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German Pages 262 Year 2020
Gunter Gebauer Wie wird man ein Mensch? Anthropologie als Grundlage der Philosophie
Edition Moderne Postmoderne
Gunter Gebauer, geb. 1944, ist Professor emeritus für Philosophie am Institut für Philosophie an der FU Berlin. Von 1999 bis 2010 war er Mitglied des Sonderforschungsbereichs »Kulturen des Performativen«, 2007 bis 2012 gehörte er dem Exzellenzcluster »Languages of Emotion« an der Freien Universität Berlin an. Als Gastprofessor lehrte er in Paris, Straßburg und Hiroshima (Japan). 2013-2018 war er Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des deutsch-französischen Forschungsinstituts Centre Marc Bloch in Berlin. Seit 2015 ist er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Collège International de Philosophie in Paris. 2018 wurde er mit dem Ethikpreis des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) ausgezeichnet.
Gunter Gebauer
Wie wird man ein Mensch? Anthropologie als Grundlage der Philosophie
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Inhalt
Einführung ...................................................................9
I. Sich machen 1. Vom Standpunkt der Anthropologie ................................... 25 Die drei Etappen der Anthropologie .......................................... 25 Das anthropologische Interesse ............................................. 27 Die Qualität des Mensch-Seins ................................................ 31 Mängelwesen und Selbst-Schöpfung ......................................... 35 Die Situation des In-der-Welt-Seins .......................................... 39 Historische Anthropologie .................................................... 41 2. Welterzeugen der Hand ............................................... Funktionen der Hand ........................................................ Erzeugen von Ordnungen durch den Handgebrauch .......................... Verinnerlichung und Subjektivierung......................................... Soziale Ordnung und symbolische Welten .................................... Der Gebrauch der Hände als Vorstufe zur Sprache............................
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3. Der Mensch als Organismus und Mechanismus........................ 63 Normen setzen.............................................................. 65 Das Normale und das Pathologische ......................................... 66 Abweichung von der Norm.................................................... 71
Normstörung in der Ästhetik ................................................ 74 Menschlicher Organismus und Technik....................................... 76 4. Bewegungen als Prinzip des Sozialen .................................. 81 Der Körper als Vermittler von Subjekt und Gesellschaft ........................ 81 Bewegungen und soziale Ordnungen ......................................... 86 Der common body........................................................... 89 Die soziale Formung des Körpers ............................................ 93 Verinnerlichung von sozialer Ordnung........................................ 95 5. Die Zweite Natur als Habitus .......................................... 101 Die Zweite Natur bei Aristoteles ............................................. 102 Die Zweite Natur bei Hegel .................................................. 106 Die Zweite Natur im Lichte von Bourdieus Habituskonzept .................... 110
II. Das Äußere und das Innere 6. Die Geste als Vermittlung von Allgemeinheit und Ich .................. 121 Innerer und äußerer Aspekt der Geste ....................................... 122 Gesten und Emotionen ...................................................... 124 Interpretation von Gesten ................................................... 126 Der symbolische Raum von Gesten........................................... 128 7. Spiel und Begehren .................................................. 133 Die Bestimmung des Eros als Leere und Fülle ................................134 Die Konkurrenzsituation des Sports..........................................139 Begehren als Streben nach Fülle.............................................143 8. Was heißt leidenschaftlich handeln?.................................. 147 Leidenschaft als inneres Geschehen ......................................... 147 Interaktion und innerer Vollzug der Leidenschaft............................. 149 Teilhabe an der Leidenschaft ................................................ 151 Veräußerlichung von Emotionen und ihre Wirkung............................ 154 Die Gemeinsamkeit von Handelndem und den Anderen ....................... 156
9. Die Verletzlichkeit der Menschen ..................................... 161 Ähnlichkeit der Körper ...................................................... 161 Der potentielle Fall .......................................................... 165 Verletzlichkeit der Körper als anthropologisches Minimum.................... 167 Exkurs: Über körperliche Erkenntnis und Zeitlichkeit ........................ 170 10. Verstehen durch Empathie............................................ 175 Verstehen unterhalb der Bewusstseinsschwelle .............................. 177 Die Verschaltung von Sehen und Tasten .....................................180 Erste Sprachspiele .......................................................... 182 Emotionen und Metaphern................................................... 184 Lebendige Metaphern .......................................................188
III. Selbstvergewisserung 11. Wie können wir uns selbst erfassen? ................................. 195 Ist unser Selbst gesetzt? .................................................... 197 Bilden wir einen Entwurf des Selbst? ........................................ 199 Die drei Ebenen der Bildung des Selbst ..................................... 202 Das Selbst in seinen Handlungen ........................................... 204 Bewusstsein und Reflexion ................................................. 205 Selbstbewusstsein ......................................................... 208 Soziale und subjektive Identität ............................................. 211 12. Das Aufleuchten des Unverfügbaren ................................. 215 Der subjektive Weltbezug.................................................... 216 Steuert das Bewusstsein meinen Sprachgebrauch? .......................... 218 Wittgensteins Argument der »Privatsprache«................................ 221 Das Unverfügbare im Aspektwechsel ....................................... 225 13. Die Hermeneutik des Subjekts als Frage der Anthropologie .......... 229 Der neue »Streit der Fakultäten« ........................................... 230 Die Umformung natürlicher in kulturelle Merkmale .......................... 235
Nietzsches Metapherntheorie............................................... 238 Re-Konfiguration ............................................................ 241 Anthropologie als Selbstvergewisserung .................................... 245 Literatur .................................................................. 249
Einführung
Die Geschichte des Menschen beginnt als Naturgeschichte. Wie weit sie in der Evolution der Arten zurückreicht, an welchem Punkt sich eine menschliche Spezies entwickelte, weiß man nicht mit Bestimmtheit. Es ist Sache der Evolutionsbiologie, darüber zu befinden, wann die Entwicklung des Menschen einen von anderen Tieren unterschiedenen Verlauf nahm. Welche Grundzüge der Geschichte des Menschen hier hervortraten, gehört zu den Fragen einer philosophischen Disziplin, der Anthropologie: Aus dem Naturwesen entwickelt sich durch Aufrichtung ein neues, vom alten unterschiedenes Naturwesen (siehe Kapitel 1 in diesem Band). Dieser Entwicklungsschritt wäre nicht ohne eine Reihe anatomischer Veränderungen (der Wirbelsäule, des Beckens, der Position des Schädels) möglich gewesen. Was daraus entsteht, öffnet ein neues Feld von Möglichkeiten, die es vorher in der Natur nicht gab: eine Erweiterung der visuellen Wahrnehmung, damit die Entstehung eines Handlungsfelds vor dem Körper, das die Kooperation mit Artgenossen begünstigt; die Ausbildung der Füße zum Stehen und Laufen, die eine schnelle und ausdauernde Fortbewegung ermöglicht. Soweit befindet sich meine Beschreibung noch im Bereich der Biologie. Ein vollkommen neuer Aspekt tritt mit der Freisetzung der Hände von Aufgaben der Vorwärtsbewegung hinzu. Anders als bei anderen Spezies werden beim Menschen die vorderen Extremitäten ausschließlich für neue Aufgaben eingesetzt. Sie werden für diese ausgebildet und spezialisiert. An diesem Punkt wird die naturwissenschaftliche Beschreibung von einer kulturwissenschaftlichen Deutung überlagert. Als Merkmal von Kulturentstehung kann man ansehen, dass der Mensch
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Wie wird man ein Mensch?
zwischen den in zigtausend Jahren gebildeten körperlichen Fertigkeiten – Aufrichtung, Stehen, Gehen, Blicken, freier Gebrauch der Hand – einen systematischen Zusammenhang herstellt. Nach einer langen Zeit der Entwicklung und Koordination seiner unterschiedlichen Möglichkeiten verfügt der menschliche Körper über zunehmend komplexe Verwendungsmöglichkeiten der Hände und über eine unterschiedliche Spezialisierung von rechter und linker Hand, die zu je speziellen Tätigkeiten eingesetzt werden. In maßgeblichen anthropologischen Untersuchungen werden diese als »Körpertechniken« dargestellt.1 Sie sind Techniken, für die es ursprünglich keine Vorbilder, keine Lehrer, keinen Plan gab. André Leroi-Gourhan weist auf den experimentellen Charakter des freien Gebrauchs der Hände hin, die durch ihre Freisetzung eine hohe Beweglichkeit im Blickfeld vor dem Körper bei gleichzeitig sicherem Stand des Handelnden erhalten.2 Ausgebildet werden diese Techniken durch Übung und systematische Anwendung in der Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Lebenswelt. Die Ausformung von Techniken erzeugt organisierte Handlungsweisen des Menschen, mit der er sein In-der-Welt-Sein bewältigt. Wenn man eine Situation der Menschheitsgeschichte sucht, in der sich seine biologische Evolution eindeutig zu Kultur entwickelt, dann ist sie hier gegeben. Was hier zum ersten Mal erscheint, ist die Tätigkeit eines Wesens mit einem absichtsvollen Einsatz eines für bestimmte Techniken ausgebildeten Organs: für das Greifen, Schlagen, Drehen, Schneiden. Es sind Techniken der Materialbearbeitung, die den Zweck haben, die gegebenen Stoffe so zu verändern, dass sie für bestimmte Aufgaben verwendet werden können. Die Hand ist nicht nur das erste Werkzeug des Menschen. Wie Friedrich Engels früh erkannte, dient sie dazu, andere Werkzeuge herzustellen.3 Karl Marx fügte hinzu, dass der Mensch diese planvoll und mit genauen Absichten erzeuge4 – mit Bezug auf Hegel hätte er sagen können »mit Bewusstsein«. Die beiden 1 2 3 4
Marcel Mauss: »Die Techniken des Körpers«, S. 197-220. André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Friedrich Engels: »Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen«, S. 449. Karl Marx: Das Kapital, S. 193.
Einführung
Begründer des Materialismus verweisen mit diesen Gedanken auf die Bedeutung menschlicher Arbeit für den Ursprung von Kultur. Kulturelle Errungenschaften werden auf nicht-biologische Weise tradiert. Sie werden durch Lernen oder andere Vermittlung von Erkenntnis und Handlungsweisen an die Mitglieder und spätere Generationen derselben Spezies weitergegeben. Auch einige tierische Arten, wie nicht-menschliche Primaten, bringen Ansätze von Kultur hervor. Allerdings bleibt es bei vereinzelten kulturellen Techniken, ohne die systematische Weiterführung, die menschliche Kultur kennzeichnet. Frühe technische Errungenschaften von Menschen werden fortentwickelt, ihr Gebrauch wird auf andere, immer größer werdende Anwendungsfelder übertragen, und sie verbreiten sich in Populationen an weit entfernten Orten. Dies lässt sich an technischen Besonderheiten klar erkennen. So finden sich an vielen erforschten Aufenthaltsorten von Menschen im Paläolithikum Spuren der Bearbeitung von Steinen, die offensichtlich von gleichartigen Schlagtechniken hervorgerufen wurden: Die Formen der hergestellten Klingen, Spitzen und der als Schlagwerkzeug verwendeten Steine weisen frappierende Ähnlichkeiten auf. Auch ihre Verwendung als Messer, Speer- und Pfeilspitzen folgt gleichen Mustern. Sie sind Zeugnisse menschlicher Errungenschaften, die für ihre Produktion notwendig waren, wie Siedlungen und Formen gemeinschaftlicher Tätigkeit, also systematisch ausgebildeter und zusammen mit anderen Menschen eingesetzter kultureller Formen. An den vorgefundenen Siedlungsformen und technischen Artefakten lässt sich eine hoch entwickelte Kenntnis der Materialien und Effizienz menschlicher Handlungen erkennen. Die frühen Zeugnisse von Menschen zeigen, dass die biologischen Errungenschaften offensichtlich der Entwicklung kultureller Formen dienten. So kann die vielfältig einsetzbare Hand als ein wichtiges Modell oder Vorbild für kulturelle Formen angesehen werden. Die Fähigkeiten, Feuer zu entzünden, Holz zu bearbeiten, große Tiere zu töten und als Nahrung zuzubereiten, setzen ihre intelligente Verwendung voraus. Es lässt sich spekulieren, dass die Möglichkeit zu kulturellen Tätigkeiten dieser Art von Natur aus angelegt oder sogar (z.B. durch Instinkte) vorbereitet ist. Am Einsatz der Hand sieht man aber, wie der
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Wie wird man ein Mensch?
Mensch die biologisch gegebenen Voraussetzungen mit eigenen Handlungen nutzt und zu etwas Neuem, das in der Natur nicht gegeben ist, weiterentwickelt: wie er durch eigene Initiative die Steuerung und Ausgestaltung seiner Handlungen übernimmt. Damit ist der Ausgangspunkt des anthropologischen Denkens angegeben, das in diesem Buch dargestellt wird. Um die philosophische Beschreibung der Entstehung von Kultur aus natürlichen Voraussetzungen geht es in Teil I meiner Überlegungen. Sie führen einen Gedankengang weiter, der im 18. Jahrhundert von Herder angeregt wurde:5 Die Menschen machen sich selbsttätig zu dem, was sie werden (siehe Kapitel 1). Friedrich Nietzsche spitzt den Gedanken zu der Formulierung zu: »Werde, der Du bist!«6 Und führte ihn mit scharfen Strichen weiter: Der Mensch ist im Würfelspiel der Natur ein Glückswurf.7 Es ist seine Sache, die Bedeutung dieses Wurfs zu begreifen: Die Natur hat ihn unfertig gelassen. An ihm ist es, sich weiter zu entwickeln und die Führung über sich zu gewinnen. Nach Gehlens dramatisierender Darstellung war die Weiterentwicklung zu einem denkenden Wesen seine einzige Chance, das Problem des Überlebens seiner Spezies zu lösen – aufgrund seines Mangels an natürlicher Ausstattung hätte er sonst untergehen müssen. So sehr muss man die Existenz des Menschen nicht problematisieren. Es genügt festzustellen, dass der Mensch ein fragiles Wesen ist. Er hat hunderttausende Jahre seiner Existenz daran gearbeitet, die Mittel und Eigenschaften auszubilden, die ihn anti-fragil machten, das heißt seinen Körper trotz seiner vergleichsweise mangelhaften natürlichen Ausstattung zu schützen.8 Das entscheidende Prinzip seiner Entwicklung war die Umformung seiner natürlichen Eigenschaften zu Techniken des Körpers. Den Gedanken eines solchen technical turn entwickelte seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine Reihe französischer Forscher,
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Johann Gottfried Herder: Ideen zur Geschichte der Philosophie der Menschheit. Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, S. 297. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, S. 830f. Nassim N. Taleb: Antifragilität.
Einführung
die ethnologische, soziologische, wissenschaftstheoretische und philosophische Kenntnisse miteinander verbanden. Erste einflussreiche Arbeiten wurden von Robert Hertz über den kulturellen Gebrauch der Hand9 und von Marcel Mauss über die technische Umformung des Körpers verfasst10 (siehe Kapitel 2 in diesem Band). Beide zeigen, jeder auf seine Weise, welch enormes Potential diese Entwicklung freigesetzt haben musste. Als technisches Instrument formen die Hände Werkzeuge und Nachbilder der Welt. Mit ihren ordnenden Bewegungen von rechter und linker Hand erzeugen sie eine moralische und soziale Symbolik, die bis heute nachwirkt. Nicht weniger nachhaltig funktioniert der technisierte Körper (siehe Kapitel 3). Mit geregelten Bewegungen bringt er eine kulturelle Ordnung in die Welt – eine Ordnung, die sowohl intern, in ihm selbst, angelegt ist als auch extern in den Regeln der Welt der Menschen wirkt. Als soziale Regeln überformen sie die natürlichen Lebensrhythmen. An diesen Entwicklungen sieht man, wie wenig angemessen es ist, vom Menschen im Singular als von »dem Menschen« zu sprechen. Kulturelle Entwicklungen entstehen in menschlichen Gemeinschaften, vereint von kollektiven Bewegungen und Rhythmen, von gemeinsamen Übungs- und Arbeitsprozessen und geführt von Normen, die ihre Mitglieder verinnerlicht haben (siehe Kapitel 4). Regeln wirken nicht als innere Instanzen im Kopf der Handelnden. Von der Gemeinschaft wird beurteilt, ob sie diese tatsächlich einhalten. Im Fall von Abweichungen wird das Verhalten neu justiert. Die Gemeinschaft spielt bei Regelungsprozessen eine entscheidende Bedeutung – sie bildet das Handlungsgedächtnis ihrer Mitglieder. Je stärker der soziale Anteil an den Regeln ist, desto wichtiger wird das Urteil der Gemeinschaft darüber, ob ein Handeln regelgemäß ist. Wenn Aristoteles recht hat, sind Menschen von der Natur auf das gemeinschaftliche Zusammenspiel vorbereitet: Der Mensch, als zoon politikón, als Gemeinschaftstier ist so beschaffen, dass er ein Zusammen9 10
Robert Hertz: »La prééminence de la main droite. Etude sur la polarité religieuse«. Siehe Anmerkung 1.
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Wie wird man ein Mensch?
leben mit anderen Menschen natürlicherweise organisiert. Die Regeln und Normen der Gemeinschaft werden im praktischen Handeln angeeignet und geübt, so dass sie zur Zweiten Natur des Menschen werden (siehe Kapitel 5 in diesem Band). Eine gemeinsame Existenz mit anderen führen, das Leben arbeitsteilig organisieren, die Welt symbolisch nachbauen und eine Sprache entwickeln, all dies gewinnt allmählich ein Eigenleben, bei dem sich nicht mehr klar unterscheiden lässt, was natürlich und was künstliche Schöpfung ist. Arnold Gehlen hat für die Entwicklung früher symbolischer Welten eine prägnante Formel geprägt: Zwischen Welt und Menschen schiebt das Handeln eine »›Zwischenwelt‹ aktiv gesetzter Symbolik«.11 Für die von Menschen geschaffene Welt ist charakteristisch, dass nicht mehr unterschieden werden kann, ob die Menschen die Welt erzeugen oder ob sie, als handelnde, geregelte Wesen, von der Welt hervorgebracht werden. Wenn die Gewohnheit die Zweite Natur des körperlichen Handelns ist, so ist die Erzeugung einer symbolischen Zwischenwelt die Zweite Natur der materiellen Handlungswelt. In Teil II dieses Buches geht es um die Verinnerlichung des regelhaften Verhaltens – eine weitere bedeutende Entwicklung des Menschen. Sie führt wesentlich zur Gestaltung des menschlichen Innenlebens (siehe Kapitel 6). Das Innere gilt üblicherweise als das unverwechselbar »Eigene« des Menschen. In der hier entwickelten Perspektive wird diese Auffassung relativiert: Das Innere ist keine absolut eigene, individuelle Schöpfung des Menschen. Es entsteht zuerst als eine Antwort auf die Anforderungen der Gemeinschaft an die Menschen (siehe Kapitel 7). Seine ersten Formen bilden sich aus der Verinnerlichung von sozialen Regeln, von Bewertungen fremder und eigener Handlungsweisen und von Erwartungen an das zukünftige Handeln. In den frühen Entwicklungsphasen der Sprache findet man das Eigene der Menschen noch nicht in inneren Bedeutungsakten, sondern in äußeren Gesten, die innere Bewegungen ausdrücken. Mit ihren emotionalen, empathischen oder konstatierenden Ausdrucksformen vermitteln sie den Anderen eine Vorstellung vom Inneren der Handelnden. Gesten bieten eine 11
Arnold Gehlen: »Ein Bild vom Menschen«, S. 51.
Einführung
Vermittlung von innerem Geschehen und äußeren Ausdrucksprozessen (siehe Kapitel 8). Was im Inneren geschieht, kann das Subjekt im unmittelbaren Vollzug fühlen. Aber es kann zuerst noch nicht benennen, was es fühlt.12 Im Äußeren manifestiert es sich in allgemein bekannten Bewegungsmustern. Gesten bilden ein mit anderen geteiltes Geschehen. In der Geschichte des Menschen finden die Dialogpartner Möglichkeiten, sie durch die verbale Sprache zu ersetzen. Der Weg dahin führt über die in der gestischen Kommunikation entwickelte Struktur des Austausches. An die Stelle des Gestikulierenden tritt der Sprecher, der sich in der ersten Person äußert. Im Sprechen über seine Emotionen, das uns hier besonders interessiert, ist er als »ich«-Sager in einer Rolle mit besonderer Autorität.13 Er ist derjenige, der in der artikulierten Sprache über sich selbst spricht und ausdrückt, was er fühlt. Der angesprochene Andere wird zur zweiten Person. Im Verhältnis zum Ich ist er ein beteiligter Mit-Handelnder. In dieser Rolle wird von ihm erwartet, dass er versteht, was das Ich über sich sagt. Er entwickelt ein Verständnis der Gefühle und Absichten des »ich«-Sagers. Mit seinem Akt des Verstehens drückt er seine Anerkennung des Handelnden aus. Die so gebildete Struktur von »ich«-Sager und zweiter Person eröffnet die Möglichkeit, dass Sprecher und Anderer ihre Positionen wechseln: Aus dem »ich«-Sager wird ein Rezipient, ein Du, und aus dem Angesprochenen ein »ich«-Sager. Mit dieser Umkehrbarkeit ist ein primitiver Dialog mit austauschbaren Positionen entstanden – eine Organisation der Kommunikation, die Ludwig Wittgenstein als »Sprachspiel« bezeichnet.14 Ein Sprachspiel ist mehr als eine Organisation von Positionswechseln. Es ist die Erfindung einer Regelstruktur. Sie erhält Leben, dadurch dass sie gebraucht wird und in ihrem Gebrauch eine symbolische Welt konstituiert. Insofern sie auf Regeln beruht, die von den Mit-
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Siehe Gunter Gebauer: »Wie können wir über Emotionen sprechen?« Siehe zu diesem Gedanken und dem Begriff des »ich«-Sagers Ernst Tugendhat: Egozentrizität und Mystik, Kapitel 3. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 26 ff.
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Wie wird man ein Mensch?
gliedern der Sprachgemeinschaft gemeinsam geteilt werden, besitzt sie eine größere Eigenständigkeit als die an praktisches Handeln gebundene symbolische Zwischenwelt. Wie auf der früheren Entwicklungsstufe werden in Sprachspielen Techniken erworben und weiter entwickelt. Hier sind es Techniken des Sprachgebrauchs, des Denotierens, Bezeichnens, Unterscheidens, des Ausdrucks. Sie werden in der gemeinschaftlichen praktischen Verwendung standardisiert; ihre Bedeutungen verfestigen sich; ihr Gebrauch wird geregelt; durch Variationen und Erfindung neuer Gesten werden ihre Möglichkeiten vervielfacht und spielerisch exploriert. Dem Spiel kommt in der Entwicklung des Menschen eine so große Bedeutung zu, weil es, anders als das Spiel der Tiere, nicht auf der Stufe von Bewegungsspielen stehen bleibt. Es konstituiert symbolische Gebilde mit variablen Situationen und besonderen Bedeutungen, die ihm eine eigene Verständlichkeit verleihen. Spiele können wiederholt, vervielfältigt und verbreitet werden. Man kann sie unter mehreren Aspekten bewerten, unter Aspekten der Einfachheit, des Schwierigkeitsgrads, der Komplexität und Spannung, aber auch entsprechend der subjektiven Interessen der Spieler. In einfachen Spielen werden Gebrauchsweisen der verbalen Sprache vorbereitet. Ludwig Wittgenstein macht auf die hinweisende Definition, verbunden mit Gesten des Zeigens, aufmerksam. Michael Tomasello hebt die ikonischen Gesten hervor, die beispielsweise mit den Händen ein Gefäß nachahmen, das wie beim Trinken an den Mund geführt wird.15 In beiden Fällen ist die Voraussetzung eine soziale Praxis, in der die gezeigten Dinge verwendet werden. Der Umgang mit ihnen lenkt die Aufmerksamkeit auf das Gemeinte und gibt ihnen Bedeutung. Sprechen über Emotionen gelingt, wenn die zweite Person eine Vorstellung davon erhält, welche Prozesse den »ich«-Sager im Inneren bewegen (siehe Kapitel 9 in diesem Band). Zu diesem Austausch kommt es, weil Menschen zu Empathie fähig sind. Anders als man früher glaubte, versetzt sich der Rezipient der empathischen Reaktionen
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Michael Tomasello: Die Ursprünge menschlicher Kommunikation, S. 77 ff.
Einführung
nicht in die andere Person hinein. Vielmehr werden in den emotionalen Regionen seines Gehirns ähnliche Reaktionen ausgelöst wie beim »ich«-Sager. Wenn dieser sich verletzt, spürt er nicht dessen Schmerz; vielmehr reagiert sein eigenes Schmerzzentrum mit einer virtuellen Schmerzreaktion (siehe Kapitel 10). Auf diese Weise erfasst er, was in seiner Wahrnehmung im Anderen vor sich geht. Empathische Reaktionen können mit immer feiner ausgebildeten Fähigkeiten und Kriterien das Innere von Anderen erforschen. Durch die Positionswechsel in dialogischen Sprachspielen wird das Verständnis von emotionalen Gesten zunehmend besser erfasst. Freilich bedeutet das verfeinerte Verständnis nicht eine höhere Akzeptanz des Anderen. Es kann sogar das Gegenteil der Fall sein, wenn man dessen Handlungsmotive ablehnt und sich seinen Absichten verweigert. Auf unsere Überlegungen zu den beiden Dialogpositionen von »ich«-Sager und zweiter Person lässt sich eine Differenzierung aufbauen, die mit dem Erwerb der (prädikativen) Sprache bedeutsam wird. Man kann zwei Modi der Identität einer Person unterscheiden: Eine Person kann sich und den Anderen in einer subjektiven Perspektive wahrnehmen. Sie kann aber auch den Standpunkt des Anderen einnehmen und in dieser sozialen Perspektive, von außen, auf sich selbst und ihre Beziehungen zum Anderen blicken. Beide Perspektiven lassen sich nicht vollständig zur Deckung bringen. Mit der sozialen Perspektive erfasst die Person den gesellschaftlichen Kontext, in dem sie handelt. In der subjektiven Perspektive hat der »ich«-Sager Zugang zu anderen Symbol- und Sprachschichten als in der sozialen Perspektive. So kann er metaphorische Ausdrücke bilden und mit ihnen verständlich machen, was in seinem Inneren vor sich geht (z.B. »mir dreht sich der Kopf«, »ich fühle einen Widerwillen«). In der Umgangssprache findet er Bilder für die Darstellung seines inneren Geschehens. Möglich ist dies, weil die Dialogpartner ähnliche emotionale Zustände von sich selber kennen und beim Anderen darauf empathisch reagieren können. Auf diese Weise entstehen Metaphern der Umgangssprache, die von den Dialogpartnern verstanden werden. Mit der Versprachlichung innerer Zustände wird ein außerordentlich großer Schritt des Symbolisierens, Bedeutens und Verstehens
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Wie wird man ein Mensch?
menschlicher Prozesse getan; sie werden in Teil III des Buchs reflektiert. Die Überlegungen setzen in dem Stadium ein, in dem das Ich sprachlich auszudrücken vermag, was ihm »als einem einzelnen im Unterschied zu allem anderen zukommt«16 (siehe Kapitel 11). Ohne diese Möglichkeit, als rein vorsprachliches Phänomen, hatten die mentalen Zustände »lediglich die Eigenschaft des Bewußtseins […], das noch kein Bewußtsein von mir ist« (ebd. – meine Hervorhebung, G.G.). Mit der (prädiktiven) Sprache erschließt sich mir nun ein »Universum eigenständiger ›ich‹-sagender Wesen« mit einer je eigenen Identität. Jedes von ihnen bildet »ein Teiluniversum« (S. 29). In der subjektiven Perspektive entsteht bei den Beteiligten am Sprachspiel ein Bewusstsein von ihrer Person, die durch ihre inneren Ereignisse von anderen Personen unterschieden ist. Aufgrund ihrer individuellen Anlage hat die subjektive Identität eine zeitliche Struktur: Das Ich kann in seiner Erinnerung zurückgehen; es erfährt die Gegenwart entsprechend seinem Zeitgefühl; mit Zukunftsprojektionen kann es nach vorn springen. Für die soziale Identität gibt es hingegen die Freiheiten des individuellen Zeiterlebens nicht. Sie ist an das Zeitregime ihrer Gemeinschaft gebunden. Ihre Zeitgestaltung und -regulierung werden von sozialen Zeitvorstellungen bestimmt. Je nach Kultur gibt es unterschiedliche Zeitstrukturen, an denen die individuellen Lebensprozesse ausgerichtet werden. Im Selbstbewusstsein verbindet das Subjekt die subjektive mit der sozialen Identität. Es kann sich sowohl in der Innen- als auch in der Außenperspektive zum Gegenstand von Reflexion machen. In der subjektiven Perspektive erfasst es autobiographische Erfahrungen, Aspekte der Sinngebung und des Verstehens seines Lebens. Subjektive Identität manifestiert sich in seinem körperlichen Sein – in seiner Sinnlichkeit, seinen Emotionen, seinem Geschmack, seiner Zeiterfahrung. Die soziale Identität spannt dagegen eine objektive Struktur von Normen und Techniken auf, die das Subjekt erworben hat und die sein Inneres organisiert. Soziale und subjektive Identität konstituieren gemeinsam den Hintergrund des Subjekts. Beide sind notwendig für die Bildung 16
Ernst Tugendhat: Egozentrik und Mystik, S. 28.
Einführung
eines Habitus, der seinem Leben Konstanz, Verlässlichkeit und Regelkonformität gibt. In ihrer Verbindung ermöglichen die subjektive und soziale Perspektive die Anpassung des Subjekts an variable Situationen und unterschiedliche Handlungspartner. Gibt es ein ureigenes Ich, eine Essenz meines Ich, die unabhängig von gesellschaftlicher Beeinflussung, von Regeln und Kontrolle ist? Einen personalen Kern, über den allein das Ich verfügt? Anders als man meinen könnte, wird dieser nicht von der Sprache gebildet. Die Sprache gibt es schon, bevor mein Ich entsteht (siehe Kapitel 12). Es wird vom Sprachspiel auf die Position des »ich«-Sagers gesetzt. Habe ich aber nicht ein Wissen über meine Verwendung der Sprache? Kontrolliere ich sie nicht? Wie Wittgenstein zeigt, kann der »ich«-Sager den mentalen Vorgang seiner Regelanwendung nicht einsehen. Ich kann mein Regelfolgen nur am – öffentlichen – Sprachgebrauch erkennen. Es gibt jedoch eine andere Möglichkeit, das Eigene meines Sprachgebrauchs zu erfassen. Wie die Sprache zu unserem Weltverhältnis passt, zeigt sich mir. Ich brauche, um dieses Sich-Zeigen zu erfassen, eine besondere Fähigkeit. Wittgenstein nennt sie das Sehen-als. Das Weltverhältnis meiner Sprache – ihre Fähigkeit, mit Wörtern die Welt zu beschreiben – leuchtet im Aspektwechsel auf. Dies kann in dem Moment geschehen, in dem ich mit einem Mal ein Wort in einer ganz anderen Konstellation als zuvor wahrnehme. Die Fähigkeit, das Aufleuchten des Aspekts wahrzunehmen, ist nur in der Perspektive der subjektiven Identität, nicht in jener der sozialen Identität möglich. Sie kann das Erleben des Aufleuchtens jedoch nicht identifizieren und mit Worten beschreiben. Das bedeutet nicht, dass sein Erleben irrelevant wäre. Das Aufleuchten des Aspekts kann dem Subjekt mehr geben als jede materielle Beschreibung. Es kann die Welt mit einem Schlag anders, tiefer wahrnehmen. Die Erfahrung, wie es den Blick auf die Welt verändert, zeigt dem Subjekt das Eigene seiner Sprach- und der Welterfahrung. Sie eröffnet ihm damit auch ein neues Verständnis von ihm selbst. Die Kapitel 10-12 entwickeln diese Sichtweise, die vom Primat der prädikativen Sprache abrückt. Das Schlusskapitel beginnt mit der vierten von Kants Fragen, die dieser als die grundlegenden der Philosophie ansieht. Ernst Tugend-
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hat formuliert sie zu einer Frage der Anthropologie um.17 In seiner Interpretation wird sie zu der (neuen) »prima philosophia«, der ersten Philosophie, welche die Grundlage allen Philosophierens bildet: »Was sind wir Menschen für uns?« (Tugendhat, ebd.) Bei ihrer Beantwortung kommen wir heute nicht umhin, auch die Naturwissenschaften mit in den Blick zu nehmen. Zu einer genuin anthropologischen Frage aber wird sie, wenn wir sie unter dem Aspekt der Menschwerdung betrachten. Keine Naturwissenschaft kann die Weiterentwicklung einer Spezies vorhersagen. (So kann kein Virologe prognostizieren, was die Mutation eines Virus ergeben wird.) Das wäre nur möglich, wenn die Spezies selbst den Sinn ihrer Weiterentwicklung begriffe. Tatsächlich kann man vermuten, dass die Menschen von einem bestimmten Zeitraum ihrer Evolution an eine sinnhafte Perspektive ihrer zukünftigen Entwicklung bilden konnten. Allerdings ist es nicht einfach zu bestimmen, wo sich dieser in der menschlichen Geschichte finden lässt. Als einen möglichen Zeitraum könnte man den evolutionären Abschnitt ansehen, in dem Menschen aus dem vorbegrifflichen Erfassen der Welt eine Sprache formten, mit der sie Objekte identifizieren, Merkmale festlegen und auf diese Weise unabhängige Gegenstände der Sprache erzeugen konnten. Auf sie können sich die Sprecher auch dann beziehen, wenn sie in der Sprechsituation nicht gegenwärtig sind. Sprachlich konstituierte Objekte einer »erdichteten Welt« (Nietzsche) sind nicht mehr direkter Ausdruck der unmittelbaren Welterfahrung. Die empirische Welt wird zu dem Material, das der »Sprachbildner« für seine Konstruktionen frei verwendet, um neue Bereiche der Erfahrung zu öffnen. Mit diesen Überlegungen wird die Linie des Selbstbewusstseins anders gezogen als von Ernst Tugendhat (und von strengen Vertretern der analytischen Philosophie). Es gibt andere Weisen der Selbst-Reflexion als jene, die sich ausschließlich auf die prädikative Sprache verlassen. In der Selbstvergewisserung einer »Hermeneutik des Subjekts« (Foucault)18 versteht man, was einem geschieht, was man für sich selbst und die Anderen ist, wie man zu dem wurde, der man ist. Ohne Zweifel stellt 17 18
Ernst Tugendhat: Anthropologie statt Metaphysik, S. 34–54. Michel Foucault: Die Hermeneutik des Subjekts.
Einführung
der Erwerb der verbalen Sprache eine entscheidende Zäsur in der Entwicklung des Menschen dar. Es gibt jedoch auch andere entscheidende Stadien auf diesem Weg. Einige von ihnen, die für die Menschwerdung von entscheidender Bedeutung wurden, sind oben genannt worden. Sie mögen aus Zufall entstanden sein. Wenn sie aber erst einmal Bestandteil menschlicher Praxis waren, wie die Techniken des Handgebrauchs, wurden sie für produktive Zwecke (z.B. für die Werkzeugherstellung) eingesetzt und systematisch weiterentwickelt. Ein anderer Fall ist die Organisation des gesellschaftlichen Lebens. Die Entstehung von Gesten und dialogischen Formen der Kommunikation lässt vermuten, dass ihre Vorteile für das Zusammenleben und die gemeinschaftliche Praxis von den Menschen begriffen und ihre Gestaltung absichtlich vorangetrieben wurde. Die Fähigkeit, Regeln zu bilden, ihre Anwendung festzulegen und aus ihnen Sprachspiele zu entwickeln, war die entscheidende Voraussetzung für die Konstitution von Bedeutungen, die von der unmittelbar gegebenen Situation abgelöst werden konnten. Diese Errungenschaft eröffnete wiederum die Möglichkeit, einen Raum des Symbolischen mit vorgestellten Gegenständen aufzuspannen. Die Erfahrung der objektiv gegebenen Welt konnte durch eine subjektive Perspektive verdoppelt werden. Diese kursorische Aufzählung legt die Annahme nahe, dass die Frage, was »der Mensch« sei, nicht durch den Aufweis eines Merkmals, auch nicht eines Bündels von Merkmalen beantwortet werden kann, dass er nicht nur eine Geschichte hat und dass es nicht nur einen roten Faden gibt, der sich durch seine Evolution hindurchzieht, dass er sich nicht durch eine kulturelle Errungenschaft von Tieren unterscheidet. Was bei dem Versuch eines Überblicks aber immer wieder auffällt, ist die Fähigkeit, mit der Menschen jeden neuen Entwicklungsstand nutzen, um aus diesem wieder neue Vorteile zu gewinnen. Wie dies geschieht, in welche Richtung sie führen, welche Gegenkräfte sich bilden, welche Neuerungen entstehen, lässt sich mit dem begrenzten Wissen der jeweils gegebenen Gegenwart nicht sagen. Diese Fragen können – auch für die heutige Zeit – nur von einem Standpunkt in der Zukunft beantwortet werden.
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I. Sich machen
1. Vom Standpunkt der Anthropologie Der Mensch ist der erste Freigelassene, er steht aufrecht. (Herder)
Entgegen der ersten Vermutung stammt der Begriff »Anthropologie« nicht aus der antiken griechischen Philosophie. Er ist eine Neuschöpfung relativ jungen Datums. Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert wird er »Titel einer philosophischen Disziplin«.1 Er zeigt gerade nicht Kontinuität an, sondern entsteht im Kontext einer Neuorientierung der Reflexion über den Menschen in der Zeit der Bürgerkriege, der politischen Unruhen und persönlichen Unsicherheit als eine Wendung des Denkens auf den Menschen selbst: Der Einzelmensch unter den Bedingungen seiner conditio humana, gesehen mit den Augen von anderen Menschen, wird das Thema der Anthropologie bleiben. Was sie jedoch darunter versteht, wie sie den Menschen kennzeichnet, mit welchen Methoden sie ihn erfasst und welche Theorien sie über ihn bildet – diese Fragen werden im Laufe der Jahrhunderte in Abhängigkeit von den jeweiligen philosophischen Positionen der Autoren unterschiedlich beantwortet.
Die drei Etappen der Anthropologie Ohne systematischen Anspruch zu erheben, kann man drei Etappen der Anthropologie unterscheiden. In der frühen Phase, im 16. und 17. 1
Odo Marquard: »Anthropologie«.
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Jahrhundert, lässt sich die Suche nach einem neuen Zugang zur Reflexion über den Menschen erkennen, ein Abrücken von den theologisch und geschichtsphilosophisch orientierten Modellen, mit Bezug auf antike Autoren, aber schon mit deutlichem Akzent auf dem Ich in seiner von Menschen gestalteten Welt. An der Entstehung eines solchen Denkens sind unterschiedliche Einflüsse beteiligt, sodass es nicht auf den Horizont der Philosophie einzuschränken ist. Die philosophische Ausformulierung der Anthropologie geschieht in der zweiten Phase, mit Beginn des bürgerlichen Zeitalters – gewiss kein Zufall, sondern Ausdruck eines neuen Selbstbewusstsein, das mit der Vergewisserung der universalen Grundlagen des Menschseins das Fundament seines politischen, ethischen und erkenntnistheoretischen Denkens legt. Aufklärung ist zuallererst Aufklärung über sich selbst mit dem Ziel, den »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«2 zu befördern, ein Ausgang ins Freie, der den Mut, »allein zu gehen«, »ohne Leitung eines Anderen« erfordert. Seit der Aufklärung finden sich anthropologische Reflexionen bei allen großen Philosophen. Einige von ihnen, wie der junge Karl Marx in der Zeit der »Pariser Manuskripte«, postulieren eine menschliche Natur als Grundlage ihres philosophischen Denkens (so Marx mit dem Gedanken der »Erzeugung des Menschen durch die Arbeit«). Aber erst in der Verbindung mit Konzepten der Biologie, unter der Führung von philosophierenden Ärzten, die sich ein wissenschaftlich fundiertes Wissen über den Menschen zutrauen, kommt es zu einer systematischen Ausarbeitung einer anthropologischen Theorie. Dies geschieht im 19. Jahrhundert, allerdings nur in Deutschland; auf die internationalen Entwicklungen werde ich später kurz zu sprechen kommen. Der deutsche Sonderweg setzt sich im 20. Jahrhundert fort und erreicht seinen Höhepunkt – in der dritten Phase – mit der Philosophischen Anthropologie, insbesondere mit den einflussreichen Entwürfen Helmuth Plessners und Arnold Gehlens. Eine neuere Richtung, die sich freilich nicht als geschlossenes anthropologisches Theoriegebäude darstellt (und dies auch nicht anstrebt), ist die auf gesellschaftliches und historisches Denken bezogene 2
Immanuel Kant: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, S. 35.
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Historische Anthropologie.3 Unter diesem Etikett lassen sich Arbeiten verschiedenartiger Autoren zusammenfassen, von denen einige selbst diese Bezeichnung für ihr Denken gewählt haben, wie Norbert Elias,4 Jean-Pierre Vernant,5 Pierre Bourdieu.6 Weitere Denker können, obwohl sie diesen Terminus nicht ausdrücklich für sich reklamieren, dieser Richtung zumindest mit einigen Aspekten ihres Werks zugeordnet werden, wie Marcel Mauss,7 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno,8 Michel Foucault,9 Louis Dumont.10 In der Gegenwart setzt eine Reihe von Autoren im deutschsprachigen Raum die französische Konzeption fort.11 Im Folgenden werde ich eine kurze Charakterisierung der drei Etappen der Anthropologie und ihrer neueren Tendenzen anhand typischer Problemstellungen geben. An dem Beispiel der Philosophie Arnold Gehlens will ich einen exemplarischen Einblick in eine Kontroverse der deutschen Philosophischen Anthropologie geben. Dabei wird es um ein Grundthema dieser Disziplin gehen, den Entwurf des Menschen, der den Kern jeder anthropologischen Konzeption bildet.
Das anthropologische Interesse Seit ihren Anfängen im 16. Jahrhundert ist Anthropologie in einem doppelten Sinn Selbstreflexion des Menschen: Als »Menschenkunde« ist sie
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Eine Übersicht über die Themen der Historischen Anthropologie geben Gert Dressel: Historische Anthropologie; Christioph Wulf (Hg.): Vom Menschen; Jakob Tanner: Historische Anthropologie zur Einführung. Norbert Elias: Was ist Soziologie? Jean-Pierre Vernant: Mythe et pensée chez les Grecs. Pierre Bourdieu: Méditations Pascaliennes. Marcel Mauss: »Die Techniken des Körpers«. Max. Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Louis Dumont: Homo aequalis und Essais sur l’individualisme. Darunter Dietmar Kamper: Geschichte und menschliche Natur; ders./Christoph Wulf (Hg.): Anthropologie nach dem Tode des Menschen; Gunter Gebauer et al.: Historische Anthropologie.
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Selbstergründung seines »moralischen Wesens«. Als eine Philosophie aus dem Horizont des menschlichen Lebens emanzipiert sie sich von Theologie, Mythologie und Metaphysik.12 Ebenso wie der anthropologische Denker ist das Objekt seiner Reflexion ein lebensgeschichtlich Gewordenes. Beide gehören zur Gattung Mensch; sie haben Anteil an der Natur des Menschen. Dieses Allgemeine wird am Einzelfall aufgesucht, am fremden und am eigenen Leben, an literarischen Darstellungen in Form von Biographien oder Porträts. In ihrer Frühzeit ist die Anthropologie als philosophische Disziplin noch nicht entfaltet. Aber ein neuer Blick auf den Menschen und ein neues Sprechen über seine Natur, sein Wesen und über die condition humaine lassen deutlich ein anthropologisches Interesse erkennen. In meinem Buch, so redet Montaigne den Leser am Beginn der »Essais« an, wirst Du mich in meiner ganzen Natürlichkeit sehen, »en ma façon simple, naturelle et ordinaire, sans contention et artifice: car c’est moi que je peins«, einfach, natürlich, alltäglich, ohne Verstellung und Künstlichkeit, was nur möglich ist, weil ich, Montaigne, mich selbst male. Das Ich ist Zentrum und konstitutive Bedingung des anthropologischen Blicks. Nirgendwo findet man eine packendere Beschreibung des neuen Interesses am Menschen als bei ihm. Es wird sogleich deutlich, dass Montaigne eine akribische Selbstbilanzierung vorführt, die vom Autor fort zum allgemeinen Menschen und von diesem wieder zurück zum individuellen Ich verläuft. Auf der Suche nach der Natur des Menschen begegnet der Denker zuerst sich
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Vgl. Odo Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Nach Marquard etabliert sich die Anthropologie »allererst durch eine allein neuzeitlich mögliche Doppelabkehr: durch die Abkehr der Philosophie einerseits von der ›traditionellen Schulmetaphysik‹. Diese Doppelabkehr ist faktisch eine Wende zur Lebenswelt […] Diese Tradition und Geschichte der philosophischen Anthropologie umfasst darüber hinaus keineswegs alle Philosophien, für die der Mensch und seine Lebenswelt das zentrale Thema ist, sondern unter diesen allein jene, die keine Geschichtsphilosophien und ebendarum Philosophien der ›Natur‹ des Menschen sind. Diese Wende zur Natur durch Abkehr von der Geschichtsphilosophie ist eine zweite Bedingung der Nötigkeit und des Wichtigwerdens der philosophischen Anthropologie.« (S. 124f).
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selbst, und auf der Suche nach sich selbst findet er schließlich die allgemeine Natur der Menschen. Durch die Aufrichtigkeit der Selbstsuche gelangt der Autor zu wahren Einsichten über den Menschen. Man kann darüber streiten, ob der Ausdruck »Anthropologie« auf diese frühe Epoche schon voll zutrifft. Wichtiger ist das anthropologische Interesse der Autoren, die ihren Blick wie mit einem Vergrößerungsglas auf den Einzelnen richten, der sich diesem Interesse darbietet, »sans artifice«, ohne Künstlichkeit, ungeschminkt und unverstellt. Ein solches Thema wäre in den Zeitaltern davor kaum der (literarischen oder philosophischen) Rede wert gewesen. Am exemplarischen Einzelfall von Montaignes Ich wird stellvertretend für alle Menschen die condition humaine erkennbar. Aus heutiger Sicht können wir sehen, wie eng sich die Erkenntnis mit der literarischen Beschreibung verbindet, wie sicher die Reflexion im Medium der literarischen Sprache fortschreitet und wie selbstverständlich dem Autor diese Auffassung war. So formt sich das anthropologische Interesse im Raum zwischen literarischer, moralistischer und philosophischer Beschreibung menschlicher Situationen. Lange Zeit bietet sich hier ein fruchtbarer Boden für erste Formulierungen dessen, was erst viel später, im 19. Jahrhundert, eine bedeutende Disziplin der Philosophie ausbilden wird. Das anthropologische Interesse rückt den Menschen in den Mittelpunkt. An ihm interessiert nicht Größe und Tragik; es geht weder um Schuld noch um Ewigkeit und Göttlichkeit. Grundsätzlich ist die condition humaine die Situation einer Prüfung: Hier ist ein Mensch allein, auf sich gestellt. Anders als in den »Confessiones« des Augustinus weiß er sich nicht in den Händen seines Schöpfers. Er ist seinem Leben ausgeliefert. Augustinus spricht zwar schon in seinem eigenen Namen, als eine Person mit einem selbstgewissen Ich; aber dieses erhält seine Bedeutung allein in Bezug auf Gott.13 Es ist, selbst wenn es so scheint, kein individualisiertes Ich. In der Situation des Alleingelassenseins der
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Augustinus: Bekenntnisse/Confessiones. Augustinus bei seiner Anrede an Gott am Anfang der Confessiones: »Nicht also wäre ich, mein Gott, ja gar nicht wäre ich, wenn Du nicht wärest in mir. Oder vielmehr, wär ich nicht, wenn ich nicht wär in Dir« (S. 15).
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Menschen im 17. Jahrhundert weiß sich das Ich nicht mehr von Gott umfasst; ebenso wenig bildet die klassische Mythologie noch den Leitfaden für die Interpretation von Menschenleben. Dem anthropologischen Interesse geht es um die Bedingungen, unter denen das Spiel der Welt gespielt wird, und um die Kenntnis und Weltklugheit, die Menschen dazu befähigen, in diesem Spiel zu bestehen. Anthropologische Reflexion ist innerweltlich – sie sucht, von einem Standpunkt innerhalb der Welt, die Wahrheit des Menschen in ihm selbst und in seiner Lebensgeschichte, betrachtet vor dem Horizont der Endlichkeit. In der Menschenkunde ist jedoch die Erinnerung an das ideale Leben noch gegenwärtig – nicht mehr als ein Leben in der Nachfolge Christi, als Heiligung der eigenen Existenz, sondern als ein Ausmessen des Abstandes zum idealen Leben.14 Im Alleingelassensein der anthropologischen Situation entwickelt sich das Zwiegespräch eines Menschen mit sich selbst: Er legt Rechenschaft über sich ab, begründet sein Handeln, macht es einsichtig, aber weniger vor Gott als vor sich selbst, unter Einrechnung seiner Lebensumstände, die er, wenn auch nur in Teilen, zu verantworten hat. Ein solcher Selbst-Dialog ist die Errungenschaft einer Zeit, in der sich der Mensch selbst in Frage stellt und sich als das zu betrachten beginnt, was er für sich selbst ist, ohne Bezug zum Jenseits, zum Höheren, zum Ewigen. In einer Zeit der Bürgerkriege, der Kälte der höfischen Gesellschaft, der Verzweiflung angesichts der Verwüstungen des 30-jährigen Krieges wurde von den Verhältnissen selbst die »Ab-
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In Pascals Pensées insbesondere wird dieser Abstand immer wieder von neuem diskutiert. Ein Beispiel: Wenn man den Menschen aus der Nähe betrachtet, schwindet als erstes der Eindruck von Größe – Menschen erscheinen in ihrer Kleinheit angesichts der ewigen Natur, sind aber gegenüber dem unendlich Kleinen durchaus wahrnehmbar: Sie sind ein Mittleres »zwischen dem Nichts und dem Ganzen«. Diese von Pascal beschriebene Situation zeigt ihre Beschränkungen, ihre Erkenntnisgrenzen auf: Sie sind »unendlich weit davon entfernt, die Extreme zu begreifen. Der Zweck der Dinge und ihre Prinzipien sind ihm [dem Menschen – G.G.] in einem undurchdringlichen Geheimnis unüberwindbar verborgen.« (Blaise Pascal: Pensées, Fr. 185)
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kehr von der Geschichtsphilosophie«15 nahegelegt. Positiv gesehen ist sie auch eine Wende zur Vertrautheit mit sich selbst, zu dem einzig noch möglichen Vertrauen.
Die Qualität des Mensch-Seins In der dritten Etappe der Anthropologie, in der Philosophie der Aufklärung erhält die Situation des Alleinseins des Menschen in der Welt eine neue Bedeutung. Sie drückt nicht mehr Verlassenheit aus, sondern stellt sich als eine Haltung der Überwindung dar: Der Einzelne übernimmt Verantwortung für sein Leben; er steht für sich, er spricht und entscheidet für sich. In der aufklärerischen anthropologischen Reflexion soll es um die Person und das Werden von Menschen im Allgemeinen gehen: um den Menschen. Damit wird die besondere Qualität des Mensch-Seins postuliert: Jeder besitzt sie kraft seiner Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung. Der in früheren Epochen auf hoch gestellte Persönlichkeiten eingeschränkte Blick weitet sich zu einer Perspektive, welche die ganze Menschheit umfassen soll. Die Eigenschaften des Menschen werden als universal postuliert. Historisch gesehen kommen sie jedoch nicht einem generalisierten Gattungswesen zu, sondern sind herausragendes Besitztum, das sich das (männliche) Bürgertum selbst zuschreibt. Der »Weltbürger«, von dem Kant in seiner »Anthropologie« handelt, wird als Bürger seiner Welt, zum Modell der ganzen Menschengattung erweitert. Die sich in der Aufklärungszeit entfaltende Anthropologie als philosophische Disziplin ist ein Hervorheben der bürgerlichen Eigenschaften als Qualität des Menschseins überhaupt. In dieser Perspektive ist die Erklärung der Menschenrechte von 1789 die politische Formulierung des Grundsatzes der Anthropologie. In geschichtliches Handeln umgesetzt, entfaltet sich Anthropologie in der Folge der verfassungsrechtlichen Konstituierung des Menschen als politisches Selbstbewusstsein des Bürgertums bei seiner Eroberung der Führungsrolle in der Gesellschaft. 15
Odo Marquardt: ebd., S. 125.
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Waren die Leitsterne des Adels Gott, Königtum und Stand, so sind sie für das Bürgertum das Mensch-Sein und der aufrechte Gang. Ebenso wie die Menschengattung in ihrem Werden hat sich auch das Bürgertum aufgerichtet und entwirft die Zukunft des Menschen. Nach der Freilassung aus der Natur ist dies die zweite Freilassung in der Geschichte der Menschheit. Das große Thema der Anthropologie wird die Frage, was der Mensch mit dieser Freiheit anzufangen hat. Die Antwort lautet: Er hat sich selbst zu machen gegen alle Widerstände, die nicht zuletzt von ihm selbst erzeugt werden. Rousseau, der wortmächtige Formulierer des neuen Entwurfs des Menschen, eröffnet seinen Ersten Diskurs mit einem mitreißenden Bild: »Es ist ein großes und schönes Schauspiel, den Menschen sozusagen aus dem Nichts durch seine eigene Anstrengungen hervorgehen zu sehen. Er erhellt mit dem Licht seines Verstandes die Finsternis, in die ihn die Natur gehüllt hat. Er erhebt sich über sich selbst, schwingt sich durch seinen Geist bis in die himmlischen Regionen empor, durchmißt mit Riesenschritten sonnengleich die ungeheure Ausdehnung des Universums, kehrt – was noch größer und schwerer ist – in sich selbst zurück, um hier den Menschen zu studieren und seine Natur, seine Pflichten und seine Bestimmung zu erkennen.«16 In diesem Entwurf des Menschen fallen Gattungsgeschichte und Lebensgeschichte zusammen. Anthropologie wird zu einer Art persönlicher Geschichtsphilosophie des Individuums. Der Mensch wird zu seinem eigenen Ziel: Ich mache mich, also bin ich. Was am Ende dieses Weges stehen soll, der »voll entwickelte Mensch«, wird nur in Ahnungen angedeutet. Nur die Richtung des Weges dorthin steht fest – er
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Jean-Jacques Rousseau: »Abhandlung über den Ursprung …«, S. 7. Unverkennbar nimmt Rousseau das von Pico dela Mirandola entworfene Panorama des Menschen angesichts der göttlichen Schöpfung auf, wendet aber die Betrachtung von dieser weg zur »Rückkehr in sich selbst«. Ebenso unverkennbar nimmt Nietzsche die Metaphorik wieder auf und richtet sie über den Menschen hinaus auf den Übermenschen.
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führt nach oben. Er ist eine Höherentwicklung, ein selbständiges Höherklimmen über die erreichten Entwicklungsstufen hinauf. »Perfectibilité« wird zum entscheidenden Merkmal der Menschheit. Kein anderes Lebewesen hat wie sie die Fähigkeit der unbegrenzten Selbstverbesserung, aber auch die Möglichkeit der Selbstgefährdung. Die andere Seite des Freigelassenseins ist die Führungslosigkeit. Zu seinem Schutz bedarf der Mensch eines sicheren Halts, der von niemand anderem als durch ihn selbst gegeben werden kann. Der Weg in die Höhe ist ein ganz anderer als jener auf den Mont Ventoux. Francesco Petrarcas Aufstieg war vor allem ein moralischer Höhengewinn; er wird in die literarische Form einer Gottsuche gekleidet, die auf dem Gipfel zu wahrer Gottesnähe führt.17 Im 18. Jahrhundert organisiert Rousseau in seiner Rolle als Erzieher den moralischen Aufstieg im Garten des Emile, zu ebener Erde, mit Hilfe der Arbeit. Wie Petrarcas Bergwanderung ist Emiles Gärtnern ein Modell der condition humaine; dies hat man in der Faszination über die »natürliche Pädagogik« übersehen: Nach dem Bilde der Natur, die dem (noch nicht freigelassenen) Menschen Regeln auferlegt hatte, gibt sich der Mensch, nach seiner von ihm errungenen (politischen) Freilassung, selbst die für seine Freiheit notwendigen Regeln und Zwänge. Der Gesellschaftskörper ist eine Quasi-Natur, die Menschen selbst herstellen und sich als eine Zweite Natur auferlegen können. Sie macht aus dem Freigelassenen einen geregelten, das Gesetz in sich tragenden Bürger. »Wenn die Gesetze der Völker so unbeugsam wären wie die Gesetze der Natur, die keine menschliche Kraft jemals brechen kann, dann wären die Menschen von den Gesetzen genau so abhängig wie von den Dingen. Man könnte in der Republik alle Vorteile des Naturzustandes mit den Vorteilen der Gesellschaft verbinden.«18 17
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Petrarca beschreibt viel ausführlicher als die Aussicht seine innere Erfahrung als moralisches Wesen: »Ich war über meine Fortschritte erfreut, ich beklagte meine Unvollkommenheit, ich bedauerte die Unzuverlässigkeit der Menschen bei ihren Handlungen; und schon schien es mir, als wisse ich nicht mehr, wo ich mich befand und warum ich gekommen war.« (Petrarca: L’Ascension du MontVentoux, S. 39f – eigene Übersetzung) Jean-Jacques Rousseau: ebd., S. 63.
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Das Menschsein beginnt ab einer bestimmten Höhe des Individuums. Das Ziel der menschlichen Entwicklung wird als ethisches entworfen. Gesellschaft ist eine auferlegte Nachfolgenatur aus Regeln und Gesetzen. Was dann »menschliche Natur« heißt, hat mit der ursprünglichen nicht mehr viel zu tun – sie ist Ergebnis eines Durcharbeitens, Eingliederns, Unterwerfens, eines Herstellens von Menschennatur. Aus Natur wird Kunst. So kommt es, dass in den Kunstprodukten der Gesellschaft, auf eine noch zu entschlüsselnde Weise, Natur enthalten ist. Je höher die Kunst, desto »natürlicher« wird sie. Dies gilt ganz besonders für Körperbau und Bewegungen des Menschen. Seine Natur wurde durch den aufrechten Gang zu »einem Kunstgeschöpf« (Herder). Mit der Aufrichtung ist der Anfang gemacht; alle Reste von Natürlichkeit, Wildheit am Menschen müssen unter das menschliche Gesetz gestellt werden. So sieht die Aufklärungsphilosophie den Menschen zwischen biologischem und moralischem Wesen schwanken. Allein, als freigelassenes Einzelwesen, besitzt der Mensch noch keine Freiheit, weil jedes beliebige andere Einzelwesen die Anderen unterjochen kann.19 Die Befreiung von der biologischen Natur macht das Aufgeben »seiner brutalen Freiheit« notwendig. Freiheit kann nur »in einer gesetzmäßigen Verfassung« (Kant: ebd., S. 24) erlangt werden; erst in ihr wird ihm Ruhe und Sicherheit gewährt. Dazu ist einzig eine politisch konstituierte Gesellschaft fähig, die verfassungsmäßig die Rechte aller garantiert. Historisch tritt dieser Zustand mit der »Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft« ein (S. 22). Rousseau und Kant denken Anthropologie viel konsequenter politisch als die Menschenkunde zuvor und die Philosophische Anthropologie nach ihnen. Seit der Aufklärung bildet das Zentrum der Anthropologie die Situation des Menschen in der Spannung zwischen seiner Herkunft aus
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»der Mensch ist ein Thier, das, wenn es unter anderen seiner Gattung lebt, einen Herrn nöthig hat. Denn er mißbraucht gewiß seine Freiheit in Ansehung anderer Seinesgleichen […] er bedarf also einen Herrn, der ihm den eigenen Willen breche und ihn nöthige, einem allgemein gültigen Willen, dabei jeder frei sein kann, zu gehorchen« (Immanuel Kant: »Idee zu einer allgemeinen Geschichte…«, S. 23).
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der Natur und seiner zukünftigen Bestimmung. Seine Vergangenheit und Zukunft sind im Entwurf des Menschen miteinander verknüpft. Keine Einzelwissenschaft kann diesen hervorbringen, geschweige denn ein Ziel seiner Entwicklung angeben. Welches überhaupt seine Aufgabe in der Welt sein soll, kann nur aus der Sicht eines »Mitspielers« in seiner Lebenswelt,20 das heißt: aus der Perspektive der Beteiligten reflektiert werden. Mit der Klärung der Natur und der Bestimmung des Menschen ist die Spannweite der anthropologischen Fragen am Ende des 18. Jahrhunderts angegeben. Jede Philosophie, die sich zumutet, beide Probleme zu beantworten, steht vor einer schwer zu lösenden Aufgabe: Das erste Problem, eher eine Angelegenheit der Lebenserfahrung, stellt für die Philosophie tendenziell eine Unterforderung dar; das zweite führt, insofern seine Beantwortung einen utopischen Entwurf der »Menschheit« verlangt, zu einer Überforderung.
Mängelwesen und Selbst-Schöpfung Angesichts dieser Situation sind viele Wege eingeschlagen worden; fast alle verlassen das Gebiet der Anthropologie: Rousseau arbeitet eine Staatskonstruktion und eine Erziehungskonzeption aus, die dem Menschen den Spielraum für die Verwirklichung seiner Bestimmung ermöglichen sollen. Kant wendet sich der Formulierung des Sittengesetzes zu, unter welches das menschliche Handeln zu stellen sei. Hegel unternimmt den »Versuch, die Anthropologie an die Geschichtsphilosophie anzupassen« (Marquardt, ebd.). In anderen Ländern als Deutschland entfernt sich die Reflexion über die menschliche Natur vom philosophischen Denken und wendet sich dem systematischen Verstehen von Lebensweisen und Kulturen zu und entwickelt neue Formen wissenschaftlicher Beschreibung. Dies lag gewiss auch daran, dass die englische und französische (ebenso wie die spanische und portugiesische) Öffentlichkeit Berichte über die Entdeckungen fremder, sogenannter primitiver Völker von ihren 20
Odo Marquardt: »Anthropologie«, S. 126f.
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Seefahrern und frühen Ethnographen erhielten, die lebhafte Diskussionen über die Ursprünglichkeit »natürlicher« Menschen (des »edlen Wilden« beispielsweise) und deren Unterschied zur Zivilisation auslösten. Die Folge davon war, dass man in diesen Ländern sehr früh anfing, Beobachtungen, Vergleiche und Systematisierungen von Handeln, Denken und Sprechen in fremden Kulturen anzustellen. In der sich allmählich zur wissenschaftlichen Disziplin herausbildenden Ethnologie (engl.: cultural anthropology oder social anthropology) werden die soziokulturellen Aspekte menschlicher Gesellschaften (Sozialbeziehungen, interne Strukturierung, gesellschaftliche Organisation, Funktionen und Fragen des sozialen Zusammenhalts) untersucht. Dies in deutlicher Abgrenzung zu Philosophie und spekulativem Denken. Während die deutsche Philosophische Anthropologie das alle Kulturen übergreifende Universale des Menschseins postuliert, setzt die Kulturanthropologie bevorzugt beim Lokalen und Regionalen an. Wenn sie, wie z.B. in der von Lévi-Strauss ausgearbeiteten Strukturalen Anthropologie die Verhaltensmuster menschlicher Gesellschaften insgesamt zu rekonstruieren versucht (die Strukturen der Verwandtschaft, der Mythologie, der Formen sozialen Austauschs), lässt sich eine solche Theoretisierung grundsätzlich am Faktischen belegen oder verwerfen. In Deutschland insbesondere wurden in der Philosophie seit der Romantik neue Wege der Anthropologie gesucht, die an die Stelle von Lebenserfahrung Erkenntnisse der neu entstandenen Medizin und Biologie setzen. Mit ihrer Hilfe schien es, indem man sich der ›harten Fakten‹ und Theorien einer Wissenschaft versicherte, möglich zu sein, die anthropologische Situation genau zu beschreiben. Anthropologie als Naturphilosophie ist die Linie, welche die Philosophische Anthropologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einschlagen wird, insbesondere mit Plessner und Gehlen.21 Was diese Richtung für viele so attraktiv machte, war die Beschreibung der anthropologischen Grundsituation aus der Sicht der biologischen Wissenschaft: Von der Natur schutzlos ausgesetzt, droht 21
Mit der Position von Helmuth Plessner setze ich mich ausführlicher im Kapitel »Bewegungen als Prinzip des Sozialen« in diesem Buch auseinander.
1. Vom Standpunkt der Anthropologie
dem Menschen die Vernichtung, noch bevor seine Entwicklung überhaupt angefangen hat. In dieser Perspektive muss die Tatsache des Überlebens der menschlichen Spezies als wenig wahrscheinlich gelten, wäre da nicht die Chance seiner Selbst-Schöpfung. Unter diesen Bedingungen muss die gelungene Menschwerdung an sich schon als eine Leistung erscheinen. Die Tatsache des Überlebens wird so zu einem positiven Wert gemacht – Gehlen vertauscht den ursprünglich biologischen Begriff des Menschen mit einem normativen: Der Mensch erscheint als kreativer Überwinder einer übermächtigen Gegnerschaft. Mit dem ersten Schritt seiner Argumentation geht er mit der Auffassung der meisten Anthropologen konform: Da die menschliche Spezies unspezialisiert ist, sichert sie ihr Überleben aufgrund ihrer Fähigkeit zum Handeln. In einem zweiten Schritt stellt Gehlen eine logische Verknüpfung der Mängelwesen-Existenz mit der menschlichen Höherentwicklung her. Dabei begnügt er sich aber nicht mit dem biologischen Argument, dass die Unspezialisiertheit der Spezies die Voraussetzung für ihre geradezu unbegrenzte Anpassungsfähigkeit darstellt, sondern er integriert die Biologie in eine Metaphysik des Menschen: Die Schutzlosigkeit führt mit Notwendigkeit zu seiner höheren Entwicklung. Sie zwingt den Menschen, wenn er überleben will, Geist zu entwickeln. Das von der Natur unzureichend ausgerüstete Wesen kann es sich nicht leisten, Tier zu bleiben, sondern muss über sich hinaus streben und so eine Überlegenheit über alle anderen Lebewesen erringen. Seine Höherentwicklung ist möglich, weil es sich aus Einsicht in die Notwendigkeit einer »Zucht« unterwirft. Der Mensch ist »ein Wesen der Zucht: Selbstzucht, Erziehung, Züchtung als In-Form-Kommen und In-Form-Bleiben gehört zu den Existenzbedingungen eines nicht festgestellten Wesens. Sofern der Mensch auf sich selbst gestellt eine solche lebensnotwendige Aufgabe auch verpassen kann, ist er das gefährdete oder ›riskierte‹ Wesen, mit einer konstitutionellen Chance, zu verunglücken«.22
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Arnold Gehlen: Der Mensch, S. 32.
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Gerade die produktive Seite des Menschen, seine »Weltoffenheit« birgt dieses Risiko: Sie ist »eine Belastung. Der Mensch unterliegt einer durchaus untierischen Reizüberflutung, der ›unzweckmäßigen‹ Fülle einströmender Eindrücke, die er irgendwie zu bewältigen hat«. Diese Aufgabe kann er nur durch »Entlastung« bewältigen – er muss »die Mängelbedingungen seiner Existenz eigentätig in Chancen seiner Lebensfristung umarbeiten« (ebd.). An das Prinzip der Entlastung knüpft Gehlen an, um die Notwendigkeit von sozialen Institutionen zu begründen. Unverzichtbar sind diese insbesondere für schwache Menschen, die in der Situation der Reizüberflutung eines äußerlichen Halts bedürfen. Alle wesentlichen Begriffe Gehlens – Notwendigkeit, Mängelwesen, Höherentwicklung, Moral, Entlastung – sind Konstruktionen einer Geschichte, die von ihrem Ende aus erzählt und als bewältigtes Schicksal deklariert wird. Aus der Sicht der Überlebenden ist die Rettung aus eigener Kraft ein heroischer Akt. Für Gehlen »wächst« den Menschen nicht »das Rettende«, wie es im Hölderlinvers heißt,23 sondern die Evolution der menschlichen Spezies ist ihm personalisierte voluntaristische Selbsthilfe, wie es sich die Überlebenden einer Armee erzählen.24 Gegen dramatische Schilderungen dieser Art wendet Clifford Geertz kritisch ein, dass es die Situation, in der das Überleben der menschlichen Spezies angeblich am seidenen Faden hing, »offenbar nie gegeben hat. Nach den letzten Schätzungen benötigte die Gattung Homo für den vollständigen Übergang zur kulturellen Lebensweise mehrere Millionen Jahre; und über einen solchen Zeitraum hinweg waren daran nicht nur eine oder einige wenige marginale genetische Veränderungen beteiligt,
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Der Anfang des Gesangs »Patmos« von Hölderlin lautet: »Nah ist/Und schwer zu fassen der Gott./Wo aber Gefahr ist, wächst/Das Rettende auch.« (Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke) Ganz anders ist die anthropologische Überzeugung, die man in den Schriften der (jüdischen) Autoren Karl Löwith, Ludwig Wittgenstein oder Franz Kafka findet. Gegen die triumphale Beschreibung der Größe des Menschen sehen sie den Menschen in seiner Kleinheit (Kafka), Zufälligkeit (Löwith in seiner Kritik an Schelers Anthropologie, 1981) und unter dem Aspekt, dass die Existenz der Menschenwelt ein Wunder sei (Wittgenstein in seinem Vortrag über Ethik).
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sondern eine lange, komplexe und eng geknüpfte Reihe solcher Veränderungen«25 . Sie wurde »selbst zu einem der bestimmenden Faktoren seiner Evolution«. Die Philosophische Anthropologie Gehlens gibt vor, von der Natur und ihrer Wissenschaft auf die Entstehung des Menschen zu blicken. In Wirklichkeit sieht sie vom fertigen Menschen auf die Natur zurück, um den Abstand zu ermessen, den jener zwischen sich und seinen Ursprung gelegt hat. Erst durch diesen verkehrten Blick entsteht das Bild des Menschen als eines Wesens, das seine Existenz allein sich selbst verdankt.
Die Situation des In-der-Welt-Seins Meine oben angekündigte Diskussion eines aktuellen Problems betrifft die Rolle und Aufgaben der Anthropologie heute. Gegenüber dem hochgespannten Anspruch des Menschenentwurfs Gehlens und den empirischen Forschungen der Sozial- oder Kulturanthropologie lässt sich folgender Vorschlag machen: Zwischen den polaren Gegensätzen der Metaphysik des Menschen auf der einen Seite und dem lokalen wissenschaftlichen Wissen über Menschen in bestimmten Kulturen auf der anderen gibt es ausreichend Raum für eine Grundlagenreflexion über die anthropologische Situation und die aus ihr hervorgehenden menschlichen Erfahrungs- und Denkweisen, über kulturelle Konstrukte, soziale Strukturen und Institutionen. Ihr Ansatzpunkt ist das spezifisch menschliche In-der-Welt-Sein. Von den wenigsten anthropologischen Entwürfen der Philosophie wird berücksichtigt, dass »der Mensch« nicht im Singular existiert, sondern in ein gemeinsam mit anderen Menschen gebildetes Gewebe hineingeboren wird und darin aufwächst, dass er seine Weltkenntnisse, Fähigkeiten und Verhaltensweisen nicht selber bildet, sondern zusammen mit anderen in familiären Strukturen und sozialen Gemeinschaften erwirbt. Inder-Welt-Sein heißt Mit-Menschen-Sein. 25
Clifford Geertz: The Interpretation of Cultures, S. 73.
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Nicht weniger wichtig für eine gesellschaftlich orientierte Anthropologie ist der Körper mit seiner spezifischen materiellen Form (aufrechter Gang, Form und Funktion der Hände, die Sinne, das Gesicht). Die menschliche Gestalt macht bestimmte Formen sinnlicher Erfahrung der Welt möglich26 (andere hingegen unmöglich). Mehr noch: Sie ist fähig, Erfahrungen des Weltumgangs körperlich zu speichern, Werkzeuge zu formen, Gegenstände in symbolische Gebräuche zu integrieren und eine neue, höhere Schicht des Sprachlichen anzulegen (was Gehlen sehr klar herausstellt), die sich vom praktischen Manipulieren in konkreten Situationen ablöst. Auf diese Weise werden ganz andere Erfahrungen und Umgangsweisen mit der Welt als auf tierischen Stufen möglich. Alles dies sind Annahmen der Anthropologie als philosophische Disziplin; sie können nicht aus wissenschaftlichen Theorien und Erkenntnissen abgeleitet werden. Jede für eine Lösung in Frage kommende Einzelwissenschaft, die sich mit dem Menschen befasst, setzt schon eine Antwort auf die Frage nach dem Menschen voraus. Sie kann Hinweise, Evidenzen, wichtige Fakten und Befunde liefern, aber ihre Theorien, Konzepte und Begriffe ruhen auf einem Fundament grundlegender Annahmen über den Menschen. Anthropologie in diesem Sinn kann als eine Grundlagentheorie der »Menschenwissenschaften« (Elias) angesehen werden. Von allen grundlegenden Problemen ist das wichtigste die Frage der anthropologischen Situation des In-der-Welt-Seins. Für die Philosophische Anthropologie ist die Annahme selbstverständlich, dass alles, was am Menschen natürlich ist, derselben Natur angehört wie jene der nicht-menschlichen Lebewesen. Ein scheinbar demokratischer Grundsatz – was »Natur« ist, ist für alle gleich. Aber die Natur des Menschen 26
Das hat bereits Kant gesehen; er schreibt in seiner Anthropologie: »Die Charakterisierung des Menschen als eines vernünftigen Thieres liegt schon in der Gestalt und Organisation seiner Hand, seiner Finger und Fingerspitzen, deren theils Bau, theils zartem Gefühl, dadurch die Natur ihn nicht für Eine Art der Handhabung der Sache, sondern unbestimmt für alle, mithin für den Gebrauch der Vernunft geschickt gemacht und dadurch die technische oder Geschicklichkeitsanlage seiner Gattung als eines vernünftigen Thieres bezeichnet hat.« (Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 323).
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unterscheidet sich von jener der Tiere. Der Unterschied wird dadurch verdeckt, dass die natürlichen Prozesse am Menschen mit Hilfe biologischer Beschreibung dargestellt werden. Diese erfasst nicht die von der Philosophischen Anthropologie hervorgehobene besondere Natur der Menschen.27 Mit den Mitteln der Biologie ist es kaum möglich, die Spezifik zu beschreiben, welche die Menschenwelt ausmacht: die gesellschaftliche Beziehungsfähigkeit, die Plastizität menschlichen Verhaltens, die soziale Offenheit gegenüber anderen Menschen, die Möglichkeit zu personalen Bindungen, zur freien Gestaltung sozialer Situationen und zu mimetischen Wiederholungen vorgefundener Handlungen durch das Subjekt. Menschen können als Mitwirkende soziale Situationen durch ihre Anwesenheit und Kooperation mit anderen verändern. »Es gibt keine von Kultur unabhängige menschliche Natur.«28 Menschen sind, anders als Tiere, immer Teil von Situationen – sie mögen zufällig hineingeraten sein, aber wenn sie erst einmal anwesend sind, verändert sich die Situation. Dies geschieht schon mit kleinen Kindern. Ihre noch ganz unbearbeitete Natur kommt als ein neuer Anteil am Gesellschaftlichen in die Welt. Sie sind in eine materielle Praxis involviert, die sich nicht auf das Praktische beschränkt, sondern diese von den ersten Akten an durch gegenseitige Einwirkung umwandelt.
Historische Anthropologie Seit den 1980er-Jahren hat sich, auf Ansätzen der französischen Philosophie, Geschichtswissenschaft, Ethnologie und Soziologie aufbauend, die Historische Anthropologie entwickelt. Ihre Arbeiten werden von dem Gedanken geleitet, dass die Vorstellungen, die sich Forscher und Philosophen vom Menschen machen, grundlegend geschichtlich 27
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Vgl. Norbert Elias: Was ist Soziologie? »Die Einzigkeit des Menschen im Verhältnis zu anderen Lebewesen zeigt sich bereits darin, daß das Wort ›Natur‹, wenn man es auf den Menschen bezieht, eine Bedeutung hat, die von der Bedeutung, in der man es in anderen Zusammenhängen gebraucht, in bestimmter Hinsicht verschieden ist.« (S. 114) Clifford Geertz: ebd., S. 75.
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und gesellschaftlich bedingt sind. Während die älteren anthropologischen Konzepte postulierten, dass die Reflexion über den Menschen sich um unveränderliche Kerne herum (den Geist, die Seele, das Gewissen) bildet, zeigt sich in den historischen Arbeiten über die griechische Antike, die frühe Neuzeit und das 18. Jahrhundert, dass sich nicht nur das Menschenbild, sondern auch wesentliche Bestimmungsstücke, mit denen es gebildet wird, historischen und kulturellen Entwicklungen unterliegen. Aus dieser Einsicht lässt sich eine methodologische Folgerung ziehen, die die Forscher selbst betrifft: Moderne Beobachter interpretieren diese Konzepte anders, mit einem anderen Vorwissen als die traditionelle Anthropologie. Es ist also wichtig, dass sie ihre eigenen Voraussetzungen im Lichte der Frage prüfen, in welchem Ausmaß die begrifflichen Wandlungen ihre eigenen Forschungen betreffen. Mit der Ablehnung eines a-historischen Kerns des Menschen und mit der Einsicht in die Historizität der eigenen Konzepte rückte die Historische Anthropologie vorher wenig beachtete Faktoren in den Fokus der Aufmerksamkeit. Als Erstes wurde die konstitutive Rolle der Sprache für die Bildung wichtiger Aspekte des Menschlichen in den Blick genommen. So ist die Entwicklung der personalen und sozialen Identität, des Inneren des Menschen, der Emotionen, der Intention abhängig von der Bedeutung und Struktur der entsprechenden Begriffe. Auch die Rolle des Körpers erhielt seit dem 20. Jahrhundert eine viel größere Aufmerksamkeit als in der Vergangenheit. Im Laufe des Zivilisationsprozesses wurde er einer systematischen Disziplinierung unterworfen. Er wurde Gegenstand von Introspektion, Selbstkontrolle und einer inneren Bearbeitung seiner Triebe und Emotionen. Über die Forschungen zu den historischen Veränderungen des Körpers hinaus ist seine Beteiligung an der Entstehung und Entwicklung von Kategorien, die man früher für rein geistige gehalten hat, deutlich geworden: seine Rolle beim Erlernen des regelhaften Verhaltens und beim Erwerb der Sprache, bei Prozessen der Verkörperung (embodiment) innerer Vorgänge, bei mimetischem und performativem Handeln. Seit einigen Jahrzehnten richtet die Historische Anthropologie besondere Aufmerksamkeit auf die Beteiligung von Emotionen an Erkenntnisprozessen in den Wissenschaften und Künsten.
1. Vom Standpunkt der Anthropologie
Die Ergebnisse vieler Arbeiten der Historischen Anthropologie fließen zu einem Konzept des Menschen zusammen, das sich deutlich von traditionellen Vorstellungen unterscheidet. Nicht nur sein Verhältnis zur Welt ist durch Offenheit gekennzeichnet, sondern auch das Verhältnis des Menschen sich selbst gegenüber. Die Einsicht in die NichtAbgeschlossenheit seiner Entwicklung, seiner Selbst-Sicht und SelbstSorge bezieht sich über das Einzelwesen hinaus auf die eigene Kultur, auf seine Interaktionsformen mit anderen Menschen und auf soziale Institutionen. Was das Gattungswesen Mensch ist, wird durch diese vitalen Verbindungen offen gehalten: Es wird zu Veränderungen vorangetrieben, die sich der Einflussnahme und Kontrolle der Einzelnen entziehen. Wie die großen Erfindungen des 20. Jahrhunderts zeigen, können technische und biologische Innovationen das Verständnis des Menschen von sich selbst tiefgreifend verändern. Von der Vorstellung eines »punktförmigen Ichs«,29 das nach der Überzeugung der Geist-Philosophien die souveräne Person rational steuert, sind wir heute weit entfernt. Dieser Abstand ist nicht nur durch die größeren Abhängigkeiten hervorgerufen worden, in denen sich das Individuum der Gegenwart befindet, sondern in erster Linie durch die Erweiterung des Blickfelds der Wissenschaften vom Menschen. Mit der Zunahme des Wissens über biologische, psychische, soziale und historische Prozesse, über kulturelle Verschiedenheiten, mit der Relativierung des eurozentrischen Denkens, mit der Erforschung von Geschlechterverhältnissen, von Minderheiten und unterdrückten Gruppen etc. ist die Sicherheit des Selbstbilds vom Menschen geschwunden, das die intellektuellen europäischen Eliten entwarfen und für universal erklärten. Von der Historischen Anthropologie wird die Konzeption des Menschen gleichsam aus der Vitrine der Tradition geholt und in den Dialog mit aktuellem Wissen gebracht. Sie stellt sich dem Problem, was den Menschen heute ausmacht, welches seine Stellung in der Welt ist, welche Potentiale er besitzt und vor welchen Veränderungen er unbedingt zu schützen ist. 29
Charles Taylor: Quellen des Selbst, S. 188ff.
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Mit der modernen Philosophie besteht Einigkeit über die unspezifizierte Ausstattung des Menschen bei seiner Geburt, über die Weltoffenheit, die Notwendigkeit von Erfahrung und Lernen. Von neueren Ansätzen können Erkenntnisse über die Entwicklung des Denkens, der Sprache und der Interaktion zwischen Menschen hinzugefügt werden. Anders als ältere Entwürfe nehmen sie Stellung zum Verhältnis von universellen Voraussetzungen und Geschichtlichkeit des menschlichen Handelns, zum Ursprung und Aufbau symbolischer Welten, deren erste Formen der Mensch schon vor der (verbalen) Sprache entwickelt. Dieser Zusammenhang wird im folgenden Kapitel über die Entwicklung und Rolle der Hand für die Entstehung der Sprache diskutiert.
2. Welterzeugen der Hand
In der antiken Philosophie gilt die Hand als Schöpfer der besonderen Natur des Menschen. Mit ihrer Hilfe kultiviert und pflanzt der Mensch, er macht die Erde fruchtbar – sie erzeugt in der gegebenen Natur eine zweite Natur (Cicero). Zu den Werken, die sie erschafft, gehört auch sie selbst – die Hand macht sich durch ihre eigene Arbeit zu dem Organ des menschlichen Körpers, das die vielfältigsten Funktionen erfüllen kann. Wie Aristoteles (und später F. Engels) bemerkt, ist sie nicht nur ein Organ, sondern viele: Sie ist das erste Werkzeug, das alle weiteren Werkzeuge herstellt. In ihrem Gebrauch erwirbt die Hand höchste Plastizität. Sie kann auf unterschiedlichste Objekte angewendet werden – auf Dinge, auf den eigenen Körper und auf sich selbst. Ihre Plastizität entfaltet sich in zwei Richtungen. Sie ist zum einen fähig, sich eng an die Umwelt anzupassen, durch Berührung, Streicheln, Ergreifen. Den Dingen vermag sie zum anderen eine Gestalt zu geben, indem sie diese formt und verändert.1 Sie kann so gebraucht werden, dass sie verschiedene Gestalten aus der Umwelt in sich aufnimmt oder den Umweltdingen eine neue Gestalt gibt. Durch den Handgebrauch kann die Welt verinnerlicht oder von neuem erzeugt werden, als eine von Händen gemachte Welt.2 1
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Die gestalterische Fähigkeit der Hände steht im Zentrum der kunstphilosophischen Schriften und Bemerkungen über die Hand; vgl. insbesondere Henri Focillon: Vie des formes, suivi de Éloge de la main. Verinnerlichung der Welt und die Welt neu machen sind zwei Weisen der Mimesis; vgl. Gunter Gebauer/Christoph Wulf: Mimesis.
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Mit seinem Handgebrauch, mit Handlungen des Berührens, Nachfahrens, Greifens, Schlagens, Streichelns etc., erzeugt der Mensch eine inkorporierte und manipulierte Welt. Ohne Bezug auf Gegenstände kann die Hand jedoch keine praktische Funktion erfüllen. Um sinnvoll zu funktionieren, bedarf sie der konkreten Dingwelt. Sie vollzieht Handlungen, die auf die Welt zugreifen. Die meisten Ausdrücke unserer Sprache, in denen die Hand und ihre Tätigkeiten vorkommen, haben diese Bedeutung.3
Funktionen der Hand Das erste Merkmal der Hand ist ihre Offenheit gegenüber der Welt – ihr Interesse an Gegenständen und ihre Angewiesenheit auf diese. Ihre zweite Besonderheit ist die Vermittlung zwischen der Umwelt und dem Körper, deren Teil sie ist. Sie ist eine Brücke oder ein Übergang vom Körper zur umgebenden Welt. Ihr drittes Merkmal ist die Selbstbezogenheit: Ebenso wie sie Gegenstände exploriert, wendet sie sich auf sich selbst zurück. Im Handgebrauch stellt sie sich zuerst selbst her.4 Sie ist das Organ der Bezugnahme zu Dingen, zu den Anderen und zu sich selbst; dies mit einer im Laufe der Entwicklung des Individuums zunehmenden Vielfältigkeit und Komplexität. Auf den frühen Entwicklungsstufen, auf denen die Hand noch keine differenzierte taktile Wahrnehmungsfähigkeit besitzt, ist der Mund das sensiblere Tastorgan. Nach der Kleinkindphase übernimmt sie die Rolle des »Führungsorgans« (Gehlen), insbesondere bei sozialen Gebrauchsweisen.5 3
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Darauf macht Hans Schemann aufmerksam in seiner umfassenden anthropologisch orientierten semantischen Analyse des Wortes »Hand« und seiner vielfältigen Formen in Zusammensetzungen, Abwandlungen, Variationen (Schemann: »Die ›Hand‹ in der Sprache«). Die Hand symbolisiert in der Tradition der Philosophie die Arbeit (vgl. JeanMarie Salamito: »De l’éloge des mains…«). Zu den Werken, die sie schafft, gehört auch sie selbst – als die durchgearbeitete Hand. Vgl. die Bemerkung von Françoise Borin: »Der Tastsinn ist der einzige Sinn, der nicht im Gesicht angelegt ist; er trägt im Übrigen dazu bei, die anderen Funktio-
2. Welterzeugen der Hand
Die Vermittlung zwischen den Dingen und dem Körper lässt beide Seiten nicht unverändert. Ebenso wie die manipulierten Gegenstände auf je spezifische Weisen reagieren, werden die manipulierenden Bewegungen der Hand vom Individuum in motorische Schemata integriert und als Bilder erinnert. Bei den von der Hand hervorgerufenen Veränderungen denkt man als erstes an die Bearbeitung von Gegenständen; dies ist jedoch nur ein kleiner Ausschnitt aus dem breiten Spektrum ihrer Handlungsmöglichkeiten. Die Berührung wirkt nicht immer auf den Gegenstand ein, aber der durch sie hergestellte taktile Kontakt, das Ergreifen und das Zeigen, verändert die Beziehung des Menschen zum Gegenstand. Die Berührung erzeugt die Gewissheit, dass es diesen Gegenstand gibt. Insofern ist sie eine Art Existenzschöpfung. Sie ist ein Erzeugen von Objekten-für-die-Hand. Im Akt des Berührens vergewissert sich der Handelnde, dass es das Berührte gibt, ebenso wie die eigene Hand, die es berührt.6 Er bringt ein Resultat – das Berührte – hervor, dessen Gefühl in der Hand nicht weniger wirklich ist als dieses selbst.7 Den berührten Gegenstand gibt es, insofern seine Behandlung und seine ›Antwort‹ vom Handelnden inkorporiert wird. Der Gebrauch der Hand hat einen konstruktiven Aspekt; in ihren Konstruktionen sind sowohl ihre
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nen zu beeinträchtigen: die Augen bedecken, die Nase zusammenpressen, sich die Ohren verstopfen, sich den Mund zuhalten. Aber auch dazu, diese zu unterstützen, wenn das Gesicht dessen bedarf.« (Borin: »Les mains, code de lecture pour une iconographie«, S. 451 – eigene Übersetzung) Herder bemerkt in seiner Schrift Plastik (von 1770), dass der Tastsinn »das Leibhafte an Körpern« erkennt (S. 407). Über die Fähigkeit dieses Sinnes, den er »das Gefühl« nennt, sagt er weiter: »dem Gefühl gehört so das körperlich Solide; wie dem Gesicht das flächenartige Plane« (S. 410). In der antiken Philosophie gilt die Hand als Schöpfer einer eigenen Natur. Mit Hilfe seiner Hände kultiviert und pflanzt der Mensch, er macht die Erde fruchtbar. Die Hand erzeugt in der Natur eine zweite Natur (Cicero: De Natura Deorum). Tertullian spricht von einer zweiten Anlage der Welt. Aufgrund der Verdoppelung der Natur durch die Tätigkeit der Hände sind die Menschen glücklicher als die Tiere, lässt Xenophon den Sokrates sagen; vgl. Jean-Marie Salamito: »De l’éloge des mains au respect des travailleurs«, S. 53.
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Reaktionen auf den Gegenstand als auch ihre eigene materielle Beschaffenheit ununterscheidbar enthalten. Der neben der Vergewisserung zweite Aspekt der Berührung ist das Zeigen, das Hinweisen auf einen Gegenstand. Es deutet auf den Gegenstand und weist auf seine besondere Beschaffenheit hin. Das Zeigen hat immer einen körperlichen Aspekt. Wenn es mit Worten geschieht, ersetzen diese die Zeigegeste. Die Vorstellung, es könne ein rein geistiges Zeigen ohne Bezug auf Körperliches geben, beruht auf einem Irrtum. Es gibt jedoch ein virtuelles Berühren des Gegenstandes. Durch den virtuellen Handgebrauch wird das berührte Ding als Gegenstand-für-die Hand verdoppelt. Im Folgenden soll die Aufmerksamkeit darauf gerichtet werden, welche Gebrauchsweisen die Hand ausbildet, welche Eigenschaften sie besitzt und wie die ergriffenen Gegenstände antworten. Im Berühren, Tasten, Zeigen, Einwirken wird je eine einzelne Hand gebraucht. Die zweite Hand kann der Führhand zu Hilfe kommen und ihre Gebrauchsweise unterstützen. Mit fortschreitender Entwicklung des Individuums und der Zunahme des sozialen Aspekts erhält die Beidhändigkeit eine größere Bedeutung; sie entwickelt eigene, neue Dimensionen. Im Folgenden stelle ich eine einfache Typologie des Handgebrauchs dar, die zweierlei miteinander in Beziehung setzt: die im Laufe der (ontogenetischen) Entwicklung zunehmende Differenziertheit des Gebrauchs der Hände (zuerst je eine Hand, später die Koordination beider Hände) und die damit verbundene Erzeugung von neuen Dimensionen der Erfahrungswelt. Die vielfältigen Bewegungsmöglichkeiten erwirbt das Kleinkind in einem Prozess aus mehreren Stufen, in dem sich der Handgebrauch zunehmend differenziert:8 Beim Neugeborenen findet man die einfachste Form des Gebrauchs, bei der die fünf Finger und die Handfläche eine gemeinsame, ungeschiedene Funktionseinheit bilden. Auf dieser ersten Stufe gibt es weder eine Differenzierung der einzelnen Finger und des Daumens noch ein Zusammenwirken der beiden Hände. Erst 8
Die folgende Differenzierung entwickelt Jean-Hubert Levame in: »Main-objet et main-image«.
2. Welterzeugen der Hand
in den folgenden Stadien kann das Kind Dinge berühren und festhalten, die Oberfläche und Form von Gegenständen abtasten und eigene Bewegungsschemata herausbilden. Von inneren Körperbildern werden sowohl die Hand als auch ihre Gebrauchsweisen repräsentiert. Diese Bilder erfüllen eine wichtige Funktion insbesondere dafür, dass der inkorporierte Gegenstand – die Hand als Bild – entstehen kann. Die inneren Bilder der Hand erhalten im Laufe der Entwicklung immer mehr Eigenständigkeit gegenüber der Umgebung und den Bewegungen. Mit dem zweiten Entwicklungsschritt beginnt der Daumen sich selbständig gegenüber den Fingern zu bewegen. Das Kind kann nun Gegenstände fest in der Hand halten. Zwischen Daumen und Zeigefinger kann die materielle Beschaffenheit von Dingen erspürt werden. Im Bild der Hand entsteht ein Zwischenraum zwischen Daumen und Fingern, ein erster künstlich geschaffener räumlicher Unterschied, der später als ein Maß zum Ausmessen von Längen verwendet wird. Auf der dritten Stufe erhält der Zeigefinger individuelle Beweglichkeit. Mit diesem Stadium beginnen die eigenständigen Bewegungen der Finger und ihr Zusammenspiel in feiner Koordination. Von dieser Stufe an wird der Gebrauch von Werkzeugen möglich. Die Eigenständigkeit der anderen Finger, die auf der vierten und fünften Stufe erworben wird, ist eine Folge der Schulung der Hand. Dieser Gebrauch hat bereits so etwas wie einen intelligenten Charakter. Die Erziehung der Finger, die zu einer wirklichen Dressur werden kann, erhöht die Strukturierungsmöglichkeiten der Hand in einem erheblichen Maße. Sie steigert die motorischen und sinnlichen Fähigkeiten der einzelnen Finger und führt zu äußerst komplexen instrumentellen, gestischen und – wie beim Klavierspielen – zu ästhetischen Leistungen. Die Artikulationsfähigkeit der Hand wird eingesetzt, um Raum und Zeit zu unterteilen. Die raum-zeitliche Strukturierung tritt insbesondere am Prozess des Zählens hervor, im Nacheinander der einzelnen Fingerbewegungen, die die Folge der Zahlen markieren.9 Dabei wird nicht nur eine einzelne Zahl genannt, sondern eine rhythmische Bewegung von Zahl zu Zahl vollzogen. Diese Fähigkeit wird voll entfaltet, wenn alle 9
Siehe Georges Ifrah:Universalgeschichte der Zahlen.
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Finger ihre Eigenständigkeit erlangt haben. Die Hand wird dann das feine Instrument der Gliederung, Strukturierung und Artikulation, das nicht mehr nur gleichförmig, sondern auch variabel nach selbst gesetzten Regeln gestaltet wird.
Erzeugen von Ordnungen durch den Handgebrauch Die Hand mit vier und mehr funktionalen Einheiten, die das Individuum beherrschen lernt und zu denen auch die Fingerglieder gehören, ist für gestische und rituelle Bewegungen geeignet. Ihre hohe Differenziertheit und Artikulation von Raum und Zeit, ihre sinnlichen gestalthaften Strukturierungen ermöglichen die Formung von Symbolen. Die differenzierte Bewegungsfähigkeit der Hand, so der Handchirurg Levame, ist von Natur aus anatomisch und physiologisch vorbereitet, aber der tatsächliche Erwerb dieses Vermögens ist Ergebnis von Schulung, Lernen und Erziehung, das Resultat eines sozialen Prozesses. Dieser geschieht implizit in Auseinandersetzung mit den Objekten, Geräten und Instrumenten der materiellen Umgebung und explizit mit Hilfe von Handlungsanweisungen, Konventionen, Vorbildern und unter dem Einfluss gesellschaftlicher Praktiken, die sich ständig wiederholen, beispielsweise beim Essen, Handgeben, Werkzeuggebrauch, Bedienen von Geräten, Beherrschen von Tastaturen und Spielen von Musikinstrumenten. Der immer weiter differenzierte Handgebrauch erzeugt neue Dimensionen und Schichten der Gegenstandswelt. Nicht nur Objekte außerhalb des Körpers, sondern auch dieser selbst wird exploriert und erhält durch Tasten, Berühren und Greifen eine Gestalt.10 Der Körper
10
Vgl. Johann Gottfried Herder in Plastik: »Der Körper, den das Auge sieht, ist Fläche: die Fläche, die das Gefühl tastet, ist Körper.« (S. 410). Die gestalterische Fähigkeit der Hände steht im Zentrum der kunstphilosophischen Schriften und Bemerkungen über die Hand; vgl. insbesondere Henri Focillon: Vie des formes, suivi de Éloge de la main.
2. Welterzeugen der Hand
wird in fein strukturierte Formen mit sensiblen Oberflächen gegliedert, die auf die Handtätigkeit mit Empfindungen reagieren. Das Subjekt deutet das Antwortverhalten symbolisch, macht es wiedererkennbar und bereitet auf diese Weise die Benennung von Körperzonen und ihrer sensiblen Eigenschaften vor: Es richtet den Platz ein, den später Empfindungsausdrücke einnehmen werden. Bevor man einen Körperteil bezeichnet, hat man ihn aus seiner Umgebung gleichsam herausgetastet. Erwachsene versuchen manchmal, wenn sie den Namen eines Körperteils oder einer Empfindung vergessen haben, diesen wiederzufinden, indem sie die entsprechende Körperregion betasten. Die Sprache über Empfindungen beruht zu einem bedeutenden Teil auf einer umfangreichen Praxis des Tastens und der Propriozeption. Die Hand selbst ist, obwohl sie viele sprachmäßige Eigenschaften besitzt, nicht zu Aktionen fähig, die einem Benennen entsprechen. Für die Erzeugungen von Bedeutungen ist sie auf die Sprache angewiesen. Deren Benennungen kann sie allerdings dynamisch modifizieren. Während eine sprachliche Bezeichnung über alle Einzelgebräuche hinaus gleich bleibt und als ein invariantes Wort für viele unterschiedliche Erscheinungen verwendet wird, gleicht ein Handgebrauch nie einem anderen. Freilich sind viele verschiedene Verwendungsweisen einander ähnlich. Dieser Umstand ist nicht einfach ein Nachteil des Handgebrauchs gegenüber der Sprache. »Das Individuum hat ständig wiederkehrende Folgen von Gesten zu reproduzieren, aber muss sie stets adaptieren und organisieren, denn diese sind niemals vollkommen und die materiellen Bedingungen niemals identisch.«11 Die Unmöglichkeit, eine Bewegung exakt zu reproduzieren, führt dazu, dass die Hand sich an immer neue Umstände anpasst, dass sie Variationen erzeugt, sich immer wieder anders organisieren kann. Mit Hilfe des Handgebrauchs werden neue Zusammenstellungen oder Fortsetzungen der bereits konstruierten Ordnungen erzeugt. In Form einer mimetischen Kette nehmen die jeweils neuen Ordnungen auf jene Bezug, die sie wiederholen, variieren oder verändern.
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Jacques Pelegrin: »La main et l’outil préhistorique«, S. 22 – eigene Übersetzung.
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Betrachten wir die verschiedenen mit Hilfe des Handgebrauchs entstehenden Ordnungen. Eine von ihnen, wohl die erste Ordnung, haben wir bereits als Welt der Gewissheit und des Zeigens gekennzeichnet: die Berührung, das Folgen einer Linie mit Auge und Hand, das Nachformen einer Gestalt – alle diese Handbewegungen sind produktive Wiederholungen von Dingen der gegebenen Welt. Man kann sie als Nachahmung oder »Anschmiegen« (Adorno) an die Wirklichkeit bezeichnen. In jedem dieser Fälle wird der Gegenstand, der nachgeahmt oder wiederholt wird, von der Hand mimetisch nacherzeugt. Eine zweite Ordnung ist diejenige der Raumgliederung. Bei der Konstruktion der Raumordnung kooperiert die Hand mit dem Gesichtssinn. Diese Zusammenarbeit setzt sich auf höheren Stufen in immer komplexerer Weise fort. Dabei bleiben beide Erfahrungsmodi nicht getrennt, sondern ergänzen sich und setzen einander fort, wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird. Eine der wichtigsten Leistungen der Hand besteht darin, dass sie neue Wahrnehmungsmöglichkeiten, Aspekte und Blickweisen entstehen lässt. In Hinweisen, in gestischem Spiel, in der Nachahmung von Bewegungen entfaltet sie ihre Kreativität mit der Fähigkeit, eine Fülle verschiedenartiger Referenzen zu erfinden. Die protosemantischen Konstruktionen der Hände werden für die Einführung und den Gebrauch sprachlicher Benennungen genutzt – eine Beobachtung, die E. Canetti zu dem Gedanken anregt: »Worte und Gegenstände wären Ausfluß und Ergebnis eines einzigen einheitlichen Erlebnisses, eben der Darstellung durch die Hände.«12 Dieser Zusammenhang entsteht einerseits im Nachspielen eines Vorgangs, andererseits in zeichnerischen und malerischen Gesten. Zeichnen und Malen nach einem Vorbild ist Vergewisserung einer anderen Welt. Die künstlerische Geste gibt die Gewissheit, dass diese Welt vorhanden ist und der Künstler sie in seiner Sichtweise wiedergibt und neu anordnet. In diesen letzten Überlegungen ist schon die Strukturierung der Zeit einbezogen – die dritte Ordnung. Im gestischen Gestalten der Erfahrungswelt wird die Zeit der Bewegung gegliedert: als Ablauf, Rei12
Elias Canetti: Masse und Macht, S. 241.
2. Welterzeugen der Hand
henfolge, Geschwindigkeit, Rhythmus. Dabei kann die Integration des Raums in zeitliche Abläufe wichtig werden, beispielsweise bei der gestischen Malerei oder in der Musik. Das wird am deutlichsten in den Kompositionen für Schlaginstrumente, aber auch im Blues, der wesentlich von gestischen Bewegungen, der Koordination von Gehen und Erzählen, lebt. Zwei Prozesse sind hierbei zu beobachten: Die Handtätigkeit gewinnt auf der einen Seite einen zunehmend darstellerischen Charakter. Auf der anderen Seite ist die Hand dabei von Zwecken befreit. Aus den freien Handbewegungen entstehen ornamentale Formen, rhythmische Muster, aber auch Zärtlichkeitsgesten. »Das Eigenleben der Hände, in diesem ursprünglichsten Sinne, hat sich im Gestikulieren noch im reinsten erhalten.« (Canetti, ebd.) Aus der freien Zeit- und Raumgestaltung geht auch das Zählen hervor. Es beginnt willkürlich mit dem ersten Schritt, dann aber werden die Gestaltungsprinzipien als unveränderbare Regel gesetzt und streng eingehalten. Ob man mit der ganzen Hand oder mit einem Finger, von links oder von rechts anfängt, welche Finger man in welcher Reihenfolge einsetzt, welche Bezeichnungen dabei verwendet werden – dies alles beruht auf Konventionen, die nicht verhandelbar sind.13 In der Wirtschaftsverwaltung der alten Kulturen des Vorderen Orients wurden beispielsweise Steine als Zählsymbole für Mengen verwendet: »Für jede gezählte Einheit wird ein Stein auf einen Haufen gelegt, so daß der Haufen die Summe repräsentiert.«14 Jeder muss dabei vorgehen wie alle anderen. Zählen ist ebenso stark gesellschaftlich reguliert wie Messen oder Benennen. Es stehen dabei nicht nur die Bewegungen und die Zahlwörter fest, sondern es werden auch Bewegungsrhythmik und Geschwindigkeit kontrolliert. Man darf weder zu schnell noch zu langsam zählen; man muss einen bestimmten Bewegungsfluss erzeugen und ihn mit einem gleichförmigen Stimmeinsatz begleiten. So entsteht eine rekursiv aufgebaute Ordnung der Zahlen, die nicht mehr den Bewegungen angehört, sondern eine gedachte ideale Ordnung darstellt, die sowohl die Zeit als auch den Raum mit Hilfe abstrakter Prinzipien unter13 14
Vgl. Georges Ifrah, Universalgeschichte der Zahlen, insbesondere S. 36-60. Hans J. Nissen et al.:Frühe Schrift und Techniken…, S. 47.
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gliedert. Räumliche und zeitliche Ordnungen verlieren in dem Maße ihren mimetischen Charakter, wie sie nach formalen Prinzipien aufgebaut werden und ihren Bezug zu körperlichen Handlungen und zur vorhandenen Welt verlieren. In der Zählhandlung kann man eine solche Beziehung noch erkennen – sie konstruiert die Zahlenreihe als eine Folge von Gesten. Aus der idealen Welt der Zahlen sind die körperlichen Elemente getilgt, die in den frühen Zählgesten noch präsent waren. Am Beispiel der Zahlen kann man gut erkennen, was den Handgebrauch und die mimetisch erzeugten Welten insgesamt von den idealen Konstruktionen der Wissenschaft unterscheidet. Die Bildung mimetischer Welten geht vom Körpergebrauch aus; dieses Prinzip gilt allgemein für Regularitäten, Ordnungen und für den Gebrauch der Sprache. Sie alle haben das Merkmal der Konkretheit, der Übung und Handlungsbezogenheit, Gewissheit und praktischen Bewährung. Sie gehören zu einem Wissen, das nicht vollständig formalisierbar ist, sondern in die Praxis eingebunden bleibt. Daher bilden sie keine unvollständigen Idealisierungen, sondern sind Ordnungen eigenen Rechts.
Verinnerlichung und Subjektivierung Auf eine entscheidend wichtige Konstruktion der Hände macht Arnold Gehlen aufmerksam.15 Sein Gedanke setzt bei der Propriozeption ein, also bei dem Sinn, durch den Menschen ihren eigenen Körper spüren. Das Subjekt fühlt beispielsweise die eigene Körperhaltung – die Neigung des Kopfes, die Position der Arme, die Stellung der Beine etc. Bei der Selbstberührung mit der Hand kommt es nun zu einer zweiseitigen Wahrnehmung: In einer differenzierten Seh- und Tasterfahrung sieht das Subjekt die Hand, wie sie einen Körperteil berührt, und spürt zugleich die Berührung als einen Druck von außen. Einerseits wird die Handlung visuell wahrgenommen wie ein unabhängig vom Subjekt erkennbares Ereignis, das auch andere Personen sehen können. Auf der anderen Seite wird sie vom Subjekt propriozeptiv erfahren. 15
Arnold Gehlen: Der Mensch, S. 134ff.
2. Welterzeugen der Hand
Das Entscheidende an der doppelten Wahrnehmung ist, dass Gesehenes und Gespürtes eine einheitliche Erfahrung bilden. Es handelt sich nicht um zwei voneinander getrennte Empfindungen, sondern um eine einzige in sich differenzierte Sinneserfahrung. Eine Berührung sehen und sie propriozeptiv spüren sind zwei Seiten desselben Ereignisses. Normalerweise funktionieren sie gemeinsam. Man kann sich aber leicht vorstellen, dass die eine Seite ausfällt: Wenn man die Augen schließt, erfährt man nur das Spüren. Und wenn man einen tauben Körperteil hat oder wenn er umwickelt ist, kann man die Berührung nur sehen. Wie funktioniert in diesen Fällen die Beziehung zwischen Sehen und Fühlen? Wenn die Hand bei geschlossenen Augen gebraucht wird, achtet das Subjekt auf die Tastempfindung und ergänzt das Sehbild, das es aus früheren Erfahrungen kennt. Ebenso umgekehrt: Wenn der berührte Körperteil nicht mit einer Tastempfindung antwortet, fügt das Individuum die gewohnte propriozeptive Erfahrung hinzu. Die HandAuge-Koordination, die diese Ergänzungen hervorbringt, setzt sich aus einer an den Standpunkt der Person gebundenen subjektiven Erfahrung, aus einem Fühlen, und einem von anderen beobachtbaren Seheindruck zusammen. Es entsteht also ein Zusammenspiel von subjektiver und intersubjektiver Erfahrung. Die Möglichkeit, den Sehaspekt durch gespeicherte und abrufbare (propriozeptive) Tastempfindungen zu ergänzen, beruht nicht auf einer intellektuellen Leistung, sondern geht auf Erfahrungen durch Selbstberührung des eigenen Körpers zurück. Der Prozess der Substitution kann auf Handlungspartner übertragen werden. Auch bei ihnen kann das Subjekt seine Seherfahrung durch eine propriozeptive Erfahrung ergänzen. Ähnlich wie man sich selbst berührt, diesen Vorgang beobachtet und dabei die Berührung empfindet, kann man die Sehwahrnehmung und die Tastempfindung von anderen Personen empathisch erfahren.16
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Zum Konzept der Empathie siehe Kapitel 10 in diesem Band: »Verstehen durch Empathie«.
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Die Zweiseitigkeit der Aspekte ist charakteristisch für die Struktur unserer Empfindungen.17 Dass man die Empfindungen, die man bei anderen Personen beobachtet, mit eigenen propriozeptiven Erfahrungen auffüllen kann, ist ein Hinweis auf ein empathisches Verhältnis zwischen Handlungspartnern, das offenbar schon auf einer frühen Stufe entsteht. In der Kooperation mit dem Gesichtssinn leistet der Handgebrauch also eine weitere Vermittlungsfunktion: Er bildet eine Brücke zwischen eigenen und fremden Empfindungen. Dies ist die dritte Vermittlung nach der ersten zwischen Handelndem und Gegenstandswelt und der zweiten zwischen subjektiven und intersubjektiven Wahrnehmungen. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine direkte Übertragung von Empfindungen, sondern um ein Mitfühlen auf der Grundlage eigener Erfahrungen. Wir gelangen zu einem eigenartigen Zwischenergebnis: Der Handgebrauch führt in Koordination mit dem Gesichtssinn durch die Konstruktion einer idealen Zahlenfolge einerseits zu den objektivierten Praktiken des Zählens, auf der anderen Seite zum Aufbau von subjektiven Empfindungswelten. Beide Leistungen werden meistens der Sprache zugeschrieben. Die Entstehung und der Funktionszusammenhang von Zeigen, Berühren, Hin-Deuten und subjektiven Empfindungen muss auf eine tiefere Stufe verlegt werden, in einen Bereich unterhalb der Sprache.
Soziale Ordnung und symbolische Welten An der gesellschaftlichen Verwendung der Hände setzt eine ganze Zivilisationstechnologie an. Ihre Gelehrigkeit wird genutzt für den Werkzeuggebrauch, für Spiele, Malerei, Musik, für das Schreiben, Zählen, 17
Über die Tätigkeiten der Hand werden Gefühle ausgedrückt, beispielsweise beim Händedruck, durch Streicheln und andere Zärtlichkeitsgesten. Auf diese Weise entstehen besondere Formen des Sozialen (vgl. Emmanuel Housset: »L’âme et la main«, S. 34). Michel de Certeau bezeichnet die Innerlichkeit des Menschen mit einer Metapher »als ein Gedicht der Hände« (in: La faiblesse de croire, S. 16f.).
2. Welterzeugen der Hand
Hindeuten, für häusliche Arbeiten, soziale Gestiken. Am Handgebrauch zeigt sich der zivilisatorische Stand einer Person. Die Vielzahl der Sozialtechniken, ihre hohen Ansprüche an das Verhalten, die Feinheit ihrer Regulierungen, die starke Befrachtung mit Symbolik, die variable Artikulation und die Ritualisierung, alles dies macht die Hände zu außerordentlich regulierten Körperteilen. Selbst sozial erzeugt, wirkt die Hand wesentlich daran mit, der sozialen Welt zivilisatorische Formen zu geben. Die ordentliche Hand ist selbst ordnend. Die großen Orientierungen der Gesellschaft, ihre fundamentalen Einteilungen werden im Handgebrauch vorbereitet. Dieser Gedanke wird zum ersten Mal in der frühen Arbeit von Robert Hertz systematisch entwickelt.18 Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Tatsache der Zweihändigkeit des Menschen. Wenn man nur von »der Hand« spricht, übergeht man die Tatsache, dass die beiden Hände verschiedenartig benutzt werden. Die Differenzierung zwischen rechter und linker Hand und ihre ungleiche Verwendung ist nach Hertz über alle Kulturen verbreitet. Mit Hilfe des Handgebrauchs wird das soziale Universum in eine rechte und eine linke Hälfte aufgeteilt und entsprechend der Werte klassifiziert, die der rechten und der linken Hand zuerteilt werden. Mit der rechten Hand wird gegrüßt, gegessen, gesegnet. Sie ist die reine Hand; einzig mit ihr dürfen bestimmte rituelle Akte vollzogen werden: Sie ist die gute Hand. Alle Handlungen, die dem Bereich des Unreinen angehören, hat die linke Hand auszuführen: Was die rechte darf, wird der linken versagt. Über den Körper wird eine regelrechte Geometrie gelegt, welche die Funktionen, symbolischen Deutungen und Bewertungen der Körperteile festlegt. Der Gebrauch beider Hände wird in ein Schema der spiegelsymmetrischen Opposition eingeordnet und von dieser klassifiziert. Von den Einteilungen des Körpers aus – in eine geschickte, reine, sozial akzeptierte Hand und ihr Gegenteil – verbreitet sich eine dualistische Ordnung über die Person und die soziale Welt.19 18 19
Robert Hertz: »La prééminence de la main droite«. Henri Michaux bemerkt zur Asymmetrie der beiden Hände: »Man darf vor allem nicht aus der linken Hand eine Imitation der rechten machen […] Ihre Rolle
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Mit der Einteilung von rechts und links wird eine Ordnung der Einschließung und Ausschließung etabliert. Sie entscheidet, auf welche Seite ein Mensch oder eine Gruppe gehört, ob auf die Seite des Reinen, Geraden, Angesehenen, auf die Seite des Heiligen oder auf die andere Seite des Unreinen, Ungeraden, auf die Seite des Profanen. Die binäre Differenzierung der großen Weltordnungen haben hier ihren Ausgangspunkt, insbesondere die Einteilung der Menschen nach männlich und weiblich, die selbst wieder mit einer Geographie der Symbole und Werte überzogen wird. Im Unterschied zur Strukturierung durch das Zählen und Messen ist sie keine Idealisierung. Nach dem Modell der Körperdualität von rechts und links bauen traditionelle Gesellschaften die symbolische Darstellung ihrer Sozialordnung auf. Sie beruht auf einer Urteilsstruktur, die den sozialen Raum moralisch in das Gerade, Konforme und das Ungerade, Abweichende unterteilt.
Der Gebrauch der Hände als Vorstufe zur Sprache Aus dem Handgebrauch selbst entsteht keine Ordnung. Er ist eine soziale Praxis, die eine Art und Weise des Ordnens bereitstellt, ein Sprachspiel, das einen Raum für das Spiel sozialer Symboliken erzeugt. Was die Hand wichtig für das Denken macht, ist ihre Fähigkeit, Darstellungsmöglichkeiten zu erfinden und auszugestalten. Sie besitzt in eins mit ihrer praktischen auch eine darstellerische Funktion. So ist das Zugreifen ein praktischer Akt des Festhaltens, des In-Besitz-Bringens. Es zeigt zugleich die Macht des Greifenden über den Ergriffenen, sein Verfügen über das, was sich greifen lässt. Im Akt des Greifens – so lässt sich diese Handlung interpretieren – führt die Hand das Verhältnis von Macht
ist eine andere. Wenn sie brillant werden würde, würde sie ihr Wesen verlieren und, noch schwerwiegender, damit auch alles das, was sie stillschweigend in Beziehung setzt […] Wahrscheinlich trägt sie dazu bei, den Effekt einer zu präsenten, zu unmittelbaren, zu mächtigen rechten Hand zu dämpfen« (zitiert nach Françoise Borin: »Les mains, code de lecture pour une iconographie«, S. 452 – eigene Übersetzung).
2. Welterzeugen der Hand
und Unterordnung auf, wie ein mikroskopisches Theaterstück des Alltagslebens, mit einer Bühne, einer Rollenverteilung und einer Handlungsstruktur. In analoger Weise lässt sich auch das Zeigen, das Hin-Deuten beschreiben. Hierbei verfügt das Individuum nicht über den Gegenstand: Indem es auf diesen zeigt, lässt es ihn, wie er ist. Im ›Theaterspiel‹ des Hin-Deutens sind viele Erfahrungen präsent, die die Hand mit dem gezeigten Gegenstand (oder anderen Dingen, die diesem ähnlich sind) zuvor gemacht hat. Die ›Rolle‹ des Gegenstands, auf den sie hindeutet, ist in früheren Gebrauchsweisen bereits erfahren und festgelegt worden. Im Werkzeuggebrauch wird das Spiel des Hin-Deutens fortgesetzt und weiter ausgestaltet: Ein Gegenstand wird mit regelhaften Bewegungen behandelt und auf ein zu bearbeitendes Objekt angewendet. In diesem Spiel wird der ergriffene Gegenstand als Werkzeug dargestellt. Es wird gezeigt, wie er als Instrument auf ein entsprechendes Objekt angewendet wird und wie er dieses verändert. Der Werkzeuggebrauch ist, nach einem Gedanken Wittgensteins,20 das Modell des instrumentellen Gebrauchs von Benennungen. In komplexeren Fällen der Darstellung vergrößert die Hand ihre Eigenständigkeit gegenüber dem Dargestellten. Ihre Selbständigkeit wird gerade da wichtig, wo man sie am wenigsten vermutet, bei der Nachahmung. Wenn man mit dem Finger einer Linie folgt, erzeugt man die Linie noch einmal – unter den Bedingungen der Hand: als Bewegung, die ein motorisches Schema und ein Bewegungsbild der Linie hervorbringt. Beide existieren unabhängig von der ursprünglichen Linie weiter, zum einen als motorisches Schema im Körper, zum anderen als Wiederholung der Linienform durch die Hand. Das Noch-einmalMachen der Linie mit der Hand löst sich von der ursprünglichen praktischen Handlung ab und bildet eine vom Individuum hergestellte selbständige Form, die ihr Anderssein im Verhältnis zur ursprünglichen Linie behauptet. Selbst die einfache Wiederholung kann als produktiv aufgefasst werden: Sie erzeugt ein Spiel mit dem Gegebenen, indem
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Vgl. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 14f.
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sie dieses in einem anderen Medium, mit der zeigenden Bewegung, neu konstruiert.21 Die Produktionen der ›Handspiele‹ sind Konstrukte, die in Handlungen gewonnen werden und Voraussetzungen für Erkenntnisse bilden. Erzeugt werden sie im Wiederholen, Hin-Deuten, Nachahmen, im artikulierten und im instrumentellen Handgebrauch sowie in der unterschiedlichen Verwendung von rechter und linker Hand. Eine wesentliche Errungenschaft der ›Handspiele‹ liegt in ihrem doppelten Gebrauch. Die Möglichkeit, vorgefundene Elemente aufzunehmen und noch einmal, in einem anderen Medium als eigenständige Formen zu verwenden, ist eine Leistung von Spielen. Die ›Handspiele‹ gehören zu den ersten und wichtigsten Spielen im Leben des Menschen; sie lassen sich als Vorgänger von Sprachspielen ansehen. Ihre wesentliche Leistung besteht darin, dass sie die elementaren Regularitäten von Sprachspielen hervorbringen – eine Art Vor-Ordnung. Auf ihrer Grundlage werden auf weiteren Entwicklungsstufen erste Sprachspiele und eine strukturierte Umwelt hergestellt. Das schließt nicht aus, dass diese Strukturen auf höheren Stufen verbessert oder korrigiert werden. Die Tatsache des Körpergebrauchs und der von ihm hervorgebrachten Strukturen kann aber nicht mehr zurückgenommen werden. Die durch den Handgebrauch hergestellten Ordnungen sind notwendige Bedingung von Erkenntnis und Sprache. Wittgensteins zentraler Gedanke des Sprachgebrauchs ist in der materiellen Form des Körpers und seines Gebrauchs fundiert. Die Umwelt nimmt in der Weise Gestalt an, wie das handelnde Subjekt mit ihr umgeht. Den Spracherwerb stellt Wittgenstein als Erlernen des Umgehens mit Objekten dar, die durch dieses symbolisch werden.22 Die variablen Funktionsweisen sprachlicher Ausdrücke vergleicht er mit denen von Werkzeugen und Handgriffen.23 In vielen Fällen ist der Wortgebrauch eine Art »Greifen« zu Namen für Dinge. »Eine Bedeutung eines Wortes ist eine Art seiner Verwendung. – Denn sie ist das, was wir erlernen,
21 22 23
Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 42. Vgl. Gunter Gebauer: Wittgensteins anthropologisches Denken, S. 99f. Vgl. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 11 und § 12.
2. Welterzeugen der Hand
wenn das Wort zuerst unserer Sprache einverleibt wird.«24 Wörter sind auf frühen Entwicklungsstufen so etwas wie die Erweiterung unserer körperlichen Handlungen. Daher sind ihre Bedeutungen viel tiefer verankert als in Abmachungen oder Konventionen. Lange bevor ein Kind sprachliche Ausdrücke für die Gegenstände seiner Umgebung erwirbt, hat es in primitiven Sprachspielen seine Umgebung nachgeahmt, geordnet und auf diese Weise von ihr symbolisch Besitz ergriffen.
24
Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit, § 61.
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3. Der Mensch als Organismus und Mechanismus
Die Freiheit des Menschen ist in anthropologischer Perspektive zuallererst die Freiheit, sich selbst hervorzubringen. In der Geschichte der Menschheit und jedes einzelnen Menschen liegt die erste Form der Freiheit in der Aufrichtung. »Der Mensch ist der erste Freigelassene der Natur: er kann gehen.«1 In Herders enthusiastischer Beschreibung handelt der Mensch nicht aus Notwendigkeit, sondern aufgrund seiner Entwicklungsoffenheit, welche die Natur konstitutiv in ihm angelegt hat. Er nutzt seine Chance, ein sich selbst entwickelndes Wesen zu sein. Aus eigener Kraft exploriert er die in seinem Organismus angelegten anatomischen und physiologischen Möglichkeiten. Explorierende Tätigkeit ist das eine grundlegende Merkmal, das ihn kennzeichnet. Das zweite besteht darin, seine Errungenschaften festzuhalten und sie zweckmäßig zu nutzen und sie zu einer neuen Ökologie und Ökonomie des Körpers auszubauen. So entwickelt er aus dem freien Stand das Gehen und Laufen. Durch diese Errungenschaft befreit er die Hand von den Aufgaben der Fortbewegung und formt – was wir erst seit kurzem wissen – seine Füße für die Technik des Langlaufs um. Die Menschen in der Savanne konnten zwar nicht so schnell laufen wie die großen Raubtiere, dafür waren sie aber ungleich ausdauernder und konnten die entlastete Hand für das Werfen von Speeren einsetzen. In der Spontaneität der menschlichen Entwicklung liegt ein Moment der Freiheit, die nicht durch die Tätigkeit des Geistes, sondern 1
Johann Gottfried Herder: Ideen zur Geschichte der Philosophie der Menschheit.
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durch die Aktivität des Körpers errungen wird. In der frühesten Periode der Entwicklung des menschlichen Wesens gab es noch kein umfassend steuerndes Denken. Es gab aber eine Kooperation zwischen den Menschen. Sie koordinierten ihre körperlichen Handlungen miteinander; so geschah es beispielsweise bei der Jagd. Nietzsche beschreibt den Menschen als »das noch nicht festgestellte Thier«:2 Die Offenheit für neue Entwicklungen macht ihn zu einem der »unerwartesten und aufregendsten Glückswürfen, die das ›große Kind‹ des Heraklit, heisse es Zeus oder Zufall, spielt«.3 Seine zweite glückliche Fähigkeit besteht darin, dass er sich selbst feststellen und so die durch Exploration errungenen Möglichkeit behalten kann. Er kann Elemente des Verhaltens fixieren und an den Gelenkstellen zu stabilen Strukturen zusammenfügen. Auf diese Weise stellt er wie bei einem Werkzeug neue Funktionszusammenhänge und Gebrauchsmöglichkeiten her. An die Stelle der Spontaneität des Organismus tritt ein instrumentelles Funktionieren des ganzen Menschen. Aus ungeordneten, ungeregelten und unvorhersehbaren Bewegungen entsteht eine Mechanik. Als Organismus ist der Mensch Teil eines dynamischen Lebensprozesses: Er kann in seiner ungesteuerten und entwicklungsoffenen Aktivität Ordnungen hervorbringen, diese aber auch wieder auflösen. Als mechanisches Konstrukt kann er sich Festigkeit und Dauer verleihen. Seine schöpferische Kraft bildet zwei unterschiedliche Zustände aus, die in Wechselwirkung miteinander treten können: Einerseits probiert der Organismus die ihm gegebenen Möglichkeiten aus und sucht, wenn er eine Struktur gefunden hat, wieder nach neuen Entwicklungen, andererseits fixiert er bestimmte Lösungen und hält die Dynamik des Lebensprozesses mit mechanischem Gebrauch fest. Menschliches Handeln kann also immer unter den beiden Aspekten von Organismus und Mechanismus betrachtet werden. Von beiden Gesichtspunkten aus wird eine gegebene Entwicklung je unterschiedlich eingeschätzt.
2 3
Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Aphorismus 62. S. 81. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 323.
3. Der Mensch als Organismus und Mechanismus
Normen setzen Mit der Annahme eines Wechselspiels von Organismus und Mechanismus wird die Heraklitische Vorstellung vom ständigen Fluss des Seins modifiziert: Leben ist ein Fließen, aber nicht regellos, sondern ein Hin und Her zwischen einer produktiven Aktivität, die Neues hervorbringt, und einem Festhalten des einmal erreichten Zustands. Es handelt sich um einen Prozess der Selbstkonstruktion, in dem grundlegende Fertigkeiten der frühen Entwicklung herausgebildet werden. Wie gelangen kleine Kinder dazu, dass sie sich frühzeitig in ihrem Leben frei stehen und gehen können? Wenn man ihnen dabei zusieht, wie sie wochenlang probieren sich aufzurichten, ihren Gleichgewichtssinn entwickeln, den Einsatz von Gliedern und Muskeln üben, mit denen sie Zugund Ausgleichsbewegungen vollziehen, wie sie immer wieder den festen Halt aufgeben und auf noch ungeschickten Füßen schwankend um den freien Stand ringen, wenn man diese vielen verschiedenen, komplexen und miteinander koordinierten Tätigkeiten beobachtet, erkennt man, dass der aufrechte Stand und das freie Gehen eine echte Errungenschaft des Menschen sind, die weder auf eine Instinktbasis noch auf ein genetisches Programm zurückgeht. Angesichts des außerordentlichen Aufwands an Eigentätigkeit des Kindes haben diese beiden Annahmen kaum einen Erklärungswert. Auch die Möglichkeit von Nachahmung oder regelgeleiteter Tätigkeit kommt nicht Frage: Niemand kann einem Kleinkind genau vormachen oder vorschreiben, wie es seinen ungeübten Körper in eine aufrechte Haltung bringen, sein Gewicht auf beide Füße verteilen und wie es sich gerade halten solle. Kinder regulieren sich selbst; sie finden von sich aus, jedes Kind auf seine Weise, die regelhaften Verhaltensweisen, die sie zum Stehen unter allen normalen Umweltbedingungen fähig machen. Allerdings haben sie annähernd ähnliche anatomische Voraussetzungen: kurze Beine, relativ langer Rumpf, großer Kopf, sodass sie, wenn sie sich nach vorn beugen, den Schwerpunkt vor den Körper verlagern und einen kleinen Schwung nehmen, sich von allein aufrichten. Wenn sie einmal die Möglichkeit gefunden haben, sicher zu stehen, wiederholen sie die entsprechenden Bewegungen bei anderen Gelegenheiten, immer wieder, bis
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sie sie sicher reproduzieren. Wenn man dieses Verfahren als trial and error kennzeichnet, erfasst man den Aspekt des Ausprobierens, aber einem entgehen die menschlichen Leistungen der Konstruktion und Koordination, welche die vielfältigen Aktivitäten zu einer komplexen, systematischen Gesamtbewegung zusammenfügen. Die Grundmerkmale der Bewegung werden vom Organismus gespeichert und haben bei späteren Versuchen den Charakter von Normen. Andere Personen sind bei diesem Konstruktionsprozess keine Hilfe; sie können ihn höchstens unterstützen. Während Tiere ein genetisches Programm für ihre artspezifischen Bewegungen, Reaktionen und Haltungen besitzen, bilden Menschen in Eigentätigkeit selbst gesetzte Normen heraus, mit denen sie ihr Handeln regulieren. Eine Norm in dem hier verwendeten Sinn gibt an, dass eine Handlung »so ist, wie es sein soll«.4 Mit Hilfe der selbst gebildeten Normen unterscheidet das Kind den normgerechten Zustand von Aktionen, die von diesem abweichen. Der Normalzustand ist selber eine Instanz der Norm. Ohne dass es etwas über die eigene Normalität weiß, bildet das Kind eine implizite Normativität aus, die sein Stehen, Gehen, Greifen als gesollte Zustände auszeichnet. In ihren sprachlichen Beschreibungen beziehen sich Kinder auf Normen, die einen Normalzustand angeben. Sie sagen beispielsweise, sobald sie die Sprache sicher beherrschen: »A ist umgefallen«, »A kann noch nicht laufen«, »A steht schief«, »A steht gleich wieder auf« etc. Den Sinn elementarer Bewegungen, wie Stehen, Gehen, Greifen, erfasst man mit Bezug auf die Normen, deren Erfüllung sie sind.
Das Normale und das Pathologische Von seiner frühen Entwicklung an strebt der menschliche Organismus danach, Normen zu bilden, diese festzuhalten und in weiteren Handlungen zu reproduzieren. Mit der Norm setzt er sich also selbst ein Telos,
4
Georges Canguilhem: Das Normale und das Pathologische, S. 81.
3. Der Mensch als Organismus und Mechanismus
das er erreichen will. Mit der Fähigkeit, selbst gesetzte Normen zu generieren, die beispielsweise im Stehen und Gehen zum Ausdruck kommen, führt der Mensch die Lebensprozesse des Organischen auf der Ebene der Handlungen fort. Auf den Zusammenhang von Lebens- und Handlungsregulierungen hat Georges Canguilhem hingewiesen; seine Argumentation sei im Folgenden kurz wiedergegeben. Es gehört zu einem intakten Organismus, dass er auf eine krankhafte Veränderung reagiert. Sie stellt eine Abweichung von seinem normalen Zustand dar. » […] der lebendige Mensch (qualifiziert) selber bestimmte Zustände oder Verhaltensweisen, die er der dynamischen Polarität des Lebens entsprechend als negativen Wert fürchtet, als pathologisch, und das heißt, als zu vermeidende oder zu behebende […]. In dieser Einstellung zeigt sich […], dass der Mensch eine dem Leben eigene spontane Anstrengung zur Abwehr all dessen, was seine als Normen begriffene Erhaltung und Entwicklung behindert, mehr oder weniger bewusst weiterführt.« (Canguilhem: S. 82) Nach Canguilhem unterscheidet der Organismus auf der Ebene der natürlichen Reaktionen zwischen normalen und pathologischen Zuständen, also zwischen zwei Werten, von denen der eine positiv, der andere negativ ist. »Wenn ein Lebewesen auf eine Verletzung, auf Befall durch Parasiten oder auf eine Funktionsstörung mit Krankheit reagiert, so zeugt dies nur von dem grundsätzlichen Tatbestand, dass das Leben gegenüber den Bedingungen, unter denen es möglich ist, nicht indifferent bleibt, dass es vielmehr eine Polarität und damit eine unbewusste Wertsetzung enthält, mit anderen Worten, dass das Leben letztlich eine normative Aktivität ist. In der Philosophie bezeichnet man als normativ ein Urteil, das ein Faktum unter dem Gesichtspunkt einer Norm bewertet oder qualifiziert; dieses Urteil wird jenem anderem untergeordnet, welches die Normen setzt. In seiner vollen Bedeutung heißt das Norma-
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tive: das Normen Setzende. In genau diesem Sinne sollte man unserer Ansicht nach auch von einer biologischen Normativität sprechen.«5 Mit dieser Überlegung wird der an Normen orientierten Aktivität des Organismus kein anthropomorpher Gehalt unterstellt. Vielmehr wird angenommen, dass dieser sich ohne die Beteiligung von Bewusstseins- und Denkprozessen mit Hilfe von selbst gesetzten Normen reguliert. Tritt ein Zustand auf, der die Normen nicht erfüllt und den der Organismus als pathologisch qualifiziert, bekämpft er diese Abweichung, um den Normalzustand wiederherzustellen. Je nach Art der Pathologie kann dies auf unterschiedliche Weise geschehen, indem beispielsweise eine Schnittwunde zuwächst, Abwehrkräfte gegen eine Infektion mobilisiert werden oder ein Fieber abklingt und die Körpertemperatur sich wieder normalisiert. In den Prozessen des Organismus finden wir eine Normativität des Lebens. Mit Canguilhem soll nun angenommen werden, dass analoge Prozesse konstitutiv auch für die Normativität des gesellschaftlichen Lebens sind.6 Die Regulierungen des motorischen Verhaltens, wie Stehen und Gehen sind sehr einfache Beispiele für die Fähigkeit des Menschen, selbständig Normen zu bilden und im eigenen Handeln zu befolgen. Die ersten, tiefsten Regulierungen des körperlichen Verhaltens werden nicht unter sozialem Zwang gebildet, sondern entstehen in der explorierenden Produktivität des Lebens. Ohne eine solche Selbstschöpfung könnte sich der Mensch auf höheren Entwicklungsstufen nicht an Formungsprozessen seiner Umgebung beteiligen. Schon als kleines Kind
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Canguilhem: ebd. Der Verfasser setzt seinen Gedanken wie folgt fort: »Dabei werden wir uns hüten, dem Anthropomorphismus auf den Leim zu gehen. Wir unterstellen den Normen des Lebens keinen anthropomorphen Gehalt, finden jedoch die Frage berechtigt, wie die dem menschlichen Bewusstsein wesentliche Normativität erklärt werden sollte, wenn sie nicht irgendwie keimhaft im Leben enthalten wäre.« Mit diesem Gedanken sollen keineswegs gesellschaftliche Prozesse in der Biologie fundiert werden. Es geht vielmehr darum, die Tatsache der Selbstregulierung des Menschen mit der Tatsache seiner Instinktfreiheit so zu verbinden, dass sie beide zusammen die Voraussetzung für die menschliche Fähigkeit bilden, selbständig Verhaltensnormen setzen und diese befolgen zu können.
3. Der Mensch als Organismus und Mechanismus
ist er ständig aufmerksam darauf, was die Gesellschaft als »normal« ansieht. In seinen ersten Lebensjahren ist es offensichtlich bestrebt, mit diesem überein zu stimmen. Wenn es die üblichen Körpertechniken, die es bei den Erwachsenen vorfindet, herausgebildet hat, wird seine Konformität mit der Gesellschaft offensichtlich. Es wird ein Mitglied seiner Gruppe, das sich in gleicher Weise wie andere Mitglieder in vergleichbaren Situationen verhält. Es hat erfasst, wie es andere zu begrüßen, wie es zu antworten hat, wie man isst; es lernt, gesittet dazusitzen, sich im Schulunterricht zu verhalten, es erwirbt die Techniken des Lesens und Schreibens.7 Wenn es seinen Körper zu einem mechanischen Funktionieren gebracht hat, wird dieser selbst ein Abbild der Normativität der Gesellschaft. Mit den von Marcel Mauss beschriebenen »Techniken des Körpers«8 erwirbt der Mensch Verhaltensweisen, die den Normen seiner Gesellschaft entsprechen. In mimetischen Prozessen bildet er die in seiner sozialen Umgebung vorgefundenen Mechanismen in seinem Körper nach und unterstellt sich so den Normen der Allgemeinheit. Über die vitalen Normen und Funktionen des Organismus legt er eine Schicht, die ihn zum mechanischen Einsatz seines Körpers befähigt. Er bildet einen gelehrigen Körper heraus, der die gleichen Normen verwirklicht wie die anderen Mitglieder seiner Gesellschaft und der ihn befähigt, die Anforderungen der Alltäglichkeit zu erfüllen.9 Bewegungen sind das Milieu, in dem Menschen die gewöhnlichen Verhaltensnormen einer Gesellschaft befolgen. Sie drücken eine Haltung zur Welt aus, die für diese typisch ist und die sie durch ihre Institutionen und symbolischen Formen dauerhaft prägt. Ohne dass es den Mitgliedern bewusst wird,
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Siehe Kapitel 4 in diesem Band: »Bewegungen als Prinzip des Sozialen«. Marcel Mauss: »Die Techniken des Körpers«. Ebenso wie das Kind in seiner sprachlichen Entwicklung eine Umgangssprache ausbildet, eine Sprache, in der es mit der Gesellschaft übereinstimmt, konstruiert es, wie ich unten weiter ausführen werde, einen Körper, mit dem es sich als Mitglied seiner Gruppe darstellt (in Kapitel 4 dieses Buches). In meiner Arbeit Wittgensteins anthropologisches Denken habe ich diesen »Umgangskörper« genannt. In diesem Buch bevorzuge ich den Ausdruck »common body«.
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bringen sie eine Zweite Natur hervor – keine wiedergefundene Natürlichkeit, sondern eine Mechanisierung der ersten Natur.10 Aufmerksam wird man auf sie in Begegnungen mit Menschen aus fremden Kulturen; dies aber erst, wenn man mit ihnen in alltäglichen Situationen interagiert, in denen die Verklärung des Exotismus keine Rolle (mehr) spielt. Wenn es eine Macht darauf abgesehen hat, geltende Normen zu brechen und neue Verhaltens- und Denkweisen einzuführen, setzt sie gewöhnlich bei den Bewegungen ein. Sie formt diese gewaltsam mit dem Ziel um, den Körper in einem Akt der Umkodierung anderen Normen zu unterwerfen. Sie unterbindet die freie Bewegung, indem sie die alltäglichen Verrichtungen bis in Einzelheiten hinein reguliert. Auf diese Weise werden, wie Foucault zeigt, neue Normen produziert.11 Eine solche Strategie setzt auf die Tendenz der Menschen zur Normerfüllung, die nach Canguilhem zum menschlichen Leben gehört: das Streben danach, die Körper-Mechanik an den dominierenden Normen auszurichten. Aus der Geschichte des Kolonialismus und der Dominanz westlicher Lebensstile sind unzählige Beispiele bekannt. Politische Macht, die in das Bewegungsrepertoire eingreift, zielt auf eine Veränderung der unbewussten Bereiche des Subjekts, die seine Normalität regulieren. Was Foucault in Überwachen und Strafen beschreibt, geht über den beobachtenden Blick und die kontrollierende Einwirkung hinaus: Disziplinierungen greifen in jene Aktivitäten des Subjekts ein, in denen es seine Normen bildet. Wenn die Macht das Gehen, Blicken, Sprechen des Subjekts, die für sein Geschlecht und seinen Status typischen Bewegungen verändert, wenn sie das umbaut, was es bis dahin für normal gehalten hat, dann hat es die Region des Subjekts besetzt, die seine Stellung zur Welt organisiert. Auch in unserer Kultur haben die Übergänge in einen neuen Status – angezeigt durch Schwellenrituale wie die Einschulung, die früher übliche Tanzstunde, der Abi-Ball, der Grundwehrdienst, das Referendariat, die Verbeamtung mit der Eides-
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Zum Begriff der Zweiten Natur siehe Kapitel 5 in diesem Band: »Die Zweite Natur als Habitus«. Michel Foucault: Überwachen und Strafen.
3. Der Mensch als Organismus und Mechanismus
formel – Veränderungen der normativen Struktur des Verhaltens zur Folge.
Abweichung von der Norm Der Maschine gewordene Körper verleugnet seine Geschichte, insbesondere seine Herkunft aus einem Prozessgeschehen, in dem seine Möglichkeiten im Fluss waren und neue Verhaltensweisen eingeübt, festgehalten und ausgeformt wurden. Der Zustand, in dem der Mensch sich selbst zur Maschine wird, stellt eine Situation der Verlässlichkeit dar. Ein solches Vertrauen in das körperliche Funktionieren wird im klassischen Hochleistungssport verwirklicht. Sich zur Maschine machen wird hier als Ideal dargestellt, als Triumph des Geistes über den Körper. Aber dieses Ideal ist – wie der moderne Leistungssport unübersehbar zeigt – eine Idylle und eine Illusion. Eine Idylle, insofern er eine Sicherheit in einer Situation der Unsicherheit zu geben scheint, in der sich das Subjekt auf das Funktionieren der Körper-Techniken verlassen kann. Die Sicherheit, die ein solcher Könnensstand ausstrahlt, tritt weniger im Wettkampf ein, wo sie durch Konkurrenten gefährdet wird, als in solchen Momenten, in denen es um nichts geht, bei der Demonstration der Körpermaschine. Eine Illusion ist dieses Ideal, insofern Normen nicht ein für allemal gegeben sind. Aus der sich in ständiger Bewegung befindlichen organischen Existenz lässt sich keine dauerhafte Dominanz des Geistes über den Körper gewinnen. Die Verwandlung des Organischen in ein Instrument tendiert dazu, Spontaneität und Kreativität zu unterbinden. Eine ständige verlässliche Normerfüllung der Körpermechanik wird vom Subjekt nicht als Quelle von Lust, sondern als Bürde erlebt. Wie es im Leben die Tendenz gibt, den Organismus zu einem Mechanismus umzubilden, gibt es auch die entgegengesetzte Neigung, das Mechanische zu überwinden, Normen aufzulösen, neue Normen zu (er)finden – das Leben wieder in Fluss zu bringen. Während Kinder im frühen Alter ihre Fähigkeit zum korrekten, differenzierten Handeln und Sprechen als lustvoll empfinden, haben sie in späteren Phasen, insbesondere in der Pubertät, Freude an
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Abweichung von den Normen. Es macht ihnen dann gerade Spaß, anders zu handeln und zu sprechen als die erwachsenen Mitglieder ihrer Gesellschaft, mit speziellen Gestiken und Zeichen oder kryptischen Sprechcodes (wie das Verlan im Französischen, das sich aus vertauschten Silben zusammensetzt). Sie haben Vergnügen daran, die normale Sprache zu irritieren, ihre Normen zu erschüttern, allgemeine Verständlichkeit zu unterlaufen und neue Normen hervorzubringen. Ebenso wie es eine Lust ist, Normen zu erfüllen, entsteht, wenn das Subjekt von diesen Normen beherrscht wird, die noch größere Lust, dagegen zu verstoßen – eine Art anarchisches Prinzip, das eigene Normsetzungen des Subjekts zur Geltung bringt. Man kann diese als Stärkung des Subjekts und Intensivierung des individuellen Lebens deuten, insofern sie sich gegen die mechanischen Anteile ihres Lebensprozesses richten: Das revoltierende Subjekt hat das Gefühl, durch Verletzung gesellschaftlicher Normen »sich selbst zu fühlen«. Menschen werden nie vollständig zu einem Mechanismus. Dies wäre selbst in solchen Gesellschaftsbereichen nicht von Vorteil, die auf strikten Gehorsam und umfassende Maschinisierung des Organismus setzen wie autoritär geführte Militäreinheiten. Man sieht dies am deutlichsten in Situationen der Störungen und Krise. Eine Maschine könnte sich nicht aus sich heraus reorganisieren. Moderne Maschinen sind wohl fähig, eigene neue Lösungen zu generieren, wenn der gewählte Weg zum Ziel verstellt ist. Ein Marschflugkörper beispielsweise steuert ein vorgegebenes Ziel auf verschiedenen Wegen an; er kann auch variable Lösungen entwickeln, wenn er auf unvorhergesehene Hindernisse trifft; er kann vielleicht auch sein ursprüngliches Ziel gegen ein anderes auswechseln oder sich im äußersten Notfall selbst zerstören. Er kann seine Funktion aussetzen, aber er kann nicht seine Bestimmung, ein explosives Projektil zu sein, mit seinen eigenen Mitteln umdefinieren. So lange er nicht für ein neues Ziel umprogrammiert worden ist, bleibt er ein Instrument für bestimmte Zwecke. Eine nachhaltige Störung seiner Funktion ist nicht nur schädlich für seine Zielerreichung – sie macht ihn als Instrument unbrauchbar. Auch lernende, smarte Maschinen sind nicht fähig, Lernbereiche und -ziele vollkommen neu zu bestimmen –
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dies setzt ein Vorverständnis darüber voraus, was überhaupt und zu welchem Zweck gelernt werden kann. Ganz anders verhält es sich, wenn der nicht mehr funktionierende Mechanismus ein menschlicher Organismus ist. Eine Störung kann unterschiedliche Bedeutungen für ihn haben. Wie bei einer Maschine kann er, wenn er daran gehindert wird, seine Aufgabe zu erfüllen, ein mögliches neues Ziel auswählen oder sich für einen inaktiven Zustand entscheiden. Eine Störung kann aber auch von der Aktivität des Organismus selbst hervorgebracht werden: Im Organismus ereignet sich ein selbständiger Prozess, der anders als gewöhnlich verläuft und sich andere Wege sucht als vom üblichen Ablauf vorgesehen. Er stört sich selbst und exploriert die Folgen dieser Störung. Das Leben ist »eine Praxis der Erkundung und Aneignung«; daher ist es »Quelle allen technischen Tuns«.12 Mit seiner Möglichkeiten zum Explorieren tendiert der menschliche Körper dazu, seine Möglichkeiten vielfältig zu testen und weiterzuentwickeln. Nach Canguilhems Konzeption ist das Grundprinzip des Lebens der Irrtum. Dieser ist nicht einfach nur ein marginaler, verhinderbarer Fehler des Organismus, sondern dessen konstitutive Bedingung. Das Leben rebelliert gegen das Mechanische: Es ist kreativ.13 Mit dieser Maxime formuliert Canguilhem die grundsätzliche Überzeugung des biologischen Vitalismus’, der insbesondere von dem französischen Physiologen Claude Bernard vertreten wurde. Ohne dessen Grundlagen zu übernehmen, kann man seine Überzeugung teilen, dass der Irrtum ein wesentliches Prinzip der Weiterentwicklung des Organismus ist. Während Maschinen sich aus ihren mechanischen Prozessen heraus keine vollkommen neuartigen Ziele setzen können, haben Menschen die Fähigkeit und die Bereitschaft, die Normen ihres Handelns – wenn diese nicht gerade zum Kernbestand von Moral und Recht gehören – aufzulösen und neu zu bestimmen. Ihre Normsetzungen sind unter dem Gesichtspunkt des Erfindens von Abweichungen, Varianten, Neuinterpre12 13
Georges Canguilhem: Das Normale und das Pathologische, S. 85. Nach Georges Canguilhem : »Aspects de vitalisme«, S. 83-100; vgl. den hier zitierten Satz von Claude Bernard : »La vie c’est la création«, S. 99.
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tationen, Innovationen und von unerwarteten Strategien zu sehen. So werden beispielsweise im Risikosport Zufall und Irrtum, die im traditionellen Wettkampfsport so weit wie möglich ausgeschlossen werden, zum Gegenstand einer kreativen Bewältigung des Unvorhergesehenen. Sie werden als konstitutive Bedingung des Spiels akzeptiert: Der Risikosportler muss, um zu überleben, fähig sein, die Unberechenbarkeit der Natur und die Irrtümer seines Körpers zu bewältigen.14 Risikosport ist ein Spiel gegen den Zufall und den Irrtum.
Normstörung in der Ästhetik Ein Organismus kann selbst aus den Trümmern seiner gescheiterten Lösungen neue Normen, Regeln und innovative Bestimmungen bilden. Aus dem Zerbrechen von Regeln kann ein Organismus neuen Typs entstehen. Ein Beispiel für diesen Gedanken kann man im Bereich der Sprache finden. Die Sprache ist für unsere Überlegungen insofern geeignet, als sie je nach Textsorte als Maschine oder als Organismus betrachtet werden kann. Beispiele für eine maschinelle Sprache sind das Inventar oder das Protokoll. Als Organismus wird die Sprache im poetischen Gebrauch behandelt. In der mechanistischen Auffassung beschreibt man die Sprache beispielsweise als ein Datenprozessieren, das im Wesentlichen auf die Aussage- und Referenzfunktion eingeschränkt ist. Ihre Funktion, Sachverhalte möglichst genau zu erfassen, kann der Sprecher durch eine präzise Einstellung ihres Mechanismus erfüllen. So können die Farbbezeichnungen zunehmend verfeinert werden, indem man zu den Farbwörtern Angaben hinzusetzt, die sie modifizieren: ein sehr dunkles Preußischblau, ein Sonnen-Gelb, ein leuchtendes Rot. Farben kommen in der mechanistischen Auffassung natürlichen Objekten in der Welt zu. Materialien wie Gold, Kohle, Schiefer etc. werden mit Hilfe eines bestimmten Ausschnitts des Farbspektrums farblich gekennzeichnet. Für die mechanistische Verwendung ist es sinnlos, 14
Siehe Kapitel 9 in diesem Band: »Die Verletzlichkeit des Menschen.«
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der Farbbezeichnung eine Tageszeit hinzuzufügen. Für das Auge eines Malers sind hingegen das Licht und die Farbigkeit der Umgebung von entscheidender Bedeutung. Auf den Bildern von Cézanne erhalten die natürlichen Objekte eine andere Farbigkeit als in der mechanistischen Auffassung der dokumentarischen Fotografie.15 Ein anderes Beispiel ist die Verwendung von Farbwörtern in der Poesie. Wenn ein natürliches Objekt wie Milch nicht wie gewöhnlich mit dem Farbwort »weiß« beschrieben wird, sondern als »schwarz« und dazu noch eine Tageszeit angegeben wird, kommen zwei Möglichkeiten in Betracht: Entweder ist es ein falscher Gebrauch, eine Art sprachlicher Pathologie, welche die Bezeichnungssicherheit der Sprache stört. Unter mechanistischem Gesichtspunkt müsste ein solcher Fall wie eine Krankheit bekämpft werden. Wenn man die Sprache hingegen als einen Organismus betrachtet, beurteilt man die eigenartige Wortwahl als ein dysfunktionales Sprachereignis: Es zeigt an, dass es, obwohl es ein Farbwort verwendet, eben keine Farbkennzeichnung ist. Es funktioniert auch nicht wie eine Metapher – wofür würde sie stehen? In Paul Celans Gedicht »Todesfuge« wird eine Zeitangabe hinzugefügt, »schwarze Milch der Frühe«. Es spannt eine zeitliche Dimension auf, die unter einem sehr prägnanten Farbeindruck steht. Die Schwärze der Milch bezeichnet keinen natürlichen Gegenstand; sie charakterisiert einen Erinnerungsprozess, in dem sich Dinge wie die Milch, die üblicherweise hell sind, sich verschatten. In einem solchen Prozess kann die Erinnerung eine Wahrnehmung hervorrufen, welche die Welt als im Dunkel liegend, ohne Farben zeigt. Die Verbindung von »Frühe« und »schwarze Milch« zwingt den Leser, die festen Verbindungen in der Sprache und deren Referenzfunktion aufzubrechen, einen andersartigen Gebrauch zu erkennen und Bedeutungen neu zu konstruieren. Auf diese Weise erschließt sich eine neue Art des Verstehens von Sprache. Wörter bezeichnen nicht, sie verlassen ihre angestammten Felder, schließen sich in einem Verfahren neu zusammen, dessen Ergebnis nicht feststeht, sondern wie in einem Experiment offen gelassen wird.
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Siehe Maurice Merleau-Ponty: »Der Zweifel Cézannes«.
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Am poetischen Gebrauch scheitert die mechanistische Sprachauffassung, die auf dem Feld der Computeranwendungen Triumphe feiert. Er stört die Referenzmechanik; er verletzt die Standardregeln, erzeugt einen kreativen Prozess, der dem Fieberzustand eines menschlichen Organismus ähnelt. Wie bei einer Krankheit wird die Sprache in der Krise nicht mehr vom Lenker einer Mechanik gesteuert; vielmehr mobilisiert sie ihre eigenen Kräfte und erzeugt neue Ziele für ihr Wirken, die nicht mehr von einer Mitteilungsabsicht gelenkt werden. In diesem Zustand ist sie nicht länger ein Werkzeug, sondern ist selbst Subjekt des Schreibprozesses. Der Autor verliert die autonome Steuerung über sein Sprechen. Die Folge davon ist jedoch kein Chaos, sondern im Gegenteil unterstützt der Autor die Kräfte seiner Sprache. Mit der Aufgabe der mechanistischen Sprachauffassung entsteht eine tiefere Verbindung von Autor und Sprache. Der Autor hört auf die Bedeutungen, Bilder und Töne, die seine poetische Sprache in ihm hervorrufen, und formt sie mit seinen poetischen Fähigkeiten, literarischen Kenntnissen, seiner formalen Meisterschaft, seiner Sensibilität für Worte.
Menschlicher Organismus und Technik Leben als produktive Aktivität verstanden, vollzieht sich im Modus der Tätigkeit des Organismus: als bewegter Beweger nach Zielen suchend, sich selbst Normen setzend und sich wieder von ihnen lösend, in einem Zustand der Unruhe, der auch in zerstörerische Dysfunktionalität entgleiten kann. Die Mechanik, die er aus sich selber macht, lässt sich als eine Maschinisierung des Organischen verstehen. Der menschliche Organismus ist Ursprung von Technik. Bei der Betrachtung des historischen Prozesses ihrer Entstehung in der Neuzeit kann man den Akzent auf unterschiedliche Merkmale legen. Im 16. und 17. Jahrhundert war man von der automatisierten Bewegung fasziniert, von Uhrwerken, Automaten, von mechanistischen Vorstellungen des menschlichen Körpers und seiner Emotionen. Im 18. und 19. Jahrhundert wurden Techniken der Behandlung von Individuen in Form von Disziplinierungen entwickelt, die von pädagogischen Prozeduren und Insti-
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tutionen, von militärischer Dressur und disziplinierender Architektur unterstützt wurden. Seit dem 19. Jahrhundert werden den Individuen Praktiken der systematischen Lebensführung anerzogen, beginnend mit den von Max Weber beschriebenen Glaubens- und Lebensweisen protestantischer Sekten des frühen Kapitalismus bis hin zum Training des intensiv betriebenen Sports, der für den heutigen Stand der mechanistischen Auffassung des Lebens paradigmatisch ist. Am Ende dieser Entwicklung steht heute das Ideal des »human enhancement« mit seinen Praktiken der ständigen Überwachung und Steigerung der Leistungen des eigenen Organismus.16 Das Zerstören einer Mechanik löst nicht weniger Freude aus als deren Zusammenbau. Nachdem in der europäischen Zivilisation Jahrhunderte lang die mechanistische Interpretation des Körpers dominierte, sind in der Gegenwart neue Tendenzen entstanden, die von dieser Deutung weit fortführen; sie favorisieren die Krise und das Experiment. Experimentieren mit sich selbst richtet sich auf das Organische, aber auch auf die Mechanisierung des Lebens. Für die erste Richtung stehen der Gebrauch von Drogen, die Versenkung in der Meditation, die Selbstbeschränkung im Fasten und die Suche nach religiöser Erfahrung. Die Subjekte versetzen sich in Zustände des Rausches, der Konzentration auf das Innere, der spirituellen Erfahrung und beeinflussen so ihre Lebensprozesse. In der zweiten Richtung, dem Experimentieren mit dem Mechanischen, wird das Organische des Körpers mit technischen Artefakten verschaltet: Der Körper wird in technische Prozesse integriert und wird Teil ihrer Funktionen. In den Sportarten des Gleitens und Fliegens (Inlineskating, Skateboarding, Paragliding) beispielsweise werden neuartige Techniken der Bewegung ausgebildet, die man mit dem natürlichen Körper allein nicht ausführen könnte. So wird die Fortbewegung von den Rollen unter den Füßen übernommen, wobei diese nicht mehr ihre übliche Funktion ausüben. Sie gehen und laufen nicht mehr, sondern ermöglichen eine flugähnliche Gleitbewegung, 16
Siehe Christopher Coenen et al. (Hg.): Die Debatte über »Human Enhancement«; Steffen Mau: Über die Quantifizierung des Sozialen; Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst.
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die wie beim Eisschnelllaufen von den Armen kraftvoll unterstützt werden. Anders als beim Eislaufen in der Eissporthalle bleibt der Inlineskater in seinem alltäglichen Milieu. Die intensive und schnelle Aktivität steigert die Emotionen des Gleitens durch den Stadtraum. Die Technik wird durch die Bewegungsfähigkeit und Leidenschaft des Organismus vermenschlicht.17 Technische Artefakte allein können eine solche Intensivierung des Bewegungserlebnisses nicht hervorbringen. Bei ihnen bleibt die körperliche Anstrengung und die Befriedigung aus, die diese – im Unterschied zum Rasen im Auto – verschafft. Es gibt eine dritte Art des Experimentierens mit dem Körper; hier werden sowohl der Organismus als auch der Mechanismus verändert. Beide werden einander angepasst und bringen eine OrganismusMaschine hervor. Wie diese hybride Konstruktion zu verstehen ist, erschließt sich, wenn man auf die ursprünglichen Bedeutungen von »Mechanismus« zurückgeht. Das Wort kommt von dem griechischen Wort mechanē, in dessen Bedeutung zwei Komponenten zusammenkommen, die List und die Maschine.18 Die Konstruktion einer Maschine beruht auf einem intelligenten Kalkül. Sie wird mit List entworfen und mit Kunstfertigkeit gebaut. Wenn das Leben als Maschine konstruiert wird, »dann annulliert die menschliche List, im wörtlichen Sinn verstanden, das Lebendige« (ebd.). Mit diesem Schritt geht das Experiment weit über die Herstellung von Körpertechniken hinaus. Es ist nicht mehr technische Formung einzelner Körpergesten – es transformiert den ganzen Körper in eine Maschine. Transformation bedeutet bei diesem Experimentieren die Verbindung aller am Handeln beteiligten Prozesse. Menschlicher Organismus und Maschine werden eins: Die Maschine sieht aus wie ein Organismus und verhält sich in menschlichen Verhältnissen wie ein Mensch. Sie muss gefüttert werden, besitzt Gefühle, Wünsche und Erinnerung; sie kann leidenschaftlich reagieren wie ein ganz normaler homo sapiens. Da der Organismus in eine Maschine transformiert wurde, funktioniert er präzise und zuverlässig. Seine Leistungen liegen weit über dem, was 17 18
Siehe Gunter Gebauer et al.: Treue zum Stil. Georges Canguilhem: »Aspects du vitalisme«, S. 87.
3. Der Mensch als Organismus und Mechanismus
Menschen möglich ist. Insofern sich die Maschine wie ein Organismus verhält, kennt sie menschliche Werte und Zielsetzungen. Wie alle Maschinen kann sie nicht selbst planen und kein Verhältnis zu ihrer Umgebung herstellen. Sie kann Gefahren nicht abschätzen, den Erfolg ihres zukünftigen Einsatzes nicht antizipieren, kein emotionales Verhältnis zu ihrer Vergangenheit und ihrer Umwelt ausbilden – alles dies sind Faktoren, die konstitutiv für die Risikobewertung sind. Eine Maschine kann nur bis an die Grenzen ihrer Konstruktion und Materialbeschaffenheit gehen. Was ich eben beschrieben habe, entspricht der Phantasie des »Cyborgs«, wie sie in dem Film Robocop dargestellt wird:19 Die Reste eines erschossenen Polizisten werden in eine Maschine eingebaut, oder umgekehrt, die Maschine wird um das Fleisch und das Gehirn des Toten herum konstruiert. Als neuartiger Polizeiroboter geht Robocop auf Verbrecherjagd und erweist sich als den übelsten Banditen überlegen. In seinem menschlichen Gehirn, das in seine Maschinenkonstruktion integriert ist, befinden sich noch Reste der Erinnerung an seine Ermordung. In dem Moment, in dem diese aktiviert werden, gewinnt der Robocop einen Eigensinn, der von seiner Mechanik nicht vorgesehen ist – er widmet sich kraft eigener Entscheidung der Suche nach der Familie und der Jagd auf die Mörder des Polizisten, der in sie integriert ist. Das Experimentieren mit dem Organismus, das den Menschen immer mehr einer Maschine angleicht, wird im Hochleistungssport gegenwärtig zur höchsten Konsequenz getrieben. In filmischen Fiktionen erhält es hier eine Fortsetzung, die allerdings weit über das Menschliche hinausreicht. Selbst in der Phantasiewelt Hollywoods stößt die Symbiose von Organismus und Mechanik an Grenzen. Von zwei Seiten aus wird dieses Modell bedroht: einmal von der Maschine, die um den Organismus herumgebaut ist. Sie reißt diesen in Risiken hinein, denen er nicht gewachsen ist – sie verschleißt das Organische. Zum anderen von der Me19
Der Film »Robocop« (Paul Verhoeven, 1987) war eine der ersten erfolgreichen Hollywood-Produktionen, die sich seit den 1980er-Jahren mit dem Thema des cybernetic organism (Cyborg, ein Begriff von Donna Haraway) beschäftigten.
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chanik; sie bricht unter dem Druck der Erinnerung des Organismus zusammen. Die erste Art der Gefährdung wird durch die Stärke der Maschine, die zweite durch die Stärke des Organismus hervorgerufen. Beide Formen der Stärke führen zu Rausch, temporärer Erhöhung, zu extremer Gefährdung und zum Untergang der Symbiose von Organismus und Mechanik: zum Verlust des Menschlichen und zur Zerstörung der Maschine. Hollywood hat das Schicksal der »Cyborgs« schon vor Jahren vorhergesehen. Menschliches Leben spielt sich aufgrund seiner Verfassung als Wechselspiel zwischen Organismus und Mechanismus ab. Es besitzt eine Dynamik, die den Organismus zur Erfindung von Normen und Techniken des Körpers führt, dann aber die Mechanik des zur Maschine gewordenen Körpers nicht hinnimmt, sondern die festgesetzten Normen wieder in Fluss bringt und neue Verhaltensweisen und Körpertechniken erfindet. Das Prinzip des Organismus ist Normsetzung und Normzerstörung. Die Technik ist das Prinzip, das den Menschen zu einem festgestellten Wesen macht und das mit List und Kunstfertigkeit dem Organismus neue Fähigkeiten erschließt. Während sie die Beschränkungen des Organismus überwindet, löst dieser die begrenzten Ziele der Technik auf und erzeugt mit seiner Kreativität neue Ziele und Möglichkeiten des Menschen. Menschliche Natur und Techniken des Körpers sind die beiden Seiten des Menschen, die notwendig aufeinander angewiesen sind. Ein Mensch ohne Technik wäre nicht lebensfähig. Ein durch und durch technisierter Mensch wäre ein Mensch ohne Eigenschaften, das höchste Risiko des experimentell angelegten Lebens.
4. Bewegungen als Prinzip des Sozialen
Der Körper als Vermittler von Subjekt und Gesellschaft In der Perspektive der Historischen Anthropologie entsteht der Mensch nicht als Geist-Wesen: Er lebt eine materielle Existenz in der sozialen Welt. Er gestaltet den Ort in der Welt, an dem er situiert und für Andere erkennbar ist. Sein Verhalten wird unter dem Einfluss seiner gesellschaftlichen Umgebung geformt. Andererseits sind die Ordnungen, mit denen er sein Leben gestaltet, im Laufe seines Lebens Teil seiner selbst geworden. Ist er ein Produkt dieser Ordnungen oder sind sie seine Schöpfung? Ist er Objekt oder Subjekt der Ordnungen? Beide Auffassungen scheinen einander zu widersprechen. Prüfen wir, was für und was gegen jede von ihnen spricht. Von der ersten Auffassung wird behauptet: Die Ordnungen sind von der Gesellschaft erzeugt. Die Strukturen sozialer Gruppen wirken bis in die von der Sprache ausgedrückten Ordnungen hinein. Ihre Klassifikationen spiegeln die Sozialordnung der Gesellschaft wider. Der auf den ersten Blick bahnbrechende Gedanke von Emile Durkheim und Marcel Mauss,1 dass die Ordnung nicht nur die Gesellschaft, sondern auch das Denken und Sprechen strukturiert, stößt jedoch auf folgendes Problem: Die von der Gesellschaft erzeugte Ordnung gewinnt erst dadurch soziale Realität, dass sie von ihren Mitgliedern übernommen wird. Erst im
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Vgl. Emile Durkheim/Marcel Mauss: De quelques formes primitives de classification.
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Handeln der Individuen erweist sich ihre soziale Wirkung: Sie erkennen diese durch ihre Akte an; sie engagieren sich für sie, selbst wenn sie Nachteile für sie zur Folge hat. So geschieht es mit den Klassifikationen, welche die Gesellschaft strukturieren: in oben und unten, männlich und weiblich, in Einheimische und Ausländer. Die individuellen Mitglieder der Gesellschaft sind offensichtlich bereitwillige Mitspieler, die der Ordnung des sozialen Spiels zustimmen – sie haben einen »Glauben an das Spiel«.2 Man darf sich diesen Formungsprozess nicht so vorstellen, dass der Einzelne von fremden Kräften in vorgefertigte Formen gepresst würde. Vielmehr formt er seine Umgebung mit, indem er sich diese aneignet. Nach der zweiten Auffassung entwickeln die Individuen in ihrer Lebensgeschichte Schritt für Schritt spezifische Ordnungen. Schon in der Kindheit bilden sie Ordnungen heraus, indem sie Regeln und Handlungslogiken konstruieren, mit deren Hilfe sie die Welt, die Gegenstände, Handlungen und Eigenschaften erkennbar und beherrschbar machen. Eine solche subjekterzeugte Ordnung wird von unterschiedlichen Theoretikern, wie George Herbert Mead3 und Arnold Gehlen behauptet. Ihren Annahmen zufolge bildet das Individuum in seinen Handlungen Regeln heraus, die mit der Ordnung der Gesellschaft weitgehend übereinstimmen. Bei diesem Lösungsvorschlag entsteht ein analoges Problem wie bei dem ersten, nur in umgekehrter Richtung: Eine Ordnung, die von Einzelfällen ausgehend zur allgemeinen Ordnung wird, bedarf der Anerkennung durch die Gesellschaft, die sie strukturieren und regulieren soll. Sie erlangt allgemeine Verbindlichkeit, wenn sie durch die Mitglieder der Gesellschaft übernommen und in ihrem Handeln verwirklicht wird. Aber wie diese Übereinstimmung zustande kommt, ist eine offene Frage.
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Vgl. Pierre Bourdieu: Le sens pratique, insbesondere das Kapitel »Croyance et corps« (Glaube und Körper). Diese Behauptung wird von Mead nicht explizit gemacht, aber sie liegt dem Gedanken zugrunde, dass individuelle und gesellschaftliche Ordnungen zusammenfallen; siehe George H. Mead: Geist, Identität und Gesellschaft.
4. Bewegungen als Prinzip des Sozialen
Weder die erste noch die zweite Auffassung ist fähig, die Übereinstimmung von Gesellschaft und Individuen in einer gemeinsamen Ordnung zufriedenstellend zu begründen. Keine von beiden ist allein in der Lage zu zeigen, wie die Ordnung der Gesellschaft von den Individuen übernommen wird oder wie die individuellen Ordnungen zur Ordnung einer ganzen Gesellschaft werden. Es gibt keinen automatischen Übergang weder von der gesellschaftlichen zur individuellen Ordnung noch in umgekehrter Richtung von der Ordnung des Individuums zu jener der Gesellschaft. Beide Auffassungen greifen zu kurz, weil sie zwei Elemente vernachlässigen, die für die Akzeptanz und Legitimierung der Ordnung notwendig sind: den Glauben der Individuen an die soziale Ordnung und das Enthaltensein der sozialen Ordnungen im individuellen Handeln. Die Beziehung zwischen Individuen und gesellschaftlicher Ordnung muss anders entworfen werden als von den bisher diskutierten Auffassungen. Beide Konzeptionen sind einander entgegengesetzt, aber sie beruhen auf einer gemeinsamen Annahme: Sie fassen die Ordnung als eine Menge von Vorschriften, Anordnungen, Anforderungen auf, die Denken und Handeln bestimmen. Im ersten Fall stehen sie den Individuen fremd gegenüber, im zweiten werden sie von Individuen hervorgebracht und der Gesellschaft auferlegt. In beiden Fällen werden sie als Forderung oder sogar als Zwang aufgefasst. In demokratischen Gesellschaften entstehen soziale Ordnungen aber in gemeinschaftlichem Handeln von Menschen, in ihren gemeinsamen Tätigkeiten. Sie sind es, die in Übereinstimmung mit Anderen handeln, ihr Verhalten strukturieren, ihre Sinnlichkeit und Gefühle sowie die »Vernunft des Leibes« (Nietzsche)4 ausbilden. »Wir sind immer in der Welt, immer ›involviert‹, wir sind stets Beteiligte, fast immer Handelnde, und dies drückt sich auch in unseren tiefsten Kategorien, Formen und Ansätzen des Denkens aus«, schreibt Hans Lenk und fährt fort: Wir können das Erkennen nicht »in irgendeiner Weise völlig vom Handeln und von den
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Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, insbesondere das Kapitel »Von den Verächtern des Leibes«, S. 39-41.
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Fähigkeiten zu handeln […] abtrennen. […] im Denken, im Wahrnehmen, selbst in anscheinend passiven Tätigkeiten, ist die Handlung immer schon angelegt.«5 In den traditionellen Sozialwissenschaften werden handelnde Menschen gewöhnlich als autonome rationale Subjekte angesehen. Zwar wird zugegeben, dass sie sozial beeinflusst, geprägt und kontrolliert werden, aber als ihr Hauptmerkmal gilt, dass sie ihr Handeln als selbstbewusste Wesen planen und ausführen. Die Gesellschaft und Umwelt sind dabei insofern von Bedeutung, als sie im Denken der Individuen repräsentiert sind. Die Anderen treten nicht als körperlich existierende Personen in Erscheinung. Ihre Handlungen werden zu Normen, Regeln, Gesetzen, Erwartungen, Rollen und rationalen Entscheidungen abstrahiert. Dass sie als körperliche, materielle Wesen kaum vorkommen, fällt deswegen nicht auf, weil nach den Annahmen der meisten sozialphilosophischen Theorien das Handeln sich wesentlich im Kopf der Individuen abspielt. Mit dieser Beschreibung wird das Verhältnis der Individuen zu ihrer sozialen und materiellen Umwelt jedoch nur unvollständig erfasst – als einseitige Einwirkungen von Menschen auf ihre Umgebung. Tatsächlich handelt es sich dabei um Aktivitäten in zwei Richtungen: Individuen handeln in der Welt; sie formen und strukturieren diese. Sie selbst werden wiederum von der sozialen Welt geformt und strukturiert. Auf das handelnde Subjekt wirken insbesondere andere Menschen ein, die sein Verhalten formen, die ihm Ziele, Richtlinien, Verhaltensmodelle und Vorbilder geben. Es erleidet die materielle und gesellschaftliche Umwelt nicht passiv, sondern nimmt aktiv auf sie Bezug, integriert sie in sein Handeln und passt sich deren Erwartungen an. Sie wird Teil seines Ich; das Ich wird Teil von ihr. Wenn jemand mit Bezug auf eine schon bestehende Welt handelt und dabei eine eigene, individuelle Welt herstellt, gibt es ein solches wechselseitiges Verhältnis: wenn man die Bewegung eines anderen nachahmt, nach einem Modell handelt, etwas darstellt oder einen Gedanken körperlich ausdrückt, wenn man die Regeln der Höflichkeit 5
Hans Lenk: Schemaspiele, S. 9f.
4. Bewegungen als Prinzip des Sozialen
einhält oder rituell handelt. Diese Verschränkung des Individuums mit seiner sozialen Umgebung ist ein grundlegendes Merkmal des Weltverhältnisses des Menschen. Von den Sozialwissenschaften wird es allerdings nur selten gewürdigt. Die Unterscheidung von Individuum und Gesellschaft, Ich und Anderen funktioniert bei weitem nicht immer in Form einer Dichotomie oder Abgrenzung zweier grundverschiedener Bereiche. Das Individuum ist wie die Gesellschaft eine offene Kategorie: Ohne die Gesellschaft könnte das Subjekt nicht entstehen. Es ist keine isolierte Instanz, sondern enthält das, was ihm gegenübersteht. Auch die soziale Welt würde ohne die Wahrnehmungen, Bewertungen, Interpretationen, ohne die Beteiligung von Individuen an der Gesellschaft nicht zustande kommen. Die erste Vermittlungsinstanz zwischen Subjekt und Gesellschaft ist der Körper. Von seinen frühesten Entwicklungsstufen an wird er durch Übungen, Lernen, Disziplinierungen und durch Spiele von gesellschaftlichen Kräften ergriffen, die er zunächst nicht selbst steuern kann. Sie gestalten und formen ihn von außen. Er wird in eine gesellschaftlich gemachte Umwelt integriert und in bestehende Ordnungen eingefügt: in festgelegte Zeitabläufe, in organisierte Räume, in strukturierte Formen des Zusammenlebens und ritualisierte Verhaltensweisen. Am menschlichen Körper setzen soziale Strategien an und arbeiten von außen Strukturen, Normen und standardisierte Reaktionsweisen in ihn hinein.6 Vom Anfang seiner Existenz an wirken die Anderen auf das Individuum ein und bedeuten ihm, was es ist, welchen Platz es im sozialen Raum einnimmt und wie es sich zu verhalten hat. Was den Körper zum entscheidenden Mittler zwischen den handelnden Subjekten und der Gesellschaft macht, ist seine Materialität und seine Plastizität. Er wird Objekt einer Körper-Technologie.7
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Vgl. zu diesem Hineinarbeiten der Reaktionen in das Kind, sodass entsprechende Reaktionen ausgelöst werden; siehe George H. Mead: Geist, Identität und Gesellschaft, insbesondere die Abschnitte »Nachahmung und der Ursprung der Sprache« und »Die vokale Geste und das signifikante Symbol«, S. 90-107. Marcel Mauss: Die Techniken des Körpers.
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Das ist nur die eine Seite des Verhältnisses des Körpers zur Gesellschaft; sie verweist auf die Behandlung des Körpers von außen. Es gibt eine zweite; man erkennt sie daran, dass der Körper neben seinem instrumentellen Gebrauch auch nachahmende, darstellende, aufführende Akte vollzieht, mit denen das Individuum auf andere Menschen Bezug nimmt. Die Konstruktion von Ordnungen ist ein Spiel mit vielfältigen Beteiligungen und Bezugnahmen auf andere Menschen.
Bewegungen und soziale Ordnungen Ausgangspunkt unserer Reflexion über die gesellschaftliche Rolle des Körpers ist seine soziale Praxis. Sie wird wesentlich durch Bewegungen gestaltet. Körperliche Bewegungen sind in Zusammenhänge der sozialen Welt eingefügt. Durch sie entsteht ein Vorverständnis, das sich unterhalb von Denken und Sprache bildet. Ihre Regularitäten setzen den gegenseitigen Formungsprozess von Subjekt und sozialer Umwelt in Gang. In den regelhaften Bewegungen der frühen Kindheit werden in der Interaktion mit der sozialen Umgebung erste gesellschaftlich geprägte Ordnungen angelegt. Sie enthalten auf unterster Ebene der Entwicklung ein gestalterisches Moment; am deutlichsten ist dies am Gebrauch der Hand erkennbar.8 Viele Verhaltensweisen müssen Menschen nach Anweisung oder durch Bezug auf Vorbilder erlernen, andere erwerben sie in freier Eigentätigkeit, wiederum andere entstehen in Anpassungsprozessen an die Umwelt. Es gibt keine einheitliche Struktur, nach der alle Prozesse der menschlichen Entwicklung verlaufen. Je nach Fall können die Beteiligungen der Individuen unterschiedlich sein, ebenso die Anteile anderer Menschen und der materiellen Umwelt, beispielsweise durch die Anforderungen der Gegenstände, die sie gebrauchen. Gehen und sitzen wird nicht gelernt wie Sprechen; mit Puppen spielen bildet sich auf andere Weise als mit der Gabel essen, Malen anders als Schleifen binden, Grimassen schneiden wiederum anders als ein Türschloss 8
Siehe Kapitel 2 »Welterzeugen der Hand« in diesem Band.
4. Bewegungen als Prinzip des Sozialen
öffnen etc. Allen diesen verschiedenen Weisen, Ordnungen herauszubilden, ist gemeinsam, dass sie körperliche Handlungen sind, die zwischen dem Subjekt und seiner sozialen und materiellen Umwelt geschehen. Die zwischen Welt und Subjekt hin- und herlaufenden Verbindungen beziehen beide Seiten ein und verändern beide. Durch ihre Bewegungen nehmen Handelnde gleichsam Abdrücke von der Welt, formen diese in eigener Tätigkeit nach und machen sie zu einem Teil von sich selbst. Bei diesen Aktivitäten wird das Subjekt von der Umwelt ergriffen und seinerseits von dieser geformt. Bewegungen sind in dieser Perspektive ein Medium, das gegenseitige Verbindungen und Veränderungen herstellt – ein gemeinsames Spiel, das Beteiligung verlangt und die Teilnehmer nicht unverändert lässt. Im Medium der Bewegungen nehmen Menschen an den Welten anderer teil und verändern diese durch ihre Aktivität. Soziale Praxis wird von menschengemachten Regeln strukturiert und in materieller Tätigkeit ausgeübt. Es ist nicht die Arbeit des Geistes, die in der Welt eine Regelstruktur erkennt oder ihr diese gibt. Eine solche Annahme übersieht die dem Handeln vorhergehende Regelhaftigkeit der sozialen Welt. Im körperlichen Handeln wird die regelhafte Struktur der sozialen Welt, die schon in den Dingen vorhanden ist, erfasst und in die eigenen Handlungsschemata übernommen.9 An komplexen körperlichen Vorgängen, wie dem Fußballspielen, kann man erkennen,
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Spiele bleiben an konkrete Situationen gebunden, insofern als sie auf paradigmatische Verwendungen zurückgehen und neben allgemeinen Kennzeichen auch sinnliche Elemente in ihre Aufführungen einbeziehen, ohne dass von vornherein festgelegt wäre, welche diese sind. Daher können Spiele begrifflich nur unvollständig erfasst werden; sie bleiben im Kern ein praktisches Handeln, selbst wenn sie sich von der Praxis entfernen (Gunter Gebauer/Christoph Wulf: Spiel – Ritual – Geste). Diese Überlegungen gelten für alle wichtigen Formen der sozialen Mimesis, für das Ritual, die Geste, das Sprechen und Verstehen. Obwohl es oft so aussieht, als würden sie Handlungsschemata verwirklichen, die mit Hilfe allgemeiner Merkmale erfassbar seien, widerstreben sie formalen Abgrenzungen.
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dass die Bewegungen der Spieler nicht vom Denken her gesteuert werden und dennoch geordnet, regelgemäß und den Spielsituationen angepasst sind. Gewiss kann eine körperliche Praxis durchdacht und gedanklich neu geordnet werden, aber die meisten Körperbewegungen stellen sich im Handeln selbst her. Ein etabliertes Bewegungsspiel bietet den Spielern eine schematische Grundstruktur. Durch ihre Beteiligung am Spiel wird sie jedes Mal von neuem geschaffen, neu interpretiert und auf je eigene Weise realisiert. Die Fähigkeit der Spieler, sich an das Spiel anzupassen und sich auf seine Anforderungen einzustellen, nennt Pierre Bourdieu »Sinn für das Spiel (sens du jeu)«.10 Die Nachbildung der Regelstruktur und der Erwerb des Sinns für das Spiel geschehen nicht rein rezeptiv. Sie entstehen in der Praxis des Spielens: Die Spielhandlungen werden körperlich aufgeführt. Deren öffentlicher, zeigender Charakter gibt den Mitspielern die Möglichkeit, ihre Regelkonformität zu kontrollieren und ihr Handeln zu korrigieren. Auf dieses Weise wird eine Übereinstimmung zwischen den Beteiligten geschaffen. Sie ist eine gemeinsame Interpretation der Welt, ein VorVerständnis, das sich in einem Formungsprozess von Spiel, Subjekt, Handlungspartner und Umwelt bildet. Dies geschieht schon in einfachen Kinderspielen, Das regelgemäße praktische Handeln des Individuums beginnt mit einfachen Bewegungen. Es ist kein reflexhaftes oder automatisches Verhalten – es ist vor-rational, aber nicht ohne Vernunft. Bereits auf der untersten Ebene enthält es ein gestalterisches Moment, das im Prinzip vernünftig ist.11 Mit der Verhaltensformung ist die sinnliche Wahrnehmung verknüpft. In Bewegungen werden soziale und subjektive Welt mit den Sinnen und dem Körper erzeugt. Erfassen der Welt durch das Subjekt und Einwirkungen der sozialen Welt auf das Subjekt fallen weitgehend, wenn auch nicht ohne Rest,12 zusammen. Von den 10 11
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Pierre Bourdieu: Le sens pratique, Kapitel 4. Der Zusatz »im Prinzip« ist notwendig, da sich selbst einfache körperliche Bewegungen höchst sensibel an komplexe Umweltbedingungen anpassen können, ein Vorgang, der sich sprachlichen Beschreibungen entziehen kann. Bei unserer Betrachtung kommt der subjektive Rest, der sich sozialer Verfügung entzieht, zu kurz; er ist auch nicht Thema dieser Arbeit. In den literarischen
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ersten Lebenstagen des Menschen an wird die soziale Ordnung durch körperliche Bewegungen im Subjekt ausgeprägt, gewohnheitsmäßig gemacht und zu Haltungen verfestigt. In ihr überkreuzen sich das Natürliche und das Gesellschaftliche, das Individuelle und das Allgemeine. Unterhalb des kognitiven Denkens und ontogenetisch früher als die verbale Sprache entsteht aus Bewegungen eine Kommunikation des Individuums mit der Welt, mit Dingen und Handlungen. Wie dieser Entstehungsprozess philosophisch gedacht werden kann, soll im Folgenden mit Bezug auf Ludwig Wittgenstein gezeigt werden.
Der common body Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für Etwas am Leibe. (Nietzsche) Ludwig Wittgenstein beginnt die »Philosophischen Untersuchungen«13 mit dem Grundgedanken seiner Philosophie: Die ersten Ordnungen und Regeln des Verhaltens, Sprechens und Denkens können nicht gelehrt werden. Sie werden in eigener Tätigkeit erworben. Vor dem ersten Spracherwerb kann ein Kind noch nicht verstehen, worauf sich die Bezeichnungen und Hinweise des Lehrers beziehen. Lernen ohne spezielle Lehrinhalte und ohne vorgegebene Regeln ist eine andere Konzeption als die kognitive Auffassung von Lernen und Sozialisation: Das Kind bringt in eigener Tätigkeit ohne explizites Lernen die Strukturen hervor, die es zum Verstehen, Erfassen von Regeln, Sprechen und zum gemeinsamen Handeln fähig machen. Wittgenstein gibt eine Fülle von Hinweisen, aus denen sich folgende Deutungshypothese bilden lässt: Unter Einfluss seiner gesellschaftlichen Umgebung bildet das Kind seinen
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Beschreibungen von Kindheit, insbesondere bei Proust und Benjamin, spielt er eine wesentliche Rolle. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, siehe z.B. § 19 ff.
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natürlichen Körper in ein kulturell geformtes Werkzeug um, in einen sozialen Körper um, der zu einem Beteiligten an Sprachspielen wird und in diesen verständig handelt. In Anlehnung an den Begriff des common sense soll er »common body« genannt werden. Ebenso wie der common sense es dem Menschen ermöglicht, in Alltagssituationen vernünftige Entscheidungen zu treffen, gibt ihnen der common body die Fähigkeit, ihre sinnliche und symbolische Umwelt unmittelbar zu verstehen und intelligent zu handeln. Der common body ist selbst Teil der symbolischen Welt von Menschen. Darüber hinaus bildet er eine notwendige Bedingung für die Entstehung von Sprachspielen. Die selbstverständlichen Tatsachen unseres Körpers gehören zu den Voraussetzungen unserer Sprachspiele: Hätten wir einen ganz andersartig beschaffenen Körper, könnten wir nicht mit der allgemeinen Handlungspraxis unserer Sprachgemeinschaft übereinstimmen. Wenn es Menschen gäbe, die durchsichtig, immateriell, dehnbar etc. wären, würden sie sich nicht an der gewöhnlichen Handlungspraxis beteiligen wie wir. Der common body bildet die Basis gegenseitiger Verständlichkeit. In unzähligen Akten wird der Körper in die Gebräuche der Welt eingepasst; er wird fähig gemacht, auf die verschiedenartigen Anforderungen zu antworten. Sein Verhalten ist geregelt, berechenbar und vernünftig. Seine Artikuliertheit wird so weit ausgebildet, dass sie der Differenziertheit der verschiedenartigen Handlungssituationen der Alltagspraxis entspricht. Mit dem Ausdruck common body beziehe ich mich auf Wittgensteins Bemerkung, beim Lernen der Sprache werde der »Mechanismus« des Kindes auf das Sprachspiel »eingestellt«.14 Möglich ist ein solches Einstellen, weil das Kind bereits bestimmte Vorformen von SprachspielOrdnungen entwickelt hat. Wenn es nicht die geringste Regelmäßigkeit hätte, könnte es nicht »eingestellt« werden.15 Aufgrund seiner weltoffe-
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Ludwig Wittgenstein, Philosophische Grammatik, S. 188. Wittgenstein spricht zwar nicht von einer Mechanisierung des Organismus, wie Canguilhem (siehe Kapitel 3 in diesem Band), aber seine Überlegungen gehen in dieselbe Richtung. Siehe Kapitel 3: »Der Mensch als Organismus und Mechanismus«.
4. Bewegungen als Prinzip des Sozialen
nen Körperlichkeit befindet es sich in einem Raum der Möglichkeiten. Die grundlegenden Ordnungen der Welt sind im Körper des Kindes durch seine Integration in einen sozialen Kontext vorbereitet.16 Das Kind bewegt sich schon in die Richtungen seiner Körperachsen, es sieht schon die Farbigkeit der Welt, es ergreift Dinge mit Bewegungen, die der Form der Gegenstände entspricht. Im Kind sind strukturelle Möglichkeiten für viele Situationen angelegt, die in Sprachspielen vorkommen können. Es ist zwar »noch nicht festgestellt« (Nietzsche) – gerade darum kann es sich auf verschiedenartige Strukturen selbst einstellen. Es ist also nicht der Mangel an Struktur, der den Menschen zur Anpassung an die Bedingungen seiner Umgebung zwingt, sondern die Offenheit für alle möglichen Strukturen gibt ihm die Chance, ein grundlegendes praktisches Verständnis von unterschiedlichsten Situationen auszubilden. Der common body funktioniert in struktureller Übereinstimmung mit der sozialen Welt – er ist das erste technische Artefakt des Menschen. Werkzeug, Situation und Technik bilden ein strukturelles Ganzes. In ihrem Zusammenspiel erhält der Körper selbst sprachmäßige Züge. Zwischen ihm und der Umgangssprache besteht eine enge Beziehung: Die Umgangssprache mit ihren gewöhnlichen Gebräuchen ist im common body mit seinen alltäglichen Gebräuchen fundiert, die wiederum Teil der Praxis seiner Sprachgemeinschaft sind. Der common body ist das Organ des sensus communis,17 insofern er bei allen Mitgliedern einer Gemeinschaft gleichartige Reaktionen und Empfindungen hervorruft. Im Zusammenspiel von common body und Umgangssprache stellt sich im Handeln des Subjekts Gleichheit und Übereinstimmung mit den Regeln der Sprachgemeinschaft her.18 »Zur Verständigung durch die Sprache gehört nicht nur eine Übereinstimmung in den Definitionen, sondern (so seltsam dies klingen mag) eine Übereinstimmung
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Vgl. Gunter Gebauer: »Die Sprachmäßigkeit des Körpers«, S. 3-26. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, siehe »Analytik des Schönen«, § 20. Mit dieser allgemeinen Formulierung wird absichtlich unentschieden gelassen, welche Instanz diesen Prozess vorantreibt – das Subjekt, die Sprachgemeinschaft, die Handlungssituation.
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in den Urteilen.«19 Diese fundamentale Übereinstimmung setzt Wittgenstein als Anfang allen Sprechens und Denkens. Der Maßstab der Gleichheit, an dem Menschen ihr Verhalten und Sprechen ausrichten, wird in den common body eingeformt. Mit Hilfe mathematischer Artefakte, wie Algorithmen, lässt sich sein Praktischer Sinn nicht rekonstruieren oder simulieren. Für die Ordnung der sozialen Praxis und der Sprache gibt es keine Notwendigkeit, keine Begründung oder Rechtfertigung; das macht sie unter philosophischem Aspekt so schwer einsehbar. Wir können uns nicht einmal vorstellen, wie wir sie vernünftig bezweifeln können. »What makes a language-game possible is not ›certain facts‹, but our never calling in question certain facts«, schreibt Rush Rhees zu Wittgensteins Bemerkungen »Über Gewißheit«.20 Ein Satz, den man unter keinen Bedingungen bezweifeln kann, spricht kein Wissen aus; er steht »auf dem Boden meiner Überzeugungen«.21 Zu den Grundlagen meiner Gewissheiten gehört wesentlich der »unumstößliche Glauben« an die Existenz unseres Körpers. Vom Bau und Gebrauch insbesondere der Hand wird ein selbstverständlicher Umgang mit der Welt ermöglicht. In ihm treffen die Beschaffenheit des menschlichen Körpers, die Materialität der Gegenstände und die gesellschaftlichen Handlungsweisen mit der Organisation der Sprachspiele zusammen. Alle Kulturen bilden bestimmte Umgangsweisen mit dem common body aus. Er ist es, der uns ermöglicht, an der Handlungspraxis fremder Kulturen teilzunehmen und diese in ihrer Differenz zu unserer eigenen Kultur zu verstehen.
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Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 241f. Rush Rhees: Wittgenstein’s On Certainty, S. 91. Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit, § 248.
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Die soziale Formung des Körpers Die anthropologischen, soziologischen und historischen Arbeiten von M. Mauss,22 N. Elias,23 M. Foucault24 und P. Bourdieu25 zeigen, dass die wichtigsten Regeln des Körpergebrauchs von dem jeweiligen kulturellen Kontext vorgegeben sind. Auf den frühen Entwicklungsstufen sind an dem Prozess der Formung des Subjekts Eltern, Lehrer, Erzieher, die Gruppe der Gleichaltrigen, aber auch Umweltdinge und Werkzeuge beteiligt. In der Sichtweise von L. Mumford sind Werkzeuge alles, was vom Subjekt gebraucht wird, insbesondere alle Dinge, die es ergreift.26 Sie ermöglichen nicht nur einen instrumentellen Gebrauch ihrer selbst, sondern auch des Körpers des Handelnden: Dieser wird selbst zu einem Werkzeug geformt. Dass Bewegungen im Gebrauch von Dingen praktische Bedeutungen erhalten, ist eine Annahme der sowjetischen Psychologie. Von den Artefakten, mit denen das kleine Kind umgeht, vom Stuhl, Teller, Löffel, von den Spielsachen, der Kleidung, wird die Technisierung des Körpers vorangebracht. Kulturgegenstände geben dem Kind indirekte Anweisungen, wie sie zu verwenden sind. L. Leontjew stellt die Interaktion mit Dingen exemplarisch am Gebrauch des Löffels dar: »Der Gegenstand, den das Kind in die Hand nimmt, wird zunächst ohne weitere Umstände in das System der natürlichen Bewegungen einbezogen. Das Kind führt z.B. den Löffel wie jeden anderen natürlichen Gegenstand, der keinen Werkzeugcharakter hat, an den Mund und achtet nicht darauf, daß es ihn waagerecht halten muß. Durch das unmittelbare Eingreifen des Erwachsenen werden die Handbewegungen des Kindes beim Gebrauch des Löffels allmählich grundlegend umgestaltet und ordnen sich der objektiven Logik des Umgangs mit diesem Gerät unter. Es ändert sich die allgemeine Afferenz dieser
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Marcel Mauss: »Die Techniken des Körpers«. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Pierre Bourdieu: Le sens pratique. Lewis Mumford: Mythos Maschine, S. 20.
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Bewegungen; sie werden auf ein höheres gegenständliches Niveau gehoben.«27 Wenn aus dem natürlichen Organismus ein Könnens-Körper hergestellt ist, entsteht eine wechselseitige Interaktion zwischen Körper und Dingen. K. Holzkamp beschreibt diese Beziehung wie folgt: »In dem Maße […], wie das Kind seine Tätigkeit der ›objektiven Logik‹ des Gegenstandes, den in ihm vergegenständlichten Zwecksetzungen anmißt, werden die figural-qualitativen Eigenschaften des Dinges die sinnliche Verkörperung seiner je besonderen gegenständlichen Bedeutungshaftigkeit; umgekehrt werden die gegenständlichen Bedeutungsmomente sinnliche Träger seiner je besonderen figural-qualitativen Beschaffenheit; indem diesem Ding bestimmte figural-qualitative Merkmale zukommen, ist es ein Löffel; da dieses Ding ein Löffel ist, kommen ihm bestimmte figural-qualitative Merkmale zu.«28 In dieser Komplementarität werden die Dinge zu Geräten, die uns vertraut sind und mit Selbstverständlichkeit bestimmte Aufgaben für uns erfüllen. Was im Gebrauch von Artefakten geschieht, ist weitaus mehr als eine Assimilation motorischer Schemata an die Dinge der Umgebung des Kindes. Vielmehr wird der Körper fähig gemacht, sich auf objektiv gegebene Dinganforderungen einzustellen und auf sie zu antworten, bestimmte Haltungen zu entwickeln und diese zur Form seines Körpers, zu einem ›guten Benehmen‹ zu machen. Das Kind bildet mit seinen Bewegungsschemata die von den Dingen und der Gesellschaft geforderten Bewegungen nach. Dieser Prozess setzt sich fort in der Aneignung neuer Bewegungsmuster mit hohen Anforderungen an Regelbeachtung und Objektanpassung, beispielsweise bei geregelten Spielen und Bewegungen des Sports, bei Zivilisationstechniken wie Schreiben, Zeichnen, beim Spielen von Musikinstrumenten.
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Alexej N. Leontjew: Probleme der Entwicklung des Psychischen, S. 292. Klaus Holzkamp: Sinnliche Erkenntnis, S. 192.
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Ein wesentliches Merkmal des Antwortverhaltens auf die Dinge ist, dass es in motorischen Schemata zukünftige Situationen vorwegnimmt. Das Kind wird fähig, die Anforderungen und -Reaktionen der Dinge zu antizipieren. Das ist deshalb möglich, weil es auf seinen Bewegungserfahrungen aufbaut. Die zukunftsgerichtete Struktur von Bewegungen erzeugt ein Spiel von Erinnerung und Antizipation, das in Lernprozessen zu einem wichtigen Generator von Handlungen ausgestaltet wird.
Verinnerlichung von sozialer Ordnung Handelnde Subjekte sind wesentlich daran beteiligt, die Ordnung zu verinnerlichen, die ihre Gesellschaft und sie selbst reguliert. Wie dies geschieht, beschreibt P. Bourdieu in seinen anthropologisch geprägten soziologischen Untersuchungen über den »Praktischen Sinn«.29 Sie zeigen, welche Leistungen das Subjekt in den Prozessen erbringt, mit denen es sich die gesellschaftliche Ordnung einverleibt: Aus den objektiven Strukturen der Gesellschaft bildet es subjektive Konstruktionen, die sein eigenes Verhalten individuell regulieren. Mit seinen Bewegungen und Haltungen erfüllt es die Anforderungen, die an sein gesellschaftliches Handeln gestellt werden. Seine körperlichen Tätigkeiten bringen die gesellschaftlich verlangten Verhaltensweisen hervor. Sie haben die doppelte Wirkung, dass sich das Subjekt in gesellschaftliche Institutionen integriert und als individueller Vertreter einer spezifischen Klassenfraktion, Altersgruppe und seines Geschlechts handelt. Die besonderen Leistungen des sozialen Subjekts für die Konstitution der Gesellschaft und für seine Konstruktion als gesellschaftliches Wesen haben Soziologen selten gewürdigt, mit Ausnahme Max Webers, Georg Simmels und George Herbert Meads. Nach Bourdieus Konzeption befindet sich das Individuum in einer gesellschaftlichen Umwelt, die systematisch organisiert ist (S. 195f). Aus der Vielzahl bruchstückhafter Sinneseindrücke, die es von dieser empfängt, systematisiert es 29
Pierre Bourdieu: Le sens pratique.
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zusammenhängende Wahrnehmungen, Bewertungen, soziale Normen, Erwartungen und schließlich seine Handlungsweisen. Ähnlich wie Kant nimmt Bourdieu an, dass die Welt vom Menschen nicht in ihrer originären Beschaffenheit wahrgenommen wird, sondern dass er sein Wissen über diese durch eine Erkenntnisleistung gewinnt, die bei ihm allerdings nicht transzendental, sondern in seiner sozialen Existenz verankert ist. Sie beruht wesentlich auf dem Praktischen Sinn – eine Art soziales Vermögen, das Menschen befähigt, eine gegebene Situation zu deuten und praktisch zu bewältigen. Die Subjekte derselben gesellschaftlichen Gruppe bilden ihren Praktischen Sinn unter gleichartigen Existenzbedingungen aus, insbesondere in »strukturalen Übungen«, die das Ziel haben, soziale Formen praktischer Beherrschung weiterzugeben.30 Dies geschieht im Elternhaus, in der Schule, der Peergroup und in der beruflichen Ausbildung. Was die Individuen hier an gesellschaftlichen Praxisformen erfahren, bringt sie dazu, in Eigentätigkeit subjektive Entsprechungen der objektiven Strukturen ihrer Gruppe oder Klasse zu bilden. Auf diese Weise erwerben sie das praktische Wissen, die Dispositionen, die Wahrnehmungs- und Bewertungsweisen, aus denen sie ein verinnerlichtes Gesamtkonstrukt gesellschaftlicher Strukturen – den »Habitus« – entwickeln. Der Habitus ist die innere Instanz in jedem Menschen, die ihn dabei leitet, das eigene Handeln zu gestalten. Der Habitus ist die einverleibte soziale Ordnung. Sie wird im individuellen Handeln angewendet, in dem das Subjekt seinerseits die gesellschaftliche Ordnung reproduziert. »Das derart Einverleibte findet sich jenseits des Bewußtseinsprozesses angesiedelt, also geschützt vor absichtlichen und überlegten Transformationen, geschützt selbst noch davor, explizit gemacht zu werden: Nichts erscheint unaussprechlicher, unkommunizierbarer, unersetzlicher, unnachahmlicher und dadurch kostbarer als die einverleibten, zu Körpern gemachten Werte«. (Bourdieu ebd., S. 200)
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Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 192.
4. Bewegungen als Prinzip des Sozialen
Alle Verhaltensweisen, die notwendig sind, um die soziale Praxis zu bewältigen, werden selbst wieder in der Praxis vermittelt, »im praktischen Zustand, ohne auf die Ebene des Diskurses zu gelangen«.31 Sie besitzen jedoch eine Rationalität, die Bourdieu »eine den Praktiken immanente Vernunft« nennt. Sie hat »ihren Ursprung weder in den ›Entscheidungen‹ der Vernunft als bewußtes Kalkül noch in den Determinierungen durch Mechanismen, die den Handelnden äußerlich oder übergeordnet wären« (ebd., S. 85). Das Vermögen, in einer gegebenen Situation das passende Verhalten, die sozial ›richtigen‹ Handlungen hervorzubringen, ist der Praktische Sinn. Ähnlich wie Norbert Elias nimmt Bourdieu an, dass die Inkorporierung von sozialen Strukturen die Psyche des Subjekts modelliert. Anders als dieser behauptet er jedoch keine Umwandlung von Fremdin Selbstzwänge. Die Übernahme von äußeren Mustern in die eigene Handlung beschreibt er als einen Prozess, in dem das Subjekt seinen Körper und sein Verhalten gesellschaftlich vorgegebenen Modellen nachbildet. Das einfachste Beispiel dafür ist das Lächeln, das auf das Lächeln einer anderen Person antwortet. Das erwiderte Lächeln ist keine einfache Reproduktion eines wahrgenommenen Modells, sondern eine vom Praktischen Sinn erzeugte Gesichtsbewegung, die auf den Ausdruck eines anderen Menschen Bezug nimmt. Es ist ein mimetisches Verhaltens, ein Nach-Machen des ersten Lächelns. Mit ihrer Reaktion macht sich die antwortende Person für einen kurzen Moment der ersten ähnlich. Im Noch-einmal-Machen der expressiven Verhaltensweise gibt sie ihren Gesichtsbewegungen eine Form, die von anderen und von ihr selbst als ein Gefühlsausdruck interpretiert wird. »Daß man bestimmte Positionen oder Körperhaltungen einnimmt, bedeutet, wie man seit Pascal weiß: die Gefühle erzeugen, die diese ausdrücken, einflößen oder verstärken.« (S. 216) Wer die Haltung oder die Bewegungen von anderen nachahmt, beginnt seine Welt mit ihnen zu teilen. Ein anderes Beispiel für den Einsatz des Praktischen Sinns ist das Lernen von körperlichen Vorbildern, wie es in der Musik, im Sport oder im Tanz geschieht. »Es gibt eine Vielzahl von Dingen, die wir allein 31
Pierre Bourdieu: Le sens pratique, S. 124 – eigene Übersetzung.
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mit unserem Körper verstehen […], und die sportlichen Praktiken sind solche Praktiken, in denen das Verstehen körperlich ist. Sehr oft kann man nur sagen: ›Schau, machʻ wie ich.‹« (Ebd., S. 214 f.) Ein Beispiel Bourdieus ist der Schüler, der hinter dem Skilehrer herfährt und an dessen Bewegungen und Körperhaltungen wahrnimmt, wie er seinen Körper einzusetzen hat. Aus einer solchen »stummen Kommunikation, aus dieser Praxis von Körper zu Körper« (ebd.) entsteht ein sehr einfaches, aber wirksames Lernen und Verstehen. Die Erziehung zu einer sozialen Haltung setzt bei der Körperhaltung ein. Arme und Beine sind »voller verborgener Imperative« (ebd., S. 128) – sie sind bleibende innere Niederschläge expliziter Vorschriften und Zurechtweisungen, mit denen man in Kindheit und Jugend konfrontiert wurde (»Sitz gerade!«, »Sprich nicht mit vollem Mund!«). Inneres und Äußeres sind zwei Seiten des sozial gemachten Körpers. Die Einverleibung des Sozialen ist der Grund dafür, dass man die gesellschaftliche Ordnung als fraglos gegeben hinnimmt, dass man an ihre Richtigkeit glaubt. Das Subjekt hat sie selbst miterzeugt. Auf diese Weise kommt es, dass das Subjekt in der sozialen Ordnung seine eigene wiedererkennt: Sie ist ein Teil seiner selbst geworden. »Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man.« (S. 135f)32 Bewegungen setzen Prozesse der Verinnerlichung (durch Einverleibung) und Veräußerlichung (durch Handeln und Ausdruck) in Gang. Das Innere ist ein Zustand des Körpers. Am Äußeren zeigen sich die wahrnehmbaren Aspekte des Inneren. Beim expressiven Verhalten sind Gefühle so eng mit spezifischen körperlichen Bewegungen verbunden,
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Das Zitat ist aus der deutschen Übersetzung von Le sens pratique. Aus nicht verständlichen Gründen hat der Übersetzer »corps« durchgängig mit dem Ausdruck »Leib« übersetzt, der aus der deutschen idealistischen und phänomenologischen Tradition stammt, die nicht zu Bourdieus philosophischer Konzeption passt. Aus diesem Grund habe ich bei den anderen Zitaten eine eigene Übersetzung vorgezogen. In diesem Fall handelt es sich um eine viel zitierte Textstelle, bei der ich aus pragmatischen Gründen von einer Veränderung absehe.
4. Bewegungen als Prinzip des Sozialen
dass sie integraler Teil von diesen sind. Bewegungen sind an der Entstehung des Eigenen des Subjekts beteiligt. Sie gehören konstitutiv zu seiner Identität. Durch die »in den Lernprozessen vollzogene Einverleibung des Sozialen« verschafft sich die soziale Welt Präsenz im Inneren des Subjekts. Sie bildet »die Grundlage der Alltagserfahrung von dieser Welt als fraglos gegebene«.33
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Ders.: Sozialer Raum und ,Klassenʻ, S. 69.
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5. Die Zweite Natur als Habitus …der Mensch steht nur, weil und insofern er will, und nur so lange, als er es bewußtlos will. (Hegel)
Das Konzept der Zweiten Natur spielt in den anthropologischen Überlegungen bei Aristoteles, bei Hegel und bei Bourdieu, also über einen Zeitraum von 2.300 Jahren, eine wichtige Rolle. Hegel übernimmt es direkt von Aristoteles, entwickelt es aber eigenständig weiter. Bei Aristoteles ist die Zweite Natur ein Merkmal, das mehrere Aspekte des Menschen kennzeichnet: Sie unterscheidet den Menschen von den Tieren; als besonderes Können ist sie distinktives Merkmal des Handelns von Individuen und sozialen Gruppen; sie bildet eine umfassende Struktur von körperlichen Fähigkeiten und innerer Einstellung; schließlich ist die Qualität des Handelns und des Handelnden Ausdruck einer Tugend. Die Zweite Natur folgt nicht auf eine ›erste Natur‹; sie tritt nicht an ihre Stelle. Sie ist das Prinzip der Umformung der Natur in eine menschliche Qualität. Die folgenden Ausführungen beginnen mit einem Rückblick auf Aristoteles, zeigen dann, wie Hegel die Aristotelischen Überlegungen in den vollkommen anderen Kontext seiner Philosophie integriert. Im dritten Schritt wird der Begriff des Habitus von Pierre Bourdieu als Überwindung der Entgegensetzung von Subjekt und Objekt aufgenommen und als Weiterentwicklung des Konzepts der Zweiten Natur interpretiert. Es wird sich zeigen, dass der Habitusbegriff enger mit
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der Begriffstradition der Zweiten Natur verbunden ist, als es auf den ersten Blick erscheint.
Die Zweite Natur bei Aristoteles Die Besonderheit der Zweiten Natur, wie sie Aristoteles in der »Nikomachischen Ethik« entwickelt,1 tritt hervor, wenn man sie mit der Mimesis aus der »Poetik«, einem anderen einflussreichen Aristotelischen Begriff, vergleicht. Mimesis ist Nachahmung von Natur durch Herstellung einer von Menschen gemachten künstlichen Natur. So sind Dramen mimetische Nachbildungen von (aus den Mythen bekannten) Handlungen in theatralischen Aktionen. Sie erzeugen künstlerische Welten, die erscheinen, als ob sie wirklich wären.2 Bei der Zweiten Natur geht es um die Formung der Natur durch ihren Gebrauch. Aus der gegebenen (ersten) Natur, zu der auch die Menschen gehören, wird eine von Menschen geformte Natur gemacht. Sie soll den Ansprüchen der menschlichen Gemeinschaft, der Polis, entsprechen. Ihre soziale Funktion besteht darin, Menschen dauerhaft zur Tugend, aretē, fähig zu machen: »Wir haben die natürliche Anlage, sie [die Tugenden – G.G.] in uns aufzunehmen, zur Wirklichkeit aber wird diese Anlage durch Gewöhnung«.3 Tugenden erwerben Menschen anders als die Fähigkeiten der Körpersinne. Den Sehsinn besitzen wir bereits, wenn wir ihn gebrauchen. Bei der Tugend ist es gerade umgekehrt: Wir erlangen sie erst dadurch, dass wir sie üben, »wie dies auch bei den Künsten der Fall ist. So wird man durch Bauen ein Baumeister und durch Zitherspielen ein Zitherspieler.« (Aristoteles, ebd.) Bei der Tugend geht es nicht um den künstlerischen Aspekt wie bei der Mimesis, sondern um die Formung des Handelns und um dessen ethische Beschaffenheit. »Ethisch« wird hier in dem allgemeinen Sinn
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Aristoteles: Nikomachische Ethik. Vgl. Gunter Gebauer/Christoph Wulf: Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft. Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1103a.
5. Die Zweite Natur als Habitus
eines Gut-Seins verwendet.4 Aristoteles richtet sein philosophisches Interesse auf das Alltägliche – auf das gewohnheitsmäßige Erlernen bestimmter Fertigkeiten durch Übung oder Training. Dies geschieht insbesondere durch körperliche Tätigkeiten. Sie setzen keinen Begriff und keine Einsicht dessen voraus, was gelernt werden soll – sie sind ein learning by doing. Die Struktur dieses Lernvorgangs überträgt Aristoteles auch auf den Erwerb ethischer Tugend in dem engeren Sinn eines moralischen Handelns. Eines seiner Beispiele ist die Fähigkeit, gerecht zu handeln: »Ebenso werden wir aber auch durch gerechtes Handeln gerecht, durch Beobachtung der Mässigkeit mässig, durch Werke des Starkmuts starkmütig.« (Ebd.) Anders als Platon spricht Aristoteles nicht von der Gerechtigkeit, sondern ganz pragmatisch von einem Handeln, das gerecht wird, indem man gerecht handelt – in der englischen Übersetzung: »by doing just acts«.5 Die Formulierung mag zirkulär klingen, ist es aber nicht. Durch die Wirkung des Trainings von gerechtem Handeln wird der Mensch tugendhaft. Einen Hinweis auf diesen Trainingseffekt gibt Aristoteles in einer nächsten Bemerkung: Die Gesetzgeber setzen auf gerechtes Handeln mit der Absicht, die Bürger »durch Gewöhnung tugendhaft« (1103b) zu machen. Jonathan Barnes’ englische Übersetzung stellt die pädagogische Technik deutlicher heraus als der deutsche Text: Diese mache die Bürger »good by forming habits in them« (1103b). Die Gewöhnung erzeugt eine innere Form, eine Einstellung. Zu diesem Zweck müssen die Gesetzgeber eine gute Verfassung entwerfen; dafür ist es geboten, gute Lerngelegenheiten zu schaffen. Dies ist umso wichtiger, als der Lernvorgang nicht auf kognitiven Prozessen beruht. Einsicht und Wissen spielen, anders als in den Künsten (1105a), beim Erwerb der Tugenden keine Rolle. Gut wird man durch gutes Handeln. Diese Einsicht gilt für alle Bereiche, in denen es Qualitätsmaßstäbe gibt: »Aus gleichen Tätigkeiten erwächst der gleiche Habitus.« (1103b) In 4 5
Hilfreich ist hier die englische Übersetzung von aretē als excellenc«, insofern sie den moralischen Beiklang vermeidet, den »Tugend« im Deutschen hat. Ders.: Nicomachean Ethics.
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einer Art didaktischer Sentenz spricht Aristoteles das Prinzip der Tugendformation aus: »Daher müssen wir uns Mühe geben, unseren Tätigkeiten einen bestimmten Charakter zu verleihen; denn je nach diesem Charakter gestaltet sich der Habitus.« (ebd., in Barnes’ Übersetzung: »the activities […] must be of a certain kind«). Auf die Gestaltung der Gewohnheit kommt »sehr viel, oder besser gesagt, alles an.« (ebd.) Dies ist Sache des Handelnden und des Lehrers, wie auch aller anderen am Lernvorgang Beteiligten. Es geht nicht um »bloße Erkenntnis, wie es sonst bei den Untersuchungen der Fall ist«. Aristoteles betrachtet Tugend nicht, »um zu wissen, was sie ist«, sondern er will wissen, was zu tun ist, »um tugendhaft zu werden« (ebd., meine Hervorhebung). Sein Augenmerk ist auf die Handlungen, genauer »auf die Art ihrer Ausführung« gerichtet: wie wir sie tun sollen (Barnes: »how we ought to do them«). »Denn die Handlungen sind es, […] durch welche die Beschaffenheit des Habitus bestimmt wird.« (Ebd.) Die Zweite Natur wird in einem Lernprozess geformt, in dem man darauf achten muss, dass man das Tun einwandfrei ausführt – nicht nur im physischen Vollzug, sondern auch mit der richtigen inneren Einstellung. Das ist keine Frage des Wissens, des Know-how, wie in den Künsten. »Die Erzeugnisse der Künste haben ihre Güte in sich selbst, so dass es genügt, wenn man sie so hervorbringt, dass sie eine bestimmte Beschaffenheit haben.« (1104a) Mit dem ethischen Handeln sind wir weit entfernt von der Naturnachahmung der (künstlerischen) Darstellung. Hier wird nicht symbolisch eine Welt nachgebaut, sondern es werden der Körper des Handelnden und seine innere Haltung geformt. Die Einstellung des Handelnden begleitet seine Akte nicht nur – sie ist vielmehr an ihrem Gut-Sein beteiligt: Damit eine Handlung tugendhaft ist, muss sie intentional auf das Gut-Sein gerichtet sein. Ihre Exzellenz kommt also nicht zufällig zustande. Die Einheit von Handeln und Einstellung nennt Aristoteles »Habitus«. Kriterium für tugendhaftes Handeln ist das intentionale GutMachen des Handelnden. Es ist ein zweckfreies Streben nach excellence. Selbst wenn sich diese Formulierung nach einer ästhetischen Maxime anhört, ist es ein Lernen durch strukturelle Übungen (wie Pierre Bourdieu die pädagogischen Exerzitien nennt). Es kommt darauf an, dass der
5. Die Zweite Natur als Habitus
Schüler absichtlich gut handelt und dass er Lust empfindet, wenn er seine Sache gut macht. Das Gefühl von Lust ist ein wichtiges Kriterium für ein Gut-Machen, wie das Gefühl von Unlust ein Zeichen für das Gegenteil ist. »Als ein Zeichen des Habitus muss man die mit den Handlungen verbundene Lust oder Unlust betrachten. Wer sich sinnlicher Genüsse enthält und eben hieran Freude hat, ist mäßig; wer aber hierüber Unlust empfindet, ist zuchtlos. Und wer Gefahren besteht und sich dessen freut oder wenigstens keine Unlust darüber empfindet, ist mutig, wer aber darüber Unlust empfindet, ist feig.« (1104b) Man muss dem Schüler abgewöhnen, dass er Lust über das Schlechte empfindet, und ihn dazu bringen, die rechte Lust zu spüren. »Darum muss man, wie Plato sagt, von der ersten Kindheit an einigermaßen dazu angeleitet worden sein, über dasjenige Lust und Unlust zu empfinden, worüber man soll. Denn das ist die rechte Erziehung.« (Ebd.) Die zweckfreie Übung erhält einen Sinn, wenn man sie im politischen Kontext der Polis betrachtet: Im Schüler wird der Habitus angelegt, der in der Polis die Bedingung für ein Gut-Machen ist. Wenn er diesen erworben hat und ihn in die Tat umsetzen kann, gehört er zu denen, die Tugend, excellence, besitzen: Er hat Lust am Gut-Machen entwickelt – ein Gefühl, das auch die Anderen bei ihren Tätigkeiten anleitet – »aus gleichen Tätigkeiten erwächst der gleiche Habitus« (1103b). Von Natur aus ist der Körper instinktkodiert. Instinkte führen aber gerade nicht zu einem Gut-Machen von Handlungen. Es sind zwei andere Anlagen, die für die Bildung von Gewohnheiten notwendig sind: Der Körper ist rezeptiv und lernfähig – er kann nachahmen, was in seiner Umgebung geschieht, und kann situationsspezifisch wie ein Instrument eingesetzt werden. Das sind keine Aufgaben, die ein spezielles Wissen voraussetzen – es kommt vielmehr darauf an, in gleicher Weise wie die Anderen (also mimetisch) zu handeln: »Für die Tugend aber bedeutet das Wissen wenig oder nichts, das andere dagegen, was nur durch fortgesetzte Übung der Gerechtigkeit und Mäßigung erworben wird, bedeutet nicht wenig, sondern alles.« (1105b) Gerecht und mäßig ist, wer Werke der Gerechtigkeit und Mäßigung »so verrichtet, wie es
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der Gerechte und der Mäßige tun« (ebd.). Durch das mimetische Handeln nach dem Vorbild tugendhafter Menschen wird der natürliche Körper ein anderer. Er ist immer noch ein Körper aus Fleisch und Blut – nun ist er aber sozial geformt und von den Werten der Polis durchdrungen. Sein Können und Handeln stimmt mit den Werten der Anderen überein. Mit seinem Gut-Machen erfüllt der Handelnde die Normen, die sich zum einen auf seine Tätigkeit beziehen, zum Anderen auf ihn als ganzen Menschen. Er hat in speziellen Handlungsbereichen exemplarisch die Struktur des Gut-Machens ausgebildet und kann sie nun auf andere ethische Bereiche übertragen. Die entscheidende Transformation der Natur in die Zweite Natur besteht in der Ausbildung eines Habitus, der körperliches Handeln mit der Absicht und dem Gefühl des Gut-Machens verklammert. Aufgrund der sozialen Natur des Menschen vollzieht sich der Umbau bei allen Bürgern der Polis in gleicher Weise. Die von Aristoteles angeführten Beispiele – Bauen, ein Musikinstrument spielen, Gerechtigkeit ausüben – sind Tätigkeiten, die von der Gemeinschaft anhand von Gütemaßstäben beurteilt werden. Sie können als vernünftig gelten, werden aber nicht von der Vernunft wie von einer inneren Instanz geführt. Entscheidend ist, dass sie den Gepflogenheiten der Polis entsprechen. Ein Problem, das viel später, erst in der Neuzeit gestellt werden wird, ist die Frage nach dem Subjekt dieses Handelns: Ist das gewohnheitsmäßige Tun das Handeln eines selbstbestimmten Ichs?
Die Zweite Natur bei Hegel Hegel übernimmt in der »Enzyklopädie« den aristotelischen Gedanken der Transformation der Natur in die Zweite Natur durch die Gewohnheit. In seiner Systematik kennzeichnet diese das anthropologische Stadium der Entwicklung des Geistes.6 Das ist ein ganz anderer Ansatz als jener des Aristoteles. Weder spielen für Hegel das Handeln in 6
Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Dritter Teil. Erste Abteilung.
5. Die Zweite Natur als Habitus
einer bestimmten Situation noch die Bewertung der Aktivität als ein Gut-Handeln eine besondere Rolle. Das Geschehen ist weitgehend, wenn auch nicht vollständig, in das Subjekt verlegt. Hegels Ausgangspunkt ist das Verhältnis der Seele zum Leib: In der Gewohnheit macht sich die Seele »zum abstrakten allgemeinen Sein« und reduziert »das Besondere der Gefühle (auch des Bewusstseins) zu einer nur seienden Bestimmung an ihr« (ebd., S. 183). In »solchen Bestimmungen« der Gewohnheit hat die Seele den Inhalt »in Besitz und enthält ihn so an ihr«, dass sie »nicht als empfindend ist« (ebd.). Sie hat die Gewohnheit »empfindungs- und bewusstlos an ihr« (ebd.). Dieser Zustand hat gewisse Vorteile. Denn die Seele »ist insofern frei von ihnen [den Bestimmungen – G.G.], als sie sich in ihnen nicht interessiert und beschäftigt; indem sie in diesen Formen als ihrem Besitze existiert, ist sie zugleich für die weitere Tätigkeit und Beschäftigung – der Empfindung sowie des Bewusstseins und Geistes überhaupt – offen« (S. 183f). In der »Organisation des Geistes« nimmt die Gewohnheit eine wichtige Position ein: Sie ist »der Mechanismus des Selbstgefühls wie das Gedächtnis der Mechanismus der Intelligenz« (S. 184). Sie ist »die zu einem Natürlichseienden, Mechanischen gemachte Bestimmtheit des Gefühls, auch der Intelligenz, des Willens usf., insofern sie zum Selbstgefühl gehören« (ebd.). Der Umbau des unmittelbar Natürlichen am menschlichen Leib führt – ähnlich wie bei Aristoteles – zu einem Mechanismus, umfasst aber auch Gefühl, Intelligenz und Willen. Die Natur spielt also, insofern sie zur Gewohnheit geformt wird, eine wichtige Rolle bei Hegel – allerdings weniger für die ethische Qualität des Handelns als für das Selbstgefühl: »Die Gewohnheit ist mit Recht eine zweite Natur genannt worden, – Natur, denn sie ist ein unmittelbares Sein der Seele, – eine zweite, denn sie ist eine von der Seele gesetzte Unmittelbarkeit, eine Einund Durchbildung der Leiblichkeit, die den Gefühlsbestimmungen als solchen und den Vorstellungs- (und) Willensbestimmtheiten als verleiblichten […] zukommt.« (S. 184) Im gewohnheitsmäßigen Handeln bewegt sich der Mensch wie in einer »Naturexistenz«. Daher ist er »in ihr unfrei«. Durch die Gewohnheit
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wird die »Naturbestimmtheit der Empfindung […] zu seinem bloßen Sein herabgesetzt« (ebd.). Der Mensch interessiert sich nicht für diese; er ist nicht mehr von ihr abhängig. Insofern ist er frei. Er kann einer Gewohnheit einen »anderen Zweck« entgegensetzen. »Die wesentliche Bestimmung ist die Befreiung, die der Mensch von den Empfindungen, indem er von ihnen affiziert ist, durch die Gewohnheit gewinnt.« (S. 185) Der Mensch hat also die Möglichkeit, sich durch Gewohnheit von störenden sinnlichen Eindrücken, Erfahrungen und Gefühlen zu befreien. Sie gibt ihm die Möglichkeit, sich von der sinnlichen Welt zu entfernen und sich die Leiblichkeit zu unterwerfen. »Auf solche Weise ist dann in der Geschicklichkeit die Leiblichkeit durchgängig und zum Instrumente gemacht, daß, wie die Vorstellung (z.B. eine Reihe von Noten) in mir ist, auch widerstandlos und flüssig der Körper sie richtig geäußert hat«. (S 186) Ermöglicht wird die »Entfernung« von der sinnlichen Welt durch Übung: Damit die Durchdringung des Körpers durch die menschliche Seele »eine bestimmte werde, dazu ist Bildung erforderlich. Zunächst zeigt sich hierbei der Körper gegen die Seele ungefügig, hat keine Sicherheit der Bewegungen, gibt ihnen eine für den auszuführenden Zweck bald zu große, bald zu geringe Stärke. […] Daher vermag selbst das entschiedene Talent nur, insofern es technisch gebildet ist, sofort immer das Richtige zu treffen«. (S. 190f) Die Gewohnheit selbst kann, wie die elementaren Körperhaltungen beispielhaft zeigen, dem Willen unterworfen werden: »Die Form der Gewohnheit umfasst alle Arten und Stufen der Tätigkeit des Geistes; die äußerlichste, die räumliche Bestimmung des Individuums, dass es aufrecht steht, ist durch seinen Willen zur Gewohnheit gemacht, eine unmittelbare, bewußtlose Stellung, die immer Sache seines fortdauernden Willens bleibt; der Mensch steht nur, weil und sofern er will, und nur so lange, als er es bewußtlos will.« (S. 186, meine Hervorhebung) Dies gilt in noch viel stärkerem Maß für »das ganz freie, in dem reinen Elemente seiner selbst tätige Denken«:
5. Die Zweite Natur als Habitus
Es »bedarf ebenfalls der Gewohnheit und Geläufigkeit, dieser Form der Unmittelbarkeit, wodurch es ungehindertes, durchdrungenes Eigentum meines einzelnen Selbsts ist. Erst durch diese Gewohnheit exisitiere Ich als denkendes für mich. Selbst diese Unmittelbarkeit des denkenden Beisichseins enthält Leiblichkeit (Ungewohntheit und lange Fortsetzung des Denkens macht Kopfweh […]« (Ebd.) Von anderen Denkern wird oft herablassend über die Gewohnheit gesprochen – für Hegel ist sie »das Wesentlichste« »der Existenz aller Geistigkeit im individuellen Subjekt […], damit das Subjekt als konkrete Unmittelbarkeit, als seelische Idealität sei, damit der Inhalt, religiöser, moralischer usf., ihm als diesem Selbst, ihm als dieser Seele angehöre« (S. 187). Auf diese Weise wird der Inhalt, wie oben formuliert, »Eigentum« meines Selbsts, damit er nicht »von Tun und Wirklichkeit abgeschiedene Innerlichkeit, sondern in seinem Sein sei« (ebd.). Die Gewohnheit als »Bemächtigung der Leiblichkeit bildet die Bedingung des Freiwerdens der Seele, ihres Gelangens zum objektiven Bewusstsein« (S. 189). Obwohl sie leiblich verwirklicht wird, ist die Gewohnheit dem Subjekt nichts rein Äußerliches, insofern sie von dessen Tätigkeit geformt wird und der Inhalt dem Subjekt als diesem Selbst angehört. Dennoch lässt Hegels Distanzierung von der Zweiten Natur nicht auf sich warten: »Obgleich […] der Mensch durch die Gewohnheit einerseits frei wird, so macht ihn dieselbe doch andererseits zu ihrem Sklaven und ist eine zwar nicht unmittelbare, erste, von der Einzelheit der Empfindung beherrschte, vielmehr von der Seele gesetzte, zweite Natur, – aber doch immer eine Natur, ein die Gestalt eines Unmittelbaren annehmendes Gesetztes, eine selber noch mit der Form des Seins behaftete Idealität des Seienden, folglich etwas dem freien Geiste Nichtentsprechendes, etwas bloß Anthropologisches.« (ebd.) Bei Aristoteles führt der Übergang von der Natur zur Kultur unter Wirkung der Gewohnheit vom faktischen zu einem normativ bewerteten Handeln, das in einer ethischen Einstellung gegründet ist. Er entwirft jedoch keine Setzung durch den Geist. Die Normen und das Gut-Sein
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des Handelns bilden sich im Handeln selbst; dies bei allen Handelnden einer Polis in gleicher Weise. Für Hegel stellt die Gewohnheit die Stufe eines Übergangs von der Natur zum Geist dar. In der Zweiten Natur finden sich Rückstände der (ersten) Natur, nicht getilgte Bindungen an das Leibliche, die den Geist an seiner vollständigen Befreiung hindern. Zwar gibt die Gewohnheit dem Menschen eine partielle Freiheit, aber wirklich frei wird er erst durch die Tätigkeit des Geistes.
Die Zweite Natur im Lichte von Bourdieus Habituskonzept In der Theorie Pierre Bourdieus nehmen die Konzepte der Gewohnheit und des Habitus eine Schlüsselstellung ein. Auch bei ihm geht es um die Beziehung von Natur und Zweiter Natur, wenngleich er diesen Begriff weitgehend unerwähnt lässt. Als natürliches Wesen ist der Mensch von Geburt an in eine menschengemachte Welt hineingestellt, bleibt aber aufgrund seiner körperlichen Existenz Teil der Natur. Über seine Körperlichkeit nimmt er die Gewohnheiten der Gesellschaft in sein eigenes Handeln auf und passt sich in seine gesellschaftliche Umgebung ein. Das soziale Subjekt entwirft Bourdieu als tätige Kraft. Es bringt seine Welt und sich selbst aus verinnerlichten Strukturen seiner Gesellschaft hervor.7 Bourdieus Problem ist nicht, wie die Natur überwunden, sondern wie sie von der sozialen Welt geformt wird, wie das Subjekt sie verinnerlicht und wie dieses aus den verinnerlichten Strukturen sein eigenes soziales Handeln formt und seinerseits auf die Gesellschaft einwirkt. Gewohnheiten sieht er nicht als Mechanismen an, die das reibungslose Funktionieren des Geistes unterstützen, sondern als wichtigen Teil einer umfassenden gesellschaftlichen Praxis: Sie bilden wiederkehrende Muster des Denkens, Handelns und des sozialen Lebens. Vom frühesten Alter an durchdringen sie das Subjekt sowohl mit individuellen als auch mit gesellschaftlichen Ausprägungen.
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Siehe insbesondere Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis und Meditationen. Siehe auch Beate Krais/Gunter Gebauer: Habitus.
5. Die Zweite Natur als Habitus
Wie Bourdieu in den Meditationen schreibt, hatte er den Ehrgeiz, eine »materialistische Philosophie zu konstruieren, die, wie Marx in den Thesen über Feuerbach fordert, vom Idealismus ›die tätige Seite‹ der praktischen Erkenntnis übernimmt, die die materialistische Tradition ihm überlassen« hatte.8 Diese Aufgabe erfüllt das Konzept des Habitus. Es ist der Habitus, »nicht das Wirken eines transzendentalen Subjekts« (ebd.), der das handelnde Subjekt fähig macht, die Strukturen der sozialen Wirklichkeit hervorzubringen. Mit dem Habituskonzept entwirft Bourdieu ein einheitliches Steuerungsvermögen des handelnden Subjekts. Es entsteht aus einer Verinnerlichung von Strukturen, welche die Ordnung der gesellschaftlichen Welt ausmachen. Als sozial differenzierte Regeln, Vorschriften, Konventionen, Normen bilden sie auch den gewohnheitsmäßigen Hintergrund des handelnden Subjekts. Viele ihrer Anforderungen existieren in objektivierter Form: in der Weise, wie Menschen sich in ihrer Lebenswelt verhalten, wie sie räumlich angeordnet, eingeteilt und bewertet werden; wie sie in eine Zeitordnung eingefügt sind und sie den Ablauf des Tages, der Woche und des Jahres strukturieren. An dieser (unvollständigen) Aufzählung sieht man die wichtige Rolle der Gewohnheit für die Einführung, Einübung und Konstanz dieser Strukturen, die das gesellschaftliche und individuelle Leben organisieren. Wie Aristoteles hält Bourdieu Erfahrung für die wesentliche Grundlage der Habitusbildung. Er fügt drei Gedanken hinzu, die oben schon kurz erwähnt wurden: dass sie Erfahrungen in einer bereits strukturierten Welt, der Umgebung des Lernenden, sind; dass das Subjekt als sinnliches Wesen die Strukturen der Praxis verinnerlicht; dass es sein eigenes Inneres entsprechend den rezipierten Strukturen organisiert. Wie geschieht es, dass das handelnde Subjekt Strukturen, Bewertungen und Interpretationen der sozialen Welt verinnerlicht und in eigenes Handeln umsetzt? Im Folgenden werde ich den allgemeinen »Schaltplan« der Bourdieuschen Theorie skizzieren. Die Rezeption der Ordnung der Welt. Das Subjekt ist in verschiedenartige Ordnungen »eingetaucht«; es folgt ihnen »blind«, wie Ludwig 8
Pierre Bourdieu: Meditationen, S. 175.
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Wittgenstein über das Regelfolgen sagt.9 Die Formung des Habitus geschieht in seinem praktischen Umgang mit der Welt und in gemeinsamem Handeln mit anderen Menschen. In der Rezeption der sozialen Strukturen bildet es Schemata der Wahrnehmung, des Urteilens und Handelns aus, die es zu einem kompetenten Mitspieler machen. Bourdieu nennt das Vermögen, sich spontan an sozialen Situationen zu beteiligen, den Praktischen Sinn, sens pratique. Er gibt den Handelnden einen Sinn für das jeweilige soziale »Spiel«, sens du jeu, der sie zu einer Beteiligung ohne Nachdenken fähig macht. Die »operative« Seite. Sie wird in einem regelrechten Training des Praktischen Sinns gebildet. Das regelkonforme Verhalten kommt teils aufgrund von Beobachtung, teils durch Unterweisung durch die Mitspieler zustande, teils wird es mimetisch von Verhaltensvorbildern übernommen. Dies geschieht in »elementaren Lernvorgängen«, apprentissages primaires. Mit diesem Ausdruck weist Bourdieu darauf hin, dass sie unterhalb des Bewusstseins wirken. Der Körper wird dabei als eine Gedächtnisstütze (pense-bète) genutzt; er ist eine Art Lager, dépot, wertvollen praktischen Wissens, das nach Blaise Pascal »den Geist übt, ohne dass dieser daran denkt«.10 Was in dieser Darstellung Bourdieus von 1980 noch wie ein »Eintrichtern« erscheint, wird in den Vorlesungen von 1983 und in den »Meditationen«11 als ein wesentlich aktiver Vorgang des Subjekts beschrieben. Die Einübung. Der Habitus wird in den sozialen Milieus des Subjekts in Kindheit, Jugend und im frühen Erwachsenenalter ausgebildet, zuerst in der Familie, dann von der peer group, in der Schule, im Studium und in der Berufsausbildung. Die Wirksamkeit des Habitus entsteht in dem jeweiligen sozialen Feld, in dem er angewendet wird, beispielsweise im Feld der kulturellen Produktionen, der Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Religion, des Sports. »Die Strukturen des Felds wirken auf den Habitus durch den Praktischen Sinn in Form von Aufforderungen,
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Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 219. Zitiert von Pierre Bourdieu in: Le sens pratique, S. 115 – eigene Übersetzung. Pierre Bourdieu: Sociologie Générale und Méditations.
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wie ›das muß gemacht werden‹, ›das ist gut für mich‹, ›ich mag das‹«.12 In allen Feldern bewahrt der Habitus seine Kontinuität dadurch, dass er seine grundlegenden Schemata beibehält und sie an die Strukturen des jeweiligen Feldes anpasst. Die Einschätzung, Auswahl, die Präferenzen und Handlungsweisen des Subjekts im jeweiligen Handlungskontext sind daher zu einem bestimmten Grad erwartbar. Wenn man den Habitus, den Praktischen Sinn und die Struktur des Feldes in einen systematischen Zusammenhang bringt, lässt sich für das Handeln in wichtigen Feldern der Gesellschaft eine Logik der Praxis konstruieren. In der Fähigkeit, die Kontinuität verschiedener Habitus in unterschiedlichen sozialen Feldern aufzuzeigen, liegt eine der größten Leistungen der Soziologie Bourdieus. Die Anwendung. Den Beitrag des Habitus bei der Bildung der Zweiten Natur erkennt man, wenn man ihn in Handlungssituationen analysiert. Ein Beobachter kann sie objektiv beschreiben: die Regeln des Handelns, die Zeitstruktur, Raumgliederung, Gewohnheiten, Intentionen. Mehr noch, die ganze Situation hat einen bestimmten Sinn, über den sich Eltern und Kind verständigen können. Diese Ausgangssituation enthält schon wesentliche Elemente der Habitusbildung. Ein wichtiger Grundsatz von Bourdieus Anthropologie ist die Beteiligung des Körpers an der Habitusbildung. Die Beziehung des Körpers zur Welt entsteht aus der biologischen Eigenschaft des Menschen, »der Welt gegenüber offen, also ihr ausgesetzt und somit von ihr formbar zu sein.«13 Als Mitspieler in den gesellschaftlichen Spielen, »als realer Akteur, d.h. als Habitus, mit seiner eigenen Geschichte […] und den von ihm verkörperten Eigenschaften (stellt er) ein, wie Hegel sagt, Prinzip der Vergesellschaftung dar« (S. 171f). Bourdieu erweitert diesen Gedanken um eine Formulierung Pascals: Der Körper ist in der Welt enthalten, wie der Körper die Welt ent-
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Ders.: Sociologie Générale, S. 568. Ders.: Meditationen, S. 172.
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hält und begreift (S. 194).14 Aus diesem gegenseitigen Enthalten-Sein entsteht eine Übereinstimmung (coincidence) zwischen beiden: »[…] wenn der Akteur die ihm vertraute Welt unmittelbar erfasst, so deswegen, weil die dabei verwendeten kognitiven Strukturen aus der Einverleibung der Strukturen der Welt resultieren, in der er handelt; weil die Konstruktionselemente, die er verwendet, um die Welt zu erkennen, von der Welt konstruiert wurden.« (S. 174) Die Welt steht dem Subjekt nicht gegenüber – es nimmt sie in sich hinein; es macht sie zu seiner eigenen Welt und drückt seine Übereinstimmung im eigenen Handeln aus. Mit einer Formulierung Hegels spricht Bourdieu vom »Bei sich Sein in der Welt« (S. 189). Wie bei Aristoteles bilden für Bourdieu das soziale Verhalten und die Einstellung des Subjekts ein Gemeinsames. Das Habituskonzept überwindet die kategoriale Unterscheidung von Innen und Außen. So ist die Körperhaltung (griechisch hexis, lateinisch habitus) Teil der subjektiven Haltung des Subjekts zur Welt. Denken wir an die traditionelle hohe Wertschätzung des Bürgertums von Tischsitten, die nicht nur eine Beherrschung des Körpers, sondern auch Kultiviertheit und gute Erziehung ausdrücken sollen. Wenn sie mit selbstverständlicher Eleganz vollzogen werden, signalisieren sie einen souveränen Umgang mit Konventionen, eine unangestrengte Beherrschung gesellschaftlicher Normen, als werde die Zweite Natur in Natur zurückverwandelt. Dem jungen Marcel in Prousts »Suche nach der verlorenen Zeit« erscheint dies wie ein Privileg derjenigen, »die sich in der Gesellschaft ›am rechten Platz‹ befinden«, die ihren Dispositionen »vertrauen« können (Bourdieu, ebd., S. 209). In der Gegenwart sind neue Modelle der selbstverständlichen Beherrschung von Körpertechniken entstanden, die Könner am Umgang mit Computern, Smartphones, mit Programmier- und Videotechniken demonstrieren. Auch hier stellt sich eine Zweite Natur in Haltungen und Bewegungen dar, die aussehen, als seien sie angeboren. In Musik, 14
Im französischen Text verwendete Bourdieu das Verb »comprendre«, das den Doppelsinn hat: »eine Sache enthalten« und »eine Sache verstehen«.
5. Die Zweite Natur als Habitus
Tanz und Sport ist es jahrelanges hartes Training, das die komplexesten Körpertechniken in ein Repertoire selbstverständlich erscheinender Bewegungen verwandelt. Gerade die Beispiele professioneller Ausbildung lassen erkennen, dass der perfekt trainierte Körper Gewohnheiten erwirbt, die ihn zu gekonntem und intelligentem Handeln befähigen. Wie die körperlichen Gewohnheiten beschaffen sind, wie die Körper von der Gesellschaft geformt werden, welche sozialen Strukturen die Subjekte verinnerlichen, wie sie zu einer Zweiten Natur gemacht werden, unterscheidet sich kulturell und gesellschaftlich. Bourdieu richtet sein Forschungsinteresse auf die unterschiedlichen Logiken der Praxis, die eine jeweils spezifische Zweite Natur hervorbringen. Jedes Individuum hat aufgrund seiner Herkunft, seines Milieus, seiner Ausbildung Strukturen seiner Umgebung inkorporiert und eigenständig geordnet. Aufgrund seines Habitus’ gehört das Subjekt zu einer bestimmten sozialen Klasse oder Gruppe und bringt seine Zugehörigkeit durch seine subjektiven Handlungsweisen, Präferenzen, Bewertungen und Geschmackswahlen zum Ausdruck. Der Habitus ist beides zugleich: das Eigene des Subjekts und ein Übereinstimmen mit den Strukturen der Gesellschaft. Der Habitus eines Menschen bleibt, wenn er erst einmal ausgebildet ist, über weite Strecken seines Lebens konstant. Auf die relative Starrheit des Habitus weist Bourdieu in Arbeiten hin, in denen er die Probleme von Handelnden analysiert, die mit grundlegenden Veränderungen des sozialen Feldes konfrontiert sind. Bei seinen ethnologischen Studien in Algerien der 1950er-Jahre zur ökonomischen Mentalität der einheimischen Bevölkerung konstatierte er, dass deren Vorstellungen zutiefst von der archaischen Tauschwirtschaft und den Werten der agrarischen Gesellschaft geprägt waren, sodass die Umstellung auf eine von Geld bestimmte Ökonomie ihrer traditionellen Wirtschaftsgesinnung diametral entgegenstand.15 Der Habitus kann jedoch auch produktive Veränderungen hervorbringen. Wenn das Subjekt lernfähig ist, kann er an neuartige Situationen angepasst werden. Wie Bourdieu etwas emphatisch schreibt, kann 15
Ders.: Die zwei Gesichter der Arbeit.
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er dem Subjekt »eine generierende und einigende, konstruierende und einteilende Macht zurück(geben)«, insofern die »sozial geschaffene Fähigkeit, die soziale Welt zu schaffen, nicht die eines transzendentalen Subjekts ist, sondern die eines sozial geschaffenen Körpers«.16 Wenn man von der Zweiten Natur spricht, muss man sich vor zwei Fehlern hüten. Zum einen: an ihre angeblich zurückgewonnene Natürlichkeit zu glauben, und zum anderen: sie für ein Produkt allein der Gesellschaft zu halten. Beide Meinungen greifen zu kurz. Das Natürliche der Zweiten Natur ist durch und durch gesellschaftlich. Das Gesellschaftliche ist jedoch in der Körperlichkeit des Subjekts verankert. Der Begriff der Zweiten Natur eröffnet einen Blick auf die Grundlagen der drei betrachteten Philosophien. Aristoteles, Hegel und Bourdieu sehen in dieser eine Überwindung der natürlichen Instinkte. An ihre Stelle setzen sie etwas Neues, das in Analogie zu dem Überwundenen gedacht wird. Ähnlich wie die Instinkte geschehen die Prozesse der Zweiten Natur ohne Aufschub, quasi automatisch, sie geben Verhaltenssicherheit, sie funktionieren verlässlich und stabil über eine lange Zeitdauer. Der Mensch formt sie in seiner Lebenswelt mit seinem Willen und legt so das Fundament seines Handelns und Denkens. In den drei Philosophien kommen diesem Prozess jedoch grundlegend unterschiedliche Bedeutungen zu. Aristoteles geht es um eine Polis, die ihren Mitgliedern ein glückseliges Leben ermöglicht. Seine Überlegung setzt bei der Ausbildung der Bürger an: Ihr Handeln und Denken soll ausgehend von den Gewohnheiten eine ethische Qualität gewinnen, ein Gut-Sein im Sinne der Polis. Sein Projekt ist politisch, sein Vorgehen pädagogisch, das Ziel ist die ethische Formierung der Polisbürger. Seine Methode setzt beim Handeln an und unterzieht es einer Art Training, das die Natur umgestaltet. In diesem Prozess wird ein Habitus, hexis, ausgebildet, der als Zweite Natur sowohl das innere als auch das äußere Geschehen des Polisbürgers reguliert. Ihre Qualität lässt sich nach einem objektiven Gütemaßstab beurteilen.
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Ders.: Meditationen, S. 175.
5. Die Zweite Natur als Habitus
Hegel sieht in der Gewohnheit einen Schritt auf dem Weg zur Befreiung des Geistes. Durch die Mechanisierung des »Selbstgefühls«17 entsteht dem Menschen eine Zweite Natur. Sie unterwirft die Leiblichkeit; sie stellt damit den Geist frei von Empfindungen und sinnlichen Eindrücken. Dies geschieht nicht durch den Geist selbst, sondern ist eine »von der Seele gesetzte Unmittelbarkeit« (ebd.). Auf diese Weise gelingt jedoch nicht die endgültige Loslösung von der Sinnlichkeit und vom Leib. Die Zweite Natur ist »eine selber noch mit der Form des Seins behaftete Idealität des Seienden«; sie entspricht nicht dem freien Geist (S. 189). Was bei Aristoteles wichtig war – die Erfahrung, die Übung, die hexis, der Habitus – trägt in Hegels Philosophie nicht zum Wirken des Geistes bei.. Ganz anders Bourdieu; gerade diese Elemente fügt er zu einem kohärenten Erfahrungswissen zusammen. Wenn dieses gebildet worden ist, gewinnt es zeitliche Dauer und steht auch für neue Verwendungen zur Verfügung. Wie bei Aristoteles bildet die Zweite Natur die Grundlage des sozialen Handelns, Denkens und Urteilens; sie gehört zum Fundament der Gesellschaft. Erfahrungswissen und praktisches Können erwirbt das Subjekt in spezifischen sozialen Feldern, die von einer je eigenen Logik strukturiert werden. Aus diesen Kontexten können sie herausgelöst und in andere Felder transferiert werden. Voraussetzung dafür ist, dass man sie an deren spezifische Logik anpassen kann. So ist es möglich, einen im Feld der Bildung erworbenen Habitus im Feld der Politik einzusetzen, allerdings unter anderen Feldbedingungen. Gewöhnlich ist den Handelnden die Wirkungsweise ihres Habitus nicht bewusst. Nach Bourdieu kann man sich ein Bewusstsein darüber verschaffen, wenn man die sozialen und historischen Bedingungen der Möglichkeit des eigenen Handelns, Denkens und Urteilens analysiert. Für diese Untersuchung hat Bourdieu in seinen Schriften wichtige Instrumente und Methoden entwickelt.18
17 18
Hegel, Enzyklopädie, S. 184. Seinen eigenen Habitus hat Bourdieu kurz vor seinem Tod selbst modellhaft analysiert, in: Ein soziologischer Selbstversuch. Zu seinen methodologischen Überlegungen siehe: Pierre Bourdieu et al.: Le métier du sociologue.
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Hegels Philosophie bezeichnet die Bildung einer Zweiten Natur als »etwas bloß Anthropologisches« (S. 189). Es gehört in den Bereich der Erfahrung materieller Phänomene, ohne innere Verbindung mit der Bewegung des Geistes. Bourdieu folgt dagegen der Marxschen Kritik an Hegels Idealismus. In der vom Kopf auf die Füße gestellten Philosophie bildet die Anthropologie das Fundament, auf dem die Leistungen des Geistes aufbauen. Im Prozess der menschlichen Entwicklung stellt die Zweite Natur den entscheidenden Schritt dar, mit dem der Mensch seinem (natürlichen) Körper und seinen Bewegungen selbst entwickelte, eingeübte Formen gibt. Aus dem körperlichen Organismus stellt er so einen post-natürlichen Mechanismus her. Durch die Formung seiner Körpertechnologie wird er zum Schöpfer von kulturell gesetzten Normen und Protosymbolen. Die Zweite Natur erschließt dem Menschen den Zugang zu einer von ihm selbst hergestellten mimetischen Welt.19 In ihr überlagern Symbole, Bedeutungen und Erzählungen die Materialität der Dinge und des Körpers. Mit ihrer Hilfe beginnt der Mensch sich vom unmittelbar Gegebenen zu lösen.
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Siehe zu der mimetischen Herstellung der Welt Merlin Donald: The Origins of Modern Mind: Gunter Gebauer/Christoph Wulf: Mimesis. Dies.: Spiel – Ritual – Geste.
II. Das Äußere und das Innere
6. Die Geste als Vermittlung von Allgemeinheit und Ich
Nach einem geläufigen Vorurteil bilden Gesten eine Zeichensprache mit dem Körper. Ihr Gebrauch, so meint man, ähnelt der Verwendung der von einer Grammatik geregelten verbalen Sprache; ihre Bedeutungen entsprechen denen der Umgangssprache. Für diese Auffassung spricht einiges; sie übersieht jedoch etwas Wesentliches – die emotionale Beteiligung des Subjekts an der Geste. Auf diesen Aspekt gehen die folgenden Überlegungen ein. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen die Gesten, die Emotionen, also das Innere in körperlichen Handlungen, darstellen. Diese Vorstellung von Gesten liegt eine »objektivierende« Sichtweise zugrunde. In dieser Perspektive haben Gesten eine anzeigende Funktion. So zeigen emotionale Gesten mit zeichenartigen Bewegungsbildernden inneren Zustand des handelnden Subjekts an. Es gibt jedoch einen wesentlichen Unterschied zwischen den konventionellen Zeichen einer verbalen Sprache und den Gesten: Sprachliche Zeichen gibt es schon, bevor man sie verwendet. Man wählt aus dem zur Verfügung stehenden Repertoire ein standardisiertes Zeichen aus, das zu der kommunikativen Absicht passt. Bei Gesten verhält es sich anders. Sie werden spontan, unter wesentlicher Beteiligung des Körpers ausgeführt. Zwar spricht man von einem Gestenrepertoire, aber diese Sprechweise entsteht dadurch, dass man von vornherein Gesten in Analogie zu sprachlichen Zeichen betrachtet. Gesten lassen sich nicht zu einem System anordnen, wie es mit Wörtern und Lauten von verbalen Sprachen möglich ist. Wenn es so
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etwas wie ein System der Gesten gibt, funktioniert es anders als die Zeichensysteme der verbalen Sprachen. Beispielsweise ist es bei Gesten nicht einfach, signifikante und nicht-bedeutungsvolle Körperbewegungen voneinander zu unterscheiden. Ihre Gestaltung, ihr Tempo und ihre Intensität werden vom Körper des Gestikulierenden mit seiner besonderen psychischen Verfassung bestimmt. Anders als die Wörter der Sprache werden Gesten nicht explizit erlernt. Soweit das Lernen bei ihnen eine Rolle spielt, vollzieht es sich in unbewussten nachahmenden Prozessen. Für ihre Spontaneität und Produktivität stehen bestimmte Muster zur Verfügung, die von der Kultur vorgeprägt und wiedererkennbar sind. Beim Gestikulieren greift der Sprecher jedoch nicht nur auf bereitliegende Muster zurück; er kann auch mit einer gewissen schöpferischen Freiheit handeln.
Innerer und äußerer Aspekt der Geste Die Geste kommt von innen, wie man in traditioneller Sichtweise sagt. Sie scheint aus einem inneren Antrieb zu geschehen, aus einem subjektiven inneren Prozess mit einer spezifischen Bedeutung, die der Sprecher mit Hilfe konventioneller Gesten auszudrückt. Aus dem Repertoire der Gesten wählt er eine Bewegungsgestalt, in die er seine subjektive Beteiligung hineinlegen kann. Nach dieser Vorstellung eines gestischen Transportmediums sind Bedeutungen Veräußerlichungen von inneren Vorgängen des Subjekts. In räumlich aufgeführten Bewegungsbildern objektivieren diese innere psychische Vorgänge. Bei der Unterscheidung von inneren Vorgängen und äußeren Bildern scheint es sich um eine kategoriale Verschiedenheit von zwei Registern zu handeln. Gerade diese Folgerung kann man bestreiten. Sehen wir uns eine Geste unter dem Aspekt der körperlichen Beteiligung näher an. Sie ist schnell oder langsam, lebhaft oder bedächtig, raumgreifend oder ausholend, zurückhaltend oder zaghaft, demonstrativ nach außen oder nach innen gerichtet. Sie hat eine bestimmte Intensität, Stärke, Deutlichkeit und Prägnanz. Sie besitzt also Eigenschaften, mit denen wir sowohl Bewegungen als auch das Psychische
6. Die Geste als Vermittlung von Allgemeinheit und Ich
kennzeichnen. Der Geste selbst werden emotionale Qualitäten zugeschrieben, als hätte sie Empfindungen. Sie scheint so etwas wie die äußere Darstellung eines inneren Geschehens zu sein, als stelle sie Gedanken, Emotionen, Absichten dar. Wie aber können wir etwas über dieses Innere wissen? Alles was wir von dem Inneren kennen, erfassen wir mit Hilfe von Zeichen, Symbolen, Indizien, Symptomen, also über Äußerungen des Inneren. Um die emotionalen Eigenschaften einer Geste zu beurteilen, richten wir unsere Aufmerksamkeit auf das äußere, körperliche Verhalten. Der emotionale Aspekt der Geste gehört zu dieser selbst, also zu dem körperlich vollzogenen Bewegungsbild und zu dem ausgedrückten inneren Prozess. Das Bewegungsbild und das Innere sind zwei Seiten derselben Geste. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich nicht grundlegend voneinander. Bildlich gesprochen gehören sie als zwei unterschiedliche Fasern zu einem einzigen Gewebe. Mit dieser Überlegung wird ein Gedanke von Maurice Merleau-Ponty aufgenommen.1 Seine Beschreibung bezieht sich nicht speziell auf die Geste, sondern generell auf die Vereinigung von wahrgenommen emotionalen Ereignissen mit den Gefühlen des empfindenden Subjekts.2 Er lokalisiert diese in einem und demselben Element oder Substrat, das er »Gewebe«, tissue, nennt. Materielle Verhaltensweisen und psychisches Geschehen gehören zu zwei verschiedenen Registern, aber diese vereinigen sich in Gesten, in denen sie zu einem einzigen »Gewebe« miteinander verwoben werden. In diesem Gewebe haben Bewegungsbilder an inneren Prozessen teil. Die Geste gewinnt über ihre materielle Körperlichkeit hinaus die Qualität einer bildlichen Darstellung von inneren Prozessen, die erst dadurch eine Gestalt und damit eine erfassbare Existenz erhalten, dass sie körperlich dargestellt werden.
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Maurice Merleau-Ponty: Le visible et l’invisible. Merleau-Ponty charakterisiert diesen Vorgang mit den Worten: »je leur prête mon corps pour qu’elles y inscrivent«, ebd., S. 192.
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Gesten und Emotionen In den Gesten hat das psychische Geschehen ein äußeres Leben. An den bildlichen Handlungen der Gesten zeigt sich das Innere. Würden sie ihre Zeigequalität nicht haben, wären sie nichtssagende Bewegungen, nicht mehr als ein Fuchteln. Mit diesen Überlegungen ist mein Gedankengang noch nicht abgeschlossen, insofern bisher nur die Gesten selbst betrachtet wurden. Dabei wurden jedoch nicht die Interaktionen zwischen handelndem und verstehendem Subjekt einbezogen. Bisher habe ich eine Position entwickelt, mit der ich den traditionellen LeibSeele-Dualismus zurückgewiesen habe. Eine strikt dualistische Auffassung wird den emotionalen Gesten nicht gerecht, weil sie nicht erklärt, inwiefern Bewegungen Gefühle wachrufen können. Eine monistische Sichtweise, die Gesten grundsätzlich als die äußere Seite von inneren Vorgängen ansieht, löst das Problem auch nicht, weil nicht alle Gesten Emotionen zeigen. Hingegen entwirft das Konzept des Gewebes die Vorstellung einer gemeinsamen Beteiligung von Fasern unterschiedlicher – körperlicher und psychischer – Beschaffenheit, die nicht mehr intern differenziert werden können. Was gewinnen wir aus diesen Überlegungen für unsere Ausgangsfrage? Im Aspekt des Zeigens der Gesten tritt etwas hervor, das sowohl am äußeren Verhalten als auch am Inneren, an den emotionalen Prozessen teilhat. Die Teilhabe ist keine einfache Veräußerung des Inneren; sie geht nicht von innen nach außen, sondern vereint beides. Dies erkennt man daran, dass die Gesten auch in umgekehrter Richtung, von außen nach innen, wirken können: Gesten können inneres Geschehen verändern. Mit ihren Bewegungen, Berührungen, Körperkontakten und -haltungen beteiligen sie sich an der Gestaltung des Inneren: Bei der Geste des Berührens spürt man die fremde Haut, ihre Wärme, die Beschaffenheit ihrer Oberfläche und fühlt sich selbst innerlich berührt. Ein Händedruck aus Zuneigung erzeugt beim Anderen Zuneigung. Gesten können eine – selbstbewusste oder zaghafte – Haltung zur Welt darstellen und diese durch ihren – kraftvollen oder zögerlichen – Vollzug verändern. Bei der Geste des Sitzens kann das Subjekt unbeweglich verharren. In einem dunklen Raum kann es sich auf
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den schmalen Lichtstreifen eines angelehnten Fensters ausrichten und Ruhe, innere Bewegungslosigkeit erfahren. Oder jemand rutscht beim Sitzen hin und her und vergrößert dadurch seine innere Unruhe. Ein Schauspieler kann, wie Bourdieu zeigt, durch die körperliche Darstellung der Figur, die er spielt, eine innere Haltung des Glaubens an seine Rolle hervorrufen – er glaubt das, »was der Körper ist, selbst wenn der Geist Nein sagt«.3 Betrachten wir die emotionalen Gesten in alltäglichen Interaktionen. Was der Gestikulierende fühlt, ist in seinem Inneren noch formlos. Sein inneres Geschehen drängt dazu, sich in sozialem Verhalten zu äußern. Von einem unmittelbaren Ausdruck der Gefühle kann man in diesem Stadium noch nicht sprechen. Erst durch seine Gesten in einem öffentlichen Geschehen und mit Beteiligung der sozialen Umgebung gibt das Subjekt seiner Emotion in minimalen szenischen Ereignissen eine bestimmte Form. Sie werden von Anderen gesehen und als Ausdruck von Emotionen gedeutet. So geschieht es mit den Schmerzgesten eines Verletzten, mit den vor dem Körper gefalteten Händen von Trauergästen oder den ausgebreiteten Armen eines Liebenden, der seine Geliebte vom Zug abholt. Die handelnden Subjekte vollziehen ihre Gesten in einer performativen Situation, vor Zuschauern, Zeugen, Beurteilern, die eine beobachtende oder teilnehmende Perspektive einnehmen.4 Gesten sind der körperlich gestaltete Teil der Emotionen, der ihren Vollzug darstellt. Wenn wir gestikulieren, sind wir bei uns und mit unserem öffentlichen Verhalten zugleich außer uns. Wir sind sowohl empfindendes Ich als auch ein Bewegungsbild für andere. Als innerer Prozess, ohne eine Form der Verkörperung, hat die Emotion noch keine Bedeutung. In ihrem Prozesszustand kann sie noch nicht als Angst oder Furcht, Freude oder Lust gedeutet werden, weder von Anderen noch von der empfindenden Person selbst. Erst dadurch, dass sie in Gesten Gestalt annimmt und als ein äußeres Geschehen wahrnehmbar
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Pierre Bourdieu: Le sens pratique, S. 214f., eigene Übersetzung. Zur Kennzeichnung von Beobachtungs- und Teilhabe-Perspektive siehe Gunter Gebauer: »Wie können wir über Emotionen sprechen?«
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wird, entsteht aus dem, was sich in der Person innerlich vollzieht, eine Emotion, die vom Subjekt selbst erfasst und von anderen Personen bezeichnet werden kann.
Interpretation von Gesten Für die Bedeutung einer Geste ist wichtig, dass beide Seiten – die handelnde Person und die Anderen – sie richtig interpretieren, sodass beide Parteien »recht haben im Hinblick auf das, was im Kopf einer Person vor sich geht«.5 Eine Geste interpretieren heißt: dass der richtige Begriff des Emotionsvokabulars auf sie angewendet wird. Nach Donald Davidsons Konzeption richtet sich die Interpretation nicht auf ein inneres Objekt, sondern bezieht die Perspektiven des Sprechers und der Anderen aufeinander, sodass beide Parteien dasselbe meinen. Davidsons allgemeine Konzeption des Verstehens sprachlicher Äußerungen lässt sich auf den speziellen Fall der emotionalen Gesten anwenden. Das handelnde Subjekt und der Andere (die zweite Person) können in Bezug auf ein inneres emotionales Geschehen dasselbe meinen, ohne sich auf ein unabhängig von der Sprache existierendes Objekt zu beziehen.6 Die zweite Person betrachtet die Geste des handelnden Subjekts als Reaktion auf eine Emotion, die sie von sich selbst kennt. Zu dieser Ähnlichkeit der Emotionen beider Personen kommt hinzu, dass die zweite Person feststellen kann, dass das Reaktionsmuster des handelnden Subjekts ihrem eigenen ähnlich ist. Davidson bezeichnet diese Beziehungen als »eine Form der Triangulation« (S. 205):7 Eine Linie verläuft von der ersten Person zur Emotion; von der zweiten Person verläuft ebenfalls eine Linie zur Emotion. Eine dritte Linie verbindet die zweite Person mit dem handeln5 6
7
Donald Davidson: »Die zweite Person«, S. 193. Davidson meint sogar, dass die Existenz eines solchen Objekts überhaupt nicht vorausgesetzt werden muss. Diese spezielle Annahme widerspricht der Anthropologie, die diesem Band zugrunde liegt; sie wird daher nicht in die Überlegungen zur Geste übernommen. Im Folgenden paraphrasiere ich den entsprechenden Text von Davidson.
6. Die Geste als Vermittlung von Allgemeinheit und Ich
den Subjekt. Sie bildet die Grundlinie eines Dreiecks, an dessen Spitze die Emotion situiert ist, auf die sich beide beziehen. Sie erhält so einen Ort in einem Raum, der erster und zweiter Person gemeinsam ist. »Sie müssen beide Interpreten des jeweils anderen sein.« (S. 209)8 Im Zusammentreffen der Meinungen von erster und zweiter Person wird der Raum zu einem Raum gemeinsam konstruierter Bedeutungen: Aus einem Handlungsraum entsteht in der Kommunikation zwischen den beiden Personen ein symbolischer Raum. In ihm wird den Gesten, ihren Bedeutungen und Emotionen eine soziale Form gegeben.9 In Davidsons Dreiecksmodell werden die Perspektiven der beiden Personen miteinander verbunden, können aber nicht vollständig zur Deckung gebracht werden. Sie werden aber als einander ähnlich erkannt. Die Bedeutungen von Gesten entstehen also, wenn die Perspektive der zweiten Person, des Handlungspartners, zu jener der ersten Person hinzutritt: wenn das Verhalten der ersten Person ein Bewegungsbild für den Anderen wird. In der Sicht der handelnden ersten Person, ist ihre Emotion unfraglich gegeben; sie ist es, die den emotionalen Prozess vollzieht. Wenn sie sich auf ein Du bezieht und dessen Verhalten gegenüber ihrer eigenen Geste betrachtet, versteht sie, dass es sich in seiner Perspektive auf ihre Emotionen bezieht. Grundlage für dieses Verstehen ist die Tatsache, dass beide in ähnlicher Weise handeln. Im dialogischen Geschehen verändern die Körper der Subjekte ihren Status. Aus den materiellen Körpern werden Produzenten von Bedeutungen: Wenn die erste
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9
Die Annahme der zweiten Person ist notwendig, um den sprachlichen Ausdrücken und Gesten, die sich auf Emotionen beziehen, empirischen Gehalt zu geben; vgl. Davidson: »Wenn wir ein einzelnes Lebewesen allein betrachten, können seine Reaktionen – egal, wie komplex sie sind – nicht zeigen, daß sich seine Reaktionen oder Überlegungen auf Ereignisse beziehen […] Denn um eine Sprache als eine bezeichnen zu können, die tatsächlich gesprochen wird, ist es erforderlich, daß Äußerungen auf Gegenstände und Ereignisse in der Welt abgebildet werden.« (S. 206f) Zur Vorsicht sei darauf hingewiesen, dass Davidson sein Modell anhand einer einfachen gegenstandsbezogenen Kommunikation entwickelt. Die Weiterführung in Richtung gestischer Kommunikation über Emotionen hat der Verfasser zu verantworten.
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Person das Du versteht, ahmt sie es in der gleichen Weise nach, wie das Du die erste Person zuvor nachgeahmt hat, als es ihre Geste auf seine Emotion bezogen hat. Die Geste und der Bezug auf den inneren Prozess bilden sich in wechselseitigen mimetischen Prozessen. Mit dieser Annahme wird nicht behauptet, dass die erste Person bei ihrem Gestikulieren einen bewussten Bezug zu ihren Emotionen herstellt. Das handelnde Ich hat das emotionale Geschehen in seinem Vollzug, zu dem das Gestikulieren als äußere Seite gehört. Seine Gesten sind Teil der Kommunikation zwischen erster und zweiter Person. Als Partnerin in diesem Sprachspiel ist die zweite Person an der Interpretation der emotionalen Gesten wesentlich beteiligt: Auch in ihr lösen Gesten innere Reaktionen aus, die zur Bildung der gemeinsamen Bedeutung beitragen.10 Allerdings ist das Geschehen, das sich bei ihr abspielt, von einer anderen Art als bei der ersten Person.
Der symbolische Raum von Gesten Worin liegt der Unterschied zwischen dem Empfinden einer Emotion und ihrem Erfassen durch die Anderen? Entscheidend ist der Unterschied der Stellung der Emotion im Leben des empfindenden Subjekts. Seine Emotion hat eine wichtige Position im Kontext seines Lebens; sie organisiert seine Welt, sie verwandelt seine Welt.11 Die emotionale Beschaffenheit seiner Welt ist ein »phénomène de croyance«, »Glaubensphänomen« (Sartre, ebd., S. 41). Eine emotionale Erschütterung kann meine Welt insgesamt erschüttern. Andere Menschen können dieses emotionale Erlebnis aufgrund der Ähnlichkeit mit eigenen Erfahrungen richtig interpretieren – aber ihre Welt muss dadurch nicht berührt werden. Die existenzielle Bedeutung, welche die geäußerten Emotionen für mich 10
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Vgl. Charles Taylor: Es gibt Bedeutungen, zu denen es leidenschaftslos keinen Zugang gibt (z.B. Stolz und Scham, Eifersucht oder Neid). Ich kann sie »nur verstehen, wenn ich gefühlsmäßig nachvollziehen kann, wie es ist, diese […] zu fühlen, sie zu spüren und die entsprechende Intuition zu empfinden« (Charles Taylor: Das sprachbegabte Tier, S. 347f). Jean-Paul Sartre: Esquisse d’une théorie des émotions, S. 33.
6. Die Geste als Vermittlung von Allgemeinheit und Ich
haben, ist der Grund, warum sie an die erste Person gebunden bleiben: »L’émotion est une forme organisée de l’existence humaine«, »die Emotion ist eine organisierte Form der menschlichen Existenz« (S. 11). Ein emotionaler Zustand kann im handelnden Subjekt zu einer Umstrukturierung der Organisation seines Inneren führen, Erinnerungen aufrufen, Dinge miteinander vernetzen, die vorher unverbunden waren. Wenn ich traurig bin, ist meine Welt so strukturiert, dass ihre Organisation die Form der Trauer annimmt: Ich organisiere meine Existenz auf eine andere Weise als vorher und erfahre die Wirkung dieses Aktes körperlich. Nach Sartres Auffassung hängt diese Organisation von meinem Glauben an die Welt ab. Aber auch die umgekehrte Richtung ist möglich. Von meinen Gesten kann die Organisation meiner Welt beeinflusst werden. So können Gesten der Trauer oder des Triumphs innere Haltungen hervorrufen. Durch rituelle Gestiken, die einen Beruf oder ein Amt charakterisieren, kann man den Habitus einer bestimmten Profession einüben, beispielsweise durch Gesten des Segnens den Habitus eines Priesters oder durch rhetorische Gesten den Habitus eines Politikers.12 Die typischen Bewegungen gestikulierender Hände und Arme sind mimetische Darstellungen innerer Haltungen von Mitgliedern von Berufsgruppen, die durch körperliches Auftreten ihre soziale Rolle gegenüber den Adressaten darstellen. Dies gilt für viele Berufe, deren Arbeit auf Menschen einwirken soll, wie die Arbeit von Lehrern, Sozialarbeitern, Richtern, Trainern, Polizisten, Kundenberatern, Coachs etc. Anders als nachahmende Bewegungen greifen Gesten in den umgebenden Raum aus. Oft sind sie mit alltäglichen Zweckhandlungen verwandt; in vielen Fällen leiten sie sich von diesen her. So ist das Zeigen auf Gegenstände eine reduzierte Form des Berührens. Andere Gesten lassen ihre Herkunft vom Ergreifen, Heranziehen, Wegstoßen oder
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Stendhal beschreibt zwei solcher Beispiele: Julien Sorel in »Le Rouge et le Noir« übernimmt durch die Geste der Einkleidung in den entsprechenden Habit die Haltung eines Hauslehrers. In »La Chartreuse de Parme« studiert Fabrice del Dongo vor dem Spiegel die Gesten eines Bischofs, um sich auf sein zukünftiges Amt vorzubereiten.
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Fortwerfen erkennen. Wieder andere sind so etwas wie Erweiterungen unseres Inneren, wenn beispielsweise jemand im Erfolg beide Arme nach oben reckt. Oder sie kehren gleichsam von der Umgebung in die Nähe des Körpers zurück, wenn sich jemand aus Überraschung an den Kopf greift. Emotionale Gesten dieser Art verlagern die Körpergrenzen für einen kurzen Moment nach außen. Sie erweitern den Raum, der den Körper umgibt. Es ist in der Forschung bekannt, dass er mit spürbarer emotionaler Spannung angefüllt ist. Ein Eindringen in diese »Aura« eines Subjekts wird als unerlaubter Eingriff empfunden, als würde man verletzt werden. Von Alain Berthoz wird dieses Phänomen damit beschrieben, dass Menschen eine Art Schutzraum um sich herum wie um einen »virtuellen Körper« bilden.13 Auf ein Eindringen in diese Zone hin reagieren sie neuronal in gleicher Weise wie bei einer wirklichen Aggression. Diese Beobachtung legt die Annahme nahe, dass der virtuelle Körper symbolisch konstituiert ist. Auf der Grundlage der Hypothese von Berthoz kann man vermuten, dass dieser Raum dem symbolischen Raum der Gesten entspricht. Diese Annahme wird durch die Tatsache gestützt, dass auch dieser durch motorische Aktionen von Hand und Arm gebildet wird. Wie das Beispiel der virtuellen Berührung der »Aura« zeigt, wird die Geste der körperlichen Annäherung symbolisch gedeutet: Die Symbolik des Körpers löst eine emotionale Reaktion aus. Wir können annehmen, dass der gestisch handelnde Körper über diese Symbolik mit dem inneren emotionalen Geschehen verbunden ist. Wenn wir unsere Konzeption um den Gedanken erweitern, dass der symbolische Aspekt der Geste dem virtuellen Körper zuzurechnen ist, können wir die emotionale Geste gleichsam als Umkehrung der in die »Aura« eindringenden verletzenden Bewegung auffassen: Sie ist die nach außen gerichtete Reaktion auf ein inneres Geschehen. Mit dem Konzept des virtuellen Körpers können wir be-
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Alain Berthoz:La Décision, S. 151-155.
6. Die Geste als Vermittlung von Allgemeinheit und Ich
schreiben, wie die äußere Handlung (z.B. des Verletzens) einen inneren Prozess hervorruft und wie sich dieser an emotionalen Gesten zeigt.14 Nach diesen Überlegungen gehören die Konzepte des virtuellen Körpers und des symbolischen Raums wesentlich zu einer Theorie der Gesten. Sie können dazu dienen, mehrere Vorurteile beiseite zu räumen: Emotionale Gesten sind keine Bezeichnungen, kein Ausdruck und keine Repräsentationen von Emotionen, die von diesen abgetrennt werden könnten. Sie sind selbst Teil der Emotion; ohne sie wäre diese nicht vollständig, ja, nicht einmal als bestimmte erkennbar. Es hat sich gezeigt, dass die emotionale Geste viel mehr ist als die Bewegung eines materiellen Körpers, der einen inneren Prozess anzeigt. Beide gehören aufs Engste zusammen. An welchem Ort und auf welche Weise sie zusammengefügt werden, hat sich erst erschlossen, als wir die Konzepte des symbolischen Raums und virtuellen Köpers in unsere Überlegungen aufgenommen haben. Beide sind notwendig, um die Bildung von bedeutungsvollen Gesten zu beschreiben. Materielle Akte, die einer Logik der Praxis folgen, können sie nicht hervorbringen. Auch psychische Prozesse kommen dafür nicht in Frage. Ohne ihre Veräußerlichung durch Gesten haben sie keine erkennbare Struktur. Welcher Logik folgt die Bedeutungsbildung der Gesten im symbolischen Raum? Die Logik der verbalen Sprache ist zwar eng mit ihr verwandt. Ihre Anlage legt jedoch eine dualistische Trennung von Innen und Außen nahe. Damit erschwert sie, dass man die engen Verbindungen zwischen beiden Bereichen wahrnimmt. (Darauf weisen insbesondere Nietzsche und Wittgenstein eindringlich hin.) Emotionale Gesten können nicht für sich betrachtet werden – sie manifestieren eine Beteiligung an der Gestaltung des inneren Lebens des Subjekts. So sind wir nicht bereit, eine Geste als aufrichtig anzuerkennen, wenn ihr nicht eine innere Haltung entspricht. Gesten müssen vor dem Hintergrund
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Insofern dieser Raum symbolisch konstituiert ist, wird er in einer spezifischen Kultur aufgespannt. Die Formung der Gesten und der Emotionen selbst unterliegen den Normen der jeweiligen Kultur. Siehe Christian von Scheve, in: Gunter Gebauer/Manfred Holodynski/Stefan Koelsch/Christian von Scheve:Von der Emotion zur Sprache.
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des Lebens des handelnden Subjekts betrachtet werden. Sie machen wesentlich mit aus, was das Subjekt ist, wie es sich sieht und wie es von den Anderen gesehen wird. Von der Sprache der emotionalen Gesten wird eine konkrete Verbindung zur Biographie des Subjekts hergestellt: Sie bezieht in die Bedeutungsbildung die Rolle ein, die das Leben des Subjekts für den symbolischen Raum spielt. Emotionale Gesten sind gleichermaßen subjektiv wie objektivierend – sie vermitteln zwischen der Allgemeinheit der Sprachgemeinschaft und dem individuellen Leben des Ich.
7. Spiel und Begehren
Bei den Griechen war das Spiel aufgehängt zwischen dem Diesseits der Menschen und dem Höheren der unsterblichen Götter. Die Menschen erfinden ihre Spiele, aber auch die Götter spielen. Heraklits Gott ist ein spielendes Kind; es wirft seine Würfel vor sich hin.1 Mit seinen Würfen erzeugt er Konstellationen menschlicher Schicksale. Sein Spiel hat nichts Beständiges; immer wieder wirft er die Steine und zerstört mutwillig die einmal erreichten Stellungen. Von den Göttern gespielt zu werden, ist das Los der Menschen. Mit den Göttern haben sie jedoch einen Zug gemeinsam: Sie können das Spiel in die Hand nehmen und selber spielen. Es ist dann ihr Spiel, ein vollkommen diesseitiges Spiel. Menschen können, auch wenn eine höhere Macht durch sie wirkt, sich in ihrer Einbildungskraft vorstellen, sie seien die Herren ihres Spiels. Wer sich im Spiel engagiert, liebt die totale Präsenz des Lebens. Für ihn gilt einzig der gegenwärtige Moment des Spiels, nichts anderes. Er will den Augenblick in seiner ganzen Fülle erfassen und wünscht, dass sich dieser Moment ohne Ende dehne. Im Sport der Moderne, der eine besondere Art des Spiels ist, gibt es hingegen eine solche Versenkung nicht. In keinem Augenblick will der Spieler verweilen. Der Athlet will nicht in der Gegenwart stehenbleiben, sondern spannt sich nach vorn in die Zukunft. Für ihn ist typisch, dass er sich nicht mit dem begnügt, was er in einem Moment fassen kann. Er will über das hic et nunc des
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So deutet Nietzsche Heraklits Bild des Gottes als spielendes Kind in Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 323.
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Wettkampfs und über sich selbst hinaus gelangen. Seine Triebfeder bewegt ihn dazu, sich unablässig zu verändern, zu verbessern. Unruhe ist sein wesentliches Merkmal. Sein Inneres ist so beschaffen, dass er nicht mehr innehalten kann. Seiner Struktur nach ist er unfähig, sich zu bewahren, wie er ist. Dies könnte er nur, wenn er seinen Mittelpunkt in sich selbst hätte. Doch dies ist ihm nicht gegeben: Er wirft einen Teil seiner selbst als eine Projektion in die Zukunft; er muss sich immer wieder von neuem zusammenfügen. Bildlich gesprochen, stemmt er seinen Körper mit seinen Sinnen und seinem Willen nach vorn, um sich den äußeren Teil seiner selbst, der schon vor ihm liegt, anzueignen. Mit seinem Ausgreifen nach vorn verlässt er den einmal erreichten Ort, um sich einzuholen. Das klassische Spiel und der moderne Sport können als zwei unterschiedliche Weisen des Begehrens beschrieben werden.2 Unter diesem Aspekt werde ich im Folgenden zuerst die antike Vorstellung des erotischen Verlangens darstellen, die Sokrates im »Symposion« entwirft.3 Danach werde ich das Begehren analysieren, das die Athleten im Sport der Gegenwart antreibt. Auch das Streben nach Siegen und Leistungen in der Moderne hat deutliche Züge erotischen Verlangens, führt aber in Probleme, die sich für die antike Konzeption nicht stellen. Nach diesem Vergleich werde ich prüfen, ob Sokrates’ Reflexion über das Wirken des erotischen Begehrens dem Athleten der Moderne eine tiefere Einsicht in sein Tun geben könnte.
Die Bestimmung des Eros als Leere und Fülle Im »Symposion« beschreibt Platon ein Festmahl, zu dem sich einige der bekanntesten Männer Athens versammelt haben, um den Sieg des
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Ich habe diesen Begriff auf den modernen Sport angewendet in meinem Aufsatz »Das Begehren des Athleten«, in: Gerd Hortleder/Gunter Gebauer: Sport – Eros – Tod, S. 167-187. Im Folgenden wird die deutsche Übersetzung zitiert aus der zweisprachigen Ausgabe von Platon: Symposion, Düsseldorf/Zürich 1998.
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Agathon im Tragödienwettbewerb zu feiern. Die Runde beschließt einen kleinen internen Wettkampf um die schönste Lobrede auf den Eros. Als letzter spricht Sokrates, nachdem der Dichter Agathon einen flammenden Lobpreis auf den Gott Eros gehalten hat. Stimmt es überhaupt, fragt der Philosoph, dass Eros alles das besitzt, wonach er die Menschen streben lässt? Wenn sein Streben ein Begehren von Schönheit ist, kann er wohl kaum im Besitz von Schönheit sein. Und wenn er nach Glückseligkeit strebt und folglich nicht glückselig ist, kann er wohl kaum ein Gott sein. Eros begehrt »aus Mangel an dem Guten und Schönen eben das […], dessen er bedarf« (Platon, ebd., 202d). Dies ist die Einsicht, die Sokrates von Diotima, einer weisen Frau aus Mantinea, erhalten habe. Von diesem Gespräch berichtet er seinen Mitstreitern: »Was mag denn nun der Eros sein? Fragte ich; ein Sterblicher? Keineswegs. Aber was eigentlich? Wie vorhin, sagte sie, mitten zwischen Sterblichem und Unsterblichem. Was also, Diotima? Ein großer Dämon, Sokrates; denn der ganze Bereich des Dämonischen steht auf der Mitte zwischen Gott und Sterblichem. Und welche Fähigkeit hat es? Sagte ich. Es verdolmetscht und vermittelt den Göttern, was von den Menschen, und den Menschen, was von den Göttern kommt: von den einen die Bitten und Opfer, von den anderen die Gebote und Gegengaben; und da es zwischen beiden steht, ergänzt es sie, so dass das Ganze in sich selber verknüpft ist. […] Ein Gott dagegen macht sich mit den Menschen nicht gemein; vielmehr kommt durch das Dämonische aller Verkehr und Zwiesprache von den Göttern zu den Menschen und von den Menschen zu den Göttern zustande, im Wachen wie im Traume. Und wer sich darauf versteht, ist ein dämonischer Mann […].« (202e–203a) Eros ist kein Gott, sondern eine im Inneren wirkende Kraft, die einen Menschen mit Liebe erfüllt und antreibt, sodass alles in ihm auf einen anderen Menschen zustrebt. Sie bewegt ihn, über sich hinauszugehen,
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aber zugleich vermittelt sie zwischen ihm und der begehrten Person. Diotima spricht dem Eros keine magischen Fähigkeiten zu, sondern entwickelt eine Vorstellung von der Kraft des Begehrens, die den Liebenden mit der Geliebten verbindet. Liebe ist nach dieser Vorstellung ein existentielles Spiel, in dem die ganze Person von Eros umgestaltet und besessen wird. Wir können dieses erotische Modell des Begehrenden, der mit allen seinen Sinnen, seinen körperlichen Kräften und seinen Wünschen und Absichten zu einer geliebten Person oder einem begehrten Gut hinstrebt, als Modell für den Menschen im Spiel ansehen. Wie der Liebende begehrt dieser etwas, das außerhalb seiner liegt, was er selbst nicht ist. Er geht aus sich heraus, verliert seine Ruhe, sein Gleichgewicht, er besitzt sich nicht mehr; er ist ein Mensch, der nicht mehr er selbst ist. Bevor der getriebene und antreibende Eros beschrieben wird, soll noch ein Blick auf die idealistische Auffassung des Spiels in Kants »Kritik der Urteilskraft«4 geworfen werden. Man kann vermuten, dass Kants Konzept des freien Spiels der Erkenntniskräfte ein Begehren voraussetzt, das die Menschen antreibt. Ausdrücklich erwähnt er nur die Empfindungen, welche die Menschen gemeinsam haben. Es gibt eine »Stimmung der Erkenntnißkräfte«, die »nach Verschiedenheit der Objecte, die gegeben werden, eine verschiedene Proportion [haben]. Gleichwohl aber muß es eine geben, in welcher dieses innere Verhältniß zur Belebung (einer durch eine andere) die zuträglichste für beide Gemüthskräfte in Absicht auf Erkenntniß (gegebener Gegenstände) überhaupt ist; und diese Stimmung kann nicht anders als durch das Gefühl (nicht nach Begriffen) bestimmt werden.«5 Was hier angestrebt wird, ist ein allgemeiner Zustand der »Erkenntnis überhaupt«, also einer Erkenntnis ohne bestimmten Gegenstand. Im freien Spiel der Erkenntniskräfte entsteht ein interesseloses Wohlgefallen, kein begehrenswertes Ziel wie in der Liebe oder im Spiel von Menschen. Schiller geht dagegen so weit, einen Spieltrieb anzunehmen. In 4 5
Siehe Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Kant, ebd., 1. Buch § 21, B 65f.
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ihm waltet jedoch kein Dämon.6 Er ist eine ureigene Kraft des menschlichen Geistes, »der die Zeit in der Zeit«, »alle Zufälligkeit« und »alle Nötigung« aufhebt und »den Menschen sowohl physisch als auch moralisch in Freiheit setzt«.7 Seine Leistung besteht darin, dass er den Menschen dazu bringt, »mit der Schönheit nur (zu) spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen«.8 Im Gegensatz zu Sokrates, der den Menschen im Spiel wie in der Liebe sich verlieren sieht, kommt der Mensch für Schiller im Spiel zu seiner eigentlichen Bestimmung. Er befindet sich »zugleich in dem Zustand der höchsten Ruhe und der höchsten Bewegung« (ebd.). Im Spiel wirkt kein Begehren, sondern »es entsteht jene wunderbare Rührung, für welche der Verstand keinen Begriff und die Sprache keinen Namen hat« (ebd.). Das Dämonische gehört für Kant und Schiller zu den gefährlichen Mächten, die den Menschen, wenn sie ihn besitzen, ins Unglück reißen, wie Schiller am Schicksal Wallensteins demonstriert. Bei Goethe hingegen zeigt sich ein anderes Denken, das der Antike näher steht. Faust geht auf das Spiel von Mephisto ein: Er will sich besitzen lassen; er will begehren und im Hinaustreten aus seiner bürgerlichen Existenz als Wissenschaftler eine Art kontrollierten Zustand der Besessenheit erleben. Goethe bleibt die Ausnahme. Die im 20. Jahrhundert entwickelte Figur des homo ludens, der in das Spiel eintaucht,9 knüpft an Schiller an und räumt dem Begehren wenig Platz ein. Die sokratisch-platonische Vorstellung der Liebe als Spiel des Begehrens erscheint dagegen dynamischer und trifft die Realität des Liebenden und des Spielers genauer (auf die es Kant und Schiller nicht abgesehen haben). Dies lässt sich an der inneren Struktur des Dämons zeigen. Wenn er die Eigenschaften des Eros beschreibt, schildert Sokrates die innere Beschaffenheit der Liebenden (und der Spieler). In der Erzählung der Diotima ist Eros das Kind der Göttin Penia (Armut, Mangel) und des Gottes Poros (Reichtum, Überfluss). Es wurde beim
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Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Schiller, ebd., Vierzehnter Brief. ebd., Fünfzehnter Brief. Huizinga: Homo ludens.
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Götterfest aus Anlass der Geburt der Aphrodite gezeugt. Als Kind von Armut und Überfluss »wurde dem Eros nun folgendes Los: erstens ist er immer arm, und, weit entfernt, zart und schön zu sein, wie die Menge glaubt, ist er vielmehr hart und rauh und barfuß und unbehaust; stets liegt er am bloßen Boden ohne Decke, an den Türen und auf den Straßen schläft er unter freiem Himmel, denn er hat die Natur der Mutter, und so ist er stets dem Mangel gesellt. Andererseits aber ist er wie sein Vater: stets stellt er dem Guten und Schönen nach, ist mannhaft und draufgängerisch und energisch, ein gewaltiger Jäger, der immer irgendwelche Netze stellt, nach Einsicht begierig und geschickt, sie zu schaffen, nach Wissen strebend sein Leben lang, ein gewaltiger Zauberer und Hexenmeister und Sophist.«10 Das Wirken des Eros wird durch die Eigenschaften beider Elternteile gekennzeichnet: Leere, die nach Erfüllung strebt, und Überfülle, die den Liebenden über sich hinausdrängt. Was die Tiefe der sokratischen Rede ausmacht, ist das Gefälle von Leere und Fülle. Von außen betrachtet, ist der Mensch in der Liebe und im Spiel nicht befriedigt. Ihm fehlt etwas; er ist nicht vollständig. Er ist immer auf der Jagd nach etwas, ein Getriebener. Aber er ist nicht ziellos, nicht einfach nur unzufrieden. Wenn er seine materielle Bedürftigkeit überwunden hat, strebt er nach einem höheren Zustand des Seins. Er ist ständig damit beschäftigt, sich zu erhöhen. Dies nicht im Sinne eines sozialen Aufstiegs, sondern einer höheren Formung seiner selbst. Er hat ein Ziel, das gleichsam oberhalb seiner selbst liegt. Um dieses zu erreichen, muss er höher steigen. Er muss seine innere Leere in eine Fülle verwandeln. Dies ist die Richtung des Strebens in der Liebe. Mit dieser Aufgabe kann man die Zielsetzung des Sports vergleichen, selbst wenn dies selten so gesehen wird. Meistens wird er als ein einfaches Konkurrenzmodell wahrgenommen, in dem alle Wettkämpfer dasselbe Ziel erreichen wollen. In dieser realistischen Sichtweise kommt das Begehren durch die Orientierung an den anderen Wett10
Platon, ebd., 203c, d.
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kämpfern zustande. Weil die Wünsche aller Konkurrenten in einem und demselben Ziel konvergieren, erhält dieses seinen besonderen Wert: als ein von allen begehrtes Ziel. In dieser modernen Konzeption der Außenorientierung kommt dem Begehrten kein eigener Wert zu. Es wird dadurch wertvoll, dass es von vielen Konkurrenten begehrt wird. Auch der Begehrende besitzt keine Fülle, die ihn antreibt. Er hat nicht den Wunsch, zu einer vollendeteren Person zu werden, zu wachsen, höher zu steigen. Von außen erkennt man bei ihm nur ein Haben-Wollen, gerichtet auf einen Titel, einen Rekord, auf Anerkennung und gesellschaftliche Bedeutung. Wenn man hingegen, wie Sokrates, den Blick auf die innere Fülle des Begehrenden richtet, sieht man, wie im antiken Modell das Begehrte nicht zur Füllung einer inneren Leere der Person angestrebt wird. Man erkennt vielmehr, dass diesem Raum etwas hinzugefügt wird, was die Menschen – durch den Antrieb des Eros – zu einer anderen Person macht, was sie anreichert mit Energie, Gefühlen, Idealen, mit Wünschen nach einer besseren Existenz und einem schöneren Leben. Den Unterschied zwischen dem erotischen Verlangen nach Fülle, das Sokrates beschreibt, und dem modernen Besitzstreben, erkennt man spätestens, wenn das Begehrte erreicht wird. Doch zuvor soll das Prinzip des Begehrens im modernen Sport dargestellt werden.
Die Konkurrenzsituation des Sports Der moderne Sport spannt einen Raum der Wünsche auf. Er gibt die Ziele vor, an denen sich alle, die an ihm teilhaben, orientieren. In ihm ist das Begehren strukturell angelegt. Es wird auf Erfolge bei nationalen und internationalen Meisterschaften, Olympischen Spielen und prestigereichen Wettkämpfen gerichtet. Für eine systematische Erörterung dieses Zusammenhangs verwende ich René Girards Konzept des Begehrens, das ursprünglich für die Beschreibung der Dynamik von Liebesverhältnissen in Romanen des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde,
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aber auch die Antriebsstruktur des Sports gut erfasst.11 Das Prinzip dieses Begehrens ist die Nachahmung, die Mimesis, mit der solche Personen oder Objekte angestrebt werden, die von Anderen begehrt werden. In dem Moment, in dem der junge Athlet in das Begehrenssystem des Sports eintritt, wird ihm von seiner Umgebung das Ziel eingepflanzt, Titel zu gewinnen und Rekorde zu brechen. Die erfolgreichen Athleten bestärken ihn durch ihr Vorbild, und umgekehrt vergrößert der neue Konkurrent die Zahl der Bewerber und erhöht den Wert des Sieges. Da nur eine Person die Konkurrenz gewinnen kann, wirkt die Beteiligung weiterer Bewerber auf das Vorbild zurück: Sie macht das gemeinsam angestrebte Objekt noch begehrenswerter. Auf die Anstrengungen des neuen Gegners reagieren die etablierten Wettkämpfer mit vermehrten Kräften. Sie geraten selbst in die Rolle von Nachahmern. Ihre Handlungen werden, vermittelt über ihren Konkurrenten, zu einer Nachahmung der eigenen Person. Auf diese Weise werden die Positionen von Modell und Nachahmer austauschbar. In diesem sich hochschaukelnden Zyklus des Begehrens spielen die tatsächlichen Eigenschaften des angestrebten Ziels kaum noch eine Rolle. Die Konkurrenten erzeugen einen vom realen Objekt abgelösten »metaphysischen« Gegenstand (Girard). In diesem Wettbewerb gibt es keinen Ruhepunkt. Die Konkurrenten können untereinander keine neutralen Beziehungen unterhalten. Ihr einziges Beziehungsfeld ist die Hierarchie von Dominierenden und Dominierten, die sich in jedem neuen Wettkampf umkehren kann. Das Wahrnehmungsfeld jedes Konkurrenten strukturiert sich um denjenigen herum, der die Konkurrenz anführt. Im Hin und Her der Auseinandersetzung, in den Veränderungen der Konkurrenzsituation wird der überlegene Partner für den Unterlegenen zu einem Helden, vor dem alle niederknien. Wenn sich die Auseinandersetzung über viele Jahre hinzieht und die ehemals dominierende Gestalt sich zurückgezogen hat, kann sie als imaginä-
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Vgl. René Girard: Mensonge romantique et vérité romanesque und La violence et le sacré. Vgl. auch Gunter Gebauer/Christoph Wulf: Mimesis, insbesondere das Kapitel über Girards Theorie des Begehrens.
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rer Konkurrent immer noch als Modell auf die Auseinandersetzung einwirken. René Girard entwickelt eine Betrachtungsweise, die nicht mehr Individuum und Gesellschaft einander gegenüberstellt, sondern die Aufmerksamkeit auf die Situation mit den strukturellen Beziehungen der Personen untereinander lenkt. Es ist diese Struktur, die den Wert des Handlungsziels und die Bedeutungen der Bewerber hervorbringt. Die relationalen Positionen im Feld der Konkurrenz entscheiden über Aufwand und Einsatz physischer und psychischer Energien. Im Sport ist keine Position unveränderlich und gegen die Übernahme durch einen Konkurrenten geschützt. Der Zyklus des Wettkampfs kann nur vorübergehend, aber nie endgültig zur Ruhe gebracht werden. Errungen werden dabei Differenzen, keine festen Eigenschaften oder Substanzen, die der Person dauerhaft zukommen. In jedem neuen Zyklus werden die Differenzen zur Disposition gestellt und müssen von neuem errungen werden. Der nur scheinbar banale Spruch des früheren deutschen Nationaltrainers, Sepp Herberger, beschreibt diese Dynamik mit unnachahmlicher Kürze: »Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.« Die Konkurrenzstruktur ruft nicht nur die Dynamik des Begehrens hervor, sondern auch eine tiefe Unsicherheit der sozialen Beziehungen: Einerseits kann sie zu stabilen Leistungshierarchien und zur Fixierung auf bestimmte Konkurrenzverhältnisse führen, welche die Gegner über einen langen Zeitraum aneinander ketten. Es ist andererseits möglich, dass ein Wettkampf um beliebige Objekte entbrennt, die durch die Konkurrenzsituation kurzfristig mit Wert aufgeladen und schnell wieder aufgegeben werden. Es entsteht so ein sprunghaftes Verhalten, das sich bei vielen Gelegenheiten kurzfristig auf alle möglichen Konkurrenzkämpfe richtet, die begehrten Objekte häufig wechselt und sporadische Beziehungen zu vielen verschiedenen Handlungspartnern eingeht. Für den Athleten gibt es neben den Konkurrenten zwei weitere Arten von Bezugspersonen: den Bewunderer und den Trainer. Beide begehren den Besitz des Athleten. Der Bewunderer sucht die Nähe, Aufmerksamkeit und Zuneigung des Athleten. Der Trainer will einen Champion formen und steuern. Der Bewunderer begehrt aus
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einer Position der Schwäche; er unterwirft seine Wünsche, Gefühle und Lebenszeit dem Athleten. Der Trainer befindet sich hingegen in einer Position der Stärke, weil er es ist, der im Athleten die Begehrensstruktur hervorbringt, sodass er selbst zu einer geliebten oder bewunderten Person werden kann. Seine Stärke besteht darin, dass er den Athleten zu dessen eigener Person verführt. Mit erzieherischen Methoden versucht er, dauerhaft Macht über ihn zu gewinnen: Er stellt vor den Athleten ein Bild seiner zukünftigen Person auf. Es zeigt seinen Schützling im hochentwickelten Zustand seines Könnens. Mit dieser Darstellung nimmt er dessen Vorstellungskraft gefangen und lässt ihn sein eigenes Bild begehren. Der Athlet wird alles daransetzen, den verheißenen Zustand zu verwirklichen. Den Weg dahin – das wird dem Sportler immer wieder klargemacht – gibt der Trainer vor. Mit dem Bild übernimmt der Athlet die Vorstellungen, Ziele und letztlich den Willen des Trainers. Auch dieser selbst ist auf die Verheißungen fixiert, die er imaginiert hat. Nicht nur das zukünftige, sondern auch das erinnerte Bild kann als Modell des Begehrens dienen: Der kleine Vorsprung, den der Athlet in der Vergangenheit vor seinen Leistungen in der Gegenwart hatte, und der winzige, aber vielleicht entscheidende Rückstand, in den er gegenüber seinen Erwartungen geraten ist, macht sein früheres Ich zum schärfsten Konkurrenten seines gegenwärtigen: Er war im Vorjahr besser – wird er seine alten Leistungen jetzt übertreffen oder wenigstens einholen können? In der Situation der Konkurrenz gegen sich erzeugt der Athlet einen imaginären Klon seiner selbst. Wer sich dem mimetischen Begehren verschrieben hat, sieht sich einem Konkurrenten aus eigenem Fleisch gegenüber. Keiner seiner Gegner ist so unerbittlich und unerträglich wie der Klon aus dem Vorjahr. Er zwingt den Athleten auf Schritt und Tritt, sich mit ihm zu messen und den Stand seiner gegenwärtigen Fähigkeiten zu prüfen. Wenn er sich auf einen Kampf gegen sein früheres Ich einlässt, verrennt er sich in einen Zustand der permanenten Selbstbeobachtung und der Verzweiflung über sein gegenwärtiges Ich, das seinem vergangenen zu unterliegen droht.
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Begehren als Streben nach Fülle Im System des Begehrens des modernen Sports tritt ein entscheidender Moment ein, wenn das lang angestrebte Ziel erreicht wird. Nach dem Augenblick des Jubelns und der Euphorie erlischt das Begehren: Das begehrte Ziel ist aus dem metaphysischen Himmel auf die Erde geholt worden. Wenn es erreicht, in Besitz genommen und damit aus dem Kontext der Konkurrenz herausgelöst ist, stellt es nicht mehr viel dar. Manchmal wird diese Einsicht sogar wie eine Enttäuschung erlebt. Athleten beschreiben sie dann als eine merkwürdige innere Leere. Um sie zu verdecken, müssen die Erfolge bei der nächsten Meisterschaft wiederholt oder sogar noch gesteigert werden. Daher werden die höchsten Titel immer von neuem angestrebt, Siege akkumuliert, neue Rekordmarken gesetzt. Das große Ziel, Sieger oder Rekordinhaber zu sein und die eigene Person als die Beste zu erleben, ist nicht geeignet, den Athleten dauerhaft glücklich zu machen. Was ihm bleibt, sind die Wiederholungen der Erfolge in der Erinnerung, durch Erzählungen, Filme, Bilder, Interviews, Memoiren – durch die Rituale des WiederVergegenwärtigens vergangener Triumphe von alternden Sportstars. Das wesentliche Problem des mimetischen Begehrens ist die Unmöglichkeit, das einmal erreichte Ziel festzuhalten. Seinen Wert hat es in einer bestimmten relationalen Struktur erhalten. Dass dieser Wert von einer Konstellation begehrender Personen abhängt, ist ein komplexer abstrakter Sachverhalt. In der Erinnerung der Athleten wird dieser Zusammenhang vom sinnlichen Erleben und vom Nachhall des Begehrens überdeckt, das viele Jahre ihres Lebens geprägt hat. Es mag etwas Unbegreifliches haben, dass ein Ziel, das so begehrenswert erschien und so viele Konkurrenten anspornte, so wenig eigene Substanz hat, dass seine Verwirklichung das Leben nicht in ein glückliches verwandelt hat. Ein Ausweg aus dieser unbefriedigenden Situation ist der Gedanke, dass die Athleten ihr eigentliches Ziel noch nicht erreicht haben. Aber hatten sie es in Wirklichkeit auf ein anderes Ziel als das erreichte abgesehen, auf ein »höheres« Ziel? Das mag sein – dann aber haben sie es versäumt, das wahre Ziel ihres Begehrens zu formulieren. In der Perspektive von René Girards Konzept des mimetischen Begeh-
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rens bestand ihr Irrtum darin, ihr Handlungsziel zu substantialisieren: Sie haben ihr Ziel für eine Art Objekt gehalten, das man besitzen kann. Was man begehrt, besitzt man jedoch nicht, wenn man es erreicht. Die Erfüllung des Begehrens kann Befriedigung, ja Glück verschaffen, wenn man es in einer anderen Perspektive sieht: Sie gibt der Lebenszeit, die man aufgewendet hat, um an sein zu Ziel kommen, einen besonderen Sinn, den diese Lebensspanne durch keine andere Aktivität hätte erhalten können. Dieser Gedanke wird klar, wenn wir mit Bezug zu Sokrates daran erinnern, dass sein Dämon, das liebende Begehren, einen Teil seiner Person ausmacht. Sokrates ist, wie der Text des »Symposion« (und des »Phaidros«) zeigt, ein großer Verführer. Er setzt die Kraft des Eros ein, um begehrenswerte junge Männer, aber auch sich selbst zu verführen. Es geht ihm darum, den strebenden Teil von sich selbst durch den Reichtum des vollen Teils seiner Persönlichkeit zu füllen. Die Schönheit junger Männer weckt sein Begehren; es gelingt ihm mit Leichtigkeit, einen begehrten jungen Mann für sich zu interessieren. Was er dabei sucht, ist jedoch nicht der Besitz des schönen Menschen, der ihn nur enttäuschen würde. Den jungen Alkibiades, der sich am Ende des »Symposions« in die Runde drängt, hält er zweifellos für einen begehrenswerten Mann, was diesem nicht verborgen ist. Sokrates aber bleibt ganz bei sich: Was jugendliche Schönheit begehrenswert macht, lässt sich nicht besitzen. Hingegen fügt die Gemeinsamkeit mit einem geliebten Menschen dem Liebenden einen neuen Reichtum, einen Überfluss hinzu. Nicht nur der Begehrende gewinnt durch die gemeinsame Zuneigung – die Fülle fließt auch zurück zur begehrten Person. Was kann uns das Beispiel des Sokrates zeigen, wenn wir es auf das Feld des Sports übertragen? Im modernen Sport wendet sich das Streben in eine falsche Richtung: Ihm wird die Struktur des Gütererwerbs und -besitzes unterlegt. Aber das Begehrte ist kein Gut, das sich unabhängig von der Person in einem Objekt, einer Medaille oder Trophäe materialisiert. Es gehört dem Athleten selbst an – nicht als Objekt, sondern als Teil seiner selbst. Zugleich ist er es, der mit seinem Wunsch, seiner Anstrengung, Askese und seinen sportlichen Qualitäten dem begehrten Gut einen Wert gibt. Es macht keinen Sinn, dieses
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Gut wie ein Ding für sich behalten zu wollen. Wie die Erzählung der weisen Diotima zeigt, verhält sich die Sache anders: Wenn man die begehrte Person oder das angestrebte Ziel erreicht hat, entsteht eine Gemeinschaft, eine Übereinstimmung mit dem Gewünschten. Im Sport gibt man den Fähigkeiten seines Körpers und seiner Existenz eine andere, eine schönere Qualität. Sie ist weit mehr als die in physikalischen Maßeinheiten ausgedrückte Leistung. Athleten werden nicht unsterblich; sie werden nicht zu Heiligen oder höheren Menschen. Sie geben vielmehr der Episode ihres Lebens, in der sie das Ziel erreicht haben, die Aura des Außer-Alltäglichen. Die Qualität ihres Sieges ist in ihrem Leben aufgehoben. Die neue Eigenschaft, die der Athlet seiner Existenz verleiht, hebt ihn für einen Moment aus der Zeit heraus. Seinen Bewunderern gibt er die Chance auf eine empathische Teilhabe an dieser Zeit der Außer-Alltäglichkeit.
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8. Was heißt leidenschaftlich handeln?
Leidenschaft ist eine Emotion, die ganz und gar dem subjektiven Erleben eines Individuums zugehört. Ein leidenschaftlich Handelnder wird von ihr offensichtlich so sehr ergriffen, dass sie sein Inneres vollkommen ausfüllt. Ebenso wie die Leidenschaft ganz zu ihm gehört, wird auch sie ganz von seiner Person bestimmt. Es gibt keinen Raum in ihm für eine andere emotionale oder gar rationale Regung. Dies ist eine Auffassung von Leidenschaft, die in dieser Abhandlung geprüft werden soll.
Leidenschaft als inneres Geschehen Fragen wir zunächst nach den anderen Menschen, die sich dem leidenschaftlich Handelnden gegenüber befinden. Bleibt ihnen die Emotion des handelnden Subjekts äußerlich? Oder können sie angesichts des Handelnden nicht auch selbst leidenschaftlich werden? Die Beziehung zwischen dem leidenschaftlich Handelnden und anderen Menschen, die sich ihm gegenüber befinden, wirft eine Reihe von Fragen auf: Ist Leidenschaft ein Geschehen im Innenleben des Handelnden? Ist sie also eine Emotion, die subjektiv in dem Sinn ist, dass sie ausschließlich vom fühlenden Subjekt selbst empfunden werden kann? Und ist die Beherrschung dieser Emotion eine rein innere Angelegenheit? Gerade die letzte Frage war ein wichtiges Thema der traditionellen Philosophie. In der griechischen und römischen Antike wurde sie insbesondere unter dem Gesichtspunkt diskutiert, welche praktischen Mittel
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gegen die Herrschaft der Leidenschaften einzusetzen wären, um sie zurückzudrängen. Eine antike Methode, die Gefahren von Emotionen zu erkennen und ihre Übermacht zu brechen, nennt Foucault »Hermeneutik des Subjekts«. Im antiken Denken führt sie nicht zu einer Einsicht in das Selbst im erkenntnistheoretischen Sinn.1 Vielmehr entwickelt sie systematische Praktiken, Verfahren und Ratschläge, die das Subjekt dazu veranlassen sollen, seine Lebensführung zu kontrollieren, sein Verhalten zu mäßigen und seine Leidenschaften in Gesprächen und Niederschriften zu veräußerlichen, um so einen kontrollierten Umgang mit ihnen zu erreichen. Sie werden als »Technologien des Selbst« methodisch eingesetzt mit dem Ziel, den schädlichen Überschuss von Emotionen2 unter die Herrschaft des Subjekts zu bringen oder, wenn möglich, ganz auszuschalten. Die Beherrschung von Leidenschaften wird von der stoischen Philosophie in Tätigkeiten des Nachdenkens, des Festhaltens von Tagesverläufen, des Berichts an einen Freund gesucht, der als »Seelenleiter« den Freund zu Selbstpraktiken anleitet3 . Aus den vielfältigen gemeinschaftlichen Praktiken des Umgehens mit Passionen lässt sich ersehen, dass in der Antike deren Sitz nicht ausschließlich im Menschen gesucht wurde. Seit der Höfischen Gesellschaft bis ins 19. Jahrhundert werden Leidenschaften hingegen als ein rein subjektives Geschehen aufgefasst. Sie gehören in den inneren Bereich der Person, dessen Regungen vor anderen Menschen verborgen bleiben sollen, insbesondere wenn es sich um die Gefühle einer Frau zu einem Mann handelt. Auf keinen Fall darf dieser erfahren oder auch nur ahnen, dass er Objekt der Leidenschaft einer begehrenden Frau sein könnte. Seit dem 17. Jahrhundert werden die (literarischen und ärztlichen) Beschreibungen von Emotionen, die auf andere Personen gerich1 2
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Siehe Michel Foucault: L’herméneutique du sujet. Nach der Affektenlehre des Aristoteles sind Emotionen nicht per se schlecht, sondern nur dann, wenn sie einen bestimmten, über dem »Mittelwert« liegenden Grad angenommen haben. Eine gewisse Stärke der Leidenschaft ist, im Gegenteil, sogar notwendig, um sich in den Aufgaben der Polis zu engagieren; vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, insbesondere Zweites Buch, 5. Kapitel. Den Begriff des »Seelenleiters« hat Ilsetraut Hadot aus antiken Texten in die Diskussion des 20. Jahrhunderts eingeführt.
8. Was heißt leidenschaftlich handeln?
tet sind, nach dem Schema von Subjekt-Objekt-Beziehungen strukturiert.
Interaktion und innerer Vollzug der Leidenschaft An den Selbstaussagen eines Ich lässt sich die Struktur erkennen, die es auf das Objekt seiner Leidenschaft richtet. Ein solches Objekt kann ein anderer Mensch, eine »Zielperson«, ein Gegenstand oder ein Geschehen sein, auf die sich die Emotion bezieht. Aber verhalten sich der Handelnde und das Ziel seiner Leidenschaft tatsächlich wie ein Subjekt zu einem von ihm getrennten Objekt? Betrachten wir folgende Beispiele: »Ich tanze leidenschaftlich gern.« »Ich esse leidenschaftlich gern.« »Ich bin ein leidenschaftlicher Musikliebhaber.« »Ich liebe leidenschaftlich.« Die Wahrheit von Aussagen, in denen ein Subjekt offen über seine Emotionen spricht, lässt sich nicht bezweifeln. Über seine Gefühle spricht es kein epistemisches Wissen, keine Erkenntnisse aus. Vielmehr erfasst es seinen Zustand unmittelbar. Nach Ludwig Wittgensteins Überlegungen zu den Empfindungsausdrücken bilde ich beispielsweise über einen starken Schmerz keine Erkenntnis, wie bei einem Gegenstand4 – ich habe den Schmerz in seinem Vollzug; ich bin seiner unmittelbar gewiss. Meine Worte, die den Schmerz sprachlich artikulieren, sind nichts anderes als die äußere Seite des Schmerzes, der sich so den Anderen mitteilt. Sie sind keine konventionellen Schmerzzeichen; sie gehören selbst mit zum Schmerz.5 Wenn ich den von mir erfahrenen, meinen gefühl4 5
Siehe Wittgensteins Diskussion der Empfindungswörter in: Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, insbesondere § 258. In der semiotischen Philosophie des 18. Jahrhunderts stellte man den kulturellen die »natürlichen« Zeichen gegenüber – zeichenhafte Ausdrücke, die dem Menschen von Natur aus gegeben sein sollen, wie die Interjektion, die Lautmalerei, die Nachahmung tierischer Laute. Beim Sprechen über Empfindun-
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ten Schmerz in Worte fasse, kann ich mich unmöglich täuschen – er drängt sich gleichsam in mein Sprechen hinein.6 Verhält es sich ebenso mit der Leidenschaft? Eine Leidenschaft ist auf etwas oder auf jemanden gerichtet; sie ist intentional. Aber sie ist kein privates7 Ereignis, über das nur das empfindende Subjekt selbst sprechen könnte. Nach Wittgenstein kann es keinen Innenraum der Empfindungen geben, den ausschließlich die Person erkennen kann, die diese hat. Eine solche Annahme wird durch die Tatsache widerlegt, dass es einem Subjekt unmöglich ist, die zuvor nicht identifizierten und nicht benannten inneren Vorkommnisse begrifflich zu erfassen, sie untereinander zu vergleichen und anderen mitzuteilen. Über ein inneres Geschehen, das keine räumliche Gestalt besitzt und der Öffentlichkeit entzogen ist, können keine Bedeutungen gebildet werden: Fühlen kann sich nicht selbst identifizieren und benennen. Die Autorität der sprachlichen Bezeichnung und ihre Richtigkeit entstehen erst in einer gemeinschaftlichen Praxis des interaktiven Handelns. Bei gemeinsamen Handlungen, wie Tanzen und Lieben, sind die Bedeutungen, die ein Ich in Sprachspielen bildet, die gleichen wie die der daran beteiligten Personen. Nicht von der Gemeinschaft geprägt wird jedoch, wie ich sie empfinde.8 Ich habe eigene Erfahrungen meiner Emotion. In dieser Sache bin ich Autorität: Es ist mein Vollzug der Emotion. Wenn ich diese ausdrücke, geschieht dies in meiner Perspektive. Die anderen können nicht meinen Vollzug teilen. Sie können ihn aber verstehen, wenn wir miteinander sprechen, gemeinsam miteinander
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gen verständigen wir uns jedoch nicht mit natürlichen, sondern mit kulturell geformten Zeichen. Siehe Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 244. »Privat« versteht Wittgenstein in einem ganz spezifischen Sinn: Anders als im umgangssprachlichen Gebrauch ist bei ihm die private Sprache dadurch ausgezeichnet, dass sie kein anderer als der Sprecher .sie verwenden kann (siehe untern, Kapitel 11). Die Art und Weise, wie es ist, eine bestimmte Emotion oder Wahrnehmung zu haben, wird in der Literatur unter dem Begriff der Qualia diskutiert; vgl. insbesondere Thomas Nagel: »What Is It Like to Be a Bat?«.
8. Was heißt leidenschaftlich handeln?
handeln und wenn sie meine Beteiligung am Sprachspiel kontrollieren. Ich selbst bin meiner Leidenschaft sicher, wenngleich es vorkommen kann, dass ich die Intensität meiner Empfindung nicht richtig einzuschätzen vermag. Ich würde mich jedoch sehr wundern, wenn ein anderer mir sagte: »Bist du sicher, dass du ein leidenschaftlicher Musikliebhaber bist?« Allerdings kann er aus seiner Perspektive Zweifel daran haben, ob meine Sicherheit berechtigt ist.
Teilhabe an der Leidenschaft Bisher habe ich im Sinne der sprachanalytischen Theorie argumentiert. Beim Problem der Leidenschaft greift sie allerdings zu kurz: Wenn ich mich bei meinem leidenschaftlichen Handeln auf eine Zielperson beziehe, bin ich nicht der einzige, der meine Emotion empfindet. Von meinem leidenschaftlichen Tanzen ist auch meine Tanzpartnerin berührt. Sie wird von ihm ergriffen; sie nimmt meine Emotion auf, lässt sich von ihr mitreißen und setzt sie fort – oder ist von ihr abgestoßen und verweigert sich. Wenn der Literaturjournalist Marcel Reich-Ranicki früher seine Buchkritik leidenschaftlich vortrug, reagierten die Zuschauer heftig positiv, oder sie lehnten sie entschieden ab. Sie wurden von seiner Kritik entweder angesprochen und machten sie sich zu eigen, sodass sie das Buch gemeinsam mit ihm kritisierten, oder sie fühlten sich von ihrem Ton unangenehm berührt und wiesen den Verriss zurück. Ebenso verhält es sich mit dem leidenschaftlichen Esser: Wer ihm zuschaut, bekommt Hunger –, oder es dreht sich ihm der Magen um. Unter einem Fußballverteidiger, der leidenschaftlich verteidigt, leidet sein Gegenspieler; dieser spürt die Leidenschaft als heftigen Schmerz. Entweder löst sie in ihm aggressive Gegenattacken aus, oder er vermeidet zukünftig den direkten Zweikampf. Auch die Zuschauer beteiligen sich an dieser Leidenschaft. Entweder stellen sie sich hinter den Verteidiger und feuern ihn bei seinen Aktionen an, oder sie pfeifen ihn aus, um ihn zu entmutigen. An der Leidenschaft kann also eine ganze Gemeinschaft beteiligt sein; dies sieht man gerade im Fußball, wo die Fans
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nicht nur die Leidenschaften der Spieler aufnehmen, sondern diese mit quasi-religiösen Ritualen verstärken und überhöhen.9 Die Zuschauer eines leidenschaftlichen Handelns haben nicht nur an der Emotion teil; sie sind auch Zeugen und Bewerter der Leidenschaft. Vom Standpunkt des Beobachters beurteilen sie (oft durch ihre offenkundige Reaktionen), ob ein Handeln tatsächlich leidenschaftlich ist; das heißt: ob die Handlung eine ungewöhnlich hohe Intensität hat, ob sie ernsthaft ist und von der ganzen Person getragen wird, ob sie emotionale Reaktionen bei anderen hervorrufen kann. Die Wirkungen auf andere sind Indikator, Gradmesser und Agens der Leidenschaft. Sie sind dieser nicht äußerlich, sondern gehören konstitutiv mit zum leidenschaftlichen Handeln. Zwischen dem Handelnden, seinem Ziel und den Zuschauern entsteht ein Rückkopplungsgeschehen, in dem es zu einer Übernahme der Leidenschaft, zu einer Art Ansteckung und Ausbreitung der Emotion kommen kann. Allerdings können die emotionalen Reaktionen auch negativ wirken und eine Abwärtsspirale hervorrufen. So kann die Leidenschaft des Tänzers ohne jede Resonanz bei seiner Partnerin bleiben, wenn ihr dessen begeisterte Bewegungen auf die Nerven gehen oder sie sich unempfindlich für seine Darbietungen zeigt, weil sie sich einen anderen Tänzer gewünscht hat? Ohne Resonanz bei der Partnerin zu finden, hat es der Tänzer schwer, seine Leidenschaft durchzuhalten. In seiner Selbstwahrnehmung mag er sich seiner Emotion noch sicher fühlen. Seine eigene Einschätzung ist aber nicht allein ausschlaggebend für die Bewertung seines Verhaltens durch andere. So kann beim Paartanz nur Leidenschaft aufkommen, wenn beide Partner die Emotion teilen. Auch der im höchsten Maße begeisterte Tänzer kann seiner Passion unsicher werden, wenn er bemerkt, dass seine Darbietungen in den Augen seiner Partnerin nichts als wildes Gehampel sind. Bei den Zuschauern ruft dieser Anblick nicht – wie vielleicht bei früheren Darbietungen des Tänzers – den Eindruck einer Tanzleidenschaft hervor. Es ist sogar möglich, dass ihre Sicht auf den Tänzer (»einfach nur affektiert«) die Sa9
Siehe Gunter Gebauer: Poetik des Fußballs, insbesondere Kapitel 4 »Bewegte Gemeinden – Über das Heilige im Fußball«.
8. Was heißt leidenschaftlich handeln?
che genauer trifft als dessen Selbsteinschätzung. In ihrer Perspektive entsteht, wie in jener der Partnerin, der klare Eindruck, dass der Tänzer diesmal nicht leidenschaftlich tanzt. Ihre Gewissheit hat für die Einschätzung des emotionalen Geschehens erhebliches Gewicht. Fehlende Resonanz beim Publikum führt zu Stimmungsverlust und zum Ausbleiben der Leidenschaft. Am Beispiel des Tänzers kann man sehen, dass leidenschaftliches Handeln nicht allein vom Akteur ausgeht, sondern im Zusammenwirken mit anderen Menschen zustande kommt. Zum leidenschaftlichen Handeln eines Akteurs gehört nicht nur seine Intentionalität und individuelle Performanz, sondern auch die emotionale Antwort von anderen in das Handeln einbezogener Personen. Das handelnde Subjekt kann seine Leidenschaft für eine Handlung, die gemeinsam mit einem Anderen ausgeführt wird, nicht allein haben. In der europäischen Romanliteratur findet man Beispiele für andere Arten des Scheiterns leidenschaftlicher Hinwendung zu einer anderen Person. Die Princesse de Clèves stellt in dem gleichnamigen Roman der Madame de Lafayette10 eine Frau dar, die leidenschaftlich liebt, aber ihre Gefühle verbirgt, weil sie diese aufgrund gesellschaftlicher Konvention nicht verraten darf. Auf die offenkundige Zuneigung des von ihr geliebten Mannes reagiert sie mit einer zur Schau gestellten Kälte. Ihre scheinbare Gleichgültigkeit ihm gegenüber hat ihre Ursache gerade nicht in der Abwesenheit von Passionen, sondern stellt die heftigste emotionale Reaktion auf die Liebe zu einem begehrten Menschen dar. In der französischen Höfischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts wird von der Prinzessin ein demonstratives Desinteresse gegenüber der Zielperson verlangt: die vollkommene Beherrschung und damit Verleugnung ihrer Leidenschaft. Als sie einen winzigen Moment lang ihre Selbstkontrolle verliert und dabei von dem geliebten Mann beobachtet wird, entschließt sie sich zur definitiven Aufgabe ihrer Liebe. Sie zieht sich in ein Kloster zurück.
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Madame de Lafayette: La Princesse de Clèves et autres romans.
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In Tolstois Anna Karenina11 muss die junge Kitty entdecken, dass der von ihr angebetete Mann sich keineswegs für sie interessiert, sondern sich vor ihren Augen in die von ihr verehrte Anna verliebt. Aus Enttäuschung über die Wirkungslosigkeit ihrer (unbemerkt gebliebenen) Liebe entwertet sie ihre Leidenschaft, mehr noch: ihre Fähigkeit zu leidenschaftlicher Liebe. Entwertung bedeutet in Tolstois Roman nicht Beherrschung oder Vernichtung der Passion, sondern Abwertung der eigenen Person. In der modernen Popkultur tritt ein anderer Fall des blockierten leidenschaftlichen Handelns auf, die totale Indifferenz eines Idols gegenüber der Hingabe einzelner Fans, die sich durch aggressive Annäherung an den Star hervortun. Diese kann bis zum Eindringen in das Privatleben, zum Stalking oder zur grenzenlosen Imitation des Stars gehen. Wenn der Star dieser Leidenschaft nicht die geringste Chance auf eine Erwiderung gibt, kann sie zu gewalttätigen Akten degenerieren.12 Diese Art Leidenschaft ist nicht fähig, eine auch nur kurzzeitige Übereinstimmung der Gefühle hervorzubringen. Wie bei einem verunglückten Sprechakt wird die Erzeugung einer gemeinsamen Wirklichkeit verfehlt. Es ist, als würde der Fan eine Gemeinsamkeit beschwören, an die niemand glauben kann.
Veräußerlichung von Emotionen und ihre Wirkung Wenn ein Popmusiker, Filmstar oder Entertainer seinem Publikum gegenüber eine leidenschaftliche Zuneigung darbietet, entscheiden die Zuschauer darüber, ob ihnen wirkliche Gefühle gezeigt oder nur inszenierte Emotionen vorgespielt werden. Die Öffentlichkeit beurteilt den leidenschaftlichen Charakter einer Darbietung in Theater, Konzert, Politik und im Sport – damit auch deren emotionale Qualität. Ob ein
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Leo N. Tolstoj: Anna Karenina. Die unbeantwortet gebliebene Leidenschaft kann in der Tötung des Idols enden: Der Mörder von John Lennon heiratete wie sein Vorbild ein Japanerin, folgte ihm durch New York und brachte ihn in der Lobby seines Wohntowers um.
8. Was heißt leidenschaftlich handeln?
Violinenspiel oder ein Monolog ergreifend vorgetragen wird, ob eine Liebesszene große Gefühle ausdrückt, ob das Angriffsverhalten einer Mannschaft echten Kampfgeist zeigt, ist nicht nur Sache der Spieler, sondern auch eine der Wirkung auf das Publikum. An den Reaktionen der Zuschauer zeigt sich, ob die dargestellte Leidenschaft fähig ist, diese zu erreichen und in ihnen die Bereitschaft hervorzurufen, die emotionale Haltung der Akteure zu übernehmen. Wie sehr diese Gefühlsübertragung vom Publikum abhängt, zeigt die Differenz zwischen enthusiastischen und schwierigen Konzerthäusern, leicht entflammbaren und distanzierten Kinozuschauern, tobenden und unterkühlen Fußballarenen. Denken wir an eine Schauspielerin, die mit einer äußerst zurückhaltenden Spielweise eine schüchterne junge Geliebte spielt. Mit einer solchen Darstellungsweise vermag sie auszudrücken, dass sie von ihrer Leidenschaft hingerissen und daher so gehemmt ist. Das Publikum kann sich gerade von dieser Subtilität begeistern lassen.13 Im Gegensatz dazu kann ein hemmungslos wildes Spiel dazu führen, dass die Zuschauer der Schauspielerin die Leidenschaft nicht abnehmen. Sobald die Darstellung übertrieben wirkt, gilt sie nicht mehr als leidenschaftlich, sondern als unglaubwürdig. Für das öffentliche Zeigen von Leidenschaften gibt es in jeder Kultur einen speziellen Maßstab, mit dem die Intensität der Emotionsdarstellungen beurteilt wird. Wenn die Darstellung maßlos wird, bleibt sie ohne Resonanz; sie wird als unangemessen empfunden. Leidenschaftliches Handeln ist eine Veräußerlichung von Emotionen eines Subjekts. Es wirkt nicht allein im Inneren der handelnden Personen. Wenn man es auf dieses einschränkt, übersieht man die Beteiligung anderer Personen. Leidenschaften sind konstitutiv so angelegt, dass sie in den meisten Fällen nach außen, auf andere Menschen und auf äußere Objekte gerichtet sind. Insofern es auf die Präsenz, Beurteilung und Resonanz von Zuschauern bezogen ist, gehört leidenschaftliches Handeln in einen gemeinsamen Raum zwischen den Personen. Weit entfernt davon, ein subjektives, innerliches Ereignis zu sein, 13
Ein eindrucksvolles Beispiel stellt Sören Kierkegaard dar in: Die Wiederholung. Die Krise und eine Krise im Leben einer Schauspielerin, S. 102ff.
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ist es zu einem bedeutenden Teil ein öffentliches Geschehen: eine Veräußerlichung des Inneren in einem zwischenmenschlichen Geschehen, das wir mit Wittgenstein »Sprachspiel der Emotionen« nennen können.14 Vielfach werden leidenschaftliche Handlungen als performative Akte dargestellt: Sie erzeugen die Leidenschaft des Handelnden, indem sie diese vorführen: die Passion des Tanzens, die Musikliebhaberei, die Arbeitsfreude, die bedingungslose Liebe. Das Vorführen der Leidenschaft ist mehr als ein Zeigen – es bildet den Kontext, in dem sie als glaubwürdiges Gefühl entsteht. Jede Geschichte einer Leidenschaft ist auch eine Geschichte ihrer Selbstbehauptung. Wie geschieht diese? Erving Goffman beschreibt die Behauptung der personalen Identität eines Akteurs als einen Prozess des Aushandelns mit der Gesellschaft.15 Ein leidenschaftlich Handelnder verhandelt jedoch nicht die Emotion, die ihn antreibt. Er will sie durchsetzen und sie beweisen. Dies geschieht nicht in einem Kampf um Anerkennung. Ein leidenschaftlich Handelnder kämpft nicht mit den Anderen. Er will seine eigene Evidenz erzeugen. Dies gelingt nur, wenn er sie mit den Anderen teilen kann.
Die Gemeinsamkeit von Handelndem und den Anderen Kommen wir auf die alten Vorstellungen von Leidenschaften zurück, die wir aus der Antike kennen: Was heißt es, von Leidenschaften beherrscht zu werden? Eine solche Herrschaft der Emotionen wäre nur möglich, wenn die Leidenschaft eine Kraft wäre, die sich in unserem Inneren gegen uns selbst richtete. Wenn dies so wäre, könnte man in einen inneren Kampf mit dem Ziel eintreten, ihre Kraft durch eine größere Gegenkraft zu besiegen. Aber die Leidenschaft tobt nicht in einem geschlossenen Innenraum, sondern entsteht gerade aus ihrer Veräußerlichung. Sie ist ein Aus-sich-Hinaustreten, eine Suche nach Ge-
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Siehe Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 244. Siehe insbesondere Erving Goffman: The Presentation of Self in Everyday Life.
8. Was heißt leidenschaftlich handeln?
meinsamkeit, nach Übereinstimmung mit der Zielperson und den Zuschauern. In dieser Hinsicht ist sie auch eine Entpersönlichung. Selbst bei heftigen Gefühlsäußerungen orientiert sich der leidenschaftlich Handelnde an den Möglichkeiten, die seine Kultur dem passionierten Handeln einräumt. Überspringt er deren Grenze, riskiert er, als ein Verrückter zu gelten. Die kulturell gezogenen Limits beachtet er nicht bewusst. Sein Handeln kann besser als Ausfüllen eines kulturellen Schemas beschrieben werden, das der Handelnde schon vorfindet. Selbst bei hoch gesteigerten emotionalen Reaktionen kann sein Praktischer Sinn für eine relative Angemessenheit des Ausdrucks sorgen. Wir besitzen keine Regeln oder inneren Repräsentationen für das, was im je einzelnen Fall angemessen ist. Wo die Grenzen verlaufen, haben wir nicht explizit gelernt. In unserer Entwicklung als soziale Wesen sind wir jedoch – auch durch Ermahnungen und Sanktionen – von unserer Umgebung davor zurückgehalten worden, sie zu überschreiten. Wir erfassen intuitiv, wie weit wir bei unserem leidenschaftlichen Handeln maximal gehen können, ohne sie zu verletzen und unseren Personenstatus zu gefährden. In diesem Prozess werden wir auch auf Beispiele von Verhaltensweisen jenseits der Grenze hingewiesen – Besessenheit, Verrücktheit, Unzurechnungsfähigkeit. Ein leidenschaftlich Handelnder ist kein originärer Schöpfer seines Verhaltens. Er erzeugt kein neuartiges Handlungsschema. Dies kann einem herausragenden Schauspieler gelingen, wenn er für eine Leidenschaft neue Ausdrucksmöglichkeiten erfindet. Im Alltagsleben kann emotionale Erregung bei aller Spontaneität nicht Einmaligkeit oder Künstlertum für sich beanspruchen. Das Subjekt wird auch nicht von sozialen Regeln geführt, die es dabei leiten würden, seine Gefühle zu kodieren. Wenn man von einer sozialen Kodierung der Gefühle spricht, setzt man voraus, es gäbe ein Gefühls-Substrat, eine Art emotionaler »Rohform«, die gesellschaftlich bearbeitet werden müsse. Nach den Überlegungen dieses Kapitels bringen die Subjekte ihre Leidenschaften innerhalb eines sozial zugelassenen Spielraums hervor. Ihnen wird also eine gewisse Freiheit ihres emotionalen Handelns zugestanden, die aber dadurch begrenzt wird, dass ihre Gefühle in intuitiver Abstimmung mit Anderen geformt werden. Leidenschaftliches Handeln muss
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also, um sozial akzeptiert zu werden, bestimmte Bedingungen erfüllen, die auf den Beobachter wie Kodierungen wirken.16 In der engen Abstimmung des Subjekts mit seinen Zielpersonen liegt der wesentliche Unterschied von leidenschaftlichem und rationalem Handeln. Vernunftgeleitete Akte verwirklichen ihre Rationalität unabhängig von den Reaktionen der Adressaten und des Publikums. Es kommt allein darauf an, dass die Handelnden und ihre Zielpersonen rationale Personen sind. Leidenschaftliches Handeln ist hingegen darauf angelegt, eine Gemeinsamkeit zwischen beiden 16
Wie eine leidenschaftliche Emotion entsteht, konnte man am Wahlkampf 2008 von Barack Obama sehen: Obama war der Kandidat einer emotionalen Politik, die von jungen Menschen und von Wählern getragen wurde, die einen Wechsel der amerikanischen Politik leidenschaftlich herbeiwünschten. Er selbst stellte sich als jugendlicher schwarzer Kandidat dar, der einen Enthusiasmus für die USA weckte, für eine Nation, die eine solche Präsidentschaft ermöglichen konnte. Sein emotionales politisches Engagement strebte das Ziel an, diese Seite der USA zu zeigen. Er berief sich auf das tiefe, noch nicht von Interessen verrückte Fundament seiner Nation, auf das Versprechen der Verfassung, dass Menschen aller Art eine Chance gibt, ihre Ziele zu verwirklichen. Daher konnte er alle jene gewinnen, die mit politischer Macht keine materiellen Interessen verbanden, die die Verfassungsideen der USA ernst nahmen und nach der Präsidentschaft von George W. Bush einen fundamentalen Wechsel des Politikstils wünschten. Sein Elektorat war in der Rolle von Zielpersonen, auf die es ankommt, wenn es um die Verwirklichung von Leidenschaften geht. Obamas Leidenschaft ließ sich am Rückfluss der Emotionen seiner Zuschauer erkennen. Sie antworteten ihm, sie handelten in Resonanz auf die ihnen gezeigte Leidenschaft durch eigene Akte. Das Einsammeln von Spenden für den Kandidaten über das Internet war nicht nur eine bahnbrechende Innovation der Wahlkampffinanzierung, sondern auch ein Generator von Leidenschaft bei seinen Wählern. Im Unterschied zu den Großspendern aus der Wirtschaft gaben unzählige kleine Spender ihr Geld aus Leidenschaft für die Leidenschaft des Kandidaten. Die wechselseitigen Emotionen des Kandidaten und seiner Wähler sollte zu einer neuen Form der Politik führen. Einmal gewählt, stand Obama allerdings vor der Aufgabe, die Leidenschaft seiner Wähler in politisches Handeln umzusetzen. Daraus sind ihm erhebliche Probleme seiner politischen Führung entstanden. Im Getriebe der Tagespolitik, angesichts einer unerbittlichen Opposition und unter dem Druck von Krisen konnte er einen solchen emotionalen Handlungsstil nicht in Regierungshandeln umsetzen.
8. Was heißt leidenschaftlich handeln?
Seiten herzustellen. Nur wenn diese Bedingung erfüllt ist, werden die Gefühle der Handelnden als echte, das heißt: ernst zu nehmende Leidenschaften anerkannt. Unter dem Aspekt der Gemeinsamkeit ist das leidenschaftliche Handeln den Sprechakten verwandt: Was mit Sprechakten, wie Versprechen, Taufen, Drohen, ausgedrückt wird, erhält Wirklichkeit dadurch, dass diese Sprechakte gelingen. Das heißt: Wenn die jeweiligen Sprechakt-Bedingungen erfüllt werden, dann gelten das Versprechen, die Taufe, die Drohung. Im Fall des Misslingens erzeugen Sprechakte keine Realität; sie haben keine konstruktiven Folgen. Bei Sprechakten besteht die Gemeinsamkeit von handelndem Subjekt und Zielperson in einem übereinstimmenden Vorverständnis über die Bedeutung des Sprechakts. So bedarf ein Versprechen des gemeinsamen Verständnisses darüber, was getan werden muss, um es zu erfüllen. Beim leidenschaftlichen Handeln kommt es ebenfalls zu einer Gemeinsamkeit. Sie entsteht prozesshaft dadurch, dass die Leidenschaft des handelnden Subjekts von der Zielperson angenommen wird. Das leidenschaftliche Subjekt nimmt seine Chance wahr, durch sein Handeln die Zielperson von seinen Gefühlen zu überzeugen und sie an diesen teilhaben zu lassen.
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9. Die Verletzlichkeit der Menschen
Verstehen der Menschen untereinander hat einen körperlichen Aspekt. Die Beschaffenheit des Körpers scheint alle Menschen einander ähnlich zu machen. Gibt es ein unmittelbares Verstehen zwischen Menschen, das von ihr hervorgerufen wird? Nehmen wir allein schon mit den Körpersinnen wahr, dass ein Anderer uns gleicht? Allerdings geht die Ähnlichkeit mit Anderen weit über die körperliche Beschaffenheit hinaus: Über alle individuellen Unterschiede hinweg finden wir bei anderen Menschen einen Grundstock weitgehend vergleichbarer Handlungspraxen. Umgekehrt versagt das Verstehen dort, wo es keine gemeinsamen oder vergleichbaren Lebensformen gibt. Einen Löwen würden wir, wenn er sprechen könnte, nicht verstehen, wie Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen bemerkt.1
Ähnlichkeit der Körper Andere Menschen haben Sinne wie wir; ihre Reaktionen sind, selbst wenn sie einer anderen Kultur angehören und einen anderen Status haben als wir, mit unseren vergleichbar. Auch sie haben Hände, Gliedmaßen, Sinne, Neigungen, Leidenschaften; sie werden mit denselben Waffen verletzt, sind denselben Krankheiten unterworfen, werden mit denselben Mitteln geheilt. Auch sie bluten, wenn man sie sticht; sie lachen, wenn man sie kitzelt; und wenn man sie vergiftet, sterben auch
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Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (Teil II), S. 568.
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sie. Der auf diese Ähnlichkeiten hinweist, ist ein alter Jude, Shylock in Shakespeares Drama Der Kaufmann von Venedig.2 Sein Argument besagt: Es ist falsch zu glauben, dass Menschen Mitleid füreinander empfinden, weil sie einander körperlich gleichen. Niemand ist aufgrund dieser Ähnlichkeit jemals gerettet worden. Im Gegenteil: Weil der Andere tatsächlich blutet wie wir, wird in seinen Körper gestochen. Seine Fähigkeit zum Leiden, also körperlich und psychisch nicht anders als der Täter zu reagieren, ist gerade der Grund dafür, ihm dergleichen Qualen zuzufügen. Ohne die Ähnlichkeit der Körper gäbe es keinen Sadismus, keine Marter und Folter, nicht die bodenlose Lust am Leiden der Anderen. Shylock droht seinem christlichen Schuldner, ihn mit der gleichen Grausamkeit zu behandeln, die den Juden von den Christen angetan wird. »Sind wir Euch in allen Dingen ähnlich, so wollen wir’s Euch auch darin gleich tun. Wenn ein Jude einen Christen beleidigt, was ist seine Menschlichkeit? Rache. Wenn ein Christ einen Juden beleidigt, was muß seine Geduld sein nach christlichem Vorbild? Nu, Rache.« (Ebd.) Die Ähnlichkeit gibt den Starken und Grausamen die Möglichkeit, den Schwachen ihre Überlegenheit zu demonstrieren. Für sie gibt es keine symmetrischen Beziehungen zwischen Menschen, sondern nur das Übertrumpfen ihrer Vorbilder. »Die Bosheit, die Ihr mich lehrt, die will ich ausüben, und es muß schlimm hergehen, oder ich will es meinen Meistern zuvor tun«, so Shylock am Ende seines Monologs. Diesen Vorsatz wird er später auszuführen versuchen.3
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William Shakespeare: Der Kaufmann von Venedig, 3. Akt, 1 Szene. Das Objekt seiner Rache soll der Kaufmann Antonio sein, der für die Schuld seines Freundes Bassanio bei dem Geldverleiher Shylock bürgt. Bei nicht rechtzeitiger Rückzahlung der Schulden hat Shylock eine besondere Strafe für Antonio in den Bürgschaftsvertrag schreiben lassen: »Laßt uns ein volles Pfund von Eurem Fleisch/Zur Buße setzen, das ich schneiden dürfe/Aus welchem Teil von Eurem Leib ich will.« (Shakespeare, ebd.) Antonios Reichtum beruht auf seinen Geschäften im Fernhandel. Als Nachrichten von Schiffbrüchen aller seiner Handelsschiffe in Venedig eintreffen, scheint er ruiniert und damit unfähig
9. Die Verletzlichkeit der Menschen
Wenn sich die Menschen als reine Körperwesen, ohne Gefühle und Emotionen, begegnen würden, gäbe es zwischen ihnen keine Verständigung und keinen Frieden. Der Anblick der anderen Körper würde uns, gerade weil er uns in Grundzügen ähnlich ist, auf die Unterschiede zwischen uns aufmerksam machen. Die Ähnlichkeit der Körper kann die Menschen eher trennen als sie vereinigen. Aus ihr kann das Wolfsmäßige der menschlichen Natur entstehen, das – in der Vision von Hobbes – das Verhältnis der Menschen untereinander permanent bestimmt. In einem Roman des britischen Kriminalschriftstellers Dick Francis findet man die eindringliche Beschreibung einer Folterszene, deren grausame Methodik gerade auf der Ähnlichkeit zwischen Peiniger und Opfer beruht. Auf Befehl eines Gangsterbosses, Enzo, wird dem Ich-Erzähler das Schlüsselbein gebrochen: »Ich sah auf Enzos Gesicht einen grauen Blick des Leidens: schmale Augen, zusammengepreßte Lippen, kontrahierte Muskeln, ängstliche Linien auf seiner Stirn und um die Augen – und begriff mit heftigem Schrecken, daß das, was ich auf seinem Gesicht sah, ein Spiegel meines eigenen war. […] Es war jedoch kein Mitleid seinerseits. Eher Phantasie. Er versetzte sich an meine Stelle, um auszukosten, was er angerichtet hatte.«4 Aufgrund der Ähnlichkeit der Körper kann der Folterer seine Methoden äußerst wirkungsvoll einsetzen. Es ist ihm sogar möglich, die Schmerzreaktionen virtuell zu antizipieren. Shylock geht es nicht vordergründig um die physischen Schmerzen, die er seinem Schuldner zufügen will. Mit seiner Beschreibung der Prozedur des Herausschneidens des Fleischklumpens aus dem lebenden Körper, löst er bei Antonio unbeschreibliche Angst aus. Shylock will Rache für die Beleidigungen, die er von den Christen erfahren hat. Mit dieser Aussage rückt er mögliche geschäftliche und finanzielle Benachteiligungen in den Hintergrund.
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zu sein, die Schuldsumme zurückzuzahlen. Shylock fordert sein Recht auf ein Pfund Fleisch aus Antonios Körper. Dick Francis: Knochenbruch.
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Beleidigt wird er durch die Diskriminierung seiner ethnischen Zugehörigkeit und seiner Religion. Er ist ein Mensch mit körperlichen Reaktionen wie die anderen; seine Ähnlichkeit wird aber dadurch gebrochen, dass er einem anderen Volk angehört als die Anderen und eine marginale soziale Stellung hat.. Unter den edlen, eleganten venezianischen Männern ist er leicht wiederzuerkennen. Seine Differenz flößt ihm permanent Angst ein. Es ist die Differenz in der Ähnlichkeit, die Shylocks Angst hervorruft, als schlecht zu gelten und von der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden.5 Aufgrund seiner Erfahrung spricht der alte Jude Shylock von der Möglichkeit, alles zu verlieren: die soziale Stellung, alles, was man besitzt, und seine körperliche Unversehrtheit. Das Bluten zeigt diese Möglichkeit an, die einem in jedem Moment widerfahren kann. Noch ist seine Haut heil, eine dichte Oberfläche, unter der das Blut pulsiert; doch unversehens kann es vorbei sein – ein Stich genügt. Diese Seite des Menschen ist nicht weniger faszinierend als eine glänzende Erscheinung: die unvorhersehbare, urplötzlich aufblitzende Gewalt einer Klinge, eines Hiebs, einer unerklärbaren Krankheit, eines Falls. Alle noblen Sichtweisen auf den Menschen sehen in eine Richtung – nach oben. Sie sehen, was der Mensch positiv aus sich macht; sie erkennen seine Großartigkeit, Stärke und Leistungsfähigkeit. In der anderen Richtung sehen sie nur, wie der Mensch in seiner Situation der Unvollkommenheit Kräfte gewinnt, die ihn zu Höherem streben lassen. Sie haben jedoch keinen Sinn für die Gebrechlichkeit des Menschen, die Verkrüppelung, das Krumme, das Nachlassen seiner Kräfte. An alten Menschen sehen sie nur Reste ehemaliger Leistungsfähigkeit, in den Leistungen von Behinderten nur das Überkompensieren von Fähigkeiten am verbleibenden Restkörper und die technischen Artefakte,
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Vgl. den Anfang von Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, §§ 4-9: Die Hochwertung des Adels, schreibt Nietzsche, ist durch willkürliche Setzung der »Starken« zustande gekommen – sie distanzierten sich von den Machtlosen, dadurch dass sie diese für »schlecht« im Sinne von »schlicht« erklärten. Aus dieser Distinktion sei die moralische Wertung des »Schlechten« entstanden.
9. Die Verletzlichkeit der Menschen
welche die zerstörten Glieder mit Prothesen zu Höchstleistungen fähig machen.6
Der potentielle Fall In Theaterstücken wie Der Kaufmann von Venedig wird eine andere Sichtweise ausgedrückt. Sie zeigt, wie man von Geburt an um die Möglichkeit eines gleichwertigen Lebens gebracht wird; oder wie man mit einem Schlag alles verlieren kann. Mit einer einfachen Erschütterung kann alles anfangen. In dieser Perspektive ist Lachen nichts Freudiges, sondern Verlust von Körperbeherrschung und Haltung.7 Im Lachen wird man geschüttelt, man wird Opfer von Krämpfen. Es ist ein erster Anfang des Verlusts von Differenzierung, wenn ein Kitzel ein nichtgewolltes Lachen hervorruft, gegen das man sich nicht wehren kann. Die Möglichkeit, dass man zu jeder Zeit fallen kann, ist allen Menschen gemeinsam. Sie ist so eng mit dem Menschen verbunden, dass sie an jedem Tag real werden kann. Die Möglichkeit des Falls aus einer scheinbar sicheren Situation ist eine Potentialität, die alle Menschen gemeinsam haben. Alle stehen unter der Drohung von Gewalt, die jeden treffen kann. Auf diese allgemeine Situation antwortet das Gefühl des Mitleids. Was Mitleid ist, muss hier nicht erörtert werden. Es ist ein unterschiedlich ausdeutbares soziales Gefühl, das den Einzelmenschen, sowohl den Handelnden wie den Beobachter, in eine Beziehung zu dem wirklichen oder möglichen Fall rückt. Rousseau meinte, Mitleid sei eine Art verallgemeinerter Liebe, amour de soi, eine auf sich selbst bezogene Liebe.8 Wenn bei Mitleid
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So beispielsweise bei Behinderten, die mit einer Prothese bessere sportliche Leistungen erzielen als nicht behinderte Olympische Athleten. Dies ist das Thema von Helmuth Plessner in: »Lachen und Weinen«. Jean-Jacques Rousseau: »Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen«, siehe insbesondere S. 171f. Rousseau unterscheidet die Selbstliebe, amour de soi, die er für die Wurzel von Mitleid hält, von der Selbstsucht, amour propre.
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tatsächlich Liebe im Spiel ist, gilt sie gewiss nicht der ganzen Menschheit. Die Liebe seiner selbst ist die Betrachtung des realen Falls eines Anderen bezogen auf den potentiellen eigenen Fall. Exemplarisch hat die Gewalt einen Anderen ergriffen, an dem sichtbar wird, was einem selbst bestimmt sein könnte. Wer Mitleid hat, stellt Fragen, wie: Warum ausgerechnet dieser Mensch, warum jetzt? Warum auf diese Weise? Fragen, die im Prinzip auch für den Fragenden selbst gelten, aber am Fall eines anderen Menschen gestellt werden. Shylock beruft sich auf das Blut, nicht weil er an das Mitleid appelliert, sondern weil das von einem Messerstich hervorgerufene Bluten eindrucksvoll die Gewalt anzeigt, die das menschliche Leben zerstört. Langfristig gesehen ist es egal, wer mit dem Blutvergießen angefangen hat. Vor der Gewalt können sich die Menschen nicht dauerhaft schützen – die Juden nicht, aber auch nicht die Christen. Bei der Bewunderung für die Eleganz des venezianischen Adels oder für die leistungsfähigen Körper von Athleten vergisst man ihr zerstörerisches Potential. Hingegen ist im Mitleid die Trauer über die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens, der Güter, der sozialen Position und des Körpers enthalten. Anders der Sport – er ist gegen das Mitleid gerichtet und will uns die Ewigkeit der Körper einreden; er lädt zur Bewunderung der Schönen, Kraftvollen und Grausamen ein, die noch am Anfang von Nietzsches »Genealogie der Moral« mitzuschwingen scheint. Aus der Sicht der Unterlegenen ist dies eine schmerzliche Erkenntnis: Die Schönen sind gedankenlos, stark und auf unbewusste Weise grausam. So erscheinen sie ihren Bewunderern, wie Tonio Kröger in Thomas Manns gleichnamiger Novelle,9 der im Verhältnis zu den Starken, Blonden die Position eines unterlegenen Menschen einnimmt. Die Verehrung des Körpers, die in der Körperkultur steckt, ist eine Elitebildung, eine »Aristokratie der Körper«, wie es die Olympischen Spiele nach dem Willen ihres Begründers Pierre de Coubertin sein sollten und dies weit über seine Erwartungen hinaus geworden sind.10 Die allgemeine Verständlichkeit, welche die Spiele postulieren, ist eine Bühne körperli9 10
Thomas Mann: Tonio Kröger. Siehe Gunter Gebauer: Olympische Spiele.
9. Die Verletzlichkeit der Menschen
chen Herausragens. Es geht bei ihnen ausschließlich um positiv eingeschätzte Eigenschaften des Körpers. Aber konstituieren diese einen körperlichen Universalismus der Menschen? Das lässt sich bezweifeln: Die hohe Bewertung bestimmter Körpermerkmale kommt dadurch zustande, dass sie mit körperlichen Eigenschaften kontrastiert werden, die negativ eingeschätzt werden. Sie kann also keinen Anspruch auf Universalität erheben; sie spiegelt vielmehr die Bewertung dominierender gesellschaftlicher Gruppen. Die gedankenlose Parteinahme für die positiven Werte des Körpers (die schon Nietzsche in der »Genealogie der Moral« kritisiert und einer Umwertung unterzieht) hat dem Körper in der Geschichte der Philosophie einen schlechten Ruf eingetragen.
Verletzlichkeit der Körper als anthropologisches Minimum Die Liebe hat eine solche Geringschätzung nie erfahren. Obwohl auch die Liebesliteratur schöne Eigenschaften des Körpers hervorhebt, verschließt sie sich nicht gegenüber der Vorstellung des fragilen, verletzlichen Körpers. In der Hinwendung zum Anderen und der Nacktheit der Körper bieten sich die Liebenden in ihrer verletzlichsten Form einander dar, als eine Art Gabe, mit der sie behutsam und zärtlich umzugehen haben. Nacktheit heißt auch: das Ablegen von Hüllen, Masken, Panzern und die Zurücknahme der eigenen Person auf ein unbekleidetes, unverstelltes Wesen. Nicht als Besitzer hoher Eigenschaften begegnen sich die Liebenden, sondern in ihrer Bloßheit auf ein »anthropologisches Minimum« gebracht. Sie geben sich, wie sie sind; sie sind schutzlos der Möglichkeit des Falls ausgeliefert. Aus der Liebe kann die Angst entstehen, die geliebte Person könne in ihrer Zerbrechlichkeit zerstört werden. Wenn man dem Körper eine universale menschliche Dimension zuschreiben kann, dann ist es diese Bloßheit und Schutzlosigkeit. Man findet sie in den Liebesmythen vieler Kulturen vor. Mit dem anthropologischen Minimum haben wir ein Merkmal gefunden, welches das Gemeinsame von Menschen hervorhebt. Es ist tiefer in der menschlichen Natur angelegt als die positiven Merkmale des Körpers, die mit Aus-
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nahme der natürlichen Schönheit kulturell erworben werden. Dies gilt insbesondere für den Sport; er ist ein soziales Feld für die Ausbildung von Eigenschaften, die als natürliche postuliert werden. Wer dieses Verständnis des Körpers übernimmt, läuft in die Falle der Naturalisierung, die für Körperverherrlichung aller Art typisch ist. Was sich Menschen durch systematische Übung angeeignet haben, ist nie universal. Es ist als eine kulturelle Leistung und als ein besonderer Entwurf des Menschen von sich selbst Gegenstand kulturspezifischer Erfindung und Bewertung. Die Grundlage des Verstehens anderer Menschen ist die Verletzlichkeit ihrer Körper. Diese macht uns fähig, im Anderen zu entdecken, was wir von uns selbst kennen. Mit dem Wort »Verletzlichkeit« wird der potentielle Fall des Menschen ausgedrückt. Verletzen können Waffen, Krankheiten, Gifte, aber auch Wörter, Erniedrigung, Verweigerung von Anerkennung und Verlust der Souveränität des eigenen Körpers. Positiv gewendet bedeutet das anthropologische Minimum, dass sich Menschen ihre körperliche Unversehrtheit erhalten, sich aus eigener Kraft in der Gesellschaft bewegen und Anerkennung erlangen können. Die Möglichkeit des Falls und des Leidens macht die Menschen einander gleich, nicht hingegen der Tod, obwohl dieser allen gewiss ist. Anders als das Leiden, das zu einer emotionalen Verbindung mit dem Sterbenden aufruft, ist der Tod das absolute Ende, der Nullpunkt; aus ihm folgt für die von ihm Getroffenen nichts. Er würde die Funktion des Gleichmachens nur erfüllen, wenn es für diese ein Nachspiel nach dem Leben gäbe. Kaum jemand verhält sich zu einem Anderen wie zu Seinesgleichen nur deswegen, weil dieser sterblich ist wie er selbst. Eher ist es umgekehrt: Weil der Tod gewiss ist, legen die Menschen im Leben eine Vielzahl von Differenzen zwischen sich und die Anderen. Aufgrund der Schutzlosigkeit ihrer Körper gegenüber Verletzungen aller Art können sich Menschen als ähnlich wahrnehmen, insofern sie mit ähnlichen Folgen rechnen müssen. Nicht in der unmittelbaren Anschauung erkennen sie sich als ähnlich, sondern die »Familienähnlichkeit« (Wittgenstein) der möglichen Leiden lässt eine Ähnlichkeit zwischen den Menschen aufscheinen. Aus literarischen Zeugnissen aus den Krisenzeitalter in der europäischen Geschichte spricht das Erkennen
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einer in der Verletzlichkeit begründeten gemeinsamen Natur der Menschen. Auch heute kommt ein solcher Gedanke, meist unbemerkt, zum Ausdruck, wie in dem Vergnügen an Katastrophenfilmen, dem Interesse an Berichten über Entführungen, über das Unglück von Reichen und Mächtigen. In Shakespeares Drama Der Kaufmann von Venedig geht es um die Möglichkeit, dass Menschen alles verlieren – das Leben als totales Risiko. Mit dieser Thematik wird nicht eine Haltung aus früheren Zeiten dargestellt, wie jene der Fahrenden Ritter im Spätmittelalter. Im Zentrum des Stücks steht die neue, aufstrebende Klasse des Handelsbürgertums. Sie wird den ersten großen Schub des Frühkapitalismus hervorrufen, indem sie ihr Kapital vermehrt. Der Kaufmann Antonio setzt auf Gewinne aus dem Fernhandel – ein aus rationalem Entschluss heraus betriebenes Abenteuer.11 In der Frühen Neuzeit hat der »Geist des Kapitalismus« (dessen Entstehung Max Weber auf den Beginn des 19. Jahrhunderts datiert)12 zwar einen rationalen Kern, aber die Risikobereitschaft ähnelt der Mentalität von Glückspielern. Die Kaufmannschaft richtet sich dezidiert auf das Wagnis, große Gewinne zu machen, gegen die mönchische außerweltliche Existenz. Die innerweltliche Lösung besagt: »Denke daran, dass Du alles verlieren kannst, weil Du ein Mensch bist. Nimm dennoch unter den Bedingungen eines kaum kalkulierbaren Risikos das Wagnis auf Dich, Dein Kapital zu vervielfachen!« In der Szene der Kästchenwahl im Kaufmann von Venedig sagt Bassanio, nachdem er das goldene und das silberne Kästchen abgelehnt hat, beim Anblick des Bleikästchens: »[…] doch du, du mag’res Blei,/Das eher droht als irgendwas heißt,/Dein schlichtes Ansehen spricht beredt mich an […]«13 Die Inschrift auf dem Bleikästchen lautet: »Wer mich erwählt, der gibt und wagt sein Alles dran.«14 Das Wagnis soll zu Reichtum und Glück führen. Die andere Seite des Risikos ist der Verlust: Alle Personen
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Siehe Michael Nerlich: Kritik der Abenteuerideologie. Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Shakespeare, ebd., 3. Akt, 2. Szene. Shakespeare, ebd., 2. Akt, 7. Szene.
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des Dramas sind von Verlust bedroht: Antonio vom Verlust seiner Schiffe und seines Lebens, Shylock vom Verlust seines Vermögens, Bassanio vom Verlust seines Rings und Porzias Liebe. Im Mittelpunkt des Dramas steht der potentielle Fall von Personen aus ihren sicher geglaubten Positionen. Die Möglichkeit eines solchen Fallens erzeugt die Ähnlichkeit von Theater und Leben: Weil das universale Merkmal von Menschen ihre Verletzbarkeit ist und das Theater diese Potentialität idealtypisch darstellt, ähnelt es dem Leben. Auch die Umkehrung des Satzes gilt: Weil die Essenz des Dramas das Fallen von Menschen ist, ähnelt das wirkliche Leben dem Theater. Am Anfang des Stücks sagt Antonio: »Mir gilt die Welt nur wie die Welt, Graziano:/Ein Schauplatz, wo man eine Rolle spielt,/Und mein’ ist traurig.«15 Das Drama zeigt, dass jeder gesellschaftliche Akteur am Rand des Abgrunds spielt. Es sind nicht sein Können, sein Adel, seine Fähigkeiten, seine Disziplin und Tüchtigkeit, die ihn vor dem Absturz bewahren. Die glückliche Wendung am Ende des Kaufmanns von Venedig verdankt sich dem Zufall – der glücklichen Heimkehr von Antonios Handelsschiffen. Es ist wie der Gewinn in einer Lotterie, keine Rettung durch strategisches Denken oder durch einen gütigen Gott. Shakespeares Theater – und das vieler Autoren, die von ihm inspiriert sind, – macht das anthropologische Minimum zu seinem untergründigen Thema. Das Medium des Theaters bietet, weil es diesen Aspekt weiter entwickelt als andere kulturelle Werke, die Möglichkeit zu einer Verständigung zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Zugehörigkeit.
Exkurs: Über körperliche Erkenntnis und Zeitlichkeit Wenn die traditionelle Philosophie überhaupt in Betracht zieht, dass es Erkenntnis durch den Körper geben könnte, ordnet sie diese den niederen Sinnen zu. Philosophisch gering geschätzt wird diese Erkenntnis, insofern sie sich auf Tätigkeiten und Eindrücke des Körpers bezieht, 15
Shakespeare, ebd., 1. Akt, 1. Szene.
9. Die Verletzlichkeit der Menschen
also auf menschliche Bewegungen und sinnliche Erfahrung der materiellen Welt. Der andere Grund für ihre Geringschätzung ist die Tatsache, dass sie in Zeitlichkeit getaucht ist. Daher ist sie der Vergänglichkeit und den Prozessen des Organischen unterworfen. Gegen diese traditionelle Ansicht kann man vieles vorbringen; hier genügen zwei Hinweise. Als erstes können wir auf die anthropologischen Einsichten aus den vorangegangenen Abschnitten verweisen: dass die materielle Form des Körpers daran beteiligt ist, das menschliche Handeln in der Welt zu organisieren, und dass diese Mitwirkung wichtige Folgen für unser Denken hat. Durch unsere körperliche Tätigkeit erfahren wir die Welt als eine zu berührende und zu ergreifende. Dass sich die Welt auf diese Weise als berührbare darbietet und sich die Dinge der Welt ergreifen lassen, bildet eine wesentliche Grundlage der Sprache: Wenn wir uns beim Sprechen auf Gegenstände beziehen, erfassen wir sie in symbolischer Tätigkeit und identifizieren sie, indem wir sie sprachlich benennen. Der zweite Hinweis macht darauf aufmerksam, dass körperliche Handlungen ein In-der-Welt-Sein des Erkenntnissubjekts darstellen. In seinen Erkenntnisakten spielt das Wiedererkennen eine besondere Rolle – Wiedererkennen von Situationen, Merkmalen, Personen, Regeln, Bedeutungen. Wenn ich etwas wiedererkenne, habe ich die Gewissheit, dass meine Erinnerung verlässlich funktioniert. Diese Zuverlässigkeit ist nicht in den Gedächtnissen einzelner Subjekte begründet, sondern in einer gemeinsamen geteilten Praxis der Sprachgemeinschaft. Alles Sprechen beruht wie alles Handeln auf den von den Mitgliedern geteilten Gewissheiten, die sich in unzähligen praktischen Akten ausdrücken. Im Alltagshandeln kommt gewöhnlich kein Zweifel an dieser Verknüpfung der individuellen mit der kollektiven Erinnerung auf. Die Alltagspraxis der Sprachgemeinschaft funktioniert dadurch, dass im Laufe eines langen Einübungsprozesses dem Körper »ein Gedächtnis gemacht« wird.16
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Die Formulierung stammt von Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 252-255.
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Erinnerung kann sich dem individuellen Willen entziehen. Als eine unwillkürliche Erinnerung (mémoire involuntaire, Henri Bergson) kann sie unerwartet, mit einem Mal aufscheinen, ähnlich wie ein Körpergefühl. Marcel Proust zeigt in der »Wiedergefundenen Zeit«, dem letzten Kapitel der »Suche nach der verlorenen Zeit«,17 welcher Erkenntnisgewinn der Person aus dieser Erinnerung entstehen kann. Die motorische Empfindung des Pflasters im Innenhof des Hôtel de Guermantes löst in der Romanperson Marcel die unwillkürliche Erinnerung an eine Episode in Venedig iele Jahre zuvor aus. Proust weist darauf hin, dass das Gedächtnis über den ganzen Körper verteilt ist – es kann, wie in diesem Fall, von einer Nervenverbindung von Fuß, Beinen und Gleichgewichtssinn ausgelöst werden. Gewöhnlich kommen uns eher Tastgefühle oder Berührungen anderer Personen in den Sinn. Bei Proust entstehen Erinnerungen auch aus dem Geschmackssinn, wie im Fall der Madeleine im ersten Buch der »Verlorenen Zeit«.18 Sie können auch von den Geräuschen ausgelöst werden, welche die Erzählperson morgens im Bett beim Aufwachen von draußen hört, während sie zugleich die Schattierungen des Lichts im Schlafzimmer wahrnimmt, ein weiteres Beispiel von Proust. Erinnerung ist körperlich; ein empfindsamer Körper merkt sich selbst feinste Einprägungen. Wenn das Gedächtnis des sensiblen Körpers unwillkürlich zu funktionieren beginnt, ist sein Gehalt umso reicher. Es zeigt nicht einfach Bilder aus der Vergangenheit wie alte Postkarten. Erinnerung wird zu einem sensitiven Erleben, das frühere Episoden neu wahrnimmt. Die inzwischen verflossene Zeit hat den Gesichtspunkt auf die weit entfernten Ereignisse verschoben und die Beleuchtung verändert. Im Akt der Erinnerung werden jedoch körperliche Empfindungen aus der Vergangenheit lebendig. Eine bedeutende Rolle spielt die Erinnerung im Sport. Sie wird im Körper des Athleten wachgerufen, wenn bestimmte Bewegungen vollzogen werden. Sport vollzieht sich durch körperliche Bewegungen; daher ist die Erfahrung von Zeitlichkeit eines seiner wichtigsten Themen.
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Marcel Proust: A la recherche du temps perdu, Bd. III. Marcel Proust: A la recherche du temps perdu, Bd. I.
9. Die Verletzlichkeit der Menschen
Zeit wird als Resultat von Leistungen (z.B. im Langstreckenlauf) mechanisch gemessen. Weniger offensichtlich, aber für das Subjekt ungleich wichtiger ist die Lebenszeit; sie wird als besondere Zeitform des Körpers erfahren. In den Erfahrungshorizont des Athleten tritt sie ein in Situationen der Erschöpfung und als Prozess des Älterwerdens. Menschliche Zeitlichkeit steht im Zentrum des Risikosports. Heideggers Gedanke des Seins zum Tode, einer Zeiterfahrung vor dem Hintergrund der Endlichkeit des Lebens,19 scheint gerade hier eine besondere Bedeutung zu haben. Für Heidegger ist der Tod jedoch eine rein gedankliche Vorstellung. Tod wird in seinem Denken nicht körperlich aufgefasst, sondern als »das Nicht-mehr-in-der-Welt-sein des Gestorbenen«.20 Der Vorgang des Sterbens wird so zu einem unkonkret gedachten Fortgehen aus der Welt. Bei Heidegger spielt das Ineinander-verwoben-Sein von körperlicher Sorge und sinnlicher Lebendigkeit keine besondere Rolle. In der Perspektive des Athleten erscheint jedoch ein definitives Ende des Lebens ungeheuerlich. Im rein geistigen Entwurf des Lebens im Hinblick auf sein Ende ist es hingegen gut möglich, dieses aus einer Perspektive von jenseits des Todes zu betrachten. Nur gibt man dann den Bezug zum eigenen Körper auf und vertraut sich einer intellektuellen Betrachtung von Zeitlichkeit an. Im Risikosport schiebt man die Lebendigkeit vor den gedachten möglichen Tod. So konzentriert sich der Athlet auf seine wesentlich körperliche Erfahrung von Zeitlichkeit: Er kämpft in einer selbst gewählten Situation, wie beim Klettern, gegen die Möglichkeit, die Zeit seines Körpers und damit des eigenen Selbst könne aufhören. Dieser Kampf ist das Gegenteil von Erinnerung – er lässt keinen Raum für die Vergangenheit, auch keinen für einen Entwurf der Zukunft: Er ist reine Präsenz ohne Bezug auf den Tod, absolute Konzentration auf den gegenwärtigen Zeitpunkt und den unmittelbar nächsten Augenblick, ein Vorrücken von Zeitpunkt zu Zeitpunkt. Der Risikosport positioniert sich jenseits der sozialen Zeit, die für alle Subjekte gleich ist. Auf der 19 20
Martin Heidegger: Sein und Zeit. Zweiter Abschnitt. Dasein und Zeitlichkeit, S. 252-255. Martin Heidegger, ebd., S. 238.
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einen Seite lässt er Zeitlichkeit punktförmig werden, auf der anderen weitet er das Ich aus: Es ist auf sein Inneres gerichtet, aber zugleich ist es mit höchster Konzentration auf die Gefahren der äußere Umgebung hin gespannt. Es kommt darauf an, die größte Kongruenz von Außen und Innen zu erreichen, die überhaupt möglich ist –, ein Zur-DeckungBringen des angespannten Körpers mit der Sorge um seine aktuelle Bedrohung. Es gibt für den Athleten nur diese eine Zeit, die Zeit des Subjekts in seiner unmittelbaren Umgebung. Zeitlichkeit wird hier als ein totales Aufgehen in der Zeit erfahren; in dieser gibt es Lebendigkeit, Sorge, Bewältigung der für das Überleben notwendigen Akte. Alles dies geschieht unterhalb der Sprache, des Mitteilbaren überhaupt. Der Risikosport ist jedoch kein Sich-Verlieren in der Zeit; dadurch hat er eine Chance auf Erkenntnis dieser besonderen Form von Zeitlichkeit. Wenn der Risikosportler aus der punktförmigen Zeit wieder in die Alltagszeit zurückkehrt, hat er den Eindruck, sein Leben sei ihm neu geschenkt worden, obgleich er es niemals zur Disposition gestellt hat. Der Risikosport ist kein Akzeptieren der menschlichen Situation des Seins zum Tode. Er nutzt dieses Moment für einen Protest gegen die Sterblichkeit. Im Risikosport findet eine Revolte gegen den Tod statt. Sie mag töricht sein, aber ihre Torheit zeigt auch Größe.
10. Verstehen durch Empathie
Die Hermeneutik gilt als ein Kernbereich der Geisteswissenschaften. Ihr Gegenstand sind die Voraussetzungen und Prozesse, die kulturelles Verstehen ermöglichen – Verstehen von Texten, Sprechen, künstlerischen Werken und Objekten, Emotionen, menschlichem Ausdruck, Selbst-Verstehen. Zu dessen wesentlichen Voraussetzungen gehört, nach der hermeneutischen Theorie Gadamers, der Horizont des Verstehens. Er bildet sich durch Lernen, Gespräche, Lektüre, durch das Studium klassischer Texte. Er wird durch Überlieferung weitergegeben und durch Verschmelzung mit anderen Horizonten erweitert. Horizont und Tradition sind durch und durch kulturell geprägt. Man erfährt das Spezifische einer Kultur, wenn man die hermeneutischen Möglichkeiten untersucht, die sie zum Verständnis der Gesellschaft, der eigenen Gruppe, des Anderen und des Selbst entwickelt hat. Im Zentrum hermeneutischer Prozesse steht das Subjekt. Sein Verstehen erschließt ihm schrittweise die Welt der Menschen – jene Aspekte der Welt, die subjektiv erfasst werden können. Das heißt: vom Verständnis der Subjekte aus, während der Naturwissenschaftler seinen Objekten gegenüber äußerlich bleibt. Hermeneutische Erkenntnis richtet sich auf Menschen und auf menschlich gemachte sinnhafte Gebilde. Für dieses Vorgehen ist die Sprache wesentlich, und zwar jene Sprache, die von den Erzeugern der kulturellen Objekte selbst gesprochen wird. Voraussetzung des hermeneutischen Erfassens ist also eine Gemeinsamkeit des forschenden Subjekts mit seinen Forschungsobjekten.
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Angesichts der Weite hermeneutischer Theorien und ihrer inneren Differenzen grenze ich mein Thema auf jenes Verstehen ein, das auf das Selbst und die Anderen gerichtet ist. In diesem Problemfeld kann man den Wert hermeneutischen Verstehens am besten einschätzen. Von den meisten hermeneutischen Theorien wird die Möglichkeit eines unmittelbaren Erfassens von Ich und Anderen verneint: Verstehen wird von der klassischen Hermeneutik als eine besondere Technik aufgefasst. Als beispielhaft wird die Technik angesehen, die an der Interpretation kanonischer Texte entwickelt wurde. Das hermeneutische Verstehen ist auf den Geist eines Autors gerichtet und verfolgt die Absicht, den Prozess seines Denkens und Schreibens rekonstruktiv zu erfassen.1 Wenn man diesen Prozess nicht psychologisch konzipiert (wie in den historischen Theorien der Hermeneutik, z.B. von Schleiermacher und Dilthey), muss man die geistige Gemeinsamkeit auf andere Weise herstellen. Für die Hermeneutik ist die Sprache ein Instrument des Geistes. Das Leben des Geistes umfasst jedoch deutlich mehr als die Struktur und den Gebrauch der Sprache. Schon aus diesem Grund hat sie den linguistic turn der Analytischen Philosophie nicht mitvollzogen. Diese Zurückhaltung will ich im folgenden nicht global kritisieren; vielmehr ist das Ziel dieses Kapitels zu zeigen, dass die hermeneutischen Theorien mit Recht die kulturelle Bedeutung des Verstehens hervorgehoben, aber – mit Ausnahme Martin Heideggers – die Rolle der Sprache und die Bedeutung des Körpers für das Verstehen deutlich unterschätzt haben. Anstatt Verstehen als einen rein geistigen Prozess aufzufassen, will ich zeigen, dass es ein Verstehen mit dem Körper gibt, das dem Erfassen von Selbst und Anderen durch die Sprache vorhergeht.
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Zur Kritik der klassischen Hermeneutik siehe Gunter Gebauer: Der Einzelne und sein gesellschaftliches Wissen.
10. Verstehen durch Empathie
Verstehen unterhalb der Bewusstseinsschwelle Den klassischen hermeneutischen Theorien liegt die Annahme zugrunde, dass eine wesentliche Voraussetzung des Verstehens das Bewusstsein sei. Bei einer anthropologischen Betrachtung der Genese hermeneutischer Prozesse zeigt sich jedoch, dass Verstehen bereits unterhalb von Bewusstsein und geistigen Erkenntnissen einsetzt. In neueren Arbeiten der Entwicklungspsychologie und Neurobiologie wird ein mimetisches Erfassen und Übernehmen von Bewegungen, Absichten und Gefühlen anderer Menschen beschrieben, die als elementare Akte des Verstehens begriffen werden können.2 Im Laufe der Entwicklung verschwinden sie nicht, sondern bilden lebenslang eine Grundschicht der Gemeinsamkeit mit anderen Menschen. Es geht jedoch nicht nur um das Verstehen des Selbst und der Anderen, sondern generell um ein Erfassen der Welt im Medium von Bewegungen, Sprache und Emotionen. Was die klassische Hermeneutik nicht deutlich genug sieht, ist die bedeutende emotionale Komponente des Verstehens. Ergebnisse der aktuellen Emotionsforschung zeigen, dass für das Erfassen der Welt, also auch von Dingen, Umgebungen und von nicht-menschlichen Lebewesen Emotionen eine herausragende Rolle spielen.3 Die aktuelle Neurobiologie nimmt an, dass es ein emotionales Verstehen unterhalb der Bewusstseinsschwelle gibt. Sie führt dieses auf angeborene Anlagen des Gehirns zurück, die mit der Entdeckung der Spiegelneuronen, ursprünglich bei Affen, in den Blick der Forschung geraten sind. Mit ingeniösen Versuchen hat Christian Keysers4 gezeigt, dass
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Michael Tomasello: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation; Merlin Donald: The Origins of Modern Mind. Zum Begriff der Mimesis siehe Gunter Gebauer/Christoph Wulf: Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft; dies.: Spiel – Ritual – Geste. . Antonio R. Damasio: Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. Christian Keysers: Unser empathisches Gehirn. Warum wir verstehen, was andere fühlen. Auf den Zusammenhang von sogenannten Spiegelneuronen und Em-
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Menschen mit hoher Wahrscheinlichkeit über spiegelnde Motoneuronen verfügen. Ihre Wirkungen auf die emotionale Kommunikation werden von ihm detailliert beschrieben. Eine bedeutende Funktion in diesem Prozess kommt der Empathie zu.5 Wenn man die Bewegung einer anderen Person, z.B. ihr Lächeln, sieht, kann man sie unmittelbar nachahmen oder innerlich als virtuelle Bewegung simulieren. In diesem Prozess wird zum einen das für das Lächeln zuständige motorische Gehirnareal aktiviert. Zum anderen hat man auch »das Gefühl, das wir hätten, würden wir ähnliche Handlungen ausführen oder ähnliche Berührungen erleben« (Keysers., S. 153). Keysers beschreibt dieses Verhalten als eine empathische Reaktion, die dadurch entsteht, dass sich zwischen den kommunizierenden Personen ein »gemeinsamer Schaltkreis« aufbaut: In den prämotorischen Arealen des Gehirns gibt es »neben Neuronen, die ausschließlich für das Selbst zuständig sind, auch solche, die sowohl auf uns selbst als auch auf andere reagieren« (ebd.). Das somatosensorische System, das zur Wahrnehmung des Selbst, zum Fühlen seiner selbst dient, »repräsentiert auch den Zustand anderer Körper« (S. 277). Schon wenn man das Verhalten anderer Personen nur wahrnimmt, wird ein »ein inneres Empfinden« für die gesehenen Bewegungen erzeugt (S. 41).6 Es wird selbst dann hervorgerufen, wenn die Bewegung nur innerlich simuliert wird: Ohne die Handlung zu vollziehen, assoziiert das Subjekt, wie sie sich anfühlt, wenn man sie realisiert. Keysers fasst seine These zugespitzt in der Aussage zusammen: »Die somatosensorische Aktivität des Beobachters ist ein genaues Spiegelbild der Aktivität des anderen.« (S. 153) In der engen empathischen Abstimmung mit Anderen
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pathie haben zuerst aufmerksam gemacht Giacomo Rizzolatti/Corrado Sinigaglia: Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls. Auf ihre Bedeutung für das Verstehen der Mitwelt ist schon vor langer Zeit die Phänomenologie aufmerksam geworden. Am weitesten entwickelt wurden die Reflexionen zum Phänomen der Einfühlung von Theodor Lipps und Edmund Husserl. Menschen beschränken ihre Hinwendung zur Welt nicht auf die sinnliche Wahrnehmung; sie beteiligen an diesem Prozess auch »jene Gehirnregionen […], mit deren Hilfe wir diesen Zustand selbst erleben« (S. 152).
10. Verstehen durch Empathie
können keine scharfen Grenzen zwischen den beteiligten Personen gezogen werden. Dies erfährt man, wenn der Anblick heftiger Schmerzen eines Anderen eine deutliche Resonanz im eigenen Körper hervorruft. Von den empathischen Reaktionen auf die Emotionen Anderer wird eine bedeutende Möglichkeit geschaffen, diese auf elementarer Ebene zu verstehen. Menschen sind offensichtlich schon aufgrund ihrer natürlichen Ausstattung auf Verstehen hin angelegt. Ihre Fähigkeit zu verkörperlichter Simulation erzeugt in direkter Interaktion mit anderen eine Gemeinsamkeit von Handeln und Fühlen. Nicht nur bei direkter Beobachtung des Verhaltens anderer werden eigene motorische und emotionale Reaktionen ausgelöst – dies geschieht auch unter Einfluss der Sprache. So wird bei der Lektüre ekelerregender Texte im Subjekt die gleiche Gesichtsaktivität wie bei unangenehmen Geschmackserlebnissen hervorgerufen. Sie werden ausgelöst durch die für die Sprachverarbeitung zuständigen Regionen (ebd., S. 135). Keysers nimmt an, dass es noch einen zweiten, ähnlich wichtigen Weg gibt, die Welt unmittelbar, unterhalb des bewussten Denkens zu erfassen. Aktivitäten gehen auch von prämotorischen Neuronen aus: »Kanonische Neuronen« reagieren nicht nur, wenn Gegenstände verwendet werden, sondern auf ihren bloßen Anblick hin. Gegenstände, mit denen wir umgehen, wie Werkzeuge, Tassen, Hämmer und Bausteine, lösen, schon wenn man sie anblickt, Reaktionen von Neuronen aus, die für Greifhandlungen zuständig sind. Nach Keysers’ Annahmen gibt es also zwei Wege, auf denen eine Übereinstimmung der Handlungen und der Gefühle entsteht, die mit ihnen assoziiert sind: Der erste Weg ist auf eine andere Person, ihre Mimik und Bewegungen, der zweite auf das Aussehen eines Gegenstands bezogen (S. 107). Beide Möglichkeiten, die Welt zu erfassen, funktionieren unterschiedlich, sind aber eng miteinander verknüpft. Für meine weiteren Überlegungen ist ihre Kooperation wichtig; sie soll, ohne weiter auf neurobiologische Feinheiten einzugehen, kurz umrissen werden. Was diese so wichtig macht, ist die Möglichkeit, dass sie auf das Medium der Sprache ausgeweitet werden kann. Auf diese Weise entstehen miteinander verschaltete Kreise mit einem außerordentlich weiten Umfang von Verstehensmöglichkeiten.
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Die Verschaltung von Sehen und Tasten Nehmen wir als Beispiel die Berührung von Personen und Objekten mit der Hand. Wenn wir von einer anderen Person berührt werden, kommt es zu einem Berührungserlebnis. Ähnliche körperliche Reaktionen empfinden wir, wenn wir nur beobachten, wie ein Anderer berührt wird: Bei uns werden Teile des gleichen Gehirnareals aktiviert wie bei der beobachteten Person (Keysers, ebd., S. 151). Arnold Gehlen hat in seinen anthropologischen Forschungen schon in den 1940er-Jahren die Kooperation von Wahrnehmungs- und Tastsinn als eine symbolische Aneignung der Welt beschrieben.7 Seine Überlegung, dass Menschen die Welt der Dinge und der Anderen konstruktiv zu einem symbolischen Gebilde formen, wird von den Gehirnforschern generell übersehen. Aus biologischen Anlagen allein können jedoch die spezifischen Leistungen dieser Erschließung der Welt nicht erklärt werden. Dafür bedarf es zusätzlich der menschlichen Symbolisierungsfähigkeit. Gehlens Überlegungen zeigen, wie diese Fähigkeit bei der Kooperation von Wahrnehmung und Berührung von Dingen eingesetzt wird; sie soll im Folgenden wiedergegeben werden. Gehlen setzt bei Aristoteles’ Erfahrungsbegriff an. Erfahrungen erwerben Menschen in der praktischen Auseinandersetzung mit der Welt. Im tätigen Umgang mit Dingen bilden sie die für die Erledigung ihrer Aufgaben erforderlichen Fähigkeiten aus. Ihre Umgangserfahrungen mit der Welt werden im »Gedächtnis des Leibes« (Nietzsche) verfügbar gehalten. Eine besondere Rolle kommt dabei der Erfahrung des Tastens zu: Tasten ist einerseits eine äußere Erfahrung, die mit dem Tastsinn und dem Sehsinn wahrgenommen wird. Zugleich wird es als spezifisches Tasterlebnis »zurückempfunden« (Gehlen, ebd., S. 166). Es besitzt also einen äußeren und einen inneren Aspekt (siehe oben, Kapitel 6). Als äußerer Sinn kooperiert das Tasten mit dem Sehsinn – Tasten und die Beobachtung der Hände sowie der von ihnen berührten Gegenstände spielen zusammen. Bei dieser Kooperation wird unsere innere Tasterfahrung auf die visuelle Wahrnehmung übertragen. 7
Arnold Gehlen: Der Mensch.
10. Verstehen durch Empathie
Wenn wir eine andere Person berühren, können wir deren Berührungserlebnis ergänzen. Wir können uns so in den Anderen hineinversetzen und dessen Rolle übernehmen. Eine solche Rollenübernahme hat, wie Gehlen bemerkt, in der Sozialphilosophie von George H. Mead eine »fundamentale Bedeutung […]; sie trifft schon für Tasterfahrungen zu«. (Gehlen, ebd., S. 168f). Alle Erfahrungen, die aus der Kooperation von Hand und Auge mit ihrem »Doppelwert« von Sehen und Fühlen entstehen, haben einen kommunikativen Charakter (S. 166). Mit dieser Verschaltung der beiden Sinne wird die menschliche Wahrnehmungswelt, die »schon weitgehend physiologisch-optisch vorbereitet« ist, symbolisch (S. 171). Dinge haben Bedeutungen für uns, insofern wir sie berühren, ergreifen, bewegen, formen etc. und sie uns Tast- und Bewegungserfahrungen zurückmelden. Nicht nur das aktuelle Verhalten von Dingen ist an diesen selbst sichtbar. Aufgrund unserer körperlich gespeicherten Erfahrungen bilden wir auch Erwartungen, mit denen wir deren »Antwortverhalten« vorwegnehmen können (S. 184): Alle absichtlichen Handlungen antizipieren »eingebildete Antwortbewegungen der Dinge auf eingebildete Handlungen«; Gehlen nennt sie in Anlehnung an Palagyi »virtuelle Bewegungen«. In den Anblick von Dingen »fließen auch unsere Tasterwartungen hinein« (S. 184f). Ohne die Dinge zu berühren, sehen wir ihnen an, wie sie sind; beispielsweise sehen wir, dass wir uns an einer Porzellantasse mit heißem Tee die Finger verbrennen würden. »Das Subjekt dieser Vorgänge ist eigentlich weniger die Person, als die Situation, das zwischen Person und Sache sich entwickelnde Geschehen«. (S. 187) Das kooperative Geschehen von Tasten und visueller Wahrnehmung ist ein entscheidender Zwischenschritt für die Entwicklung des Sprechens: Es kann mit anderen Menschen geteilt werden. Die Eigenschaften der Dinge, ihre »Umgangswerte«, werden in der geteilten Erfahrung »sprachmäßig« (Gehlen, ebd.).8 Von der Spiegelung fremder Bewegun-
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Die dabei gebildete symbolische Zwischenwelt ist eine bedeutende Vorstufe der verbalen Sprache (Arnold Gehlen: »Ein Bild vom Menschen«, S. 51). Gehlen übersieht bei seinen Überlegungen allerdings die soziale Dimension der Interaktion zwischen Subjekt und Anderen.
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gen und der Assoziation mit den Erfahrungen, die diese hervorrufen, wurden noch keine kommunikativen Bedeutungen gebildet. Mit der Annahme einer symbolischen Zwischenwelt gewinnen wir jetzt wichtige Aufschlüsse darüber, wie ausgehend von biologischen Voraussetzungen eine primitive symbolische Weltkonstruktion entsteht, die den Ausgangspunkt von verbalsprachlichen Prozessen darstellt.
Erste Sprachspiele Handbewegungen sind bei Kindern oft Spiegelungen von Gesten, die sie bei Erwachsenen sehen. So winken sie einem Gegenüber mit Gesten des Grüßens zu, die sie bei einem Anderen gesehen haben. Was diese bedeuten, können sie im frühen Stadium noch nicht wissen; sie erfassen jedoch, dass es sich um ein bei bestimmten Gelegenheiten wiederkehrendes Verhalten handelt. Schon Kleinstkinder (unter einem Jahr) antworten auf das Winken einer anderen Person mit einer direkten Reaktion von Körper zu Körper, ohne die explizite Absicht der Geste zu verstehen. Da sie ihre eigenen Handbewegungen nicht nur fühlen, sondern auch sehen, können sie diese innerlich und äußerlich erfassen: Wenn sie den äußeren Teil ihrer Handlung, das eigene nachahmende Winken, in der Perspektive von außen als Teil einer sozialen Situation wahrnehmen, können sie ihn auf das innere Erleben beziehen. Über zwei unterschiedliche Kanäle also können Kind und Eltern miteinander kommunizieren: über die Beobachtung der Bewegung des Kindes und über das vom Winken ausgelöste emotionale Erleben. Die von Eltern und Kind geteilten Beobachtungen bilden die gemeinsame Basis einer Kommunikation, die ursprünglich von Spiegelungsphänomenen ausgeht. Die weitere Entwicklung des symbolischen Verstehens ist darauf nicht mehr wesentlich angewiesen. Aus der gemeinsamen visuellen Wahrnehmung gleicher Objekte und ihrer Umgangsqualitäten kann eine Verallgemeinerung gebildet werden, die bei den unmittelbaren Bewegungserlebnissen noch nicht möglich war: Bei geteilter Aufmerksamkeit in einer Situation gegenüber demselben Objekt (z.B. einem Spielzeug) können gemeinsam Wörter und ihre
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Gebrauchsweisen gefunden, festgelegt und kontrolliert werden. Dies geschieht zunächst zwischen Eltern und Kind, oft in einer intimen Kommunikation, die für Außenstehende nicht immer verständlich ist. Im Verlauf der Entwicklung wird sie unter dem Einfluss der Erwachsenen zunehmend den Regeln der allgemeinen Umgangssprache angeglichen. Ob diese im Gebrauch von gestischen Bewegungen und Lauten korrekt angewendet werden, kann nur von anderen Personen, also von außen beurteilt werden.9 Wenn wir die primitive Kommunikation des Nachahmens von Gesten, wie beim Winken, als exemplarisch für symbolisches Verstehen betrachten, erhalten wir folgendes Ablaufschema: Ausgehend von einer gespiegelten Bewegung des Erwachsenen, die das Verhalten des Kindes reproduziert, wird ein beobachtetes Verhalten hervorgebracht. Die Tatsache, dass dieser Prozess vom Erwachsenen mit dem Kind geteilt wird, ermöglicht eine zunächst gestische, dann lautliche Kommunikation zwischen beiden (so sagt das winkende Kind: »bye-bye«). Bei gemeinsamen Wiederholungen der Gesten mit ihren inneren Erlebnisund äußeren Wahrnehmungsqualitäten bildet sich ein sozialer Rahmen. In der Kommunikation zwischen Kind und Erwachsenem, die in diesem Rahmen stattfindet, erhält die Geste eine verallgemeinerte Bedeutung.10 Beide Teilnehmer bilden ein gemeinsames Wir heraus, dem sie sich zurechnen. Mit Wittgenstein kann man den dabei entstehenden Austausch als »Sprachspiel« bezeichnen. Von beiden Seiten, vom Kind und von den Anderen, wird dieses mit fortschreitender Interaktion immer besser verstanden: Es wird als ein gemeinsames Geschehen mit
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Keysers unterläuft hier ein für die Gehirnforschung typischer Fehler; er hält die Einhaltung sozialer Standards für ein biologisches Geschehen: Das Kind, so schreibt er, »entwickelt nicht nur ein Spiegelsystem, sondern verknüpft auch den Anblick der eigenen Handlungen in einer Weise mit dem prämotorischen Kortex, dass es überprüfen kann, ob sie so aussehen, wie sie sollen« (ebd., S. 182 – meine Hervorhebung). Während die genannte Verknüpfung biologisch fundiert ist, geschieht die Überprüfung der Korrektheit in sozialen Prozessen. Siehe George H. Mead: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus.
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gleichen Bedeutungen und Regeln erfasst.11 Das Sprachspiel der HandAuge-Koordination hat eine besondere Qualität: Wenn wir die Berührung eines Gegenstandes beobachten, assoziieren wir, wie sich der berührte Gegenstand anfühlt. Bei der Verallgemeinerung, die im Sprachspiel gebildet wird, geht der Bezug auf das innere Erlebnis nicht vollständig verloren. Sprachliche Ausdrücke, die beobachtete Berührungen mit Tasterlebnissen verknüpfen, können frühere emotionale Erfahrungen wachrufen.
Emotionen und Metaphern Im Folgenden will ich meiner Argumentation eine weitere Überlegung hinzufügen und annehmen, dass die wahrgenommenen Bewegungssequenzen, wie die Geste des Winkens, einen bildlichen Charakter haben (siehe Kapitel 6), also ein Bild des Winkens darstellen. Bilder, die aus der Kooperation von Hand und Auge entstehen, können uns Hinweise darauf geben, wie eine bestimmte Art des Sprechens über Emotionen entsteht. Dabei werden bildliche Aspekte von Bewegungen mit emotionalen Erlebnissen verknüpft. Sprachliche Ausdrücke, die innere Erlebnisse darstellen, funktionieren anders als Denotationen, weil das Empfindungsgeschehen nicht direkt beschrieben werden kann. Das Innere von Menschen hat nicht die Struktur einer materiell gegebenen Situation. Es hat eine andere »Grammatik« als beobachtbare Gegenstände (Wittgenstein): Seine Beschreibung ist auf den »Umweg« über äußeres Geschehen angewiesen.12 Wenn man innere Ereignisse beschreibt, werden diese als Folge bestimmter Handlungen dargestellt. Man berührt beispielsweise eine Tasse mit heißem Tee und spürt eine heftige Schmerzreaktion. Es ist 11
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Hervorzuheben ist, dass dieses Sprachspiel anders aufgebaut ist als das Sprachspiel des hinweisenden Bezeichnens von Gegenständen, die von vielen Autoren für den elementaren Sprachgebrauch gehalten wird. Siehe Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, darin seine Diskussion über die »Privatsprache«, insbesondere § 246ff. (in diesem Band in Kapitel 12 dargestellt).
10. Verstehen durch Empathie
nun möglich, die Sequenz der Berührung und des ausgelösten Affekts abgetrennt von ihrem aktuellen Auslöser (der Tasse) zu verwenden. Man kann sich auf die Erfahrung des Anfassens einer heißen Teetasse in einem verallgemeinerten Sinn beziehen und damit auszudrücken, dass das Berühren eines gefährlichen Gegenstands das Gefühl einer Verbrennung hervorrufen kann. Bei dieser Verwendung ist der Gegenstand kein konkretes Objekt, sondern ein abstrakter Sachverhalt; so wenn man sagt: »Achtung, bei diesem Problem verbrennst du dir die Finger!« Man spricht dann nicht vom konkreten Anfassen einer heißen Teetasse, sondern drückt das Gefühl aus, das man bei einer unvorsichtigen, gefährlichen Berührung hat. Man verwendet den Ausdruck des Sich-Verbrennens metaphorisch.13 Entscheidend für das Funktionieren des metaphorischen Ausdrucks ist, dass die Beziehung zwischen der Bewegung des Anfassens und dem inneren Erleben, das durch die Berührung ausgelöst wird, erhalten bleibt. Metaphorische Ausdrücke wie »sich verbrennen« rufen den Eindruck hervor, wie sich etwas anfühlt – nun ist es nicht die Tasse, sondern das Problem, das die Verletzung hervorruft. Eine reale Verbrennung wird individuell unterschiedlich gefühlt. Durch den metaphorischen Gebrauch im Sprachspiel wird dieses Gefühl jedoch zu einer allgemeinen menschlichen Reaktion generalisiert und kann von anderen Teilnehmern verstanden werden: Mit diesem Ausdruck wird auf eine gefährliche Problemlage hingewiesen, die schmerzliche Konsequenzen für uns haben würde. Nicht nur Anderen gegenüber machen wir uns mit diesem metaphorischen Ausdruck verständlich, – wir verstehen auch uns selbst besser, wenn wir unsere Schwierigkeiten bei der Lösung des Problems auf diese Weise beschreiben. Mit metaphorischen Ausdrücken verleihen wir einer augenblicklichen Einsicht Dauer und allgemeine Verständlichkeit. Von den »gemeinsamen Schaltkreisen« der Bewegungsspiegelung und ihrer Assoziation mit inneren Erlebnissen erhalten sie emotionale Intensität:
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Vgl. die Darstellung von Nietzsches Metapherntheorie in Kapitel 13 dieses Bandes.
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Die körperlichen Reaktionen, die von diesem Sprachgebrauch ausgelöst werden, vertiefen das Verstehen. Zugleich ruft der metaphorische Sprachgebrauch auch bei den anderen am Sprachspiel beteiligten Personen gefühlsmäßige Assoziationen hervor und stärkt das Wir der emotionalen Erfahrung. Mit bildlichen Beschreibungen lassen sich bei Lesern oder Hörern empathische Reaktionen hervorrufen. Einige Beispiele: »Es schnürte mir die Kehle zu!« »Es lief mir kalt den Rücken herunter!« »Mir blieb das Herz stehen!« Die emotionalen Geschehnisse werden in diesen Ausdrücken mit Bildern erfasst, die physische Ereignisse darstellen: Sie übertragen inneres emotionales Geschehen in anschauliche körperliche Prozesse. Der Körper wird zu einer Austauschfläche zwischen inneren emotionalen Ereignissen und bildlich dargestellten Verhaltensweisen, die von anderen Menschen nachempfunden werden können. Wie können Emotion sprachlich benannt werden, sodass sie für das empfindende Subjekt und den Anderen die gleichen Bedeutungen haben? Es ist nicht anzunehmen, dass eine metaphorische Benennung bei ihrer ersten Einführung in die Kommunikation mit anderen allgemein verständlich ist. Man muss sich vielmehr einen schrittweisen Prozess vorstellen, bei dem die Verwendung eines neuen Emotionsbegriffs am Anfang ein noch wenig geregelter, vager Sprachgebrauch ist. Beispielsweise ruft das Kind in Situationen der Bedrohung (z.B. durch Hunger, Schmerz, Angst) die Hilfe seiner Eltern herbei. Es begreift intuitiv, dass es seine Emotionen mit seinen körperlichen Haltungen und Bewegungen verbildlichen und dass es diese Bildlichkeit sprachlich darstellen kann. Die sprachlichen Ausdrücke, die es gewöhnlich für die Beschreibung äußerer Vorgänge gebraucht, kann es auf sein inneres Geschehen anwenden. Beobachtbares emotionales Verhalten, das Teil einer Emotion ist, gehört einerseits dem Körper, andererseits der Sprache an – es vollzieht sich körperlich und erhält seine Bedeutung in einem sprachlichen Kontext. Dass es sich um eine ganz bestimmte Emotion handelt, erschließen sich das Kind und seine Betreuer aus dem sozialen Verhalten (z.B. aus der Hilfeleistung von Erwachsenen) und aus den emotionalen Reaktionen der Beteiligten. In diesem komplexen Ineinandergreifen von Emotionen, sozialer Interaktion, Empathie und sprachli-
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cher Strukturierung stellen die körperlichen Bilder ein Zeigen der Emotion dar. Vom teilnehmenden Beobachter wird dieses Zeigen ebenfalls körperlich als ein inneres Geschehen erfahren. Auf den frühen Stufen des Sprechens über Emotionen verknüpft das kleine Kind eine große Zahl von Assoziationen miteinander. Die Fülle der assoziativen Verknüpfungen wird vom Gehirn als ein Assoziationsnetzwerk gespeichert. Das Kind bildet vage umrissene Muster, aber noch keine abgegrenzten Bedeutungen. Welche der vielen assoziativen Möglichkeiten für die Ausfüllung der Umrisse schließlich ausgewählt werden, stellt sich im gemeinsamen Gebrauch von Betreuern und Kind her. Aus diesem Ausgangszustand der semantischen Unbestimmtheit werden in Prozessen gemeinsamer Abstimmung Bedeutungen gebildet, die immer besser verstanden werden. »Unsere Eltern oder andere Betreuer beobachten im Rahmen einer Situation der gemeinsamen Aufmerksamkeit unsere Reaktionen – beispielsweise der Angst und des Zorns –, und nun lehren sie uns diese Ausdrücke. […] Sie helfen uns, unserer Erfahrung eine emotionale Form zu geben.«14 Nur ein kleiner Teil der Assoziationsmöglichkeiten wird in diesen Prozessen weiterverwendet. Die ausgewählten Verhaltensmerkmale und Assoziationen strukturieren das Gehirn und werden aktiv erinnert.15
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Charles Taylor: Das sprachbegabte Tier, S. 349. Siehe Raoul Schrott/Arthur Jacobs: Gehirn und Gedicht: Die große Mehrzahl der möglichen Assoziationen wird im Gehirn später nicht mehr aktiviert – mit der Folge, dass die nicht ausgewählten Strukturen mehr oder weniger verkümmern. Sie gehen aber nicht vollkommen verloren. Für die Eltern hat diese Situation der Vagheit einen positiven Effekt: Sie beteiligen sich an der Situation der Fülle; dadurch kommen sie gleichsam in das Stadium der semantischen Unbestimmtheit zurück. Man kann dies als »Regression« ansehen; positiv gedeutet, erschließen sie sich auf diese Weise eine Menge verkümmerter oder verlorener Assoziationen.
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Lebendige Metaphern Im letzten Teil meiner Überlegungen komme ich auf das Problem der Hermeneutik der Kultur zurück. In der Sprache gibt es zwei wichtige Wege, auf denen eine hohe Intensität des Verstehens von Emotionen erzeugt werden kann: Der erste Weg: Erwachsener und Kind gehen auf eine frühere Stufe der Sprachentwicklung zurück, auf der die Bedeutungen der Wörter noch nicht durch die Sprachgemeinschaft fixiert sind – zu einem Zustand, in dem Eltern und Kind gemeinsam nach eigenen expressiven Ausdrucksweisen gesucht haben: durch Ausrufe, Lautmalerei, bildliche Ausdrücke, Personifizierung (z.B. von angsteinflößenden Objekten), Darstellung körperlicher Reaktionen. Auf diesem Weg wird die Sprache permanent im Fluss gehalten – mit dem möglichen Nachteil, dass sie für Außenstehende unverständlich werden kann. Der zweite Weg: Die Sprecher entwerfen Szenen, welche die von Emotionen ausgelösten körperlichen Bewegungen schildern und im Hörer empathische Resonanzen hervorrufen, wie die physiologischen Reaktionen in den oben erwähnten Beispielen. Bevorzugte Körperreaktionen in den metaphorischen Wendungen der Umgangssprache beziehen sich auf die Atmung, die Haut sowie auf das Herz und die Koronargefäße. Seit dem 18. Jahrhundert begannen in der deutschen Dichtung andersartige Körperbezüge die künstlerische Sprache über Emotionen zu prägen. Aus der Fülle des Erfindungsreichtums sei nur ein zukunftsweisendes Beispiel hervorgehoben. Friedrich Nietzsche erfindet mit einer »dynamischen Imagination« Bilder des Fliegens als körperliches Erlebnis: ein Aufsteigen in die Höhe, in eine Zone der Kälte, Klarheit und Stille.16 Im »Zarathustra« heißt es im Kapitel »Vom Lesen und Schreiben«: »Jetzt bin ich leicht, jetzt fliege ich, jetzt sehe ich mich unter mir, jetzt tanzt ein Gott durch mich.«17 Von der energischen Aufwärtsbewegung in den
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Siehe die inspirierte Interpretation von Gaston Bachelard: L’air et les songes, insbesondere das Kapitel »Nietzsche et le psychisme ascensionnel«, S. 163-208. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, S. 50.
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freien Himmel wird, nach Gaston Bachelards Interpretation, eine mitreißende Vorahnung des Übermenschen ausgedrückt. Bewegungsbilder dieser Art stimulieren die Einbildungskraft dazu, über den Erfahrungshorizont hinauszugehen und sich die Situation eines Raubvogels im Hochgebirge vorzustellen. Auf diese Weise erweitern sie imaginativ die mit der Zeit ausgehärtete symbolische Zwischenschicht zwischen Körper und Welt. Nach Nietzsches Idealvorstellung bringt die Poesie die Sprache wieder in Bewegung; sie macht die »erstarrten Metaphern« wieder flüssig:18 Dies geschieht, indem sie die Leser körperlich ergreift und innerlich bewegt. Sie erzeugt ein neues Wir, eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten, die eine emotionale Empfänglichkeit miteinander teilt. Neue metaphorische Beschreibungen können »zu Veränderungen unserer Gefühle für die empfundene Bedeutung« und unserer inneren »Landschaft« führen.19 »Erstarrte« Metaphern bilden hingegen feste Verbindungen zwischen Emotionen, körperlichen Bildern und Empathie; sie funktionieren gleichsam mit festen Verdrahtungen. Sie können zur routinierten Erzeugung kollektiver Emotionen von Menschen eingesetzt werden, die eine ähnliche Empfänglichkeit für bestimmte Stimmungen haben (z.B. in der Kirche, bei Feiern, bei Parteiveranstaltungen, im Fußballstadion). Charles Taylor verweist auf Wörter, »die wir im Rahmen der überlieferten Kultur übernehmen, [die] uns in emotional gesättigten Zusammenhängen von unseren Betreuern beigebracht [werden], so dass die betreffenden Bedeutungen für immer darin nachhallen« (S. 361). Unter diesem Aspekt stellt die Sprache eines Landes mit ihren charakteristischen metaphorischen Wendungen und der besonderen Bildsprache ihrer Dichtung ein Reservoir virtueller Haltungen und Bewegungen sowie empathischer Empfindungen bereit. Manche der bildlichen Ausdrücke sind aus der
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Friedrich Nietzsche: Ueber Lüge und Wahrheit im außermoralischen Sinne. Siehe auch das Kapitel 13 in diesem Band. Charles Taylor, ebd., S. 379.
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Wie wird man ein Mensch?
Literatur in die Umgangssprache übernommen worden, ohne ihren emotionalen Charakter einzubüßen.20 Wirkungsvolle Metaphern können durch Resonanzen im Inneren der Leser ein Gefühl von Zugehörigkeit hervorrufen.21 Selbst erstarrte Metaphern können Auslöser von nachhaltigen emotionalen Reaktionen werden. Sie sind also nicht in jedem Fall, wie Paul Ricoeur annimmt, »tote« Metaphern – sie können durch reflexhafte Reaktionen gleichsam
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Im Folgenden seien zwei der bekanntesten Beispiele aus der deutschen Dichtung angeführt, die man für eine Verständigung unter deutschen Lesern als typisch ansehen kann: »halb zog sie ihn, halb sank er hin« aus Heinrich Heines Loreley-Gedicht. Von dieser metaphorischen Wendung wird die Wirkung einer mythischen Frauenfigur mit subtiler Ironie in die poetische Sprache aufgenommen: Anziehung und Verderben. Von dem Phantasiebild, das sich an der gefährlichsten Stelle des Rheins mit einem geheimen Versprechen dem Schiffer zuwendet, wird dieser von der Steuerung seines Kahns in träumerischem Begehren abgelenkt: Er gibt sich der Liebe hin, wird zur imaginierten Frauenfigur hingezogen, sinkt hin: »da war’s um ihn gescheh’n«. – In Goethes Faust wird die entgegengesetzte Vorstellung in den Vers gekleidet: »das Ewig Weibliche zieht uns hinan«. Hier ist das Emporgezogen-Werden eine Bewegung in die Nähe des Göttlichen, ausgelöst vom »Weiblichen« als das Andere seiner selbst. Goethes Verse deuten das Platonische Motiv des gemeinsamen Aufsteigens aus Liebe um in eine Verklärung des weiblichen Prinzips. – In den Beispielen werden die Erfahrungen des Versinkens einerseits und des Aufsteigens andererseits körperlich spürbar. Mit ihnen werden zugleich Wertungen assoziiert: Vom Wasserstrudel wird man in die Tiefe gezogen, man bekommt keine Luft mehr, man verliert die Orientierung – in der Höhe hingegen werden Atem und Geist frei. In der deutschen Umgangssprache sind diese beiden Bewegungen mit ihren Assoziationen bis heute präsent. So wird z.B. mit dem Ausdruck »Ich atme durch« gesagt: ich bin wieder frei, ich kann wieder klar sehen. Der entgegengesetzte Zustand wird beschrieben mit den Worten: »versinken«, »untergehen«, »eine Zentnerlast auf den Schultern tragen«. In diesen Beschreibungen geht es um leib-seelische Befindlichkeiten, auf die die frühe deutsche phänomenologische Forschung ihre Aufmerksamkeit gerichtet hat (vgl. Ingrid Vendrell Ferran: Die Emotionen). Siehe auch Charles Taylors Grundthese, »dass wir uns einen Begriff von Sprache nur dann machen können, wenn wir ihre konstitutive Rolle im menschlichen Leben verstehen« (Charles Taylor, ebd., S. 495).
10. Verstehen durch Empathie
unterhalb der Bewusstseinsschwelle wirken: Patriotische Gefühle, Kriegsbegeisterung, traditionelle Feindschaft, Nationalismus, Rassismus, rituelle Bekenntnisse zur eigenen Gruppe funktionieren durch starre Verbindungen. Fast immer sind sie mit Assoziationen verbunden, die die andere Gruppen emotional zurückweisen. Dieser Blick auf die beängstigende, ja zerstörerische Seite von »toten« Metaphern ist nötig, um zu erkennen, dass unsere Sprache nicht nur eine »welterschließende« Funktion hat. Wilhelm von Humboldt, der diese Formel geprägt hat, dachte jedoch an die Fähigkeit lebendiger Metaphern, routinierte Diskurse für Neues zu öffnen. Wann immer ein Neuanfang gesucht wird, eine Abkehr von überkommenem Denken, von verkrusteten Strukturen, von veralteten Konventionen, kündigt sich die neue Zeit mit lebendigen Metaphern an. Sie transportieren in die Kommunikation einen Schwung, der dem Leben neue Energie gibt.
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III. Selbstvergewisserung
11. Wie können wir uns selbst erfassen?
Können wir unser Leben zweimal leben? Im Film kann so etwas vorkommen. Aber auch im wirklichen Leben können uns Situationen begegnen, die uns bekannt scheinen. Es ist dann so, als sei man in der Vergangenheit vorgesprungen und habe schon ein Stück Zukunft gelebt, das man nun in der Gegenwart einholt. Ist es möglich, dass es in uns Momente des Zukünftigen gibt? Oder umgekehrt, dass es unser gegenwärtiges Selbst schon gab, bevor es sich ausgebildet hat? Dieser Gedanke widerspricht gleich zwei unserer Grundüberzeugungen; zum einen unserer Vorstellung von der Strömungsrichtung der Zeit, zum anderen unserem Konzept der Entwicklung des Selbst einer Person. Wir leben in der Überzeugung, dass sich das Selbst in der Zeit entwickelt: dass die Person ihr Selbst von Zeitpunkt zu Zeitpunkt voranschreitend ausbildet. Wir wissen natürlich, dass die Konstruktion nicht kontinuierlich vor sich geht wie der Bau eines Hauses – es gibt Entwicklungssprünge, aber auch Zeiten der Stagnation und sogar Rückschritte, die bis zur Regression in die Kindheit gehen können. Gewiss scheint aber zu sein, dass wir unser Selbst im Nacheinander der Lebenszeit entwickeln. Wie könnte ein Selbst, oder auch nur Teile des Selbst, schon existieren, bevor die Person an dem Zeitpunkt angekommen ist, an dem es faktisch herausgebildet wird? Ganz abwegig scheint dieser Gedanke allerdings nicht zu sein. Es gibt beispielsweise Situationen, in denen wir schon vorher wissen, wie wir handeln werden, ganz so, als habe man sie schon einmal erlebt, obwohl sie in der Zukunft liegen. Die Vorstellung einer von der Vergangenheit in die Zukunft strömenden linearen Zeit, die Vorbedingung
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Wie wird man ein Mensch?
eines sich kontinuierlich entwickelnden Selbst ist, wird auch von merkwürdigen Erfahrungen wie jenen durchkreuzt, die Proust in seiner Darstellung der Verlorenen Zeit beschreibt. So wünscht sich der junge Marcel sehnsüchtig, die große Schauspielerin Berma auf der Bühne zu sehen;1 die Karten sind schon gekauft – da wird er krank; er muss zu Hause bleiben. Er hat sich bereits als Zuschauer im Theater sitzen sehen; seine Einbildungskraft hat ihm bis in die Details einen Eindruck von der Sprechkunst der Berma gegeben. Eines Tages, viel später, kommt es doch noch zum Theaterbesuch; nun macht er die eigenartige Erfahrung, dass er das Spiel der Berma nicht als ein neues Erlebnis zu erfahren vermag. Die sinnliche Präsenz der Schauspielerin ist ihm verschlossen, als würde seine in der Vergangenheit gebildete Imagination den gegenwärtigen Augenblick im Theater überdecken. Es ist ihm, als würde er eine enttäuschende Wiederholung einer schon gemachten Erfahrung erleben. Vom Verfehlen der Gegenwart des Selbst gibt Prousts Roman eine ganze Reihe von Beispielen.2 Die Enttäuschung seiner Romanfigur Marcel entsteht daraus, dass sie die Zukunft als eine bereits erlebte Zeit vorwegnimmt. In der Philosophie, die Prousts Roman entwickelt, wird ein anderes Modell als die lineare Zeitauffassung entworfen. Es spannt die Zeit zwischen Ewigkeit und Einmaligkeit auf: Zeit entsteht ausgehend von inneren »Essenzen«, die wir in unseren sinnlichen Erfahrungen vorbewusst aufnehmen, als Geschmack einer Madeleine oder gefühlte Bewegung eines wackelnden Pflastersteins auf dem Markusplatz in Venedig. Auf den Grund des Lebensstroms abgesunken, leben sie als inkorporierte Ideen weiter. Anders als bei Platon sind sie rein subjekti-
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Marcel Proust: A la recherche du temps perdu. Bd. I, S. 567. Siehe Gilles Deleuze in Proust et les signes, S. 34: »L’œuvre de Proust n’est pas tournée vers le passé et les découvertes de la mémoire, mais vers le futur et les progrès de l’apprentissage.« (»Prousts Werk ist nicht auf die Vergangenheit und die Entdeckungen der Erinnerung gerichtet, sondern auf die Zukunft und den Fortschritt der Erfahrung.« – eigene Übersetzung).
11. Wie können wir uns selbst erfassen?
ver Natur und können durch plötzlich geschehende Ereignisse in voller Sinnlichkeit wieder auftauchen.3 Bei Stendhal ist dieses Proustsche Motiv schon vorformuliert. Seine mit autobiographischen Zügen ausgestattete Romanfigur Henri Brulard erlebt die von ihm begehrte Welt immer wieder so, als habe er sie schon erlebt;4 und immer wieder löst das, was er vorher heiß begehrt hat, Enttäuschungen aus. Kennzeichnend für den Modus der projektiven Erfahrung ist sein Ausruf »Ce n’est que ça!«,5 mit dem er auf die lang erwartete Wirklichkeit reagiert. Man mag diese Beispiele mit dem Hinweis abtun, sie seien nichts anderes als Vorstellungen lebhafter Phantasie, die von der Wirklichkeit korrigiert werden. Aber sie zeigen, dass es offensichtlich ein Vor-Erleben von zukünftigen Erfahrungen geben kann, einen Vorgriff in der Zeit, der uns ein zukünftiges Geschehen imaginär im Jetzt erleben lässt, als würde es gerade geschehen.
Ist unser Selbst gesetzt? Meine Überlegungen richten sich im Folgenden nicht im Besonderen auf imaginäre Vorwegnahmen der Zukunft; es wird in erster Linie um die pragmatische Beziehung von Identität und Zeit gehen. Sie beziehen sich nicht auf das Verfehlen der Gegenwart, sondern auf ihre Bewältigung. Vor diesem Hintergrund will ich eine Behauptung diskutieren, die heute weitgehend angenommen wird: dass das Selbst einer Person performativ konstituiert wird. Wenn unser Selbst schrittweise in performativen Akten konstruiert wird, setzt man die Annahme eines linearen zeitlichen Prozesses voraus. Finden sich jedoch Hinweise darauf, dass 3
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Die »Essenzen« können in der ästhetischen Erfahrung erfahren werden. Es gibt sie also schon, bevor sie in der Rezeption eines Kunstwerks aktualisiert werden. Sie erzeugen also keine Wiederholungen, sondern konstituieren in der Kunstwahrnehmung eine differente Erfahrung jedes einzelnen Subjekts (vgl. Deleuze: ebd., S. 53). Stendhal: La vie de Henry Brulard. Für diese alltagssprachliche Wendung gibt es im Deutschen nur annähernde Übersetzungen, z.B. »Mehr ist das nicht?« oder »Das soll alles sein?«
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die Entstehung und Ausformung des Selbst nicht in der linearen Zeitfolge geschieht, ist diese Behauptung zu modifizieren. Im Konzept der performativen Selbstkonstitution steckt eine weitere Voraussetzung: Ein performativer Prozess ist eine Ereigniskette, die in einen komplexen Kontext integriert ist. Mit John Searle kann man diesen als »Hintergrund« bezeichnen, der von selbstverständlichen, nicht in Frage gestellten Ereignissen, sprachlichen Äußerungen und sozialen Strukturen gebildet wird. Der Begriff der Selbstkonstitution erweckt den Eindruck, als ob die handelnde Person ihre eigene Herausbildung bestimmen könnte. Das sich konstituierende Selbst kann jedoch keine den Prozess autonom steuernde Instanz sein, insofern sie auf den Hintergrund angewiesen ist: auf Sprache, Regeln, soziale Strukturen, Konventionen, rituelle Formen, Vorverständnisse etc.6 An der Konstitution des Selbst sind diese nicht weniger beteiligt als das handelnde Subjekt. Wenn man den Gedanken der performativen Erzeugung von Wirklichkeit ernst nimmt, ist das jeweilige Subjekt in diesem Geschehen sogar austauschbar: Seine Einzigartigkeit wird schon dadurch eingeschränkt, dass es durch ein anderes Subjekt ersetzt werden kann. Beim Vollzug der Taufe kann beispielsweise die Person, die ihn vollziehen soll, ohne Schaden für die Geltung der Prozedur durch eine andere autorisierte Person ersetzt werden. Eine solche Einschränkung der Einmaligkeit der Person macht durchaus Sinn, wenn man sie als Gegenposition gegen die einzigartige Stellung versteht, die das Subjekt in der philosophischen Tradition innehatte. Meine Gedanken werden von einer These ausgelöst, die weiter ausholt und mit größerer Wucht vorgetragen wird als der Gedanke des Vorgriffs auf die Zukunft durch unsere Einbildungskraft. Sören Kierkegaard entwirft in seiner Schrift »Die Krankheit zum Tode« folgende Überlegung: Das Selbst des Menschen liegt nicht in seiner Hand; es ist von Gott gesetzt. Aber dem Menschen ist es gegeben, ein bestimmtes Verhältnis zu seinem Selbst einzugehen. In seinem frei wählbaren Selbstverhältnis nimmt er zu sich Stellung: Er kann sein gesetztes Selbst annehmen; er kann es ablehnen; oder er kann sich anders entwerfen. 6
Siehe Kapitel 12 diesem Band:»Das Aufleuchten des Unverfügbaren«.
11. Wie können wir uns selbst erfassen?
Gott hat ihn »gleichsam aus seiner Hand losgelassen«.7 Nach Kierkegaards Einschätzung fällt die freie Wahl fast nie auf die erste Art des Selbstverhältnisses: Kaum ein Mensch nimmt sich so an, wie er gesetzt worden ist. Wenn er sein gesetztes Selbst erfasst, will er es nicht akzeptieren. Oder er verkennt es und sucht nach einem anderen Selbst, das er nicht selbst ist.8 In dieser Situation zwischen Ablehnung und Verkennung läuft der Mensch Gefahr, dass sein Selbst ganz verlorengeht, »und zwar so verloren, daß nicht das geringste davon zu spüren ist: die Ewigkeit wird es dann doch offenbar machen, daß sein Zustand Verzweiflung war, und ihm sein Selbst vernageln, daß die Qual doch bestehen bleibt, daß er sein Selbst nicht loswerden kann, und es offenbar wird, daß es eine Einbildung war zu meinen, es sei ihm geglückt.«9 Auch auf die Gefahr hin, gegen die Regeln der Philologie zu verstoßen, lasse ich Kierkegaards theologische Begründung seiner These beiseite und übernehme aus seinen Überlegungen einen zentralen Gedanken. Als Frage formuliert lautet er: Könnte es sein, dass unser Selbst gesetzt worden ist? Für diese Setzung würden wir heute wohl nicht Gott oder eine höhere Macht verantwortlich machen; aber wer oder was auch immer die setzende Instanz sei, sie würde dem Gedanken einer performativen Konstitution unseres Selbst widersprechen.
Bilden wir einen Entwurf des Selbst? Gegen den Gedanken des Gesetztseins spricht vieles, was wir heute für selbstverständlich halten. Wie könnte ein solches gesetztes Selbst aus 7 8 9
Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, S. 12. Kierkegaard setzt den Satz wie folgt fort: »und indem es es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, von der es gesetzt wurde« (S. 10). Kierkegaard fährt fort: »Und so muß die Ewigkeit verfahren, denn ein Selbst zu haben, ein Selbst zu sein, ist das Größte, das unendliche Zugeständnis, das dem Menschen gemacht ist, zugleich aber ist es eine Forderung der Ewigkeit an ihm.« (ebd., S. 18)
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dem Ablauf der Zeit herausgelöst sein? Das müssten wir annehmen; denn wenn unser Selbst gesetzt wäre, müsste es – als potentielles Selbst – schon existieren, bevor wir es erfassen und in unseren Akten verwirklichen können. Die Setzung müsste in einem Akt außerhalb unserer ablaufenden Lebenszeit, gleichsam über unseren Kopf hinweg geschehen. Selbst wenn dies möglich wäre, stellt sich die Frage: Wie könnte die Setzung auf unser aktuelles Leben einwirken? Unsere Fragen, mit denen wir die These des Gesetztseins in Zweifel ziehen, können uns auf ein Problem aufmerksam machen, das sowohl für die Konstitution des Selbst als auch für die Konzeption des Performativen entsteht. Das Problem taucht auf, wenn wir annehmen, dass der Prozess der Entstehung des Selbst nicht orientierungslos und zufällig geschieht, und wir uns fragen, wie diesem eine bestimmte Richtung gegeben werden kann. Eine weithin akzeptierte Annahme besagt, dass das Subjekt einen Entwurf von sich herstellt. Ein solches Sich-Entwerfen geschieht in der Zeit und bildet gedanklich vor, wie das Selbst in der Zukunft sein wird. Von Bedeutung kann dieser Entwurf allerdings nur sein, wenn er auf das Subjekt einwirkt und es veranlasst, nach dessen Verwirklichung zu streben. Wie kann ein Entwurf die zukünftigen Prozesse der Bildung dieses Selbst beeinflussen? Wie kann ein Selbst in seiner je besonderen Lebenssituation darauf hinwirken, dass es in der Zukunft ein anderes Selbst sein wird? Man kann auf diese Frage mit einer starken und einer schwachen These antworten. Nach der starken These wirkt der Entwurf vom zukünftigen Selbst auf das Selbst in der Gegenwart zurück. Mit dieser Behauptung würde man eine teleologische Kausalität annehmen: Der Zielzustand der Entwicklung wäre die Ursache des Prozesses, durch den das Selbst entsteht. Wissenschaftstheoretisch kann es eine aus der Zukunft auf die Gegenwart wirkende Kausalität nicht geben.10 Man könnte die Behauptung relativieren und (immer noch als starke These) annehmen, dass das aktuelle Selbst ein Bild von seiner zukünftigen Beschaffenheit gedanklich herstellt und sich bei seiner Tätigkeit von diesem leiten 10
Zur Kritik vgl. Wolfgang Stegmüller: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung. Bd. I.
11. Wie können wir uns selbst erfassen?
lässt. Aristoteles stellt sich so die Arbeit des Bildhauers vor, der ein genaues Bild, ein eidos, der Statue entworfen hat, die er gerade anfertigt – das Bild führt ihm dabei die Hand. Aber die Annahme eines Führens der Tätigkeit durch ein inneres Bild ist auch wieder problematisch: Wie kann ein gedanklich existierendes Bild ein praktisches Handeln leiten? Im Übrigen widerspricht eine solche teleologische Konstruktion den Vorstellungen, die wir uns von der Entwicklung des Selbst in einem zeitlichen Geschehen machen. In der Vielfalt der Lebensereignisse und unter Einfluss der empirischen Lebensbedingungen würde der ursprüngliche Entwurf vermutlich verändert werden. Selbst wenn sich die Kraft der Zielvorstellung – was unwahrscheinlich ist – kontinuierlich erhalten bliebe, müsste ihre Richtung gegenüber den Veränderungen des Selbst, die sich im faktischen Bildungsprozess ergeben, immer wieder von neuem justiert werden. So bleibt beispielsweise der Habitus eines Handelnden unter dem Einfluss neuer Erfahrungen nicht identisch, sondern passt sich unmerklich, aber kontinuierlich der Umgebung an. Wenn in Autobiographien bedeutender Persönlichkeiten von einem Entwerfen seiner selbst die Rede ist, handelt es sich fast immer um eine Konstruktion ex post; sie ist ein Fall der »biographischen Illusion«.11 Eine direkte Wirkung eines Entwurfs oder einer Zielvorstellung auf die Bildung des Selbst ist aus theoretischen Gründen nicht möglich. Betrachten wir die schwache These: Für den gesamten Prozess können wir zwar kein einheitliches Ziel voraussetzen, das der Selbstkonstitution vorgegeben ist. Wir können aber vermuten, dass sich im Verlauf der Entwicklung eine Folge von Teilzielen bildet, die der Person eine Orientierung gibt. Auch diese Annahme stößt auf eine Schwierigkeit: Wie geschieht es, dass das handelnde Subjekt sein Selbst im Entwicklungsprozess ständig an einzelnen Teilzielen orientiert? Vergleicht es seine Aktivität mit seiner Vorstellung, die das jeweilige Teilziel repräsentiert, um zu erkennen, was dessen Realisierung aktuell erfordert? Wenn man dies annimmt, gerät man in das von Wittgenstein analysierte Problem
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Vgl. Pierre Bourdieu: »Les illusions biographiques«.
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des Regelfolgens:12 Das tätige Subjekt vergleicht sein Handeln mit den mentalen Repräsentationen zukünftiger Zustände. In einem solchen inneren Prozess gibt es jedoch keine Kriterien für die Richtigkeit des Vergleichs. Wenn man einer – geistigen – Vorstellung die Kraft zuschreibt, praktisches Handeln zu leiten, gerät man in das Problem, dass der angenommene Abgleich des Handelns mit gedanklichen Repräsentationen seine Richtigkeit nicht garantieren kann.13 Nach Wittgenstein heißt das nichts anderes, als dass es eine verlässliche Anleitung nicht geben kann. Ziehen wir eine Zwischenbilanz: Die beiden Konzepte des Gesetztseins und des Selbstentwurfs heben die Kohärenz des Selbst hervor. Beide sind höchst unbefriedigend: Die setzende Instanz befindet sich außerhalb der ablaufenden Zeit. Der Selbstentwurf ist nicht in der Lage, seine Verwirklichung zu steuern oder anzuleiten. Die Probleme beider Positionen kann man allerdings vermeiden, wenn man sich entschließt, das Subjekt als handelnde Instanz einzuführen, nicht jedoch als gesetzte oder entwerfende. Dem Handeln des Subjekts kann man eine gewisse Vorwegnahme der Zukunft zugestehen, ohne ihm teleologische Wirkungen zuzuschreiben. Wie das Handeln beschaffen ist, wird noch zu diskutieren sein. Auch einen Entwurf von sich selbst kann man ihm zusprechen. Er führt jedoch nicht sein Handeln; vielmehr ist er eine unabgeschlossene und veränderliche Vorstellung von sich selbst, die das Subjekt durch sein Handeln bildet. Diese Annahme soll im Folgenden weiter verfolgt werden.
Die drei Ebenen der Bildung des Selbst Welche Bedingungen müssen im sozialen Leben und in der Entwicklung eines Individuums erfüllt sein, damit es ein Selbst bilden kann? Drei Ebenen lassen sich unterscheiden, die mit Hilfe philosophischer,
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Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 258. Siehe in Kapitel 12 diesem Band »Das Aufleuchten des Unverfügbaren«.
11. Wie können wir uns selbst erfassen?
soziologischer und entwicklungspsychologischer Annahmen gekennzeichnet werden können. Im Folgenden werden sie zunächst kurz vorgestellt und anschließend im Detail diskutiert. Die Ebenen sind: (1) das Selbst in seinen Handlungen, (2) das Bewusstsein von den eigenen Handlungen und Gefühlen, (3) das Selbstbewusstsein. (1) Das Selbst in seinen Handlungen erweist sich im Können und in den Fertigkeiten, die in seinen Handlungen zum Ausdruck kommen. Im ersten Schritt wird das Handeln von einem Sinn für praktische Angemessenheit gesteuert, die Pierre Bourdieu praktischen Sinn, sens pratique, nennt.14 Mit dieser Bezeichnung weist er darauf hin, dass ein solches Handeln nicht einfach automatisch abläuft, sondern ein intelligenter Vollzug ist, der die Anforderungen und Regeln der jeweiligen Praxis erfasst und verwirklicht. Ein Selbstverhältnis wird noch nicht ausgebildet. Ebenso wenig wird eine reflexive Distanz zu sich selbst eingenommen. (2) Das Bewusstsein von den eigenen Handlungen und Gefühlen entsteht, wenn das Subjekt gemeinsam mit den anderen Handelnden eine symbolisch konstituierte Welt herausbildet. Auf dieser Stufe erfasst es die Intentionen von anderen Handelnden und seine eigene Stellung im Raum des gemeinsamen Handelns. Es begreift, dass dieser mehrperspektivisch organisiert ist und es selbst darin eine subjektive Position einnimmt, die sich von den Perspektiven der anderen unterscheidet. Zum Verständnis der Verschiedenheit der Perspektiven gehört auch, dass es sich selbst von außen betrachten, also objektivieren kann. Insbesondere seine Gefühle kann es nicht nur aus der eigenen, sondern auch aus der Perspektive der Anderen erfassen.15 Im Raum der Mehrperspektivität wird Verständlichkeit des Handelns und der eigenen Gefühle sowie Übereinstimmung mit anderen angestrebt.
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Siehe Pierre Bourdieu: Le sens pratique. Vgl. Kapitel 5 in diesem Band »Die Zweite Natur als Habitus.« Ausgeführt in Gunter Gebauer, »Wie können wir über Emotionen sprechen?«, in: Gunter Gebauer/Manfred Holodynski/Stefan Koelsch/Christian von Scheve: Von der Emotion zur Sprache, S. 14-84.
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(3) Das Selbstbewusstsein entsteht durch das Erfassen des Selbst im gemeinsamen Raum der Mehrperspektivität und durch die Erfahrung seiner Kohärenz. Mit diesem Schritt wird die Erfahrung des Selbst als einer »irreduziblen Singularität« gebildet.16 Herausragendes Merkmal der Selbsterfahrung des Subjekts sind die sozialen Gefühle, insbesondere das Gefühl, mit sich und den Anderen übereinzustimmen oder, im Gegenteil, im Dissens zu leben. Die Beschäftigung des Subjekts mit sich und seinem Verhältnis zu den Anderen wird zu einem eigenen Gegenstand der Reflexion. Das Selbst kann Anlass eines besorgten Nachdenkens über sich selbst werden, die es zu einer Selbstsorge (Foucault)17 ausgestalten kann. Die Mithandelnden treten in der Reflexion des Selbst als andere auf, die ihrerseits ein Selbst haben, und in gemeinsamem Handeln mit ihm verbunden sind. So kommt es zu einer Überschneidung von Erfahrungen, Kenntnissen, Einsichten, Gefühlen bei Ich und anderen. Auf der dritten Ebene wird der gemeinsame Raum ausgestaltet, in dem über die Wahrheit des Sprechens, über das Selbst und sein Verhältnis zu den Anderen entschieden werden kann. Auf den drei Ebenen formt und erfährt sich das Selbst, drückt sich auf je unterschiedliche Weise aus und passt sich in seine gesellschaftliche Umgebung ein. Wir werden sehen, dass auf den drei Ebenen unterschiedliche Zeitverhältnisse bestehen. Man kann annehmen, dass diese in der ontogenetischen Entwicklung nacheinander durchlaufen werden und auf der jeweils später konstituierten Ebene fortbestehen. Im Folgenden werden die drei Stufen im Einzelnen diskutiert.
Das Selbst in seinen Handlungen Erste Ebene: das Selbst in seinen Handlungen. Auf der ersten Stufe ist das Selbst in seine soziale Praxis eingepasst. Der Handelnde hat in einer Situation etwas zu erledigen; seine Wahrnehmungen und Handlungen geschehen in einem »Verweisungszusammenhang« der Dinge 16 17
Donald Davidson: Subjektiv, intersubjektiv, objektiv. Siehe Michel Foucault: Histoire de la sexualité und L’herméneutique du sujet.
11. Wie können wir uns selbst erfassen?
und der Aufgaben.18 Sie werden mit Mitteln bearbeitet, die von vergangener Erfahrung, Übung, Training, Lernen und dem je aktualisierten praktischen Sinn bereitgestellt werden. Handlungen werden nach einer eingeübten, immer wieder neu angepassten Logik der Praxis, einer Praxeologie,19 vollzogen. Die Zeit ist Handlungszeit; sie wird von den Aktivitäten der handelnden Subjekte organisiert. Sie verläuft linear, mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Im Handeln nehmen wir keine reflexive Haltung zum Selbst ein. Unsere Aktivitäten sind im Tun, Sprechen und im Vollzug der Praxislogik an uns selbst gebunden. Die Einstellungen unserer Person zum Handeln und seinen Objekten spielen aber schon hier eine wesentliche Rolle – in der Wahl unserer Handlungen, in unseren Gefühlen, in der Strukturierung und im Verständnis von Situationen sowie ihrer möglichen ethischen Bewertung. Das Subjekt verinnerlicht sie als Dispositionen und organisiert sie zu einem inneren Netz virtueller Handlungen. In Anwendungssituationen werden sie in Handlungen verwirklicht und aktualisiert. Sie sind Teil des Habitus, den das Subjekt im Verlauf seines Aufwachsens, seiner Ausbildung und Beteiligung an sozialen Handlungsfeldern bildet. Auf dieser Ebene wird der Habitus im Handeln praktisch erfasst, an seinen materiellen sowie symbolischen Aspekten wiedererkannt und an neue Situationen angepasst. In seinem sozialen Handeln und Urteilen verwirklicht das Subjekt die kohärente und systematische Struktur seines Habitus. Bourdieu denkt dieses als ein soziales Selbst, das sich in seinen distinkten Akten nach Herkunft, Bildungsgang, Beruf, sozialem Geschmack unterscheidet.
Bewusstsein und Reflexion Zweite Ebene: das Bewusstsein und die Reflexion der eigenen Tätigkeit. Auf der zweiten Ebene öffnet sich das handelnde Subjekt gegenüber 18 19
Arnold Gehlen: Der Mensch, siehe Kapitel 10 in diesem Band. Siehe Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis.
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den Anderen und wird aufmerksam auf die Gemeinsamkeit mit ihnen. Zusammen bilden sie einen Raum geteilter Aufmerksamkeit heraus, werden fähig, die Intentionen anderer zu erfassen (Tomasello)20 und sich ihnen verständlich zu machen (Davidson).21 Mit zunehmender Aufmerksamkeit für die Anderen werden die eigenen Absichten und jene ihrer Mithandelnden explizit gemacht. In kommunikativen Akten teilen sie anderen mit, worum es in ihrem Handeln geht, und artikulieren ihre Absichten. Bei der zweiten Stufe handelt es sich nicht um eine Metaebene, sondern um etwas anderes: Was man tut, wie man etwas behandelt, bezeichnet, bewertet, wie man es wahrnimmt und empfindet – vieles von dem, was auf der ersten Stufe selbstverständlich vollzogen wird, kann auf dieser Ebene ausgesprochen, verdeutlicht, mit den Augen von anderen gesehen und vorhergesagt werden. Der Handelnde nimmt sich hier in einem Kontext von Erwartungen, Blicken, Aufforderungen wahr: Er sieht sich als Teil eines komplexen Spiels. Innerhalb dieses Spiels erzeugt er Perspektiven, mit denen er die Anderen als Teil eines komplexen Netzes von Blickweisen wahrnimmt – eines Gewebes, zu dem auch er selbst gehört. Das Subjekt tastet mit seinen Blicken das Tun der Anderen auf Hinweise ab, die ihm Aufschluss über deren Absichten, Gefühle, Haltungen, Einstellungen geben. Auf diese Weise wird das soziale Universum der Aufmerksamkeit des handelnden Subjekts um die Position der anderen Subjekte erweitert, die sich ebenso verhalten, ähnlich denken, beabsichtigen etc. wie das Subjekt selbst. Nach Davidson entsteht hier die Instanz der zweiten Person. In dem System der Perspektiven,22 das mit der zweiten Person entsteht, nimmt das Subjekt sich als den Anderen ähnlich, aber auch aufgrund seiner Position im Raum der Perspektiven als von diesen unter20 21
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Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens; ders.: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Zum Begriff der zweiten Person siehe Donald Davidson: Subjektiv, intersubjektiv, objektiv. Das Konzept Davidsons wird in Kapitel 6 »Die Geste als Vermittlung von Allgemeinheit und Ich« dieses Bandes dargestellt. Vgl. George H. Mead: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus.
11. Wie können wir uns selbst erfassen?
schieden wahr. Foucault zeigt, dass das Selbst im Perspektivennetz moderner Gesellschaften, die Abweichungen von Normalität ausspäht, zu einem Objekt kontinuierlicher Beobachtung wird.23 Auch der Habitus einer sozialen Klasse oder Gruppe erfordert, dass bestimmte Normen eingehalten werden. Normerfüllung kommt durch Einübung in die gleichen erwarteten Verhaltensweisen zustande.24 Ein von Bourdieu bevorzugtes Beispiel sind die Tischsitten bürgerlicher Familien: Den Kindern wird durch Vorbilder und explizite Maßregeln in Modellform eine idealisierte Darstellung des »guten Tischverhaltens« vor Augen geführt. Das Bild einer Norm stellt kein konkretes Handeln dar. Es ist aus der Zeitfolge des Handelns herausgenommen und bildet eine eigene Zeit – die Prozesszeit eines isoliert betrachteten Ausschnitts eines Handelns, der zu späteren Zeitpunkten erinnert wird. Das erinnerte Bild wird nicht als unbewegtes Bild im Gedächtnisspeicher aufbewahrt wie eine stillgestellte Filmszene. Erinnerung funktioniert auf der zweiten Ebene dynamisch, als ein Aktivieren normativ wirkender Bilder. Ihr Prinzip ist die Wiederholung, die sich sensibel an neue Gegebenheiten anpasst. Für die handelnden Subjekte sind diese bildhaften Ausschnitte in einer neuen Situation das schon Bekannte und das Neue zugleich. Die aus dem Zeitfluss herausgehobenen Bilder bewahren ihre Bindungen an jene Zeit, in die sie einmal eingebettet waren: Durch Zeitschleifen werden sie mit neuen Lebenssituationen verbunden. In der aktuellen Gegenwart gewinnen sie eine Lebendigkeit, die dem Subjekt den Eindruck gibt, als durchlebe es noch einmal eine längst vergangene Situation. Wiederholungen von bereits gelebten Ereignissen durch Zeitschleifen wirken nicht nur normativ; sie geben unserem Leben auch eine emotionale Grundierung. Auf der unteren, ersten Stufe erfasst sich das Selbst noch nicht in seiner Besonderheit. In der kommunikativen Welt der zweiten Stufe gewinnt es einen Ort im Zentrum des Sprachspiels: Es ist die Instanz, die
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Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Dies geschieht insbesondere in der Kindheit durch Prozesse, die von der Entwicklungspsychologie »Regulation« genannt werden, vgl. Manfred Holodynski: Emotionen – Entwicklung und Regulation.
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als Ich spricht und handelt. Es ist auch die Instanz, welche die Sprache mit den Personalpronomina Ich, Wir gezielt einsetzt. Als sprechendes und sich erinnerndes Ich holt es die Vergangenheit in die Gegenwart. Es löst Bilder aus dem Kontext früherer Erlebnisse und aktiviert ihre normative und emotionale Ladung. Auf den ersten Blick mag es den Anschein haben, als ginge es hier um private Erlebnisse, die nur vom Sprecher verstanden werden können. Auf der zweiten Ebene gehört die Erinnerung jedoch in die von der Gemeinschaft gebildete symbolische Zwischenwelt. Die von ihr ausgelösten emotionalen Erlebnisse sind Teil des öffentlichen Verhaltens des Subjekts; sie sind an gesellschaftliche Symbolgebräuche gebunden und können mit Wörtern unserer Sprache ausgedrückt werden. Ebenso wenig wie auf der ersten Stufe ist auf der zweiten Ebene mein Fühlen ein Gegenstand von Erkenntnis: Dass ich glücklich bin, weiß ich nicht – ich bin glücklich. Der Maßstab, auf den ich mich beim Fühlen einer Emotion beziehe, bin ich selbst. Es gibt keine darüber «,hinausgehende Berufungsinstanz«.25
Selbstbewusstsein Dritte Ebene: Das Selbstbewusstsein. Im Raum der Kommunikation nehmen die einzelnen Subjekte spezifische Positionen ein, von denen sie auf das gemeinschaftliche Geschehen blicken. Ihre Blickweisen fügen sich, auch wenn die Subjekte autonom erscheinen, zu einem intersubjektiven System sich überkreuzender Perspektiven zusammen; dies geschieht auf der zweiten Ebene. Auf der dritten Ebene kommt nun eine wesentliche Neuerung hinzu: Zum einen bildet das Subjekt ein Wissen darüber, dass es ein solches Perspektivensystem gibt, dass es von den Anderen gesehen wird und dass es darin eine eigene Position einnimmt. Es wird fähig, sich in seiner Besonderheit zum Objekt von Reflexion zu machen, zuerst vom äußeren Blickpunkt eines Anderen, dann als Gegenstand seines selbständigen Denkens.
25
Donald Davidson in einem vergleichbaren Kontext, ebd., S. 161.
11. Wie können wir uns selbst erfassen?
In der Kommunikation mit ihrer perspektivischen Anlage bildet das Subjekt ein Selbstverhältnis. Allerdings ist die Organisation der unterschiedlichen Blickweisen nicht die einzige Voraussetzung für die Reflexion des Subjekts über sich selbst. Sie allein würde nicht dafür ausreichen, dass es sich zum Gegenstand seiner gedanklichen Auseinandersetzung machen kann. Hier zeigen sich die Grenzen der von George H. Mead und Ludwig Wittgenstein vorgeschlagenen Spielmodelle. In diesen ist kein Raum für die Geschichte des Subjekts. Beide Modelle beschränken sich auf die Spielrollen von Ich und Mitspielern. Die in der Lebensgeschichte erworbenen und in der Erinnerung aufbewahrten Bilder werden ausgeblendet. Im Modell des Spiels fehlt, was das Subjekt aufgrund seiner Lebensgeschichte zu einer besonderen Person macht. In die Reflexionen des Subjekts über sich selbst gehen insbesondere die Zeitschleifen ein, von denen Bilder und Erfahrungen aus der Vergangenheit in die Gegenwart geholt werden. Mit der Rückwendung zu früheren lebensgeschichtlichen Situationen werden seine Erinnerungen an vergangenes Wahrnehmen, Fühlen und Beurteilen aktualisiert. In der je aktuellen Situation des Subjekts gehören diese Bestandteile seines Lebens zum Hintergrund des Bewusstseins seines Selbst. Wenn es keine Erinnerung seiner Vergangenheit in die Gegenwart holen würde, könnte es kein Bewusstsein seines Selbst entwickeln. Was bedeutet es, dass sich der Hintergrund des Selbst in der Lebensgeschichte des Subjekts konstituiert? Zum einen gehen in das Selbst Erinnerungen und Erfahrungen ein, die das Leben des Subjekts bis in die jeweilige Gegenwart grundlegend strukturiert haben. Sie sind grundlegend in dem Sinn, dass sie in seinem Denken eine andere Rolle spielen als Erfahrungstatsachen, die so oder auch anders sein können. Das Subjekt kann sich nicht einmal vorstellen, dass sie anders sein könnten – sie sind seine anthropologischen Bedingungen. Sie gehören zu den Voraussetzungen seines Selbst. Von dieser Überlegung werden zwei Deutungen des Selbst getroffen, die sich diametral gegenüber stehen: der Gedanke der Beliebigkeit des Selbst und der für viele nicht weniger verführerische Gedanke der freien Verfügbarkeit des Selbst.
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Im Laufe des Lebens eines Subjekts kann sich sein Hintergrund unmerklich verändern. Wenn er aber einmal gebildet worden ist, kann das Subjekt nicht frei darüber verfügen. Die Sätze, mit denen wir den Hintergrund ausdrücken, haben zwar die Form von Erfahrungssätzen; sie können aber nicht bestätigt oder widerlegt werden, insofern sie Erfahrung überhaupt erst ermöglichen, auch die Erfahrung des Subjekts seiner selbst. Nach Wittgenstein sprechen sie Gewissheiten aus.26 Gewissheiten werden nicht gewusst, sondern geglaubt. Ich bin durch den Glauben an die Gewissheiten meiner Sprachgemeinschaft in meinen »Lebensteppich« eingewoben; hier hat mein Selbst seinen Ort.27 Es gibt also Elemente meines Selbst, die schon existieren, bevor ich ein Bewusstsein meines Selbst bilde. Wenn man diese Vor-Existenz als eine »Setzung« bezeichnen will, dann im Sinne der vorangehenden Überlegungen: Ich »setze« mich auf den ersten beiden Ebenen durch meine Tätigkeit, meine Erfahrung, meinen Habitus, meine Position im Sprachspiel sowie durch das Bewusstsein meiner Handlungen und des Perspektivennetzes. Auf der dritten Ebene hole ich mit Zeitschleifen Bilder und Erfahrungen in die Reflexion über mein Selbst. Keine fremde Macht setzt mich. Die Bedingungen jedoch, die es mir ermöglichen, meine Erfahrungen und Zeitschleifen zu strukturieren und zu deuten, gehören nicht allein mir selbst. Sie sind nicht ausschließlich ein Teil von mir, wie das Gehirn ein Teil von mir ist. Sie befinden sich zwischen mir und den Anderen. Die Sprache, das Perspektivennetz und die Gewissheiten liegen zu einem Teil außerhalb von mir. Mit meinem Körper, meiner Lebensgeschichte und meinem Sprechen habe ich sie jedoch verinnerlicht. Ich bin es, der die Gewissheit meines Selbst hat. Gewissheit ist eine wesentliche Vorbedingung der Konstruktion von Wissen. Ihr gegen26
27
Siehe Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit; hier setzt er sich mit der Annahme G. E. Moores auseinander, dass es Erfahrungssätze gebe, die wir nicht in Zweifel ziehen können. Wittgenstein stellt klar, dass die von Moore zitierten Beispiele nur die Struktur von Erfahrungssätzen hätten, tatsächlich aber Gewissheiten ausdrücken, die wir so und nicht anders denken können. Siehe Ludwig Wittgenstein: Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie I, § 406.
11. Wie können wir uns selbst erfassen?
über stellt sich für das Ich nicht die Frage des Irrtums. Das ist die eine Seite des Selbstbewusstseins. Auf der anderen Seite ist es für das zoon politikón notwendig, den Glauben an sein Selbst anderen Menschen gegenüber kommunikativ auszudrücken. In der Kommunikation mit anderen müssen seine Äußerungen gegen Irrtum gesichert werden. Sein Selbstbewusstsein gehört also zwei Seiten an. Die eine Seite wird von der Gewissheit seines Selbst aufgespannt. Die andere Seite gehört zu der Welt des Sprachspiels, die das Subjekt mit den Anderen teilt. In der Entwicklung des Selbst und des Selbstbewusstseins entsteht eine Fülle von Vermittlungen zwischen beiden Seiten. Sie machen die Grenze zwischen beiden durchlässig.
Soziale und subjektive Identität Am Ende dieses Kapitels sollen die verschiedenen Stränge der hier entwickelten anthropologischen Konzeption zu einem Entwurf der subjektiven Identität zusammengefügt werden. Wie konstituiert das Subjekt sein Selbst? Aus welchen Elementen setzt sich dieses zusammen und wie wird es zu einem dauerhaften Konstrukt, das dem Handeln ein verlässliches Fundament geben kann? Fragen dieser Art werden von der Philosophischen Anthropologie, wenn sie überhaupt gestellt werden, mit Verweis auf den menschlichen Geist beantwortet. In den Überlegungen dieses Kapitels ist ein vorher nicht erwartetes Ergebnis entstanden: Die in objektivierender Beschreibung verwendeten Konzepte des Habitus, des praktischen Sinns und des Körpers, der Emotionen, der Gewissheit haben einen genuin temporalen Charakter. Sie sind durch die Entwicklung und Erfahrung des handelnden Subjekts, durch Erinnerung, Zeitexklaven und Zeitschleifen, durch Antizipation und Zukunftsprojektion zeitlich strukturiert. Die subjektive Identität des Ich ist im Fluss. Sie entsteht und verändert sich in Prozessen der Regulierung und des Abgleichens, der Kontrolle und Korrektur durch die Sprachgemeinschaft. Ohne den Entwurf einer sozialen Identität ist sie in Gefahr, beliebig und damit leer zu werden. Ihre Formung geschieht in Sprachspielen: mit der sozialen Prägung durch Normen, durch das ge-
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sellschaftliche Gedächtnis, durch die Übereinstimmung in den Urteilen und die Forderung von innerer Kohärenz des Selbst-Entwurfs. Soziale Identität ohne Gedächtnis, Bilder, ohne Erfahrung der Vergangenheit und Zukunftsprojektionen, ohne Gewissheit und ohne den Bezug auf den »Lebensteppich« ist in Gefahr, blind zu werden. Die soziale und die subjektive Identität stützen und ergänzen einander. Im Falle eines Konflikts stellen sich beide Identitäten gegenseitig in Frage. Die soziale Identität beharrt darauf, dass unsere Existenz Teil der (von uns unabhängigen) aktuellen Gegenwart ist, selbst wenn wir fähig sind, Zeitschleifen und Zeitexklaven mit Hilfe von Erinnerungen, Phantasien, Träumen zu erzeugen. Im Raum des Sprachspiels ist kein Platz für eine höhere Instanz, die uns »setzt« und auf diese Weise bestimmt, wer wir sind oder wer wir werden. Unsere soziale Identität veranlasst uns, das Ich zu sein, das im Sprachspiel als Ich in seinem Namen spricht. Hingegen besteht unsere subjektive Identität auf ihrer Zuständigkeit dafür, wie wir uns sehen und was wir aus uns machen. Es ist ganz allein seine Sache, was das Ich sagt, welchen Standort es einnimmt, welchen Diskurs es wählt. Im Ich sind sein gelebtes Ich und seine Vorstellungen über seine Zukunft enthalten. Die Konstruktion der subjektiven Identität ist kein linearer Prozess, in dem sich die Elemente mehr oder weniger automatisch zusammenfügen. Kohärenz und Festigkeit des Ich sind Errungenschaften, die gegen Tendenzen gewonnen werden müssen, die es zu zerstreuen oder gar aufzulösen drohen. Unterstützung kann sein Kontinuitätswille von seiner sozialen Identität erhalten, insbesondere von der Übereinstimmung in den Urteilen, dem Perspektivensystem der Sprache und dem gemeinsamen Hintergrund. Diese für seine kontinuierliche Existenz notwendigen Beiträge erhält das Ich durch Kräfte, an denen die Sprache, die Interaktionen mit anderen und sein Habitus wesentlich beteiligt sind. Auch seinen Gefühlen geben diese eine – relative – Konstanz, wenngleich sie nicht gegen Störungen, Irritationen und Enttäuschungen geschützt ist. Marcel Proust fasst diese Tendenzen mit dem Ausdruck intermittances du coeur, »Unzuverlässigkeit des Herzens« zusammen. Sie durchlöchern von innen die äußere Schale der festen Sozialbeziehungen und institutionellen Sicherungen und Bindungen.
11. Wie können wir uns selbst erfassen?
Wenn es eine geistige Steuerungsinstanz des Lebens gäbe, wie Plessner sie entwirft, als eine Art inneren Piloten, der ein Wissen über den Zustand des Ich besitzt und darüber, wie man dieses auf Kurs hält, würde die Zeitlichkeit der Identität überwunden werden.28 Eine solche innere Funktion, die eine gezielte »Selbstsorge« (Foucault)29 einsetzen würde, kann nach den Überlegungen dieses Kapitels jedoch nicht angenommen werden. Sein Inneres ist dem handelnden Ich nicht direkt verfügbar. In den konservativen Gesellschaftsmodellen der Vergangenheit wurde diese Leistung wie selbstverständlich dem souveränen Subjekt zugetraut. Dass es sich dabei um eine Wunschvorstellung handelte, wird in den großen europäischen Romanen des 19. Jahrhunderts von Goethes »Wahlverwandtschaften« bis Flauberts »Madame Bovary« und Henry James’ »Portrait of a Young Lady« eindrucksvoll dargestellt. An die Stelle des einfachen Modells einer Arbeitsteilung von subjektiver und sozialer Identität sind im 20. Jahrhundert vielfältige und komplexe Verflechtungen getreten.
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Helmuth Plessner: »Der imitatorische Akt«, insbesondere S. 453. Michel Foucault zeigt, wie in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten von kirchlichen Institutionen und Autoritäten ein System der »Seelenleitung« eingeführt wurde, das eine Lenkung der Gläubigen durch »Wahrheitsprozeduren« ermöglichte, zu denen insbesondere die Beichte und das Bekenntnis gehörten. Siehe Michel Foucault: Die Regierung der Lebenden.
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Menschen sind gesellschaftliche Wesen – in der Gesellschaft sind wir jedoch nie ganz wir selbst. Wir erfüllen die Anforderungen, die an uns gestellt werden, die Verpflichtungen im Berufsleben, gegenüber der Familie, den Freunden und Kollegen. Auch wenn wir diese selbst von uns verlangen, tun wir es vor einem Horizont von Regeln, Normen, Konventionen, Erwartungen. Ohne diesen wüssten wir gar nicht, wer wir sind. Ist unser Sein vielleicht das, was wir sein sollen? Enthält die Rede vom zoon politikón vielleicht untergründig einen Imperativ: Sei als Tier, das du bist, ein gesellschaftliches Tier, und nichts anderes! Für den Verdacht, dass wir unter einem solchen Imperativ leben, spricht das Gefühl, dass die uns gestellten Anforderungen uns nicht zu dem gelangen lassen, was wir selbst sein wollen. Können wir dennoch annehmen, dass es am Grunde von uns selbst etwas Unverfügbares gibt, das sich den Anforderungen anderer Menschen und den Normen der Gesellschaft entzieht? In der Rollentheorie der Soziologie findet man den Gedanken, dass es eine Instanz gibt, die ausschließlich dem Subjekt in seinem Handeln verfügbar ist. Auf den ersten Blick scheint sie das Gegenteil davon zu behaupten: Handelnde spielen gesellschaftliche Rollen – nicht nur eine, sondern unterschiedliche Rollen in vielen verschiedenen Situationen. Doch steckt in dieser Behauptung die implizite Annahme, dass es ein Inneres gibt, das die multiplen Rollen zusammenhält – das ureigene Ich des handelnden Subjekts, das diesem in seinen verschiedenen Erscheinungsweisen in der Gesellschaft eine Einheit gibt. Habe ich es als Handelnder nicht in der Hand, welche Rolle ich in einer Situation spiele und wie ich sie ausgestalte? Wenn ich ein Tagebuch geschrieben
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hätte und es mir, nach vielen Jahren durchlesen würde, könnte sich meinem Blick etwas zeigen, was sich durch die Zeit hindurchzieht, etwas Verbindendes, das als ein Unverwechselbares und Bleibendes meiner Person angesehen werden könnte. Etwas, was zwischen den Seiten des Tagebuchs existierte und das nur mir verfügbar wäre, ein Grund meiner selbst. Gewiss verändere ich mich im Laufe der Zeit, aber ich könnte wohl in meinem Tagebuch eine Selbstähnlichkeit vorfinden, in der ich mich wiedererkennen und die verhindern würde, dass ich mir selbst fremd wäre.
Der subjektive Weltbezug Mit Ludwig Wittgensteins Sprachspiel-Begriff1 kann man dieses verbindende Band wie folgt beschreiben: Wir befinden uns immer in einem Sprachspiel. Als Beteiligte in einem Sprachspiel sind wir uns selbst verfügbar, insofern wir wissen, dass wir in einem bestimmten Spiel sind. Wir wissen außerdem, dass wir es sind, die dieses Spiel spielen. Wir sind Herren des Spiels, insofern wir entscheiden, dass wir es spielen und es auf unsere Weise spielen. Die Spielpartner suchen wir uns meistens selbst aus; und wenn sie uns nicht zusagen, wechseln wir sie und suchen uns neue Partner. In all den Veränderungen, die wir bewirken, kommt etwas zur Erscheinung – ein Zentrum, das für andere nicht zugänglich ist. Dieses für andere Unzugängliche wird von mir selbst gesetzt; es macht meine subjektive Beziehung zur Welt aus: als die Art und Weise, wie ich mich auf das Spiel beziehe, wie ich es einschätze, mit welchem Einsatz ich es spiele, welche Gedanken, Absichten, Ziele und Gefühle ich dabei habe. Kann man sagen, dass ich mich in meinem Spiel den Regeln unterwerfe? Das wäre viel zu einseitig. Ich beachte die Regeln, setze sie aber auch für meine strategischen Absichten ein. Meine subjektive Beziehung zur Welt ist etwas anderes als die Weltbeziehung der Sprache. Dass sich Wörter auf bestimmte Dinge richten und 1
Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 23.
12. Das Aufleuchten des Unverfügbaren
sie bezeichnen – auf Bäume, Mauern, Wolken –, liegt nicht in meiner Verfügungsgewalt. Sollte ich die Wörter anders verwenden, schaffte ich nicht die Tatsache ab, dass es bestimmte Wörter gibt, die diese Dinge benennen. Ich bringe nur ein wenig Verwirrung in das Spiel der Benennungen. Über die Intentionalität der Sprache kann ich nicht verfügen. Anders ist es mit meinem persönlichen Verhältnis zur Sprache: wie ich meine Wörter wähle, sie gebrauche, wie ich sie verstehe und was ich mit ihnen sagen will. Hier scheint sich ein Bereich aufzutun, zu dem nur ich Zugang habe. Er gehört zu meiner unmittelbaren Erfahrung mit Wörtern und ihrem Gebrauch. Nach der Grundannahme der Philosophie des linguistic turn umfasst dieser Bereich nicht nur die Wörter der Sprache, sondern auch alle jene Dinge der Welt, die mit Hilfe der Sprache konstituiert werden, wie Organisationen, soziale Identitäten, differenzierte Gefühle und Geschmäcker. Wie kann man den subjektiven Weltbezug fassen? Er ist wesentlich sprachlich konstituiert, insofern Sprachspiele die organisierten Praktiken sind, in deren Kontext Erfahrungen strukturiert und Bedeutungen gebildet werden. Alles, was das Sprachspiel ausmacht – der Rahmen des Spiels, seine Regeln, die Spielzüge, die Spielrollen –, ist mit Sprachgebräuchen verwoben. Auf den ersten Blick scheint diese Aussage tautologisch zu sein. Wenn man aber annimmt, dass der Sprachgebrauch aus Grundformen gesellschaftlicher Praxis entsteht, verflüchtigt sich dieser Verdacht.2 Sprachspiele haben gesellschaftlichen Charakter, aber wenn ich sie spiele, verwirkliche ich meine Gebrauchsweisen; ich vollziehe meine Spielzüge, ich folge meinen subjektiven Intentionen. Durch die Sprache übernehme ich nicht nur die Benennungen von Dingen, Personen, Eigenschaften, Empfindungen von der Sprachgemeinschaft – ich eigne mir auch mich selbst an. Der Ort, an dem ich über mich verfüge, ist die Sprache. Ich verwende die Sprache, um mich selbst als Sprecher einzusetzen: Ich konstituiere mich als Spieler eines Sprachspiels und drücke mein Weltverhältnis in meiner Sprache aus. Mehr noch: als Sprecher konstituiere ich meine Welt. 2
Wie sich aus der materiellen Handlungspraxis Regeln und primitive Symbole entwickeln, wird in den Kapiteln 2, 3 und 4 dieses Bandes dargestellt.
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Wenn ich über meine subjektiven Erfahrungen spreche, sind meine Äußerungen über mich nicht bezweifelbar. Wir können die Gegenprobe machen: Wer nicht über sich als Sprecher verfügt, wer sich (aufgrund einer schweren Krankheit) nicht als Sprecher einsetzen kann, verfügt nicht über die Sprache, damit auch nicht über sich und seine Welt. Er kann sich vielleicht auf einfachste Weise verständlich machen, aber er hat nicht die Fähigkeit, seine subjektive Weltsicht eigenständig auszudrücken; er könnte nicht verständlich machen, wie er die Welt erfährt.
Steuert das Bewusstsein meinen Sprachgebrauch? Sind die Dinge aber so eindeutig, wie ich sie bisher, in Anlehnung an die sprachanalytische Philosophie dargestellt habe? Betrachten wir den Akt, mit dem ich mich als Sprecher erschaffe. Man könnte ihn so beschreiben: Ich setze mich durch einen sprachlichen Akt, durch eine Äußerung der ersten Person als Sprecher ein. Es ist jedoch nicht mein Ich, das über die Sprache verfügt und aus eigener Machtvollkommenheit seine Position im Sprachspiel einnimmt. Wenn ich im Sprachspiel eine Position besetze, dann ist sie schon geschaffen worden. Ich nehme eine Stelle ein, die für den Sprecher vorgesehen ist. Wenn ich sie einnehme, wenn ich Äußerungen in der ersten Person mache, werde ich zum Sprecher meiner Sprache. Die sprachanalytische Sprachphilosophie behauptet, Erkenntnis der Welt geschehe von der Sprache aus. Wenn wir also die Welt mit Hilfe der Sprache erschließen, das heißt, sie ordnen, ihr eine Gestalt geben, Gegenstände benennen, Sachverhalte unterscheiden, dann ist im Prinzip alles, was es gibt, der Möglichkeit nach in der Sprache schon vorgebildet. So verhält es sich beispielsweise mit den Farben: Dass es »rote« und »blaue« Gegenstände gibt, liegt wesentlich daran, dass wir Farbwörter haben, mit deren Hilfe wir Gegenstände unterscheiden und ihnen eine bestimmte Farbigkeit zuschreiben. Gegenstände haben nicht eine Farbe an sich. Wenn wir einem Objekt eine neuartige Farbe zuschreiben, die bisher noch nicht bekannt war, handelt es sich nicht um die Entdeckung einer neuen Farbe, sondern im System der
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Farbausdrücke gibt es eine bisher unbesetzt gebliebene Stelle, auf der jetzt der neue Farbname positioniert wird. Der Platz im System der Farbbezeichnung war in der Sprache schon vorgesehen. Wenn ich die Position des Sprechers einer Sprache einnehme, verhält es sich analog. In gewisser Hinsicht werde ich vom Sprachspiel zu einem Sprecher gemacht; ich werde darin zu einer Art Spielfigur. Wenn ich diesen Platz einnehme, kann ich ihn nicht vollkommen frei ausfüllen. Was ich für meine Leistung halte, ist dies nur zu einem Teil: Ich bin deutlich mehr ein Produkt der Sprache, als dass die Sprache ein Produkt von mir wäre. Es ist eher die Sprache, die mich verwendet, als dass ich die Sprache verwende. Gewiss bin ich nicht ihre Marionette, aber ich bin tiefer von ihr durchdrungen, als ich es bisher wahrhaben wollte. In der Position des Sprechers eines Sprachspiels kann ich andererseits über den Gebrauch meiner Sprache verfügen. Die Sprache bietet mir einen Möglichkeitsraum für meinen Selbstausdruck an. Sie schreibt mir nicht vor, wie ich als Sprecher sein soll. In diesem Offenhalten von Möglichkeiten liegt meine Chance auf Verfügung über die Sprache. Mein Ich ist das Zentrum, die agency meiner Bedeutungsproduktion. Ich bin so etwas wie die Kommandozentrale meines Sprechens. Ich bin es, der die Wörter meiner Sprache auswählt und in die von mir konstruierten Syntaxstrukturen einsetzt. Mit diesen Akten befinde ich mich offenbar in der innersten Kammer der Sprache. Mein Sprechen wird nicht von Strukturen erzeugt; ich bin kein von Algorithmen bestimmter Sprechautomat. Es scheint doch meine subjektive Intentionalität zu sein, die es hervorbringt. Wie aber steuert diese Subjektivität mein Sprechen? Um dieses Problem zu klären, will ich zuerst die Frage beantworten, ob ich Zugang zu einem Wissen über meine Sprache habe, das anderen nicht zugänglich ist. Habe ich ein Bewusstsein des Geschehens, das meinen Sprachgebrauch steuert? Entscheide ich mich beispielsweise bewusst dafür, die Sprache anders als nach den konventionellen Mustern zu gebrauchen? Ich kann einen virtuosen Gebrauch der Sprache beabsichtigen, mit Abweichungen, Regelbrüchen, Überschreitung von Grenzen, Entwicklung neuer Normen und Konventionen. Es kann wohl
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kein Zweifel sein, dass, wenn ich die bekannten Muster des Sprachgebrauchs zu neuen Ausdrucksmöglichkeiten hin verschieben will, ich es bin, der diese neue Sprachverwendung kontrollieren wird. Ich nehme also an, dass ich meinen besonderen eigenen Sprachgebrauch auf seine Richtigkeit kontrolliere. Genauer: dass ich neue Regeln etabliere und ihre Richtigkeit kontrolliere (weil ich ja der einzige bin, der die neuen Regeln kennt). Sprachlicher Souverän ist, wer über den eigenen Sprachgebrauch entscheidet. Der Theoretiker des modernen Konzepts der Intentionalität, John Searle, sieht das Gehirn als agierende Instanz für die Produktion sozialer Bedeutungen an.3 Wenn aber neurologische Strukturen den Sprachgebrauch regulieren, kann von einer Steuerung meines Sprachgebrauchs durch mein Ich keine Rede mehr sein. Tatsächlich leugnet Searle die Aktion eines Subjekts. Aus ganz anderen Gründen äußert Friedrich Nietzsche ein Misstrauen gegenüber jeder Form des souveränen Subjekts: »Ein Quantum Kraft ist gar nichts anderes als eben solches Quantum Trieb, Wille, Wirken – vielmehr, es ist gar nichts anderes als eben dieses Treiben, Wollen, Wirken selbst, und nur unter der Verführung der Sprache (und der versteinerten Grundirrthümer der Vernunft), welches alles Wirken als bedingt durch ein Wirkendes, durch ein ›Subjekt‹ versteht und missversteht, kann es anders erscheinen.«4 Nietzsche hat den Verdacht, der Sprachgebrauch sei schon auf einer Ebene unterhalb des Subjekts – durch die Struktur der Syntax und der Begriffe – vorreguliert, bevor er im Sprechen realisiert wird.
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John Searle: Intentionalität; ders.: Die Wiederentdeckung des Geistes. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, 1. Abhandlung, Abschnitt 13, S. 279.
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Wittgensteins Argument der »Privatsprache« Für die analytische Sprachphilosophie ist der Gedanke inakzeptabel, dass der Sprecher nicht Souverän im Haus der Sprache ist. Zur Fähigkeit, eine Sprache zu beherrschen, gehört, dass das Sprecher-Ich den Sprachgebrauch kommandiert und dafür sorgt, dass die Sprachregeln jederzeit korrekt angewendet werden. Sprachbeherrschung zeigt sich im Sprechen-Können, wie es in der Wendung »Ich kann französisch« zum Ausdruck kommt; sie besagt: Ich beherrsche die französische Sprache, ihre Regeln, ihr Lexikon, ihren Gebrauch. Ludwig Wittgenstein diskutiert den Fall eines besonders ausgeprägten Anspruchs auf die Beherrschung der Sprache. Es ist ein Sprachgebrauch, der die Verfügung über einen Ausschnitt der Welt anstrebt, der dem Sprecher vollkommen unterstellt zu sein scheint, sein Inneres. In den Philosophischen Untersuchungen entwirft Wittgenstein eine Situation, in der ein Sprecher über sein Inneres spricht. Sein Beispiel ist die Benennung seiner Empfindungen, also ein Gebrauch, der weitgehend der Kontrolle durch die Sprachgemeinschaft entzogen ist. Der sprachliche Souverän schaltet und waltet in dieser Situation als Erzeuger und Kontrolleur einer Welt aus Sprache. »Stellen wir uns diesen Fall vor: Ich will über das Wiederkehren einer gewissen Empfindung ein Tagebuch führen. Dazu assoziiere ich sie mit dem Zeichen ›E‹ und schreibe in einem Kalender zu jedem Tag, an dem ich die Empfindung habe, dieses Zeichen.«5 Nur ich allein habe Zugang zu dieser Empfindung. Das Zeichen »E« bezeichnet einen einzigartigen Gegenstand. Die Definition von »E« hat privaten Charakter: »Ich will zuerst bemerken, daß sich eine Definition des Zeichens nicht aussprechen läßt. – Aber ich kann sie doch mir selbst als eine Art hinweisende Definition geben! – Wie? kann ich auf die Empfindung zeigen? – Nicht im gewöhnlichen Sinne. Aber ich spreche, oder schreibe
5
Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 258.
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das Zeichen, und dabei konzentriere ich meine Aufmerksamkeit auf die Empfindung – zeige also gleichsam im Innern auf sie […] dadurch präge ich mir die Verbindung des Zeichens mit der Empfindung ein.« (Ebd.) Bewirkt dieser Vorgang, »daß ich mich in Zukunft ›richtig‹ an die Verbindung erinnere?« »Aber in unserm Fall habe ich ja kein Kriterium für die Richtigkeit. Man möchte hier sagen: richtig ist, was immer mir als richtig erscheinen wird. Und das heißt nur, daß hier von ›richtig‹ nicht geredet werden kann.« (Ebd.) In meiner subjektiven Sicht (eine objektive Sicht gibt es hier nicht) sind das Richtige und alles, was ich nur für richtig halte, nicht voneinander unterscheidbar. »Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man nicht der Regel ›privatim‹ folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen.« (Ebd., § 202) Die Problematik meines Vorgehens liegt darin, dass sich der Sprachgebrauch ausschließlich in meinem Inneren abspielt und nicht äußerlich ausgedrückt wird. Man macht sich eine falsche Vorstellung von der Benennung innerer Prozesse, wenn man sie ausschließlich der Subjektivität des Sprechers zurechnet. Die Annahme, der Sprecher könne die Sprache über sein Inneres verlässlich regeln, erweist sich als ein Irrtum. Weder verfügt er über eine Sprache, mit der er innere Ereignisse direkt beschreiben kann, noch kann er diese ohne Sprache wiedererkennen und identifizieren. Er bestimmt nicht allein, wie er sein Sprechen auf sein Inneres anwendet. Diese Macht kann er nur gemeinsam mit seiner Sprachgemeinschaft ausüben. Auf sie ist er angewiesen, wenn es darum geht, die Korrektheit seines Sprechens über seine inneren Geschehnisse zu garantieren. Unabhängig vom empfindenden Ich gibt es eine Grammatik, gemeinsame Handlungen und Sprachspiele, die den Gebrauch der Empfindungsausdrücke bestimmen. Entsprechend muss der Ort für
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»E« schon vorbereitet sein, wenn der Empfindungsausdruck eingeführt wird. Das Ich muss fähig sein, die Empfindung, die mit »E« bezeichnet wird, verlässlich zu identifizieren und wiederzuerkennen. In gemeinsamen Handlungen geschieht dies ganz selbstverständlich: »Wie weiß ich, daß die Farbe dieses Papiers, die ich ›weiß‹ nenne, dieselbe ist wie die, die ich gestern hier gesehen habe? Dadurch, daß ich sie wiedererkenne; und dieses Wiedererkennen ist meine einzige Quelle für dieses Wissen. Dann bedeutet ›daß sie dieselbe ist‹, daß ich sie wiedererkenne.«6 Eine Evidenz, die den inneren Gebrauch meines Sprechens über »E« korrekt steuern könnte, besitzt das Ich nicht. Gegenüber seiner eigenen Sprachverwendung ist es »blind« (§ 219).7 Heißt dies, dass dem Subjekt sein ganzer Sprachgebrauch unverfügbar ist? Wenn dies so sein sollte, wie verhält es sich dann mit dem Ich als sprachlichem Souverän? Fest steht: Die Instanz, die über die Sprache des Subjekts verfügt, ist nicht seine gedankliche Steuerung des Sprachgebrauchs. Wie Wittgensteins Argument gegen die sprachliche Verfügbarkeit über sein Inneres zeigt, befindet sich im Zentrum seines Sprachgebrauchs, also seiner Produktion von Bedeutungen, eine Leere. Es gibt hier niemanden, der die Hebel seiner Sprachverwendung kommandiert. Die sprachanalytische Philosophie lässt also entgegen ihren Annahmen die entscheidende Stelle der Sprache, an der über den Sprachgebrauch verfügt wird, unbesetzt. Die Sprache entzieht dem Subjekt die Verfügung über genau jenen Ort, an dem seine Subjektivität sich zu beweisen hat. Ist das Subjekt machtlos gegenüber der Sprache? Das ist nicht die richtige Konsequenz aus unseren Überlegungen. Um dies zu erkennen, müssen wir die Perspektive wechseln: Wir haben nach etwas gesucht, das Gegenstand eines Wissens ist. Die Position des sprechenden Ichs ist kein Ort des Wissens – das Ich hat kein Wissen darüber, wie es den Regeln der Sprache folgt, ihre Anforderungen erfüllt, wie es seine Worte wählt. Hingegen hat es ein Können erworben, das die Übereinstimmung 6 7
Ludwig Wittgenstein: Philosophische Bemerkungen, S. 60. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 219.
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seines Sprachgebrauchs mit der Sprachgemeinschaft regelt. Es beruht auf praktischen Fähigkeiten. Wenn es gut eingeübt ist, funktioniert es verlässlich. Es ist sich jedoch nicht selbst transparent: Wir verfügen über kein epistemisches Wissen darüber, wie dieses Können funktioniert. Was wir erlangen können, ist jedoch eine praktische Selbstvergewisserung unseres Könnens. Nach Wittgensteins Konzeption ist der Gebrauch der Sprache eines Subjekts in einem Geflecht von Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft angelegt. Setzen wir seine Gedanken mit eigenen Überlegungen fort: In der Entwicklung des Subjekts entstehen in eins mit seinem Spracherwerb frühe Formen der Kommunikation mit anderen. Man kann eine solche – hypothetische – Vorform von Sprachspielen als Protodialog bezeichnen. Darin hat das Subjekt noch nicht die Rolle einer sozialen Person inne, aber sein Platz als ein Ich ist hier bereits angelegt. Es tritt also nicht mit einem Schritt in die Fülle der Beziehungen der sozialen Welt ein, sondern wird in einem stufenweisen Prozess in diese eingeführt. Im Protodialog ist das Ich noch teilweise unbestimmt; es ist daher in diesem Stadium weitgehend von anderen abhängig. Unter ihrer Anleitung und gemeinsam mit ihnen stellt es die »Übereinstimmung der Urteile« her, die das Fundament seines (späteren) Sprachgebrauchs sein werden. Dazu gehört auch die Festlegung, welche Rolle das Ich in seinen Sprachspielen innehat (ebd., § 242). Das Können, über welches das sprechende Ich verfügt, und seinen Ort im Sprachspiel erhält es unter Mitwirkung von anderen. Anfangs verfügt es nur über einzelne Züge von Sprachspielen, ähnlich wie ein Kind, das in ein Mannschaftsspiel eingeführt wird, in der ersten Phase einige wichtige Spielzüge beherrschen lernt. Das Subjekt könnte nicht sagen, wie es den Gebrauch der Sprache beherrscht. In Grammatiken kann man theoretisch fundierte Rekonstruktionen von Strukturen natürlicher Sprachen finden – sie geben jedoch keine Auskunft darüber, wie man sich die Sprache aneignet. Ein Grundgedanke von Wittgensteins späterer Philosophie ist, dass es kein Prinzip der Erklärung gibt, wie wir Sprachgebräuche erzeugen. Dies gilt insbesondere für die Sprache über unser Inneres, also gerade für das Sprechen über unser Selbst. Für diese Situation hat Wittgenstein eine eindringliche Meta-
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pher geprägt, die seine Leser von einer vergeblichen Suche abhalten soll: Der Spaten ist auf dem »harten Felsen angelangt«, er »biegt sich zurück«.8
Das Unverfügbare im Aspektwechsel Das Unverfügbare unserer Sprache bleibt uns dennoch nicht unbekannt. Wir können unseren Sprachgebrauch zwar nicht erklären, aber unser Sprechen bringt ans Licht, was sein Funktionieren ausmacht. Mit vielfältigen subjektiven Gebrauchsweisen zeigt sich die Sprache in unseren Sprachspielen. Dieses Sich-Zeigen können wir erfassen, wenn wir eine besondere Art des Sehens lernen, das den Umgang mit der Sprache als einen ästhetischen Vorgang wahrnimmt. Wittgenstein würde sagen: »Sieh die Sprache anders an, und du wirst begreifen, dass du bisher nach dem Falschen gesucht hast!« Mit seinen ästhetisch ausgeklügelten Texten ruft Wittgenstein in der Wahrnehmung seiner Leser einen Gestaltwechsel hervor und regt sie zu einem Aspekt-Sehen an, das er Sehen-als nennt. Was er damit meint, zeigt er an einem Beispiel: »Ich betrachte ein Gesicht, auf einmal bemerke ich eine Ähnlichkeit mit einem andern. Ich sehe, daß es sich nicht geändert hat; und sehe es doch anders. Diese Erfahrung nenne ich ›das Bemerken eines Aspekts‹.«9 Das Bemerken geschieht im Akt des Sehens; Wittgenstein nennt es ein »Aufleuchten«: Das »Aufleuchten des Aspekts [ist] halb Seherlebnis, halb ein Denken.« (Wittgenstein, ebd., S. 525) In Teil II der Philosophischen Untersuchungen (die aus seinen nachgelassenen Bemerkungen zusammengestellt sind) beschreibt Wittgenstein, was beim Aspektwechsel im Sprecher geschieht. Sein Augenmerk richtet sich nicht auf die Beziehung des Sprechers zum Gegenstand seiner Sprache, sondern auf die Auswirkung, die der Aspektwechsel auf das Selbstverhältnis des sprechenden Subjekts hat. Das »Aufleuchten des
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Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 217. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (Teil II), S. 518.
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Aspekts ist, in seinen Worten, »ein Erlebnis«, das den Sprecher verändern kann.10 Mit diesem Gedanken wird das philosophische Problem Wittgensteins mit der Reflexion des Sprechers über die eigene Person verbunden. Angenommen, jemand wäre unfähig, den Aspekt zu wechseln, dann würde sich dieser Mangel in seinem Gefühl für die Wörter auswirken. Er hätte eine Art mechanisches Verhältnis zu seinen Worten und hätte keine Möglichkeit, sie unter wechselnden Gesichtspunkten zu wählen und zu schätzen. Ihm würde die Vertrautheit zu ihnen fehlen. Zwischen ihm und seinem Sprechen würde es keine emotionale Verbindung geben. Welche Folgen es hätte, wenn das Erlebnis des Aspektwechsels fehlte, diskutiert Wittgenstein am Beispiel eines eigenartigen Defekts, den der für diesen Zweck konstruiert, die »Aspektblindheit«. Der Aspektblinde kann keinen Aspektwechsel vollziehen; ihm fehlt das Erlebnis des Aufleuchtens eines Aspekts. Er »wird zu Bildern überhaupt ein anderes Verhältnis haben als wir.«11 Sein Sprachgebrauch würde kein Gespür für die Eigentümlichkeit von Wörtern erkennen lassen. Ihm würde die »Anhänglichkeit« an seine Worte fehlen (ebd., S. 560). Manches würde er nicht verstehen und bestimmte Bemerkungen würde er nicht machen können. »Aspektblindheit wird verwandt sein dem Mangel des ›musikalischen Gehörs‹.« (S. 552) Unter dem Aspekt der ästhetischen Wahrnehmung haben Wörter ein »vertraute(s) Gesicht«, eine »Physiognomie« und einen bestimmten »Geruch« (ebd., S. 560). Mit ihren eigentümlichen Gesichtern und Geruchsnuancen rufen sie spezifische Resonanzen hervor. Dies kann so weit gehen, dass Wittgenstein den Eindruck hat, nicht er wähle ein sprachliches Bild, sondern das Bild komme von sich aus zu ihm: »Wenn ich beim ausdrucksvollen Lesen dies Wort ausspreche, ist es ganz mit seiner Bedeutung angefüllt. – ›Wie kann das sein, wenn die Bedeutung der Gebrauch des Wortes ist?‹ Nun, mein Ausdruck war bildlich gemeint. Aber nicht, als hätte ich das Bild gewählt, sondern es drängte 10 11
Das Wort »Erlebnis« verwendet Wittgenstein in seinem »Vortrag über Ethik« an hervorgehobener Stelle (in: Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, S. 18). Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (Teil II), S. 552.
12. Das Aufleuchten des Unverfügbaren
sich mir auf.« (S. 554) Dieses Hineindrängen der Bilder in das Denken des Sprechers zeigt die Macht der Sprache als poetische Kraft; sie kann das Denken überwältigen. Für das philosophische Schreiben kommt es darauf an, die erzeugende und verwandelnde Kraft der sprachlichen Bilder wirken zu lassen, ohne von ihnen gefangen genommen zu werden. Wittgenstein setzt sich den Aspektwechseln der Sprache aus; er kämpft jedoch um die Kontrolle über ihre Wirkungen auf sein Denken.12 Das Sehen-als führt uns zu einem schlagartigen Erfassen wesentlicher Aspekte der Sprache. Wissenschaftlich sind diese nicht darstellbar.Ihr Verstehen ist jedoch für unsere Selbstdeutung als sprechende Personen notwendig: Für unsere Rolle als Sprachverwender ist es wichtig, dass wir es sind, die mit der Sprache spielen, um uns auszudrücken. Wenn es uns gelingt, sie uns zu eigen zu machen, können wir über unsere Sprache einen Zugang zu unserer Subjektivität gewinnen. Für den aspektblinden Blick der Analytischen Philosophie ist diese Seite der Sprache unerreichbar. In Akten des Sehen-als kann man jedoch wichtige, sogar unverzichtbare, aber eben nicht theoriefähige Aspekte der Sprache entdecken. Unser Unverfügbares ist nicht dazu bestimmt, im Dunkeln zu bleiben: Es zeigt sich.13 Wittgensteins genialer Gedanke aus dem Tractatus bewährt sich auch gegenüber dem Sprachgebrauch, den er ins Zentrum der Philosophischen Untersuchungen stellt. Das Unverfügbare leuchtet im Prozess des Sprechens auf. Wir können das Sich-Zeigen des Unverfügbaren zwar nicht beeinflussen, aber wir können uns ihm gegenüber öffnen und es in uns wirken lassen. Die Antwort auf die zu Beginn dieses Kapitels dargestellte Problematik fällt differenziert aus. Es gibt etwas Eigenes des Subjekts, das 12
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Zu Beginn der Philosophische Untersuchungen dramatisiert Wittgenstein die verführerische Kraft der Sprache, vgl. ders.: Philosophische Untersuchungen, § 109: »Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unsrer Sprache.« In den späteren Bemerkungen aus dem Nachlass entwickelt Wittgenstein eine ästhetisch geprägte Sprachauffassung, die sich weit von dem erkenntnistheoretischen Sprachverständnis der frühen Analytischen Philosophie unterscheidet. Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Satz 6.522.
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seine personale Identität ausmacht. Allerdings besteht es nicht in der Verfügung über eine Sprache, die einen unmittelbaren Zugang zum Inneren des Sprechers und ein unbezweifelbares Wissen über dessen Beschaffenheit ermöglichte. Das Unverfügbare des Subjekts zeigt sich. Es wird nicht zu einem Gegenstand des Wissens; es kann aber in Akten des Aspektwechsels des Subjekts und seiner Handlungspartner aufleuchten. In diesem Kapitel wird Wittgensteins Kritik an der Privatsprache zu einer Kritik an der erkenntnisgeleiteten Verfügung über die Sprache ausgedehnt, insbesondere an einer Sprache des Subjekts über sich selbst. Unser Wissen über uns selbst bildet sich in Sprachspielen mit den Anderen. Es bezieht sich nicht auf eine – den Anderen verschlossene – Subjektivität, sondern auf das der Öffentlichkeit zugängliche Subjekt: auf seine soziale Identität. Das Eigene des Ich wird von Wittgenstein nicht geleugnet. Es leuchtet in unwillkürlichen Momenten eines Aspektwechsels auf – es widerfährt dem Subjekt. Es wird von Kräften seiner Subjektivität hervorgerufen; Wittgenstein spricht von Zuneigung, Vertrautheit, von Gefühlen und Erinnerungen. Sie entstehen aus der besonderen Weise des Subjekts, in der Welt zu sein. Sie manifestieren, auch für den Anderen sichtbar, seinen Umgang mit der Welt.
13. Die Hermeneutik des Subjekts als Frage der Anthropologie
Von den vier Fragen, die Kant als die grundsätzlichen Probleme der Philosophie ansieht,1 sind die ersten drei die Fragen eines Ich: Was kann ich wissen, was soll ich tun, was kann ich hoffen? Nur die vierte Frage wird nicht in der ersten Person gestellt: »Was ist der Mensch?« In seinem Aufsatz »Anthropologie als ›erste Philosophie‹« vermutet Ernst Tugendhat, Kant gehe es mit dieser Formulierung um eine Selbstvergewisserung der Menschen:2 Die Frage ist nur scheinbar in objektiver Perspektive gestellt. Tatsächlich betrifft sie uns alle; insofern enthält sie ein Wir. Man kann sie zu der Frage umformulieren: Was sind wir als Menschen? Die Frage lenkt das Denken reflexiv auf das menschliche Subjekt zurück: Wie interpretieren wir uns? Die Tatsache, dass jedes einzelne Subjekt diese Frage stellen kann, kennzeichnet die Menschen insgesamt. Das Wir bildet eine Pluralität, die Gemeinsamkeit der menschlichen Lebewesen, die ein Verständnis von sich selbst haben. Die anderen Spezies können wir »nur von außen beschreiben« (Tugendhat, ebd., S. 36). Dadurch unterscheidet sich die Anthropologie grundsätzlich von analogen Fragen, die andere Spezies betreffen.
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Immanuel Kant: Logik, S. 25. Ernst Tugendhat: Anthropologie statt Metaphysik, S. 34-54.
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Der neue »Streit der Fakultäten« »Was sind wir Menschen für uns?« Diese Frage wird in subjektiver Perspektive gestellt. Bei ihrer Beantwortung kommt man jedoch nicht umhin, den Menschen auch als Objekt der Naturwissenschaft, der Physik, Biologie, Neurobiologie, Anatomie, Physiologie, der Verhaltensforschung, zu betrachten – als ein Lebewesen, das aufgrund seiner Natur in gesetzmäßige Zusammenhänge eingefügt ist und daher auch in einer Perspektive von außen betrachtet werden kann. Die subjektive Perspektive der Selbst-Interpretation und die objektiven Untersuchungen zu den natürlichen Voraussetzungen, Lebensbedingungen und Funktionen des Menschen überlagern sich, kommen aber nicht zur Deckung. Für den anthropologischen Forscher stellt sich die Frage, ob er beide Perspektiven aufeinander beziehen und, wenn dies möglich ist, wie er eine Verbindung zwischen ihnen herstellen kann. In den 1920er- bis 1970er -Jahren verteidigten die Vertreter der Philosophischen Anthropologie die subjektive Sichtweise gegen den Anspruch der Naturwissenschaften, ein exaktes Bild des Menschen zu entwerfen, das keinen Raum für Verstehen, Deutung und Sinn ließ.3 Ihnen ging es darum, die Deutungshoheit über den Menschen gegenüber den Naturwissenschaften zu sichern. Heute können die Geisteswissenschaften nur noch einen Anspruch auf einen Teil ihres ursprünglichen Forschungsgebietes erheben: Kann das spezifisch Menschliche des Menschen hinreichend mit Mitteln der Geisteswissenschaften erfasst werden oder sind in diese Aufgabe die Naturwissenschaften und die Informatik einzubeziehen? Sind diese womöglich besser dafür geeignet? Die Geisteswissenschaften müssen ihre Kompetenzen gegenüber der Gehirnforschung, der Künstlichen Intelligenz lernender Maschinen und der automatisierten Beurteilung von Menschen und Texten, gegenüber der digitalen Diagnose und Therapie von Krankheiten, gegenüber dem Einsatz automatisierter Waffen rechtfertigen, damit ihnen in Fragen 3
Siehe die Hauptwerke der wichtigsten Vertreter der Philosophischen Anthropologie: Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos; Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch; Arnold Gehlen: Der Mensch.
13. Die Hermeneutik des Subjekts als Frage der Anthropologie
des Denkens, Erkennens und Beurteilens überhaupt noch eine Stimme zugestanden wird. Es handelt sich um eine neue Form des »Streits der Fakultäten« in einer Situation, in der die Wissenschaft insgesamt von naturwissenschaftlichen Paradigmen dominiert wird. Ohne Zweifel sind die Kompetenzen des naturwissenschaftlichen Denkens für die Beantwortung dieser Frage seit den 1930er-Jahren deutlich angestiegen. In einigen partiellen Feldern der Kernbereiche klassischer Geisteswissenschaften (wie in der Philologie, in Geschichts-, Rechts- und Sprachwissenschaft) scheint sich sogar eine Konkurrenz von naturwissenschaftlichen und informationellen Methoden abzuzeichnen. In der Auseinandersetzung zwischen beiden Wissenschaftsmodellen wird oft eine Tatsache übersehen, auf die Ernst Tugendhat mit seiner eingangs zitierten Bemerkung hinweist: Der Mensch kann sich selbst gegenüber unterschiedliche Perspektiven einnehmen. Am einfachsten kann man diese Fähigkeit am Beispiel der Personalpronomina exemplifizieren: Als ein Ich kann der Mensch eine subjektive Sicht ausdrücken. Er kann sich an einen Handlungspartner wenden, an ein Du, und mit ihm dialogisch die Plätze tauschen – er kann die Rolle des Du einnehmen und aus dessen Perspektive das Ich verstehen. Er kann aber auch über sich selbst in der dritten Person sprechen und sich auf diese Weise objektivieren. Die Doppelung der Perspektiven in objektive und subjektive Sichtweisen ist zweifellos eine Leistung der Kultur. Sie befähigt den Menschen, einen eigenen Standpunkt einzunehmen und sich von außen, vom Standpunkt der Anderen wahrzunehmen.4 Es mag umstritten sein, in welchem Stadium der menschlichen Evolution Kultur entstanden ist. Durch diesen Entwicklungsschritt kommt es jedoch nicht zu einer Ablösung von der Natur. Vielmehr handelt es sich um eine Umformung der natürlichen Beschaffenheit des Menschen, die ihn in ein neues Verhältnis zur Natur setzt. Dieser Prozess beginnt damit, dass er seinen natürlichen Körper kulturell formt. Gehlen spricht von einer »Züchtung« – aber auch ein kulturell
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Siehe zu diesen Perspektiven Gunter Gebauer: »Wie können wir über Emotionen sprechen?«
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hochgezüchteter Körper bleibt Natur am Menschen.5 Mit Methoden der Naturwissenschaften kann dieser Prozess der Umformung nur zu einem Teil erklärt werden. Er kommt im Wesentlichen zustande durch die Bildung von menschlichen Gemeinschaften mit Regeln und Institutionen, durch die Entstehung von Sprache mit ihren künstlichen Zeichen, syntaktischen und semantischen Strukturen, also durch Prozesse, die in das Untersuchungsfeld der Geisteswissenschaften fallen. Man kann noch einen Schritt weitergehen: Für Entstehung und Entwicklung dieser kulturellen Schöpfungen gibt es keine Kausalität, keine Gesetzmäßigkeit, keine evolutionäre Notwendigkeit. Soweit diese behauptet werden, handelt es sich um Konstruktionen ex post auf der Basis spekulativer Annahmen. In wissenschaftstheoretischer Perspektive entsteht mit der Schöpfung von Kultur absolutes Neuland: Erst nach dem Vollzug eines Entwicklungsprozesses kann man anhand seiner Resultate erkennen, dass dieser kulturelle Formen hervorgebracht hat.6 So kann man erst feststellen, dass Menschen eine Sprache herausbilden, wenn sie sich in Sprachspielen verständigen. Die der Sprache vorangehenden Stadien sind nicht mehr als Zeichen- und Lautproduktionen, aus denen sich eine Sprache entwickeln kann oder auch nicht. Von den Naturwissenschaften kann man hingegen das Resultat eines Prozesses aus Kausalgesetzen und spezifischen Randbedingungen durch Ableitung erklären und vorhersagen.7 Für kulturelle Prozesse gibt es jedoch keine allgemeinen Gesetze; sie können daher nicht prognostiziert werden. Bleiben wir bei dem Beispiel sprachlicher Prozesse. Die Sprache ist durch zwei wesentliche Merkmale gekennzeichnet: durch die Bezie5
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Dieser Prozess war das Thema der von Dietmar Kamper und Christoph Wulf veranstalteten ersten Tagung des Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie der Freien Universität Berlin 1981 (siehe Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.): Die Wiederkehr des Körpers). Ein Naturprozess kann das Resultat, das er hervorbringen wird, nicht vorhersagen. Der Berliner Virologe Christian Drosten sagte in einem seiner viel beachteten Potcasts zur Frage der Mutationen des Corona-Virus: »Die Evolution antizipiert nicht. […] Sie interpretiert auch nicht.« Siehe Wolfgang Stegmüller: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, Bd. 1.
13. Die Hermeneutik des Subjekts als Frage der Anthropologie
hung von Wort und Objekt, also von Bezeichnung und Bezeichnetem (Semantik), und durch die Beziehung der Wörter oder Zeichen untereinander (Syntax). Beide Arten der Beziehung kommen in der Natur nicht vor: Ein Naturgegenstand kann zu einem anderen keine semantische Beziehung herstellen – er kann keine Bedeutung bilden.8 Insofern er dies nicht vermag, kann er andere Naturgegenstände auch nicht in einer Form anordnen, die einer syntaktischen Struktur entspricht. Naturwissenschaftler können zwar semantische und syntaktische Modelle konstruieren. Sie können aber mit Kausalerklärungen – ihrer wichtigsten Methode – kein Modell für das Entstehen von Kultur konstruieren. Wenn sie Hypothesen der Entstehung von Sprache bilden, schreiben sie in Wirklichkeit eine Entstehungsgeschichte. Das mag in manchen Fällen sinnvoll sein, aber damit verlassen sie das naturwissenschaftliche Vorgehen. Es gibt allerdings informationelle Darstellungen kultureller Entwicklungen mit Hilfe von Algorithmen. Sie stellen jedoch nur Teilaspekte kultureller Objekte dar, die nicht das Zentrum der Kultur ausmachen. Ihre Beschreibung und Analyse können erst signifikante Ergebnisse erbringen, wenn sie mit geisteswissenschaftlichen Begriffen gedeutet werden; wenn beispielsweise der kulturelle Bereich bestimmt wird, in dem sie eingesetzt werden. So ist der Einsatz digitaler Methoden in der Philologie erst dann sinnvoll, wenn bereits ein Textkorpus geschaffen und von beliebigen anderen Texten abgegrenzt wurde. Dies können Algorithmen selbst nicht leisten. Ein zweites Beispiel sind Computerprogramme in der Linguistik, die Syntaxstrukturen generieren. Dass diese in der gewöhnlichen Sprache Bedeutungen haben, dass sie in einem pragmatischen Gebrauch funktionieren, dass also Verfasser und Leser den Corpus verstehen können, wird bei der Verwendung digitaler Analysemethoden vorausgesetzt, kann von diesen selbst aber
8
Es spricht nicht gegen diese These, dass in einigen naturwissenschaftlichen Bereichen, wie z.B. in der Genetik, Begriffe aus der Sprachtheorie verwendet werden. In der Regel handelt es sich dabei um Übertragungen oder metaphorische Redewendungen, die natürliche Prozesse beschreiben, als ob sie sprachlich wären.
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nicht beschrieben werden. Das wäre nur möglich, wenn die syntaktischen und semantischen Strukturen mit den Intentionen und dem Verstehenshorizont von Sprechern verknüpft werden. Einige Vertreter der Philosophischen Anthropologie unternahmen beträchtliche Anstrengungen, um in ihre Überlegungen zur Entstehung von Kultur naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu integrieren. Arnold Gehlens Theorie der Menschwerdung vermittelt heute noch bedeutende Einsichten in die Schaffung der Welt des Menschen. Aus gegenwärtiger Sicht leidet sie allerdings an ihrer pauschalen Zurückweisung der Grundannahme der Evolutionstheorie Darwins, dass sich der homo sapiens aus hominiden Vorläufern entwickelt hat. Nach seinem Entwurf tritt der Mensch als Gesamtwesen, mit aufrechtem Gang, mit ausgebildeten technischen Fertigkeiten und der Möglichkeit zu Sprache und Denken in die Welt. Für Helmuth Plessner besitzt der Mensch im Unterschied zum Tier die geistige Fähigkeit, die Position seines Gegenübers einzunehmen: die exzentrische Positionalität, während Tiere an die Position des direkten Gegenübers, an die frontale Positionalität, gebunden bleiben. Wie die Fähigkeit zum Positionswechsel entstand, diskutiert Plessner jedoch nicht. Er differenziert auch nicht die stufenweise zunehmende Fähigkeit des Perspektivenwechsels in der Entwicklung des (kindlichen) Denkens.9 An der Genese jener Eigenschaften, die den Menschen ausmachen, ist die deutsche Philosophische Anthropologie generell wenig interessiert.10 So beachtet sie die Erkenntnisse der russischen, französischen und Genfer Entwicklungspsychologie (Lew Wygotski, Henri Wallon und Jean Piaget) ebenso wenig wie die empirischen Befunde von Kulturanthropologen, die eine Natur und Kultur umfassende Sichtweise entwerfen. Anders die Historische Anthropologie, die seit den 9
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Als ein Beispiel für Arbeiten zur Evolution der Perspektivität siehe Henrieke Moll: »Über die Entwicklung eines Verstehens von Wahrnehmung und Perspektivität«. Arnold Gehlen gibt zwar einen Grund an, warum der Mensch seine geistigen Fähigkeiten ausgebildet hat: Als »Mängelwesen« sei er durch die Notwendigkeit des Überlebens dazu gezwungen worden, »Geist« hervorzubringen. In seine Konzeption entwickelt er originelle Thesen zur Entwicklung der Sprache, übergeht aber die Dimensionen des Gesellschaftlichen und der Materialkultur.
13. Die Hermeneutik des Subjekts als Frage der Anthropologie
1960er-Jahren in Frankreich entstand. Von Forschern wie André LeroiGourhan, Jean-Pierre Vernant, Michel Foucault, Pierre Bourdieu und in neuerer Zeit Philippe Descola werden empirische Forschungen aus der Paläontologie, der Kulturanthropologie und Vergleiche mit der frühen griechischen Antike aufgenommen und zur Ausarbeitung von Konzepten der Menschwerdung verwendet. Ein Beispiel für die Verbindung von Natur und Kultur im Menschen ist der antike Begriff der Zweiten Natur.
Die Umformung natürlicher in kulturelle Merkmale Mit dem Begriff der Zweiten Natur wird von Aristoteles schon in der Antike ein Modell der Kulturentwicklung vorgeschlagen.11 Er entwirft eine einfache Struktur, die wir zur Beantwortung unserer Frage heranziehen können: Aristoteles nimmt an, die Zweite Natur entstehe aus der Natur des Menschen durch einen Entwicklungsprozess unter wesentlicher Beteiligung der menschlichen Gemeinschaft. Ansatzpunkt ihrer Entstehung ist der menschliche Körper: Seine ursprünglich natürlichen Vollzüge werden zu selbständig ablaufenden kulturellen Handlungsweisen, zu Gewohnheiten gemacht. Aristoteles nennt die Zweite Natur hexis, in der lateinischen Tradition wird sie als habitus bezeichnet. Der habitus hat einen äußeren und einen inneren Aspekt. So umfasst die aufrechte Haltung eines Menschen zum einen seine gerade Körperhaltung, zum anderen seine Aufrichtigkeit. Das Beispiel macht deutlich, dass mit der Umgestaltung der Natur zur Zweiten Natur eine Bewertung hinzutritt. Bewertet wird die Qualität des Handelnden, seine aretē, sein Gut-Sein in Bezug auf sein Handlungsziel.
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Aristoteles: Nikomachische Ethik. Zum Begriff der Zweiten Natur siehe Kapitel 5 diesem Band »Die Zweite Natur als Habitus«. In diesem 13. Kapitel wird das Konzept der Zweiten Natur unter dem Aspekt der Entstehung der menschlichen Kultur diskutiert, während sich das Kapitel 5 auf die Bewältigung der menschlichen Praxis konzentriert.
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Das Gut-Sein ist kein ausschließlich innerer Wert – es wird an bestimmten Anzeichen in der Praxis des menschlichen Handelns sichtbar. Im Denken der Moderne gehört das Anzeigen von kulturell bewerteten Qualitäten zur symbolischen Dimension des Handelns. So geben insbesondere Gewohnheiten Auskunft über den Grad des gesellschaftlichen Gut-Seins eines Menschen. Diesen Gedanken findet man heute in Pierre Bourdieus Konzept des Habitus wieder:12 Die aretē, die gute Qualität eines sozialen Akteurs drückt sich symbolisch am Stil seiner Handlungen, an seiner Lebensweise und an seinen Präferenzen bei der Wahl von Objekten aus, die für seine Lebensgestaltung typisch sind. Nach Bourdieus praxeologischer Soziologie lassen sich am Stil und den Präferenzen distinktive Qualitäten erkennen, welche die Situierung einer Person in der gesellschaftlichen Hierarchie anzeigen.13 Im Vergleich der Handelnden untereinander erhalten die Eigenschaften der Zweiten Natur Bewertungen und Bedeutungen im Sinne eines Besser-Seins bzw. Schlechter-Seins. Es ist eine genuin anthropologische Frage, wie die Umformung natürlicher in kulturelle Merkmale und Verhaltensweisen geschieht. Im Folgenden soll sie an einem exemplarischen Fall diskutiert werden. Mein Beispiel ist die sprachliche Benennung von nichtsprachlichen Objekten. Es zeigt, wie sich Sinneswahrnehmung, Sprache, Körpergebrauch und Interaktion zwischen Menschen überschneiden, also vier Bereiche, die eine (erste) Natur, eine materielle Existenz besitzen. Sie können mit Methoden der Naturwissenschaft und Informatik beschrieben werden. Nach der Transformation in eine Zweite Natur, ist dies nur noch für begrenzte Teilbereiche möglich, insofern sie jetzt im Raum kultureller Symbole situiert sind. Sie haben einen anderen theoretischen Status als zuvor erhalten, als sie noch reine Naturobjekte waren. Ihre wissenschaftliche Behandlung bedarf eines anderen Beschreibungsparadigmas. Eben dies ist der grundlegende Gedanke der anthropologischen Forschung. 12 13
Pierre Bourdieu entwickelt den Begriff des Habitus als soziologisches Konzept zuerst inZur Soziologie der symbolischen Formen. Siehe Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede.
13. Die Hermeneutik des Subjekts als Frage der Anthropologie
Nehmen wir den Vorgang des Benennens eines Objekts im Sinne einer hinweisenden Definition: »Dies ist ein A.« Im Kontext einer Kommunikation wird von der Benennung verlangt, dass sie richtig ist. Sie muss zum einen das reale Objekt erfassen und zum anderen mit den Konventionen der Sprachgemeinschaft übereinstimmen. Damit sind zwei unterschiedliche Anforderungen angegeben: Die Benennung muss einen Bezug zu dem Gegenstand A herstellen, und sie muss die Semantikregeln korrekt anwenden. Die richtige Referenz des benannten Objekts und die korrekte Anwendung der Semantikregeln sind gleich wichtig: Ein grammatisch korrekt gebildeter Aussagesatz kann ohne Gegenstandsbezug und damit inhaltlich leer sein.14 Ein angedeuteter Gegenstandsbezug wird bei fehlerhafter Syntax unverständlich.15 Für unsere Diskussion ist der Gegenstandsbezug besonders aufschlussreich. Er verknüpft ein materielles Objekt, beispielsweise einen Ring, mit einem semantischen und symbolischen Feld. Bei einem rein praktischen Handeln können wir das gemeinte Objekt körperlich berühren oder darauf zeigen. Hingegen ist ein Benennen kein Anfassen mit der Hand, sondern ein Erfassen mit der Sprache. Den ersten Fall kann man physikalisch und gehirnbiologisch als eine Abfolge handmotorischer Akte beschreiben. Dabei bleibt die Fragen offen, wie das angefasste Objekt identifiziert und sprachlich korrekt als Ring benannt wird. Ein Gehirnforscher würde als Antwort auf die Regionen des Gehirns verweisen, in der zum einen die Handmotorik, zum anderen das Sprechen prozessiert wird. Es bleibt jedoch die Frage offen, wie die Aktivitäten dieser Zentren mit dem symbolischen Gebrauch der Sprache verknüpft werden können. Die Aktivierungen des Sprachzentrums sind gehirnbiologische Prozesse, die selbst keine semantische Dimension haben, also keine Bedeutungen hervorbringen können. Das Sprechen einer Sprache ist hingegen der Gebrauch sprachlicher Symbole in einer gesellschaftlichen Praxis, die Bedeutungen erzeugt. Es gibt keine
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Noam Chomsky führt folgendes Beispiel an: »Pirots kerulize elatically« (in: Chomsky: Aspekte der Syntaxtheorie). Ludwig Wittgensteins Beispiel lautet: »Milch mir Zucker« (in: Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen).
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»Übersetzung« oder »Brücke«, also keine direkte Verbindung der Gehirnprozesse mit der Sphäre, in der Symbole bedeutungsvoll verwendet werden.
Nietzsches Metapherntheorie Auf dieses Problem macht Friedrich Nietzsche mit einer auf den ersten Blick waghalsig erscheinenden Argumentation aufmerksam. In seinem frühen (zu Lebzeiten unveröffentlichten) Aufsatz »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne« behauptet er, dass es sich bei der sprachlichen Objektbenennung um einen dreigliedrigen Vorgang handelt. Er entwirft einen Übergang von einem natürlichen Prozess in eine symbolische Operation. Nietzsche dramatisiert seine Beschreibung, indem er den Benennungsvorgang unter die Frage nach der Wahrheit stellt: Gibt uns die Sprache ein wahres Bild der Wirklichkeit? In Nietzsches Darstellung nimmt die Benennung ihren Ausgang in einem natürlichen Vorgang, in einem »Nervenreiz«, also einem biologischen Prozess. Nietzsche fasst ihn konsequent als auslösenden physiologischen Impuls für die Bildung einer sprachlichen Referenz auf: »Dies ist ein Blatt«. Jahrzehnte später wird der »Logische Atomismus« (u.a. Bertrand Russell), auf der Suche nach einer wahren Erfassung der Welt, eine ähnliche naturwissenschaftlich inspirierte Annahme entwickeln, allerdings ohne Bezug auf Nietzsche. Von welcher Ursache der Nervenreiz hervorgerufen wird, kann grundsätzlich nicht geklärt werden. Es kann nicht einmal festgestellt werden, ob seine Ursache in der äußeren Welt (in einem Blatt) liegt oder ob er vom empfindenden Organismus selbst (also vom Nervensystem des Sprechers) hervorgebracht wird.16 Das Subjekt kann den natürlichen Vorgang nicht beobachten; es kann nur spüren, dass es von einem Reiz affiziert wird. In allgemein verständliche Worte fassen, kann es dieses Spüren nicht. Es hat kein Wissen über die Vorgänge in seinem Organismus. 16
Friedrich Nietzsche, »Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne«, S. 878.
13. Die Hermeneutik des Subjekts als Frage der Anthropologie
Auf die Kausalursache Nervenreiz hin reagiert das Subjekt: Es »überträgt« den Nervenreiz »in ein Bild« – so entsteht eine »erste Metapher« (ebd., S. 879). Nicht der Nervenreiz selbst löst das Bild aus. Dies geschieht durch die symbolische Produktion des »Sprachbildners«. Die von ihm erfundene Metapher ist kein Abbild der Wirklichkeit, die das Subjekt ja nur als Reiz erfährt. Vielmehr ist es eine Schöpfung, die Nietzsche in die Nähe einer künstlerischen Erfindung rückt. Auf die gegebene Wirklichkeit ist die Metapher nur indirekt bezogen, insofern ihre Produktion von einem Nervenreiz auslöst wird. Den Bezug zwischen empirischer Wirklichkeit und Sprachbild stellt der Sprachbildner mit seiner quasi-künstlerischen Reaktion her. Sein Beitrag ist also nicht einfach die Anwendung eines sprachlichen Etiketts, sondern besteht in der sensiblen Reaktion, die den Nervenreiz schöpferisch verbildlicht. In einem zweiten Schritt »formt« der Sprecher das Bild »in einem Laut« nach (eine »zweite Metapher«). Mit der Schöpfung von Sprachlauten entfernt sich die Sprache einen weiteren Schritt von den bezeichneten Dingen. Diese Metaphorik ist bei Nietzsche keine Lautmalerei wie bei Herder. Das Wort »Blatt« ahmt nicht Laute der Natur nach – der Sprachbilder erzeugt wie ein Musiker eine eigene vokale Wirklichkeit. Aus dem natürlichen Vorgang des Nervenreizes entstehen also in zwei Schritten die beiden aufeinander bezogenen metaphorischen Kreationen: die Bilder und die Laute: »Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz neue. […] Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen.« (Nietzsche, ebd., S.879). Eine Entsprechung können die Metaphern schon deswegen nicht herstellen, weil der Sprecher die »Wesenheiten« nicht kennt. Von den beiden Metaphern – der bildlichen und der lautlichen – wird »die Relation der Dinge zu den Menschen« hergestellt (ebd.). Zum einen bildet der Sprecher eine Beziehung zwischen den Dingen und sich (er empfindet sie als Nervenreiz), zum anderen zwischen sich und anderen Menschen,
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an die er seine Worte, also die lautlichen Metaphern, richtet. Gemeinsam mit den anderen Sprechern erschafft er eine symbolisch konstituierte, »erdichtete« Welt. Auf den Nervenreiz kann man zwar nicht die Wahrheit, aber ein Sprechen über die gemeinsam errichtete Welt aufbauen. Man kann sich anderen Menschen mitteilen, die ebenfalls affiziert werden und ihrerseits vergleichbare Metaphern bilden. Nach Wittgenstein entsteht die »Übereinstimmung der Urteile«, welche die Grundlage des Verhältnisses der Sprache zur Welt bildet, nicht aufgrund von Nervenreizen. Sie wird vielmehr in einer gemeinsamen Praxis, im Gebrauch der Sprache, hergestellt. Ein solcher Fall ist Nietzsches Beispiel der Benennung eines Blatts. Für die Wittgensteinsche Gebrauchstheorie der Sprache stellt diese kein Problem dar. Nietzsche geht es jedoch nicht um die einfache Objektbenennung, sondern um die innerpsychische Wirkung von Sinneseindrücken auf den Sprecher: um sein Affiziert-Werden und sein kreatives Vermögen, dieses in Metaphern zu fassen. Mit Wittgenstein ausgedrückt, geht es ihm um das Sprechen über innere Vorgänge, also um ein komplexeres Problem als um eine hinweisende Denotation. Bei allem Nachdruck, den Nietzsche auf Kreativität legt, unterscheidet sich die Metaphernbildung der Alltagssprache von den freien Bildschöpfungen der Dichtung. Sie wird von einem Nervenreiz in einem Sprecher ausgelöst, der in einer pragmatischen Situation handelt und sinnlich in sie eintaucht. Auf diese Weise bleibt die alltägliche Sprache – anders als die Sprache der Dichtung – zwiefach an die materielle Welt gebunden: durch Nervenreiz und Handeln. Allerdings ist die Alltagssprache kein direkter Ausdruck der Welterfahrung. Zwischen materieller Erfahrungswelt und dem Bereich des Symbolischen (der Sprache) klafft ein Zwischenraum. Beide bilden verschiedene Sphären, die keine direkte Verbindung miteinander haben. Es gibt jedoch den indirekten Bezug zwischen Nervenreiz und Bildproduktion. Er ist nicht kausal, aber auch nicht rein willkürlich: »zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt giebt es keine Causalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten, ich meine eine andeutende Uebertragung, eine nachstammelnde Uebersetzung in eine ganz fremde Sprache.«
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(ebd., S. 884) – Eine Übersetzung des Nervenreizes in die Sprache kann jedoch nicht in Frage kommen. Sie wäre nur möglich, wenn man das innere emotionale Geschehen kennt und die Richtigkeit der Übersetzung unabhängig vom fühlenden Subjekt kontrollieren kann. Insofern diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, wäre sie nur scheinbar richtig und damit wertlos.
Re-Konfiguration Wie kommt es, dass der Nervenreiz als kausaler Impuls den Prozess eines nicht-kausalen Verstehens der Welt auslöst? Bei unserer Arbeit im Cluster »Languages of Emotion« haben wir ein Modell des Sprechens über Emotionen entworfen, das sich auf diese Frage anwenden lässt:17 Die emotionalen Prozesse lassen im Gehirn charakteristische Strukturen erkennen, die von der Neurowissenschaft oft für Repräsentationen von Emotionen oder gar für die Emotionen selbst gehalten werden – ein Irrtum, insofern Emotionen erst in der Sphäre des Symbolischen gebildet werden. An ihnen lassen sich jedoch Muster erkennen, die man als Vorformen von Emotionen ansehen kann; der Neurobiologe Stefan Koelsch bezeichnet sie als »Emotionsperzepte«.18 Als natürliches Geschehen sind sie naturwissenschaftlich erfassbar. Mit Hilfe bildgebender Verfahren der funktionellen Magnetresonanz-Tomografie kann man sie im Gehirn lokalisieren und ihre Struktur analysieren. Eine Übersetzung dieser Struktur in alltagssprachliche Begrifflichkeit kann jedoch ausgeschlossen werden, ebenso jede andere direkte Beziehung zwischen beiden Bereichen. Wir nehmen vielmehr an, dass in der Sprache »ReKonfigurationen« natürlicher Strukturen gebildet werden, insbesondere sprachliche Bilder. Sie sind eine Art Pendant des emotionalen Erlebens
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Gunter Gebauer/Manfred Holodynski/Stefan Koelsch/Christian von Scheve: Von der Emotion zur Sprache. Stefan Koelsch, »Vom Affekt zur Emotion und von der Emotion zum Wort – Neurobiologische Korrelate«. Siehe auch Koelsch et al.: »The quartet theory of human emotions«.
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des Subjekts – Nachbildungen des emotionalen Geschehens in der Alltagssprache. Das Mittel, mit dem der Sprecher den Anderen einen Eindruck von seinem inneren Geschehen gibt, sind metaphorische Ausdrücke. Was ihm geschieht, ist auch anderen Menschen widerfahren, kann also von ihnen verstanden werden. Als Mitglieder der Sprachgemeinschaft haben sie bildliche Ausdrucksmöglichkeiten erworben, die ihre subjektiven Erfahrungen im intersubjektiven Raum der Sprache, in Sprachspielen der Empfindungen (Wittgenstein), darstellen – Nachbildung von natürlichem Geschehen. Sie sind künstliche Schöpfungen der Sprache (oder des »Sprachbildners«), die eine Verständigung zwischen den Menschen ermöglichen.19 Die Fähigkeit der Nachbildung wird durch die Interaktion zwischen den Eltern und dem Kind im Prozess des Spracherwerbs entwickelt. Die Eltern reagieren auf die Bedürfnisse des Kindes nach Zuneigung, Tröstung und Hilfe bei Enttäuschungen. Sie »vermitteln dem Kind so etwas wie eine Protointerpretation seiner Wünsche sowie Einsicht in die Ursache seiner Betrübnis und Möglichkeiten der Tröstung«.20 Solche Interaktionen geben ihrem gemeinsamen Leben »auch seine Form« (Taylor, ebd.). Einen Anspruch auf Wahrheit ihrer Interpretation des emotionalen Geschehens beim Kind können die Eltern jedoch nicht erheben. Sie stellen keine Übereinstimmung zwischen ihren Erfahrungen und dem Erleben der Emotionen beim Kind her. Das wäre ihnen nur möglich, wenn ihnen die Psyche des Kindes direkt zugänglich wäre. Sie können aber eine Übereinstimmung mit dem Kind über ihre Re-Konfiguration der Emotion feststellen. Das Verfahren der Re-Konfiguration ist ein bewährtes Mittel für die »Erfindung« von sprachlichen Artikulationsweisen, die das Innere von
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Den »Umweg« über metaphorische Ausdrücke muss das Subjekt auch dann nehmen, wenn es seine eigenen Gefühle sprachlich ausdrückt. Es hat sein Gefühl zwar unmittelbar, aber mit dem Fühlen ist nicht zugleich die Verständigung mit den Anderen gegeben. Auch für den Fühlenden gilt, dass er sprachliche Bilder finden muss, mit denen er sich verständlich machen kann. Charles Taylor: Das sprachbegabte Tier, S. 106f.
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Menschen ausdrücken.21 Anders als beim »Finden von Wörtern für unabhängig gegebene Gegenstände« tragen »die Wörter hier dazu bei […], die Bedeutungen, zu deren Beschreibung sie dienen können, überhaupt erst zu formen. Die Einführung der Wörter hat eine konstitutive Dimension« (Taylor, ebd., S. 182).22 Sie erschließen die Möglichkeit, das emotionale Geschehen nachzubilden und in einem vom Sprecher gewählten metaphorischen Modell darzustellen. Auf diese Weise können sie »eine Perspektive schaffen […], aus der Dinge sichtbar werden, die sonst nicht zum Vorschein kommen« (ebd., S. 270).23 Dies geschieht in der Selbstbeschreibung des Erlebenden, in der Akteurperspektive der ersten Person, das heißt in der Sprache der menschlichen Bedeutungen. Sie lässt sich »nicht in die Sprache jener objektiv identifizierbaren Zustände übersetzen, die ohne Bezugnahme auf das Selbstverständnis des Akteurs von außen erfasst werden können« (S. 178).24 Im modernen »Streit der Fakultäten« nimmt Nietzsche eine vermittelnde Position ein. Seine Sprachtheorie ist auf einem natürlichen Prozess gegründet, den man mit modernen neurobiologischen Theorien rekonstruieren kann. Auf dieser Basis baut er eine geisteswissenschaftliche Position auf, die man als eine Wiederbelebung des antiken Konzepts der mimetischen Fiktion ansehen kann. Die Gestaltungskraft der Sprache deutet er anthropologisch, als einen »Fundamentaltrieb des Menschen (zur Metaphernbildung – meine Hinzufügung), den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen würde«.25 Die Wirkung dieses Triebs beruht nicht
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Wir sehen aber, dass selbst gewöhnliche Sprecher ohne sprachbildnerische Fähigkeiten ihre Gefühle (wie Angst, Druck, Freude, Lust) für andere verständlich ausdrücken können. Die Umgangssprache stellt eine Fülle von Metaphern für den sprachlichen Ausdruck ihres emotionalen Geschehens zur Verfügung. Siehe auch Hans Julius Schneider: Phantasie und Kalkül. Siehe auch George Lakoff/Mark Johnson: Philosophy in the Flesh. Taylor fährt wie folgt fort: »Menschliche Bedeutungen erschließen Perspektiven auf uns selbst und unsere Welt, die sich nicht ohne weiteres mit biologischen Bedeutungen in eine Linie bringen lassen.« (ebd., S. 179f) Friedrich Nietzsche, »Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne«, S. 887.
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auf kognitiven Prozessen, sondern auf einem von Kindheit an gesammelten Fundus von Übung und Erfahrung mit emotionalen Metaphern. Wie sie auf andere Menschen wirken, erfährt ein Sprecher durch die Resonanz seiner Sprache bei anderen Menschen. Die Sprachspiele der Alltagssprache sind keine ungebundenen Spiele, sondern sind zu einem beträchtlichen Teil von Gewohnheit, Konvention und Übung geprägt. Nietzsche nennt diesen Prozess »das Hartund Starr-Werden einer Metapher« (ebd., S. 884). Ihre ersten Schöpfungen mögen kreativ, »lebendig«26 gewesen sein. Im alltäglichen Sprechen werden sie zu Routinen, zu einer Zweiten Natur. Ihnen sieht man nicht mehr an, welches Können und welche Finesse dabei im Spiel waren, als sie von der Sprachgemeinschaft als frische Re-Konfigurationen emotionaler Erlebnisse in unsere Sprache aufgenommen wurden. Nach Ernst Tugendhat ist der Mensch das Wesen, das sich durch Selbstvergewisserung auszeichnet. Aufgrund dieser Fähigkeit kann er sich seiner biologischen Natur beobachtend gegenüberstellen und sie zugleich empfinden. In dieser Doppelposition spricht er in der ersten Person als Einzelsubjekt im Singular (Ich) und im Plural als Gattungswesen (Wir). Mit der Re-Konfiguration haben wir ein Verfahren gekennzeichnet, das der Ursprungsnatur des Menschen durch ihre Integration in die Zweite Natur einen gewissen Freiheitsspielraum gibt. Sie gestaltet den natürlichen Körper zivilisatorisch um und macht ihn zu einem Akteur und Objekt in der symbolischen Sphäre. Mit diesem Verfahren vergewissert sich der Mensch seiner inneren Prozesse. Anders als die sinnliche Welt, die allen Lebewesen zugänglich ist, bedarf es erheblicher Leistungen der Sprache und der Sprecher, um ein Verständnis von dem zu erlangen, was in uns geschieht: Es werden Sprachspiele eingeführt, Re-Konfigurationen mit Hilfe von Metaphern gefunden und die Fähigkeit des Verstehens ausgebildet, die das Innere auf das Äußere und dieses auf das Innere bezieht. Verstehen ist, wie Nietzsche zeigt, ein schöpferischer Prozess. In seinem Zentrum steht der Mensch als »Sprachbildner«. Als plurales Subjekt ist er Teil einer Sprachgemeinschaft. In Kooperation 26
Siehe Paul Ricoeur: Die lebendige Metapher.
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mit anderen Sprechern formt er metaphorische Ausdrucksweisen innerer Prozesse, wie »Gewissensbisse«, »vor Liebe dahinschmelzen«, »süßliche Freundlichkeit«, »beißender Hohn«, »Zerknirschung«. Ein Sprecher allein wäre nicht imstande, Re-Konfigurationen von inneren Geschehnissen in die Alltagssprache einzuführen. Innovationen dieser Art bedürfen, auch wenn sie von bahnbrechender Poesie angeregt werden, gemeinsamer Nachschöpfung und Neuformation des Sprachgebrauchs. Ein wichtiger Aspekt der Selbstvergewisserung des Subjekts ist eine Verständigung darüber, was in anderen Menschen geschieht. Sie erschließt ihm, was Menschen für einander und für sich sind. Ohne eine Kenntnis davon würden ihm sein Selbst und die Anderen unverständlich bleiben. Wir müssen die Bedeutungen verstehen, die Empfindungsausdrücke in der Innensicht der Akteure haben – vor dem Hintergrund der Praktiken, aus denen sie hervorgehen.
Anthropologie als Selbstvergewisserung Ausgangspunkt dieses Kapitels war Ernst Tugendhats Neubewertung der Anthropologie. Sie ist von erheblicher Tragweite: Anthropologie nimmt heute die Rolle einer prima philosophia ein. Sie stellt die nicht weiter begründbare Grundlage der Philosophie dar. Tugendhats Postulat ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einer Letztbegründung. Auch wenn diese fehlt, bleibt die Anthropologie als prima philosophia nicht in der Schwebe, insofern sie mit der Situation des Fragenden verknüpft ist: Wer Kants Frage nach dem Menschen stellt, spricht nicht als einzelnes Ich, sondern als ein gemeinschaftliches Wir. Das fragende Subjekt ist Teil einer Pluralität von Menschen: Was sind wir für uns selbst? Darin steckt die weitere Frage: Was sind wir für die Anderen? Und was sind sie für uns? Die anthropologische prima philosophia geht von einer Selbstbefragung aus, die zu einer Selbstvergewisserung mit Bezug auf die Anderen führt. Die Antwort auf diese Befragung ist offen. Das unterscheidet die Anthropologie von der Philosophie des Idealismus. Mit der Selbstvergewisserung hat diese kein Problem: Sie ist dem Subjekt durch die An-
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strengung des Geistes unmittelbar gegeben. Gegen den idealistischen Entwurf macht die Anthropologie auf zwei Probleme aufmerksam: einmal, dass dem Menschen Geist nicht von Geburt gegeben ist; zum anderen, dass der sich entwickelnde Geist einer Sprache bedarf, in der er sich ausdrücken kann. Ihre Grundlagen hat die Sprache in der Entwicklungsgeschichte des Menschen – im praktischen Tätigsein in der Welt. Die prima philosophia entsteht in einem Prozess, der von praktischem Handeln ausgeht und sich in geistigen und sprachlichen Prozessen fortsetzt. Mit dieser Antwort können wir das Fragen – vorübergehend – beruhigen. Wir wissen aber, dass diese Prozesse nicht abgeschlossen sind, dass sie auf keinen Endpunkt, auf kein Ziel zulaufen. Gegen das Hegelsche Ideal des zu sich selbst kommenden absoluten Geistes setzt Friedrich Nietzsche die Vorstellung des Menschen als eines »noch nicht festgestellten Thiers«. Mit seiner Aktivität ist der Mensch daran beteiligt, die Grundlagen von Sprache und Geist im Fließen zu halten. Im Fluss sind auch seine Fähigkeiten, die ihm Orientierung in der Welt und Selbstvergewisserung geben. Die Heraklitische Weltsicht trifft auf das menschliche In-der-Welt-Sein zu. Selbstvergewisserung kann das Subjekt aus seiner Selbstbefragung gewinnen. Michel Foucault hat ihre Ursprünge in der antiken Philosophie als eine geistige Aktivität beschrieben, die der Mensch auf sich selbst richtet; er nennt sie »Hermeneutik des Selbst«, herméneutique du soi.27 Den Begriff der Hermeneutik verwendet er anders als die Hermeneutiker der (deutschen) philosophischen Tradition von Boeckh und Schleiermacher über Dilthey bis Gadamer. Anders als diese lehnt Foucault die Philosophie des Subjekts ab, auf die sich die traditionellen Theorien gründen. Er verfolgt, allerdings mit anderen Mitteln, ein ähnliches Ziel: den Menschen verstehen. Foucaults Denken vertraut nicht der Methode der klassischen Hermeneutik, die glaubt, an Texten und Texttraditionen den Geist ihrer Autoren erfassen zu können. Vielmehr sucht er nach jenen Strategien, mit denen sich ein Autor als philosophisches Subjekt konstituiert. Dies geschieht durch seine Tätigkeit, durch sein Schreiben, Reden und Denken, ohne dabei von einem denkenden Ich 27
Michel Foucault: L’herméneutique du sujet; ders.: L’origine de l’herméneutique de soi.
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geleitet zu werden.28 Erst nach seinen kreativen Denk- und Schreibprozessen wendet er sich, post factum, mit selbstvergewissernder Tätigkeit zu dessen Denken zurück, um seine Ergebnisse zu analysieren und zu sichern.29 Foucault integriert das hermeneutische Verstehen in die Anthropologie. Der gleichen Methode folgen alle Kapitel dieses Bandes: Hermeneutisches Fragen wird mit den Konzeptionen von Handeln, Habitus, Sprachspiel, Regeln, Techniken des Körpers verbunden. Verstehen wird hier nicht als eine Methode angesehen, den Geist von Anderen zu erfassen. Es ist ein Explorieren des Subjekts – seines Verhältnisses zu sich selbst und zur Wahrheit. Als Teil der Anthropologie etabliert die Hermeneutik ein Beziehungsfeld mit den Achsen: Selbstsicht und Fremdsicht, Ich und Andere, immer bezogen auf die Gemeinschaft des Wir. Alle diese Beziehungen sind variabel. Je nach Konstellation kommt es zu unterschiedlichen Sichtweisen darüber, was als Wahrheit des Subjekts gilt.30 Welchen Gewinn bringt die Integration des hermeneutischen Fragens in die Anthropologie als prima philosophia? Die Antwort kann kein Insistieren auf der Überlegenheit der einen Disziplin über die andere sein. Darum geht es nicht – anders als in der Kontroverse von Erklären und Verstehen im 20. Jahrhundert.31 In der neueren Konzeption der Anthropologie, der Historischen Anthropologie, werden die Voraussetzungen des Denkens des Menschen über sich selbst herausgearbeitet. Sie rekonstruiert den sozialen und historischen Prozess, durch den sich das Selbst mit seinen Techniken, Diskursen, Einstellungen zu den Anderen und seiner ethischen Haltung herausbildet und verändert. Ein solches
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Charles Taylor nennt diese vorgestellte die Gedanken und Handlungen von innen her leitende Instanz »punktförmiges Ich«, in ders.: Quellen des Selbst. Dieses Verfahren lässt sich besonders gut an den postum veröffentlichten Vorlesungen Michel Foucaults erkennen (siehe insbesondere Michel Foucault: Die Regierung der Lebenden). Ein markantes Beispiel stellt Michel Foucault mit der Entwicklung des Wahrheitsbegriff in den frühchristlichen Auffassungen von Taufe und Beichte dar, in: Die Regierung der Lebenden. Zur Kritik der traditionellen Hermeneutik siehe Gunter Gebauer: Der Einzelne und sein gesellschaftliches Wissen.
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Fragen richtet sich auch auf die Grundlagen der theoretischen Erkenntnis des Menschen. Und darauf, ob diese Antworten einleuchten oder ob sie verändert werden müssen, wenn dies nicht der Fall ist. Die Historische Anthropologie rekonstruiert die menschlichen Bedingungen des Denkens in der Situation des In-der-Welt-Seins und die Bedeutung dieses Denkens für den Menschen.
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Wie wird man ein Mensch?
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Kulturwissenschaft Gabriele Dietze
Sexueller Exzeptionalismus Überlegenheitsnarrative in Migrationsabwehr und Rechtspopulismus 2019, 222 S., kart., Dispersionsbindung, 32 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4708-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4708-6
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Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)
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