ER B UNDESSEKRETÄR Falls Sie sich fügen, so kann ich Ihnen inoffiziell erklären, daß ich für meine Person alles dransetzen werde, Sie vor Strafe zu bewahren. Sie verstehen mich? H AUPTMANN Strafe? Strafe? Wofür? Daß ich mich nicht verraten lasse?! D ER B UNDESSEKRETÄR Sie sind ein Mensch, dem man ab und zu seine Lage klarmachen muß – H AUPTMANN (unterbricht ihn.) Ich verzichte! Ich sehe klar! Ich kenne Freund und Feind! (Stille) D ER B UNDESSEKRETÄR Ich gebe Ihnen Bedenkzeit. H AUPTMANN Unnötig! D ER B UNDESSEKRETÄR Sollten Sie nicht die weiße Fahne hissen, so eröffnen wir, so weh es uns auch tut und so gerne wir es vermeiden möchten, das Feuer. H AUPTMANN Machen Sie sich nicht lächerlich. D ER B UNDESSEKRETÄR Sie verkennen sich. (rasch ab) (Pause. Morgenwind) H AUPTMANN Diese Hunde. Die gemeinsten Verräter sitzen hinter den eigenen Kulissen! – Hast du gehört, daß sich die maßgebende Stelle versöhnen will? H ALEF Ja, das hab ich auch gehört. H AUPTMANN Glaubst denn du an den Frieden? H ALEF Ich weiß nichts. H AUPTMANN Es hat keinen Frieden zu geben, Halef! Jetzt fangen wir an zu existieren! Wir! – Lauf zu Salm, er soll sofort – H ALEF (unterbricht ihn.) Salm ist samt seiner Puppe verschwunden. Unsere rechte Hand. Fort. Ausgerückt. H AUPTMANN Ausgerückt.

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H ALEF Hast du das gehört, was dieser Bonze sagte, das mit der Strafe? H AUPTMANN Hast du Angst? H ALEF Wir sind betrogen. Rein juristisch waren das nämlich korrekte Morde – und der Herr Staatsanwalt wird wohl nicht umhinkönnen anzuklagen. – Vielleicht hat der Herr Staatsanwalt bereits eine Belohnung für die Ergreifung der Mörder ausgesetzt. H AUPTMANN (ist anderswo.) Wieviel? (Stille) H ALEF Viel. H AUPTMANN Hast du Angst? H ALEF Ja. Ich hab Angst. H AUPTMANN So verschwind, feiges Vieh! H ALEF Zu Befehl! Ich lös mich selbst auf. Das würd ich an deiner Stelle auch tun. H AUPTMANN Halt das Maul! Noch bin ich nicht verreckt. Ich bin noch ich! H ALEF Hauptmann! Ich bin Soldat. Ich hasse diese Republik, aber ich schieße nicht sinnlos auf deutsche Soldaten. H AUPTMANN Das sind keine Soldaten, das sind Halunken! H ALEF Das sind Deutsche wie wir. H AUPTMANN Wenn das noch Deutsche sind, dann ist jeder Rote ein Deutscher! H ALEF Vielleicht! Vielleicht! (Stille) H AUPTMANN (nähert sich ihm langsam und schlägt ihn plötzlich vor die Brust, daß er zurücktaumelt.) (In der Ferne fällt ein Kanonenschuß.) H ALEF Jetzt ist Schluß! Ich war vier Jahre im Feld, der Krieg ist aus! Aus! Ich fall nicht für dich! Auf dem Felde deiner privaten Ehre! (Er flieht.) (In der Ferne fällt ein Kanonenschuß.) S LADEK Hauptmann! H AUPTMANN Was ist das?! (verwirrt) S LADEK Ich. H AUPTMANN Wer ist das: „Ich“? S LADEK Ich. (Er nähert sich.) Hauptmann, du bist ganz weiß. H AUPTMANN (lächelt böse.) So? S LADEK (blickt empor.) Was surrt da? Wie das surrt – (In der Nähe schlägt eine Granate ein.) H AUPTMANN Sie zielen hierher! Sie müssen mich treffen! Marsch, Sladek! Das gilt nur mir! Nur mir! S LADEK Mir auch. H AUPTMANN Nur mir! Nur mir! Wer bist denn du?! Nichts! Nichts! Marsch, Sladek! Marsch! S LADEK Ich hab keine Angst. In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht. Es surrt. H AUPTMANN Sie beschießen mich mit Artillerie! Nur mich! (In der Kiesgrube schlägt eine Granate ein.) H AUPTMANN (verschwindet im Pulverdampf.) S LADEK (bricht getroffen langsam in die Knie.) S CHMINKE (lacht.) S LADEK Du lachst –? Du lachst, wenn ich getroffen bin –?

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S CHMINKE (gewollt spöttisch) Du hast mich belehrt: Du darfst ja nichts zählen, sonst kommt das „Ganze“ nicht vom Flecke. Du hast mich belehrt. Ich danke dir. S LADEK Bitte. (Stille) S LADEK Es surrt. Immer nur für das Ganze geopfert werden – wo bleibt denn da der Sladek? S CHMINKE Ich lasse mich nicht mehr hindern. Hörst du? S LADEK Ja. S CHMINKE Du gehst mich nichts an. S LADEK Jetzt lügst du. S CHMINKE Meinst du? S LADEK Das ist nicht schön von dir. R EGULÄRE R EICHSWEHR (erscheint am oberen Rande der Kiesgrube.) D ER B UNDESSEKRETÄR (tritt vor.) Peter Schminke! Schminke! S CHMINKE Hier! D ER B UNDESSEKRETÄR (hält ihm ein Zeitungsblatt entgegen.) Sie behaupten in diesem Artikel, daß eine maßgebende Stelle der deutschen Republik entgegen unserer außenpolitischen Verpflichtungen heimlich Soldaten geworben und ausgebildet hat, die unter dem Kommando eines ehemaligen Hauptmanns eine sogenannte schwarze Reichswehr gebildet haben. Sie schreiben fernerhin, daß diese Truppen zum Schutze ihrer Existenz Selbstjustiz übten – Sie reden von Feme. Sie wagen die ungeheuerliche Behauptung, daß aus Angst vor Enthüllung Menschen zu Tode gemartert wurden und nicht nur verratsverdächtige, sondern auch vollkommen Unschuldige. Sie „enthüllen“ hier auch ein Verbrechen, einen nachgewiesenermaßen ganz gewöhnlichen Mord, nämlich den Fall Sladek. S CHMINKE (zu S LADEK ) Wagst du es zu leugnen, daß du es mir selbst erzählt hast, wie jene Bedauernswerte im sogenannten Interesse des sogenannten Vaterlands „hingerichtet“ wurde? S LADEK Das ist sehr kompliziert – D ER B UNDESSEKRETÄR Jener Sladek ist ein verkommenes Subjekt, das die mütterliche Liebe einer alternden Frau in egoistischer Weise ausnützte. Ein arbeitsscheuer Lump, ließ er sich aushalten und trieb sich mit ihren kleinen Ersparnissen, die er ihr aus dem Schranke stahl, mit Huren herum. Und weil sie das nicht mehr mitansehen wollte, hat er sie in bestialischer Weise ermordet. S LADEK (lauscht.) Es surrt. Es surrt – D ER B UNDESSEKRETÄR Ihr Artikel kann uns Wehrlosen nur schaden. Das ist Wasser auf die Mühle der gehässigsten feindlichen Propaganda. Sie hindern des Deutschen Reiches Wiedererstarkung, indem das Ausland kraft solcher Artikel an unserem aufrechten Verständigungswillen zweifelt. Es gab keine schwarze Reichswehr! Alle Ihre Behauptungen sind glatte Fälschungen! Landesverrat! Landesverrat! S CHMINKE Ich selbst sollte ermordet werden, weil ich der Republik dienen wollte! Daß Sie das als gerecht empfinden, darüber bin ich mir klar. D ER B UNDESSEKRETÄR Sie sind Pazifist? S CHMINKE Nein! D ER B UNDESSEKRETÄR Sie sind Terrorist? S CHMINKE Ich muß. S LADEK Das hab ich auch schon gehört. Das hab ich auch schon gehört –

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D ER B UNDESSEKRETÄR Sie bekämpfen den Staat an sich? S CHMINKE Ihren Staat! D ER B UNDESSEKRETÄR Es gibt nur einen Staat, und der wird sich zu schützen wissen! Auch der Wurm krümmt sich, wenn er getreten wird! S LADEK – auch der Wurm krümmt sich, wenn er getreten wird – (Er bricht ganz zusammen.) (Musik in der Ferne) D ER B UNDESSEKRETÄR Die furchtbaren Tage der Inflation haben wir nun gottlob überwunden. Das deutsche Volk befindet sich im kraftvollen Wiederaufstieg. Es hat Unglaubliches ertragen und Ungeheures vollbracht. S LADEK Ich bitte mich als Menschen zu betrachten und nicht als Zeit – (Er stirbt.) G ESANG (M ÄNNER, F RAUEN , K INDER ) Einigkeit und Recht und Freiheit Für des Deutschen Vaterland! Danach laßt uns alle streben Brüderlich mit Herz und Hand! Deutschland, Deutschland über alles Über alles in der Welt!

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Chronologisches Verzeichnis Konzeptionen Genetisches Material zu den beiden Fassungen von Sladek fehlt, es sind einzig die beiden Stammbücher aus dem Volksbühnen-Verlag überliefert, die deshalb K1 und K2 des Werkprojekts darstellen. Die beiden Endfassungen werden ergänzt um zwei Zeitschriftenabdrucke und vier handschriftliche Werkverzeichnisse, in denen Horváths Sladek erwähnt wird und die aus der Zeit nach der Fertigstellung der beiden Fassungen stammen.

Konzeption 1: Sladek oder: Die schwarze Armee D1 = Sladek oder: Die schwarze Armee. Historie in drei Akten (11 Bildern) (Exemplar in: ÖLA 3/90) Stammbuch der Volksbühnen-Verlags- und Vertriebs-G.m.b.H., Berlin 1928, Paginierung 6–102, hs. Eintragungen von fremder Hand mit blauer und schwarzer Tinte TS1 = Endfassung mit Werktitel „Sladek oder: Die schwarze Armee. Historie in drei Akten (11 Bildern) von Ödön Horváth“ (Grundschicht) Druck in: Horváth 1969, S. 5–79.

Die Arbeit Horváths an der ersten Fassung von Sladek, Sladek oder: Die schwarze Armee, dürfte sich auf die Zeit zwischen Frühjahr/Sommer 1927 und Mai 1928 erstreckt haben. Seine Beschäftigung mit der Problematik der Fememorde in der Weimarer Republik geht mindestens auf das Jahr 1927 zurück. Kontakte zur Deutschen Liga für Menschenrechte, die sich mit der Problematik auseinandersetzte, sind nachgewiesen (vgl. das Vorwort zu diesem Band). Die Fassung TS1, die fast doppelt so lang ist wie die zweite Fassung, Sladek, der schwarze Reichswehrmann K2/TS1, weist elf Bilder auf, die folgendermaßen lauten: „Das Ende einer Diskussion“, „Bei Anna“, „Im Weinhaus zur alten Liebe“, „Bei Anna“, „Im Hauptquartier der schwarzen Armee“, „Immer noch unter der Erde“, „Freies Feld“, „Die Justiz der Wiedererstarkung“, „Nordseehafen“, „Der Fall Sladek“ und „Rummelplatz“. Den elf Bildern ist eine Einteilung in drei Akte übergelagert, wobei der erste und der dritte Akt jeweils vier Bilder umfassen, der mittlere nur deren drei. Der Journalist heißt in TS1 noch Franz, in K2/TS1 wird er Schminke heißen, wie der Journalist in der Posse Rund um den Kongreß (1929), in dem Dramenfragment Ein Fräulein wird verkauft (1930) und in den frühen Konzeptionen (1 und 2) von Geschichten aus dem Wiener Wald (1931), zu denen Ein Fräulein wird verkauft die Vorarbeit 2 bildet (vgl. WA 3). Die Überarbeitungen von TS1 zu K2/TS1 betreffen vor allem die Gesamtanlage des Stückes. Einzelne Bilder von TS1 verschwinden in K2/TS1, die nur eine Einteilung in drei Akte enthält, und einzelne Repliken wandern nicht nur an unterschiedliche Positionen, sondern auch zu unterschiedlichen Figuren. Sladeks Flucht nach Nicaragua bzw. sein Herumtreiben auf dem „Rummelplatz“, die den Schluss von TS1 bilden, werden in K2/TS1 abgelöst durch den Tod Sladeks, der gemeinsam mit seinem Hauptmann fällt, eine Szene, die bereits das dritte Kapitel des Romans Ein Kind unserer Zeit (1938) vorwegnimmt (vgl. WA 16). Überhaupt scheint mit

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Chronologisches Verzeichnis

der Figur des Sladek die Figur des Soldaten in Ein Kind unserer Zeit vorgebildet. Die Gegenüberstellung zwischen Individuum und Staat, zwischen Einzelnem und Ganzem, die den Sladek, und zwar in beiden Fassungen, wesentlich prägt, bildet auch einen essentiellen Bestandteil des späteren Romans. Die Frage des selbstständigen Denkens durchzieht die Historie genauso wie den Roman. Die Figur der Anna Schramm wird im Roman zu „Anna, [der] Soldatenbraut“, die aber eine wesentlich geheimnisvollere Rolle in dem Text spielt als Sladeks Geliebte und Ersatzmutter Anna Schramm. Der „Rummelplatz“, einer der favorisierten Loci Horváths, findet sich ebenfalls in Ein Kind unserer Zeit, im zweiten Kapitel „Das verwunschene Schloss“. Außerdem bildet er in der Form des Oktoberfests den zentralen Schauplatz von Kasimir und Karoline (1932; vgl. WA 4) und tritt in der Form des Praters noch in Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit, einer Vorarbeit von Jugend ohne Gott (1937), prominent in Erscheinung (vgl. WA 15/VA2/TS1). Sladeks Flucht nach Nicaragua findet ihre Fortführung in der Südamerika-Thematik von Rund um den Kongreß und Ein Fräulein wird verkauft (vgl. WA 3). Eine genaue Gegenüberstellung der Veränderungen und Permutationen, die Horváth im Übergang von TS1 zu K2/TS1 vornimmt, findet sich in der Übersichtsgrafik Tab1 (vgl. S. 203–206). Unregelmäßige Zeichenabstände zwischen einzelnen Wörtern bzw. zwischen Wörtern und Satzzeichen wurden stillschweigend korrigiert. Apostrophe bei e-Apokopen wie „wär’s“ und „gibt’s“ bzw. bei den umfangssprachlichen Formen „hab“ oder „hätt“, die in dem Stammbuch inkonsequent gesetzt wurden, wurden gemäß Horváths Handhabung in den Typoskripten generell getilgt. Die in dem Stammbuch sehr unregelmäßig gesetzten Bindestriche wurden vereinheitlicht: ein oder zwei Bindestriche zu zwei Bindestrichen (ohne Leerzeichen), drei oder vier Bindestriche zu zwei doppelten Bindestrichen (mit Leerzeichen zwischen den Paaren), fünf und sechs Bindestriche zu drei doppelten Bindestrichen (mit Leerzeichen zwischen den Paaren). Die unregelmäßig gesetzten Punkte nach den Bindestrichen wurden so belassen, die Setzung der Leerzeichen vor und nach den Bindestrichen vereinheitlicht. Alle weiteren editorischen Eingriffe finden sich im kritischen Apparat vermerkt. Die Eintragungen von fremder Hand betreffen einerseits Tippfehler, andererseits dürfte es sich um Streichungen (Einklammerungen) handeln, die eine Lesung oder Aufführung des Stückes betrafen, die aber für die Erstellung der Fassung TS1 ohne Relevanz sind, weshalb auf einen Vermerk dieser Eingriffe verzichtet und die Grundschicht ediert wurde. D2 = Sladek oder die Schwarze Reichswehr TS2 = Prosaexposé mit Werktitel „Sladek oder die Schwarze Reichswehr. Von Ödön von Horváth“ (Grundschicht) Druck in: Horváth 1929a.

Bei TS2 handelt es sich um ein Prosaexposé Horváths zum Sladek, das er im Berliner Tageblatt veröffentlichte und in dem er in narrativer Form von der Figur des Sladek berichtet. Der Text ist im Rahmen eines Sammelartikels mit dem Titel Drei Autoren werden aggressiv … erschienen. Neben dem Prosaexposé Horváths wird darin ein Text von Hans Borchardt (eigentl. Hermann Joelsohn) (1888–1951) mit dem Titel Musik der nahen Zukunft sowie einer von Peter (eigentl. Joachim Friedrich) Martin Lampel (1894–1965) mit dem Titel Giftgas über Berlin abgedruckt. Bei den beiden Texten handelt es sich ebenfalls um Prosaexposés zu den Bühnenstücken der beiden Autoren.

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Konzeption 1

Die Musik der nahen Zukunft ist 1928 beim S. Fischer Verlag in Berlin erschienen. Das einzige überlieferte Exemplar dieses Stückes befindet sich an der University of Illinois in Urbana Champain (USA). Das Stück spielt im Schulmilieu und könnte eine Anregung für Horváths Jugend ohne Gott (1937; vgl. WA 15) gewesen sein. Seit 1925 arbeitete Borchardt an der kommunistischen satirischen Zeitschrift Der Knüppel mit, die Zeichnungen u.a. von Otto Dix, George Grosz und Rudolf Schlichter sowie Texte u.a. von Erich Mühsam, Kurt Tucholsky, Bertolt Brecht, Oskar Maria Graf, Richard Huelsenbeck und Alfred Polgar brachte (vgl. Joachim Kersten: Der Verlorene. In: Die Zeit, 26.2.2004). Borchardt machte 1943 mit dem zunächst auf Englisch erschienenen, mehr als tausendseitigen „Jahrhundertroman“ The Conspiracy of the Carpenters (dt. 2005 erstmals ungekürzt unter dem Titel Die Verschwörung der Zimmerleute im Bonner Weidle Verlag erschienen) in der Exil-Welt Furore (vgl. Kersten 2004). Brecht bezeichnete Borchardt als „de[n] größte[n] lebende[n] Satiriker deutscher Sprache“ (zit. n. ebd.). Hans Sahl schreibt über Borchardts Roman: „Zwei feindliche Ideologien treten zum Kampf an: die eine, die den Menschen zum ‚Objekt‘ der Geschichte erklärt und somit entmündigt, und die andere, die ihm die Würde des Individuums, das frei über sein eigenes Schicksal entscheidet, erhalten bzw. zurückgeben will.“ (zit. n. ebd.) Der Roman kann in diesem Sinne als Zeugnis des „ewigen Kampfes zwischen Kollektivismus und Individualismus“ (TS2) gewertet werden, der auch Horváths Sladek antreibt. Bertolt Brecht notiert am 30. September 1943 in sein Amerika-Journal über Borchardts Roman: „Ich konstatiere bei den Emigranten heftigen Abscheu, das Werk sei konfus, religiös, reaktionär, eine Schande. Nun ist Borchardt, bösartig wie viele Moralisten, ein abgründiger Provokateur, Übertreiber von Beruf als Satiriker usw. usw. Jedoch ist nicht zu vergessen, daß seine Werke turmhoch über denen der Werfels und Konsorten stehen, da sie mit Schärfe und Leidenschaft die sozialen Kämpfe unserer Zeit behandeln.“ (zit. n. ebd.) Und George Grosz schreibt in seiner Autobiografie Ein kleines Ja und ein großes Nein über Borchardt: „In Deutschland, da lebte ein kleiner Mann, / Borchardthans so hieß er, / Den stellten sie als Lehrer an, / Er lebte wie ein Spießer. / Doch im Geheimen in seiner Kammer / Beschrieb er der Menschheit ganzen Jammer.“ (zit. n. ebd.) Lampel begann als Schriftsteller mit der Aufarbeitung seiner Kriegs- und Nachkriegserlebnisse in Heereszeppeline im Angriff (1917) und Bombenflieger (1918). 1920 erschien sein Roman Wie Leutnant Jürgens Stellung suchte (Untertitel: Ein Filmroman aus den Spartakustagen) bei Langenscheidt in Berlin. 1929 veröffentlichte er den Roman Verratene Jungen, der den Küstriner Putsch der Reichswehr behandelt, also thematisch mit dem Sladek verwandt ist. Sein Stück Giftgas in Berlin erschien 1929. Das Stück basiert auf realen Geschehnissen: einerseits die geheime Aufrüstung der Reichswehr unter General von Seeckt und andererseits ein Giftgasunfall in einer Hamburger Firma, bei der acht Menschen ums Leben kamen. Vordergründig handelt das Stück von dem Erfinder Arnold Horn, der eine chemische Verbindung entdeckt, die sowohl als Düngemittel als auch als Giftgas verwendet werden kann. Gegen seinen Willen geht das Giftgas in Produktion. Nachdem Horn mit einem der Firmenchefs in Streit gerät, schießt dieser auf ihn, trifft aber einen Behälter, in dem das Giftgas enthalten ist, wodurch dieses austritt und die ganze Stadt vergiftet. Am Schluss des Filmes erheben sich die Toten des Ersten Weltkriegs aus ihren Gräbern und prangern den Einsatz von Giftgas an. Das Stück wurde im selben Jahr unter dem Titel Giftgas von Michail Dubson mit Hans Stüwe (als Arnold Horn) und Fritz Kortner (als Konzernpräsident ten Straaten) verfilmt. Die Produktion des Filmes wurde von der Deut-

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Chronologisches Verzeichnis

schen Liga für Menschenrechte gefördert, zu der auch Horváth Kontakte hatte und von der er wesentliche Anregungen für sein Stück Sladek bezog (vgl. das Vorwort zu diesem Band). An der Inszenierung des Schlussbildes war der russische Regisseur Sergej Eisenstein beteiligt. Der Film wurde in der Weltbühne und in der Frankfurter Zeitung (durch Siegfried Kracauer) als kapitalistisches Machwerk kritisiert. In ihm werde die ernste und hochpolitische Thematik kolportageartig und melodramatisch verkitscht. Kracauer polemisierte: „Wenn irgendein Film, so veranschaulicht uns dieser, welche Giftgase sich in unserer Filmproduktion entwickeln.“ (in: Frankfurter Zeitung, 27.11.1929) TS2 stellt eine Art Synopse des Schauspiels Sladek oder: Die schwarze Armee dar, wobei Horváth in seinem Text den Titel etwas abwandelt, nämlich zu: „Sladek oder die Schwarze Reichswehr“, der schon auf K2 vorausweist. Inhaltlich handelt es sich jedoch im Wesentlichen um eine Zusammenfassung dessen, was in TS1 passiert, etwa mit dem Hinweis auf den Fememord und Sladeks Begnadigung, die er selbst in TS1 mit dem Satz: „Man hat unter mich einen Schlussstrich gezogen“ (TS2 und TS1/SB Volksbühne 1928, S. 101) kommentiert. Dieser Satz bildet eine der letzten Repliken von TS1, kommt aber in K2/TS1 nicht mehr vor. Auch der Hinweis auf die „neue Generation“, die den „Plan“ „betritt“ und den Krieg nur noch aus „amerikanischen Filmen“ (TS2) kenne, bezieht sich eindeutig auf die Fassung in elf Bildern, im Speziellen auf das elfte und letzte Bild „Rummelplatz“, in dem Sladek mit Lotte ins Gespräch kommt und Lotte u.a. von einem „amerikanische[n] Film“ über den Weltkrieg erzählt (vgl. TS1/SB Volksbühne 1928, S. 99). Bereits auf K2 verweist indes die Bemerkung, dass Sladek „in den Tagen der Wiedererstarkung nach der Inflation“ (TS2) stirbt. Der in dem Text erwähnte Carl Mertens (1902–1932; zum „Jahrgang 1902“ vgl. das Gespräch Horváths mit der Berliner Abendzeitung Tempo im Vorwort dieses Bandes) war als ehemaliger Offizier der Reichswehr radikaler Pazifist und Verfasser einiger anonym erschienener Artikel, die 1925 in der Zeitschrift Die Weltbühne veröffentlicht wurden und über die Fememorde und die schwarze Reichswehr berichteten. Die gesammelten Aufsätze wurden 1926 als Buch unter dem Titel Verschwörer und Fememörder und unter seinem Autorennamen publiziert. Glaubt man TS2, hat sich Mertens in einem Brief an den Verfasser des Sladek gewandt, aus dem Horváth zu zitieren scheint. Da ein solcher Brief nicht überliefert ist, muss seine Existenz zumindest angezweifelt werden. Möglicherweise handelt es sich dabei um eine schlichte Erfindung Horváths, die eine gewollte Nähe zur Aufdeckung der Fememorde durch die Weltbühne herstellt. Möglicherweise stellt Mertens eines der Vorbilder für den Journalisten Franz in K1/TS1 bzw. Schminke in K2/TS1 dar. Bemerkenswert scheinen die Schlusszeilen von TS2, in denen Horváth schreibt: „Ich behandelte das historische Material nicht als Reportage, sondern ich versuchte auf dem Hintergrunde dieses Zeitbildes Stationen des ewigen Kampfes zwischen Individualismus und Kollektivismus, Egoismus und Altruismus, Internationalismus und Nationalismus, diesem Totengräber der Völker, zu gestalten.“ Horváth wird diese Themen in Italienische Nacht und Der ewige Spießer (beide 1930), aber auch in Ein Kind unserer Zeit (1938) wieder aufgreifen. Den drei Prosaexposés ist ein Vor- bzw. Geleitwort des bekannten Theater- und Filmregisseurs Leopold Jessner (1878–1945), einer der prägenden Figuren des Theaters der Weimarer Republik und Schöpfer der berühmten „Jessner’schen Treppe“, vorangestellt. Hier heißt es: „Es ist begrüssenswert, wenn auch die ‚aggressiven‘ Stoffgebiete der Gegenwart für das Theater fruchtbar gemacht werden. Denn

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Konzeption 2

das Publikum ist durch Reaktionen, die sich aus politischen Bewegungen ergeben haben, zum grossen Teil konservativer geworden. Diese Widerstrebenden für die Sache, um die es geht, zu gewinnen, genügt aber nicht nur die Wirklichkeitskraft eines dokumentarischen Inhaltes. Dieser Inhalt muss zugleich seine zwingende Gestaltung erfahren. Gewiss nicht nach aristotelischen oder Gustav Freytagschen Rezepten. Jede Zeit mag ihre eigenen dramaturgischen Gesetze bestimmen. Aber diese Gesetze – wie auch immer beschaffen – müssen spürbar werden. Nur so kann diese literarische Tendenz aus dem Verruf einer blossen Sensation gerettet werden.“ D3 = Sladek, der schwarze Reichswehrmann. Historie aus dem Zeitalter der Inflation TS3 = fragm. Fassung mit Werktitel „Sladek, der schwarze Reichswehrmann. Historie aus dem Zeitalter der Inflation. Drei Szenen aus dem ersten Akt“ (nicht gedruckt; textident mit TS1) Druck in: Horváth 1929b.

Bei der vorliegenden Fassung TS3 handelt es sich um einen Abdruck des zweiten, dritten und vierten Bildes des ersten Aktes der Fassung TS1 in der Berliner Zeitschrift Das Theater. Horváth ändert für diesen Abdruck bereits Titel und Untertitel des Stückes gemäß K2, lässt aber die drei Bilder gegenüber TS1 unverändert, weshalb auf einen Abdruck von TS3 verzichtet wurde. Da Horváth also im Februar 1929 noch Bilder von TS1 abdruckt, mit dem Hinweis in der Zeitschrift, dass es sich dabei um Szenen aus dem jüngsten Stück des Autors handelt, kann davon ausgegangen werden, dass er mit der Umarbeitung der Fassung TS1 zu K2/TS1 noch nicht begonnen hatte, was für die Entstehungszeit von K2/TS1 die Zeit von Frühjahr bis Sommer 1929 als wahrscheinlich erscheinen lässt.

Konzeption 2: Sladek, der schwarze Reichswehrmann D1 = Sladek, der schwarze Reichswehrmann. Historie aus dem Zeitalter der Inflation in drei Akten (Exemplar in: ÖLA 3/90) Stammbuch der Volksbühnen-Verlags- und Vertriebs-G.m.b.H., Berlin 1929, Paginierung 1–55, hs. Eintragungen von fremder Hand mit Bleistift TS1 = Endfassung mit Werktitel „Sladek, der schwarze Reichswehrmann. Historie aus dem Zeitalter der Inflation in drei Akten von Ödön Horváth“ (Grundschicht) Druck in: Horváth 1967b.

Noch im Februar 1929 veröffentlicht Horváth Teile aus der ersten Fassung von Sladek in der Zeitschrift Das Theater (vgl. K1/TS3). Dies kann als Hinweis darauf gewertet werden, dass der Autor zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit der Umarbeitung seines Dramas begonnen hatte. Allerdings erscheinen die drei Bilder aus der ersten Fassung bereits unter dem Titel der zweiten Fassung, nämlich Sladek, der schwarze Reichswehrmann. Deshalb ist anzunehmen, dass Horváth etwa zum Zeitpunkt des Erscheinens von K1/TS3 mit der Überarbeitung seiner „Historie“ begann. Die Überarbeitung dürfte sich nur über eine relativ kurze Zeitspanne, etwa von Frühjahr bis Sommer 1929, erstreckt haben, sodass die zweite Fassung von Sladek K2/TS1, Sladek, der schwarze Reichswehrmann, noch im Jahr 1929 im Volksbühnen-Verlag als Stammbuch vervielfältigt werden konnte.

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Chronologisches Verzeichnis

Die Fassung K2/TS1 ist nur etwa halb so lang wie die Fassung K1/TS1. Horváth nimmt im Übergang von K1 zu K2 eine Reihe von Veränderungen und Permutationen vor; aus den elf Bildern und drei Akten von K1/TS1 werden drei Akte in K2/TS1, ohne dass diesen eine Einteilung in Bildern unterlegt wäre. Die drei Akte lauten „Strasse“, „Im Weinhaus zur alten Liebe“ und „Kiesgrube“ und nehmen damit nur mit dem Titel des Mittelakts einen Bildtitel von K1/TS1 auf. Auch das Figureninventar ist gegenüber K1/TS1 um fast die Hälfte verringert, der Journalist Franz von K1/TS1 heißt hier Schminke (vgl. dazu den Kommentar zu K1/TS1). Krischke vermutet, dass die Reduktion der Figuren und Schauplätze mit den beschränkten Möglichkeiten der „Aktuellen Bühne“ des Lessingtheaters in Berlin, an dem das Stück uraufgeführt wurde, zusammenhängen könnte, oder aber dass politische Entwicklungen Horváth zur Umarbeitung seines Stückes motiviert hatten (vgl. KW 2, S. 147 und das Vorwort in diesem Band, S. 5f.). Horváth ändert neben dem bisher Erwähnten vor allem den Schluss des Stückes, der in K1/TS1 am Rummelplatz lokalisiert ist und den amnestierten Sladek zeigt, der auf dem Weg ist, sich nach Nicaragua abzusetzen und noch ein letztes Mal mit der Polizei in Konflikt gerät, während die Handlung in K2/TS1 für Sladek tragischer, weil letal endet. Horváths Kürzungen betreffen einerseits einzelne Dialoge, andererseits vor allem den dritten Akt von K1/TS1, der in K2/TS1 fast keine Entsprechung hat. Einzig aus dem achten Bild „Die Justiz der Wiedererstarkung“ von K1/TS1 gehen Teile und aus dem zehnten Bild „Der Fall Sladek“ eine einzige Replik in K2/TS1 ein. Einen genauen Überblick über die Transformationen, die Horváth im Übergang von K1 zu K2 vornimmt, bietet die Übersichtsgrafik Tab1 (vgl. S. 203–206). Bei der Erstellung von TS1 wurden unregelmäßige Zeichenabstände zwischen einzelnen Wörtern bzw. zwischen Wörtern und Satzzeichen stillschweigend korrigiert. Apostrophe bei e-Apokopen wie „wär’s“ und „gibt’s“ bzw. bei den umgangssprachlichen Formen „hab“ oder „hätt“, die in dem Stammbuch inkonsequent gesetzt wurden, wurden gemäß Horváths Handhabung in den Typoskripten generell getilgt. Die in dem Stammbuch sehr unregelmäßig gesetzten Bindestriche wurden vereinheitlicht: ein oder zwei Bindestriche zu zwei Bindestrichen (ohne Leerzeichen), drei oder vier Bindestriche zu zwei doppelten Bindestrichen (mit Leerzeichen zwischen den Paaren), fünf und sechs Bindestriche zu drei doppelten Bindestrichen (mit Leerzeichen zwischen den Paaren). Die unregelmäßig gesetzten Punkte nach den Bindestrichen wurden so belassen, die Setzung der Leerzeichen vor und nach den Bindestrichen vereinheitlicht. Alle weiteren editorischen Eingriffe finden sich im kritischen Apparat vermerkt. H1 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 8v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte E1 = Werkverzeichnis

Das Notizbuch Nr. 6 hat Horváth im Zuge der Arbeit an Vorstufen zum Roman Der ewige Spießer verwendet, und zwar während seiner Fahrt zur Weltausstellung in Barcelona im September 1929 und danach bis Dezember 1929, also bereits nach Fertigstellung und Drucklegung seines Dramas Sladek, der schwarze Reichswehrmann (TS1), das wahrscheinlich im Sommer 1929 gedruckt wurde. Die im Notizbuch Nr. 6 enthaltenen Entwürfe zum Roman Der ewige Spießer gehören zu dessen K3, Herr Kobler wird Paneuropäer (vgl. WA 14). Auf dem vorliegenden Blatt notiert Horváth ein Werk-

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Konzeption 2

verzeichnis E1, das folgende Titel enthält: „Die Bergbahn“, „Sladek, der schwarze Reichswehrmann“ und „Rund um den Kongress“, wobei er die ersten beiden mit dem Aufführungsort versieht: Zu Die Bergbahn notiert er „Hamburger Kammerspiele; Volksbühne“ und zu Sladek „Lessingtheater“. Die Uraufführung von Revolte auf Côte 3018 (1927), der ersten Fassung von Die Bergbahn (1927/28), fand am 4. November 1927 in den Hamburger Kammerspielen statt. Die Bergbahn selbst wurde am 4. Jänner 1929 an der Berliner Volksbühne uraufgeführt. Die Uraufführung des Schauspiels Sladek, der schwarze Reichswehrmann (1929) fand am 13. Oktober 1929 als Matinee des Lessingtheaters Berlin durch die „Aktuelle Bühne“ statt (vgl. das Vorwort in diesem Band, S. 9–13). Das vorliegende Werkverzeichnis E1 dürfte kurz davor entstanden sein. Die Uraufführung der Posse Rund um den Kongreß (1929) fand erst am 5. März 1959 im Theater am Belvedere in Wien statt. Horváth notiert sich immer wieder solche Werkverzeichnisse, eine Besonderheit des vorliegenden ist jedoch die Hinzufügung von Aufführungsorten. H2 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 11 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte E2 = Werkverzeichnis (oben und mittig) Druck in: WA 14, S. 312f.

In E2, der sich ebenfalls im Notizbuch Nr. 6 befindet (vgl. den Kommentar zu E1), notiert Horváth zuoberst den Titel „Sladek, der schwarze Reichswehrmann“, darunter „Die Bergbahn“, „Rund um den Kongress“, „Herr Reithofer wird selbstlos“ und „Der europäische Spiessbürger“. Ein Teil der erwähnten Werkprojekte – Sladek, Bergbahn und Kongreß – ist zu diesem Zeitpunkt schon fertig, die beiden Romanprojekte „Herr Reithofer wird selbstlos“ und „Der europäische Spiessbürger“ sind jedoch noch in Arbeit und werden von Horváth in E2 noch als getrennte Werkprojekte betrachtet (vgl. dazu den Kommentar zu WA 14/K3/E7). Bei dem auf dem Blatt unten befindlichen Entwurf WA 14/K3/E8 handelt es sich um einen Strukturplan zum ersten Kapitel des Romans „Der europäische Spiessbürger“ (später: Herr Kobler wird Paneuropäer), das in der Münchener Schellingstraße angesiedelt sein soll. Etwa zeitgleich mit dem vorliegenden Entwurf dürfte auch eine Textstufe entstanden sein, die Horváth zu dem Werkprojekt Ein Wochenendspiel / Italienische Nacht bzw. Der Schlemihl ausarbeitet und die sich im zweiten Teil des vorliegenden Bandes abgedruckt findet (Italienische Nacht/K3/TS1). Dort setzt Horváth die Figur Fritz, den Bruder Lenis, mit Sladek gleich und verweist damit wahrscheinlich auf ähnliche ideologische Ansichten (vgl. den Kommentar dort). H3 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 4v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E3 = Werkverzeichnis (oben und mittig; nicht gedruckt) Druck in: WA 14, S. 454f.

Das Notizbuch Nr. 3 (ÖLA 3/W 364) enthält Entwürfe zum Roman Der ewige Spießer, zu dem Hörspiel Stunde der Liebe (beide 1930) und die frühesten Entwürfe zu dem Werkprojekt Ein Wochenendspiel (vgl. den Kommentar zu Italienische Nacht/K1/E1). Bei E3 handelt es sich um ein Werkverzeichnis, das wahrscheinlich im Frühjahr 1930

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Chronologisches Verzeichnis

entstanden ist. Horváth vermischt darin bereits ausgearbeitete und erst in Planung befindliche Werkprojekte. In einem ersten Werkverzeichnis (vgl. WA 14/K4/E2), das der Autor wohl unmittelbar nach der Niederschrift wieder gestrichen hat, erwähnt er den Roman „Der ewige Spießer“ und unter „Dramatische Skizzen“ „Die Bergbahn / Historie vom Schwarzen Reichswehrmann / Stunde der Liebe 1930 / Rund um den Kongress“. Darunter notiert er ein ähnliches Werkverzeichnis mit der Abfolge: „Der ewige Spiesser / Roman“ und „Dramatische Skizzen“: „Die Bergbahn / Historie vom Schwarzen Reichswehr{mann} / Rund um den Kongress / Stunde der Liebe 1930“, die überdies vom Autor mit den Jahreszahlen 1926, 1927, 1929 und 1930 versehen werden. Zuletzt notiert Horváth den Titel „Ein Wochenendspiel“ mit dem Zusatz „in drei Akten“. Es handelt sich dabei um die erste Erwähnung dieses Titels (vgl. Italienische Nacht/K1/E1). Aus der Perspektive der Werkgenese von Sladek ist bemerkenswert, dass der Autor den Titel des bereits fertigen Dramas in der sonst nicht vorkommenden Form „Historie vom Schwarzen Reichswehrmann“ anführt, die eine Kompilation von Titel und Untertitel von K2 darstellt. H4 = IN 221.001/4 – BS 45 a [4], Bl. 7 1 Blatt kariertes Papier (208 × 150 mm), (Handelsregister), unregelmäßig gerissen, schwarzblaue Tinte E4 = gestrichenes Werkverzeichnis (oben) Druck in: WA 4, S. 110f.

Das vorliegende Blatt ist Teil der Werkgenese des Volksstücks Kasimir und Karoline (K2, Kasimir und Karoline in sieben Bildern – Emil Wegmann, vgl. WA 4/K2/E27 und E28) und ist wahrscheinlich auf den Winter 1931/32 bzw. das Frühjahr 1932 zu datieren. Horváth notiert darauf ein Werkverzeichnis E4, das folgendermaßen aussieht: Unter der Kategorie „Prosa und frühe dramatische Arbeiten“ vermerkt der Autor „Der ewige Spiesser“, „Norden“, „Bergbahn“ und „Sladek“, unter der Kategorie „Volksstücke: „Italienische Nacht“, „Geschichten aus dem Wiener Wald“, „Kasimir und Karoline“ und „Die Kleinen, die man hängt“. Zuletzt nennt er auch noch unter „Zauberpossen“ „Himmelwärts“ und versieht diesen Eintrag mit der Bemerkung „usw.“. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Blattes waren nicht alle der erwähnten Stücke abgeschlossen. Wie so oft vermischt Horváth in dem Werkverzeichnis abgeschlossene und in Arbeit bzw. – im Falle der Zauberposse Himmelwärts – sogar erst in Planung befindliche Werkprojekte. Bei „Norden“ handelt es sich um ein bis heute der Forschung Rätsel aufgebendes Werkprojekt, das der Autor vielleicht gar nie begonnen und schon gar nicht vollendet hat und zu dem es kein überliefertes genetisches Material gibt. Horváth streicht schließlich E4, um darunter den Entwurf WA 4/K2/E28 einzutragen, der eine Dialogskizze zum vierten Bild von Kasimir und Karoline in sieben Bildern (K2) enthält. Emil Wegmann erklärt darin Karoline, dass sich das ganze Leben in Prozenten ausdrücken lasse – eine Idee, die der Autor bereits in WA 4/K1/E1, TS5 und K2/E26 entwickelt hatte.

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Endfassungen, emendiert

Sladek oder: Die schwarze Armee. Historie in drei Akten (Endfassung, emendiert) Grundlage der emendierten Endfassung von Sladek oder: Die schwarze Armee bildet die Stammbuch-Fassung des Volksbühnen-Verlags von 1928 (K1/D1). Die emendierte Fassung folgt den Rechtschreibregeln der Entstehungszeit des Stückes (Duden 1929). Sämtliche im Kommentar sowie im kritisch-genetischen Apparat ausgewiesenen Herausgebereingriffe wurden umgesetzt. Alle weiteren Normalisierungen finden sich in den Editionsprinzipien im Anhang dieses Bandes aufgelistet (vgl. S. 584).

Sladek, der schwarze Reichswehrmann. Historie aus dem Zeitalter der Inflation in drei Akten (Endfassung, emendiert) Grundlage der emendierten Endfassung von Sladek, der schwarze Reichswehrmann bildet die Stammbuch-Fassung des Volksbühnen-Verlags von 1929 (K2/D1). Die emendierte Fassung folgt den Rechtschreibregeln der Entstehungszeit des Stückes (Duden 1929). Sämtliche im Kommentar sowie im kritisch-genetischen Apparat ausgewiesenen Herausgebereingriffe wurden umgesetzt. Alle weiteren Normalisierungen finden sich in den Editionsprinzipien im Anhang dieses Bandes aufgelistet (vgl. S. 584).

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Chronologisches Verzeichnis

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Übersichtsgrafik

Tab1: Sladek

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Tab1: Textvergleich K1/TS1 und K2/TS1

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Tab1: Textvergleich K1/TS1 und K2/TS1

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Tab1: Textvergleich K1/TS1 und K2/TS1

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Ödön von Horváth

Ein Wochenendspiel Italienische Nacht

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Vorwort

Vorwort Ein Wochenendspiel / Italienische Nacht Uraufführung: Italienische Nacht am 20. März 1931 im Theater am Schiffbauerdamm in Berlin (Regie: Francesco von Mendelssohn). Ein Wochenendspiel wurde bis heute nicht aufgeführt. Dauer der Schreibarbeiten: von September 1929 bis Juni 1931, wobei die Vorarbeit Wochenend am Staffelsee auf Oktober/November 1929 zurückgeht; die Konzeptionen 1–3 Ein Wochenendspiel dürften zwischen März und November 1930 entstanden sein, die Konzeptionen 4 und 5 Italienische Nacht zwischen Dezember 1930 und spätestens Juni 1931. Umfang des genetischen Materials: 224 Blatt an Entwürfen und Textstufen, wobei 7 Blatt auf die Vorarbeit Wochenend am Staffelsee, 85 Blatt auf Ein Wochenendspiel (Konzeptionen 1–3) und 132 Blatt auf Italienische Nacht (Konzeptionen 4 und 5) entfallen. Erstdruck von Ein Wochenendspiel in: Ödön von Horváth: Italienische Nacht. Ein Wochenendspiel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974 (= Bibliothek Suhrkamp, Bd. 410), S. 63–107. Erstdruck von Italienische Nacht in: Ödön von Horváth: Italienische Nacht. Volksstück. Berlin: Propyläen Verlag 1931 (mit Copyright: Arcadia Verlag 1930).

Datierung und Druck Bereits seit dem 11. Jänner 1929 stand Ödön von Horváth beim Ullstein Verlag unter Vertrag und bezog regelmäßige Pränumerando-Zahlungen von 300 Reichsmark monatlich. In einem Schreiben vom 18. Jänner 1930 bestätigt der Ullstein Verlag die Verlängerung der vertraglichen Bindung des Autors an den Verlag „um weitere sechs Monate“.1 Dafür verpflichtet sich der Autor zum Vorlegen eines Werkes bis zum 15. Juni desselben Jahres. Diese Vereinbarung dürfte Horváth eingehalten haben, denn bereits am 14. April 1930 wurde der Roman Der ewige Spießer vom Propyläen Verlag, der zum Ullstein-Konzern gehörte, zum Druck angenommen.2 Das Buch wurde im Oktober 1930 ausgeliefert. Am 22. März 1930 schreibt Horváth an Hans Ludwig Held, den Leiter der Münchener Stadtbibliothek:

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Brief des Ullstein Buchverlags an Ödön von Horváth vom 18. Jänner 1930, zitiert nach dem masch. Original im Ullstein-Vertragsarchiv (Berlin), ohne Signatur. Vgl. den Brief des Ullstein Buchverlags an Ödön von Horváth vom 14. April 1930, masch. Original im Ullstein-Vertragsarchiv (Berlin), ohne Signatur.

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Vorwort

Natürlich bin ich sehr bereit, für Ihre Sammlung, über die ich schon viel las und hörte, ein Manuscript zu übersenden, aber leider habe ich eben die üble Angewohnheit, meine Manuscripte, sobald sie in irgendeiner Form vervielfältigt vorliegen, zu verbrennen. Ich verspreche es Ihnen aber, sehr verehrter Herr Held, das Manuscript meines nächsten Stückes – – das ich ungefähr Mitte Juni beendet haben werde – – nicht zu verbrennen, sondern es Ihnen sobald als möglich zukommen zu lassen. Und ich würde mich sehr freuen, wenn es Sie interessieren könnte.3

Wahrscheinlich ist mit dem im Brief genannten Stück Ein Wochenendspiel gemeint, an dem Horváth etwa seit März 1930 arbeitete. Die Vorarbeit Wochenend am Staffelsee geht allerdings bereits auf Oktober/November 1929 zurück.4 In der Folge dürfte Horváth jedoch von Der ewige Spießer bis März/April 1930 kräftemäßig derart beansprucht worden sein, dass er die Arbeit an dem dramatischen Werkprojekt auf Eis legen musste. Erst im Frühjahr 1930 nahm er sie wieder auf. Allerdings scheint es unwahrscheinlich, dass er bis Mitte Juni mit der Endfassung von Ein Wochenendspiel (K3/TS3) wirklich fertig wurde. Ein brieflicher Vertrag des Ullstein Buchverlags mit Ödön von Horváth bestätigt vielmehr die Annahme des Stückes erst für den 18. November 1930: Wir bestätigen, daß wir Ihr satyrisches Volksstück „Wochenendspiel“ auf Grund der im Vertrage vom 11. Januar 1929 niedergelegten Bedingungen annehmen und den Bühnenvertrieb durch die Arcadia Verlag G.m.b.H. besorgen werden.5

Das Manuskript der Endfassung von Ein Wochenendspiel (K3/TS3) dürfte nicht in der Münchener Stadtbibliothek gelandet sein. Jedenfalls ist dort kein solches vorhanden.6 Das im Nachlass Horváth (ÖLA 3/90) überlieferte Manuskript mit der Signatur ÖLA 3/W 4 – BS 32 a [2] umfasst 54 Blatt, von denen jedoch nur die ersten beiden Blätter mit Titel und Personenverzeichnis Original-Typoskripte sind; bei den restlichen 52 Blatt handelt es sich um Durchschläge.7 Das Typoskript weist zahlreiche Korrekturen auf, die aus der Hand des Autors stammen.8 Bei dem Typoskript, das Horváth im November 1930 dem Ullstein Verlag vorgelegt hatte, könnte es sich jedoch bereits um die erste Endfassung von Italienische Nacht gehandelt haben, die die Grundlage für die Stammbuch-Fassung K4/TS2 bildete. Wann und warum der Titel des Stückes geändert wurde, lässt sich nicht mehr eruieren, da dafür keine relevanten Materialien wie Entwürfe, Briefe oder Vertragsabschriften vorhanden sind. Der Titel Ein Wochenendspiel geht noch auf die VA Wochenend am Staffelsee zurück, in der das zentrale Ereignis des Stückes ja ein Eishockeyspiel hätte 3

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Brief Ödön von Horváths an Hans Ludwig Held vom 22. März 1930, zitiert nach dem hs. Original in der Monacensia (München), Signatur A/I 2. Vgl. dazu die genauen Ausführungen im folgenden Abschnitt „Das genetische Konvolut und seine Chronologie“. Brief des Ullstein Buchverlags an Ödön von Horváth vom 18. November 1930, zitiert nach dem masch. Original im Ullstein-Vertragsarchiv (Berlin), ohne Signatur. Vgl. auch den Brief Ödön von Horváths an Hans Ludwig Held vom 6. Juni 1932 (Monacensia München, Signatur A I/1 ), in dem er neuerlich ein Manuskript verspricht und sich gewissermaßen dafür entschuldigt, dass er noch keines an die Monacensia geschickt hat. Tatsächlich versandt hat er auch dieses Mal keines. Vgl. auch KW 3, S. 160. Vgl. auch KW 3, S. 9–59; Traugott Krischke gibt als Textgrundlage „das von Ödön von Horváth handschriftlich korrigierte 54seitige Typoskript“ an, womit wahrscheinlich K3/T1/BS 32 a [2], Bl. 1–54 gemeint ist, welches die Basis für die Erstellung von K3/TS3 bildete.

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Vorwort

sein sollen.9 Das zentrale Spiel wird jedoch im Laufe der Werkgenese in K1 durch ein „Festspie[l]“ bzw. „Stiftungsfest“ (erstmals in K1/TS1/ÖLA 3/W 364, Bl. 14), in K2 durch ein „Fest“ (erstmals in K2/E1) und schließlich in K3 durch die „italienische Nacht“ (erstmals in K3/E1/BS 12 c, Bl. 11) ersetzt. Somit wurde der alte Titel obsolet und entweder von Horváth selbst oder von einem Verlagslektor schließlich geändert. Warum Horváth überhaupt die Fassung in sechs Bildern von Ein Wochenendspiel zu jener in sieben Bildern von Italienische Nacht umgearbeitet hat, darüber kann nur spekuliert werden. Möglicherweise hatte der Autor dem Verlag im November 1930 tatsächlich noch die Endfassung von Ein Wochenendspiel vorgelegt, die dann aber nicht in Druck gegangen ist, weil der Autor, ähnlich wie bei Der ewige Spießer bzw. dessen Vorstufen Sechsunddreißig Stunden bzw. Herr Reithofer wird selbstlos und Herr Kobler wird Paneuropäer, das Werkprojekt noch einmal umarbeiten wollte. Die Überarbeitung von Ein Wochenendspiel zu Italienische Nacht wäre in diesem Fall noch vor der Drucklegung des Ersteren vor sich gegangen. Vielleicht lag dem Verlag jedoch bereits im November 1930 die erste Fassung in sieben Bildern (K4/TS2) vor, deren Titel vor der Drucklegung noch geändert wurde. Mit der maschinenschriftlichen Vervielfältigung von Italienische Nacht als Stammbuch des Arcadia Verlags ist so erst für Dezember 1930 oder Jänner 1931 auszugehen. Das Einreichmanuskript für dieses Stammbuch ist leider nicht mehr vorhanden. Bereits am 11. Dezember 1930 meldete das Berliner Tageblatt: „Ödön Horváth hat ein neues Stück unter dem Titel ‚Italienische Nacht‘ vollendet.“10 Spätestens zu diesem Zeitpunkt trug das Stück also den neuen Titel. Am 18. Jänner 1931 ist am selben Ort zu lesen: „,Italienische Nacht‘, ein Volksstück von Oedön Horvath, wurde vom Theater am Schiffbauerdamm zur Uraufführung erworben.“11 Die Probenarbeiten für die Uraufführung können also für die Monate Februar und März 1931 angenommen werden. Zu diesem Zeitpunkt war nicht nur das Stammbuch des Arcadia Verlags, die erste Fassung von Italienische Nacht (K4/TS2), mit Sicherheit schon fertig, sondern ein weiteres Typoskript, das die überarbeitete Fassung in sieben Bildern enthalten haben musste, die vermutlich die Grundlage nicht nur für die Uraufführung, sondern auch für die Propyläen-Fassung K5/TS4 bildete. Horváth hat jedoch während der Probenarbeiten noch einmal kräftig an seinem Stück gefeilt und Teile davon umgeschrieben; dies betrifft vor allem das dritte und das siebente Bild des Stückes. Einige Manuskripte und Typoskripte, die sich im Nachlass Horváth (ÖLA 3/90) am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek erhalten haben, bezeugen dies.12 Am 19. März 1931, einen Tag vor der Uraufführung von Italienische Nacht, bestätigte der Ullstein Verlag Horváth neuerlich die Verlängerung seines Vertrags, verbunden mit einer Erhöhung seiner Pränumerando-Zahlungen auf 500 RM monatlich, solange der Autor sich in Berlin aufhielt.13 Nach der äußerst 9

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Zur Bedeutung des Eishockeyspiels für die VA und den Bezug zum Roman Der ewige Spießer vgl. den folgenden Abschnitt „Das genetische Konvolut und seine Chronologie“ sowie das Chronologische Verzeichnis, S. 533f. Anonym: Literarische Nachrichten. In: Berliner Tageblatt, 11.12.1930. Anonym: Die Theater-Büros berichten. In: Berliner Tageblatt, 18.1.1931. Vgl. K5/E1–E7, TS1/A1, A2 und TS2/A1–A4 sowie die Ausführungen dazu im folgenden Abschnitt „Das genetische Konvolut und seine Chronologie“. Vgl. den Brief des Ullstein Buchverlags an Ödön von Horváth vom 19.3.1931, masch. Original im Ullstein-Vertragsarchiv (Berlin), ohne Signatur.

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erfolgreichen Uraufführung von Italienische Nacht im Theater am Schiffbauerdamm am 20. März 1931 beschloss der Ullstein Verlag, das Stück auch als Buchausgabe im Propyläen Verlag zu bringen. Die diesbezügliche informelle Bestätigung vonseiten des Verlags wurde am 4. Mai 1931 an den Autor versandt.14 Diese Buchausgabe, die Propyläen-Fassung K5/TS4 von Italienische Nacht, die als Erstdruck des Stückes zu werten ist, unterscheidet sich in vielen Details und manchen umfangreicheren Passagen deutlich von der ersten Endfassung von Italienische Nacht, wie sie durch die Arcadia-Fassung K4/TS2 gegeben ist.15 Auch von der Propyläen-Fassung ist kein Einreichmanuskript mehr vorhanden. Insbesondere der Schluss der Propyläen-Fassung K5/TS4 unterscheidet sich deutlich von der Arcadia-Fassung K4/TS2, die in vielem radikaler wirkt.16 Die Werkgenese von Italienische Nacht erstreckt sich also mindestens bis März 1931, vielleicht sogar bis Mai oder Juni 1931, denn es ist anzunehmen, dass Horváth auch noch in die Korrekturläufe der Buchproduktion eingebunden war. Der Erstdruck wurde am 4. Juli 1931 ausgeliefert.17 Im Nachlass Horváth (ÖLA 3/90) am Literaturarchiv der ÖNB findet sich das Widmungsexemplar des Autors an seine Großmutter mit dem Eintrag: „Meiner lieben Omama / von Ihrem / Ödön / Murnau, 24. Juli 31“.18 Die Propyläen-Fassung K5/TS4 bildete die Grundlage für die Texteditionen nach 1945. Das Volksstück Italienische Nacht wurde 1961 von Traugott Krischke in den Band Stücke19 aufgenommen. 1967 erschien es in einer Anthologie mit dem Titel Volksstücke 20, 1969 in dem von Dora Huhn herausgegebenen Band der Dramen Horváths gemeinsam mit Sladek oder: Die schwarze Armee, Geschichten aus dem Wiener Wald, Kasimir und Karoline und Hin und her.21 Das Volksstück wurde auch in die Gesammelten Werke von 1970/71 und die Kommentierte Werkausgabe von 1984–88 aufgenommen. Allen erwähnten Editionen von Italienische Nacht liegt die Propyläen-Fassung K5/TS4 zugrunde; die Arcadia-Fassung K4/TS2 wird in der vorliegenden Ausgabe erstmals vollständig abgedruckt. Die Endfassung von Ein Wochenendspiel (K3/TS3) wurde bereits 1974 in Band 410 der „Bibliothek Suhrkamp“ veröffentlicht.22

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Vgl. den Brief des Ullstein Buchverlags an Ödön von Horváth vom 4.5.1931, masch. Original im Ullstein-Vertragsarchiv (Berlin), ohne Signatur. Vgl. dazu die Ausführungen von Traugott Krischke in KW 3, S. 161f. und die Übersichtsgrafik Tab2 im Anhang dieses Bandes. Vgl. dazu die Anmerkungen im folgenden Abschnitt „Das genetische Konvolut und seine Chronologie“ sowie im Chronologischen Verzeichnis, S. 561 und 569. Vgl. Kurt Bartsch: Ödön von Horváth. Stuttgart/Weimar: Metzler 2000 (= Sammlung Metzler, Bd. 326), S. 73. Ödön von Horváth: Italienische Nacht. Volksstück. Berlin: Propyläen 1931 (Copyright: Arcadia 1930), o. Pag. (S. 1) (Exemplar in ÖLA 3/90). Horváth 1961, S. 11–49. Horváth 1967a. Horváth 1969, S. 81–136. Horváth 1974, S. 63–107.

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Das genetische Konvolut und seine Chronologie Das genetische Konvolut zu dem Werkprojekt Italienische Nacht umfasst insgesamt 224 Blatt, wobei 7 Blatt auf die Vorarbeit Wochenend am Staffelsee, 85 Blatt auf das Volksstück in sechs Bildern Ein Wochenendspiel und 132 Blatt auf das Volksstück in sieben Bildern Italienische Nacht entfallen. Tatsächlich ist jedoch relativ wenig textgenetisches Material zu dem Werkprojekt überliefert. Ein Großteil der überlieferten Blätter sind Typoskript-Blätter, die die jeweiligen Endfassungen enthalten. Die Werkgenese23 von Italienische Nacht kann in eine Vorarbeit und fünf Konzeptionen unterteilt werden: Vorarbeit: Wochenend am Staffelsee – Lustspiel Konzeption 1: Ein Wochenendspiel in drei Akten Konzeption 2: Ein Wochenendspiel in sieben Bildern Konzeption 3: Ein Wochenendspiel in sechs Bildern Konzeption 4: Italienische Nacht in sieben Bildern Konzeption 5: Italienische Nacht in sieben Bildern – Adaptierungsarbeiten Wie aus der Aufstellung ersichtlich wird, nimmt das Stück seinen Ausgang in einem Lustspiel. Dieser Gattungstitel wird im Laufe der Genese zu Volksstück transformiert. Die Gattungsbezeichnung Volksstück findet sich erstmals in K1/E8 genannt.

Vorarbeit: Wochenend am Staffelsee – Lustspiel Die Entwürfe zur VA Wochenend am Staffelsee befinden sich allesamt im Notizbuch Nr. 6 (ÖLA 3/W 363), das Horváth unter anderem auf seiner Reise zur Weltausstellung in Barcelona im September 1929 und danach bis etwa Dezember 1929 verwendet hat. In dem Notizbuch finden sich zahlreiche Entwürfe zu K3 von Der ewige Spießer, Herr Kobler wird Paneuropäer. Die Entwürfe zur VA Wochenend am Staffelsee stehen aber noch unter dem Einfluss des Romans Sechsunddreißig Stunden, der K2 von Der ewige Spießer, der bereits im April 1929 vom Ullstein Verlag zum Druck angenommen wurde, schließlich aber gespalten und mit Herr Kobler wird Paneuropäer zum dreiteiligen Montageroman Der ewige Spießer kompiliert wurde. Besonders deutlich wird dieser Einfluss von Sechsunddreißig Stunden / Herr Reithofer wird selbstlos durch die Figur des Eishockeyspielers (Harry) Priegler, der auch in VA/E1 von Wochenend am Staffelsee vorkommt. Auch eine Figur namens (Josef) Reithofer findet sich in zwei Entwürfen der VA, in VA/E2 und E4, obwohl Horváth zur selben Zeit bereits wiederholt im selben Notizbuch den Titel seines Roman- bzw. Novellenprojekts Herr Reithofer wird selbstlos notiert (vgl. VA/E7–E9).24 Der Eugen Reithofer der Sechsunddreißig Stunden / Herr Reithofer wird selbstlos wird also zum Herrn Reithofer von Das Fräu23

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Einen ersten, sehr überzeugenden Versuch, die Werkgenese von Italienische Nacht anhand des genetischen Materials nachzuzeichnen, unternahm bereits Herwig Hoek 1976 in seiner Hausarbeit Die Entstehung von Ödön von Horváths Volksstück „Italienische Nacht“ von den Entwürfen, Vorarbeiten und Varianten bis zum endgültigen Text (Braunschweig 1976). In der Arbeit wurde im Anhang auch ein Teil des genetischen Materials maschinenschriftlich transkribiert. Die genannten Entwürfe sind abgedruckt in WA 14, S. 348f., 360f. und 366f.

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lein wird bekehrt25, zum Josef Reithofer von Wochenend am Staffelsee und schließlich zu jenem von Herr Reithofer wird selbstlos bzw. Der ewige Spießer.26 Der Werktitel der VA variiert zwischen „Wochenend am Staffelsee“ (VA/E1, E5 und 6 E ), „Die Eishokeyleut“ (VA/E1 und E7–E9) und „Das Propagandaspiel“ (VA/E2 und E9), ohne dass sich Horváth auf einen definitiven Titel festzulegen scheint. Zentrales Motiv der Vorarbeit ist indes das „Spiel“ (VA/E3 und E4), das im Strukturplan E4 den Abschluss und vermeintlichen Höhepunkt des Stückes bilden sollte. Das Figureninventar weist schon in VA/E2 die typische Volksstück-Zusammensetzung auf: „Major“, „Bürgermeister“, „Reichardt“, „Gemeinderäte“, „Die Eishokymannschaft der Einheimischen“, „Josef Reithofer“, „Die Kellnerin“ und „Die fremden Eishokyleut“. In VA/E4 werden diese und ähnliche Figuren im Rahmen eines Strukturplans in drei Akten in Konfigurationen zueinander gesetzt. In VA/E6 wird erstmals ein Wirt erwähnt, der später im Werkprojekt eine wichtige Rolle spielt, bildet doch das „Wirtshaus des Josef Lehninger“ den zentralen Schauplatz der Endfassungen von Ein Wochenendspiel (K3/TS3) und Italienische Nacht (K4/TS2 und K5/TS4). Mit dem „umschwärmte[n] Eishokymann, der nur für den Sport lebt“ von VA/E6 ist wahrscheinlich die Figur des Priegler aus VA/E1 gemeint. Er scheint eine Präfiguration der späteren Hauptfigur Martin zu sein, die nur für die Politik lebt und von der Leni in der Endfassung von Ein Wochenendspiel sagt: L ENI Dein Kamerad Martin erinnert mich an einen Bekannten. Mit dem war auch nicht zu reden, weil er nichts anderes gekannt hat, wie sein Motorrad. Er hat zahlreiche Rennen gewonnen und ich hab ihn halt in seinem Training gestört. (K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 41)27

Konzeption 1: Ein Wochenendspiel in drei Akten Die frühen Entwürfe von K1 befinden sich im Notizbuch Nr. 3 (ÖLA 3/W 364), das Horváth von März bis April 1930 verwendet hat. K1 kann also auf das Frühjahr 1930 datiert werden. Wieder stehen die Entwürfe im Notizbuch im Kontext von Entwürfen zu dem Romanprojekt Der ewige Spießer, in diesem Fall zu WA 14/K4, in der Horváth die drei zunächst eigenständigen Teile zu einem Ganzen montiert. Auch Entwürfe zu dem Werkprojekt Stunde der Liebe 1930 finden sich in dem Notizbuch. In K1/E1 notiert der Autor nur den Titel „Ein Wochenendspiel“ mit dem Zusatz „in drei Akten“. Damit nimmt er die Struktur von VA/E4 wieder auf, dem umfänglichsten Strukturplan der VA. Zu K1 zählen jedoch auch lose Blätter aus der Mappe BS 12 c, die sich auf K1–K3 verteilen. In den Entwürfen K1/E2–E5 skizziert Horváth ein Stück, das, gegenüber der VA, in einem teils großbürgerlichen Milieu angesiedelt sein sollte. Hier gibt es einen „Golfklubb“ (K1/E2 und E5), einen „Dr. Bissinger“ (K1/E4 und E5), einen „Major“ (K1/E3; vgl. VA/E2 und E4) bzw. „Major Strathmann“ (K1/E4 und E5), einen 25

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Der Kurzprosatext erschien im Herbst 1929 in der von Hermann Kesten herausgegebenen Anthologie 24 neue deutsche Erzähler im Kiepenheuer Verlag mit dem bibliografischen Hinweis, dass er Teil des Romanprojekts Herr Reithofer wird selbstlos sei (vgl. WA 14, S. 884), der im Propyläen Verlag erscheinen werde. Der Text gehört also zur sogenannten Spießer-Prosa und wurde im Rahmen von WA 14 (Der ewige Spießer) als begleitender Einzeltext (ET3/TS1–TS4) ediert. Vgl. WA 14. Vgl. auch K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 73 und K5/TS4/Horváth 1931, S. 84; Zeichensetzung hier leicht divergent.

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„Minister“ (K1/E2–E5), einen „Syndikus“ (K1/E3 und E4), einen „Student[en]“ (K1/E3–E5), eine Filmschauspielerin „Karin Lee“ (K1/E5) und verschiedene „Geliebte“ (K1/E3 und E5). Die „Stahlhelmübung“ und der „Arbeiterradfahrerklubb“ bilden bereits in K1/E2 einen wesentlichen Bestandteil des Stückes, der in leicht abgewandelter Form bis in die Endfassungen von Ein Wochenendspiel (K3/TS3) und Italienische Nacht (K4/TS2 und K5/TS4) erhalten bleibt. Dort bilden die Faschisten die eine politische Gruppierung, der die Republikaner als andere feindlich gegenüberstehen. Bereits in den frühesten Entwürfen von K1 hat Horváth also die Grundkonstellation bzw. den Grundkonflikt seines Stückes gefunden, der ein primär politischer ist, dem aber bereits in den frühen Entwürfen erotische Motive beigemengt sind (vgl. etwa K1/E2–E6, E8 und E12). Mit K1/E12 benennt Horváth erstmals einen „Konflikt“, in diesem Fall zwischen der „Opposition“ und den „Mädel[s]“, in K1/E15 und TS1 geht es um politischen Verrat, indem Überläufer zur „N.S.D.A.P.“ bzw. zu den „Stahlhelmen“ erwähnt werden. In K1/E16 notiert Horváth einen „Zusammenstoss S.P.D.–K.P.D.“, in K1/E19 einen „Krach: Opposition – S.P.D.“ und „Krach: Mädels der Opposition – Spielleitung“. Strukturell behält Horváth über weite Strecken von K1 die Einteilung in drei Akten bei (vgl. etwa K1/E6 und E8–E12). Mit K1/E10 führt er den „Urwald“ ein, indem der Titel des dritten Bildes des zweiten Aktes „Minister im Urwald“ lautet. Dieser „Urwald“ bildet eine der Konstanten von K1 und K2; in K2/E3 wird er als „Naturschutzgebiet“ ausgewiesen, bereits in K1/E6 und E16 notiert Horváth „Wald“. Dieser wird schließlich in K3/E1 prominent wiederaufgenommen, soll doch nicht nur ein Teil der Handlung in einem Wald spielen, sondern sogar das Stück in einer Titelvariante schlicht den Titel „Im Wald“ tragen. Ab K1/E11 erwägt Horváth über eine kurze Zeitspanne im Notizbuch Nr. 3, „das Verwesen“ als Motiv in sein Werkprojekt aufzunehmen. Dieses wird bereits hier mit der Figur der „Geliebten“ gekoppelt, die eine Konstante der frühen Entwürfe darstellt und in den Figuren der Leni und der Anna bis in die Endfassungen erhalten bleibt. Diese Geliebte soll jedoch gemäß der Entwürfe von K1 verlassen werden und dann das „Verwesen“ bei lebendigem Leibe erleiden, das Horváth in K1/TS2 deutlich ausformuliert.28 Eine solche Tragik der Liebesgeschichte findet sich im weiteren Verlauf der Genese nicht mehr, vielmehr geht es Horváth dort um lustspielartige Liebeshändel, wie sie bereits in den frühesten Entwürfen von K1 angedeutet werden. Mit K1/E10 führt Horváth den Begriff der „Solidarität“ in das Stück ein (vgl. auch K1/E13), der bereits seinen Roman Der ewige Spießer, insbesondere den Teil Herr Reithofer wird selbstlos, geprägt hatte. So findet sich auf Bl. 7 des Notizbuchs Nr. 3 (ÖLA 3/W 364) ein irrtümlich Sigmund Freud zugeordnetes Zitat notiert: „Denn das höchste auf der Welt, das ist die menschliche Solidarität.“29 Diese Solidarität bleibt im Werkprojekt bis zu den beiden Endfassungen erhalten; und zwar in Form der (mangelnden) politischen Solidarität, etwa wenn Karl vorgeworfen wird, in Leni eine „geborene Faschistin“ (K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 13; vgl. auch K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 20) bzw. „geborene Rückschrittlerin“ (K5/TS4/Horváth 1931, S. 24) zu verehren. Sie findet sich auch in der Forderung Annas gegenüber Martin, dass er seine Parteifreunde auf der italienischen Nacht doch gegen die Faschisten verteidigen solle, auch 28

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Die Fassung mit dem Werktitel „Marianne oder: Das Verwesen. Eine Novelle“ findet sich abgedruckt in WA 14/K4/TS1 (vgl. auch den Kommentar in WA 14, S. 904–906). Vgl. dazu WA 14/K4/E3.

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wenn er aus der Partei ausgeschlossen wurde. Denn „sie stehen uns doch immer noch näher, als die anderen“ (K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 38, hier: „als wie“, K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 69 und K5/TS4/Horváth 1931, S. 80, Komma fehlt hier). Ein anderer Motivkomplex, dessen Genese in K1 verfolgt werden kann, ist jener der „Bühne“ (K1/E10), des „Festspieles“ bzw. „Stiftungsfest[es]“ (K1/TS1/ÖLA 3/W 364, Bl. 14) bzw. der „Aufführung“ (K1/E20). Mit K1/E17 erwähnt Horváth die „Probe des Festspieles“, dieses wird in K2/E1 in ein „Fest“ transformiert, und damit scheint die „italienische Nacht“ (erstmals in K3/E1/BS 12 c, Bl. 11) der drei Endfassungen (K3/TS3, K4/TS2 und K5/TS4) geboren zu sein.

Konzeption 2: Ein Wochenendspiel in sieben Bildern Mit K2 ändert Horváth die strukturelle Anlage seines Stückes, das in K1 noch eine Gliederung in drei Akten aufweist, jetzt aber allmählich in eine Struktur in sieben Bildern transformiert wird, wie sie auch noch die beiden Endfassungen von Italienische Nacht (K4/TS2 und K5/TS4) kennzeichnet. Allerdings kehrt Horváth in K3 zuvor noch einmal zu einer Gliederung in sechs Bildern zurück, wie sie die Endfassung von Ein Wochenendspiel (K3/TS3) aufweist. Den allmählichen Übergang von einer Struktur in drei Akten zu jener in sieben Bildern markiert der Strukturplan K2/E1, in der der übergeordneten Gliederung in zwei Teilen bereits eine Strukturierung in sieben Bildern unterlegt ist. Sechs der sieben Bilder lauten „Strasse“, „Minister“, „Geliebte des Syndikus“, „Urwald“, „Radfahrer“ und „Urwald“. Da Horváth zum letzten Bild in Klammern „Heimfahrt“ notiert, scheint ein Schlusspunkt gesetzt und also der Strukturplan abgeschlossen. Zum ersten Bild vermerkt der Autor eine Konfrontation zwischen den „Radfahrer[n]“ und dem „Stahlhelm“, also die Grundkonstellation des Stückes. Am meisten Aufschluss über die Handlung geben die Notizen zum vierten, also zentralen Bild, das Horváth in vier Szenen unterteilt. In der ersten sollen sich die „Radfahrer“ von der „Opposition“ trennen. In der zweiten beobachtet die Opposition die „Ankunft des Autos“; auch ein nicht näher spezifiziertes „Grammophon“ wird hier erwähnt. In der dritten Szene soll der Syndikus, der genauso wie das Grammophon bereits auf Geschichten aus dem Wiener Wald vorausweist, mit dem Minister und einer Geliebten zusammentreffen. In der vierten Szene schließlich soll es innerhalb der „Stahlhelm[e]“ zu einem „Krach mit dem Verräter“ kommen, worauf sie diesen ausziehen. Zum fünften Bild „Radfahrer“ notiert Horváth „Das Fest“. Die „italienische Nacht“ findet in K4/TS2 und K5/TS4 ebenfalls im fünften Bild statt. Das in K2/E1 gleichfalls vermerkte „Murren wegen des Ausschlusses“ verweist zurück auf K1/TS1 und vor auf die Endfassungen von Ein Wochenendspiel und Italienische Nacht, in denen Martin aus dem Republikanischen Schutzverband bzw. -bund ausgeschlossen wird (vgl. K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 35, K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 63 und K5/TS4/ Horváth 1931, S. 73). Auch die im selben Bild von K2/E1 erwähnte „Prügelei“ deutet ein Motiv an, das bis in die drei Endfassungen erhalten bleibt und einen ganz wesentlichen Stellenwert innerhalb des Volksstücks einnimmt (vgl. K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 53, K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 99 und K5/TS4/Horváth 1931, S. 107). Ab K2/E4 findet sich ein Motiv, das nur über eine kurze Zeitspanne im Werkprojekt verwendet wird. Hier notiert Horváth „drei Landstreicher“, die in K2/E5–E8 in die „drei Wanderburschen“ transformiert werden, dann aber wieder aus dem Werkprojekt verschwinden. Möglicherweise hat man in ihnen eine Vorstufe der drei Burschen zu

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sehen, die in den drei Endfassungen das Denkmal seiner Majestät mit roter Farbe beschmieren, eine genaue und nachvollziehbare Genealogie dafür findet sich jedoch im überlieferten Material nicht. Die Strukturpläne K2/E8–E12 experimentieren noch einmal mit anderen Bilderzahlen, hier finden sich auch neun (K2/E9) und zehn Bilder (K2/E11) sowie neuerlich eine übergeordnete Gliederung in zwei Teilen (K2/E9 und E10). Die Bildinhalte bleiben aber gegenüber K2/E1 einigermaßen konstant, auch wenn deren Abfolge variiert. In K2/E9 werden erstmals die „Kleinkaliberschützen“ erwähnt, die bis in die drei Endfassungen hinein eine wesentliche Rolle spielen. Dort geht es ja ganz zentral um die Frage der Bewaffnung des republikanischen Schutzbundes. Diese stellt einen Streitpunkt zwischen der älteren Generation, die dagegen ist, und der jüngeren um Martin, die dafür ist, dar (vgl. etwa K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 18, 33 und 52, K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 29, 61 und 93 sowie K5/TS4/Horváth 1931, S. 33, 70 und 102). Ab K2/E14 ersetzt Horváth den zuvor genannten „Minister“ durch den „Bürgermeister“ (vgl. auch VA/E2, E4 und E6), der in der Folge eine gewichtige Position innerhalb der Strukturpläne K2/E15 und E16 einnimmt. In ihm hat man eine Vorstufe des späteren Stadtrats Ammetsberger zu sehen. In K2/E17–E21 erwägt Horváth noch einmal eine formale Neuerung. Er führt versuchsweise „Sprecher“-Figuren ein, die er mit sozialpolitischen Parolen ausstattet. Ein Bezug zum epischen Theater Brechts bzw. Piscators scheint hier unmittelbar gegeben. Horváth lässt diese Idee jedoch wenig später wieder fallen und kehrt mit K2/E22 zu einer konventionellen Dramengestaltung zurück. Auch strukturell orientiert er sich ab K2/E15 wieder an einer Gliederung in sieben Bildern, die auch in die Werktitel von K2/E20–E23 eingeht und damit fest verankert scheint. Weiterhin spielt ein Konflikt eine wesentliche Rolle, in K2/E23 ist es jener zwischen dem Bürgermeister und den Arbeitern, die einen „Zuschuss“ fordern, der aber „abgelehnt“ wird (vgl. auch K1/TS1). In K2/E24 ist schließlich von einer „Wette“ die Rede; der Bürgermeister kündigt an zurückzutreten. Dies deutet voraus auf den Rückzug des Stadtrats Ammetsberger zugunsten des jungen Anführers Martin in den Endfassungen von Ein Wochenendspiel und Italienische Nacht (vgl. K3/TS3/ BS 32 a [2], Bl. 53 und K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 102; aber anders: K5/TS4/Horváth 1931, S. 103 und 108).

Konzeption 3: Ein Wochenendspiel in sechs Bildern Mit K3/E1 ist ein umfassender Strukturplan zu dem Werkprojekt Ein Wochenendspiel gegeben, der zunächst elf, dann dreizehn Bilder umfassen sollte, wie Horváth schon im Untertitel vermerkt, den er aber schließlich auf vierzehn Bilder erweitert. Der Autor notiert zum Titel, der zuerst „Sommer im Wald!“ gelautet hatte, dann aber zu „Ein Wochenendspiel“ geändert wurde, eine weitere Titelvariante, nämlich „Im Wald“. Zusätzlich vermerkt er noch eine Szenenanweisung, die folgendermaßen lautet: „(Das Stück spielt im Wald)“. Damit findet sich die bereits in K1 und K2 virulente Bedeutung des Schauplatzes „Wald“ (erstmals in K1/E6) bzw. „Urwald“ (erstmals in K1/E10) für das Werkprojekt bestätigt. So soll das zweite Bild „im Walde“ angesiedelt sein, wo sich die Republikaner treffen und eine „Musikprobe“ abhalten. Horváth skizziert dazu einen Dialog, der in der sprachlichen Gestaltung – süddeutsche Färbung der Sprache, herber Umgangston – bereits deutlich auf das spätere Volksstück verweist.

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Erstmals seit den frühen Entwürfen von K1/E2–E5 verwendet Horváth auch wieder Namen für seine Figuren. Während er für das erste Bild „Der Feldherrnhügel“ (vgl. K3/TS2) noch Titel bzw. militärische Ränge notiert: „Prinz, Adjutant, Major usw.“ sowie „Trompeter, Standartenträger, Trommler“, finden sich ab dem zweiten Bild „Republikaner im Walde“ echte Figurennamen. Dabei greift Horváth zu süddeutschösterreichisch gefärbten Namen wie „Svoboda“ und „die Dvorakische“, wobei Letztere bis in die drei Endfassungen (K3/TS3, K4/TS2 und K5/TS4) erhalten bleibt. Auch „Martin (und Genossen)“ finden hier erstmals Erwähnung, weiters „Reithofer“, der, wie bereits erwähnt, auf die VA Wochenend am Staffelsee bzw. die Spießer-Prosa zurückgeht, „Leni“, „Anna“, „Betz“ und „Kranz“. Bemerkenswert scheint dabei vor allem die Figur des Prinzen, die keinen Vorläufer in den früheren Konzeptionen hat, nach K3/E1 aber auch wieder aus dem Werkprojekt verschwindet. Deutlich wird in K3/E1 neuerlich die bereits auf K1 (vgl. etwa K1/E2 und E6) zurückgehende Gegenüberstellung von militärischen (faschistischen) und republikanischen (sozialistischen/kommunistischen) Figuren. In einer kurzen Dialogskizze ist bereits der Vorwurf an den Wirt formuliert, dass er die „Hakenkreuzler“ (K3/E1/BS 12 c, Bl. 9) empfängt. Für das fünfte Bild „Auf einer Lichtung“ ist eine Dialogskizze zwischen der „Dvorakische[n]“ (K3/E1/BS 12 c, Bl. 10) und Leni vorgesehen. In ihr schwärmt die Dvorakische bereits vom Reiz der Blechmusik und der Uniform, wie sie das auch in den Endfassungen von Ein Wochenendspiel und Italienische Nacht tun wird (vgl. K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 10f., K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 15 und K5/TS4/Horváth 1931, S. 19f.). Für das siebente Bild wird ein Konflikt zwischen Reithofer, der hier musikalisch ist und den späteren Karl präfiguriert, und dem Prinzen angedeutet, der sich zuvor an Leni vergriffen hatte, indem er ihr in die „Wadeln“ (K3/E1/BS 12 c, Bl. 10) gezwickt hatte. Reithofer beleidigt daraufhin den Prinzen; damit scheint die spätere Majestätsbeleidigung durch die Denkmalsschändung vorgebildet. Für das achte Bild ist bereits hier eine Szene zwischen Anna und einem Hakenkreuzler vorgesehen, wobei schließlich zunächst Reithofer, dann Leni dazustoßen. Das ist das spätere dritte Bild von Ein Wochenendspiel und Italienische Nacht. Für das zehnte Bild notiert Horváth erstmals „Die italienische Nacht“ (K3/E1/ BS 12 c, Bl. 11). Das ist nicht nur die erste Erwähnung dieses Titels als Bildtitel (vgl. auch K3/E3), sondern überhaupt seine erste Erwähnung.30 Zum elften Bild vermerkt der Autor eine Replik Martins: „Natürlich wegen einem Weib! Das war ein Blödsinn!“, die ähnlich wie die für das siebente Bild notierte Replik Reithofers: „Wer hat denn die bracht?“ (K3/E1/BS 12 c, Bl. 11) den Konflikt zwischen Erotik und Politik andeutet, der für das spätere Volksstück so entscheidend sein wird (vgl. auch K3/TS1). Bemerkenswert sind auch die Entwürfe auf BS 12 c, Bl. 12. Hier skizziert Horváth nicht nur ein Werkverzeichnis K3/E2 mit dem Titel „Drei Volksstücke“, das aber nur zwei Titel, nämlich „Ein Wochenendspiel (ein Akt)“ und „Der Schlemihl“, anführt. Zu Letzterem gehört die fragmentarische Fassung eines Dialogs zwischen Fritz, dem Bruder Lenis, und Leni. Fritz wirft Leni dabei vor, sich mit einem „Sozi“ (K3/TS1) abzugeben. Leni kontert: „Mir ist das ganz wurscht, was einer für eine politische Einstellung hat!“ (ebd.) Worauf Fritz repliziert: „Ich kann das nicht trennen, ich nicht! Ich könnte mich niemals für eine Bolschewistin interessieren! Ich nicht!“

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Zur genauen Genese des Titels vgl. oben den Abschnitt „Datierung und Druck“.

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Auf demselben Blatt notiert Horváth auch das Werkverzeichnis K3/E3 in vier Teilen, in dem er als zweites Stück eines mit dem Titel „Die politisierte Liebe“ anführt, als drittes eines mit dem Titel „Die italienische Nacht“. Gerahmt werden diese beiden von den Stücken „Der Kongress“ und „Die Schönheit von Fulda“31. Der Autor spekulierte zu diesem Zeitpunkt also noch damit, mehrere Stücke parallel zueinander zu schreiben, hat dann aber die Motive der „politisierte[n] Liebe“ und der „italienische[n] Nacht“ in Italienische Nacht zu einem Stück miteinander verschmolzen. „Die Schönheit von Fulda“ ist eine VA zu Geschichten aus dem Wiener Wald, „Der Kongress“ könnte in Zusammenhang stehen mit den Nacharbeiten zu der Posse Rund um den Kongreß (1929) unter den Titeln Die Mädchenhändler und Von Kongress zu Kongress (1930). In K3/TS2 arbeitet Horváth eine fragmentarische Fassung des ersten Bildes von 3 K /E1 „Der Feldherrnhügel“ aus. Darin finden sich Motive, die auf frühere Konzeptionen zurückgehen, etwa der „Wald“ (K3/TS2/BS 12 c, Bl. 13; erstmals in K1/E6) und das „Fest“ (K3/TS2/BS 12 c, Bl. 13v; als „Stiftungsfest“ erstmals in K1/TS1/ÖLA 3/ W 364, Bl. 14). In dem Hinweis auf ein „Unrecht“ (K3/TS2/BS 12 c, Bl. 13), das dem Prinzen angetan wurde, könnte man einen Vorläufer der späteren Denkmalsschändung sehen. Für die weitere Genese ist von einem relativ großen Überlieferungsverlust auszugehen. Denn auf diese noch sehr rudimentären Ausarbeitungen folgt in K3 bereits die Endfassung des Volksstücks Ein Wochenendspiel, die in Form eines vom Autor handschriftlich korrigierten Typoskripts überliefert ist. Die Endfassung umfasst sechs Bilder, die folgende Incipit-Titel tragen könnten: „Im Wirtshaus des Josef Lehninger“, „Strasse“, „Seitenstrasse“, „Im Gartenlokal des Josef Lehninger“, „Vor dem Wirtshaus des Josef Lehninger“ und „Im Gartenlokal des Josef Lehninger“. In den beiden Endfassungen von Italienische Nacht K4/TS2 und K5/TS4 wird diese Struktur um ein Bild erweitert. Das dritte Bild lautet in K4/TS2 „Seitenstraße“ und in K5/TS4 „In den städtischen Anlagen“ und entspricht über weite Strecken dem dritten Bild „Seitenstrasse“ von K3/TS3. Horváth erweitert sein Konzept in K4/TS2 und K5/TS4 jedoch um ein (weiteres) Bild mit dem Titel „In den städtischen Anlagen“, in dem die Denkmalsschändung und der Spaziergang Annas mit dem Faschisten auf der Bühne gezeigt werden, während diese in K3/TS3 nur indirekt berichtet werden. Die „italienische Nacht“ findet dementsprechend in K3/TS3 im vierten Bild, in K4/TS2 und in K5/TS4 aber erst im fünften Bild statt. Einen genauen Überblick über die Verschiebungen und Änderungen zwischen der Endfassung von Ein Wochenendspiel und den beiden Endfassungen von Italienische Nacht liefert die Übersichtsgrafik Tab2 im Kommentar zu diesem Band.

Konzeption 4: Italienische Nacht in sieben Bildern Zu K4 ist ähnlich wie zu K3 kaum Material überliefert. Mit K4/TS1, einem Typoskript, findet sich ein aus Horváths Hand stammender Teil eines Durchschlags einer Gesamtfassung von Ein Wochenendspiel oder Italienische Nacht. Diese markiert bereits den Übergang vom ersten Werkprojekt zum zweiten, denn das erste Bild entspricht hier 31

Vgl. auch die Stellung dieses Entwurfs in der Werkgenese von Geschichten aus dem Wiener Wald, vgl. WA 3/VA1/E3.

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eher schon der ersten Endfassung von Italienische Nacht K4/TS2. Wie die Endfassung von Ein Wochenendspiel (K3/TS3) umfasste die Gesamtfassung, der K4/TS1 angehörte, jedoch nur 52 Blatt; mit dieser Pagina endet nämlich K4/TS1. Sie bestand also vermutlich aus nur sechs Bildern, war also noch nicht um ein Bild erweitert, wie dies bei K4/TS2 der Fall sein wird. Unmittelbar nach diesem nur fragmentarisch überlieferten Typoskript ist die erste Endfassung von Italienische Nacht K4/TS2 zu reihen, die durch das Stammbuch des Arcadia Verlags überliefert ist. Dieses trägt den Copyright-Vermerk 1930, dürfte aber frühestens im Dezember 1930, vielleicht sogar erst im Jänner 1931 angefertigt worden sein. Die Arcadia-Fassung K4/TS2 von Italienische Nacht unterscheidet sich, vor allem was das fünfte und das siebente Bild betrifft, deutlich vom Erstdruck K5/TS4, der im Juli 1931 im Propyläen Verlag erschienen ist.32 Sie scheint in vielem noch radikaler als die Propyläen-Fassung K5/TS4. Während im Stammbuch etwa immer von „Prostituierten“ die Rede ist, sind es im Erstdruck schlicht „Frauenzimmer“. Wo im Stammbuch „Genossen“ steht, ist im Erstdruck von „Kameraden“ zu lesen. Außerdem finden sich in K5/TS4 der „Kamerad aus Magdeburg“, der Leutnant und der junge Czernowitz, die in K4/TS2 noch fehlen.33

Konzeption 5: Italienische Nacht in sieben Bildern – Adaptierungsarbeiten Horváth hat unmittelbar nach der Vervielfältigung von Italienische Nacht als Stammbuch (K4/TS2) das Stück noch einmal überarbeitet. Ergebnis dieses Überarbeitungsprozesses war wahrscheinlich ein Typoskript, das vermutlich in Form eines Durchschlags auch die Grundlage der Uraufführung am 20. März 1931 im Theater am Schiffbauerdamm Berlin bildete. Dieses Typoskript, das wahrscheinlich auch als Einreichmanuskript für die Propyläen-Fassung K5/TS4 diente, ist verschollen. Es muss jedoch in der Genese angenommen werden, denn in der Uraufführung kommen bereits das „Loreley-Lied“34, der junge Czernowitz, der Leutnant und der „Kamerad aus Magdeburg“35 vor, die sich alle in der Arcadia-Fassung K4/TS2 nicht finden. Die Propyläen-Fassung K5/TS4 ist jedoch erst im Juli 1931 erschienen.36 Es muss also von einem verloren gegangenen Typoskript ausgegangen werden, das die Grundlage nicht nur der Uraufführung, sondern wahrscheinlich auch des Erstdrucks bildete. Es dürfte allerdings noch während der Probenarbeiten zu einer teilweisen Umarbeitung dieser Endfassung durch den Autor gekommen sein. Dies lässt eine Reihe von Manuskripten und Typoskripten vermuten, die im Nachlass Horváth (ÖLA 3/90) überliefert sind und die sich vor allem auf die sprachliche Form und bühnenmäßige Umsetzung des dritten und siebenten Bildes beziehen.

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Vgl. Bartsch 2000 (Anm. 17), S. 73. Für weitere Unterschiede vgl. die Übersichtsgrafik Tab2 sowie das Chronologische Verzeichnis, S. 561 und 569. Vgl. Fritz Engel: Oedön Horvath: „Italienische Nacht.“ Theater am Schiffbauerdamm. In: Berliner Tageblatt, 21.3.1931. Vgl. die Besetzungsliste im Programmheft der Uraufführung von Italienische Nacht im Theater am Schiffbauerdamm Berlin am 20.3.1931, Exemplar in ÖLA 28/S 376. Vgl. Bartsch 2000 (Anm. 17), S. 73.

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So enthält etwa das Blatt BS 12 c, Bl. 15 eine Reihe von Entwürfen, die in deutlicher Beziehung zur Uraufführung stehen. Es finden sich hier etwa Referenzen auf Bühnenvorgänge und/oder -requisiten, so zum Beispiel in K5/E5, wo Horváth den Namen Sima notiert, i.e. Oskar Sima (1896–1969), der Darsteller des Stadtrats Ammetsberger. Auch K5/E6 bezieht sich eindeutig auf die Probenarbeiten, wenn der Autor vermerkt: „Leiter ist zu neu“, und wenn er eine Regieanweisung zu Annas Replik: „Jetzt wirds aber finster –“ notiert: „das sagt sie nicht zu ihm“. Die in K5/E1 erwähnte Replik Lenis: „Jetzt möcht ich singen. Immer, wenn ich traurig bin, möchte ich singen –“ findet ihre maschinenschriftliche Umsetzung in K5/TS2/A4/BS 32 b [3], Bl. 4, was ein deutliches Indiz dafür ist, dass auch die Textstufen zum siebenten Bild K5/TS2/A1–A4 anlässlich der Probenarbeiten zur Uraufführung entstanden sein dürften. Insgesamt bieten die Entwürfe K5/E1–E6 eine Reihe von Ergänzungen zum Text des verloren gegangenen Typoskripts, das die Grundlage der Uraufführung bildete, sowie Anweisungen zur Inszenierung, sind also auf die Monate Februar bis März 1931 zu datieren. Ähnliches gilt auch für die Textstufen K5/TS1/A1 und A2 sowie TS2/A1–A4. In ihnen versucht Horváth gleichfalls, den bestehenden Text der zweiten Endfassung des verloren gegangenen Typoskripts für die Uraufführung zu adaptieren. In K5/TS1/A1 und A2 arbeitet er zum bestehenden dritten Bild einen Dialog zwischen Anna und dem Faschisten aus. Ein Hinweis auf den Schauspieler Hans Adolfi (den Darsteller des „Betz“) in K5/TS1/A1 und eine handschriftliche Notiz „drehen 4. Bild“ in K5/TS1/A2, die auf die Drehbühne des Theaters referiert, stellen einen expliziten Bezug zu den Probenarbeiten im Theater am Schiffbauerdamm her. In K5/TS2/A1–A4 ringt Horváth um einen neuen Schluss für sein Stück. Dies lässt vermuten, dass der Regisseur Francesco von Mendelssohn oder aber der Autor selbst mit dem Schluss der bestehenden Fassung nicht vollständig zufrieden war. In allen Schlussvarianten von K5/TS2/A1–A4 gibt es eine neue Figur, nämlich den Polizisten, der regelmäßig die „Polizeistund“ verkündet. Während in K5/TS2/A2, TS2/A3/BS 32 b [3], Bl. 2 und TS2/A4/BS 32 b [3], Bl. 3 noch Martin als „neuer“ bzw. „junger Führer“ bejubelt wird, ist diese deutlich politisch konnotierte Wendung, wie sie auch die Arcadia-Fassung K4/TS2 noch aufweist, in K5/TS4 zurückgenommen. Dort heißt es nur noch, dass sich die Faschisten „umgruppiert“ (K5/TS4/Horváth 1931, S. 108) haben. Vom „neue[n] Schutzbund“ (K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 101) oder „neuen Führer“ (K5/TS2/A2, TS2/A3/BS 32 b [3], Bl. 2 und TS2/A4/BS 32 b [3], Bl. 3) ist dort nicht mehr die Rede. Stadtrat Ammetsberger, der in K4/TS2 und K5/TS2/A1–A4 die politische Verantwortung an den jungen Martin abgibt, bleibt in K5/TS4 in Amt und Würden, womit der „Status quo ante“ wiederhergestellt und „mit der Restauration der totalen Harmonie das herkömmliche Komödienschema“ gerettet scheint.37 Die zweite Endfassung von Italienische Nacht K5/TS4 ist nur in Form des Erstdrucks durch den Propyläen Verlag überliefert; diese Tatsache macht es auch schwer, über den wirklichen Status der Typoskripte der Mappe BS 32 b [3] zu befinden. Einen genauen Vergleich der beiden Endfassungen von Italienische Nacht (K4/TS2 und K5/TS4) und jener von Ein Wochenendspiel (K3/TS3) bietet die Übersichtsgrafik Tab2 im Kommentar zu diesem Band. Ebenfalls zu K5 zu zählen ist eine Reihe von Stammbüchern des Georg Marton Verlags, die wahrscheinlich aus den Jahren nach 1933 stammen und sich im Splitternachlass Horváth (ÖLA 27/94) befinden. Die Grundlage dieser textidentischen 37

Bartsch 2000 (Anm. 17), S. 75.

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Stammbücher ist die Arcadia-Fassung (K4/TS2), wie sich insbesondere aufgrund der Gestaltung des Schlusses nachweisen lässt. Weiterhin sind zu K5 eine Reihe von Werkverzeichnissen zu rechnen, in denen Horváth den Titel seines Volksstücks Italienische Nacht einträgt (K5/E8–E13). Sie finden sich bereits in anderen Bänden der Wiener Ausgabe abgedruckt und werden deshalb hier nicht neuerlich veröffentlicht.

Uraufführung und zeitgenössische Rezeption Nach der Ankündigung des Berliner Tageblatts vom 18. Jänner 1931, dass das Theater am Schiffbauerdamm Horváths Italienische Nacht erworben hat, dürften die Probenarbeiten ziemlich zügig vorangegangen sein.38 Denn bereits am 20. März 1931 fand die Uraufführung des Volksstücks in sieben Bildern statt. Regie führte der junge Cellist, Kunstsammler und Regisseur Francesco von Mendelssohn (1901–1972), der ein Jahr später auch die erfolgreiche Uraufführung von Kasimir und Karoline verantworten wird.39 Das Theater am Schiffbauerdamm stand zu der Zeit unter der Leitung von Ernst Josef Aufricht, der sich jedoch wenig später mit einer eigenen Theater-Produktionsfirma selbstständig machen sollte.40 Das Bühnenbild der Uraufführung stammte von Tina Tokumbeit41, die Bühnenmusik von Bernhard Eichhorn42. In den Hauptrollen spielten: Fritz Kampers als Martin, Oskar Sima als Stadtrat (vgl. K5/E5), Albert Hoerrmann als Karl, Hans Adolfi als Betz (vgl. K5/TS1/A1), Elsa Wagner als Adele, Bertha Drews als Anna, Marianne Kupfer als Leni, Otto Waldis als Faschist und Hans Alva als Major (vgl. K5/E7).43 Als Geschwister Leimsieder traten die berühmte (komische) Tänzerin und Tanzpädagogin Cläre Eckstein und ihr Partner Edvin Denby auf.44 Das Stück war also mit einem Starensemble besetzt, wie dies auch die Uraufführung von Geschichten aus dem Wiener Wald am 2. November 1931 im Deutschen Theater Berlin sein wird. Horváth dürfte, dies bestätigen die Entwürfe und Textstufen von K5, den Probenarbeiten beigewohnt haben und brachte sich aktiv in die Bühnengestaltung und Schauspielerführung ein.45 Das Regiebuch der Uraufführung ist leider nicht überliefert. Aus einer Bemerkung in einer Besprechung der Uraufführung durch Fritz Engel wird jedoch deutlich, dass der Inszenierung bereits die Propyläen-Fassung K5/TS4 vorgelegen haben muss, oder eine dieser unmittelbar vorausgehende Fassung, denn nur dort kommt das erwähnte „Loreley-Lied“ vor.46 Außerdem finden sich in der Be38 39 40

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Vgl. Anonym 1931 (Anm. 11). Vgl. WA 4. Vgl. Anonym: Das leere Theater am Schiffbauerdamm. Aufrichts neue Pläne. Zum letzten Male: „Italienische Nacht.“ In: Berliner Tageblatt, 9.4.1931. Vgl. Engel 1931 (Anm. 34). Vgl. das Programmheft der Uraufführung von Italienische Nacht im Theater am Schiffbauerdamm Berlin am 20.3.1931, Exemplar in der Theatersammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, Signatur ÖLA 28/S 376. Ein Teil der erwähnten Schauspieler, die an der Uraufführung von Italienische Nacht mitwirkten, spielten auch – zumindest in den Erwägungen Horváths zur Besetzung – bei der Uraufführung von Geschichten aus dem Wiener Wald eine Rolle; vgl. dazu WA 3/K4/E23, TS25/BS 37 b, Bl. 16 und K5/E13. Vgl. WA 3/K1/E5 und den Kommentar dazu. Vgl. dazu insbesondere K5/E1–E7. Vgl. Engel 1931 (Anm. 34).

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setzungsliste der Uraufführung der „Kamerad aus Magdeburg“, der Leutnant und der junge Czernowitz, die allesamt Neuerungen von K5/TS4 darstellen und nur hier vorkommen.47 Zu den Bearbeitungen des dritten und siebenten Bildes während der Probenarbeiten haben sich, wie bereits im Rahmen der Besprechung des genetischen Konvoluts erwähnt, Manuskripte und Typoskripte erhalten. So wird etwa aus K5/TS1/A1 und A2 deutlich, dass Horváth für das dritte Bild bereits einen Auftritt des Faschisten plante, der mit Anna einen Spaziergang machen sollte. Der ‚schlechte‘ „Witz“ des Faschisten, den Horváth in beide Fassungen einbaut, könnte der ‚witzigen‘ Grundstimmung der Proben für die Uraufführung geschuldet sein, die nicht zuletzt durch den Auftritt des komischen Tanz-Duos Eckstein/Denby erzeugt wurde. Fotos von komischen Tanzeinlagen der Uraufführung wurden sogar in der Zeitschrift Der Querschnitt abgedruckt.48 Horváth versuchte offensichtlich mit seiner Erweiterung des dritten Bildes für weitere komische Effekte zu sorgen. Dies gilt in beschränktem Maße auch für die Schlussvarianten K5/TS2/A1–A4, in denen der wiederholte Zwischenruf „Polizeistund“ der von Horváth neu kreierten Figur des Polizisten für komödienhafte Heiterkeit sorgen sollte. Dementsprechend wurde das Stück mitunter auch als bloßer „Bierulk“49, ja schlimmer noch, als „beschämend albernes Gewäsch“50 abgetan. Der Kritiker des Berliner Lokal-Anzeigers, von dem Letzteres stammt, schreibt überdies: Ein beschämend albernes Gewäsch, durch das der Ungar Oedön H o r v a t h sich über den deutschen Parteifimmel lustig zu machen versucht. Lange versteckt er seine eigene Gesinnung, bis er sie zum Schluß in krasser und herausfordernder Weise dennoch bekennt. Im Spiel ragten besonders S i m a , K a m p e r s und Bertha D r e w s hervor. Das Publikum, hin und her schwankend, spendete bei den widersprechendsten Stellen unmotivierten Beifall.51

Der Kritiker, der hier so dezidiert darauf hinzuweist, dass Horváth Ungar ist und sich damit ein „[R]assefremd[er]“52 über den „deutschen Parteifimmel lustig zu machen versucht“, positioniert sich mit diesem Statement selbst im kritischen Feld, und zwar eindeutig aufseiten der Deutschtümler. Auch dass Horváth am Schluss des Stückes seine „Gesinnung“ doch noch deutlich spüren lässt, wird ihm übel genommen. Aus anderen Gründen steht Arthur Eloesser dem Volksstück in seiner Nachtkritik für die Vossische Zeitung skeptisch gegenüber. Er erkennt darin formale Mängel und ortet das grundsätzliche moralische Problem, dass das Publikum durch die Komik des Stückes den Ernst der darin dargestellten politischen Entwicklungen übersehe: Republikaner und Faschisten, alle zusammen Spießer, jedes Bild eine lustige Posse, aber nichts Ganzes oder Entscheidendes. Das Publikum lachte, als ob es den ganzen Jammer unseres politischen Lebens durch das Stück vergessen hätte.53

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Vgl. das Programmheft der Uraufführung von Italienische Nacht 1931 (Anm. 42). Vgl. Der Querschnitt, XI. Jg., Heft 5, Ende Mai 1931. Ernst Heilborn: Italienische Nacht. In: Die Literatur, 33. Jg., 1931, S. 456f., hier S. 456. F. S-s. [i.e. Franz Servaes]: Theater am Schiffbauerdamm. „Italienische Nacht.“ In: Berliner Lokal-Anzeiger, 21.3.1931. Ebd. Engel 1931 (Anm. 34). A. E. [i.e. Arthur Eloesser]: „Italienische Nacht“ (Theater am Schiffbauerdamm). Volksstück von Oedön Horvath mit sieben Bildern aus dem politischen Leben. In: Vossische Zeitung (Berlin), 21.3.1931 (Morgenausgabe).

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Zweifellos war es mutig von Horváth, ähnlich wie beim Sladek, so auch in Italienische Nacht eine deutlich erkennbare Position im politischen Gesinnungsstreit zu beziehen. Die Deutlichkeit, mit der in dem Stück politische Positionen verhandelt werden, exponierte den Autor und bereitete den Boden für Polemiken von rechts, wie etwa jene des späteren Reichsdramaturgen Rainer Schlösser im Völkischen Beobachter gegen den vermeintlichen „Salonkulturbolschewisten“54 Horváth. Andere Kritiker kamen jedoch gerade aufgrund dieses Wagemuts und dieser Exponiertheit zu einem äußerst positiven Urteil. So schreibt etwa Herbert Ihering in seiner Nachtkritik für den Berliner Börsen-Courier: „Ein großer Erfolg. Für das Stück und für die ausgezeichneten Schauspieler. Es gehört Mut dazu, diese Komödie heute zu wagen.“55 Die Besprechung wurde ergänzt um folgenden Hinweis: Die „Italienische Nacht“ war ursprünglich als einmalige Aufführung gedacht. Wegen des großen Erfolges wird sie, wie das Theater am Schiffbauerdamm uns mitteilt, von heute ab in den regelmäßigen Abendspielplan übernommen.56

Tatsächlich wurde das Stück zwischen dem 20. März und dem 9. April 1931 bis auf einen Abend (3. April) täglich gespielt. Nach den umstrittenen und nur mäßig erfolgreichen Uraufführungen von Die Bergbahn und Sladek stand der Autor damit auf dem ersten Höhepunkt seiner Karriere. Auch der Kritiker der Berliner Morgenpost scheint begeistert: Eine sehr witzige politische Satire im Simplizissimusstil, von einem, der sein Land Bayern aus dem Grunde kennt, denn trotz seines ungarischen Namens ist der Verfasser Oedön H o r v a t h durchaus in Bayern zuständig. Die Inszenierung von Francesco von M e n d e l s s o h n läßt sich in den sieben Bildern keine Höhepunkte entgehen, köstlich eine echt bajuvarische Française, getanzt von einer Gesellschaft politischer Spießer, herrlich Elsa Wa g n e r im hysterischen Ausbruch einer geknechteten Stadtratsgattin. Mit Kampers, Sima, Adolfi, Hoerrmann, Bertha Drews, Marianne Kupfer[,] wurde der Autor vielmals hervorgerufen.57

Mit dem „Simplizissimusstil“ ist der satirische Stil des Stückes gemeint, der schon im brieflichen Vertrag mit dem Ullstein Verlag anklang, in dem Ein Wochenendspiel als „satyrisches Volksstück“ bezeichnet wurde.58 Der Hinweis auf die bekannte Satirezeitschrift Simplizissimus erfolgt keineswegs zufällig, hatte Horváth doch dort zwischen 1924 und 1931 eine Reihe von satirischen Kurzprosatexten veröffentlicht. In der ausführlichen Besprechung der Berliner Morgenpost am darauffolgenden Tag ist Folgendes zu lesen: Das Stück sei zwar „ein politisches, aber dabei doch kein Tendenzstück“.59 Und weiter: „Es schont nicht rechts, noch links, teilt die kräftigsten und treffsichersten Hiebe nach allen Seiten aus, baut Gegensätze auf, die verblüf-

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RS [i.e. Rainer Schlösser]: Der Kleistpreisrummel. Ein Musterbeispiel neudeutscher PropagandaPraktiken. In: Völkischer Beobachter (Berlin), 19.11.1931. H. Ih. [i.e. Herbert Ihering]: Italienische Nacht. In: Berliner Börsen-Courier, 21.3.1931. Ebd. E. M.: „Italienische Nacht.“ Gestern im Theater am Schiffbauerdamm. In: Berliner Morgenpost, 21.3.1931. Vgl. oben und den Brief des Ullstein Buchverlags an Ödön von Horváth vom 18. November 1930 (Anm. 5). Anonym: „Italienische Nacht“. Politik von heute auf der Bühne. In: Berliner Morgenpost, 22.3.1931.

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fend komisch sind und dabei tatsächlich existieren.“60 Die Position Horváths beschreibt der Kritiker aber so: Der Verfasser steht links, das ist klar ersichtlich, aber seine unparteiische, menschlich und künstlerisch freie Darstellungsweise ehrt ih[n] und kommt der Wirkung seiner Komödie bei Leuten, die auf keine Parteiparole eingeschworen sind, nur zugute.61

Besonderes Augenmerk schenkt die Besprechung den tänzerischen Einlagen unter der Regie von Cläre Eckstein. Hierzu heißt es: C l ä r e E c k s t e i n , die Tanzmeisterin, hat eine bayerische Française als Einlage in das Gartenfest komponiert, jenen nur noch in Bayern üblichen Gesellschaftstanz, den sie mit einer Fülle kostbarster Einzelheiten zu einem getanzten Kulturdokument gestaltet hat. Er mußte natürlich auf begeistertes Verlangen des Publikums wiederholt werden.62

Der Regie Francesco von Mendelssohns aber wird zugestanden, dass sie sich mit „eindringendem Verständnis dieses ganzen überlustigen dramatischen Bilderbogens angenommen“ und etwas „Ganzes“ daraus geformt habe, „eine bunte Zustandsschilderung aus dem heutigen Deutschland, an der man seine helle Freude haben konnte“.63 Besonders ausführlich fiel die Besprechung von Fritz Engel im Berliner Tageblatt aus. Anders als andere Rezensenten hebt Engel deutlich hervor, dass das Stück zwar in einer süddeutschen Kleinstadt spiele, „aber auch in Pommern, Mecklenburg, Thüringen spielen“ könnte.64 Es ist mithin also kein bayerisches Stück, wie manche Kritiker anmerkten. Engel befreit das Stück bewusst von dieser regionalen Einengung, um den Blick auf seine Allgemeingültigkeit zu lenken. Er gesteht dem Autor auch zu, „dass er kein Parteibuch, gleichviel welches, für das Sakrament hält, auf das geschworen werden muss“.65 Vielmehr stelle er „sich an den Strassenrand, sieht die Züge an sich vorbeimarschieren, jeden mit seinem besonderen Kriegsgesang – und findet sie alle furchtbar komisch“.66 Dennoch schränkt Engel seine Zustimmung ein. Er moniert, dass Horváth „seine Figuren noch nicht in ihrer Totalität erfasst hat, sie sind nicht ganz sein Eigentum geworden, und sie werden dann nicht das unsere“.67 Und er schließt: „Horvath ist auf dem Wege – am Ziel ist er noch nicht.“68 Ähnliches gelte auch für den Regisseur Francesco von Mendelssohn.69 Wenn Engel einen Vergleich mit Zuckmayers Hauptmann von Köpenick zieht, um den „Unterschied zwischen Fertigem und Unfertigem“70 zu verdeutlichen, könnte dies auch dem Umstand geschuldet sein, dass genau dieser Carl Zuckmayer im Programmheft zur Uraufführung zitiert wird. Dort findet sich neben dem „Stierkampf“ aus dem Roman Der ewige Spießer und einer Werbung für den Roman folgender Brief Zuckmayers an Ödön von Horváth:

60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Engel 1931 (Anm. 34). Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd.

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Lieber Horvath! Ich muß Ihnen einen Gruß schicken und meinen Dank sagen, in großer Freude über Ihr dichterisches, mutiges und kluges Lustspiel „Italienische Nacht“, das ich gerade gelesen habe. Da ist Blick und Griff, Sicherheit des Instinkts, Humor und vor allem: innere Unabhängigkeit. Der große Reiz des Stückes liegt für mich vor allem in der bezaubernden Leichtigkeit und Echtheit der Dialoge, deren Verknüpfungen und geistige Hintergründe ebenso sicher wie absichtslos, unaufdringlich, spürbar sind, – und in der Luft zwischen den Menschen, der Lebensdichtheit der Atmosphäre. Vielfach wird man Ihr Stück mißverstehen, – wird versuchen, es politisch einzuschachteln, abzugrenzen, dem Schlagworthorizont bequemer und billiger faßbar zu machen. Kümmern Sie sich nicht darum, lassen Sie sich nicht beirren! Ihr Weg ist richtig, er führt zu neuer Menschengestaltung, zu neuer Lebensdeutung, zum neuen deutschen Drama. Ich beglückwünsche Sie dazu! In herzlicher Kameradschaft! Ihr Carl Zuckmayer.71

Die Grußformel am Schluss ist ein deutlicher Hinweis darauf, auf welcher Seite Zuckmayer (und mit ihm: Horváth) steht, denn die Kampfgenossen Martins werden in der Propyläen-Fassung K5/TS4 ja durchgängig als „Kameraden“ bezeichnet. Die Fürsprache Zuckmayers sollte nicht ohne Folgen bleiben. So äußerte sich etwa ein Kritiker in der Zeitschrift Die rote Fahne äußerst negativ zu dieser Form der Verbrüderung zwischen den Dramatikern, die Horváth zu einem kritischen Kommentar auf einem Entwurfsblatt veranlasste (vgl. K5/TS3). Am 10. April 1931 merkte Alfred Kerr im Berliner Tageblatt im Rahmen einer Besprechung von Turgenjews Natalie ein paar Sätze zu Horváths Italienischer Nacht an. Er konstatiert: „Hier ist ein gelungener Zeitspass; statt eines Zeitstücks der Schwitzenden.“72 Und er setzt fort: Vielleicht Ludwig Thoma; doch erneut; doch verheutigt; doch mit Ansporn zur Tat … in Verhöhung tatloser Spiesser. Verkalkter Aufständler. Behaglicher Tribunen. Ja, das ist ein Wurf, und man lacht sich krank. (Nicht nur über Kampers …)73

Kerr sieht in Horváths Volksstück den Mut zu aktuellem Theater, zu einem „Vorwärts“ in der „Dramenzeit“, aber leider muss er feststellen, dass das Rückwärts auf der Bühne dominiert, etwa mit Stücken wie Weisses Rössl, Husarenfieber und Alt-Heidelberg: „Etwas stimmt nicht … in der Zeit. Darum nicht in der Dramenzeit“.74 Und er bedauert explizit Ernst Josef Aufrichts Weggang vom Theater am Schiffbauerdamm.75 Über dessen „neue Pläne“ hatte dasselbe Blatt am Vortag Folgendes berichtet: Er [Aufricht; Anm.] denkt nicht daran, wieder fest ein Theater und das damit verbundene grosse Risiko zu übernehmen; er beabsichtigt eine neue Theatergesellschaft zu gründen, deren Aufgabe es sein soll, nur von Fall zu Fall Stücke herauszubringen. Aufricht glaubt, auf diese Weise jede Aufführung sorgfältigst vorbereiten und jedes Stück erst dann herausbringen zu können, wenn es dramaturgisch einwandfrei bearbeitet worden ist. An diesen Vorbereitungen soll dann der jeweils verpflichtete Regisseur von Anfang an beteiligt sein, und die Schauspieler sollen für eine ganze Aufführungsserie engagiert werden, nicht nur für Berlin, denn Aufricht will die Rechte

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Programmheft der Uraufführung von Italienische Nacht 1931 (Anm. 42). Alfred Kerr: Wieder abends und mitternachts. In: Berliner Tageblatt, 10.4.1931. Ebd. Ebd. Vgl. ebd.

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auf ein Stück gleich für Aufführungen im Reich erwerben. Es wird sich dann gleichfalls von Fall zu Fall entscheiden, in welchem Theater Aufricht mit der fertigen Aufführung gastieren wird.76

Die damit beschriebene „Ernst-Aufricht-Produktion“ arbeitete in der Folge so, dass Stücke meist zuerst in der Provinz aufgeführt, bevor sie dann in Berlin gezeigt wurden. Dies betrifft etwa Horváths übernächstes Stück, Kasimir und Karoline, das zunächst in Leipzig zur Uraufführung gebracht und erst nachher in Berlin gespielt wurde.77 Laut dem anonymen Rezensenten des Berliner Tageblatts verdienen diese Pläne Aufrichts im „verworrenen Theaterbetrieb Berlins Beachtung“.78 Am 4. Juli 1931, nur dreieinhalb Monate nach der erfolgreichen Uraufführung von Italienische Nacht in Berlin, fand die österreichische Erstaufführung des Volksstücks im Wiener Raimund-Theater statt.79 Regie führte Oskar Sima, der Darsteller des Stadtrats Ammetsberger in Berlin, der auch in Wien diesen Part übernahm. Das Ganze wurde sogar als „Gastspiel Oskar Sima“ angekündigt. In weiteren Rollen waren Hans Olden, Liselott Medelsky und Eduard Loibner zu sehen.80 Gespielt wurde eine geglättete Fassung in sechs Bildern, in der die politischen Gegensätze kaum mehr spürbar waren.81 Dementsprechend wohlwollend fielen die Besprechungen in den Wiener Tageszeitungen aus, die das Stück als „politische Farce“ deuteten und abtaten.82 In einem am Tag der Erstaufführung veröffentlichten Interview der Wiener Allgemeinen Zeitung mit dem Autor bekennt dieser: „Ich bin ungarischer Staatsbürger“, erzählt Oedön H o r v a t h , [„]bin aber so viel in der Welt herumgekommen, daß ich mich als Kosmopolit fühle. Seit meinem siebzehnten Lebensjahr habe ich mich f ü r d i e d e u t s c h e S p r a c h e e n t s c h i e d e n. Mein Vater war Handelsattach[é], und durch seinen Beruf hatte ich Gelegenheit, in jungen Jahren unendlich viel zu sehen und viel zu erleben; ich lernte Belgrad, Budapest, Wien, München, Paris, Berlin, Zürich und viele andere Städte kennen.[“]83

Über sein Volksstück Italienische Nacht gibt der Autor folgende Auskunft: Es geht nicht gegen die Politik, aber gegen die Masse der Politisierenden, gegen die vor allem in Deutschland sichtbare Versumpfung, den Gebrauch politischer Schlagworte.84

Damit liefert Horváth zweifellos eine gültige Deutung für sein Volksstück. Was in dem Interview mit der Wiener Allgemeinen Zeitung ausgeklammert bleibt, ist die Tatsache, dass das Volksstück bereits vor seiner Uraufführung, aber nach Fertigstellung der Endfassungen von Ein Wochenendspiel (K3/TS3) und Italienische Nacht (K4/TS2),

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82 83

84

Anonym 1931 (Anm. 40). Vgl. WA 4, S. 10f. Anonym 1931 (Anm. 40). Vgl. KW 3, S. 157 und Heinz Lunzer/Victoria Lunzer-Talos/Elisabeth Tworek: Horváth. Einem Schriftsteller auf der Spur. Salzburg/Wien [u.a.]: Residenz 2001, S. 83. Vgl. den Theaterzettel in Lunzer/Lunzer-Talos/Tworek 2001 (Anm. 79), S. 83. Der Theaterzettel (vgl. Anm. 80) verrät aber, dass es sich um eine Fassung in sechs Bildern handeln musste, die auf der Fassung in sieben Bildern K5/TS4 beruhte, denn der Kamerad aus Magdeburg, der Leutnant und der junge Czernowitz traten auch hier auf. Vgl. Lunzer/Lunzer-Talos/Tworek 2001 (Anm. 79), S. 83. Anonym: Oedön Horvath in Wien. Gespräch mit dem Verfasser von „Italienische Nacht“. In: Wiener Allgemeine Zeitung, 5.7.1931. Ebd.

227

Vorwort

von der Realität eingeholt worden war. Am 1. Februar 1931 hatte ein SA-Trupp im Murnauer85 Kirchmeir-Saal eine Veranstaltung von Sozialisten gesprengt.86 Horváth war zu dem Zeitpunkt im Saal. Wenige Tage nach der Wiener Premiere des Stückes musste der Autor deshalb im Prozess über die sogenannte „Murnauer Saalschlacht“ aussagen. Die lokale Presse berichtete diesbezüglich sehr eifrig. So heißt es etwa im Weilheimer Tageblatt vom 22. Juli 1931: Längere Zeit beanspruchte die Vernehmung des Reichspostassistenten Iblher, dem eine Verletzung des Amtsgeheimnisses zur Last gelegt ist, verübt durch Weitergabe eines ihm auf dem Dienstwege bekanntgewordenen Telegramms, das aus Reichsbannerkreisen stammte und die Mitteilung enthielt, die Nazisozi beabsichtigten eine Sprengung der Auer-Versammlung in Murnau.87

In der Zeugenaussage Horváths im Revisionsverfahren des Saalschlacht-Prozesses im darauffolgenden Oktober ist Folgendes zu lesen: Am Tage der Versammlung war ich bis 1.40 Uhr am Bahnhof. Als um 1.10 Uhr die beiden Züge aus Richtung Garmisch und Weilheim kamen, stiegen etwa 60 – 70 junge Leute aus, die ich später als Nationalsozialisten erkannte. Am Bahnhof stand auch Engelbrecht88 im Warteraum 1. und 2. Klasse und schaute durch die Glastüre hinaus auf die Kommenden. Ich habe mich gewundert, daß Engelbrecht nicht am Bahnsteig stand. Vom Bahnhof aus ging ich mit den jungen Leuten in den Kirchmaiersaal [sic] und setzte mich an einen Tisch in der Nähe des Musikpodiums, wo ich bis zum Schluß der Versammlung blieb. An meinem Tisch sassen auch Reichsbannerleute und ich hörte da zum erstenmal, daß die Versammlung von den Nationalsozialisten gesprengt werden solle. Ich kann nicht sagen, ob auf den Plakaten freie Diskussion zugelassen war. 1/4 Stunde vor Beginn der Versammlung kam der Zug 13 und verteilte Flugblätter und die „Münchener Post“. Der Zug 13 verließ dann wieder den Saal und erst gegen Ende der Rede des Herrn Auer89 sah ich wieder ca. 14 Leute des Zugs 13. Die Gendarmerie stand hauptsächlich am Büfett. Auf dem Musikpodium stand ein Nationalsozialist, der während der Rede des Herrn Engelbrecht Unterstützungsrufe machte, derselbe wurde auch von den Reichsbannerleuten zurechtgewiesen. Am Tische des Herrn Engelbrecht stand ein Herr, der während der Rede des Herrn Auer Z[w]ischenrufe machte. Was er rief, weiß ich nicht. Er wurde von Herrn Fink angesprochen. Die Rede des Herrn Engelbrecht war nach meinem Empfinden sehr provozierend. Engelbrecht sagte, daß die Jacken der Reichsbannerleute von Sklarek bestellt wurden. Seine Rede klang mit einem „Heil Hitler“ aus. Dann fingen die Leute das Singen an. Ich kannte das Horst-Wessellied nicht, und als ich hörte, wie einige riefen: „Hände hoch“, erhob ich auch momentan die Hand. An der Fensterseite und an der Seite, an der das Klavier stand, waren die meisten Nationalsozialisten. Ich konnte sie daran erkennen, weil sie beim Singen des Horst-Wessellieds die Hände erhoben hatten. Engelbrecht hatte auch mit erhobener Hand gesungen. Sehr kurz nach Beginn des Liedes stieg ein Mann auf einen Stuhl und bot – nach meiner Ansicht durch seine Bewegungen mit den Armen Ruhe. Als dann die Schlägerei begann, drückte der Saalschutz die Leute gegen die Fensterseite, damit dieselben durch die Fenster hinaus konnten. Nach meiner Ansicht wurden die Biergläser von den Nationalsozialisten geworfen. Ein Nationalsozialist wollte mich mit einem Stuhl schlagen, er wendete sich dann wieder von mir ab und schlug den Stuhl einem anderen 85

86 87 88

89

Murnau galt als eine „Hochburg des Nationalsozialismus“, vgl. Lunzer/Lunzer-Talos/Tworek 2001 (Anm. 79), S. 79–81. Vgl. KW 3, S. 158. Anonym: Die Murnauer Saalschlacht vor Gericht. In: Weilheimer Tageblatt, 22.7.1931. Otto Engelbrecht (1896–1970), 1927 wurde er Ortsgruppenleiter in Murnau, von 1927 bis 1930 war er Bezirksleiter und schließlich ab 1930 Kreisleiter der NSDAP. Er war der Hauptangeklagte im Murnauer Saalschlacht-Prozess. Erhard Auer (1874–1945), Vizepräsident des Bayerischen Landtags und Hauptredner der Murnauer Versammlung im Kirchmeir-Saal; vgl. Lunzer/Lunzer-Talos/Tworek 2001 (Anm. 79), S. 84.

228

Vorwort

auf den Kopf. Ich habe nicht gesehen, daß Leute des Saalschutzes mit Gummiknütteln oder Schlagringen zugeschlagen haben. Die Reichsbannerleute, die in meiner Nähe waren, haben sich hauptsächlich gewehrt. Am Schluß der Schlägerei, die höchstens 3 – 4 Minuten dauerte, konnte ich feststellen, daß das Reichsbanner Verstärkung erhalten hatte. Im Saal war nach der Schlägerei alles zertrümmert. Sollten, wie mir soeben vorgehalten wird, im hinteren Teil des Saales etwa 200 Mann gewesen sein, was ich nicht schätzte, dann waren etwa 150 Nationalsozialisten darunter. Als später in der Post Engelbrecht zu mir kam, mußte ich ihm sagen, daß ich mit einem Mann, der die Sprengung einer Versammlung herbeiführte, nichts mehr zu tun haben wolle.90

Einen Tag nach der ursprünglichen Vernehmung Horváths im Erstverfahren wird vom Weilheimer Tageblatt berichtet, der Verteidiger, Rechtsanwalt Stock, sei „der Auffassung, daß Horváth eine gewisse Voreingenommenheit gegen die Nat.-Soz. habe, also nicht völlig parteilos sei“.91 Darauf habe der Schriftsteller jedoch erwidert, „daß er satyrische Stücke schreibe und über den Parteien stehe“.92 Die „Murnauer Saalschlacht“ sollte zwei Jahre später ein Nachspiel haben. In Horváths Stammlokal, dem „Hotel Post“ in Murnau, kam es zwischen ihm und ein paar SA-Männern zu einem Streit, weil Horváth sich von dem laut aufgedrehten Radio, aus dem eine Rede Adolf Hitlers tönte, gestört fühlte und offensichtlich vehement für die Abschaltung desselben eintrat.93 Das Murnauer Tagblatt berichtete darüber am 11. Februar 1933: Bei der Rede des Reichskanzlers Adolf Hitler, die jedem, der noch Ideale hat und sein Vaterland liebt, bis ins Innerste bewegte, konnte es der Schriftsteller Oedoen Horvath nicht unterlassen in einem öffentlichen Lokal durch Bemerkungen schlimmster Art herauszufordern. Es wäre beinahe zu einem ernsten Zwischenfall gekommen, wenn Kreisleiter Engelbrecht auf Horvaths Bitten diesen nicht geschützt hätte. Zwei S.-A. Leute begleiteten ihn als Deckung nach Hause. Herr Horvath soll inzwischen abgereist sein.94

Der Autor verließ nach diesem „Zwischenfall“ Deutschland und ließ sich in Österreich nieder. Die Jahre nach 1933 waren für ihn durch das de facto bestehende Aufführungsverbot seiner Stücke in Deutschland äußerst schwierig. So lässt sich auch sein heute bedenklich anmutender Versuch verstehen, im nationalsozialistischen Filmbetrieb Fuß zu fassen und sich den Nationalsozialisten anzubiedern, indem er versicherte, „am Wiederaufbau Deutschlands“ mitarbeiten zu wollen.95 Der Erfolg von Italienische Nacht auf den Bühnen Deutschlands stellte sich nach 1945 relativ spät ein. 1966 wurde es von Michael Kehlmann als Fernsehspiel inszeniert, mit Oskar Sima als Stadtrat, Walter Kohut als Martin, Hans Clarin als Karl und Jane Tilden als Adele. 1967 war es erstmals wieder am Theater zu sehen, und zwar in Konstanz.96 Es folgten Inszenierungen beispielsweise an der Freien Volksbühne Ber90

91 92 93

94 95 96

Zeugenaussage Ödön von Horváths im Saalschlachtprozess, Revisionsverfahren, 31. Oktober 1931, fol. 168v, 169r, zitiert nach dem Faksimile in Lunzer/Lunzer-Talos/Tworek 2001 (Anm. 79), S. 85f. Anonym: Die Murnauer Saalschlacht vor Gericht. In: Weilheimer Tageblatt, 23.7.1931. Ebd. Vgl. Lunzer/Lunzer-Talos/Tworek 2001 (Anm. 79), S. 107; vgl. dazu auch das Faksimile der Polizeiauskunft vom 18. Jänner 1935 in ebd., S. 106. Anonym: [Redaktionsnotiz]. In: Murnauer Tagblatt – Staffelsee-Bote, 11.2.1933. Vgl. WA 6, S. 11f. Vgl. Bartsch 2000 (Anm. 17), S. 73 und die Theatersammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, Signatur ÖLA 28/S 379.

229

Vorwort

lin 1968, am Volkstheater Wien 1969, im Schauspiel Frankfurt 1970, am Bayerischen Staatsschauspiel München 1971, am Hamburger Schauspielhaus 1972, am Burgtheater Wien 1978 und am Grazer Schauspielhaus 1986.97 Das Stück zählt zwar nicht zu den meistgespielten Stücken Horváths, läutete aber die äußerst erfolgreiche Reihe der Volksstücke ein. Als Auftakt zu Geschichten aus dem Wiener Wald, Kasimir und Karoline und Glaube Liebe Hoffnung hat es bis heute seinen festen Platz im Gesamtwerk des Autors. Auch in der literaturwissenschaftlichen Forschung zu Ödön von Horváth gibt es den Konsens, dass Italienische Nacht zu den vier großen Volksstücken des Autors zu rechnen ist. Dennoch wurde das Werk bisher wissenschaftlich kaum gebührend gewürdigt. Bereits 1976 hat A.B.J. Grenville das Volksstück auf seinen politischen Gehalt hin gelesen und dieses in den Kontext einer zunehmenden Politisierung („politicization of literature“) der Literatur der Weimarer Republik gestellt.98 Grenville konzediert Horváth, er „prophetically anticipates the disastrous resolution of the crisis [of the Weimar Republic; Anm.] in January 1933“.99 Der Autor habe in seinem Stück den „embittered conflict between the moderate SPD and the radical KPD“ dargestellt.100 Diesen Befund stützen vor allem die hier erstmals edierten Entwürfe von K1, in denen Horváth wiederholt den Konflikt zwischen diesen beiden Parteien explizit formuliert (vgl. etwa K1/E16–E19). Der Autor nehme letztlich, „the SPD’s failure to resist the deposition of the SPD-led Prussian government in July 1932 and its subsequent passivity in face of the Machtergreifung itself“ vorweg.101 Grenville nimmt überdies an, dass „the SPD worthies in Italienische Nacht exemplify the weakness inherent in a largely rhetorical socialism“ und dass Martin „represents the attitudes and ideology of the KPD in the late Weimar years“.102 Gudrun Kampelmüller und Elisabeth Prantner haben in einer vergleichenden Studie der beiden im vorliegenden Band edierten Stücke die „Politische Ideologie und die daraus resultierende Sprache in Ödön von Horváths Werken Sladek oder die schwarze Armee und Italienische Nacht“ untersucht.103 In Italienische Nacht habe Horváth das „politische Kräfteverhältnis zwischen Republikanischem Schutzbund und der erstarkenden faschistischen Bewegung“ ausgelotet.104 Wie im Sladek sei auch in Italienische Nacht sein zentrales Anliegen die Darstellung der „Erstarrung der zwischenmenschlichen Kommunikation in sprachlichen Klischees und im Zitieren von 97

98

99 100 101 102 103

104

Vgl. die Theatersammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, Signaturen ÖLA 28/S 381, S 383, S 389, S 390 und S 392. Vgl. A.B.J. Grenville: Failure of Constitutional Democracy: The SPD and the Collapse of the Weimar Republic in Ödön von Horváth’s Italienische Nacht. In: Modern Language Review, April 1987, S. 399–414, hier S. 399. Ebd. Ebd. Ebd. Hervorhebung im Original. Ebd., S. 402. Gudrun Kampelmüller/Elisabeth Prantner: Ödön von Horváth – „ein getreuer Chronist seiner Zeit“. Politische Ideologie und die daraus resultierende Sprache in Ödön von Horváths Werken Sladek oder die schwarze Armee und Italienische Nacht. In: Helmut Bartenstein (Hg.): Politische Betrachtungen einer Welt von Gestern. Öffentliche Sprache in der Zwischenkriegszeit. Stuttgart: Heinz 1995 (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 279), S. 13–51. Ebd., S. 34.

230

Vorwort

trivialen, formelhaften Phrasen und Allerweltsweisheiten“, also die Analyse des kleinbürgerlichen „Bildungsjargons“.105 Kurt Bartsch zeigt anhand der Stelle „Unsere republikanische italienische Nacht steigt heut nacht trotz Mussolini und Konsorten! Karo As!“ (K5/TS4/Horváth 1931, S. 9) anschaulich auf, dass sich die Republikaner in Horváths Italienischer Nacht als Spießer gerieren, denen ihr „Fest“ und ihr „Kartenspiel“ letztlich wichtiger sind als politische Anliegen und die damit selbst dem (Mussolini-)Faschismus einen fruchtbaren Boden bereiten: Nicht bewusst wird dem politischen Spießer, dem an nichts mehr liegt, als sich in einem apolitischen Raum (Kartenspiel, Fest) zu bewegen, der Widerspruch von „republikanisch“ und „italienisch“, wiewohl sich ihm selbst angesichts der Demonstrationen der Faschisten und des Feierns eines republikanischen Festes unter dem Etikett „Italienisch“ verräterischerweise der Name Mussolini unbewusst aufdrängt.106

Wie sich faschistische und republikanische Gesinnung in dem Stück in unheilsamer Weise verschränken, zeige sich an der (politischen) Verkehrung von Heines LoreleyLied, das von den Faschisten gesungen wird, und der „Heinrich der Vogler“-Ballade, die von der republikanischen Frau Hinterberger vorgetragen wird, eigentlich aber „nachromantischen“ deutschen „Nationalkitsch“ darstelle. Nicht zuletzt äußere sich im Verhalten des Stadtrats Ammetsberger gegenüber seiner Frau Adele der frauenverachtende Gestus des Nationalsozialismus, der die Frau wieder an den „heimischen Herd“ (K5/TS4/Horváth 1931, S. 45) zurückdrängt.107 Bemerkenswerterweise bilden, dies zeigt Bartsch ebenfalls auf, auch die jüngeren Republikaner wie Martin oder Karl keine wirkliche Alternative zu den Faschisten. Während der eine mit „viertausend Mark“ (K5/TS4/Horváth 1931, S. 86) und einer Existenz als Kolonialwarenhändler (vgl. ebd.) vorliebnimmt und sich damit endgültig von der politischen Karriere verabschiedet, schickt der andere seine Anna auf den „politischen Strich“ (K5/TS4/Horváth 1931, S. 36) und konkurriert als scheinbarer „Internationalist“108 mit dem Kameraden aus Magdeburg. Dessen sprachliche Färbung und Führungsanspruch hält er letztlich nicht aus. Demgemäß habe Horváth auch den Schluss noch einmal korrigiert, von der hoffnungsvollen Variante, in der Martin den republikanischen Schutzbund rundum erneuert, zu einer resignativen Befürwortung des Status quo.109 Das von Martin zuletzt geäußerte „Gute Nacht!“ (K5/TS4/Horváth 1931, S. 108) kann man aber wie Bartsch als „Wahrnehmungsverweigerung“ nicht nur des Stadtrats, sondern auch seines jungen „Kritikers“110 deuten, oder doch als Einsicht und zugleich Resignation des Jüngeren in die Unaufhaltsamkeit der politischen und gesellschaftlichen Verfinsterung.

105 106 107 108 109 110

Ebd., S. 36. Bartsch 2000 (Anm. 17), S. 76. Vgl. ebd. Ebd., S. 77. Vgl. ebd., S. 76f. Ebd., S. 77.

231

Vorwort

232

Lesetext

233

234

Vorarbeit: Wochenend am Staffelsee – Lustspiel

235

Figurenlisten

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 23

236

Figurenlisten

VA/E1–E2

237

Lesetext

Strukturplan in drei Akten

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 22v

238

Strukturplan in drei Akten

VA/E3

239

Lesetext

Strukturplan in drei Akten

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 23v

240

Strukturplan in drei Akten

VA/E4

241

Lesetext

Werktitel

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 25v

242

Werktitel

VA/E5

243

Lesetext

Konfigurationspläne und Dialogskizze

ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 26

244

Konfigurationspläne und Dialogskizze

VA/E6

245

Lesetext

246

Konzeption 1: Ein Wochenendspiel in drei Akten

247

Strukturplan in zwei Akten, Figurenlisten

ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 2

248

Strukturplan in zwei Akten, Figurenlisten

K1/E2–E4

249

Lesetext

Figurenliste

ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 3

250

Figurenliste

K1/E5

251

Lesetext

Strukturplan in drei Akten

ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 6

252

Strukturplan in drei Akten

K1/E6

253

Lesetext

Werkverzeichnis, Strukturplan in drei Akten

ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 1

254

Werkverzeichnis, Strukturplan in drei Akten

K1/E7–E8

255

Lesetext

Strukturplan in drei Akten

ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 10

256

Strukturplan in drei Akten

K1/E10

257

Lesetext

Strukturplan in drei Akten

ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 11

258

Strukturplan in drei Akten

K1/E11

259

Lesetext

Strukturplan in drei Akten, Notiz

ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 12

260

Strukturplan in drei Akten, Notiz

K1/E12–E13

261

Lesetext

Werkverzeichnis, Figurenliste

ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 13

262

Werkverzeichnis, Figurenliste

K1/E14–E15

263

Lesetext

264

Fragmantarische Fassung des 1. und 2. Bildes



5

Lesetext

Ein Wochenendspiel

ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 14

I. 1.) Arbeiterradfahrer. P RÄSIDENT Ich eröffne die Diskussion! Zur Diskussion steht der Antrag des Genossen Maurer, betreffs des aufzuführenden Festspieles und überhaupt der Feierlichkeiten anlässlich unseres 50 jährigen Jubiläums. Das Wort hat unser Genosse Bauer. G ENOSSE B AUER Genossen! Arbeiterradfahrer! 50 Jahre sind eine lange Zeit und wir müssen das Stiftungsfest würdig feiern. O PPOSITION Ich beantrage den Ausschluss unseres Ehrenmitgliedes wegen Arbeiterverrat! P RÄSIDENT Hinaus! M ÜLLER Wir haben einen viel grösseren Verräter unter uns. Er hat sogar den traurigen Mut, hier zu erscheinen. Er ist zum Stahlhelm gegangen. 얍 M EIER Das stimmt. Weil ich eine Uniform umsonst bekomm. P RÄSIDENT Die grösste Korruption! B AUER Ausschluss! A BSTIMMUNG Einstimmig! (Stille) M EIER (geht langsam hinaus) Auf Wiedersehen! B

B

10

K1/TS1 (Grundschicht)

N

N

B

N

B

N

15

B

N

B

B

20

25

N

N

2.) Minister. R EFERENT Es ist eine Eingabe, um Zuschuss zum Arbeiterradfahrerbund. M INISTER Ja. R EFERENT Unmöglich! \Abbruch der Bearbeitung\

6 9 10 13–14 15 17 18

50N ] dasN ] BAusschlussN ] BEr f erscheinen.N ] BichN ] BB AUER N ] BEinstimmig!N ] B B

[25] |50| [u]|d|as korrigiert aus: Auschluss [Ich] |Er f erscheinen.| eingefügt

[M]|B|AUER Einstimmig[)] |!|

265

ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 15

Strukturplan in drei Akten

ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 18

266

Strukturplan in drei Akten

K1/E16

267

Lesetext

Strukturpläne in drei Akten

ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 18v, 19

268

Strukturpläne in drei Akten

K1/E17–E19

269

Lesetext

Notizen zum II. Akt

ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 19v

270

Notizen zum II. Akt

K1/E20

271

Lesetext

Notizen zum III. Akt

ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 20

272

Notizen zum III. Akt

K1/E21

273

Lesetext

274

Konzeption 2: Ein Wochenendspiel in sieben Bildern

275

Strukturplan in zwei Teilen

ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 5

276

Strukturplan in zwei Teilen

K2/E1

277

Lesetext

Strukturplan in sieben Bildern

ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 8

278

Strukturplan in sieben Bildern

K2/E2

279

Lesetext

Strukturplan in sieben Bildern

ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 4

280

Strukturplan in sieben Bildern

K2/E3

281

Lesetext

Strukturpläne in sieben Bildern

ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 7

282

Strukturpläne in sieben Bildern

K2/E4–E7

283

Lesetext

Strukturpläne

ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 6

284

Strukturpläne

K2/E8–E12

285

Lesetext

Werktitel, Figurenliste

ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 22v

286

Werktitel, Figurenliste

K2/E13–E14

287

Lesetext

Strukturpläne in sieben Bildern, Dialogskizze

ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 23

288

Strukturpläne in sieben Bildern, Dialogskizze

K2/E15–E17

289

Lesetext

Notizen

ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 23v

290

Notizen

K2/E18–E19

291

Lesetext

Werktitel, Strukturplan in sieben Bildern

ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 24

292

Werktitel, Strukturplan in sieben Bildern

K2/E20–E22

293

Lesetext

Strukturplan in sieben Bildern

ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 24v

294

Strukturplan in sieben Bildern

K2/E23

295

Lesetext

Strukturplan in sieben Bildern

ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 25

296

Strukturplan in sieben Bildern

K2/E24

297

Lesetext

298

Konzeption 3: Ein Wochenendspiel in sechs Bildern

299

Strukturplan in vierzehn Bildern

ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 9

300

Strukturplan in vierzehn Bildern

K3/E1

301

Lesetext

Strukturplan in vierzehn Bildern (Fortsetzung)

302

ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 10

Strukturplan in vierzehn Bildern (Fortsetzung)

303

K3/E1

Lesetext

Strukturplan in vierzehn Bildern (Fortsetzung)

304

ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 11

Strukturplan in vierzehn Bildern (Fortsetzung)

305

K3/E1

Lesetext

Werkverzeichnisse

ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 12

306

Werkverzeichnisse

K3/E2–E3

307

Lesetext

Fragmentarische Fassung „Der Schlemihl“

5

10

K3/TS1 (Grundschicht)

얍 II. Der Schlemihl. (S LADEK ) = F RITZ Ich versteh die Leut nicht mit ihrem Kollektivismus. Das ist doch alles anders. Der Mensch ist auf sich gestellt – auf sich allein, besonders der Deutsche. Indem, dass wir heute die Lage sehen – wie lange werden wir noch brauchen, bis wir kollektiv denken können? Ich werds ja nimmer erleben – ÷

F RITZ , der Bruder Lenis. F RITZ Ich versteh Dich nicht, wie kannst Du Dich mit so einem Menschen abgeben? L ENI Er gefällt mir halt! F RITZ Du weisst wohl nicht, was das für ein Charakter ist. Meiner Seel, ich glaub, das ist ein Sozi. L ENI Mir ist das ganz wurscht, was einer für eine politische Einstellung hat! F RITZ (lacht kurz) Haha! Was ich da nicht hören muss! Armes deutsches Vaterland! L ENI Tu nur nicht so! F RITZ Ich kann das nicht trennen, ich nicht! Ich könnte mich niemals für eine Bolschewistin interessieren! Ich nicht! L ENI (ab) B

N

B

15

20

Lesetext

N

F RITZ UND SEIN F REUND Die Weiber sind halt überhaupt unzuverlässig! Wir Aufrechten tun uns recht schwer! F RITZ Es bleibt einem zuguterletzt nur die Prostitution! F REUND Komm! In das Weinhaus! \Abbruch der Bearbeitung\

10 13

B B

halt!N ] politischeN ]

halt[–] |!| [soziale] |politische|

308

ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 12

Fragmentarische Fassung des ersten Bildes

5

10

15

20

K3/TS2 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 Erstes Bild. Der Feldherrnhügel Königliche Hoheit, Adjutant, B N und die Herren vom Vorstand der Bürgerwehr: Kolonialmajor, B N Bäckermeister und Reserveleutnant in Friedensuniform. Dann: Trompeter, Standartenträger, Trommler. M AJOR BGestattenN, BKN.H., dass ich K.H. Beinen kurzen Übersichtsplan Bgeb.N N K.H Bitte. M AJOR Die Aufgabe, die wir uns gestellt haben ist folgende: nachdem der Feind aus unserer Stadt vertrieben worden ist, flüchtet er sich hierher in den Wald. Wir verfolgen ihn, er ist noch kompakt, er wird noch mehr versprengt und aufgerieben. B N B Ich bitte, BKN.H., durch dies Fernrohr zu sehen.N B T ROMPETER (trompetet) M AJOR Auf dieses Signal hin beginnt der Kampf.N K.H (sieht durch) M AJOR K.H. sehen rechts am Wald eine getarnte Artilleriestellung – davor links eine Abteilung roter Jäger – K.H Ich sehe leider nichts – M AJOR Einen Augenblick! Unmöglich! (er sieht durch) Tatsächlich nichts! Unerhört! Es ist doch schon Zeit! DER T ROMPETER Es ist drei Uhr. M AJOR Seit 10 Minuten – B N

25

M AJOR Das doch ein Skandal! Ich werd mal gleich nachsehen – K.H. – Herr Graf! (ab) (Stille) B ÜRGERMEISTER Verzeihen , K.H., aber das kommt schon manchmal vor. Besonders der, der diese Abteilung führt, ist ein unzuverlässiger Mann – er ist ein braver Soldat gewesen, aber er hat sich furchtbar zu Herzen genommen, dass wir den Krieg verloren haben, und da hat er angefangen zu saufen – – und seit der Zeit ist nichtsmehr mit ihm zu reden. Er konnt es nicht überwunden, das Unrecht, das dem hohen Hause K.H. angetan worden ist – B

30

B

B

3 4 6 6 6 6 10 11 11 12 22

26 30 30 31

N

N

B

N

N

] ] BGestattenN ] BKN ] Beinen f geb.N ]

[Major] [der] [Erlauben] |Gestatten| K[{ö}] (1) die Situation erkläre. (2) \einen f geb./ Bgeb.N ] korrigiert aus: geb B N] [(er gibt dem Trompeter ein Zeichen)] BIch f sehen.N ] \Ich f sehen./ BKN ] [S]|K| BT ROMPETER f Kampf.N ] T ROMPETER f Kampf. B N] [T ROMPETER Ja, aber der Herr {Schreiner} sagte, er müsste noch zuerst was erledigen. Er könnte nicht so schnell laufen, er hätt noch was zu tun –? B ÜRGERMEISTER Darf ich mich in das Gespräch mischen? K.H Aber bitte! B ÜRGERMEISTER Ich glaub, dass wir es für ½ 4 angesetzt haben, wir müssen also noch 8 Minuten warten –] BVerzeihenN ] [S]|V|erzeihen BihmN ] ih[{ }]|m| BdasN ] [{ }]|das| BhohenN ] [{ }]|hohen| B N B N

309

ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 13

Fragmentarische Fassung des ersten Bildes

N

B

N

B

B

B

10

Lesetext

K.H Oh bitte! B ÜRGERMEISTER Wie bitte? A DJUTANT K.H. wollen sagen, sie sind ganz einverstanden. – K.H (zum A DJUTANTEN ) Es ist doch zu blöd! A DJUTANT K.H. kann sagen, dass es K.H. besonders rührt, diese Veranstaltung hier . Er sieht die Treue aus den Augen leuchten und hofft, dass sich alles noch zum besseren wendet. Wenn es sich zum Besseren gewendet hat, werden K.H. immer an Bürgermeister denken. 얍 B ÜRGERMEISTER K.H.! Tiefgerührt danke ich! Obwohl K.H. als ein bescheidener Mann nach unserer Stadt gefahren sind, unerkannt wollten Sie verweilen – so haben Sie treue Augen doch erkannt und wir empfinden es als unsere Ehrenpflicht, wir die Hakenkreuzler, K.H., dieses Fest darzubieten. B

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K3/TS2 (Korrekturschicht)

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\Abbruch der Bearbeitung\

2 3 5 6 7 7

B ÜRGERMEISTER N ] sieN ] Bdiese f hierN ] BundN ] BbesserenN ] BBesserenN ] B B

[A DJ ]|B ÜR |GERMEISTER [{ }]|sie| diese[r] [Zauber hier] |Veranstaltung hier| [–]|und| bess[{ }]|eren| [{b}]|B|esseren

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ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 13v

Endfassung Ein Wochenendspiel

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 EIN WOCHENENDSPIEL Volksstück in sechs Bildern von BÖdön HorváthN.

ÖLA 3/W 4 – BS 32 a [2], Bl. 1

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얍 Personen:

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ÖLA 3/W 4 – BS 32 a [2], Bl. 2

Stadtrat Kranz Engelbert Betz Wirt Martin Karl Martins Genossen Adele Anna Leni die Dvorakische Zwei Prostituierte Frau Hinterberger Geschwister Leimsieder Republikaner und Faschisten.

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Ort: Süddeutsche Kleinstadt. Zeit: 1930 - ?

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얍 Erstes Bild Im Wirtshaus des Josef Lehninger. Kranz, Engelbert und der Stadtrat Ammetsberger spielen Tarock. Karl kiebitzt. Betz trinkt zufrieden sein Bier. Martin liest die Zeitung. Der Wirt bohrt in der Nase. Es ist Sonntagvormittag und die Sonne scheint. B (StilleN) B ETZ Martin. M ARTIN Ha? B ETZ Was gibts denn Neues in der grossen Welt? M ARTIN Nichts. -- Dass das Proletariat die Steuern zahlt und dass die Herren Unternehmer die Republik prellen, hint und vorn, das ist doch nichts Neues. Oder? B ETZ (leert sein Glas) M ARTIN Und dass die Herren republikanischen Pensionsempfänger kaiserlich reaktionäre Parademärsch veranstalten mit Feldgottesdienst und Kleinkaliberschiessen, und dass wir Republikaner uns das alles gefallen lassen, das ist doch auch nichts Neues. Oder? 3 35

B B

Ödön HorváthN ] (StilleN ]

[O]|Ö|dön Horv[a]|á|th korrigiert aus: ( Stille fehlende oder überzählige Leerzeichen werden in TS3 stillschweigend korrigiert; vgl. Kommentar

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ÖLA 3/W 4 – BS 32 a [2], Bl. 3

Endfassung Ein Wochenendspiel

K3/TS3 (Korrekturschicht)

B ETZ Wir leben in einer demokratischen Republik, lieber Martin. (Jetzt zieht draussen eine Abteilung Faschisten mit Musik vorbei. Alle, ausser Martin und Kranz, eilen an die Fenster und sehen sich stumm den Zug an -- erst als er vorbei ist, rühren sie sich wieder) B ETZ Es ist alles relativ. 얍 S TADTRAT Von einer akuten Bedrohung der demokratischen Republik kann natürlich keineswegs gesprochen werden. Schon weil es der Reaktion an einem ideologischen Unterbau mangelt. Kameraden! Solange es einen republikanischen Schutzbund gibt und solange ich hier die Ehre habe, Vorsitzender des hiesigen Republikanischen Schutzbundes zu sein, solange kann die Republik ruhig schlafen! E NGELBERT Bravo! K RANZ Ich möchte das Wort ergreifen! Ich möchte jetzt etwas vorschlagen! Ich möchte jetzt dafür plädieren, dass wir jetzt wieder weitertarocken und uns nicht wieder stören lassen von diesen germanischen Hoftrotteln samt ihrem dritten Reich! S TADTRAT Sehr richtig! K ARL Wie ist das eigentlich heut Nacht? S TADTRAT Was denn? K ARL Na in Bezug auf unsere italienische Nacht heut Nacht -S TADTRAT (unterbricht ihn) Natürlich steigt unsere italienische Nacht heut Nacht! Oder glaubt denn da wer, dass es sich der Republikanische Schutzbund von irgendeiner reaktionären Seite her verbieten lassen könnt, hier bei unserem Freunde Josef Lehninger eine italienische Nacht zu arrangieren und zwar wann er will?! Unsere republikanische italienische Nacht steigt heut Nacht trotz Mussolini und Konsorten! (er setzt sich nieder, mischt und teilt) E NGELBERT (hat sich auch wieder gesetzt) Dass Du das nicht weisst! K ARL Woher soll ich denn das wissen? B ETZ Ich habs doch bereits offiziell verkündet. 얍 E NGELBERT Aber der Kamerad Karl war halt wiedermal nicht da. K ARL Ich kann doch nicht immer da sein! E NGELBERT Sogar beim letzten Generalappell war er nicht da, vor lauter Weibergschichten ! K RANZ Solo! S TADTRAT Bettel! E NGELBERT Aus der Hand? S TADTRAT Aus der hohlen Hand! K ARL (zu Betz) Soll ich mir das jetzt gefallen lassen? Das mit den Weibergeschichten? B ETZ Du kannst es doch nicht leugnen, dass Dich die Weiber von Deinen Pflichten gegenüber der Republik abhalten -B

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FaschistenN ] Alle,N ] BanN ] BsolangeN ] B N] BhiesigenN ] BGeneralappellN ] BWeibergschichtenN ] B B

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[Heimatwehr] |Faschisten| Alle[m]|,| korrigiert aus: a korrigiert aus: so lange [der Ortsgruppe Kaltenbrunn] \hiesigen/ korrigiert aus: Generalapell Weiberg[es]|s|chichten

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ÖLA 3/W 4 – BS 32 a [2], Bl. 4

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ÖLA 3/W 4 – BS 32 a [2], Bl. 5

Endfassung Ein Wochenendspiel

K3/TS3 (Korrekturschicht)

K ARL Also das sind doch meine intimsten Privatinteressen, muss ich schon bitten! Und zwar energisch! (Stille) W IRT Obs wieder regnen wird? Jedsmal wenn ich eine Sau abstich, versaut mir das Wetter die ganze italienische Nacht. B ETZ Das glaub ich nicht. W IRT Warum? Weils Ihr seid? B ETZ Nein. Sondern weil das Tief über Irland einem Hoch über dem Golf von Biscaya gewichen ist. W IRT Wer behauptet das? B ETZ Die amtliche Landeswetterwarte. W IRT Geh lassts mich aus mit den Behörden! 얍 (Jetzt zieht draussen abermals eine Abteilung Faschisten mit Musik vorbei -- Alle lauschen, aber keiner tritt an das Fenster. Stille) B ETZ Es ist halt alles relativ. M ARTIN Aber was! Eine Affenschand ist das! Während sich die Reaktion bewaffnet, veranstalten wir braven Republikaner italienische Nächt! B ETZ Eigentlich ists ja unglaublich, dass die Reaktion derart erstarkt. M ARTIN Einen Dreck ist das unglaublich! Das konnt man sich ja direkt ausrechnen -wer die wirtschaftliche Macht hat, hat immer Recht, bekanntlich. Aber Ihr vom Vorstand scheint das nicht zu wissen. Noch bild ichs mir ein, dass Ihr wissen wollt, aber ab und zu fällts mir schon recht schwer -E NGELBERT Hoho! B ETZ Du bist halt ein Pessimist. M ARTIN Fällt mir nicht ein! S TADTRAT Ein Krakeeler ist er! Ein ganz gewöhnlicher Krakeeler. (Stille) M ARTIN (erhebt sich langsam) Herr Stadtrat. Sag mal, Herr Stadtrat: kennst Du noch einen gewissen Karl Marx? S TADTRAT (schlägt auf den Tisch) Natürlich kenn ich meinen Marx! Und ob ich meinen Marx kenn! Und ausserdem verbitt ich mir das! E NGELBERT Sehr richtig! K RANZ Solo! S TADTRAT Oder glaubst denn Du, Du oberflächlicher Phantast, dass kurz und gut mit der Verwirklichung des Marxismus kurz und gut das Paradies auf Erden entsteht? 얍 M ARTIN Was Du unter kurz und gut verstehst, das weiss ich nicht. Ich weiss auch nicht, was Du unter Paradies verstanden haben willst, aber ich kanns mir lebhaft denken, was Du unter Marxismus verstehst. Verstanden? Was ich darunter versteh, daran glaub ich. K RANZ Solo, Herrgottsakrament! (er spielt aus) (Stille) B ETZ Weisst Du, was ich nicht kann? M ARTIN Na? B

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JedsmalN ] DieN ] BFaschistenN ] B B

Jed[es]|s|mal [d]|D| [Heimatwehr] |Faschisten|

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ÖLA 3/W 4 – BS 32 a [2], Bl. 6

ÖLA 3/W 4 – BS 32 a [2], Bl. 7

Endfassung Ein Wochenendspiel

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K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

B ETZ Ich kann nicht glauben. (Stille) M ARTIN Das glaub ich gern, dass Du nicht glauben kannst. Du kannst nicht glauben, weil Du nicht musst. Du bist ja auch kein Prolet, Du pensionierter Kanzleisekretär -B ETZ Ich bin zwar Kanzleiobersekretär, aber das spielt natürlich keine Rolle. M ARTIN Natürlich. B ETZ Das ist gar nicht so natürlich! M ARTIN (glotzt ihn verdutzt an) EIN F ASCHIST (erscheint im Lokal, begrüsst den Wirt von oben herab und bespricht mit ihm etwas scheinbar überaus Wichtiges. Der Wirt sieht immer bekümmerter drein. Alle starren die Beiden überrascht an und lauschen -- als der Faschist wieder verschwunden ist, weicht der Wirt ihren Blicken scheu aus) (Stille) S TADTRAT (erhebt sich langsam) Wieso? E NGELBERT Was hat denn das vorstellen sollen, Josef? M ARTIN (grinst) Eine kleine Konferenz -얍 E NGELBERT Wer war denn dieser Herr, lieber Josef? K RANZ Ein Faschist wars, ein ganz ein dreckiger! B

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W IRT (lächelt verzweifelt) Nichts, Leutl! Nichts -- (er will ab ) B ETZ Halt! W IRT (hält) B ETZ Ich hab jetzt nämlich gehorcht. M ARTIN Ich auch. B ETZ Lieber Josef, ich glaub gar, Du bist ein grandioser Schuft. W IRT Das darfst Du nicht sagen, Heinrich! B ETZ Ich sags sogar nochmal, lieber Josef! Na das ist empörend! Wir Republikaner sind Deine Stammgäst, aber kaum dass diese Erzreaktionäre mal einen ihrer berüchtigten deutschen Tage veranstalten, schon stellst Du ihnen für heut Nachmittag Dein Gartenlokal zur Verfügung! Und wir Republikaner, denkst Du, kommen dann am Abend dran mit unserer italienischen Nacht und kaufen Dir brav die Reste ab, die wo die Herren Reaktionäre nichtmehr zammfressen konnten! A das ist aber korrupt! E NGELBERT Hört hört! W IRT Ich bin nicht korrupt! Das bin ich nicht, Leutl, das ist meine Frau -K ARL Papperlapapp! 얍 W IRT Ihr kennt meine Frau nicht, liebe Leutl! Die scheisst sich was um die politischen Konstellationen, der ist es sauwurscht, wer ihre Würst zammfrisst! Und ich Rindvieh hab mal von einem heiteren Lebensabend geträumt! Und wenn ich jetzt B

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F ASCHIST N ] FaschistN ] BFaschistN ] B N]

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verzweifelt)N ] will abN ]

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[H EIMATWEHRMANN ] |F ASCHIST | [Heimatwehrmann] |Faschist| [Hakenkreuzler] |Faschist| [M ARTIN (grinst) Was habt Ihr denn da zusammenpaktiert, Herr Hotelier? S TADTRAT Zusammenpaktiert?] verzweifelt[7]|)| will\ /ab

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ÖLA 3/W 4 – BS 32 a [2], Bl. 9

Endfassung Ein Wochenendspiel

K3/TS3 (Korrekturschicht)

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den schwarzweissroten Fetzen nicht raussteck, verderben mir sechzig Portionen Schweinsbraten, das war doch ein furchtbarer Blödsinn, die Reichsfarben zu ändern! Meiner Seel, ich bin schon ganz durcheinand! B N

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K RANZ (tritt vor den Wirt) Wenn Du jetzt nicht mein Freund wärst, tät ich Dir jetzt ins Gsicht spucken, lieber Josef! E NGELBERT Bravo! (Stille) W IRT (verzweifelt) Meiner Seel, jetzt sauf ich mir einen an, und dann erschiess ich meine Alte. Und dann spring ich zum Fenster naus, aber vorher zünd ich noch alles an! Meine Herren! Leckts mich am Arsch! (ab) S TADTRAT (wirft zornbebend die Karten zu Boden) (Stille) S TADTRAT Dieser Schmutz. (mit erhobener Stimme) Aber sehen möcht ich doch, welche Macht unsere italienische Nacht heut Nacht zu vereiteln vermag! Kameraden! Wir weichen nicht, und wärs die vereinigte Weltreaktion! Unsere republikanische italienische Nacht steigt heut Nacht, wie gesagt! Auch ein Herr Josef Lehninger wird uns keinen Strich durch die Rechnung machen! Kommt Kameraden! (ab) M ARTIN Hurrah! K RANZ Du Mephisto -A LLE (verlassen das Lokal) N

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얍 Zweites Bild Strasse. Alle Häuser sind schwarzweissrot beflaggt, massen die BhiesigeN Ortsgruppe B N der B FaschistenN, wie dies auch ein Transparent verkündet, einen deutschen Tag Bveranstaltet.N Eben zieht eine Abteilung mit Fahne, Musik und Kleinkalibern vorbei, gefolgt von Teilen der vaterländisch gesinnten Bevölkerung -- auch die Dvorakische und das Fräulein Leni ziehen mit. L ENI Jetzt kann ich aber nichtmehr mit. D IE D VORAKISCHE Da tuns mir aber leid, Fräulein! L ENI Die Musik ist ja fein, aber für die Herren in Uniform könnt ich mich nicht begeistern. Die sehn sich alle so fad gleich. Und dann werdens auch gern so eingebildet selbstsicher. Da sträubt sich etwas in mir dagegen. D IE D VORAKISCHE Das glaub ich gern, weil Sie halt keine Erinnerung mehr haben an unsere Vorkriegszeit. L ENI Ich muss jetzt da nach links.

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] (Stille)N ] B(verzweifelt)N ] BhiesigeN ] B N] BFaschistenN ] Bveranstaltet.N ] B N B

[(Stille)]f x (Stille) [Das dürft Ihr nicht sagen!] |(verzweifelt)| \hiesige/ [Kaltenbrunn] [Heimatwehr] |Faschisten| [verkündet-] |veranstaltet.| x

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Endfassung Ein Wochenendspiel

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K3/TS3 (Korrekturschicht)

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D IE D VORAKISCHE Fräulein. Sie könnten mir eigentlich einen grossen Gefallen tun -L ENI Gern! D IE D VORAKISCHE Ihr Herr Major muss doch ganz pompöse Uniformen haben -L ENI Ja das stimmt, weil er früher auch in den Kolonien gewesen ist, die wo uns Deutschen geraubt worden sind. 얍 D IE D VORAKISCHE Geh fragens doch mal den Herrn Major, ob er mir nicht so eine alte Uniform verkaufen möcht, es passiert Ihnen nichts -L ENI Wie meinens denn das? D IE D VORAKISCHE Das sagt man halt so. (Stille) L ENI Was möchtens denn mit der Uniform anfangen? D IE D VORAKISCHE (lächelt) Anschaun. L ENI Ist das alles? D IE D VORAKISCHE Wie mans nimmt -(Stille) L ENI Nein, das wär mir, glaub ich, unheimlich -D IE D VORAKISCHE (plötzlich wütend) Dumme Gans dumme! Ihr jungen Leut habt halt keine Illusionen mehr! (rasch ab) (Trommelwirbel) K ARL (kommt und erkennt Leni) Ist das aber ein Zufall! L ENI Ich hab jetzt nicht viel Zeit, Herr Karl! K ARL Ich auch nicht. Aber ich möcht Ihnen doch nur was vorschlagen, Fräulein! L ENI Was möchtens mir denn vorschlagen? K ARL Dass wir zwei Hübschen uns womöglich heut abend noch treffen, möcht ich vorschlagen -- ich hätts Ihnen schon gestern vorgeschlagen, aber es hat sich halt keine Gelegenheit ergeben -L ENI Lügens mich doch nicht so an, Herr Karl. K ARL Ja wie hätten wir es denn, undsoweiter? Das hab ich doch noch niemals nicht notwendig gehabt, ein Weib anzulügen, weil ich doch immerhin ein gerader Charakter bin, merken Sie sich das! 얍 L ENI Ich wollt Sie doch nicht beleidigen -K ARL Das können Sie auch nicht. L ENI (starrt ihn an) Was verstehen Sie darunter, Herr Karl? K ARL Ich versteh darunter, dass Sie mich nicht beleidigen können, weil Sie mir sympathisch sind -- Sie könnten mich höchstens kränken, Fräulein. Das versteh ich darunter. (Stille) L ENI Ich glaub gar, Sie sind ein schlechter Mensch. K ARL Es gibt keine schlechten Menschen, Fräulein. Es gibt nur sehr arme Menschen. (Stille) L ENI Ich wart aber höchstens zehn Minuten -K ARL Und ich nur fünf. L ENI (lächelt) Also dann bin ich halt so frei, Sie schlechter Mensch -- (ab)

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M ARTIN und B ETZ (kommen) M ARTIN (sieht Leni, die rasch an ihm vorbeigegangen ist, nach; dann betrachtet er Karl spöttisch)

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Endfassung Ein Wochenendspiel

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K3/TS3 (Korrekturschicht)

K ARL Sag mal Martin: ich nehm natürlich an, dass bei unserer italienischen Nacht heut Nacht nicht nur eingeschriebene ordentliche und ausserordentliche Mitglieder, sondern auch Sympathisierende gern gesehen sind -M ARTIN Von mir aus. K ARL Ich hab nämlich gerade jemand eingeladen. Eine mir bekannte Sympathisierende von mir. 얍 M ARTIN War das die da? K ARL Kennst Du die da? M ARTIN Leider. K ARL Wieso? M ARTIN Weil das ein ganz stures Frauenzimmer ist. K ARL Ich find aber, dass sie was Bestimmtes hat -M ARTIN Aber was! Ich meinte doch, dass dieses Frauenzimmer ganz stur ist, nämlich in politischer Hinsicht, das ist doch eine geborene Faschistin , Herrgottsakrament! Wie kann man nur mit so was herumpoussieren! K ARL Mein lieber Martin, das verstehst Du nicht. Wir zwei beide sind aufrechte Republikaner, aber wir haben dabei einen Unterschied. Du bist nämlich Arbeiter und ich bin Musiker. Du stehst am laufenden Band und ich spiel in einem Konzertcafé Schumann, Mozart, Kalman und Johann Strauss -- daher bin ich natürlich der grössere Individualist, schon weil ich halt eine Künstlernatur bin. Ich hab die stärkeren privaten Interessen, aber nur scheinbar, weil sich bei mir alles gleich ins Künstlerische umsetzt. M ARTIN (grinst) Das sind aber feine Ausreden -K ARL Das bin ich mir einfach schuldig, dass ich in erotischer Hinsicht ein politisch ungebundenes Leben führ -- Merk Dir das! (ab) M ARTIN Nur zu! (er grinst) (Stille) B ETZ Martin. Du weisst, dass ich Dich schätz, trotzdem dass Du manchmal schon direkt unangenehm boshaft bist -- Ich glaub, Du übersiehst etwas sehr Wichtiges bei Deiner Beurteilung der politischen Weltlage, nämlich das Liebesleben in der Natur. Ich hab mich in der 얍 letzten Zeit mit den Werken von Professor Freud befasst, kann ich Dir sagen. Du darfst doch nicht vergessen, dass um unser Ich herum Aggressionstriebe gruppiert sind, die mit unserem Eros in einem ewigen Kampfe liegen, und die sich zum Beispiel als Selbstmordtriebe äussern, oder auch als Sadismus, Masochismus, Lustmord -M ARTIN Was gehen mich Deine Perversitäten an? B ETZ Das sind doch auch die Deinen! M ARTIN Was Du da nicht sagst! B ETZ Oder hast Du denn Deine Anna noch nie gekniffen oder sonst irgendsowas, wenn Du -- ich meine: im entscheidenden Moment -M ARTIN Also das geht Dich einen grossen Dreck an. B ETZ Und dann sind das doch gar keine Perversitäten, sondern nur Urtriebe! Ich kann Dir sagen, dass unsere Aggressionstriebe eine direkt überragende Rolle bei der Verwirklichung des Sozialismus spielen, nämlich als Hindernis. Ich fürcht, dass Du in diesem Punkte eine Vogelstrausspolitik treibst. M ARTIN Weisst, Du, was Du mich jetzt kannst? (ab) B

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FaschistinN ]

korrigiert aus: Fascistin

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Endfassung Ein Wochenendspiel

K3/TS3 (Korrekturschicht)

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B ETZ (sieht ihm nach) Auch der kann die Wahrheit nicht vertragen -- Jugend kennt halt keine Tugend.

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얍 Drittes Bild Seitenstrasse. Mit vielen Fahnen. Die Luft ist voll von Militärmusik. An der Ecke stehen zwei Prostituierte. Es ist bereits spät am Nachmittag. Der Stadtrat Ammetsberger geht vorbei. Die Prostituierten zwinkern. E RSTE Kennst Du den? Z WEITE Er ist nicht unrecht. E RSTE Ich glaub, er ist was bei der Stadt. Irgendein Tier. Z WEITE Wahrscheinlich. (Jetzt wehen die Fahnen im Winde) Z WEITE (sieht empor) Wenns nur keine Fahnen gäb -E RSTE Fahnen sind doch direkt erhebend. Z WEITE Nein -- wenn ich so Fahnen seh, ists mir immer, als hätten wir noch Krieg. E RSTE Ich kann nichts gegen den Weltkrieg sagen. Das wär undankbar. (mit dem Lippenstift) Für mich sind am besten Gemäldeausstellungen, überhaupt künstlerische Veranstaltungen. Auch so vaterländische Feierlichkeiten sind nicht schlecht. (Pause) Z WEITE Eigentlich ist der Krieg dran schuld. E RSTE An was denn? Z WEITE An mir. E RSTE Lächerlich! Alle reden sich naus auf den armen Krieg! B N 얍 A NNA (kommt und hält an der anderen Ecke; sie wartet) E RSTE Wer ist denn das? Z WEITE Ich kenn sie nicht. E RSTE Die sieht so neu aus. Und dann sieht sie doch BwemN ähnlich -Z WEITE (grinst) Dir -E RSTE (starrt sie an) Also das war jetzt gemein von Dir, Luise.

F ASCHISTEN (kommen an Anna vorbei) A NNA (weicht ihnen aus) D IE F ASCHISTEN (halten vor ihr und grinsen sie an) A NNA (will ab) DREI

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M ARTIN (tritt ihr in den Weg, grüsst kurz und spricht mit ihr) DIE F ASCHISTEN UND DIE P ROSTITUIERTEN (horchen, hören aber nichts) A NNA Und? B

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wemN ] F ASCHISTEN N ] BF ASCHISTEN N ] BF ASCHISTEN N ] B

[Vor allem täts unseren jungen Herren nichts schaden, wenn wir wieder ein stehendes Heer hätten, dann wüssten diese Lackeln wenigstens, was Anstand ist!] korrigiert aus: wen [H EIMATWEHRLER ] |F ASCHISTEN | [H EIMATWEHRLER ] |F ASCHISTEN | [H EIMATWEHRLER ] |F ASCHISTEN |

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Endfassung Ein Wochenendspiel

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M ARTIN Da gibts kein und. Er hat sich halt wieder herausgelogen, der Herr Stadtrat. Das wäre unter seiner republikanischen Würde, hat er gesagt. Es kommt alles, wie es kommen muss. A NNA Ein korrupter Mensch. M ARTIN Herrschen tut der Profit. Also regieren die asozialen Elemente. Und die schaffen sich eine Welt nach ihrem Bilde. Aber garantiert! Heut gibts noch einen Tanz auf denen ihrer italienischen Nacht! Zur freundlichen Erinnerung! DIE F ASCHISTEN (beschäftigen sich nun mit den Prostituierten) (Stille) A NNA Weisst Du, was die Genossen sagen? 얍 M ARTIN Was? A NNA Dass Du eine Zukunft hast. M ARTIN (zuckt die Schulter) Sie kennen mich halt. Ich müsst aber fort. In irgendeine Metropole. A NNA Ich hab auch das Gefühl, dass man auf Dich wartet. M ARTIN Hier hab ich ein viel zu kleines Betätigungsfeld. Das könnt auch ein anderer machen, was ich hier mach. A NNA Nein, das könnt keiner so machen! M ARTIN Du weisst, dass ich das nicht gern hör! A NNA Aber es ist doch so! Wenn alle so wären wie Du, stünd es besser um uns Menschen. M ARTIN Aber ich kann doch nichts dafür, dass ich so bin! Dass ich der Intelligentere bin und dass ich mehr Durchschlagskraft hab, das verpflichtet mich doch nur, mich noch intensiver für das Richtige einzusetzen! Ich mag das nichtmehr hören, dass ich eine Ausnahme bin, Herrgottsakrament! Ich bin keine, merk Dir das! A NNA Das kannst einem doch auch anders sagen, dass Du keine Ausnahme bist -(Stille) M ARTIN Anna, die Zeit braust dahin und es gibt brennendere Probleme auf der Welt als wie Formfragen. Vergiss Deine Pflichten nicht! (Ab) B

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K3/TS3 (Korrekturschicht)

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Z WEI F ASCHISTEN (sind inzwischen mit den Prostituierten verschwunden; der Dritte fixiert nun Anna) A NNA (plötzlich) Nun? DER D RITTE (grinst) B

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N B N

A NNA (lächelt) Nun? K ARL (erscheint hinter dem Faschisten)

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A NNA (fährt zurück) K ARL Pardon!

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F ASCHISTEN N ] F ASCHISTEN N ] B N] B N] B N] BK ARL f Faschisten)N ] Bdem Faschisten)N ] B N] B N] B B

[H EIMATWEHRLER ] |F ASCHISTEN | [H EIMATWEHRLER ] |F ASCHISTEN | gestrichen: \2.)/ [K ARL f Faschisten)]f x gestrichen: \1.)/ xK ARL f Faschisten) [Anna)] |dem Faschisten)| [K ARL (entsetzt) Anna!] gestrichen: \3.)/

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Endfassung Ein Wochenendspiel

K3/TS3 (Korrekturschicht)

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D RITTE (grinst; er grüsst Anna spöttisch-elegant und ab) (Stille) K ARL (unterdrückt seine Erregung) Pardon, Gnädigste! A NNA Du Trottel. K ARL Um Gotteswillen. Eine Anna und dieser Faschist , da stürzt ja in mir eine Welt zusammen -- Wer ist jetzt verrückt? Ich oder Du?! A NNA Du! K ARL Armer Martin! A NNA (unterbricht ihn) Wenn der Martin Dich jetzt gesehen hätt, hätt er jetzt schon keine Haar mehr, Du unüberlegter Mensch! Ich streng mich da an, fädel was ein und Du zertrampelst mir wieder alles! K ARL Unüberlegt! A NNA Und unverantwortlich! K ARL Unverantwortlich ! Grad schimpft mich der Martin zusammen, weil ich mich für ein unpolitisches Weib interessier, und derweil bandelt die Seine mit einem Faschisten an -- ich glaub, ich bin verrückt! A NNA So beruhig Dich doch! K ARL Armer Martin! A NNA Aber ich tu doch nichts ohne Martin! K ARL (starrt sie verdutzt an) Wie war das? A NNA Ich soll doch nur einen Faschisten kennen lernen, um ihn auszuhorchen -- der Martin möcht noch etwas Genaueres über denen ihre Kleinkaliber wissen. 얍 (Stille) K ARL Ist das echt? A NNA Was hast denn Du jetzt gedacht? K ARL Ich? (er stockt) Pardon! A NNA Das war doch eine grobe Beleidigung -K ARL Pardon! A NNA Schäm Dich. (Stille) K ARL Anna. Ich hab schon viel erlebt auf erotischem Gebiete, und dann wird man halt mit der Zeit leicht zynisch. Besonders wenn man so eine scharfe Beobachtungsgabe hat. Du bist natürlich eine moralische Grösse. Du hast Dich überhaupt sehr verändert. A NNA (lächelt) Danke. K ARL Bitte. Du warst mal nämlich anders. Früher. A NNA (nickt) Ja, früher. K ARL Da warst Du nicht so puritanisch. (Stille) DER

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korrigiert aus: Fascist

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FaschistN ] Armer Martin!N ] Bunverantwortlich!N ] BUnverantwortlichN ] BFaschistenN ] BFaschistenN ] B N] BPardon!N ] BüberhauptN ]

[Und der Martin --] |Armer Martin!| [oberflächlich!] |unverantwortlich!| [Oberflächlich] |Unverantwortlich| korrigiert aus: Fascisten korrigiert aus: Fascisten [Ich hab was anderes --] [Nichts.] |Pardon!| ü[n]|b|erhaupt

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Endfassung Ein Wochenendspiel

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A NNA (plötzlich ernst) Und? K ARL Wenn ich Dich so seh, krieg ich direkt einen Moralischen. Der Martin hat schon sehr recht, man soll sich nicht so gehen lassen -- jetzt hab ich halt schon wieder ein Rendezvous, sie ist zwar politisch indifferent -- (er sieht auf seine Uhr) A NNA Dann würd ich an Deiner Stelle einen heilsamen Einfluss auf sie ausüben. K ARL Meiner Seel, das werd ich auch! Ehrenwort! Es hat doch keinen Sinn, als Vieh durch das Leben zu laufen und immer nur an die Befriedigung seiner niederen Instinkte zu denken -- Aber komisch find ich das doch von Martin. 얍 A NNA Was? K ARL Ich könnts ja nie. A NNA Was denn? K ARL Ich kanns mir nicht vorstellen, wie er Dich liebt. Ich meine: ob normal, so wie sichs gehört -A NNA Was willst Du? K ARL Es tät mich nur interessieren. Wenn er nämlich sowas von Dir verlangt, er schickt Dich doch gewissermassen auf den politischen Strich -- Ob er dabei innere Kämpfe hat? A NNA Innere Kämpfe? K ARL Ja! (Stille) A NNA Aber was! Du kannst mich nicht durcheinander bringen! Ich kenn den Martin besser! Der steht über uns allen! Ich war blöd, dumm, verlogen, klein, hässlich -er hat mich emporgerissen. Ich war nie mit mir zufrieden. Jetzt bin ichs. K ARL (verbeugt sich leicht) A NNA Jetzt hab ich einen Inhalt, weisst Du? (langsam ab) K ARL (sieht auf seine Uhr) (es dämmert stark) B

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L ENI (kommt) Guten Abend, Herr Karl! Ich freu mich nur, dass Sie noch da sind! Ich konnt leider nicht früher! K ARL Wir haben ja noch Zeit. Und dann siehts ja auch nicht schlechter aus, wenn man später kommt. 얍 L ENI Warum denn so traurig? K ARL Traurig? L ENI Nein, diese Stimme -- wie aus dem Grab. (sie lächelt) K ARL Ich hab grad ein Erlebnis hinter mir. Ich glaub, ich bin verflucht. L ENI Aber Herr Karl! Wenn jemand einen so schönen Gang hat! (sie lacht und verstummt wieder plötzlich, da er totenernst bleibt) (Stille) K ARL Ja, Fräulein. Sie verstehen mich anscheinend nicht, ich müsst Ihnen das nämlich stundenlang auseinandersetzen -- Ich seh schwarz in die Zukunft, Fräulein. L ENI Geh, Sie sind doch ein Mann -B

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könntsN ] kennN ] Bblöd,N ] BTraurig?N ] B B

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könnt[e]|s| k[{a}]|e|nn korrigiert aus: blöd. [Wer? Ich?] |Traurig?|

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K ARL Gerade als Mann darf man eher verzweifeln, besonders ich, weil ich den politischen Tagesereignissen näher steh. -- Sie kümmern sich nicht um Politik? L ENI Nein. K ARL Das sollten Sie aber. L ENI Warum redens denn jetzt darüber? K ARL In Ihrem Interesse. L ENI Wollens mich ärgern? K ARL Es wär Ihre Pflicht als Staatsbürger -L ENI Warum wollens mir denn jetzt die ganze Stimmung verderben, ich hab mich ja schon so gefreut auf Ihre italienische Nacht! (Stille) K ARL Ich bin nämlich nicht so veranlagt, dass ich eine Blume einfach nur so abbrech am Wegrand, ich muss auch menschlich einen Kontakt haben -- und das geht bei mir über die Politik. 얍 L ENI Geh, das glaubens doch selber nicht! K ARL Doch! Ich könnt zum Beispiel nie mit einer Frau auf die Dauer harmonieren, die da eine andere Weltanschauung hätt. L ENI Ihr Männer habt alle eine ähnliche Weltanschauung! (Stille) K ARL Sie sind doch eine Deutsche? L ENI Ja. K ARL Sehns, Fräulein, das ist der Fluch speziell von uns Deutschen, dass wir uns nicht um Politik kümmern, wir sind kein politisches Volk -- bei uns gibts noch massenweis Leut, die keine Ahnung haben, wer sie regiert. L ENI Ist mir auch gleich. Besser wirds nicht. Ich schau, dass ich durchkomm. K ARL Mir scheint, Sie haben keine Solidarität. L ENI Redens doch nicht so protzig daher! K ARL Mir scheint, dass Sie garnicht wissen, wer der Reichspräsident ist? L ENI Ich weiss nicht, wie die Leut heissen! K ARL Wetten, dass Sie nicht wissen, wer der Reichskanzler ist? L ENI Weiss ich auch nicht! K ARL Also das ist ungeheuerlich! Und wiedermal typisch deutsch! Können Sie sich eine Französin vorstellen, die das nicht weiss? L ENI So gehens halt nach Frankreich! K ARL Wer ist denn der Reichsinnenminister? Oder wieviel Reichsminister haben wir denn? Ungefähr? L ENI Wenn Sie jetzt nicht aufhören, lass ich Sie stehen! 얍 K ARL Unfassbar! (Stille) L ENI Das hab ich mir auch anders gedacht, diesen Abend. K ARL Ich auch. L ENI Einmal geht man aus -- und dann wird man so überfallen. K ARL (sieht auf seine Uhr) Jetzt wirds allmählich Zeit. L ENI Am liebsten möcht ich garnichtmehr hin -B

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mir f jetztN ] Geh, dasN ] Bhätt.N ] B B

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mir1 jetzt3 denn2 \Geh,/ [D]|d|as korrigiert aus: hätt,

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Endfassung Ein Wochenendspiel

K3/TS3 (Korrekturschicht)

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K ARL Aber was! (er umarmt sie und gibt ihr einen Kuss) L ENI (wehrt sich nicht)

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얍 Vi e r t e s B i l d . Im Gartenlokal des Josef Lehninger. Nun ist es finster geworden und nun steigt die italienische Nacht der BhiesigenN Ortsgruppe B N des Republikanischen Schutzbundes. Mit Girlanden und Lampions, Blechmusik und Tanz. Eben tanzen der Stadtrat Ammetsberger, Kranz, Betz, Engelbert u.s.w. mit ihren Damen eine Francaise (Offenbach) -- auch Karl und Leni sind dabei. Martin und seine Genossen sitzen etwas abseits und sehen finster Bzu.N E RSTER G ENOSSE Ein feiner Genosse! Z WEITER Wer? E RSTER (deutet auf Karl) Dort. D RITTER Diese Künstlernatur? E RSTER Martin. Der hat Dir doch sein Ehrenwort gegeben, dass er nicht tanzt? M ARTIN Ja. Das auch. V IERTER Ein Schuft! F ÜNFTER Einer mehr. E RSTER Und jedsmal wegen einem Frauenzimmer -(Pause) V IERTER Die bildt sich aber was ein! D RITTER Gott wie graziös! F ÜNFTER Die wirds auch nimmer begreifen, wos hinghört. Z WEITER Wer ist denn das Frauenzimmer? E RSTER Auch nur Prolet! S ECHSTER Nein. Das ist was bedeutend feineres. Das ist eine Angestellte -- (er grinst) 얍 D RITTER (lacht) S IEBENTER Wann gehts denn los? D RITTER (verstummt plötzlich) M ARTIN Bald! (er erhebt sich, tritt nahe an die Tanzenden heran und sieht zu; jetzt spielt die Musik einen Walzer, einige Paare hören auf zu tanzen -- u.a. auch der Stadtrat Ammetsberger) S TADTRAT Na was war das für eine Idee? E NGELBERT Eine Prachtidee! S TADTRAT Ich wusst es doch, dass solch ein zwangloses gesellschaftliches Beisammensein uns Republikaner menschlich näher bringen würde. K RANZ (ist leicht angetrunken) Ich freu mich nur, dass wir uns von dieser Scheissreaktion nicht haben einschüchtern lassen, und, dass wir diese bodenlose Charakterlosigkeit unseres lieben Josef mit einer legeren Handbewegung bei Seite geschoben haben. (er rülpst) Das zeigt von innerer Grösse. S TADTRAT Eine Prachtidee. E NGELBERT Eine propagandistische Tat! 9 10 13

hiesigenN ] ] Bzu.N ] B

B N

\hiesigen/ [Kaltenbrunn] korrigiert aus: zu..

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Endfassung Ein Wochenendspiel

K3/TS3 (Korrekturschicht)

K RANZ Diese Malefizfaschisten täten sich ja nicht wenig ärgern, wenn sie sehen könnten, wie ungeniert wir Republikaner uns hier bewegen! (er torkelt etwas) E NGELBERT Wo stecken denn jetzt diese Faschisten ? B ETZ Ich hab was von einer Nachtübung gehört. E NGELBERT Na viel Vergnügen! K RANZ Prost! S TADTRAT Dieser kindische Kleinkaliberunfug. B ETZ Aber sie sollen doch auch Maschinengewehre -얍 S TADTRAT (unterbricht ihn) Redensarten ! Nur keinen Kleinmut, Kameraden! -Darf ich Euch meine Frau vorstellen, meine bessere Hälfte. K RANZ Sehr erfreut! E NGELBERT Angenehm! B ETZ Vom Sehen kennen wir uns schon. DIE BESSERE H ÄLFTE (lächelt unsicher) S TADTRAT So -- Woher kennt Ihr Euch denn? B ETZ Ich hab Dich mal mit ihr gehen sehen. S TADTRAT Mich? Mit ihr? Wir gehen doch nie zusammen aus! B ETZ Doch. Und zwar dürft das so vor Weihnachten gewesen sein -S TADTRAT Richtig! Das war an ihrem Geburtstag! Der einzige Tag im Jahr, an dem sie mitgehen darf, ins Kino -- (er lächelt und kneift sie in die Wange) Sie heisst Adele. Das heut ist nämlich eine Ausnahme, eine grosse Ausnahme -- Adele liebt die Oeffentlichkeit nicht, sie ist lieber daheim -- (er grinst) Ein Hausmütterchen. K RANZ (zu Adele) Trautes Heim, Glück allein. Häuslicher Herd ist Goldes wert. (er rülpst) Die Grundlage des Staates ist die Familie. Was Schönres kann sein, als ein Lied aus Wien. (er torkelt summend zu seinem Bier) B ETZ Ein Schelm. E NGELBERT (zu Adele) Darf ich bitten! S TADTRAT Danke! Adele soll nicht tanzen. Sie schwitzt. (Pause; Engelbert tanzt nun mit einer Fünfzehnjährigen) A DELE (verschüchtert) Alfons. S TADTRAT Nun? 얍 A DELE Ich schwitz ja garnicht. S TADTRAT Ueberlass das mir, bitte. A DELE Warum soll ich denn nicht tanzen? S TADTRAT Du kannst doch garnicht tanzen! A DELE Ich? Ich kann doch tanzen! S TADTRAT Seit wann denn? A DELE Seit immer schon. S TADTRAT Du hast noch nie tanzen können! Selbst als blutjunges Mädchen nicht, merk Dir das! Blamier mich nicht! (er zündet sich eine Zigarre an) (Pause) B

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MalefizfaschistenN ] FaschistenN ] BRedensartenN ] B N] BWien.N ] B N] BWarum f tanzen?N ] B(er f an)N ] B B

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korrigiert aus: Malefizfascisten korrigiert aus: Fascisten

[Quatsch] |Redensarten| gestrichen: . korrigiert aus: Wien [Warum soll ich nicht tanzen?] [Aber das geht doch mich auch etwas an.] |Warum f tanzen?| \(er f an)/

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A DELE Alfons. Warum hast Du gesagt, dass ich die Oeffentlichkeit nicht lieb? Ich ging doch gern öfters mit -- Warum hast das gesagt? S TADTRAT Darum. (Pause) A DELE Ich weiss ja, dass Du im öffentlichen Leben stehst, eine öffentliche Persönlichkeit -S TADTRAT Furie. A DELE Du stellst einen immer in ein falsches Licht. Du sagst, dass ich mit Dir nicht mitkomm -S TADTRAT (unterbricht sie) Siehst Du! A DELE (gehässig) Was denn? S TADTRAT Dass Du mir nicht das Wasser reichen kannst. (Pause) A DELE Ich möcht am liebsten nirgends mehr hin. S TADTRAT Also! (er lässt sie stehen; zu Betz) Meine Frau, was? (er grinst) Wenn Du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht. 얍 B ETZ Das ist von Nietzsche. S TADTRAT Sie folgt aufs Wort. Das doch ein herrlicher Platz hier! Diese uralten Stämme und diese ozonreiche Luft -- (er atmet tief) B ETZ Das sind halt die Wunder der Natur. S TADTRAT Die Wunder der Schöpfung -- es gibt nichts Herrlicheres. Ich kann das besser beurteilen, weil ich ein Bauernkind bin. Wenn man so in den Himmel schaut, kommt man sich so winzig vor -- diese ewigen Sterne! Was sind wir daneben? B ETZ Nichts. S TADTRAT Nichts. Gott hat doch einen feinen Geschmack. B ETZ Es ist halt alles relativ. (Pause) S TADTRAT Du, Betz. Ich hab mir ein Grundstück gekauft. B ETZ Wo denn? S TADTRAT Fast ein Tagwerk. Mit einer Lichtung -- Schau, lieber guter Freund: die Welt hat Platz für anderthalb Milliarden Menschen, warum soll mir da nicht von dieser grossen Welt so ein kleines Platzerl gehören -E RSTER G ENOSSE (hat unfreiwillig gelauscht) Ein feiner Marxist! S TADTRAT Was hat der gesagt? B ETZ So lass ihn doch! A DELE Er hat gesagt: ein feiner Marxist. (Pause) S TADTRAT Wie Du das einem so einfach ins Gesicht sagst. -- Toll! A DELE Ich hab ja nur gesagt, was er gesagt hat. S TADTRAT Wer? Was sich da diese unreifen Spritzer herausnehmen! Ueberhaupt! (er deutet auf Martin und seine Genossen) Dort hat noch keiner getanzt -- saubere Jugend! Opposition und Opposition. Revolte oder dergleichen. Spaltungserscheinungen. Nötige Autorität. Man 얍 muss. (er will an seinen Biertisch, stockt jedoch, da er sieht, dass Martin und seine Genossen eine leise debattierende Gruppe bilB

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mitkomm --N ] feinenN ] B N]

[k]|f|einen [eine]

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Endfassung Ein Wochenendspiel

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den; er versucht zu horchen -- plötzlich geht er rasch auf Martin zu) Martin. Was hast Du da gesagt? Feiner Marxist, hast Du gesagt? M ARTIN Ich habs zwar nicht gesagt, aber ich könnts gesagt haben. S TADTRAT Und wie hättest Du das gemeint, wenn Du es gesagt hättest? M ARTIN Wir sprechen uns noch. (er lässt ihn stehen) (Akkord und Gong) E NGELBERT (auf dem Podium) Meine Damen und Herren! Kameraden! Eine grosse erfreuliche Ueberraschung hab ich Euch mitzuteilen! Es steht Euch ein seltener Kunstgenuss bevor! Frau Hinterberger, die Gattin unseres verehrten lieben Kassiers, hat sich liebenswürdigerweise bereit erklärt, uns mit ihrer Altstimme zu entzücken! (Bravorufe und Applaus) Ich bitte um Ruhe für Frau Hinterberger! F RAU H INTERBERGER (betritt das Podium, mit Applaus begrüsst) Ich singe Ihnen eine Ballade von Löwe. Heinrich der Vogler. (sie singt die Ballade; grosser Beifall, nur Martin und seine Genossen beteiligen sich nach wie vor an keiner Ovation; nun wird wieder weitergetanzt) L ENI (zu Karl) Das war aber schön. Ich bin nämlich sehr musikalisch. K ARL Das hab ich schon bemerkt. L ENI An was denn? K ARL An Deinem Tanzen. Du hast ein direkt exorbitantes rhythmisches Feingefühl -L ENI Das hängt aber nicht nur von mir ab. Das hängt auch vom Herrn ab. K ARL Hast es also nicht bereut?

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L ENI (lächelt) Werd mir nur ja nicht wieder politisch -- Versprichs mir, dass Du es nimmer werden wirst, auf Ehrenwort. K ARL Auf Ehrenwort -L ENI Komm! K ARL Schon wieder? L ENI Heut könnt ich mal wieder ewig tanzen! Bis an das Ende der Welt! K ARL Respekt! M ARTIN (zu Karl) Karl, darf ich Dich einen Augenblick -K ARL Bitte. (zu Leni) Pardon! (zu Martin) Nun? M ARTIN (nach kleiner Pause) Du hast mir doch versprochen, nicht zu tanzen -K ARL (wird nervös) Hab ich das? M ARTIN Ja. Du hast mir sogar versprochen, dass wenn es jetzt hier zu der bevorstehenden weltanschaulichen Auseinandersetzung -K ARL (unterbricht ihn) Also bitte werd nur nicht wieder moralisch! M ARTIN Du hast halt wiedermal Dein Ehrenwort gebrochen. K ARL Ist das Dein Ernst? M ARTIN Ja. (Pause) K ARL (lächelt böse) Wo steckt denn Deine Anna? M ARTIN Was soll das? K ARL Sie wird wohl bald erscheinen? B

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Podium,N ] ] B N] BweltanschaulichenN ]

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korrigiert aus: Podium

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[L ENI Was denn?] [K ARL Dass Du mitgekommen bist.] korrigiert aus: wentanschaulichen

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Endfassung Ein Wochenendspiel

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M ARTIN Hast Du sie gesehen? K ARL Ja. M ARTIN Allein oder mit? 얍 K ARL Mit. M ARTIN (lächelt) Dann ists ja gut. K ARL Meinst Du? M ARTIN Ja. (Pause) K ARL (grinst) Honni soit, qui mal y pense! M ARTIN Was heisst das? K ARL Das heisst allerhand. M ARTIN Ich bin Dir nicht bös, Du tust mir leid. Es ist nämlich schad um Dich mit Deinen Fähigkeiten. Aber Du hast immer nur Ausreden. Ein halber Mensch -- (er lässt ihn stehen) (Akkord und Gong) E NGELBERT (auf dem Podium) Meine Sehrverehrten! Kameraden! Und abermals gibts eine grosse erfreuliche Ueberraschung im Programm! In dem Reigen unserer künstlerischen Darbietungen folgt nun ein auserlesenes Ballett, und zwar getanzt von den beiden herzigen Zwillingstöchterchen unseres Kameraden Leimsieder , betitelt „Blume und Schmetterling“! DIE HERZIGEN Z WILLINGSTÖCHTERCHEN ( dreizehnjährig , betreten das Podium, mit mächtigem Applaus begrüsst; sie tanzen einen affektierten Kitsch -- plötzlich ertönt aus Martins Gegend ein schriller Pfiff; die herzigen Zwillingstöchterchen zucken zusammen, tanzen aber noch weiter, jedoch etwas unsicher geworden; die, denen es gefällt, sehen entrüstet auf Martin -- da ertönt abermals ein Pfiff, und zwar ein noch schrillerer) K RANZ (brüllt) Ruhe Herrgottsakrament! Wer pfeift denn da, Ihr Rotzlöffel?! Lümmel dreckige windige!! 얍 E NGELBERT Wems nicht passt, der soll raus! R UFE Raus! Raus! (Tumult) DIE HERZIGEN Z WILLINGSTÖCHTERCHEN (weinen laut) E RSTER G ENOSSE (schlägt mit der Faust auf den Tisch) Runter mit die Kinder und rinn ins Bett! Wir wollen hier kein Säuglingsballett! K RANZ Halts Maul sag ich! Z WEITER Halts Du! EINE T ANTE Seht wie die Kindlein weinen, Ihr Rohlinge! D RITTER Hoftheater! Hoftheater! S TADTRAT Jetzt wirds mir zu dumm! F ÜNFTER Huhu! S TADTRAT Oh ich bin energisch! B

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HonniN ] LeimsiederN ] BdreizehnjährigN ] BbetretenN ] BPodium,N ] BaffektiertenN ] BHuhu!N ] B B

korrigiert aus: Honny Lei[n]|m|sieder [sechs]|dreizehn|jährig be[rt]|tr|eten korrigiert aus: Podium [herzigen] |affektierten| [Uns auch!] |Huhu!|

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V IERTER Tatü tata! S TADTRAT Jetzt kommt die Abrechnung! S IEBENTER Bravo! S TADTRAT Kusch grüner Lausejunge! S IEBENTER Es kann nicht jeder ein alter Krüppel sein! S TADTRAT (ausser sich) Was hat der gesagt ?! Krüppel hat er gesagt?! S IEBENTER Zurück! F ÜNFTER Zurück! Sonst! S IEBENTER Feiner Marxist! Feiner Marxist! S TADTRAT Ich?! Ich hab das kommunistische Manifest bereits auswendig hersagen können, als Du noch nicht geboren warst, Du Flegel! (Pfiff) 얍 DIE T ANTE Diese Barbaren stören ja nur den Kunstgenuss! S ECHSTER Du mit Deinem Kunstgenuss! D RITTER Blume und Schmetterling! E RSTER Mist! Mist! Mist! K RANZ Oh Ihr Kunstbarbaren! (er fällt fast um vor lauter Rausch) E NGELBERT Seht, was Ihr angerichtet habt! Kindertränen! Schämt Ihr Euch denn garnicht?! Oder habt Ihr denn keine Ahnung, mit welcher Liebe das hier einstudiert worden ist -- Wochen hindurch haben der Kamerad Leimsieder und seine Frau jede freie Minute geopfert, um uns hier beglücken zu können! M ARTIN Hätt er doch lieber seine freien Minuten geopfert, um die Schlagstärke unserer Organisation auszubaun! Kameraden! Ich weiss, dass ich als Redner manchen meiner ehrenwerten Kameraden nicht gerade sympathisch bin -DIE T ANTE Stören Sie unsere Nacht nicht! M ARTIN Solche Nächte gehören gestört! Und gesprengt! Genossinnen und Genossen! Während wir hier Familienfeste mit republikanischem Kinderballett arrangieren, arrangiert die Reaktion militärische Nachtübungen mit Maschinengewehren! Oder wollt Ihr es nicht sehen, wie sie das Proletariat verleumden, verhöhnen, korrumpieren und ausbeuten, schlimmer als je zuvor! Drum Schluss mit dieser Spiesserei! Oder habt Ihr denn schon den Satz vergessen: oh wenn doch nur jeder Prolet sein Vergnügen in der revolutionären Tätigkeit fände! Es bleibt zu fordern: sofortige Einberufung des Vorstandes und Beschlussfassung über den Vorschlag: Bewaffnung mit Kleinkalibern! 얍 S TADTRAT Kameraden! Ein Frevler wagt hier unser Fest zu stören, bringt kleine Kinderchen zum Weinen -- Kameraden! Was Martin verlangt, ist undurchführbar! Wir wollen nicht in die Fussstapfen der Reaktion treten, wir nehmen keine KaB

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Tatü tata!N ] KrüppelN ] BgesagtN ] BKrüppelN ] BFeiner Marxist!N ] Bwarst,N ] BOhN ] BLeimsiederN ] B N] BGenossinnenN ] BSatzN ] BFussstapfenN ] Bkeine KanonenN ] B B

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[Wir auch!] [|Huhu!|] |Tatü tata!| [Trottel] |Krüppel| [G]|g|esagt [Trottel] |Krüppel| \Feiner Marxist!/ warst[.]|,| korrigiert aus: Ohr Lei[n]|m|sieder [\damit/] korrigiert aus: Genossinen Sa[zu]|tz| korrigiert aus: Fusstapfen kein\e/ [Gewehr] |Kanonen|

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Endfassung Ein Wochenendspiel

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nonen in die Hand, aber wer die demokratische Republik ernstlich zu bedrohen wagt, der wird zurückgeschlagen! M ARTIN Mit was denn? S TADTRAT An unserem unerschütterlichen Friedenswillen werden alle Bajonette der internationalen Reaktion zerschellen! S IEBENTER G ENOSSE (lacht ihn aus) S TADTRAT So sehen die Leute aus, die die Macht der sittlichen Idee leugnen! E RSTER G ENOSSE Sprüch, Du Humanitätsapostel! S TADTRAT Das sind keine Sprüch! Wir wollen keine Waffen mehr sehen, ich selbst hab zwei Söhne im Krieg verloren! V IERTER G ENOSSE Im nächsten Krieg sind wirs, ich und der Stiegler und der da und der da! K RANZ (ahmt ihn nach) Und ich da und ich da und ich da! S TADTRAT Es hat eben keinen Krieg mehr zu geben! Dieses Verbrechen werden wir zu vereiteln wissen! M ARTIN Genau wie 1914! S TADTRAT Das waren ganz andere Verhältnisse! M ARTIN Immer dasselbe, immer dasselbe! S TADTRAT Wo warst denn Du 1914?! Im Kindergarten! M ARTIN Und Du? Du hast auch schon 1914 mit den Taten Deiner Vorfahren geprotzt, das können wir Jungen ja allerdings nicht! Genossen! Wenn das so weitergeht, erwachen wir morgen im heiligen römisch-mussolinischen Reich deutscher Nation! 얍 E NGELBERT Zur Geschäftsordnung! Ich fordere kraft unserer Statuten den sofortigen Ausschluss des Kameraden Martin! S TADTRAT Bravo! E NGELBERT Und zwar wegen unkameradschaftlichen Verhaltens! M ARTIN Bravo! Kommt! (ab mit seinen Genossen) N

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얍 Fünftes Bild Vor dem Wirtshaus des Josef Lehninger. Martin und seine Genossen verlassen die italienische Nacht. M ARTIN Also Ausschluss. Wegen unkameradschaftlichen Verhaltens. Wer lacht da nicht? (Stille) Z WEITER Wohin? M ARTIN Zu mir. Wir müssen sofort an die Arbeit. Bald zieht sich die BBourgeoisieN in den Turm der Diktatur zurück. Wir sind bereit. E RSTER Mit M.G.! M ARTIN Ruhe! Immer daran denken! B N (Stille) B N 40 43 44

BourgeoisieN ] ] B N] B

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korrigiert aus: Bourgoisie Absatz eingefügt Absatz eingefügt

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Endfassung Ein Wochenendspiel

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M ARTIN Uebrigens: ist das wahr, dass Du Majestät verdreckt hast? S IEBENTER (gewollt hochdeutsch) Wir haben es uns erlaubt, das Denkmal Seiner Majestät mit etwas roter Farbe zu verunzieren. M ARTIN Wer wir? S IEBENTER Ich. V IERTER Und Ich. M ARTIN So. Das hat natürlich keinen Sinn, oder? (Stille) M ARTIN Seine Majestät sind ja bereits verwest, sorgt lieber dafür, dass man den Herren Kapitalisten dereinst keine Denkmäler errichtet. B

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K ARL (kommt mit Leni aus dem Wirtshaus) Drinnen geht alles drunter und drüber. D RITTER Sehr erfreut! K ARL Die ganze Stimmung ist beim Teufel! S ECHSTER Dann ist sie dort, wo sie hinghört ! 얍 K ARL Martin. Ich bitte Dich um Verzeihung. M ARTIN Wegen was? K ARL Dass ich mein Ehrenwort gebrochn hab. Das war natürlich eine Gaunerei, ich hab mir das genau überlegt, aber es war halt nur scheinbar eine Gaunerei. Ich habs ja nur scheinbar gebrochen. M ARTIN Wie willst Du das verstanden haben? K ARL Schau, ich musste doch tanzen! Ich hab es nämlich Deiner Anna versprochen, dass ich das Fräulein da hinter mir zu unseren Idealen bekehren werd, und da muss man doch so einem Fräulein entgegenkommen, sowas geht doch nur nach und nach -M ARTIN Dass Du immer nur Fräuleins bekehrst -K ARL Jeder an seinem Platz. Ich gehör halt zu einer älteren Generation, als wie Du, das macht schon was aus, obwohl zwischen uns ja nur fünf Jahr Unterschied sind, aber fünf Kriegsjahr -- ich war doch bis 1920 gefangen. M ARTIN Die historischen Gesetze kümmern sich einen Dreck um Privatschicksale, sie schreiten unerbittlich über den Einzelnen hinweg, und zwar vorwärts. K ARL Da geb ich Dir vollständig recht. M ARTIN Du wärst ja brauchbar, wenn man Dir glauben könnt. Aber das kann man eben nicht, weil Du ein halber Mensch bist. K ARL Du hast halt keine Konflikte mit Deiner Erotik. Meiner Seel, manchmal beneid ich Dich! M ARTIN Und Du tust mir leid. Ich habs immer wieder versucht mit Dir. Jetzt ists aus. Ich leg keinen Wert mehr auf Deine Mitarbeit. K ARL (verbeugt sich leicht) Bitte! Pardon! DIE G ENOSSEN (sind während dieser Szene verschwunden) 얍 A NNA (kommt) M ARTIN Anna! B

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M ARTIN N ] ] B N] BM ARTIN N ] BhinghörtN ] BFräuleinsN ] BDeinerN ] B

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eingefügt Absatz eingefügt Absatz eingefügt eingefügt

hing[eh]|h|ört Fräulein\s/ korrigiert aus: Diner

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Endfassung Ein Wochenendspiel

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K3/TS3 (Korrekturschicht)

A NNA Jetzt bin ich aber erschrocken! M ARTIN Du? A NNA Ich dacht, Du wärst wer anders -M ARTIN So. A NNA Du warst mir jetzt so fremd. M ARTIN (fast spöttisch) War ich das? -- Nun? Hast was erreicht? A NNA Verschiedenes. M ARTIN Erstens? A NNA Erstens hab ich erfahren, dass diese Faschisten unsere italienische Nacht sprengen wollen -M ARTIN (unterbricht sie) Erstens ist das nicht unsere italienische Nacht! Und zweitens ist denen ihre italienische Nacht bereits gesprengt. Ich hab sie gesprengt. A NNA Schon? M ARTIN Später! Und? A NNA Die Faschisten wollen hier alles verprügeln. M ARTIN So ists recht! Das vergönn ich diesem Vorstand! Diese Spiesser sollen jetzt nurmal am eigenen Leibe die Früchte ihrer verräterischen Taktik verspüren! Wir Jungen überlassen sie ihrem Schicksal und bestimmen unser Schicksal selbst! A NNA Das würd ich aber nicht tun. M ARTIN Was heisst denn das? A NNA Ich würds nicht tun. Ich würd ihnen schon helfen, sie stehen uns doch immer noch näher, als wie die anderen. 얍 M ARTIN Was Du da nicht sagst -A NNA Wenn ichs dem Stadtrat auch gönn, dass er verprügelt wird, aber es sind doch auch noch andere dabei, dies vielleicht ehrlich meinen -M ARTIN (spöttisch) Meinst Du? A NNA Und zuguterletzt geht das doch keinen Dritten was an, was wir unter uns für Konflikte haben! Das sind doch unsere Konflikte! M ARTIN (gehässig) Ich glaub, dass das Deine Privatansicht ist. A NNA Red nicht so hochdeutsch, bitte. (Stille) M ARTIN Und? A NNA Sonst nichts. Die Faschisten sind halt ganz fürchterlich wütend -- es soll heut Abend irgendein Denkmal verunreinigt worden sein. M ARTIN Ja, das war der Stiegler, dieser Idiot -A NNA Martin! M ARTIN (überrascht) Ha? A NNA Martin, weil einer von uns das Denkmal verdreckt hat, sollen jetzt die Anderen da drinnen verprügelt werden?! Das find ich aber feig! Das ist unser nicht würdig! Das ist ungerecht -- (sie stockt, da Martin plötzlich fasziniert auf ihren Hals starrt) (Stille) M ARTIN (leise) Was ist denn das dort für ein Fleck? A NNA Wo? B

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9 15 33 35

FaschistenN ] FaschistenN ] BFaschistenN ] BStiegler,N ] B B

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korrigiert aus: Fascisten korrigiert aus: Fascisten korrigiert aus: Fascisten

Stiegler\,/ [und der dumme Franz,]

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warsN ] nurN ] BsoN ] Beigenartig –N ] BdaN ] BFaschistenN ] B N] BFaschistN ] BFaschistenN ] B B

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M ARTIN Da. A NNA Da? Das ist ein blauer Fleck -(Stille) M ARTIN So. 얍 A NNA Er war halt so grob. M ARTIN (etwas unsicher) So, war er das -A NNA So sind sie alle, die Herren Männer. (Stille) M ARTIN Schau mich an. A NNA (schaut ihn nicht an) M ARTIN Warum schaust mich denn nicht an? A NNA Weil ich Dich nicht anschaun kann. M ARTIN Und warum kannst Du mich jetzt nicht anschaun? Schau mich doch nicht so dumm an, Herrgottsakrament! (Stille) A NNA Mir wars jetzt nur plötzlich so eigenartig – M ARTIN Wieso? A NNA Was Du da nämlich von mir verlangst, dass ich mich nämlich mit irgendeinem Faschisten einlass, -- und, dass gerade Du das verlangst -M ARTIN Was sind denn das für neue Gefühle? A NNA Nein, das waren alte -M ARTIN Du weisst, dass ich diese primitiven Sentimentalitäten nicht mag. Nur keine Illusionen, bitte! A NNA Jetzt redst Du wieder so hochdeutsch. (Stille) M ARTIN Anna. Also grob war er zu Dir, der Herr Faschist -- es ist vielleicht wirklich unter unserer Würde. A NNA Was? M ARTIN Dass wir nun diese Spiesser da drinnen für die verdreckte Majestät büssen lassen -- Nein! Diesen Triumph wollen wir den Herren 얍 Faschisten nicht gönnen! Komm! (ab mit Anna) K ARL (hat sich mit Leni während dieser Scene auf eine Bank gesetzt) L ENI Warum schweigst Du schon so lang? K ARL Weil es mir weh um das Herz herum ist. L ENI Aber! Du kannst doch nichts dafür, dass diese italienische Nacht mit einem Misston geendet hat! K ARL Ich danke Dir. (er drückt ihr die Hand und vergräbt dann den Kopf in seinen Händen; Stille) L ENI Dein Kamerad Martin erinnert mich an einen Bekannten. Mit dem war auch nicht zu reden, weil er nichts anderes gekannt hat, wie sein Motorrad. Er hat zahlB

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K3/TS3 (Korrekturschicht)

war\s/ \nur/ \so/ eigenartig[.] |–| \da/ korrigiert aus: Fascisten [und mich aufopfer] korrigiert aus: Fascist korrigiert aus: Fascisten

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reiche Rennen gewonnen und ich hab ihn halt in seinem Training gestört. Sei doch nicht so traurig -K ARL Jetzt möcht ich am liebsten nichtmehr leben. L ENI Warum denn? K ARL Ich hab halt ein zu scharfes Auge. Ich seh, wie sich die Welt entwickelt, und dann denk ich mir, wenn ich nur a paar Jahr jünger wär, dann könnt ich noch aktiv mittun an ihrer Verbesserung -- aber ich bin halt verdorben. Und müd. L ENI Das redst Du Dir nur ein. K ARL Ein halber Mensch! Nur die eine Hälfte hat Sinn für das Gute, die andere Hälfte ist reaktionär. L ENI Nicht deprimiert sein -K ARL Ich glaub, ich bin verflucht. L ENI Nein, nicht! K ARL (erhebt sich) Doch! (Stille) 얍 L ENI Glaubst Du an Gott? K ARL Ich fang allmählich an -L ENI Es gibt einen Gott, und es gibt auch eine Erlösung. K ARL Wenn ich nur wüsst, wer mich verflucht hat. L ENI Lass mich Dich erlösen. K ARL Du? Mich? L ENI Ich hab viertausend Mark und wir gründen eine Kolonialwarenhandlung -K ARL Wir? L ENI Draussen bei meinem Onkel -K ARL Wir? L ENI Ich und Du. (Stille) K ARL Was denkst Du jetzt? Denkst Du jetzt an eine Ehegemeinschaft? Nein, dazu bist Du mir zu schad! L ENI Oh, Mann, sprich doch nicht so hartherzig! Ich kenn Dich ja schon durch und durch, wenn ich Dich auch erst kurz kenn! (sie wirft sich ihm an den Hals: grosse Kussscene) K ARL Ich hab ja schon immer von der Erlösung durch das Weib geträumt, aber ich habs halt nicht glauben können -- ich bin nämlich sehr verbittert, weisst Du! L ENI (gibt ihm einen Kuss auf die Stirne) Ja, die Welt ist voll Neid. B

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K3/TS3 (Korrekturschicht)

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얍 Sechstes Bild Im Gartenlokal des Josef Lehninger. Die italienische Nacht der Ortsgruppe Kaltenbrunn BdesN Republikanischen Schutzbundes ist nun korrekt gesprengt -- nur der Vorstand sitzt noch unter den Lampions, 11 25 26 27 42

deprimiertN ] Wir?N ] BIch f Du.N ] B(Stille)N ] BdesN ] B B

[f]|d|eprimiert [Wir?] [|Wer ist das: wir?|] [|Ich und Du?|] |Wir?| [Ja.] |Ich f Du.| \(Stille)/ korrigiert aus: den

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Endfassung Ein Wochenendspiel

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K3/TS3 (Korrekturschicht)

und zwar: der Stadtrat Ammetsberger mit Adele, Betz, Engelbert und Kranz. Letzerer schnarcht über einen Tisch gebeugt. Es geht bereits gegen Mitternacht und Adele fröstelt, denn es weht ein kaltes Windchen. B ETZ Was tun, spricht Zeus. E NGELBERT Heimwärts? S TADTRAT (schnellt empor) Und wenn die Welt voll Teufel wär, niemals! Wir lassen uns unsere italienische Nacht nicht sprengen! Kameraden, wir bleiben und weichen nicht -- bis zur Polizeistund! (er setzt sich wieder) E NGELBERT Hört hört! S TADTRAT (steckt sich nervös eine Zigarre an) K RANZ (erwacht und gähnt unartikuliert; zu Betz) Du, ich hab jetzt grad was Fesches geträumt. B ETZ Wars angenehm? K RANZ Sehr. Ich hab nämlich grad was von einer Republik geträumt und das war eine komplette Republik, sogar die Monarchisten waren verkappte Republikaner -B ETZ Also das dürft ein sogenannter Wunschtraum gewesen sein. K RANZ Ha? E NGELBERT Wie wärs denn mit einem kleinen Tarock? S TADTRAT Tarock? E NGELBERT Einen Haferltarock -K RANZ Haferltarock! 얍 S TADTRAT Das wär ja allerdings noch das Vernünftigste -E NGELBERT Karten hab ich -- (er setzt sich mit dem Stadtrat und Kranz unter den hellsten Lampion, mischt und teilt) Eine Idee! B ETZ (kiebitzt) S TADTRAT Erster! E NGELBERT Zweiter! K RANZ Letzter! S TADTRAT Solo. K RANZ Und das Licht leuchtet in der Finsternis -- (er spielt aus) (Jetzt weht der Wind stärker) A DELE (erhebt sich und fröstelt) Alfons! S TADTRAT (lässt sich nicht stören) Bitte? A DELE Wann gehen wir denn endlich? S TADTRAT Zweimal sag ichs nicht! Eichel! A DELE Ich erkält mich noch -S TADTRAT Das tät mir aber leid, Herz! K RANZ Und Herz! E NGELBERT Und Herz! B ETZ (nähert sich Adele) Wir bleiben bis zur Polizeistund, Frau Stadtrat! A DELE Wann ist denn Polizeistund? B ETZ Um zwei. A DELE Und jetzt? B ETZ Jetzt gehts gegen zwölf. B

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wasN ] Stadtrat!N ]

\was/ Stadtrat[½]|!|

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A DELE Oh Gott. S TADTRAT (zu Betz) So lass sie doch bitte! (Pause) 얍 A DELE Hier hol ich mir noch den Tod. B ETZ Oder eine Lungenentzündung. (Pause) B ETZ Der schönste Tod ist ja allerdings der Tod für ein Ideal. A DELE Ich kenn kein Ideal, für das ich sterben möcht. B ETZ (lächelt leise) Auch nicht für die Ideale, für die sich Ihr Herr Gemahl aufopfert? A DELE Opfert er sich denn auf? B ETZ Tag und Nacht. A DELE Sie müssens ja wissen. B ETZ Es ist natürlich alles relativ. (Pause) A DELE Glaubens mir, dass ein Mann, der wo keine solchen öffentlichen Ideale hat, viel netter zu seiner Familie ist. Ich mein das jetzt menschlich. Sie sind ein intelligenter Mann, Herr Betz, das hab ich schon bemerkt. S TADTRAT Ueber was unterhaltet Ihr Euch denn dort so intensiv? B ETZ Ueber Dich. S TADTRAT Tatsächlich? Habt Ihr denn kein dankbareres Thema? A DELE (boshaft) Alfons! S TADTRAT Na was denn schon wieder? A DELE Ich möcht jetzt gern noch ein Schinkenbrot. S TADTRAT Aber Du hast doch bereits zwei Schinkenbrote verzehrt! Ich meine, das dürfte genügen! (er zündet sich eine neue Zigarre an) A DELE Wenn Du Deine Zigarren -S TADTRAT (unterbricht sie) Oh Du unmögliche Person! Pfui! -- Und ziehen tut sie auch nicht, weil Du mir nichts vergönnst ! (er wirft wütend 얍 seine Zigarre fort) Eine unmögliche Zigarre! A DELE (erhebt sich) Ich möcht jetzt nachhaus. S TADTRAT Also werd nur nicht boshaft, bitte! A DELE Ich geh -S TADTRAT Ich bleib. A DELE So komm doch! S TADTRAT Nein! Bleib, sag ich! A DELE Nein, ich muss doch schon wieder um fünfe raus, Deine Hemden waschen und -S TADTRAT Du bleibst, sag ich! A DELE Hier hol ich mir noch den Tod -S TADTRAT Du bleibst und basta! Verstanden?! A DELE (setzt sich wieder und lächelt geschmerzt) S TADTRAT Spiele! E NGELBERT Weiter! K RANZ Spiele auch! B

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K3/TS3 (Korrekturschicht)

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DuN ] vergönnstN ]

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[sie]|Du| vergönn[t]|st|

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Endfassung Ein Wochenendspiel

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K3/TS3 (Korrekturschicht)

E NGELBERT Und zwar? K RANZ Gras! S TADTRAT Schnecken! Bettel! Jawohl, Bettel! Und herauskommen tu ich selber -- (er gewinnt rasch und lacht schallend) (Stille) B ETZ Warum gehen Sie eigentlich nicht allein nachhaus? A DELE Weil er mich allein nicht lässt. B ETZ Nicht lässt? Auch allein nicht lässt? Er hat doch kein Recht über Ihre Person -Meiner Seel, da erscheint er mir nun plötzlich in einem ganz anderem Licht, obwohl ich darauf gewartet hab -- Alfons Ammetsberger, mein alter Kampfgenosse -- fünfunddreissig Jahr -- Jaja, 얍 das wird wohl das Alter sein. Ob ich mich auch so verändert hab? S TADTRAT (zu Betz) Ich bitt Dich Betz , so lass sie doch in Ruh! B

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W IRT (erscheint; er ist schwer besoffen und grüsst torkelnd, doch keiner beachtet ihn; er grinst) Guten Abend, Leutl! (Schweigen) W IRT Auch gut! Boykottiert mich nur, boykottiert mich nur! Mir ist schon alles wurscht, ich wein Euch keine Träne nach! Ueberhaupt sind die Reaktionäre viel kulantere Gäst -- Euere jungen Leut saufen ja so bloss a Limonad! Feine Republikaner! Limonad, Limonad! K RANZ Halts Maul! W IRT (plötzlich verträumt) Ich denk jetzt an meinen Abort. Siehst, früher da waren nur so erotische Sprüch an der Wand dringstanden, hernach im Krieg lauter patriotische und jetzt lauter politische -- glaubs mir: solangs nicht wieder erotisch werden, solang wird das deutsche Volk nicht wieder gesunden -K RANZ Halts Maul, Wildsau dreckige! W IRT Wie bitte? -- Heinrich, Du bist hier noch der einzig vernünftige Charakter, was hat jener Herr dort gesagt? B ETZ Er hat gesagt, dass Du Dein Maul halten sollst. W IRT Hat er? Dieser schlimme Patron -- Apropos: ich hab eine reizende Neuigkeit für Euch, liebe Leutl! K RANZ Wir sind nicht Deine lieben Leutl! W IRT Was hat er gesagt? B ETZ Dass wir nicht Deine lieben Leutl sind, hat er gesagt. W IRT Hat er das gesagt? -- Alsdann: meine Herren! Ich beehre mich, Ihnen eine hocherfreuliche Mitteilung zu machen: Sie sind nämlich umzingelt, meine Herren, radikal umzingelt! 얍 S TADTRAT (horcht auf) B ETZ Wer ist umzingelt? W IRT Ihr, meine Herren! E NGELBERT Wieso? B N

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BetzN ] ] B N] BW IRT N ] B

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korrigiert aus: betz Absatz eingefügt Absatz eingefügt eingefügt

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Endfassung Ein Wochenendspiel

K3/TS3 (Korrekturschicht)

Lesetext

W IRT Meine Herren! Ich habs nämlich grad erfahren, dass Euch die Herren Faschisten verprügeln wollen -S TADTRAT (erhebt sich) W IRT Die Herren Faschisten behaupten nämlich, dass Ihr, meine Herren, das Denkmal weiland Seiner Majestät verdreckt habt und jetzt haben die Herren Faschisten eine pfundige Wut im Bauch und wollen Seine Majestät rächen! Hurrah! K RANZ Von wem hast denn das? W IRT Vom Martin seiner Anna. S TADTRAT Hier hat niemand eine Majestät verdreckt, merk Dir das! W IRT Oh bitte! (In der Ferne eine Trillerpfeife) W IRT Na? (er grinst) Habt Ihr das jetzt ghört? Jetzt gibts Watschen, meine Herren! Signal. Alarm! K RANZ Was war denn jetzt das? W IRT Mussolini persönlich. E NGELBERT Irrtum! S TADTRAT Lüge! Infame Lüge! W IRT (drohend) Hurrah! (er fällt um) K RANZ (zum Wirt) Du Judas! W IRT (auf dem Boden) Ich bin kein Judas, meine Herren! Ich bin Euch doch innerlich immer treu geblieben, sogar noch nach der Revolution! Aber was ist denn das jetzt für eine verkehrte Welt! Früher, da war 얍 so ein Sonntag das pure Vergnügen, und wenn mal in Gottes Namen gerauft worden ist, dann wegen irgendeinem Trumm Weib, aber doch schon gar niemals wegen dieser Scheisspolitik! Das sind doch ganz ungesunde Symptome, meine Herren! B ETZ Natürlich sind das zuguterletzt ja auch nur Aggressionstriebe -(Und wieder die Trillerpfeife) S TADTRAT Kameraden! Der Mensch ist ein schwaches Rohr im Winde, in Bezug auf das Schicksal, ob er nun Monarchist ist oder Republikaner. Es gibt nunmal Augenblicke im Leben, wo sich auch der Kühnste der Stimme der Vernunft beugen muss, und zwar gegen sein Gefühl! Kameraden, das wäre doch ein miserabler Feldherr, der seine Brigaden in eine unvermeidliche Niederlage hineinkommandieren tät! In diesem Sinne schliesse ich nun hiemit unsere italienische Nacht! Vis major, höhere Gewalt! Wo ist mein Hut? B ETZ Ich bleib. S TADTRAT Wieso? B ETZ Ich bin da nämlich etwas anderer Meinung -S TADTRAT Da dürft es doch wohl keine andere Meinung geben! B ETZ Findst Du? Wir haben doch in Bezug auf das verdreckte Denkmal ein absolut reines Gewissen. E NGELBERT Sehr richtig! B ETZ Und infolgedessen find ich es nicht richtig, so davonlaufen. B

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FaschistenN ] FaschistenN ] BFaschistenN ] BWasN ] B(auf N ] BnunmalN ] B B

korrigiert aus: Fascisten korrigiert aus: Fascisten korrigiert aus: Fascisten

W[er]|as| \(/auf korrigiert aus: nun mal

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Endfassung Ein Wochenendspiel

K3/TS3 (Korrekturschicht)

S TADTRAT Nicht nicht richtig, klug! Diese Faschisten sind doch bekanntlich in der Ueberzahl und infolgedessen bekanntlich zu jeder Schandtat jederzeit bereit! Wo ist mein Hut? B ETZ Ich bleib. Und wenn sie mich verhaun! (Stille) S TADTRAT (fixiert ihn höhnisch) Ach, Du bist ein Katastrophenpolitiker? 얍 B ETZ Ich bleib. S TADTRAT Viel Vergnügen. B ETZ Danke. S TADTRAT Wo ist mein Hut? B ETZ Lieber Prügel als feig. (Stille) S TADTRAT Findst Du? A DELE Ich finds auch. S TADTRAT Du hast hier überhaupt nichts zu finden! A DELE Ich finds aber! S TADTRAT (nähert sich ihr langsam; unterdrückt) Du hast hier nichts zu finden, verstanden?! A DELE Ich sag ja nur, was ich mir denk. S TADTRAT Du hast hier nichts zu denken. A DELE (boshaft) Findst Du? S TADTRAT Blamier mich nicht, ja! A DELE Nein. S TADTRAT (kneift sie) A DELE Au! Au -S TADTRAT Wirst Du Dich beherrschen?! A DELE Au, Alfons! Au -S TADTRAT Dass Du Dich beherrschst! Dass Du Dich -A DELE (reisst sich kreischend los) Au -- Du mit Deinem Idealismus! S TADTRAT Oh Du unmögliche Person! A DELE Oh Du unmöglicher Mann! Draussen Prolet, drinnen Kapitalist! Die Herren hier sollen Dich nurmal genau kennen lernen! Mich beutet er aus, mich! Dreissig Jahr, dreissig Jahr! (sie weint) 얍 S TADTRAT (mit der Hand vor den Augen) Adele! Adele -(Und wieder die Trillerpfeife, und zwar in der Nähe) K RANZ Da! (Stille) S TADTRAT (nimmt langsam die Hand von den Augen) Wo ist mein Hut? W IRT (hat sich schwerfällig erhoben) Mit oder ohne Hut -- Du bist und bleibst umzingelt -- (er rülpst und torkelt ab) (Stille) B

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FaschistenN ] infolgedessenN ] BbekanntlichN ] BzuN ] BdreissigN ] BohneN ] B B

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korrigiert aus: Fascisten [o]|i|nfolgedessen \bekanntlich/ [z]|z|u korrigiert aus: dreisig [i]|o|hne

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Endfassung Ein Wochenendspiel

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weinerlichN ] Herr f Himmel!N ] BFaschistenN ] BhörtN ] B N] BwollenN ] B B

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A DELE ( weinerlich ) Hättest Du zuvor die jungen Leut nicht nauswerfen lassen, würd sich jetzt niemand hertraun -- Jetzt sind wir doch lauter alte Krüppel -E NGELBERT Oho! S TADTRAT Herr im Himmel! E NGELBERT Sehr richtig! A DELE (grinst plötzlich) S TADTRAT Lach nicht! A DELE Wenn ich Dich so seh, find ich das direkt komisch, wie Du da den jungen Menschen im Weg herumstehst -- (sie schluchzt wieder) S TADTRAT Heul nicht! A DELE Das sind die Nerven -K RANZ Die typische Weiberlogik. S TADTRAT Wir zwei sind getrennte Leut. K RANZ Langes Haar, kurzer Verstand! -- Aber offen gesagt: ich finds ja schon auch, dass es sozusagen etwas überstürzt war, den Martin so mirnix-dirnix auszuschliessen, samt seinem Anhang -- er hat doch einen ziemlichen Anhang, einen starken Anhang, und nicht den schlechtesten Anhang -- und er hat doch sozusagen garnicht so unrecht gehabt -얍 S TADTRAT Findst Du? K RANZ Wenn wir jetzt auch solche Kleinkaliber hätten, als wie diese Faschisten , dann müssten wir uns jetzt nicht unschuldig verhaun lassen, sondern könnten uns wehren -- w e h r e n -- das ist doch logisch, ha? S TADTRAT Logisch -E NGELBERT Logisch oder nicht logisch! Nach den Statuten mussten wir Martin ausschliessen! (Und abermals die Trillerpfeife) K RANZ Hörst Deine Statuten? Hörst sie? Ich scheiss Dir was auf solche Statuten! E NGELBERT Hört, hört ! K RANZ Das sind doch ganz veraltete Statuten! E NGELBERT Natürlich gehören auch Statuten ab und zu geändert, die Welt ist doch in lebendigem Fluss -S TADTRAT (unterbricht ihn) Findst Du? B ETZ Ja. (er nähert sich ihm) Alfons. Nicht nur Menschen, auch Statuten altern -- und alte Statuten erreichen oft das Gegenteil von dem, was sie bezwecken wollen , und werden unbrauchbar und lächerlich -S TADTRAT Findst Du? K RANZ Also ich möchte hiemit offiziell dafür plädieren, dass unseres Kameraden Martin überstürzter Ausschluss wieder rückgängig gemacht werden soll! S TADTRAT Rückgängig? K RANZ Jawohl! S TADTRAT (sieht sich fragend um) B ETZ Ja. B

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K3/TS3 (Korrekturschicht)

[W]|w|einerlich [Selber Krüppel, [a]|A|lter Krüppel!] |Herr f Himmel!| korrigiert aus: Fascisten korrigiert aus: Hört [einst] woll[ten]|en|

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Endfassung Ein Wochenendspiel

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K3/TS3 (Korrekturschicht)

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얍 E NGELBERT Hm. S TADTRAT (zu Engelbert) Ja oder nein? (Stille) E NGELBERT Ja. (Stille) S TADTRAT Wo ist mein Hut? A DELE (reicht ihm seinen Hut) Da. S TADTRAT (setzt den Hut tief in die Stirne; tonlos) Umzingelt. Ueberfallen. Meuchlerisch. Schlange an der Brust. Auch Du mein Sohn BBrutus --N A DELE Undank ist der Welten Lohn. S TADTRAT Ich werd mich aus dem politischen Leben zurückziehn -- jetzt geh ich nirgends mehr hin -- höchstens, dass ich noch kegeln werd oder singen -A DELE Endlich, Alfons. (Riesiger Tumult vor dem Gartenlokal) K RANZ (bewaffnet sich mit zwei Gartenstühlen) Jetzt! Da! E NGELBERT (weicht ganz zurück) S TADTRAT (scheint nichts zu hören, stiert vor sich hin und zeichnet kleine Zeichen in die Luft) B ETZ (lauscht)

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M ARTIN (betritt rasch den Garten) E NGELBERT Martin! (Stille) M ARTIN (lächelt) Zu Befehl, Herr! Ich gestatte mir nur zu melden, dass hier niemand mehr eine Angst zu haben braucht, denn die Herren Faschisten sind soeben vertrieben worden, und zwar mit Schwung! Ihr 얍 Besuch hat nämlich uns gegolten, mir und meinen Genossen, nicht Euch! Und wir sind halt nunmal so veranlagt, dass wir für unsere Taten einstehen, selbst wenn so eine Tat auch mal eine richtige Blödheit gewesen sein sollt. M ARTINS G ENOSSEN (sind ihm nun in den Garten gefolgt) K RANZ Also das ist sehr edel von Euch, nicht andere Unschuldige für Euere Blödheiten büssen zu lassen! B ETZ Martin! Du weisst, dass ich Dich sehr schätz -E NGELBERT (unterbricht ihn) Martin! Ich bin durch den Gang der Dinge zu der Ueberzeugung gekommen, dass Dein Ausschluss ungerechtfertigt ist, und ich bedauer es ehrlich, dass ich ihn so überstürzt gefordert hab. B ETZ Im Namen des Vorstandes bitte ich Dich, wieder unser Kamerad zu werden. M ARTIN (verbeugt sich leicht) Danke. Aber leider seid Ihr zu spät dran, denn es wurde bereits ein neuer Schutzbund gegründet. E NGELBERT (setzt sich) B

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9 25 37 38 38–39 39 40 40

Brutus --N ] FaschistenN ] Bwerden.N ] B N] BAber f gegründet.N ] Bgegründet.N ] B N] BE NGELBERT f sich)N ] B B

korrigiert aus: Brustuskorrigiert aus: Fascisten

werden.[.] gestrichen: \1.)/ xAber f gegründet. gegründet [--]|.| gestrichen: \[3]|2|.)/ \E NGELBERT f sich)/

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Endfassung Ein Wochenendspiel

K3/TS3 (Korrekturschicht)

S TADTRAT (trocknet sich verstohlen einige Tränen ab) K RANZ (stiert Martin fassungslos an) M ARTIN (zu Betz) Aber im Namen unseres jungen Schutzbundes kann ich Dir nur mitteilen, dass es uns freuen würde, Dich als unseren Kameraden begrüssen zu können -B ETZ (verbeugt sich leicht) Danke. M ARTIN (lächelt) Es tut mir nämlich schon lange weh, dass ich Dich in der Gesellschaft seh --

B N

B N B

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B N B N B N B N B

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Lesetext

N B

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ENDE

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1 2 2 3 3 3 3 3 3 6

] ] BK RANZ f an)N ] B N] B N] B N] B N] BM ARTIN f Betz)N ] BAber imN ] B N] B N B N

||

gestrichen: \[4] 3 .)/ gestrichen: \4.)/

\K RANZ f an)/ [\1.)/] [M ARTIN ] [Aber f gegründet.]f x gestrichen: \[3][|4|] |5|.)/ \M ARTIN f Betz)/ \Aber/ [I]|i|m gestrichen: \6.)/

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Konzeption 4: Italienische Nacht in sieben Bildern

343

Fragmentarische Fassung einiger Bilder

K4/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

\Textverlust\

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얍 W IRT (lächelt verzweifelt) BNein --N B ETZ Analphabet? S TADTRAT (hat aufgehorcht) Was soll denn das schon wieder darstellen dort? W IRT Nichts, Leutl! Nichts -B ETZ Nichts? Aber was Du da nicht sagst, lieber Josef! Ich glaub gar, Du bist ein grandioser Schuft! W IRT Das darfst Du nicht sagen, Heinrich! B ETZ Ich sags sogar nochmal, lieber Josef. S TADTRAT Wieso? Wer? Was? K RANZ Ja Sakrament -M ARTIN (unterbricht ihn) Moment! B ETZ Moment! Das hier ist ein sogenannter Tagesbefehl -- der Tagesbefehl der Herren Fascisten für ihren heutigen deutschen Tag -- (er reicht die Zeitung Karl) Josef! Wir Republikaner sind Deine Stammgäst und Du verkaufst Deine Seele! Und alles um des BMammonsN Willen! K ARL Also das ist ja direkt impertinent! Bitte mir zuzuhören, Kameraden! (er liest) „ab sechzehn Uhr bis achtzehn Uhr treffen sich die Spielleute im BGartenlokalN des Josef Lehninger“ -K RANZ Was für Spielleut? K ARL Die fascistischen Spielleut! Pfui Teufel! B ETZ Eine Schmach ist das! Der liebe Kamerad Josef reserviert unsern Stammtisch für die Reaktion! K ARL Und wir Republikaner, denkt er, kommen dann hernach dran mit unserer italienischen Nacht und kaufen ihm brav sein Zeug ab, die Brosamen, die wo die Herren Reaktionäre nichtmehr zammfressen Bkonnten.N 얍 E NGELBERT Hört hört! W IRT Ich glaub, wir reden aneinander vorbei -M ARTIN Aber was! K ARL A das ist aber korrupt! W IRT Ich bin nicht korrupt! Das bin ich nicht, Leutl, das ist meine Frau -B ETZ Papperlapapp! W IRT Da gibts kein Papperlapapp! Ihr kennt meine Frau nicht, liebe Leutl! Die scheisst sich was um die politischen Konstellationen, der ist es sauwurscht, wer ihr Würst zammfrisst! Und ich Rindvieh hab mal von einem heiteren Lebensabend geträumt! Und wenn ich jetzt den schwarzweissroten Fetzen nicht raussteck, verderben mir sechzig Portionen Schweinsbraten, das war doch ein furchtbarer Blödsinn, die Reichsfarben zu ändern! Meiner Seel, ich bin schon ganz durcheinand! K RANZ Wenn Du jetzt nicht mein Freund wärst, tät ich Dir jetzt ins Gsicht spucken, lieber Josef!

2

B

16 18 26

B

Nein --N ]

MammonsN ] GartenlokalN ] Bkonnten.N ] B

korrigiert aus: Nein-- fehlende oder überzählige Leerzeichen werden in TS1 stillschweigend emendiert, die Zahl der Bindestriche wird vereinheitlicht; vgl. Kommentar korrigiert aus: Mamons korrigiert aus: Gartenlikal korrigiert aus: konnten

344

ÖLA 3/W 3 – BS 32 a [1], Bl. 1

ÖLA 3/W 3 – BS 32 a [1], Bl. 2

Fragmentarische Fassung einiger Bilder

5

10

15

K4/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

E NGELBERT Bravo! (Stille) W IRT (verzweifelt) Meiner Seel, jetzt sauf ich mir einen an, und dann erschiess ich meine Alte. Und dann spring ich zum Fenster naus, aber vorher zünd ich noch alles an. K ARL Du Judas. W IRT Aber ich bin doch garkein Judas! Meine Herren! In diesem Sinne: leckts mich am Arsch! (ab) S TADTRAT (wirft zornbebend die Karten zu Boden) (Stille) S TADTRAT Dieser Schmutz. (mit erhobener Stimme) Aber sehen möcht ich 얍 doch, welche Macht unsere italienische Nacht heut Nacht zu vereiteln vermag! Kameraden! Wir weichen nicht, und wärs die vereinigte Weltreaktion! Unsere republikanische italienische Nacht steigt heut Nacht, wie gesagt! Auch ein Herr Josef Lehninger wird uns keinen Strich durch die Rechnung machen! Kommt Kameraden! (ab) M ARTIN Hurrah! K RANZ Du Mephisto -A LLE (verlassen das Lokal)

ÖLA 3/W 3 – BS 32 a [1], Bl. 3

20

----------------------------------25

\Textverlust\

30

35

40

45

얍 A NNA (lächelt) Nun? K ARL (erscheint hinter dem Faschisten) A NNA (fährt zurück) K ARL Pardon! DER D RITTE (grinst; er grüsst Anna spöttisch-elegant und ab) (Stille) K ARL (unterdrückt seine Erregung) Pardon, Gnädigste! A NNA Du Trottel. K ARL Um Gotteswillen. Eine Anna und dieser Fascist, da stürzt ja in mir eine Welt zusammen -- Wer ist jetzt verrückt? Ich oder Du?! A NNA Du! Ich streng mich an, fädel was ein und Du zertrampelst mir wieder alles, Du unüberlegter Mensch! K ARL Unüberlegt! A NNA Und unverantwortlich! K ARL Unverantwortlich! Grad schimpft mich der Martin zusammen, weil ich mich für ein unpolitisches Weib interessier, und derweil bandelt die Seine mit einem Fascisten an -- Meiner Seel, jetzt glaub ichs aber gleich, dass ich verrückt bin! Korrekt verrückt! So wie sichs gehört! A NNA So beruhig Dich doch! K ARL Oh, Du mein armer Martin! A NNA Aber ich tu doch garnichts ohne Martin! K ARL (starrt sie an) Wie bitte?

345

ÖLA 3/W 3 – BS 32 a [1], Bl. 4

Fragmentarische Fassung einiger Bilder

5

K4/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

A NNA Ich tu doch nichts Unrechtes! K ARL So? A NNA Das doch alles in Ordnung -- der Martin möcht doch nur etwas genauere Informationen über denen ihre Kleinkaliber haben -- und dazu soll ich mich halt einem Fascisten nähern, um ihn auszuhorchen -\Textverlust\

10

15

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얍 E NGELBERT BWemsN nicht passt, der soll raus! R UFE Raus! Raus! (Tumult) DIE HERZIGEN Z WILLINGSTÖCHTERCHEN (weinen laut) E RSTER G ENOSSE (schlägt mit der Faust auf den Tisch) Wir wollen hier kein Säuglingsballett! K RANZ Halts Maul sag ich! Z WEITER Halts Du! EINE T ANTE Seht wie die Kindlein weinen, Ihr Rohlinge! D RITTER Hoftheater! S ECHSTER Hofoper! Oper! S TADTRAT Jetzt wirds mir zu dumm! EINIGE G ENOSSEN Huuu! S TADTRAT Oh ich bin energisch! DIE G ENOSSEN Huuu!! S TADTRAT Jetzt kommt die Abrechnung! S IEBENTER Tatü tata! DIE T ANTE Oh, diese Jugend! V IERTER Feiner Marxist! DIE G ENOSSEN Feiner Marxist! Feiner Marxist! S TADTRAT Ich?! Ich hab das kommunistische BManifestN bereits auswendig hersagen können, als Ihr noch nicht geboren wart, Ihr Flegel! (Pfiff)

ÖLA 3/W 3 – BS 32 a [1], Bl. 5

\Textverlust\

35

40

45

얍 S TADTRAT (horcht auf) B ETZ Wer ist umzingelt? W IRT Ihr, meine Herren! E NGELBERT Wieso? W IRT Meine Herren! Ich habs nämlich grad erfahren, dass Euch die Herren Fascisten verprügeln wollen -S TADTRAT (erhebt sich) W IRT Die Herren Fascisten behaupten nämlich, dass Ihr meine Herren, das Denkmal weiland Seiner Majestät verdreckt habt und jetzt haben die Herren Fascisten eine pfundige Wut im Bauch und wollen Seine Majestät rächen! Hurrah! K RANZ Von wem hast denn das? W IRT Vom Martin seiner Anna. S TADTRAT Hier hat niemand eine Majestät verdreckt, merk Dir das! 8 28

B B

WemsN ] ManifestN ]

Wems[n] korrigiert aus: Mannifest

346

ÖLA 3/W 3 – BS 32 a [1], Bl. 6

Fragmentarische Fassung einiger Bilder

K4/TS1 (Grundschicht)

Lesetext

W IRT Oh bitte! (In der Ferne eine Trillerpfeife) W IRT (horcht) Signal. Alarm! (Stille) K RANZ Was war denn jetzt das? W IRT Mussolini persönlich. E NGELBERT Irrtum! (und wieder die Trillerpfeife) W IRT (grinst) Na? Jetzt gibts Watschen, meine Herren! S TADTRAT Lüge! Infame Lüge! W IRT (drohend) Hurrah! Hurrah! (er fällt um) K RANZ (zum Wirt) Halts Maul, Judas! W IRT (Auf dem Boden) Ich bin kein Judas, meine Herren! Ich bin Euch doch innerlich immer treu geblieben, sogar noch nach der Revolution! 얍 Aber was ist denn das jetzt für eine verkehrte Welt! Früher, da war so ein Sonntag das pure Vergnügen, und wenn mal in Gottes Namen gerauft worden ist, dann wegen irgendeinem Trumm Weib, aber doch schon gar niemals wegen dieser Scheisspolitik! Das sind doch ganz ungesunde Symptome, meine Herren! (Und abermals die Trillerpfeife) B ETZ Aggressionstriebe, Aggressionstriebe -S TADTRAT Kameraden! Der Mensch ist ein schwaches Rohr im Winde, in Bezug auf das Schicksal, ob er nun Monarchist ist oder Republikaner. Es gibt nun mal Augenblicke im Leben, wo sich auch der Kühnste der Stimme der Vernunft beugen muss, und zwar gegen sein Gefühl! Kameraden! Das wäre doch ein miserabler Feldherr, der seine Brigaden in eine unvermeidliche Niederlage hineinkommandieren tät! In diesem Sinne schliess ich nun hiemit unsere italienische Nacht! Vis major, höhere Gewalt! Wo ist mein Hut? B ETZ Ich bleib. S TADTRAT Wieso? B ETZ Ich bin da nämlich etwas anderer Meinung -S TADTRAT Da dürft es doch wohl keine andere Meinung geben! B ETZ Findst Du? Wir haben doch in Bezug auf das verdreckte Denkmal ein absolut reines Gewissen. E NGELHART Sehr richtig! B ETZ Und infolgedessen find ich es nicht richtig, so davonzulaufen. S TADTRAT Nicht nicht richtig, klug! Diese Fascisten sind doch bekanntlich in der Ueberzahl und infolgedessen bekanntlich zu jeder Schandtat jederzeit bereit! Wo ist mein Hut? B ETZ Ich bleib. Und wenn sie mich verhaun! (Stille) S TADTRAT (fixiert ihn höhnisch) Ach, Du bist ein Katastrophenpolitiker?

5

10

15

20

25

30

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40

B

ÖLA 3/W 3 – BS 32 a [1], Bl. 7

N

\Textverlust\



Besuch hat nämlich uns gegolten, mir und meinen Genossen, nicht Euch! Und wir sind halt nunmal so veranlagt, dass wir für unsere Taten einstehen, selbst wenn so eine Tat auch mal eine richtige Blödheit gewesen sein sollt.

45

41

B

S TADTRAT f Katastrophenpolitiker?N ] Blatt unvollständig, ergänzt aus K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 49.

347

ÖLA 3/W 3 – BS 32 a [1], Bl. 8

Fragmentarische Fassung einiger Bilder

5

15

20

Lesetext

M ARTINS G ENOSSEN (sind ihm nun in den Garten gefolgt) K RANZ Also das ist sehr edel von Euch, nicht andere Unschuldige für Euere Blödheiten büssen zu lassen! B ETZ Martin! Du weisst, dass ich Dich sehr schätz -E NGELBERT (unterbricht ihn) Martin! Ich bin durch den Gang der Dinge zu der Ueberzeugung gekommen, dass Dein Ausschluss ungerechtfertigt ist und ich bedauer es ehrlich, dass ich ihn so überstürzt gefordert hab. B ETZ Martin! Im Namen des Vorstandes bitte ich Dich, wieder unser Kamerad zu werden. M ARTIN (verbeugt sich leicht) Danke. Aber leider seid Ihr zu spät dran, denn es wurde bereits ein neuer Schutzbund gegründet -E NGELBERT (setzt sich) M ARTIN Und was soll ich denn als Euer Kamerad? Ich müsst mich doch nur mit Euch herumstreiten, um kämpfen zu können! Warum soll ich meine Kraft verpuffen? K RANZ (stiert Martin fassungslos an) S TADTRAT (leise) Ein neuer Schutzbund -M ARTIN Ein junger Schutzbund! S TADTRAT Ein junger -- (er trocknet sich verstohlen einige Tränen ab) B ETZ Es ist halt alles relativ. M ARTIN Aber was! Ihr schon, aber nicht wir! Kommt, Genossen! B

10

K4/TS1 (Grundschicht)

N

Ende -------------------

8

B

VorstandesN ]

korrigiert aus: Vorstenades

348

Endfassung Italienische Nacht (Arcadia-Fassung)



K4/TS2 (Grundschicht)

Lesetext

Italienische Nacht Volksstück von

Stammbuch Arcadia-Verlag, Berlin 1930, o. Pag. (S. I)

Ödön Horváth

5



Personen:

SB Arcadia 1930, (o. Pag.) S. 1

Stadtrat Kranz Engelbert Betz Wirt Karl Martin Martins Genossen Ein Faschist Der Major Adele Anna Leni Die Dvorakische Zwei Prostituierte Frau Hinterberger Geschwister Leimsieder Republikaner und Faschisten

10

15

20

25

Ort: Süddeutsche Kleinstadt

30

Zeit: 1930 - ?

35



B

Erstes Bild.

SB Arcadia 1930, (o. Pag.) S. 3

Im Wirtshaus des Josef Lehninger. Kranz, Engelbert und der Stadtrat Ammetsberger spielen Tarock. Karl kiebitzt. Betz trinkt zufrieden sein Bier. Martin liest die Zeitung. Der Wirt bohrt in der Nase. Es ist Sonntag Vormittag, und die Sonne scheint. (Stille) B

40

N

N

B ETZ Martin. Was gibts denn Neues in der großen Welt? B

35 38 42

Erstes Bild.N ] zufriedenN ] BgibtsN ]

N

B

korrigiert aus: Erstes Bild.

B

zufri\e/den korrigiert aus: gibt’s die uneinheitliche Setzung von Apostrophen wird in TS2 stillschweigend korrigiert: vgl. Kommentar

349

Endfassung Italienische Nacht (Arcadia-Fassung)

B

10

15

20

25

30

Lesetext

M ARTIN Nichts. Daß das Proletariat die Steuern zahlt, und daß die Herren Unternehmer die Republik prellen, hint und vorn, das ist doch nichts Neues . Oder? B ETZ ( leert sein Glas) M ARTIN Und daß die Herren republikanischen Pensionsempfänger kaiserlich reaktionäre Parademärsch veranstalten mit Feldgottesdienst und Kleinkaliberschießen, und daß wir Republikaner uns das alles gefallen lassen, das ist doch auch nichts Neues. Oder? 얍 B ETZ Wir leben in einer demokratischen Republik, lieber Martin. (Jetzt zieht draußen eine Abteilung Faschisten mit Musik vorbei. Alle, außer Martin und Kranz, eilen an die Fenster und sehen sich stumm den Zug an -- erst als er vorbei ist, rühren sie sich wieder) S TADTRAT Von einer akuten Bedrohung der demokratischen Republik kann natürlich keineswegs gesprochen werden. Schon weil es der Reaktion an einem ideologischen Unterbau mangelt. Kameraden! Solange es einen republikanischen Schutzverband gibt, und solange ich hier die Ehre habe, Vorsitzender der hiesigen Ortsgruppe zu sein, solange kann die Republik ruhig schlafen! E NGELBERT Bravo! K RANZ Ich möchte das Wort ergreifen! Ich möchte jetzt etwas vorschlagen! Ich möchte jetzt dafür plädieren, daß wir jetzt wieder weitertarocken und uns nicht wieder stören lassen von diesen germanischen Hoftrotteln samt ihrem dritten Reich! S TADTRAT Sehr richtig! 얍 K ARL Wie ist das eigentlich heut Nacht? S TADTRAT Was denn? K ARL Na in Bezug auf unsere italienische Nacht heut Nacht -S TADTRAT (unterbricht ihn) Natürlich steigt unsere italienische Nacht heut Nacht! Oder glaubt denn da wer, daß es sich der republikanische Schutzverband von irgendeiner reaktionären Seite her verbieten lassen könnt, hier bei unserem Freunde Josef Lehninger eine italienische Nacht zu arrangieren, und zwar wann er will? Unsere republikanische italienische Nacht steigt heut Nacht trotz Mussolini und Konsorten! (Er setzt sich wieder, mischt und teilt) E NGELBERT ( hat sich auch wieder gesetzt) Daß Du das nicht weißt! K ARL Woher soll ich denn das wissen? B ETZ Ich habs doch bereits offiziell verkündet. E NGELBERT Aber der Kamerad Karl war halt wiedermal nicht da. K ARL Ich kann doch nicht immer da sein. 얍 E NGELBERT Sogar beim letzten Generalappell war er nicht da, vor lauter Weibergeschichten. K RANZ Solo! S TADTRAT Bettel! B

5

K4/TS2 (Grundschicht)

N

B

N

N

B

SB Arcadia 1930, S. 4

N

SB Arcadia 1930, S. 5

B N

B

35

N

B

40

2 2

B

3 15 31 32 37

B

B

RepublikN ] nichts NeuesN ]

leertN ] solangeN ] B N] BhatN ] BGeneralappellN ] B

N

korrigiert aus: Republick korrigiert aus: nichts Neues überzählige oder fehlende Leerzeichen werden in TS2 stillschweigend korrigiert; vgl. Kommentar korrigiert aus: Leert korrigiert aus: so lange Absatz getilgt korrigiert aus: Hat korrigiert aus: Generalapell

350

SB Arcadia 1930, S. 6

Endfassung Italienische Nacht (Arcadia-Fassung)

5

10

15

20

30

35

40

45

Lesetext

E NGELBERT Aus der Hand? S TADTRAT Aus der hohlen Hand! K ARL (zu Betz) Soll ich mir das jetzt gefallen lassen? Das mit den Weibergeschichten? B ETZ Du kannst es doch nicht leugnen, daß Dich die Weiber von Deinen Pflichten gegenüber der Republik abhalten -K ARL Also das sind doch meine intimsten Privatinteressen, muß ich schon bitten. Und zwar energisch! (Jetzt zieht draußen abermals eine Abteilung Faschisten mit Musik vorbei. -- Alle lauschen, aber keiner tritt an das Fenster. Stille) B ETZ Es ist halt alles relativ. M ARTIN Aber was! Eine Affenschand ist das! Während sich die Reaktion bewaffnet, veranstalten wir bra-얍ven Republikaner italienische Nächt! B ETZ Eigentlich ists ja unglaublich, daß die Reaktion derart erstarkt. M ARTIN Einen Dreck ist das unglaublich! Das konnt man sich ja direkt ausrechnen -wer die wirtschaftliche Macht hat, hat immer Recht, bekanntlich. Aber Ihr vom Vorstand scheint das nicht zu wissen. Noch bild ichs mir ein, daß Ihr wissen wollt, aber ab und zu fällts mir schon recht schwer -E NGELBERT Hoho! B ETZ Du bist halt ein Pessimist. M ARTIN Fällt mir nicht ein! S TADTRAT Ein Krakeeler ist er! Ein ganz gewöhnlicher Krakeeler . (Stille) M ARTIN (erhebt sich langsam) Herr Stadtrat. Sag mal, Herr Stadtrat: kennst Du noch einen gewissen Karl Marx? S TADTRAT (schlägt auf den Tisch) Natürlich kenn ich meinen Marx! Und ob ich meinen Marx kenn! 얍 Und außerdem verbitt ich mir das! E NGELBERT Sehr richtig! K RANZ Solo! S TADTRAT Oder glaubst denn Du, Du oberflächlicher Phantast, daß kurz und gut mit der Verwirklichung des Marxismus kurz und gut das Paradies auf Erden entsteht? M ARTIN Was Du unter kurz und gut verstehst, das weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, was Du unter Paradies verstanden haben willst, aber ich kanns mir lebhaft ausmalen, was Du unter Marxismus verstehst. Verstanden? Was ich darunter versteh, daran glaub ich. K RANZ Solo, Herrgottsakrament! (Er spielt aus) (Stille) B ETZ Weißt Du, was ich nicht kann? M ARTIN Na? B ETZ Ich kann nicht glauben. (Stille) M ARTIN Das glaub ich gern, daß Du nicht glauben kannst. Du kannst nicht 얍 glauben, weil Du nicht mußt. Du bist ja auch kein Prolet, Du pensionierter Kanzleisekretär -B ETZ Ich bin zwar Kanzleiobersekretär, aber das spielt natürlich keine Rolle. B

25

K4/TS2 (Grundschicht)

22 22

B B

KrakeelerN ] KrakeelerN ]

N

B

korrigiert aus: Krakeler korrigiert aus: Krakeler

351

SB Arcadia 1930, S. 7

N

SB Arcadia 1930, S. 8

SB Arcadia 1930, S. 9

Endfassung Italienische Nacht (Arcadia-Fassung)

10

N

B

B

15

20

B

25

N

N

35

40

3 13 14 21 28

siehtN ] Landeswetterwarte.N ] BlaßtsN ] BmitN ] BHalt! --N ] B B

N

B

N

korrigiert aus: Sieht Landeswetterwarte[,]|.| korrigiert aus: lassts korrigiert aus: Mit korrigiert aus: Halt!- Die Zahl der Bindestriche sowie fehlende und überzählige Leerzeichen vor oder nach Bindestrichen werden in TS2 stillschweigend korrigiert; vgl. Kommentar

28

B

lieberN ]

SB Arcadia 1930, S. 10

N

B

30

Lesetext

M ARTIN Natürlich. B ETZ Das ist gar nicht so natürlich! M ARTIN ( sieht ihn verdutzt an) Geh so leck mich doch am Arsch! (rasch ab mit seiner Zeitung) (Stille) W IRT Obs wieder regnen wird? Jedsmal, wenn ich eine Sau abstich, versaut mir das Wetter die ganze italienische Nacht. B ETZ Das glaub ich nicht. W IRT Warum? Weils Ihr seid? B ETZ Nein. Sondern weil das Tief über Irland einem Hoch über dem Golf von Biscaya gewichen ist. W IRT Wer behauptet das? B ETZ Die amtliche Landeswetterwarte. 얍 W IRT Geh laßts mich aus mit den Behörden! M ARTIN (erscheint wieder, tritt zu Betz und legt ein Flugblatt vor ihn hin) Da! B ETZ Was soll ich damit? M ARTIN Lesen! B ETZ Warum soll ich das dumme faschistische Zeug da lesen? M ARTIN Weils Dich interessieren dürft. B ETZ Aber keine Idee! M ARTIN ( mit erhobener Stimme) Das da dürfte sogar alle anwesenden Herrschaften hier interessieren! D IE H ERRSCHAFTEN (horchen auf) S TADTRAT Was hat er denn schon wieder, dieser ewige Querulant? B ETZ (überflog mechanisch das Flugblatt, stockt und schlägt nun mit der Faust auf den Tisch) Was?! Na das ist empörend! Ist das aber empörend, Josef! W IRT (wird unsicher und will sich drücken) 얍 B ETZ (fixiert ihn empört) Halt! -- Halt, lieber Josef -- das da dürft nämlich vor allem Dich interessieren -- weißt Du, was da drinnen geschrieben steht? W IRT (verlegen) Nein -B ETZ Du kannst also nicht lesen? W IRT (lächelt verzweifelt) Nein -B ETZ Analphabet? S TADTRAT (hat aufgehorcht) Was soll denn das schon wieder darstellen dort? W IRT Nichts, Leutl! Nichts -B ETZ Nichts? Aber was Du da nicht sagst, lieber Josef?! Ich glaub gar, Du bist ein grandioser Schuft! W IRT Das darfst Du nicht sagen, Heinrich! B ETZ Ich sags sogar noch mal, lieber Josef. S TADTRAT Wieso? B

5

K4/TS2 (Grundschicht)

li\e/ber

352

SB Arcadia 1930, S. 11

Endfassung Italienische Nacht (Arcadia-Fassung)

5

15

20

25

30

35

45

6 15 37

MammonsN ] woN ] BwirftN ] B B

SB Arcadia 1930, S. 12

N

B

B

40

Lesetext

K RANZ Ja Sakrament -M ARTIN (unterbricht ihn) Moment! 얍 B ETZ Moment! Das hier ist ein sogenannter Tagesbefehl -- der Tagesbefehl der Herren Faschisten für ihren heutigen deutschen Tag -- (er reicht das Blatt Karl) Josef! Wir Republikaner sind Deine Stammgäst, und Du verkaufst Deine Seele! Und alles um des Mammons Willen! K ARL Also das ist ja direkt impertinent! Bitte mir zuzuhören, Kameraden! (Er liest) „ab sechzehn Uhr bis achtzehn Uhr treffen sich die Spielleute im Gartenlokal des Josef Lehninger“ -K RANZ Was für Spielleut? K ARL Die faschistischen Spielleut! Pfui Teufel! B ETZ Eine Schmach ist das! Der liebe Kamerad Josef reserviert unseren Stammtisch für die Reaktion! K ARL Und wir Republikaner, denkt er, kommen dann hernach dran mit unserer italienischen Nacht und kaufen ihm brav sein Zeug ab, die Brosamen, die wo die Herren Reaktionäre nicht mehr zamfressen konnten! E NGELBERT Hört, hört! 얍 W IRT Ich glaub, wir reden aneinander vorbei -M ARTIN Aber was! K ARL A das ist aber korrupt! W IRT Ich bin nicht korrupt! Das bin ich nicht, Leutl, das ist meine Frau -K ARL Papperlapapp! W IRT Da gibts kein Papperlapapp! Ihr kennt meine Frau nicht, liebe Leutl! Die scheißt sich was um die politischen Konstellationen. Der ist es sauwurscht, wer ihre Würst zammfrißt! Und ich Rindvieh hab mal von einem heiteren Lebensabend geträumt! Und wenn ich jetzt den schwarzweißroten Fetzen nicht raussteck, verderben mir sechzig Portionen Schweinsbraten, das war doch ein furchtbarer Blödsinn, die Reichsfarben zu ändern! Meiner Seel, ich bin schon ganz durcheinand! K RANZ Wenn Du jetzt nicht mein Freund wärst, tät ich Dir jetzt ins Gsicht spucken, lieber Josef! E NGELBERT Bravo! 얍 (Stille) W IRT (verzweifelt) Meiner Seel, jetzt sauf ich mir einen an, und dann erschieß ich meine Alte. Und dann spring ich zum Fenster naus, aber vorher zünd ich noch alles an. (ab) S TADTRAT ( wirft zornbebend die Karten zu Boden) (Stille) S TADTRAT Dieser Schmutz. (mit erhobener Stimme) Aber sehen möcht ich doch, welche Macht unsere italienische Nacht heut Nacht zu vereiteln vermag! Kameraden! Wir weichen nicht, und wärs die vereinigte Weltreaktion! Unsere republikanische italienische Nacht steigt heute Nacht, wie gesagt! Auch ein Herr Josef Lehninger wird uns keinen Strich durch die Rechnung machen! Kommt Kameraden! (ab) M ARTIN Hurrah! B

10

K4/TS2 (Grundschicht)

N

korrigiert aus: Mamons korrigiert aus: wo_ korrigiert aus: Wirft

353

N

SB Arcadia 1930, S. 13

SB Arcadia 1930, S. 14

Endfassung Italienische Nacht (Arcadia-Fassung)

K4/TS2 (Grundschicht)

Lesetext

K RANZ Du Mephisto -A LLE (verlassen das Lokal) -------------------5



10

Zweites Bild.

SB Arcadia 1930, S. 15

Straße. Alle Häuser sind schwarzweißrot beflaggt, weil die hiesige Ortsgruppe der Faschisten, wie dies auch ein Transparent verkündet, einen deutschen Tag veranstaltet. Eben zieht eine Abteilung mit Fahne, Musik und Kleinkalibern vorbei, gefolgt von Teilen der vaterländisch gesinnten Bevölkerung -- auch die Dvorakische und das Fräulein Leni ziehen mit.

15

20

L ENI Jetzt kann ich aber nicht mehr mit. D IE D VORAKISCHE Da tuns mir aber leid, Fräulein! L ENI Die Musik ist ja fein, aber für die Herren in Uniform könnt ich mich nicht begeistern. Die sehn sich alle so fad gleich. Und dann werdens auch gern so eingebildet selbstsicher. Da sträubt sich etwas in mir dagegen. D IE D VORAKISCHE Das glaub ich gern, weil Sie halt keine Erinnerung mehr 얍 haben an unsere Vorkriegszeit. L ENI Ich muß jetzt da nach links. D IE D VORAKISCHE Fräulein, Sie könnten mir eigentlich einen großen Gefallen tun -L ENI Gern! D IE D VORAKISCHE Ihr Herr Major muß doch ganz pompöse Uniformen haben -L ENI Ja, das stimmt, weil er früher auch in den Kolonien gewesen ist, die wo uns Deutschen geraubt worden sind. D IE D VORAKISCHE Geh fragens doch mal den Herrn Major, ob er mir nicht so eine alte Uniform verkaufen möcht, es passiert Ihnen nichts -L ENI Wie meinens denn das? D IE D VORAKISCHE Das sagt man halt so. (Stille) L ENI Was möchtens denn mit der Uniform anfangen? D IE D VORAKISCHE (lächelt) Anschaun . L ENI Ist das Alles? 얍 D IE D VORAKISCHE Wie mans nimmt -(Stille) L ENI Nein, das wär mir, glaub ich, unheimlich -D IE D VORAKISCHE (plötzlich wütend) Dumme Gans dumme! Ihr jungen Leut habt halt keine Illusionen mehr! (rasch ab) (Trommelwirbel) K ARL (kommt und erkennt Leni) Ist das aber ein Zufall! L ENI Ich hab jetzt nicht viel Zeit, Herr Karl! K ARL Ich auch nicht. Aber ich möcht Ihnen doch nur was vorschlagen, Fräulein! B

25

30

35

40

45

B

21 35

B B

SieN ] AnschaunN ]

N

SB Arcadia 1930, S. 16

N

korrigiert aus: sie korrigiert aus: anschaun

354

SB Arcadia 1930, S. 17

Endfassung Italienische Nacht (Arcadia-Fassung)

5

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K4/TS2 (Grundschicht)

L ENI Was möchtens mir denn vorschlagen? K ARL Daß wir zwei Hübschen uns womöglich heut abend noch treffen, möcht ich vorschlagen -- ich hätts Ihnen schon gestern vorschlagen -- vorgeschlagen, aber es hat sich halt keine Gelegenheit ergeben -L ENI Lügens mich doch nicht so an, Herr Karl. 얍 (Stille) K ARL (verbeugt sich barsch) Gnädiges Fräulein. Das hab ich doch noch niemals nicht notwendig gehabt, ein Weib anzulügen, weil ich doch immerhin ein gerader Charakter bin, merken Sie sich das! L ENI Ich wollt Sie doch nicht beleidigen -K ARL Das können Sie auch nicht. L ENI (starrt ihn an) Was verstehen Sie darunter, Herr Karl? K ARL Ich versteh darunter, daß Sie mich nicht beleidigen können, weil Sie mir sympathisch sind -- Sie könnten mich höchstens kränken, Fräulein. Das versteh ich darunter. Pardon! (Stille) L ENI Ich glaub gar, Sie sind ein schlechter Mensch. K ARL Es gibt keine schlechten Menschen, Fräulein. Es gibt nur sehr arme Menschen. Pardon! (Stille) 얍 L ENI Ich wart aber höchstens zehn Minuten -K ARL Und ich nur fünf. L ENI (lächelt) Also dann bin ich halt so frei, Sie schlechter Mensch -- (ab) M ARTIN und B ETZ (kommen) M ARTIN (sieht Leni, die rasch an ihm vorbeigegangen ist, nach; dann betrachtet er Karl spöttisch) K ARL Sag mal Martin: ich nehm natürlich an, daß bei unserer italienischen Nacht heut Nacht nicht nur eingeschriebene ordentliche und außerordentliche Mitglieder, sondern auch Sympathisierende gern gesehen sind -M ARTIN Von mir aus. K ARL Ich hab nämlich grad jemand eingeladen. Eine mir bekannte Sympathisierende von mir. M ARTIN War das die da? K ARL Kennst Du die da? M ARTIN Leider. 얍 K ARL Wieso? M ARTIN Weil das ein ganz stures Frauenzimmer ist. K ARL Ich find aber, daß sie was Bestimmtes hat -M ARTIN Aber was! Ich meinte doch, daß dieses Frauenzimmer ganz stur ist, nämlich in politischer Hinsicht, das ist doch eine geborene Faschistin, Herrgottsakrament! Wie kann man nur mit so was herumpoussieren! K ARL Mein lieber Martin, das verstehst Du nicht. Wir zwei beide sind aufrechte Republikaner, aber wir haben dabei einen Unterschied. Du bist nämlich Arbeiter und ich Musiker. Du stehst am laufenden Band, und ich spiel in einem Konzertcafé Schumann, Mozart, Kalman und Johann Strauß -- daher bin ich natürlich der größere Individualist, schon weil ich halt eine Künstlernatur bin. Ich hab die stärB

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keren privaten Interessen, aber nur scheinbar, weil sich bei mir alles gleich ins Künstlerische umsetzt. 얍 M ARTIN (grinst) Das sind aber feine Ausreden -K ARL Das bin ich mir einfach schuldig, daß ich in erotischer Hinsicht ein politisch ungebundenes Leben führ -- Pardon! (ab) M ARTIN Nur zu! (er grinst) (Stille) B ETZ Martin, Du weißt, daß ich Dich schätz, trotzdem daß Du manchmal schon direkt unangenehm boshaft bist -- Ich glaub, Du übersiehst etwas sehr Wichtiges bei Deiner Beurteilung der politischen Weltlage, nämlich das Liebesleben in der Natur. Ich hab mich in der letzten Zeit mit den Werken von Professor Freud befaßt, kann ich Dir sagen. Du darfst doch nicht vergessen, daß um unser Ich herum Aggressionstriebe gruppiert sind, die mit unserem Eros in einem ewigen Kampfe liegen, und die sich zum Beispiel als Selbstmordtriebe äußern, oder auch als Sadismus, Masochismus, Lustmord -M ARTIN Was gehen mich Deine Perversitäten an? 얍 B ETZ Das sind doch auch die Deinen! M ARTIN Was Du da nicht sagst! B ETZ Oder hast Du denn Deine Anna noch nie gekniffen oder sonst irgendsowas, wenn Du -- ich meine: im entscheidenden Moment -M ARTIN Also, das geht Dich einen großen Dreck an. B ETZ Und dann sind das doch gar keine Perversitäten, sondern nur Urtriebe! Ich kann Dir sagen, daß unsere Aggressionstriebe eine direkt überragende Rolle bei der Verwirklichung des Sozialismus spielen, nämlich als Hindernis. Ich fürcht, daß Du in diesem Punkte eine Vogelstraußpolitik treibst. M ARTIN Weißt Du, was Du mich jetzt abermals kannst? (ab) B ETZ (sieht ihm nach) Auch der kann die Wahrheit nicht vertragen -- Jugend kennt halt keine Tugend. B

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Drittes Bild.

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Seitenstraße. Mit vielen Fahnen. Die Luft ist voll von Militärmusik. An der Ecke stehen zwei Prostituierte. Es ist bereits spät am Nachmittag. Der Stadtrat Ammetsberger geht vorbei. Die Prostituierten zwinkern. E RSTE Kennst Du den? Z WEITE Er ist nicht unrecht. E RSTE Ich glaub, er ist was bei der Stadt. Irgendein Tier. Z WEITE Wahrscheinlich. (Jetzt wehen die Fahnen im Winde) Z WEITE (sieht empor) Wenns nur keine Fahnen gäb -E RSTE Fahnen sind doch direkt erhebend. 11 21

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FürN ] ähnlichN ] BkennenN ] B B

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Z WEITE Nein -- wenn ich so Fahnen seh, ists mir immer, als hätten wir noch Krieg. 얍 E RSTE (mit dem Lippenstift) Ich kann nichts gegen den Weltkrieg sagen. Das wär undankbar. (Pause) Z WEITE (sieht noch immer empor.) Wie das weht -- was nützt uns das? E RSTE Für mich sind am besten landwirtschaftliche Ausstellungen oder überhaupt künstlerische Veranstaltungen. Auch so vaterländische Feierlichkeiten sind nicht schlecht. (Pause) Z WEITE Eigentlich ist der Krieg dran schuld. E RSTE An was denn? Z WEITE An mir. E RSTE Lächerlich! Alle reden sich naus auf den armen Krieg! A NNA (kommt und hält an der anderen Ecke; sie wartet) E RSTE Wer ist denn das? 얍 Z WEITE Ich kenn sie nicht. E RSTE Die sieht so neu aus. Und dann sieht sie doch wem ähnlich -Z WEITE (grinst) Dir -E RSTE (starrt sie an) Also das war jetzt gemein von Dir, Luise. D REI F ASCHISTEN (kommen an Anna vorbei) A NNA (weicht ihnen aus) D IE F ASCHISTEN (halten vor ihr und grinsen sie an) A NNA (will ab) M ARTIN (tritt ihr in den Weg, grüßt kurz und spricht mit ihr) D IE F ASCHISTEN und DIE P ROSTITUIERTEN (horchen, hören aber nichts) A NNA Und? M ARTIN Da gibts kein Und. Er hat sich halt wieder herausgelogen, der Herr Stadtrat. Das wäre unter seiner republikanischen Würde, hat er gesagt. Es kommt alles, wie es kommen muß. 얍 A NNA Ein korrupter Mensch. M ARTIN Herrschen tut der Profit. Also regieren die asozialen Elemente. Und die schaffen sich eine Welt nach ihrem Bilde. Aber garantiert! Heut gibts noch einen Tanz auf denen ihrer italienischen Nacht! Zur freundlichen Erinnerung! D IE F ASCHISTEN (beschäftigen sich nun mit den Prostituierten) A NNA Weißt Du, was die Genossen sagen? M ARTIN Was? A NNA Daß Du eine Zukunft hast. M ARTIN (zuckt die Schulter) Sie kennen mich halt. Ich müßt aber fort. In irgendeine Metropole. A NNA Ich hab auch das Gefühl, daß man auf Dich wartet. M ARTIN Hier hab ich ein viel zu kleines Betätigungsfeld. Das könnt auch ein anderer machen, was ich hier mach. A NNA Nein, das könnt keiner so machen! 얍 M ARTIN Du weißt, daß ich das nicht gern hör! B

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A NNA Aber es ist doch so! Wenn alle so wären wie Du, stünd es besser um uns Menschen. M ARTIN Aber ich kann doch nichts dafür, daß ich so bin! Daß ich der Intelligentere bin, und daß ich mehr Durchschlagskraft hab, das verpflichtet mich doch nur, mich noch intensiver für das Richtige einzusetzen! Ich mag das nicht mehr hören, daß ich eine Ausnahme bin. Herrgottsakrament! Ich bin keine, merk Dir das! A NNA Das kannst Du einem doch auch anders sagen, daß Du keine Ausnahme bist -(Stille) M ARTIN Anna, die Zeit braust dahin, und es gibt brennendere Probleme auf der Welt als wie Formfragen. Vergiß Deine Pflichten nicht! ( ab ) Z WEI F ASCHISTEN (sind inzwischen mit den Prostituierten verschwunden; der Dritte fixiert nun Anna) 얍 A NNA (plötzlich) Nun? D ER D RITTE (grinst). A NNA (lächelt) Nun? K ARL (erscheint hinter dem Faschisten) A NNA (fährt zurück) K ARL Pardon! D ER D RITTE (grinst; er grüßt Anna spöttisch-elegant und ab) (Stille) K ARL (unterdrückt seine Erregung) Pardon, Gnädigste! A NNA Du Trottel! K ARL Um Gotteswillen. Eine Anna und dieser Faschist, da stürzt ja in mir eine Welt zusammen -- Wer ist jetzt verrückt? Ich oder Du?! A NNA Du! Ich streng mich da an, fädel was ein, und Du zertrampelst mir wieder alles, Du unüberlegter Mensch! K ARL Unüberlegt! 얍 A NNA Und unverantwortlich! K ARL Unverantwortlich! Grad schimpft mich der Martin zusammen, weil ich mich für ein unpolitisches Weib interessier, und derweil bandelt die Seine mit einem Faschisten an -- Meiner Seel, jetzt glaub ichs aber gleich, daß ich verrückt bin! Korrekt verrückt! So wie sichs gehört! A NNA So beruhig Dich doch! K ARL Oh, Du mein armer Martin! A NNA Aber ich tu doch garnichts ohne Martin! K ARL (starrt sie an) Wie bitte? A NNA Ich tu doch garnichts Unrechtes! K ARL So? A NNA Das ist doch alles in Ordnung -- der Martin möcht doch nur etwas genauere Informationen über denen ihre Kleinkaliber haben -- und dazu soll ich mich halt einem Faschisten nähern, um ihn auszuhorchen -(Stille) K ARL (zündet sich eine Zigarette an) 얍 A NNA Was hast denn Du jetzt gedacht? K ARL Ich? Pardon! B

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A NNA Das war doch eine grobe Beleidigung -K ARL Pardon! A NNA Schäm Dich! (Stille) K ARL Anna. Ich hab schon viel erlebt auf erotischem Gebiete, und dann wird man halt mit der Zeit leicht zynisch. Besonders, wenn man so eine scharfe Beobachtungsgabe hat. Du bist natürlich eine moralische Größe. Du hast Dich überhaupt sehr verändert. A NNA (lächelt) Danke. K ARL Bitte. Du warst mal nämlich anders. Früher. A NNA (nickt) Ja, früher. K ARL Da warst Du nicht so puritanisch. (Stille) A NNA (plötzlich ernst) Und? 얍 K ARL Wenn ich Dich so seh, krieg ich direkt einen Moralischen. Der Martin hat schon sehr recht, man soll sich nicht so gehen lassen -- jetzt hab ich halt schon wieder ein Rendezvous , sie ist zwar politisch indifferent -- (er sieht auf seine Uhr) A NNA Dann würd ich an Deiner Stelle einen heilsamen Einfluß auf sie ausüben. K ARL Meiner Seel, das werd ich auch! Ehrenwort! Es hat doch keinen Sinn, als Vieh durch das Leben zu laufen und immer nur an die Befriedigung seiner niederen Instinkte zu denken -- Aber komisch find ich das doch von Martin. A NNA Was? K ARL Ich könnte ja nie … A NNA Was denn? K ARL Ich kanns mir nicht vorstellen, wie er Dich liebt. Ich meine: ob normal, so wie sichs gehört -A NNA Was willst Du? K ARL Es tät mich nur interessieren. 얍 Wenn er nämlich sowas von Dir verlangt, er schickt Dich doch gewissermaßen auf den politischen Strich -- Ob er dabei innere Kämpfe hat? A NNA Innere Kämpfe? K ARL Ja! (Stille) A NNA Aber was! Du kannst mich nicht durcheinander bringen! Ich kenn den Martin besser! Der steht über uns allen! Ich war blöd, dumm, verlogen, klein, häßlich -er hat mich emporgerissen. Ich war nie mit mir zufrieden. Jetzt bin ichs. K ARL (verbeugt sich leicht) A NNA Jetzt hab ich einen Inhalt, weißt Du? (langsam ab) K ARL (sieht auf seine Uhr) (es dämmert stark) L ENI (kommt) Guten Abend, Herr Karl! Ich freu mich nur, daß Sie noch da sind! Ich konnt leider nicht früher! K ARL Wir haben ja noch Zeit. Und dann 얍 siehts ja auch nicht schlechter aus, wenn man später kommt. B

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L ENI Warum denn so traurig? K ARL Traurig? L ENI Nein, diese Stimme -- wie aus dem Grab. (sie lächelt) K ARL Ich hab grad ein Erlebnis hinter mir. Ich glaub, ich bin verflucht. L ENI Aber Herr Karl! Wenn jemand einen so schönen Gang hat! (sie lacht und verstummt wieder plötzlich, da er totenernst bleibt) (Stille) K ARL Ja, Fräulein. Sie verstehen mich anscheinend nicht, ich müßt Ihnen das nämlich stundenlang auseinandersetzen -- Ich seh schwarz in die Zukunft, Fräulein. L ENI Geh, Sie sind doch ein Mann -K ARL Gerade als Mann darf man eher verzweifeln, besonders ich, weil ich den politischen Tagesereignissen näher steh. -- Sie kümmern sich nicht um Politik? L ENI Nein. 얍 K ARL Das sollten Sie aber. L ENI Warum redens denn jetzt darüber? K ARL In Ihrem Interesse. L ENI Wollens mich ärgern? K ARL Es wär Ihre Pflicht als Staatsbürger -L ENI Warum wollens mir denn jetzt die ganze Stimmung verderben, ich hab mich ja schon so gefreut, auf Ihre italienische Nacht! (Stille) K ARL Ich bin nämlich nicht so veranlagt, daß ich eine Blume einfach nur so abbrech, am Wegrand, ich muß auch menschlich einen Kontakt haben -- und das geht bei mir über die Politik. L ENI Geh, das glaubens doch selber nicht! K ARL Doch! Ich könnt zum Beispiel nie mit einer Frau auf die Dauer harmonieren, die da eine andere Weltanschauung hätt. 얍 L ENI Ihr Männer habt alle eine ähnliche Weltanschauung! (Stille) K ARL Sie sind doch eine Deutsche? L ENI Ja. K ARL Sehns, Fräulein, das ist der Fluch speziell von uns Deutschen, daß wir uns nicht um Politik kümmern, wir sind kein politisches Volk -- bei uns gibts noch massenweis Leut, die keine Ahnung haben, wer sie regiert. L ENI Ist mir auch gleich. Besser wirds nicht. Ich schau, daß ich durchkomm. K ARL Mir scheint, Sie haben keine Solidarität. L ENI Redens doch nicht so protzig daher! K ARL Mir scheint, daß Sie gar nicht wissen, wer der Reichspräsident ist? L ENI Ich weiß nicht, wie die Leut heißen! 얍 K ARL Wetten, daß Sie nicht wissen, wer der Reichskanzler ist? L ENI Weiß ich auch nicht! B

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K ARL Also das ist ungeheuerlich! Und wiedermal typisch deutsch! Können Sie sich eine Französin vorstellen, die das nicht weiß? L ENI So gehens halt nach Frankreich! K ARL Wer ist denn der Reichsinnenminister? Oder wieviel Reichsminister haben wir denn? Ungefähr? L ENI Wenn Sie jetzt nicht aufhören, laß ich Sie stehen! K ARL Unfaßbar! (Stille) L ENI Das hab ich mir auch anders gedacht, diesen Abend. K ARL Ich auch. L ENI Einmal geht man aus -- und dann wird man so überfallen. K ARL (sieht auf seine Uhr) Jetzt wirds allmählich Zeit. L ENI Am liebsten möcht ich garnicht 얍 mehr hin. -K ARL Aber was! (er umarmt sie und gibt ihr einen Kuß) L ENI (wehrt sich nicht)

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Viertes Bild.

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In den städtischen Anlagen, vor dem Denkmal des ehemaligen Landesvaters. Zwei Burschen bemalen das Antlitz des Landesvaters mit roter Farbe. Ein Dritter steht Schmiere. Es dämmert bereits stark. In weiter Ferne spielen die Faschisten den bayerischen Präsentiermarsch. E RSTER Die werden morgen schauen, wie sehr sich Seine Majestät verändert haben -- Seine Majestät haben einen direkt roten Kopf bekommen -- einen blutroten Kopf -Z WEITER Wie stolz daß der dreinschaut! E RSTER ( klatscht mit dem Pinsel in Seine Majestäts Antlitz) Schad, daß der nur einen Kopf hat! D RITTER Halt! Z WEITER Ha? D RITTER Meiner Seel, da kommen gleich zwei! Z WEITER Heim! 얍 E RSTER Fertig! (rasch ab mit seinen Genossen) (Jetzt wirds bald ganz Nacht) A NNA (kommt mit einem Faschisten) D ER F ASCHIST Es ist das eine wirklich schöne Stadt hier, Ihre Stadt, Fräulein! Sie als Kind dieser Stadt muß das doch mit einem ganz besonderen Stolz erfüllen. A NNA Ich bin auch stolz, daß ich von hier bin. D ER F ASCHIST Ehre Deine Heimat! Und was Sie hier für zweckmäßige Anlagen haben -A NNA Wollen wir uns nicht setzen? B

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D ER F ASCHIST Gestatten! (sie setzen sich) A NNA Ich bin nämlich etwas müd, weil ich den ganzen Tag mitmarschiert bin. D ER F ASCHIST Haben Sie auch Militärmusik im Blut? A NNA Und ob! Mein Vater war ja aktiver Feldwebel! 얍 D ER F ASCHIST Hochachtung! (Stille) D ER F ASCHIST Das dort drüben, das ist doch das überlebensgroße Denkmal Seiner Majestät? A NNA Ja. D ER F ASCHIST Ich habe bereits die Ehre gehabt, es kennen zu lernen. Wir hatten heut früh hier eine interne Gruppenaussprache -- ein wirklich schönes Denkmal ist das, voller Stil. Schad, daß es schon so dunkel ist, man kanns ja gar nicht mehr bewundern! A NNA War die interne Gruppenaussprache sehr feierlich? D ER F ASCHIST Ueberaus! A NNA Ueber was hat man denn gesprochen? D ER F ASCHIST Ueber unsere Mission. -- Es ist nicht wahr, wenn feige Söldner des Geldes sagen, wir seien in die Welt gesetzt, um zu leiden, zu genießen und zu sterben! Wir haben hier eine Mission zu erfüllen! Der eine fühlt den Trieb stärker in sich, der andere schwä-얍cher. In uns brennt er wie Opferfeuer! Wir gehen bis zum letzten durch! (Stille) A NNA Ich möcht jetzt gern was wissen. D ER F ASCHIST Jederzeit! A NNA Ich bin nämlich politisch noch sehr unbedeutend und kenn mich noch nicht so recht aus mit Ihrer Bewegung -D ER F ASCHIST (unterbricht sie) Das Weib gehört an den heimlichen Herd, es hat dem kämpfenden Manne lediglich Hilfsstellung zu gewähren! A NNA Ich wollt ja nur etwas wissen über die Zukunft, ungefähr -D ER F ASCHIST Fräulein. Dringen Sie nicht in mich, bitte. Ich darf darüber nichts sagen, weil das ein heiliges Geheimnis ist. (Stille) D ER F ASCHIST Und was sind das doch schon für ungereimte Torheiten, wenn man behauptet, wir seien keine proletarische Partei! Ich weiß, 얍 was ich rede! Ich gehör zu den gebildeteren Ständen und bin doch auch nicht der Dümmste! Ich bin Drogist. A NNA Jetzt wirds aber finster. D ER F ASCHIST (dumpf) Ja, finster. (Stille) D ER F ASCHIST Finster wie in mir. Fräulein, ich kann Sie ja kaum mehr sehen -- Ihr Blondhaar -A NNA Ich bin doch gar nicht blond, sondern brünett. D ER F ASCHIST Dunkelblond, dunkelblond -- Hüte Dich, Blondmädel, hüte Dich! Du weißt , vor wem -- Ueberhaupt hat uns der Jude in den Krieg hineinschlittern lassen! 1914 war es für ihn die höchste Zeit! Denn es hätte der Zeitpunkt kommen B

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können, wo die Völker vielleicht hellhöriger geworden wären. Nehmen wir einmal an, über die Welt wäre eine Epidemie gekommen, da hätten die Leute schon gesehen, daß die Juden dran schuld sind! -- Blondmädel -- In mir ist Freude, daß Sie sich von mir haben ansprechen lassen -얍 A NNA Ich laß mich ja sonst nicht so ansprechen, aber -D ER F ASCHIST Aber? A NNA Aber von Ihresgleichen -- Nein, nicht! -- Nein, bitte -- lassens mich, bitte! D ER F ASCHIST Bitte! Zu Befehl! (Stille) A NNA Ich kann doch nicht gleich so. D ER F ASCHIST Aber das war doch nicht gleich so! Wir haben doch schon eine ganze Zeit gesprochen, zuerst über Kunst und dann über Ihre schöne Stadt und jetzt über unsere Erneuerung -(Stille) D ER F ASCHIST (fährt sie plötzlich an) Und wissen Sie auch, wer uns zugrunde gerichtet hat?! Der Materialismus! Ich will Ihnen sagen, wie der über uns gekommen ist, das kenne ich nämlich! Mein Vater ist nämlich seit dreiundzwanzig Jahren selbständig. Das war nämlich so. Wo man hinkam, hatte der Jude schon alles weggekauft. Der ist nämlich 얍 einfach hergegangen und hat überall das billigste Angebot herausgeschunden. Alles wurde so in den Strudel mit hineingerissen und so hat sich, nichtwahr, der materialistische Geist immer breiter gemacht. Aber wir sind eben zu weibisch geworden! Es wird Zeit, daß wir uns wiedermal die Hosen anziehen und merken, daß wir Cimbern und Teutonen sind! (er reißt sie an sich) A NNA Nicht! Nein! (sie schnellt empor und wehrt sich) (Jetzt flammt die Laterne in der Höhe des Denkmals auf, und man sieht nun Seine Majestät mit dem roten Kopf) D ER F ASCHIST (läßt Anna los und prallt zurück; heiser) Was? -- Nein, diese Schändung -- diese Schändung -- Der Gott, der Eisen wachsen ließ! Gott steh uns bei! Deutschland erwache! B

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Fünftes Bild.

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Im Gartenlokal des Josef Lehninger. Nun ist es finster geworden, und nun steigt die italienische Nacht der hiesigen Ortsgruppe des Republikanischen Schutzverbandes. Mit Girlanden und Lampions, Blechmusik und Tanz. Eben tanzen der Stadtrat Ammetsberger, Kranz, Betz, Engelbert u.s.w. mit ihren Damen eine Française (Offenbach) -- auch Karl und Leni sind dabei. Martin und seine Genossen sitzen etwas abseits und sehen finster zu. B

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InN ] DenkmalsN ] BSchändungN ] BRepublikanischenN ] BAmmetsbergerN ] Bzu.N ] B B

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E RSTER G ENOSSE Ein feiner Genosse! Z WEITER Wer? E RSTER (deutet auf Karl) Dort. D RITTER Diese Künstlernatur ? E RSTER Martin. Der hat Dir doch sein Ehrenwort gegeben, daß er nicht tanzt? M ARTIN Ja. Das auch. V IERTER Ein Schuft! F ÜNFTER Einer mehr. 얍 E RSTER Und jedesmal wegen einem Frauenzimmer -(Pause) V IERTER Die bildt sich aber was ein! D RITTER Gott wie graziös! F ÜNFTER Die wirds auch nimmer begreifen, wos hinghört. Z WEITER Wer ist denn das Frauenzimmer? E RSTER Auch nur Prolet ! S ECHSTER Nein. Das ist was bedeutend Feineres. Das ist eine Angestellte -- (er grinst) D RITTER (lacht) S IEBENTER Wann gehts denn los? D RITTER (verstummt plötzlich) M ARTIN Bald! (er erhebt sich, tritt nahe an die Tanzenden heran und sieht zu; jetzt spielt die Musik einen Walzer, einige Paare hören auf, zu tanzen -- u.a. auch der Stadtrat Ammetsberger) S TADTRAT Na, was war das für eine Idee? 얍 E NGELBERT Eine Prachtidee! S TADTRAT Ich wußte es doch, daß so ein zwangloses gesellschaftliches Beisammensein uns Republikaner menschlich näher bringen würde. K RANZ (ist leicht angetrunken) Ich freu mich nur, daß wir uns von dieser Scheißreaktion nicht haben einschüchtern lassen, und daß wir diese bodenlose Charakterlosigkeit unseres lieben Josef mit einer legeren Handbewegung bei Seite geschoben haben. (er rülpst) Das zeigt von innerer Größe. S TADTRAT Eine Prachtidee! E NGELBERT Eine propagandistische Tat! K RANZ Diese Malefizfaschisten täten sich ja nicht wenig ärgern, wenn sie sehen könnten, wie ungeniert wir Republikaner uns hier bewegen! (er torkelt etwas) E NGELBERT Wo stecken denn jetzt diese Faschisten? B ETZ Ich hab was von einer Nachtübung gehört. E NGELBERT Na viel Vergnügen! 얍 K RANZ Prost! S TADTRAT Dieser kindische Kleinkaliberunfug. B ETZ Aber sie sollen doch auch Maschinengewehre -S TADTRAT (unterbricht ihn) Redensarten! Nur keinen Kleinmut Kameraden! -- Darf ich Euch meine Frau vorstellen, meine bessere Hälfte. K RANZ Sehr erfreut! B

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E NGELBERT Angenehm! B ETZ Vom Sehen kennen wir uns schon. D IE BESSERE H ÄLFTE (lächelt unsicher) S TADTRAT So -- woher kennt Ihr Euch denn? B ETZ Ich hab Dich mal mit ihr gehen sehen. S TADTRAT Mich? Mit ihr? Wir gehen doch nie zusammen aus! B ETZ Doch. Und zwar dürft das so vor Weihnachten gewesen sein -S TADTRAT Richtig! Das war an ihrem Geburtstag! Der einzige Tag im Jahr, 얍 an dem sie mitgehen darf, ins Kino -- (er lächelt und kneift sie in die Wange) Sie heißt Adele. Das heut ist nämlich eine Ausnahme, eine große Ausnahme -- Adele liebt die Oeffentlichkeit nicht, sie ist lieber daheim. (er grinst) Ein Hausmütterchen. K RANZ (zu Adele) Trautes Heim, Glück allein. Häuslicher Herd ist Goldes wert. (er rülpst) Die Grundlage des Staates ist die Familie. Was Schönres kann sein, als ein Lied aus Wien. (er torkelt summend zu seinem Bier) B ETZ Ein Schelm. E NGELBERT (zu Adele) Darf ich bitten! S TADTRAT Danke! Adele soll nicht tanzen. Sie schwitzt. (Pause; Engelbert tanzt nun mit einer Fünfzehnjährigen) A DELE (verschüchtert) Alfons. S TADTRAT Nun? A DELE Ich schwitz ja gar nicht. S TADTRAT Ueberlaß das mir, bitte. 얍 A DELE Warum soll ich denn nicht tanzen? S TADTRAT Du kannst doch gar nicht tanzen! A DELE Ich? Ich kann doch tanzen! S TADTRAT Seit wann denn? A DELE Seit immer schon. S TADTRAT Du hast noch nie tanzen können! Selbst als blutjunges Mädchen nicht, merk Dir das! Blamier mich nicht! (er zündet sich eine Zigarre an) (Pause) A DELE Alfons. Warum hast Du gesagt, daß ich die Oeffentlichkeit nicht liebe? Ich ging doch gern öfters mit -- Warum hast Du das gesagt? S TADTRAT Darum. (Pause) A DELE Ich weiß ja, daß Du im öffentlichen Leben stehst, eine öffentliche Persönlichkeit -S TADTRAT Still! A DELE Du stellst einen immer in ein 얍 falsches Licht. Du sagst, daß ich mit Dir nicht mitkomm -S TADTRAT (unterbricht sie) Siehst Du! A DELE (gehässig) Was denn? S TADTRAT Daß Du mir nicht das Wasser reichen kannst. (Pause) B

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K4/TS2 (Grundschicht)

KinoN ] daheim.N ] Brülpst)N ] BWien.N ] BSelbstN ] B B

korrigiert aus: Kin[{o}] korrigiert aus: daheim korrigiert aus: rülpst). korrigiert aus: Wien

Se[b]|l|bst

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Endfassung Italienische Nacht (Arcadia-Fassung)

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K4/TS2 (Grundschicht)

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A DELE Ich möcht am liebsten nirgends mehr hin. S TADTRAT Also! (er läßt sie stehen; zu Betz) Meine Frau, was? (er grinst) Wenn Du zum Weibe gehst, vergiß die Peitsche nicht. B ETZ Das ist von Nietzsche. S TADTRAT Sie folgt aufs Wort. Das ist doch ein herrlicher Platz hier! Diese uralten Stämme und diese ozonreiche Luft -- (er atmet tief) B ETZ Das sind halt die Wunder der Natur. S TADTRAT Die Wunder der Schöpfung -- es gibt nichts Herrlicheres. Ich kann das besser beurteilen, weil ich ein Bauernkind bin. Wenn man 얍 so in den Himmel schaut, kommt man sich so winzig vor -- diese ewigen Sterne! Was sind wir daneben? B ETZ Nichts. S TADTRAT Nichts. Gott hat doch einen feinen Geschmack. B ETZ Es ist halt alles relativ. (Pause) S TADTRAT Du, Betz. Ich hab mir ein Grundstück gekauft. B ETZ Wo denn? S TADTRAT Fast ein Tagwerk. Mit einer Lichtung -- Schau, lieber, guter Freund, die Welt hat Platz für anderthalb Milliarden Menschen, warum soll mir da nicht von dieser großen Welt so ein kleines Platzerl gehören -E RSTER G ENOSSE (hat unfreiwillig gelauscht) Ein feiner Marxist! S TADTRAT Was hat der gesagt? B ETZ So laß ihn doch! A DELE Er hat gesagt: ein feiner Marxist. 얍 (Pause) S TADTRAT Wie Du das einem so einfach ins Gesicht sagst. -- Toll! A DELE Ich hab ja nur gesagt, was er gesagt hat. S TADTRAT Wer? Was sich da diese unreifen Spritzer herausnehmen! Ueberhaupt! (er deutet auf Martin und seine Genossen) Dort hat noch keiner getanzt -- saubere Jugend! Opposition und Opposition. Revolte oder dergleichen. Spaltungserscheinungen. Nötige Autorität. Man muß -- (er will an seinen Biertisch, stockt jedoch, da er sieht, daß Martin und seine Genossen eine leise debattierende Gruppe bilden; er versucht zu horchen -- plötzlich geht er rasch auf Martin zu) Martin. Was hast Du da gesagt? Feiner Marxist, hast Du gesagt? M ARTIN Ich habs zwar nicht gesagt, aber ich könnts gesagt haben. S TADTRAT Und wie hättest Du das gemeint, wenn Du es gesagt hättest? M ARTIN Wir sprechen uns noch. (er läßt ihn stehen) 얍 (Akkord und Gong) E NGELBERT (auf dem Podium) Meine Damen und Herren! Kameraden! Eine große erfreuliche Ueberraschung hab ich Euch mitzuteilen! Es steht Euch ein seltener Kunstgenuß bevor! Frau Hinterberger, die Gattin unseres verehrten lieben Kassierers hat sich liebenswürdigerweise bereit erklärt, uns mit ihrer Altstimme zu entzücken! (Bravorufe und Applaus) E NGELBERT Ich bitte um Ruhe für Frau Hinterberger! B

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GattinN ] E NGELBERT N ]

korrigiert aus: Gättin eingefügt

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Endfassung Italienische Nacht (Arcadia-Fassung)

K4/TS2 (Grundschicht)

F RAU H INTERBERGER (betritt das Podium, mit Applaus begrüßt) Ich singe Ihnen eine Ballade von Löwe. Heinrich der Vogler. (sie singt die Ballade; großer Beifall, nur Martin und seine Genossen beteiligen sich nach wie vor an keiner Ovation; nun wird wieder weitergetanzt) L ENI (zu Karl) Das war aber schön. Ich bin nämlich sehr musikalisch. K ARL Das hab ich schon bemerkt. L ENI An was denn? 얍 K ARL An Deinem Tanzen. Du hast ein direkt exorbitantes rhythmisches Feingefühl -L ENI Das hängt aber nicht nur von mir ab. Das hängt auch vom Herrn ab. K ARL Hast es also nicht bereut? L ENI (lächelt) Werd mir nur nicht wieder politisch -- Versprichs mir, daß Du es nimmer werden wirst, auf Ehrenwort. K ARL Auf Ehrenwort -L ENI Komm! K ARL Schon wieder? L ENI Heut könnt ich mal wieder ewig tanzen! Bis an das Ende der Welt! K ARL Respekt! M ARTIN (zu Karl) Karl, darf ich Dich einen Augenblick -K ARL Bitte. (zu Leni) Pardon! ( zu Martin ) Nun? M ARTIN (nach kleiner Pause) Du hast mir doch versprochen, nicht zu tanzen -얍 K ARL (wird nervös) Hab ich das? M ARTIN Ja. Du hast mir sogar versprochen, daß wenn es jetzt hier zu der bevorstehenden weltanschaulichen Auseinandersetzung -K ARL (unterbricht ihn) Also bitte werd nur nicht wieder moralisch! M ARTIN Du hast halt wieder mal Dein Ehrenwort gebrochen. K ARL Ist das Dein Ernst? M ARTIN Ja. (Pause) K ARL (lächelt bös) Wo steckt denn Deine Anna? M ARTIN Was soll das? K ARL Die wird wohl bald erscheinen? M ARTIN Hast Du sie gesehen? K ARL Ja. M ARTIN Allein oder mit? K ARL Mit. M ARTIN (lächelt) Dann ists ja gut. 얍 K ARL Meinst Du? M ARTIN Ja. (Pause) K ARL (grinst) Honni soit, qui mal y pense! M ARTIN Was heißt das? K ARL Das heißt allerhand. M ARTIN Ich bin Dir nicht bös, Du tust mir leid. Es ist nämlich schad um Dich mit Deinen Fähigkeiten. Aber Du hast immer nur Ausreden. Ein halber Mensch -- (er läßt ihn stehen) B

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Podium,N] zu MartinN ] BHonniN ] B B

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korrigiert aus: Podium korrigiert aus: zuMartin korrigiert aus: Honny

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Endfassung Italienische Nacht (Arcadia-Fassung)

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K4/TS2 (Grundschicht)

(Akkord und Gong) E NGELBERT (auf dem Podium) Meine Sehrverehrten! Kameraden! Und abermals gibts eine große erfreuliche Ueberraschung im Programm! In dem Reigen unserer künstlerischen Darbietungen folgt nun ein auserlesenes Ballett, und zwar getanzt von den beiden herzigen Zwillingstöchterchen unseres Kameraden Leimsieder, betitelt „Blume und Schmetterling“! 얍 D IE HERZIGEN Z WILLINGSTÖCHTERCHEN (dreizehnjährig, betreten das Podium, mit mächtigem Applaus begrüßt; sie tanzen einen affektierten Kitsch -- plötzlich ertönt aus Martins Gegend ein schriller Pfiff; die herzigen Zwillingstöchterchen zucken zusammen, tanzen aber noch weiter, jedoch etwas unsicher geworden; die, denen es gefällt, sehen entrüstet auf Martin -- da ertönt abermals ein Pfiff, und zwar noch ein schrillerer) K RANZ (brüllt) Ruhe Herrgottsakrament! Wer pfeift denn da, Ihr Rotzlöffel?! Lümmel dreckige windige! E NGELBERT Wems nicht paßt, der soll raus! R UFE Raus! Raus! (Tumult) D IE HERZIGEN Z WILLINGSTÖCHTERCHEN (weinen laut) E RSTER G ENOSSE (schlägt mit der Faust auf den Tisch) Wir wollen hier kein Säuglingsballett! K RANZ Halts Maul, sag ich! Z WEITER Halts Du! 얍 E INE T ANTE Seht wie die Kindlein weinen, Ihr Rohlinge! D RITTER Hoftheater! S ECHSTER Hofoper! Oper! S TADTRAT Jetzt wirds mir zu dumm! E INIGE G ENOSSEN Huuu! S TADTRAT Oh ich bin energisch! D IE G ENOSSEN Huuu! S TADTRAT Jetzt kommt die Abrechnung! S IEBENTER Tatü tata! D IE T ANTE Oh, diese Jugend! V IERTER Feiner Marxist! D IE G ENOSSEN Feiner Marxist! Feiner Marxist! S TADTRAT Ich? Ich hab das kommunistische Manifest bereits auswendig hersagen können, als Ihr noch nicht geboren wart, Ihr Flegel! (Pfiff) 얍 D IE T ANTE Diese Barbaren stören ja nur den Kunstgenuß! S ECHSTER Du mit Deinem Kunstgenuß! D RITTER Blume und Schmetterling! E RSTER Mist! Mist! Mist! K RANZ Oh, Ihr Kunstbarbaren! (er fällt fast um vor lauter Rausch) B

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Podium,N ] die,N ] BFaustN ] BTatüN ] BManifestN ] B B

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korrigiert aus: Podium korrigiert aus: die

[G]|F|aust [R]|T|atü korrigiert aus: Mannifest

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Endfassung Italienische Nacht (Arcadia-Fassung)

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korrigiert aus: ehr nwerten

wasN ] ehrenwertenN ] Bwir hierN ] BNachtübungenN ] BundurchführbarN ] BFußstapfenN ] Bzurückgeschlagen!N ] BReaktionN ] Bdasselbe, immerN ]

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E NGELBERT Seht, was Ihr angerichtet habt! Kindertränen! Schämt Ihr Euch denn gar nicht?! Oder habt Ihr denn keine Ahnung, mit welcher Liebe das hier einstudiert worden ist -- Wochenlang haben der Kamerad Leimsieder und seine Frau jede freie Minute geopfert, um uns hier beglücken zu können! M ARTIN Hätt er doch lieber seine freien Minuten geopfert, um die Schlagstärke unserer Organisation auszubauen! Kameraden! Ich weiß, daß ich als Redner manchen meiner ehrenwerten Kameraden nicht gerade sympathisch bin -D IE T ANTE Stören Sie unsere Nacht nicht! M ARTIN Solche Nächte gehören gestört! 얍 Und gesprengt! Genossinnen und Genossen! Während wir hier Familienfeste mit republikanischem Kinderballett arrangieren, arrangiert die Reaktion militärische Nachtübungen mit Maschinengewehren! Oder wollt Ihr es nicht sehen, wie sie das Proletariat verleumden, verhöhnen, korrumpieren und ausbeuten, schlimmer als je zuvor! Drum Schluß mit dieser Spießerei! Oder habt Ihr denn schon den Satz vergessen: oh wenn doch nur jeder Prolet sein Vergnügen in der revolutionären Tätigkeit fände! Es bleibt zu fordern: sofortige Einberufung des Vorstandes und Beschlußfassung über den Vorschlag: Bewaffnung mit Kleinkalibern! S TADTRAT Kameraden! Ein Frevler wagt hier unser Fest zu stören, bringt kleine Kinderchen zum Weinen -- Kameraden! Was Martin verlangt, ist undurchführbar ! Wir wollen nicht in die Fußstapfen der Reaktion treten. Wir nehmen keine Kanonen in die Hand, aber wer die demokratische Republik ernstlich zu bedrohen wagt, der wird zurückgeschlagen! M ARTIN Mit was denn? 얍 S TADTRAT An unserem unerschütterlichen Friedenswillen werden alle Bajonette der internationalen Reaktion zerschellen! S IEBENTER G ENOSSE (lacht ihn aus) S TADTRAT So sehen die Leute aus, die die Macht der sittlichen Idee leugnen! E RSTER G ENOSSE Sprüch, Du Humanitätsapostel! S TADTRAT Das sind keine Sprüch! Wir wollen keine Waffen mehr sehen, ich selbst hab zwei Söhne im Krieg verloren! V IERTER G ENOSSE Im nächsten Krieg sind wirs, ich und der Stiegler und der da und der da! K RANZ (ahmt ihn nach) Und ich da und ich da und ich da! S TADTRAT Es hat eben keinen Krieg mehr zu geben! Dieses Verbrechen werden wir zu vereiteln wissen! M ARTIN Genau wie 1914! S TADTRAT Das waren ganz andere Verhältnisse! 얍 M ARTIN Immer dasselbe, immer dasselbe! S TADTRAT Wo warst denn Du 1914!? Im Kindergarten! B

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K4/TS2 (Grundschicht)

w\i/r [r]|h|\i/er Nacht[ä]|ü|bungen korrigiert aus: undruchführbar Fuß\s/tapfen zurückgeschlagen[.]|!| Rea[l]|k|tion dasselbe[.]|,| [I]|i|mmer

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Endfassung Italienische Nacht (Arcadia-Fassung)

K4/TS2 (Grundschicht)

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M ARTIN Und Du? Du hast auch schon 1914 mit den Taten Deiner Vorfahren geprotzt, das können wir Jungen ja allerdings nicht! Genossen! Wenn das so weitergeht, erwachen wir morgen im heiligen römisch-mussolinischen Reich deutscher Nation! E NGELBERT Zur Geschäftsordnung! Ich fordere kraft unserer Statuten den sofortigen Ausschluß des Kameraden Martin! S TADTRAT Bravo! E NGELBERT Und zwar wegen unkameradschaftlichen Verhaltens! M ARTIN Bravo! Kommt! (ab mit seinen Genossen)

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Sechstes Bild.

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Vor dem Wirtshaus des Josef Lehninger. Martin und seine Genossen verlassen die italienische Nacht.

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M ARTIN Also Ausschluß. Wegen unkameradschaftlichen Verhaltens. Wer lacht da nicht? (Stille) Z WEITER K AMERAD Wohin? M ARTIN Zu mir. Wir müssen sofort an die Arbeit! Bald zieht sich die Bourgeoisie in den Turm der Diktatur zurück. Wir sind bereit. (zum Ersten) Was hast Du jetzt gesagt? E RSTER ( schweigt ) M ARTIN Du hast doch jetzt was gesagt? E RSTER Ich hab nur was gemurmelt. M ARTIN Immer nur denken, n u r denken, bitte! (Stille) M ARTIN Uebrigens: ist das wahr, daß Du Majestät verdreckt hast? 얍 S IEBENTER (gewollt hochdeutsch) Wir haben uns erlaubt, das Denkmal Seiner Majestät mit etwas roter Farbe zu verunzieren. M ARTIN Wer wir? S IEBENTER Ich. V IERTER Und ich. M ARTIN So. Das hat natürlich keinen Sinn, oder? (Stille) M ARTIN Seine Majestät sind ja bereits verwest, sorgt lieber dafür, daß man den Herren Kapitalisten dereinst keine Denkmäler errichtet. K ARL (kommt mit Leni aus dem Wirtshaus) Drinnen geht alles drunter und drüber. B

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Absatz eingefügt Absatz eingefügt eingefügt Absatz eingefügt Absatz eingefügt eingefügt

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Endfassung Italienische Nacht (Arcadia-Fassung)

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D RITTER Sehr erfreut! K ARL Die ganze Stimmung ist beim Teufel! S ECHSTER Dann ist sie dort, wo sie hingehört! K ARL Martin. Ich bitte Dich um Verzeihung. M ARTIN Wegen was? 얍 K ARL Daß ich mein Ehrenwort gebrochen hab. Das war natürlich eine Gaunerei, ich hab mir das genau überlegt, aber es war halt nur scheinbar eine Gaunerei. Ich habs ja nur scheinbar gebrochen. M ARTIN Wie willst Du das verstanden haben? K ARL Schau, ich mußte doch tanzen! Ich hab es nämlich Deiner Anna versprochen, daß ich das Fräulein da hinter mir zu unseren Idealen bekehren werd, und da muß man doch so einem Fräulein entgegenkommen, sowas geht doch nur nach und nach -M ARTIN Daß Du immer nur Fräulein bekehrst -K ARL Jeder an seinem Platz. Ich gehör halt zu einer älteren Generation, als wie Du, das macht schon was aus, obwohl zwischen uns ja nur fünf Jahre Unterschied sind, aber fünf Kriegsjahr -- ich war doch bis 1920 gefangen. M ARTIN Die historischen Gesetze kümmern sich einen Dreck um Privatschicksale, sie schreiten unerbittlich über den Einzelnen hinweg, und zwar vorwärts. 얍 K ARL Da geb ich Dir vollständig recht. M ARTIN Du wärst ja brauchbar, wenn man Dir glauben könnt. Aber das kann man eben nicht, weil Du ein halber Mensch bist. K ARL Du hast halt keine Konflikte mit Deiner Erotik. Meiner Seel, manchmal beneid ich Dich! M ARTIN Und Du tust mir leid. Ich habs immer wieder versucht mit Dir. Jetzt ists aus. Ich leg keinen Wert mehr auf Deine Mitarbeit. K ARL (verbeugt sich leicht) Bitte! Pardon! D IE G ENOSSEN (sind während dieser Scene verschwunden) A NNA (kommt) M ARTIN Anna! A NNA Jetzt bin ich aber erschrocken! M ARTIN Du? A NNA Ich dacht, Du wärst wer anders -M ARTIN So. 얍 A NNA Du warst mir jetzt so fremd. M ARTIN (fast spöttisch) War ich das? -- Hast was erreicht? A NNA Verschiedenes. M ARTIN Erstens? A NNA Erstens hab ich erfahren, daß diese Faschisten unsere italienische Nacht sprengen wollen -M ARTIN (unterbricht sie) Erstens ist das nicht unsere italienische Nacht! Und zweitens ist denen ihre italienische Nacht bereits gesprengt. Ich habe sie gesprengt. A NNA Schon? M ARTIN Später! Und? A NNA Die Faschisten wollen hier alles verprügeln. B

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K4/TS2 (Grundschicht)

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mußN ] FaschistenN ]

mu[.]|ß| Fa[w]|s|chisten

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Endfassung Italienische Nacht (Arcadia-Fassung)

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M ARTIN So ists recht! Das vergönn ich diesem Vorstand! Diese Spießer sollen jetzt nur mal am eigenen Leibe die Früchte ihrer verräterischen Taktik verspüren! Wir Jungen überlassen sie ihrem Schicksal und bestimmen unser Schicksal selbst! 얍 A NNA Das würd ich aber nicht tun. M ARTIN Was heißt denn das? A NNA Ich würds nicht tun. Ich würd ihnen schon helfen, sie stehen uns doch immer noch näher, als die anderen. M ARTIN Was Du da nicht sagst! A NNA Wenn ichs dem Stadtrat auch vergönn, daß er verprügelt wird, aber es sind doch auch noch andere dabei, dies vielleicht ehrlich meinen -M ARTIN (spöttisch) Meinst Du? A NNA Und zuguterletzt geht das doch keinen Dritten was an, was wir unter uns für Konflikte haben! Das sind doch unsere Konflikte! M ARTIN (gehässig) Ich glaub, daß das Deine Privatansicht ist. A NNA Red nicht so hochdeutsch, bitte. (Stille) M ARTIN Und? A NNA Sonst nichts. Die Faschisten sind 얍 halt ganz fürchterlich wütend -- Es soll heut Abend irgend ein Denkmal verunreinigt worden sein. M ARTIN Ja, das war der Stiegler, der Idiot -A NNA Martin! M ARTIN (überrascht) Ha? A NNA Martin, weil einer von uns das Denkmal verdreckt hat, sollen jetzt die Anderen da drinnen verprügelt werden?! Das find ich aber feig! Das ist unser nicht würdig! Das ist ungerecht -- (sie stockt, da Martin plötzlich fasciniert auf ihren Hals starrt) (Stille) M ARTIN (leise) Was ist denn das dort für ein Fleck? A NNA Wo? M ARTIN Da. A NNA Da? Das ist ein Fleck -(Stille) A NNA Morgen wird er blau. 얍 M ARTIN So. A NNA Er war halt so grob. M ARTIN (etwas unsicher) So, war er das -A NNA So sind sie alle, die Herren Männer. (Stille) M ARTIN Schau mich an. A NNA (schaut ihn nicht an) M ARTIN Warum schaust mich denn nicht an? A NNA Weil ich Dich nicht anschaun kann. M ARTIN Und warum kannst Du mich jetzt nicht anschaun? Schau mich doch nicht so dumm an, Herrgottsakrament! (Stille) B

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Endfassung Italienische Nacht (Arcadia-Fassung)

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A NNA Mir war jetzt nur plötzlich so eigenartig -M ARTIN Wieso? 얍 A NNA Was Du da nämlich von mir verlangst, daß ich mich nämlich mit irgendeinem Faschisten einlaß -- und daß gerade Du das verlangst -M ARTIN Was sind denn das für neue Gefühle? A NNA Nein, das waren alte -M ARTIN Du weißt, daß ich diese primitiven Sentimentalitäten nicht mag. Was sollen denn diese überwundenen Probleme? Nur keine Illusionen, bitte! A NNA Jetzt redst Du wieder so hochdeutsch. (Stille) M ARTIN Anna. Also grob war er zu Dir, der Herr Faschist -- es ist vielleicht wirklich unter unserer Würde. A NNA Was? M ARTIN Daß wir nun diese Spießer da drinnen für unsere verdreckte Majestät büßen lassen -- Nein! Diesen Triumph wollen wir den Herren Faschisten nicht gönnen! Komm! (ab mit Anna) 얍 K ARL (hat sich während dieser Scene mit Leni auf eine Bank gesetzt) L ENI Warum schweigst Du schon so lang? K ARL Weil es mir weh um das Herz herum ist. L ENI Aber Du kannst doch nichts dafür, daß diese italienische Nacht mit einem Mißton geendet hat! K ARL Ich danke Dir. (er drückt ihr die Hand und vergräbt dann den Kopf in seinen Händen; Stille) L ENI Dein Kamerad Martin erinnert mich an einen Bekannten. Mit dem war auch nicht zu reden, weil er nichts anderes gekannt hat, wie sein Motorrad. Er hat zahlreiche Rennen gewonnen, und ich hab ihn halt in seinem Training gestört. Sei doch nicht so traurig -K ARL Jetzt möcht ich am liebsten nicht mehr leben. L ENI Warum denn? K ARL Ich hab halt ein zu scharfes Auge. Ich seh, wie sich die Welt entwickelt, und dann denk ich mir, wenn ich nur a paar Jahr jünger wär, dann könnt ich noch aktiv mittun 얍 an ihrer Verbesserung -- aber ich bin halt verdorben. Und müd. L ENI Das redst Du Dir nur ein. K ARL Ein halber Mensch! Nur die eine Hälfte hat Sinn für das Gute, die andere Hälfte ist reaktionär. L ENI Nicht deprimiert sein -K ARL Ich glaub, ich bin verflucht. L ENI Nein, nicht! K ARL (erhebt sich) Doch! (Stille) L ENI Glaubst Du an Gott? K ARL Ich fang allmählich an -L ENI Es gibt einen Gott, und es gibt auch eine Erlösung. K ARL Wenn ich nur wüßt, wer mich verflucht hat. L ENI Laß mich Dich erlösen.

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K ARL N ] deprimiertN ]

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korrigiert aus: K ARLL korrigiert aus: depremiert

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Endfassung Italienische Nacht (Arcadia-Fassung)

K4/TS2 (Grundschicht)

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K ARL Du? Mich? L ENI Ich hab viertausend Mark, und 얍 wir gründen eine Kolonialwarenhandlung -K ARL Wir? L ENI Draußen bei meinem Onkel -K ARL Wir? L ENI Ich und Du. (Stille) K ARL Was denkst Du jetzt? Denkst Du jetzt an eine Ehegemeinschaft? Nein, dazu bist Du mir zu schad! L ENI Oh, Mann, sprich doch nicht so hartherzig! Ich kenn Dich ja schon durch und durch, wenn ich Dich auch erst kurz kenn! (sie wirft sich ihm an den Hals; große Kußscene ) K ARL Ich hab ja schon immer von der Erlösung durch das Weib geträumt, aber ich habs halt nicht glauben können -- ich bin nämlich sehr verbittert, weißt Du! L ENI (gibt ihm einen Kuß auf die Stirne) Ja, die Welt ist voll Neid.

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Siebentes Bild. Im Gartenlokal des Josef Lehninger. Die italienische Nacht der Ortsgruppe Kaltenbrunn des Republikanischen Schutzbundes ist nun korrekt gesprengt -- nur der Vorstand sitzt noch unter den Lampions, und zwar: der Stadtrat Ammetsberger mit Adele, Betz, Engelbert und Kranz. Letzterer schnarcht über einen Tisch gebeugt. Es geht bereits gegen Mitternacht, und Adele fröstelt, denn es weht ein kaltes Windchen. B

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B ETZ Was tun, spricht Zeus. E NGELBERT Heimwärts? S TADTRAT (schnellt empor) Und wenn die Welt voll Teufel wär, niemals! Wir lassen uns unsere italienische Nacht nicht sprengen! Kameraden, wir bleiben und weichen nicht -- bis zur Polizeistund. (er setzt sich wieder) E NGELBERT Hört, hört! 얍 S TADTRAT (steckt sich nervös eine Zigarre an) K RANZ (erwacht und gähnt unartikuliert; zu Betz) Du, ich hab jetzt grad was Fesches geträumt. B ETZ Wars angenehm? K RANZ Sehr. Ich hab nämlich grad was von einer Republik geträumt, und das war eine komplette Republik, sogar die Monarchisten waren verkappte Republikaner -B ETZ Also das dürft ein sogenannter Wunschtraum gewesen sein. B

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KußsceneN ] gehtN ] Bniemals!N ] BPolizeistund.N ] BSehr.N ] BMonarchistenN ]

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korrigiert aus: Kusscene

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ge[z]|h|t niemals[,]|!| korrigiert aus: Polizeistund \Sehr./ Monar[h]|c|histen

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K4/TS2 (Grundschicht)

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K RANZ Ha? E NGELBERT Wie wärs denn mit einem kleinen Tarock? S TADTRAT Tarock? E NGELBERT Einen Haferltarock -K RANZ Haferltarock! S TADTRAT Das wär ja allerdings noch das Vernünftigste -E NGELBERT Karten hab ich -- (er setzt sich mit dem Stadtrat und Kranz 얍 unter den hellsten Lampion, mischt und teilt) Eine Idee! B ETZ (kiebitzt) S TADTRAT Erster! E NGELBERT Zweiter! K RANZ Letzter! S TADTRAT Solo! K RANZ Und das Licht leuchtet in der Finsternis -- (er spielt aus) (Jetzt weht der Wind stärker) A DELE (erhebt sich und fröstelt) Alfons! S TADTRAT (läßt sich nicht stören) Bitte? A DELE Wann gehen wir denn endlich? S TADTRAT Zweimal sag ichs nicht! Eichel! A DELE Ich erkält mich noch -S TADTRAT Das tät mir aber leid, Herz! K RANZ Und Herz! 얍 E NGELBERT Und Herz! B ETZ (nähert sich Adele) Wir bleiben bis zur Polizeistund, Frau Stadtrat. A DELE Wann ist denn Polizeistund ? B ETZ Um zwei. A DELE Und jetzt? B ETZ Jetzt gehts gegen zwölf. A DELE Oh Gott. S TADTRAT (zu Betz) So laß sie doch bitte! (Pause) A DELE Hier hol ich mir noch den Tod. B ETZ Oder eine Lungenentzündung. (Pause) B ETZ Der schönste Tod ist ja allerdings der Tod für ein Ideal. A DELE Ich kenn kein Ideal, für das ich sterben möcht. B ETZ (lächelt leise) Auch nicht für die Ideale, für die sich Ihr Herr 얍 Gemahl aufopfert? A DELE Opfert er sich denn auf? B ETZ Tag und Nacht. A DELE Sie müssens ja wissen. B ETZ Es ist natürlich alles relativ. (Pause) A DELE Glaubens mir, daß ein Mann, der wo keine solchen öffentlichen Ideale hat, viel netter zu seiner Familie ist. Ich mein das jetzt menschlich. Sie sind ein intelligenter Mann, Herr Betz, das hab ich schon bemerkt. B

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PolizeistundN ]

SB Arcadia 1930, S. 78

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korrigiert aus: Pilizeistund

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S TADTRAT Ueber was unterhaltet Ihr Euch denn dort so intensiv? B ETZ Ueber Dich. S TADTRAT Tatsächlich? Habt Ihr denn kein dankbareres Thema? A DELE (boshaft) Alfons! S TADTRAT Na was denn schon wieder? 얍 A DELE Ich möcht jetzt gern noch ein Schinkenbrot. S TADTRAT Aber Du hast doch bereits zwei Schinkenbrote verzehrt! Ich meine, das dürfte genügen! (er zündet sich eine neue Zigarre an) A DELE Wenn Du Deine Zigarren -S TADTRAT (unterbricht sie) Oh Du unmögliche Person! Pfui! -- Und ziehen tut sie auch nicht, weil Du mir nichts vergönnst! (er wirft wütend seine Zigarre fort) Eine unmögliche Zigarre! A DELE (erhebt sich) Ich möchte jetzt nach Haus. S TADTRAT Also werd nur nicht boshaft, bitte! A DELE Ich geh -S TADTRAT Ich bleib. A DELE So komm doch! S TADTRAT Nein! Bleib, sag ich! A DELE Nein, ich muß doch schon wieder um sechse raus, Deine Hemden waschen und -S TADTRAT Du bleibst, sag ich! 얍 A DELE Hier hol ich mir noch den Tod -S TADTRAT Du bleibst und basta! Verstanden?! A DELE (setzt sich wieder und lächelt geschmerzt) S TADTRAT Spiele! E NGELBERT Weiter! K RANZ Spiele auch! E NGELBERT Und zwar? K RANZ Gras! S TADTRAT Schnecken! Bettel! Jawohl, Bettel! Und herauskommen tu ich selber -(er gewinnt rasch und lacht schallend) (Stille) B ETZ Warum gehen Sie eigentlich nicht allein nach Hause? A DELE Weil er mich allein nicht läßt. B ETZ Nicht läßt? Auch allein nicht läßt? Er hat doch kein Recht 얍 über Ihre Person -Meiner Seel, da erscheint er mir nun plötzlich in einem ganz anderen Licht, obwohl ich darauf gewartet hab -- Alfons Ammetsberger, mein alter Kampfgenosse -- fünfunddreißig Jahr -- Jaja, das wird wohl das Alter sein. Ob ich mich auch so verändert hab? S TADTRAT (zu Betz) Ich bitt Dich, Betz, so laß sie doch in Ruh! W IRT (erscheint; er ist schwer besoffen und grüßt torkelnd, doch keiner beachtet ihn; er grinst) Boykottiert mich nur, boykottiert mich nur! Mir ist schon alles wurscht, ich wein Euch keine Träne nach! Ueberhaupt sind die Reaktionären viel kulantere Gäst -- Eure jungen Leut saufen ja so bloß a Limonad! Feine Republikaner! Limonad, Limonad! K RANZ Halts Maul! B N

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K4/TS2 (Grundschicht)

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Absatz getilgt

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Endfassung Italienische Nacht (Arcadia-Fassung)

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K4/TS2 (Grundschicht)

W IRT (plötzlich verträumt) Ich denk jetzt an meinen Abort. Siehst, früher da waren nur so erotische Sprüch an der Wand dringstanden, hernach im Krieg lauter patriotische und jetzt lauter politi-얍sche -- glaubs mir: solangs nicht wieder erotisch werden, solang wird das deutsche Volk nicht wieder gesunden -K RANZ Halts Maul, Wildsau dreckige! W IRT Wie bitte? -- Heinrich, Du bist hier noch der einzig vernünftige Charakter, was hat jener Herr dort gesagt? B ETZ Er hat gesagt, daß Du Dein Maul halten sollst. W IRT Hat er? Dieser schlimme Patron -- Apropos: ich hab eine reizende Neuigkeit für Euch, liebe Leutl! K RANZ Wir sind nicht Deine lieben Leutl! W IRT Was hat er gesagt? B ETZ Daß wir nicht Deine lieben Leutl sind, hat er gesagt. W IRT Hat er das gesagt? -- Alsdann: meine Herren! Ich beehre mich, Ihnen eine hocherfreuliche Mitteilung zu machen: Sie sind nämlich umzingelt, meine Herren, radikal 얍 umzingelt! S TADTRAT (horcht auf) B ETZ Wer ist umzingelt? W IRT Ihr, meine Herren! E NGELBERT Wieso? W IRT Meine Herren! Ich habs nämlich grad erfahren, daß Euch die Herren Faschisten verprügeln wollen -S TADTRAT (erhebt sich) W IRT Die Herren Faschisten behaupten nämlich, daß Ihr, meine Herren, das Denkmal verdreckt habt -S TADTRAT Was für Denkmal? W IRT Das Denkmal Seiner Majestät. E NGELBERT Versteh kein Wort! W IRT Die Herren Faschisten haben nämlich eine pfundige Wut im Bauch und wollen die Ehre Seiner Majestät wiederherstellen! Durch Blut! Hurrah! 얍 K RANZ Oh Du dreiunddreißigjähriger angnagelter Himmiherrgott! W IRT Leugnen hat doch gar keinen Sinn, meine Herren! Ihr seid überführt. Alle Indizien sprechen gegen Euch. Kreuzverhör und so. S TADTRAT Lüge! Infame Lüge! Hier hat niemand eine Majestät verdreckt, merk Dir das! W IRT (erhebt sein Glas) Sehr zum Wohle! (er leert es) (Stille) B ETZ Josef. Wer hat Dir denn das gesagt, daß wir jetzt hier verprügelt werden sollen? W IRT Dem Martin seine Anna. S TADTRAT (scharf) Martin? Interessant! W IRT Diskretion Ehrensache! K RANZ Also jetzt bin ich schon ganz durcheinander! E NGELBERT Das kann doch nur ein Irrtum sein, nach den Gesetzen der Logik -얍 S TADTRAT (scharf) Oder Verrat! Unsere Weste ist weiß. W IRT Weiß oder nicht weiß -- jetzt gibts Watschen, meine Herren! B

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korrigiert aus: bèehre korrigiert aus: Ihr

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K4/TS2 (Grundschicht)

K RANZ Du Judas! W IRT (weinerlich) Aber ich bin doch kein Judas, meine Herren! Ich bin Euch doch innerlich immer treu geblieben, sogar noch nach der Revolution! Aber was ist denn das jetzt auch für eine verkehrte Welt! Früher, da war so ein Sonntag das pure Vergnügen, und wenn mal in Gottes Namen gerauft worden ist, dann wegen irgend einem Trumm Weib, aber doch schon gar niemals wegen dieser Scheißpolitik! Das sind doch ganz ungesunde Symptome, meine Herren! K RANZ Ich möchte das Wort ergreifen! Ich möchte jetzt etwas vorschlagen! Ich möchte jetzt dafür plädieren, daß wir hier den weiteren Gang der Ereignisse seelenruhig abwarten, denn wir werden uns glänzend rechtfertigen, weil wir doch radikal unschuldig sind! E NGELBERT Hört, hört! 얍 S TADTRAT Lächerlich! B ETZ (zu Kranz) Du vergißt wieder mal unsere Aggressionstriebe -K RANZ Ha? W IRT Jetzt gibts Watschen -B ETZ Ich spreche jetzt von einem höheren Standpunkte aus. Der Mensch hat doch eine grausame Natur von Natur aus -- man muß die Wahrheit vertragen können, lieber Freund! W IRT Oh wie wahr! S TADTRAT Kameraden! Der Mensch ist ein schwaches Rohr im Winde, in Bezug auf das Schicksal, ob er nun Monarchist oder Republikaner. Es gibt nun mal Augenblicke im Leben, wo sich auch der Kühnste der Stimme der Vernunft beugen muß, und zwar gegen sein Gefühl! Kameraden! Das wäre doch ein miserabler Feldherr, der seine Brigaden in eine unvermeidliche Niederlage hineinkommandieren tät! In diesem Sinne 얍 schließe ich nun hiemit unsere italienische Nacht! Vis major, höhere Gewalt! Wo ist mein Hut? B ETZ Ich bleib. S TADTRAT Wieso? B ETZ Ich bin da nämlich etwas anderer Meinung -S TADTRAT Da dürft es doch wohl keine andere Meinung geben! B ETZ Findst Du? Wir haben doch in Bezug auf das verdreckte Denkmal ein absolut reines Gewissen. E NGELBERT Sehr richtig! B ETZ Und infolgedessen find ich es nicht richtig, so davonzulaufen. S TADTRAT Nicht nicht richtig, klug! Diese Faschisten sind doch bekanntlich in der Ueberzahl und infolgedessen bekanntlich zu jeder Schandtat jederzeit bereit! Wo ist mein Hut? B ETZ Ich bleib. Und wenn sie mich verhaun! (Stille) 얍 S TADTRAT (fixiert ihn höhnisch) Ach, der Herr sind Katastrophenpolitiker? Na viel Vergnügen! B ETZ Danke. S TADTRAT (grinst) Gott, wie heroisch! B ETZ Lieber Prügel als feig. (Stille) B

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[gar]|sch|on

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K4/TS2 (Grundschicht)

S TADTRAT Findst Du? A DELE Ich finds auch. S TADTRAT Du hast hier überhaupt nichts zu finden! A DELE Ich finds aber! S TADTRAT (nähert sich ihr langsam; unterdrückt) Du hast hier nichts zu finden, verstanden?! A DELE Ich sag ja nur, was ich mir denk. S TADTRAT Du hast hier nichts zu denken. A DELE (boshaft) Findst Du? S TADTRAT Blamier mich nicht, ja! A DELE Nein. 얍 S TADTRAT (kneift sie) A DELE Au! Au -S TADTRAT Wirst Du Dich beherrschen?! A DELE Au, Alfons! Au -S TADTRAT Daß Du Dich beherrschst! Daß Du Dich -A DELE (reißt sich kreischend los) Au -- Du mit Deinem Idealismus! S TADTRAT Oh Du unmögliche Person! A DELE Oh Du unmöglicher Mann! Draußen Prolet, drinnen Kapitalist! Die Herren hier sollen Dich nur mal genau kennen lernen! Mich beutet er aus, mich! Dreißig Jahr, dreißig Jahr! (sie weint) S TADTRAT (mit der Hand vor den Augen) Adele! Adele -(Stille) S TADTRAT (nimmt langsam die Hand von den Augen) Wo ist mein Hut? W IRT (erhebt sich schwerfällig) Mit oder ohne Hut -- Du bist und bleibst umzingelt -(er rülpst und 얍 torkelt ab) A DELE (grinst plötzlich) S TADTRAT Lach nicht! A DELE Wenn ich Dich so seh, find ich das direkt komisch, wie Du da den jungen Menschen im Weg herumstehst -- (sie schluchzt wieder) S TADTRAT Heul nicht! A DELE Das sind die Nerven -K RANZ Die typische Weiberlogik. A DELE (weinend) Hättest Du zuvor die jungen Leut nicht nauswerfen lassen, würd sich jetzt niemand hertraun -- jetzt sind wir doch lauter alte Krüppel -E NGELBERT Oho! S TADTRAT Herr im Himmel! A DELE Laß unseren Herrgott aus dem Spiel! K RANZ Es gibt keinen Gott. (Stille) 얍 K RANZ Ich möchte das Wort ergreifen! Ich möchte jetzt etwas vorschlagen ! Ich möchte jetzt dafür plädieren, daß es sozusagen etwas überstürzt war, den Martin so mirnix-dirnix auszuschließen, samt seinem Anhang -- er hat doch einen ziemlichen Anhang, einen starken Anhang, und nicht den schlechtesten Anhang -- und er hat doch sozusagen gar nicht so unrecht gehabt -S TADTRAT Findst Du? B

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vorschlagenN ]

vor[a]|s|chlagen

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K RANZ Wenn wir jetzt auch solche Kleinkaliber hätten, als wie diese Faschisten, dann müßten wir uns jetzt nicht unschuldig herhaun lassen, sondern könnten uns wehren -- w e h r e n -- das ist doch logisch, ha? E NGELBERT Logisch oder nicht logisch! Nach den Statuten mußten wir Martin ausschließen! K RANZ Logisch oder nicht logisch! Ich scheiß Dir was auf solche Statuten! E NGELBERT Hört, hört! K RANZ Das sind doch ganz veraltete Statuten. 얍 S TADTRAT Plötzlich? E NGELBERT Natürlich gehören auch Statuten ab und zu geändert, die Welt ist doch in lebendigem Fluß -S TADTRAT (unterbricht ihn) Findst Du? B ETZ Ja. (nähert sich ihm) Alfons. Nicht nur Menschen, auch Statuten altern -- und alte Statuten erreichen oft das Gegenteil von dem, was sie bezwecken wollen, und werden unbrauchbar und lächerlich -S TADTRAT Findst Du? K RANZ Ich möchte das Wort ergreifen! Ich möchte jetzt etwas vorschlagen! Ich möchte jetzt offiziell dafür plädieren, daß unseres Kameraden Martin überstürzter Ausschluß wieder rückgängig gemacht werden soll! S TADTRAT Rückgängig? K RANZ Jawohl! S TADTRAT (sieht sich fragend um) B ETZ Ja! 얍 E NGELBERT Hm. S TADTRAT (zu Engelbert; leise) Ja oder nein? (Stille) E NGELBERT Ja. (Stille) S TADTRAT Wo ist mein Hut? A DELE (reicht ihm seinen Hut) Da. S TADTRAT (setzt den Hut tief in die Stirne; tonlos) Umzingelt. Ueberfallen. Meuchlerisch. Schlange an der Brust. Auch Du mein Sohn Brutus -(Trompetensignal) D ER M AJOR (in ehemaliger Kolonialuniform betritt mit zwei Faschisten rasch den Garten -- er hält knapp vor dem Stadtrat und fixiert ihn grimmig) (Stille) D ER M AJOR Ich habe bereits die zweifelhafte Ehre, Sie zu kennen. 얍 S TADTRAT (nickt apathisch) D ER M AJOR Ich sehe es Ihrem unsteten Blicke und den schuldbewußten Mienen Ihrer sauberen Genossen an, daß Sie den Zweck meines Kommens bereits erraten haben. E NGELBERT Wir sind radikal unschuldig! D ER M AJOR Ruhe! Jetzt habt Ihr Euch selbst verraten -- Ruhe! Korrumpiertes Pack! Kurzer Prozess! Hosen runter und gezüchtigt! Rotes Gesindel! B ETZ Es ist alles relativ -B

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K4/TS2 (Grundschicht)

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B B

DasN ] Plötzlich?N ]

N

[d]|D|as Plötzlich[!]|?|

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Endfassung Italienische Nacht (Arcadia-Fassung)

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D ER M AJOR Ruhe, Himmellaudon ! (Stille) D ER M AJOR (zum Stadtrat) Sie! Hände an die Hosennaht! Setzen! D ER S TADTRAT (setzt sich geistesabwesend) D ER M AJOR (winkt dem einen Faschisten) D ER F ASCHIST (bringt dem Stadtrat Papier, Feder und Tinte) 얍 D ER M AJOR So. Schreiben Sie, was ich diktiere! S TADTRAT (folgt apathisch) D ER M AJOR (diktiert) Ich, der rote Stadtrat Alfons Ammetsberger, erkläre hiermit ehrenwörtlich -- haben Sies? -- e h r e n w ö r t l i c h -- daß ich ein ganz gewöhnlicher -S TADTRAT (stockt) D ER M AJOR Schreiben Sie! S TADTRAT ( schreibt wieder) D ER M AJOR (diktiert) -- daß ich ein ganz gewöhnlicher -- Schweinehund bin! S TADTRAT (stockt wieder) D ER M AJOR Na wirds bald? S TADTRAT (rührt sich nicht) D ER M AJOR Kerl, wenn Sie nicht parieren, kriegen Sie die Hosen voll! Schreiben Sie! Los! S TADTRAT (beugt sich langsam über das Papier -- plötzlich fängt er an zu wimmern und zu schluchzen) 얍 Nein, aber ich bin doch kein -D ER M AJOR (unterbricht ihn brüllend) Sie sind aber ein Schweinehund, ein ganz gewöhnlicher Schweinehund. A DELE Sie! Das ist kein Schweinehund, Sie! Das ist mein Mann, Sie! Was erlauben Sie sich denn überhaupt, Sie aufgedonnerter Mensch! So lassen Sie doch den Mann in Ruh! B ETZ Ueberhaupt mit welchem Recht -D ER M AJOR (unterbricht ihn) Maul halten! A DELE Halten Sie Ihr Maul! Und ziehen Sie sich mal das Zeug da aus, der Krieg ist doch endlich vorbei, Sie Hanswurscht! Verzichtens lieber auf Ihre Pension zugunsten der Kriegskrüppel, und arbeitens mal was anständigs, anstatt arme Menschen in ihren Unterhaltungen zu stören, Sie ganz gewöhnlicher Schweinehund! D ER M AJOR Ordinäre Person! Na wartet! Draußen stehen vierzig deutsche Männer! ( rasch ab mit seinen 얍 Faschisten) A DELE (ruft ihm nach) Das ist mein Mann da, verstanden?! (Riesiger Tumult vor dem Gartenlokal) K RANZ (bewaffnet sich mit zwei Gartenstühlen) Jetzt! Da! E NGELBERT (weicht ganz zurück) B ETZ (lauscht) S TADTRAT (scheint nichts zu hören, stiert vor sich hin und zeichnet kleine Zeichen in die Luft) M ARTIN (betritt rasch den Garten) E NGELBERT Martin! B

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K4/TS2 (Grundschicht)

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HimmellaudonN ] schreibtN ] BraschN ] B B

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korrigiert aus: Himmellaudonn

[S]|s|chreibt korrigiert aus: Rasch

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Endfassung Italienische Nacht (Arcadia-Fassung)

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ENDE

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Martin[:]|!|

B N

Absatz getilgt gestrichen: {M}

Martin!N ] ] B N] BdochN ]

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SB Arcadia 1930, S. 100

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K RANZ Martin! (Plötzlich Stille) M ARTIN (lächelt) Zu Befehl, gnädige Frau! Ich gestatte mir nur zu melden, daß hier niemand mehr eine Angst zu haben braucht, denn die Herren Faschisten sind soeben vertrieben worden, und zwar mit Schwung! Ihr Besuch hat nämlich uns gegolten, mir und meinen Genos-얍sen, nicht Euch! Und wir sind halt nun mal so veranlagt, daß wir für unsere Taten einstehen, selbst wenn so eine Tat auch mal eine richtige Blödheit gewesen sein sollt. M ARTINS G ENOSSEN (sind ihm nun in den Garten gefolgt) K RANZ Also das ist sehr edel von Euch, nicht andere Unschuldige für Euere Blödheiten büßen zu lassen! B ETZ Martin! Du weißt, daß ich Dich sehr schätz -S TADTRAT (unterbricht ihn) Martin! Ich bin durch den Gang der Ereignisse zu der Ueberzeugung gekommen, daß Dein Ausschluß ungerechtfertigt war, und ich bedauer es ehrlich, daß ich ihn so überstürzt gefordert hab. B ETZ Martin! Im Namen des Vorstandes bitte ich Dich, wieder unser Kamerad zu werden. M ARTIN (verbeugt sich leicht) Danke. Aber leider seid Ihr zu spät dran, denn es wurde bereits 얍 ein neuer Schutzbund gegründet -E NGELBERT (setzt sich) M ARTIN Und ich Euer Kamerad? Ich müßt mich doch nur mit Euch herumstreiten, um kämpfen zu können! Warum soll ich meine Kraft verpuffen? B ETZ Irrtum! M ARTIN Das ist doch kein Irrtum! B ETZ Doch! Wir überlassen Dir gerne die Führung und werden nur dann reden, wenn wir gefragt werden -- so wie sichs alten Leuten geziemt. (Stille) M ARTIN (reicht ihm die Hand) So komm! B ETZ (lächelt) Es ist nämlich alles relativ -M ARTIN Aber was! Du vielleicht, aber nicht ich! E RSTER G ENOSSE Hoch Martin! A LLE (außer Stadtrat und Adele) Hoch! Hoch! Hoch! S TADTRAT (leise) Ein neuer Schutzbund -얍 M ARTIN Ein junger Schutzbund! S TADTRAT Ein junger -- (er trocknet sich verstohlen einige Tränen ab) A DELE Komm -S TADTRAT Ich werd mich aus dem politischen Leben zurückziehen -- jetzt geh ich nirgends mehr hin -- höchstens, daß ich noch kegeln werd oder singen -A DELE Endlich, Alfons! B

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K4/TS2 (Grundschicht)

do\c/h

382

SB Arcadia 1930, S. 102

Konzeption 5: Italienische Nacht in sieben Bildern – Adaptierungsarbeiten

383

Dialogskizze, Repliken, Strukturplan in drei Bildern, Notizen

384

ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 15

Dialogskizze, Repliken, Strukturplan in drei Bildern, Notizen

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K5/E1–E6

Lesetext

Fragmentarische Fassung des III. Bildes

K5/TS1/A1 (Korrekturschicht)

얍 III. Bild. B B ETZ N (aus dem BPissoirN) B N E RSTE Kennst Du den?

ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 14

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F ASCHIST (nicht aus dem Pissoir; er geht nur vorbei) Wegtreten! 10

15 B

M AR TIN – A NNA A NNA – F ASCHIST A NNA – K ARL N

B N

A NNA Jetzt hab ich einen Inhalt, weisst Du – K ARL Pardon! (ab) B

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N

A NNA (allein) D ER F ASCHIST ( kommt – er geht an ihr vorbei) A NNA (lächelt und geht auf und ab) DER F ASCHIST (folgt ihr mit den Blicken) Fräulein. A NNA Bitte? F ASCH Sie haben etwas, Fräulein. A NNA Was soll ich denn haben? F ASCH Es ist etwas nicht in Ordnung, Frl. A NNA Was denn? F ASCH Etwas ganz grandioses. A NNA ({misstrauisch}) So sagen Sies doch schon, ja?! F ASCH Sie haben falschen Schritt, Frl. A NNA (starrt ihn an) F ASCH Das war jetzt ein Witz. B

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N B N

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B N

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B ETZ N ] PissoirN ] B N] BA NNA N ] B N] BPardon!N ] Bkommt f vorbei)N ] BA NNA N ] B N] B N] BBlicken) Fräulein.N ] Betwas, Fräulein.N ] B N] B N] B B

Lesetext

[A DOLFI ] |B ETZ | [Lok] |Pissoir| gestrichen: Eintragung fremder Hand: Papier = Der dumme Hans [M A ] |A NNA | [K AR ] [Jetzt hat sie einen Inhalt –] |Pardon!| kommt[)] |– er f vorbei)| [{ }] |A NNA | [Nun?] [Ja!] Blicken[;]|)| [zieht plötzlich eine Zeitung heraus] |Fräulein.| [falsche] |etwas, Fräulein.| [{He?}] [(lacht)]

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Fragmentarische Fassung des III. Bildes

K5/TS1/A1 (Korrekturschicht)

Lesetext

A NNA Ein Witz. F ASCH Ja. (Stille) F ASCH So ein Witz wirkt oft nicht. A NNA Das liegt an mir – F ASCH Wahrscheinlich. (Stille) A NNA Ich hör nämlich sonst sehr gern Witze. F ASCH Ich mach eigentlich nicht gern Witze. Ich bin sonst ein ernster Mensch, Fräulein. A NNA Ich hab garnichts gegen ernste Menschen – DER F ASCH Das ist sehr freundlich von Ihnen – Dann sollten Sie mich ja durch und durch verstehen – DER F ASCH (plötzlich) Hast Du jetzt Zeit, ha? A NNA Wir sind doch noch per Sie. DER F ASCH Zu Befehl! A NNA Wenn Sie wollen, gehn wir jetzt etwas spazieren – B

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\Abbruch der Bearbeitung\

1 2 3 4 5 6 9 12 12–13

B

[{Er}] [|Versteh ich|] |Ein Witz.|

B N

Absatz eingefügt Absatz eingefügt

12 12 12 12–13 16

B

Ein Witz.N ] ] B N] BF ASCH f nicht.N ] BDas f mir –N ] BWahrscheinlich.N ] Bbin sonstN ] BDER F ASCH N ] BDann f verstehen –N ] sollten SieN ] michN ] B N] Bdurch f durchN ] BZu Befehl!N ] B

[A NNA ] |F ASCH f nicht.| [Für den bin ich zu dumm –] |Das f mir –| [Aber, Fräulein!] |Wahrscheinlich.| korrigiert aus: \sonst/ bin korrigiert aus: A[ NN {A }]|DER F ASCH | [{Der falsche geht}] [|Wollen wir etwas spazieren gehn[?] –|] |Dann f verstehen –| [werden] |sollten Sie| korrigiert aus: wi[r]|ch| [uns] [gut] |durch f durch| [{Gerne.}] |Zu Befehl!|

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Fragmentarische Fassung des 3. Bildes

K5/TS1/A2 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\

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얍 A NNA Jetzt hab ich einen Inhalt, weisst Du? K ARL Pardon! (ab) DER F ASCHIST (kommt) A NNA (lächelt) DER F ASCHIST (will in die Pissbude, besinnt sich und kokettiert mit Anna) A NNA Nun? DER F ASCHIST Fräulein. A NNA Ja -- (unsicher, verlegen) DER F ASCHIST Wissen Sie was, Fräulein? Sie haben etwas, Fräulein. A NNA Was soll ich denn haben? F ASCHIST Es ist etwas nicht in Ordnung, Fräulein – (er grinst) A NNA (wird unsicher) Was denn? F ASCHIST Etwas pikantes -- diskretes -A NNA So sagen Sies doch schon, ja?! F ASCHIST Sie haben falschen Tritt, Fräulein -- (er wiehert) A NNA (starrt ihn verständnislos an) F ASCHIST (verstummt plötzlich, fast gekränkt) Das war jetzt ein Witz. (Stille) F ASCHIST Eigentlich hab ich ja nicht viel übrig für Witze, Fräulein. Ich bin nämlich ein verschlossener Mensch, ansonsten. A NNA Ich hab garnichts gegen verschlossene Menschen -F ASCHIST Verschlossene Menschen sind auch wertvoller -- konziliant kann ja ein jeder sein. (Stille) F ASCHIST (plötzlich) Hast Du jetzt Zeit, ha? A NNA (verdutzt) Zeit? Ja. Aber sagen Sie mir noch Sie, bitte -F ASCHIST Zu Befehl -- -- (sie gehen ab) Es ist das eine schöne Stadt hier, Ihre Stadt -(ab) B drehen 4. Bild.N

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B

drehen f Bild.N ]

\drehen f Bild./

388

ÖLA 3/W 6 – BS 32 b [2], Bl. 2

Fragmentarische Fassung eines Bildes

K5/TS2/A1 (Grundschicht)

Lesetext

\Textverlust\

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얍 M ARTIN (mit Kopfbinde und Stuhlbein, betritt den Garten) A DELE Martin! M ARTIN (lächelt) Zu Befehl, gnädige Frau. Ich gestatte mir nur zu melden, dass hier niemand mehr eine Angst zu haben braucht, denn die Herren Faschisten sind soeben vertrieben worden, und zwar mit Schwung! Ihr Besuch hat nämlich uns gegolten, mir und meinen Kameraden und nicht Euch! Und wir sind halt nun mal so veranlagt, dass wir für unsere Taten einstehen, selbst wenn so eine Tat auch mal eine richtige Blödheit gewesen sein sollt! P OLIZIST (kommt) Polizeistund, meine Herren! Polizeistund! (Stille) B ETZ (spricht mit Kranz und Engelbert) A NNA (zieht Martin etwas bei Seite) Jetzt darf ichs aber doch sagen? M ARTIN Inwiesofern? A NNA Dass Du nämlich eine Ausnahme BbistN -M ARTIN Eigentlich ja. (er überlegt einen Augenblick) Eigentlich aber auch nein! B ETZ Martin! Im Namen des Verstandes bitte ich Dich, wieder unser Kamerad zu werden. M ARTIN Wie bitte? Ich Euer Kamerad? Ich müsst mich doch nur mit Euch herumprügeln, um kämpfen zu können! Au! (er fasst sich an den Kopf) B ETZ Irrtum! M ARTIN Das ist doch kein Irrtum! BZwischen uns ist eine Kluft!N Und diese Kluft ist radikal unüberbrückbar, muss ich schon bitten! Oder vielleicht?! P OLIZIST Polizeistund, meine Herren! Polizeistund! (Stille) B ETZ (lächelnd) BAlso:N Gute Nacht -- Es ist halt alles relativ -- (ab mit Kranz und Engelbert)

15 22 26

bistN ] Zwischen f Kluft!N ] BAlso:N ] B B

[n]|b|ist [Die Kluft] |Zwischen f Kluft!| [Es ist] |Also:|

389

ÖLA 3/W 5 – BS 32 b [1], Bl. 1

Replik

ÖLA 3/W 5 – BS 32 b [1], Bl. 1v

390

Replik

K5/E7

391

Lesetext

Fragmentarische Fassung eines Bildes

K5/TS2/A2 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\



B N

M ARTIN (ruft ihnen nach) Du mit Deiner Relativität! Ihr seid vielleicht schon relativ, aber wir denken nicht dran. Wir sind nicht relativ Kameraden. 1. K AMERAD Sehr richtig. A NNA Ein dreifaches Hoch unserem neuen Führer Martin A LLE (ausser Stadtrat und Adele) Hoch, hoch, hoch!! S TADTRAT (leise) Ein neuer Führer - (er trocknet sich verstohlen einige Tränen ab) P OLIZIST Jetzt wird’s aber höchste Zeit, Polizeistund, meine Herrschaften, Polizeistund! M ARTIN (zieht mit seinen Kameraden ab) A DELE Komm S TADTRAT Ich werd‘ mich aus dem politischen Leben zurückziehen - Jetzt gehe ich nirgends mehr hin - höchstens, dass ich noch kegeln werd oder singen. A DELE Endlich, Alfons! B

N

5

B

B

B

N

B

10

N

N

B N

N

B

N

B

15

B

N B N

N

BN

2

B N

3–4

B

6 7 8 8

B

9 10–11 12 12 16 17

]

Du f Kameraden.N ]

Martin -N ] hoch!!N ] BS TADTRAT N ] B N] B

ab) N ] Polizeistund! N ] Bab) N ] B N] BAlfons!N ] B N] B B

[B ETZ Irrtum ! M ARTIN Das ist doch kein Irrtum. Die Kluft zwischen uns ist unüberbrückbar, muss ich schon bitten! Oder vielleicht ? P OLIZIST Polizeistund, meine Herren, Polizeistund ! (Stille) B ETZ (lächelnd) Es ist halt alles relativ -(ab mit Kranz u.Engelbert)] [Du mit Deiner Relativität[,]|!| Ihr [seid] vielleicht [schon relativ], aber wir [denken] nicht [dran]. Wir sind nicht relativ Kameraden.] korrigiert aus: Martinkorrigiert aus: hoch !! korrigiert aus: \S TADTRAT [A NNA Ein junger Führer ! S TADTRAT Ein junger -] korrigiert aus: ab ) korrigiert aus: Polizeistund ! korrigiert aus: ab ) [Eintragung von fremder Hand: \V Rede/] korrigiert aus: Alfons ! [Eintragung von fremder Hand: \P OLIZIST Polizeistund!/]

392

ÖLA 3/W 7 – BS 32 b [3], Bl. 5

Fragmentarische Fassung eines Bildes

K5/TS2/A3 (Korrekturschicht)

Lesetext

\Textverlust\

얍 (jetzt betreten die Faschisten den Garten - gleichzeitig erscheint aber auch Martin mit seinen Kameraden durch ein anderes Tor; die Faschisten sind etwas Büberrascht)N E NGELBERT Martin! 5

B N

M ARTIN (gibt ihnen mit der Hand ein Zeichen, dass sie schweigen sollen; dann setzt er sich mit seinen Kameraden und fixiert die Faschisten erwartungsvoll) D IE F ASCHISTEN (setzen sich ebenfalls und fixieren Martin und dessen Kameraden, sind aber bereits etwas unsicher) (Stille) D ER L EUTNANT (aus dem Hintergrunde) Ein Heil unserem unvergleichlichen Führer A LLE F ASCHISTEN Heil! Heil! Heil! (sie singen: Siegreich wollen wir Frankreich schlagen) M ARTIN UND SEINE K AMERADEN (hören es sich zuerst ruhig an, dann kommt aber etwas Bewegung in sie - sie prüfen die Stühle auf ihre Festigkeit, stellen Krüge vor sich hin - werfen mit Bierfilzeln auf den Faschistentischen. Dies Werfen wird schwach erwidert - Martin schüttet seinen Krug nach den Faschisten - einer steht auf und krempelt sich die Aermel hoch -) D IE F ASCHISTEN (singen noch immer, werden aber immer weniger. Einer nach dem anderen drückt sich heimlich --) A NNA (erscheint) D ER F ASCHIST (schnellt empor) Anna! Anna! (Schluss mit dem Gesang; grosse Stille) M ARTIN (perplex) Was für eine Anna? D ER F ASCHIST (direkt geistesabwesend) A NNA Ich. (Stille) {S TENARIK } Anna, Du –? M ARTIN Du? – Also der auch? – A NNA Aber nur so halt. (Stille) M ARTIN (begreift allmählich) Anna – Ah, das ist aber interessant.. D ER F ASCHIST (brüllt) Verrat! Organisierter Verrat! Landesverrat, Landesverrat!! B N

10 B

N

B N

15

B

20

N

B

N

B

B N

25 B

N

B

B

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N

N

N

N

B

3

B

überrascht)N ]

] ] BD ER L EUTNANT N ] B N] BMartinN ]

N

B N

korrigiert aus: überrascht ) überzählige oder fehlende Leerzeichen werden in TS2/A3 stillschweigend korrigiert; vgl. Kommentar

5 9 11 12 17

B N

[K RANZ Der Martin!]

B N

Absatz eingefügt

22 24 25 26–31

B

26 28 29 32 32

B N

Absatz eingefügt

B

[{E}][|{J}|] |Anna, Du –?| [Ann] [|Ann|] |Du?| [Dich ? ..] |Anna –| [Alsdann: [war]|ist| das [etwa] der mit Deinem Fleck da .. ?]

Anna! Anna!N ] Anna?N ] B N] BA NNA f Stille)N ] B

] Anna, Du –?N ] BDu?N ] BAnna –N ] B N]

[E IN F ASCHIST ] |D ER L EUTNANT | [(ein Dreizehnjähriger ist auch dabei)] (1) ein Kamerad (2) Martin [Hoho ! Wie kommt denn die Person daher ? !] |Anna! Anna!| [Person ?]|Anna?| [Dort - - dort - -] [|Dort – dort – (er schreit) Anna! Anna!|] [M ARTIN Von was für einer Person fabuliert der ? A NNA Das bin ich. (Stille) Mich meint er, Martin.] |A NNA f Stille)|

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ÖLA 3/W 7 – BS 32 b [3], Bl. 1

Fragmentarische Fassung eines Bildes

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K5/TS2/A3 (Korrekturschicht)

Lesetext

얍 M ARTIN (nähert sich ihm drohend) Ich geb Dir BgleichN einen Landesverrat, BDu!N (er zieht sich den Rock aus) B N E IN P OLIZIST (und ein BGendarmN erscheinen) Polizeistund! Polizeistund, meine Herrschaften. D ER F ASCHIST (grüsst den Polizisten und ab) M ARTIN (sieht ihm nach; zieht sich langsam seinen Rock wieder an) A DELE (lächelt) Der Martin -M ARTIN (gewollt charmant) Zu Befehl, gnädige Frau! Ich gestatte mir nur zu melden, dass hier niemand mehr eine Angst zu haben BbrauchtN. Nämlich abgesehen von allem hat der Herren Faschisten ihr Besuch uns gegolten, mir und meinen Kameraden -- und Euch schon garnicht! Und wir sind halt nun mal so veranlagt, dass wir für unsere Taten einstehen, selbst wenn so eine Tat auch mal eine richtige Blödheit gewesen sein soll. B ETZ Irrtum. M ARTIN Das ist doch kein Irrtum! B ETZ Doch. Wir überlassen Dir nämlich gerne die Führerrolle und BwerdenN nur dann reden, wenn wir gefragt werden. -- So wie sich’s alten Leuten geziemt. (er reicht ihm die Hand) B N (kurze Pause) M ARTIN (schlägt ein) Alsdann ist es eh schon wurscht. B ETZ (lächelt) Es ist nämlich alles relativ -M ARTIN Du mit Deiner Relativität! Du bist vielleicht schon relativ, aber nicht ich! P OLIZIST Polizeistund, meine Herren! I. K AMERAD Hoch unser neuer Führer! A LLE (ausser Stadtrat, Adele und Polizei) Hoch, hoch, hoch! S TADTRAT (leise) Ein neuer Führer -M ARTIN Ein junger Führer! S TADTRAT Ein junger -- (er trocknet sich verstohlen einige Tränen ab) P OLIZIST Jetzt wird’s aber höchste Zeit! Polizeistund, meine Herrschaften!

1 1 2 3 9 16 18

gleichN ] Du!N ] B N] BGendarmN ] BbrauchtN ] BwerdenN ] B N] B B

korrigiert aus: gleiche korrigiert aus: [Du] Du [Grobian, gottverlassener !] [ Drecksau, Du Dreckige!! ]

| |

[Jetzt, wenn Du Dich aber nicht verrollst--] korrigiert aus: Gendarm) korrigiert aus: brauch korrigiert aus: werde Absatz eingefügt

394

|

|

ÖLA 3/W 7 – BS 32 b [3], Bl. 2

Fragmentarische Fassung eines Bildes

K5/TS2/A4 (Grundschicht)

Lesetext

\Textverlust\

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얍 B ETZ BIrrtum!N M ARTIN Das ist doch kein Irrtum. Die Kluft zwischen uns ist unüberbrückbar, muss ich schon bitten! Oder vielleicht?! P OLIZIST Polizeistund, meine Herren! Polizeistund! (Stille) B ETZ (lächelt) Es ist halt alles relativ -- (ab mit Kranz und Engelbert) M ARTIN (ruft ihnen nach) Du mit Deiner Relativität! Ihr seid vielleicht schon relativ, aber wir denken nicht daran! Wir sind nicht relativ, Kameraden! E RSTER K AMERAD Sehr richtig! A NNA Ein dreifaches Hoch unserem neuen Führer Martin! A LLE (ausser Stadtrat und Adele) Hoch! Hoch! Hoch! S TADTRAT (leise) Ein neuer Führer -M ARTIN Ein junger Führer! S TADTRAT Ein junger -- (er trocknet sich verstohlen einige Tränen ab) P OLIZIST Jetzt wird’s aber höchste Zeit! Polizeistund, meine Herrschaften! BPolizeistund!N M ARTIN (zieht mit seinen Kameraden singend ab --) A DELE Komm -S TADTRAT Ich werd mich aus dem politischen Leben zurückziehen -- jetzt geh ich nirgends mehr hin -- höchstens, dass ich noch kegeln werd oder singen -A DELE BEndlichN, Alfons! (Der Sozialistenmarsch verklingt in der Ferne -- dafür ertönt der BRadetzkiN-Marsch; alles geht nach Hause) D IE F ASCHISTEN (ziehen an der Bank vorbei, auf welcher Leni und Karl Bsitzen)N (Der BRadetzkiN-Marsch verklingt in der Ferne; Stille) 얍 L ENI Du -- Du -- Du -K ARL (zündet sich eine Zigarette an) L ENI Ich BbinN so glücklich. Oh, wird das Leben jetzt schön -- Du, ich will lernen von Dir, auch das Politische -K ARL Das Politische? L ENI Ja. Bei mir ist jetzt das Interesse erwacht -- B N (Stille) K ARL Bei mir wirst Du spielend lernen. Aber als Kolonialwarenhändler -L ENI Ein Kaufmann darf nicht politisieren, weil er sonst anstosst. Wir sind halt noch lang keine freien Menschen -- So ist das Leben (Stille)

2 16–17 22 23 25 26 29 32

B

Irrtum!N ]

Polizeistund!N ] EndlichN ] BRadetzkiN ] Bsitzen)N ] BRadetzkiN ] BbinN ] B N] B B

korrigiert aus: Irrtum ! überzählige oder fehlende Leerzeichen werden in TS2/A4 stillschweigend korrigiert; vgl. Kommentar korrigiert aus: Polizeistund ! )

E[h]|n|dlich gemeint ist: Radetzky korrigiert aus: sitzen () gemeint ist: Radetzky

bin[s] Absatz eingefügt

395

ÖLA 3/W 7 – BS 32 b [3], Bl. 3

ÖLA 3/W 7 – BS 32 b [3], Bl. 4

Fragmentarische Fassung eines Bildes

N

B N

10

B N

15

Lesetext

L ENI Jetzt möcht ich singen. Immer, wenn ich traurig bin, möcht ich singen -- (sie singt) M ARTIN und A NNA (sind vor ihrer Haustüre angelangt) A NNA Jetzt darf ichs aber doch sagen? M ARTIN Inwiesofern? A NNA Dass Du nämlich eine Ausnahme bist. (Stille) M ARTIN Eigentlich ja. Eigentlich aber auch nein. Anna, -- wenn wir uns derartig über Sonne, Mond und Sterne hinauf loben, dann könnten wir es ja noch vergessen, dass wir nicht für uns, sondern lediglich für die zukünftige Generation arbeiten -(Umarmung) A NNA Wenn doch nur ein jeder Deine Durchschlagskraft hätt -- was könnte dann alles schon da sein in dreissig Jahr? Neunzehnhundertsechzig -M ARTIN Neunzehnhundertsechzig -(Grosse Umarmung)

B N B

5

K5/TS2/A4 (Grundschicht)

1 1 6 13

B N

[L]

B

] L ENI N ] B N] B N]

eingefügt Absatz eingefügt

[(Gross]

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Fragmentarische Fassung

5

K5/TS3 (Grundschicht)

Lesetext

얍 Kritik in „Roter Fahne“: moralische Verkommenheit; der Kerl, der das geschrieben hat, kann es sich garnicht vorstellen, dass es noch eine B N ehrliche Überzeugung gibt. Wenn er ohne dem Schatten eines Beweises die Behauptung aufstellt, dass Z. B N mich nur deshalb lobt, damit ich Z. lobe. – Als ob Z. mein Lob nötig hätte! Ich lobe Z. als Kamerad, B N als Dichter, als Mensch. Unter „Mensch“ verstehe ich vor allem: ein Wesen mit Humor.

„Bei uns {unwichtig}“ – „auf dem Lande nicht.“ Die Mädchen: {Küssen} sehr gut.

10

{Ders.} (sehr gut) B N

Die Dialoge mit verliebten Kommunisten. Mich interessiert der Inhalt –

15

\Abbruch der Bearbeitung\

2 3 5 13

] ] B N] B N] B N B N

[halbwegs] gestrichen: Eintragung von fremder Hand: halbwegs gestrichen: Eintragung von fremder Hand: Zuckmayer? [als Mensch,] [{M}]

397

ÖLA 3/W 2 – BS 32 c, Bl. 14v

Endfassung Italienische Nacht (Propyläen-Fassung)



K5/TS4 (Grundschicht)

Lesetext

Italienische Nacht

Horváth 1931, o. Pag. (S. 1)

Volksstück von

Ödön Horváth

5



PERSONEN:

Horváth 1931, o. Pag. (S. 5)

S TADTRAT K RANZ E NGELBERT B ETZ W IRT K ARL M ARTIN M ARTINS K AMERADEN E IN K AMERAD AUS M AGDEBURG E IN F ASCHIST D ER L EUTNANT D ER M AJOR C ZERNOWITZ A DELE A NNA L ENI D IE D VORAKISCHE Z WEI F RAUENZIMMER F RAU H INTERBERGER G ESCHWISTER L EIMSIEDER R EPUBLIKANER und F ASCHISTEN .

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Ort: Süddeutsche Kleinstadt Zeit: 1930–? 35



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ERSTES BILD Im Wirtshaus des Josef Lehninger. K RANZ , E NGELBERT und der S TADTRAT A MMETSspielen Tarock. K ARL kiebitzt. B ETZ trinkt zufrieden sein Bier. M ARTIN liest die Zeitung. Der W IRT bohrt in der Nase. Es ist Sonntagvormittag und die Sonne scheint. Stille. BERGER

B ETZ Martin. Was gibts denn Neues in der großen Welt? M ARTIN Nichts. Daß das Proletariat die Steuern zahlt, und daß die Herren Unternehmer die Republik prellen, hint und vorn, das ist doch nichts Neues. Oder? B ETZ (leert sein Glas).

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Horváth 1931, S. 7

Endfassung Italienische Nacht (Propyläen-Fassung)

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K5/TS4 (Grundschicht)

Lesetext

M ARTIN Und daß die Herren republikanischen Pensionsempfänger kaiserlich reaktionäre Parademärsch veranstalten mit Feldgottesdienst und Kleinkaliberschießen, und daß wir Republikaner uns das alles gefallen lassen, das ist doch auch nichts Neues. Oder? 얍 B ETZ Wir leben in einer demokratischen Republik, lieber Martin. (Jetzt zieht draußen eine Abteilung Faschisten mit Musik vorbei. Alle, außer S TADTRAT und W IRT , treten an die Fenster und sehen sich stumm den Zug an – erst als er vorbei ist, rühren sie sich wieder.) S TADTRAT (mit den Karten in der Hand) Von einer akuten Bedrohung der demokratischen Republik kann natürlich keineswegs gesprochen werden. Schon weil es der Reaktion an einem ideologischen Unterbau mangelt. E NGELBERT Bravo! S TADTRAT Kameraden! Solange es einen republikanischen Schutzverband gibt, und solange ich hier die Ehre habe, Vorsitzender der hiesigen Ortsgruppe zu sein, solange kann die Republik ruhig schlafen! M ARTIN Gute Nacht! K RANZ Ich möchte das Wort ergreifen! Ich möchte jetzt etwas vorschlagen! Ich möchte jetzt dafür plädieren, daß wir jetzt wieder weitertarocken und uns nicht wieder stören lassen von diesen germanischen Hoftrotteln samt ihrem sogenannten deutschen Tag! 얍 E NGELBERT Samt ihrem Dritten Reich! S TADTRAT Einstimmig angenommen! (Er mischt und teilt aus.) K ARL Wie ist das eigentlich heut nacht? S TADTRAT Was denn? K ARL Na in bezug auf unsere italienische Nacht heut nacht – S TADTRAT (unterbricht ihn) Natürlich steigt unsere italienische Nacht heut nacht! Oder glaubt denn da wer, daß es sich der republikanische Schutzverband von irgendeiner reaktionären Seite her verbieten lassen könnt, hier bei unserem Freunde Josef Lehninger eine italienische Nacht zu arrangieren, und zwar wann e r will? Unsere republikanische italienische Nacht steigt heut nacht trotz Mussolini und Konsorten! Karo As! (Er spielt aus.) E NGELBERT Daß du das nicht weißt! K ARL Woher soll ich denn das wissen? B ETZ Ich habs doch bereits offiziell verkündet. E NGELBERT Aber der Kamerad Karl war halt wieder mal nicht da. Eichel! K ARL Ich kann doch nicht immer da sein. 얍 E NGELBERT Sogar beim letzten Generalappell war er nicht da, vor lauter Weibergeschichten. K RANZ Solo! S TADTRAT Bettel! E NGELBERT Aus der Hand? S TADTRAT Aus der hohlen Hand! K ARL (zu Betz) Soll ich mir das jetzt gefallen lassen? Das mit den Weibergeschichten? B ETZ Du kannst es doch nicht leugnen, daß dich die Weiber von deinen Pflichten gegenüber der Republik abhalten – K ARL Also das sind doch meine intimsten privaten Interessen, muß ich schon bitten. Und zwar energisch!

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Horváth 1931, S. 8

Horváth 1931, S. 9

Horváth 1931, S. 10

Endfassung Italienische Nacht (Propyläen-Fassung)

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K5/TS4 (Grundschicht)

Lesetext

(Jetzt zieht draußen abermals eine Abteilung Faschisten mit Musik vorbei. – Alle lauschen, aber keiner tritt an das Fenster. Stille.) B ETZ Es ist halt alles relativ. M ARTIN Aber was! Eine Affenschand ist das! Während sich die Reaktion bewaffnet, veranstalten wir braven Republikaner italienische Nächt! 얍 B ETZ Eigentlich ist es ja unglaublich, daß die Reaktion derart erstarkt. M ARTIN Einen Dreck ist das unglaublich! Das konnt man sich ja direkt ausrechnen – wer die wirtschaftliche Macht hat, hat immer recht, bekanntlich. Aber ihr vom Vorstand scheint das nicht zu wissen. Noch bild ich es mir ein, daß ihr wissen wollt, aber ab und zu fällt es mir schon recht schwer – E NGELBERT Hoho! B ETZ Du bist halt ein Pessimist. M ARTIN Ein Dreck bin ich. S TADTRAT Und außerdem ist er ein Krakeeler! Ein ganz ein gewöhnlicher Krakeeler. (Stille.) M ARTIN (erhebt sich langsam) Herr Stadtrat. Sag einmal, Herr Stadtrat, kennst du noch einen gewissen Karl Marx? S TADTRAT (schlägt auf den Tisch) Natürlich kenn ich meinen Marx! Und ob ich meinen Marx kenn! Und außerdem verbitt ich mir das! E NGELBERT Sehr richtig! K RANZ Solo! 얍 S TADTRAT Oder glaubst denn du, du oberflächlicher Phantast, daß kurz und gut mit der Verwirklichung des Marxismus kurz und gut das Paradies auf Erden entsteht? M ARTIN Was du unter kurz und gut verstehst, das weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, was du unter Paradies verstanden haben willst, aber ich kanns mir lebhaft ausmalen, was du unter Marxismus verstehst. Verstanden? Was ich darunter versteh, daran glaub ich. K RANZ Solo, Herrgottsakrament! (Er spielt aus.) (Stille.) B ETZ Weißt du, was ich nicht kann? M ARTIN Nein. B ETZ Ich kann nicht glauben. (Stille.) M ARTIN Das glaub ich gern, daß du nicht glauben kannst. Du kannst nicht glauben, weil du nicht mußt. Du bist ja auch kein Prolet, du pensionierter Kanzleisekretär – B ETZ Ich bin zwar Kanzleiobersekretär, aber das spielt natürlich keine Rolle. 얍 M ARTIN Natürlich. B ETZ Das ist gar nicht so natürlich! M ARTIN (sieht ihn verdutzt an) Geh, so leck mich doch am Arsch! (Rasch ab mit seiner Zeitung.) S TADTRAT Ein feiner Mann – (Stille.) W IRT Obs wieder regnen wird? Jedesmal, wenn ich eine Sau abstich, versaut mir das Wetter die ganze italienische Nacht. B ETZ Das glaub ich nicht.

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Horváth 1931, S. 11

Horváth 1931, S. 12

Horváth 1931, S. 13

Endfassung Italienische Nacht (Propyläen-Fassung)

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K5/TS4 (Grundschicht)

Lesetext

W IRT Warum? Weil es ihr seid? B ETZ Nein. Sondern weil das Tief über Irland einem Hoch über dem Golf von Biskaya gewichen ist. S TADTRAT Sehr richtig! W IRT Wer behauptet das? B ETZ Die amtliche Landeswetterwarte. W IRT Geh, laßts mich aus mit den Behörden! M ARTIN (erscheint wieder, tritt zu Betz und legt ein Flugblatt vor ihn hin) Da! B ETZ Was soll ich damit? 얍 M ARTIN Lesen! B ETZ Warum soll ich das dumme faschistische Zeug da lesen? M ARTIN Weil es dich interessieren dürft. B ETZ Aber keine Idee! M ARTIN (mit erhobener Stimme) Das da dürfte sogar alle anwesenden Herrschaften hier interessieren! D IE H ERRSCHAFTEN (horchen auf). S TADTRAT Was hat er denn schon wieder, dieser ewige Querulant? B ETZ (überflog mechanisch das Flugblatt, stockt und schlägt nun mit der Faust auf den Tisch) Was?! Na das ist empörend! Ist das aber empörend, Josef! W IRT (wird unsicher und will sich drücken). B ETZ (fixiert ihn empört) Halt! – Halt, lieber Josef – das da dürft nämlich vor allem dich interessieren – weißt du, was da drinnen geschrieben steht? W IRT (verlegen) Nein – B ETZ Du kannst also nicht lesen? 얍 W IRT (lächelt verzweifelt) Nein – B ETZ Analphabet? S TADTRAT Was soll denn das schon wieder darstellen dort? W IRT Nichts, Leutl! Nichts – B ETZ Nichts? Aber was du da nicht sagst, lieber Josef?! Ich glaub gar, du bist ein grandioser Schuft! W IRT Das darfst du nicht sagen, Heinrich! B ETZ Ich sags noch einmal, lieber Josef. S TADTRAT Wieso? K RANZ Ja Sakrament – M ARTIN (unterbricht ihn) Moment! B ETZ Moment! Das ist hier nämlich ein sogenannter Tagesbefehl – der Tagesbefehl der Herren Faschisten für ihren heutigen deutschen Tag – (er reicht das Blatt Karl). Josef, wir Republikaner sind deine Stammgäst, und du verkaufst deine Seele! Und alles um des Mammons willen! K ARL Also das ist ja direkt impertinent! Bitte mir zuzuhören, Kameraden! (Er liest.) „Ab 얍 sechzehn Uhr bis achtzehn Uhr treffen sich die Spielleute im Gartenlokal des Josef Lehninger“ – K RANZ Was für Spielleut? K ARL Die faschistischen Spielleut! Pfui Teufel! B ETZ Eine Schmach ist das! Der liebe Kamerad Josef reserviert unsere Stammtisch für die Reaktion! K ARL Und wir Republikaner, denkt er, kommen dann hernach dran mit unserer italienischen Nacht und kaufen ihm brav sein Zeug ab!

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Horváth 1931, S. 14

Horváth 1931, S. 15

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Endfassung Italienische Nacht (Propyläen-Fassung)

K5/TS4 (Grundschicht)

Lesetext

M ARTIN Die Brosamen, die wo die Herren Reaktionäre nicht mehr zammfressen konnten! E NGELBERT Hört, hört! W IRT Ich glaub, wir reden aneinander vorbei – M ARTIN Aber was denn nicht noch! K ARL Ah, das ist aber korrupt! W IRT Ich bin nicht korrupt! Das bin ich nicht, Leutl, das ist meine Frau – K ARL Papperlapapp! W IRT Da gibts kein Papperlapapp! Ihr kennt meine Frau nicht, liebe Leutl! Die scheißt sich 얍 was um die politischen Konstellationen, der ist es sauwurscht, wer ihre Würst zammfrißt! Und ich Rindvieh hab mal von einem heiteren Lebensabend geträumt! Und wenn ich jetzt den schwarzweißroten Fetzen nicht raussteck , verderben mir sechzig Portionen Schweinsbraten, das war doch ein furchtbarer Blödsinn, die Reichsfarben zu ändern! Meiner Seel, ich bin schon ganz durcheinand! K RANZ Wenn du jetzt nicht mein Freund wärst, tät ich dir jetzt in das Gesicht spukken, lieber Josef! E NGELBERT Bravo! (Stille.) W IRT (verzweifelt) Meiner Seel, jetzt sauf ich mir aber einen an, und dann erschieß ich meine Alte. Und dann spring ich zum Fenster naus, aber vorher zünd ich noch alles an. (Ab.) S TADTRAT Ja Himmelherrgottsakrament! Ein jedes Mal, wenn ich ein gutes Blatt hab, geht die Kracherei los! (Mit erhobener Stimme.) Aber sehen möcht ich doch, welche Macht unsere italienische Nacht heut nacht zu vereiteln vermag! Kameraden, wir weichen 얍 nicht, und wärs die vereinigte Weltreaktion! Unsere republikanische italienische Nacht steigt heute nacht, wie gesagt! Auch ein Herr Josef Lehninger wird uns keinen Strich durch die Rechnung machen! Ein jeder merkt sich, was er für ein Blatt gehabt hat, wir spielen auf meiner Veranda weiter. Kommt, Kameraden! M ARTIN Hurra! K RANZ Du Mephisto – A LLE (verlassen das Lokal). B

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N

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B

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Horváth 1931, S. 18

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ZWEITES BILD Straße. Alle Häuser sind schwarzweißrot beflaggt, weil die hiesige Ortsgruppe der Faschisten, wie dies auch ein Transparent verkündet, einen deutschen Tag veranstaltet. Eben zieht eine Abteilung mit Fahnen, Musik und Kleinkalibern vorbei, gefolgt von Teilen der vaterländisch gesinnten Bevölkerung – auch die D VORAKISCHE und das Fräulein L ENI ziehen mit. L ENI Jetzt kann ich aber nicht mehr mit.

1 12–13

B B

zammfressenN ] raussteckN ]

korrigiert aus: zamfressen korrigiert aus: raußsteck

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Horváth 1931, S. 19

Endfassung Italienische Nacht (Propyläen-Fassung)

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K5/TS4 (Grundschicht)

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D IE D VORAKISCHE Da tuns mir aber leid, Fräulein! L ENI Die Musik ist ja fein, aber für die Herren in Uniform könnt ich mich nicht begeistern. Die sehn sich alle so fad gleich. Und dann werdens auch gern so eingebildet selbstsicher. Da sträubt sich etwas in mir dagegen. D IE D VORAKISCHE Das glaub ich gern, weil Sie halt keine Erinnerung mehr haben an unsere Vorkriegszeit. L ENI Ich muß jetzt da nach links. 얍 D IE D VORAKISCHE Fräulein, Sie könnten mir eigentlich einen großen Gefallen tun – L ENI Gern! D IE D VORAKISCHE Ihr Herr Major muß doch ganz pompöse Uniformen haben – L ENI Ja, das stimmt, weil er früher auch in den Kolonien gewesen ist, die wo uns Deutschen geraubt worden sind. D IE D VORAKISCHE Geh, fragens doch mal den Herrn Major, ob er mir nicht so eine alte Uniform verkaufen möcht, es passiert Ihnen nichts – L ENI Wie meinens denn das? D IE D VORAKISCHE Das sagt man halt so. (Stille.) L ENI Was möchtens denn mit der Uniform anfangen? D IE D VORAKISCHE (lächelt) Anschaun. L ENI Ist das alles? D IE D VORAKISCHE Wie mans nimmt – (Stille.) L ENI Nein, das wär mir, glaub ich, unheimlich – 얍 D IE D VORAKISCHE (plötzlich wütend) Dumme Gans, dumme! Ihr jungen Leut habt halt keine Illusionen mehr! (Rasch ab.) (Trommelwirbel.) K ARL (kommt und erkennt Leni). Ist das aber ein Zufall! L ENI Jetzt so was! Der Herr Karl! K ARL Ist das aber zweifellos. L ENI Wieso? K ARL Daß wir uns da nämlich treffen, so rein durch Zufall. L ENI Geh, das kommt doch öfters vor. K ARL Zweifellos. (Stille.) L ENI Ich hab jetzt nicht viel Zeit, Herr Karl! K ARL Ich auch nicht. Aber ich möcht Ihnen doch nur was vorschlagen, Fräulein! L ENI Was möchtens mir denn vorschlagen? K ARL Daß wir zwei Hübschen uns womöglich heut abend noch treffen, möcht ich vorschlagen – ich hätts Ihnen schon gestern vorgeschlagen, aber es hat sich halt keine Gelegenheit ergeben – 얍 L ENI Lügens mich doch nicht so an, Herr Karl. (Stille.) K ARL (verbeugt sich barsch) Gnädiges Fräulein. Das hab ich doch noch niemals nicht notwendig gehabt, ein Weib anzulügen, weil ich doch immerhin ein gerader Charakter bin, merken Sie sich das! L ENI Ich wollt Sie doch nicht beleidigen – K ARL Das können Sie auch nicht. L ENI (starrt ihn an) Was verstehen Sie darunter, Herr Karl?

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K ARL Ich versteh darunter, daß Sie mich nicht beleidigen können, weil Sie mir sympathisch sind – Sie können mich höchstens kränken, Fräulein. Das versteh ich darunter. Pardon! (Stille.) L ENI Ich glaub gar, Sie sind ein schlechter Mensch. K ARL Es gibt keine schlechten Menschen, Fräulein. Es gibt nur sehr arme Menschen. Pardon! (Stille.) 얍 L ENI Ich wart aber höchstens zehn Minuten – K ARL Und ich nur fünf. L ENI (lächelt) Also dann bin ich halt so frei, Sie schlechter Mensch – (Ab.) M ARTIN und B ETZ (kommen). M ARTIN (sieht Leni, die rasch an ihm vorbeigegangen ist, nach; dann betrachtet er Karl spöttisch). K ARL Sag mal, Martin: ich nehm natürlich an, daß bei unserer italienischen Nacht heut nacht nicht nur eingeschriebene ordentliche und außerordentliche Mitglieder, sondern daß auch Sympathisierende gern gesehen sind – M ARTIN Von mir aus. K ARL Ich hab nämlich grad jemand eingeladen. Eine mir bekannte Sympathisierende von mir. M ARTIN War das die da? K ARL Kennst du die da? M ARTIN Leider. K ARL Wieso? 얍 M ARTIN Weil das ein ganz stures Frauenzimmer ist. K ARL Ich find aber, daß sie was Bestimmtes hat – M ARTIN Natürlich hat sie was Bestimmtes – aber der ihr Bestimmtes steht hier nicht zur Diskussion! Ich meinte doch, daß dieses Frauenzimmer ganz stur ist, nämlich in politischer Hinsicht, das ist doch eine geborene Rückschrittlerin, Herrgottsakrament! Wie kann man nur mit so was herumpoussieren! K ARL Mein lieber Martin, das verstehst du nicht. Wir zwei beide sind aufrechte Republikaner, aber wir haben dabei einen Unterschied. Du bist nämlich Arbeiter und ich Musiker. Du stehst gewissermaßen am laufenden Band, und ich spiel in einem Konzertcafé meinen Mozart und meinen Kalman – daher bin ich natürlich der größere Individualist, schon weil ich halt eine Künstlernatur bin. Ich hab die stärkeren privaten Interessen, aber nur scheinbar, weil sich bei mir alles gleich ins Künstlerische umsetzt. M ARTIN (grinst) Das sind aber feine Ausreden – 얍 K ARL Das bin ich mir einfach schuldig, daß ich in erotischer Hinsicht ein politisch ungebundenes Leben führ – Pardon! (Ab.) M ARTIN Nur zu! (Stille.) B ETZ Martin, du weißt, daß ich dich schätz, trotzdem daß du manchmal schon direkt unangenehm boshaft bist – Ich glaub, du übersiehst etwas sehr Wichtiges bei deiner Beurteilung der politischen Weltlage, nämlich das Liebesleben in der Natur. Ich hab mich in der letzten Zeit mit den Werken von Professor Freud befaßt, kann ich dir sagen. Du darfst doch nicht vergessen, daß um unser Ich herum Aggressionstriebe gruppiert sind, die mit unserem Eros in einem ewigen Kampfe liegen,

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und die sich zum Beispiel als Selbstmordtriebe äußern, oder auch als Sadismus, Masochismus, Lustmord – M ARTIN Was gehen denn mich deine Perversitäten an, du Sau? B ETZ Das sind doch auch die deinen! M ARTIN Was du da nicht sagst! 얍 B ETZ Oder hast du denn deine Anna noch nie gekniffen oder sonst irgend so etwas, wenn du – ich meine: im entscheidenden Moment – M ARTIN Also, das geht dich einen großen Dreck an. B ETZ Und dann sind das doch gar keine Perversitäten, sondern nur Urtriebe! Ich kann dir sagen, daß unsere Aggressionstriebe eine direkt überragende Rolle bei der Verwirklichung des Sozialismus spielen, nämlich als Hemmung. Ich fürcht, daß du in diesem Punkte eine Vogel-Strauß-Politik treibst. M ARTIN Weißt du, was du mich jetzt abermals kannst? (Er läßt ihn stehen.)

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In den städtischen Anlagen. Mit vielen Fahnen. Die Luft ist voll von Militärmusik. An der Ecke stehen zwei F RAUENZIMMER. Es ist bereits spät am Nachmittag. Der S TADTRAT A MMETSBERGER geht vorbei. Die F RAUENZIMMER zwinkern. E RSTE (alt und dürr) Kennst du den? Z WEITE (jung und fett) Er ist nicht unrecht. E RSTE Ich glaub, er ist was bei der Stadt. Irgendein Tier. Z WEITE Wahrscheinlich. (Jetzt wehen die Fahnen im Winde.) Z WEITE (sieht empor) Wenns nur keine Fahnen gäb – E RSTE Fahnen sind doch direkt erhebend. Z WEITE Nein – wenn ich so Fahnen seh, ists mir immer, als hätten wir noch Krieg. 얍 E RSTE (mit dem Lippenstift) Ich kann nichts gegen den Weltkrieg sagen. Das wär undankbar. (Stille.) Z WEITE (sieht noch immer empor) Wie das weht – was nützt uns das? E RSTE Für mich sind am besten landwirtschaftliche Ausstellungen oder überhaupt künstlerische Veranstaltungen. Auch so vaterländische Feierlichkeiten sind nicht schlecht. E IN F ASCHIST (geht vorbei). E RSTE (nähert sich ihm). F ASCHIST Wegtreten! (Pause.) Z WEITE Eigentlich ist der Krieg dran schuld. E RSTE An was denn? Z WEITE An mir. E RSTE Lächerlich! Alle reden sich naus auf den armen Krieg! A NNA (kommt und setzt sich mit dem Rücken zu den beiden Frauenzimmern auf eine Bank; sie wartet). E RSTE Wer ist denn das? Z WEITE Ich kenn sie nicht.

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얍 E RSTE Die sieht so neu aus. Und dann sieht sie doch wem ähnlich – Z WEITE (grinst) Dir – E RSTE (starrt sie an) Also das war jetzt gemein von dir, Agnes. D REI F ASCHISTEN (kommen an Anna vorbei). A NNA (weicht ihren Blicken aus). D IE F ASCHISTEN (halten vor ihr und grinsen sie an). A NNA (erhebt sich und will ab). M ARTIN (tritt ihr in den Weg, grüßt kurz und spricht mit ihr). D IE F ASCHISTEN und DIE F RAUENZIMMER (horchen, hören aber nichts). A NNA Und? M ARTIN Da gibts kein Und. Er hat sich halt wieder herausgelogen, der Herr Stadtrat. Das wäre unter seiner republikanischen Würde, hat er gesagt, daß er wegen denen ihrer deutschen Tage und wegen dem ehrlosen Lehninger auf seine italienische Nacht verzicht. Der typische Parlamentarier in schlechter Aufmachung. Es kommt alles, wie es kommen muß. 얍 A NNA Ein korrupter Mensch. M ARTIN Herrschen tut der Profit. Also regieren die asozialen Elemente. Und die schaffen sich eine Welt nach ihrem Bilde. Aber garantiert! Heut gibts noch einen Tanz auf denen ihrer italienischen Nacht! Zur freundlichen Erinnerung. D IE F ASCHISTEN (beschäftigen sich nun mit den Frauenzimmern). A NNA Weißt du, was die Genossen sagen? M ARTIN Was? A NNA Daß du eine Zukunft hast. M ARTIN (zuckt die Schultern). Sie kennen mich halt. Ich müßt aber fort. In irgendeine Metropole. A NNA Ich hab auch das Gefühl, daß man auf dich wartet. M ARTIN Hier hab ich ein viel zu kleines Betätigungsfeld. Das könnt auch ein anderer machen, was ich hier mach. A NNA Nein, das könnt keiner so machen! M ARTIN Du weißt, daß ich das nicht gern hör! A NNA Aber es ist doch so! Wenn alle so wären wie du, stünd es besser um uns Menschen. 얍 M ARTIN Aber ich kann doch nichts dafür, daß ich so bin! Daß ich der Intelligentere bin, und daß ich mehr Durchschlagskraft hab, das verpflichtet mich doch nur, mich noch intensiver für das Richtige einzusetzen! Ich mag das nicht mehr hören, daß ich eine Ausnahme bin. Herrgottsakrament! (Er brüllt sie an.) Ich bin keine, merk dir das! A NNA Das kannst du einem doch auch anders sagen, daß du keine Ausnahme bist – (Stille.) M ARTIN Anna, die Zeit braust dahin, und es gibt brennendere Probleme auf der Welt als wie Formfragen. Vergiß deine Pflichten nicht! A NNA Ich? M ARTIN Pflichten verpflichten. A NNA Martin. Du tust ja direkt, als wär ich ein pflichtvergessenes Wesen – M ARTIN Wieso denn hernach? Das wäre ja vermessen! Komplizier doch nicht den einfachsten Fall! Ich wollt dich doch nur erinnern an das, was wir vorgestern besprochen haben – also sei so gut, ja? (Ab.) 얍 Z WEI F ASCHISTEN (sind inzwischen mit den beiden Frauenzimmern verschwunden).

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D ER D RITTE (fixiert nun Anna). A NNA (plötzlich) Nun? D ER D RITTE (grinst). A NNA (lächelt) Nun? K ARL (erscheint hinter dem Faschisten). A NNA (fährt zurück). K ARL Pardon! D ER D RITTE (grinst; er grüßt Anna spöttisch-elegant und ab). (Stille.) K ARL (unterdrückt seine Erregung) Pardon, Gnädigste! A NNA Du Trottel! K ARL Um Gottes willen. Eine Anna und dieser Faschist, da stürzt ja in mir eine Welt zusammen – Wer ist jetzt verrückt? Ich oder du?! A NNA Du! Ich streng mich da an, fädel was ein, und du zertrampelst mir wieder alles, du unüberlegter Mensch! K ARL Unüberlegt! 얍 A NNA Und unverantwortlich! K ARL Unverantwortlich! Grad schimpft mich der Martin zusammen, weil ich mich für ein unpolitisches Weib interessier, und derweil bandelt die Seine mit einem Faschisten an – Meiner Seel, jetzt glaub ichs aber gleich, daß ich verrückt bin! Korrekt verrückt! So wie sichs gehört! A NNA So beruhig dich doch! K ARL O du mein armer Martin! A NNA Aber ich tu doch gar nichts ohne Martin! K ARL (starrt sie an) Wie, bitte? A NNA Ich tu doch gar nichts Unrechtes! K ARL So? A NNA Das ist doch alles in Ordnung – der Martin möcht doch nur etwas genauere Informationen über denen ihre Kleinkaliber haben – und dazu soll ich mich halt einem Faschisten nähern, um ihn auszuhorchen – (Stille.) K ARL (zündet sich eine Zigarette an). A NNA Was hast denn du jetzt gedacht? K ARL Ich? Pardon! 얍 A NNA Das war doch eine grobe Beleidigung – K ARL Pardon! A NNA Schäm dich! (Stille.) K ARL Anna. Ich habe schon viel erlebt auf erotischem Gebiete, und dann wird man halt mit der Zeit leicht zynisch. Besonders, wenn man so eine scharfe Beobachtungsgabe hat. Du bist natürlich eine moralische Größe. Du hast dich überhaupt sehr verändert. A NNA (lächelt) Danke. K ARL Bitte. Du warst mal nämlich anders. Früher. A NNA (nickt) Ja, früher. K ARL Da warst du nicht so puritanisch. (Stille.) A NNA (plötzlich ernst) Und?

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K ARL Wenn ich dich so seh, krieg ich direkt einen Moralischen. Der Martin hat schon sehr recht, man soll sich nicht so gehen lassen – jetzt hab ich halt schon wieder ein Rendezvous, sie ist zwar politisch indifferent – (Er sieht auf seine Armbanduhr.) 얍 A NNA Dann würd ich an deiner Stelle einen heilsamen Einfluß auf sie ausüben. K ARL Meiner Seel, das werd ich auch! Ehrenwort! A NNA Wie oft hast du das jetzt schon gesagt? K ARL Anna. Es ist wichtiger, seine Fehler einzusehen, als wie Fehler zu unterlassen. Wenn ich dir jetzt mein Ehrenwort gib, daß ich auf unserer italienischen Nacht heut nacht gewissermaßen eine passive Resistenz üben werd – A NNA Wie soll ich das verstehen? K ARL Also zum Beispiel: ich werd kein einziges Mal tanzen. Ehrenwort! Keinen Schritt! Auch mit ihr nicht! Es hat doch auch keinen Sinn, als Vieh durch das Leben zu laufen und immer nur an die Befriedigung seiner niederen Instinkte zu denken – (er legt seinen Arm unwillkürlich um ihre Taille, ohne zu wissen, was er tut). A NNA (nimmt seine Hand langsam fort von dort und sieht ihn lang an). K ARL (wird sich bewußt, was er getan hat). (Stille.) 얍 K ARL (tückisch) Aber komisch find ich das doch vom Martin. A NNA Was? K ARL Ich könnt es ja nie … A NNA Was denn? K ARL Ich kanns mir nicht vorstellen, wie er dich liebt. Ich meine: ob normal, so wie sichs gehört – A NNA Was willst du? K ARL Es tät mich nur interessieren. Wenn er nämlich so was von dir verlangt, er schickt dich doch gewissermaßen auf den politischen Strich – ob er dabei innere Kämpfe hat? A NNA Innere Kämpfe? K ARL Ja! (Stille.) A NNA Aber nein! Du kannst mich nicht durcheinander bringen! Ich kenn den Martin besser! Der steht über uns allen! Ich war blöd, dumm, verlogen, klein, häßlich – er hat mich emporgerissen. Ich war nie mit mir zufrieden. Jetzt bin ichs. K ARL (verbeugt sich leicht). 얍 A NNA Jetzt hab ich einen Inhalt, weißt du? (Langsam ab.) K ARL Pardon! (Sieht auf seine Armbanduhr, geht wartend auf und ab.) L ENI (kommt) Guten Abend, Herr Karl! Ich freu mich nur, daß Sie noch da sind! Ich konnt leider nicht früher! K ARL Wir haben ja noch Zeit. Und dann sieht es ja auch nicht schlechter aus, wenn man später kommt. L ENI Warum denn so traurig? K ARL Traurig? L ENI Nein, diese Stimme – wie aus dem Grab. (Sie lächelt.) K ARL Ich hab grad ein Erlebnis hinter mir. Nämlich ein politisches Erlebnis. Man müßt den Forderungen des Tages mehr Rechnung tragen, Fräulein. Ich glaub, ich bin verflucht. L ENI Aber Herr Karl! Wenn jemand einen so schönen Gang hat! (Sie lacht.) K ARL Wie?! (Er fixiert sie.)

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L ENI (verstummt). (Stille.) 얍 K ARL Ja, Fräulein, Sie verstehen mich anscheinend nicht, ich müßt Ihnen das nämlich stundenlang auseinandersetzen – Ich seh schwarz in die Zukunft, Fräulein. L ENI Geh, Sie sind doch ein Mann – K ARL Gerade als Mann darf man eher verzweifeln, besonders ich, weil ich den politischen Tagesereignissen näher steh. – Sie kümmern sich nicht um Politik? L ENI Nein. K ARL Das sollten Sie aber. L ENI Warum redens denn jetzt darüber? K ARL In Ihrem Interesse. L ENI Wollens mich ärgern? K ARL Es wär Ihre Pflicht als Staatsbürger – L ENI Warum wollens mir denn jetzt die ganze Stimmung verderben, ich hab mich ja schon so gefreut auf Ihre italienische Nacht! (Stille.) K ARL Ich bin nämlich nicht so veranlagt, daß ich eine Blume einfach nur so abbrech, am Wegrand. Ich muß auch menschlich einen 얍 Kontakt haben – und das geht bei mir über die Politik. L ENI Geh, das glaubens doch selber nicht! K ARL Doch! Ich könnt zum Beispiel nie mit einer Frau auf die Dauer harmonieren, die da eine andere Weltanschauung hätt. L ENI Ihr Männer habt alle eine ähnliche Weltanschauung. (Stille.) K ARL Sie sind doch eine Deutsche? L ENI Ja. K ARL Sehns, Fräulein, das ist der Fluch speziell von uns Deutschen, daß wir uns nicht um Politik kümmern, wir sind kein politisches Volk – bei uns gibts noch massenweis Leut, die keine Ahnung haben, wer sie regiert. L ENI Ist mir auch gleich. Besser wirds nicht. Ich schau, daß ich durchkomm. K ARL Mir scheint, Sie haben keine Solidarität. L ENI Redens doch nicht so protzig daher! K ARL Mir scheint, daß Sie gar nicht wissen, wer der Reichspräsident ist? 얍 L ENI Ich weiß nicht, wie die Leut heißen! K ARL Wetten, daß Sie nicht wissen, wer der Reichskanzler ist? L ENI Weiß ich auch nicht! K ARL Also das ist ungeheuerlich! Und wieder einmal typisch deutsch! Können Sie sich eine Französin vorstellen, die das nicht weiß? L ENI So gehens halt nach Frankreich! (Stille.) K ARL Wer ist denn der Reichsinnenminister? Oder wieviel Reichsminister haben wir denn? Ungefähr? L ENI Wenn Sie jetzt nicht aufhören, laß ich Sie da stehen! K ARL Unfaßbar! (Stille.) L ENI Das hab ich mir auch anders gedacht, diesen Abend. K ARL Ich auch. L ENI Einmal geht man aus – und dann wird man so überfallen.

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K ARL (sieht auf seine Armbanduhr) Jetzt wirds allmählich Zeit. 얍 L ENI Am liebsten möcht ich gar nicht mehr hin. K ARL (umarmt sie plötzlich und gibt ihr einen Kuß). L ENI (wehrt sich nicht). K ARL (sieht ihr tief in die Augen und lächelt geschmerzt) Ja, der Reichsinnenminister – (er zieht sie wieder an sich). 얍

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In den städtischen Anlagen, vor dem Denkmal des ehemaligen Landesvaters. Zwei B URSCHEN bemalen das Antlitz des Landesvaters mit roter Farbe. Ein D RITTER steht Schmiere. Es dämmert bereits stark. In weiter Ferne spielen die Faschisten den bayerischen Präsentiermarsch. B

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E RSTER Die werden morgen schauen, wie sehr sich Seine Majestät verändert haben – Seine Majestät haben einen direkt roten Kopf bekommen – einen blutroten Kopf – Z WEITER Wie stolz daß der dreinschaut! E RSTER (klatscht mit dem Pinsel in Seiner Majestät Antlitz) Schad, daß der nur einen Kopf hat! D RITTER Halt! Z WEITER Ha? D RITTER Meiner Seel, da kommen gleich zwei! Z WEITER Heim! E RSTER Fertig! (rasch ab mit den beiden anderen). (Jetzt wird es bald ganz Nacht.) 얍 A NNA (kommt mit einem Faschisten). D ER F ASCHIST Es ist das eine wirklich schöne Stadt hier, Ihre Stadt, Fräulein! Sie als Kind dieser Stadt muß das doch mit einem ganz besonderen Stolz erfüllen. A NNA Ich bin auch stolz, daß ich von hier bin. D ER F ASCHIST Ehre deine Heimat! Und was Sie hier für zweckmäßige Anlagen haben – A NNA Wollen wir uns nicht setzen? D ER F ASCHIST Gestatten! (Sie setzen sich.) A NNA Ich bin nämlich etwas müd, weil ich den ganzen Tag mitmarschiert bin. D ER F ASCHIST Haben Sie auch Militärmusik im Blut? A NNA Ich glaub schon, daß ich das im Blut hab – (sie lügt) nämlich mein Vater war ja aktiver Feldwebel! D ER F ASCHIST Stillgestanden! (Stille.) D ER F ASCHIST Das dort drüben, das ist doch das überlebensgroße Denkmal Seiner Majestät? A NNA Ja. 얍 D ER F ASCHIST Ich habe bereits die Ehre gehabt, es kennenzulernen. Wir hatten heut früh hier eine interne Gruppenaussprache – ein wirklich schönes Denkmal ist das, voller Stil. Schad, daß es schon so dunkel ist, man kanns ja gar nicht mehr bewundern! A NNA War die interne Gruppenaussprache sehr feierlich? 14

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D ER F ASCHIST Überaus! A NNA Über was hat man denn gesprochen? D ER F ASCHIST Über unsere Mission. – Es ist nicht wahr, wenn feige Söldner des Geldes sagen, wir seien in die Welt gesetzt, um zu leiden, zu genießen und zu sterben! Wir haben hier eine Mission zu erfüllen! Der eine fühlt den Trieb stärker in sich, der andere schwächer. In uns brennt er wie Opferfeuer! Wir gehen bis zum letzten durch! (Stille.) A NNA Ich möcht jetzt gern was wissen. D ER F ASCHIST Jederzeit! A NNA Ich bin nämlich politisch noch sehr unbedeutend und kenn mich noch nicht so recht aus mit Ihrer Bewegung – 얍 D ER F ASCHIST (unterbricht sie) Das Weib gehört an den heimischen Herd, es hat dem kämpfenden Manne lediglich Hilfsstellung zu gewähren! A NNA Ich wollt ja nur etwas wissen über die Zukunft, ungefähr – D ER F ASCHIST Fräulein, dringen Sie nicht in mich, bitte. Ich darf darüber nichts sagen, weil das ein heiliges Geheimnis ist. (Stille.) D ER F ASCHIST Und was sind das doch schon für ungereimte Torheiten, wenn man behauptet, wir seien keine proletarische Partei! Ich weiß, was ich rede! Ich gehör zu den gebildeteren Ständen und bin doch auch nicht der Dümmste! Ich bin Drogist. A NNA Jetzt wirds aber finster. D ER F ASCHIST (dumpf) Ja, finster. (Stille.) D ER F ASCHIST Finster wie in mir. Fräulein, ich kann Sie ja kaum mehr sehen – Ihr Blondhaar – A NNA Ich bin doch gar nicht blond, sondern brünett. 얍 D ER F ASCHIST Dunkelblond, dunkelblond – Hüte dich, Blondmädel, hüte dich! Du weißt, vor wem – Überhaupt hat uns der Jude in den Krieg hineinschlittern lassen! 1914 war es für ihn die höchste Zeit! Denn es hätte der Zeitpunkt kommen können, wo die Völker vielleicht hellhörig geworden wären. Nehmen wir einmal an, über die Welt wäre eine Epidemie gekommen, da hätten die Leute schon gesehen, daß die Juden dran schuld sind! – Blondmädel, in mir ist Freude, daß Sie sich von mir haben ansprechen lassen – A NNA Ich laß mich ja sonst nicht so ansprechen, aber – D ER F ASCHIST Aber? A NNA Aber von Ihresgleichen – Nein, nicht! – Nein, bitte – lassens mich, bitte! D ER F ASCHIST Bitte! Zu Befehl! (Stille.) A NNA Ich kann doch nicht gleich so. D ER F ASCHIST Aber das war doch nicht gleich so! Wir haben doch schon eine ganze Zeit gesprochen, zuerst über Kunst und dann über Ihre schöne Stadt und jetzt über unsere Erneuerung – (Stille.) 얍 D ER F ASCHIST (fährt sie plötzlich an) Und wissen Sie auch, wer uns zugrunde gerichtet hat?! Der Materialismus! Ich will Ihnen sagen, wie der über uns gekommen B

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ist, das kenne ich nämlich! Mein Vater ist nämlich seit dreiundzwanzig Jahren selbständig. Das war nämlich so. Wo man hinkam, hatte der Jude schon alles weggekauft. Der ist nämlich einfach hergegangen und hat überall das billigste Angebot herausgeschunden. Alles wurde so in den Strudel mit hineingerissen und so hat sich, nicht wahr, der materialistische Geist immer breiter gemacht. Aber wir sind eben zu weibisch geworden! Es wird Zeit, daß wir uns wieder mal die Hosen anziehen und merken, daß wir Zimbern und Teutonen sind! (Er wirft sich auf sie). A NNA Nicht! Nein! (Sie wehrt sich.) (Jetzt fällt Licht auf das Denkmal, und man sieht nun Seine Majestät mit dem roten Kopf.) D ER F ASCHIST (läßt ab von Anna, heiser) Was? – Nein, diese Schändung – diese Schändung – Der Gott, der Eisen wachsen ließ! – Rache! – Gott steh uns bei! Deutschland erwache! (In der Ferne das Hakenkreuzlied.)

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Im Gartenlokal des Josef Lehninger. Mit Musik. D IE F ASCHISTEN (trinken Bier und singen) Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, Daß ich so traurig bin, Ein Märchen aus uralten Zeiten, Das kommt mir nicht aus dem Sinn. Die Luft ist kühl, und es dunkelt, Und ruhig fließet der Rhein – – E IN F ASCHIST Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein – A LLE F ASCHISTEN Wir alle wollen Hüter sein! Lieb Vaterland magst ruhig sein, Lieb Vaterland magst ruhig sein, Fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein, Fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein! 얍 D IE F ASCHISTEN (mit dem Bierkrug in der Hand) Heil! Heil! Heil! (Saufen.) (Musik spielt nun: „Stolz weht die Flagge schwarzweißrot“) D ER L EUTNANT (mit der Landkarte; er winkt einen Faschisten an sich heran) Also unsere Nachtübung. Hinter diesem Morast liegt zum Beispiel Frankreich, gleich neben der angelsächsischen Artillerie. Oben und unten Bolschewiken. Verstanden? D ER F ASCHIST Zu Befehl! D ER L EUTNANT Und wir? Wir sind hier im Wald. Im d e u t s c h e n Wald. Eigentlich ist das sogar symbolisch. Wir werden überfallen, selbstverständlich. Es läßt sich doch durch die ganze Weltgeschichte verfolgen, daß wir Deutschen noch niemals einem anderen Volke irgend etwas Böses getan haben. Nehmen wir nun mal an, die ganze Welt wäre gegen uns – W IRT Entschuldigens bitte! D ER L EUTNANT Herr Lehninger! W IRT Herr Leutnant, ich brauch jetzt nämlich mein Lokal –

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얍 D ER L EUTNANT Was soll das? W IRT Es wird allmählich Zeit – Sie müssen jetzt mein Lokal verlassen – D ER L EUTNANT Mensch, was erlaubt er sich?! W IRT Aber das ist doch nur meine vaterländische Pflicht, daß ich Sie daran erinner – sonst versäumen Sie ja noch Ihre diversen Nachtübungen – (Stille.) D ER L EUTNANT (läßt den Faschisten wegtreten; ruft) Czernowitz! C ZERNOWITZ (ein Gymnasiast) Zu Befehl, Herr Leutnant! D ER L EUTNANT Herr Major erwarten uns im Wald. Herr Major werden sein Referat in unserem deutschen Walde halten. Haben Sie das Referat fertig? C ZERNOWITZ Jawohl, Herr Leutnant! (Er reicht ihm einige Blätter aus einem Schulheft). D ER L EUTNANT Titel? C ZERNOWITZ Was verdanken uns Deutschen die Japaner? 얍 D ER L EUTNANT Richtig! – Kerl, warum haben Sie das nicht ins reine geschrieben? C ZERNOWITZ Sie kennen meinen Vater nicht, Herr Leutnant! Der kümmert sich nur um meine Schulaufgaben! Meine Familie versteht mich nicht, Herr Leutnant. Als ich mich neulich freute, daß wir so viele Feinde haben, weil das doch eine Ehre ist – da hat mir mein Vater eine heruntergehauen. Wenn meine Mutter nicht wär, Herr Leutnant – meine Mutter ist noch die einzige, die mich versteht – Mein Vater ist liberal. (Stille.) D ER L EUTNANT Weggetreten! C ZERNOWITZ (kehrt). D ER L EUTNANT Angetreten! D IE F ASCHISTEN (treten an). D ER L EUTNANT Stillgestanden! Rechts um! Abteilung – Marsch! D IE F ASCHISTEN (ziehen ab. Und die Musik spielt den bayerischen Präsentiermarsch). W IRT (holt die schwarzweißrote Fahne herunter und hißt die schwarzrotgoldne). 얍 (Nun ist es finster geworden und nun steigt die republikanische italienische Nacht. Mit Girlanden und Lampions, Blechmusik und Tanz. – Mitglieder und Sympathisierende ziehen mit Musik in das Gartenlokal ein, und zwar auf die Klänge des Gladiatorenmarsches; allen voran der S TADTRAT A MMETSBERGER, K RANZ , B ETZ , E NGELBERT mit ihren Damen. Auch K ARL und L ENI sind dabei. Und auch M ARTIN kommt mit seinen Kameraden, finster und entschlossen – und setzt sich abseits mit ihnen.) S TADTRAT Meine Damen und Herren! Kameraden! Noch vor wenigen Stunden hatte es den Anschein, als wollte das uns Menschen, und nicht zu guter Letzt uns Republikanern, so feindlich gesinnte höhere Schicksal, daß unser aller heißer Wunsch, unser ersehnter Traum, unsere italienische Nacht nicht Wirklichkeit wird. Kameraden! Im Namen des Vorstandes kann ich euch die erfreuliche Mitteilung machen, daß wir unser Schicksal überwunden haben! Wenn ich hier diese stimmungsvolle Pracht sehe, diesen Jubel in all den erwartungsvollen Antlitzen, bei jung und auch bei alt, so weiß ich, was wir überwunden haben! Und so wünsche ich, daß diese unsere Gartenunterhaltung, diese unsere republikanische italienische Nacht allen Anwesenden unvergeßlich bleiben soll! Ein Hoch auf das in der Republik geeinte deutsche Volk. Hoch! Hoch! Hoch! 얍 A LLE außer M ARTINS K AMERADEN (erheben sich) Hoch! Hoch! Hoch! (Musiktusch.)

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S TADTRAT Setzen! E NGELBERT Meine Damen und Herren! Kameraden! Liebe Sympathisierende! Ich freue mich, daß wir hier sind! Antreten zur Française! (Der S TADTRAT , B ETZ , K RANZ , E NGELBERT usw. mit ihren Damen tanzen nun eine Française – M ARTIN und seine Kameraden sehen finster zu. – Jetzt spielt die Musik einen Walzer.) E NGELBERT Damenwahl! Damenwahl! M ARTIN (zu seinen Kameraden) Daß mir nur keiner tanzt! Disziplin, muß ich schon bitten – Disziplin und Opposition! E INIGE F RÄULEINS (wollen mit Martins Kameraden tanzen, werden aber abgewiesen). L ENI (zu Karl) Also darf ich jetzt bitten? K ARL (schweigt). L ENI Also darf ich jetzt bitten zum letztenmal? K ARL (schweigt). L ENI Wie kann man ein Fräulein nur so bitten lassen – 얍 K ARL Glaubst du, daß ich das so leicht überwind? L ENI Zu was sind wir denn da, wenn wir nicht tanzen? K ARL Das hat einen tieferen Sinn. L ENI Und du willst ein Mann sein? Und traust dich nicht einmal zu tanzen? K ARL Man kann als Mann vieles zurückziehen, aber sein Ehrenwort niemals. L ENI Ein richtiger Mann kann alles. Nein. Tu die Hand da weg. K ARL Was für eine Hand? L ENI Die deinige. K ARL Du weißt noch nicht, was Konflikte sind – sonst würdest du nicht so appellieren – (Er kommt mit ihr unwillkürlich ins Tanzen, und zwar links herum.) E RSTER K AMERAD Du, Martin, der hat doch deiner Anna sein Ehrenwort gegeben, daß er unser Mann ist – M ARTIN Er hat bei meiner Anna seine Ehre verpfändet, daß er keinen Schritt tanzen wird, sondern daß er sich unseren Parolen anschließen wird, und zwar durchaus radikal. 얍 Z WEITER K AMERAD Ein Schuft, ein ganz charakterloser. D RITTER K AMERAD Einer mehr. E RSTER K AMERAD Und jedesmal wegen einem Frauenzimmer – V IERTER K AMERAD Die bildet sich aber was ein! D RITTER K AMERAD Gott, wie graziös! E RSTER K AMERAD Die wirds auch nimmer begreifen, wos hingehört. Z WEITER K AMERAD Wer ist denn das Frauenzimmer? V IERTER K AMERAD Auch nur Prolet! E RSTER K AMERAD Nein. Das ist etwas bedeutend Feineres. Das ist eine Angestellte – (Er grinst.) D RITTER K AMERAD (lacht). V IERTER K AMERAD Wann gehts denn los? D RITTER K AMERAD (verstummt plötzlich). M ARTIN Wenn ich euch das Signal gib! Ich! (Er erhebt sich, tritt nahe an die Tanzenden heran und sieht zu; jetzt spielt die Musik einen Walzer, einige Paare hören auf zu tanzen – u.a. auch der Stadtrat Ammetsberger.) 얍 S TADTRAT Na was war das für eine Idee?

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E NGELBERT Eine Prachtidee! S TADTRAT Ich wußte es doch, daß so ein zwangloses gesellschaftliches Beisammensein uns Republikaner menschlich näherbringen würde. K RANZ (ist leicht angetrunken) Ich freu mich nur, daß wir uns von dieser Scheißreaktion nicht haben einschüchtern lassen, und daß wir diese bodenlose Charakterlosigkeit unseres lieben Josef mit einer legeren Handbewegung beiseite geschoben haben. Das zeigt von innerer Größe. S TADTRAT Eine Prachtidee! E NGELBERT Eine propagandistische Tat! K RANZ Diese Malefizfaschisten täten sich ja nicht wenig ärgern, wenn sie sehen könnten, wie ungeniert wir Republikaner uns hier bewegen! (Er torkelt etwas.) E NGELBERT Wo stecken denn jetzt diese Faschisten? B ETZ Ich hab was von einer Nachtübung gehört. 얍 E NGELBERT Na viel Vergnügen! K RANZ Prost! S TADTRAT Dieser kindische Kleinkaliberunfug. B ETZ Aber sie sollen doch auch Maschinengewehre – S TADTRAT (unterbricht ihn) Redensarten, Redensarten! Nur keinen Kleinmut, Kameraden! Darf ich euch meine Frau vorstellen, meine bessere Hälfte. K RANZ Sehr erfreut! E NGELBERT Angenehm! B ETZ Vom Sehen kennen wir uns schon. D IE BESSERE H ÄLFTE (lächelt unsicher). S TADTRAT So – woher kennt ihr euch denn? B ETZ Ich habe dich mal mit ihr gehen sehen. S TADTRAT Mich? Mit ihr? Wir gehen doch nie zusammen aus! B ETZ Doch. Und zwar dürft das so vor Weihnachten gewesen sein – S TADTRAT Richtig! Das war an ihrem Geburtstag! Der einzige Tag im Jahr, an dem sie mitgehen darf, ins Kino – (Er lächelt und 얍 kneift sie in die Wange.) Sie heißt Adele. Das heut ist nämlich eine Ausnahme, eine große Ausnahme – Adele liebt die Öffentlichkeit nicht, sie ist lieber daheim. (Er grinst.) Ein Hausmütterchen. K RANZ (zu Adele) Trautes Heim, Glück allein. Häuslicher Herd ist Goldes wert. Die Grundlage des Staates ist die Familie. Was Schönres kann sein als ein Lied aus Wien. (Er torkelt summend zu seinem Bier.) B ETZ Ein Schelm. E NGELBERT (zu Adele) Darf ich bitten! S TADTRAT Danke! Adele soll nicht tanzen. Sie schwitzt. (Pause. E NGELBERT tanzt nun mit einer Fünfzehnjährigen.) A DELE (verschüchtert) Alfons! S TADTRAT Nun? A DELE Ich schwitz ja gar nicht. S TADTRAT Überlaß das mir, bitte. A DELE Warum soll ich denn nicht tanzen? S TADTRAT Du kannst doch gar nicht tanzen! A DELE Ich? Ich kann doch tanzen! 얍 S TADTRAT Seit wann denn? A DELE Seit immer schon.

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S TADTRAT Du hast noch nie tanzen können! Selbst als blutjunges Mädchen nicht, merk dir das! Blamier mich nicht, Frau Stadtrat! (Er zündet sich eine Zigarre an.) (Pause.) A DELE Alfons, warum hast du gesagt, daß ich die Öffentlichkeit nicht liebe? Ich ging doch gern öfters mit. – Warum hast du das gesagt? S TADTRAT Darum. (Pause.) A DELE Ich weiß ja, daß du im öffentlichen Leben stehst, eine öffentliche Persönlichkeit – S TADTRAT Still, Frau Stadtrat! A DELE Du stellst einen immer in ein falsches Licht. Du sagst, daß ich mit dir nicht mitkomm – S TADTRAT (unterbricht sie) Siehst du! A DELE (gehässig) Was denn? S TADTRAT Daß du mir nicht das Wasser reichen kannst. (Pause.) 얍 A DELE Ich möcht am liebsten nirgends mehr hin. S TADTRAT Eine ausgezeichnete Idee! (Er läßt sie stehen; zu Betz) Meine Frau, was? (Er grinst und droht ihr schelmisch mit dem Zeigefinger.) Wenn du zum Weibe gehst, vergiß die Peitsche nicht. B ETZ Das ist von Nietzsche. S TADTRAT Das ist mir wurscht! Sie folgt aufs Wort. Das ist doch ein herrlicher Platz hier! Diese uralten Stämme und die ozonreiche Luft – (Er atmet tief.) B ETZ Das sind halt die Wunder der Natur. S TADTRAT Die Wunder der Schöpfung – es gibt nichts Herrlicheres. Ich kann das besser beurteilen, weil ich ein Bauernkind bin. Wenn man so in den Himmel schaut, kommt man sich so winzig vor – diese ewigen Sterne! Was sind wir daneben? B ETZ Nichts. S TADTRAT Nichts. Gott hat doch einen feinen Geschmack. B ETZ Es ist halt alles relativ. (Stille.) 얍 S TADTRAT Du, Betz, ich hab mir ein Grundstück gekauft. B ETZ Wo denn? S TADTRAT Fast ein Tagwerk. Mit einer Lichtung. – Schau, lieber guter Freund, die Welt hat Platz für anderthalb Milliarden Menschen, warum soll mir da nicht von dieser großen Welt so ein kleines Platzerl gehören – E RSTER K AMERAD (hat unfreiwillig gelauscht) Feiner Marxist. (Stille.) S TADTRAT Was hat der gesagt? B ETZ So laß ihn doch! A DELE Er hat gesagt: Feiner Marxist. S TADTRAT Wie du das einem so einfach ins Gesicht sagst. – Toll! A DELE Ich hab ja nur gesagt, was er gesagt hat. S TADTRAT Wer? Was sich da diese unreifen Spritzer herausnehmen! Überhaupt! (Er deutet auf Martin und seine Kameraden.) Dort hat noch keiner getanzt – saubere Jugend! Opposition und Opposition. Revolte oder dergleichen. Spaltungserscheinungen. Nötige Autorität. Man muß – (er will an seinen Biertisch, 얍 stockt jedoch, da er sieht, daß Martin und seine Kameraden eine leise debattierende Gruppe

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bilden; er versucht zu horchen – plötzlich geht er rasch auf Martin zu.) Martin, was hast du da gesagt? Feiner Marxist, hast du gesagt? M ARTIN Ich habs zwar nicht gesagt, aber ich könnts gesagt haben. S TADTRAT Und wie hättest du das gemeint, wenn du es gesagt hättest? M ARTIN Wir sprechen uns noch. (Er läßt ihn stehen.) (Akkord und Gong.) E NGELBERT (auf dem Podium) Meine Damen und Herren! Kameraden! Eine große erfreuliche Überraschung hab ich euch mitzuteilen. Es steht euch ein seltener Kunstgenuß bevor. Frau Hinterberger, die Gattin unseres verehrten lieben Kassierers, hat sich liebenswürdigerweise bereit erklärt, uns mit ihrer Altstimme zu entzücken! (Bravorufe und Applaus.) Ich bitte um Ruhe für Frau Hinterberger! F RAU H INTERBERGER (betritt das Podium, mit Applaus begrüßt) Ich singe Ihnen eine Ballade von Löwe, Heinrich der Vogler. (Sie 얍 singt die Ballade; großer Beifall, nur Martin und seine Kameraden beteiligen sich nach wie vor an keiner Ovation; nun wird wieder weitergetanzt.) L ENI (zu Karl) Das war aber schön. Ich bin nämlich sehr musikalisch. K ARL Das hab ich schon bemerkt. L ENI An was denn? K ARL An deinem Tanzen. Du hast ein direkt exorbitantes rhythmisches Feingefühl – L ENI Das hängt aber nicht nur von mir ab. Das hängt auch vom Herrn ab. K ARL Hast es also nicht bereut, daß du mir hierher gefolgt bist? L ENI (lächelt) Werd mir nur nicht wieder politisch. – Versprichs mir, daß du es nimmer werden wirst, auf Ehrenwort. K ARL Das ist nicht so einfach. L ENI Wieso? K ARL Nämlich, ich geb nur dann gern ein Ehrenwort, wenn ich dasselbe auch halten kann. Man bricht nämlich viel leichter so ein Ehrenwort, als wie daß man es hält. 얍 L ENI Wenn du es mir gibst, dann geb ich dir auch ein Ehrenwort – K ARL Du? L ENI Eine Frau hat nicht viel zu geben – aber wenn sie was gibt, macht sie den Mann zu einem König. M ARTIN (zu Karl) Karl, darf ich dich einen Augenblick – K ARL Bitte. (Zu Leni) Pardon! (Zu Martin) Nun? M ARTIN Du hast doch der Anna versprochen, nicht zu tanzen – alsdann: ich möchte nur konstatieren, daß du dein politisches Ehrenwort wegen einer Lustbarkeit gebrochen hast. K ARL (wird nervös) Hab ich das? M ARTIN Ja. Du hast mir sogar versprochen, daß, wenn es jetzt hier zu der bevorstehenden weltanschaulichen Auseinandersetzung – K ARL (unterbricht ihn) Also bitte, werd nur nicht wieder moralisch! M ARTIN Du hast halt wieder mal dein Ehr geschändet. K ARL Ist das dein Ernst? 얍 M ARTIN Jawohl, du Künstlernatur – (Pause.) K ARL (lächelt bös) Martin, wo steckt denn deine Anna? M ARTIN Was soll das? K ARL Die wird wohl bald erscheinen? M ARTIN Hast du sie gesehen?

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K ARL Ja. M ARTIN Allein oder mit? K ARL Mit. M ARTIN (lächelt) Dann ists ja gut. K ARL Meinst du? M ARTIN Ja. (Pause.) K ARL (grinst) Honni soit qui mal y pense! M ARTIN Was heißt das? K ARL (schadenfroh) Das ist französisch. (Pause.) M ARTIN Ich bin dir ja nicht bös, du tust mir leid. Es ist nämlich schad um dich mit deinen Fähigkeiten. Aber du hast immer nur Ausreden. Ein halber Mensch – (Er läßt ihn stehen.) (Akkord und Gong.) 얍 E NGELBERT (auf dem Podium) Meine Sehrverehrten! Kameraden! Und abermals gibts eine große erfreuliche Überraschung im Programm! In dem Reigen unserer künstlerischen Darbietungen folgt nun ein auserlesenes Ballett, und zwar getanzt von den beiden herzigen Zwillingstöchterchen unseres Kameraden Leimsieder, betitelt „Blume und Schmetterling“! D IE HERZIGEN Z WILLINGSTÖCHTERCHEN (dreizehnjährig, betreten das Podium, mit mächtigem Applaus begrüßt). S TADTRAT Bravo, Leimsieder! D IE HERZIGEN Z WILLINGSTÖCHTERCHEN (tanzen nun einen affektierten Kitsch – plötzlich ertönt aus Martins Gegend ein schriller Pfiff, die herzigen Zwillingstöchterchen zucken zusammen, tanzen aber noch weiter, jedoch etwas unsicher geworden; die, denen es gefällt, sehen entrüstet auf Martin – da ertönt abermals ein Pfiff, und zwar ein noch schrillerer). K RANZ (brüllt) Ruhe, Herrgottsakrament! Wer pfeift denn da, ihr Rotzlöffel?! Lümmel dreckige windige! E NGELBERT Wems nicht paßt, der soll raus!! 얍 R UFE Raus! Raus! (Tumult.) D IE HERZIGEN Z WILLINGSTÖCHTERCHEN (weinen laut). E RSTER K AMERAD (schlägt mit der Faust auf den Tisch) Wir wollen hier kein Säuglingsballett! K RANZ Halts Maul, sag ich! Z WEITER K AMERAD Halts du! E INE T ANTE Seht, wie die Kindlein weinen, ihr Rohlinge! D RITTER K AMERAD Hoftheater! V IERTER K AMERAD Hofoper! Oper! S TADTRAT Jetzt wirds mir zu dumm! E INIGE K AMERADEN Huuu! S TADTRAT Oh, ich bin energisch! D IE K AMERADEN Huuu! S TADTRAT Jetzt kommt die Abrechnung! B

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D RITTER K AMERAD Tatü tata! D IE T ANTE O diese Jugend! V IERTER K AMERAD Feiner Marxist! 얍 D IE K AMERADEN (im Sprechchor) Feiner Marxist! Feiner Marxist! Feiner Marxist! Feiner Marxist! S TADTRAT Wer? Ich?! Ich hab das kommunistische Manifest bereits auswendig hersagen können, da seid ihr noch in den Windeln gelegen, ihr Flegel! (Pfiff.) D IE T ANTE Diese Barbaren stören ja nur den Kunstgenuß! V IERTER K AMERAD Du mit deinem Kunstgenuß! D RITTER K AMERAD Blume und Schmetterling! E RSTER K AMERAD Mist! Mist! Mist! K RANZ O ihr Kunstbarbaren! (Er fällt fast um vor lauter Rausch.) E NGELBERT Seht, was ihr angerichtet habt! Kindertränen! Schämt ihr euch denn gar nicht?! Oder habt ihr denn keine Ahnung, mit welcher Liebe das hier einstudiert worden ist – Wochenlang haben der Kamerad Leimsieder und seine Frau jede freie Minute geopfert, um uns hier beglücken zu können! 얍 E IN F REMDER K AMERAD (aus Magdeburg) Hätte er doch lieber seine freien Minuten geopfert, um die Schlagstärke unserer Organisation auszubauen! (Totenstille; maßlose Überraschung über die fremde Mundart.) S TADTRAT Ah, ein Preuße – (Sturm.) D IE D VORAKISCHE Stören Sie unsere Nacht nicht! M ARTIN Solche Nächte gehören gestört! D ER FREMDE K AMERAD Kameraden! M ARTIN Jetzt red ich! Kameraden! Indem daß wir hier Familienfeste mit republikanischem Kinderballett arrangieren, arrangiert die Reaktion militärische Nachtübungen mit Maschinengewehren! D ER FREMDE K AMERAD Genossinnen und Genossen! Wollt ihr es denn nicht sehen, wie sie das Proletariat verleugnen, verhöhnen und ausbeuten, schlimmer als je zuvor?! Und ihr? M ARTIN (unterbricht ihn) Und ihr?! Italienische Nächte! Habt ihr denn schon den Satz vergessen: Oh, wenn doch nur jeder Prolet sein Vergnügen in der republikanischen – 얍 D ER FREMDE K AMERAD (unterbricht ihn) In der revolutionären! In der revolutionären Tätigkeit fände! Es bleibt zu fordern – S TADTRAT Hier bleibt gar nichts zu fordern! M ARTIN Es bleibt zu fordern: sofortige Einberufung des Vorstandes und Beschlußfassung über den Vorschlag: D ER FREMDE K AMERAD Bewaffnung mit Kleinkalibern! K RANZ Halts Maul, Malefizpreuß dreckiger! R UFE Raus damit! Raus!! D ER FREMDE K AMERAD Genossinnen und Genossen! M ARTIN Jetzt red ich, Herrgottsakrament! Du bringst mich ja noch ganz aus dem Konzept! Ich möchte doch auch dasselbe, aber so kommen wir auf keinen grünen Zweig nicht! So laßt doch hier die angestammten Führer reden! S TADTRAT Kameraden! Ein Frevler wagt hier unser Fest zu stören, bringt kleine Kinderchen zum Weinen. – Kameraden, was Martin verlangt, ist undurchführbar!

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Wir wollen nicht in die Fußstapfen der Reaktion treten. Wir 얍 nehmen keine Kanonen in die Hand, aber wer die demokratische Republik ernstlich zu bedrohen wagt, der wird zurückgeschlagen! M ARTIN Mit was denn? S TADTRAT An unserem unerschütterlichen Friedenswillen werden alle Bajonette der internationalen Reaktion zerschellen. S IEBENTER K AMERAD (lacht ihn aus). S TADTRAT So sehen die Leute aus, die die Macht der sittlichen Idee leugnen! E RSTER K AMERAD Sprüch, du Humanitätsapostel! S TADTRAT Das sind keine Sprüch! Wir wollen keine Waffen mehr sehen, ich selbst hab zwei Brüder meiner Frau im Krieg verloren! V IERTER K AMERAD Im nächsten Krieg sind wirs, ich und der Stiegler und der da und der da! K RANZ (ahmt ihn nach) Und ich da und ich da und ich da! S TADTRAT Es hat eben keinen Krieg mehr zu geben! Dieses Verbrechen werden wir zu vereiteln wissen! Das werd ich schon machen! 얍 M ARTIN Genau wie 1914! S TADTRAT Das waren ganz andere Verhältnisse! D ER FREMDE K AMERAD Immer dasselbe, immer dasselbe! S TADTRAT Wo warst denn du 1914!? Im Kindergarten! D ER FREMDE K AMERAD Und du? Du hast auch schon 1914 mit den Taten deiner Vorfahren geprotzt, das können wir Jungen ja allerdings nicht! M ARTIN Kameraden!! Wenn das so weitergeht, erwachen wir morgen im heiligen römisch-mussolinischen Reich deutscher Nation! D ER FREMDE K AMERAD Genossinnen und Genossen!! K RANZ (außer sich) So schmeißt ihn doch naus, den Schnapspreußen, den hergelaufenen! Naus damit! Naus!! M ARTIN Ruhe!! Ein Preuße her, ein Preuße hin! Kurz und gut: der langen Rede kurzer Sinn: derartige italienische Nächte gehören gesprengt! Radikal, radikal! 얍 S TADTRAT Zur Geschäftsordnung! Ich fordere kraft unserer Statuten den sofortigen Ausschluß des Kameraden Martin! E NGELBERT Bravo! S TADTRAT Und zwar wegen unkameradschaftlichen Verhaltens! M ARTIN Bravo! Kommt! (Ab mit seinen Kameraden.) S TADTRAT Wir lassen uns unsere italienische Nacht nicht spalten, Kameraden! Seit vierzehn Tagen hab ich mich auf diese Nacht gefreut, und ich laß mich nicht spalten! Musik! Setzen! 얍

SECHSTES BILD Vor dem Wirtshaus des Josef Lehninger. M ARTIN und seine Kameraden verlassen die italienische Nacht. Rechts eine Bedürfnisanstalt.

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M ARTIN Also Ausschluß. Wegen unkameradschaftlichen Verhaltens. Wer lacht da nicht? (Stille.) Z WEITER K AMERAD Wohin?

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M ARTIN Zu mir. D ER FREMDE K AMERAD An die Arbeit! Wir dürfen keine Minute verlieren! M ARTIN Bald zieht sich die Bourgeoisie in den Turm der Diktatur zurück. D ER FREMDE K AMERAD Seid bereit! (Stille.) M ARTIN (leise, mißtrauisch) Wer ist denn das überhaupt? E RSTER K AMERAD Ich kenne ihn nicht. 얍 D RITTER K AMERAD Mir ganz unbekannt. (Sie gehen alle in die Bedürfnisanstalt.) D ER FREMDE K AMERAD (folgt ihnen) Ich bin aus Magdeburg, Genossen! M ARTINS S TIMME (aus der Bedürfnisanstalt) So, aus Magdeburg. Also aus Preußen bist du. – Alsdann: ich möchte dir nur die Mitteilung machen, daß ich hier der offizielle Führer bin, und dann ist das hier bei uns so Sitte, daß der berufene Führer die Aktion leitet, und sonst niemand. Ob der jetzt auch aus Magdeburg ist oder nicht. (Er erscheint wieder mit seinen Kameraden.) (Stille.) M ARTIN (zum ersten Kameraden) Ist das jetzt den Tatsachen entsprechend, daß du das Denkmal Seiner Majestät versaut hast? Z WEITER K AMERAD (gewollt hochdeutsch) Wir haben es uns erlaubt, das Denkmal Seiner Majestät mit etwas roter Farbe zu verunzieren. M ARTIN Wer wir? Z WEITER K AMERAD Ich. V IERTER K AMERAD Und ich. 얍 M ARTIN So. Alsdann du ebenfalls. Das ist natürlich gottverlassen blöd. Oder vielleicht, meine Herren?! D ER FREMDE K AMERAD Eine Denkmalsschändung ist natürlich lediglich Büberei. Kümmert euch doch nicht um die verjagten Dynastien, Jungs! Sorgt lieber dafür, daß man den Herren Kapitalisten dereinst keine Denkmäler errichtet! (Stille.) M ARTIN (bespricht sich leise mit seinen Kameraden; wendet sich dann dem fremden Kameraden zu) Ich will dir jetzt etwas sagen: ich meine, du bist ein Agent provocateur – D ER FREMDE K AMERAD (entsetzt) Genosse! M ARTIN Also das täte uns ja gerade noch abgehen, so fremde Provokateure – aus Magdeburg. (Er läßt ihn stehen.) D ER FREMDE K AMERAD Man könnte verzweifeln. M ARTIN Bist du noch da? Ja, bist du denn noch da?! (Er nähert sich ihm drohend.) D ER FREMDE K AMERAD (rasch ab). 얍 K ARL (kommt mit Leni aus dem Wirtshaus) Drinnen geht alles drunter und drüber. D RITTER K AMERAD Sehr erfreut! L ENI Alle Leut gehen fort. Die ganze Stimmung ist beim Teufel. S ECHSTER K AMERAD Dann ist sie dort, wo sie hingehört! K ARL Martin, ich bitte dich um Verzeihung. M ARTIN Wegen was? K ARL Daß ich mein Ehrenwort gebrochen hab. Das war natürlich eine Gaunerei, ich B

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hab mir das genau überlegt, aber es war halt nur scheinbar eine Gaunerei. Ich habs ja nur scheinbar gebrochen. M ARTIN Wie willst du das verstanden haben? K ARL Schau, ich mußte doch tanzen! Ich hab es nämlich deiner Anna versprochen, daß ich das Fräulein da hinter mir zu unseren Idealen bekehren werd, und da muß man doch so einem Fräulein entgegenkommen, so was geht doch nur nach und nach – M ARTIN Daß du immer nur Fräuleins bekehrst – 얍 K ARL Jeder an seinem Platz. Ich gehör halt zu einer älteren Generation als wie du, das macht schon was aus, obwohl zwischen uns ja nur fünf Jahre Unterschied sind, aber fünf Kriegsjahr – M ARTIN Die historischen Gesetze kümmern sich einen Dreck um Privatschicksale, sie schreiten unerbittlich über den einzelnen hinweg, und zwar vorwärts. K ARL Da geb ich dir vollständig recht. M ARTIN Du wärst ja brauchbar, wenn man dir glauben könnt. Aber das kann man eben nicht, weil du ein halber Mensch bist. K ARL Du hast halt keine Konflikte mit deiner Erotik. Meiner Seel, manchmal beneid ich dich! M ARTIN Und du tust mir leid. Ich habs immer wieder versucht mit dir. Jetzt ists aus. Ich leg keinen Wert mehr auf deine Mitarbeit. K ARL (verbeugt sich leicht) Bitte! Pardon! (Ab mit Leni.) (Auch die Kameraden sind während dieser Szene verschwunden.) A NNA (kommt). M ARTIN Anna! 얍 A NNA Jetzt bin ich aber erschrocken! M ARTIN Du? A NNA Ich dacht, du wärst wer anders – M ARTIN So. A NNA Du warst mir jetzt so fremd. M ARTIN (fast spöttisch) War ich das? – Hast was erreicht? A NNA Verschiedenes. M ARTIN Erstens? A NNA Erstens hab ich erfahren, daß diese Faschisten unsere italienische Nacht sprengen wollen – M ARTIN (unterbricht sie) Erstens ist das nicht unsere italienische Nacht! Und zweitens ist denen ihre italienische Nacht bereits gesprengt. Ich persönlich hab sie gesprengt. A NNA Schon? M ARTIN Später! Und? A NNA Die Faschisten wollen hier alles verprügeln. M ARTIN So ists recht! Das vergönn ich diesem Vorstand! Diese Spießer sollen jetzt nur 얍 mal am eigenen Leibe die Früchte ihrer verräterischen Taktik verspüren! Wir Jungen überlassen sie ihrem Schicksal und bestimmen unser Schicksal selbst! A NNA Das würd ich aber nicht tun. M ARTIN Was heißt denn das? A NNA Ich würds nicht tun. Ich würd ihnen schon helfen, sie stehen uns doch immer noch näher als die anderen.

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M ARTIN Was du da nicht sagst! A NNA Wenn ich dem Stadtrat auch vergönn, daß er verprügelt wird, aber es sind doch auch noch andere dabei, dies vielleicht ehrlich meinen – M ARTIN (spöttisch) Meinst du? A NNA Und zu guter Letzt geht das doch keinen Dritten was an, was wir unter uns für Konflikte haben! Das sind doch unsere Konflikte! M ARTIN (gehässig) Ich glaub, daß das deine Privatansicht ist. A NNA Red nicht so hochdeutsch, bitte. (Stille.) 얍 M ARTIN Und? A NNA Sonst nichts. Die Faschisten sind halt ganz fürchterlich wütend. – Es soll heut abend irgendein Denkmal verunreinigt worden sein. M ARTIN Ja, das war der Stiegler, dieser Idiot – A NNA Martin! M ARTIN (überrascht) Ha? A NNA Martin, weil einer von uns das Denkmal verdreckt hat, sollen jetzt die anderen da drinnen verprügelt werden?! Das find ich aber feig! Das ist unser nicht würdig! Das ist ungerecht – (Sie stockt, da Martin plötzlich fasziniert auf ihren Hals starrt.) (Stille.) M ARTIN (leise) Was ist denn das dort für ein Fleck? A NNA Wo? M ARTIN Da. A NNA Da? Das ist ein Fleck – (Stille.) A NNA Morgen wird er blau. M ARTIN So. 얍 A NNA Er war halt so grob. M ARTIN (etwas unsicher) So, war er das – A NNA So sind sie alle, die Herren Männer. (Stille.) M ARTIN Schau mich an. A NNA (schaut ihn nicht an). M ARTIN Warum schaust mich denn nicht an? A NNA Weil ich dich nicht anschaun kann. M ARTIN Und warum kannst du mich jetzt nicht anschaun? Schau mich doch nicht so dumm an, Herrgottsakrament! (Stille.) A NNA Mir war jetzt nur plötzlich so eigenartig – M ARTIN Wieso? A NNA Was du da nämlich von mir verlangst, daß ich mich nämlich mit irgendeinem Faschisten einlaß – und daß gerade du das verlangst – M ARTIN Was sind denn das für neue Gefühle? A NNA Nein, das waren alte – B

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얍 M ARTIN Du weißt, daß ich diese primitiven Sentimentalitäten nicht mag. Was sollen denn diese überwundenen Probleme? Nur keine Illusionen, bitte! A NNA Jetzt redst du wieder so hochdeutsch. (Stille.) M ARTIN Anna, also grob war er zu dir, – der Herr Faschist. A NNA Ja. M ARTIN Sehr grob? A NNA Nicht besonders. (Stille.) M ARTIN Aber grob war er doch. – Es ist vielleicht tatsächlich unter unserer Würde. A NNA Was? M ARTIN Daß wir nun diesen Vorstand da drinnen für unsere versaute Majestät verprügeln lassen – von diesen Herren Faschisten. A NNA Siehst du! M ARTIN Was soll ich denn sehen?! Gar nichts seh ich! Nichts! Radikal nichts! Aber, verstehst mich: diesen Triumph wollen wir den Herren Faschisten nicht gönnen! Komm! (Ab mit Anna.) 얍 K ARL (kommt mit Leni. Beide scheinen verstimmt zu sein. Sie setzen sich auf eine Bank neben der Bedürfnisanstalt). L ENI Warum schweigst du schon so lang? K ARL Weil es mir weh um das Herz herum ist. L ENI Aber du kannst doch nichts dafür, daß diese italienische Nacht mit einem Mißton geendet hat! K ARL Ich danke dir. (Er drückt ihr die Hand und vergräbt dann den Kopf in seinen Händen; Stille.) L ENI Dein Kamerad Martin erinnert mich an einen Bekannten. Mit dem war auch nicht zu reden, weil er nichts anderes gekannt hat wie sein Motorrad. Er hat zahlreiche Rennen gewonnen, und ich hab ihn halt in seinem Training gestört. Sei doch nicht so traurig – K ARL Jetzt möcht ich am liebsten nicht mehr leben. L ENI Warum denn? K ARL Ich hab halt ein zu scharfes Auge. Ich seh, wie sich die Welt entwickelt, und dann denk ich mir, wenn ich nur ein paar Jahre jünger 얍 wär, dann könnt ich noch aktiv mittun an ihrer Verbesserung – aber ich bin halt verdorben. Und müd. L ENI Das redst du dir nur ein. K ARL Ein halber Mensch! Nur die eine Hälfte hat Sinn für das Gute, die andere Hälfte ist reaktionär. L ENI Nicht deprimiert sein – K ARL Ich glaub, ich bin verflucht – L ENI Nein, nicht! K ARL (erhebt sich) Doch! (Stille.) K ARL (setzt sich wieder). L ENI Glaubst du an Gott? K ARL (schweigt). L ENI Es gibt einen Gott, und es gibt auch eine Erlösung. K ARL Wenn ich nur wüßt, wer mich verflucht hat. L ENI Laß mich dich erlösen.

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K ARL Du? Mich? 얍 L ENI Ich hab viertausend Mark, und wir gründen eine Kolonialwarenhandlung – K ARL Wir? L ENI Draußen bei meinem Onkel – K ARL Wir? L ENI Ich und du. (Stille.) K ARL In bar? L ENI Ja. (Stille.) K ARL Was denkst du jetzt? Denkst du jetzt an eine Ehegemeinschaft? Nein, dazu bist du mir zu schad! L ENI Oh, Mann, sprich doch nicht so hartherzig! Ich kenn dich ja schon durch und durch, wenn ich dich auch erst kurz kenn! (Sie wirft sich ihm an den Hals; große Kußszene.) K ARL Ich hab ja schon immer von der Erlösung durch das Weib geträumt, aber ich habs halt nicht glauben können – ich bin nämlich sehr verbittert, weißt du! L ENI (gibt ihm einen Kuß auf die Stirn) Ja, die Welt ist voll Neid.

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SIEBENTES BILD

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Im Gartenlokal des Josef Lehninger. Die republikanische italienische Nacht ist nun korrekt gesprengt – nur der Vorstand sitzt noch unter den Lampions, und zwar: der S TADTRAT A MMETSBERGER mit A DELE , B ETZ , E NGELBERT und K RANZ . Letzterer schnarcht über einen Tisch gebeugt. Es geht bereits gegen Mitternacht, und Adele fröstelt, denn es weht ein kaltes Windchen. B ETZ Was tun, spricht Zeus. E NGELBERT Heimwärts? S TADTRAT (schnellt empor) Und wenn die Welt voll Teufel wär, niemals! Wir lassen uns unsere italienische Nacht nicht sprengen! Kameraden, wir bleiben und weichen nicht – bis zur Polizeistund. (Er setzt sich wieder.) E NGELBERT Hört, hört! S TADTRAT (steckt sich nervös eine Zigarre an). K RANZ (erwacht und gähnt unartikuliert; zu Betz) Du, ich hab jetzt grad was Fesches geträumt. 얍 B ETZ Wars angenehm? K RANZ Sehr. Ich hab nämlich grad was von einer Republik geträumt, und das war eine komplette Republik, sogar die Monarchisten waren verkappte Republikaner – B ETZ Also das dürft ein sogenannter Wunschtraum gewesen sein. K RANZ Ha? E NGELBERT Wie wärs denn mit einem kleinen Tarock? S TADTRAT Tarock? E NGELBERT Einen Haferltarock – K RANZ Haferltarock! S TADTRAT Das wär ja allerdings noch das Vernünftigste –

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E NGELBERT Karten hab ich. – (Er setzt sich mit dem Stadtrat und Kranz unter den hellsten Lampion, mischt und teilt.) Eine Idee! B ETZ (kiebitzt). S TADTRAT Erster! E NGELBERT Zweiter! K RANZ Letzter! 얍 S TADTRAT Solo! K RANZ Und das Licht leuchtet in der Finsternis – (Er spielt aus.) (Jetzt weht der Wind stärker.) A DELE (erhebt sich und fröstelt) Alfons! S TADTRAT (läßt sich nicht stören) Bitte? A DELE Wann gehen wir denn endlich? S TADTRAT Zweimal sag ichs nicht! Eichel! A DELE Ich erkält mich noch – S TADTRAT Das tät mir aber leid, Herz! K RANZ Und Herz! E NGELBERT Und Herz! B ETZ (nähert sich Adele) Wir bleiben bis zur Polizeistund, Frau Stadtrat. A DELE Wann ist denn Polizeistund? B ETZ Um zwei. A DELE Und jetzt? B ETZ Jetzt gehts gegen zwölf. A DELE O Gott. S TADTRAT (zu Betz) So laß sie doch, bitte! (Stille.) 얍 A DELE Hier hol ich mir noch den Tod. B ETZ Oder eine Lungenentzündung. (Pause.) B ETZ Der schönste Tod ist ja allerdings der Tod für ein Ideal. A DELE Ich kenn kein Ideal, für das ich sterben möcht. B ETZ (lächelt leise) Auch nicht für die Ideale, für die sich Ihr Herr Gemahl aufopfert? A DELE Opfert er sich denn auf? B ETZ Tag und Nacht. A DELE Sie müssens ja wissen. B ETZ Es ist natürlich alles relativ. (Pause.) A DELE Glaubens mir, daß ein Mann, der wo keine solchen öffentlichen Ideale hat, viel netter zu seiner Familie ist. Ich meine das jetzt rein menschlich. Sie sind ein intelligenter Mann, Herr Betz, das hab ich schon bemerkt. S TADTRAT Über was unterhaltet ihr euch denn dort so intensiv? B ETZ Über dich. 얍 S TADTRAT Tatsächlich? Habt ihr denn kein dankbareres Thema? A DELE (boshaft) Alfons! S TADTRAT Na was denn schon wieder? A DELE Ich möcht jetzt gern noch ein Schinkenbrot. S TADTRAT Aber du hast doch bereits zwei Schinkenbrote hinter dir! Ich meine, das dürfte genügen! (Er zündet sich eine neue Zigarre an.)

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A DELE Wenn du deine Zigarren – S TADTRAT (unterbricht sie) O du unmögliche Person! Pfui! – Und ziehen tut sie auch nicht, weil du mir nichts vergönnst! (Er wirft wütend seine Zigarre fort.) Eine unmögliche Zigarre! A DELE (erhebt sich) Ich möchte jetzt nach Haus. S TADTRAT Also werd nur nicht boshaft, bitte! A DELE Ich geh – S TADTRAT Ich bleib. A DELE So komm doch! S TADTRAT Nein! Bleib, sag ich! 얍 A DELE Nein, ich muß doch schon wieder um sechse raus, deine Hemden waschen und – S TADTRAT Du bleibst, sag ich! A DELE Hier hol ich mir noch den Tod – S TADTRAT Du bleibst und basta! Verstanden?! A DELE (setzt sich wieder und lächelt geschmerzt). S TADTRAT Spiele! E NGELBERT Weiter! K RANZ Spiele auch! E NGELBERT Und zwar? K RANZ Gras! S TADTRAT Schnecken! Bettel! Jawohl, Bettel! Und herauskommen tu ich selber – (Er gewinnt rasch und lacht schallend). (Stille.) B ETZ Warum gehen Sie eigentlich nicht allein nach Hause? A DELE Weil er mich allein nicht läßt. B ETZ Nicht läßt? Auch allein nicht läßt? Er hat doch kein Recht über Ihre Person. – Meiner Seel, da erscheint er mir nun plötzlich in einem ganz anderen Licht, obwohl ich darauf gewartet hab. – Alfons Ammetsberger, mein 얍 alter Kampfgenosse – fünfunddreißig Jahr. – Ja, ja, das wird wohl das Alter sein. Ob ich mich auch so verändert hab? S TADTRAT (zu Betz) Ich bitt dich, Betz, so laß sie doch in Ruh! W IRT (erscheint; er ist schwer besoffen und grüßt torkelnd, doch keiner beachtet ihn; er grinst) Boykottiert mich nur, boykottiert mich nur! Mir ist schon alles wurscht, ich wein euch keine Träne nach! Überhaupt sind die Reaktionäre viel kulantere Gäst. – Eure jungen Leut saufen ja so bloß a Limonad! Feine Republikaner! Limonad, Limonad! K RANZ Halts Maul! W IRT (plötzlich verträumt) Ich denk jetzt an meinen Abort. Siehst, früher da waren nur so erotische Sprüch an der Wand dringestanden, hernach im Krieg lauter patriotische und jetzt lauter politische – glaubs mir: solangs nicht wieder erotisch werden, solang wird das deutsche Volk nicht wieder gesunden – K RANZ Halts Maul, Wildsau dreckige! W IRT Wie bitte? – Heinrich, du bist hier noch der einzig vernünftige Charakter, was hat jener Herr dort gesagt? 얍 B ETZ Er hat gesagt, daß du dein Maul halten sollst. B

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W IRT Hat er? Dieser schlimme Patron. – Apropos: ich hab eine reizende Neuigkeit für euch, liebe Leutl! K RANZ Wir sind nicht deine lieben Leutl! W IRT Was hat er gesagt? B ETZ Daß wir nicht deine lieben Leutl sind, hat er gesagt. W IRT Hat er das gesagt? – Alsdann: meine Herren! Ich beehre mich, Ihnen eine hocherfreuliche Mitteilung zu machen: Sie sind nämlich umzingelt, meine Herren, radikal umzingelt! S TADTRAT (horcht auf). B ETZ Wer ist umzingelt? W IRT Ihr, meine Herren! E NGELBERT Wieso? W IRT Meine Herren! Ich habs nämlich grad erfahren, daß euch die Herren Faschisten verprügeln wollen – S TADTRAT (erhebt sich). 얍 W IRT Die Herren Faschisten behaupten nämlich, daß ihr, meine Herren, das Denkmal verdreckt habt – S TADTRAT Was für Denkmal? W IRT Das Denkmal Seiner Majestät. E NGELBERT Versteh kein Wort! W IRT Die Herren Faschisten haben nämlich eine pfundige Wut im Bauch und wollen die Ehre Seiner Majestät wiederherstellen! Durch Blut! Hurra! K RANZ O du dreiunddreißigjähriger angenagelter Himmiherrgott ! W IRT Leugnen hat doch gar keinen Sinn, meine Herren! Ihr seid überführt. Alle Indizien sprechen gegen euch. Kreuzverhör und so. S TADTRAT Lüge! Infame Lüge! Hier hat niemand eine Majestät verdreckt, bitt ich mir aus! W IRT (erhebt sein Glas) Sehr zum Wohle! (Er leert es.) (Stille.) B ETZ Josef, wer hat dir denn das gesagt, daß wir jetzt hier verprügelt werden sollen? 얍 W IRT Dem Martin seine Anna. S TADTRAT (scharf) Martin? Interessant! W IRT Diskretion Ehrensache! K RANZ Also jetzt bin ich schon ganz durcheinander! E NGELBERT Das kann doch nur ein Irrtum sein, nach den Gesetzen der Logik – S TADTRAT (scharf) Oder Verrat! Unsere Weste ist weiß. W IRT Weiß oder nicht weiß – jetzt gibts Watschen, meine Herren! K RANZ Du Judas! W IRT (weinerlich) Aber ich bin doch kein Judas, meine Herren! Ich bin euch doch innerlich immer treu geblieben, sogar noch nach der Revolution! Aber was ist denn das jetzt auch für eine verkehrte Welt! Früher, da war so ein Sonntag das pure Vergnügen, und wenn mal in Gottes Namen gerauft worden ist, dann wegen irgendeinem Trumm Weib, aber doch schon gar niemals wegen dieser Scheißpolitik! Das sind doch ganz ungesunde Symptome, meine Herren! 얍 K RANZ Ich möchte das Wort ergreifen! Ich möchte jetzt etwas vorschlagen! Ich möchte jetzt dafür plädieren, daß wir hier den weiteren Gang der Ereignisse seeB

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lenruhig abwarten, denn wir werden uns glänzend rechtfertigen, weil wir doch radikal unschuldig sind! E NGELBERT Hört, hört! S TADTRAT Lächerlich! B ETZ (zu Kranz) Du vergißt wieder mal unsere Aggressionstriebe – K RANZ Ha? W IRT Jetzt gibts Watschen – B ETZ Ich spreche jetzt von einem höheren Standpunkte aus. Der Mensch hat doch eine grausame Natur von Natur aus – man muß die Wahrheit vertragen können, lieber Freund! W IRT Oh, wie wahr! S TADTRAT Kameraden! Der Mensch ist ein schwaches Rohr im Winde, in bezug auf das Schicksal, ob er nun Monarchist ist oder ein Republikaner. Es gibt nun mal Augenblicke im Leben, wo sich auch der Kühnste der Stimme der Vernunft beugen muß, und zwar gegen sein 얍 Gefühl! Kameraden! Das wäre doch ein miserabler Feldherr, der seine Brigaden in eine unvermeidliche Niederlage hineinkommandieren tät! In diesem Sinne schließe ich nun hiermit unsere italienische Nacht! Vis major, höhere Gewalt! Wo ist mein Hut? B ETZ Ich bleib. S TADTRAT Wieso? B ETZ Ich bin da nämlich etwas anderer Meinung – S TADTRAT Da dürft es doch wohl keine andere Meinung geben! B ETZ Findst du? Wir haben doch in bezug auf das verdreckte Denkmal ein absolut reines Gewissen. E NGELBERT Sehr richtig! B ETZ Und infolgedessen find ich es nicht richtig, so davonzulaufen. S TADTRAT Nicht nicht richtig, klug! Diese Faschisten sind doch bekanntlich in der Überzahl und infolgedessen bekanntlich zu jeder Schandtat jederzeit bereit! Wo ist mein Hut? B ETZ Ich bleib. Und wenn sie mich verhaun! (Stille.) 얍 S TADTRAT (fixiert ihn höhnisch) Ach, der Herr sind Katastrophenpolitiker? Na viel Vergnügen! B ETZ Danke. S TADTRAT (grinst) Gott, wie heroisch! B ETZ Lieber Prügel als feig. (Stille.) S TADTRAT Findst du? A DELE Ich finds auch. S TADTRAT Du hast hier überhaupt nichts zu finden! A DELE Ich finds aber! S TADTRAT (nähert sich ihr langsam; unterdrückt) Du hast hier nichts zu finden, verstanden?! A DELE Ich sag ja nur, was ich mir denk. S TADTRAT Du hast hier nichts zu denken. A DELE (boshaft) Findst du? S TADTRAT Blamier mich nicht, ja! A DELE Nein.

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S TADTRAT (kneift sie). 얍 A DELE Au! Au! – S TADTRAT Wirst du dich beherrschen?! A DELE Au, Alfons! Au! S TADTRAT Daß du dich beherrschst! Daß du dich – A DELE (reißt sich kreischend los) Au! – Du mit deinem Idealismus! S TADTRAT O du unmögliche Person! A DELE O du unmöglicher Mann! Draußen Prolet, drinnen Kapitalist! Die Herren hier sollen dich nur mal genau kennenlernen! Mich beutet er aus, mich! Dreißig Jahr, dreißig Jahr! (Sie weint.) S TADTRAT (mit der Hand vor den Augen) Adele! Adele – (Stille.) S TADTRAT (nimmt langsam die Hand von den Augen) Wo ist mein Hut? W IRT (erhebt sich schwerfällig) Mit oder ohne Hut – du bist und bleibst umzingelt – (Er rülpst und torkelt ab.) A DELE (grinst plötzlich). S TADTRAT Lach nicht! 얍 A DELE Wenn ich dich so seh, find ich das direkt komisch, wie du da den jungen Menschen im Weg herumstehst – (Sie schluchzt wieder.) S TADTRAT Heul nicht! A DELE Das sind die Nerven – K RANZ Die typische Weiberlogik. A DELE (weinend) Hättest du zuvor die jungen Leut nicht nauswerfen lassen, würd sich jetzt niemand hertraun – jetzt sind wir doch lauter alte Krüppel – E NGELBERT Oho! S TADTRAT Herr im Himmel! A DELE Laß unseren Herrgott aus dem Spiel! K RANZ Es gibt keinen Gott. (Stille.) K RANZ Ich möchte das Wort ergreifen! Ich möchte jetzt etwas vorschlagen! Ich möchte jetzt dafür plädieren, daß es sozusagen etwas überstürzt war, den Martin so mir nix, dir nix auszuschließen, samt seinem Anhang – er hat doch einen ziemlichen Anhang, einen starken Anhang, und nicht den schlechtesten Anhang – und er hat doch sozusagen gar nicht so unrecht gehabt – 얍 S TADTRAT Findst du? K RANZ Wenn wir jetzt auch solche Kleinkaliber hätten als wie diese Faschisten, dann müßten wir uns jetzt nicht unschuldig verhaun lassen, sondern könnten uns wehren – w e h r e n – das ist doch logisch, ha? E NGELBERT Logisch oder nicht logisch! Nach den Statuten mußten wir Martin ausschließen! K RANZ Logisch oder nicht logisch! Ich scheiß dir was auf solche Statuten! E NGELBERT Hört, hört! K RANZ Das sind doch ganz veraltete Statuten. S TADTRAT Plötzlich? K RANZ Ich möchte jetzt offiziell dafür plädieren, daß unseres Kameraden Martin überstürzter Ausschluß wieder rückgängig gemacht werden soll. S TADTRAT Rückgängig? K RANZ Jawohl!

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S TADTRAT (sieht sich fragend um) Was ist das? B ETZ Ja! 얍 E NGELBERT Hm. S TADTRAT (zu Engelbert leise) Ja oder nein? (Stille.) E NGELBERT Ja. (Stille.) S TADTRAT Wo ist mein Hut? A DELE (reicht ihm seinen Hut) Da. S TADTRAT (setzt den Hut tief in die Stirne; tonlos) Ich werd mich aus dem politischen Leben zurückziehen – jetzt geh ich nirgends mehr hin – höchstens, daß ich noch kegeln werd oder singen – A DELE Endlich, Alfons! (Trompetensignal.) D ER M AJOR (in ehemaliger Kolonialuniform betritt mit zwei Faschisten rasch den Garten – er hält knapp vor dem Stadtrat und fixiert ihn grimmig). (Stille.) D ER M AJOR Ich habe bereits die zweifelhafte Ehre, Sie zu kennen. S TADTRAT (nickt apathisch). D ER M AJOR Ich sehe es Ihrem unsteten Blicke und den schuldbewußten Mienen Ihrer 얍 sauberen Genossen an, daß Sie den Zweck meines Kommens bereits erraten haben. E NGELBERT Wir sind radikal unschuldig! D ER M AJOR Ruhe! Jetzt habt ihr euch selbst verraten! (Totenstille.) D ER M AJOR (brüllt) Ruhe!! Kurzer Prozeß! Rotes Gesindel! B ETZ Es ist halt alles relativ – D ER M AJOR Maul halten! – Himmellaudon, mit euch werden wir noch fertig! Rache für Straßburg! Wir werden es euch zeigen, Denkmäler zu schänden – ihr habt unsere Ehre verletzt, an unserer Ehre klebt Blut! B ETZ Vollendeter Blödsinn! D ER M AJOR Was?! B ETZ (zündet sich eine Zigarre an). D ER M AJOR Rauchen Sie nicht! B ETZ Bitte – (Er legt die Zigarre fort). (Stille.) D ER M AJOR Czernowitz! C ZERNOWITZ Zu Befehl, Herr Major! 얍 D ER M AJOR Erzählen Sie doch mal – wie hat denn Ihr Herr Vater im Felde Kriegsgefangene, die es mit passiver Resistenz versuchten, behandelt? C ZERNOWITZ Er hat ihnen die Patronen in den Hintern schlagen lassen, wie einen Nagel in die Wand, Herr Major! D ER M AJOR (zu Betz) Verstanden? B ETZ Ich hab keinen Hintern – D ER M AJOR (geht um den Stadtrat herum; fährt ihn plötzlich an) Hände an die Hosennaht! Setzen! S TADTRAT (setzt sich wie geistesabwesend). D ER M AJOR (winkt dem einen Faschisten).

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D ER F ASCHIST (bringt dem Stadtrat Papier, Feder und Tinte). D ER M AJOR So. Schreiben Sie, was ich diktiere! S TADTRAT (folgt apathisch). D ER M AJOR (diktiert) Ich, der rote Stadtrat Alfons Ammetsberger, erkläre hiermit ehrenwörtlich – haben Sies? – e h r e n w ö r t l i c h – daß ich ein ganz gewöhnlicher – 얍 S TADTRAT (stockt). D ER M AJOR Schreiben Sie! S TADTRAT (schreibt wieder). D ER M AJOR (diktiert) – daß ich ein ganz gewöhnlicher – Schweinehund bin! S TADTRAT (stockt wieder). D ER M AJOR Na wirds bald? S TADTRAT (rührt sich nicht). D ER M AJOR Kerl, wenn Sie nicht parieren, kriegen Sie die Hosen voll! Schreiben Sie! Los! S TADTRAT (beugt sich langsam über das Papier – plötzlich fängt er an zu wimmern und zu schluchzen) Nein, aber ich bin doch kein – D ER M AJOR (unterbricht ihn brüllend) Sie sind aber ein Schweinehund, ein ganz ein gewöhnlicher Schweinehund!! A DELE Sie! Das ist kein Schweinehund, Sie! Das ist mein Mann, Sie! Was erlauben Sie sich denn überhaupt, Sie aufgedonnerter Mensch! So lassen Sie doch den Mann in Ruh! B ETZ Überhaupt mit welchem Recht – D ER M AJOR (unterbricht ihn) Maul halten! 얍 A DELE Halten Sie Ihr Maul! Und ziehen Sie sich mal das Zeug da aus, der Krieg ist doch endlich vorbei, Sie Hanswurscht! Verzichtens lieber auf Ihre Pension zugunsten der Kriegskrüppel und arbeitens mal was Anständiges, anstatt arme Menschen in ihren Gartenunterhaltungen zu stören, Sie ganz gewöhnlicher Schweinehund! D ER M AJOR Ordinäre Person! Na wartet! Draußen stehen vierzig deutsche Männer! (Rasch ab mit seinen Faschisten.) A DELE (ruft ihm nach) Das ist mein Mann da, verstanden?! (Riesiger Tumult vor dem Gartenlokal.) M ARTIN (mit Anna, gefolgt von seinen Kameraden, betritt rasch den Garten). A DELE Der Martin! M ARTIN Zu Befehl, gnädige Frau! Die Luft ist sozusagen rein, meine Herren! Sie müssen nämlich wissen, daß der Besuch der Herren Faschisten u n s gegolten hat, mir und meinen Kameraden – und nicht diesem Vorstand da. Und wir sind halt nun mal so veranlagt, daß wir für unsere Taten einstehen. Ich gestatte mir 얍 aber zu melden, daß hier niemand mehr eine Angst zu haben braucht, denn als die Herren Faschisten uns da draußen erblickt haben, da haben sie sich umgruppiert – radikal! Wir haben es halt wieder einmal geschafft! S TADTRAT Na also! – Von einer akuten Bedrohung der demokratischen Republik kann natürlich keineswegs gesprochen werden. Kameraden! Solange es einen republikanischen Schutzverband gibt – und solange ich hier die Ehre habe, Vorsitzender der hiesigen Ortsgruppe zu sein, solange kann die Republik ruhig schlafen! M ARTIN Gute Nacht!

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EIN WOCHENENDSPIEL Volksstück in sechs Bildern von Ödön Horváth. 5

Personen:

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S TADTRAT K RANZ E NGELBERT B ETZ W IRT M ARTIN K ARL M ARTINS G ENOSSEN A DELE A NNA L ENI D IE D VORAKISCHE Z WEI P ROSTITUIERTE F RAU H INTERBERGER G ESCHWISTER L EIMSIEDER R EPUBLIKANER UND F ASCHISTEN .

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Ort: Süddeutsche Kleinstadt. Zeit: 1930–?

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Erstes Bild Im Wirtshaus des Josef Lehninger. K RANZ , E NGELBERT und der S TADTRAT A MMETSBERGER spielen Tarock. K ARL kiebitzt. B ETZ trinkt zufrieden sein Bier. M ARTIN liest die Zeitung. Der W IRT bohrt in der Nase. Es ist Sonntagvormittag, und die Sonne scheint. (Stille) B ETZ Martin. M ARTIN Ha? B ETZ Was gibts denn Neues in der großen Welt? M ARTIN Nichts. – Daß das Proletariat die Steuern zahlt, und daß die Herren Unternehmer die Republik prellen, hint und vorn, das ist doch nichts Neues. Oder? B ETZ (leert sein Glas.) M ARTIN Und daß die Herren republikanischen Pensionsempfänger kaiserlich reaktionäre Parademärsch veranstalten mit Feldgottesdienst und Kleinkaliberschießen, und daß wir Republikaner uns das alles gefallen lassen, das ist doch auch nichts Neues. Oder? B ETZ Wir leben in einer demokratischen Republik, lieber Martin. (Jetzt zieht draußen eine Abteilung F ASCHISTEN mit Musik vorbei. Alle, außer M AR-

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und K RANZ , eilen an die Fenster und sehen sich stumm den Zug an – Erst als er vorbei ist, rühren sie sich wieder.) B ETZ Es ist alles relativ. S TADTRAT Von einer akuten Bedrohung der demokratischen Republik kann natürlich keineswegs gesprochen werden. Schon weil es der Reaktion an einem ideologischen Unterbau mangelt. Kameraden! Solange es einen republikanischen Schutzbund gibt, und solange ich hier die Ehre habe, Vorsitzender des hiesigen Republikanischen Schutzbundes zu sein, solange kann die Republik ruhig schlafen! E NGELBERT Bravo! K RANZ Ich möchte das Wort ergreifen! Ich möchte jetzt etwas vorschlagen! Ich möchte jetzt dafür plädieren, daß wir jetzt wieder weitertarocken und uns nicht wieder stören lassen von diesen germanischen Hoftrotteln samt ihrem dritten Reich! S TADTRAT Sehr richtig! K ARL Wie ist das eigentlich heut nacht? S TADTRAT Was denn? K ARL Na in bezug auf unsere italienische Nacht heut nacht – S TADTRAT (unterbricht ihn.) Natürlich steigt unsere italienische Nacht heut nacht! Oder glaubt denn da wer, daß es sich der Republikanische Schutzbund von irgendeiner reaktionären Seite her verbieten lassen könnt, hier bei unserem Freunde Josef Lehninger eine italienische Nacht zu arrangieren, und zwar wann er will?! Unsere republikanische italienische Nacht steigt heut nacht trotz Mussolini und Konsorten! (Er setzt sich nieder, mischt und teilt.) E NGELBERT (hat sich auch wieder gesetzt.) Daß du das nicht weißt! K ARL Woher soll ich denn das wissen? B ETZ Ich habs doch bereits offiziell verkündet. E NGELBERT Aber der Kamerad Karl war halt wieder mal nicht da. K ARL Ich kann doch nicht immer da sein! E NGELBERT Sogar beim letzten Generalappell war er nicht da, vor lauter Weibergschichten! K RANZ Solo! S TADTRAT Bettel! E NGELBERT Aus der Hand? S TADTRAT Aus der hohlen Hand! K ARL (zu B ETZ ) Soll ich mir das jetzt gefallen lassen? Das mit den Weibergeschichten? B ETZ Du kannst es doch nicht leugnen, daß dich die Weiber von deinen Pflichten gegenüber der Republik abhalten – K ARL Also das sind doch meine intimsten Privatinteressen, muß ich schon bitten! Und zwar energisch! (Stille) W IRT Obs wieder regnen wird? Jedsmal wenn ich eine Sau abstich, versaut mir das Wetter die ganze italienische Nacht. B ETZ Das glaub ich nicht. W IRT Warum? Weils ihr seid? B ETZ Nein. Sondern weil das Tief über Irland einem Hoch über dem Golf von Biskaya gewichen ist. W IRT Wer behauptet das? TIN

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B ETZ Die amtliche Landeswetterwarte. W IRT Geh laßts mich aus mit den Behörden! (Jetzt zieht draußen abermals eine Abteilung F ASCHISTEN mit Musik vorbei – A LLE lauschen, aber keiner tritt an das Fenster. Stille) B ETZ Es ist halt alles relativ. M ARTIN Aber was! Eine Affenschand ist das! Während sich die Reaktion bewaffnet, veranstalten wir braven Republikaner italienische Nächt! B ETZ Eigentlich ists ja unglaublich, daß die Reaktion derart erstarkt. M ARTIN Einen Dreck ist das unglaublich! Das konnt man sich ja direkt ausrechnen – Wer die wirtschaftliche Macht hat, hat immer recht, bekanntlich. Aber ihr vom Vorstand scheint das nicht zu wissen. Noch bild ichs mir ein, daß ihr wissen wollt, aber ab und zu fällts mir schon recht schwer – E NGELBERT Hoho! B ETZ Du bist halt ein Pessimist. M ARTIN Fällt mir nicht ein! S TADTRAT Ein Krakeeler ist er! Ein ganz gewöhnlicher Krakeeler. (Stille) M ARTIN (erhebt sich langsam.) Herr Stadtrat. Sag mal, Herr Stadtrat: kennst du noch einen gewissen Karl Marx? S TADTRAT (schlägt auf den Tisch.) Natürlich kenn ich meinen Marx! Und ob ich meinen Marx kenn! Und außerdem verbitt ich mir das! E NGELBERT Sehr richtig! K RANZ Solo! S TADTRAT Oder glaubst denn du, du oberflächlicher Phantast, daß kurz und gut mit der Verwirklichung des Marxismus kurz und gut das Paradies auf Erden entsteht? M ARTIN Was du unter kurz und gut verstehst, das weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, was du unter Paradies verstanden haben willst, aber ich kanns mir lebhaft denken, was du unter Marxismus verstehst. Verstanden? Was ich darunter versteh, daran glaub ich. K RANZ Solo, Herrgottsakrament! (Er spielt aus.) (Stille) B ETZ Weißt du, was ich nicht kann? M ARTIN Na? B ETZ Ich kann nicht glauben. (Stille) M ARTIN Das glaub ich gern, daß du nicht glauben kannst. Du kannst nicht glauben, weil du nicht mußt. Du bist ja auch kein Prolet, du pensionierter Kanzleisekretär – B ETZ Ich bin zwar Kanzleiobersekretär, aber das spielt natürlich keine Rolle. M ARTIN Natürlich. B ETZ Das ist gar nicht so natürlich! M ARTIN (glotzt ihn verdutzt an.) E IN F ASCHIST (erscheint im Lokal, begrüßt den W IRT von oben herab und bespricht mit ihm etwas scheinbar überaus Wichtiges. Der W IRT sieht immer bekümmerter drein. A LLE starren die beiden überrascht an und lauschen – Als der F ASCHIST wieder verschwunden ist, weicht der W IRT ihren Blicken scheu aus.) (Stille) S TADTRAT (erhebt sich langsam.) Wieso? E NGELBERT Was hat denn das vorstellen sollen, Josef?

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M ARTIN (grinst.) Eine kleine Konferenz – E NGELBERT Wer war denn dieser Herr, lieber Josef? K RANZ Ein Faschist wars, ein ganz ein dreckiger! W IRT (lächelt verzweifelt.) Nichts, Leutl! Nichts – (Er will ab.) B ETZ Halt! W IRT (hält.) B ETZ Ich hab jetzt nämlich gehorcht. M ARTIN Ich auch. B ETZ Lieber Josef, ich glaub gar, du bist ein grandioser Schuft. W IRT Das darfst du nicht sagen, Heinrich! B ETZ Ich sags sogar noch mal, lieber Josef! Na das ist empörend! Wir Republikaner sind deine Stammgäst, aber kaum daß diese Erzreaktionäre mal einen ihrer berüchtigten deutschen Tage veranstalten, schon stellst du ihnen für heut nachmittag dein Gartenlokal zur Verfügung! Und wir Republikaner, denkst du, kommen dann am Abend dran mit unserer italienischen Nacht und kaufen dir brav die Reste ab, die wo die Herren Reaktionäre nicht mehr zammfressen konnten! Ah das ist aber korrupt! E NGELBERT Hört, hört! W IRT Ich bin nicht korrupt! Das bin ich nicht, Leutl, das ist meine Frau – K ARL Papperlapapp! W IRT Ihr kennt meine Frau nicht, liebe Leutl! Die scheißt sich was um die politischen Konstellationen, der ist es sauwurscht, wer ihre Würst zammfrißt! Und ich Rindvieh hab mal von einem heiteren Lebensabend geträumt! Und wenn ich jetzt den schwarzweißroten Fetzen nicht raussteck, verderben mir sechzig Portionen Schweinsbraten, das war doch ein furchtbarer Blödsinn, die Reichsfarben zu ändern! Meiner Seel, ich bin schon ganz durcheinand! K RANZ (tritt vor den W IRT .) Wenn du jetzt nicht mein Freund wärst, tät ich dir jetzt ins Gsicht spucken, lieber Josef! E NGELBERT Bravo! (Stille) W IRT (verzweifelt) Meiner Seel, jetzt sauf ich mir einen an, und dann erschieß ich meine Alte. Und dann spring ich zum Fenster naus, aber vorher zünd ich noch alles an! Meine Herren! Leckts mich am Arsch! (ab) S TADTRAT (wirft zornbebend die Karten zu Boden.) (Stille) S TADTRAT Dieser Schmutz. (mit erhobener Stimme) Aber sehen möcht ich doch, welche Macht unsere italienische Nacht heut nacht zu vereiteln vermag! Kameraden! Wir weichen nicht, und wärs die vereinigte Weltreaktion! Unsere republikanische italienische Nacht steigt heut nacht, wie gesagt! Auch ein Herr Josef Lehninger wird uns keinen Strich durch die Rechnung machen! Kommt Kameraden! (ab) M ARTIN Hurrah! K RANZ Du Mephisto – A LLE (verlassen das Lokal.)

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Straße. Alle Häuser sind schwarzweißrot beflaggt, maßen die hiesige Ortsgruppe der F ASCHISTEN , wie dies auch ein Transparent verkündet, einen deutschen Tag veranstaltet. Eben zieht eine Abteilung mit Fahne, Musik und Kleinkalibern vorbei, gefolgt von Teilen der vaterländisch gesinnten Bevölkerung – Auch die D VORAKISCHE und das F RÄULEIN L ENI ziehen mit. L ENI Jetzt kann ich aber nicht mehr mit. D IE D VORAKISCHE Da tuns mir aber leid, Fräulein! L ENI Die Musik ist ja fein, aber für die Herren in Uniform könnt ich mich nicht begeistern. Die sehn sich alle so fad gleich. Und dann werdens auch gern so eingebildet selbstsicher. Da sträubt sich etwas in mir dagegen. D IE D VORAKISCHE Das glaub ich gern, weil Sie halt keine Erinnerung mehr haben an unsere Vorkriegszeit. L ENI Ich muß jetzt da nach links. D IE D VORAKISCHE Fräulein. Sie könnten mir eigentlich einen großen Gefallen tun – L ENI Gern! D IE D VORAKISCHE Ihr Herr Major muß doch ganz pompöse Uniformen haben – L ENI Ja das stimmt, weil er früher auch in den Kolonien gewesen ist, die wo uns Deutschen geraubt worden sind. D IE D VORAKISCHE Geh fragens doch mal den Herrn Major, ob er mir nicht so eine alte Uniform verkaufen möcht, es passiert Ihnen nichts – L ENI Wie meinens denn das? D IE D VORAKISCHE Das sagt man halt so. (Stille) L ENI Was möchtens denn mit der Uniform anfangen? D IE D VORAKISCHE (lächelt.) Anschaun. L ENI Ist das alles? D IE D VORAKISCHE Wie mans nimmt – (Stille) L ENI Nein, das wär mir, glaub ich, unheimlich – D IE D VORAKISCHE (plötzlich wütend) Dumme Gans, dumme! Ihr jungen Leut habt halt keine Illusionen mehr! (rasch ab) (Trommelwirbel) K ARL (kommt und erkennt L ENI .) Ist das aber ein Zufall! L ENI Ich hab jetzt nicht viel Zeit, Herr Karl! K ARL Ich auch nicht. Aber ich möcht Ihnen doch nur was vorschlagen, Fräulein! L ENI Was möchtens mir denn vorschlagen? K ARL Daß wir zwei Hübschen uns womöglich heut abend noch treffen, möcht ich vorschlagen – Ich hätts Ihnen schon gestern vorgeschlagen, aber es hat sich halt keine Gelegenheit ergeben – L ENI Lügens mich doch nicht so an, Herr Karl. K ARL Ja wie hätten wir es denn, und so weiter? Das hab ich doch noch niemals nicht notwendig gehabt, ein Weib anzulügen, weil ich doch immerhin ein gerader Charakter bin, merken Sie sich das! L ENI Ich wollt Sie doch nicht beleidigen – K ARL Das können Sie auch nicht.

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L ENI (starrt ihn an.) Was verstehen Sie darunter, Herr Karl? K ARL Ich versteh darunter, daß Sie mich nicht beleidigen können, weil Sie mir sympathisch sind – Sie könnten mich höchstens kränken, Fräulein. Das versteh ich darunter. (Stille) L ENI Ich glaub gar, Sie sind ein schlechter Mensch. K ARL Es gibt keine schlechten Menschen, Fräulein. Es gibt nur sehr arme Menschen. (Stille) L ENI Ich wart aber höchstens zehn Minuten – K ARL Und ich nur fünf. L ENI (lächelt.) Also dann bin ich halt so frei, Sie schlechter Mensch – (ab) M ARTIN und B ETZ (kommen.) M ARTIN (sieht L ENI , die rasch an ihm vorbeigegangen ist, nach; dann betrachtet er K ARL spöttisch.) K ARL Sag mal Martin: Ich nehm natürlich an, daß bei unserer italienischen Nacht heut nacht nicht nur eingeschriebene ordentliche und außerordentliche Mitglieder, sondern auch Sympathisierende gern gesehen sind – M ARTIN Von mir aus. K ARL Ich hab nämlich gerade jemand eingeladen. Eine mir bekannte Sympathisierende von mir. M ARTIN War das die da? K ARL Kennst du die da? M ARTIN Leider. K ARL Wieso? M ARTIN Weil das ein ganz stures Frauenzimmer ist. K ARL Ich find aber, daß sie was Bestimmtes hat – M ARTIN Aber was! Ich meinte doch, daß dieses Frauenzimmer ganz stur ist, nämlich in politischer Hinsicht, das ist doch eine geborene Faschistin, Herrgottsakrament! Wie kann man nur mit so was herumpoussieren! K ARL Mein lieber Martin, das verstehst du nicht. Wir zwei beide sind aufrechte Republikaner, aber wir haben dabei einen Unterschied. Du bist nämlich Arbeiter, und ich bin Musiker. Du stehst am laufenden Band, und ich spiel in einem Konzertcafé Schumann, Mozart, Kalman und Johann Strauss – Daher bin ich natürlich der größere Individualist, schon weil ich halt eine Künstlernatur bin. Ich hab die stärkeren privaten Interessen, aber nur scheinbar, weil sich bei mir alles gleich ins Künstlerische umsetzt. M ARTIN (grinst.) Das sind aber feine Ausreden – K ARL Das bin ich mir einfach schuldig, daß ich in erotischer Hinsicht ein politisch ungebundenes Leben führ – Merk dir das! (ab) M ARTIN Nur zu! (Er grinst.) (Stille) B ETZ Martin. Du weißt, daß ich dich schätz, trotzdem daß du manchmal schon direkt unangenehm boshaft bist – Ich glaub, du übersiehst etwas sehr Wichtiges bei deiner Beurteilung der politischen Weltlage, nämlich das Liebesleben in der Natur. Ich hab mich in der letzten Zeit mit den Werken von Professor Freud befaßt, kann ich dir sagen. Du darfst doch nicht vergessen, daß um unser Ich herum Aggressionstriebe gruppiert sind, die mit unserem Eros in einem ewigen Kampfe liegen,

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und die sich zum Beispiel als Selbstmordtriebe äußern, oder auch als Sadismus, Masochismus, Lustmord – M ARTIN Was gehen mich deine Perversitäten an? B ETZ Das sind doch auch die Deinen! M ARTIN Was du da nicht sagst! B ETZ Oder hast du denn deine Anna noch nie gekniffen oder sonst irgendsowas, wenn du – ich meine: im entscheidenden Moment – M ARTIN Also das geht dich einen großen Dreck an. B ETZ Und dann sind das doch gar keine Perversitäten, sondern nur Urtriebe! Ich kann dir sagen, daß unsere Aggressionstriebe eine direkt überragende Rolle bei der Verwirklichung des Sozialismus spielen, nämlich als Hindernis. Ich fürcht, daß du in diesem Punkte eine Vogelstraußpolitik treibst. M ARTIN Weißt du, was du mich jetzt kannst? (ab) B ETZ (sieht ihm nach.) Auch der kann die Wahrheit nicht vertragen – Jugend kennt halt keine Tugend.

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Drittes Bild Seitenstraße. Mit vielen Fahnen. Die Luft ist voll von Militärmusik. An der Ecke stehen zwei P ROSTITUIERTE . Es ist bereits spät am Nachmittag. Der S TADTRAT A MMETSBERGER geht vorbei. Die P ROSTITUIERTEN zwinkern.

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E RSTE Kennst du den? Z WEITE Er ist nicht unrecht. E RSTE Ich glaub, er ist was bei der Stadt. Irgendein Tier. Z WEITE Wahrscheinlich. (Jetzt wehen die Fahnen im Winde.) Z WEITE (sieht empor.) Wenns nur keine Fahnen gäb – E RSTE Fahnen sind doch direkt erhebend. Z WEITE Nein – wenn ich so Fahnen seh, ists mir immer, als hätten wir noch Krieg. E RSTE Ich kann nichts gegen den Weltkrieg sagen. Das wär undankbar. (mit dem Lippenstift) Für mich sind am besten Gemäldeausstellungen, überhaupt künstlerische Veranstaltungen. Auch so vaterländische Feierlichkeiten sind nicht schlecht. (Pause) Z WEITE Eigentlich ist der Krieg dran schuld. E RSTE An was denn? Z WEITE An mir. E RSTE Lächerlich! Alle reden sich naus auf den armen Krieg! A NNA (kommt und hält an der anderen Ecke; sie wartet.) E RSTE Wer ist denn das? Z WEITE Ich kenn sie nicht. E RSTE Die sieht so neu aus. Und dann sieht sie doch wem ähnlich – Z WEITE (grinst.) Dir – E RSTE (starrt sie an.) Also das war jetzt gemein von dir, Luise.

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D REI F ASCHISTEN (kommen an A NNA vorbei.) A NNA (weicht ihnen aus.) D IE F ASCHISTEN (halten vor ihr und grinsen sie an.) A NNA (will ab.) 5

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M ARTIN (tritt ihr in den Weg, grüßt kurz und spricht mit ihr.) D IE F ASCHISTEN und DIE P ROSTITUIERTEN (horchen, hören aber nichts.) A NNA Und? M ARTIN Da gibts kein Und. Er hat sich halt wieder herausgelogen, der Herr Stadtrat. Das wäre unter seiner republikanischen Würde, hat er gesagt. Es kommt alles, wie es kommen muß. A NNA Ein korrupter Mensch. M ARTIN Herrschen tut der Profit. Also regieren die asozialen Elemente. Und die schaffen sich eine Welt nach ihrem Bilde. Aber garantiert! Heut gibts noch einen Tanz auf denen ihrer italienischen Nacht! Zur freundlichen Erinnerung! D IE F ASCHISTEN (beschäftigen sich nun mit den P ROSTITUIERTEN .) (Stille) A NNA Weißt du, was die Genossen sagen? M ARTIN Was? A NNA Daß du eine Zukunft hast. M ARTIN (zuckt die Schulter.) Sie kennen mich halt. Ich müßt aber fort. In irgendeine Metropole. A NNA Ich hab auch das Gefühl, daß man auf dich wartet. M ARTIN Hier hab ich ein viel zu kleines Betätigungsfeld. Das könnt auch ein anderer machen, was ich hier mach. A NNA Nein, das könnt keiner so machen! M ARTIN Du weißt, daß ich das nicht gern hör! A NNA Aber es ist doch so! Wenn alle so wären wie du, stünd es besser um uns Menschen. M ARTIN Aber ich kann doch nichts dafür, daß ich so bin! Daß ich der Intelligentere bin, und daß ich mehr Durchschlagskraft hab, das verpflichtet mich doch nur, mich noch intensiver für das Richtige einzusetzen! Ich mag das nicht mehr hören, daß ich eine Ausnahme bin, Herrgottsakrament! Ich bin keine, merk dir das! A NNA Das kannst einem doch auch anders sagen, daß du keine Ausnahme bist – (Stille) M ARTIN Anna, die Zeit braust dahin, und es gibt brennendere Probleme auf der Welt als wie Formfragen. Vergiß deine Pflichten nicht! (ab) Z WEI F ASCHISTEN (sind inzwischen mit den P ROSTITUIERTEN verschwunden; der D RITTE fixiert nun A NNA .) A NNA (plötzlich) Nun? D ER D RITTE (grinst.) A NNA (lächelt.) Nun? K ARL (erscheint hinter dem F ASCHISTEN .) A NNA (fährt zurück.) K ARL Pardon! D ER D RITTE (grinst; er grüßt A NNA spöttisch-elegant und ab.) (Stille)

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K ARL (unterdrückt seine Erregung.) Pardon, Gnädigste! A NNA Du Trottel. K ARL Um Gottes willen. Eine Anna und dieser Faschist, da stürzt ja in mir eine Welt zusammen – Wer ist jetzt verrückt? Ich oder du?! A NNA Du! K ARL Armer Martin! A NNA (unterbricht ihn.) Wenn der Martin dich jetzt gesehen hätt, hätt er jetzt schon keine Haar mehr, du unüberlegter Mensch! Ich streng mich da an, fädel was ein, und du zertrampelst mir wieder alles! K ARL Unüberlegt! A NNA Und unverantwortlich! K ARL Unverantwortlich! Grad schimpft mich der Martin zusammen, weil ich mich für ein unpolitisches Weib interessier, und derweil bandelt die Seine mit einem Faschisten an – Ich glaub, ich bin verrückt! A NNA So beruhig dich doch! K ARL Armer Martin! A NNA Aber ich tu doch nichts ohne Martin! K ARL (starrt sie verdutzt an.) Wie war das? A NNA Ich soll doch nur einen Faschisten kennenlernen, um ihn auszuhorchen – Der Martin möcht noch etwas Genaueres über denen ihre Kleinkaliber wissen. (Stille) K ARL Ist das echt? A NNA Was hast denn du jetzt gedacht? K ARL Ich? (Er stockt.) Pardon! A NNA Das war doch eine grobe Beleidigung – K ARL Pardon! A NNA Schäm dich. (Stille) K ARL Anna. Ich hab schon viel erlebt auf erotischem Gebiete, und dann wird man halt mit der Zeit leicht zynisch. Besonders wenn man so eine scharfe Beobachtungsgabe hat. Du bist natürlich eine moralische Größe. Du hast dich überhaupt sehr verändert. A NNA (lächelt.) Danke. K ARL Bitte. Du warst mal nämlich anders. Früher. A NNA (nickt.) Ja, früher. K ARL Da warst du nicht so puritanisch. (Stille) A NNA (plötzlich ernst) Und? K ARL Wenn ich dich so seh, krieg ich direkt einen Moralischen. Der Martin hat schon sehr recht, man soll sich nicht so gehen lassen – Jetzt hab ich halt schon wieder ein Rendezvous, sie ist zwar politisch indifferent – (Er sieht auf seine Uhr.) A NNA Dann würd ich an deiner Stelle einen heilsamen Einfluß auf sie ausüben. K ARL Meiner Seel, das werd ich auch! Ehrenwort! Es hat doch keinen Sinn, als Vieh durch das Leben zu laufen und immer nur an die Befriedigung seiner niederen Instinkte zu denken – Aber komisch find ich das doch von Martin. A NNA Was? K ARL Ich könnts ja nie. A NNA Was denn?

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K ARL Ich kanns mir nicht vorstellen, wie er dich liebt. Ich meine: ob normal, so wie sichs gehört – A NNA Was willst du? K ARL Es tät mich nur interessieren. Wenn er nämlich sowas von dir verlangt, er schickt dich doch gewissermaßen auf den politischen Strich – Ob er dabei innere Kämpfe hat? A NNA Innere Kämpfe? K ARL Ja! (Stille) A NNA Aber was! Du kannst mich nicht durcheinanderbringen! Ich kenn den Martin besser! Der steht über uns allen! Ich war blöd, dumm, verlogen, klein, häßlich – Er hat mich emporgerissen. Ich war nie mit mir zufrieden. Jetzt bin ichs. K ARL (verbeugt sich leicht.) A NNA Jetzt hab ich einen Inhalt, weißt du? (langsam ab) K ARL (sieht auf seine Uhr.) (Es dämmert stark.) L ENI (kommt.) Guten Abend, Herr Karl! Ich freu mich nur, daß Sie noch da sind! Ich konnt leider nicht früher! K ARL Wir haben ja noch Zeit. Und dann siehts ja auch nicht schlechter aus, wenn man später kommt. L ENI Warum denn so traurig? K ARL Traurig? L ENI Nein, diese Stimme – wie aus dem Grab. (Sie lächelt.) K ARL Ich hab grad ein Erlebnis hinter mir. Ich glaub, ich bin verflucht. L ENI Aber Herr Karl! Wenn jemand einen so schönen Gang hat! (Sie lacht und verstummt wieder plötzlich, da er totenernst bleibt.) (Stille) K ARL Ja, Fräulein. Sie verstehen mich anscheinend nicht, ich müßt Ihnen das nämlich stundenlang auseinandersetzen – Ich seh schwarz in die Zukunft, Fräulein. L ENI Geh, Sie sind doch ein Mann – K ARL Gerade als Mann darf man eher verzweifeln, besonders ich, weil ich den politischen Tagesereignissen näher steh. – Sie kümmern sich nicht um Politik? L ENI Nein. K ARL Das sollten Sie aber. L ENI Warum redens denn jetzt darüber? K ARL In Ihrem Interesse. L ENI Wollens mich ärgern? K ARL Es wär Ihre Pflicht als Staatsbürger – L ENI Warum wollens mir denn jetzt die ganze Stimmung verderben, ich hab mich ja schon so gefreut auf Ihre italienische Nacht! (Stille) K ARL Ich bin nämlich nicht so veranlagt, daß ich eine Blume einfach nur so abbrech am Wegrand, ich muß auch menschlich einen Kontakt haben – und das geht bei mir über die Politik. L ENI Geh, das glaubens doch selber nicht! K ARL Doch! Ich könnt zum Beispiel nie mit einer Frau auf die Dauer harmonieren, die da eine andere Weltanschauung hätt.

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L ENI Ihr Männer habt alle eine ähnliche Weltanschauung! (Stille) K ARL Sie sind doch eine Deutsche? L ENI Ja. K ARL Sehns, Fräulein, das ist der Fluch speziell von uns Deutschen, daß wir uns nicht um Politik kümmern, wir sind kein politisches Volk – Bei uns gibts noch massenweis Leut, die keine Ahnung haben, wer sie regiert. L ENI Ist mir auch gleich. Besser wirds nicht. Ich schau, daß ich durchkomm. K ARL Mir scheint, Sie haben keine Solidarität. L ENI Redens doch nicht so protzig daher! K ARL Mir scheint, daß Sie gar nicht wissen, wer der Reichspräsident ist? L ENI Ich weiß nicht, wie die Leut heißen! K ARL Wetten, daß Sie nicht wissen, wer der Reichskanzler ist? L ENI Weiß ich auch nicht! K ARL Also das ist ungeheuerlich! Und wieder mal typisch deutsch! Können Sie sich eine Französin vorstellen, die das nicht weiß? L ENI So gehens halt nach Frankreich! K ARL Wer ist denn der Reichsinnenminister? Oder wieviel Reichsminister haben wir denn? Ungefähr? L ENI Wenn Sie jetzt nicht aufhören, laß ich Sie stehen! K ARL Unfaßbar! (Stille) L ENI Das hab ich mir auch anders gedacht, diesen Abend. K ARL Ich auch. L ENI Einmal geht man aus – und dann wird man so überfallen. K ARL (sieht auf seine Uhr.) Jetzt wirds allmählich Zeit. L ENI Am liebsten möcht ich gar nicht mehr hin – K ARL Aber was! (Er umarmt sie und gibt ihr einen Kuß.) L ENI (wehrt sich nicht.)

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Vi e r t e s B i l d . Im Gartenlokal des Josef Lehninger. Nun ist es finster geworden, und nun steigt die italienische Nacht der hiesigen Ortsgruppe des Republikanischen Schutzbundes. Mit Girlanden und Lampions, Blechmusik und Tanz. Eben tanzen der S TADTRAT A MMETSBERGER, K RANZ , B ETZ , E NGELBERT u.s.w. mit ihren D AMEN eine Française (Offenbach) – Auch K ARL und L ENI sind dabei. M ARTIN und SEINE G ENOSSEN sitzen etwas abseits und sehen finster zu. E RSTER G ENOSSE Ein feiner Genosse! Z WEITER Wer? E RSTER (deutet auf K ARL .) Dort. D RITTER Diese Künstlernatur? E RSTER Martin. Der hat dir doch sein Ehrenwort gegeben, daß er nicht tanzt? M ARTIN Ja. Das auch. V IERTER Ein Schuft!

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F ÜNFTER Einer mehr. E RSTER Und jedsmal wegen einem Frauenzimmer – (Pause) V IERTER Die bildt sich aber was ein! D RITTER Gott wie graziös! F ÜNFTER Die wirds auch nimmer begreifen, wos hinghört. Z WEITER Wer ist denn das Frauenzimmer? E RSTER Auch nur Prolet! S ECHSTER Nein. Das ist was bedeutend Feineres. Das ist eine Angestellte – (Er grinst.) D RITTER (lacht.) S IEBENTER Wann gehts denn los? D RITTER (verstummt plötzlich.) M ARTIN Bald! (Er erhebt sich, tritt nahe an DIE T ANZENDEN heran und sieht zu; jetzt spielt die Musik einen Walzer, EINIGE P AARE hören auf zu tanzen – u.a. auch der S TADTRAT A MMETSBERGER.) S TADTRAT Na was war das für eine Idee? E NGELBERT Eine Prachtidee! S TADTRAT Ich wußt es doch, daß solch ein zwangloses gesellschaftliches Beisammensein uns Republikaner menschlich näherbringen würde. K RANZ (ist leicht angetrunken.) Ich freu mich nur, daß wir uns von dieser Scheißreaktion nicht haben einschüchtern lassen, und daß wir diese bodenlose Charakterlosigkeit unseres lieben Josef mit einer legeren Handbewegung beiseitegeschoben haben. (Er rülpst.) Das zeigt von innerer Größe. S TADTRAT Eine Prachtidee. E NGELBERT Eine propagandistische Tat! K RANZ Diese Malefizfaschisten täten sich ja nicht wenig ärgern, wenn sie sehen könnten, wie ungeniert wir Republikaner uns hier bewegen! (Er torkelt etwas.) E NGELBERT Wo stecken denn jetzt diese Faschisten? B ETZ Ich hab was von einer Nachtübung gehört. E NGELBERT Na viel Vergnügen! K RANZ Prost! S TADTRAT Dieser kindische Kleinkaliberunfug. B ETZ Aber sie sollen doch auch Maschinengewehre – S TADTRAT (unterbricht ihn.) Redensarten! Nur keinen Kleinmut, Kameraden! – Darf ich euch meine Frau vorstellen, meine bessere Hälfte. K RANZ Sehr erfreut! E NGELBERT Angenehm! B ETZ Vom Sehen kennen wir uns schon. D IE BESSERE H ÄLFTE (lächelt unsicher.) S TADTRAT So – Woher kennt ihr euch denn? B ETZ Ich hab dich mal mit ihr gehen sehen. S TADTRAT Mich? Mit ihr? Wir gehen doch nie zusammen aus! B ETZ Doch. Und zwar dürft das so vor Weihnachten gewesen sein – S TADTRAT Richtig! Das war an ihrem Geburtstag! Der einzige Tag im Jahr, an dem sie mitgehen darf, ins Kino – (Er lächelt und kneift sie in die Wange.) Sie heißt Adele. Das heut ist nämlich eine Ausnahme, eine große Ausnahme – Adele liebt die Öffentlichkeit nicht, sie ist lieber daheim – (Er grinst.) Ein Hausmütterchen.

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K RANZ (zu A DELE ) Trautes Heim, Glück allein. Häuslicher Herd ist Goldes wert. (Er rülpst.) Die Grundlage des Staates ist die Familie. Was Schönres kann sein als ein Lied aus Wien. (Er torkelt summend zu seinem Bier.) B ETZ Ein Schelm. E NGELBERT (zu A DELE ) Darf ich bitten! S TADTRAT Danke! Adele soll nicht tanzen. Sie schwitzt. (Pause; E NGELBERT tanzt nun mit EINER F ÜNFZEHNJÄHRIGEN .) A DELE (verschüchtert) Alfons. S TADTRAT Nun? A DELE Ich schwitz ja gar nicht. S TADTRAT Überlaß das mir, bitte. A DELE Warum soll ich denn nicht tanzen? S TADTRAT Du kannst doch gar nicht tanzen! A DELE Ich? Ich kann doch tanzen! S TADTRAT Seit wann denn? A DELE Seit immer schon. S TADTRAT Du hast noch nie tanzen können! Selbst als blutjunges Mädchen nicht, merk dir das! Blamier mich nicht! (Er zündet sich eine Zigarre an.) (Pause) A DELE Alfons. Warum hast du gesagt, daß ich die Öffentlichkeit nicht lieb? Ich ging doch gern öfters mit – Warum hast das gesagt? S TADTRAT Darum. (Pause) A DELE Ich weiß ja, daß du im öffentlichen Leben stehst, eine öffentliche Persönlichkeit – S TADTRAT Furie. A DELE Du stellst einen immer in ein falsches Licht. Du sagst, daß ich mit dir nicht mitkomm – S TADTRAT (unterbricht sie.) Siehst du! A DELE (gehässig) Was denn? S TADTRAT Daß du mir nicht das Wasser reichen kannst. (Pause) A DELE Ich möcht am liebsten nirgends mehr hin. S TADTRAT Also! (Er läßt sie stehen; zu B ETZ ) Meine Frau, was? (Er grinst.) Wenn du zum Weibe gehst, vergiß die Peitsche nicht. B ETZ Das ist von Nietzsche. S TADTRAT Sie folgt aufs Wort. Das doch ein herrlicher Platz hier! Diese uralten Stämme und diese ozonreiche Luft – (Er atmet tief.) B ETZ Das sind halt die Wunder der Natur. S TADTRAT Die Wunder der Schöpfung – es gibt nichts Herrlicheres. Ich kann das besser beurteilen, weil ich ein Bauernkind bin. Wenn man so in den Himmel schaut, kommt man sich so winzig vor – diese ewigen Sterne! Was sind wir daneben? B ETZ Nichts. S TADTRAT Nichts. Gott hat doch einen feinen Geschmack. B ETZ Es ist halt alles relativ. (Pause) S TADTRAT Du, Betz. Ich hab mir ein Grundstück gekauft.

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B ETZ Wo denn? S TADTRAT Fast ein Tagwerk. Mit einer Lichtung – Schau, lieber guter Freund: Die Welt hat Platz für anderthalb Milliarden Menschen, warum soll mir da nicht von dieser großen Welt so ein kleines Platzerl gehören – E RSTER G ENOSSE (hat unfreiwillig gelauscht.) Ein feiner Marxist! S TADTRAT Was hat der gesagt? B ETZ So laß ihn doch! A DELE Er hat gesagt: ein feiner Marxist. (Pause) S TADTRAT Wie du das einem so einfach ins Gesicht sagst. – Toll! A DELE Ich hab ja nur gesagt, was er gesagt hat. S TADTRAT Wer? Was sich da diese unreifen Spritzer herausnehmen! Überhaupt! (Er deutet auf M ARTIN und SEINE G ENOSSEN .) Dort hat noch keiner getanzt – saubere Jugend! Opposition und Opposition. Revolte oder dergleichen. Spaltungserscheinungen. Nötige Autorität. Man muß. (Er will an seinen Biertisch, stockt jedoch, da er sieht, daß M ARTIN und SEINE G ENOSSEN eine leise debattierende Gruppe bilden; er versucht zu horchen – Plötzlich geht er rasch auf M ARTIN zu.) Martin. Was hast du da gesagt? Feiner Marxist, hast du gesagt? M ARTIN Ich habs zwar nicht gesagt, aber ich könnts gesagt haben. S TADTRAT Und wie hättest du das gemeint, wenn du es gesagt hättest? M ARTIN Wir sprechen uns noch. (Er läßt ihn stehen.) (Akkord und Gong) E NGELBERT (auf dem Podium) Meine Damen und Herren! Kameraden! Eine große erfreuliche Überraschung hab ich euch mitzuteilen! Es steht euch ein seltener Kunstgenuß bevor! Frau Hinterberger, die Gattin unseres verehrten lieben Kassiers, hat sich liebenswürdigerweise bereit erklärt, uns mit ihrer Altstimme zu entzücken! (Bravorufe und Applaus) Ich bitte um Ruhe für Frau Hinterberger! F RAU H INTERBERGER (betritt das Podium, mit Applaus begrüßt.) Ich singe Ihnen eine Ballade von Löwe. Heinrich der Vogler. (Sie singt die Ballade; großer Beifall, nur M ARTIN und SEINE G ENOSSEN beteiligen sich nach wie vor an keiner Ovation; nun wird wieder weitergetanzt.) L ENI (zu K ARL ) Das war aber schön. Ich bin nämlich sehr musikalisch. K ARL Das hab ich schon bemerkt. L ENI An was denn? K ARL An deinem Tanzen. Du hast ein direkt exorbitantes rhythmisches Feingefühl – L ENI Das hängt aber nicht nur von mir ab. Das hängt auch vom Herrn ab. K ARL Hast es also nicht bereut? L ENI (lächelt.) Werd mir nur ja nicht wieder politisch – Versprichs mir, daß du es nimmer werden wirst, auf Ehrenwort. K ARL Auf Ehrenwort – L ENI Komm! K ARL Schon wieder? L ENI Heut könnt ich mal wieder ewig tanzen! Bis an das Ende der Welt! K ARL Respekt! M ARTIN (zu K ARL ) Karl, darf ich dich einen Augenblick – K ARL Bitte. (zu L ENI ) Pardon! (zu M ARTIN ) Nun? M ARTIN (nach kleiner Pause) Du hast mir doch versprochen, nicht zu tanzen – K ARL (wird nervös.) Hab ich das?

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M ARTIN Ja. Du hast mir sogar versprochen, daß, wenn es jetzt hier zu der bevorstehenden weltanschaulichen Auseinandersetzung – K ARL (unterbricht ihn.) Also bitte werd nur nicht wieder moralisch! M ARTIN Du hast halt wieder mal dein Ehrenwort gebrochen. K ARL Ist das dein Ernst? M ARTIN Ja. (Pause) K ARL (lächelt böse.) Wo steckt denn deine Anna? M ARTIN Was soll das? K ARL Sie wird wohl bald erscheinen? M ARTIN Hast du sie gesehen? K ARL Ja. M ARTIN Allein oder mit? K ARL Mit. M ARTIN (lächelt.) Dann ists ja gut. K ARL Meinst du? M ARTIN Ja. (Pause) K ARL (grinst.) Honni soit, qui mal y pense! M ARTIN Was heißt das? K ARL Das heißt allerhand. M ARTIN Ich bin dir nicht bös, du tust mir leid. Es ist nämlich schad um dich mit deinen Fähigkeiten. Aber du hast immer nur Ausreden. Ein halber Mensch – (Er läßt ihn stehen.) (Akkord und Gong) E NGELBERT (auf dem Podium) Meine Sehrverehrten! Kameraden! Und abermals gibts eine große erfreuliche Überraschung im Programm! In dem Reigen unserer künstlerischen Darbietungen folgt nun ein auserlesenes Ballett, und zwar getanzt von den beiden herzigen Zwillingstöchterchen unseres Kameraden Leimsieder, betitelt „Blume und Schmetterling“! D IE HERZIGEN Z WILLINGSTÖCHTERCHEN (dreizehnjährig, betreten das Podium, mit mächtigem Applaus begrüßt; sie tanzen einen affektierten Kitsch – Plötzlich ertönt aus M ARTINS Gegend ein schriller Pfiff; DIE HERZIGEN Z WILLINGSTÖCHTERCHEN zucken zusammen, tanzen aber noch weiter, jedoch etwas unsicher geworden; die, denen es gefällt, sehen entrüstet auf M ARTIN – Da ertönt abermals ein Pfiff, und zwar ein noch schrillerer.) K RANZ (brüllt.) Ruhe, Herrgottsakrament! Wer pfeift denn da, ihr Rotzlöffel?! Lümmel, dreckige, windige!! E NGELBERT Wems nicht passt, der soll raus! R UFE Raus! Raus! (Tumult) D IE HERZIGEN Z WILLINGSTÖCHTERCHEN (weinen laut.) E RSTER G ENOSSE (schlägt mit der Faust auf den Tisch.) Runter mit die Kinder, und rinn ins Bett! Wir wollen hier kein Säuglingsballett! K RANZ Halts Maul, sag ich! Z WEITER Halts Du! E INE T ANTE Seht wie die Kindlein weinen, Ihr Rohlinge! D RITTER Hoftheater! Hoftheater!

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S TADTRAT Jetzt wirds mir zu dumm! F ÜNFTER Huhu! S TADTRAT Oh ich bin energisch! V IERTER Tatü tata! S TADTRAT Jetzt kommt die Abrechnung! S IEBENTER Bravo! S TADTRAT Kusch grüner Lausejunge! S IEBENTER Es kann nicht jeder ein alter Krüppel sein! S TADTRAT (außer sich) Was hat der gesagt?! Krüppel hat er gesagt?! S IEBENTER Zurück! F ÜNFTER Zurück! Sonst! S IEBENTER Feiner Marxist! Feiner Marxist! S TADTRAT Ich?! Ich hab das kommunistische Manifest bereits auswendig hersagen können, als du noch nicht geboren warst, du Flegel! (Pfiff) D IE T ANTE Diese Barbaren stören ja nur den Kunstgenuß! S ECHSTER Du mit deinem Kunstgenuß! D RITTER Blume und Schmetterling! E RSTER Mist! Mist! Mist! K RANZ Oh ihr Kunstbarbaren! (Er fällt fast um vor lauter Rausch.) E NGELBERT Seht, was ihr angerichtet habt! Kindertränen! Schämt ihr euch denn gar nicht?! Oder habt ihr denn keine Ahnung, mit welcher Liebe das hier einstudiert worden ist – Wochen hindurch haben der Kamerad Leimsieder und seine Frau jede freie Minute geopfert, um uns hier beglücken zu können! M ARTIN Hätt er doch lieber seine freien Minuten geopfert, um die Schlagstärke unserer Organisation auszubaun! Kameraden! Ich weiß, daß ich als Redner manchen meiner ehrenwerten Kameraden nicht gerade sympathisch bin – D IE T ANTE Stören Sie unsere Nacht nicht! M ARTIN Solche Nächte gehören gestört! Und gesprengt! Genossinnen und Genossen! Während wir hier Familienfeste mit republikanischem Kinderballett arrangieren, arrangiert die Reaktion militärische Nachtübungen mit Maschinengewehren! Oder wollt ihr es nicht sehen, wie sie das Proletariat verleumden, verhöhnen, korrumpieren und ausbeuten, schlimmer als je zuvor! Drum Schluß mit dieser Spießerei! Oder habt ihr denn schon den Satz vergessen: Oh wenn doch nur jeder Prolet sein Vergnügen in der revolutionären Tätigkeit fände! Es bleibt zu fordern: sofortige Einberufung des Vorstandes und Beschlußfassung über den Vorschlag: Bewaffnung mit Kleinkalibern! S TADTRAT Kameraden! Ein Frevler wagt hier unser Fest zu stören, bringt kleine Kinderchen zum Weinen – Kameraden! Was Martin verlangt, ist undurchführbar! Wir wollen nicht in die Fußstapfen der Reaktion treten, wir nehmen keine Kanonen in die Hand, aber wer die demokratische Republik ernstlich zu bedrohen wagt, der wird zurückgeschlagen! M ARTIN Mit was denn? S TADTRAT An unserem unerschütterlichen Friedenswillen werden alle Bajonette der internationalen Reaktion zerschellen! S IEBENTER G ENOSSE (lacht ihn aus.) S TADTRAT So sehen die Leute aus, die die Macht der sittlichen Idee leugnen! E RSTER G ENOSSE Sprüch, du Humanitätsapostel!

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S TADTRAT Das sind keine Sprüch! Wir wollen keine Waffen mehr sehen, ich selbst hab zwei Söhne im Krieg verloren! V IERTER G ENOSSE Im nächsten Krieg sind wirs, ich und der Stiegler und der da und der da! K RANZ (ahmt ihn nach.) Und ich da und ich da und ich da! S TADTRAT Es hat eben keinen Krieg mehr zu geben! Dieses Verbrechen werden wir zu vereiteln wissen! M ARTIN Genau wie 1914! S TADTRAT Das waren ganz andere Verhältnisse! M ARTIN Immer dasselbe, immer dasselbe! S TADTRAT Wo warst denn du 1914?! Im Kindergarten! M ARTIN Und du? Du hast auch schon 1914 mit den Taten deiner Vorfahren geprotzt, das können wir Jungen ja allerdings nicht! Genossen! Wenn das so weitergeht, erwachen wir morgen im heiligen römisch-mussolinischen Reich deutscher Nation! E NGELBERT Zur Geschäftsordnung! Ich fordere kraft unserer Statuten den sofortigen Ausschluß des Kameraden Martin! S TADTRAT Bravo! E NGELBERT Und zwar wegen unkameradschaftlichen Verhaltens! M ARTIN Bravo! Kommt! (ab mit SEINEN G ENOSSEN )

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Fünftes Bild Vor dem Wirtshaus des Josef Lehninger. M ARTIN und SEINE G ENOSSEN verlassen die italienische Nacht. M ARTIN Also Ausschluß. Wegen unkameradschaftlichen Verhaltens. Wer lacht da nicht? (Stille) Z WEITER Wohin? M ARTIN Zu mir. Wir müssen sofort an die Arbeit. Bald zieht sich die Bourgeoisie in den Turm der Diktatur zurück. Wir sind bereit. E RSTER Mit M. G.! M ARTIN Ruhe! Immer daran denken! (Stille) M ARTIN Übrigens: Ist das wahr, daß du Majestät verdreckt hast? S IEBENTER (gewollt hochdeutsch) Wir haben es uns erlaubt, das Denkmal Seiner Majestät mit etwas roter Farbe zu verunzieren. M ARTIN Wer wir? S IEBENTER Ich. V IERTER Und ich. M ARTIN So. Das hat natürlich keinen Sinn, oder? (Stille) M ARTIN Seine Majestät sind ja bereits verwest, sorgt lieber dafür, daß man den Herren Kapitalisten dereinst keine Denkmäler errichtet.

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K ARL (kommt mit L ENI aus dem Wirtshaus.) Drinnen geht alles drunter und drüber. D RITTER Sehr erfreut! K ARL Die ganze Stimmung ist beim Teufel! S ECHSTER Dann ist sie dort, wo sie hinghört! K ARL Martin. Ich bitte dich um Verzeihung. M ARTIN Wegen was? K ARL Daß ich mein Ehrenwort gebrochen hab. Das war natürlich eine Gaunerei, ich hab mir das genau überlegt, aber es war halt nur scheinbar eine Gaunerei. Ich habs ja nur scheinbar gebrochen. M ARTIN Wie willst du das verstanden haben? K ARL Schau, ich mußte doch tanzen. Ich hab es nämlich deiner Anna versprochen, daß ich das Fräulein da hinter mir zu unseren Idealen bekehren werd, und da muß man doch so einem Fräulein entgegenkommen, sowas geht doch nur nach und nach – M ARTIN Daß du immer nur Fräuleins bekehrst – K ARL Jeder an seinem Platz. Ich gehör halt zu einer älteren Generation als wie du, das macht schon was aus, obwohl zwischen uns ja nur fünf Jahr Unterschied sind, aber fünf Kriegsjahr – Ich war doch bis 1920 gefangen. M ARTIN Die historischen Gesetze kümmern sich einen Dreck um Privatschicksale, sie schreiten unerbittlich über den Einzelnen hinweg, und zwar vorwärts. K ARL Da geb ich dir vollständig recht. M ARTIN Du wärst ja brauchbar, wenn man dir glauben könnt. Aber das kann man eben nicht, weil du ein halber Mensch bist. K ARL Du hast halt keine Konflikte mit deiner Erotik. Meiner Seel, manchmal beneid ich dich! M ARTIN Und du tust mir leid. Ich habs immer wieder versucht mit dir. Jetzt ists aus. Ich leg keinen Wert mehr auf deine Mitarbeit. K ARL (verbeugt sich leicht.) Bitte! Pardon! D IE G ENOSSEN (sind während dieser Szene verschwunden.) A NNA (kommt.) M ARTIN Anna! A NNA Jetzt bin ich aber erschrocken! M ARTIN Du? A NNA Ich dacht, du wärst wer anders – M ARTIN So. A NNA Du warst mir jetzt so fremd. M ARTIN (fast spöttisch) War ich das? – Nun? Hast was erreicht? A NNA Verschiedenes. M ARTIN Erstens? A NNA Erstens hab ich erfahren, daß diese Faschisten unsere italienische Nacht sprengen wollen – M ARTIN (unterbricht sie.) Erstens ist das nicht unsere italienische Nacht! Und zweitens ist denen ihre italienische Nacht bereits gesprengt. Ich hab sie gesprengt. A NNA Schon? M ARTIN Später! Und? A NNA Die Faschisten wollen hier alles verprügeln. M ARTIN So ists recht! Das vergönn ich diesem Vorstand! Diese Spießer sollen jetzt nur mal am eigenen Leibe die Früchte ihrer verräterischen Taktik verspüren!

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Wir Jungen überlassen sie ihrem Schicksal und bestimmen unser Schicksal selbst! A NNA Das würd ich aber nicht tun. M ARTIN Was heißt denn das? A NNA Ich würds nicht tun. Ich würd ihnen schon helfen, sie stehen uns doch immer noch näher als wie die anderen. M ARTIN Was du da nicht sagst – A NNA Wenn ichs dem Stadtrat auch gönn, daß er verprügelt wird, aber es sind doch auch noch andere dabei, dies vielleicht ehrlich meinen – M ARTIN (spöttisch) Meinst du? A NNA Und zu guter Letzt geht das doch keinen Dritten was an, was wir unter uns für Konflikte haben! Das sind doch unsere Konflikte! M ARTIN (gehässig) Ich glaub, daß das deine Privatansicht ist. A NNA Red nicht so hochdeutsch, bitte. (Stille) M ARTIN Und? A NNA Sonst nichts. Die Faschisten sind halt ganz fürchterlich wütend – Es soll heut abend irgendein Denkmal verunreinigt worden sein. M ARTIN Ja, das war der Stiegler, dieser Idiot – A NNA Martin! M ARTIN (überrascht) Ha? A NNA Martin, weil einer von uns das Denkmal verdreckt hat, sollen jetzt die anderen da drinnen verprügelt werden?! Das find ich aber feig! Das ist unser nicht würdig! Das ist ungerecht – (Sie stockt, da M ARTIN plötzlich fasziniert auf ihren Hals starrt.) (Stille) M ARTIN (leise) Was ist denn das dort für ein Fleck? A NNA Wo? M ARTIN Da. A NNA Da? Das ist ein blauer Fleck – (Stille) M ARTIN So. A NNA Er war halt so grob. M ARTIN (etwas unsicher) So, war er das – A NNA So sind sie alle, die Herren Männer. (Stille) M ARTIN Schau mich an. A NNA (schaut ihn nicht an.) M ARTIN Warum schaust mich denn nicht an? A NNA Weil ich dich nicht anschaun kann. M ARTIN Und warum kannst du mich jetzt nicht anschaun? Schau mich doch nicht so dumm an, Herrgottsakrament! (Stille) A NNA Mir wars jetzt nur plötzlich so eigenartig – M ARTIN Wieso? A NNA Was du da nämlich von mir verlangst, daß ich mich nämlich mit irgendeinem Faschisten einlaß, – und daß gerade du das verlangst – M ARTIN Was sind denn das für neue Gefühle? A NNA Nein, das waren alte –

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M ARTIN Du weißt, daß ich diese primitiven Sentimentalitäten nicht mag. Nur keine Illusionen, bitte! A NNA Jetzt redst du wieder so hochdeutsch. (Stille) M ARTIN Anna. Also grob war er zu dir, der Herr Faschist – Es ist vielleicht wirklich unter unserer Würde. A NNA Was? M ARTIN Daß wir nun diese Spießer da drinnen für die verdreckte Majestät büßen lassen – Nein! Diesen Triumph wollen wir den Herren Faschisten nicht gönnen! Komm! (ab mit A NNA ) K ARL (hat sich mit L ENI während dieser Szene auf eine Bank gesetzt.) L ENI Warum schweigst du schon so lang? K ARL Weil es mir weh um das Herz herum ist. L ENI Aber! Du kannst doch nichts dafür, daß diese italienische Nacht mit einem Mißton geendet hat! K ARL Ich danke dir. (Er drückt ihr die Hand und vergräbt dann den Kopf in seinen Händen; Stille) L ENI Dein Kamerad Martin erinnert mich an einen Bekannten. Mit dem war auch nicht zu reden, weil er nichts anderes gekannt hat wie sein Motorrad. Er hat zahlreiche Rennen gewonnen, und ich hab ihn halt in seinem Training gestört. Sei doch nicht so traurig – K ARL Jetzt möcht ich am liebsten nicht mehr leben. L ENI Warum denn? K ARL Ich hab halt ein zu scharfes Auge. Ich seh, wie sich die Welt entwickelt, und dann denk ich mir, wenn ich nur a paar Jahr jünger wär, dann könnt ich noch aktiv mittun an ihrer Verbesserung – aber ich bin halt verdorben. Und müd. L ENI Das redst du dir nur ein. K ARL Ein halber Mensch! Nur die eine Hälfte hat Sinn für das Gute, die andere Hälfte ist reaktionär. L ENI Nicht deprimiert sein – K ARL Ich glaub, ich bin verflucht. L ENI Nein, nicht! K ARL (erhebt sich.) Doch! (Stille) L ENI Glaubst du an Gott? K ARL Ich fang allmählich an – L ENI Es gibt einen Gott, und es gibt auch eine Erlösung. K ARL Wenn ich nur wüßt, wer mich verflucht hat. L ENI Laß mich dich erlösen. K ARL Du? Mich? L ENI Ich hab viertausend Mark, und wir gründen eine Kolonialwarenhandlung – K ARL Wir? L ENI Draußen bei meinem Onkel – K ARL Wir? L ENI Ich und du. (Stille) K ARL Was denkst du jetzt? Denkst du jetzt an eine Ehegemeinschaft? Nein, dazu bist du mir zu schad!

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L ENI Oh Mann, sprich doch nicht so hartherzig! Ich kenn dich ja schon durch und durch, wenn ich dich auch erst kurz kenn! (Sie wirft sich ihm an den Hals: große Kußszene.) K ARL Ich hab ja schon immer von der Erlösung durch das Weib geträumt, aber ich habs halt nicht glauben können – Ich bin nämlich sehr verbittert, weißt du! L ENI (gibt ihm einen Kuß auf die Stirne.) Ja, die Welt ist voll Neid.

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Sechstes Bild Im Gartenlokal des Josef Lehninger. Die italienische Nacht der Ortsgruppe Kaltenbrunn des Republikanischen Schutzbundes ist nun korrekt gesprengt – Nur der Vorstand sitzt noch unter den Lampions, und zwar: der S TADTRAT A MMETSBERGER mit A DELE , B ETZ , E NGELBERT und K RANZ . Letzerer schnarcht über einen Tisch gebeugt. Es geht bereits gegen Mitternacht, und A DELE fröstelt, denn es weht ein kaltes Windchen. B ETZ Was tun, spricht Zeus. E NGELBERT Heimwärts? S TADTRAT (schnellt empor.) Und wenn die Welt voll Teufel wär, niemals! Wir lassen uns unsere italienische Nacht nicht sprengen! Kameraden, wir bleiben und weichen nicht – bis zur Polizeistund! (Er setzt sich wieder.) E NGELBERT Hört, hört! S TADTRAT (steckt sich nervös eine Zigarre an.) K RANZ (erwacht und gähnt unartikuliert; zu B ETZ ) Du, ich hab jetzt grad was Fesches geträumt. B ETZ Wars angenehm? K RANZ Sehr. Ich hab nämlich grad was von einer Republik geträumt, und das war eine komplette Republik, sogar die Monarchisten waren verkappte Republikaner – B ETZ Also das dürft ein sogenannter Wunschtraum gewesen sein. K RANZ Ha? E NGELBERT Wie wärs denn mit einem kleinen Tarock? S TADTRAT Tarock? E NGELBERT Einen Haferltarock – K RANZ Haferltarock! S TADTRAT Das wär ja allerdings noch das Vernünftigste – E NGELBERT Karten hab ich – (Er setzt sich mit dem S TADTRAT und K RANZ unter den hellsten Lampion, mischt und teilt.) Eine Idee! B ETZ (kiebitzt.) S TADTRAT Erster! E NGELBERT Zweiter! K RANZ Letzter! S TADTRAT Solo. K RANZ Und das Licht leuchtet in der Finsternis – (Er spielt aus.) (Jetzt weht der Wind stärker.) A DELE (erhebt sich und fröstelt.) Alfons!

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S TADTRAT (lässt sich nicht stören.) Bitte? A DELE Wann gehen wir denn endlich? S TADTRAT Zweimal sag ichs nicht! Eichel! A DELE Ich erkält mich noch – S TADTRAT Das tät mir aber leid, Herz! K RANZ Und Herz! E NGELBERT Und Herz! B ETZ (nähert sich A DELE .) Wir bleiben bis zur Polizeistund, Frau Stadtrat! A DELE Wann ist denn Polizeistund? B ETZ Um zwei. A DELE Und jetzt? B ETZ Jetzt gehts gegen zwölf. A DELE Oh Gott. S TADTRAT (zu B ETZ ) So laß sie doch bitte! (Pause) A DELE Hier hol ich mir noch den Tod. B ETZ Oder eine Lungenentzündung. (Pause) B ETZ Der schönste Tod ist ja allerdings der Tod für ein Ideal. A DELE Ich kenn kein Ideal, für das ich sterben möcht. B ETZ (lächelt leise.) Auch nicht für die Ideale, für die sich Ihr Herr Gemahl aufopfert? A DELE Opfert er sich denn auf? B ETZ Tag und Nacht. A DELE Sie müssens ja wissen. B ETZ Es ist natürlich alles relativ. (Pause) A DELE Glaubens mir, daß ein Mann, der wo keine solchen öffentlichen Ideale hat, viel netter zu seiner Familie ist. Ich mein das jetzt menschlich. Sie sind ein intelligenter Mann, Herr Betz, das hab ich schon bemerkt. S TADTRAT Über was unterhaltet ihr euch denn dort so intensiv? B ETZ Über dich. S TADTRAT Tatsächlich? Habt ihr denn kein dankbareres Thema? A DELE (boshaft) Alfons! S TADTRAT Na was denn schon wieder? A DELE Ich möcht jetzt gern noch ein Schinkenbrot. S TADTRAT Aber du hast doch bereits zwei Schinkenbrote verzehrt! Ich meine, das dürfte genügen! (Er zündet sich eine neue Zigarre an.) A DELE Wenn du deine Zigarren – S TADTRAT (unterbricht sie.) Oh, du unmögliche Person! Pfui! – Und ziehen tut sie auch nicht, weil du mir nichts vergönnst! (Er wirft wütend seine Zigarre fort.) Eine unmögliche Zigarre! A DELE (erhebt sich.) Ich möcht jetzt nach Haus. S TADTRAT Also werd nur nicht boshaft, bitte! A DELE Ich geh – S TADTRAT Ich bleib. A DELE So komm doch! S TADTRAT Nein! Bleib, sag ich!

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A DELE Nein, ich muß doch schon wieder um fünfe raus, deine Hemden waschen und – S TADTRAT Du bleibst, sag ich! A DELE Hier hol ich mir noch den Tod – S TADTRAT Du bleibst und basta! Verstanden?! A DELE (setzt sich wieder und lächelt geschmerzt.) S TADTRAT Spiele! E NGELBERT Weiter! K RANZ Spiele auch! E NGELBERT Und zwar? K RANZ Gras! S TADTRAT Schnecken! Bettel! Jawohl, Bettel! Und herauskommen tu ich selber – (Er gewinnt rasch und lacht schallend.) (Stille) B ETZ Warum gehen Sie eigentlich nicht allein nach Haus? A DELE Weil er mich allein nicht läßt. B ETZ Nicht läßt? Auch allein nicht läßt? Er hat doch kein Recht über Ihre Person – Meiner Seel, da erscheint er mir nun plötzlich in einem ganz anderen Licht, obwohl ich darauf gewartet hab – Alfons Ammetsberger, mein alter Kampfgenosse – fünfunddreißig Jahr – Jaja, das wird wohl das Alter sein. Ob ich mich auch so verändert hab? S TADTRAT (zu B ETZ ) Ich bitt dich Betz, so laß sie doch in Ruh! W IRT (erscheint; er ist schwer besoffen und grüßt torkelnd, doch keiner beachtet ihn; er grinst.) Guten Abend, Leutl! (Schweigen) W IRT Auch gut! Boykottiert mich nur, boykottiert mich nur! Mir ist schon alles wurscht, ich wein euch keine Träne nach! Überhaupt sind die Reaktionäre viel kulantere Gäst – Eure jungen Leut saufen ja so bloß a Limonad! Feine Republikaner! Limonad, Limonad! K RANZ Halts Maul! W IRT (plötzlich verträumt) Ich denk jetzt an meinen Abort. Siehst, früher da waren nur so erotische Sprüch an der Wand dringstanden, hernach im Krieg lauter patriotische und jetzt lauter politische – Glaubs mir: Solangs nicht wieder erotisch werden, solang wird das deutsche Volk nicht wieder gesunden – K RANZ Halts Maul, Wildsau, dreckige! W IRT Wie bitte? – Heinrich, du bist hier noch der einzig vernünftige Charakter, was hat jener Herr dort gesagt? B ETZ Er hat gesagt, daß du dein Maul halten sollst. W IRT Hat er? Dieser schlimme Patron – Apropos: Ich hab eine reizende Neuigkeit für euch, liebe Leutl! K RANZ Wir sind nicht deine lieben Leutl! W IRT Was hat er gesagt? B ETZ Daß wir nicht deine lieben Leutl sind, hat er gesagt. W IRT Hat er das gesagt? – Alsdann: meine Herren! Ich beehre mich, Ihnen eine hocherfreuliche Mitteilung zu machen: Sie sind nämlich umzingelt, meine Herren, radikal umzingelt! S TADTRAT (horcht auf.)

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B ETZ Wer ist umzingelt? W IRT Ihr, meine Herren! E NGELBERT Wieso? W IRT Meine Herren! Ich habs nämlich grad erfahren, daß euch die Herren Faschisten verprügeln wollen – S TADTRAT (erhebt sich.) W IRT Die Herren Faschisten behaupten nämlich, daß ihr, meine Herren, das Denkmal weiland Seiner Majestät verdreckt habt, und jetzt haben die Herren Faschisten eine pfundige Wut im Bauch und wollen Seine Majestät rächen! Hurrah! K RANZ Von wem hast denn das? W IRT Vom Martin seiner Anna. S TADTRAT Hier hat niemand eine Majestät verdreckt, merk dir das! W IRT Oh bitte! (In der Ferne eine Trillerpfeife) W IRT Na? (Er grinst.) Habt ihr das jetzt ghört? Jetzt gibts Watschen, meine Herren! Signal. Alarm! K RANZ Was war denn jetzt das? W IRT Mussolini persönlich. E NGELBERT Irrtum! S TADTRAT Lüge! Infame Lüge! W IRT (drohend) Hurrah! (Er fällt um.) K RANZ (zum W IRT ) Du Judas! W IRT (auf dem Boden) Ich bin kein Judas, meine Herren! Ich bin euch doch innerlich immer treu geblieben, sogar noch nach der Revolution! Aber was ist denn das jetzt für eine verkehrte Welt! Früher, da war so ein Sonntag das pure Vergnügen, und wenn mal in Gottes Namen gerauft worden ist, dann wegen irgendeinem Trumm Weib, aber doch schon gar niemals wegen dieser Scheißpolitik! Das sind doch ganz ungesunde Symptome, meine Herren! B ETZ Natürlich sind das zu guter Letzt ja auch nur Aggressionstriebe – (Und wieder die Trillerpfeife) S TADTRAT Kameraden! Der Mensch ist ein schwaches Rohr im Winde, in bezug auf das Schicksal, ob er nun Monarchist ist oder Republikaner. Es gibt nun mal Augenblicke im Leben, wo sich auch der Kühnste der Stimme der Vernunft beugen muß, und zwar gegen sein Gefühl! Kameraden, das wäre doch ein miserabler Feldherr, der seine Brigaden in eine unvermeidliche Niederlage hineinkommandieren tät! In diesem Sinne schließe ich nun hiemit unsere italienische Nacht! Vis major, höhere Gewalt! Wo ist mein Hut? B ETZ Ich bleib. S TADTRAT Wieso? B ETZ Ich bin da nämlich etwas anderer Meinung – S TADTRAT Da dürft es doch wohl keine andere Meinung geben! B ETZ Findst du? Wir haben doch in bezug auf das verdreckte Denkmal ein absolut reines Gewissen. E NGELBERT Sehr richtig! B ETZ Und infolgedessen find ich es nicht richtig, so davonlaufen. S TADTRAT Nicht nicht richtig, klug! Diese Faschisten sind doch bekanntlich in der Überzahl und infolgedessen bekanntlich zu jeder Schandtat jederzeit bereit! Wo ist mein Hut?

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B ETZ Ich bleib. Und wenn sie mich verhaun! (Stille) S TADTRAT (fixiert ihn höhnisch.) Ach, du bist ein Katastrophenpolitiker? B ETZ Ich bleib. S TADTRAT Viel Vergnügen. B ETZ Danke. S TADTRAT Wo ist mein Hut? B ETZ Lieber Prügel als feig. (Stille) S TADTRAT Findst du? A DELE Ich finds auch. S TADTRAT Du hast hier überhaupt nichts zu finden! A DELE Ich finds aber! S TADTRAT (nähert sich ihr langsam; unterdrückt) Du hast hier nichts zu finden, verstanden?! A DELE Ich sag ja nur, was ich mir denk. S TADTRAT Du hast hier nichts zu denken. A DELE (boshaft) Findst du? S TADTRAT Blamier mich nicht, ja! A DELE Nein. S TADTRAT (kneift sie.) A DELE Au! Au – S TADTRAT Wirst du dich beherrschen?! A DELE Au, Alfons! Au – S TADTRAT Daß du dich beherrschst! Daß du dich – A DELE (reißt sich kreischend los.) Au – du mit deinem Idealismus! S TADTRAT Oh du unmögliche Person! A DELE Oh du unmöglicher Mann! Draußen Prolet, drinnen Kapitalist! Die Herren hier sollen dich nur mal genau kennenlernen! Mich beutet er aus, mich! Dreißig Jahr, dreißig Jahr! (Sie weint.) S TADTRAT (mit der Hand vor den Augen) Adele! Adele – (Und wieder die Trillerpfeife, und zwar in der Nähe) K RANZ Da! (Stille) S TADTRAT (nimmt langsam die Hand von den Augen.) Wo ist mein Hut? W IRT (hat sich schwerfällig erhoben.) Mit oder ohne Hut – Du bist und bleibst umzingelt – (Er rülpst und torkelt ab.) (Stille) A DELE (weinerlich) Hättest du zuvor die jungen Leut nicht nauswerfen lassen, würd sich jetzt niemand hertraun – Jetzt sind wir doch lauter alte Krüppel – E NGELBERT Oho! S TADTRAT Herr im Himmel! E NGELBERT Sehr richtig! A DELE (grinst plötzlich.) S TADTRAT Lach nicht! A DELE Wenn ich dich so seh, find ich das direkt komisch, wie du da den jungen Menschen im Weg herumstehst – (Sie schluchzt wieder.) S TADTRAT Heul nicht!

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Ein Wochenendspiel

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A DELE Das sind die Nerven – K RANZ Die typische Weiberlogik. S TADTRAT Wir zwei sind getrennte Leut. K RANZ Langes Haar, kurzer Verstand! – Aber offen gesagt: Ich finds ja schon auch, daß es sozusagen etwas überstürzt war, den Martin so mirnix-dirnix auszuschließen, samt seinem Anhang – er hat doch einen ziemlichen Anhang, einen starken Anhang, und nicht den schlechtesten Anhang – und er hat doch sozusagen gar nicht so unrecht gehabt – S TADTRAT Findst du? K RANZ Wenn wir jetzt auch solche Kleinkaliber hätten als wie diese Faschisten, dann müssten wir uns jetzt nicht unschuldig verhaun lassen, sondern könnten uns wehren – w e h r e n – Das ist doch logisch, ha? S TADTRAT Logisch – E NGELBERT Logisch oder nicht logisch! Nach den Statuten mußten wir Martin ausschließen! (Und abermals die Trillerpfeife) K RANZ Hörst deine Statuten? Hörst sie? Ich scheiß dir was auf solche Statuten! E NGELBERT Hört, hört! K RANZ Das sind doch ganz veraltete Statuten! E NGELBERT Natürlich gehören auch Statuten ab und zu geändert, die Welt ist doch in lebendigem Fluß – S TADTRAT (unterbricht ihn.) Findst du? B ETZ Ja. (Er nähert sich ihm.) Alfons. Nicht nur Menschen, auch Statuten altern – und alte Statuten erreichen oft das Gegenteil von dem, was sie bezwecken wollen, und werden unbrauchbar und lächerlich – S TADTRAT Findst du? K RANZ Also ich möchte hiemit offiziell dafür plädieren, daß unseres Kameraden Martin überstürzter Ausschluß wieder rückgängig gemacht werden soll! S TADTRAT Rückgängig? K RANZ Jawohl! S TADTRAT (sieht sich fragend um.) B ETZ Ja. E NGELBERT Hm. S TADTRAT (zu E NGELBERT ) Ja oder nein? (Stille) E NGELBERT Ja. (Stille) S TADTRAT Wo ist mein Hut? A DELE (reicht ihm seinen Hut.) Da. S TADTRAT (setzt den Hut tief in die Stirne; tonlos) Umzingelt. Überfallen. Meuchlerisch. Schlange an der Brust. Auch du, mein Sohn Brutus – A DELE Undank ist der Welten Lohn. S TADTRAT Ich werd mich aus dem politischen Leben zurückziehn – Jetzt geh ich nirgends mehr hin – Höchstens, daß ich noch kegeln werd oder singen – A DELE Endlich, Alfons. (Riesiger Tumult vor dem Gartenlokal) K RANZ (bewaffnet sich mit zwei Gartenstühlen.) Jetzt! Da! E NGELBERT (weicht ganz zurück.)

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Ein Wochenendspiel

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S TADTRAT (scheint nichts zu hören, stiert vor sich hin und zeichnet kleine Zeichen in die Luft.) B ETZ (lauscht.) 5

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M ARTIN (betritt rasch den Garten.) E NGELBERT Martin! (Stille) M ARTIN (lächelt.) Zu Befehl, Herr! Ich gestatte mir nur zu melden, daß hier niemand mehr eine Angst zu haben braucht, denn die Herren Faschisten sind soeben vertrieben worden, und zwar mit Schwung! Ihr Besuch hat nämlich uns gegolten, mir und meinen Genossen, nicht euch! Und wir sind halt nun mal so veranlagt, daß wir für unsere Taten einstehen, selbst wenn so eine Tat auch mal eine richtige Blödheit gewesen sein sollt. M ARTINS G ENOSSEN (sind ihm nun in den Garten gefolgt.) K RANZ Also das ist sehr edel von euch, nicht andere Unschuldige für eure Blödheiten büßen zu lassen! B ETZ Martin! Du weißt, daß ich dich sehr schätz – E NGELBERT (unterbricht ihn.) Martin! Ich bin durch den Gang der Dinge zu der Überzeugung gekommen, daß dein Ausschluß ungerechtfertigt ist, und ich bedauer es ehrlich, daß ich ihn so überstürzt gefordert hab. B ETZ Im Namen des Vorstandes bitte ich dich, wieder unser Kamerad zu werden. M ARTIN (verbeugt sich leicht.) Danke. Aber leider seid ihr zu spät dran, denn es wurde bereits ein neuer Schutzbund gegründet. E NGELBERT (setzt sich.) S TADTRAT (trocknet sich verstohlen einige Tränen ab.) K RANZ (stiert M ARTIN fassungslos an.) M ARTIN (zu B ETZ ) Aber im Namen unseres jungen Schutzbundes kann ich dir nur mitteilen, daß es uns freuen würde, dich als unseren Kameraden begrüßen zu können – B ETZ (verbeugt sich leicht.) Danke. M ARTIN (lächelt.) Es tut mir nämlich schon lange weh, daß ich dich in der Gesellschaft seh – ENDE

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Italienische Nacht Arcadia-Fassung (Endfassung, emendiert)

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Italienische Nacht (Arcadia-Fassung)

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Italienische Nacht Volksstück von

Ödön Horváth

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S TADTRAT K RANZ E NGELBERT B ETZ W IRT K ARL M ARTIN M ARTINS G ENOSSEN E IN F ASCHIST D ER M AJOR A DELE A NNA L ENI D IE D VORAKISCHE Z WEI P ROSTITUIERTE F RAU H INTERBERGER G ESCHWISTER L EIMSIEDER R EPUBLIKANER UND F ASCHISTEN

Ort: Süddeutsche Kleinstadt Zeit: 1930–?

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Erstes Bild. Im Wirtshaus des Josef Lehninger. K RANZ , E NGELBERT und der S TADTRAT A MMETSBERGER spielen Tarock. K ARL kiebitzt. B ETZ trinkt zufrieden sein Bier. M ARTIN liest die Zeitung. Der W IRT bohrt in der Nase. Es ist Sonntagvormittag, und die Sonne scheint. (Stille) B ETZ Martin. Was gibts denn Neues in der großen Welt? M ARTIN Nichts. Daß das Proletariat die Steuern zahlt, und daß die Herren Unternehmer die Republik prellen, hint und vorn, das ist doch nichts Neues. Oder? B ETZ (leert sein Glas.) M ARTIN Und daß die Herren republikanischen Pensionsempfänger kaiserlich reaktionäre Parademärsch veranstalten mit Feldgottesdienst und Kleinkaliberschie-

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ßen, und daß wir Republikaner uns das alles gefallen lassen, das ist doch auch nichts Neues. Oder? B ETZ Wir leben in einer demokratischen Republik, lieber Martin. (Jetzt zieht draußen eine Abteilung F ASCHISTEN mit Musik vorbei. A LLE , außer M ARTIN und K RANZ , eilen an die Fenster und sehen sich stumm den Zug an – Erst als er vorbei ist, rühren sie sich wieder.) S TADTRAT Von einer akuten Bedrohung der demokratischen Republik kann natürlich keineswegs gesprochen werden. Schon weil es der Reaktion an einem ideologischen Unterbau mangelt. Kameraden! Solange es einen republikanischen Schutzverband gibt, und solange ich hier die Ehre habe, Vorsitzender der hiesigen Ortsgruppe zu sein, solange kann die Republik ruhig schlafen! E NGELBERT Bravo! K RANZ Ich möchte das Wort ergreifen! Ich möchte jetzt etwas vorschlagen! Ich möchte jetzt dafür plädieren, daß wir jetzt wieder weitertarocken und uns nicht wieder stören lassen von diesen germanischen Hoftrotteln samt ihrem dritten Reich! S TADTRAT Sehr richtig! K ARL Wie ist das eigentlich heut nacht? S TADTRAT Was denn? K ARL Na in bezug auf unsere italienische Nacht heut nacht – S TADTRAT (unterbricht ihn.) Natürlich steigt unsere italienische Nacht heut nacht! Oder glaubt denn da wer, daß es sich der republikanische Schutzverband von irgendeiner reaktionären Seite her verbieten lassen könnt, hier bei unserem Freunde Josef Lehninger eine italienische Nacht zu arrangieren, und zwar wann er will? Unsere republikanische italienische Nacht steigt heut nacht trotz Mussolini und Konsorten! (Er setzt sich wieder, mischt und teilt.) E NGELBERT (hat sich auch wieder gesetzt.) Daß du das nicht weißt! K ARL Woher soll ich denn das wissen? B ETZ Ich habs doch bereits offiziell verkündet. E NGELBERT Aber der Kamerad Karl war halt wieder mal nicht da. K ARL Ich kann doch nicht immer da sein. E NGELBERT Sogar beim letzten Generalappell war er nicht da, vor lauter Weibergeschichten. K RANZ Solo! S TADTRAT Bettel! E NGELBERT Aus der Hand? S TADTRAT Aus der hohlen Hand! K ARL (zu B ETZ ) Soll ich mir das jetzt gefallen lassen? Das mit den Weibergeschichten? B ETZ Du kannst es doch nicht leugnen, daß dich die Weiber von deinen Pflichten gegenüber der Republik abhalten – K ARL Also das sind doch meine intimsten Privatinteressen, muß ich schon bitten. Und zwar energisch! (Jetzt zieht draußen abermals eine Abteilung F ASCHISTEN mit Musik vorbei. – A LLE lauschen, aber keiner tritt an das Fenster. Stille) B ETZ Es ist halt alles relativ. M ARTIN Aber was! Eine Affenschand ist das! Während sich die Reaktion bewaffnet, veranstalten wir braven Republikaner italienische Nächt!

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B ETZ Eigentlich ists ja unglaublich, daß die Reaktion derart erstarkt. M ARTIN Einen Dreck ist das unglaublich! Das konnt man sich ja direkt ausrechnen – Wer die wirtschaftliche Macht hat, hat immer recht, bekanntlich. Aber ihr vom Vorstand scheint das nicht zu wissen. Noch bild ichs mir ein, daß ihr wissen wollt, aber ab und zu fällts mir schon recht schwer – E NGELBERT Hoho! B ETZ Du bist halt ein Pessimist. M ARTIN Fällt mir nicht ein! S TADTRAT Ein Krakeeler ist er! Ein ganz gewöhnlicher Krakeeler. (Stille) M ARTIN (erhebt sich langsam.) Herr Stadtrat. Sag mal, Herr Stadtrat: Kennst du noch einen gewissen Karl Marx? S TADTRAT (schlägt auf den Tisch.) Natürlich kenn ich meinen Marx! Und ob ich meinen Marx kenn! Und außerdem verbitt ich mir das! E NGELBERT Sehr richtig! K RANZ Solo! S TADTRAT Oder glaubst denn du, du oberflächlicher Phantast, daß kurz und gut mit der Verwirklichung des Marxismus kurz und gut das Paradies auf Erden entsteht? M ARTIN Was du unter kurz und gut verstehst, das weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, was du unter Paradies verstanden haben willst, aber ich kanns mir lebhaft ausmalen, was du unter Marxismus verstehst. Verstanden? Was ich darunter versteh, daran glaub ich. K RANZ Solo, Herrgottsakrament! (Er spielt aus.) (Stille) B ETZ Weißt du, was ich nicht kann? M ARTIN Na? B ETZ Ich kann nicht glauben. (Stille) M ARTIN Das glaub ich gern, daß du nicht glauben kannst. Du kannst nicht glauben, weil du nicht mußt. Du bist ja auch kein Prolet, du pensionierter Kanzleisekretär – B ETZ Ich bin zwar Kanzleiobersekretär, aber das spielt natürlich keine Rolle. M ARTIN Natürlich. B ETZ Das ist gar nicht so natürlich! M ARTIN (sieht ihn verdutzt an.) Geh so leck mich doch am Arsch! (rasch ab mit seiner Zeitung) (Stille) W IRT Obs wieder regnen wird? Jedsmal, wenn ich eine Sau abstich, versaut mir das Wetter die ganze italienische Nacht. B ETZ Das glaub ich nicht. W IRT Warum? Weils ihr seid? B ETZ Nein. Sondern weil das Tief über Irland einem Hoch über dem Golf von Biskaya gewichen ist. W IRT Wer behauptet das? B ETZ Die amtliche Landeswetterwarte. W IRT Geh laßts mich aus mit den Behörden! M ARTIN (erscheint wieder, tritt zu B ETZ und legt ein Flugblatt vor ihn hin.) Da! B ETZ Was soll ich damit?

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M ARTIN Lesen! B ETZ Warum soll ich das dumme faschistische Zeug da lesen? M ARTIN Weils dich interessieren dürft. B ETZ Aber keine Idee! M ARTIN (mit erhobener Stimme) Das da dürfte sogar alle anwesenden Herrschaften hier interessieren! D IE H ERRSCHAFTEN (horchen auf.) S TADTRAT Was hat er denn schon wieder, dieser ewige Querulant? B ETZ (überflog mechanisch das Flugblatt, stockt und schlägt nun mit der Faust auf den Tisch.) Was?! Na das ist empörend! Ist das aber empörend, Josef! W IRT (wird unsicher und will sich drücken.) B ETZ (fixiert ihn empört.) Halt! – Halt, lieber Josef – Das da dürft nämlich vor allem dich interessieren – Weißt du, was da drinnen geschrieben steht? W IRT (verlegen) Nein – B ETZ Du kannst also nicht lesen? W IRT (lächelt verzweifelt.) Nein – B ETZ Analphabet? S TADTRAT (hat aufgehorcht.) Was soll denn das schon wieder darstellen dort? W IRT Nichts, Leutl! Nichts – B ETZ Nichts? Aber was du da nicht sagst, lieber Josef?! Ich glaub gar, du bist ein grandioser Schuft! W IRT Das darfst du nicht sagen, Heinrich! B ETZ Ich sags sogar noch mal, lieber Josef. S TADTRAT Wieso? K RANZ Ja Sakrament – M ARTIN (unterbricht ihn.) Moment! B ETZ Moment! Das hier ist ein sogenannter Tagesbefehl – der Tagesbefehl der Herren Faschisten für ihren heutigen deutschen Tag – (Er reicht das Blatt K ARL .) Josef! Wir Republikaner sind deine Stammgäst, und du verkaufst deine Seele! Und alles um des Mammons willen! K ARL Also das ist ja direkt impertinent! Bitte mir zuzuhören, Kameraden! (Er liest.) „Ab sechzehn Uhr bis achtzehn Uhr treffen sich die Spielleute im Gartenlokal des Josef Lehninger“ – K RANZ Was für Spielleut? K ARL Die faschistischen Spielleut! Pfui Teufel! B ETZ Eine Schmach ist das! Der liebe Kamerad Josef reserviert unseren Stammtisch für die Reaktion! K ARL Und wir Republikaner, denkt er, kommen dann hernach dran mit unserer italienischen Nacht und kaufen ihm brav sein Zeug ab, die Brosamen, die wo die Herren Reaktionäre nicht mehr zammfressen konnten! E NGELBERT Hört, hört! W IRT Ich glaub, wir reden aneinander vorbei – M ARTIN Aber was! K ARL Ah das ist aber korrupt! W IRT Ich bin nicht korrupt! Das bin ich nicht, Leutl, das ist meine Frau – K ARL Papperlapapp! W IRT Da gibts kein Papperlapapp! Ihr kennt meine Frau nicht, liebe Leutl! Die scheißt sich was um die politischen Konstellationen. Der ist es sauwurscht, wer

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ihre Würst zammfrißt! Und ich Rindvieh hab mal von einem heiteren Lebensabend geträumt! Und wenn ich jetzt den schwarzweißroten Fetzen nicht raussteck, verderben mir sechzig Portionen Schweinsbraten, das war doch ein furchtbarer Blödsinn, die Reichsfarben zu ändern! Meiner Seel, ich bin schon ganz durcheinand! K RANZ Wenn du jetzt nicht mein Freund wärst, tät ich dir jetzt ins Gsicht spucken, lieber Josef! E NGELBERT Bravo! (Stille) W IRT (verzweifelt) Meiner Seel, jetzt sauf ich mir einen an, und dann erschieß ich meine Alte. Und dann spring ich zum Fenster naus, aber vorher zünd ich noch alles an. (ab) S TADTRAT (wirft zornbebend die Karten zu Boden.) (Stille) S TADTRAT Dieser Schmutz. (mit erhobener Stimme) Aber sehen möcht ich doch, welche Macht unsere italienische Nacht heut nacht zu vereiteln vermag! Kameraden! Wir weichen nicht, und wärs die vereinigte Weltreaktion! Unsere republikanische italienische Nacht steigt heute nacht, wie gesagt! Auch ein Herr Josef Lehninger wird uns keinen Strich durch die Rechnung machen! Kommt Kameraden! (ab) M ARTIN Hurrah! K RANZ Du Mephisto – A LLE (verlassen das Lokal.) --------------------

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Straße. Alle Häuser sind schwarzweißrot beflaggt, weil die hiesige Ortsgruppe der F ASCHISTEN , wie dies auch ein Transparent verkündet, einen deutschen Tag veranstaltet. Eben zieht eine Abteilung mit Fahne, Musik und Kleinkalibern vorbei, gefolgt von Teilen der vaterländisch gesinnten Bevölkerung – Auch die D VORAKISCHE und das F RÄULEIN L ENI ziehen mit. L ENI Jetzt kann ich aber nicht mehr mit. D IE D VORAKISCHE Da tuns mir aber leid, Fräulein! L ENI Die Musik ist ja fein, aber für die Herren in Uniform könnt ich mich nicht begeistern. Die sehn sich alle so fad gleich. Und dann werdens auch gern so eingebildet selbstsicher. Da sträubt sich etwas in mir dagegen. D IE D VORAKISCHE Das glaub ich gern, weil Sie halt keine Erinnerung mehr haben an unsere Vorkriegszeit. L ENI Ich muß jetzt da nach links. D IE D VORAKISCHE Fräulein, Sie könnten mir eigentlich einen großen Gefallen tun – L ENI Gern! D IE D VORAKISCHE Ihr Herr Major muß doch ganz pompöse Uniformen haben –

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L ENI Ja, das stimmt, weil er früher auch in den Kolonien gewesen ist, die wo uns Deutschen geraubt worden sind. D IE D VORAKISCHE Geh fragens doch mal den Herrn Major, ob er mir nicht so eine alte Uniform verkaufen möcht, es passiert Ihnen nichts – L ENI Wie meinens denn das? D IE D VORAKISCHE Das sagt man halt so. (Stille) L ENI Was möchtens denn mit der Uniform anfangen? D IE D VORAKISCHE (lächelt.) Anschaun. L ENI Ist das alles? D IE D VORAKISCHE Wie mans nimmt – (Stille) L ENI Nein, das wär mir, glaub ich, unheimlich – D IE D VORAKISCHE (plötzlich wütend) Dumme Gans, dumme! Ihr jungen Leut habt halt keine Illusionen mehr! (rasch ab) (Trommelwirbel) K ARL (kommt und erkennt L ENI .) Ist das aber ein Zufall! L ENI Ich hab jetzt nicht viel Zeit, Herr Karl! K ARL Ich auch nicht. Aber ich möcht Ihnen doch nur was vorschlagen, Fräulein! L ENI Was möchtens mir denn vorschlagen? K ARL Daß wir zwei Hübschen uns womöglich heut abend noch treffen, möcht ich vorschlagen – Ich hätts Ihnen schon gestern vorschlagen – vorgeschlagen, aber es hat sich halt keine Gelegenheit ergeben – L ENI Lügens mich doch nicht so an, Herr Karl. (Stille) K ARL (verbeugt sich barsch.) Gnädiges Fräulein. Das hab ich doch noch niemals nicht notwendig gehabt, ein Weib anzulügen, weil ich doch immerhin ein gerader Charakter bin, merken Sie sich das! L ENI Ich wollt Sie doch nicht beleidigen – K ARL Das können Sie auch nicht. L ENI (starrt ihn an.) Was verstehen Sie darunter, Herr Karl? K ARL Ich versteh darunter, daß Sie mich nicht beleidigen können, weil Sie mir sympathisch sind – Sie könnten mich höchstens kränken, Fräulein. Das versteh ich darunter. Pardon! (Stille) L ENI Ich glaub gar, Sie sind ein schlechter Mensch. K ARL Es gibt keine schlechten Menschen, Fräulein. Es gibt nur sehr arme Menschen. Pardon! (Stille) L ENI Ich wart aber höchstens zehn Minuten – K ARL Und ich nur fünf. L ENI (lächelt.) Also dann bin ich halt so frei, Sie schlechter Mensch – (ab) M ARTIN und B ETZ (kommen.) M ARTIN (sieht L ENI , die rasch an ihm vorbeigegangen ist, nach; dann betrachtet er K ARL spöttisch.) K ARL Sag mal Martin: Ich nehm natürlich an, daß bei unserer italienischen Nacht heut nacht nicht nur eingeschriebene ordentliche und außerordentliche Mitglieder, sondern auch Sympathisierende gern gesehen sind –

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M ARTIN Von mir aus. K ARL Ich hab nämlich grad jemand eingeladen. Eine mir bekannte Sympathisierende von mir. M ARTIN War das die da? K ARL Kennst du die da? M ARTIN Leider. K ARL Wieso? M ARTIN Weil das ein ganz stures Frauenzimmer ist. K ARL Ich find aber, daß sie was Bestimmtes hat – M ARTIN Aber was! Ich meinte doch, daß dieses Frauenzimmer ganz stur ist, nämlich in politischer Hinsicht, das ist doch eine geborene Faschistin, Herrgottsakrament! Wie kann man nur mit so was herumpoussieren! K ARL Mein lieber Martin, das verstehst du nicht. Wir zwei beide sind aufrechte Republikaner, aber wir haben dabei einen Unterschied. Du bist nämlich Arbeiter und ich Musiker. Du stehst am laufenden Band, und ich spiel in einem Konzertcafé Schumann, Mozart, Kalman und Johann Strauss – Daher bin ich natürlich der größere Individualist, schon weil ich halt eine Künstlernatur bin. Ich hab die stärkeren privaten Interessen, aber nur scheinbar, weil sich bei mir alles gleich ins Künstlerische umsetzt. M ARTIN (grinst.) Das sind aber feine Ausreden – K ARL Das bin ich mir einfach schuldig, daß ich in erotischer Hinsicht ein politisch ungebundenes Leben führ – Pardon! (ab) M ARTIN Nur zu! (Er grinst.) (Stille) B ETZ Martin, du weißt, daß ich dich schätz, trotzdem daß du manchmal schon direkt unangenehm boshaft bist – Ich glaub, du übersiehst etwas sehr Wichtiges bei deiner Beurteilung der politischen Weltlage, nämlich das Liebesleben in der Natur. Ich hab mich in der letzten Zeit mit den Werken von Professor Freud befaßt, kann ich dir sagen. Du darfst doch nicht vergessen, daß um unser Ich herum Aggressionstriebe gruppiert sind, die mit unserem Eros in einem ewigen Kampfe liegen, und die sich zum Beispiel als Selbstmordtriebe äußern, oder auch als Sadismus, Masochismus, Lustmord – M ARTIN Was gehen mich deine Perversitäten an? B ETZ Das sind doch auch die deinen! M ARTIN Was du da nicht sagst! B ETZ Oder hast du denn deine Anna noch nie gekniffen oder sonst irgendsowas, wenn du – ich meine: im entscheidenden Moment – M ARTIN Also, das geht dich einen großen Dreck an. B ETZ Und dann sind das doch gar keine Perversitäten, sondern nur Urtriebe! Ich kann dir sagen, daß unsere Aggressionstriebe eine direkt überragende Rolle bei der Verwirklichung des Sozialismus spielen, nämlich als Hindernis. Ich fürcht, daß du in diesem Punkte eine Vogel-Strauß-Politik treibst. M ARTIN Weißt du, was du mich jetzt abermals kannst? (ab) B ETZ (sieht ihm nach) Auch der kann die Wahrheit nicht vertragen – Jugend kennt halt keine Tugend. --------------

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Seitenstraße. Mit vielen Fahnen. Die Luft ist voll von Militärmusik. An der Ecke stehen ZWEI P ROSTITUIERTE . Es ist bereits spät am Nachmittag. Der S TADTRAT A MMETSBERGER geht vorbei. Die P ROSTITUIERTEN zwinkern. E RSTE Kennst du den? Z WEITE Er ist nicht unrecht. E RSTE Ich glaub, er ist was bei der Stadt. Irgendein Tier. Z WEITE Wahrscheinlich. (Jetzt wehen die Fahnen im Winde.) Z WEITE (sieht empor.) Wenns nur keine Fahnen gäb – E RSTE Fahnen sind doch direkt erhebend. Z WEITE Nein – wenn ich so Fahnen seh, ists mir immer, als hätten wir noch Krieg. E RSTE (mit dem Lippenstift) Ich kann nichts gegen den Weltkrieg sagen. Das wär undankbar. (Pause) Z WEITE (sieht noch immer empor.) Wie das weht – Was nützt uns das? E RSTE Für mich sind am besten landwirtschaftliche Ausstellungen oder überhaupt künstlerische Veranstaltungen. Auch so vaterländische Feierlichkeiten sind nicht schlecht. (Pause) Z WEITE Eigentlich ist der Krieg dran schuld. E RSTE An was denn? Z WEITE An mir. E RSTE Lächerlich! Alle reden sich naus auf den armen Krieg! A NNA (kommt und hält an der anderen Ecke; sie wartet.) E RSTE Wer ist denn das? Z WEITE Ich kenn sie nicht. E RSTE Die sieht so neu aus. Und dann sieht sie doch wem ähnlich – Z WEITE (grinst.) Dir – E RSTE (starrt sie an.) Also das war jetzt gemein von dir, Luise. D REI F ASCHISTEN (kommen an A NNA vorbei.) A NNA (weicht ihnen aus.) D IE F ASCHISTEN (halten vor ihr und grinsen sie an.) A NNA (will ab.) M ARTIN (tritt ihr in den Weg, grüßt kurz und spricht mit ihr.) D IE F ASCHISTEN und DIE P ROSTITUIERTEN (horchen, hören aber nichts.) A NNA Und? M ARTIN Da gibts kein Und. Er hat sich halt wieder herausgelogen, der Herr Stadtrat. Das wäre unter seiner republikanischen Würde, hat er gesagt. Es kommt alles, wie es kommen muß. A NNA Ein korrupter Mensch. M ARTIN Herrschen tut der Profit. Also regieren die asozialen Elemente. Und die schaffen sich eine Welt nach ihrem Bilde. Aber garantiert! Heut gibts noch einen Tanz auf denen ihrer italienischen Nacht! Zur freundlichen Erinnerung! D IE F ASCHISTEN (beschäftigen sich nun mit den P ROSTITUIERTEN .) A NNA Weißt du, was die Genossen sagen?

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M ARTIN Was? A NNA Daß du eine Zukunft hast. M ARTIN (zuckt die Schulter.) Sie kennen mich halt. Ich müßt aber fort. In irgendeine Metropole. A NNA Ich hab auch das Gefühl, daß man auf dich wartet. M ARTIN Hier hab ich ein viel zu kleines Betätigungsfeld. Das könnt auch ein anderer machen, was ich hier mach. A NNA Nein, das könnt keiner so machen! M ARTIN Du weißt, daß ich das nicht gern hör! A NNA Aber es ist doch so! Wenn alle so wären wie du, stünd es besser um uns Menschen. M ARTIN Aber ich kann doch nichts dafür, daß ich so bin! Daß ich der Intelligentere bin, und daß ich mehr Durchschlagskraft hab, das verpflichtet mich doch nur, mich noch intensiver für das Richtige einzusetzen! Ich mag das nicht mehr hören, daß ich eine Ausnahme bin. Herrgottsakrament! Ich bin keine, merk dir das! A NNA Das kannst du einem doch auch anders sagen, daß du keine Ausnahme bist – (Stille) M ARTIN Anna, die Zeit braust dahin, und es gibt brennendere Probleme auf der Welt als wie Formfragen. Vergiß deine Pflichten nicht! (ab) Z WEI F ASCHISTEN (sind inzwischen mit den P ROSTITUIERTEN verschwunden; DER D RITTE fixiert nun A NNA .) A NNA (plötzlich) Nun? D ER D RITTE (grinst.) A NNA (lächelt.) Nun? K ARL (erscheint hinter dem F ASCHISTEN .) A NNA (fährt zurück.) K ARL Pardon! D ER D RITTE (grinst; er grüßt A NNA spöttisch-elegant und ab.) (Stille) K ARL (unterdrückt seine Erregung.) Pardon, Gnädigste! A NNA Du Trottel! K ARL Um Gottes willen. Eine Anna und dieser Faschist, da stürzt ja in mir eine Welt zusammen – Wer ist jetzt verrückt? Ich oder du?! A NNA Du! Ich streng mich da an, fädel was ein, und du zertrampelst mir wieder alles, du unüberlegter Mensch! K ARL Unüberlegt! A NNA Und unverantwortlich! K ARL Unverantwortlich! Grad schimpft mich der Martin zusammen, weil ich mich für ein unpolitisches Weib interessier, und derweil bandelt die Seine mit einem Faschisten an – Meiner Seel, jetzt glaub ichs aber gleich, daß ich verrückt bin! Korrekt verrückt! So wie sichs gehört! A NNA So beruhig dich doch! K ARL Oh du mein armer Martin! A NNA Aber ich tu doch gar nichts ohne Martin! K ARL (starrt sie an.) Wie bitte? A NNA Ich tu doch gar nichts Unrechtes! K ARL So?

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A NNA Das ist doch alles in Ordnung – Der Martin möcht doch nur etwas genauere Informationen über denen ihre Kleinkaliber haben – und dazu soll ich mich halt einem Faschisten nähern, um ihn auszuhorchen – (Stille) K ARL (zündet sich eine Zigarette an.) A NNA Was hast denn du jetzt gedacht? K ARL Ich? Pardon! A NNA Das war doch eine grobe Beleidigung – K ARL Pardon! A NNA Schäm dich! (Stille) K ARL Anna. Ich hab schon viel erlebt auf erotischem Gebiete, und dann wird man halt mit der Zeit leicht zynisch. Besonders, wenn man so eine scharfe Beobachtungsgabe hat. Du bist natürlich eine moralische Größe. Du hast dich überhaupt sehr verändert. A NNA (lächelt.) Danke. K ARL Bitte. Du warst mal nämlich anders. Früher. A NNA (nickt.) Ja, früher. K ARL Da warst du nicht so puritanisch. (Stille) A NNA (plötzlich ernst) Und? K ARL Wenn ich dich so seh, krieg ich direkt einen Moralischen. Der Martin hat schon sehr recht, man soll sich nicht so gehen lassen – Jetzt hab ich halt schon wieder ein Rendezvous, sie ist zwar politisch indifferent – (Er sieht auf seine Uhr.) A NNA Dann würd ich an deiner Stelle einen heilsamen Einfluß auf sie ausüben. K ARL Meiner Seel, das werd ich auch! Ehrenwort! Es hat doch keinen Sinn, als Vieh durch das Leben zu laufen und immer nur an die Befriedigung seiner niederen Instinkte zu denken – Aber komisch find ich das doch von Martin. A NNA Was? K ARL Ich könnte ja nie … A NNA Was denn? K ARL Ich kanns mir nicht vorstellen, wie er dich liebt. Ich meine: ob normal, so wie sichs gehört – A NNA Was willst du? K ARL Es tät mich nur interessieren. Wenn er nämlich sowas von dir verlangt, er schickt dich doch gewissermaßen auf den politischen Strich – Ob er dabei innere Kämpfe hat? A NNA Innere Kämpfe? K ARL Ja! (Stille) A NNA Aber was! Du kannst mich nicht durcheinanderbringen! Ich kenn den Martin besser! Der steht über uns allen! Ich war blöd, dumm, verlogen, klein, häßlich – Er hat mich emporgerissen. Ich war nie mit mir zufrieden. Jetzt bin ichs. K ARL (verbeugt sich leicht.) A NNA Jetzt hab ich einen Inhalt, weißt du? (langsam ab) K ARL (sieht auf seine Uhr.) (Es dämmert stark.)

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L ENI (kommt.) Guten Abend, Herr Karl! Ich freu mich nur, daß Sie noch da sind! Ich konnt leider nicht früher! K ARL Wir haben ja noch Zeit. Und dann siehts ja auch nicht schlechter aus, wenn man später kommt. L ENI Warum denn so traurig? K ARL Traurig? L ENI Nein, diese Stimme – wie aus dem Grab. (Sie lächelt.) K ARL Ich hab grad ein Erlebnis hinter mir. Ich glaub, ich bin verflucht. L ENI Aber Herr Karl! Wenn jemand einen so schönen Gang hat! (Sie lacht und verstummt wieder plötzlich, da er totenernst bleibt.) (Stille) K ARL Ja, Fräulein. Sie verstehen mich anscheinend nicht, ich müßt Ihnen das nämlich stundenlang auseinandersetzen – Ich seh schwarz in die Zukunft, Fräulein. L ENI Geh, Sie sind doch ein Mann – K ARL Gerade als Mann darf man eher verzweifeln, besonders ich, weil ich den politischen Tagesereignissen näher steh. – Sie kümmern sich nicht um Politik? L ENI Nein. K ARL Das sollten Sie aber. L ENI Warum redens denn jetzt darüber? K ARL In Ihrem Interesse. L ENI Wollens mich ärgern? K ARL Es wär Ihre Pflicht als Staatsbürger – L ENI Warum wollens mir denn jetzt die ganze Stimmung verderben, ich hab mich ja schon so gefreut auf Ihre italienische Nacht! (Stille) K ARL Ich bin nämlich nicht so veranlagt, daß ich eine Blume einfach nur so abbrech, am Wegrand, ich muß auch menschlich einen Kontakt haben – und das geht bei mir über die Politik. L ENI Geh, das glaubens doch selber nicht! K ARL Doch! Ich könnt zum Beispiel nie mit einer Frau auf die Dauer harmonieren, die da eine andere Weltanschauung hätt. L ENI Ihr Männer habt alle eine ähnliche Weltanschauung! (Stille) K ARL Sie sind doch eine Deutsche? L ENI Ja. K ARL Sehns, Fräulein, das ist der Fluch speziell von uns Deutschen, daß wir uns nicht um Politik kümmern, wir sind kein politisches Volk – Bei uns gibts noch massenweis Leut, die keine Ahnung haben, wer sie regiert. L ENI Ist mir auch gleich. Besser wirds nicht. Ich schau, daß ich durchkomm. K ARL Mir scheint, Sie haben keine Solidarität. L ENI Redens doch nicht so protzig daher! K ARL Mir scheint, daß Sie gar nicht wissen, wer der Reichspräsident ist? L ENI Ich weiß nicht, wie die Leut heißen! K ARL Wetten, daß Sie nicht wissen, wer der Reichskanzler ist? L ENI Weiß ich auch nicht! K ARL Also das ist ungeheuerlich! Und wieder mal typisch deutsch! Können Sie sich eine Französin vorstellen, die das nicht weiß?

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L ENI So gehens halt nach Frankreich! K ARL Wer ist denn der Reichsinnenminister? Oder wieviel Reichsminister haben wir denn? Ungefähr? L ENI Wenn Sie jetzt nicht aufhören, laß ich Sie stehen! K ARL Unfaßbar! (Stille) L ENI Das hab ich mir auch anders gedacht, diesen Abend. K ARL Ich auch. L ENI Einmal geht man aus – und dann wird man so überfallen. K ARL (sieht auf seine Uhr.) Jetzt wirds allmählich Zeit. L ENI Am liebsten möcht ich gar nicht mehr hin. – K ARL Aber was! (Er umarmt sie und gibt ihr einen Kuß.) L ENI (wehrt sich nicht.) –----------

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In den städtischen Anlagen, vor dem Denkmal des ehemaligen Landesvaters. Z WEI B URSCHEN bemalen das Antlitz des Landesvaters mit roter Farbe. E IN D RITTER steht Schmiere. Es dämmert bereits stark. In weiter Ferne spielen die F ASCHISTEN den bayerischen Präsentiermarsch.

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E RSTER Die werden morgen schauen, wie sehr sich Seine Majestät verändert haben – Seine Majestät haben einen direkt roten Kopf bekommen – einen blutroten Kopf – Z WEITER Wie stolz daß der dreinschaut! E RSTER (klatscht mit dem Pinsel in Seine Majestäts Antlitz.) Schad, daß der nur einen Kopf hat! D RITTER Halt! Z WEITER Ha? D RITTER Meiner Seel, da kommen gleich zwei! Z WEITER Heim! E RSTER Fertig! (rasch ab mit SEINEN G ENOSSEN .) (Jetzt wirds bald ganz Nacht.) A NNA (kommt mit einem F ASCHISTEN .) D ER F ASCHIST Es ist das eine wirklich schöne Stadt hier, Ihre Stadt, Fräulein! Sie als Kind dieser Stadt muß das doch mit einem ganz besonderen Stolz erfüllen. A NNA Ich bin auch stolz, daß ich von hier bin. D ER F ASCHIST Ehre deine Heimat! Und was Sie hier für zweckmäßige Anlagen haben – A NNA Wollen wir uns nicht setzen? D ER F ASCHIST Gestatten! (Sie setzen sich.) A NNA Ich bin nämlich etwas müd, weil ich den ganzen Tag mitmarschiert bin. D ER F ASCHIST Haben Sie auch Militärmusik im Blut? A NNA Und ob! Mein Vater war ja aktiver Feldwebel! D ER F ASCHIST Hochachtung! (Stille)

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D ER F ASCHIST Das dort drüben, das ist doch das überlebensgroße Denkmal Seiner Majestät? A NNA Ja. D ER F ASCHIST Ich habe bereits die Ehre gehabt, es kennenzulernen. Wir hatten heut früh hier eine interne Gruppenaussprache – Ein wirklich schönes Denkmal ist das, voller Stil. Schad, daß es schon so dunkel ist, man kanns ja gar nicht mehr bewundern! A NNA War die interne Gruppenaussprache sehr feierlich? D ER F ASCHIST Überaus! A NNA Über was hat man denn gesprochen? D ER F ASCHIST Über unsere Mission. – Es ist nicht wahr, wenn feige Söldner des Geldes sagen, wir seien in die Welt gesetzt, um zu leiden, zu genießen und zu sterben! Wir haben hier eine Mission zu erfüllen! Der eine fühlt den Trieb stärker in sich, der andere schwächer. In uns brennt er wie Opferfeuer! Wir gehen bis zum letzten durch! (Stille) A NNA Ich möcht jetzt gern was wissen. D ER F ASCHIST Jederzeit! A NNA Ich bin nämlich politisch noch sehr unbedeutend und kenn mich noch nicht so recht aus mit Ihrer Bewegung – D ER F ASCHIST (unterbricht sie.) Das Weib gehört an den heimlichen Herd, es hat dem kämpfenden Manne lediglich Hilfsstellung zu gewähren! A NNA Ich wollt ja nur etwas wissen über die Zukunft, ungefähr – D ER F ASCHIST Fräulein. Dringen Sie nicht in mich, bitte. Ich darf darüber nichts sagen, weil das ein heiliges Geheimnis ist. (Stille) D ER F ASCHIST Und was sind das doch schon für ungereimte Torheiten, wenn man behauptet, wir seien keine proletarische Partei! Ich weiß, was ich rede! Ich gehör zu den gebildeteren Ständen und bin doch auch nicht der Dümmste! Ich bin Drogist. A NNA Jetzt wirds aber finster. D ER F ASCHIST (dumpf) Ja, finster. (Stille) D ER F ASCHIST Finster wie in mir. Fräulein, ich kann Sie ja kaum mehr sehen – Ihr Blondhaar – A NNA Ich bin doch gar nicht blond, sondern brünett. D ER F ASCHIST Dunkelblond, dunkelblond – Hüte dich, Blondmädel, hüte dich! Du weißt, vor wem – Überhaupt hat uns der Jude in den Krieg hineinschlittern lassen! 1914 war es für ihn die höchste Zeit! Denn es hätte der Zeitpunkt kommen können, wo die Völker vielleicht hellhöriger geworden wären. Nehmen wir einmal an, über die Welt wäre eine Epidemie gekommen, da hätten die Leute schon gesehen, daß die Juden dran schuld sind! – Blondmädel – In mir ist Freude, daß Sie sich von mir haben ansprechen lassen – A NNA Ich laß mich ja sonst nicht so ansprechen, aber – D ER F ASCHIST Aber? A NNA Aber von Ihresgleichen – Nein, nicht! – Nein, bitte – Lassens mich, bitte! D ER F ASCHIST Bitte! Zu Befehl! (Stille)

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A NNA Ich kann doch nicht gleich so. D ER F ASCHIST Aber das war doch nicht gleich so! Wir haben doch schon eine ganze Zeit gesprochen, zuerst über Kunst und dann über Ihre schöne Stadt und jetzt über unsere Erneuerung – (Stille) D ER F ASCHIST (fährt sie plötzlich an.) Und wissen Sie auch, wer uns zugrunde gerichtet hat?! Der Materialismus! Ich will Ihnen sagen, wie der über uns gekommen ist, das kenne ich nämlich! Mein Vater ist nämlich seit dreiundzwanzig Jahren selbständig. Das war nämlich so. Wo man hinkam, hatte der Jude schon alles weggekauft. Der ist nämlich einfach hergegangen und hat überall das billigste Angebot herausgeschunden. Alles wurde so in den Strudel mit hineingerissen, und so hat sich, nicht wahr, der materialistische Geist immer breiter gemacht. Aber wir sind eben zu weibisch geworden! Es wird Zeit, daß wir uns wieder mal die Hosen anziehen und merken, daß wir Zimbern und Teutonen sind! (Er reißt sie an sich.) A NNA Nicht! Nein! (Sie schnellt empor und wehrt sich.) (Jetzt flammt die Laterne in der Höhe des Denkmals auf, und man sieht nun Seine Majestät mit dem roten Kopf.) D ER F ASCHIST (läßt A NNA los und prallt zurück; heiser) Was? – Nein, diese Schändung – diese Schändung – der Gott, der Eisen wachsen ließ! Gott steh uns bei! Deutschland erwache! -----------

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Fünftes Bild.

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Im Gartenlokal des Josef Lehninger. Nun ist es finster geworden, und nun steigt die italienische Nacht der hiesigen Ortsgruppe des republikanischen Schutzverbandes. Mit Girlanden und Lampions, Blechmusik und Tanz. Eben tanzen der S TADTRAT A MMETSBERGER, K RANZ , B ETZ , E NGELBERT u.s.w. mit ihren D AMEN eine Française (Offenbach) – Auch K ARL und L ENI sind dabei. M ARTIN und SEINE G ENOSSEN sitzen etwas abseits und sehen finster zu. E RSTER G ENOSSE Ein feiner Genosse! Z WEITER Wer? E RSTER (deutet auf K ARL .) Dort. D RITTER Diese Künstlernatur? E RSTER Martin. Der hat dir doch sein Ehrenwort gegeben, daß er nicht tanzt? M ARTIN Ja. Das auch. V IERTER Ein Schuft! F ÜNFTER Einer mehr. E RSTER Und jedesmal wegen einem Frauenzimmer – (Pause) V IERTER Die bildt sich aber was ein! D RITTER Gott wie graziös! F ÜNFTER Die wirds auch nimmer begreifen, wos hinghört. Z WEITER Wer ist denn das Frauenzimmer?

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E RSTER Auch nur Prolet! S ECHSTER Nein. Das ist was bedeutend Feineres. Das ist eine Angestellte – (Er grinst.) D RITTER (lacht.) S IEBENTER Wann gehts denn los? D RITTER (verstummt plötzlich.) M ARTIN Bald! (Er erhebt sich, tritt nahe an DIE T ANZENDEN heran und sieht zu; jetzt spielt die Musik einen Walzer, EINIGE P AARE hören auf, zu tanzen – u.a. auch der S TADTRAT A MMETSBERGER.) S TADTRAT Na, was war das für eine Idee? E NGELBERT Eine Prachtidee! S TADTRAT Ich wußte es doch, daß so ein zwangloses gesellschaftliches Beisammensein uns Republikaner menschlich näherbringen würde. K RANZ (ist leicht angetrunken.) Ich freu mich nur, daß wir uns von dieser Scheißreaktion nicht haben einschüchtern lassen, und daß wir diese bodenlose Charakterlosigkeit unseres lieben Josef mit einer legeren Handbewegung beiseitegeschoben haben. (Er rülpst.) Das zeigt von innerer Größe. S TADTRAT Eine Prachtidee! E NGELBERT Eine propagandistische Tat! K RANZ Diese Malefizfaschisten täten sich ja nicht wenig ärgern, wenn sie sehen könnten, wie ungeniert wir Republikaner uns hier bewegen! (Er torkelt etwas.) E NGELBERT Wo stecken denn jetzt diese Faschisten? B ETZ Ich hab was von einer Nachtübung gehört. E NGELBERT Na viel Vergnügen! K RANZ Prost! S TADTRAT Dieser kindische Kleinkaliberunfug. B ETZ Aber sie sollen doch auch Maschinengewehre – S TADTRAT (unterbricht ihn.) Redensarten! Nur keinen Kleinmut, Kameraden! – Darf ich euch meine Frau vorstellen, meine bessere Hälfte. K RANZ Sehr erfreut! E NGELBERT Angenehm! B ETZ Vom Sehen kennen wir uns schon. D IE BESSERE H ÄLFTE (lächelt unsicher.) S TADTRAT So – Woher kennt ihr euch denn? B ETZ Ich hab dich mal mit ihr gehen sehen. S TADTRAT Mich? Mit ihr? Wir gehen doch nie zusammen aus! B ETZ Doch. Und zwar dürft das so vor Weihnachten gewesen sein – S TADTRAT Richtig! Das war an ihrem Geburtstag! Der einzige Tag im Jahr, an dem sie mitgehen darf, ins Kino – (Er lächelt und kneift sie in die Wange.) Sie heißt Adele. Das heut ist nämlich eine Ausnahme, eine große Ausnahme – Adele liebt die Öffentlichkeit nicht, sie ist lieber daheim. (Er grinst.) Ein Hausmütterchen. K RANZ (zu A DELE ) Trautes Heim, Glück allein. Häuslicher Herd ist Goldes wert. (Er rülpst.) Die Grundlage des Staates ist die Familie. Was Schönres kann sein, als ein Lied aus Wien. (Er torkelt summend zu seinem Bier.) B ETZ Ein Schelm. E NGELBERT (zu A DELE ) Darf ich bitten! S TADTRAT Danke! Adele soll nicht tanzen. Sie schwitzt. (Pause; E NGELBERT tanzt nun mit einer F ÜNFZEHNJÄHRIGEN .)

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A DELE (verschüchtert) Alfons. S TADTRAT Nun? A DELE Ich schwitz ja gar nicht. S TADTRAT Überlaß das mir, bitte. A DELE Warum soll ich denn nicht tanzen? S TADTRAT Du kannst doch gar nicht tanzen! A DELE Ich? Ich kann doch tanzen! S TADTRAT Seit wann denn? A DELE Seit immer schon. S TADTRAT Du hast noch nie tanzen können! Selbst als blutjunges Mädchen nicht, merk dir das! Blamier mich nicht! (Er zündet sich eine Zigarre an.) (Pause) A DELE Alfons. Warum hast du gesagt, daß ich die Öffentlichkeit nicht liebe? Ich ging doch gern öfters mit – Warum hast du das gesagt? S TADTRAT Darum. (Pause) A DELE Ich weiß ja, daß du im öffentlichen Leben stehst, eine öffentliche Persönlichkeit – S TADTRAT Still! A DELE Du stellst einen immer in ein falsches Licht. Du sagst, daß ich mit dir nicht mitkomm – S TADTRAT (unterbricht sie.) Siehst du! A DELE (gehässig) Was denn? S TADTRAT Daß du mir nicht das Wasser reichen kannst. (Pause) A DELE Ich möcht am liebsten nirgends mehr hin. S TADTRAT Also! (Er läßt sie stehen; zu B ETZ ) Meine Frau, was? (Er grinst.) Wenn du zum Weibe gehst, vergiß die Peitsche nicht. B ETZ Das ist von Nietzsche. S TADTRAT Sie folgt aufs Wort. Das ist doch ein herrlicher Platz hier! Diese uralten Stämme und diese ozonreiche Luft – (Er atmet tief.) B ETZ Das sind halt die Wunder der Natur. S TADTRAT Die Wunder der Schöpfung – es gibt nichts Herrlicheres. Ich kann das besser beurteilen, weil ich ein Bauernkind bin. Wenn man so in den Himmel schaut, kommt man sich so winzig vor – diese ewigen Sterne! Was sind wir daneben? B ETZ Nichts. S TADTRAT Nichts. Gott hat doch einen feinen Geschmack. B ETZ Es ist halt alles relativ. (Pause) S TADTRAT Du, Betz. Ich hab mir ein Grundstück gekauft. B ETZ Wo denn? S TADTRAT Fast ein Tagwerk. Mit einer Lichtung – Schau, lieber, guter Freund, die Welt hat Platz für anderthalb Milliarden Menschen, warum soll mir da nicht von dieser großen Welt so ein kleines Platzerl gehören – E RSTER G ENOSSE (hat unfreiwillig gelauscht.) Ein feiner Marxist! S TADTRAT Was hat der gesagt? B ETZ So laß ihn doch!

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A DELE Er hat gesagt: ein feiner Marxist. (Pause) S TADTRAT Wie du das einem so einfach ins Gesicht sagst. – Toll! A DELE Ich hab ja nur gesagt, was er gesagt hat. S TADTRAT Wer? Was sich da diese unreifen Spritzer herausnehmen! Überhaupt! (Er deutet auf M ARTIN und SEINE G ENOSSEN .) Dort hat noch keiner getanzt – saubere Jugend! Opposition und Opposition. Revolte oder dergleichen. Spaltungserscheinungen. Nötige Autorität. Man muß – (Er will an seinen Biertisch, stockt jedoch, da er sieht, daß M ARTIN und SEINE G ENOSSEN eine leise debattierende Gruppe bilden; er versucht zu horchen – Plötzlich geht er rasch auf M ARTIN zu.) Martin. Was hast du da gesagt? Feiner Marxist, hast du gesagt? M ARTIN Ich habs zwar nicht gesagt, aber ich könnts gesagt haben. S TADTRAT Und wie hättest du das gemeint, wenn du es gesagt hättest? M ARTIN Wir sprechen uns noch. (Er läßt ihn stehen.) (Akkord und Gong) E NGELBERT (auf dem Podium) Meine Damen und Herren! Kameraden! Eine große erfreuliche Überraschung hab ich euch mitzuteilen! Es steht euch ein seltener Kunstgenuß bevor! Frau Hinterberger, die Gattin unseres verehrten lieben Kassierers hat sich liebenswürdigerweise bereit erklärt, uns mit ihrer Altstimme zu entzücken! (Bravorufe und Applaus) E NGELBERT Ich bitte um Ruhe für Frau Hinterberger! F RAU H INTERBERGER (betritt das Podium, mit Applaus begrüßt.) Ich singe Ihnen eine Ballade von Löwe. Heinrich der Vogler. (Sie singt die Ballade; großer Beifall, nur M ARTIN und SEINE G ENOSSEN beteiligen sich nach wie vor an keiner Ovation; nun wird wieder weitergetanzt.) L ENI (zu K ARL ) Das war aber schön. Ich bin nämlich sehr musikalisch. K ARL Das hab ich schon bemerkt. L ENI An was denn? K ARL An deinem Tanzen. Du hast ein direkt exorbitantes rhythmisches Feingefühl – L ENI Das hängt aber nicht nur von mir ab. Das hängt auch vom Herrn ab. K ARL Hast es also nicht bereut? L ENI (lächelt.) Werd mir nur nicht wieder politisch – Versprichs mir, daß du es nimmer werden wirst, auf Ehrenwort. K ARL Auf Ehrenwort – L ENI Komm! K ARL Schon wieder? L ENI Heut könnt ich mal wieder ewig tanzen! Bis an das Ende der Welt! K ARL Respekt! M ARTIN (zu K ARL ) Karl, darf ich dich einen Augenblick – K ARL Bitte. (zu L ENI ) Pardon! (zu M ARTIN ) Nun? M ARTIN (nach kleiner Pause) Du hast mir doch versprochen, nicht zu tanzen – K ARL (wird nervös.) Hab ich das? M ARTIN Ja. Du hast mir sogar versprochen, daß, wenn es jetzt hier zu der bevorstehenden weltanschaulichen Auseinandersetzung – K ARL (unterbricht ihn.) Also bitte werd nur nicht wieder moralisch! M ARTIN Du hast halt wieder mal dein Ehrenwort gebrochen. K ARL Ist das dein Ernst?

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M ARTIN Ja. (Pause) K ARL (lächelt bös.) Wo steckt denn deine Anna? M ARTIN Was soll das? K ARL Die wird wohl bald erscheinen? M ARTIN Hast du sie gesehen? K ARL Ja. M ARTIN Allein oder mit? K ARL Mit. M ARTIN (lächelt.) Dann ists ja gut. K ARL Meinst du? M ARTIN Ja. (Pause) K ARL (grinst.) Honni soit qui mal y pense! M ARTIN Was heißt das? K ARL Das heißt allerhand. M ARTIN Ich bin dir nicht bös, du tust mir leid. Es ist nämlich schad um dich mit deinen Fähigkeiten. Aber du hast immer nur Ausreden. Ein halber Mensch – (Er läßt ihn stehen.) (Akkord und Gong) E NGELBERT (auf dem Podium) Meine Sehrverehrten! Kameraden! Und abermals gibts eine große erfreuliche Überraschung im Programm! In dem Reigen unserer künstlerischen Darbietungen folgt nun ein auserlesenes Ballett, und zwar getanzt von den beiden herzigen Zwillingstöchterchen unseres Kameraden Leimsieder, betitelt „Blume und Schmetterling“! D IE HERZIGEN Z WILLINGSTÖCHTERCHEN (dreizehnjährig, betreten das Podium, mit mächtigem Applaus begrüßt; sie tanzen einen affektierten Kitsch – plötzlich ertönt aus M ARTINS Gegend ein schriller Pfiff; die herzigen Zwillingstöchterchen zucken zusammen, tanzen aber noch weiter, jedoch etwas unsicher geworden; die, denen es gefällt, sehen entrüstet auf M ARTIN – Da ertönt abermals ein Pfiff, und zwar noch ein schrillerer.) K RANZ (brüllt.) Ruhe, Herrgottsakrament! Wer pfeift denn da, ihr Rotzlöffel?! Lümmel, dreckige, windige! E NGELBERT Wems nicht paßt, der soll raus! R UFE Raus! Raus! (Tumult) D IE HERZIGEN Z WILLINGSTÖCHTERCHEN (weinen laut.) E RSTER G ENOSSE (schlägt mit der Faust auf den Tisch.) Wir wollen hier kein Säuglingsballett! K RANZ Halts Maul, sag ich! Z WEITER Halts du! E INE T ANTE Seht, wie die Kindlein weinen, ihr Rohlinge! D RITTER Hoftheater! S ECHSTER Hofoper! Oper! S TADTRAT Jetzt wirds mir zu dumm! E INIGE G ENOSSEN Huuu! S TADTRAT Oh, ich bin energisch! D IE G ENOSSEN Huuu!

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S TADTRAT Jetzt kommt die Abrechnung! S IEBENTER Tatü tata! D IE T ANTE Oh diese Jugend! V IERTER Feiner Marxist! D IE G ENOSSEN Feiner Marxist! Feiner Marxist! S TADTRAT Ich? Ich hab das kommunistische Manifest bereits auswendig hersagen können, als ihr noch nicht geboren wart, ihr Flegel! (Pfiff) D IE T ANTE Diese Barbaren stören ja nur den Kunstgenuß! S ECHSTER Du mit deinem Kunstgenuß! D RITTER Blume und Schmetterling! E RSTER Mist! Mist! Mist! K RANZ Oh ihr Kunstbarbaren! (Er fällt fast um vor lauter Rausch.) E NGELBERT Seht, was ihr angerichtet habt! Kindertränen! Schämt ihr euch denn gar nicht?! Oder habt ihr denn keine Ahnung, mit welcher Liebe das hier einstudiert worden ist – Wochenlang haben der Kamerad Leimsieder und seine Frau jede freie Minute geopfert, um uns hier beglücken zu können! M ARTIN Hätt er doch lieber seine freien Minuten geopfert, um die Schlagstärke unserer Organisation auszubauen! Kameraden! Ich weiß, daß ich als Redner manchen meiner ehrenwerten Kameraden nicht gerade sympathisch bin – D IE T ANTE Stören Sie unsere Nacht nicht! M ARTIN Solche Nächte gehören gestört! Und gesprengt! Genossinnen und Genossen! Während wir hier Familienfeste mit republikanischem Kinderballett arrangieren, arrangiert die Reaktion militärische Nachtübungen mit Maschinengewehren! Oder wollt ihr es nicht sehen, wie sie das Proletariat verleumden, verhöhnen, korrumpieren und ausbeuten, schlimmer als je zuvor! Drum Schluß mit dieser Spießerei! Oder habt ihr denn schon den Satz vergessen: Oh wenn doch nur jeder Prolet sein Vergnügen in der revolutionären Tätigkeit fände! Es bleibt zu fordern: sofortige Einberufung des Vorstandes und Beschlußfassung über den Vorschlag: Bewaffnung mit Kleinkalibern! S TADTRAT Kameraden! Ein Frevler wagt hier unser Fest zu stören, bringt kleine Kinderchen zum Weinen – Kameraden! Was Martin verlangt, ist undurchführbar! Wir wollen nicht in die Fußstapfen der Reaktion treten. Wir nehmen keine Kanonen in die Hand, aber wer die demokratische Republik ernstlich zu bedrohen wagt, der wird zurückgeschlagen! M ARTIN Mit was denn? S TADTRAT An unserem unerschütterlichen Friedenswillen werden alle Bajonette der internationalen Reaktion zerschellen! S IEBENTER G ENOSSE (lacht ihn aus.) S TADTRAT So sehen die Leute aus, die die Macht der sittlichen Idee leugnen! E RSTER G ENOSSE Sprüch, du Humanitätsapostel! S TADTRAT Das sind keine Sprüch! Wir wollen keine Waffen mehr sehen, ich selbst hab zwei Söhne im Krieg verloren! V IERTER G ENOSSE Im nächsten Krieg sind wirs, ich und der Stiegler und der da und der da! K RANZ (ahmt ihn nach.) Und ich da und ich da und ich da! S TADTRAT Es hat eben keinen Krieg mehr zu geben! Dieses Verbrechen werden wir zu vereiteln wissen!

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M ARTIN Genau wie 1914! S TADTRAT Das waren ganz andere Verhältnisse! M ARTIN Immer dasselbe, immer dasselbe! S TADTRAT Wo warst denn du 1914!? Im Kindergarten! M ARTIN Und du? Du hast auch schon 1914 mit den Taten deiner Vorfahren geprotzt, das können wir Jungen ja allerdings nicht! Genossen! Wenn das so weitergeht, erwachen wir morgen im heiligen römisch-mussolinischen Reich deutscher Nation! E NGELBERT Zur Geschäftsordnung! Ich fordere kraft unserer Statuten den sofortigen Ausschluß des Kameraden Martin! S TADTRAT Bravo! E NGELBERT Und zwar wegen unkameradschaftlichen Verhaltens! M ARTIN Bravo! Kommt! (ab mit SEINEN G ENOSSEN ) ------------

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Vor dem Wirtshaus des Josef Lehninger. M ARTIN und SEINE G ENOSSEN verlassen die italienische Nacht. M ARTIN Also Ausschluß. Wegen unkameradschaftlichen Verhaltens. Wer lacht da nicht? (Stille) Z WEITER K AMERAD Wohin? M ARTIN Zu mir. Wir müssen sofort an die Arbeit! Bald zieht sich die Bourgeoisie in den Turm der Diktatur zurück. Wir sind bereit. (zum E RSTEN ) Was hast du jetzt gesagt? E RSTER (schweigt.) M ARTIN Du hast doch jetzt was gesagt? E RSTER Ich hab nur was gemurmelt. M ARTIN Immer nur denken, n u r denken, bitte! (Stille) M ARTIN Übrigens: Ist das wahr, daß du Majestät verdreckt hast? S IEBENTER (gewollt hochdeutsch) Wir haben uns erlaubt, das Denkmal Seiner Majestät mit etwas roter Farbe zu verunzieren. M ARTIN Wer wir? S IEBENTER Ich. V IERTER Und ich. M ARTIN So. Das hat natürlich keinen Sinn, oder? (Stille) M ARTIN Seine Majestät sind ja bereits verwest, sorgt lieber dafür, daß man den Herren Kapitalisten dereinst keine Denkmäler errichtet. K ARL (kommt mit L ENI aus dem Wirtshaus.) Drinnen geht alles drunter und drüber. D RITTER Sehr erfreut! K ARL Die ganze Stimmung ist beim Teufel! S ECHSTER Dann ist sie dort, wo sie hingehört! K ARL Martin. Ich bitte dich um Verzeihung.

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M ARTIN Wegen was? K ARL Daß ich mein Ehrenwort gebrochn hab. Das war natürlich eine Gaunerei, ich hab mir das genau überlegt, aber es war halt nur scheinbar eine Gaunerei. Ich habs ja nur scheinbar gebrochen. M ARTIN Wie willst du das verstanden haben? K ARL Schau, ich mußte doch tanzen! Ich hab es nämlich deiner Anna versprochen, daß ich das Fräulein da hinter mir zu unseren Idealen bekehren werd, und da muß man doch so einem Fräulein entgegenkommen, sowas geht doch nur nach und nach – M ARTIN Daß du immer nur Fräulein bekehrst – K ARL Jeder an seinem Platz. Ich gehör halt zu einer älteren Generation als wie du, das macht schon was aus, obwohl zwischen uns ja nur fünf Jahre Unterschied sind, aber fünf Kriegsjahr – Ich war doch bis 1920 gefangen. M ARTIN Die historischen Gesetze kümmern sich einen Dreck um Privatschicksale, sie schreiten unerbittlich über den einzelnen hinweg, und zwar vorwärts. K ARL Da geb ich dir vollständig recht. M ARTIN Du wärst ja brauchbar, wenn man dir glauben könnt. Aber das kann man eben nicht, weil du ein halber Mensch bist. K ARL Du hast halt keine Konflikte mit deiner Erotik. Meiner Seel, manchmal beneid ich dich! M ARTIN Und du tust mir leid. Ich habs immer wieder versucht mit dir. Jetzt ists aus. Ich leg keinen Wert mehr auf deine Mitarbeit. K ARL (verbeugt sich leicht.) Bitte! Pardon! D IE G ENOSSEN (sind während dieser Szene verschwunden.) A NNA (kommt.) M ARTIN Anna! A NNA Jetzt bin ich aber erschrocken! M ARTIN Du? A NNA Ich dacht, du wärst wer anders – M ARTIN So. A NNA Du warst mir jetzt so fremd. M ARTIN (fast spöttisch) War ich das? – Hast was erreicht? A NNA Verschiedenes. M ARTIN Erstens? A NNA Erstens hab ich erfahren, daß diese Faschisten unsere italienische Nacht sprengen wollen – M ARTIN (unterbricht sie.) Erstens ist das nicht unsere italienische Nacht! Und zweitens ist denen ihre italienische Nacht bereits gesprengt. Ich habe sie gesprengt. A NNA Schon? M ARTIN Später! Und? A NNA Die Faschisten wollen hier alles verprügeln. M ARTIN So ists recht! Das vergönn ich diesem Vorstand! Diese Spießer sollen jetzt nur mal am eigenen Leibe die Früchte ihrer verräterischen Taktik verspüren! Wir Jungen überlassen sie ihrem Schicksal und bestimmen unser Schicksal selbst! A NNA Das würd ich aber nicht tun. M ARTIN Was heißt denn das? A NNA Ich würds nicht tun. Ich würd ihnen schon helfen, sie stehen uns doch immer noch näher als die anderen.

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M ARTIN Was du da nicht sagst! A NNA Wenn ichs dem Stadtrat auch vergönn, daß er verprügelt wird, aber es sind doch auch noch andere dabei, dies vielleicht ehrlich meinen – M ARTIN (spöttisch) Meinst du? A NNA Und zu guter Letzt geht das doch keinen Dritten was an, was wir unter uns für Konflikte haben! Das sind doch unsere Konflikte! M ARTIN (gehässig) Ich glaub, daß das deine Privatansicht ist. A NNA Red nicht so hochdeutsch, bitte. (Stille) M ARTIN Und? A NNA Sonst nichts. Die Faschisten sind halt ganz fürchterlich wütend – Es soll heut abend irgendein Denkmal verunreinigt worden sein. M ARTIN Ja, das war der Stiegler, der Idiot – A NNA Martin! M ARTIN (überrascht) Ha? A NNA Martin, weil einer von uns das Denkmal verdreckt hat, sollen jetzt die anderen da drinnen verprügelt werden?! Das find ich aber feig! Das ist unser nicht würdig! Das ist ungerecht – (Sie stockt, da MARTIN plötzlich fasziniert auf ihren Hals starrt.) (Stille) M ARTIN (leise) Was ist denn das dort für ein Fleck? A NNA Wo? M ARTIN Da. A NNA Da? Das ist ein Fleck – (Stille) A NNA Morgen wird er blau. M ARTIN So. A NNA Er war halt so grob. M ARTIN (etwas unsicher) So, war er das – A NNA So sind sie alle, die Herren Männer. (Stille) M ARTIN Schau mich an. A NNA (schaut ihn nicht an.) M ARTIN Warum schaust mich denn nicht an? A NNA Weil ich dich nicht anschaun kann. M ARTIN Und warum kannst du mich jetzt nicht anschaun? Schau mich doch nicht so dumm an, Herrgottsakrament! (Stille) A NNA Mir war jetzt nur plötzlich so eigenartig – M ARTIN Wieso? A NNA Was du da nämlich von mir verlangst, daß ich mich nämlich mit irgendeinem Faschisten einlaß – und daß gerade du das verlangst – M ARTIN Was sind denn das für neue Gefühle? A NNA Nein, das waren alte – M ARTIN Du weißt, daß ich diese primitiven Sentimentalitäten nicht mag. Was sollen denn diese überwundenen Probleme? Nur keine Illusionen, bitte! A NNA Jetzt redst du wieder so hochdeutsch. (Stille)

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M ARTIN Anna. Also grob war er zu dir, der Herr Faschist – es ist vielleicht wirklich unter unserer Würde. A NNA Was? M ARTIN Daß wir nun diese Spießer da drinnen für unsere verdreckte Majestät büßen lassen – Nein! Diesen Triumph wollen wir den Herren Faschisten nicht gönnen! Komm! (ab mit A NNA ) K ARL (hat sich während dieser Szene mit L ENI auf eine Bank gesetzt.) L ENI Warum schweigst du schon so lang? K ARL Weil es mir weh um das Herz herum ist. L ENI Aber du kannst doch nichts dafür, daß diese italienische Nacht mit einem Mißton geendet hat! K ARL Ich danke dir. (Er drückt ihr die Hand und vergräbt dann den Kopf in seinen Händen; Stille) L ENI Dein Kamerad Martin erinnert mich an einen Bekannten. Mit dem war auch nicht zu reden, weil er nichts anderes gekannt hat wie sein Motorrad. Er hat zahlreiche Rennen gewonnen, und ich hab ihn halt in seinem Training gestört. Sei doch nicht so traurig – K ARL Jetzt möcht ich am liebsten nicht mehr leben. L ENI Warum denn? K ARL Ich hab halt ein zu scharfes Auge. Ich seh, wie sich die Welt entwickelt, und dann denk ich mir, wenn ich nur a paar Jahr jünger wär, dann könnt ich noch aktiv mittun an ihrer Verbesserung – aber ich bin halt verdorben. Und müd. L ENI Das redst du dir nur ein. K ARL Ein halber Mensch! Nur die eine Hälfte hat Sinn für das Gute, die andere Hälfte ist reaktionär. L ENI Nicht deprimiert sein – K ARL Ich glaub, ich bin verflucht. L ENI Nein, nicht! K ARL (erhebt sich.) Doch! (Stille) L ENI Glaubst du an Gott? K ARL Ich fang allmählich an – L ENI Es gibt einen Gott, und es gibt auch eine Erlösung. K ARL Wenn ich nur wüßt, wer mich verflucht hat. L ENI Laß mich dich erlösen. K ARL Du? Mich? L ENI Ich hab viertausend Mark, und wir gründen eine Kolonialwarenhandlung – K ARL Wir? L ENI Draußen bei meinem Onkel – K ARL Wir? L ENI Ich und du. (Stille) K ARL Was denkst du jetzt? Denkst du jetzt an eine Ehegemeinschaft? Nein, dazu bist du mir zu schad! L ENI Oh Mann, sprich doch nicht so hartherzig! Ich kenn dich ja schon durch und durch, wenn ich dich auch erst kurz kenn! (Sie wirft sich ihm an den Hals; große Kußszene)

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K ARL Ich hab ja schon immer von der Erlösung durch das Weib geträumt, aber ich habs halt nicht glauben können – Ich bin nämlich sehr verbittert, weißt du! L ENI (gibt ihm einen Kuß auf die Stirne.) Ja, die Welt ist voll Neid. 5

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Im Gartenlokal des Josef Lehninger. Die italienische Nacht der Ortsgruppe Kaltenbrunn des republikanischen Schutzbundes ist nun korrekt gesprengt – Nur der Vorstand sitzt noch unter den Lampions, und zwar: der S TADTRAT A MMETSBERGER mit A DELE , B ETZ , E NGELBERT und K RANZ . Letzterer schnarcht über einen Tisch gebeugt. Es geht bereits gegen Mitternacht, und A DELE fröstelt, denn es weht ein kaltes Windchen. B ETZ Was tun, spricht Zeus. E NGELBERT Heimwärts? S TADTRAT (schnellt empor.) Und wenn die Welt voll Teufel wär, niemals! Wir lassen uns unsere italienische Nacht nicht sprengen! Kameraden, wir bleiben und weichen nicht – bis zur Polizeistund. (Er setzt sich wieder.) E NGELBERT Hört, hört! S TADTRAT (steckt sich nervös eine Zigarre an.) K RANZ (erwacht und gähnt unartikuliert; zu B ETZ ) Du, ich hab jetzt grad was Fesches geträumt. B ETZ Wars angenehm? K RANZ Sehr. Ich hab nämlich grad was von einer Republik geträumt, und das war eine komplette Republik, sogar die Monarchisten waren verkappte Republikaner – B ETZ Also das dürft ein sogenannter Wunschtraum gewesen sein. K RANZ Ha? E NGELBERT Wie wärs denn mit einem kleinen Tarock? S TADTRAT Tarock? E NGELBERT Einen Haferltarock – K RANZ Haferltarock! S TADTRAT Das wär ja allerdings noch das Vernünftigste – E NGELBERT Karten hab ich – (Er setzt sich mit dem S TADTRAT und K RANZ unter den hellsten Lampion, mischt und teilt.) Eine Idee! B ETZ (kiebitzt.) S TADTRAT Erster! E NGELBERT Zweiter! K RANZ Letzter! S TADTRAT Solo! K RANZ Und das Licht leuchtet in der Finsternis – (Er spielt aus.) (Jetzt weht der Wind stärker.) A DELE (erhebt sich und fröstelt.) Alfons! S TADTRAT (läßt sich nicht stören.) Bitte? A DELE Wann gehen wir denn endlich?

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S TADTRAT Zweimal sag ichs nicht! Eichel! A DELE Ich erkält mich noch – S TADTRAT Das tät mir aber leid, Herz! K RANZ Und Herz! E NGELBERT Und Herz! B ETZ (nähert sich A DELE .) Wir bleiben bis zur Polizeistund, Frau Stadtrat. A DELE Wann ist denn Polizeistund? B ETZ Um zwei. A DELE Und jetzt? B ETZ Jetzt gehts gegen zwölf. A DELE Oh Gott. S TADTRAT (zu B ETZ ) So laß sie doch bitte! (Pause) A DELE Hier hol ich mir noch den Tod. B ETZ Oder eine Lungenentzündung. (Pause) B ETZ Der schönste Tod ist ja allerdings der Tod für ein Ideal. A DELE Ich kenn kein Ideal, für das ich sterben möcht. B ETZ (lächelt leise.) Auch nicht für die Ideale, für die sich Ihr Herr Gemahl aufopfert? A DELE Opfert er sich denn auf? B ETZ Tag und Nacht. A DELE Sie müssens ja wissen. B ETZ Es ist natürlich alles relativ. (Pause) A DELE Glaubens mir, daß ein Mann, der wo keine solchen öffentlichen Ideale hat, viel netter zu seiner Familie ist. Ich mein das jetzt menschlich. Sie sind ein intelligenter Mann, Herr Betz, das hab ich schon bemerkt. S TADTRAT Über was unterhaltet ihr euch denn dort so intensiv? B ETZ Über dich. S TADTRAT Tatsächlich? Habt ihr denn kein dankbareres Thema? A DELE (boshaft) Alfons! S TADTRAT Na was denn schon wieder? A DELE Ich möcht jetzt gern noch ein Schinkenbrot. S TADTRAT Aber du hast doch bereits zwei Schinkenbrote verzehrt! Ich meine, das dürfte genügen! (Er zündet sich eine neue Zigarre an.) A DELE Wenn du deine Zigarren – S TADTRAT (unterbricht sie.) Oh du unmögliche Person! Pfui! – Und ziehen tut sie auch nicht, weil du mir nichts vergönnst! (Er wirft wütend seine Zigarre fort.) Eine unmögliche Zigarre! A DELE (erhebt sich.) Ich möchte jetzt nach Haus. S TADTRAT Also werd nur nicht boshaft, bitte! A DELE Ich geh – S TADTRAT Ich bleib. A DELE So komm doch! S TADTRAT Nein! Bleib, sag ich! A DELE Nein, ich muß doch schon wieder um sechse raus, deine Hemden waschen und –

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S TADTRAT Du bleibst, sag ich! A DELE Hier hol ich mir noch den Tod – S TADTRAT Du bleibst und basta! Verstanden?! A DELE (setzt sich wieder und lächelt geschmerzt.) S TADTRAT Spiele! E NGELBERT Weiter! K RANZ Spiele auch! E NGELBERT Und zwar? K RANZ Gras! S TADTRAT Schnecken! Bettel! Jawohl, Bettel! Und herauskommen tu ich selber – (Er gewinnt rasch und lacht schallend.) (Stille) B ETZ Warum gehen Sie eigentlich nicht allein nach Hause? A DELE Weil er mich allein nicht läßt. B ETZ Nicht läßt? Auch allein nicht läßt? Er hat doch kein Recht über Ihre Person – Meiner Seel, da erscheint er mir nun plötzlich in einem ganz anderen Licht, obwohl ich darauf gewartet hab – Alfons Ammetsberger, mein alter Kampfgenosse – fünfunddreißig Jahr – Jaja, das wird wohl das Alter sein. Ob ich mich auch so verändert hab? S TADTRAT (zu B ETZ ) Ich bitt dich, Betz, so laß sie doch in Ruh! W IRT (erscheint; er ist schwer besoffen und grüßt torkelnd, doch keiner beachtet ihn; er grinst.) Boykottiert mich nur, boykottiert mich nur! Mir ist schon alles wurscht, ich wein euch keine Träne nach! Überhaupt sind die Reaktionären viel kulantere Gäst – Eure jungen Leut saufen ja so bloß a Limonad! Feine Republikaner! Limonad, Limonad! K RANZ Halts Maul! W IRT (plötzlich verträumt) Ich denk jetzt an meinen Abort. Siehst, früher da waren nur so erotische Sprüch an der Wand dringstanden, hernach im Krieg lauter patriotische und jetzt lauter politische – Glaubs mir: Solangs nicht wieder erotisch werden, solang wird das deutsche Volk nicht wieder gesunden – K RANZ Halts Maul, Wildsau, dreckige! W IRT Wie bitte? – Heinrich, du bist hier noch der einzig vernünftige Charakter, was hat jener Herr dort gesagt? B ETZ Er hat gesagt, daß du dein Maul halten sollst. W IRT Hat er? Dieser schlimme Patron – Apropos: Ich hab eine reizende Neuigkeit für euch, liebe Leutl! K RANZ Wir sind nicht deine lieben Leutl! W IRT Was hat er gesagt? B ETZ Daß wir nicht deine lieben Leutl sind, hat er gesagt. W IRT Hat er das gesagt? – Alsdann: meine Herren! Ich beehre mich, Ihnen eine hocherfreuliche Mitteilung zu machen: Sie sind nämlich umzingelt, meine Herren, radikal umzingelt! S TADTRAT (horcht auf.) B ETZ Wer ist umzingelt? W IRT Ihr, meine Herren! E NGELBERT Wieso? W IRT Meine Herren! Ich habs nämlich grad erfahren, daß euch die Herren Faschisten verprügeln wollen –

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S TADTRAT (erhebt sich.) W IRT Die Herren Faschisten behaupten nämlich, daß ihr, meine Herren, das Denkmal verdreckt habt – S TADTRAT Was für Denkmal? W IRT Das Denkmal Seiner Majestät. E NGELBERT Versteh kein Wort! W IRT Die Herren Faschisten haben nämlich eine pfundige Wut im Bauch und wollen die Ehre Seiner Majestät wiederherstellen! Durch Blut! Hurrah! K RANZ Oh du dreiunddreißigjähriger angnagelter Himmiherrgott! W IRT Leugnen hat doch gar keinen Sinn, meine Herren! Ihr seid überführt. Alle Indizien sprechen gegen euch. Kreuzverhör und so. S TADTRAT Lüge! Infame Lüge! Hier hat niemand eine Majestät verdreckt, merk dir das! W IRT (erhebt sein Glas.) Sehr zum Wohle! (Er leert es.) (Stille) B ETZ Josef. Wer hat dir denn das gesagt, daß wir jetzt hier verprügelt werden sollen? W IRT Dem Martin seine Anna. S TADTRAT (scharf) Martin? Interessant! W IRT Diskretion Ehrensache! K RANZ Also jetzt bin ich schon ganz durcheinander! E NGELBERT Das kann doch nur ein Irrtum sein, nach den Gesetzen der Logik – S TADTRAT (scharf) Oder Verrat! Unsere Weste ist weiß. W IRT Weiß oder nicht weiß – Jetzt gibts Watschen, meine Herren! K RANZ Du Judas! W IRT (weinerlich) Aber ich bin doch kein Judas, meine Herren! Ich bin euch doch innerlich immer treu geblieben, sogar noch nach der Revolution! Aber was ist denn das jetzt auch für eine verkehrte Welt! Früher, da war so ein Sonntag das pure Vergnügen, und wenn mal in Gottes Namen gerauft worden ist, dann wegen irgendeinem Trumm Weib, aber doch schon gar niemals wegen dieser Scheißpolitik! Das sind doch ganz ungesunde Symptome, meine Herren! K RANZ Ich möchte das Wort ergreifen! Ich möchte jetzt etwas vorschlagen! Ich möchte jetzt dafür plädieren, daß wir hier den weiteren Gang der Ereignisse seelenruhig abwarten, denn wir werden uns glänzend rechtfertigen, weil wir doch radikal unschuldig sind! E NGELBERT Hört, hört! S TADTRAT Lächerlich! B ETZ (zu K RANZ ) Du vergißt wieder mal unsere Aggressionstriebe – K RANZ Ha? W IRT Jetzt gibts Watschen – B ETZ Ich spreche jetzt von einem höheren Standpunkte aus. Der Mensch hat doch eine grausame Natur von Natur aus – Man muß die Wahrheit vertragen können, lieber Freund! W IRT Oh wie wahr! S TADTRAT Kameraden! Der Mensch ist ein schwaches Rohr im Winde, in bezug auf das Schicksal, ob er nun Monarchist oder Republikaner. Es gibt nun mal Augenblicke im Leben, wo sich auch der Kühnste der Stimme der Vernunft beugen muß, und zwar gegen sein Gefühl! Kameraden! Das wäre doch ein miserabler Feldherr, der seine Brigaden in eine unvermeidliche Niederlage hineinkomman-

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dieren tät! In diesem Sinne schließe ich nun hiemit unsere italienische Nacht! Vis major, höhere Gewalt! Wo ist mein Hut? B ETZ Ich bleib. S TADTRAT Wieso? B ETZ Ich bin da nämlich etwas anderer Meinung – S TADTRAT Da dürft es doch wohl keine andere Meinung geben! B ETZ Findst du? Wir haben doch in bezug auf das verdreckte Denkmal ein absolut reines Gewissen. E NGELBERT Sehr richtig! B ETZ Und infolgedessen find ich es nicht richtig, so davonzulaufen. S TADTRAT Nicht nicht richtig, klug! Diese Faschisten sind doch bekanntlich in der Überzahl und infolgedessen bekanntlich zu jeder Schandtat jederzeit bereit! Wo ist mein Hut? B ETZ Ich bleib. Und wenn sie mich verhaun! (Stille) S TADTRAT (fixiert ihn höhnisch.) Ach, der Herr sind Katastrophenpolitiker? Na viel Vergnügen! B ETZ Danke. S TADTRAT (grinst.) Gott, wie heroisch! B ETZ Lieber Prügel als feig. (Stille) S TADTRAT Findst du? A DELE Ich finds auch. S TADTRAT Du hast hier überhaupt nichts zu finden! A DELE Ich finds aber! S TADTRAT (nähert sich ihr langsam; unterdrückt) Du hast hier nichts zu finden, verstanden?! A DELE Ich sag ja nur, was ich mir denk. S TADTRAT Du hast hier nichts zu denken. A DELE (boshaft) Findst du? S TADTRAT Blamier mich nicht, ja! A DELE Nein. S TADTRAT (kneift sie.) A DELE Au! Au – S TADTRAT Wirst du dich beherrschen?! A DELE Au, Alfons! Au – S TADTRAT Daß du dich beherrschst! Daß du dich – A DELE (reißt sich kreischend los.) Au – du mit deinem Idealismus! S TADTRAT Oh du unmögliche Person! A DELE Oh du unmöglicher Mann! Draußen Prolet, drinnen Kapitalist! Die Herren hier sollen dich nur mal genau kennenlernen! Mich beutet er aus, mich! Dreißig Jahr, dreißig Jahr! (Sie weint.) S TADTRAT (mit der Hand vor den Augen) Adele! Adele – (Stille) S TADTRAT (nimmt langsam die Hand von den Augen.) Wo ist mein Hut? W IRT (erhebt sich schwerfällig.) Mit oder ohne Hut – du bist und bleibst umzingelt – (Er rülpst und torkelt ab.) A DELE (grinst plötzlich.)

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S TADTRAT Lach nicht! A DELE Wenn ich dich so seh, find ich das direkt komisch, wie du da den jungen Menschen im Weg herumstehst – (Sie schluchzt wieder.) S TADTRAT Heul nicht! A DELE Das sind die Nerven – K RANZ Die typische Weiberlogik. A DELE (weinend) Hättest du zuvor die jungen Leut nicht nauswerfen lassen, würd sich jetzt niemand hertraun – Jetzt sind wir doch lauter alte Krüppel – E NGELBERT Oho! S TADTRAT Herr im Himmel! A DELE Laß unseren Herrgott aus dem Spiel! K RANZ Es gibt keinen Gott. (Stille) K RANZ Ich möchte das Wort ergreifen! Ich möchte jetzt etwas vorschlagen! Ich möchte jetzt dafür plädieren, daß es sozusagen etwas überstürzt war, den Martin so mirnix-dirnix auszuschließen, samt seinem Anhang – er hat doch einen ziemlichen Anhang, einen starken Anhang, und nicht den schlechtesten Anhang – und er hat doch sozusagen gar nicht so unrecht gehabt – S TADTRAT Findst du? K RANZ Wenn wir jetzt auch solche Kleinkaliber hätten als wie diese Faschisten, dann müßten wir uns jetzt nicht unschuldig herhaun lassen, sondern könnten uns wehren – w e h r e n – Das ist doch logisch, ha? E NGELBERT Logisch oder nicht logisch! Nach den Statuten mußten wir Martin ausschließen! K RANZ Logisch oder nicht logisch! Ich scheiß dir was auf solche Statuten! E NGELBERT Hört, hört! K RANZ Das sind doch ganz veraltete Statuten. S TADTRAT Plötzlich? E NGELBERT Natürlich gehören auch Statuten ab und zu geändert, die Welt ist doch in lebendigem Fluß – S TADTRAT (unterbricht ihn.) Findst du? B ETZ Ja. (nähert sich ihm.) Alfons. Nicht nur Menschen, auch Statuten altern – und alte Statuten erreichen oft das Gegenteil von dem, was sie bezwecken wollen, und werden unbrauchbar und lächerlich – S TADTRAT Findst du? K RANZ Ich möchte das Wort ergreifen! Ich möchte jetzt etwas vorschlagen! Ich möchte jetzt offiziell dafür plädieren, daß unseres Kameraden Martin überstürzter Ausschluß wieder rückgängig gemacht werden soll! S TADTRAT Rückgängig? K RANZ Jawohl! S TADTRAT (sieht sich fragend um.) B ETZ Ja! E NGELBERT Hm. S TADTRAT (zu E NGELBERT ; leise) Ja oder nein? (Stille) E NGELBERT Ja. (Stille) S TADTRAT Wo ist mein Hut?

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A DELE (reicht ihm seinen Hut.) Da. S TADTRAT (setzt den Hut tief in die Stirne; tonlos) Umzingelt. Überfallen. Meuchlerisch. Schlange an der Brust. Auch du, mein Sohn Brutus – (Trompetensignal) D ER M AJOR (in ehemaliger Kolonialuniform betritt mit ZWEI F ASCHISTEN rasch den Garten – Er hält knapp vor dem S TADTRAT und fixiert ihn grimmig.) (Stille) D ER M AJOR Ich habe bereits die zweifelhafte Ehre, Sie zu kennen. S TADTRAT (nickt apathisch.) D ER M AJOR Ich sehe es Ihrem unsteten Blicke und den schuldbewußten Mienen Ihrer sauberen Genossen an, daß Sie den Zweck meines Kommens bereits erraten haben. E NGELBERT Wir sind radikal unschuldig! D ER M AJOR Ruhe! Jetzt habt ihr euch selbst verraten – Ruhe! Korrumpiertes Pack! Kurzer Prozeß! Hosen runter und gezüchtigt! Rotes Gesindel! B ETZ Es ist alles relativ – D ER M AJOR Ruhe, Himmellaudon! (Stille) D ER M AJOR (zum S TADTRAT ) Sie! Hände an die Hosennaht! Setzen! D ER S TADTRAT (setzt sich geistesabwesend.) D ER M AJOR (winkt dem EINEN F ASCHISTEN .) D ER F ASCHIST (bringt dem S TADTRAT Papier, Feder und Tinte.) D ER M AJOR So. Schreiben Sie, was ich diktiere! S TADTRAT (folgt apathisch.) D ER M AJOR (diktiert.) Ich, der rote Stadtrat Alfons Ammetsberger, erkläre hiermit ehrenwörtlich – haben Sies? – e h r e n w ö r t l i c h – daß ich ein ganz gewöhnlicher – S TADTRAT (stockt.) D ER M AJOR Schreiben Sie! S TADTRAT (schreibt wieder.) D ER M AJOR (diktiert.) – daß ich ein ganz gewöhnlicher – Schweinehund bin! S TADTRAT (stockt wieder.) D ER M AJOR Na wirds bald? S TADTRAT (rührt sich nicht.) D ER M AJOR Kerl, wenn Sie nicht parieren, kriegen Sie die Hosen voll! Schreiben Sie! Los! S TADTRAT (beugt sich langsam über das Papier – Plötzlich fängt er an zu wimmern und zu schluchzen.) Nein, aber ich bin doch kein – D ER M AJOR (unterbricht ihn brüllend.) Sie sind aber ein Schweinehund, ein ganz gewöhnlicher Schweinehund. A DELE Sie! Das ist kein Schweinehund, Sie! Das ist mein Mann, Sie! Was erlauben Sie sich denn überhaupt, Sie aufgedonnerter Mensch! So lassen Sie doch den Mann in Ruh! B ETZ Überhaupt mit welchem Recht – D ER M AJOR (unterbricht ihn.) Maul halten! A DELE Halten Sie Ihr Maul! Und ziehen Sie sich mal das Zeug da aus, der Krieg ist doch endlich vorbei, Sie Hanswurscht! Verzichtens lieber auf Ihre Pension zugunsten der Kriegskrüppel, und arbeitens mal was Anständigs, anstatt arme

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Menschen in ihren Unterhaltungen zu stören, Sie ganz gewöhnlicher Schweinehund! D ER M AJOR Ordinäre Person! Na wartet! Draußen stehen vierzig deutsche Männer! (rasch ab mit seinen F ASCHISTEN ) A DELE (ruft ihm nach.) Das ist mein Mann da, verstanden?! (Riesiger Tumult vor dem Gartenlokal) K RANZ (bewaffnet sich mit zwei Gartenstühlen.) Jetzt! Da! E NGELBERT (weicht ganz zurück.) B ETZ (lauscht.) S TADTRAT (scheint nichts zu hören, stiert vor sich hin und zeichnet kleine Zeichen in die Luft.) M ARTIN (betritt rasch den Garten.) E NGELBERT Martin! K RANZ Martin! (Plötzlich Stille) M ARTIN (lächelt.) Zu Befehl, gnädige Frau! Ich gestatte mir nur zu melden, daß hier niemand mehr eine Angst zu haben braucht, denn die Herren Faschisten sind soeben vertrieben worden, und zwar mit Schwung! Ihr Besuch hat nämlich uns gegolten, mir und meinen Genossen, nicht euch! Und wir sind halt nun mal so veranlagt, daß wir für unsere Taten einstehen, selbst wenn so eine Tat auch mal eine richtige Blödheit gewesen sein sollt. M ARTINS G ENOSSEN (sind ihm nun in den Garten gefolgt.) K RANZ Also das ist sehr edel von euch, nicht andere Unschuldige für eure Blödheiten büßen zu lassen! B ETZ Martin! Du weißt, daß ich dich sehr schätz – S TADTRAT (unterbricht ihn.) Martin! Ich bin durch den Gang der Ereignisse zu der Überzeugung gekommen, daß dein Ausschluß ungerechtfertigt war, und ich bedauer es ehrlich, daß ich ihn so überstürzt gefordert hab. B ETZ Martin! Im Namen des Vorstandes bitte ich dich, wieder unser Kamerad zu werden. M ARTIN (verbeugt sich leicht.) Danke. Aber leider seid ihr zu spät dran, denn es wurde bereits ein neuer Schutzbund gegründet – E NGELBERT (setzt sich.) M ARTIN Und ich euer Kamerad? Ich müßt mich doch nur mit euch herumstreiten, um kämpfen zu können! Warum soll ich meine Kraft verpuffen? B ETZ Irrtum! M ARTIN Das ist doch kein Irrtum! B ETZ Doch! Wir überlassen dir gerne die Führung und werden nur dann reden, wenn wir gefragt werden – So wie sichs alten Leuten geziemt. (Stille) M ARTIN (reicht ihm die Hand.) So komm! B ETZ (lächelt.) Es ist nämlich alles relativ – M ARTIN Aber was! Du vielleicht, aber nicht ich! E RSTER G ENOSSE Hoch Martin! A LLE (außer S TADTRAT und A DELE ) Hoch! Hoch! Hoch! S TADTRAT (leise) Ein neuer Schutzbund – M ARTIN Ein junger Schutzbund! S TADTRAT Ein junger – (Er trocknet sich verstohlen einige Tränen ab.)

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A DELE Komm – S TADTRAT Ich werd mich aus dem politischen Leben zurückziehen – Jetzt geh ich nirgends mehr hin – Höchstens, daß ich noch kegeln werd oder singen – A DELE Endlich, Alfons! 5

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S TADTRAT K RANZ E NGELBERT B ETZ W IRT K ARL M ARTIN M ARTINS K AMERADEN E IN K AMERAD AUS M AGDEBURG E IN F ASCHIST D ER L EUTNANT D ER M AJOR C ZERNOWITZ A DELE A NNA L ENI D IE D VORAKISCHE Z WEI F RAUENZIMMER F RAU H INTERBERGER G ESCHWISTER L EIMSIEDER R EPUBLIKANER UND F ASCHISTEN . Ort: Süddeutsche Kleinstadt Zeit: 1930–?

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Im Wirtshaus des Josef Lehninger. K RANZ , E NGELBERT und der S TADTRAT A MMETSBERGER spielen Tarock. K ARL kiebitzt. B ETZ trinkt zufrieden sein Bier. M ARTIN liest die Zeitung. Der W IRT bohrt in der Nase. Es ist Sonntagvormittag, und die Sonne scheint. Stille. B ETZ Martin. Was gibts denn Neues in der großen Welt? M ARTIN Nichts. Daß das Proletariat die Steuern zahlt, und daß die Herren Unternehmer die Republik prellen, hint und vorn, das ist doch nichts Neues. Oder? B ETZ (leert sein Glas.) M ARTIN Und daß die Herren republikanischen Pensionsempfänger kaiserlich reak-

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tionäre Parademärsch veranstalten mit Feldgottesdienst und Kleinkaliberschießen, und daß wir Republikaner uns das alles gefallen lassen, das ist doch auch nichts Neues. Oder? B ETZ Wir leben in einer demokratischen Republik, lieber Martin. (Jetzt zieht draußen eine Abteilung F ASCHISTEN mit Musik vorbei. A LLE , außer S TADTRAT und W IRT , treten an die Fenster und sehen sich stumm den Zug an – Erst als er vorbei ist, rühren sie sich wieder.) S TADTRAT (mit den Karten in der Hand) Von einer akuten Bedrohung der demokratischen Republik kann natürlich keineswegs gesprochen werden. Schon weil es der Reaktion an einem ideologischen Unterbau mangelt. E NGELBERT Bravo! S TADTRAT Kameraden! Solange es einen republikanischen Schutzverband gibt, und solange ich hier die Ehre habe, Vorsitzender der hiesigen Ortsgruppe zu sein, solange kann die Republik ruhig schlafen! M ARTIN Gute Nacht! K RANZ Ich möchte das Wort ergreifen! Ich möchte jetzt etwas vorschlagen! Ich möchte jetzt dafür plädieren, daß wir jetzt wieder weitertarocken und uns nicht wieder stören lassen von diesen germanischen Hoftrotteln samt ihrem sogenannten deutschen Tag! E NGELBERT Samt ihrem Dritten Reich! S TADTRAT Einstimmig angenommen! (Er mischt und teilt aus.) K ARL Wie ist das eigentlich heut nacht? S TADTRAT Was denn? K ARL Na in bezug auf unsere italienische Nacht heut nacht – S TADTRAT (unterbricht ihn.) Natürlich steigt unsere italienische Nacht heut nacht! Oder glaubt denn da wer, daß es sich der republikanische Schutzverband von irgendeiner reaktionären Seite her verbieten lassen könnt, hier bei unserem Freunde Josef Lehninger eine italienische Nacht zu arrangieren, und zwar wann e r will? Unsere republikanische italienische Nacht steigt heut nacht trotz Mussolini und Konsorten! Karo As! (Er spielt aus.) E NGELBERT Daß du das nicht weißt! K ARL Woher soll ich denn das wissen? B ETZ Ich habs doch bereits offiziell verkündet. E NGELBERT Aber der Kamerad Karl war halt wieder mal nicht da. Eichel! K ARL Ich kann doch nicht immer da sein. E NGELBERT Sogar beim letzten Generalappell war er nicht da, vor lauter Weibergeschichten. K RANZ Solo! S TADTRAT Bettel! E NGELBERT Aus der Hand? S TADTRAT Aus der hohlen Hand! K ARL (zu B ETZ ) Soll ich mir das jetzt gefallen lassen? Das mit den Weibergeschichten? B ETZ Du kannst es doch nicht leugnen, daß dich die Weiber von deinen Pflichten gegenüber der Republik abhalten – K ARL Also das sind doch meine intimsten privaten Interessen, muß ich schon bitten. Und zwar energisch! (Jetzt zieht draußen abermals eine Abteilung F ASCHISTEN mit Musik vorbei. – A LLE lauschen, aber keiner tritt an das Fenster. Stille)

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B ETZ Es ist halt alles relativ. M ARTIN Aber was! Eine Affenschand ist das! Während sich die Reaktion bewaffnet, veranstalten wir braven Republikaner italienische Nächt! B ETZ Eigentlich ist es ja unglaublich, daß die Reaktion derart erstarkt. M ARTIN Einen Dreck ist das unglaublich! Das konnt man sich ja direkt ausrechnen – Wer die wirtschaftliche Macht hat, hat immer recht, bekanntlich. Aber ihr vom Vorstand scheint das nicht zu wissen. Noch bild ich es mir ein, daß ihr wissen wollt, aber ab und zu fällt es mir schon recht schwer – E NGELBERT Hoho! B ETZ Du bist halt ein Pessimist. M ARTIN Ein Dreck bin ich. S TADTRAT Und außerdem ist er ein Krakeeler! Ein ganz ein gewöhnlicher Krakeeler. (Stille) M ARTIN (erhebt sich langsam.) Herr Stadtrat. Sag einmal, Herr Stadtrat, kennst du noch einen gewissen Karl Marx? S TADTRAT (schlägt auf den Tisch.) Natürlich kenn ich meinen Marx! Und ob ich meinen Marx kenn! Und außerdem verbitt ich mir das! E NGELBERT Sehr richtig! K RANZ Solo! S TADTRAT Oder glaubst denn du, du oberflächlicher Phantast, daß kurz und gut mit der Verwirklichung des Marxismus kurz und gut das Paradies auf Erden entsteht? M ARTIN Was du unter kurz und gut verstehst, das weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, was du unter Paradies verstanden haben willst, aber ich kanns mir lebhaft ausmalen, was du unter Marxismus verstehst. Verstanden? Was ich darunter versteh, daran glaub ich. K RANZ Solo, Herrgottsakrament! (Er spielt aus.) (Stille) B ETZ Weißt du, was ich nicht kann? M ARTIN Nein. B ETZ Ich kann nicht glauben. (Stille) M ARTIN Das glaub ich gern, daß du nicht glauben kannst. Du kannst nicht glauben, weil du nicht mußt. Du bist ja auch kein Prolet, du pensionierter Kanzleisekretär – B ETZ Ich bin zwar Kanzleiobersekretär, aber das spielt natürlich keine Rolle. M ARTIN Natürlich. B ETZ Das ist gar nicht so natürlich! M ARTIN (sieht ihn verdutzt an.) Geh so leck mich doch am Arsch! (rasch ab mit seiner Zeitung) S TADTRAT Ein feiner Mann – (Stille) W IRT Obs wieder regnen wird? Jedesmal, wenn ich eine Sau abstich, versaut mir das Wetter die ganze italienische Nacht. B ETZ Das glaub ich nicht. W IRT Warum? Weil es ihr seid? B ETZ Nein. Sondern weil das Tief über Irland einem Hoch über dem Golf von Biskaya gewichen ist. S TADTRAT Sehr richtig! W IRT Wer behauptet das?

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B ETZ Die amtliche Landeswetterwarte. W IRT Geh, laßts mich aus mit den Behörden! M ARTIN (erscheint wieder, tritt zu B ETZ und legt ein Flugblatt vor ihn hin.) Da! B ETZ Was soll ich damit? M ARTIN Lesen! B ETZ Warum soll ich das dumme faschistische Zeug da lesen? M ARTIN Weil es dich interessieren dürft. B ETZ Aber keine Idee! M ARTIN (mit erhobener Stimme) Das da dürfte sogar alle anwesenden Herrschaften hier interessieren! D IE H ERRSCHAFTEN (horchen auf.) S TADTRAT Was hat er denn schon wieder, dieser ewige Querulant? B ETZ (überflog mechanisch das Flugblatt, stockt und schlägt nun mit der Faust auf den Tisch.) Was?! Na das ist empörend! Ist das aber empörend, Josef! W IRT (wird unsicher und will sich drücken.) B ETZ (fixiert ihn empört.) Halt! – Halt, lieber Josef – Das da dürft nämlich vor allem dich interessieren – Weißt du, was da drinnen geschrieben steht? W IRT (verlegen) Nein – B ETZ Du kannst also nicht lesen? W IRT (lächelt verzweifelt.) Nein – B ETZ Analphabet? S TADTRAT Was soll denn das schon wieder darstellen dort? W IRT Nichts, Leutl! Nichts – B ETZ Nichts? Aber was du da nicht sagst, lieber Josef?! Ich glaub gar, du bist ein grandioser Schuft! W IRT Das darfst du nicht sagen, Heinrich! B ETZ Ich sags noch einmal, lieber Josef. S TADTRAT Wieso? K RANZ Ja Sakrament – M ARTIN (unterbricht ihn.) Moment! B ETZ Moment! Das ist hier nämlich ein sogenannter Tagesbefehl – der Tagesbefehl der Herren Faschisten für ihren heutigen deutschen Tag – (Er reicht das Blatt K ARL .) Josef, wir Republikaner sind deine Stammgäst, und du verkaufst deine Seele! Und alles um des Mammons willen! K ARL Also das ist ja direkt impertinent! Bitte mir zuzuhören, Kameraden! (Er liest.) „Ab sechzehn Uhr bis achtzehn Uhr treffen sich die Spielleute im Gartenlokal des Josef Lehninger“ – K RANZ Was für Spielleut? K ARL Die faschistischen Spielleut! Pfui Teufel! B ETZ Eine Schmach ist das! Der liebe Kamerad Josef reserviert unsere Stammtisch für die Reaktion! K ARL Und wir Republikaner, denkt er, kommen dann hernach dran mit unserer italienischen Nacht und kaufen ihm brav sein Zeug ab! M ARTIN Die Brosamen, die wo die Herren Reaktionäre nicht mehr zammfressen konnten! E NGELBERT Hört, hört! W IRT Ich glaub, wir reden aneinander vorbei – M ARTIN Aber was denn nicht noch!

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K ARL Ah, das ist aber korrupt! W IRT Ich bin nicht korrupt! Das bin ich nicht, Leutl, das ist meine Frau – K ARL Papperlapapp! W IRT Da gibts kein Papperlapapp! Ihr kennt meine Frau nicht, liebe Leutl! Die scheißt sich was um die politischen Konstellationen, der ist es sauwurscht, wer ihre Würst zammfrißt! Und ich Rindvieh hab mal von einem heiteren Lebensabend geträumt! Und wenn ich jetzt den schwarzweißroten Fetzen nicht raussteck, verderben mir sechzig Portionen Schweinsbraten, das war doch ein furchtbarer Blödsinn, die Reichsfarben zu ändern! Meiner Seel, ich bin schon ganz durcheinand! K RANZ Wenn du jetzt nicht mein Freund wärst, tät ich dir jetzt in das Gesicht spukken, lieber Josef! E NGELBERT Bravo! (Stille) W IRT (verzweifelt) Meiner Seel, jetzt sauf ich mir aber einen an, und dann erschieß ich meine Alte. Und dann spring ich zum Fenster naus, aber vorher zünd ich noch alles an. (ab) S TADTRAT Ja Himmelherrgottsakrament! Ein jedes Mal, wenn ich ein gutes Blatt hab, geht die Kracherei los! (mit erhobener Stimme) Aber sehen möcht ich doch, welche Macht unsere italienische Nacht heut nacht zu vereiteln vermag! Kameraden, wir weichen nicht, und wärs die vereinigte Weltreaktion! Unsere republikanische italienische Nacht steigt heute nacht, wie gesagt! Auch ein Herr Josef Lehninger wird uns keinen Strich durch die Rechnung machen! Ein jeder merkt sich, was er für ein Blatt gehabt hat, wir spielen auf meiner Veranda weiter. Kommt, Kameraden! M ARTIN Hurra! K RANZ Du Mephisto – A LLE (verlassen das Lokal.)

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Straße. Alle Häuser sind schwarzweißrot beflaggt, weil die hiesige Ortsgruppe der F ASCHISTEN , wie dies auch ein Transparent verkündet, einen deutschen Tag veranstaltet. Eben zieht eine Abteilung mit Fahnen, Musik und Kleinkalibern vorbei, gefolgt von Teilen der vaterländisch gesinnten Bevölkerung – Auch die D VORAKISCHE und das F RÄULEIN L ENI ziehen mit. L ENI Jetzt kann ich aber nicht mehr mit. D IE D VORAKISCHE Da tuns mir aber leid, Fräulein! L ENI Die Musik ist ja fein, aber für die Herren in Uniform könnt ich mich nicht begeistern. Die sehn sich alle so fad gleich. Und dann werdens auch gern so eingebildet selbstsicher. Da sträubt sich etwas in mir dagegen. D IE D VORAKISCHE Das glaub ich gern, weil Sie halt keine Erinnerung mehr haben an unsere Vorkriegszeit. L ENI Ich muß jetzt da nach links. D IE D VORAKISCHE Fräulein, Sie könnten mir eigentlich einen großen Gefallen tun – L ENI Gern!

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D IE D VORAKISCHE Ihr Herr Major muß doch ganz pompöse Uniformen haben – L ENI Ja, das stimmt, weil er früher auch in den Kolonien gewesen ist, die wo uns Deutschen geraubt worden sind. D IE D VORAKISCHE Geh, fragens doch mal den Herrn Major, ob er mir nicht so eine alte Uniform verkaufen möcht, es passiert Ihnen nichts – L ENI Wie meinens denn das? D IE D VORAKISCHE Das sagt man halt so. (Stille) L ENI Was möchtens denn mit der Uniform anfangen? D IE D VORAKISCHE (lächelt.) Anschaun. L ENI Ist das alles? D IE D VORAKISCHE Wie mans nimmt – (Stille) L ENI Nein, das wär mir, glaub ich, unheimlich – D IE D VORAKISCHE (plötzlich wütend) Dumme Gans, dumme! Ihr jungen Leut habt halt keine Illusionen mehr! (rasch ab) (Trommelwirbel) K ARL (kommt und erkennt L ENI .) Ist das aber ein Zufall! L ENI Jetzt so was! Der Herr Karl! K ARL Ist das aber zweifellos. L ENI Wieso? K ARL Daß wir uns da nämlich treffen, so rein durch Zufall. L ENI Geh das kommt doch öfters vor. K ARL Zweifellos. (Stille) L ENI Ich hab jetzt nicht viel Zeit, Herr Karl! K ARL Ich auch nicht. Aber ich möcht Ihnen doch nur was vorschlagen, Fräulein! L ENI Was möchtens mir denn vorschlagen? K ARL Daß wir zwei Hübschen uns womöglich heut abend noch treffen, möcht ich vorschlagen – Ich hätts Ihnen schon gestern vorgeschlagen, aber es hat sich halt keine Gelegenheit ergeben – L ENI Lügens mich doch nicht so an, Herr Karl. (Stille) K ARL (verbeugt sich barsch.) Gnädiges Fräulein. Das hab ich doch noch niemals nicht notwendig gehabt, ein Weib anzulügen, weil ich doch immerhin ein gerader Charakter bin, merken Sie sich das! L ENI Ich wollt Sie doch nicht beleidigen – K ARL Das können Sie auch nicht. L ENI (starrt ihn an.) Was verstehen Sie darunter, Herr Karl? K ARL Ich versteh darunter, daß Sie mich nicht beleidigen können, weil Sie mir sympathisch sind – Sie können mich höchstens kränken, Fräulein. Das versteh ich darunter. Pardon! (Stille) L ENI Ich glaub gar, Sie sind ein schlechter Mensch. K ARL Es gibt keine schlechten Menschen, Fräulein. Es gibt nur sehr arme Menschen. Pardon! (Stille) L ENI Ich wart aber höchstens zehn Minuten –

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K ARL Und ich nur fünf. L ENI (lächelt.) Also dann bin ich halt so frei, Sie schlechter Mensch – (ab) M ARTIN und B ETZ (kommen.) M ARTIN (sieht L ENI , die rasch an ihm vorbeigegangen ist, nach; dann betrachtet er K ARL spöttisch.) K ARL Sag mal, Martin: Ich nehm natürlich an, daß bei unserer italienischen Nacht heut nacht nicht nur eingeschriebene ordentliche und außerordentliche Mitglieder, sondern daß auch Sympathisierende gern gesehen sind – M ARTIN Von mir aus. K ARL Ich hab nämlich grad jemand eingeladen. Eine mir bekannte Sympathisierende von mir. M ARTIN War das die da? K ARL Kennst du die da? M ARTIN Leider. K ARL Wieso? M ARTIN Weil das ein ganz stures Frauenzimmer ist. K ARL Ich find aber, daß sie was Bestimmtes hat – M ARTIN Natürlich hat sie was Bestimmtes – aber der ihr Bestimmtes steht hier nicht zur Diskussion! Ich meinte doch, daß dieses Frauenzimmer ganz stur ist, nämlich in politischer Hinsicht, das ist doch eine geborene Rückschrittlerin, Herrgottsakrament! Wie kann man nur mit so was herumpoussieren! K ARL Mein lieber Martin, das verstehst du nicht. Wir zwei beide sind aufrechte Republikaner, aber wir haben dabei einen Unterschied. Du bist nämlich Arbeiter und ich Musiker. Du stehst gewissermaßen am laufenden Band, und ich spiel in einem Konzertcafé meinen Mozart und meinen Kalman – Daher bin ich natürlich der größere Individualist, schon weil ich halt eine Künstlernatur bin. Ich hab die stärkeren privaten Interessen, aber nur scheinbar, weil sich bei mir alles gleich ins Künstlerische umsetzt. M ARTIN (grinst.) Das sind aber feine Ausreden – K ARL Das bin ich mir einfach schuldig, daß ich in erotischer Hinsicht ein politisch ungebundenes Leben führ – Pardon! (ab) M ARTIN Nur zu! (Stille) B ETZ Martin, du weißt, daß ich dich schätz, trotzdem daß du manchmal schon direkt unangenehm boshaft bist – Ich glaub, du übersiehst etwas sehr Wichtiges bei deiner Beurteilung der politischen Weltlage, nämlich das Liebesleben in der Natur. Ich hab mich in der letzten Zeit mit den Werken von Professor Freud befaßt, kann ich dir sagen. Du darfst doch nicht vergessen, daß um unser Ich herum Aggressionstriebe gruppiert sind, die mit unserem Eros in einem ewigen Kampfe liegen, und die sich zum Beispiel als Selbstmordtriebe äußern, oder auch als Sadismus, Masochismus, Lustmord – M ARTIN Was gehen denn mich deine Perversitäten an, du Sau? B ETZ Das sind doch auch die deinen! M ARTIN Was du da nicht sagst! B ETZ Oder hast du denn deine Anna noch nie gekniffen oder sonst irgendsoetwas, wenn du – ich meine: im entscheidenden Moment – M ARTIN Also, das geht dich einen großen Dreck an. B ETZ Und dann sind das doch gar keine Perversitäten, sondern nur Urtriebe! Ich kann

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dir sagen, daß unsere Aggressionstriebe eine direkt überragende Rolle bei der Verwirklichung des Sozialismus spielen, nämlich als Hemmung. Ich fürcht, daß du in diesem Punkte eine Vogel-Strauß-Politik treibst. M ARTIN Weißt du, was du mich jetzt abermals kannst? (Er läßt ihn stehen.) 5

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In den städtischen Anlagen. Mit vielen Fahnen. Die Luft ist voll von Militärmusik. An der Ecke stehen ZWEI F RAUENZIMMER . Es ist bereits spät am Nachmittag. Der S TADTRAT A MMETSBERGER geht vorbei. Die F RAUENZIMMER zwinkern. E RSTE (alt und dürr) Kennst du den? Z WEITE (jung und fett) Er ist nicht unrecht. E RSTE Ich glaub, er ist was bei der Stadt. Irgendein Tier. Z WEITE Wahrscheinlich. (Jetzt wehen die Fahnen im Winde.) Z WEITE (sieht empor.) Wenns nur keine Fahnen gäb – E RSTE Fahnen sind doch direkt erhebend. Z WEITE Nein – wenn ich so Fahnen seh, ists mir immer, als hätten wir noch Krieg. E RSTE (mit dem Lippenstift) Ich kann nichts gegen den Weltkrieg sagen. Das wär undankbar. (Stille) Z WEITE (sieht noch immer empor.) Wie das weht – Was nützt uns das? E RSTE Für mich sind am besten landwirtschaftliche Ausstellungen oder überhaupt künstlerische Veranstaltungen. Auch so vaterländische Feierlichkeiten sind nicht schlecht. E IN F ASCHIST (geht vorbei.) E RSTE (nähert sich ihm.) F ASCHIST Wegtreten! (Pause) Z WEITE Eigentlich ist der Krieg dran schuld. E RSTE An was denn? Z WEITE An mir. E RSTE Lächerlich! Alle reden sich naus auf den armen Krieg! A NNA (kommt und setzt sich mit dem Rücken zu den BEIDEN F RAUENZIMMERN auf eine Bank; sie wartet.) E RSTE Wer ist denn das? Z WEITE Ich kenn sie nicht. E RSTE Die sieht so neu aus. Und dann sieht sie doch wem ähnlich – Z WEITE (grinst.) Dir – E RSTE (starrt sie an.) Also das war jetzt gemein von dir, Agnes. D REI F ASCHISTEN (kommen an A NNA vorbei.) A NNA (weicht ihren Blicken aus.) D IE F ASCHISTEN (halten vor ihr und grinsen sie an.) A NNA (erhebt sich und will ab.) M ARTIN (tritt ihr in den Weg, grüßt kurz und spricht mit ihr.) D IE F ASCHISTEN und DIE F RAUENZIMMER (horchen, hören aber nichts.)

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A NNA Und? M ARTIN Da gibts kein Und. Er hat sich halt wieder herausgelogen, der Herr Stadtrat. Das wäre unter seiner republikanischen Würde, hat er gesagt, daß er wegen denen ihrer deutschen Tage und wegen dem ehrlosen Lehninger auf seine italienische Nacht verzicht. Der typische Parlamentarier in schlechter Aufmachung. Es kommt alles, wie es kommen muß. A NNA Ein korrupter Mensch. M ARTIN Herrschen tut der Profit. Also regieren die asozialen Elemente. Und die schaffen sich eine Welt nach ihrem Bilde. Aber garantiert! Heut gibts noch einen Tanz auf denen ihrer italienischen Nacht! Zur freundlichen Erinnerung. D IE F ASCHISTEN (beschäftigen sich nun mit den F RAUENZIMMERN .) A NNA Weißt du, was die Genossen sagen? M ARTIN Was? A NNA Daß du eine Zukunft hast. M ARTIN (zuckt die Schultern.) Sie kennen mich halt. Ich müßt aber fort. In irgendeine Metropole. A NNA Ich hab auch das Gefühl, daß man auf dich wartet. M ARTIN Hier hab ich ein viel zu kleines Betätigungsfeld. Das könnt auch ein anderer machen, was ich hier mach. A NNA Nein, das könnt keiner so machen! M ARTIN Du weißt, daß ich das nicht gern hör! A NNA Aber es ist doch so! Wenn alle so wären wie du, stünd es besser um uns Menschen. M ARTIN Aber ich kann doch nichts dafür, daß ich so bin! Daß ich der Intelligentere bin, und daß ich mehr Durchschlagskraft hab, das verpflichtet mich doch nur, mich noch intensiver für das Richtige einzusetzen! Ich mag das nicht mehr hören, daß ich eine Ausnahme bin. Herrgottsakrament! (Er brüllt sie an.) Ich bin keine, merk dir das! A NNA Das kannst du einem doch auch anders sagen, daß du keine Ausnahme bist – (Stille) M ARTIN Anna, die Zeit braust dahin, und es gibt brennendere Probleme auf der Welt als wie Formfragen. Vergiß deine Pflichten nicht! A NNA Ich? M ARTIN Pflichten verpflichten. A NNA Martin. Du tust ja direkt, als wär ich ein pflichtvergessenes Wesen – M ARTIN Wieso denn hernach? Das wäre ja vermessen! Komplizier doch nicht den einfachsten Fall! Ich wollt dich doch nur erinnern an das, was wir vorgestern besprochen haben – Also sei so gut, ja? (ab) Z WEI F ASCHISTEN (sind inzwischen mit den BEIDEN F RAUENZIMMERN verschwunden.) D ER D RITTE (fixiert nun A NNA .) A NNA (plötzlich) Nun? D ER D RITTE (grinst.) A NNA (lächelt.) Nun? K ARL (erscheint hinter dem F ASCHISTEN .) A NNA (fährt zurück.) K ARL Pardon! D ER D RITTE (grinst; er grüßt A NNA spöttisch-elegant und ab.) (Stille)

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K ARL (unterdrückt seine Erregung.) Pardon, Gnädigste! A NNA Du Trottel! K ARL Um Gottes willen. Eine Anna und dieser Faschist, da stürzt ja in mir eine Welt zusammen – Wer ist jetzt verrückt? Ich oder du?! A NNA Du! Ich streng mich da an, fädel was ein, und du zertrampelst mir wieder alles, du unüberlegter Mensch! K ARL Unüberlegt! A NNA Und unverantwortlich! K ARL Unverantwortlich! Grad schimpft mich der Martin zusammen, weil ich mich für ein unpolitisches Weib interessier, und derweil bandelt die Seine mit einem Faschisten an – Meiner Seel, jetzt glaub ichs aber gleich, daß ich verrückt bin! Korrekt verrückt! So wie sichs gehört! A NNA So beruhig dich doch! K ARL Oh du mein armer Martin! A NNA Aber ich tu doch gar nichts ohne Martin! K ARL (starrt sie an.) Wie, bitte? A NNA Ich tu doch gar nichts Unrechtes! K ARL So? A NNA Das ist doch alles in Ordnung – Der Martin möcht doch nur etwas genauere Informationen über denen ihre Kleinkaliber haben – und dazu soll ich mich halt einem Faschisten nähern, um ihn auszuhorchen – (Stille) K ARL (zündet sich eine Zigarette an.) A NNA Was hast denn du jetzt gedacht? K ARL Ich? Pardon! A NNA Das war doch eine grobe Beleidigung – K ARL Pardon! A NNA Schäm dich! (Stille) K ARL Anna. Ich habe schon viel erlebt auf erotischem Gebiete, und dann wird man halt mit der Zeit leicht zynisch. Besonders, wenn man so eine scharfe Beobachtungsgabe hat. Du bist natürlich eine moralische Größe. Du hast dich überhaupt sehr verändert. A NNA (lächelt.) Danke. K ARL Bitte. Du warst mal nämlich anders. Früher. A NNA (nickt.) Ja, früher. K ARL Da warst du nicht so puritanisch. (Stille) A NNA (plötzlich ernst) Und? K ARL Wenn ich dich so seh, krieg ich direkt einen Moralischen. Der Martin hat schon sehr recht, man soll sich nicht so gehen lassen – Jetzt hab ich halt schon wieder ein Rendezvous, sie ist zwar politisch indifferent – (Er sieht auf seine Armbanduhr.) A NNA Dann würd ich an deiner Stelle einen heilsamen Einfluß auf sie ausüben. K ARL Meiner Seel, das werd ich auch! Ehrenwort! A NNA Wie oft hast du das jetzt schon gesagt? K ARL Anna. Es ist wichtiger, seine Fehler einzusehen, als wie Fehler zu unterlassen. Wenn ich dir jetzt mein Ehrenwort gib, daß ich auf unserer italienischen Nacht heut nacht gewissermaßen eine passive Resistenz üben werd –

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A NNA Wie soll ich das verstehen? K ARL Also zum Beispiel: Ich werd kein einziges Mal tanzen. Ehrenwort! Keinen Schritt! Auch mit ihr nicht! Es hat doch auch keinen Sinn, als Vieh durch das Leben zu laufen und immer nur an die Befriedigung seiner niederen Instinkte zu denken – (Er legt seinen Arm unwillkürlich um ihre Taille, ohne zu wissen, was er tut.) A NNA (nimmt seine Hand langsam fort von dort und sieht ihn lang an.) K ARL (wird sich bewußt, was er getan hat.) (Stille) K ARL (tückisch) Aber komisch find ich das doch vom Martin. A NNA Was? K ARL Ich könnt es ja nie … A NNA Was denn? K ARL Ich kanns mir nicht vorstellen, wie er dich liebt. Ich meine: ob normal, so wie sichs gehört – A NNA Was willst du? K ARL Es tät mich nur interessieren. Wenn er nämlich so was von dir verlangt, er schickt dich doch gewissermaßen auf den politischen Strich – Ob er dabei innere Kämpfe hat? A NNA Innere Kämpfe? K ARL Ja! (Stille) A NNA Aber nein! Du kannst mich nicht durcheinanderbringen! Ich kenn den Martin besser! Der steht über uns allen! Ich war blöd, dumm, verlogen, klein, häßlich – Er hat mich emporgerissen. Ich war nie mit mir zufrieden. Jetzt bin ichs. K ARL (verbeugt sich leicht.) A NNA Jetzt hab ich einen Inhalt, weißt du? (langsam ab) K ARL Pardon! (sieht auf seine Armbanduhr, geht wartend auf und ab.) L ENI (kommt.) Guten Abend, Herr Karl! Ich freu mich nur, daß Sie noch da sind! Ich konnt leider nicht früher! K ARL Wir haben ja noch Zeit. Und dann sieht es ja auch nicht schlechter aus, wenn man später kommt. L ENI Warum denn so traurig? K ARL Traurig? L ENI Nein, diese Stimme – wie aus dem Grab. (Sie lächelt.) K ARL Ich hab grad ein Erlebnis hinter mir. Nämlich ein politisches Erlebnis. Man müßt den Forderungen des Tages mehr Rechnung tragen, Fräulein. Ich glaub, ich bin verflucht. L ENI Aber Herr Karl! Wenn jemand einen so schönen Gang hat! (Sie lacht.) K ARL Wie?! (Er fixiert sie.) L ENI (verstummt.) (Stille) K ARL Ja, Fräulein, Sie verstehen mich anscheinend nicht, ich müßt Ihnen das nämlich stundenlang auseinandersetzen – Ich seh schwarz in die Zukunft, Fräulein. L ENI Geh Sie sind doch ein Mann – K ARL Gerade als Mann darf man eher verzweifeln, besonders ich, weil ich den politischen Tagesereignissen näher steh. – Sie kümmern sich nicht um Politik? L ENI Nein.

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K ARL Das sollten Sie aber. L ENI Warum redens denn jetzt darüber? K ARL In Ihrem Interesse. L ENI Wollens mich ärgern? K ARL Es wär Ihre Pflicht als Staatsbürger – L ENI Warum wollens mir denn jetzt die ganze Stimmung verderben, ich hab mich ja schon so gefreut auf Ihre italienische Nacht! (Stille) K ARL Ich bin nämlich nicht so veranlagt, daß ich eine Blume einfach nur so abbrech, am Wegrand. Ich muß auch menschlich einen Kontakt haben – und das geht bei mir über die Politik. L ENI Geh das glaubens doch selber nicht! K ARL Doch! Ich könnt zum Beispiel nie mit einer Frau auf die Dauer harmonieren, die da eine andere Weltanschauung hätt. L ENI Ihr Männer habt alle eine ähnliche Weltanschauung. (Stille) K ARL Sie sind doch eine Deutsche? L ENI Ja. K ARL Sehns, Fräulein, das ist der Fluch speziell von uns Deutschen, daß wir uns nicht um Politik kümmern, wir sind kein politisches Volk – Bei uns gibts noch massenweis Leut, die keine Ahnung haben, wer sie regiert. L ENI Ist mir auch gleich. Besser wirds nicht. Ich schau, daß ich durchkomm. K ARL Mir scheint, Sie haben keine Solidarität. L ENI Redens doch nicht so protzig daher! K ARL Mir scheint, daß Sie gar nicht wissen, wer der Reichspräsident ist? L ENI Ich weiß nicht, wie die Leut heißen! K ARL Wetten, daß Sie nicht wissen, wer der Reichskanzler ist? L ENI Weiß ich auch nicht! K ARL Also das ist ungeheuerlich! Und wieder einmal typisch deutsch! Können Sie sich eine Französin vorstellen, die das nicht weiß? L ENI So gehens halt nach Frankreich! (Stille) K ARL Wer ist denn der Reichsinnenminister? Oder wieviel Reichsminister haben wir denn? Ungefähr? L ENI Wenn Sie jetzt nicht aufhören, laß ich Sie da stehen! K ARL Unfaßbar! (Stille) L ENI Das hab ich mir auch anders gedacht, diesen Abend. K ARL Ich auch. L ENI Einmal geht man aus – und dann wird man so überfallen. K ARL (sieht auf seine Armbanduhr.) Jetzt wirds allmählich Zeit. L ENI Am liebsten möcht ich gar nicht mehr hin. K ARL (umarmt sie plötzlich und gibt ihr einen Kuß.) L ENI (wehrt sich nicht.) K ARL (sieht ihr tief in die Augen und lächelt geschmerzt.) Ja, der Reichsinnenminister – (Er zieht sie wieder an sich.)

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In den städtischen Anlagen, vor dem Denkmal des ehemaligen Landesvaters. Z WEI B URSCHEN bemalen das Antlitz des Landesvaters mit roter Farbe. E IN D RITTER steht Schmiere. Es dämmert bereits stark. In weiter Ferne spielen die F ASCHISTEN den bayerischen Präsentiermarsch. E RSTER Die werden morgen schauen, wie sehr sich Seine Majestät verändert haben – Seine Majestät haben einen direkt roten Kopf bekommen – einen blutroten Kopf – Z WEITER Wie stolz daß der dreinschaut! E RSTER (klatscht mit dem Pinsel in Seiner Majestät Antlitz.) Schad, daß der nur einen Kopf hat! D RITTER Halt! Z WEITER Ha? D RITTER Meiner Seel, da kommen gleich zwei! Z WEITER Heim! E RSTER Fertig! (rasch ab mit den beiden anderen) (Jetzt wird es bald ganz Nacht.) A NNA (kommt mit einem F ASCHISTEN .) D ER F ASCHIST Es ist das eine wirklich schöne Stadt hier, Ihre Stadt, Fräulein! Sie als Kind dieser Stadt muß das doch mit einem ganz besonderen Stolz erfüllen. A NNA Ich bin auch stolz, daß ich von hier bin. D ER F ASCHIST Ehre deine Heimat! Und was Sie hier für zweckmäßige Anlagen haben – A NNA Wollen wir uns nicht setzen? D ER F ASCHIST Gestatten! (Sie setzen sich.) A NNA Ich bin nämlich etwas müd, weil ich den ganzen Tag mitmarschiert bin. D ER F ASCHIST Haben Sie auch Militärmusik im Blut? A NNA Ich glaub schon, daß ich das im Blut hab – (Sie lügt.) Nämlich mein Vater war ja aktiver Feldwebel! D ER F ASCHIST Stillgestanden! (Stille) D ER F ASCHIST Das dort drüben, das ist doch das überlebensgroße Denkmal Seiner Majestät? A NNA Ja. D ER F ASCHIST Ich habe bereits die Ehre gehabt, es kennenzulernen. Wir hatten heut früh hier eine interne Gruppenaussprache – Ein wirklich schönes Denkmal ist das, voller Stil. Schad, daß es schon so dunkel ist, man kanns ja gar nicht mehr bewundern! A NNA War die interne Gruppenaussprache sehr feierlich? D ER F ASCHIST Überaus! A NNA Über was hat man denn gesprochen? D ER F ASCHIST Über unsere Mission. – Es ist nicht wahr, wenn feige Söldner des Geldes sagen, wir seien in die Welt gesetzt, um zu leiden, zu genießen und zu sterben! Wir haben hier eine Mission zu erfüllen! Der eine fühlt den Trieb stärker in sich, der andere schwächer. In uns brennt er wie Opferfeuer! Wir gehen bis zum letzten durch! (Stille)

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A NNA Ich möcht jetzt gern was wissen. D ER F ASCHIST Jederzeit! A NNA Ich bin nämlich politisch noch sehr unbedeutend und kenn mich noch nicht so recht aus mit Ihrer Bewegung – D ER F ASCHIST (unterbricht sie.) Das Weib gehört an den heimischen Herd, es hat dem kämpfenden Manne lediglich Hilfsstellung zu gewähren! A NNA Ich wollt ja nur etwas wissen über die Zukunft, ungefähr – D ER F ASCHIST Fräulein, dringen Sie nicht in mich, bitte. Ich darf darüber nichts sagen, weil das ein heiliges Geheimnis ist. (Stille) D ER F ASCHIST Und was sind das doch schon für ungereimte Torheiten, wenn man behauptet, wir seien keine proletarische Partei! Ich weiß, was ich rede! Ich gehör zu den gebildeteren Ständen und bin doch auch nicht der Dümmste! Ich bin Drogist. A NNA Jetzt wirds aber finster. D ER F ASCHIST (dumpf) Ja, finster. (Stille) D ER F ASCHIST Finster wie in mir. Fräulein, ich kann Sie ja kaum mehr sehen – Ihr Blondhaar – A NNA Ich bin doch gar nicht blond, sondern brünett. D ER F ASCHIST Dunkelblond, dunkelblond – Hüte dich, Blondmädel, hüte dich! Du weißt, vor wem – Überhaupt hat uns der Jude in den Krieg hineinschlittern lassen! 1914 war es für ihn die höchste Zeit! Denn es hätte der Zeitpunkt kommen können, wo die Völker vielleicht hellhörig geworden wären. Nehmen wir einmal an, über die Welt wäre eine Epidemie gekommen, da hätten die Leute schon gesehen, daß die Juden dran schuld sind! – Blondmädel, in mir ist Freude, daß Sie sich von mir haben ansprechen lassen – A NNA Ich laß mich ja sonst nicht so ansprechen, aber – D ER F ASCHIST Aber? A NNA Aber von Ihresgleichen – Nein, nicht! – Nein, bitte – Lassens mich, bitte! D ER F ASCHIST Bitte! Zu Befehl! (Stille) A NNA Ich kann doch nicht gleich so. D ER F ASCHIST Aber das war doch nicht gleich so! Wir haben doch schon eine ganze Zeit gesprochen, zuerst über Kunst und dann über Ihre schöne Stadt und jetzt über unsere Erneuerung – (Stille) D ER F ASCHIST (fährt sie plötzlich an.) Und wissen Sie auch, wer uns zugrunde gerichtet hat?! Der Materialismus! Ich will Ihnen sagen, wie der über uns gekommen ist, das kenne ich nämlich! Mein Vater ist nämlich seit dreiundzwanzig Jahren selbständig. Das war nämlich so. Wo man hinkam, hatte der Jude schon alles weggekauft. Der ist nämlich einfach hergegangen und hat überall das billigste Angebot herausgeschunden. Alles wurde so in den Strudel mit hineingerissen, und so hat sich, nicht wahr, der materialistische Geist immer breiter gemacht. Aber wir sind eben zu weibisch geworden! Es wird Zeit, daß wir uns wieder mal die Hosen anziehen und merken, daß wir Zimbern und Teutonen sind! (Er wirft sich auf sie.) A NNA Nicht! Nein! (Sie wehrt sich.)

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(Jetzt fällt Licht auf das Denkmal, und man sieht nun Seine Majestät mit dem roten Kopf.) D ER F ASCHIST (läßt ab von A NNA , heiser.) Was? – Nein, diese Schändung – diese Schändung – der Gott, der Eisen wachsen ließ! – Rache! – Gott steh uns bei! Deutschland erwache! (In der Ferne das Hakenkreuzlied.)

FÜNFTES BILD 10

Im Gartenlokal des Josef Lehninger. Mit Musik.

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D IE F ASCHISTEN (trinken Bier und singen.) Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, Daß ich so traurig bin, Ein Märchen aus uralten Zeiten, Das kommt mir nicht aus dem Sinn. Die Luft ist kühl, und es dunkelt, Und ruhig fließet der Rhein – – E IN F ASCHIST Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein – A LLE F ASCHISTEN Wir alle wollen Hüter sein! Lieb Vaterland magst ruhig sein, Lieb Vaterland magst ruhig sein, Fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein, Fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein! D IE F ASCHISTEN (mit dem Bierkrug in der Hand) Heil! Heil! Heil! (Saufen) (Musik spielt nun: „Stolz weht die Flagge schwarzweißrot“.) D ER L EUTNANT (mit der Landkarte; er winkt einen F ASCHISTEN an sich heran.) Also unsere Nachtübung. Hinter diesem Morast liegt zum Beispiel Frankreich, gleich neben der angelsächsischen Artillerie. Oben und unten Bolschewiken. Verstanden? D ER F ASCHIST Zu Befehl! D ER L EUTNANT Und wir? Wir sind hier im Wald. Im d e u t s c h e n Wald. Eigentlich ist das sogar symbolisch. Wir werden überfallen, selbstverständlich. Es läßt sich doch durch die ganze Weltgeschichte verfolgen, daß wir Deutschen noch niemals einem anderen Volke irgendetwas Böses getan haben. Nehmen wir nun mal an, die ganze Welt wäre gegen uns – W IRT Entschuldigens bitte! D ER L EUTNANT Herr Lehninger! W IRT Herr Leutnant, ich brauch jetzt nämlich mein Lokal – D ER L EUTNANT Was soll das? W IRT Es wird allmählich Zeit – Sie müssen jetzt mein Lokal verlassen – D ER L EUTNANT Mensch, was erlaubt er sich?! W IRT Aber das ist doch nur meine vaterländische Pflicht, daß ich Sie daran erinner – sonst versäumen Sie ja noch Ihre diversen Nachtübungen – (Stille) D ER L EUTNANT (läßt den F ASCHISTEN wegtreten; ruft.) Czernowitz! C ZERNOWITZ (ein Gymnasiast) Zu Befehl, Herr Leutnant!

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D ER L EUTNANT Herr Major erwarten uns im Wald. Herr Major werden sein Referat in unserem deutschen Walde halten. Haben Sie das Referat fertig? C ZERNOWITZ Jawohl, Herr Leutnant! (Er reicht ihm einige Blätter aus einem Schulheft.) D ER L EUTNANT Titel? C ZERNOWITZ Was verdanken uns Deutschen die Japaner? D ER L EUTNANT Richtig! – Kerl, warum haben Sie das nicht ins reine geschrieben? C ZERNOWITZ Sie kennen meinen Vater nicht, Herr Leutnant! Der kümmert sich nur um meine Schulaufgaben! Meine Familie versteht mich nicht, Herr Leutnant. Als ich mich neulich freute, daß wir so viele Feinde haben, weil das doch eine Ehre ist – da hat mir mein Vater eine heruntergehauen. Wenn meine Mutter nicht wär, Herr Leutnant – Meine Mutter ist noch die einzige, die mich versteht – Mein Vater ist liberal. (Stille) D ER L EUTNANT Weggetreten! C ZERNOWITZ (kehrt.) D ER L EUTNANT Angetreten! D IE F ASCHISTEN (treten an.) D ER L EUTNANT Stillgestanden! Rechts um! Abteilung – Marsch! D IE F ASCHISTEN (ziehen ab. Und die Musik spielt den bayerischen Präsentiermarsch.) W IRT (holt die schwarzweißrote Fahne herunter und hißt die schwarzrotgoldne.) (Nun ist es finster geworden, und nun steigt die republikanische italienische Nacht. Mit Girlanden und Lampions, Blechmusik und Tanz. – Mitglieder und Sympathisierende ziehen mit Musik in das Gartenlokal ein, und zwar auf die Klänge des Gladiatorenmarsches; allen voran der S TADTRAT A MMETSBERGER, K RANZ , B ETZ , E NGELBERT mit ihren D AMEN . Auch K ARL und L ENI sind dabei. Und auch M ARTIN kommt mit SEINEN K AMERADEN , finster und entschlossen – und setzt sich abseits mit ihnen.) S TADTRAT Meine Damen und Herren! Kameraden! Noch vor wenigen Stunden hatte es den Anschein, als wollte das uns Menschen, und nicht zu guter Letzt uns Republikanern, so feindlich gesinnte höhere Schicksal, daß unser aller heißer Wunsch, unser ersehnter Traum, unsere italienische Nacht nicht Wirklichkeit wird. Kameraden! Im Namen des Vorstandes kann ich euch die erfreuliche Mitteilung machen, daß wir unser Schicksal überwunden haben! Wenn ich hier diese stimmungsvolle Pracht sehe, diesen Jubel in all den erwartungsvollen Antlitzen, bei jung und auch bei alt, so weiß ich, was wir überwunden haben! Und so wünsche ich, daß diese unsere Gartenunterhaltung, diese unsere republikanische italienische Nacht allen Anwesenden unvergeßlich bleiben soll! Ein Hoch auf das in der Republik geeinte deutsche Volk. Hoch! Hoch! Hoch! A LLE außer M ARTINS K AMERADEN (erheben sich.) Hoch! Hoch! Hoch! (Musiktusch) S TADTRAT Setzen! E NGELBERT Meine Damen und Herren! Kameraden! Liebe Sympathisierende! Ich freue mich, daß wir hier sind! Antreten zur Française! (Der S TADTRAT , B ETZ , K RANZ , E NGELBERT usw. mit ihren D AMEN tanzen nun eine Française – M ARTIN und SEINE K AMERADEN sehen finster zu. – Jetzt spielt die Musik einen Walzer.) E NGELBERT Damenwahl! Damenwahl!

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M ARTIN (zu SEINEN K AMERADEN ) Daß mir nur keiner tanzt! Disziplin, muß ich schon bitten – Disziplin und Opposition! E INIGE F RÄULEINS (wollen mit M ARTINS K AMERADEN tanzen, werden aber abgewiesen.) L ENI (zu K ARL ) Also darf ich jetzt bitten? K ARL (schweigt.) L ENI Also darf ich jetzt bitten zum letzten Mal? K ARL (schweigt.) L ENI Wie kann man ein Fräulein nur so bitten lassen – K ARL Glaubst du, daß ich das so leicht überwind? L ENI Zu was sind wir denn da, wenn wir nicht tanzen? K ARL Das hat einen tieferen Sinn. L ENI Und du willst ein Mann sein? Und traust dich nicht einmal zu tanzen? K ARL Man kann als Mann vieles zurückziehen, aber sein Ehrenwort niemals. L ENI Ein richtiger Mann kann alles. Nein. Tu die Hand da weg. K ARL Was für eine Hand? L ENI Die deinige. K ARL Du weißt noch nicht, was Konflikte sind – Sonst würdest du nicht so appellieren – (Er kommt mit ihr unwillkürlich ins Tanzen, und zwar links herum.) E RSTER K AMERAD Du, Martin, der hat doch deiner Anna sein Ehrenwort gegeben, daß er unser Mann ist – M ARTIN Er hat bei meiner Anna seine Ehre verpfändet, daß er keinen Schritt tanzen wird, sondern daß er sich unseren Parolen anschließen wird, und zwar durchaus radikal. Z WEITER K AMERAD Ein Schuft, ein ganz charakterloser. D RITTER K AMERAD Einer mehr. E RSTER K AMERAD Und jedesmal wegen einem Frauenzimmer – V IERTER K AMERAD Die bildet sich aber was ein! D RITTER K AMERAD Gott, wie graziös! E RSTER K AMERAD Die wirds auch nimmer begreifen, wos hingehört. Z WEITER K AMERAD Wer ist denn das Frauenzimmer? V IERTER K AMERAD Auch nur Prolet! E RSTER K AMERAD Nein. Das ist etwas bedeutend Feineres. Das ist eine Angestellte – (Er grinst.) D RITTER K AMERAD (lacht.) V IERTER K AMERAD Wann gehts denn los? D RITTER K AMERAD (verstummt plötzlich.) M ARTIN Wenn ich euch das Signal gib! Ich! (Er erhebt sich, tritt nahe an DIE T ANZENDEN heran und sieht zu; jetzt spielt die Musik einen Walzer, EINIGE P AARE hören auf zu tanzen – u.a. auch der S TADTRAT A MMETSBERGER .) S TADTRAT Na was war das für eine Idee? E NGELBERT Eine Prachtidee! S TADTRAT Ich wußte es doch, daß so ein zwangloses gesellschaftliches Beisammensein uns Republikaner menschlich näherbringen würde. K RANZ (ist leicht angetrunken.) Ich freu mich nur, daß wir uns von dieser Scheißreaktion nicht haben einschüchtern lassen, und daß wir diese bodenlose Charakterlosigkeit unseres lieben Josef mit einer legeren Handbewegung beiseitegeschoben haben. Das zeigt von innerer Größe.

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S TADTRAT Eine Prachtidee! E NGELBERT Eine propagandistische Tat! K RANZ Diese Malefizfaschisten täten sich ja nicht wenig ärgern, wenn sie sehen könnten, wie ungeniert wir Republikaner uns hier bewegen! (Er torkelt etwas.) E NGELBERT Wo stecken denn jetzt diese Faschisten? B ETZ Ich hab was von einer Nachtübung gehört. E NGELBERT Na viel Vergnügen! K RANZ Prost! S TADTRAT Dieser kindische Kleinkaliberunfug. B ETZ Aber sie sollen doch auch Maschinengewehre – S TADTRAT (unterbricht ihn.) Redensarten, Redensarten! Nur keinen Kleinmut, Kameraden! Darf ich euch meine Frau vorstellen, meine bessere Hälfte. K RANZ Sehr erfreut! E NGELBERT Angenehm! B ETZ Vom Sehen kennen wir uns schon. D IE BESSERE H ÄLFTE (lächelt unsicher.) S TADTRAT So – Woher kennt ihr euch denn? B ETZ Ich habe dich mal mit ihr gehen sehen. S TADTRAT Mich? Mit ihr? Wir gehen doch nie zusammen aus! B ETZ Doch. Und zwar dürft das so vor Weihnachten gewesen sein – S TADTRAT Richtig! Das war an ihrem Geburtstag! Der einzige Tag im Jahr, an dem sie mitgehen darf, ins Kino – (Er lächelt und kneift sie in die Wange.) Sie heißt Adele. Das heut ist nämlich eine Ausnahme, eine große Ausnahme – Adele liebt die Öffentlichkeit nicht, sie ist lieber daheim. (Er grinst.) Ein Hausmütterchen. K RANZ (zu A DELE ) Trautes Heim, Glück allein. Häuslicher Herd ist Goldes wert. Die Grundlage des Staates ist die Familie. Was Schönres kann sein als ein Lied aus Wien. (Er torkelt summend zu seinem Bier.) B ETZ Ein Schelm. E NGELBERT (zu A DELE ) Darf ich bitten! S TADTRAT Danke! Adele soll nicht tanzen. Sie schwitzt. (Pause. E NGELBERT tanzt nun mit einer F ÜNFZEHNJÄHRIGEN .) A DELE (verschüchtert) Alfons! S TADTRAT Nun? A DELE Ich schwitz ja gar nicht. S TADTRAT Überlaß das mir, bitte. A DELE Warum soll ich denn nicht tanzen? S TADTRAT Du kannst doch gar nicht tanzen! A DELE Ich? Ich kann doch tanzen! S TADTRAT Seit wann denn? A DELE Seit immer schon. S TADTRAT Du hast noch nie tanzen können! Selbst als blutjunges Mädchen nicht, merk dir das! Blamier mich nicht, Frau Stadtrat! (Er zündet sich eine Zigarre an.) (Pause) A DELE Alfons, warum hast du gesagt, daß ich die Öffentlichkeit nicht liebe? Ich ging doch gern öfters mit. – Warum hast du das gesagt? S TADTRAT Darum. (Pause)

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A DELE Ich weiß ja, daß du im öffentlichen Leben stehst, eine öffentliche Persönlichkeit – S TADTRAT Still, Frau Stadtrat! A DELE Du stellst einen immer in ein falsches Licht. Du sagst, daß ich mit dir nicht mitkomm – S TADTRAT (unterbricht sie.) Siehst du! A DELE (gehässig) Was denn? S TADTRAT Daß du mir nicht das Wasser reichen kannst. (Pause) A DELE Ich möcht am liebsten nirgends mehr hin. S TADTRAT Eine ausgezeichnete Idee! (Er läßt sie stehen; zu B ETZ ) Meine Frau, was? (Er grinst und droht ihr schelmisch mit dem Zeigefinger.) Wenn du zum Weibe gehst, vergiß die Peitsche nicht. B ETZ Das ist von Nietzsche. S TADTRAT Das ist mir wurscht! Sie folgt aufs Wort. Das ist doch ein herrlicher Platz hier! Diese uralten Stämme und die ozonreiche Luft – (Er atmet tief.) B ETZ Das sind halt die Wunder der Natur. S TADTRAT Die Wunder der Schöpfung – es gibt nichts Herrlicheres. Ich kann das besser beurteilen, weil ich ein Bauernkind bin. Wenn man so in den Himmel schaut, kommt man sich so winzig vor – diese ewigen Sterne! Was sind wir daneben? B ETZ Nichts. S TADTRAT Nichts. Gott hat doch einen feinen Geschmack. B ETZ Es ist halt alles relativ. (Stille) S TADTRAT Du, Betz, ich hab mir ein Grundstück gekauft. B ETZ Wo denn? S TADTRAT Fast ein Tagwerk. Mit einer Lichtung. – Schau, lieber guter Freund, die Welt hat Platz für anderthalb Milliarden Menschen, warum soll mir da nicht von dieser großen Welt so ein kleines Platzerl gehören – E RSTER K AMERAD (hat unfreiwillig gelauscht.) Feiner Marxist. (Stille) S TADTRAT Was hat der gesagt? B ETZ So laß ihn doch! A DELE Er hat gesagt: Feiner Marxist. S TADTRAT Wie du das einem so einfach ins Gesicht sagst. – Toll! A DELE Ich hab ja nur gesagt, was er gesagt hat. S TADTRAT Wer? Was sich da diese unreifen Spritzer herausnehmen! Überhaupt! (Er deutet auf M ARTIN und SEINE K AMERADEN .) Dort hat noch keiner getanzt – saubere Jugend! Opposition und Opposition. Revolte oder dergleichen. Spaltungserscheinungen. Nötige Autorität. Man muß – (Er will an seinen Biertisch, stockt jedoch, da er sieht, daß M ARTIN und SEINE K AMERADEN eine leise debattierende Gruppe bilden; er versucht zu horchen – Plötzlich geht er rasch auf M ARTIN zu.) Martin, was hast du da gesagt? Feiner Marxist, hast du gesagt? M ARTIN Ich habs zwar nicht gesagt, aber ich könnts gesagt haben. S TADTRAT Und wie hättest du das gemeint, wenn du es gesagt hättest? M ARTIN Wir sprechen uns noch. (Er läßt ihn stehen.) (Akkord und Gong) E NGELBERT (auf dem Podium) Meine Damen und Herren! Kameraden! Eine große

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erfreuliche Überraschung hab ich euch mitzuteilen. Es steht euch ein seltener Kunstgenuß bevor. Frau Hinterberger, die Gattin unseres verehrten lieben Kassierers, hat sich liebenswürdigerweise bereit erklärt, uns mit ihrer Altstimme zu entzücken! (Bravorufe und Applaus) Ich bitte um Ruhe für Frau Hinterberger! F RAU H INTERBERGER (betritt das Podium, mit Applaus begrüßt.) Ich singe Ihnen eine Ballade von Löwe, Heinrich der Vogler. (Sie singt die Ballade; großer Beifall, nur M ARTIN und SEINE K AMERADEN beteiligen sich nach wie vor an keiner Ovation; nun wird wieder weitergetanzt.) L ENI (zu K ARL ) Das war aber schön. Ich bin nämlich sehr musikalisch. K ARL Das hab ich schon bemerkt. L ENI An was denn? K ARL An deinem Tanzen. Du hast ein direkt exorbitantes rhythmisches Feingefühl – L ENI Das hängt aber nicht nur von mir ab. Das hängt auch vom Herrn ab. K ARL Hast es also nicht bereut, daß du mir hierher gefolgt bist? L ENI (lächelt.) Werd mir nur nicht wieder politisch. – Versprichs mir, daß du es nimmer werden wirst, auf Ehrenwort. K ARL Das ist nicht so einfach. L ENI Wieso? K ARL Nämlich, ich geb nur dann gern ein Ehrenwort, wenn ich dasselbe auch halten kann. Man bricht nämlich viel leichter so ein Ehrenwort, als wie daß man es hält. L ENI Wenn du es mir gibst, dann geb ich dir auch ein Ehrenwort – K ARL Du? L ENI Eine Frau hat nicht viel zu geben – aber wenn sie was gibt, macht sie den Mann zu einem König. M ARTIN (zu K ARL ) Karl, darf ich dich einen Augenblick – K ARL Bitte. (zu L ENI ) Pardon! (zu M ARTIN ) Nun? M ARTIN Du hast doch der Anna versprochen, nicht zu tanzen – alsdann: Ich möchte nur konstatieren, daß du dein politisches Ehrenwort wegen einer Lustbarkeit gebrochen hast. K ARL (wird nervös.) Hab ich das? M ARTIN Ja. Du hast mir sogar versprochen, daß, wenn es jetzt hier zu der bevorstehenden weltanschaulichen Auseinandersetzung – K ARL (unterbricht ihn.) Also bitte, werd nur nicht wieder moralisch! M ARTIN Du hast halt wieder mal dein Ehr geschändet. K ARL Ist das dein Ernst? M ARTIN Jawohl, du Künstlernatur – (Pause) K ARL (lächelt bös.) Martin, wo steckt denn deine Anna? M ARTIN Was soll das? K ARL Die wird wohl bald erscheinen? M ARTIN Hast du sie gesehen? K ARL Ja. M ARTIN Allein oder mit? K ARL Mit. M ARTIN (lächelt.) Dann ists ja gut. K ARL Meinst du? M ARTIN Ja. (Pause)

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K ARL (grinst.) Honni soit qui mal y pense! M ARTIN Was heißt das? K ARL (schadenfroh) Das ist französisch. (Pause) M ARTIN Ich bin dir ja nicht bös, du tust mir leid. Es ist nämlich schad um dich mit deinen Fähigkeiten. Aber du hast immer nur Ausreden. Ein halber Mensch – (Er läßt ihn stehen.) (Akkord und Gong) E NGELBERT (auf dem Podium) Meine Sehrverehrten! Kameraden! Und abermals gibts eine große erfreuliche Überraschung im Programm! In dem Reigen unserer künstlerischen Darbietungen folgt nun ein auserlesenes Ballett, und zwar getanzt von den beiden herzigen Zwillingstöchterchen unseres Kameraden Leimsieder, betitelt „Blume und Schmetterling“! D IE HERZIGEN Z WILLINGSTÖCHTERCHEN (dreizehnjährig, betreten das Podium, mit mächtigem Applaus begrüßt.) S TADTRAT Bravo, Leimsieder! D IE HERZIGEN Z WILLINGSTÖCHTERCHEN (tanzen nun einen affektierten Kitsch – Plötzlich ertönt aus M ARTINS Gegend ein schriller Pfiff, DIE HERZIGEN Z WILLINGSTÖCHTERCHEN zucken zusammen, tanzen aber noch weiter, jedoch etwas unsicher geworden; die, denen es gefällt, sehen entrüstet auf M ARTIN – Da ertönt abermals ein Pfiff, und zwar ein noch schrillerer.) K RANZ (brüllt.) Ruhe, Herrgottsakrament! Wer pfeift denn da, ihr Rotzlöffel?! Lümmel, dreckige, windige! E NGELBERT Wems nicht paßt, der soll raus!! R UFE Raus! Raus! (Tumult) D IE HERZIGEN Z WILLINGSTÖCHTERCHEN (weinen laut.) E RSTER K AMERAD (schlägt mit der Faust auf den Tisch.) Wir wollen hier kein Säuglingsballett! K RANZ Halts Maul, sag ich! Z WEITER K AMERAD Halts du! E INE T ANTE Seht, wie die Kindlein weinen, ihr Rohlinge! D RITTER K AMERAD Hoftheater! V IERTER K AMERAD Hofoper! Oper! S TADTRAT Jetzt wirds mir zu dumm! E INIGE K AMERADEN Huuu! S TADTRAT Oh ich bin energisch! D IE K AMERADEN Huuu! S TADTRAT Jetzt kommt die Abrechnung! D RITTER K AMERAD Tatü tata! D IE T ANTE Oh diese Jugend! V IERTER K AMERAD Feiner Marxist! D IE K AMERADEN (im Sprechchor) Feiner Marxist! Feiner Marxist! Feiner Marxist! Feiner Marxist! S TADTRAT Wer? Ich?! Ich hab das kommunistische Manifest bereits auswendig hersagen können, da seid ihr noch in den Windeln gelegen, ihr Flegel! (Pfiff) D IE T ANTE Diese Barbaren stören ja nur den Kunstgenuß!

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V IERTER K AMERAD Du mit deinem Kunstgenuß! D RITTER K AMERAD Blume und Schmetterling! E RSTER K AMERAD Mist! Mist! Mist! K RANZ Oh ihr Kunstbarbaren! (Er fällt fast um vor lauter Rausch.) E NGELBERT Seht, was ihr angerichtet habt! Kindertränen! Schämt ihr euch denn gar nicht?! Oder habt ihr denn keine Ahnung, mit welcher Liebe das hier einstudiert worden ist – Wochenlang haben der Kamerad Leimsieder und seine Frau jede freie Minute geopfert, um uns hier beglücken zu können! E IN F REMDER K AMERAD (aus Magdeburg) Hätte er doch lieber seine freien Minuten geopfert, um die Schlagstärke unserer Organisation auszubauen! (Totenstille; maßlose Überraschung über die fremde Mundart) S TADTRAT Ah, ein Preuße – (Sturm) D IE D VORAKISCHE Stören Sie unsere Nacht nicht! M ARTIN Solche Nächte gehören gestört! D ER FREMDE K AMERAD Kameraden! M ARTIN Jetzt red ich! Kameraden! Indem daß wir hier Familienfeste mit republikanischem Kinderballett arrangieren, arrangiert die Reaktion militärische Nachtübungen mit Maschinengewehren! D ER FREMDE K AMERAD Genossinnen und Genossen! Wollt ihr es denn nicht sehen, wie sie das Proletariat verleugnen, verhöhnen und ausbeuten, schlimmer als je zuvor?! Und ihr? M ARTIN (unterbricht ihn.) Und ihr?! Italienische Nächte! Habt ihr denn schon den Satz vergessen: Oh wenn doch nur jeder Prolet sein Vergnügen in der republikanischen – D ER FREMDE K AMERAD (unterbricht ihn.) In der revolutionären! In der revolutionären Tätigkeit fände! Es bleibt zu fordern – S TADTRAT Hier bleibt gar nichts zu fordern! M ARTIN Es bleibt zu fordern: sofortige Einberufung des Vorstandes und Beschlußfassung über den Vorschlag: D ER FREMDE K AMERAD Bewaffnung mit Kleinkalibern! K RANZ Halts Maul, Malefizpreuß dreckiger! R UFE Raus damit! Raus!! D ER FREMDE K AMERAD Genossinnen und Genossen! M ARTIN Jetzt red ich, Herrgottsakrament! Du bringst mich ja noch ganz aus dem Konzept! Ich möchte doch auch dasselbe, aber so kommen wir auf keinen grünen Zweig nicht! So laßt doch hier die angestammten Führer reden! S TADTRAT Kameraden! Ein Frevler wagt hier unser Fest zu stören, bringt kleine Kinderchen zum Weinen. – Kameraden, was Martin verlangt, ist undurchführbar! Wir wollen nicht in die Fußstapfen der Reaktion treten. Wir nehmen keine Kanonen in die Hand, aber wer die demokratische Republik ernstlich zu bedrohen wagt, der wird zurückgeschlagen! M ARTIN Mit was denn? S TADTRAT An unserem unerschütterlichen Friedenswillen werden alle Bajonette der internationalen Reaktion zerschellen. S IEBENTER K AMERAD (lacht ihn aus.) S TADTRAT So sehen die Leute aus, die die Macht der sittlichen Idee leugnen! E RSTER K AMERAD Sprüch, du Humanitätsapostel!

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S TADTRAT Das sind keine Sprüch! Wir wollen keine Waffen mehr sehen, ich selbst hab zwei Brüder meiner Frau im Krieg verloren! V IERTER K AMERAD Im nächsten Krieg sind wirs, ich und der Stiegler und der da und der da! K RANZ (ahmt ihn nach.) Und ich da und ich da und ich da! S TADTRAT Es hat eben keinen Krieg mehr zu geben! Dieses Verbrechen werden wir zu vereiteln wissen! Das werd ich schon machen! M ARTIN Genau wie 1914! S TADTRAT Das waren ganz andere Verhältnisse! D ER FREMDE K AMERAD Immer dasselbe, immer dasselbe! S TADTRAT Wo warst denn du 1914!? Im Kindergarten! D ER FREMDE K AMERAD Und du? Du hast auch schon 1914 mit den Taten deiner Vorfahren geprotzt, das können wir Jungen ja allerdings nicht! M ARTIN Kameraden!! Wenn das so weitergeht, erwachen wir morgen im heiligen römisch-mussolinischen Reich deutscher Nation! D ER FREMDE K AMERAD Genossinnen und Genossen!! K RANZ (außer sich) So schmeißt ihn doch naus, den Schnapspreußen, den hergelaufenen! Naus damit! Naus!! M ARTIN Ruhe!! Ein Preuße her, ein Preuße hin! Kurz und gut: der langen Rede kurzer Sinn: Derartige italienische Nächte gehören gesprengt! Radikal, radikal! S TADTRAT Zur Geschäftsordnung! Ich fordere kraft unserer Statuten den sofortigen Ausschluß des Kameraden Martin! E NGELBERT Bravo! S TADTRAT Und zwar wegen unkameradschaftlichen Verhaltens! M ARTIN Bravo! Kommt! (ab mit SEINEN K AMERADEN ) S TADTRAT Wir lassen uns unsere italienische Nacht nicht spalten, Kameraden! Seit vierzehn Tagen hab ich mich auf diese Nacht gefreut, und ich laß mich nicht spalten! Musik! Setzen!

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SECHSTES BILD Vor dem Wirtshaus des Josef Lehninger. M ARTIN und die italienische Nacht. Rechts eine Bedürfnisanstalt.

SEINE

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M ARTIN Also Ausschluß. Wegen unkameradschaftlichen Verhaltens. Wer lacht da nicht? (Stille) Z WEITER K AMERAD Wohin? M ARTIN Zu mir. D ER FREMDE K AMERAD An die Arbeit! Wir dürfen keine Minute verlieren! M ARTIN Bald zieht sich die Bourgeoisie in den Turm der Diktatur zurück. D ER FREMDE K AMERAD Seid bereit! (Stille) M ARTIN (leise, mißtrauisch) Wer ist denn das überhaupt? E RSTER K AMERAD Ich kenne ihn nicht. D RITTER K AMERAD Mir ganz unbekannt. (Sie gehen alle in die Bedürfnisanstalt.)

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D ER FREMDE K AMERAD (folgt ihnen.) Ich bin aus Magdeburg, Genossen! M ARTINS S TIMME (aus der Bedürfnisanstalt) So, aus Magdeburg. Also aus Preußen bist du. – Alsdann: Ich möchte dir nur die Mitteilung machen, daß ich hier der offizielle Führer bin, und dann ist das hier bei uns so Sitte, daß der berufene Führer die Aktion leitet, und sonst niemand. Ob der jetzt auch aus Magdeburg ist oder nicht. (Er erscheint wieder mit SEINEN K AMERADEN .) (Stille) M ARTIN (zum ERSTEN K AMERADEN ) Ist das jetzt den Tatsachen entsprechend, daß du das Denkmal Seiner Majestät versaut hast? Z WEITER K AMERAD (gewollt hochdeutsch) Wir haben es uns erlaubt, das Denkmal Seiner Majestät mit etwas roter Farbe zu verunzieren. M ARTIN Wer wir? Z WEITER K AMERAD Ich. V IERTER K AMERAD Und ich. M ARTIN So. Alsdann du ebenfalls. Das ist natürlich gottverlassen blöd. Oder vielleicht, meine Herren?! D ER FREMDE K AMERAD Eine Denkmalsschändung ist natürlich lediglich Büberei. Kümmert euch doch nicht um die verjagten Dynastien, Jungs! Sorgt lieber dafür, daß man den Herren Kapitalisten dereinst keine Denkmäler errichtet! (Stille) M ARTIN (bespricht sich leise mit SEINEN K AMERADEN ; wendet sich dann dem FREMDEN K AMERADEN zu) Ich will dir jetzt etwas sagen: Ich meine, du bist ein agent provocateur – D ER FREMDE K AMERAD (entsetzt) Genosse! M ARTIN Also das täte uns ja gerade noch abgehen, so fremde Provokateure – aus Magdeburg. (Er läßt ihn stehen.) D ER FREMDE K AMERAD Man könnte verzweifeln. M ARTIN Bist du noch da? Ja bist du denn noch da?! (Er nähert sich ihm drohend.) D ER FREMDE K AMERAD (rasch ab) K ARL (kommt mit L ENI aus dem Wirtshaus.) Drinnen geht alles drunter und drüber. D RITTER K AMERAD Sehr erfreut! L ENI Alle Leut gehen fort. Die ganze Stimmung ist beim Teufel. S ECHSTER K AMERAD Dann ist sie dort, wo sie hingehört! K ARL Martin, ich bitte dich um Verzeihung. M ARTIN Wegen was? K ARL Daß ich mein Ehrenwort gebrochen hab. Das war natürlich eine Gaunerei, ich hab mir das genau überlegt, aber es war halt nur scheinbar eine Gaunerei. Ich habs ja nur scheinbar gebrochen. M ARTIN Wie willst du das verstanden haben? K ARL Schau, ich mußte doch tanzen! Ich hab es nämlich deiner Anna versprochen, daß ich das Fräulein da hinter mir zu unseren Idealen bekehren werd, und da muß man doch so einem Fräulein entgegenkommen, so was geht doch nur nach und nach – M ARTIN Daß du immer nur Fräuleins bekehrst – K ARL Jeder an seinem Platz. Ich gehör halt zu einer älteren Generation als wie du, das macht schon was aus, obwohl zwischen uns ja nur fünf Jahre Unterschied sind, aber fünf Kriegsjahr –

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M ARTIN Die historischen Gesetze kümmern sich einen Dreck um Privatschicksale, sie schreiten unerbittlich über den einzelnen hinweg, und zwar vorwärts. K ARL Da geb ich dir vollständig recht. M ARTIN Du wärst ja brauchbar, wenn man dir glauben könnt. Aber das kann man eben nicht, weil du ein halber Mensch bist. K ARL Du hast halt keine Konflikte mit deiner Erotik. Meiner Seel, manchmal beneid ich dich! M ARTIN Und du tust mir leid. Ich habs immer wieder versucht mit dir. Jetzt ists aus. Ich leg keinen Wert mehr auf deine Mitarbeit. K ARL (verbeugt sich leicht.) Bitte! Pardon! (ab mit L ENI ) (Auch die K AMERADEN sind während dieser Szene verschwunden.) A NNA (kommt.) M ARTIN Anna! A NNA Jetzt bin ich aber erschrocken! M ARTIN Du? A NNA Ich dacht, du wärst wer anders – M ARTIN So. A NNA Du warst mir jetzt so fremd. M ARTIN (fast spöttisch) War ich das? – Hast was erreicht? A NNA Verschiedenes. M ARTIN Erstens? A NNA Erstens hab ich erfahren, daß diese Faschisten unsere italienische Nacht sprengen wollen – M ARTIN (unterbricht sie.) Erstens ist das nicht unsere italienische Nacht! Und zweitens ist denen ihre italienische Nacht bereits gesprengt. Ich persönlich hab sie gesprengt. A NNA Schon? M ARTIN Später! Und? A NNA Die Faschisten wollen hier alles verprügeln. M ARTIN So ists recht! Das vergönn ich diesem Vorstand! Diese Spießer sollen jetzt nur mal am eigenen Leibe die Früchte ihrer verräterischen Taktik verspüren! Wir Jungen überlassen sie ihrem Schicksal und bestimmen unser Schicksal selbst! A NNA Das würd ich aber nicht tun. M ARTIN Was heißt denn das? A NNA Ich würds nicht tun. Ich würd ihnen schon helfen, sie stehen uns doch immer noch näher als die anderen. M ARTIN Was du da nicht sagst! A NNA Wenn ich dem Stadtrat auch vergönn, daß er verprügelt wird, aber es sind doch auch noch andere dabei, dies vielleicht ehrlich meinen – M ARTIN (spöttisch) Meinst du? A NNA Und zu guter Letzt geht das doch keinen Dritten was an, was wir unter uns für Konflikte haben! Das sind doch unsere Konflikte! M ARTIN (gehässig) Ich glaub, daß das deine Privatansicht ist. A NNA Red nicht so hochdeutsch, bitte. (Stille) M ARTIN Und? A NNA Sonst nichts. Die Faschisten sind halt ganz fürchterlich wütend. – Es soll heut abend irgendein Denkmal verunreinigt worden sein.

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M ARTIN Ja, das war der Stiegler, dieser Idiot – A NNA Martin! M ARTIN (überrascht) Ha? A NNA Martin, weil einer von uns das Denkmal verdreckt hat, sollen jetzt die anderen da drinnen verprügelt werden?! Das find ich aber feig! Das ist unser nicht würdig! Das ist ungerecht – (Sie stockt, da M ARTIN plötzlich fasziniert auf ihren Hals starrt.) (Stille) M ARTIN (leise) Was ist denn das dort für ein Fleck? A NNA Wo? M ARTIN Da. A NNA Da? Das ist ein Fleck – (Stille) A NNA Morgen wird er blau. M ARTIN So. A NNA Er war halt so grob. M ARTIN (etwas unsicher) So, war er das – A NNA So sind sie alle, die Herren Männer. (Stille) M ARTIN Schau mich an. A NNA (schaut ihn nicht an.) M ARTIN Warum schaust mich denn nicht an? A NNA Weil ich dich nicht anschaun kann. M ARTIN Und warum kannst du mich jetzt nicht anschaun? Schau mich doch nicht so dumm an, Herrgottsakrament! (Stille) A NNA Mir war jetzt nur plötzlich so eigenartig – M ARTIN Wieso? A NNA Was du da nämlich von mir verlangst, daß ich mich nämlich mit irgendeinem Faschisten einlaß – und daß gerade du das verlangst – M ARTIN Was sind denn das für neue Gefühle? A NNA Nein, das waren alte – M ARTIN Du weißt, daß ich diese primitiven Sentimentalitäten nicht mag. Was sollen denn diese überwundenen Probleme? Nur keine Illusionen, bitte! A NNA Jetzt redst du wieder so hochdeutsch. (Stille) M ARTIN Anna, also grob war er zu dir, – der Herr Faschist. A NNA Ja. M ARTIN Sehr grob? A NNA Nicht besonders. (Stille) M ARTIN Aber grob war er doch. – Es ist vielleicht tatsächlich unter unserer Würde. A NNA Was? M ARTIN Daß wir nun diesen Vorstand da drinnen für unsere versaute Majestät verprügeln lassen – von diesen Herren Faschisten. A NNA Siehst du! M ARTIN Was soll ich denn sehen?! Gar nichts seh ich! Nichts! Radikal nichts! Aber, verstehst mich: Diesen Triumph wollen wir den Herren Faschisten nicht gönnen! Komm! (ab mit A NNA )

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K ARL (kommt mit L ENI . Beide scheinen verstimmt zu sein. Sie setzen sich auf eine Bank neben der Bedürfnisanstalt.) L ENI Warum schweigst du schon so lang? K ARL Weil es mir weh um das Herz herum ist. L ENI Aber du kannst doch nichts dafür, daß diese italienische Nacht mit einem Mißton geendet hat! K ARL Ich danke dir. (Er drückt ihr die Hand und vergräbt dann den Kopf in seinen Händen; Stille) L ENI Dein Kamerad Martin erinnert mich an einen Bekannten. Mit dem war auch nicht zu reden, weil er nichts anderes gekannt hat wie sein Motorrad. Er hat zahlreiche Rennen gewonnen, und ich hab ihn halt in seinem Training gestört. Sei doch nicht so traurig – K ARL Jetzt möcht ich am liebsten nicht mehr leben. L ENI Warum denn? K ARL Ich hab halt ein zu scharfes Auge. Ich seh, wie sich die Welt entwickelt, und dann denk ich mir, wenn ich nur ein paar Jahre jünger wär, dann könnt ich noch aktiv mittun an ihrer Verbesserung – aber ich bin halt verdorben. Und müd. L ENI Das redst du dir nur ein. K ARL Ein halber Mensch! Nur die eine Hälfte hat Sinn für das Gute, die andere Hälfte ist reaktionär. L ENI Nicht deprimiert sein – K ARL Ich glaub, ich bin verflucht – L ENI Nein, nicht! K ARL (erhebt sich.) Doch! (Stille) K ARL (setzt sich wieder.) L ENI Glaubst du an Gott? K ARL (schweigt.) L ENI Es gibt einen Gott, und es gibt auch eine Erlösung. K ARL Wenn ich nur wüßt, wer mich verflucht hat. L ENI Laß mich dich erlösen. K ARL Du? Mich? L ENI Ich hab viertausend Mark, und wir gründen eine Kolonialwarenhandlung – K ARL Wir? L ENI Draußen bei meinem Onkel – K ARL Wir? L ENI Ich und du. (Stille) K ARL In bar? L ENI Ja. (Stille) K ARL Was denkst du jetzt? Denkst du jetzt an eine Ehegemeinschaft? Nein, dazu bist du mir zu schad! L ENI Oh Mann, sprich doch nicht so hartherzig! Ich kenn dich ja schon durch und durch, wenn ich dich auch erst kurz kenn! (Sie wirft sich ihm an den Hals; große Kußszene) K ARL Ich hab ja schon immer von der Erlösung durch das Weib geträumt, aber

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ich habs halt nicht glauben können – Ich bin nämlich sehr verbittert, weißt du! L ENI (gibt ihm einen Kuß auf die Stirn.) Ja, die Welt ist voll Neid. 5

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Im Gartenlokal des Josef Lehninger. Die republikanische italienische Nacht ist nun korrekt gesprengt – Nur der Vorstand sitzt noch unter den Lampions, und zwar: der S TADTRAT A MMETSBERGER mit A DELE , B ETZ , E NGELBERT und K RANZ . Letzterer schnarcht über einen Tisch gebeugt. Es geht bereits gegen Mitternacht, und A DELE fröstelt, denn es weht ein kaltes Windchen. B ETZ Was tun, spricht Zeus. E NGELBERT Heimwärts? S TADTRAT (schnellt empor.) Und wenn die Welt voll Teufel wär, niemals! Wir lassen uns unsere italienische Nacht nicht sprengen! Kameraden, wir bleiben und weichen nicht – bis zur Polizeistund. (Er setzt sich wieder.) E NGELBERT Hört, hört! S TADTRAT (steckt sich nervös eine Zigarre an.) K RANZ (erwacht und gähnt unartikuliert; zu B ETZ ) Du, ich hab jetzt grad was Fesches geträumt. B ETZ Wars angenehm? K RANZ Sehr. Ich hab nämlich grad was von einer Republik geträumt, und das war eine komplette Republik, sogar die Monarchisten waren verkappte Republikaner – B ETZ Also das dürft ein sogenannter Wunschtraum gewesen sein. K RANZ Ha? E NGELBERT Wie wärs denn mit einem kleinen Tarock? S TADTRAT Tarock? E NGELBERT Einen Haferltarock – K RANZ Haferltarock! S TADTRAT Das wär ja allerdings noch das Vernünftigste – E NGELBERT Karten hab ich. – (Er setzt sich mit dem S TADTRAT und K RANZ unter den hellsten Lampion, mischt und teilt.) Eine Idee! B ETZ (kiebitzt.) S TADTRAT Erster! E NGELBERT Zweiter! K RANZ Letzter! S TADTRAT Solo! K RANZ Und das Licht leuchtet in der Finsternis – (Er spielt aus.) (Jetzt weht der Wind stärker.) A DELE (erhebt sich und fröstelt.) Alfons! S TADTRAT (läßt sich nicht stören.) Bitte? A DELE Wann gehen wir denn endlich? S TADTRAT Zweimal sag ichs nicht! Eichel! A DELE Ich erkält mich noch – S TADTRAT Das tät mir aber leid, Herz!

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K RANZ Und Herz! E NGELBERT Und Herz! B ETZ (nähert sich A DELE .) Wir bleiben bis zur Polizeistund, Frau Stadtrat. A DELE Wann ist denn Polizeistund? B ETZ Um zwei. A DELE Und jetzt? B ETZ Jetzt gehts gegen zwölf. A DELE Oh Gott. S TADTRAT (zu B ETZ ) So laß sie doch, bitte! (Stille) A DELE Hier hol ich mir noch den Tod. B ETZ Oder eine Lungenentzündung. (Pause) B ETZ Der schönste Tod ist ja allerdings der Tod für ein Ideal. A DELE Ich kenn kein Ideal, für das ich sterben möcht. B ETZ (lächelt leise.) Auch nicht für die Ideale, für die sich Ihr Herr Gemahl aufopfert? A DELE Opfert er sich denn auf? B ETZ Tag und Nacht. A DELE Sie müssens ja wissen. B ETZ Es ist natürlich alles relativ. (Pause) A DELE Glaubens mir, daß ein Mann, der wo keine solchen öffentlichen Ideale hat, viel netter zu seiner Familie ist. Ich meine das jetzt rein menschlich. Sie sind ein intelligenter Mann, Herr Betz, das hab ich schon bemerkt. S TADTRAT Über was unterhaltet ihr euch denn dort so intensiv? B ETZ Über dich. S TADTRAT Tatsächlich? Habt ihr denn kein dankbareres Thema? A DELE (boshaft) Alfons! S TADTRAT Na was denn schon wieder? A DELE Ich möcht jetzt gern noch ein Schinkenbrot. S TADTRAT Aber du hast doch bereits zwei Schinkenbrote hinter dir! Ich meine, das dürfte genügen! (Er zündet sich eine neue Zigarre an.) A DELE Wenn du deine Zigarren – S TADTRAT (unterbricht sie.) Oh du unmögliche Person! Pfui! – Und ziehen tut sie auch nicht, weil du mir nichts vergönnst! (Er wirft wütend seine Zigarre fort.) Eine unmögliche Zigarre! A DELE (erhebt sich.) Ich möchte jetzt nach Haus. S TADTRAT Also werd nur nicht boshaft, bitte! A DELE Ich geh – S TADTRAT Ich bleib. A DELE So komm doch! S TADTRAT Nein! Bleib, sag ich! A DELE Nein, ich muß doch schon wieder um sechse raus, deine Hemden waschen und – S TADTRAT Du bleibst, sag ich! A DELE Hier hol ich mir noch den Tod – S TADTRAT Du bleibst und basta! Verstanden?!

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A DELE (setzt sich wieder und lächelt geschmerzt.) S TADTRAT Spiele! E NGELBERT Weiter! K RANZ Spiele auch! E NGELBERT Und zwar? K RANZ Gras! S TADTRAT Schnecken! Bettel! Jawohl, Bettel! Und herauskommen tu ich selber – (Er gewinnt rasch und lacht schallend.) (Stille) B ETZ Warum gehen Sie eigentlich nicht allein nach Hause? A DELE Weil er mich allein nicht läßt. B ETZ Nicht läßt? Auch allein nicht läßt? Er hat doch kein Recht über Ihre Person. – Meiner Seel, da erscheint er mir nun plötzlich in einem ganz anderen Licht, obwohl ich darauf gewartet hab. – Alfons Ammetsberger, mein alter Kampfgenosse – fünfunddreißig Jahr. – Ja, ja, das wird wohl das Alter sein. Ob ich mich auch so verändert hab? S TADTRAT (zu B ETZ ) Ich bitt dich, Betz, so laß sie doch in Ruh! W IRT (erscheint; er ist schwer besoffen und grüßt torkelnd, doch keiner beachtet ihn; er grinst.) Boykottiert mich nur, boykottiert mich nur! Mir ist schon alles wurscht, ich wein euch keine Träne nach! Überhaupt sind die Reaktionäre viel kulantere Gäst. – Eure jungen Leut saufen ja so bloß a Limonad! Feine Republikaner! Limonad, Limonad! K RANZ Halts Maul! W IRT (plötzlich verträumt) Ich denk jetzt an meinen Abort. Siehst, früher da waren nur so erotische Sprüch an der Wand dringestanden, hernach im Krieg lauter patriotische und jetzt lauter politische – Glaubs mir: Solangs nicht wieder erotisch werden, solang wird das deutsche Volk nicht wieder gesunden – K RANZ Halts Maul, Wildsau, dreckige! W IRT Wie bitte? – Heinrich, du bist hier noch der einzig vernünftige Charakter, was hat jener Herr dort gesagt? B ETZ Er hat gesagt, daß du dein Maul halten sollst. W IRT Hat er? Dieser schlimme Patron. – Apropos: Ich hab eine reizende Neuigkeit für euch, liebe Leutl! K RANZ Wir sind nicht deine lieben Leutl! W IRT Was hat er gesagt? B ETZ Daß wir nicht deine lieben Leutl sind, hat er gesagt. W IRT Hat er das gesagt? – Alsdann: meine Herren! Ich beehre mich, Ihnen eine hocherfreuliche Mitteilung zu machen: Sie sind nämlich umzingelt, meine Herren, radikal umzingelt! S TADTRAT (horcht auf.) B ETZ Wer ist umzingelt? W IRT Ihr, meine Herren! E NGELBERT Wieso? W IRT Meine Herren! Ich habs nämlich grad erfahren, daß euch die Herren Faschisten verprügeln wollen – S TADTRAT (erhebt sich.) W IRT Die Herren Faschisten behaupten nämlich, daß ihr, meine Herren, das Denkmal verdreckt habt –

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S TADTRAT Was für Denkmal? W IRT Das Denkmal Seiner Majestät. E NGELBERT Versteh kein Wort! W IRT Die Herren Faschisten haben nämlich eine pfundige Wut im Bauch und wollen die Ehre Seiner Majestät wiederherstellen! Durch Blut! Hurra! K RANZ Oh du dreiunddreißigjähriger angenagelter Himmiherrgott! W IRT Leugnen hat doch gar keinen Sinn, meine Herren! Ihr seid überführt. Alle Indizien sprechen gegen euch. Kreuzverhör und so. S TADTRAT Lüge! Infame Lüge! Hier hat niemand eine Majestät verdreckt, bitt ich mir aus! W IRT (erhebt sein Glas.) Sehr zum Wohle! (Er leert es.) (Stille) B ETZ Josef, wer hat dir denn das gesagt, daß wir jetzt hier verprügelt werden sollen? W IRT Dem Martin seine Anna. S TADTRAT (scharf) Martin? Interessant! W IRT Diskretion Ehrensache! K RANZ Also jetzt bin ich schon ganz durcheinander! E NGELBERT Das kann doch nur ein Irrtum sein, nach den Gesetzen der Logik – S TADTRAT (scharf) Oder Verrat! Unsere Weste ist weiß. W IRT Weiß oder nicht weiß – Jetzt gibts Watschen, meine Herren! K RANZ Du Judas! W IRT (weinerlich) Aber ich bin doch kein Judas, meine Herren! Ich bin euch doch innerlich immer treu geblieben, sogar noch nach der Revolution! Aber was ist denn das jetzt auch für eine verkehrte Welt! Früher, da war so ein Sonntag das pure Vergnügen, und wenn mal in Gottes Namen gerauft worden ist, dann wegen irgendeinem Trumm Weib, aber doch schon gar niemals wegen dieser Scheißpolitik! Das sind doch ganz ungesunde Symptome, meine Herren! K RANZ Ich möchte das Wort ergreifen! Ich möchte jetzt etwas vorschlagen! Ich möchte jetzt dafür plädieren, daß wir hier den weiteren Gang der Ereignisse seelenruhig abwarten, denn wir werden uns glänzend rechtfertigen, weil wir doch radikal unschuldig sind! E NGELBERT Hört, hört! S TADTRAT Lächerlich! B ETZ (zu K RANZ ) Du vergißt wieder mal unsere Aggressionstriebe – K RANZ Ha? W IRT Jetzt gibts Watschen – B ETZ Ich spreche jetzt von einem höheren Standpunkte aus. Der Mensch hat doch eine grausame Natur von Natur aus – Man muß die Wahrheit vertragen können, lieber Freund! W IRT Oh wie wahr! S TADTRAT Kameraden! Der Mensch ist ein schwaches Rohr im Winde, in bezug auf das Schicksal, ob er nun Monarchist ist oder ein Republikaner. Es gibt nun mal Augenblicke im Leben, wo sich auch der Kühnste der Stimme der Vernunft beugen muß, und zwar gegen sein Gefühl! Kameraden! Das wäre doch ein miserabler Feldherr, der seine Brigaden in eine unvermeidliche Niederlage hineinkommandieren tät! In diesem Sinne schließe ich nun hiermit unsere italienische Nacht! Vis major, höhere Gewalt! Wo ist mein Hut? B ETZ Ich bleib.

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S TADTRAT Wieso? B ETZ Ich bin da nämlich etwas anderer Meinung – S TADTRAT Da dürft es doch wohl keine andere Meinung geben! B ETZ Findst du? Wir haben doch in bezug auf das verdreckte Denkmal ein absolut reines Gewissen. E NGELBERT Sehr richtig! B ETZ Und infolgedessen find ich es nicht richtig, so davonzulaufen. S TADTRAT Nicht nicht richtig, klug! Diese Faschisten sind doch bekanntlich in der Überzahl und infolgedessen bekanntlich zu jeder Schandtat jederzeit bereit! Wo ist mein Hut? B ETZ Ich bleib. Und wenn sie mich verhaun! (Stille) S TADTRAT (fixiert ihn höhnisch.) Ach, der Herr sind Katastrophenpolitiker? Na viel Vergnügen! B ETZ Danke. S TADTRAT (grinst.) Gott, wie heroisch! B ETZ Lieber Prügel als feig. (Stille) S TADTRAT Findst du? A DELE Ich finds auch. S TADTRAT Du hast hier überhaupt nichts zu finden! A DELE Ich finds aber! S TADTRAT (nähert sich ihr langsam; unterdrückt) Du hast hier nichts zu finden, verstanden?! A DELE Ich sag ja nur, was ich mir denk. S TADTRAT Du hast hier nichts zu denken. A DELE (boshaft) Findst du? S TADTRAT Blamier mich nicht, ja! A DELE Nein. S TADTRAT (kneift sie.) A DELE Au! Au! – S TADTRAT Wirst du dich beherrschen?! A DELE Au, Alfons! Au! S TADTRAT Daß du dich beherrschst! Daß du dich – A DELE (reißt sich kreischend los.) Au! – du mit deinem Idealismus! S TADTRAT Oh du unmögliche Person! A DELE Oh du unmöglicher Mann! Draußen Prolet, drinnen Kapitalist! Die Herren hier sollen dich nur mal genau kennenlernen! Mich beutet er aus, mich! Dreißig Jahr, dreißig Jahr! (Sie weint.) S TADTRAT (mit der Hand vor den Augen) Adele! Adele – (Stille) S TADTRAT (nimmt langsam die Hand von den Augen.) Wo ist mein Hut? W IRT (erhebt sich schwerfällig.) Mit oder ohne Hut – du bist und bleibst umzingelt – (Er rülpst und torkelt ab.) A DELE (grinst plötzlich.) S TADTRAT Lach nicht! A DELE Wenn ich dich so seh, find ich das direkt komisch, wie du da den jungen Menschen im Weg herumstehst – (Sie schluchzt wieder.)

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S TADTRAT Heul nicht! A DELE Das sind die Nerven – K RANZ Die typische Weiberlogik. A DELE (weinend) Hättest du zuvor die jungen Leut nicht nauswerfen lassen, würd sich jetzt niemand hertraun – Jetzt sind wir doch lauter alte Krüppel – E NGELBERT Oho! S TADTRAT Herr im Himmel! A DELE Laß unseren Herrgott aus dem Spiel! K RANZ Es gibt keinen Gott. (Stille) K RANZ Ich möchte das Wort ergreifen! Ich möchte jetzt etwas vorschlagen! Ich möchte jetzt dafür plädieren, daß es sozusagen etwas überstürzt war, den Martin so mir nix, dir nix auszuschließen, samt seinem Anhang – er hat doch einen ziemlichen Anhang, einen starken Anhang, und nicht den schlechtesten Anhang – und er hat doch sozusagen gar nicht so unrecht gehabt – S TADTRAT Findst du? K RANZ Wenn wir jetzt auch solche Kleinkaliber hätten als wie diese Faschisten, dann müßten wir uns jetzt nicht unschuldig verhaun lassen, sondern könnten uns wehren – w e h r e n – Das ist doch logisch, ha? E NGELBERT Logisch oder nicht logisch! Nach den Statuten mußten wir Martin ausschließen! K RANZ Logisch oder nicht logisch! Ich scheiß dir was auf solche Statuten! E NGELBERT Hört, hört! K RANZ Das sind doch ganz veraltete Statuten. S TADTRAT Plötzlich? K RANZ Ich möchte jetzt offiziell dafür plädieren, daß unseres Kameraden Martin überstürzter Ausschluß wieder rückgängig gemacht werden soll. S TADTRAT Rückgängig? K RANZ Jawohl! S TADTRAT (sieht sich fragend um.) Was ist das? B ETZ Ja! E NGELBERT Hm. S TADTRAT (zu E NGELBERT leise) Ja oder nein? (Stille) E NGELBERT Ja. (Stille) S TADTRAT Wo ist mein Hut? A DELE (reicht ihm seinen Hut.) Da. S TADTRAT (setzt den Hut tief in die Stirne; tonlos) Ich werd mich aus dem politischen Leben zurückziehen – Jetzt geh ich nirgends mehr hin – Höchstens, daß ich noch kegeln werd oder singen – A DELE Endlich, Alfons! (Trompetensignal) D ER M AJOR (in ehemaliger Kolonialuniform betritt mit ZWEI F ASCHISTEN rasch den Garten – Er hält knapp vor dem S TADTRAT und fixiert ihn grimmig.) (Stille) D ER M AJOR Ich habe bereits die zweifelhafte Ehre, Sie zu kennen. S TADTRAT (nickt apathisch.)

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D ER M AJOR Ich sehe es Ihrem unsteten Blicke und den schuldbewußten Mienen Ihrer sauberen Genossen an, daß Sie den Zweck meines Kommens bereits erraten haben. E NGELBERT Wir sind radikal unschuldig! D ER M AJOR Ruhe! Jetzt habt ihr euch selbst verraten! (Totenstille) D ER M AJOR (brüllt.) Ruhe!! Kurzer Prozeß! Rotes Gesindel! B ETZ Es ist halt alles relativ – D ER M AJOR Maul halten! – Himmellaudon, mit euch werden wir noch fertig! Rache für Straßburg! Wir werden es euch zeigen, Denkmäler zu schänden – Ihr habt unsere Ehre verletzt, an unserer Ehre klebt Blut! B ETZ Vollendeter Blödsinn! D ER M AJOR Was?! B ETZ (zündet sich eine Zigarre an.) D ER M AJOR Rauchen Sie nicht! B ETZ Bitte – (Er legt die Zigarre fort.) (Stille) D ER M AJOR Czernowitz! C ZERNOWITZ Zu Befehl, Herr Major! D ER M AJOR Erzählen Sie doch mal – Wie hat denn Ihr Herr Vater im Felde Kriegsgefangene, die es mit passiver Resistenz versuchten, behandelt? C ZERNOWITZ Er hat ihnen die Patronen in den Hintern schlagen lassen wie einen Nagel in die Wand, Herr Major! D ER M AJOR (zu B ETZ ) Verstanden? B ETZ Ich hab keinen Hintern – D ER M AJOR (geht um den S TADTRAT herum; fährt ihn plötzlich an.) Hände an die Hosennaht! Setzen! S TADTRAT (setzt sich wie geistesabwesend.) D ER M AJOR (winkt dem einen F ASCHISTEN .) D ER F ASCHIST (bringt dem S TADTRAT Papier, Feder und Tinte.) D ER M AJOR So. Schreiben Sie, was ich diktiere! S TADTRAT (folgt apathisch.) D ER M AJOR (diktiert.) Ich, der rote Stadtrat Alfons Ammetsberger, erkläre hiermit ehrenwörtlich – haben Sies? – e h r e n w ö r t l i c h – daß ich ein ganz gewöhnlicher – S TADTRAT (stockt.) D ER M AJOR Schreiben Sie! S TADTRAT (schreibt wieder.) D ER M AJOR (diktiert.) – daß ich ein ganz gewöhnlicher – Schweinehund bin! S TADTRAT (stockt wieder.) D ER M AJOR Na wirds bald? S TADTRAT (rührt sich nicht.) D ER M AJOR Kerl, wenn Sie nicht parieren, kriegen Sie die Hosen voll! Schreiben Sie! Los! S TADTRAT (beugt sich langsam über das Papier – Plötzlich fängt er an zu wimmern und zu schluchzen.) Nein, aber ich bin doch kein – D ER M AJOR (unterbricht ihn brüllend.) Sie sind aber ein Schweinehund, ein ganz ein gewöhnlicher Schweinehund!!

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A DELE Sie! Das ist kein Schweinehund, Sie! Das ist mein Mann, Sie! Was erlauben Sie sich denn überhaupt, Sie aufgedonnerter Mensch! So lassen Sie doch den Mann in Ruh! B ETZ Überhaupt mit welchem Recht – D ER M AJOR (unterbricht ihn.) Maul halten! A DELE Halten Sie Ihr Maul! Und ziehen Sie sich mal das Zeug da aus, der Krieg ist doch endlich vorbei, Sie Hanswurscht! Verzichtens lieber auf Ihre Pension zugunsten der Kriegskrüppel, und arbeitens mal was Anständiges, anstatt arme Menschen in ihren Gartenunterhaltungen zu stören, Sie ganz gewöhnlicher Schweinehund! D ER M AJOR Ordinäre Person! Na wartet! Draußen stehen vierzig deutsche Männer! (rasch ab mit seinen F ASCHISTEN ) A DELE (ruft ihm nach.) Das ist mein Mann da, verstanden?! (Riesiger Tumult vor dem Gartenlokal) M ARTIN (mit A NNA , gefolgt von SEINEN K AMERADEN , betritt rasch den Garten.) A DELE Der Martin! M ARTIN Zu Befehl, gnädige Frau! Die Luft ist sozusagen rein, meine Herren! Sie müssen nämlich wissen, daß der Besuch der Herren Faschisten u n s gegolten hat, mir und meinen Kameraden – und nicht diesem Vorstand da. Und wir sind halt nun mal so veranlagt, daß wir für unsere Taten einstehen. Ich gestatte mir aber zu melden, daß hier niemand mehr eine Angst zu haben braucht, denn als die Herren Faschisten uns da draußen erblickt haben, da haben sie sich umgruppiert – radikal! Wir haben es halt wieder einmal geschafft! S TADTRAT Na also! – Von einer akuten Bedrohung der demokratischen Republik kann natürlich keineswegs gesprochen werden. Kameraden! Solange es einen republikanischen Schutzverband gibt – und solange ich hier die Ehre habe, Vorsitzender der hiesigen Ortsgruppe zu sein, solange kann die Republik ruhig schlafen! M ARTIN Gute Nacht!

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Kommentar

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Vorarbeit

Chronologisches Verzeichnis Vorarbeit Vorarbeit: Wochenend am Staffelsee – Lustspiel Unter dem Titel Wochenend am Staffelsee skizziert Horváth im Notizbuch Nr. 6 (ÖLA 3/W 363), das er zwischen September und Dezember 1929 verwendet hat (vgl. WA 14, S. 884f.), eine Reihe von Entwürfen, die aber sehr rudimentär bleiben. Die Reihung der Entwürfe entspricht der Abfolge im Notizbuch. Es ist anzunehmen, dass diese Entwürfe eine Vorarbeit zu dem späteren Volksstück Ein Wochenendspiel bzw. Italienische Nacht darstellen. So scheint der Titel des späteren Werkprojekts eindeutig auf die Vorarbeit zurückzugehen (vgl. auch den Titel „Das Propagandaspiel“ in VA/E2) und wirkt im Laufe der Genese von Ein Wochenendspiel bis hin zum fertigen Stück (K3/TS3) fast schon wie ein Fremdkörper, der eigentlich keinen Sinn mehr hat, da im späteren Werkprojekt kein wie auch immer geartetes Spiel stattfindet. Dennoch behält Horváth den Titel bis zur Annahme der Endfassung von Ein Wochenendspiel (K3/TS3), der Fassung in sechs Bildern, durch den Ullstein Verlag mit Vertrag vom 18. November 1930 bei (vgl. dazu das Vorwort in diesem Band, S. 210f.). Auch die Situierung der Handlung in einer Kleinstadt (am Staffelsee) sowie politische Händel verweisen auf die späteren Werkprojekte Ein Wochenendspiel bzw. Italienische Nacht. H1 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 23 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte und Bleistift E1 = Figurenliste mit Werktitel „Wochenend am Staffelsee / Die Eishokeyleut / Lustspiel“ (oben) E2 = Figurenliste mit Werktitel „Das Propagandaspiel / Lustspiel in drei Akten“ (unten)

Die Entwürfe zur Vorarbeit Wochenend am Staffelsee im Notizbuch Nr. 6 (ÖLA 3/ W 363) stehen noch deutlich unter dem Einfluss des Romans Herr Reithofer wird selbstlos, der am 26. April 1929 durch den Ullstein Verlag angenommen wurde, schließlich aber in gekürzter Form in den Roman Der ewige Spießer eingegangen ist, der erst im Oktober 1930 erschienen ist. Im Notizbuch Nr. 6, das Horváth auf seiner Reise zur Weltausstellung in Barcelona im September 1929 und in den Monaten danach bis Dezember 1929 verwendet hat, finden sich bereits Entwürfe zu K3 von Der ewige Spießer, genau genommen zum Romanprojekt Herr Kobler wird Paneuropäer. Dieses hatte Horváth zunächst als eigenständiges Romanprojekt geplant, dann aber mit Teilen von „Herr Reithofer wird selbstlos“ zum Roman Der ewige Spießer kompiliert (Annahme des Romans durch den Ullstein Verlag mit Vertrag vom 14. April 1930). Die frühesten Entwürfe zu dem Werkprojekt Italienische Nacht, nämlich jene zur Vorarbeit Wochenend am Staffelsee, gehen also auf den Herbst 1929 zurück. Besonders deutlich wird der Einfluss von Herr Reithofer wird selbstlos durch die Figur des Eishockeyspielers Harry Priegler, der in den Entwürfen zu dem Werkprojekt Wochenend am Staffelsee wiederholt vorkommt und eine zentrale Rolle spielt. Alternativ notiert Horváth deshalb bereits in E1 den Werktitel „Die Eishokeyleut“. Auch in frühen Entwürfen zu Geschichten aus dem Wiener Wald, wahrscheinlich aus dem

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Chronologisches Verzeichnis

Frühjahr oder Sommer 1930, im Rahmen von K1, Die Schönheit aus der Schellingstrasse, finden sich das „Eishokey“ und die Figur des „Harry“ (vgl. WA 3/K1/E5, E6, E10, E12 und E14–E16). Auch der Bildtitel „Das Wochenende“ taucht hier wiederholt auf (vgl. WA 3/K1/E3 und E4). In E1 notiert Horváth folgende Figuren: „Priegler“, „{Tamlosi}“, „Dr. Kopp“, „Kanadier“, „Eine Tänzerin“, „Eine ältere Dame“, „Der Schiedsrichter“, „Reichardt“, „Gustl Müller“ und „Die Musiker“. Die Figur des (Harry) Priegler wird damit als Hauptfigur an erster Stelle genannt, eine Figur namens Reichardt findet sich auch im folgenden Entwurf E2. In E2 skizziert Horváth unter dem Titel „Das Propagandaspiel“ eine etwas andere Figurenliste, die folgende „Personen“ umfasst: „Major“, „Bürgermeister“, „Reichardt“, „Gemeinderäte“, „Die Eishokymannschaft der Einheimischen“, „Josef Reithofer“, „Die Kellnerin“ und „Die fremden Eishokyleut“. Bemerkenswerterweise fehlt in diesem Entwurf der Priegler von E1, der in die „Eishokymannschaft der Einheimischen“ abgewandert sein dürfte. Stattdessen führt Horváth politische Figuren ein, wie den Bürgermeister und die Gemeinderäte. Symptomatisch ist die Erwähnung des Josef Reithofer, der im Roman Der ewige Spießer vorkommt und unter dem Namen Eugen Reithofer in dessen Vorstufen, Sechsunddreißig Stunden bzw. Herr Reithofer wird selbstlos, sowie als Herr Reithofer in Das Fräulein wird bekehrt eine zentrale Rolle spielt (vgl. WA 14). Außerdem taucht ein Reithofer in verschiedenen Arbeiten zu Geschichten aus dem Wiener Wald auf (vgl. WA 3), etwa in der VA2, Ein Fräulein wird verkauft, in K1, Die Schönheit aus der Schellingstrasse, und in K2, „Früher Zauberkönig“. Wie so oft bei Horváth sind die Grenzen zwischen Werkprojekten, die nebeneinander oder kurz nacheinander entstanden sind, fließend. Dies betrifft vor allem Figuren, die von einem Werkprojekt zum nächsten wandern können, aber auch Schauplätze, (Bild-)Titel, Handlungselemente etc. Neu ist in E2 gegenüber E1 auch der Major. Er weist voraus auf eine Figur gleichen Namens in Entwürfen und Textstufen zu Ein Wochenendspiel bzw. Italienische Nacht, wo er sich noch in der zweiten Endfassung (K5/TS4) findet. Die Zusammengehörigkeit der Vorarbeit mit dem späteren Volksstück Ein Wochenendspiel bzw. Italienische Nacht wird insbesondere durch den späteren Werktitel Ein Wochenendspiel deutlich, der noch unter dem Einfluss des früheren Titels Wochenend am Staffelsee steht und mit dem „-spiel“ auch noch auf das Eishockey- bzw. „Propagandaspiel“ von E2 verweist. Erst mit K4 wird Horváth den Titel seines Volksstücks ändern; ein wie auch immer geartetes Spiel kommt in den Endfassungen von Ein Wochenendspiel und Italienische Nacht nicht mehr vor, der Titel ist also eigentlich bereits mit K3 obsolet geworden. H2 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 22v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), Bleistift E3 = Strukturplan in 3 Akten

Wahrscheinlich hat Horváth zuerst Bl. 23 des Notizbuchs Nr. 6 (vgl. den allgemeinen Kommentar zu dieser Vorarbeit sowie jenen zu E1 und E2) beschrieben, bevor er auf Bl. 22v den Strukturplan in drei Akten E3 mit demselben Schreibmaterial (Bleistift) wie bei E2 eingetragen hat. Der Strukturplan umfasst folgende Akte: „Der Fremdenverkehr / Ankunft der Eishokyleut“, „Der Begrüssungsabend“ und „Das Spiel“. Mit dieser Aktfolge bezieht sich Horváth deutlich auf die Figurenliste von E2. Das Spiel, das am Schluss des Werkprojekts stattfinden sollte, ist wohl das „Propagandaspiel“ von E2.

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Vorarbeit

H3 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 23v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), Bleistift E4 = Strukturplan in 3 Akten und 9 Bildern mit Konfigurationsplänen, Notizen und einer Replik

Auf Bl. 23v arbeitet Horváth wie schon auf Bl. 22v mit demselben Schreibmaterial Bleistift einen Strukturplan in drei Akten aus, den er in diesem Fall, zumindest für die Akte eins und zwei in Bilder aufteilt. Zum ersten Akt notiert der Autor eine Reihe von sechs Bildern, die er mit Konfigurationsplänen versieht. Diese greifen auf das Figureninventar von E2 zurück. Demnach sollte das erste Bild im Gemeinderat spielen und den Bürgermeister, die Gemeinderäte, Reichardt, den Major und Reithofer umfassen. Hierzu vermerkt Horváth auch die Notiz: „Die Gemeinde soll einen Preis stiften“. Zum zweiten Bild notiert er nur Reichardt und den Major, wobei er zu Letzterem die Replik: „Ich hab noch andere Ziele. Vaterländische Ziele!“ vermerkt. Damit scheint schon der Major des späteren Volksstücks Italienische Nacht vorweggenommen (vgl. K4/TS2, K5/E3, E5 und TS4). Das dritte Bild spielt zwischen Reithofer und der Kellnerin, das vierte zwischen der „einheimische[n] Hokeymannschaft“ und dem Major. Bild fünf zeigt Reithofer und einen Stürmer, Bild sechs die „Ankunft der Eishokymannschaft“. Zum zweiten Akt notiert Horváth die drei Bilder: „Die fremde Eishokymann[schaft]“, „Offizielle Begrüssung“ und „Der Ball“, zum dritten Akt nur den Akttitel: „Das Spiel“ (vgl. E3). H4 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 25v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte E5 = Werktitel „Wochenend am Staffelsee“

H5 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 26 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte E6 = Konfigurationspläne mit Werktitel „Wochenend am Staffelsee / Lustspiel in drei Akten“ mit Dialogskizze und Notizen zum I. Akt

In E5 notiert Horváth den Werktitel „Wochenend am Staffelsee“ mit dem Zusatz „Lustspiel“ und erweitert diesen Titel in E6 noch um den Zusatz „in drei Akten“ (vgl. E3 und E4). Darunter vermerkt er wie schon in E4 eine Reihe von Konfigurationsplänen, die teils auf Figuren von E1, teils auf jene von E2 zurückgreifen. So finden sich hier etwa der Wirt, Gustl, der Bürgermeister, die Kellnerin, Musiker, die „Eishokeyleute“ und ein „Eishokeymann“. Weiters ein Schriftsteller und seine Frau („aus dem Grossbürgertum“), eine weitere Frau, die den „Eishokeymann“ aushält, und ein „Mädel, mit der er heraussen ist“. In einer Notiz heißt es: „Der umschwärmte Eishokymann, der nur für den Sport lebt.“ In einer nur kurz angedeuteten Dialogskizze unterhalten sich der Wirt und der Bürgermeister über den Fremdenverkehr (vgl. E3 und E4). Der Wirt behauptet, dass der Bürgermeister nichts für den Fremdenverkehr tue, während er durch „persönliche Beziehungen“ einen „Eishokeykampf“ fürs nächste Wochenende organisiert habe, und er konstatiert: „Das hebt doch auch den Fremdenverkehr für den Sommer!“

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Chronologisches Verzeichnis

H6 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 30v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte E7 = Werkverzeichnis (nicht gedruckt) Druck in: WA 14, S. 348f.

H7 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 34v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte E8 = Werkverzeichnis (nicht gedruckt) Druck in: WA 14, S. 360f.

H8 = ÖLA 3/W 363 – o. BS, Bl. 37v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 6 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (169 × 109 mm), schwarze Tinte E9 = Werkverzeichnis (nicht gedruckt) Druck in: WA 14, S. 366f.

In E7 notiert Horváth ein Werkverzeichnis, das folgende, noch nicht ausgearbeitete Werkprojekte umfasst: „Unsere Universität“, „Die Eishokeyleut“, „Geburt der Internationale“ und „Die Arbeitslosen“. Zu den ersten beiden und dem letzten Werkprojekt finden sich einige Entwürfe in dem vorliegenden Notizbuch Nr. 6, das dritte findet hier zum ersten und letzten Mal Erwähnung. Auf dem oberen Teil des Blattes vermerkt der Autor ein Werkverzeichnis, in dem er die drei Werktitel „Herr Reithofer wird selbstlos“, „Herr Kobler wird Paneuropäer“ und „Fräulein Pollinger wird sinnlich“ noch als getrennte Roman- bzw. Novellenprojekte betrachtet (vgl. WA 14, S. 894). Bei E8 handelt es sich neuerlich um ein Werkverzeichnis (vgl. E7), in dem Horváth ähnliche Titel notiert: „Herr Kobler wird Paneuropäer“, „Herr Reithofer wird selbstlos“, „Volksstück, Historie und Posse“, „Zahlreiche Leute“, „Unsere Universität“ und „Die Eishokeyleut“. In E9 erstellt der Autor ein weiteres Werkverzeichnis, das folgende Titel umfasst: „Herr Kobler wird Paneuropäer“, „Herr Reithofer wird selbstlos“, „Die Eschendorfer Arbeitslosen / Volksstück“, „Die Eishokeyleut. / (Das Propagandaspiel) / Ein Lustspiel“ und „Grossmütterleins Redoute“. Damit nimmt er Titel der vorhergehenden Entwürfe wieder auf, „Die Eishokeyleut“ gehen auf E1 zurück, das „Propagandaspiel“ auf E2. Bemerkenswert ist in allen diesen Werkverzeichnissen die Vermischung von bereits ausgearbeiteten Werkprojekten mit erst rudimentär oder sogar nur als Titel existenten. Auf dem unteren Teil von Bl. 37v findet sich ein Entwurf zu dem Werkprojekt „Ein Tag eines Mannes“, zu dem sich unter den Titeln Stunde der Liebe und Stunde der Liebe 1930 (Hörspiel) auch im Notizbuch Nr. 3 (ÖLA 3/W 364) Entwürfe finden (vgl. K1/E1 und E7). Laut diesem Entwurf taucht auch in diesem Werkprojekt ein „Herr Reithofer“ auf.

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Konzeption 1

Konzeptionen Konzeption 1: Ein Wochenendspiel in drei Akten H1 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 4v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E1 = Werkverzeichnis (nicht gedruckt) Druck in: WA 14, S. 454f.

Das Notizbuch Nr. 3 (ÖLA 3/W 364) enthält einige der frühesten Entwürfe zu dem Werkprojekt Ein Wochenendspiel. Horváth eröffnet das Notizbuch Nr. 3 mit dem Entwurf einer Entgegnung auf einen Artikel im „,Murnauer Tagblatt’ N~ 60 vom 13. März 30“ (ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 1), der eine präzise Datierung des Notizbuchs auf März bis April 1930 ermöglicht. Auf ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 8, 9 finden sich Notizen zu dem Text Hinterhornbach, der am 30. März 1930 im Berliner Tageblatt erschienen ist. Auf ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 21, 22 notiert Horváth einen Briefentwurf an Heinrich Mann, mit dem er auf dessen am 4. April 1930 in der Literarischen Welt erschienene Rezension (Heinrich Mann: „Gelegentlich der jüngsten Literatur“) der von Hermann Kesten im Berliner Kiepenheuer-Verlag herausgegebenen Anthologie 24 neue deutsche Erzähler reagiert. In der Anthologie war u.a. Horváths Erzählung Das Fräulein wird bekehrt erschienen (vgl. WA 14/ET3/TS4). Das Notizbuch enthält darüber hinaus Entwürfe zum Roman Der ewige Spießer, genau genommen zu dessen K4, die auf die Zeit zwischen Mitte März und Anfang April 1930 zu datieren sind. Außerdem befinden sich in dem Notizbuch Entwürfe zu dem Hörspiel Stunde der Liebe, manchmal auch als Stunde der Liebe 1930 bezeichnet (vgl. H5). Bei E1 handelt es sich wahrscheinlich um die erste Erwähnung des Titels „Ein Wochenendspiel“, in diesem Fall mit dem Zusatz „in drei Akten“ versehen. Der Titel wird am Schluss des Werkverzeichnisses genannt, das wieder bereits ausgearbeitete und erst in Planung befindliche Werkprojekte vermischt (vgl. VA/E8 und E9). Die Strukturpläne von K1 zeichnen sich großteils durch eine makrostrukturelle Gliederung in drei Akten aus. In K2 bedient sich Horváth meist einer Strukturierung in sieben Bildern, gelegentlich auch in neun oder zehn, denen in seltenen Fällen auch eine Gliederung in Teilen überlagert ist. In dem Werkverzeichnis E1 wird neben dem Titel des Volksstücks auch der Roman „Der ewige Spiesser“ erwähnt, weiters unter der Kategorie „Dramatische Skizzen“: „Die Bergbahn / Historie vom Schwarzen Reichswehr[mann] / Rund um den Kongress / Stunde der Liebe 1930“, die überdies von Horváth mit Jahreszahlen versehen werden (vgl. auch den Kommentar zu Sladek/K2/E3). H2 = ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 2 1 Blatt unliniertes Papier (285 × 222 mm), Bleistift E2 = fragm. Strukturplan in 2 Akten mit Werktitel „Ein Wochenendspiel / Volksstück“ mit Notizen und einer Replik (oben) E3 = Figurenliste zum ersten Akt (links unten) E4 = Figurenliste zum Bild „Ein vornehmes Zimmer“ (rechts unten)

H3 = ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 3 1 Blatt unliniertes Papier (285 × 222 mm), Bleistift E5 = Figurenliste zum Bild „Im Golfklubb“ des ersten Aktes mit Notizen und einer Replik

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Chronologisches Verzeichnis

Die Entwürfe auf den Blättern BS 12 c, Bl. 2 und 3 dürften zu den frühesten zum Werkprojekt Ein Wochenendspiel gehören. Die beiden Textträger H2 und H3 sind von der Papierqualität identisch und weisen dasselbe Schreibmaterial (Bleistift) auf. Man kann deshalb von einem engen genetischen Zusammenhang der beiden Textträger ausgehen. Diese Annahme wird auch durch inhaltliche Parallelen der Entwürfe E2–E5 gestützt. In E2 skizziert Horváth einen fragmentarischen Strukturplan in zwei Akten, der möglicherweise noch einen dritten umfassen hätte sollen. Zum ersten Akt notiert er die Bilder „Im Golfklubb“, „Stahlhelmübung“ und „Im Arbeiterradfahrerklubb“. Der „Golfklubb“ findet sich einzig noch in E5. Horváth kommt im Laufe der Genese von der Idee wieder ab, das Stück im großbürgerlichen Milieu einsetzen bzw. spielen zu lassen. Das Bild „Stahlhelmübung“ wird in Form des Bildtitels „Stahlhelm“ in etlichen Entwürfen von K1 und K2 wiederaufgenommen (vgl. etwa K1/E6, E8, E10, TS1/Bl. 14, K2/E1–E3, E9–E12, E14–E16 und E22). Das Bild „Arbeiterradfahrerklubb“ gehört ebenfalls zu den Konstanten des Werkprojekts in seiner Frühphase (vgl. etwa K1/E6, E8, E10–E12, TS1/Bl. 14f., E16–E19, K2/E1–E12, E14–E16 und E18; meist ohne „-klubb“, manchmal mit „-bund“). Zu diesem Bild notiert Horváth bereits den „Minister“, der ebenfalls in vielen der frühen Entwürfe vorkommt, meist in Form eines eigenen Bildtitels. Auch die „Opposition“ wird hier schon erwähnt. Sie protestiert gegen den „Ehrenvorsitz“ des Ministers. Für den zweiten Akt ist kein Bild notiert. In E3 trägt Horváth eine Figurenliste ein, die folgende Figuren umfasst: „Der Syndikus“, „Seine Frau“, „Seine Geliebte, des Majors Frau“, „Der Major“, „Der Geliebte der Frau, ein junger Student“ und „Der Minister“. Den „Generaldirektor“, den er zunächst notiert hatte, streicht er wieder. Die Figurenliste weist auf komplexe komödienhafte Liebeshändel hin, die in der Form politisch gefärbter Liebesverstrickungen bis in die Endfassungen von Ein Wochenendspiel und Italienische Nacht erhalten bleiben (vgl. die Beziehungen der Figuren Anna, Leni, Karl und Martin in K3/TS3, K4/TS2 und K5/TS4). Die „Geliebte“ stellt eine Konstante der Entwürfe von K1 und K2 dar (vgl. K1/E5, E6, E8, E10–E12, E16–E19, K2/E1, E2, E4–E12, E16–E19, K2/E1, E2, E4–E12, E14–E16 und E22–E24). Ein „Syndikus“ taucht auch mit der Figur des Erich in Geschichten aus dem Wiener Wald auf, der hofft, „dereinst als Syndikus [s]ein Unterkommen zu finden“ (WA 3/K5/TS12/SB Arcadia, S. 38). In E4 notiert Horváth eine weitere Figurenliste, diesmal zu einem Bild mit dem Titel „Ein vornehmes Zimmer“. An Figuren finden sich hier: „Dr. Bissinger, Syndikus eines Arbeitgeberverbandes“, „Frau Bissinger“, „Major Strathmann“, „Frau Major“, „Der Student, Sohn verarmter Eltern“ und neuerlich „Der Minister“. Gegenüber E3 fällt auf, dass Horváth hier erstmals konkrete Namen für einen Großteil der Figuren verwendet. In E5 nimmt Horváth einen Großteil der Namen von E4 wieder auf. Es handelt sich hierbei neuerlich um eine Figurenliste, diesmal zum ersten Bild des ersten Aktes von E2 „Im Golfklubb“. „Dr. Bissinger“ wird hier als „Vorsitzender des Golf-Klubbs“ bezeichnet, auch „Frau Bissinger“ wird hier wieder erwähnt, weiters „Major Strathmann“, der „Student“, der hier als „Geliebter der Frau Bissinger“ ausgewiesen wird, und der „Minister“. Neu gegenüber E4 ist eine „berühmte Filmschauspielerin“ namens „Karin Lee“, zu der Horváth notiert, dass sie die „Geliebte des Dr. Bissinger“ ist. Weiterhin sind also komödienhafte Liebesverstrickungen für das Stück vorgesehen. Zu Dr. Bissinger notiert Horváth außerdem die gegenüber Karin geäußerte Replik: „Du musst ihn fesseln, ich brauche den Mann – ich muss mit ihm öfters zusammenkommen, ich unterschätze nicht die gesellschaftlichen Beziehungen. Er hat auch garnichts gegen schöne Frauen ….“, die wahrscheinlich auf den Minister bezogen ist. In

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Konzeption 1

der Folge lässt Horváth diese Namen wieder fallen und setzt, mit Ausnahme von E8 und der gesondert zu behandelnden Textstufe TS2, erst in K3 wieder konkrete Namen für seine Figuren ein (vgl. etwa K3/E1, E2 und TS1). H4 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 6 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E6 = Strukturplan in 3 Akten mit Werktitel „Ein Wochenendspiel in drei Akten“

Die Reihung der folgenden Entwürfe entspricht größtenteils der Abfolge im Notizbuch Nr 3. Es ist anzunehmen, dass diese zu den frühesten Entwürfen zum Stück zählen (vgl. den Kommentar zu E1). Allerdings ist davon auszugehen, dass Horváth zwischendurch auch immer wieder Entwürfe auf losen Blättern notiert hat (vgl. etwa E2–E5, E7 und E8). Bei E6 handelt es sich bereits um einen äußerst elaborierten Strukturplan. Er ist in drei Akten angelegt und umfasst zehn Bilder. Jene des ersten Aktes, „Arbeiterradfahrerklubb“, „Minister“ und „Geliebte“, stellen Konstanten der Strukturpläne von K1 und K2 dar. Jene des zweiten Aktes, „Stahlhelm“, „Arbeiter“, „Minister“ und „Stahlhelm / Geliebte / Opposition / Minister / (Syndikus) / S.P.D. / Bräute der Opposition“, weisen ebenfalls bereits wesentliche Ingredienzien vieler Strukturpläne von K1 und K2 auf. Die Bilder des dritten Aktes nehmen bereits bekannte Elemente wieder auf: „Stahlhelm“, „Minister“ und „Arbeiterradfahrerklubb“. Zum Bild „Stahlhelm“ notiert Horváth „Wald“ (vgl. auch E16 und K3/E1), womit erstmals der in späteren Strukturplänen immer wieder vorkommende „Urwald“ antizipiert ist (vgl. K1/E10–E12, E18, E19, E21, K2/E1–E11, E15, E16 und E22–E24). H5 = ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (222 × 142 mm), schwarze Tinte E7 = gestrichenes Werkverzeichnis (oben) E8 = Strukturplan in 3 Akten mit Werktitel „Ein Wochenendspiel / Volksstück“ (unten)

Der Strukturplan in drei Akten E8 scheint in unmittelbarem Zusammenhang zu E6 zu stehen. Der Textträger H5 befindet sich in der Mappe BS 12 c und weist materielle Ähnlichkeiten mit H2 und H3 auf, es handelt sich dabei um ein halbiertes Blatt derselben Qualität. Von einem unmittelbaren genetischen Zusammenhang mit den Entwürfen E2–E5 ist deshalb unbedingt auszugehen, wobei die Niederschrift jedenfalls von E8 wohl erst nach E6 erfolgt ist. In E7 notiert Horváth zunächst ein Werkverzeichnis, das folgende Werktitel umfasst: „Der ewige Spiesser. / Roman in drei Teilen“, „Das Spiesserbuch“ und „Ein Wochenendspiel“. Über den genetischen Zusammenhang zwischen K4 von Der ewige Spießer und K1 und K2 von Ein Wochenendspiel wurde schon andernorts gehandelt (vgl. den Kommentar zu E1). Dieser zeigt sich insbesondere im Notizbuch Nr. 3 (ÖLA 3/W 364), wo sich Entwürfe zu beiden Werkprojekten abwechseln, aber etwa auch auf dem vorliegenden Blatt BS 12 c, Bl. 1. Das Werkverzeichnis verdeutlicht, dass der Titel des Romans zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs feststand, dies lässt sich auch anhand früherer und späterer Eintragungen im Notizbuch Nr. 3 beobachten (vgl. etwa E1/ÖLA 3/W 364, Bl. 4v, E9/ÖLA 3/W 364, Bl. 7 und E14/ÖLA 3/W 364, Bl. 13 sowie WA 14/K4/E7/ÖLA 3/W 364, Bl. 17v). Der Titel des Werkprojekts Ein Wochenendspiel steht indes seit E1, wird aber in K4 ebenfalls einer Revision unterzogen (vgl. das Vorwort zu diesem Band, S. 210f.).

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Chronologisches Verzeichnis

In E8 skizziert Horváth einen elaborierten Strukturplan in drei Akten bzw. zehn Bildern. Der erste Akt entspricht fast E6, einzig der „Arbeiterradfahrerklubb“ wird in den „Arbeiterradfahrerbund“ verwandelt. Der zweite Akt weist mit der Bilderfolge „Stahlhelm“, „Minister“ und „Arbeiter“ ebenfalls große Ähnlichkeiten mit jenem von E6 auf. Das vierte Bild des zweiten Aktes von E6 („Stahlhelm“) ist in E8 mit Fragezeichen versehen, stattdessen findet sich ein solches im dritten Akt, der hier vier Bilder umfasst, die Horváth in Form von Konfigurationsplänen anführt. Sie lauten: „K.P.D. Arbeiter – Paul – Syndikus – (Stahlhelm.)“, „Minister – Geliebte – Stahlhelm“, „Geliebte – K.P.D. Arbeiter – Paul – ihre {Mädchen.}“ und „Arbeiter“ und nehmen damit ebenfalls wieder Elemente von E6 auf. Auf dem vorliegenden Blatt befinden sich auch Titelnotizen zu dem Werkprojekt Stunde der Liebe, das ebenfalls 1930 entstanden ist und zu dem sich auch im Notizbuch Nr. 3 Einträge finden (vgl. den Kommentar zu E1 sowie ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 5 und 7v). Horváth variiert hier den Titel von „Liebe eines jungen Mannes im Jahre 1930“ zu „Eine Liebe zweier junger Leut im Jahre 1930“. H6 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 7 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E9 = Werktitel (nicht gedruckt) Druck in: WA 14, S. 456f.

In E9 notiert Horváth wie schon in E1 neuerlich den Werktitel „Ein Wochenendspiel / in drei Akten“. Die Gliederung des Stückes in drei Akte ist charakteristisch für K1, in K2 wird Horváth zu einer Gliederung in sieben (oder mehr) Bildern übergehen. In der Endfassung von Ein Wochenendspiel K3/TS3 findet sich eine Gliederung in sechs Bildern, die in den beiden Endfassungen von Italienische Nacht K4/TS2 und K5/TS4 wieder auf sieben Bilder erweitert wird. Auf dem vorliegenden Blatt notiert Horváth auch den Titel seines in Arbeit befindlichen Romans Der ewige Spießer, der hier noch „Herr Reithofer wird selbstlos“ lautet, und erstellt erstmals die präzise Dreiteilung in „Herr Kobler wird Paneuropäer, „Fräulein Pollinger wird praktisch“ und „Herr Reithofer wird selbstlos“. Außerdem vermerkt er darunter Zitate von bzw. Hinweise auf Freud, Goethe, Nietzsche und auf die Bibel. Diese werden den Romanteilen teilweise als Motti vorangestellt (vgl. den Kommentar zu WA 14/K4/E4 und TS4/BS 8, Bl. 4, 128 und 160) und gehen mitunter, etwa im Falle des Nietzsche-Zitats „Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt“, auch in Geschichten aus dem Wiener Wald ein (vgl. den Kommentar zu WA 3/K4/TS20/A13). Das Problem der „Solidarität“, das gewissermaßen die Moral des Romans Der ewige Spießer darstellt (vgl. den Schluss des dritten Teiles „Herr Reithofer wird selbstlos“ in WA 14/K4/TS4), spielt auch in der Genese von Ein Wochenendspiel sowie in den Endfassungen von Italienische Nacht eine Rolle (vgl. E10 und E13 sowie den Kommentar zu E10, vgl. weiters K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 22, K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 35 und K5/TS4/Horváth 1931, S. 39 sowie das Vorwort in diesem Band, S. 215f.).

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Konzeption 1

H7 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 10 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E10 = fragm. Strukturplan in 3 Akten und 7 Bildern mit Werktitel „Ein Wochenendspiel / in drei Akten von Ödön Horváth“

E10 stellt gegenüber E6 und E8 gewissermaßen wieder einen Rückschritt dar. Allerdings handelt es sich dabei um einen nur fragmentarisch ausgearbeiteten Strukturplan in drei Akten, von dem nur die ersten beiden Akte auch mit Bildern versehen sind. Die Abfolge des ersten Aktes: „Arbeiterradfahrerbund ‚Solidarität‘“, „Ministerium“ und „Geliebte des Syndikus“ entspricht E6 und E8, verweist aber mit dem Zusatz „Solidarität“ auf Horváths Überlegungen zu Der ewige Spießer von WA 14/K4/E4/ÖLA 364 – o. BS, Bl. 7 (vgl. den Kommentar zu E9 und E13). Das Problem der Solidarität, das gewissermaßen die Moral des letzten Teiles von Der ewige Spießer bildet, stellt auch im Werkprojekt Ein Wochenendspiel bzw. Italienische Nacht einen zentralen Aspekt dar und wird bis in die jeweiligen Endfassungen hinein sogar an einer Stelle explizit thematisiert (vgl. K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 22, K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 35 und K5/TS4/Horváth 1931, S. 39). Der zweite Akt von E10 entsteht gewissermaßen durch eine Mischung dessen, was in den zweiten Akten von E6 und E8 an angeführt wurde. Die Bilderfolge lautet hier nach einer Korrektur: „Abfahrt des Arbeiterradfahrerbundes“, „Stahlhelm“, „Minister im Urwald“ und „Arbeiter mit der Bühne“, wobei das letzte Bild eine Neuerung darstellt. Damit wird erstmals der „Urwald“ erwähnt, der im Werkprojekt über lange Zeit erhalten bleibt (vgl. etwa K1/E11, E12, E18, E19, E21, K2/E1–E11, E15, E16 und E22–E24) und in K2/E3 als „Naturschutzgebiet“ spezifiziert wird. In K3/E1 findet sich schließlich noch an prominenter Stelle „Wald“. Dort heißt es in einer Art Szenenanweisung „Das Stück spielt im Wald“. Horváth notiert im selben Entwurf alternativ zu „Ein Wochenendspiel“ auch den Titel „Im Wald“ (vgl. auch K5/ TS4/Horváth 1931, S. 49).

H8 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 11 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E11 = fragm. Strukturplan in 3 Akten und 11 Bildern mit Werktitel „Ein Wochenendspiel / in drei Akten“

In E11 entwickelt Horváth den Strukturplan E10 weiter. Es handelt sich wieder um einen Strukturplan in drei Akten, von dem jedoch wieder nur die ersten beiden Akte mit Bildern versehen sind. Insgesamt kommt Horváth in E11 auf elf Bilder. Die Bilderfolge des ersten Aktes, „Arbeiterradfahrerbund“, „Ministerium“ und „Geliebte“, nimmt Altbekanntes wieder auf, allerdings versieht Horváth das dritte Bild mit dem Zusatz „das Verwesen“. Damit stellt er einen Bezug her zu dem Prosatext Marianne oder: Das Verwesen, der sich ebenfalls im Notizbuch Nr. 3 (ÖLA 3/W 364, Bl. 16, 17) befindet und der sowohl in der Werkgenese von Der ewige Spießer (vgl. WA 14/K4/TS1) als auch in jener von Ein Wochenendspiel (vgl. E12, TS2 und K2/E13) eine Rolle spielt. Zum zweiten Akt notiert Horváth folgende Bilder „Verein ‚Volkskraft‘“, „Abfahrt des Arbeiterradfahrerbundes“, „Minister im Urwald“ und „Arbeiter mit der Bühne“, die bis auf das erste Bild, das dort „Stahlhelm“ lautet, E10 entsprechen. Wahrscheinlich ist aber zumindest eine inhaltliche Parallele gegeben, erinnert doch der Begriff

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Chronologisches Verzeichnis

„Volkskraft“ genauso wie „Stahlhelm“ an völkische Terminologie, dürfte also den zuvor genannten „Stahlhelm“ ersetzen. H9 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 12 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E12 = fragm. Strukturplan in 3 Akten und 8 Bildern mit Werktitel „Ein Wochenendspiel / in drei Akten“ (oben und mittig) E13 = Notiz (unten)

E12 stellt eine genuine Weiterentwicklung des Strukturplans E11 dar. Der erste Akt entspricht diesem völlig. Auch hier verweist Horváth mit dem Zusatz zum dritten Bild „Marianne ,das Verwesen‘“ auf den ebenfalls im Notizbuch Nr. 3 notierten Prosatext (vgl. die Kommentare zu E11 und TS2). Auch der zweite Akt von E12 entspricht größtenteils jenem von E11, die ersten beiden Bilder vertauscht Horváth, und das vierte Bild lautet hier anders als in E11 „Ankunft der Radfahrer im Urwald“. Die Nummerierung des dritten Aktes plus die erste Bildnummer streicht Horváth wieder und notiert schließlich nur noch „Konflikt: Opposition – Mädel“ (vgl. E6). In E13 hält er unter dem Hinweis: „Schluss“ den Begriff „Solidarität“ fest (vgl. die Kommentare zu E9 und E10) und vermerkt dazu folgende Konfiguration: „Minister – Arbeiter – Opposition“. Offensichtlich sollte der Schluss des Volksstücks zu diesem Zeitpunkt der Genese im Begriff der Solidarität kulminieren, was schließlich der Schlusspunkt des Romans Der ewige Spießer sein wird (vgl. WA 14/K4/TS4/BS 8, Bl. 183), dessen Kompilierung Horváth im Notizbuch Nr. 3 zur gleichen Zeit ebenfalls vorantreibt (vgl. den Kommentar zu E1). H10 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 13 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E14 = Werkverzeichnis (mittig) E15 = Figurenliste (unten) Druck in: WA 14, S. 460f.

In dem Werkverzeichnis E14 listet Horváth die beiden Titel „Herr Kobler wird Paneuropäer. Roman“ und „Herr Reithofer wird selbstlos. / Ein Spiesserbuch“ noch als getrennte Romanprojekte auf, während er sie auf Bl. 7 desselben Notizbuchs Nr. 3 bereits als ersten und dritten Teil eines gemeinsamen Romanprojekts mit dem Titel „Herr Reithofer wird selbstlos“ angeführt hatte (vgl. den Kommentar zu E9). Zuletzt notiert der Autor in dem Werkverzeichnis den Titel „Ein Wochenendspiel / in drei Akten“. Darunter trägt er die Figurenliste E15 ein, die folgende Figuren umfasst: „Der Minister“, „Der Syndikus“, „Die Diva“, „Ihr Geliebter“, „Die Arbeiter“, „S.P.D.– K.P.D.“, „Die Mädchen der / K.P.D.“ und „Der ‚Verräter‘ / (N.S.D.A.P.)“. Die Figurenliste nimmt damit Aspekte der entsprechenden Listen E3 (Minister, Syndikus) und E5 (Filmschauspielerin) auf, aber auch von Strukturplänen wie E6 und E8 (Arbeiter, Mädchen, Bräute der Opposition).

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Konzeption 1

H11 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 14, 15 2 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte TS1 = fragm. Fassung des 1. und 2. Bildes des I. Aktes mit Werktitel „Ein Wochenendspiel“ (Grundschicht)

In TS1 arbeitet Horváth erstmals in der Werkgenese von Ein Wochenendspiel einen längeren dialogischen Text aus, und zwar zum ersten Bild des ersten Aktes „Arbeiterradfahrer“ und zum zweiten Bild „Minister“ (vgl. zuletzt E12). Im ersten Bild kommt es im Verein der Arbeiterradfahrer zwischen dem Präsidenten, dem Genossen Bauer, der Opposition und einem gewissen Müller zu einer Auseinandersetzung. Thema ist der „Antrag des Genossen Maurer, betreffs des aufzuführenden Festspieles und überhaupt der Feierlichkeiten anlässlich unseres 50jährigen Jubiläums“ (Bl. 14; vgl. den Mauerer in VA1 von Geschichten aus dem Wiener Wald, Die Schönheit von Fulda, WA 3/VA1/E1 und die Figur des Adam Mauerer in Der ewige Spießer, WA 14/K4/TS4/BS 8, Bl. 4). Ähnlich wie in E2 wird auch hier von der „Opposition“ der „Ausschluss“ des „Ehrenmitgliedes“ gefordert. Der Ausschluss bleibt als Motiv bis in die drei Endfassungen in Form des Ausschlusses des „Kameraden Martin“ im Werkprojekt vorhanden (vgl. K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 35, K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 63 und K5/TS4/Horváth 1931, S. 73). Der Präsident lehnt das aber in TS1 mit einem schlichten „Hinaus!“ ab, worauf ein gewisser Müller meint: „Wir haben einen viel grösseren Verräter unter uns. Er hat sogar den traurigen Mut, hier zu erscheinen. Er ist zum Stahlhelm gegangen.“ (Bl. 14; zum „Verräter“ vgl. auch E15, E17, E18, K2/E1 und E2) Der damit Angesprochene kontert: „Das stimmt. Weil ich eine Uniform umsonst bekomm.“ (Bl. 15) Der Reiz der Uniform besonders für die sozial Benachteiligten spielt bereits in den beiden Fassungen des Sladek und später noch im Roman Ein Kind unserer Zeit (1938) eine entscheidende Rolle (vgl. Sladek/K1/TS1/SB Volksbühne 1928, S. 23, 33, 37f. und 47 sowie K2/TS1/SB Volksbühne 1929, S. 17, 26, 32, 35 und 40 sowie WA 16/K3/TS18/Horváth 1938b, S. 22, 67f., 96, 109, 128, 133, 139, 156, 166f., 178 und 180). In Ein Wochenendspiel bzw. Italienische Nacht wird die Faszination für die Uniform schließlich der Figur der „Dvorakischen“ zugeschrieben (vgl. K3/E1/BS 12 c, Bl. 10, TS3/BS 32 a [2], Bl. 10f., K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 15f. und K5/TS4/Horváth 1931, S. 19f.). Müller wird in der Folge „[e]instimmig“ ausgeschlossen. Die Ausarbeitungen zum zweiten Bild bleiben rudimentär. Hier entwickelt Horváth ansatzweise einen Dialog zwischen dem Minister und einem Referenten, der an die Diskussion der Arbeiterradfahrer des ersten Bildes anschließt und in dem der Referent die „Eingabe, um Zuschuss zum Arbeiterradfahrerbund“ als „[u]nmöglich“ bezeichnet. Damit bricht die Ausarbeitung ab. H12 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 16, 17 2 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte TS2 = Fassung mit Werktitel „Marianne oder: Das Verwesen / Eine Novelle“ (nicht gedruckt) Druck in: WA 14, S. 463.

Die kurze Novelle Marianne oder: Das Verwesen, die Horváth im Notizbuch Nr. 3 (ÖLA 3/W 364 – o. BS) ausarbeitet (vgl. den Kommentar zu E1), steht in deutlicher Verbindung zur Kompilierungsphase des Romans Der ewige Spießer (vgl. WA 14/K4/TS1, E7 und E8 sowie den Kommentar dazu in WA 14, S. 904–906), in das Horváth die

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Chronologisches Verzeichnis

„Novelle“ kurzfristig zu integrieren gedachte. Andererseits besteht ein Zusammenhang zur frühen Genese des Volksstücks Ein Wochenendspiel, in das der Text oder Motive daraus ebenfalls Eingang hätten finden sollen. Horváth hatte bereits in E11 und E12 zum dritten Bild des ersten Aktes „Geliebte“ den Zusatz „das Verwesen“ (E11) und „Marianne ‚das Verwesen‘“ (E12) notiert. TS2 zeigt damit symptomatisch die enge Verflechtung der Werkprojekte Der ewige Spießer und Ein Wochenendspiel auf, die sich besonders an den Einträgen im Notizbuch Nr. 3 ablesen lässt. Folgt man der Reihung der Entwürfe im Notizbuch, muss man jedoch davon ausgehen, dass die Novelle eher in den Roman hätte eingehen sollen bzw. in ein von Horváth zu diesem Zeitpunkt noch erwogenes „Spiesserbuch“ (vgl. E7 und E14). Dieses hätte die Form einer Novellensammlung annehmen sollen, deren Texte allesamt einem gemeinsamen thematischen Gesichtspunkt unterstellt gewesen wären (vgl. dazu WA 14/K3/E22–E28, K4/E3, E6 und E7). Über die Art und Weise, wie die Novelle in das Volksstück integriert hätte werden sollen, kann aufgrund der spärlichen Hinweise darauf in E11 und E12 nur spekuliert werden. Zum vermutlich ersten Mal fällt in TS2 der Name Marianne, der über die Stationen Anna, Irene und Agnes schließlich der Name der Hauptfigur von Geschichten aus dem Wiener Wald (1931) werden sollte (vgl. WA 14, S. 904f. sowie zur Genese des Namens der Marianne das Vorwort und den Kommentar in WA 3, S. 11 und 797). TS2 „stellt eine wesentliche Station innerhalb der Genealogie des Horváth‘schen Fräuleins dar“ (WA 14, S. 904). Auch der „Geliebte[n]“ Marianne in Ein Wochenendspiel hätte wohl ein solcher Tod bei lebendigem Leibe widerfahren sollen. Die Symptome eines solchen „Verwesens“ sind grässlich: „Sie wusch sich nichtmehr, roch übel aus dem Munde, stank nach Schweiss, verwahrloste sich. / Sie starb vor drei Jahren. An ihren Tod kann sie sich nicht genau erinnern.“ (Bl. 17) Mit diesen Worten endet TS2. In weiterer Folge stellt Horváth keinen Zusammenhang mehr her zwischen dem „Verwesen“ und dem Werkprojekt Ein Wochenendspiel, sieht man von der bloßen Titelnennung in K2/E13 im Kontext des Entwurfs K2/E14 zum Werkprojekt Ein Wochenendspiel ab. Bereits der in weiterer Folge des Notizbuchs und nach WA 14/K4/E7 notierte Strukturplan E16 erwähnt die Novelle bzw. das Motiv im Kontext des dritten Bildes „Geliebte“ nicht mehr. H13 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 18 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E16 = fragm. Strukturplan in 3 Akten und 11 Bildern mit Werktitel „Ein Wochenendspiel / in drei Akten von Ödön Horváth“

Die Nennung des Titels des Werkprojekts „Hannes, das Arbeiterkind / Ein Märchenbuch“ auf Bl. 17v des Notizbuchs Nr. 3 lässt annehmen, dass die folgenden Entwürfe vor dem Juni 1930 entstanden sind. Denn von diesem Werkprojekt ist ein einziger elaborierter Strukturplan überliefert (ÖLA 3/W 335 – BS 12 b [3], Bl. 1), den Horváth auf einem Briefpapier der Gaststätte Ignatz Kirchmeir in Murnau am Staffelsee notiert, auf dem er auch das Datum, den 11. Juni 1930, einträgt (vgl. WA 14, S. 905). Der Strukturplan mit ausführlichen Notizen zu dem Werkprojekt „Hannes, das Arbeiterkind“ dürfte aufgrund seines Ausreifungsgrads erst nach dem Eintrag auf Bl. 17v entstanden sein.

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Konzeption 1

In E16 skizziert Horváth einen Strukturplan in drei Akten und elf Bildern, von denen jedoch nur acht betitelt sind. Der erste Akt weist die bereits bekannte Bilderfolge „Radfahrer“, „Minister“ und „Geliebte“ auf (vgl. zuletzt E11 und E12). Zum zweiten Akt notiert der Autor folgende vier Bilder: „Die Technische Nothilfe“, „Abfahrt der Arbeiter“, „Minister. (Liebesszene.)“ und „Ankunft der Arbeiter im Walde. (Zusammenstoss S.P.D.–K.P.D.)“. Die Abfolge der Bilder im zweiten Akt ist gegenüber E11 und E12 wieder umgestellt und entspricht eher E10. Allerdings entwickelt Horváth auch neue Bildtitel wie „Die Technische Nothilfe“ (statt dem in E11 und E12 genannten Titel „Verein ‚Volkskraft‘“). Außerdem wird der Bildtitel „Minister“ um den Zusatz „Liebesszene“ erweitert, was einigen Aufschluss über den Inhalt dieses Bildes gibt (vgl. auch E8). Der Minister soll, anders als in E11, nicht mehr im „Urwald“ sein, stattdessen kommen die Arbeiter, wie schon in E12 – dort „Urwald“ – vorgesehen, „im Wald“ an (vgl. auch K3/E1). Der „Zusammenstoss“ zwischen den feindlichen Parteien SPD und KPD wurde in E15 bereits angedeutet und wird in den Entwürfen von K2 deutlicher ausgearbeitet (vgl. etwa K2/E1–E3). Zum dritten Akt notiert Horváth nur das erste Bild „Hitler – K.P.D.“. Mit „Hitler“ dürfte „Hitlermann“ (vgl. E19) oder „Sturmabteilung Hitler“ (vgl. in diesem Band, Sladek/K1/TS1/SB Volksbühne 1928, S. 8 und K2/TS1/SB Volksbühne 1929, S. 5) gemeint sein. Die Form taucht in den folgenden Entwürfen von K1 wiederholt auf (vgl. E17–E19). Sie fällt dann aber wieder weg und wird in K2 durch die „Stahlhelm[e]“ (vgl. etwa K2/E1–E3) und ab K3 durch die „Hakenkreuzler“ (vgl. K3/E1) bzw. ab K3/TS3 durch die „Faschisten“ ersetzt. H14 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 18v, 19 2 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E17 = fragm. Strukturplan in 3 Akten und 6 Bildern mit Konfigurationsplan zum III. Akt (Bl. 19, oben) E18 = Strukturplan in 3 Akten und 9 Bildern mit Konfigurationsplänen und Repliken zum III. Akt (Bl. 19, unten) E19 = Strukturplan in 3 Akten und 9 Bildern mit Notizen und Repliken (Bl. 18v)

Die Strukturpläne E17–E19 gehören zu den elaboriertesten innerhalb von K1. Wahrscheinlich hat Horváth zunächst Bl. 19 beschrieben und dann erst den ausführlichen Strukturplan E19 auf Bl. 18v eingetragen. In E17 skizziert er einen Strukturplan in drei Akten: Der erste Akt bleibt gegenüber den vorhergehenden Strukturplänen (E10–E12 und E16) unverändert, den zweiten Akt reduziert er in der Überarbeitung von vier auf drei Bilder: „Hitler“ (vgl. den Kommentar zu E16), „Minister“ (vgl. E10–E12 und E16) und „Probe des Festspieles. Krach mit der Opposition“ (vgl. TS1/Bl. 14 und E16). Für den dritten Akt notiert Horváth lediglich eine Reihe von Figuren, ohne dass diese einer Bilderfolge subsumiert wären, eine Art Konfigurationsplan für den dritten Akt also: „Opposition / Hitler / Verräter / S.P.D. / Minister / Syndikus / – / Diva / Mädel / Frauen /“. Die „Diva“ geht auf E15 zurück. In E18 notiert Horváth neuerlich einen Strukturplan in drei Akten: Der erste Akt bleibt gegenüber den vorhergehenden unverändert (vgl. E10–E12 und E16), den zweiten Akt modifiziert er gegenüber E17 leicht zu der Bilderfolge: „Hitler“ (vgl. den Kommentar zu E16), „Minister“ und „Radfahrer“. Die Reduktion des zweiten Aktes von vier auf drei Bilder, die in E17 vorgenommen wurde, bleibt also aufrecht. Fraglich ist weiterhin der dritte Akt, zu dem Horváth zunächst wohl im Sinne einer Szenenanweisung „Urwald“ notiert (vgl. K1/E10–E12, E19, E21, K2/E1–E11, E15, E16 und E22–E24).

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Chronologisches Verzeichnis

Darunter hält er die Bildtitel „Diva“, „Syndikus“ und „Minister – die Mädchen“ (vgl. E19) fest und versieht diese mit Konfigurationsplänen. Außerdem vermerkt er dazu die Replik des Ministers: „Wer sich mit Schmutz einlasst, wird selbst schmutzig. Keinen Schritt mit diesem System!“ In E19 schließlich notiert Horváth neuerlich einen Strukturplan in drei Akten und neun Bildern, den er mit zahlreichen Notizen und Repliken versieht. Die Bilder des ersten Aktes stehen (vgl. E10–E12 und E16–E18), die Akte zwei und drei übernimmt Horváth aus E18. Die Trennungslinie, die Horváth nach dem zweiten Akt einfügt, kann man vernachlässigen, der obere und der untere Teil des Blattes dürften mit ziemlicher Sicherheit einen zusammenhängenden Entwurf bilden. Wahrscheinlich hat Horváth jedoch den dritten Akt erst nachträglich eingetragen. Er notiert dazu die Bilderfolge „Diva“, „Syndikus“ und „Minister“. Bemerkenswert sind die Notizen und Repliken, die er zum ersten und zweiten Akt hinzufügt. Zum dritten Bild des ersten Aktes „Geliebte“ hält er zu einem Studenten fest, dass er „Richter wird, aber künstlerische Adern entdeckt“. Außerdem vermerkt er die Repliken des Syndikus: „Ihr seid alle keine modernen Menschen. Wir leben unter der Herrschaft der Minderwertigen“ und „Wir müssen ihn kompromittieren. Er wird dann nicht gestürzt, aber er ist uns willfähriger“. Zum ersten Bild des zweiten Aktes „Hitler“ notiert der Autor: „Krach mit dem Hitlermann“ (vgl. den Kommentar zu E16). Zum zweiten Bild „Minister“ vermerkt er einen ganzen Szenenverlauf mit der Diva, der Elemente von E17 wiederaufnimmt. Zum dritten Bild „Abfahrt der Radfahrer“ notiert er „Ankunft im Urwald“ und „Krach: Opposition – S.P.D.“ sowie „Krach: Mädels der Opposition – Spielleitung“ (vgl. E12, TS1/Bl. 14, E16 und E17). H15 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 19v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E20 = Notizen zum II. Akt mit Replik

H16 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 20 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E21 = Notizen zum III. Akt

Bei E20 und E21 handelt es sich vermutlich um Ergänzungen zu den Strukturplänen E17 und E18 von Bl. 19. In E20 erweitert Horváth das dritte Bild des zweiten Aktes von E17, „Probe des Festspieles“, um eine „Aufführung“, bei der es „Tanzszene / Parodie / Glückwunschgedicht“ geben soll. Dazu notiert der Autor noch in Form einer Replik einen „Zwischenruf der K.P.D.“, der folgendermaßen lautet: „Dreck! Ist ja alles garnicht wahr!“ Damit nimmt Horváth neuerlich das Motiv des Krachs mit der Opposition auf (vgl. E12, TS1/Bl. 14, E16, E17 und E19) und zugleich bereits die italienische Nacht und deren Sprengung durch Martin und seine Genossen/Kameraden vorweg (vgl. K2/TS3, K4/TS2 und K5/TS4). In E21 ergänzt der Autor vermutlich zum dritten Akt „Urwald“ von E18 eine Reihe von Notizen. Demnach soll der „Minister“ ein „Skeptiker“ sein, während die „Mädeln der K.P.D.“ ein „Glaube an die gute Zukunft“ kennzeichnet. Der Minister soll in seiner „Wandlung“ bestärkt werden. Neuerlich notiert Horváth ähnlich wie in E18: „dass: wer sich mit Schmutz einlasst, darin zu Grunde geht“. Deshalb entscheidet sich der Minister wohl „[g]egen Koalition mit bürgerlichen Parteien“.

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Konzeption 2

Konzeption 2: Ein Wochenendspiel in sieben Bildern H1 = ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 5 1 Blatt unliniertes Papier (282 × 223 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, schwarzblaue Tinte E1 = fragm. Strukturplan in 2 Teilen und 7 Bildern

Das vorliegende und die folgenden Blätter weisen dieselbe Qualität auf wie Blätter, die Horváth in der späten Bearbeitungsphase von Der ewige Spießer (Frühjahr bis Sommer 1930), nämlich bei der Montage der früheren Prosaarbeiten zur Gesamtfassung in K4, verwendet hat, um die notwendigen Übergänge und Verbindungen der unterschiedlichen Materialien herzustellen. Es handelt sich dabei um das charakteristische Schreibmaschinenpapier mit dem Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, ein Produkt der Max-Krause-Papierfirma, die ihr Brief- und (Maschin-)Schreibpapier ab 1924 mit dem Slogan „Schreibste mir, schreibste ihr, schreibste auf MKPapier“ bewarb. Blätter derselben Qualität finden sich auch im Werkkonvolut von Geschichten aus dem Wiener Wald, und zwar in der VA1, Elisabeth, die Schönheit von Thüringen (vgl. WA 3/VA1/TS1). Blätter ähnlicher Qualität (M.-K.-Papier) finden sich dort auch in K1, Die Schönheit aus der Schellingstrasse (vgl. WA 3/K1/E16–E23). Aufgrund dieser materiellen Parallelen ist anzunehmen, dass alle diese Entwürfe und Textstufen im Frühjahr oder Sommer des Jahres 1930 entstanden sind, also auch der vorliegende Entwurf E1 sowie die nachfolgenden Entwürfe E2–E12. E1 markiert den Übergang von K1 zu K2, findet sich doch hier eine makrostrukturelle Gliederung in zwei Teilen, die an die Gliederung in drei Akten bzw. Teilen von K1 erinnert, der jedoch in E1 bereits eine Gliederung in sieben Bildern untergeordnet ist, wie sie für K2 charakteristisch ist. Die besondere Bedeutung des Bildes „Urwald“ (vgl. K1/E10–E12, E18, E19, E21, K2/E1–E11, E15, E16 und E22–E24; „Wald“ vgl. K1/E6, E16 und K3/E1) innerhalb von K2 deutet sich in dem vorliegenden Strukturplan schon an, in dem zwei Bilder, das vierte und das siebente, so benannt sind. Sie findet auch in den folgenden Strukturplänen ihre Bestätigung. Darüber hinaus enthält der vorliegende Entwurf einige Elemente, die bereits in K1 vertreten waren, etwa die Bilder „Minister“, „Geliebte des Syndikus“, „Stahlhelm“ und „Radfahrer“. Dass hier die „Radfahrer“ erstmals ihr Attribut „Arbeiter“ verlieren, ist ein Spezifikum von K2 (vgl. auch K2/E2–E8), in E4 ist im Zusammenhang mit dem „Radfahrerklubb“ sogar vom „Erstarken des Bürgertums“ die Rede, in E8 werden sie mit dem Zusatz „Herren–Ausflug“ versehen. Ab E9 nimmt Horváth dies jedoch wieder zurück und verwendet neuerlich den Ausdruck „Arbeiterradfahrer“, womit ein anderes soziales Milieu konnotiert ist. Ebenfalls neu in E1 ist, dass das erste Bild mit „Strasse“ betitelt ist, welche sich weiters in E9 und E10 findet, dann aber wieder fallen gelassen wird. In den Endfassungen von Ein Wochenendspiel und von Italienische Nacht findet sich jedoch ein zweites Bild „Strasse“ (vgl. K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 10, K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 15 und K5/TS4/Horváth 1931, S. 19). Auch ein Verrat soll in E1 wieder passieren bzw. ein „Verräter“ auftreten (vgl. K1/E15, TS1/Bl. 14, E17, E18, K2/E2 und E3). Stärkeres Augenmerk als in K1 widmet Horváth der Konfliktsituation zwischen dem „Stahlhelm“ (vgl. K1/E2, E6, E8, E10, TS1/Bl. 14, K2/E2, E3, E9–E12, E14–E16 und E22) und der (sozialistischen?) „Opposition“ (vgl. K1/E2, E6, E12, E13, TS1/Bl. 14, E17, E19, K2/E2, E9–E11, E14 und K3/E1). Der Autor notiert überdies für das fünfte Bild ein „Fest“ (vgl. „Festspiel“ in K1/TS1/Bl. 14, E17 und „Aufführung“ in E20) und eine „Prügelei“ (vgl. auch E2, zu-

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Chronologisches Verzeichnis

vor nur „Krach“ in K1/E17 und E19, aber auch in K2/E2 sowie „Zusammenstoss“ in K1/E16, K2/E3 und K3/E1). Diese werden auch im späteren Volksstück Ein Wochenendspiel bzw. Italienische Nacht eine bedeutende Rolle spielen. H2 = ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 8 1 Blatt unliniertes Papier (282 × 223 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, schwarzblaue Tinte E2 = fragm. Strukturplan in 7 Bildern mit Werktitel „Ein Wochenendspiel“

Die Entwürfe E1–E12 sind alle auf demselben Papier gefertigt (vgl. den Kommentar zu E1) und stehen wahrscheinlich auch in engem genetischen Zusammenhang. In E2 skizziert Horváth neuerlich einen Strukturplan in sieben Bildern, den er mit dem Werktitel „Ein Wochenendspiel“ versieht, dem aber im Gegensatz zu E1 keine Gliederung in Teile mehr übergeordnet ist. Die Titel der ersten drei Bilder verweisen auf Bekanntes: „Radfahrer – Stahlhelm“, „Minister“ und „Geliebte“ (vgl. K1/E5, E6, E8, E10–E12, E16–E19 und K2/E1). In E2 ergänzt Horváth diese drei um die Bilder „Urwald“ (vgl. K1/E10–E12, E18, E19, E21, K2/E1, E3–E11, E15, E16 und E22–E24), „Radfahrer“ und „Minister – Geliebte – Verräter“ (vgl. „Verräter“ in K1/E15, TS1/Bl. 14, E17, E18 und K2/E1), das siebente Bild bleibt unbenannt. Auch die „Opposition“ findet sich bereits in E1 sowie in einigen Entwürfen und Textstufen von K1 (K1/E2, E6, E12, E13, TS1/Bl. 14, E17 und E19) und bleibt bis K3/E1 erhalten. In E2 wird ähnlich wie in E1 ein „Krach mit der Opposition“ (vgl. K1/E17 und E19) vermerkt. Das „Murren wegen des Ausschlusses“ (vgl. K1/TS1), das ebenfalls bereits in E1 vorkommt, korrigiert Horváth nachträglich zu „Murren wegen der Ausgeschlossenen“, was für eine Reihung nach E1 spricht. Ähnliches gilt für die Notiz „Angst wegen der Prügelei“, die der Autor zu „Angst vor einer Prügelei“ korrigiert. H3 = ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 4 1 Blatt unliniertes Papier (282 × 223 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, Bleistift E3 = fragm. Strukturplan in 7 Bildern mit Werktitel „Ein Wochenendspiel / Volksstück in 7 Bildern“

Die Entwürfe E1–E12 sind alle auf demselben Papier gefertigt (vgl. den Kommentar zu E1) und stehen wahrscheinlich auch in engem genetischen Zusammenhang. E3 weist wie E1 und E2 eine Struktur in sieben Bildern auf. Wie schon in früheren Entwürfen bildet auch in E3 das Bild „Radfahrer“ das erste Bild (vgl. „Radfahrer“ bzw. „Arbeiterradfahrer(bund)“ in K1/E2, E6, E8, E10–E12, TS1, E16–E19, K2/E1, E2, E4–E12, E15–E19, K2/E1 und E2). Es wird ergänzt um den Zusatz „Kleinkaliberschützen“, die in E9 und E10 wiederaufgenommen werden und als „Kleinkaliber“ bis in die Endfassungen von Ein Wochenendspiel und Italienische Nacht eine wichtige Rolle spielen (vgl. K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 3, 10, 18, 25, 33, 52, K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 3, 15, 29, 48, 61, 93 und K5/TS4/Horváth 1931, S. 7, 19, 33, 57, 70, 102). Eine weitere Notiz lautet „Verräter“ und verweist zurück auf K1/E15, TS1/Bl. 14, E17 und E18 sowie auf K2/E1 und E2. Auch der „Urwald“ von K1/E10–E12, E18, E19, E21, K2/E1 und E2 wird wiederaufgenommen, findet sich hier aber bereits im zweiten Bild und wird ergänzt um die Bemerkung „Im Naturschutzgebiet“. Sie gibt Aufschluss über die mögliche Bedeutung des Bildtitels „Urwald“, der einfach eine Art ursprünglichen „Wald“ darstellt, in den er in K3/E1 auch transformiert wird (vgl. auch K1/E6 und E16). Dort soll es zu einem „Zusammenstoss“ (vgl. K1/E16 und K3/E1) der „S.P.D.“ mit der „K.P.D.“ kommen, die

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Konzeption 2

seit K1/E6 im Werkprojekt vorhanden sind. Zu diesem notiert Horváth noch „Stahlhelm“ (vgl. K1/E2, E6, E8, E10, TS1/Bl. 14, K2/E1, E2, E9–E12, E14–E16 und E22), was ein Hinweis auf den gleichnamigen Wehrverband ist. Für das dritte Bild „S.P.D.“ notiert Horváth einen nicht näher erläuterten „Streit mit den Frauen“ (vgl. den „Konflikt“ bzw. „Krach“ der „Mädel“ mit der „Opposition“ bzw. der „Spielleitung“ von K1/E12 und E19). Die Bilder vier bis sieben sind nicht näher spezifiziert, sondern nur durchnummeriert. H4 = ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 7 1 Blatt unliniertes Papier (282 × 223 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, schwarzblaue Tinte E4 = Strukturplan in 7 Bildern mit Werktitel „Ein Wochenendspiel / in 7 Bildern“ (oben) E5 = Strukturplan in 7 Bildern (links unten) E6 = Strukturplan in 7 Bildern (rechts mittig) E7 = Strukturplan in 7 Bildern (rechts unten)

Die Entwürfe E4–E7 sowie die vorhergehenden und nachfolgenden Entwürfe E1–E3 und E8–E12 sind alle auf dem gleichen Papier gefertigt (vgl. den Kommentar zu E1) und stehen deshalb wahrscheinlich auch in einem engen genetischen Zusammenhang. In E4 notiert Horváth den Werktitel „Ein Wochenendspiel in 7 Bildern“ und skizziert folgende Bilderfolge: „Der Radfahrerklubb“, „Der Minister“, „Die Geliebte des Syndikus“, „Urwald“, „Der Minister im Urwald“, „Der Radfahrerklubb“ und „Urwald“. Die Positionierung der Bilder „Urwald“ an der vierten und siebenten Stelle verweist zurück auf E1, die Ergänzung der „Radfahrer“ um den „-klubb“ erinnert an den „Golfklubb“ von K1/E2 und E5, der „Arbeiterradfahrerklubb“ findet sich indes bereits in K1/E2 und E6. Der „Minister“, der „Syndikus“ und die „Geliebte“ gehören zum Repertoire des Stückes seit K1 (vgl. etwa K1/E3, E6, E8 und E17–E19). Neu ist der Hinweis auf die „drei Landstreicher“ im vierten Bild „Urwald“ von E4, die in der Folge zu den „drei Wanderburschen“ werden (vgl. E5–E8) und die Reihung von BS 12 c, Bl. 7 vor Bl. 6 argumentativ begründen lassen. Die folgenden Entwürfe E5–E8 stellen, mit Ausnahme des vierten Bildes, das nun „Die drei Wanderburschen“ heißt, praktisch unveränderte Reprisen von E4 dar, in denen sich Horváth nur der Abfolge der Bilder noch einmal zu versichern scheint. H5 = ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 6 1 Blatt unliniertes Papier (282 × 223 mm), Wasserzeichen „Papyrus Rex M.-K.-Papier“, schwarzblaue Tinte E8 = Strukturplan in 7 Bildern mit Werktitel „Ein Wochenendspiel / in sieben Bildern“ (links oben und mittig) 9 E = Strukturplan in 2 Teilen und 9 Bildern (links unten) E10 = fragm. Strukturplan in 2 Teilen und 4 Bildern (rechts unten) E11 = fragm. Strukturplan in 10 Bildern (mittig oben) E12 = fragm. Strukturplan in 4 Bildern (rechts oben)

Die Entwürfe E8–E12 sowie die vorhergehenden Entwürfe E1–E7 sind alle auf dem gleichen Papier gefertigt (vgl. den Kommentar zu E1) und stehen deshalb wahrscheinlich auch in einem engen genetischen Zusammenhang. Die Entwürfe des vorliegenden Blattes nehmen eine Reihe von Elementen der vorhergehenden Entwürfe wieder auf, stellen aber vor allem strukturell eine Weiterentwicklung dar, da Horváth hier mit

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Chronologisches Verzeichnis

verschiedenen Bildzahlen experimentiert. In E8 skizziert er wie in E1–E7 einen Strukturplan in sieben Bildern. Die „drei Wanderburschen“ von E5–E7 werden hier wiederaufgenommen. Dass sie in E4 noch die „drei Landstreicher“ heißen, spricht für eine Reihung von BS 12 c, Bl. 6 nach Bl. 7. Die ersten drei Bilder „Radfahrer“, „Minister“ und „Geliebte des Syndikus“ nehmen Bekanntes wieder auf (vgl. etwa K1/E6, E8, E10–E12, E16–E19, K2/E1, E2 und E4–E7). Die „Radfahrer“ (vgl. den Kommentar zu E1) im sechsten Bild finden sich ebenfalls schon in E4–E7, der „Urwald“ im siebenten Bild geht auf K1/E10 zurück, taucht aber auch in K1/E11, E12, E18, E19, E21 und K2/E1–E7 auf, wenn auch nicht immer im siebenten Bild. Die Notiz „Die Geliebte bringt die Radfahrer ganz durcheinander“ verweist auf die Liebesverstrickungen, die seit K1/E3 zum motivischen Gehalt des Stückes zählen. Wahrscheinlich hat Horváth nach E8 zunächst die Strukturpläne E9 und E10 am unteren Teil des Blattes eingetragen, bevor er E11 und E12 am rechten oberen Rand des Blattes notiert hat. In E9 greift der Autor noch einmal zu einer Einteilung in zwei Teilen (vgl. E1), der eine Gliederung in neun Bildern untergeordnet ist. Das erste Bild lautet „Arbeiterradfahrer“ (vgl. K1/E2, E6, E8, E10–E12, TS1/Bl. 14, E16–E19, K2/E1–E8, E10–E12, E14–E16 und E18, teils nur „Radfahrer“, vgl. den Kommentar zu E1). Für das zweite Bild notiert Horváth, wie schon in E3 im ersten Bild, „Kleinkaliberschützen“, die die beiden ersten Bilder verbindende „Strasse“ findet sich bereits in E1. Durch die Einführung des zweiten Bildes verschieben sich die Bilder „Minister“ und „Geliebte des Syndikus“ an die dritte und vierte Stelle (vgl. E1, E2 und E4–E8, wo das Bild „Minister“ noch an zweiter und das Bild „Geliebte des Syndikus“ noch an dritter Stelle rangierte). Zum zweiten Teil notiert Horváth eine bloße Bilderfolge: „Die Opposition“ (vgl. die Nennung der „Opposition“ in K1/E2, E6, E12, E13, TS1/Bl. 14, E17, E19, K2/E1, E2, E10, E11, E14 und K3/E1), „Minister“, „Radfahrer“, „Stahlhelm“ und „Urwald“. Das Bild „Stahlhelm“ geht auf K1 zurück, findet sich jedoch auch in den Strukturplänen von K2 (vgl. K1/E2, E6, E8, E10, TS1/Bl. 14, K2/E1–E3, E10–E12, E14–E16 und E22). In E10 realisiert Horváth die bereits in E9 anvisierte Verbindung der ersten beiden Bilder zu einem gemeinsamen ersten Bild „Strasse“ (vgl. auch E1). Damit rücken der „Minister“ und die „Geliebte“ wieder an die Plätze zwei und drei. Der erste Teil umfasst so im Vergleich zu E9 um ein Bild weniger, nämlich drei. Erst der zweite Teil setzt mit den „Arbeiterradfahrer[n]“ ein; hier soll es zu einem „Krach mit der Opposition“ (vgl. K1/E17, E19, K2/E1 und E2) kommen. Die Opposition bleibt zuletzt „allein“ zurück und „beobachte[t] die Ankunft des Autos“, offensichtlich mit den nachher notierten „Minister / Geliebte / Syndikus“. Der „Chauffeur“ des Autos soll ein „Student“ sein. Nachdem alle abgehen, treten die „Stahlhelm[e]“ auf, die im folgenden Strukturplan E11 eine bedeutende Rolle spielen. Hier erweitert Horváth sein Konzept auf zehn Bilder. Das erste Bild lautet in E11 wieder „Arbeiterradfahrer“ (vgl. oben). Durch die Neueinführung des zweiten Bildes „Stahlhelm“ (vgl. E1 und E2, wo es zum ersten Bild zählt, und E10, wo es als mögliches fünftes Bild erwähnt wird) verändert sich die Position der folgenden Bilder. So rückt das bisherige zweite Bild „Minister“ wie in E9 wieder an die dritte Stelle (vgl. E1, E2, E4–E8, wo es noch an zweiter Stelle rangierte) und das Bild „Geliebte des Syndikus“ wieder an die vierte (vgl. E1, E2 und E4–E8, wo es noch an dritter Position stand). Das fünfte Bild lautet ebenfalls wie in E9 „Opposition“ (vgl. oben): In einer Notiz dazu hält Horváth erstmals deutlich den Konflikt zwischen Liebe und (politischer) Überzeugung fest, der für die Volksstücke Ein Wochenendspiel und Italienische Nacht von entscheidender Bedeutung sein wird. In E11 notiert Horváth eine Dialogskizze zwi-

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Konzeption 2

schen zwei Oppositionellen, wobei der „Eine“ meint: „Ich kann sie [i.e. das Mädel] ändern, sag ich Dir, ich kann es!“, worauf der „2[.]“ repliziert: „Quatsch, das kannst Du doch nicht! Die Politik kommt vor allem.“ Die folgenden Bilder lauten: „Der Minister“, „Radfahrer“, „Stahlhelm“ und „Urwald“. Hier sind also erstmals zwei „Radfahrer“-, zwei „Minister“- und zwei „Stahlhelm“-Bilder geplant, wodurch schließlich eine Struktur in zehn Bildern zustande kommt. Das neunte Bild, zu dem Horváth zunächst „Urwald“ eingetragen hat, streicht er wieder, offensichtlich um den „Urwald“ doch an die letzte Stelle zu setzen. In E12 stellt der Autor die Bilderfolge von E11 versuchsweise um und schreibt: „Minister“, „Geliebte des Syndikus“, „Arbeiterradfahrer“ und „Stahlhelm“. Der Strukturplan bricht nach dem vierten Bild ab. Der Autor versieht diesen fragmentarischen Entwurf nachträglich mit Fragezeichen. H6 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 22v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E13 = gestrichener Werktitel „Marianne oder: Das Verwesen“ (oben) E14 = Figurenliste mit Werktitel „Ein Wochenendspiel / in sieben Bildern“ (mittig und unten) Druck in: WA 14, S. 466f.

Die Entwürfe im hinteren Teil des Notizbuchs Nr. 3 (vgl. den Kommentar zu K1/E1) dürften erst nach den bisher gereihten Entwürfen der Mappe BS 12 c entstanden sein. Sie schließen strukturell an die Entwürfe E1–E12 an. In E13 notiert Horváth noch einmal den Werktitel „Marianne oder: Das Verwesen“ (vgl. K1/E11, E12 und TS2, sowie WA 14/K4/TS1), streicht diesen aber wieder und notiert darunter den Entwurf E14, der eine Figurenliste zum Werktitel „Ein Wochenendspiel / in sieben Bildern“ skizziert. Die Liste nennt folgende Figuren: „Bürgermeister“, „Rechtsanwalt“, „Seine Geliebte“, „Dessen Geliebter, ein Student“, „Referenten des Bürgermeisters“, „Präsident des Arbeiterradfahrerbundes“, „Opposition“, „Stahlhelm – Major“ und „Studenten“. Der Bürgermeister ersetzt den bisher meist für das zweite Bild genannten „Minister“, womit die Handlung eine Verlagerung ins Bürgerlich-Kleinstädtische erfährt, die typisch für die späteren Volksstücke Ein Wochenendspiel und Italienische Nacht ist. Ein Bürgermeister findet sich bereits in VA/E2, E4 und E6, wird dann aber erst wieder ab der vorliegenden Figurenliste K2/E14 eingesetzt (weiters in K2/E15, E16, E22–E24 und ab K3/TS2 durch den Stadtrat Ammetsberger ersetzt). Das heißt, das kleinstädtische Milieu geht auf die Vorarbeit Wochenend am Staffelsee zurück und wird erst im Verlauf von K2 und K3 wieder mit dem Wochenendspiel fusioniert. Die „Arbeiterradfahrer“ (vgl. K1/E2, E6, E8, E10–E12, TS1/Bl. 14, E16–E19, K2/E1–E12, E15, E16 und E18, teils nur „Radfahrer“, vgl. den Kommentar zu E1) erscheinen hier wieder als „Arbeiterradfahrerbund“ (erstmals in K1/E8). Eine „Geliebte“ gibt es seit den frühesten Entwürfen zu dem Werkprojekt (vgl. etwa K1/E3, E5, E6, E8, E10–E12, E16–E19, K2/E1, E2, E4–E12, E15, E16 und E22–E24). Die „Opposition“ findet sich seit E1 im Werkprojekt (vgl. K1/E2, E6, E12, E13, TS1/Bl. 14, E17, E19, K2/E1, E2, E9–E11 und K3/E1). Die „Stahlhelme“ gehen auf K1/E2 zurück (vgl. auch K1/E6, E8, E10, TS1/Bl. 14, K2/E1–E3, E9–E12, E15, E16 und E22), der „Major“ auf VA/E2 (vgl. auch VA/E4, K1/E3–E5, K3/E1, TS2, K4/TS2, K5/E3, E5 und TS4) und ein oder mehrere „Studenten“ auf K1/E3–E5.

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Chronologisches Verzeichnis

H7 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 23 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E15 = Strukturplan in 7 Bildern (links oben und mittig) E16 = Strukturplan in 7 Bildern (unten) E17 = Dialogskizze (rechts oben und mittig)

H8 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 23v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E18 = Notizen zur 1. Szene des I. Bildes „Arbeiterradfahrer“ (oben) E19 = Notizen (unten)

Auf Bl. 23 des Notizbuchs Nr. 3 (vgl. den Kommentar zu K1/E1 sowie zu K2/E13 und E14) skizziert Horváth zwei Strukturpläne in sieben Bildern. Diese sind praktisch identisch und weisen die folgende Bilderfolge auf: „Arbeiterradfahrer“, „Bürgermeister“, „Geliebte“, „Stahlhelm vor dem Urwald“, „Bürgermeister“, „Arbeiterradfahrer[bund]“ und „Urwald“. Damit ist einerseits erstmals der seit E14 wieder im Werkprojekt befindliche Bürgermeister in ein Bild transformiert (vgl. den Kommentar zu E14), andererseits der Anschluss an die Strukturpläne E1–E12 hergestellt. Insbesondere weist die vorliegende Bilderfolge Ähnlichkeiten mit den Strukturplänen E4–E8 auf, wobei der „Minister“ in E15 und E16 gemäß E14 durch den „Bürgermeister“ ersetzt ist. In E17–E19 deutet Horváth eine Neuerung an, die auch in die Figurenlisten von E20 und E21 eingeht, die Idee nämlich, „Sprecher“-Figuren in das Werkprojekt zu integrieren. Diese sollten gemäß E17 über die Stadtgründung, Bauern, Bürger, die Industrialisierung, den Krieg, die Fürsorge und die Arbeiterbewegung referieren. In E18 sprechen sie über die Einführung des arbeitsfreien Samstagnachmittags und Sonntags sowie die Entstehung von „Arbeiterkulturvereine[n]“ bzw. des „Arbeiterkulturverband[es]“. In E19 macht sich Horváth zu den drei Sprecherfiguren Notizen zur Szenerie. Er vermerkt diesbezüglich ein „Dorf“ und eine „Fabrik“, in der „Kollektivtypen“ und „Elendstypen“ auftreten sollten. Die Idee der Sprecher-Figuren verschwindet jedoch mit E21 wieder aus dem Werkprojekt. H9 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 24 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E20 = gestrichener Werktitel „Ein Wochenendspiel / in 7 Bildern“ mit Figurenliste (oben) E21 = gestrichener Werktitel „Ein Wochenendspiel / in 7 Bildern“ mit Figurenliste (mittig) E22 = Strukturplan in 7 Bildern mit Werktitel „Ein Wochenendspiel / in 7 Bildern“ (unten)

Die Entwürfe von Bl. 24 des Notizbuchs Nr. 3 (vgl. den Kommentar zu K1/E1 sowie zu K2/E13 und E14) greifen die Einführung der Sprecherfiguren von E17–E19 wieder auf. In E20 und E21 notiert Horváth den Titel des Werkprojekts mit der Spezifizierung „in 7 Bildern“, die charakteristisch für die Entwürfe von K2 ist. Zu den Werktiteln vermerkt er Figurenlisten, die „drei“ bzw. „vier Sprecher“ und einen „unsichtbare[n] Chor“ enthalten. In E22 hält der Autor schließlich einen Strukturplan in sieben Bildern fest, der folgende Bilderfolge aufweist: „Arbeiter“, „Bürgermeister“, „Geliebte“, „Stahlhelm“, „Bürgermeister“, „Arbeiter“ und „Urwald“. Damit nimmt dieser Strukturplan zentrale Elemente der Entwürfe von K2 wieder auf (vgl. etwa K2/E4–E8, E15

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Konzeption 2

und E16). Neu gegenüber E15 und E16 ist einzig, dass im vierten Bild der Zusatz „vor dem Urwald“ zu „Stahlhelm“ entfällt und dass Horváth im ersten und sechsten Bild statt „Arbeiterradfahrer“ nur noch „Arbeiter“ notiert. Dies deutet eventuell eine Verallgemeinerung des Personenkreises an, könnte aber auch nur eine abgekürzte Schreibung sein, wie sie sich schon in einigen Entwürfen von K1 findet (vgl. etwa K1/E6, E8, E10, E11, E13, E15 und E16). Den ursprünglich im zweiten Bild notierten „Minister“, der an die früheren Entwürfe anschließt, ersetzt Horváth gemäß E14–E16 in der Korrektur durch „Bürgermeister“. H10 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 24v 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E23 = teilweise gestrichener Strukturplan in 7 Bildern mit Werktitel „Ein Wochenendspiel / in 7 Bildern“ mit Notizen und einer Dialogskizze

H11 = ÖLA 3/W 364 – o. BS, Bl. 25 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 3 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, liniertes Papier (164 × 99 mm), blauer Blattschnitt, schwarze Tinte E24 = Strukturplan in 7 Bildern mit Dialogskizze

Die Entwürfe der beiden vorliegenden Blätter des Notizbuches Nr. 3 (vgl. den Kommentar zu K1/E1 sowie zu K2/E13 und E14) dürften unmittelbar zusammenhängen. Horváth notiert in E23 neuerlich den Titel seines Werkprojekts mit dem für K2 charakteristischen Zusatz „in 7 Bildern“. Darunter vermerkt er die Bilderfolge „Arbeiter“, „Bürgermeister“, „Geliebte“, „Arbeiterradfahrer“, „Bürgermeister im Urwald“, „Arbeiter“ und „Arbeiter“. Eine Reihe von Notizen erläutert diesen Strukturplan. So vermerkt Horváth zum ersten Bild einen „Schluss“, in dem die Opposition meint, dass ihr beantragter „Zuschuss“ sicher „abgelehnt“ werde, was die S.P.D. mit dem zustimmenden „Wetten!“ kommentiert. Hingegen soll ein „Zuschuss“ für die „Stahlhelme“ gewährt werden, wie es in einer gestrichenen Notiz zum zweiten Bild „Bürgermeister“ heißt. Außerdem streicht Horváth diesen zweiten Bildtitel „Bürgermeister“ und ersetzt ihn durch eine nachträgliche Einfügung „Minister: (einer kleinen deutschen Republik)“. Der „Minister“ findet sich in vielen Entwürfen von K1 und K2 (vgl. K1/E2–E6, E8, E10–E13, E15, TS1/Bl. 15, E16–E19, E21, K2/E1, E2 und E4–E12). In K2/E14 und in den folgenden Entwürfen E15, E16 und E22 notiert Horváth jedoch an seiner Stelle einen Bürgermeister. Ein solcher ist schon in der VA Wochenend am Staffelsee zu finden (vgl. VA/E2, E4 und E6). Nun erwägt er in E23 also kurzfristig wieder einen „Minister“ einzuführen, notiert aber in E24 wieder Bürgermeister. Zum dritten Bild „Geliebte“, das an frühere Entwürfe anschließt (vgl. K1/E3, E5, E6, E8, E10–E12, E16–E19, K2/E1, E2, E4–E12, E14–E16 und E22), vermerkt Horváth: „Ihr Geliebter fährt mit als Chauffeur“ (vgl. E9). Zum vierten Bild „Arbeiterradfahrer“ notiert der Autor eine „Wette“ und eine „Abfahrt“. Diese wird im folgenden Strukturplan E24 wiederaufgenommen, wo der fünfte Bildtitel „Abfahrt der Arbeiter“ lautet. Überhaupt scheint E24 zumindest einen Teil von E23 zu ersetzen, genau genommen die Bilder vier bis sieben, die in E23 nachträglich gestrichen wurden und offensichtlich durch die Bilderfolge von E24 ausgetauscht werden sollen. Diese lautet nun: „Bürgermeister im Urwald“, „Abfahrt der Arbeiter“, „Bürgermeister im Urwald“ und „Arbeiter“. Die ersten drei Bilder von E24 – „Arbeiter“, „Bürgermeister“ und „Geliebte“ – entsprechen indes

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genau E23. Zum letzten Bild „Arbeiter“ notiert Horváth folgende Dialogskizze. Die Arbeiter fragen „Wer hat die Wette verloren?“ (vgl. E23), worauf der Bürgermeister repliziert: „Keiner! Ich trete zurück! Wir haben Zeit!“ Auf diese Replik hin jubelt „[a]lle[s]“ „Bravo!!“, was den Rückzug des Stadtrats Ammetsberger in den Endfassungen und Schlussvarianten von Ein Wochenendspiel und Italienische Nacht vorwegzunehmen scheint (vgl. K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 53, K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 102, K5/TS2/A2, A4/BS 32 b [3], Bl. 3 und TS4/Horváth 1931, S. 103).

Konzeption 3: Ein Wochenendspiel in sechs Bildern H1 = ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 9–11 3 Blatt hochkariertes Papier (275 × 222 mm), halbierter Bogen, Wasserzeichen „Atlantico / Marca registrada“, schwarzblaue Tinte E1 = Strukturplan in 14 Bildern mit Werktitel „Ein Wochenendspiel / Volksstück in 13 Bildern“ mit Repliken, Dialogskizzen und Konfigurationsplänen Druck in: Horváth 1974, S. 115–118.

H2 = ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 12 1 Blatt hochkariertes Papier (275 × 222 mm), halbierter Bogen, Wasserzeichen „Atlantico / Marca registrada“, schwarzblaue Tinte E2 = fragm. Werkverzeichnis in 2 Teilen mit Titel „Drei Volksstücke“ (links oben) E3 = Werkverzeichnis in 4 Teilen (rechts oben) TS1 = fragm. Fassung mit Werktitel „Der Schlemihl“ (links mittig und unten; Grundschicht) Druck in: WA 3, S. 42f.

Es ist wahrscheinlich, dass die Entwürfe auf dem hochkarierten Papier mit dem charakteristischen Wasserzeichen „Atlantico / Marca registrada“ später entstanden sind als die zuvor gereihten Entwürfe des Notizbuches Nr. 3 (ÖLA 3/W 364) und der Mappe BS 12 c (vgl. die Kommentare zu K1/E1, E2–E5, K2/E8–E12, E13 und E14). H2 wurde im Kontext der Edition von Geschichten aus dem Wiener Wald bereits abgedruckt, da E3 einen Strukturplan zu dem Werkprojekt Die Schönheit von Fulda beinhaltet, einer Vorarbeit von Geschichten aus dem Wiener Wald (vgl. WA 3/VA1/E3). Außerdem findet sich ein Blatt dieser Qualität im Konvolut zum Werkprojekt Der Mittelstand (ÖLA 3/ W 348 – BS 12 a, Bl. 3). Das Papier spanischer Herkunft könnte Horváth von seinem Besuch der Weltausstellung in Barcelona im September 1929 mitgenommen haben. Dies würde eine frühere Datierung, etwa Herbst oder Winter 1929, plausibel erscheinen lassen. Allerdings sind auf H2 Werktitel zu weiteren Stücken eingetragen („Ein Wochenendspiel“, „Der Schlemihl“, „Der Kongress“, „Die politisierte Liebe“ und „Die italienische Nacht“), die eine Datierung auf das Frühjahr oder den Sommer 1930 wahrscheinlich machen. Horváth sah offensichtlich, dies lässt H2 vermuten, die erwähnten Werkprojekte in engem Zusammenhang, darauf deutet insbesondere der eingetragene Obertitel: „Drei Volksstücke“ (E2) hin, wobei in E2 nur zwei Werkprojekte erwähnt werden, nämlich „Ein Wochenendspiel“ und „Der Schlemihl“. Die Entwürfe auf den Blättern BS 12 c, Bl. 9–12 (H1 und H2) stellen eine deutliche, vor allem figurative Weiterentwicklung gegenüber den vorhergehenden Entwürfen dar, weshalb hier neuerlich ein Konzeptionsschnitt gesetzt werden muss. Erstmals werden in E1 bis zur Endfassung nicht nur von Ein Wochenendspiel, sondern sogar bis Italienische Nacht erhalten bleibende Figuren wie „Leni“, „Anna“, „Martin“ und

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Konzeption 3

„Betz“ genannt. Auch der für den Roman Der ewige Spießer wie für die Vorarbeiten und frühen Konzeptionen von Geschichten aus dem Wiener Wald bedeutsame „Reithofer“ findet hier neuerlich und zum letzten Mal Erwähnung. Er spielte unter dem auch im Ewigen Spießer verwendeten Vornamen Josef bereits in der VA Wochenend am Staffelsee eine nicht unwesentliche Rolle (vgl. VA/E2 und insbesondere E4), war jedoch in K1 und K2 nicht mehr zu finden. Der Titel „italienische Nacht“ wird in E1 erstmals als Bildtitel und in E3 als Titel eines Werkprojekts genannt, dennoch sind die Entwürfe und Textstufen von K3 noch zu dem Werkprojekt Ein Wochenendspiel zu rechnen. In E1 notiert Horváth einen ausführlichen Strukturplan in dreizehn bzw. vierzehn Bildern unter dem Werktitel „Ein Wochenendspiel“, der sich über ganze drei Blätter zieht und den er mit zahlreichen Repliken, Dialogskizzen und Konfigurationsplänen versieht. Zu Beginn vermerkt er die Szenenanweisung „Das Stück spielt im Wald“. Über dem Werktitel „Ein Wochenendspiel“ notiert er in gleicher Schreibweise alternativ den Werktitel „Im Wald“. Zunächst hatte er, wahrscheinlich ebenfalls als Werktitel, „{Sommer} im Wald!“ geschrieben, diesen Eintrag aber wieder gestrichen und durch „Im Wald“ ersetzt. Möglicherweise notierte er erst in der Folge den bereits eingeführten Werktitel „Ein Wochenendspiel“, erweitert um die erwähnte Szenenanweisung, die den atmosphärischen Schauplatz einführt. Ein „Wald“ findet sich in dem Werkprojekt seit K1/E6, meist heißt er jedoch in K1 und K2 „Urwald“. Der Bildtitel „Urwald“ durchzieht die Strukturpläne von K1 und K2 (vgl. etwa K1/E10–E12, E18, E19, E21, K2/E1–E11, E15, E16 und E22–E24; „Wald“ auch in K1/E16). Aus K2/E3 erfährt man, dass es sich dabei um ein „Naturschutzgebiet“ handeln soll. Bildtitel notiert Horváth nur zu folgenden Bildern von E1: Bild eins und vier lauten „[Der] Feldherrnhügel“ (vgl. TS2), Bild zwei: „Die Republikaner im Walde“, Bild fünf: „Auf einer Lichtung“, Bild zehn: „Die italienische Nacht“, Bild elf: „Die Opposition“, Bild zwölf: „Zusammenstoss: Opposition – Bürgerwehr“ und Bild dreizehn: „Schluss“. Alternativ dazu notiert Horváth auf Bl. 11 die Bilder 12–14: „Schluss“, „Zusammenstoss“ und „Schluss“. Er erwägt damit eine Erweiterung der Struktur auf vierzehn Bilder. Darauf deutet auch eine Notiz zu Bild 13 hin, zu dem der Autor nachträglich vermerkt: „Dieses Bild wird eventuell geteilt“. Für den Großteil der Bilder notiert Horváth keine Titel, sondern nur Dialogskizzen oder Konfigurationspläne. Bemerkenswert ist das Personal des Stückes: Hier findet sich neben „Prinz, Adjutant, Major usw.“ (vgl. TS2) auch ein gewisser „Svoboda“ und „seine Frau“, die den Namen „die Dvorakische“ (Bl. 9) bekommt, der im weiteren Verlauf der Werkgenese auf eine vereinzelt dastehende Figur im zweiten Bild abwandern wird. „Svoboda“ und „die Dvorakische“ dürften indes eine Frühform des Paares Stadtrat Ammetsberger und Adele darstellen, auch wenn die Hierarchie zwischen den beiden noch umgekehrt zu sein scheint, denn der Autor notiert zu Svoboda in E1: „er steht unter dem Pantofel“ (ebd.). Die Namen Svoboda und Dvorak bzw. die Dvorakische haben deutliche böhmische Färbung und deuten auf eine Situierung der Handlung im Wiener Milieu hin. Ähnliches lässt die von den paar „Republikaner[n]“ im Wald abgehaltene „Musikprobe“ vermuten, bei der „Walzer“ (ebd.) geprobt werden. Der Prinz kommentiert diese Musik mit dem Satz: „Wenn ich diesen Walzer den die Republikaner spielen hör, so glaub ich immer, ich pass nichtmehr in diese Zeit – dann werd ich immer traurig! Meiner Seel!“ (ebd.) Auch die Diktion des Prinzen weist also deutlich wienerische Anklänge auf. Am Beispiel von E1 zeigt sich insofern exemplarisch die Verbindung zwischen den Volksstücken Ein Wochenendspiel und Geschichten

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aus dem Wiener Wald. In einer Szenenanweisung heißt es: „Im Hintergrund werden die Lampione geschmückt“ (ebd.), was ein deutlicher Hinweis auf die stattzufindende „italienische Nacht“ ist (Bl. 11), die auf das „Festspie[l]“ bzw. das „Fest“ von K1/TS1, E17 und K2/E1 zurückgeht. Weiters erwähnt Horváth die Figuren Martin und Josef, wobei mit Letzterem der Wirt gemeint sein dürfte, da ihm, wie später im ersten Bild von Ein Wochenendspiel bzw. Italienische Nacht, vorgeworfen wird, dass er die „Hakenkreuzler“ „empfängt“ (Bl. 9). In TS3, K4/TS2 und K5/TS4 heißt der Wirt, der auf VA/E6 zurückgeht, Josef Lehninger (vgl. in allen drei Endfassungen die Figurenliste bzw. die Szenenanweisung zum ersten Bild). Zum alternativ letzten Bild, dem vierzehnten, vermerkt Horváth noch einen kurzen Dialog zwischen dem „Stadtrat“ und „Kranz“, womit auch diese beiden Figuren mit E1 eingeführt sind. Das Bild „Auf einer Lichtung“ nimmt die Badeszene von Marianne im Bild „An der schönen blauen Donau“ in Geschichten aus dem Wiener Wald vorweg (dort erstmals angedeutet in der sogenannten „Agnes-Schminke-Szene“ in WA 3/K1/TS4 und in der „Szene zwischen Alfred und Agnes“ in WA 3/K1/TS5). In E1 badet Leni, während Reithofer die „Serenade von Toselli“ (Bl. 10) spielt. Gemeint ist damit die Serenata, op. 6,1 von Enrico Toselli (1883–1926), auch bekannt als das „Spielmannslied“. Reithofer scheint damit den späteren Karl zu präfigurieren, der auch Musiker ist und „in einem Konzertcafé Schumann, Mozart, Kalman und Johann Strauss [spielt]“ (TS3/BS 32 a [2], Bl. 13 und ähnlich in K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 20 sowie in K5/TS4/Horváth 1931, S. 24). Die Dvorakische kommentiert Reithofers Spiel mit den Worten: „Es ist doch was Herrliches, so a Blechmusik!“ (Bl. 10). Auch der Zauber der Uniform, der so charakteristisch für den Sladek ist, kehrt hier wieder (vgl. den Kommentar zu K1/TS1) und bleibt bis in die drei Endfassungen erhalten (vgl. TS3/BS 32 a [2], Bl. 10f., K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 15f. und K5/TS4/Horváth 1931, S. 19f.). Der Prinz nähert sich der badenden Leni, die er als „Waldnymphe“ (Bl. 10) bezeichnet. Nachdem er diese offensichtlich in die „Wadeln“ (ebd.) gezwickt hat, schreit sie auf. Reithofer beleidigt daraufhin den Prinzen. Dass er damit eine „Majestät“ beleidigt hat, irritiert ihn kaum. Den diesbezüglichen Hinweis des Majors kommentiert er mit den Worten: „Das ist mir ganz wurscht! Ich bin Republikaner!“ Man kann darin die Keimzelle der späteren Majestätsbeleidigung in Form der Bemalung der Kaiserstatue mit roter Farbe in Ein Wochenendspiel und Italienische Nacht sehen (vgl. TS3/BS 32 a [2], Bl. 36, K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 38, 64f. und K5/TS4/Horváth 1931, S. 42, 47 und 75). Im achten Bild taucht erstmals Anna auf. Sie hat dort mit einem Hakenkreuzler zu tun, wie die spätere Anna mit dem Faschisten in den Endfassungen von Ein Wochenendspiel und Italienische Nacht. Im neunten Bild trifft sie mit dem Prinzen zusammen und findet aus dem Wald nicht mehr „raus“ (Bl. 11). Die Bürgerwehr sinnt auf „Rache“, weil eine Bürgerliche vom Prinzen verführt wird. Im zehnten Bild soll die „italienische Nacht“ stattfinden. Zum elften Bild notiert Horváth die Replik Martins gegenüber Anna: „Natürlich wegen einem Weib!“, womit neuerlich die erotischpolitische Verwicklung angesprochen ist. Ein weiterer Konfigurationsplan hierzu sieht Reithofer und Leni vor. Zum zwölften Bild notiert Horváth den „Zusammenstoss“ zwischen der „Opposition“ und der „Bürgerwehr“, in den offensichtlich auch der Prinz verwickelt ist, der vom „agent provocateur“ (vgl. K5/TS4/Horváth 1931, S. 76) spricht. Martin versichert hier: „Wir sind keine Pazifisten!“ In E2 notiert Horváth eine Art Werkverzeichnis, das unter dem Titel „Drei Volksstücke“ nur zwei Titel, nämlich „Ein Wochenendspiel / (ein Akt)“ und „Der Schlemihl“ nennt, ein drittes Werkprojekt wird nicht mehr erwähnt. Möglicherweise war

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Konzeption 3

zu H2 noch ein zweites Blatt vorhanden, auf dem ein weiterer Werktitel genannt wurde, das aber nicht überliefert ist. Bemerkenswerterweise sollte also Ein Wochenendspiel gemäß diesem Entwurf nur einen Akt umfassen und zusammen mit anderen Volksstücken zu einer Art Zyklus zusammengefasst werden. Zum Werkprojekt Der Schlemihl, zu dem es sonst keine weiteren Entwürfe gibt, notiert Horváth die Fassung TS1 zwischen Fritz und Leni, wobei er zu Fritz in Klammern „Sladek“ notiert, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass Fritz ähnlich denkt wie Sladek (vgl. seine Bemerkungen über den „Einzelnen“ im ersten Teil dieses Bandes). Die Ausgereiftheit der Textstufe lässt vermuten, dass E2 und TS1 nach E1 entstanden sind. Im Dialog zwischen Fritz und Leni geht es um den „Kollektivismus“ (vgl. die „Kollektivtypen“ von K2/E19). Entgegen kollektivistischen Überzeugungen vertritt Fritz die Meinung, dass „[d]er Mensch […] auf sich gestellt“ ist, „besonders der Deutsche“. Aber er sieht in der Überwindung des Individualismus durchaus eine notwendige Forderung für die Zukunft und fragt sich deshalb: „[W]ie lange werden wir noch brauchen, bis wir kollektiv denken können?“ Fritz wird in der Folge als „Bruder Lenis“ ausgegeben. Einen solchen wird es in den drei Endfassungen nicht mehr geben. Auch eine Figur namens Fritz tritt dort nicht mehr auf. In einem Dialog wirft er Leni vor, sich mit einem „Sozi“ abzugeben, worauf sie kontert, dass ihr die „politische Einstellung“ eines Menschen „ganz wurscht“ ist. Diese Problematik wird einen zentralen Stellenwert in den Endfassungen von Ein Wochenendspiel und Italienische Nacht haben (vgl. insbesondere die Dialoge zwischen Karl und Anna bzw. Karl und Leni in TS3/BS 32 a [2], Bl. 18–23, K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 28–37 und K5/TS4/Horváth 1931, S. 32–41). Die zuletzt notierte Dialogsequenz zwischen Fritz und einem Freund kulminiert in dem Satz: „Die Weiber sind halt überhaupt unzuverlässig!“, eine für Horváths Männerfiguren typische Verallgemeinerung. Bei E3 handelt es sich um eine Art Werkverzeichnis, in dem Horváth wie schon in E2 noch einmal eine Zusammenstellung mehrerer Werkprojekte vornimmt. Diesmal nennt er vier Werkprojekte, ohne sie jedoch einem gemeinsamen Titel unterzuordnen. Sie lauten: „Der Kongress“, „Die politisierte Liebe“, „Die italienische Nacht“ und „Die Schönheit von Fulda“. Zu Ersterem und Letzterem skizziert Horváth auch Strukturpläne (vgl. WA 3/VA1/E3). Der Titel „Die italienische Nacht“ wird hier erstmals als Titel eines Werkprojekts verwendet (vgl. E1, wo er bereits als Bildtitel auftaucht). Der erste und dritte Bildtitel des Strukturplans zu dem Werkprojekt „Der Kongress“, „Im Weinhaus zur alten Liebe“, nimmt einen Bildtitel von Sladek oder: Die schwarze Armee (1928) und einen Akttitel von Sladek, der schwarze Reichswehrmann (1929) wieder auf (vgl. im ersten Teil dieses Bandes K1/TS1/SB Volksbühne 1928, S. 23 und TS2/SB Volksbühne 1929, S. 26). Auch am Ende der Fassung TS1 findet sich der Hinweis auf ein „Weinhaus“. H3 = ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 13, 13v 1 Blatt kariertes Papier (330 × 210 mm), halbierter Bogen, schwarzblaue Tinte TS2 = fragm. Fassung des ersten Bildes „Der Feldherrnhügel“ (Korrekturschicht) Druck in: GW IV, S. 53f.

In TS2 arbeitet Horváth eine Fassung des Bildes „Der Feldherrnhügel“, des ersten Bildes des Strukturplans E1, aus. Die gleiche Benennung des ersten Bildes lässt vermuten, dass TS2 in unmittelbarer Nähe zu E1 entstanden ist. Die Textträger H3–H5 unterscheiden sich jedoch materiell von H1 und H2, weshalb davon auszugehen ist, dass

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sie etwas später und in unmittelbarer genetischer Nähe zueinander entstanden sind. Materiell entsprechen die Textträger H3–H5 Blättern, die Horváth in der Genese von Geschichten aus dem Wiener Wald verwendet hat, allerdings in einem sehr weiten zeitlichen Umfeld, nämlich von WA 3/K1–K5 (vgl. dort). Es ist ein großformatiges (Länge 330 mm) kariertes Papier ohne Wasserzeichen. Horváth notiert zum ersten Bild von TS2 folgende Figuren: „Königliche Hoheit, Adjutant und die Herren vom Vorstand der Bürgerwehr: Kolonialmajor, Bäckermeister und Reserveleutnant in Friedensuniform.“ Weiters: „Trompeter, Standartenträger, Trommler.“ (Bl. 13) Mit diesem Figureninventar deutet Horváth die militärische Ausrichtung dieses ersten Bildes an. Es folgt ein Dialog zwischen der königlichen Hoheit, dem Major, dem Trompeter, dem Adjutanten und dem Bürgermeister, der zwar in der Figurenliste nicht genannt wurde, aber seit VA/E2 im Werkprojekt vorhanden ist. Der Major spricht gegenüber der königlichen Hoheit von einem „Feind“, der „aus unserer Stadt vertrieben worden ist“ und sich in den „Wald“ (vgl. K1/E6, E16 und K3/E1) geflüchtet habe. Er möchte der königlichen Hoheit daraufhin die „Artilleriestellung“ durchs „Fernrohr“ (Bl. 13) zeigen, aber es ist nichts zu sehen. Schließlich taucht der Bürgermeister auf, der der königlichen Hoheit versichert, dass der Anführer der militärischen Abteilung ein „unzuverlässiger Mann“ ist, da er trinkt, weil er die Niederlage im Krieg nicht verwinden konnte und das „Unrecht, das dem hohen Hause K.H. angetan worden ist“ (ebd.). Der Adjutant versichert der königlichen Hoheit indes die „Treue“ seiner Soldaten und glaubt, dass, wenn es sich zum Besseren wendet, die königliche Hoheit „immer an Bürgermeister denken“ (ebd.) wird. Der Bürgermeister zeigt sich „[t]iefgerührt“ und spricht von einem „Fest“ (Bl. 13v; vgl. K1/TS1, E17, K2/E1 und K3/E1), das er der königlichen Hoheit darbieten wolle. Damit bricht die Textstufe ab. Wie TS1 und E1 vermuten lassen, wollte Horváth zu diesem Zeitpunkt der Werkgenese noch eine königliche Hoheit bzw. einen Prinzen in dem Stück auftreten lassen, während es in den Endfassungen nur noch das tote Denkmal einer vergangenen Majestät ist, die in dem Stück figuriert. Sowohl der Entwurf als auch die Textstufe deuten darauf hin, dass der Autor an diesem Punkt der Genese auch noch Bilder in das Stück einbauen wollte, in denen die „Hakenkreuzler“, wie sie zu diesem Zeitpunkt noch heißen (vgl. die „Faschisten“ in den drei Endfassungen), wirkliche und eigenständige Handlungsanteile haben. In den späteren drei Endfassungen fungieren sie fast ausschließlich als Störfaktoren der republikanischen Gesellschaft und ihres Festes. Aufgrund der mangelnden Ausgereiftheit der Entwürfe und Textstufen von K3 ist davon auszugehen, dass zwischen TS2 und der Endfassung von Ein Wochenendspiel (TS3), die in der genetischen Reihe unmittelbar nachfolgt, eine beträchtliche überlieferungsgeschichtliche Lücke klafft. T1 = ÖLA 3/W 4 – BS 32 a [2], Bl. 1–54 54 Blatt unliniertes Papier (285 × 225 mm), teilweise Durchschlag, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte und blauem Buntstift sowie mit Bleistift von fremder Hand, Paginierung I, II, 1–52 TS3 = Endfassung mit Werktitel „Ein Wochenendspiel / Volksstück in sechs Bildern von Ödön Horváth“ (Korrekturschicht) Druck in: Horváth 1974, S. 63–107.

Zwischen der Fassung TS2 und der vorliegenden TS3 klafft vermutlich eine beträchtliche überlieferungsgeschichtliche Lücke (vgl. den Kommentar zu TS2). Bei TS3 han-

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Konzeption 4

delt es sich nämlich bereits um die vollständige Endfassung des Volksstücks Ein Wochenendspiel in sechs Bildern. Einzig die beiden römisch paginierten Bl. 1 und 2 von T1 sind Originaltyposkripte, bei den restlichen Blättern handelt es sich um Durchschläge. Horváth hat die Fassung nachträglich handschriftlich überarbeitet. Das Typoskript wurde von fremder Hand mit dem Kürzel „It. n.“ versehen, was für „Italienische Nacht“ steht. Wie bereits eingangs erwähnt, handelt es sich jedoch bei der vorliegenden Fassung um die Endfassung der Frühform dieses Stückes, noch unter dem Titel Ein Wochenendspiel, in sechs Bildern, während die Endfassungen von Italienische Nacht (K4/TS2 und K5/TS4) sieben Bilder umfassen werden. Die in dem Typoskript vielfach anzutreffenden fehlenden oder überzähligen Zeichenabstände zwischen einzelnen Wörtern und Satzzeichen oder Wörtern wurden stillschweigend korrigiert. Die uneinheitliche Setzung von Apostrophen wurde vereinheitlicht. Alle weiteren editorischen Eingriffe sind im kritischen Apparat nachgewiesen. Für eine genaue Analyse des Aufbaus von Ein Wochenendspiel bzw. der Unterschiede zu den beiden Fassungen von Italienische Nacht vgl. das Vorwort und die Übersichtsgrafik Tab2 im Kommentar zu diesem Band.

Konzeption 4: Italienische Nacht in sieben Bildern Aufgrund von überlieferungsgeschichtlichen Verlusten ist das Material, auf dem Horváth die Fassung in sechs Bildern von Ein Wochenendspiel zur Fassung in sieben Bildern von Italienische Nacht umarbeitete, nicht mehr vorhanden. Auch die Genese der zweiten Endfassung des Stückes kann deshalb nicht nachvollzogen werden (vgl. den Kommentar zu K3/TS3). Einen textbezogenen Überblick über die Verschiebungen und Ergänzungen im Übergang von der ersten zur zweiten Fassung des Volksstücks bietet jedoch die Übersichtsgrafik Tab2 im Kommentar zu diesem Band. T1 = ÖLA 3/W 3 – BS 32 a [1], Bl. 1–8 8 Blatt unliniertes Papier (285 × 225 mm), Durchschlag, Paginierung 6, 7, 7a, 16, 30, 46, 47, 52 TS1 = fragm. Fassung einiger Bilder (Grundschicht)

Bei T1 handelt es sich um einzelne Blätter einer Gesamtfassung von Ein Wochenendspiel, wahrscheinlich einer nach der Endfassung K3/TS3 entstandenen Gesamtfassung (Reinschrift), da die überlieferten Bilder über weite Strecken, aber nicht vollständig mit dieser identisch sind. Die fragmentarische Fassung von Ein Wochenendspiel, wie sie hier vorliegt, endet mit der Pagina 52, mit der auch die Endfassung von Ein Wochenendspiel schließt (vgl. K3/T1 = TS3). Dies ist ein Hinweis darauf, dass die Zahl der Bilder hier noch nicht um eins erweitert wurde, wie dies in den beiden Endfassungen von Italienische Nacht (K4/TS2 und K5/TS4) geschehen wird. Die Bl. 1–3 stammen aus dem ersten Bild, in dem Betz, der Stadtrat, Kranz, Martin und Karl mit dem Wirt Josef über die Zulässigkeit der Aufnahme der Faschisten in seinem Lokal diskutieren. Das erste Bild von TS1 unterschiedet sich dabei deutlich von jenem von Ein Wochenendspiel – etwa durch den Ausdruck „fascistisch[e] Spielleut“ (Bl. 1). Horváth hat in der vorliegenden Fassung TS1 also das erste Bild schon weitestgehend so überarbeitet, wie es sich auch in den Endfassungen von Italienische Nacht (TS2 und K5/TS4) findet. Dies ist ein Hinweis darauf, dass die vorliegende Fassung bereits zu Italienische Nacht zu rechnen ist. Die Fassung TS1 markiert genau genommen also den Über-

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gang von Ein Wochenendspiel zu Italienische Nacht. Das erste Bild endet mit dem charakteristischen „Du Mephisto --“ (Bl. 3) des Kranz gegenüber Martin und damit, dass alle das Lokal verlassen, was sich so in allen drei Endfassungen findet (vgl. K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 9, K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 14 und K5/TS4/Horváth 1931, S. 18). Bl. 4 mit der Pagina 16 entstammt dem dritten Bild, in dem Anna und Karl über politische Integrität diskutieren. Karl äußert hier gegenüber Anna: „Eine Anna und dieser Fascist, da stürzt ja in mir eine Welt zusammen“ (Bl. 4), was sich so in allen drei Endfassungen findet (vgl. K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 18, K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 28 und K5/TS4/Horváth 1931, S. 32). Anna kontert aber, dass sie den Faschisten nur aushorchen will (vgl. K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 18, K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 29 und K5/TS4/Horváth 1931, S. 33). Bl. 5 stammt aus dem vierten Bild, in dem die italienische Nacht stattfindet. Das Blatt zeigt die Szene, in der es nach dem Auftritt der beiden „herzigen Zwillingstöchter“ (Bl. 5; vgl. K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 31f., K4/TS2/SB Arcadia, S. 57f. und K5/TS4/Horváth 1931, S. 66f.) zum Tumult im Lokal kommt. Die Bl. 6–8 betreffen das sechste bzw. siebente Bild. Hier findet sich zunächst der Dialog zwischen dem Stadtrat, Betz, Kranz, Engelbert und dem Wirt aus der Mitte des Bildes (Bl. 6 und 7; vgl. K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 48f., K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 85–90 und K5/TS4/Horváth 1931, S. 94–99). Darin versichert der Wirt den Republikanern, dass sie von Faschisten „umzingelt“ sind, die sie „verprügeln wollen“ (Bl. 6). Die überlieferte Passage endet mit der Replik des Stadtrats: „Ach, Du bist ein Katastrophenpolitiker?“ (Bl. 7), die sich so in Ein Wochenendspiel (K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 49) und in der Form „Ach, der Herr sind Katastrophenpolitiker?“ in Italienische Nacht (K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 90 und K5/TS4/Horváth 1931, S. 99) findet. Auf Bl. 8 ist der Schluss der Gesamtfassung überliefert. Hier behauptet Martin, dass der „Besuch“ der Faschisten ihm und seinen Kameraden gegolten habe und dass er und seine Kameraden „für [ihre] Taten einstehen“ (Bl. 8; vgl. K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 54, K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 99f. und K5/TS4/Horváth 1931, S. 107f.). Der Schluss von TS1 entspricht am ehesten demjenigen von K3/TS3, K4/TS2 (der ArcadiaFassung) und K5/TS2/A1, unterscheidet sich aber deutlich von jenem der PropyläenFassung K5/TS4. In TS1 wird Martin zur Rückkehr in den republikanischen Schutzbund aufgefordert, aus dem er zuvor ausgeschlossen wurde. Doch er lehnt dies ab und spricht davon, dass bereits „ein neuer Schutzbund gegründet“ wurde, „ein junger Schutzbund“, was Betz mit den für ihn charakteristischen und leitmotivisch wiederholten Worten „Es ist halt alles relativ“ kommentiert (Bl. 8). Die Rückkehraufforderung gegenüber Martin und seine Reaktion darauf finden sich in ähnlicher Weise in K3/TS3, K4/TS2/Horváth 1930, S. 100f. und K5/TS2/A1. In K3/TS3 fordert Martin Betz darüber hinaus auf, sich dem jungen Schutzbund anzuschließen (vgl. K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 54). Dieses Detail findet sich in TS1 und in den späteren Fassungen nicht mehr. Stattdessen äußert Martin in TS1 Folgendes: „Ich müsst mich doch nur mit Euch herumstreiten, um kämpfen zu können! Warum soll ich meine Kraft verpuffen?“ (Bl. 8), was sich in ähnlicher Form in K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 101 und in K5/TS2/A1 findet und die Nähe zumindest des Schlusses von TS1 zu diesen beiden Fassungen unterstreicht. In der Propyläen-Fassung K5/TS4 ist die Rückkehraufforderung gegenüber Martin und der darauffolgende Dialog nicht mehr vorhanden. Das Stück bricht dort unmittelbar nach dem Auftritt Martins, seiner Entwarnung, die Prügeldrohung der Faschisten betreffend, der affirmierenden Beruhigung durch den Stadtrat und der darauf gemünzten Replik Martins: „Gute Nacht!“ ab.

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Konzeption 4

Im gesamten Typoskript von TS1 finden sich uneinheitliche Abstände zwischen Wörtern und Satzzeichen. Diese wurden stillschweigend korrigiert. Alle weiteren editorischen Eingriffe sind im kritischen Apparat nachgewiesen. D1 = Italienische Nacht. Volksstück von Ödön Horváth (Exemplar in: ÖTM) Stammbuch des Arcadia Verlags, Berlin 1930, 108 Blatt unliniertes Papier (180 × 155 mm), hektografiert, hellblauer Umschlag, nachträglich eingeklebtes Etikett des Verlags Max Pfeffer (Wien – Leipzig), Paginierung 4–102, hs. Eintragungen mit blauer Tinte, Kugelschreiber und Bleistift von fremder Hand TS2 = Endfassung mit Werktitel „Italienische Nacht. Volksstück von Ödön Horváth“ (Grundschicht) Druck (teilweise) in: KW 3, S. 131f. („Schlußvariante“).

Das Stammbuch des Volksstücks Italienische Nacht wurde wahrscheinlich noch im Dezember 1930 oder im Jänner 1931 vom Arcadia Verlag, dem Theaterverlag der Ullstein-Verlagsgruppe, hergestellt. Am 18. Jänner 1931 meldet das Berliner Tageblatt, dass Italienische Nacht vom Theater am Schiffbauerdamm zur Uraufführung angenommen wurde. Zu diesem Zeitpunkt lag das Stück mit Sicherheit schon in Form des Stammbuchs vor. Die vorliegende Fassung TS2 unterscheidet sich in zahlreichen Details (vgl. KW 3, S. 161f.) von der Druckfassung K5/TS4, die im Mai oder Juni 1931 im Propyläen Verlag erschienen ist. So fehlen etwa in der Figurenliste der Kamerad aus Magdeburg, der Leutnant und Czernowitz, die erst in der Druckfassung K5/TS4 eine Rolle spielen. Martins „Kameraden“ werden hier noch „Genossen“ genannt, die „Zwei Frauenzimmer“ heißen hier noch „Zwei Prostituierte“. Vor allem ist aber der von Horváth in K5 noch mehrfach überarbeitete Schluss hier anders, und zwar sowohl utopischer als auch radikaler, und entspricht eher noch TS1 und K5/TS2/A1. Das Stammbuch des Arcadia Verlags diente auch als Grundlage für die nach 1933 verfertigten Stammbücher des Georg Marton Verlags (vgl. K5/D2–D5 = K5/TS5), der Horváth von 1933 bis 1938 als Theaterautor vertrat. Ab 1936 teilten sich der Georg Marton und der Max Pfeffer Verlag die Rechte für die Stücke Horváths. Dementsprechend findet sich auf dem Umschlag des vorliegenden Stammbuchs ein Etikett des Verlags Max Pfeffer (Wien – Leipzig), Wien I, Bösendorferstraße Nr. 1, aufgeklebt. Die Eintragungen von fremder Hand in dem Stammbuch betreffen Tippfehler oder schlecht lesbare Wörter, die mit Tinte oder Kugelschreiber nachgezogen wurden. Von einem Antiquar oder der Österreichischen Nationalbibliothek dürfte die Eintragung mit Bleistift „Slg Glücksmann“ im hinteren Teil des Stammbuchs rühren, womit vermerkt wurde, aus welchem Nachlass das Stammbuch übernommen wurde. Das von Traugott Krischke in KW 3, S. 161 erwähnte Stammbuch des Arcadia Verlags aus dem Besitz Elisabeth von Horváths, der Witwe Lajos von Horváths, mit handschriftlichen Eintragungen ihres Mannes, das Krischke noch vorgelegen hatte, ist inzwischen verschollen. Man hat in der Arcadia-Fassung eine gültige Endfassung zu sehen, die wahrscheinlich, dies legt die Weiterverbreitung dieser Fassung durch die späteren Stammbücher des Marton Verlags (K5/D2–D5 = K5/TS5) nahe, die für Horváth längerfristig verbindliche Fassung darstellte. Außerdem steht sie rein sprachlich in vielem den Horváth’schen Gepflogenheiten näher als die Propyläen-Fassung K5/TS4. Dies betrifft insbesondere dialektale und umgangssprachliche Verkürzungen von Wörtern, etwa „ichs“ oder „habs“, vor allem auch die für den süddeutschen Sprachraum charakteristische e-Apokope, etwa „hab“ und „möcht“ etc. Aus allen diesen Gründen wird die

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Chronologisches Verzeichnis

Arcadia-Fassung hier vollständig abgedruckt. Unregelmäßige Abstände zwischen Wörtern und Satzzeichen oder zwischen einzelnen Wörtern werden stillschweigend korrigiert. Einfache Bindestriche werden zu doppelten erweitert, wie dies der Handhabung Horváths in den Typoskripten sowie der Einrichtung späterer, ebenfalls vom Arcadia Verlag hergestellter Stammbücher (z.B. Kasimir und Karoline, 1932, vgl. WA 4/K4/D1) entspricht. Alle weiteren editorischen Eingriffe sind im kritischen Apparat vermerkt.

Konzeption 5: Italienische Nacht in sieben Bildern – Adaptierungsarbeiten Warum Horváth sein Stück nach der Erstellung des Stammbuchs K4/TS2 noch einmal überarbeitete, kann aufgrund fehlender biografischer oder genetischer Materialien nicht mehr nachvollzogen werden (vgl. dazu die Kommentare zu K4/TS2 und K5/TS4). Ergebnis dieses Überarbeitungsprozesses dürfte ein Typoskript gewesen sein, das wahrscheinlich auch die Grundlage der Probenarbeiten für die Uraufführung am 20. März 1931 im Theater am Schiffbauerdamm bildete. Die Manuskripte und Typoskripte, die Horváth im Zuge der Probenarbeiten fertigte (H1–H3 und T1–T3), dürften sich auf diese Zwischenfassung beziehen, dies lässt sich aus den auf den TyposkriptBlättern vorhandenen Paginierungen schließen. Zu K5 würde darüber hinaus auch ein Typoskript zählen, das die Grundlage des Erstdrucks des Stückes in Form der Propyläen-Ausgabe D1 (K5/TS4) bildete. Dieses Einreichmanuskript ist jedoch verloren gegangen. Da der Erstdruck zeitlich erst nach der Uraufführung erfolgte, und zwar im Juli 1931 (vgl. das Vorwort zu diesem Band, S. 212), wird er den Bearbeitungen während der Uraufführung nachgereiht. Wahrscheinlich beruht er auf einem Typoskript, das sich von der erwähnten Zwischenfassung unterschieden hat und eventuell die Bearbeitungen während der Uraufführung aufnahm. Möglicherweise wurde der Erstdruck aber auch aufgrund der erwähnten Zwischenfassung hergestellt und die Bearbeitungen während der Probenarbeiten für die Uraufführung dafür nicht berücksichtigt. H1 = ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 15 1 Blatt kariertes Papier (330 × 212 mm), halbierter Bogen, unregelmäßig gerissen, schwarzblaue Tinte, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung) E1 = gestrichene Dialogskizze (links oben) E2 = Replik (mittig oben) E3 = Replik (mittig unten) E4 = fragm. Strukturplan in 3 Bildern (links unten) E5 = Notizen zum III. und VII. Bild (rechts unten) E6 = Notizen und Replik zum IV. Bild (rechts oben)

Die beiden Textträger H1 und H2 dürften von Horváth erst im Zuge der Proben zur Uraufführung von Italienische Nacht im Februar oder März 1931 (Uraufführung: 20. März 1931) beschrieben worden sein (vgl. auch den Kommentar zu TS1/A1). Am 18. Jänner 1931 meldete das Berliner Tageblatt, dass Italienische Nacht vom Theater am Schiffbauerdamm zur Uraufführung erworben wurde (vgl. das Vorwort in diesem Band, S. 211). Zu diesem Zeitpunkt oder kurze Zeit später lag wohl auch die Beset-

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Konzeption 5

zungsliste der Uraufführung vor. Auf dem vorliegenden Blatt BS 12 c, Bl. 15 hat sich Horváth vor allem Notizen zu Bühnenanweisungen gemacht. Darauf deuten Einträge wie „Wirt: (beim Abgang) = (Nichts reden)“ und „Sima: (Hut aufbehalten)“ in E5 hin, ein Verweis auf Oskar Sima (1896–1969), den Darsteller des Stadtrats Ammetsberger in der Uraufführung. Die Notiz „Leiter ist zu neu“ zum vierten Bild in E6 referiert offensichtlich auf das Bühnendekor, die Zusätze zur Replik „Oh bitte“ „(zu rasch)“ sowie zu Annas Replik: „Jetzt wirds aber finster“ „(das sagt sie nicht zu ihm)“ ebendort auf das Bühnengeschehen bzw. Schauspielerverhalten. In E1 notiert Horváth zunächst eine Ergänzung zum Dialog zwischen Leni und Karl am Ende des dritten Bildes. Hier vermerkt der Autor auf Lenis Replik „Am liebsten möcht ich garnicht mehr hin –“ Karls Antwort: „Zeit ist Geld“ und die Szenenanweisung „Stille“, streicht jedoch Karls Replik wieder und hält stattdessen folgende Replik Lenis fest: „Jetzt möcht ich singen. Immer, wenn ich traurig bin, möcht ich singen –“. Diese findet sich noch in der Schlussvariante TS2/A4/BS 32 b [3], Bl. 4, wird aber schließlich gestrichen. Sie wandert in das chronologisch nachfolgende Volksstück Geschichten aus dem Wiener Wald (1931) weiter (vgl. dort die Korrekturschichten der Blätter BS 37 g [1], Bl. 1 und BS 37 g [2], Bl. 5 aus K3/TS3 und K4/TS7/A42 sowie K4/TS24/BS 37 h, Bl. 31 und K5/TS12/SB Arcadia 1931, S. 42; vgl. auch im vorliegenden Band den Kommentar zu K3/E1). Zuletzt sollten sich Karl und Leni umarmen, und Karl hätte laut E1 folgende Replik zu äußern: „{Fräulein}. So ist das Leben –“. Mit Lenis Replik: „Du. Wird das Leben jetzt schön –“ sollte das Bild laut E1 schließen. Da Horváth diesen Entwurf nachträglich strich, ist äußerst fraglich, ob er ihn tatsächlich in die Uraufführung aufnehmen ließ. In E2 vermerkt der Autor die folgende Replik des Faschisten: „Der Gott der Eisen wachsen liess. Rache! Gott steh uns bei! Rache! Deutschland erwache!!“, die eine Erweiterung einer Replik aus dem vierten Bild darstellt, die sich in der Arcadia-Fassung findet (vgl. K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 44; vgl. auch K5/TS4/Horváth 1931, S. 47). Dazwischen hatte Horváth noch notiert: „Nein, diese Untermenschen! Dieses organisierte Untermenschentum –“, diesen Eintrag aber wieder gestrichen. Die Erweiterung der Replik um „Rache!“ ist in die Druckfassung TS4 eingegangen. Bei E3 handelt es sich um eine weitere Replik. Diesmal ist es der Major, zu dem Horváth notiert: „Rache für Strassburg! Landesverrat!“, was sich in dieser Form nicht in der Endfassung TS4 findet (vgl. aber TS4/Horváth 1931, S. 104, wo eine verkürzte Variante steht), aber in TS2/A3/BS 32 b [3], Bl. 1 in leicht veränderter Form als Replik eines Faschisten Eingang gefunden hat. In E4 notiert der Autor die Nummerierungen der Bilder fünf bis sieben, in E5 ergänzt er die Bilder drei und sieben um Notizen. Demnach sollte der Major in einem nicht näher bezeichneten Bild „Verrat!“ rufen, wahrscheinlich ist damit wieder das siebente gemeint (vgl. E3), während Horváth zum vierten Bild lediglich die Konfiguration „Karl und Leni“ notiert. Der Dialog zwischen Karl und Leni bildet seit Ein Wochenendspiel (K3/TS3) eine Konstante des dritten Bildes. Horváth beschließt dann aber in TS1/A1 und A2, diesen fallen zu lassen und durch einen Dialog zwischen Anna und dem Faschisten zu ersetzen, was so aber nicht in die Endfassung TS4 eingeht. Zu diesem Zeitpunkt dürfte auch die nachträgliche Streichung von E1 erfolgt sein.

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Chronologisches Verzeichnis

H2 = ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 14 1 Blatt kariertes Papier (330 × 210 mm), Bogen, schwarzblaue Tinte, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung) TS1/A1 = fragm. Fassung des III. Bildes (Korrekturschicht) Druck in: KW 3, S. 127f.

Das vorliegende Blatt dürfte Horváth erst im Zuge der Probenarbeiten im Theater am Schiffbauerdamm im Februar oder März 1931 beschrieben haben (vgl. den Kommentar zu H1). Bei TS1/A1, A2 und TS2/A1–A4 handelt es sich durchwegs um Änderungen oder Ergänzungen, die der Autor an der wahrscheinlich bereits in Form eines Typoskripts vorliegenden Zwischen- oder Endfassung des Volksstücks Italienische Nacht vornehmen wollte. Horváth scheint, dies lassen die fragmentarischen Notizen zu Beginn von TS1/A1 vermuten, mit gewissen Schauspieleranweisungen der Regie nicht ganz einverstanden zu sein. So bemerkt er etwa, dass „Betz“ (zu dem er zunächst „[Hans] Adolfi“ notiert hatte, den Namen des Schauspielers, der die Rolle des „Betz“ bei der Uraufführung übernahm) zu Beginn des Bildes „aus dem Pissoir“ kommen soll (vgl. die „Bedürfnisanstalt“ in der Szenenanweisung des sechsten Bildes von TS4/Horváth 1931, S. 74). Die paar Punkte, die er darunter einträgt, verweisen auf den weiteren Verlauf des Bildes. Dann pickt er wieder eine Szene heraus, nämlich jene, in der der Faschist auftaucht und „Wegtreten!“ sagt. Hierzu vermerkt Horváth, dass er „nicht aus dem Pissoir“ kommt, sondern: „[E]r geht nur vorbei“. Diese Replik des Faschisten findet sich nur im dritten Bild der zweiten Endfassung von Italienische Nacht (K5/TS4), nicht aber in der Arcadia-Fassung (K4/TS2) und ebenso wenig in der Endfassung von Ein Wochenendspiel (K3/TS3). Die Form der Eintragung „Wegtreten!“ in der vorliegenden Fassung TS1/A1 lässt vermuten, dass sich Horváth bereits auf eine Fassung bezieht, in der diese Replik vorhanden ist. Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass der Uraufführung die erwähnte Zwischenfassung in Form eines Typoskripts oder bereits das Einreichmanuskript für die Propyläen-Fassung zugrunde lag. Die darauffolgenden Szenen zwischen Martin und Anna, Anna und dem Faschisten sowie Anna und Karl sind nur als Konfigurationspläne angedeutet. Auf die bereits in Ein Wochenendspiel vorhandene Replik Annas: „Jetzt hab ich einen Inhalt, weisst Du --“ soll Karl mit einem kurz angedeuteten „Pardon!“ abtreten (vgl. K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 20, K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 32 und K5/TS4/Horváth 1931, S. 37). Statt des Auftritts der Leni sollte laut TS1/A1 Anna „allein“ zurückbleiben und neuerlich der Faschist auftauchen. Horváth skizziert in der Folge zwischen diesen beiden Figuren einen Dialog, der so nicht in der Propyläen-Fassung TS4 vorliegt, den er aber möglicherweise noch in die Uraufführung aufnehmen wollte oder sogar aufnehmen ließ und der vielleicht der witzigen, ulkigen Gesamtstimmung derselben geschuldet war (vgl. auch TS1/A2 sowie das Vorwort zu diesem Band, S. 223). Der Faschist wirft darin Anna zunächst vor, sie habe „falschen Schritt“, was er dann aber als „Witz“ zurücknimmt, wobei er auch von sich behauptet, „ein ernster Mensch“ zu sein. Der Dialog endet damit, dass Anna den Faschisten zu einem Spaziergang einlädt. Auf diesem Spaziergang will sie ihn wohl ausspionieren, denn, wie sie Karl gegenüber zuvor versichert hatte, Martin hätte gerne „etwas genauere Informationen über denen ihre Kleinkaliber“ (TS4/Horváth 1931, S. 33; vgl. auch K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 18 und K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 29). Auf dem vorliegenden Blatt BS 12 c, Bl. 14 haben die Berliner Bearbeiter mit Bleistift „Papier = Der dumme Hans“ eingetragen. Zu dem erwähnten Werkprojekt gibt es

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Konzeption 5

nur sehr wenige Entwürfe, die sich in den Mappen ÖLA 3/W 278 – BS 3 c [1] und ÖLA 3/W 279 – BS 3 c [2] befinden. Die Blätter BS 3 c [2], Bl. 2–4 entsprechen materiell den vorliegenden Blättern BS 12 c, Bl. 13–15 (K3/H3, K5/H1 und H2). Wie im Kommentar zu K3/TS2 vermerkt wurde, gleichen die Textträger K3/H3, K5/H1 und H2 aber auch einem Teil des Materials, das in der Genese von Geschichten aus dem Wiener Wald (WA 3/K1–K5) verwendet wurde, und zwar über einen relativ langen Zeitraum, wahrscheinlich zwischen Frühjahr 1930 und Sommer 1931. Für die Datierung des vorliegenden Blattes ist damit aber nichts gewonnen. Es ist jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit erst im Rahmen der Proben zur Uraufführung von Italienische Nacht beschrieben worden, was den möglichen Zeitrahmen der Beschriftung auf die Monate Jänner bis März 1931 eingrenzt. T1 = ÖLA 3/W 6 – BS 32 b [2], Bl. 1–3 3 Blatt unliniertes Papier (285 × 225 mm), Durchschlag, dünn, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte und Bleistift TS1/A2 = fragm. Fassung des 3. Bildes, konstituiert durch BS 32 b [2], Bl. 2 (Korrekturschicht) Druck in: KW 3, S. 129f. (Grundschicht).

Bei den Blättern BS 32 b [2], Bl. 1–3 handelt es sich um drei textidentische Durchschläge einer Reinschrift derselben Passage, die Horváth laut TS1/A1 und gemäß einer hs. Eintragung am Fuße von TS1/A2 in das dritte Bild einbauen wollte. Das Originaltyposkript ist nicht überliefert. Einzig auf Bl. 2 befindet sich eine hs. Eintragung, die vermutlich mit Bezug auf die Inszenierung vorgenommen wurde, denn ganz unten auf dem Blatt, das den Schluss des dritten Bildes darstellen sollte, notiert Horváth: „drehen 4. Bild“. Damit verweist er vermutlich auf die Drehbühne des Theaters am Schiffbauerdamm, an dem zum Zeitpunkt der Entstehung von TS1/A2 bereits die Proben für die Uraufführung von Italienische Nacht stattfanden. Der Vermerk sollte wohl bedeuten, dass die Bühne nach der Passage zwischen Anna und dem Faschisten gedreht werden sollte und damit das vierte Bild einsetzen konnte. Dies würde bedeuten – was TS1/A1 bereits vermuten ließ –, dass die Szene zwischen Karl und Leni im dritten Bild in der Uraufführung entfallen ist und durch einen Dialog zwischen Anna und dem Faschisten ersetzt wurde. Diese Annahme wird auch durch die nachträgliche Streichung von E1 gestützt. TS1/A2 beginnt mit Annas bereits in Ein Wochenendspiel vorkommender Replik „Jetzt hab ich einen Inhalt, weisst Du?“ (vgl. auch K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 20) und Karls „Pardon!“, das Horváth in TS1/A1 vorbereitet hatte. Der Dialog folgt über weite Strecken ebenfalls dem in TS1/A1 bereits ausgearbeiteten Text. Der Faschist „(will in die Pissbude, besinnt sich und kokettiert mit Anna)“. Aus dem „falschen Schritt“ von TS1/A1, den das Fräulein habe, wird in TS1/A2 der „falsch[e] Tritt“. Auch hier nimmt der Faschist diese Aussage wieder zurück, indem er versichert, es sei nur ein „Witz“ gewesen, dass er aber eigentlich „nicht viel übrig [habe] für Witze“. Aus dem „ernste[n] Mensch[en]“, den Horváth in TS1/A1 und zunächst auch in TS1/A2 notiert, wird schließlich über eine Korrektur in TS1/A2 ein „verschlossener Mensch“. Weiters ist die Passage über das Siezen ebenfalls in TS1/A1 bereits vorgebildet. Auch in TS1/A2 scheint der Dialog mit dem Aufbruch zu einem Spaziergang zu enden, wobei dies nicht deutlich thematisiert wird. Es heißt hier nur in der Regieanweisung „(sie gehen ab)“, und der Faschist versichert in einer abschließenden Replik: „Es ist das eine schöne Stadt hier, Ihre Stadt --“ (TS1/A2; vgl. TS4/Horváth 1931, S. 43). Der Dialog

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Chronologisches Verzeichnis

wirkt etwas unbeholfen und fällt hinter den bereits existenten Dialog zwischen Anna und dem Faschisten im vierten Bild von K4/TS2 zurück. Offensichtlich wollte Horváth jedoch – vermutlich für die Uraufführung – diesen ersten Dialog zwischen den beiden in das bereits bestehende dritte Bild von Italienische Nacht einfügen. T2 = ÖLA 3/W 5 – BS 32 b [1], Bl. 1, 2 2 Blatt unliniertes Papier (285 × 225 mm), Durchschlag, Paginierung 99, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte TS2/A1 = fragm. Fassung eines Bildes, konstituiert durch BS 32 b [1], Bl. 1 (Grundschicht)

In TS2/A1–A4 versucht Horváth, den Schluss des Stückes Italienische Nacht noch einmal zu überarbeiten. Bei den beiden vorliegenden Blättern handelt es sich um textidentische Durchschläge desselben Originals. Auf Bl. 1 sind indes mit schwarzblauer Tinte noch Eintragungen vorgenommen worden, allerdings keine, die den Text betreffen, sondern bloß Unterstreichungen von Figurennamen. Da die Blätter beide die Pagina 99 tragen, ist anzunehmen, dass sie Teil einer vollständig ausgearbeiteten Fassung von Italienische Nacht waren oder zu einer solchen getippt wurden (vgl. den einführenden Kommentar zu K5). Die Pagina 99 könnte aber auch vermuten lassen, dass es sich um eine Ergänzung oder Ersetzung zu dem bereits bestehenden Stammbuch des Arcadia-Verlags (K4/TS2) handelt, da dieses bis zu der Pagina 102 reicht. In K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 99 findet sich genau die Passage, in der Martin auftaucht, und auch eine Replik Martins, die jener, mit der TS2/A1 einsetzt, vergleichbar ist. Dann wären die Schlussvarianten TS2/A1–A4 früher anzusetzen. Da die entsprechende Passage des siebenten Bildes jedoch sowohl in der Endfassung K4/TS2 als auch in jener von K5/TS4 anders aussieht, muss davon ausgegangen werden, dass TS2/A1 eine Schlussvariante darstellt, die Horváth im Zuge der Probenarbeiten am Theater am Schiffbauerdamm zwischen Jänner und März 1931 ausgearbeitet hat. Diese Annahme wird auch durch die auf der Verso-Seite des Blattes notierte Replik E7 gestützt, die mit Sicherheit während der erwähnten Probenarbeiten entstanden ist, denn Horváth notiert hier den Schauspielernamen (Hans) Alva, der in der Uraufführung den Major spielte. Rein textlich stehen die Schlussvarianten TS2/A1–A4 zwar näher bei K4/TS2 als bei K5/TS4, allerdings ermöglicht ein kleines Detail eine eindeutige Zuordnung zu K5: Horváth verwendet nämlich in TS2/A1–A4 konsequent den Ausdruck „Kameraden“ statt des in K4/TS2 noch üblichen „Genossen“. In TS2/A1 bezeichnet Anna Martin als „Ausnahme“; danach diskutieren Betz und Martin über dessen mögliche Wiedereingliederung in den republikanischen Schutzbund. Allerdings spricht Martin davon, dass es eine „Kluft“ zwischen ihnen gebe, die „unüberbrückbar“ sei (vgl. TS2/A4/BS 32 b [3], Bl. 3). Die Passage: „Ich müsst mich doch nur mit Euch herumprügeln, um kämpfen zu können!“ verweist eindeutig auf K4/TS2 zurück, ist aber gegenüber der dortigen Variante verändert (vgl. K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 101). Betz tritt schließlich ab mit seinen leitmotivisch wiederholten Worten: „Es ist halt alles relativ“, was laut TS2/A1 am Schluss des siebenten Bildes und damit des Stückes hätte stehen sollen.

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Konzeption 5

H3 = ÖLA 3/W 5 – BS 32 b [1], Bl. 1v 1 Blatt unliniertes Papier (285 × 225 mm), schwarzblaue Tinte E7 = Replik

Der vorliegende Entwurf ist eine einzelne Replik, die Horváth auf der Rückseite eines Blattes eines Typoskripts (T2) notiert hat. Eine Figur sagt hier „{schrill}“: „Rauchen Sie nicht!“ Diese Replik äußert der Major im siebenten Bild der Druckfassung von Italienische Nacht (vgl. TS4/Horváth 1931, S. 104) gegenüber dem Republikaner Betz, der eine Zigarre raucht. In der Arcadia-Fassung K4/TS2 ist diese Replik noch nicht enthalten. Man hat darin einen weiteren Hinweis darauf zu sehen, dass der Uraufführung bereits die Propyläen-Fassung (TS4) oder eine dieser unmittelbar vorausgehende Fassung in Form eines Typoskripts zugrunde lag (vgl. den einführenden Kommentar zu K5). Es handelt sich bei E7 also um einen späten Entwurf, der – ähnlich wie E1–E6 – bereits im Kontext der Probenarbeiten zur Uraufführung von Italienische Nacht im Theater am Schiffbauerdamm in Berlin zu sehen ist. Demnach ist der Figurenname neben der Replik als (Hans) „Alva“ zu identifizieren, der in der Uraufführung den Major spielte (vgl. „Sima“ in E5). Horváth notiert also wie in E5 und E6 zu einer bereits bestehenden Replik eine Schauspieleranweisung. T3 = ÖLA 3/W 7 – BS 32 b [3], Bl. 1–5 5 Blatt unliniertes Papier (285 × 225 mm), dünn, Durchschlag, hs. Eintragungen mit schwarzblauer Tinte und Bleistift, Paginierung 99–102 auf BS 32 b [3], Bl. 1–4 TS2/A2 = fragm. Fassung eines Bildes, konstituiert durch BS 32 b [3], Bl. 5 (Korrekturschicht) TS2/A3 = fragm. Fassung eines Bildes, konstituiert durch BS 32 b [3], Bl. 1, 2 (Korrekturschicht) Druck in: KW 3, S. 136–138 (Grundschicht). TS2/A4 = fragm. Fassung eines Bildes, konstituiert durch BS 32 b [3], Bl. 3, 4 (Grundschicht) Druck (teilweise) in KW 3, S. 134f. Druck einer aus TS2/A3 und TS2/A4 kompilierten Fassung in: GW IV, S. 140–143.

Bei T3 handelt es sich um Durchschläge einer Überarbeitung des letzten Bildes von Italienische Nacht, welche Horváth wohl im Zuge der Probenarbeiten im Theater am Schiffbauerdamm zwischen Jänner und März 1931 vorgenommen hat. Teils beruht diese Überarbeitung auf den Notizen E1–E6. Dies lässt sich vor allem an der Tatsache ablesen, dass in TS2/A4 die Repliken Lenis „Jetzt möcht ich singen. Immer, wenn ich traurig bin, möcht ich singen --“ und „Oh, wird das Leben jetzt schön“ bereits in die masch. Grundschicht aufgenommen wurden (vgl. E1); allerdings nicht in das dritte Bild, wie in E1 noch vorgesehen, sondern in das siebente und letzte Bild. Die Stelle, in der der Stadtrat kundtut, dass er sich „aus dem politischen Leben zurückziehen“ wolle, findet sich bereits in K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 102. Weiters taucht sie in K5/TS2/A2 und A4 sowie in TS4/Horváth 1931, S. 103 auf. TS2/A4 geht jedoch über TS2/A2 und TS4 hinaus, da der Szene zwischen Adele, dem Major und dem Stadtrat noch zwei weitere Szenen folgen. Der in A2/BS 32 b [3], Bl. 5 hs. notierte, neuerliche Hinweis des Polizisten auf die „Polizeistund“ stammt von fremder Hand, möglichweise von einem Dramaturgen oder dem Regisseur der Uraufführung, und wird von Horváth wieder gestrichen und nicht in A4 aufgenommen. Das Schlussbild sollte dort mit einer Szene zwischen Karl und Leni sowie zwischen Anna und Martin enden. Anna gesteht darin Martin zu, dass er „eine Ausnahme“ (vgl. TS2/A1) sei, und: „Wenn doch nur ein jeder Deine Durchschlagkraft hätt -- was könnte dann alles schon da sein in dreissig Jahr? Neunzehnhundertsechzig --“ (A4/BS 32 b [3], Bl. 4). Martin

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wiederholt abschließend noch einmal: „Neunzehnhundersechzig --“, worauf eine „Grosse Umarmung“ folgt (ebd.). Horváth hat diesen Schluss nicht in die spätere Endfassung aufgenommen (vgl. TS4). Die eigenwilligste Schlussvariante bildet A3, den Horváth stark hs. überarbeitet hat. Hier sollen am Schluss noch einmal einige Faschisten auftreten und damit der Tumult, der sonst nur außerhalb des Wirtshauses im Garten hörbar wird, auf die Szene verlagert werden. Zwischen Martin und Anna ist hier noch einmal eine Art Eifersuchtsszene geplant. Der in E3 bzw. E5 dem Major zugewiesene Ausruf „Landesverrat!“ bzw. „Verrat!“ soll hier von einem ‚kleinen‘ Faschisten geäußert werden. Er wird aber von Martin brüsk zurechtgewiesen. Die Variante endet mit dem Zugeständnis Betz’ gegenüber Martin, dass sie ihm die Rolle des Führers überlassen, und „nur dann reden, wenn [sie] gefragt werden“. Und er fügt hinzu: „So wie sich‘s alten Leuten geziemt“ (A3/BS 32 b [3], Bl. 2). Diese Schlussvariante wird grundiert durch einen dreimaligen (komischen) Hinweis des Polizisten auf die „Polizeistund“ (vgl. ebd.). Die Paginierung der vorliegenden Blätter lässt vermuten, dass die Bl. 1–4 eine zusammenhängende Fassung darstellen. Dass dem nicht so ist, lässt sich jedoch aufgrund von inhaltlichen Korrespondenzen schließen, die in einer zusammenhängenden Fassung zu unschönen und widersinnigen Wiederholungen führen würden. Die Paginierung ist allerdings ein Hinweis darauf, dass es sich bei den vorliegenden Blättern um Ergänzungen oder Änderungen zu einer bestehenden masch. Gesamtfassung des Stückes handelte, wahrscheinlich zu dem der Endfassung K5/TS4 unmittelbar vorausgehenden Typoskript, einer Zwischenfassung, die die Grundlage der Uraufführung bildete (vgl. auch den Kommentar zu TS2/A1 und den einführenden Kommentar zu K5). In allen drei Typoskripten finden sich unregelmäßige Zeichenabstände zwischen Wörtern und Satzzeichen oder Wörtern. Diese wurden stillschweigend korrigiert. Alle weiteren editorischen Eingriffe sind im kritischen Apparat ausgewiesen. H4 = ÖLA 3/W 2 – BS 12 c, Bl. 14v 1 Blatt kariertes Papier (330 × 210 mm), Bogen, schwarzblaue Tinte, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung) TS3 = fragm. Fassung (Grundschicht)

Auf der vierten Seite des Bogens von BS 12 c, Bl. 14 befindet sich ein handschriftlicher Eintrag, der erst nach der Uraufführung von Italienische Nacht am 20. März 1931 entstanden ist. Hierin kommentiert Horváth die „Kritik“ der Uraufführung von Italienische Nacht von Alfred Durus in der Zeitschrift Die rote Fahne vom 22. März 1931. Durus hatte dort geschrieben: „Zuckmayer lobt dieses äußerliche und feige Stück von Oedön Horvath: ‚Ein dichterisches, mutiges und kluges Lustspiel. – – Ihr Weg ist richtig, er führt zu neuer Menschengestaltung, zu neuer Lebensdeutung, zum neuen deutschen Drama.‘ Soso, Zuckmayer lobt, warum?: um das nächstemal von Horvath gelobt zu werden.“ (Durus 1931; vgl. auch das Vorwort zu diesem Band, S. 226) Horváth bezieht sich darauf, wenn er schreibt: Der „Kerl“, der die Kritik geschrieben habe, könne es sich wohl gar nicht vorstellen, dass es noch eine „ehrliche Überzeugung“ gibt. Er stelle die Behauptung auf, „dass Z. [gemeint ist: Zuckmayer] mich nur deshalb lobt, damit ich Z. lobe“. Und er kommentiert dies mit: „Als ob Z. mein Lob nötig hätte!“ Die Stellungnahme Horváths endet mit der Bekräftigung, dass er Zuckmayer „als Kamerad, als Dichter, als Mensch“ schätze, und: „Unter

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‚Mensch‘ verstehe ich vor allem: ein Wesen mit Humor.“ Unter dieser Passage notiert Horváth u.a. „Die Dialoge mit verliebten Kommunisten. Mich interessiert der Inhalt“, was sich vermutlich auf weitere Abschnitte der Kritik von Durus bezieht und einen direkten Bezug zum Stück Italienische Nacht hat, in dem Diskussionen über Erotik und Politik eine zentrale Rolle spielen (vgl. auch TS2/A1 und A2 sowie K3/TS3/BS 32 a [2], Bl. 20, K4/TS2/SB Arcadia 1930, S. 32 und K5/TS4/Horváth 1931, S. 37, in denen Anna von ihrem „Inhalt“ spricht). D1 = Italienische Nacht. Volksstück von Ödön Horváth (Exemplar in: ÖLA 3/90) Erstdruck im Propyläen Verlag, Berlin 1931, gebunden, 112 S. TS4 = Endfassung mit Werktitel „Italienische Nacht. Volksstück von Ödön Horváth“ (Grundschicht) Druck in: Horváth 1961, S. 11–49.

Der Erstdruck des Volksstücks Italienische Nacht im Propyläen Verlag, der zum Ullstein-Verlagskonzern gehörte, kam mit Vertrag vom 4. Mai 1931 zustande und war wohl eine unmittelbare Folge des großen Erfolgs der Uraufführung des Stückes im Theater am Schiffbauerdamm am 20. März 1931. Das Stück wurde bis zum 9. April 1931 bis auf einen Tag (3. April) en suite gespielt, obwohl es ursprünglich nur einmal hätte gespielt werden sollen (vgl. KW 3, S. 155). Die Buchausgabe wurde am 4. Juli 1931 mit Copyright-Vermerk 1930 ausgeliefert. Im Nachlass Horváth (ÖLA 3/90) am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek ist das Widmungsexemplar des Autors an seine Großmutter überliefert. Es enthält folgenden Eintrag: „Meiner lieben Omama / von Ihrem / Ödön / Murnau, 24. Juli 1931“. Das Einreichmanuskript, auf dem der Erstdruck basierte, ist nicht erhalten. Es muss aber ein solches gegeben haben, das wahrscheinlich auch der Uraufführung zugrunde lag, denn in dieser tauchen sowohl das „Loreley-Lied“ als auch der Kamerad aus Magdeburg, Czernowitz und der Leutnant auf, die alle nur in TS4 zu finden sind (vgl. das Vorwort in diesem Band, S. 220 und 222f.). Darüber hinaus sind vier textidentische Typoskripte überliefert, die nicht aus der Hand Horváths stammen und als Bühnenmanuskripte vom Georg Marton Verlag wahrscheinlich erst 1933 oder später hergestellt wurden (vgl. TS5). Sie entsprechen textlich fast vollständig der Stammbuch-Fassung K4/TS2. Vor allem der Schluss ist hier gegenüber TS4 anders gestaltet (vgl. den Kommentar zu TS5) und entspricht jenem von K4/TS2, was zu der Vermutung Anlass gibt, dass Horváth später die ArcadiaFassung als die gültige Fassung angesehen hat und deshalb diese als Grundlage für die weiteren Stammbücher verwenden ließ. Möglicherweise hat jedoch auch der Marton Verlag selbstständig auf die Arcadia-Fassung zurückgegriffen, vielleicht sogar ohne Kenntnis der Propyläen-Fassung TS4. Die Edition von TS4 liefert eine genaue Abbildung des Erstdrucks im Propyläen Verlag, der in vielem (v.a. der Darstellung von Regie- und Szenenanweisungen, aber auch in der Setzung des langen Gedankenstrichs statt zweier kurzer Bindestriche) nicht den Gepflogenheiten Horváths in den Typoskripten entspricht. Allenfalls notwendige editorische Eingriffe sind im kritischen Apparat nachgewiesen.

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Chronologisches Verzeichnis

H5 = IN 221.000/44 – BS 38 d [1], Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (284 × 224 mm), dünn, gefaltet, schwarzblaue Tinte und Kopierstift E8 = Werkverzeichnis (mittig; nicht gedruckt) Druck in: WA 3, S. 382f.

H6 = IN 221.000/3 – BS 37 b, Bl. 1 1 Blatt unliniertes Papier (284 × 224 mm), dünn, gefaltet, schwarze Tinte, hs. Eintragungen mit Bleistift von fremder Hand (Berliner Bearbeitung) E9 = Werkverzeichnis (links unten; nicht gedruckt) E10 = Werkverzeichnis (rechts; nicht gedruckt) Druck in: WA 3, S. 384f.

Die Werkverzeichnisse E8–E10 gehören zur Werkgenese von Geschichten aus dem Wiener Wald (1931), dem in der Chronologie unmittelbar auf Italienische Nacht folgenden Stück. Die Blätter entstammen WA 3/K4 des Werkprojekts, in der das Stück noch in sieben Bildern angelegt ist, in der sich Horváth aber bereits Gedanken über die Besetzung seines Stückes macht, wie die auf BS 38 d [1], Bl. 1 eingetragene Besetzungsliste (WA 3/K4/E23) zeigt. Rechts neben der Besetzungsliste befindet sich ein Werkverzeichnis (E8), in dem der Autor folgende Werktitel anführt: „Der ewige Spiesser“, „Italienische Nacht“, „Geschichten aus dem Wiener Wald“ sowie „Kinder und Militär die Hälfte“, wobei zu diesem Zeitpunkt nur Italienische Nacht und Der ewige Spießer fertig vorlagen. Das Werkprojekt Kinder und Militär die Hälfte bleibt eine fragmentarische Ausarbeitung. Das Werkverzeichnis E9 führt die folgenden Titel an: „Der ewige Spiesser“, „Italienische Nacht“, „Geschichten aus dem Wiener Wald“, „Kinder und Militär die Hälfte“ und „Der Mittelstand“; auch das zuletzt genannte Werkprojekt wurde von Horváth nur fragmentarisch ausgearbeitet. Das Werkverzeichnis E10 listet die Werke nach Gattungen getrennt auf (vgl. E12 und E13). Unter „Die Volksstücke“ nennt Horváth die folgenden Titel: „Italienische Nacht“, „Geschichten aus dem Wiener Wald“, „Kinder und Militär die Hälfte“ und „Die Arbeitslosen“; unter „Romane“: „Der ewige Spiesser“ und „Der Mittelstand“. Die beiden zu diesem Zeitpunkt schon abgeschlossenen Werke – Italienische Nacht und Der ewige Spießer – versieht er in E10 mit einem Kreuz (vgl. auch WA 14/K4/E11 und E12). Auch in E9 hat der Autor diese beiden Werke mit einem Strukturierungszeichen versehen, hier allerdings die Markierung wieder gestrichen. H7 = ÖLA 3/W 365 – BS 33 [1], Bl. 7 1 Blatt des Notizbuchs Nr. 5 mit schwarzem, leicht strukturiertem Kunstledereinband, kariertes Papier (150 × 87 mm), roter Blattschnitt, schwarzblaue Tinte E11 = gestrichenes Werkverzeichnis (nicht gedruckt) Druck in: WA 14, S. 708f.

E11 befindet sich im Notizbuch Nr. 5, das Horváth wahrscheinlich zwischen September und November 1931 verwendet hat, also einige Monate nach Abschluss des Volksstücks Italienische Nacht und wahrscheinlich auch schon nach Fertigstellung des in der Chronologie unmittelbar nachfolgenden Volksstücks Geschichten aus dem Wiener Wald (1931). Einige der Eintragungen in dem Notizbuch, in dem sich äußerst viele private Notizen finden wie Namen, Termine und Telefonnummern, dürften aus der Probenzeit für die Uraufführung von Geschichten aus dem Wiener Wald am Deutschen

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Konzeption 5

Theater Berlin am 2. November 1931 stammen (vgl. WA 3/K5/E18–E21). Bemerkenswert sind dabei vor allem die Eintragungen zu einem Werkprojekt mit dem Titel Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand. Diese Figur, die insbesondere in der erweiterten Fassung in drei Teilen von Geschichten aus dem Wiener Wald (WA 3/K5/TS12) eine bedeutende Rolle spielt, wird in den Entwürfen zu diesem Werkprojekt gar zu einer Hauptfigur. Horváth dürfte, dies lässt das Programmheft zu der Uraufführung von Geschichten aus dem Wiener Wald, die Blätter des Deutschen Theaters, belegen, im Notizbuch an einem Text für das Programmheft gearbeitet haben. Dieser erschien schließlich in Heft 3 der Blätter vom November 1931 unter dem Titel „Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand“. Bei den Memoiren handelt es sich um eine Umarbeitung eines früheren Prosatexts des Autors mit dem Titel Die gerettete Familie (ÖLA 3/W 197 – BS 47 g, Bl. 1–4; Erstdruck in: Simplicissimus, 35. Jg., Nr. 6, 5. Mai 1930). Auf BS 33 [1], Bl. 7 notiert Horváth zunächst Titelentwürfe zu dem erwähnten Prosatext Aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand, wobei er die Namensabfolge variiert und zuletzt folgende Variante festhält: „Ein Kapitel aus den Memoiren des Herrn Hierlinger Ferdinand“. Im Werkverzeichnis E11, das Horváth auf dem unteren Teil des Blattes notiert und mit dem Titel „Werke von Ödön Horváth“ versieht, nennt er folgende Titel: „Der ewige Spiesser“, „Italienische Nacht“ und „Das Fräulein wird bekehrt“. Die Unvollständigkeit dieses Werkverzeichnisses, das das gesamte Frühwerk ausklammert, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass das zu diesem Zeitpunkt bereits fertig vorliegende Volksstück Geschichten aus dem Wiener Wald nicht einmal erwähnt wird. Möglicherweise nennt das Werkverzeichnis E11 jedoch nur bereits gedruckte Werke. Der ewige Spießer war im Oktober 1930 im Propyläen Verlag erschienen, Italienische Nacht im Juli 1931 ebendort und der Prosatext Das Fräulein wird bekehrt (vgl. WA 14/ET3/TS4) in der von Hermann Kesten herausgegebenen Anthologie 24 neue deutsche Erzähler bereits im Herbst 1929. Die Druckfassung von Geschichten aus dem Wiener Wald wird erst nach der erfolgreichen Uraufführung am 2. November 1931 ebenfalls im Propyläen Verlag in Druck gehen. Horváth streicht alle Eintragungen auf BS 33 [1], Bl. 7 nachträglich, also auch das Werkverzeichnis E11. H8 = IN 221.001/4 – BS 45 a [4], Bl. 7 1 Blatt kariertes Papier (208 × 150 mm), (Handelsregister), unregelmäßig gerissen, schwarzblaue Tinte E12 = gestrichenes Werkverzeichnis (oben; nicht gedruckt) Druck in diesem Band, S. 110f.

Das vorliegende Blatt ist Teil der Werkgenese des Volksstücks Kasimir und Karoline (1932), und zwar von WA 4/K2, Kasimir und Karoline in sieben Bildern – Emil Wegmann, die wahrscheinlich auf den Winter 1931/32 bzw. das Frühjahr 1932 zu datieren ist. Horváth notiert darauf ein Werkverzeichnis E12, das wie E10 und das folgende Werkverzeichnis E13 eine Trennung nach Gattungen vornimmt. Unter der Kategorie „Prosa und frühe dramatische Arbeiten“ vermerkt der Autor: „Der ewige Spiesser“, „Norden“, „Bergbahn“ und „Sladek“, unter der Kategorie „Volksstücke“: „Italienische Nacht“, „Geschichten aus dem Wiener Wald“, „Kasimir und Karoline“ und „Die Kleinen, die man hängt“. Zuletzt nennt er auch noch unter „Zauberpossen“: „Himmelwärts“ und versieht diesen Eintrag mit der Bemerkung „usw.“. Zum Zeitpunkt der

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Chronologisches Verzeichnis

Niederschrift dieses Blattes waren nicht alle der erwähnten Stücke abgeschlossen. Wie so oft vermischt Horváth in dem Werkverzeichnis abgeschlossene und in Arbeit – etwa Himmelwärts – bzw. sogar erst in Planung befindliche Werkprojekte. Bei „Norden“ handelt es sich um ein bis heute der Forschung Rätsel aufgebendes Werkprojekt, das Horváth vielleicht gar nie begonnen bzw. vollendet hat und zu dem es kein überliefertes genetisches Material gibt. Der Autor streicht schließlich E12, um darunter den Entwurf WA 4/K2/E28 einzutragen, der eine Dialogskizze zum vierten Bild von Kasimir und Karoline in sieben Bildern (WA 4/K2) enthält. Emil Wegmann erklärt darin Karoline, dass sich das ganze Leben in Prozenten ausdrücken lasse – eine Idee, die Horváth bereits in WA 4/K1/E1, TS5 und K2/E26 skizziert hatte. D2 = ÖLA 27/W 2 Stammbuch des Georg Marton Verlags, Wien, o.J., Typoskript, 68 Blatt unliniertes Papier (285 × 225 mm), dünn, grüne Mappe mit Aufdruck „ST“ (für Stammbuch), Eintragungen von fremder Hand mit schwarzblauer Tinte, Pag. 4–68

D3 = ÖLA 27/W 3 Stammbuch des Georg Marton Verlags, Wien, o.J., Typoskript, 68 Blatt unliniertes Papier (285 × 225 mm), dünn, Durchschlag, grüne Mappe, Pag. 4–68

D4 = ÖLA 27/W 4 Stammbuch des Georg Marton Verlags, Wien, o.J., Typoskript, 68 Blatt unliniertes Papier (285 × 225 mm), dünn, Durchschlag, grüne Mappe, Pag. 4–68

D5 = ÖLA 27/W 5 Stammbuch des Georg Marton Verlags, Wien, o.J., Typoskript, 68 Blatt unliniertes Papier (285 × 225 mm), dünn, Durchschlag, grüne Mappe, Pag. 4–68 TS5 = Fassung mit Werktitel „Italienische Nacht. Volksstück von Ödön Horváth“ (nicht gedruckt)

Bei D2–D5 handelt es sich um textidentische Typoskripte, die vom Georg Marton Verlag hergestellt wurden und als Bühnenmanuskript (Stammbuch) dienten. Horváth wurde ab dem Frühjahr 1933 vom Georg Marton Verlag (Wien) vertreten (vgl. WA 6, S. 5). Die vorliegenden Stammbuch-Typoskripte dürften also frühestens 1933 entstanden sein und stellen gegenüber TS4 eine geänderte Endfassung dar, die im Wesentlichen der ersten Endfassung von Italienische Nacht, der Arcadia-Fassung K4/TS2, entspricht. Warum der Marton Verlag zur Herstellung auf die Arcadia-Fassung zurückgegriffen hat, darüber lässt sich nur spekulieren. Möglicherweise hat Horváth nach 1933 der Arcadia-Fassung den Vorzug gegenüber der Propyläen-Fassung gegeben. Vielleicht hat der Marton Verlag ohne Wissen Horváths die Arcadia-Fassung vervielfältigt. Möglicherweise spielten dabei auch rechtliche Gründe eine Rolle. Die Abweichungen von TS5 gegenüber TS4 entsprechen den Abweichungen von K4/TS2 gegenüber K5/TS4.

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Endfassungen, emendiert

H9 = ÖLA 3/W 370 – o. BS, Bl. 98v, 99 2 Blatt des Notizbuchs Nr. 4 mit schwarzem, glattem Kunstledereinband, kariertes Papier (149 × 88 mm), roter Blattschnitt, schwarzblaue Tinte E13 = Werkverzeichnis (nicht gedruckt) Druck in: WA 9, S. 372f.

Das Notizbuch Nr. 4 hat Horváth in den Jahren 1935 und 1936 verwendet, vor allem im Zuge der Arbeit an dem Werkprojekt Don Juan kommt aus dem Krieg (1936). Im vorderen Teil des Notizbuchs Nr. 4 finden sich Strukturpläne, Notizen, Dialogskizzen und Textstufen zu diesem Schauspiel, und zwar zu den späten Konzeptionen WA 9/K4 und K5. Der hintere Teil des Notizbuchs enthält Entwürfe und Notizen zu den Werkprojekten Kaiser Probus in Wien, Herkules, Orpheus, Das jüngste Gericht, Die Diadochen, Die Komödie des Menschen, zu einem Filmexposé von Kasimir und Karoline sowie eine Liste von Filmprojekten unter dem Titel Fünf Filme. In E13 macht Horváth eine Aufstellung seiner bis zu diesem Zeitpunkt geschriebenen Werke. Zunächst listet er die „Vier Volksstücke“ auf: „Italienische Nacht“, „Geschichten aus dem Wiener Wald“, „Kasimir und Karoline“ und „Glaube Liebe Hoffnung“. Dann führt er „Komödie, Posse und Märchen“ an: „L’inconnue de la Seine“, „Hin und her“ und „Himmelwärts“. Darauf folgen „Figaro und Don Juan“, die wie Gattungsnamen angeführt werden, darunter die eigentlichen Werke: „Figaro lässt sich scheiden“ und „Don Juan kommt aus dem Krieg“. Zuletzt wird noch das Werkprojekt „Die Komödie des Menschen“ angeführt, deren „I. Bd.“ drei oder vier Teile umfassen soll, je nachdem ob das auf Bl. 99 notierte „Mittelalter“ noch zum I. Bd. hinzugerechnet wird oder nicht. Auf dem unteren Teil von Bl. 99 entwirft Horváth allerdings eine „Komödie des Menschen in sieben Teilen“ („Urzeit“, „Die Diadochen“, „Die Völkerwanderung“, „Das Mittelalter“, „Das Meer“, „Die Maschinen“ und „Das jüngste Gericht“). Das Werkverzeichnis dürfte wahrscheinlich einige Zeit nach Abschluss der Arbeiten an dem Schauspiel Don Juan kommt aus dem Krieg entstanden sein, also frühestens im Herbst 1936, und zeugt von Horváths wiederholt beobachtbarem Bemühen, sich der eigenen Werkgeschichte zu versichern (vgl. auch das ähnlich geartete Werkverzeichnis in WA 11, S. 634f. und den Kommentar dazu ebd., S. 829f.).

Ein Wochenendspiel. Volksstück in sechs Bildern (Endfassung, emendiert) Grundlage der emendierten Endfassung von Ein Wochenendspiel bildet das von Horváth handschriftlich überarbeitete Typoskript K3/T1 (K3/TS3), das als Fassung letzter Hand angesehen werden muss. Die emendierte Fassung folgt den Rechtschreibregeln der Entstehungszeit des Stückes (Duden 1929). Sämtliche im Kommentar sowie im kritisch-genetischen Apparat ausgewiesenen Herausgebereingriffe wurden umgesetzt. Alle weiteren Normalisierungen finden sich in den Editionsprinzipien im Anhang dieses Bandes aufgelistet (vgl. S. 584).

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Chronologisches Verzeichnis

Italienische Nacht. Volksstück in sieben Bildern (Arcadia-Fassung) (Endfassung, emendiert) Grundlage der ersten emendierten Endfassung von Italienische Nacht bildet die Stammbuch-Fassung des Arcadia Verlags (K4/D1 = K4/TS2). Die emendierte Fassung folgt den Rechtschreibregeln der Entstehungszeit des Stückes (Duden 1929). Sämtliche im Kommentar sowie im kritisch-genetischen Apparat ausgewiesenen Herausgebereingriffe wurden umgesetzt. Alle weiteren Normalisierungen finden sich in den Editionsprinzipien im Anhang dieses Bandes aufgelistet (vgl. S. 584).

Italienische Nacht. Volksstück in sieben Bildern (Propyläen-Fassung) (Endfassung, emendiert) Grundlage der zweiten emendierten Endfassung von Italienische Nacht bildet die Druckfassung des Propyläen Verlags (K5/D1 = K5/TS4), die wahrscheinlich auch die Grundlage der Uraufführung des Stückes am 20. März 1931 im Theater am Schiffbauerdamm bildete und als Ausgabe letzter Hand angesehen werden muss, da sie die vermutlich letzten Korrekturen Horváths zu dem Stück enthält. Die emendierte Fassung folgt den Rechtschreibregeln der Entstehungszeit des Stückes (Duden 1929). Sämtliche im Kommentar sowie im kritisch-genetischen Apparat ausgewiesenen Herausgebereingriffe wurden umgesetzt. Alle weiteren Normalisierungen finden sich in den Editionsprinzipien im Anhang dieses Bandes aufgelistet (vgl. S. 584).

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Übersichtsgrafik

Tab2: Italienische Nacht

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Tab2: Textvergleich K3/TS3, K4/TS2 und K5/TS4

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Tab2: Textvergleich K3/TS3, K4/TS2 und K5/TS4

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Tab2: Textvergleich K3/TS3, K4/TS2 und K5/TS4

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Anhang

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Editionsprinzipien

Editionsprinzipien Die Wiener Ausgabe (WA) sämtlicher Werke Ödön von Horváths ist eine historischkritische Edition. Sie umfasst alle abgeschlossenen und Fragment gebliebenen Werke sowie alle verfügbaren Briefe und Lebensdokumente des Autors. Den Ausgangspunkt bilden die umfangreichen werkgenetischen Materialien aus dem Nachlassbestand des Autors im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (teilweise als Leihgabe der Wienbibliothek im Rathaus). Die einzelnen Bände der WA sind in Vorwort, Text- und Kommentarteil gegliedert. In ihrem Zusammenspiel machen diese Teile den Entstehungsprozess der Werke transparent und bieten die Möglichkeit eines schrittweisen Nachvollzugs bis in die Letztfassungen der Texte. Das Vorwort skizziert die Entstehungsgeschichte unter Miteinbeziehung der zeitgenössischen Rezeption. Der Textteil reiht die genetischen Materialien chronologisch, wobei die Edition in Auswahl und Textkonstitution auf Lesbarkeit zielt. Dem Lesetext ist ein kritisch-genetischer Apparat beigegeben. Dieser macht die Änderungsprozesse des Autors deutlich, auf denen die konstituierten Fassungen basieren, ferner verzeichnet er alle Eingriffe der Herausgeber. Die Endfassung des Werkes wird zusätzlich in emendierter Form dargestellt. Im Kommentarteil findet sich ein chronologisches Verzeichnis, das alle vorhandenen Textträger formal und inhaltlich beschreibt und Argumente für die Reihung der darauf befindlichen Entwürfe (E) und Textstufen (TS) sowie für die Konstitution der innerhalb der Textstufen vorliegenden Fassungen liefert. Simulationsgrafiken dienen zur Darstellung komplexer genetischer Vorgänge.

1 Textteil 1.1 Genetisches Material Das genetische Material wird in zwei unterschiedlichen Formen zur Darstellung gebracht: Entwürfe erscheinen in diplomatischer Transkription, Fassungen innerhalb von Textstufen werden linear konstituiert.

1.1.1 Diplomatische Transkription und Faksimile (Entwürfe) Von genetischen Materialien, deren Topografie sich nicht in eine lineare Folge auflösen lässt, wird eine diplomatische Transkription geboten. Hierbei handelt es sich um sogenannte Entwürfe (E), in denen Horváth auf meist nur einem Blatt in Form von Strukturplänen u.ä. das grobe Konzept von Werken und Werkteilen oder knappe Textskizzen entwirft. Die diplomatische Transkription versteht sich als eine Orientierungshilfe zur Entzifferung des nebenstehend faksimilierten Originals und gibt dessen Erscheinungsbild nicht in allen Details, sondern nur insofern wieder, als dies der Ermöglichung einer vergleichenden Lektüre dient. Den verwendeten Schriftgrößen kommt dabei keine distinktive Funktion zu; sie dienen dazu, die räumlichen Verhältnisse des Originals annähernd wiederzugeben. Folgende Umsetzungen finden statt:

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Editionsprinzipien

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Überschriebene Zeichen oder Wörter werden links neben den ersetzenden wiedergegeben, wobei der ursprüngliche Ausdruck gestrichen und der neue Ausdruck mittels zweier vertikaler Linien eingeklammert wird: tä|e|xt; text|text|. Unlesbare Wörter erscheinen als { }, gegebenenfalls mehrfach gesetzt; unsicher entzifferte Zeichen und Wörter als: te{x}t, {text}. Gestrichener Text in Zeilen erscheint als: text. Vertikale oder kreuzförmige Streichungen werden als solche dargestellt. Mit Fragezeichen überschriebener oder mit Wellenlinie gekennzeichneter Text wird als solcher wiedergegeben. Unterstreichungen erscheinen als: text, text. Deutlich von einem Wort abgesetzte Punkte werden entsprechend dargestellt: text . Eingerahmte oder in eckige Klammern gestellte Ziffern, Wörter und Textpassagen erscheinen als: [text], gegebenenfalls auch über mehrere Zeilen gestellt. Der vom Autor zur Strukturierung verwendete Stern (manchmal eingekreist und bis hin zu dicken schwarzen Punkten intensiviert) erscheint als: . Das vom Autor zur Strukturierung verwendete große X erscheint als: . Von Horváth zur Markierung verwendete An- und Durchstreichungen werden individuell angepasst wiedergegeben. Verweispfeile und Linien werden schematisch dargestellt, sofern sie Wörter und Textblöcke miteinander verbinden. Dienen solche Zeichen der Abgrenzung von Textteilen, werden sie nicht wiedergegeben. Liegen auf einem Blatt mehrere Entwürfe nebeneinander, werden diese ab dem zweiten Entwurf zur besseren Unterscheidung grau hinterlegt. Aktuell nicht relevanter Text (Entwürfe zu anderen Werken und Werkvorhaben) erscheint in grau 50 %: text. Die im Zuge der Berliner Bearbeitung von Horváths Nachlass partiell vorgenommene Transkription schwer lesbarer Wörter bzw. allfällige Kommentare direkt in den Originalen erscheinen kursiv und in grau 50 %: text.

1.1.2 Lineare Textkonstitutionen (Fassungen) Textausarbeitungen des Autors, die eine lineare Lektüre zulassen, werden (ohne Faksimileabdruck) konstituiert. Hierbei handelt es sich um Fassungen oft im Rahmen umfänglicher Textstufen (TS). Folgende Prinzipien kommen zur Anwendung: x

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Schichtwahl: Im Lesetext wird entweder die Grundschicht oder die in der jeweiligen Arbeitsphase gültige Korrekturschicht einer Textstufe ediert. Die Grundschicht wird im Allgemeinen dann gewählt, wenn es um die Präsentation frühester Schreibansätze geht; in eher seltenen Fällen liegen Typoskripte auch ohne handschriftliche Korrekturschichten vor. Ein genauer Ausweis der Schichtwahl (im Fall des Vorliegens komplexer Schichtungen differenziert nach unterschiedlichen Schreibwerkzeugen und Farben – z.B. schwarze Tinte, roter Buntstift) erfolgt im chronologischen Verzeichnis. Punktuelle Streichungen und Einfügungen, die aus einer späteren Bearbeitungsphase stammen, weil das Material im Laufe des Produktionsprozesses dorthin weitergewandert ist, werden im Lesetext nicht berücksichtigt. Besondere Auffälligkeiten werden gegebenenfalls im chronologischen Verzeichnis beschrieben.

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Editionsprinzipien

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Textausarbeitungen, die linear in eine Fassung nicht sinnvoll integriert werden können, aber offensichtlich aus der gegenwärtigen Bearbeitungsphase stammen, erscheinen im Lesetext eingerückt und grau hinterlegt. Deutlich gesetzte Leerzeilen werden in entsprechender Anzahl wiedergegeben.

Emendiert (und im kritisch-genetischen Apparat ausgewiesen) werden offensichtliche Schreib- und Tippfehler des Autors sowie inkonsequente Ersetzungen oder offensichtlich falsche Setzungen von Figuren- oder Ortsnamen. Falls ein Typskript (insbesondere solche, die nicht aus Horváths Hand stammen) eine äußerst große Zahl an wiederkehrenden Tippfehlern (wie etwa fehlende oder überzählige Leerzeichen vor und nach Satzzeichen) aufweist, wird in Ausnahmefällen eine stillschweigende Emendation dieser Fehler vorgenommen. Der genaue Umfang dieser Emendation wird im Kommentar zur betreffenden Textstufe vermerkt. Zur Kenntlichmachung innerhalb der Transkription wird die Emendation beim erstmaligen Vorkommen des Fehlers im kritischen Apparat ausgewiesen und dabei auf die generelle Emendation in dieser Textstufe hingewiesen. Folgende Normierungen finden statt: Regie- und Szenenanweisungen erscheinen kursiv, Figurennamen in Kapitälchen (innerhalb von Regie- oder Szenenanweisungen nur dann, wenn sie vom Autor grafisch hervorgehoben wurden, ansonsten bleiben sie ohne Auszeichnung). Von Horváth hs. fallweise anstelle von (runden Klammern) gesetzte [eckige Klammern] werden als runde Klammern wiedergegeben. Autortext erscheint in Times New Roman 12 pt. Herausgebertext innerhalb des Autortextes wird unter Backslashes in Helvetica 9 pt. gesetzt; im Einzelnen umfassen diese Eintragungen den Abbruch von Textbearbeitungen ohne Anschluss an den folgenden Text bzw. am Ende von Texten durch den Eintrag: \Abbruch der Bearbeitung\ sowie den Verlust von Text (z.B. durch Abriss oder Blattverlust): \Textverlust\. Unsicher entzifferte Buchstaben bzw. unsicher entzifferte Wörter erscheinen als: te{x}t, {text}; unlesbare Wörter (gegebenenfalls mehrfach gesetzt) als: { }. Blattwechsel wird durch 얍 angezeigt, die Angabe des neuen Textträgers mit Signatur erfolgt in der Randspalte. Die Ansatzmarke: text kennzeichnet im Lesetext Wörter oder Textpassagen, die aus Änderungsvorgängen des Autors oder Eingriffen der Herausgeber hervorgegangen sind; nachgewiesen wird beides im kritisch-genetischen Apparat. B

N

1.1.3 Kritisch-genetischer Apparat Werden Fassungen in der Grundschicht ediert, verzeichnet der kritisch-genetische Apparat die Veränderungsprozesse nur in dieser Schicht (Sofortkorrekturen). Werden Fassungen in der Korrekturschicht ediert, verzeichnet er alle Änderungsprozesse im Übergang von der Grundschicht zur Korrekturschicht; Sofortkorrekturen in der Grundschicht werden hier nicht mehr verzeichnet, sondern als Ausgangspunkt gesetzt. Ferner weist der kritisch-genetische Apparat alle Eingriffe der Herausgeber nach (diese werden von Herausgeberkommentaren eingeleitet, wie z.B. korrigiert aus:, gestrichen:, gemeint ist:). Autortext erscheint in Times New Roman 10 pt, Herausgebertext in Helvetica 9 pt.

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Editionsprinzipien

1.2 Emendierte Endfassungen (Normierter Lesetext) Was die Gestalt der Endfassungen betrifft, werfen die bisherigen Leseausgaben Horváths zahlreiche Fragen auf. Um den Benutzern der Wiener Ausgabe einen einheitlich normierten Lesetext zu bieten, erscheinen die Endfassungen der Texte zusätzlich in emendierter Form. Die Basis der Emendation bieten die zeitgenössischen Rechtschreibregeln (Duden 1929). Gegenüber den (nicht immer konsequent gepflogenen) Eigentümlichkeiten von Horváths Schreibung ergeben sich Abweichungen vor allem in folgenden Punkten: x

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Zusammengeschriebene Wörter und Wortgruppen wie „garnicht“, „garkein“, „nichtmehr“ werden getrennt. Doppel-s anstelle von ß wird berichtigt (mit Ausnahme des Doppel-s im Format Figurennamen, z.B. G ROSSMUTTER ). Die Interjektionen, bei Horváth oft: „A“ und „O“, werden auf „Ah“ und „Oh“ vereinheitlicht. Falschschreibung von Fremdwörtern wird korrigiert, sofern es sich nicht um stilistische Setzungen handelt. Werden bereits zu Horváths Lebzeiten gemäß zeitgenössischer Rechtschreibkonvention veraltete Fremdwortschreibungen verwendet (z.B. „Affaire“, „Couvert“), so wird die Schreibung Horváths beibehalten. Fehlende Accents werden nachgetragen, ebenso fehlende Punkte, auch in „usw.“ etc. Gedankenstriche, die in Typoskripten als -- realisiert sind, erscheinen als –. Die groß geschriebene Anrede „Du“, „Ihr“ etc. wird klein gesetzt, die Höflichkeitsform erscheint groß. Ebenfalls groß bleiben persönliche Anreden in Zitaten innerhalb von Figurenreden (z.B. in von Figuren vorgelesenen Briefen, Schildern etc.). Kleinschreibung am Beginn ganzer Sätze nach Doppelpunkten und Gedankenstrichen wird korrigiert. Kommasetzung, im Einzelnen: – Überzählige Kommata in als- und wie-Vergleichen werden getilgt. – Fehlende Kommata in vollständigen Hauptsätzen, die durch „und“ oder „oder“ verbunden sind, werden ergänzt; ebenso in Relativsätzen und erweiterten Infinitiv- und Partizipialgruppen. – Nach Interjektionen wie „Ja“, „Nein“, „Na“, „Ah“, „Oh“, „Geh“ wird nur dann ein Komma gesetzt, wenn die Interjektionen betont sind und hervorgehoben werden sollen. Wenn sie in den Folgetext integriert sind, werden sie nicht durch Kommata getrennt, z.B. „Na und?“ Grammatikalische Fehler werden nur so weit korrigiert, als es sich dabei nicht um stilistische Setzungen handelt; alle dialektal geprägten Formen bleiben erhalten. Figurennamen erscheinen in Kapitälchen (auch in Regie- und Szenenanweisungen). Normierungen in Regieanweisungen: Bilden Regieanweisungen ganze Sätze (auch in Verbindung mit vorangegangenen Figurennamen), so wird abschließend ein Punkt gesetzt.

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Editionsprinzipien

2 Kommentarteil 2.1 Chronologisches Verzeichnis Das chronologische Verzeichnis beschreibt alle zu einem Werk vorhandenen Textträger und sichert die Reihung der darauf befindlichen werkgenetischen Einheiten argumentativ ab. Textträger und Text werden getrennt sigliert: Die Materialsigle bezeichnet den Textträger und unterscheidet Handschrift (H), Typoskript (T) und Druck (D). Die Textsigle bezeichnet die auf dem Textträger befindliche werkgenetische Einheit und differenziert Entwürfe (E) und Textstufen (TS) mit teilweise mehreren Ansätzen (A). Die Beschreibung des Textträgers umfasst folgende Elemente: Signatur: Wiener Signatur (ÖLA bzw. IN) des Nachlassbestands und Berliner Signatur (BS), gegebenenfalls auch andere Angaben zu Bezeichnung und Herkunft des Textträgers Materielle Beschreibung: Umfang, Papierart samt Angaben über spezielle Erscheinung, Größe in Millimeter, Angabe über Teilung, Faltung, Reißung o.ä., Wasserzeichen, Schreibmaterial, Paginierung vom Autor samt Seitenzahlen und Blattnachweisen, Eintragungen fremder Hand Der Beschreibung des Textträgers folgt eine Auflistung und formale Beschreibung der auf dem jeweiligen Textträger befindlichen Entwürfe, Textstufen und Ansätze. Umfasst ein Textträger mehrere werkgenetische Einheiten und ist eine dieser Einheiten im Entstehungsprozess später einzuordnen, wird sie erst dort verzeichnet und kommentiert. Die Beschreibung des Textträgers wird an der späteren Stelle wiederholt. Auch das Weiterwandern von Textträgern (durch Übernahme von Blättern in spätere Fassungen) wird vermerkt. Sofern die Entwürfe und Fassungen veröffentlicht sind, wird deren Erstdruck in einer abschließenden Zeile verzeichnet. Das konkrete Erscheinungsbild der Texte in den Erstdrucken weicht jedoch von den in der Wiener Ausgabe gebotenen Neueditionen oftmals gravierend ab. Der nachfolgende werkgenetische Einzelkommentar beschreibt die Entwürfe, Textstufen und Ansätze auch inhaltlich. Argumente für deren Reihung (manchmal in Form von gesetzten Wahrscheinlichkeiten) werden genannt und Beziehungen zu anderen Einheiten im werkgenetischen Material hergestellt; gegebenenfalls wird auch auf den Zusammenhang mit anderen Werken des Autors verwiesen. Folgende werkgenetische Begriffe finden Verwendung: Konzeption Als Konzeption (K) gilt eine übergeordnete Gliederungseinheit des genetischen Materials innerhalb eines Werkes. Sie bezeichnet eine meist längere Arbeitsphase, die sich durch eine prinzipielle Annahme des Autors über die makrostrukturelle Anlage des Werkes von einer anderen Phase deutlich unterscheidet. Einzelne Konzeptionen sind durch Unterschiede in der Struktur (drei Teile/sieben Bilder/etc.) und/oder wichtige Strukturelemente (zentrale Motive und Schauplätze, Figurennamen der Hauptpersonen etc.) voneinander getrennt.

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Editionsprinzipien

Vorarbeit Frühere Werkvorhaben, aus denen der Autor im Zuge der Entstehungsgeschichte eines Werkes einzelne Elemente entlehnt und/oder übernimmt, werden dem jeweiligen Werk als Vorarbeiten (VA) zugeordnet. Im Falle des Vorliegens mehrerer Vorarbeiten werden diese nach genetischen Zusammenhängen gruppiert und/oder in eine Folge gebracht. Entwurf In einem Entwurf (E) legt Horváth die Gesamtstruktur eines Werkes oder eines einzelnen Strukturelements (Bild, Kapitel, Szene, …) fest. Entwürfe sind fast ohne Ausnahme handschriftlich ausgeführt und zumeist auf ein einziges Blatt beschränkt. Zur näheren Beschreibung stehen (spezifisch für den Dramentext) folgende Begriffe zur Verfügung: x

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Strukturplan: Skizzierung des Gesamtaufbaus eines Werkes bzw. einer Werkkonzeption (enthält z.B. Gliederung in Akte oder Teile, Szenen, Titeleintrag und -varianten, Schauplätze, knappe Schilderung wichtiger Handlungselemente und erste Repliken einzelner Figuren). Konfigurationsplan: Skizzierung einzelner Szenen (= Auftritte). Skizze: Punktuell bzw. schematisch ausgearbeitete Textsequenz. Der Begriff wird auch für grafische Entwürfe (z.B. zum Bühnenbild) verwendet. Darüber hinaus können Entwürfe auch lose Notizen zu Motiven, Figuren, Schauplätzen, Dialogpassagen oder Handlungselementen enthalten.

Textstufe Eine Textstufe (TS) bezeichnet eine klar abgrenzbare Arbeitseinheit im Produktionsprozess, die intentional vom Anfang bis zum Ende einer isolierten Werkeinheit (Bilderfolge, Bild, Akt, Kapitel, Unterkapitel, …) reicht und (anders als der Entwurf) bereits der konkreten Ausformulierung des Textes dient. Materiell umfasst der Begriff alle Textträger, die der Autor in dieser Arbeitseinheit durch schriftliche Bearbeitung oder Übernahme aus einer frühen Arbeitsphase zur Zusammenstellung aktueller Fassungen verwendet hat. Ansatz Ein neuer Ansatz (A) liegt dann vor, wenn der Autor innerhalb einer Textstufe eine materielle Ersetzung von Textträgern oder Teilen davon (Blattbeschneidungen, Austausch von Blättern) vornimmt. Innerhalb einer Textstufe bilden die einander folgenden Ansätze eine genetische Reihe; textlich repräsentiert sich in ihnen in der jeweils gültigen Textschicht die jeweils aktuelle Fassung des Textes. Der letzte Ansatz einer Textstufe, d.h. der letztmalige Austausch von Textträgern, bildet die materielle Grundlage der letzten Fassung innerhalb der jeweiligen Textstufe. Die Abfolge der Ansätze innerhalb einer Textstufe wird in komplizierten Fällen in Simulationsgrafiken dargestellt. Fassung Der Begriff der Textstufe ist ein dynamischer; er bezeichnet die Gesamtheit des in einer Arbeitsphase vorliegenden genetischen Materials, das in Grund- und Korrekturschicht und in verschiedene Ansätze differenziert sein kann. Der Begriff der

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Editionsprinzipien

Fassung bezeichnet im Gegensatz dazu die konkrete Realisation eines singulären Textzustands (z.B. K1/TS7/A5 – Korrekturschicht). Die Fassungen, die im Textteil konstituiert werden, stellen eine Auswahl innerhalb einer Vielzahl von Möglichkeiten dar. Der Produktionsprozess wird von ihnen an möglichst aussagekräftig gesetzten Punkten unterbrochen und ein jeweils aktuelles Textstadium linear fixiert. Endfassung Der Begriff Endfassung bezeichnet eine Fassung, in der sich aus Autorensicht eine endgültige Textgestalt repräsentiert. Durch spätere Wiederaufnahme der Arbeit können innerhalb einer Werkgenese mehrere Endfassungen (meist auch als Abschluss einzelner Konzeptionen) vorliegen. Stammbuch Mit dem Begriff Stammbuch bezeichneten Horváths Theaterverlage in kleiner Auflage hergestellte Drucke, die nicht für den allgemeinen Verkauf, sondern für den Gebrauch an Theatern bestimmt waren. Oft tragen solche Stammbücher den Aufdruck: „Als unverkäufliches Manuskript vervielfältigt“ sowie den meist handschriftlich notierten Vermerk „ST“ (für „Stammbuch“). Mit diesen Anmerkungen wurde der für die jeweilige Aufführung autorisierte Text gekennzeichnet. Vorarbeiten und Konzeptionen, Entwürfe, Textstufen und Ansätze werden im chronologischen Verzeichnis über Siglen gereiht, die Reihung von TS und E erfolgt innerhalb der jeweiligen Kategorie, sodass sich als genetische Abfolge z.B. ergeben kann: K2/E1, K2/TS1, K2/TS2/A1, K2/TS2/A2, K2/E2, K2/E3, K2/TS3 usw.

2.2 Simulationsgrafiken In den Simulationsgrafiken wird die Abfolge von Ansätzen innerhalb einer Textstufe dargestellt und zwar in der Art, dass die Textträger mit syntagmatisch zusammengehörendem Text untereinander stehen und die ersetzenden Textträger rechts von den ersetzten positioniert werden. Ausgangspunkt der Darstellung ist der früheste Ansatz der jeweiligen Textstufe. Die Textträger werden an allen rekonstruierbaren Positionen abgebildet und damit die materiellen Vorgänge der Textentstehung und -ersetzung simuliert. Die ungefähre Form des Textträgers ist in der Grafik durch einen Rahmen wiedergegeben. Die Paginierung Horváths – so vorhanden – und die Berliner Blattnummer sind eingetragen. An seiner ersten Position wird der Textträger mit durchgezogenen Rahmenlinien dargestellt, an allen späteren mit strichlierten, wobei der Textträger so lange eingeblendet bleibt, wie er Gültigkeit hat. Die doppelt-strichpunktierten Linien kennzeichnen Schnitte, die punktierten Linien „Klebenähte“, die nach dem Ankleben von neuem Text auf den Originalen erkennbar sind. Zur Illustration der Funktionsweise dient die nachstehend abgebildete Simulationsgrafik zu einer Textstufe der Hofrat-Konzeption aus Geschichten aus dem Wiener Wald. Diese Grafik, die ausschließlich Material der Mappe BS 37 c darstellt, zeigt einen relativ gleichmäßig verlaufenden Produktionsprozess: Horváth beginnt (links oben eingetragen) auf Bl. 14 mit der Ausarbeitung des Bildes, bricht jedoch mitten auf Bl. 15a ab, setzt auf Bl. 15b mit dem Text neu an und kommt bis Bl. 17. Er kor-

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Editionsprinzipien

rigiert den Text dieser Blätter handschriftlich und macht sich am Fuß von Bl. 17 Notizen zum weiteren Textverlauf. Auf Bl. 18 und 19 schreibt er den Text von Bl. 17 ins Reine und setzt ihn dann auf Bl. 19 neu fort, bricht jedoch wieder ab, noch bevor er das Blatt vollgeschrieben hat. Bl. 19 wird dann durch Bl. 20 ersetzt, Bl. 20 gemeinsam mit Bl. 21 durch Bl. 22–24. In dieser Art schreibt sich Horváth in immer neuen Ansätzen bis ans Ende des Bildes durch. Bei Bl. 32 wendet der Autor ein Verfahren an, das ihm kürzere Rückschritte ermöglicht: Er schneidet Bl. 32a von Bl. 32 ab und klebt ein Stück mit neuem Text an. Die anschließenden Blätter 33 bis 37 sind in einem Zug geschrieben.

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Siglen und Abkürzungen

Siglen und Abkürzungen Schriftarten (allgemein) Times New Roman

Autortext

Helvetica

Herausgebertext, im Autortext in Backslashes

Diplomatische Transkriptionen (Entwürfe) text, text

getilgtes Zeichen, getilgter Text. Tilgungen über mehrere Zeilen (meist durch Kreuz) werden grafisch entsprechend dargestellt

tä|e|xt

überschriebenes und ersetzendes Zeichen

text|text|

überschriebener und ersetzender Text

text, text

unterstrichener Text

text

unterwellter Text; mit Fragezeichen überschriebener Text wird grafisch entsprechend dargestellt

[text]

eingerahmter oder in eckige Klammern gestellter Text oder Ziffer; falls über mehrere Zeilen reichend, grafisch entsprechend dargestellt Strukturierungszeichen: Stern, Punkt Strukturierungszeichen: großes

te{x}t, {text}

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\E1\

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Lineare Konstitutionen (Fassungen) B

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Ansatzmarke; kennzeichnet Wörter oder Textpassagen, die aus Änderungen des Autors hervorgegangen sind, sowie Eingriffe der Herausgeber



Blattwechsel; Angabe des Textträgers in der Randspalte eingerückt, grau hinterlegt; Textzusätze des Autors in der aktuellen Fassung, die sich in den Lesetext linear nicht integrieren lassen

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Herausgebertext im Autortext

\Textverlust\

590

Siglen und Abkürzungen

Kritisch-genetischer Apparat text\e/

nachträglich eingefügtes Zeichen

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nachträglich eingefügter Text

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rückgängig gemachte Tilgung

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mit Fragezeichen überschriebener oder mit Wellenlinie versehener Text

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durch Verweisungszeichen des Autors umgestellter und gegenseitig ausgetauschter Text

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x

neuer Textanschluss

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vom Autor geänderte Wort- oder Satzfolge

(1), (2) …

Variantenfolge

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Herausgeberkommentare in Helvetica 9 pt.

Signaturen ÖLA ÖTM

(vormals: Österreichisches) Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien Österreichisches Theatermuseum, Wien

BS

Berliner Signatur

IN

Inventarnummer

IN 221.000/3 – BS 37 b, Bl. 1

Signatur Wienbibliothek im Rathaus, Wien

ÖLA 3/W 5 – BS 32 b [1], Bl. 1v

Signatur Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien

591

Siglen und Abkürzungen

Abkürzungen K

Konzeption

VA

Vorarbeit

H

Handschrift

T

Typoskript

TS

Textstufe

A

Ansatz

E

Entwurf

Bl.

Blatt

Pag.

Pagina (vom Autor eingefügt)

hs.

handschriftlich

masch.

maschinenschriftlich

fragm.

fragmentarisch

r

recto (Vorderseite)

v

verso (Rückseite)

o. BS

ohne Berliner Signatur

592

Literaturverzeichnis

Literaturverzeichnis GW GWA GA

Horváth 1929a Horváth 1929b

Horváth 1931 Horváth 1961 Horváth 1967a Horváth 1967b Horváth 1969 Horváth 1974 KW

KW 15 KW 16 WA

WA 3

WA 4

WA 6

WA 8

WA 9

Ödön von Horváth: Gesammelte Werke in 4 Bänden. Hg. v. Dieter Hildebrandt/Walter Huder/Traugott Krischke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970–71. Ödön von Horváth: Gesammelte Werke in 8 Bänden. Hg. v. Traugott Krischke/Dieter Hildebrandt. 2., verbesserte Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978. Ödön von Horváth: Gesammelte Werke in 4 Bänden. Hg. v. Traugott Krischke unter Mitarbeit von Susanna Foral-Krischke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988. (= Gedenkausgabe anlässlich des 50. Todestages, Abdruck von Texten und genetischem Material aus den Gesammelten Werken und Bibliothek Suhrkamp-Bänden, der 5. Band mit Skizzen, Fragmenten und einem Gesamtkommentar ist nicht erschienen) Ödön von Horváth: Sladek oder die Schwarze Reichswehr. In: Berliner Tageblatt, 5. Beiblatt, 27.1.1929. Ödön Horváth: Sladek, der schwarze Reichswehrmann. Historie aus dem Zeitalter der Inflation. Drei Szenen aus dem ersten Akt. In: Das Theater. Illustrierte Monatsschrift für die Welt der Bühne, X. Jg., 1929, H. 4, Zweites Februarheft, S. 81–88. Ödön von Horváth: Italienische Nacht. Berlin: Propyläen 1931. (Copyright: Arcadia Verlag 1930) Ödön von Horváth: Stücke. Hg. v. Traugott Krischke. Mit einem Nachwort von Ulrich Becher. Reinbek: Rowohlt 1961. (= Rowohlt-Paperback, Bd. 3) Ödön von Horváth: Italienische Nacht. Volksstück. In: Anonym (Hg.): Volksstücke. Mit einem Nachwort von Ludwig Hoffmann. Berlin: Henschel 1967, S. 151–196. Ödön von Horváth: Sladek, der schwarze Reichswehrmann. In: Theater heute, Heft 8, 1967, S. 54–60. Ödön von Horváth: Dramen. Hg. v. Dora Huhn. Berlin (Ost): Volk und Welt 1969. Ödön von Horváth: Italienische Nacht. Ein Wochenendspiel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. (= Bibliothek Suhrkamp, Bd. 410) Ödön von Horváth: Kommentierte Werkausgabe in 14 Einzelbänden. Hg. v. Traugott Krischke unter Mitarbeit von Susanna Foral-Krischke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984–88. Ödön von Horváth: Himmelwärts und andere Prosa aus dem Nachlass. Hg. v. Klaus Kastberger. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. Ödön von Horváth: Ein Fräulein wird verkauft und andere Stücke aus dem Nachlass. Hg. v. Klaus Kastberger. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. Ödön von Horváth: Wiener Ausgabe sämtlicher Werke. Historisch-kritische Edition am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Hg. v. Klaus Kastberger. Berlin: de Gruyter 2009ff. Ödön von Horváth: Geschichten aus dem Wiener Wald. Hg. v. Erwin Gartner und Nicole Streitler-Kastberger unter Mitarbeit von Charles-Onno Klopp, Kerstin Reimann und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2015. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 3) Ödön von Horváth: Kasimir und Karoline. Hg. v. Klaus Kastberger und Kerstin Reimann unter Mitarbeit von Julia Hamminger und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2009. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 4) Ödön von Horváth: Eine Unbekannte aus der Seine. Hin und her. Hg. v. Nicole Streitler-Kastberger und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2012. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 6) Ödön von Horváth: Figaro läßt sich scheiden. Hg. v. Nicole Streitler unter Mitarbeit von Andreas Ehrenreich und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2011. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 8) Ödön von Horváth: Don Juan kommt aus dem Krieg. Hg. v. Nicole Streitler unter

593

Literaturverzeichnis

WA 10

WA 11

WA 14

WA 15

WA 16

Mitarbeit von Julia Hamminger und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2010. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 9) Ödön von Horváth: Der jüngste Tag. Ein Dorf ohne Männer. Hg. v. Nicole Streitler und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2011. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 10) Ödön von Horváth: Ein Sklavenball. Pompeij. Hg. v. Martin Vejvar unter Mitarbeit von Sabine Edith Braun und Nicole Streitler-Kastberger. Berlin: de Gruyter 2015. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 11) Ödön von Horváth: Der ewige Spießer. Hg. v. Klaus Kastberger und Kerstin Reimann unter Mitarbeit von Julia Hamminger und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2010. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 14) Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott. Hg. v. Nicole Streitler-Kastberger unter Mitarbeit von Sabine Edith Braun und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2013. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 15) Ödön von Horváth: Ein Kind unserer Zeit. Hg. v. Nicole Streitler-Kastberger unter Mitarbeit von Sabine Edith Braun und Martin Vejvar. Berlin: de Gruyter 2014. (= Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 16)

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Literaturverzeichnis

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595

Literaturverzeichnis

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596

Inhalt (detailliert)

Inhalt (detailliert)

Sladek oder: Die schwarze Armee / Sladek, der schwarze Reichswehrmann Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Lesetext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Konzeption 1: Sladek oder: Die schwarze Armee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endfassung in drei Akten (elf Bildern) (K1/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prosaexposé (K1/TS2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21 22 72

Konzeption 2: Sladek, der schwarze Reichswehrmann Endfassung in drei Akten (K2/TS1) . . . . . . . . Werkverzeichnis (K2/E1) . . . . . . . . . . . . . Werkverzeichnis (K2/E2) . . . . . . . . . . . . . Werkverzeichnis (K2/E4) . . . . . . . . . . . . .

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73 74 106 108 110

Sladek oder: Die schwarze Armee. Historie (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113

Sladek, der schwarze Reichswehrmann. Historie (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kommentar

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Chronologisches Verzeichnis Konzeption 1 . . . . . . . Konzeption 2 . . . . . . . Endfassungen, emendiert

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193 193 197 201

Übersichtsgrafik Tab1: Textvergleich K1/TS1 und K2/TS1 . . . . . . . . . . . . . . . . . .

203

Ein Wochenendspiel / Italienische Nacht Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

209

Lesetext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

233

Vorarbeit: Wochenend am Staffelsee – Lustspiel . . . . . Figurenlisten (VA/E1–E2) . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in drei Akten (VA/E3) . . . . . . . . . Strukturplan in drei Akten und neun Bildern (VA/E4) Werktitel (VA/E5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konfigurationspläne und Dialogskizze (VA/E6) . . . .

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235 236 238 240 242 244

Konzeption 1: Ein Wochenendspiel in drei Akten . . . . . Strukturplan in zwei Akten, Figurenlisten (K1/E2–E4) . Figurenliste (K1/E5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in drei Akten (K1/E6) . . . . . . . . . . Werkverzeichnis, Strukturplan in drei Akten (K1/E7–E8) Strukturplan in drei Akten und sieben Bildern (K1/E10)

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247 248 250 252 254 256

597

Inhalt (detailliert)

Strukturplan in drei Akten und elf Bildern (K1/E11) . . . . . . . . Strukturplan in drei Akten und acht Bildern, Notiz (K1/E12–E13) . . Werkverzeichnis, Figurenliste (K1/E14–E15) . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung des 1. und 2. Bildes des I. Aktes (K1/TS1) Strukturplan in drei Akten und elf Bildern (K1/E16) . . . . . . . . Strukturpläne in drei Akten (K1/E17–E19) . . . . . . . . . . . . . . Notizen zum II. Akt mit Replik (K1/E20) . . . . . . . . . . . . . . Notizen zum III. Akt (K1/E21) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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258 260 262 265 266 268 270 272

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275 276 278 280 282 284 286 288 290 292 294 296

Konzeption 3: Ein Wochenendspiel in sechs Bildern . . . . . . . . . . . . . Strukturplan in vierzehn Bildern (K3/E1) . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkverzeichnisse (K3/E2–E3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung „Der Schlemihl“ (K3/TS1) . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung des ersten Bildes „Der Feldherrnhügel“ (K3/TS2) Endfassung Ein Wochenendspiel (K3/TS3) . . . . . . . . . . . . . . . . .

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299 300 306 308 309 311

Konzeption 4: Italienische Nacht in sieben Bildern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung einiger Bilder (K4/TS1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endfassung Italienische Nacht (Arcadia-Fassung) (K4/TS2) . . . . . . . . . . . . . .

343 344 349

Konzeption 5: Italienische Nacht in sieben Bildern – Adaptierungsarbeiten Dialogskizze, Repliken, Strukturplan in drei Bildern, Notizen (K5/E1–E6) Fragmentarische Fassung des III. Bildes (K5/TS1/A1) . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung des 3. Bildes (K5/TS1/A2) . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung eines Bildes (K5/TS2/A1) . . . . . . . . . . . Replik (K5/E7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung eines Bildes (K5/TS2/A2) . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung eines Bildes (K5/TS2/A3) . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung eines Bildes (K5/TS2/A4) . . . . . . . . . . . Fragmentarische Fassung (K5/TS3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endfassung Italienische Nacht (Propyläen-Fassung) (K5/TS4) . . . . . .

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383 384 386 388 389 390 392 393 395 397 398

Ein Wochenendspiel. Volksstück (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

433

Italienische Nacht. Volksstück (Arcadia-Fassung) (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

461

Italienische Nacht. Volksstück (Propyläen-Fassung) (Endfassung, emendiert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

495

Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

531

Chronologisches Verzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

533 533

Konzeption 2: Ein Wochenendspiel in sieben Bildern . . . . Strukturplan in zwei Teilen und sieben Bildern (K2/E1) . . Strukturplan in sieben Bildern (K2/E2) . . . . . . . . . . Strukturplan in sieben Bildern (K2/E3) . . . . . . . . . . Strukturpläne in sieben Bildern (K2/E4–E7) . . . . . . . . Strukturpläne (K2/E8–E12) . . . . . . . . . . . . . . . . . Werktitel, Figurenliste (K2/E13–E14) . . . . . . . . . . . . Strukturpläne in sieben Bildern, Dialogskizze (K2/E15–E17) Notizen (K2/E18–E19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werktitel, Strukturplan in sieben Bildern (K2/E20–E22) . . Strukturplan in sieben Bildern (K2/E23) . . . . . . . . . . Strukturplan in sieben Bildern (K2/E24) . . . . . . . . . .

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Inhalt (detailliert)

Konzeption 1 . . . . . . . Konzeption 2 . . . . . . . Konzeption 3 . . . . . . . Konzeption 4 . . . . . . . Konzeption 5 . . . . . . . Endfassungen, emendiert

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537 547 554 559 562 573

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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Übersichtsgrafik Tab2: Textvergleich K3/TS3, K4/TS2 und K5/TS4

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Editionsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Textteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Genetisches Material . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Diplomatische Transkription und Faksimile (Entwürfe) 1.1.2 Lineare Textkonstitution (Fassungen) . . . . . . . . . 1.1.3 Kritisch-genetischer Apparat . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Emendierte Endfassungen (Normierter Lesetext) . . . . . . . 2 Kommentarteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Chronologisches Verzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Simulationsgrafiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Siglen und Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt (detailliert)

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