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German Pages 305 Year 2022
Peter Geimer
Die Farben der Vergangenheit
Peter Geimer
Die Farben der Vergangenheit Wie Geschichte zu Bildern wird
C.H.Beck
Mit 101 Abbildungen Gedruckt mit Unterstützung der DFG im Rahmen der Kolleg-Forschungsgruppe BildEvidenz. Geschichte und Ästhetik der Freien Universität Berlin © Verlag C.H.Beck oHG, München 2022 Umschlaggestaltung: Kunst oder Reklame, München Umschlagabbildung: Heinrich Kühn, Hans, Lotte und Walter Kühn und Miss Mary Warner im Grünen, Fotografie, 1907, Österreichische Nationalbibliothek Satz: Fotosatz Amann; Memmingen ISBN Buch 978-3-406-78061-5 ISBN eBook (epub) 978-3-406-78062-2 ISBN eBook (PDF) 978-3-406-78063-9
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Inhalt
Einleitung 7 1. Meissonier und das «Dagewesensein der Dinge» 17 1. Detail, Abfall, Spur 17 2. Der Wirklichkeitseffekt 39 3. Ein Bündel Stoff 43 4. Bild und Einbildung 47
2. Eintritt ins Gewesene. Das Panorama 57 1. Die große Illusion 57 2. Exzess der Mimesis – das faux terrain 63 3. Erzählen im Stillstand 73 4. Exkurs: Ein Jahrhundert dreht sich im Kreis 77 5. Aufzeichnung, Augenzeugenschaft, die «Orte selbst» 83
3. Im Fixierbad der Geschichte. Der Einsatz der Fotografie 93 1. Die Augen, die den Kaiser gesehen haben 93 2. ‹Hier war es›. Das Bild und der Ort 99 3. Fotografie als «Generalinventar» 115 4. Odeonsplatz, 2. August 1914 128 5. Das letzte Bild 133 6. Bilder ohne Kontext 141 7. Evidenz des Bildes, Wissen der Schrift – die Ausstellung «Verbrechen der Wehrmacht» 153 8. Die Welt in Farbe und die «Wahrheit des Schwarz-Weißen» 166 9. Die nachkolorierte Zeit I 175
4. Found footage und die verlorene Zeit 183 1. «Archäologischer Verismus» im Film 183 2. Kracauers Unbehagen 191 3. «Geriesel» – San Francisco, 14. April 1906 204 4. Zweimal found footage – The Stranger (1946) und Overlord (1975) 212 5. Die nachkolorierte Zeit II 220 6. Harun Farocki – «Politik der minimalen Intervention» 240
Nachwort (Der Vergangenheitseffekt) 253 Dank 261 Anmerkungen 262 Literatur 287 Bildnachweis 300 Personenregister 302
Einleitung
Die Vergangenheit ist unbeobachtbar. Man hat von ihr gehört oder gelesen, man erinnert sich an sie, sortiert ihre Hinterlassen schaften oder macht sich nachträglich ein Bild davon, wie sie gewesen ist. Aber keine dieser Formen des Gedenkens stellt die Vergangenheit wieder her. Was wir von ihr wissen oder imaginieren, erfahren wir über Umwege: Erzählungen, Dokumente, Bilder, materielle Überreste. Das Rekonstruierte bleibt bruchstückhaft, unscharf, unvollendet – Fragment auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Das gilt für die eigene, biographische Erinnerung, aber auch für das Gedächtnis der historischen Wissenschaften. «Ich betreibe nicht nur Geschichte in dem Sinn, dass ich historische Texte produziere», notiert Michel de Certeau, «ich gelange durch meine Arbeit auch zu dem Bewusstsein, dass etwas geschehen ist, das heute abgestorben ist und in lebendiger Form unerreichbar geworden ist.»1 Am Beginn der historischen Tätigkeit stehen für de Certeau daher nicht die Lebendigkeit, die Fülle und Präsenz des Überlieferten, sondern die Einsicht in die Nichtwieder herstellbarkeit des Vergangenen: «Die Abwesenheit konstituiert den historischen Diskurs».2 Diese Abwesenheit lässt sich vor allem dort erfahren, wo Zeugnisse unentzifferbar geworden oder gänzlich aus dem Reservoir des Über lieferten verschwunden sind. Auf seiner Reise durch Sizilien lässt Goethe im April 1787 das antike Syrakus am Wegesrand liegen, denn «von dieser herrlichen Stadt» sei «wenig mehr als der prächtige Name geblieben».3 Zwei Tage zuvor hatte Goethe in Agrigent an der Seite des Zeichners Christoph Heinrich Kniep vor den Resten des Jupitertempels gestanden und den Bau «wie die Knochenmasse eines Riesengerippes» in der Landschaft liegen gesehen. Für pittoreske Stimmungsbilder war es angesichts der bis zur Unkenntlichkeit entstellten Tempelreste zu spät, und die beiden Reisenden machten die verstörende Erfahrung,
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dass es einen Verfall noch über den Verfall hinaus gab: Auch Ruinen verfallen und enden, wie Goethe im Tagebuch notiert, als «Schutt haufen». Kniep verstaute seine Utensilien, und man verließ den Schauplatz «mit dem unangenehmen Gefühle, daß hier für den Zeichner gar nichts zu tun sei».4 Vom Tempel in Agrigent waren immerhin noch Trümmer, von Syrakus «der prächtige Name» geblieben. Auf dieser Grundlage ließ sich das Verlorene wenn nicht sehen, so doch wenigstens imaginieren. Der äußerste Grad an Unkenntlichkeit ist hingegen erreicht, wenn sich nicht einmal das Verschwinden mehr mit Sicherheit belegen lässt. Wo es weder Reste noch die Namen dieser Reste mehr gibt, erlischt auch die Einbildungskraft. «[…] was nicht mehr ist», schreibt Johann Joachim Winckelmann, «ist als wenn es nimmermehr gewesen ist».5 Für diesen Zustand eines restlosen Vergessens findet der Autor der Geschichte der Kunst des Alterthums ein eindrückliches Bild: «[…] diese Orte sind alle durchgewühlt: von der Anzeige derselben bleibt weniger im Gedächtnis, als die Spur von einem Schiff im Wasser.»6 Zu den Klagen über den unwiederbringlichen Verlust des Vergangenen gesellen sich aber auch Stimmen, die das genaue Gegenteil beschwören – die Überfülle und Aufdringlichkeit des Überlieferten. So gilt ein Jahrhundert nach Winckelmann die Aufmerksamkeit Nietzsches bekanntlich nicht dem Mangel an erhaltenen Zeugnissen, sondern ihrem Überschuss, dem Insistieren einer Vergangenheit, die nicht verschwinden will. Denn das Vergangene, so die Einsicht Nietzsches, muss nicht erst gesucht, heraufbeschworen, aus seinen Trümmern rekonstruiert werden: es erscheint auch ungefragt und behelligt die Gegenwart als Gespenst. «Es ist ein Wunder: der Augenblick, im Husch da, im Husch vorüber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts, kommt doch noch als Gespenst wieder, und stört die Ruhe eines späteren Augenblicks.»7 Während Winckelmann und Goethe die Erfahrung machen, dass Vergangenes sich zusehends entfernt, erinnert Nietzsche an die ebenso zutreffende Wahrheit, dass man es nicht loswird. Das Wasser – bei Winckelmann Inbegriff des Fluiden, dem keine dauer hafte Spur sich einprägen lässt – erscheint nun als Quelle maßloser Überflutung. «Das historische Wissen strömt aus unversieglichen Quellen immer von Neuem hinzu und hinein, das Fremde und Zu-
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sammenhanglose drängt sich, das Gedächtnis öffnet alle seine Thore und ist doch nicht weit genug geöffnet […].»8 Zugleich erinnert Nietzsche daran, dass der Überschuss an Vergangenem kein Schicksal ist, das die Gegenwart tatenlos zu erdulden hätte – im Akt des Historisierens wird dieser Überschuss bewusst herbeigeführt und in Gang gehalten. Dem Leben droht die Gefahr, «an der ‹Historie› zugrunde zu gehen». Dagegen hilft nach Nietzsche nur die «Kunst und Kraft vergessen zu können».9 Weitere einhundert Jahre später weiß auch die Systemtheorie von der «Gefahr der Geschichte» für die Gegenwart: «[…] die Vergangenheit überströmt geradezu die Gegenwart, um ihr zu bestreiten, dass sie sein muss, wie sie ist.»10 Und wie Nietzsche so erinnert auch Niklas Luhmann daran, dass dieser Überschuss nicht alleine durch stetige Ansammlung historischer Bestände von selbst entsteht, sondern auch bewusst herbeigeführt und kultiviert wird. Geschichte wird «restauriert, gepflegt, erhalten und gegen den ihr bestimmten Untergang verteidigt».11 Damit dient sie, so der systemtheoretische Befund, der Gegenwart als «Kontingenzbeweis»: im Wissen, dass alles auch anders sein könnte – und früher tatsächlich auch anders war – relativiert die Gegenwart ihrer eigenen Geltungsansprüche. Zu wenig – zu viel, Versiegen der Quellen – antiquarischer Exzess. Mit diesen Beschreibungen sind nur die Extreme historischer Re konstruktionsarbeit angesprochen. In der Regel haben die historischen Wissenschaften es mit Quellen, Artefakten, Relikten zu tun, die weder spurlos im Unentzifferbaren zu verschwinden drohen noch die Gegenwart als maßloser Überschuss überfluten. Auch sollten die zitierten Stimmen vom achtzehnten bis zum zwanzigsten Jahrhundert nicht den Eindruck erwecken, dass hier zwei Extreme historischer Rekonstruktion einander zeitlich abgelöst oder einander kategorisch ausgeschlossen hätten – also etwa einem Zeitalter des Verlusts eine spätere Epoche des Überschusses gefolgt sei. Von den Leerstellen der Überlieferung weiß man auch im neunzehnten, zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert. Umgekehrt kennt auch bereits das achtzehnte Jahrhundert die Klage über ein Zuviel an Erhaltenem – wie in Herders Lamento über den Verlust so vieler Denkmale des Altertums, in das sich unüberhörbar auch die Erleichterung mischt, dass nicht
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alles sich erhalten hat: «Es ist traurig und ewig unersetzlich, aber vielleicht gut, daß die Barbaren viel von ihnen zerstört haben. Die Menge könnte uns irre machen und unterdrücken […].»12 Schon Herder kennt die ambivalente Erfahrung einer Nachwelt, in der beklagenswerter Verlust und Penetranz des Vergangenen ineinandergreifen.13 So oszillieren die meisten Verfahren historischer Rekonstruktion zwischen Vergegenwärtigung und Entzug: sie arbeiten an der Aneignung des Vergangenen und verarbeiten zugleich die Erfahrung seiner Un verfügbarkeit. Das gilt jedenfalls für die Techniken und Verfahren, von denen dieses Buch handelt – Versuchen zur Wiederherstellung des Vergangenen im Bild. Auch wenn die Sprache traditionell als Leitmedium des Historischen gilt, beruht unsere Vorstellung des Vergangenen maßgeblich auch auf Bildern – Historiengemälden, Fotografien, Filmen, seit neuestem zudem digitalen Animationen. Die genannten Aporien gelten auch hier. Die Geschichte, schreibt Roland Barthes in seinen Bemerkun gen zur Fotografie, ist «hysterisch: sie nimmt erst Gestalt an, wenn man sie betrachtet – und um sie zu betrachten, muß man davon ausgeschlossen sein.»14 Wie also sind die bildnerischen Verfahren beschaffen, mit denen man der Geschichte nachträglich Gestalt verleiht? Was macht die Bilder, Spuren und Aufzeichnungen, die eine Zeit ihrer Nachwelt hinterlassen hat, im Rückblick zu visuellen Zeugnissen? Nicht zufällig haben Historiker ihre Tätigkeit immer wieder mit Metaphern aus dem Bereich des Visuellen beschrieben. So vergleicht Marc Bloch in seiner Apologie der Geschichtswissenschaft die Arbeit des Historikers mit der Rekonstruktion eines nur lückenhaft überlieferten Films: «Von dem Film, den er sieht, ist […] nur das letzte Bild voll ständig erhalten geblieben. Um nun die anderen, die zerstört sind, rekonstruieren zu können, muß er die Spule zunächst einmal zurücklaufen lassen.»15 Reinhart Koselleck wählt zur Beschreibung vergangener «Erfahrungsräume» ein ganz anderes Bild. Es erinnert daran, dass im Erfassen von Geschichte «viele Schichten früherer Zeiten zugleich präsent sind, ohne über deren Vorher und Nachher Auskunft zu geben»: «Chronologisch macht alle Erfahrung Sprünge über die Zeiten hinweg, sie ist keine Kontinuitätsstifterin im Sinne additiver Aufbe reitung der Vergangenheit. Eher ist sie – um ein Bild von Christian Meier zu benutzen – dem Glasauge einer Waschmaschine zu ver
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gleichen, hinter dem dann und wann dieses oder jenes bunte Stück der Wäsche erscheint, die allesamt im Bottich enthalten ist.»16 Blochs Bild der Geschichte als Film vermittelt eine recht zuversichtliche Vorstellung von der Wiederherstellbarkeit des Vergangenen. Sie setzt voraus, dass es eine kontinuierliche, nicht abreißende Kette überlieferter Bilder und Ereignisse gibt. Zwar sind diese Bilder zum Teil «zerstört», und der Historiker sieht in seiner eigenen Zeit immer nur «das letzte Bild» der Reihe. Doch hängt dieses kontinuierlich mit allen vorangegangenen Bildern der Geschichte zusammen, und die Spule des Projektors lässt sich offenbar in linearer Chronologie bis zum Ursprung der Ereignisse zurückdrehen. Das Koselleck/Meiersche Glasauge der Geschichte hingegen lässt eine solche lineare Erzählung der Vergangenheit nicht zu. In seinem Rund sind wechselnde Konstella tionen historischer Schichten zu sehen, je nachdem, was das gewählte historische Programm jeweils aktualisiert und ins Sichtfeld befördert. Zugleich verschwinden andere Konstellationen, Ereignisse und Artefakte in der Tiefe des historischen Reservoirs – was sich zeigt, ist ein unvollständiges, für Momente stillgestelltes Bild. Das vorliegende Buch folgt dieser zweiten Auffassung – dem Verständnis historischer Rekonstruktion als einer Arbeit am Diskontinuierlichen, einer Verschränkung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Vergegenwärtigung und Entzug. Dabei geht die Darstellung über meta phorische Anleihen beim Bild hinaus, denn untersucht werden im Folgenden Verfahren der Rekonstruktion, die im Medium des Bildes vom Vergangenen handeln. Das schließt Bezüge zu Text und Sprache nicht aus. Im Gegenteil: Visuelle Evidenz bedarf zumeist der zusätz lichen V ermittlung durch Sprache. Chronologisch folgt die Darstellung den sehr unterschiedlichen Erscheinungsweisen des Bildes in den Medien Malerei, Fotografie und Film. Jede dieser Techniken verfügt über eigene Möglichkeiten historischer Repräsentation, jede besitzt ihre eigenen Grenzen der Darstellbarkeit. Die Aufgabe, einer Gesellschaft Bilder ihrer eigenen Vergangenheit zu liefern, fiel lange Zeit der klassischen Historienmalerei zu. Die Geschichte erschien dabei meist so, wie die Nachwelt sie sich – als Idealfall und passende Vorgeschichte zur eigenen Größe – wünschte. «Geschichte wird hier nicht verfolgt zur historischen Verortung eines Ereig-
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nisses, sondern zu dessen Überhöhung und damit verbunden zu dessen Entzeitlichung.»17 Die Historienbilder des neunzehnten Jahrhunderts standen bereits im Zeichen der Auflösung dieser klassischen Bildsprachen: Allegorien des Heldentums vermochten im Zeitalter des Historismus nicht mehr zu überzeugen.18 Die neuen Verfahren der Historienmalerei, so Ulrich Keller, binden «die Darstellung von ‹Wahrheit› an besondere Formen des ‹Authentischen›.» Repräsentationen vergangener Ereignisse haben jetzt «wenig Aussicht auf Beglaubigung, wenn sie nicht durch sozial a utorisierte Kanäle abgesichert sind und auf unmittelbarer Augenzeugenschaft und unanfechtbaren Verfahren der Dokumentation beruhen.»19 Man sucht das Vergangene in der künstlerischen Aneignung der ‹Sachen selbst› – in der minutiösen Wiedergabe nebensäch licher Details, der Präsentation der Akteure im historisch korrekten Kostüm, der malerischen Mimikry fotografischer Verfahren, der Suche nach historischerAura an den Schauplätzen des Gewesenen. Diesen Verfahren der Authentifizierung sind die ersten beiden Kapitel gewidmet – Kapitel 1 b eschreibt die ‹Wirklichkeitseffekte› der Historienmalerei am Beispiel Ernest Meissoniers, Kapitel 2 das Medium des Panoramas mit seiner Utopie der Geschichte als begehbarem Illusionsraum. Gleichzeitig eröffnet die Fotografie eine andere Möglichkeit, über die Zeit zu verfügen – ihre Aufzeichnung im stillgestellten Bild. In ihm, schreibt Walter Benjamin, «begegnet man etwas Neuem und Sonder baren»: «Aller Kunstfertigkeit des Photographen und aller Planmäßigkeit in der Haltung seines Modells zum Trotz fühlt der Beschauer un widerstehlich den Zwang, in solchem Bild das winzige Fünkchen Zufall, Hier und Jetzt, zu suchen, mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter gleichsam durchsengt hat.»20 Dass diese Wirklichkeit immer schon eine vergangene ist, begründet die besondere Affinität der Fotografie zur Geschichte. Im Anblick alter Fotos kehren Menschen und Dinge nicht zurück, aber das Bild hält fest, dass es sie einmal gegeben hat. Die Fotografie, so beschreibt Siegried Kracauer diesen Zusammenhalt von Wirklichkeit und Vergangenheit, «faßt den Restbestand, den die Geschichte abgeschieden hat».21 Von dieser Form visueller Zeugenschaft, den Bedingungen und Grenzen ihrer E videnz, handelt das dritte Kapitel. Ausgangspunkte sind auch hier konkrete Betrachtungen einzelner Bilder: Aufnahmen des historischen Jerusalem, die an den verlassenen Schau-
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plätzen der Geschichte aufgenommen wurden, eine Fotografie des Jahres 1914, die erst im historischen Rückblick als historisches Dokument erkennbar wird, das letzte Bild des Kriegsfotografen Robert Capa, die Fotografien der Wehrmachtsausstellung von 1995 und die Debatten zur Zeugenschaft des Bildes. Diese Bilder der Vergangenheit sind zugleich auch Bilder aus der Vergangenheit: Sie erreichen uns als physische Reste, Artefakte, denen die Signatur ihrer Zeit als historische Patina anzusehen ist – im charakteristischenSchwarz-Weiß der Bilder, oftmals ihrer Unschärfe und technischen ‹Unzulänglichkeit›. Für die Bestimmung der Geschichtlichkeit fotografischer Bilder ist es entscheidend, dass sie Vergangenes fixieren, zugleich aber ihrerseits Objekte in der Zeit sind – «Bruchstücke des Nachlebens», «Fetzen», die der Zeit «entrissen» wurden (Georges Didi-Huberman).22 Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts fügt der Film diesem Reservoir der Bilder eine entscheidende Neuerung hinzu – die Möglichkeit ihrer Re-Animation. «Bereits in den verschiedenen Namen der Erfindung», schreibt Thomas Elsaesser, «steckte ein fast metaphysisches Versprechen.»23 Die Patente trugen Namen wie «Bioscop», «Biograph», «Vitamotograph» oder «Animatograph». Wo das fotografische Bild seine Zeugenschaft gerade aus der Stillstellung des Gezeigten bezog, gibt der der Film das Versprechen auf seine Wiederholung. «Eine spätere Zeit», notiert Fritz Lang 1924, «wird es leichter haben, unser chaotisches Zeitalter, wenn es längst zu einer Formel erstarrt sein wird, studienhalber neu vor sich aufleben zu lassen. Sie öffnet eine Büchse mit kondensiertem Leben, indem sie einen Film vor sich abrollen läßt. Da ist ein Stück Geschichte von ehemals.»24 Langs Vision einer zukünftigen Lesbarkeit der eigenen Zeit im Film ist hinzuzufügen, dass ein Filmfragment für sich genommen noch kein «Stück Geschichte» darstellt. Eher ist es visuelles Rohmaterial, das, in eine andere Zeit versetzt, durch Montage und Kommentar erst zum Dokument gemacht werden muss. Kein Bild ist aus sich selbst heraus evident. Und doch betont Lang zu Recht, dass der Film ein Bild der Zeit als Konserve zurückbehält. Es ist die «unhintergehbare physikalische Aufzeichnungsfunktion der Kamera, die jedes Stück Film zu einem Stück der Vergangenheit werden läßt, das als Subtext noch im fiction-Film mitläuft», so Gertrud Koch. «Mode, Alltagsdesign, Reklamewelten, tausende bedeutsame Zeichen lassen sich
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finden, die von der Kamera mitgezogen werden, ohne intendiert zu sein.»25 Kracauer spricht vom Potenzial der Kamera «als Lumpensammler zu fungieren».26 Hier taucht – im Bereich der Bilder – eine Metapher auf, die später auch Michel de Certeau in seiner Beschreibung der Tätigkeit des Historikers verwenden wird: sein Gegenstand als eine «Welt, deren Reste ich inventarisierte», die Rede von den «Resten, Abfällen und Manuskripten», die «in den Mülleimern der Geschichte» lagern.27 Kracauer hat die Liaison von Geschichtsschreibung und Film immer wieder betont und sie zum Ausgangspunkt seines letzten Buchs gemacht. «Kein Wunder», heißt es darin, «daß die Kamera-Wirklichkeit eine Parallele in der historischen Wirklichkeit hinsichtlich ihrer Struktur und ihrer allgemeinen Verfassung hat.»28 Über rein metaphorische Analogien hinaus beschreibt diese Parallele eine strukturelle Verwandtschaft: Kinematographie als eine Form der Geschichtsschreibung. Von ihr handelt das vierte Kapitel. Sein Hauptaugenmerk gilt Filmen, denen zur Zeit ihrer Entstehung eine Zeugnisfunktion zugesprochen wurde bzw. in denen man diese Funktion nachträglich gesucht und gefunden hat – eine Kamerafahrt durch das San Francisco des Jahres 1906, vier Tage bevor ein Erdbeben das Gezeigte zerstörte; Aufnahmen von der Landung der Alliierten in der Normandie und ihre Wiederkehr im historischen Spielfilm Overlord; ein Film aus dem niederländischen Durchgangslager Westerbork und seine Remontage durch den Filmemacher Harun Farocki im Jahr 2008. Langs Metapher der Filmrolle als «Büchse», deren Inhalt erst nach einer Zeit der Latenz zur Sichtbarkeit gelangt, lässt an das Wiederauftauchen archäologischer Fundstücke denken. Tatsächlich sind über lieferte Filme – wie auch Fotografien – nicht nur Darstellungen des Vergangenen, sie sind auch physische Reste dieser Vergangenheit, Hinterlassenschaften, denen die Signatur ihrer Zeit anzusehen ist. Ist die Vorstellung des Bildes als Überrest, Spur und Hinterlassenschaft aber nicht hinfällig geworden? Sind die Artefakte des analogen Zeitalters für uns nicht längst zu Fossilien geworden, ihre Indexikalität zum Fetisch einer medienvergessenen Nostalgie? Die Digitalisierung, so eine der Thesen dieses Buches, hat die im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert etablierten Verfahren der Authentifizierung nicht zum Verschwinden gebracht – sie hat sie sich einverleibt und transformiert.
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Die Formate und Techniken haben sich geändert, aber der Anspruch, ein wahres Bild des Gewesenen zu zeigen, wird auch unter den ver änderten Bedingungen nicht aufgegeben – wenn etwa die Autoren eines digital nachkolorierten Remakes historischer Filmaufnahmen des Zweiten Weltkriegs ihren Zuschauern «100 % Archiv» in Aussicht stellen und zeigen wollen, ‹wie es wirklich gewesen ist›.29 Den Fluchtpunkt des Buches bilden daher aktuelle Verfahren der Rekonstruktion, die das historische Archiv der Bilder einer neuen Erlebbarkeit erschließen wollen, zugleich aber am Anspruch auf unbedingte Faktentreue festhalten. Die Leserinnen und Leser werden bemerken, dass die Darstellung gegen Ende normative Züge annimmt. Das markiert weder einen Bruch noch geschieht es ungewollt. Was Jahrhunderte zurückliegt, zeigt sich in zunehmender Entfernung, ist nicht mehr zu ändern und bietet insofern auch weniger Anlass zur Kritik. Je näher die Darstellung der eigenen Gegenwart kommt, umso eher bietet sie die Möglichkeit, die Phänomene nicht nur nachträglich zu beschreiben, sondern sie auch zu kommentieren. Heute zeigt sich in vielen Bereichen historischer Rekonstruktion ein Ideal der Reanimation, ein Versprechen auf unmittelbare Erlebbarkeit der Geschichte. Die Skepsis gegenüber dieser Form des Distanzverlusts ist eine der Motivationen dieses Buches. Indem der Text einen Bogen von der Historienmalerei des neunzehnten Jahrhunderts über Fotografie und Film bis hin zu digitalen Verfahren der Reanimation spannt, umfasst er ein Spektrum sehr unterschiedlicher Formen des Umgangs mit Geschichte. Die Zusammenschau wird zeigen, dass diese diversen Formen – von der um äußerste Sachlichkeit bemühten Rekonstruktion einer historischen Uniform bis hin zu Formen des Reenactment und der Einfühlung – kaum je isoliert und in Reinform, sondern miteinander verschränkt und in oftmals überraschenden Mischformen in Erscheinung treten: Auch die scheinbar sich selbst genügende fotografische oder filmische Aufzeichnung bedarf der Imagination, um zum historischen Zeugnis zu werden. Aber auch umgekehrt: noch die äußerste Form der Thea tralisierung von Geschichte setzt in der Regel darauf, dem Spektakel einen Halt im Realen zu sichern. Es versteht sich von selbst, dass dieses Buch keine lückenlose Chronologie sämtlicher Verfahren visueller Repräsentation von Geschichte
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bieten kann. Deren Eigenart und Zusammenwirken soll vielmehr exemplarisch, d. h. in einem Tableau von Fallstudien zur Darstellung kommen. Dieses Vorgehen schließt eine Reihe von Abstraktionen ein. Wer von der Lektüre eine neue Deutung historischer Ereignisse durch bildliche Quellen erwartet, wird diese hier nicht finden. Es geht nicht um eine Neuinterpretation der militärischen Interventionen Napoleons, des Krimkriegs oder der Landung der Alliierten in der Normandie. Nicht als Quellen zum besseren Verständnis historischer Ereignisse kommen Bilder hier in Betracht, sondern als eigenständige Erscheinungsformen des Historischen. Darin unterscheiden sich die folgenden Überlegungen in weiten Teilen von den einschlägigen Forschungen zum Bild als «historischer Quelle».30 Als Referenz gilt den Autorinnen und Autoren dieser Studien in der Regel eine historische Wirklichkeit, die vor den Bildern existiert und sich in diesen spiegelt – sei es als Quelle der Information, sei es als «verzerrender Spiegel» (Peter Burke) und Artikulation von Mentalitäten oder Ideologien.31 Im Folgenden hingegen geht es nicht um den Versuch, den Schleier beiseitezuziehen, um den Blick auf eine unverstellte Wahrheit hinter den Bildern zu eröffnen. Bilder sind ein Teil dieser Wahrheit, Bestandteil dessen, was sich im Rückblick als Geschichte zeigt. Dabei erweist schon ein flüchtiges Durchblättern der Illustrationen, dass die vier Kapitel dieses Buches äußerst heterogenes Bildmaterial behandeln. Es war nicht meine Absicht, durch das Nacheinander dieser sehr verschiedenen Bilder eine Verwandtschaft der Themen zu suggerieren. Was die Auswahl, so die Hoffnung, zusammenhält, ist die durchgehende systematische Frage nach dem Verhältnis von Aneignung und Entzug, die in den einzelnen Kapiteln jeweils neu ansetzt. Insofern ist das Leitbild dieses Buches nicht die lineare und chronologische Erzählung, eher die mosaikartige Zusammenschau eines Kaleidoskops. «Geschichte», so hat Ulrich Raulff geschrieben, «ist ihrer kürzesten Definition nach das, womit wir nicht fertig werden.»32 Daraus folgt nicht, dass es eine Bestimmung der Geschichte gibt, die erst noch gefunden werden muss, ebenso wenig, dass die Vergangenheit noch immer ‹lebendig› ist. «Womit wir nicht fertig werden» ist eine Vergangenheit, die in ihren Relikten – und dazu gehören maßgeblich auch Bilder – Unruhe erzeugt.
1. Kapitel
Meissonier und das «Dagewesensein der Dinge»
1. Detail, Abfall, Spur Im Mai 1898 berichtet der französische Schriftsteller Charles Yriarte von einer Begegnung mit dem Historienmaler Ernest Meissonier, die ihm aufgrund eines eigentümlichen Details in Erinnerung geblieben ist: «Eines Tages besuchte ich den Maler Heilbuth in Paris, als Meissonier hinzukam. Unter dem Arm trug er, wie ein Schneider, ein großes Bündel Stoff. Als ich meine Verwunderung darüber äußerte, gab Meissonier ruhig zur Antwort: ‹Das ist die Uniform von Marshall Ney. Sie passt nicht, und ich bringe sie zu Monsieur Sombret, meinem Schneider, um sie ändern zu lassen.› Aus der Ernsthaftigkeit dieser Antwort hätte man schließen können, dass der Marshall noch am Leben war und in Poissy auf den Maler wartete, um die begonnene Porträtsitzung fortzusetzen, sobald man die Uniform geändert hätte.»1 Tatsächlich jedoch war der Marschall, dessen Uniform Meissonier zum Schneider trug, zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem halben Jahrhundert nicht mehr unter den Lebenden. Im Dezember 1815, dem Geburtsjahr des Künstlers, hatte man Ney, der Napoleon zuletzt noch in der Schlacht von Waterloo begleitet hatte, wegen Hochverrats verurteilt und im Jardin du Luxembourg erschossen. Meissoniers Inte resse an der Uniform des Marshalls stand in Zusammenhang mit dem Gemälde, an dem er in jenen Jahren arbeitete – 1814, Der Feldzug in Frankreich (Abb. 1). Das Bild zeigt Napoleons Rückzug in Frankreich, nachdem die alliierten Gegner – Russland und Preußen – im März 1814 ihren Vormarsch in Richtung Paris fortsetzten und Napoleon
18 ⋅ Meissonier und das « Dagewesensein der Dinge»
Abb. 1 Ernest Meissonier, 1814, Der Feldzug in Frankreich, 1864, Paris, Musée d’Orsay
nach der verlorenen Schlacht von Laon den Rückweg nach Soissons angetreten hatte. Eine Episode, die im historischen Rückblick als Vorzeichen der baldigen Abdankung des Kaisers erschien. Dass Meissonier hier eine Militäraktion ins Bild setzte, die bereits ein halbes Jahrhundert zurücklag, war keineswegs ungewöhnlich. Seit dem Staatsstreich Louis Napoleons im Dezember 1851 erinnerte man gerne an die Erfolge Napoleons, um sich der eigenen Legitimation zu versichern. Längst war der Geburtstag des Kaisers wieder zum Nationalfeiertag erklärt worden, und Napoleon war fester Bestandteil der Ikonographie des Zweiten Kaiserreichs. An den Wänden des Kaisersaals im Pariser Rathaus etwa hatte Jean-Auguste-Dominique Ingres
Abb. 2 1814, Der Feldzug in Frankreich, Detail
19 ⋅ Detail, Abfall, Spur
20 ⋅ Meissonier und das « Dagewesensein der Dinge»
eine Apotheose Napoleons I. inszeniert und auf dem Thron, den der in einer Quadriga zum Himmel auffahrende Kaiser leer zurückgelassen hatte, die Inschrift angebracht: In nepote redivivus («Im Neffen ist er auferstanden»). Bei Meissonier ist von einer solchen Glorifizierung wenig zu erkennen. Das Bild irritiert durch «das Fehlen von Akzenten, von Zeichen, Symbolen und starken Farben».2 Mit versteinerter Miene, gefolgt von seinen Marschällen und Generälen, durchquert Napoleon das unwirtliche Gelände im Umland von Paris. Die vor dem grau verhangenen Himmel freigestellte Silhouette lässt ihn als einzige Person im Bild klar konturiert hervortreten. Braun, Grau und Schwarz bestimmen die Komposition, einzig von dem Pferd des Kaisers, das, wie der Kritiker Thoré bemerkt, wie mit Milch gemalt erscheint,3 geht eine auffällige Helligkeit aus, die aus dem Körper des Tieres selbst zu kommen scheint. Hinter Napoleon reitet der bereits erwähnte Marshall Ney, eingehüllt in seinen braunen Mantel (von diesem wird noch die Rede sein), daneben die Generäle Louis Berthier und Antoine Drouot. Von einem Historienbild, das den letzten Feldzug des Kaisers vor seiner Abdankung im April 1814 zeigt, hätte man einen höheren dramaturgischen Einsatz erwarten können. Meissonier reduziert das historische Ereignis auf das bloße Voranschreiten der Grande Armee im schmutzigen Schnee und in der Ödnis einer Landschaft, aus der alle Farbigkeit gewichen ist. Der Kaiser führt den Feldzug an, aber die Vorstellung eines historischen Ziels, auf das dieser triste Zug sich zubewegt, ist abhandengekommen. So verwundert es nicht, dass die Interpreten des lakonischen Bildes bis heute Schwierigkeiten haben, das dargestellte Geschehen überhaupt einem spezifischen Zeitpunkt der historischen Ereignisse zuzuordnen. Anders als die Konventionen der Historienmalerei es vorsahen, zeigt Meissonier keinen ‹frucht baren Augenblick›, kein exponiertes Ereignis, sondern ein «Bild der allgemeinen Situation Napoleons des I. im Jahr 1814 wie auf dem Frontispiz eines detaillierten Berichts».4 Die Aufmerksamkeit des Betrachters – weder durch erzählerische Dramaturgie noch durch eine dynamische Bildkomposition in Anspruch genommen – verharrt bei den Oberflächen der Dinge. Meissonier ist hier einmal mehr seinem Ruf gerecht geworden, seine Kunst auf die Schilderung scheinbar ne-
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Abb. 3 Ernest Meissonier, Friedland, 1861–75, New York, Metropolitan Museum of Art
bensächlicher Details zu gründen. Ein im Schnee zurückgebliebener Helm (Abb. 2), der metallene Glanz eines Steigbügels, die hervortretenden Adern des weißen Pferdes oder die Falten im grauen Mantel des Kaisers werden mit der gleichen Aufmerksamkeit registriert wie die Physiognomie der historischen Akteure. Um die äußere Erscheinung Napoleons historisch korrekt wiedergeben zu können, hatte Meissonier den noch lebenden Kammerdiener des Kaisers in der Pariser Rue de Miromesnil aufgesucht, um sich genaue Informationen über die Garderobe Napoleons zu verschaffen. Nachdem er vom Kammer diener erfahren hatte, dass Napoleon, um Zeit zu sparen, beim Anlegen des Mantels nicht, wie allgemein üblich, die Schulterklappen seiner Uniform abnahm, sondern den Mantel direkt über die Schulterklappen warf, korrigierte Meissonier die bereits ausgeführte Gestalt Napoleons. 1807, Friedland, Meissoniers berühmtestes Historienbild (Abb. 3), scheint auf den ersten Blick eine sehr viel dramatischere Schilderung des Krieges zu geben. Bis zu seinem Verkauf an den amerikanischen Kunstsammler Alexander T. Stewart 1875 hatte Meissonier über vierzehn Jahre lang an dem Gemälde gearbeitet. Selbst nachdem es auf der
22 ⋅ Meissonier und das « Dagewesensein der Dinge»
Weltausstellung in Wien bereits zu sehen gewesen war, hielt Meissonier es zwei weitere Jahre in seinem Atelier zurück, um immer wieder einzelne Partien zu übermalen und auszubessern. Im Gegensatz zu 1814 ist hier ein äußerst spannungsgeladener Moment der Schlacht in Szene gesetzt. Bei genauerer Betrachtung vermittelt aber auch dieses Gemälde einen Eindruck von Statik und erzählerischem Stillstand. Drei Gruppen dominieren das Bild. Auf einer leichten Anhöhe erblickt man den Kaiser umgeben von seinen Generälen. Napoleon hat seinen Hut abgenommen und hält ihn seinen Soldaten zum Gruß in die Höhe. Wie um dieser Geste zu antworten, prescht im Vordergrund eine geschlossene Formation von Kürassieren mit erhobenen Säbeln vorwärts. Ihnen gegenüber erscheinen am linken Bildrand vier Offiziere in roter Uniform, die sich dem rasenden Zug der Kürassiere jedoch nicht einreihen, sondern ihren Weg aus der Tiefe heraus fortsetzen und sich gemächlich nach vorne bewegen. Meissonier hätte den er hobenen Hut des Kaisers zum kompositorischen und dramaturgischen Angelpunkt einer dynamischen Komposition machen können. Gemessen am beinahe karikaturhaft übersteigerten Pathos der Kürassiere wirkt die Geste des bewegungslos im Sattel sitzenden Kaisers jedoch eigentümlich statisch, geradezu apathisch, wie abgerückt vom Ge schehen im Bildvordergrund: Der in die Höhe gehaltene Hut bildet einen schwarzen Pfeil, der aber keine Richtung vorgibt, sondern stumm in die Weite des ereignislosen Himmels zeigt. Nimmt man noch die Gruppe der Offiziere am linken Bildrand hinzu, zerfällt der kompositorische Gesamteindruck vollends. Sie wirken wie ein versprengter Trupp von Akteuren, der seinen Ort im Bild noch nicht gefunden hat. Eine militärstrategische Koordination des Ganzen ist nicht zu erkennen. So offenbart Friedland bei näherer Betrachtung ein unvermitteltes Nebeneinander von Statik und Bewegung, Stillstand und Plötzlichkeit. Ein Detail bringt diesen Gegensatz besonders anschaulich zum Vorschein. Die Figur des Trompeters ist mit größter Präzision gezeichnet. Auf dem Tornister, der am Sattel seines Pferdes fixiert ist, erscheint auf dunklem Grund und durch ein Rechteck gerahmt deutlich lesbar eine Zahl: «12» – vielleicht die Nummer des Regiments, dem der Reiter angehört. Die durch nichts gestörte Lesbarkeit dieser Zahl markiert
23 ⋅ Detail, Abfall, Spur
eine Zone des Stillstands inmitten des Tumults der anbrechenden Schlacht. Das Geschehen wird angehalten, um dem Betrachter in aller Ruhe ein Detail zu lesen zu geben. Die Deutlichkeit, mit der er die «12» auf dem Tornister des Trompeters entziffern kann, aber auch die Geduld, mit der Meissonier sie mit dem Pinsel auf der Leinwand aufgetragen hat, stehen in schroffem Gegensatz zum Anschein unge stümer Bewegung, der dieses Detail umgibt. Das gilt nicht weniger für die acht Silberknöpfe an der vorgestreckten Brust des Reiters, die Falten auf seiner strammen Uniform oder die Existenz des Steigbügels, der einen Schatten auf das glänzende Leder des Reitstiefels wirft. Die Akkumulation dieser Details sowie das Nacheinander ihres schritt weisen Erfassens verlangsamen die Betrachtung. Kehren wir noch einmal zu 1814 zurück. 1892, im Todesjahr Meissoniers, ruft der Historienmaler Jean Paul Laurens das Gemälde in Erinnerung: «Wer dieses bewegende Bild einmal bewundern konnte, wird es nicht wieder vergessen. Der Gedanke geht einem nicht aus dem Sinn: Genau so muss es sich zugetragen haben. Unter einem grauen Winterhimmel, in einer kahlen Ebene, die bis zum Horizont reicht, bewegt sich eine schwarze Masse von Kavalleristen wie ein langer Begräbniszug auf den Betrachter zu. Niemand sagt ein Wort, man hört nichts als das Platschen im geschmolzenen Schnee. […]. Die Macht, die von diesem meisterhaften Bild ausgeht, zwingt uns, die Malerei zu vergessen, um nichts als die Realität selbst zu sehen; genau so hat es sich zugetragen.»5 Worin genau besteht die Wirklichkeitstreue, die Laurens dem Gemälde hier so emphatisch zugesteht? «Genau so hat es sich zugetragen» – damit kann offenbar nicht die erzählerisch ambitionierte Durchdringung des historischen Stoffs gemeint sein, vielmehr die um Exaktheit bemühte Wiedergabe aller Personen und Gegenstände, die zum dargestellten Zeitpunkt am Ort des Geschehens gegenwärtig waren. In seinem Erinnerungsbild steigert Laurens den Anschein von Vollständigkeit bis hin zur Imagination akustischer Effekte (das «Platschen im geschmolzenen Schnee»). Der Hinweis auf Vollständigkeit und Präzision des Dargestellten gehört – in lobender wie in polemischer Absicht – zu den wiederkehrenden Motiven der zeitgenössischen Kommentare zu Meissonier. So bemerkt Georges Barral in seiner Kritik des Salons von 1864: «Welche
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Abb. 4 Ernest Meissonier, Napoleon III. während der Schlacht von Solferino, 4. Juni 1859, 1863, Compiègne, Musée National du Château
gelehrte Präzision in jeder Linie! welche Genauigkeit und unvergleichliche Wirklichkeitstreue! Ein anderer Maler hätte Fantasie und Manier walten lassen, aber Monsieur Meissonier ist seiner Natur nach ganz von den Tatsachen bestimmt.» Mit Blick auf das Gemälde Napoleon III. während der Schlacht von Solferino (Abb. 4) fügt Barral voller Bewun derung hinzu: «Monsieur Meissonier hat nichts vergessen. Alles ist da – bis zu dem O-förmigen Ring aus Rauch, den die Explosion einer Kanone für einen Augenblick in die Luft gezeichnet hat. Kein anderer Maler war jemals so gewissenhaft.»6 Auch dieses Schlachtenbild besticht durch die völlige Tatenlosigkeit seiner Protagonisten. Unter einem tiefen, wolkenverhangenen Himmel stehen der Kaiser und seine Offiziere nebeneinander aufgereiht und lassen den Blick gemeinsam in die Leere der Landschaft gleiten. Stärker noch als auf 1814 dominiert der völlige Stillstand der Ereignisse die Szene. Der Krieg scheint hier vor allem Gegenstand einer interesse losen ans Apathische grenzenden Kontemplation zu sein. «[…] die gelangweilten Artilleristen scheinen sich eher mit Routineaufgaben zu
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befassen als sich auf Todesgefahren vorzubereiten.»7 Die Körper der drei gefallenen Soldaten, die im Vordergrund am Boden liegen, er wecken keinerlei Empathie: Sie werden mit der gleichen, kühl konstatierenden Genauigkeit geschildert wie die geografische Gestalt des Geländes oder der von Barral beschriebene, in der Luft stehende Ring aus Rauch. Die zeitgenössische Kritik hat diese Indifferenz mit Miss billigung zur Kenntnis genommen: «Ein toter Soldat auf dem Schlachtfeld sollte nicht mit demselben Pinsel gemalt werden wie ein Kleid aus Satin», bemerkt Thoré.8 Erneut wird die Aufmerksamkeit des Rezipienten so wenig durch erzählerische oder kompositorische Setzungen in Anspruch genommen, dass sie ganz auf die Betrachtung der Ober flächen und Einzelheiten verwiesen ist. Barrals Lob der Vollständigkeit – «Monsieur Meissonier hat nichts vergessen» – beschreibt präzise jene obsessive Berücksichtigung von Details, die man gewöhnlich übersieht, weil man sie als bedeutungslos und überzählig erachtet. Der Betrachter, schreibt Stefanie Muhr, findet sich in der «Rolle des distanzierten Beobachters, der in müden Gesichtern, abgetragenen Uniformen, Steinen und Erdvertiefungen lesen kann.»9 Meissoniers Interesse am Nebensächlichen kommt sehr schön in einer Passage seiner Aufzeichnungen zum Ausdruck, die von dem bereits erwähnten Besuch bei Napoleons Kammerdiener (namens Pillardeau) berichtet: «Pillardeau war mir eine wertvolle Hilfe, ich möchte sogar sagen, die wertvollste von allen […] Man kann leicht verstehen, dass, wenn es darum geht, das Zaumzeug eines Pferdes oder die Uniform eines Generals darzustellen, die Details, die sein Diener liefern kann, wie einfältig auch immer sie vorgebracht sein mögen, von ganz anderem Wert sind, als die Details, die der General selbst zu nennen imstande wäre: Der General erinnert sich daran, was er zu diesem Zeitpunkt getan hat, aber in diesem Moment blieb ihm keine Zeit darüber nachzudenken, welche Kleidung er trägt.»10 Was ein historischer Akteur gedacht, geplant oder getan hat, ist für Meissoniers Auffassung von Geschichte nicht bedeutsamer als die Falten auf der Außenseite seines Mantels. Diese Art von Malerei, so Stefan Germer, zielt auf «eine egalisierende Behandlung sämtlicher dargestellten Personen und Objekte, welche die traditionellen Gattungsunterschiede einebnet: Die Phänomene werden nicht mehr nach einer ihnen in
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härenten Bedeutung, sondern einzig nach ihren optisch wahrnehm baren Qualitäten bewertet.»11 Angesichts dieser Tendenz zur Nivellierung von Personen und Dingen, von Haupt- und Nebensachen überrascht es nicht, dass auch auf Meissoniers Gemälde jener Vergleich angewendet wurde, der im neunzehnten Jahrhundert zum festen Repertoire der Kritik am malerischen Realismus gehörte – der Vergleich mit den mechanischen Aufzeichnungsverfahren der Fotografie. So nennt der Kritiker Louis Auray Meissoniers 1814 eine «fotografische Studie», das Bild Napoleons III. in Solferino eine «kolorierte Fotografie».12 Seit der Frühzeit der Fotografie war es nicht zuletzt die Vielzahl aufgezeichneter Details, die man als spezifisches Merkmal des neuen Mediums empfand. Die Details einer Fotografie, bemerkt der Kritiker Jules Janin bereits 1839, seien «unzählbar».13 Zwei Jahrzehnte später heißt es: «Und dann ist da eine so erschreckende Fülle von Details, daß wir den gleichen Eindruck einer unendlichen Vielfalt empfangen, wie ihn die Natur selbst hervorbringt. […] alles ist da, jeder Ast, jeder Halm, jede Ritze, so als handele es sich um den Petersdom selbst oder den Gipfel des Montblanc oder die stets bewegte Ruhe des Niagara».14 Und wie um den Überschuss an registrierten Details auf jeder einzelnen Aufnahme noch einmal neu unter Beweis zu stellen, werden die Kommentatoren nicht müde, die Details immer wieder aufzuzählen: «die kleinsten Unebenheiten des Terrains und der Gebäude […], die kleinsten Kieselsteine am Rand des Flusses und die verschiedenen Grade von Durchsichtigkeit, welche sie dem Wasser mitteilen», «das Runzeln der Stirn, die geringste Falte des Gesichts», der «schuppige Schwanz eines Krokodils, das am Ufer des Flusses liegt», «alle Steine des Pont-Neuf und alle Straßenlaternen des Pont-Neuf und alle Pflastersteine des PontNeuf und unter den Pflastersteinen jeden geschwärzten, beschmutzten oder gespaltenen Stein».15 Die Fotografie, so heißt es 1874 in einem Lehrbuch des Fotochemikers Hermann Wilhelm Vogel, «zeichnet mit gleicher Deutlichkeit die Hauptsachen wie die Nebensachen. Man sieht ein Conglomerat heller Möbel, und merkt erst bei genauer Betrachtung, dass ein Mann dazwischen steckt, dessen Porträt das Bild sein soll. Man sieht eine gesteppte weisse Blouse, und bemerkt erst nach einiger Zeit, dass auch ein
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Mädchenkopf darauf sitzt.»16 In den Augen des Verfassers erzeugt diese Indifferenz der fotografischen Aufzeichnung ein Bild, das statt eines Gewebes aus Haupt- und Nebendingen nurmehr eine bloße Addition von Einzelheiten vorzeigt. Vogels Beschreibung ist zweifellos äußerst zugespitzt: sie vernach lässigt die Gestaltungsmöglichkeiten des Fotografen, die Inszenierung einzelner Details auf Kosten anderer, die in den Hintergrund treten. Trotzdem ist die Beobachtung berechtigt: Gemessen an den Kompositionsprinzipien der Malerei erschien die fotografische Ordnung der Dinge ungleich kontingenter, da sie auch Details ins Bild setzte, die der Fotograf weder beabsichtigt noch wahrgenommen hatte. (Im dritten Kapitel wird davon ausführlich die Rede sein). Noch fünfzig Jahre später notiert Walter Benjamin den fotografischen Nivellierungseffekt angesichts einer Aufnahme Schellings: «Man betrachte nur Schellings Rock; der kann recht zuversichtlich mit in die Unsterblichkeit über gehen; die Formen, die er an seinem Träger annahm, sind der Falten in dessen Antlitz nicht unwert.»17 Eine ähnliche Tendenz zur Nivellierung erkannte man auch in den Bildern Meissoniers. Und wie die ersten Lichtbilder so wurden auch Meissoniers Gemälde oftmals unter Zuhilfenahme von Lupen betrachtet, um ihre Detailauflösung zu studieren.18 Über die Differenzen zwischen Malerei und Fotografie – ein Grundmotiv dieses Buches – können die genannten Analogien nicht hinwegtäuschen: Es macht einen Unterschied, ob Details als Resultat einer chemisch-physikalischen Aufzeichnung ins Bild gelangt sind oder als Resultat manueller künstlerischer Gestaltung. Der im Abseits liegende Helm auf Meissoniers 1814 erscheint dort aufgrund einer ästhetischen Entscheidung des Malers und besitzt keinerlei Beweisfunktion. Auf einer Fotografie hingegen würde man ihn dort sehen, weil er sich zum Zeitpunkt der Aufnahme wirklich am gezeigten Ort befunden hätte – ganz gleich, ob der Fotograf ihn dort auch tatsächlich wahrgenommen oder «unbewusst aufgezeichnet» hätte.19 Und doch ist der Vergleich der Historienbilder Meissoniers mit der Fotografie aufschlussreich. Auch wenn Aurays Beschreibung von 1814 als «fotografische Studie» nicht auf eine tatsächliche Verwechsel barkeit des Gemäldes mit einer Fotografie zielt – das hätte schon die
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divergierende Farbigkeit beider Medien sowie ihr unterschiedliches Format verhindert –, beschreibt sie doch Meissoniers ästhetisches Verfahren, den registrierenden Charakter der Fotografie im Medium der Malerei zu adaptieren. Nicht zuletzt diese malerische Mimikry fotografischer Detailtreue ließ die Betrachter der Historienbilder Meissoniers ausrufen: «alles ist da», «genau so hat es sich zugetragen».20 Während Barral das quasi-fotografische Registrieren von Details mit Lob bedachte, trug es Meissonier auch die schroffe Ablehnung modernistisch gestimmter Kunstkritiker ein, wie etwa folgende Abrechnung Emile Zolas beweist: «Volkstümliche Beliebtheit ist immer ein schlechtes Zeichen. Warum stürzt sich das Publikum mit solcher Begeisterung auf Meissoniers Werke? Offensichtlich geht es hierbei nicht um den künstlerischen Wert seiner Werke. In Wahrheit ist das Publikum schlicht und einfach in die Taschenspielerkunststückchen des Künstlers vernarrt. Er malt die Knöpfe an einer Weste, die Anhänger an einer Uhrenkette so genau und so gut, daß kein Detail verlorengeht. […] Die Menge wird in ihren kindlichsten Instinkten gekitzelt, in ihrer Bewunderung für bewältigte Schwierigkeiten, in ihrer Liebe für gut gezeichnete und vor allem detaillierte Bildchen. […] [Meissonier] ist der Abgott der Bourgeoisie, die die von wahren Kunstwerken ausgehenden starken Empfindungen nicht mag.»21 Die Detailgenauigkeit, mit der Meissonier seine historischen Sujets zu modellieren und näher heranzurücken versuchte, war in den Augen Zolas bloße Effekthascherei. Was der Maler als prägendes Merkmal seiner Kunst ansah, war für den Kritiker im Gegenteil der Beleg ihrer absoluten Kunstlosigkeit. Die Kritik an der Verabsolutierung des Details war im Jahr 1878, als Zola seine Zurückweisung Meissoniers formulierte, freilich nicht neu. Drei Jahrzehnte zuvor traf sie bereits den Historienmaler Horace Vernet, der die dargestellten Ereignisse zwar noch nicht, wie später Meissonier, an ihren narrativen Nullpunkt heruntergefahren hatte, aber ebenso wie dieser auf einen Überschuss an Details setzte. Auch Vernets Gemälde waren «vom Effekt, nicht von der Erzählung her konzipiert. Deshalb können, ja müssen die konnotativen Elemente, also das scheinbar Beiläufige, das Kuriose, Genrehafte, Kleinteilige, den historischen Bericht überlagern.»22 1846 brachte Vernet dieses Vorgehen folgenden Frontalangriff Charles Baudelaires ein: «Ich hasse
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diesen Mann, weil seine Bilder überhaupt keine Malerei sind, sondern eine häufige, behende Masturbation, eine Reizung der französischen Epidermis […]. Wer weiß besser als er, wie viele Knöpfe an jeder Uniform sind, welche Form nach zahlreichen Märschen eine Gamasche oder ein ausgetretener Stiefel annimmt? an welcher Stelle des Lederzeugs das Kupfer der Waffen einen Fleck Grünspan hinterläßt?»23 Dass in der Kritik des realistischen Details immer wieder Knöpfe als besonders aufdringliches Attribut genannt werden, ist vermutlich kein Zufall. Ihre Abzählbarkeit bei gleichzeitiger Wertlosigkeit und Irrelevanz für das dargestellte Geschehen prädestiniert sie, zum Emblem einer falschen Genauigkeit und sinnlosen Präzision zu werden. Aber auch die beiden anderen Posten auf Baudelaires ästhetischer Mängelliste – die «ausgetretene Gamasche» und der grüne «Fleck»– lassen ein Muster erkennen: Es handelt sich um Eintragungen aus dem Phänomenbereich der Spur. «Spuren», schreibt Sybille Krämer, «treten gegenständlich vor Augen; ohne physische Signatur auch keine Spur. Spuren entstehen durch Berührung, also durchaus ‹stofflich›: Sie zeigen sich im und am Material. Spuren gehören der Welt der Dinge an. Nur kraft eines Kontinuums in der Materialität, Körperlichkeit und Sinnlichkeit der Welt ist das Spurenhinterlassen und Spurenlesen also möglich.»24 So offenbart die «ausgetretene Gamasche» die zurückgelegten Etappen als sichtbare Signatur. Der vom Grünspan hinterlassene Fleck beruht auf einer physischen Berührung zweier Materialien, bei der sich die Farbe des Kupfers dem Lederzeug dauerhaft eingeprägt hat. Es gibt, wie Aleida Assmann in Anlehnung an Karl Spamers Definition der Spur als «Krafteinwirkung an einem unbe lebten Objekt» formuliert, «mehr oder weniger spuren- und also gedächtnisfähige Materialien. Flüssigkeiten sind normalerweise nicht spurenfähig, weil sich Oberflächen automatisch wieder glätten und Löcher wieder füllen und schließen. Deshalb ist der Lebensstrom zur zentralen Metapher des Vergessens geworden.» Winckelmanns am Beginn dieses Buches zitierte Wort vom Verschwundenen, von dem weniger bleibe «als die Spur von einem Schiff im Wasser», erinnert daran. Formbare Stoffe und modellierbare Oberflächen hingegen sind «spuren- und also gedächtnisfähig» und halten die ihnen eingeprägten Veränderungen als Abdruck gegenwärtig.25
30 ⋅ Meissonier und das « Dagewesensein der Dinge»
Abb. 5 Ernest Meissonier, Kürassiere vor dem Angriff, 1805, 1878, Chantilly, Musée Condé
Auf den Historienbildern Meissoniers begegnet man der Repräsentation solcher Spurenträger überall: im schmutzigen Gemisch aus Lehm und Schnee, in dem ein dort entlanggezogener Munitions wagen zwei tiefe Furchen hinterlassen hat (Abb. 2), im Stoff einer Uniform, in dem sich die Bewegungen des Körpers als Faltenmuster abzeichnen (Abb. 1), in den einzelnen Furchen eines Ackerbodens, deren hyperrealistische Durchmodellierung im Kontrast zum unbearbeiteten Stück Feld daneben umso stärker ins Auge fällt (Abb. 5). Die Furchen verlangen vom Betrachter nicht weniger Aufmerksamkeit als die titelgebenden Kürassiere vor dem Angriff, die ohnehin nur neben einander aufgereiht am Schauplatz stehen und darauf warten, dass etwas passiert. Auch das zwei Jahre zuvor entstandene Gemälde Moreau und Dessoles vor Hohenlinden (Abb. 6) setzt den topographischen Grund, auf dem die historischen Akteure sich bewegen, prominent ins Bild. Während Moreau und Dessoles im Hintergrund von einem Fels-
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Abb. 6 Ernest Meissonier, Moreau und Dessoles vor Hohenlinden, 1875, Dublin, National Gallery of Ireland
vorsprung aus die Lage erkunden, beanspruchen ihre zurückgelassenen Pferde und die beiden Adjutanten das Zentrum des Bildes. Die Spuren im weißen Schnee geben zu erkennen, von wo aus die Gruppe den Schauplatz betreten hat und dass die von den Adjutanten locker am Zügel gehaltenen Pferde einige Male auf der Stelle hin- und her getreten sind. Und wieder hat Meissonier «nichts vergessen»: auch der kurze Weg, den Moreau und Dessoles zu ihrem Aussichtspunkt zurückgelegt haben, wird durch ihre Stiefelspuren markiert, und neben den tiefen Abdrücken der Hufe im Schnee erblickt man rechts im Vordergrund auch die zarteren Spuren eines dort entlanggelaufenen Hasen. Wie im Fall der malerischen Imitation des Aufzeichnungscharakters
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der Fotografie adaptiert Meissonier auch in der Abbildung solcher Spuren die Funktionsweise indexikalischer Verfahren. Die gemalten Spuren sind selbst nicht indexikalisch – es sei denn als physischer N iederschlag der Bewegungen des Pinsels – doch zitieren sie den Zeugnischarakter des Indexikalischen im Medium der Malerei. Dabei führen alle diese Spuren letztlich zu nichts. Anders als im von Carlo Ginzburg beschriebenen «Indizienparadigma», das in der Spurensicherung «eine tiefere, sonst nicht erreichbare Realität» berührt26 und im Unterschied zu der von Paul Ricoeur beschriebenen Orientierungsleistung der Spur («elle oriente la chasse, la quête, l’enquête, la recherche»27) erscheinen die auf den Historienbildern Meissoniers dargestellten Spuren tautologisch und leer. Dass vor der Schlacht vor Hohenlinden, die im Dezember 1800 die Niederlage der Truppen Johanns von Österreich besiegelte, ein Hase durch den tiefen Schnee gelaufen ist und die Pferde der Generäle Moreau und Dessoles einige Male unruhig auf der Stelle getreten sind, ist weltgeschichtlich ohne Belang. Die Spuren sind lesbar, aber ihre Entzifferung offenbart nichts. Dasselbe gilt für den beschriebenen Überschuss an Details: Es tut nichts zur Sache, dass während der Schlacht von Friedland im Abseits der historischen Geschehnisse der Schatten eines Steigbügels auf einen blank geputzten Reitstiefel gefallen ist. «Alles ist da», aber die Vollständigkeit des Gezeigten erklärt nichts. «In diesen ‹Historiengemälden› gibt es so gut wie keine Berichterstattung», bemerkt Constance Kain Hungerford zu Recht.28 Und wenn Jean Paul Laurens Meissoniers Darstellung des Feldzugs von 1814 bescheinigt, «nichts als die Realität selbst» zu zeigen («genau so hat es sich zugetragen»), meint dieses Lob nicht die anschauliche Schilderung und Vermittlung eines historisch bedeutsamen Geschehens, sondern die Zurschaustellung seiner puren Faktizität. Die gemalten Spuren und akkumulierten Details auf den Historienbildern Meissoniers sind Ausdruck einer leeren Evidenz. Sie treten in aller Deutlichkeit vor Augen, aber ihre Lesbarkeit erschließt keine tiefere Bedeutung. «Die offizielle Schlachtenmalerei ist tot», resümiert der Kunstkritiker Jules Claretie 1873. «Beinahe alle Schlachtenmaler scheinen heute dem Beispiel von Meissonier zu folgen und ein Schlachtengemälde wie ein Genrebild zu behandeln.»29 Tatsächlich wurde Meissoniers Zurück-
33 ⋅ Detail, Abfall, Spur
weisung spektakulärer Bildinhalte bereits von den Zeitgenossen als Frage der Gattung, als beginnender Verfall der tradierten Historienmalerei diskutiert. Das Zurücktreten narrativer Elemente bewirkte zudem eine umso größere Aufmerksamkeit auf die handwerkliche Virtuosität der Bilder. In den Salonkritiken wurde Meissoniers Art der Feinmalerei regelmäßig – meist despektierlich – kommentiert: als «Delikatesse» mit der Tendenz zum Oberflächenglanz eines «feinen Sévres-Tellers» oder dem farbigen Schmelz von «Malojiken».30 Hierher gehört auch der Hinweis auf das vergleichsweise kleine Format der Bilder – 1814 misst 51,5 x 76,5 cm, eine geringe Größe für ein Historien bild. Das Format verweist einmal mehr auf Meissoniers Könnerschaft, die selbst noch im Bereich des Winzigen Details akkurat und genau zur Darstellung bringen kann. Auch darauf zielt Zola, wenn er von den «Taschenspielerkunststückchen» des Meisters spricht und ihm den Titel «offizieller Maler von Lilliput» verleiht.31 Jenseits der Zurschaustellung handwerklicher Virtuosität hat die Inszenierung des Details bei Meissonier aber auch eine strukturelle Funktion. Meissonier interessiert nicht das ‹sprechende› und bedeutungsgeladene Detail – die ausgestreckte Hand des Feldherrn, aus der sich narratives Potenzial gewinnen ließe oder die christologisch auf geladene Geste Napoleons bei Antoine Jean Gros (Abb. 32) –, sondern das periphere und belanglose Detail, nicht die bedeutungsvolle Spur, sondern die Spur ohne besondere Botschaft. Das zeigt etwa ein Vergleich mit den Historienbildern des bereits erwähnten Jean Paul Laurens, Meissoniers Nachfolger in der Académie des Beaux-Arts. Wenn Laurens 1882 die «letzten Momente im Leben Kaiser Maximilians» vor seiner Hinrichtung malt (Abb. 7), setzt auch er auf eine Akkumulation von Details.32 Wo sich der Verputz an der Zellenwand gelöst hat, dringt das rötliche Mauerwerk hervor. Neben Mantel und Hut des Kaisers wirft ein einzelner Nagel seinen Schatten auf die Wand. Wie bei Meissonier ist auch hier «alles da»: die quadratischen Fliesen des Steinbodens, die im Tageslicht glänzende, silberne Schnalle am rechten Schuh des Geistlichen, die Falten in seiner Sutane. Und wie Meissonier so steigert auch Laurens die Detailgenauigkeit der Schilderung ins Exzessive. Auf den groben Holzplanken der geöffneten Zellentür sehen wir in vier parallelen Reihen und in regelmäßigem
34 ⋅ Meissonier und das « Dagewesensein der Dinge»
Abb. 7 Jean-Paul Laurens, Die letzten Momente im Leben Kaiser Maximilians vor der Hinrichtung, 1882, St. Petersburg, Eremitage
Abstand angebrachte runde Eisenbeschläge. Laurens lässt uns aber auch wissen, dass aus der obersten Reihe einer der Beschläge – der zweite von links – herausgebrochen ist und dass es in der Reihe darunter genau fünf Beschläge sind, die fehlen. Wie die von Baudelaire beschriebenen Knöpfe an den gemalten Uniformen Vernets folgen auch diese Details einem Ideal der Abzählbarkeit. Dort, wo an der Zellentür die durch Licht und Schatten plastisch modellierten Wölbungen der Eisenbeschläge fehlen, sind stumpfe Umrisse mit einem Bohrloch in der Mitte stehengeblieben. Neben Akkumulation und Abzählbarkeit fügt Laurens seiner Darstellung der Objekte hier noch ein weiteres Motiv hinzu – die sichtbaren Spuren ihres Verschleißes. Von den Eisen beschlägen – besonders in Bodennähe zu erkennen – ist offenbar mit Rost vermischtes Regenwasser am Holz herabgeflossen und hat dort
35 ⋅ Detail, Abfall, Spur
Abb. 8 Jean-Paul Laurens, Die Exkommunikation Roberts des Frommen, 1875, Paris, Musée d’Orsay
im Laufe der Zeit eine sichtbare Bahn hinterlassen. Die Spuren ihrer Abnutzung lassen die Zellentür noch wirklicher erscheinen. Über die bloße Sichtbarkeit der Tür hinaus besagen sie, dass die Tür in der Zeit existiert und sichtbare Spuren der Verwitterung davongetragen hat – wie die «nach zahlreichen Märschen abgenutzte Gamasche» und der «ausgetretene Stiefel» auf den Schlachtenbildern Vernets, die Baudelaire so sehr verhasst waren. Laurens setzt diesen Effekt auch auf dem sieben Jahre zuvor ent standenen Gemälde Die Exkommunikation Roberts des Frommen ein (Abb. 8). Das Bild zeigt die Exkommunikation des französischen Königs Robert II. durch Papst Gregor V. aufgrund seiner inzestuösen Ehe mit Bertha von Burgund. Der König sitzt tatenlos und gedankenverloren auf seinem Thron, das Zepter, Insignie seiner Herrschaft, ist zu Boden gefallen. Im hier verfolgten Zusammenhang interessieren aber vor allem die beiden Kissen aus grünem Samt, die der Maler zu
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beiden Seiten des Königs auf hölzernen Bänken platziert hat. Der schlaffe, in der Mitte niedergedrückte Stoff bezeugt als Hohlform die physische Gegenwart der Personen, die hier zuletzt gesessen haben. Auf der Wand dahinter erblickt man geisterhafte Schemen – Spuren jener Körper, die im Laufe der Jahrzehnte hier Platz genommen und allmählich Stellen im sauberen Verputz der Wand hinterlassen haben. Über das einmalige historische Ereignis der Exkommunikation des Königs hinaus verweisen diese Spuren allmählicher Abnutzung auf die Geschichtlichkeit des Raumes, die pure Faktizität dessen, was sich alltäglich in ihm zugetragen hat. Im Unterschied zu den Historienbildern Meissoniers erscheinen diese Details bei Laurens jedoch als Surplus und im Rahmen einer dramaturgischen Gesamtkomposition. Dem zu Boden gefallenen Zepter kommt symbolische Bedeutung zu, von der Kerze am Boden steigt noch ein letzter, dünner Rauchschwaden auf – zum Zeichen, dass das Schicksal des Königs besiegelt ist und nun nur noch die lange und trostlose Zeit der Verbannung folgen wird. Für seine Darstellung Maximilians wählt Laurens den Augenblick, in dem der mexikanische Anführer des Erschießungskommandos die Todeszelle betritt, um den Kaiser zum Ort seiner Hinrichtung zu führen. Helles Tageslicht dringt durch die weit geöffnete Tür ins Innere der Zelle. Der Kommandeur verharrt regungslos an der Schwelle, in der rechten Hand hält er den Erschießungsbefehl, an dessen unterem Ende ein rotes Siegel prangt. Der Kaiser steht seinem Todesboten still und gefasst gegenüber, und in einer eigentümlichen Verkehrung der Rollen ist er es, der den erschütterten Geistlichen umarmt und ihm Trost zuspricht. Eine solche Emotionalisierung des historischen Sujets hätte Meissonier ferngelegen. Vor allem ein Detail ist als zentrales Motiv der dramaturgischen Ins zenierung zu entziffern: Der Sombrero des Mexikaners wirft einen riesenhaften Schatten auf die Zellentür, der sich wie eine Parabel zur Gruppe um den Kaiser hin öffnet. Auch hier ist Laurens um eine exakte Wiedergabe bemüht und führt uns vor Augen, dass der Schatten als fest umrissene Kontur beginnt und mit zunehmendem Abstand diffuser und verschwommener wird – ein Effekt, der sich im Schlagschatten der Mauerkehlung am oberen Rand der Tür wiederholt. Dabei verselbständigt sich das flächige Gebilde zu einer bizarren Figur, die wie ein
37 ⋅ Detail, Abfall, Spur
fünfter, stummer Akteur zwischen dem Erschießungskommando und der Gruppe um den Kaiser steht. Als dunkler Vorschein, der bereits unheilvoll auf die Gruppe um den Kaiser fällt, wird das Detail hier zugleich zum Bedeutungsträger und gibt auf der hölzernen Fläche zu lesen, was auch der wortlos an der Schwelle verharrende Bote zum Ausdruck bringt: die Zeit ist gekommen, der unabwendbare Tod Maximilians steht bevor. Während also Laurens die Details am Rande dramaturgisch zugespitzter Szenen platziert und einige von ihnen symbolisch überformt, sind die Details bei Meissonier gleichsam auf sich selbst gestellt. Die Abwesenheit symbolischer Bezüge, affektiver Besetzungen oder erzählerischer Pointen auf Bildern wie 1814, Kürassiere vor dem Angriff, Napoleon III während der Schlacht von Solferino oder Moreau und Dessoles vor Hohenlinden lässt den tautologischen Charakter der Details nur umso deutlicher hervortreten. Das Interesse am Beiläufigen bezeugen auch die Schilderungen, die Meissonier von seinen Recherchen gegeben hat. Vom ehemaligen Kammerdiener Napoleons weiß er, «dass seine Majestät, wenn er abends nach Hause kam, während des Auskleidens das Lied Veillons au salut de l’Empire anstimmte, dabei Stück für Stück seine Uniform auszog und sämtliche Teile – Uniform, Uhr, Hut, wo er gerade stand, im Dunkeln achtlos ins Zimmer warf. Der Kaiser, so fügte er hinzu, nahm Schnupftabak, führte die Prise aber immer nur bis dicht an die Nase heran, so dass, wenn er irgendwo eine Viertelstunde gestanden hatte, der Inhalt einer ganzen Tabaksdose am Boden verteilt war.»33 Meissonier registriert mit Vorliebe die Anwesenheit materieller Reste oder Spuren, die von der Gegenwart Napoleons, dort, wo er sich aufge halten hat, zurückgeblieben sind: die vor dem Zubettgehen ausge zogene Uniform, der zu Boden geworfene Hut, die abgelegte Uhr, die Ansammlungen von Schnupftabak, die sein Dagewesensein wie ein physischer Indikator anzeigen. In seiner Apologie der Geschichtswissen schaft erinnert Marc Bloch an «die beiden großen Kategorien […], in die sich die unendlich vielfältige Menge der den Historikern von der Vergangenheit zur Verfügung gestellten Dokumente einteilen läßt. Die Zeugnisse der ersten Gruppe sind beabsichtigt. Die der zweiten nicht. Wenn wir [etwa] Herodot oder Froissart, die Memoiren des Marschall Joffre oder [gegenwärtig] die im übrigen recht widersprüchlichen
38 ⋅ Meissonier und das « Dagewesensein der Dinge»
Berichte deutscher oder britischer Tageszeitungen über den Angriff auf einen Geleitzug im Mittelmeer lesen, um uns zu informieren, tun wir genau das, was die Verfasser dieser Texte von uns erwarten.» Die Dokumente der zweiten Kategorie hingegen wurden der Nachwelt absichtslos und beiläufig hinterlassen. «Der Bewohner eines Pfahlbaus, der seine Küchenabfälle in den See warf, aus dem sie von heutigen Archäologen geborgen werden, wollte lediglich seine Hütte sauber halten.»34 Es ist kein Zufall, dass Bloch hier materiellen «Abfall» als Beispiel für seine zweite Kategorie der Dokumente nennt. Abfall ist dasjenige, was nicht zählt, was keine Bedeutung besitzt und deshalb nicht beachtet werden muss. Gerade aufgrund dieser Bedeutungslosigkeit kann Abfall, wie Aleida Assmann betont, für die Nachwelt zu einem vielsagenden Zeugnis der Vergangenheit werden: «Bei der Verlagerung des Interesses von Relikten auf Spuren geht es um die Rekonstruktion von Vergangenheit vor allem aus solchen Zeugnissen, die nicht an die Nachwelt adressiert und nicht zum Dauern bestimmt waren. Sie sollen von dem etwas mitteilen, wovon die Überlieferung in der Regel schweigt: dem unscheinbaren Alltag.»35 Wie bereits im Fall des Spurenlesens weicht Meissoniers Interesse am ‹Abfall› der Geschichte in einem entscheidenden Punkt von diesen Rekonstruktionsverfahren ab. Was den Historienmaler Meissonier von Blochs und Assmanns Historiker unterscheidet, ist der Umstand, dass ihn die absichtslosen Hinterlassenschaften der Geschichte nicht als aussagekräftige Vermittler eines verborgenen Wissens über die Vergangenheit interessieren, sondern um ihrer selbst willen – als bloße Markierungen historischer Tatsächlichkeit. In den Tabakspuren, die Napoleon am Boden hinterlassen hat, ist kaum mehr zu lesen als die Wahrscheinlichkeit, dass der Kaiser am bezeichneten Ort physisch gegenwärtig war. So verweisen auch die gemalten Stiefelspuren von Moreau und Dessoles im Schnee von Hohenlinden auf nichts anderes als den Umstand, dass die beiden Generäle vor Hohenlinden ein Stück weit nebeneinander im Schnee gegangen sind. Zwei Furchen im schmutzigen Schnee zeigen an, dass dort ein Munitionswagen entlanggefahren ist; der am Boden liegende Helm wurde von einem Unbekannten fallengelassen und nicht wieder aufgehoben. «Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel lässt»,
39 ⋅ Der Wirklichkeitseffekt
so hatte Lessings berühmtes Diktum gelautet. «Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir dazu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben».36 Bei Meissonier trifft der Betrachter auf die malerische Inszenierung einer Tatsächlichkeit, die diesem freien Spiel der Einbildungskraft wenig zu bieten hat und ihr Potenzial stattdessen im lakonischen Aufzählen der beteiligten Personen und Dinge sieht.
2. Der Wirklichkeitseffekt In seinem Aufsatz Der Wirklichkeitseffekt hat Roland Barthes das Auftauchen «überflüssiger» Details in der Literatur und Geschichtsschreibung des neunzehnten Jahrhunderts als spezifisches Merkmal des Realismus beschrieben. Barthes nennt zwei Beispiele – Gustave Flauberts Erzählung Ein schlichtes Herz (1877) und Jules Michelets Schilderung der Enthauptung Charlotte Cordays im fünften Band seiner Histoire de France (1853). In seiner Beschreibung des Hauses von Madame Aubain in Pont-l-Evêque erwähnt Flaubert nicht nur das alte Klavier in der Wohnstube, sondern auch einen auf diesem liegenden pyramidenförmigen Haufen von Schachteln und Kartons sowie ein Barometer, das darüber an der Wand hängt. Wozu, so fragt Barthes, die Erwähnung dieses Barometers, das für den Fortgang der Erzählung nichts Entscheidendes beizutragen hat? Wenn im zweiten Beispiel Michelet von den letzten Stunden Charlotte Cordays berichtet, erwähnt er nicht nur, dass dem Eintreten des Henkers in die Todeszelle der Besuch eines Malers vorausging, sondern erwähnt auch, dass die Porträtsitzung anderthalb Stunden dauerte und im Anschluss leise an die Tür der Zelle geklopft wurde. «Diese Eintragungen sind (vom Standpunkt der Struktur) skandalös oder scheinen, was noch befremdlicher ist, mit einer Art Luxus der Erzählung einherzugehen, die so verschwenderisch ist, daß sie ‹unnütze› Details anbietet und dadurch stellenweise den Aufwand für die Erzählinformation erhöht. Läßt sich in der Beschreibung Flauberts die Erwähnung des Klaviers allenfalls noch als ein Indiz für den bürgerlichen Standard seiner
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Besitzerin und die der Kartons als Zeichen für Unordnung und Verwahrlosung lesen, die geeignet sind, die Stimmung im Hause Aubain anzudeuten, so scheint sich die Bezugnahme auf das Barometer, ein weder unpassendes noch bezeichnendes Objekt, das also auf den ersten Blick nicht nennenswerter Natur ist, durch keinerlei Finalität begründen zu lassen; und im Satz von Michelet liegt die gleiche Schwierigkeit vor, struktural allen Details gerecht zu werden: Notwendig für die Geschichte ist nur, daß auf den Maler der Henker folgt; die Zeit des Modellsitzens, die Größe und Lage der Tür sind unnütz […]».37 Es ist nicht unmittelbar einsichtig, welche Vorstellung von erzählerischer «Notwendigkeit» Barthes seiner Beobachtung zugrunde legt. Vor dem Hintergrund welcher Erzählökonomie wäre die Nennung des Barometers in der Erzählung Flauberts nicht «notwendig» gewesen? Und welcher Begriff von der Sparsamkeit des Erzählens liegt zugrunde, wenn die Bezeichnung der erwähnten Details als «Luxus», «Verschwen dung» und künstlich erhöhter «Aufwand für die Erzählinformation» gilt? Auch fällt es schwer, die kategorische Trennung in bedeutsame und bedeutungslose Details aufrecht zu erhalten. Wenn das alte Klavier als «Indiz für den bürgerlichen Standard» im Hause Aubain gelesen werden kann und die aufgetürmten Schachteln und Kartons «als Zeichen für Unordnung und Verwahrlosung» – warum soll dann das Barometer an der Wand bar jeder zusätzlichen Lesbarkeit sein? Nichts hindert einen Leser daran, die Gegenwart dieses Messinstruments als Indiz dafür zu nehmen, dass im bürgerlichen Haushalt der Madame Aubain nicht nur musiziert wird, sondern man auch Wert auf die Insignien eines naturwissenschaftlich aufgeklärten Zeitalters legt. Ebenso kann in der Schilderung Michelets die «Zeit des Modellsitzens», die durch das leise Klopfen an der Tür beendet wird, als Ausdruck der sich dem Ende zuneigenden Lebenszeit Charlotte Cordays gelesen werden. Es fällt nicht leicht, sich im Rahmen einer Erzählung überhaupt ein Ding oder Geschehen vorzustellen, dem per se keine Bedeutung zugesprochen werden kann. Die kategorische Aufteilung einer Erzählung in Zonen des Bedeutens und «bedeutungslose[r] Flecken»38 erscheint mithin erklärungsbedürftig.39 Barthes präzisiert jedoch im Folgenden seine Beobachtung, indem er zwischen Erzählung und Beschreibung unterscheidet. Während die
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vorhersagende Erzählung Schaltstellen vorsieht, an denen sich entscheidet, wie der weitere Verlauf der Handlung aussehen wird, kennt die summarische Beschreibung eine solche «Finalität des Handelns oder Kommunizierens» nicht.40 Entscheidend für die Erzählung ist der unterschiedliche Grad, in dem die erwähnten Details zum Fortgang der Erzählhandlung beitragen. ‹Unnütze› Details wären dann solche, die im Verlauf der Erzählung zwar aufgerufen werden, für deren Fortgang aber folgenlos bleiben: Dass im Wohnzimmer des Hauses von Madame Aubain über dem Klavier ein Barometer an der Wand hängt, dass vor der weißgestrichenen Wandtäfelung acht Mahagonistühle nebeneinander aufgereiht stehen und die Dielen im Haus unterschiedlich hoch sind, hat keinen Einfluss darauf, dass Madame Aubain ihre Tochter eines Tages in ein Kloster gibt, wo sie an einer Lungenentzündung stirbt. Barthes präzisiert zudem, dass solche Details prinzipiell «unvermeidlich» sind und «zumindest jede abendländische Erzählung gängigen Typs» einige von ihnen besitzt.41 Die genannten Passagen bei Flaubert und Michelet gehören demnach keiner grundsätzlich anderen Gattung an als andere erzählende Texte, sie fallen aber durch eine besonders hohe Dichte von Details auf, die «auf den ersten Blick nicht nennenswerter Natur» sind. Entscheidender noch für den hier verfolgten Zusammenhang ist eine zweite, von Barthes getroffene Unterscheidung – diejenige zwischen historischer und fiktiver Erzählung, zwischen der Wiedergabe des Wirklichen und der kunstvollen Darstellung bloßer Wahrscheinlichkeit.42 Während gemäß einer traditionellen Unterscheidung die fiktive Erzählung nicht an das Wirkliche gebunden ist, soll die historische Erzählung berichten, ‹was wirklich geschehen ist›. Aus diesem Grund besitzt die Geschichtsschreibung eine besondere Affinität zum Detail. Auf seinen Bedeutungsreichtum kommt es ihr nicht an: «Hauptsache, es denotiert, ‹was stattgefunden hat›; das ‹konkrete Wirkliche› wird zur hinreichenden Begründung des Sprechens.» Anders als die fiktive Erzählung galt die Geschichtsschreibung deshalb als «Modell jener Erzählungen, die bereit sind, die Zwischenräume zwischen ihren Funktionen mit struktural überflüssigen Eintragungen aufzufüllen».43 Der Realismus des neunzehnten Jahrhunderts, so Barthes’ These, bricht mit dieser Unterscheidung: Auch der fiktiven Er-
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zählung wird nun abverlangt, das Wirkliche zu bedeuten. «Dadurch kommt es zum Bruch zwischen der alten Wahrscheinlichkeit und dem modernen Realismus; dadurch entsteht aber auch eine neue Wahrscheinlichkeit, nämlich eben dieser Realismus (verstehen wir darunter jeglichen Diskurs, der nur vom Referenten beglaubigte Äußerungen akzeptiert).»44 Durch diese Annäherung von Literatur und Geschichte erklärt sich auch die am Beginn des Textes so erklärungsbedürftig erscheinende Gleichsetzung einer literarischen Erzählung (Flaubert) mit einem Geschichtswerk (Michelet). Wie schon der Titel seines Aufsatzes besagt, attestiert Barthes der realistischen Erzählung keine größere Wirklichkeitstreue als ihren literarischen Vorläufern. Bei der Aufbietung unnützer Details handelt es sich vielmehr um einen Wirklichkeitseffekt, eine «referentielle Illusion»: «All dies besagt, daß das ‹Wirkliche› angeblich sich selbst genügt, daß es stark genug ist, jede Vorstellung einer ‹Funktion› Lügen zu strafen, daß die Äußerung des Wirklichen keineswegs in eine Struktur inte griert zu werden braucht und das Dagewesensein der Dinge ein aus reichen des Prinzip für das Sprechen ist».45 So liegt die Pointe des Textes darin, dass die zu Beginn als «verschwenderisch», «luxuriös» und «unnütz» bezeichneten Details keineswegs so funktionslos sind, wie sie vorgeben möchten. Am Ende entkommen auch sie der Un hintergehbarkeit des Bedeutens nicht. Ihre Bedeutung, so lautet Barthes’ Schlussfolgerung, liegt eben gerade in ihrer Bedeutungslosigkeit. «[…] denn in dem Augenblick, in dem diese Details angeblich direkt das Wirkliche denotieren, tun sie stillschweigend nichts anderes, als dieses Wirkliche zu bedeuten; das Barometer Flauberts, die kleine Tür Michelets sagen letztlich nichts anderes als: wir sind das Wirkliche.»46 Es liegt nahe, Barthes’ Beschreibung des Wirklichkeitseffekts in der Literatur und Geschichtsschreibung des neunzehnten Jahrhunderts auf die zeitgenössische Historienmalerei zu übertragen.47 Denn die Abwesenheit symbolischer Bezüge, affektiver Besetzungen oder erzählerischer Pointen lässt den tautologischen Charakter des Wirklichkeitseffekts auch hier deutlich hervortreten. Auf 1814 (Abb. 1) zeigt Meissonier die Reihe der Helme und Dreispitze der reitenden Offiziere als bewegte Linie vor dem grauen Himmel. Ihr Nebeneinander lässt sie
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wie Chiffren einer Schrift erscheinen, und doch besagt ihre Aufzählung nichts, was über ihr Vorhandensein an diesem Ort, zu diesem Zeitpunkt hinausginge. Auch sie waren 1814 auf dem Rückzug nach Soissons dabei, und während Napoleon dem Tross voranritt, neigte ein General seinen Kopf zur Seite, stampften die Pferde im Lehm, lag ein einzelner Helm im Schnee. Das alles ist gleichermaßen bestätigend und ‹leer›, pointiert und ‹sinnlos›. Die Falten im Mantel des Kaisers, die Furchen im schmutzigen Schnee, die Fußabdrücke vor Hohen linden – sie alle müssen auf den Bildern Meissoniers ganz einfach da sein, um den K ritiker Georges Barral sagen zu lassen: «Meissonier hat nichts vergessen» und Laurens beim Anblick der im Schnee voranschreitenden Armee den Satz zu entlocken: «Genau so muß es sich zugetragen haben.»
3. Ein Bündel Stoff Kehren wir aber noch einmal zum Ausgangspunkt dieses Kapitels, der Erinnerung des Schriftstellers Yriarte an Meissoniers Erscheinen im Atelier des Malers Heilbuth, zurück. Warum trug Meissonier an diesem Tag «ein Bündel Stoff», die historische Uniform des Marshall Ney, unter dem Arm? Die Antwort auf diese Frage geben einige Berichte über Meissoniers akribische Vorarbeiten und Recherchen. Wie jede Darstellung von Geschichte so schlossen auch Meissoniers Historienbilder jede Möglichkeit unmittelbarer Beobachtung aus. Historische Rekonstruktionen gründen in einer Aporie: Was sich beobachten lässt, ist (noch) nicht vergangen, und umgekehrt: das Vergangene ist nicht beobachtbar und kann nur indirekt und aus zeitlicher Distanz rekonstruiert werden. Im Falle der Napoleonbilder war es ein halbes Jahrhundert, das Meissonier vom historischen Geschehen trennte. Für ihn, «der sich weigerte, auch nur eine Schuhschnalle zu malen, ohne zuerst ein genaues Muster vor Augen zu haben»,48 bedeutet diese Distanz eine besondere Herausforderung. Meissonier reagierte darauf, indem er die Sujets seiner Historien bilder mit Hilfe authentischer Objekte, Utensilien und Modelle nach-
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stellte. Einmal mehr zeigt er sich damit als idealtypisches Gegenbild zu Baudelaires Maler des modernen Lebens. «Wenn ein echter Künstler zur endgültigen Fassung seines Werks schreitet», so Baudelaire, «wäre das Modell ihm eher ein Hindernis als eine Hilfe». Die Gegenwart des Modells beeinträchtigt die Einbildungskraft des Malers durch eine «Menge von Details, die allesamt mit der Wut einer nach absoluter Gleichheit lechzenden Menge ihr Recht fordern.» Wo der aus dem Gedächtnis malende Künstler durch Abstraktion zum Wesentlichen vorzudringen sucht, reproduziert der nach dem Modell arbeitende Maler nur den inflationären Überschuss sinnloser Details. «Je unparteiischer der Künstler sich der Einzelheiten annimmt, um so mehr wächst die Anarchie.»49 Dieser Anarchie hatte Meissonier sich verschrieben und die Mimikry des Vergangenen dabei bis zum Äußersten getrieben. Der russische Schlachtenmaler Vassili Verestchagin schildert einen Besuch im Atelier des Künstlers, bei dem dieser ihm von den Vorbereitungen für 1814 berichtete: Meissonier «holte unter dem Tisch eine niedrige Arbeitsfläche von circa einem Meter mal fünfzig Zentimeter hervor. ‹Auf dieser Arbeitsfläche›, sagte er, ‹habe ich alles, was ich brauchte, präpariert: Schnee, Schlamm, Wagenspuren. Ich knetete Ton und zog diesen Teil einer Kanone mehrere Male durch die geknetete Masse hin und her. Mit einem beschlagenen Pferdehuf erzeugte ich dann die Abdrücke der marschierenden Pferde. Ich bestreute alles mit Mehl, zog die Kanone noch einmal hindurch und wiederholte diesen Vorgang bis der Anschein einer wirklichen Fahrspur entstand. Anschließend bestreute ich alles mit Salz […] um den Eindruck glitzernden Schnees zu erhalten.›»50 Meissonier beschränkte sich freilich nicht auf die miniaturisierte Nachstellung, sondern nutzte sein Anwesen in Poissy dazu, den Feldzug der Grande Armee im großen Stil und mit lebenden Akteuren zu reinszenieren. «Man könnte meinen», resümiert Charles Yriarte am Ende des Jahrhunderts, «dass diese Art des Vorgehens, der Arbeitsweise des Genies widerspricht, aber Meissoniers Gewissenhaftigkeit gebot es ihm, alles nach der Natur zu malen und zwang ihn, sich mit allem zu umgeben, was sein Gemälde mit Zeit und Ort, mit dem wirklichen Leben und der historischen Wahrheit in Einklang brachte.»51 Charles
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Abb. 9 Historische Objekte aus der Sammlung Meissoniers
Meissonier, der Sohn des Malers, berichtet von den Vorbereitungen für 1814: «Als im Garten genügend Schnee gefallen war, machte mein Vater sich ans Werk, ließ seine Bediensteten den Schnee festtrampeln und mit Hilfe von Holzkarren Breschen in das Gelände fahren. Der erwünschte schlammige, schmutzige und trübselige Eindruck stellte sich ein […].»52 Bemerkenswerter noch als die Nachstellung topo graphischer und klimatischer Gegebenheiten ist jedoch Meissoniers Einsatz historischer Requisiten wie eben jener Uniform des Marshall Ney. Dass Meissonier sich die abgetragene Uniform aus dem Nachlass des Marshalls besorgt hatte, ist angesichts seiner Passion für jedes noch so unscheinbare Detail nicht überraschend. Seine Sammlung umfasste neben Uniformen historische Gewehre, Schwerter, Helme, Knöpfe, Zaumzeug und Hufeisen (Abb. 9). Aber warum – und für wen? – musste Neys Uniform fünf Jahrzehnte nach dem trostlosen Tod des Marshalls im Jardin du Luxembourg im Schneideratelier noch einmal umgeändert werden? Folgende Notiz des Kunstkritikers Philippe Burty gibt die Antwort: «7. Juni 1862: – Heute bin ich zum zweiten Mal nach Poissy gefahren. Ich fand Meissonier in dem kleinen Hof, der zum Schloß führt. Er saß
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dort in der prallen Sonne auf dem hölzernen Modell eines Pferdes in der Uniform eines Colonel der Grenadiersgarde: schwere Stiefel, Kniehose aus weißem Kaschmir, die Brust mit Orden besetzt, in den grauen Gehrock gehüllt. Es handelt sich dabei um das exakte Faksimile der Uniform Napoleons, die sich im Musée des Souverains befindet. Meissonier hat sie bis in alle Einzelheiten hinein nachschneidern lassen. […] In der Hand hielt er eine kleine Platte, auf der ein Blatt weißes Papier befestigt war, und machte ein Selbstporträt, indem er sich in einem großen Spiegel betrachtete, der aufrecht vor ihm stand.»53 Meissoniers Versuch, daran erinnert Burty an dieser Stelle, den historischen Mantel Napoleons aus dem Pariser Musée des Souverains zu entleihen, schlug fehl, daraufhin erwirkte er die Genehmigung, wenigstens ein Faksimile herstellen zu dürfen. Von den Knöpfen des originalen Kleidungsstücks wurden Modellabgüsse genommen, der faksimilierte Mantel wurde Wind und Regen ausgesetzt, um den verwitterten Anschein seines historischen Vorbildes zu erhalten. Der Gehilfe, der dem Maler für den Marshall Ney Modell saß, trug den besagten M antel, den Meissonier zu diesem Zweck hatte umändern lassen. In der bereits zitierten Schilderung einer anderen Sitzung – diesmal in winterlicher Kälte – ergänzt Charles Meissonier weitere Details: «Alle Einzelheiten der Kleidung waren bereit. Man hatte sie unter den Augen des Prinzen Napoleon ausgeführt, alles war streng nach den authentischen Reliquien des Kaisers gefertigt, die noch im Besitz des Prinzen waren. […] Die Kälte war enorm, und die Füße meines Vaters froren an den metallenen Steigbügeln fest. Man schaffte Abhilfe, indem man ihm Fußwärmer unter seine Füße hielt und in Reichweite ein Kohlenbecken postierte, an dem er von Zeit zu Zeit seine klammen Finger aufwärmen konnte. Freunde versuchten, ihn davon zu über zeugen, daß er sich unnötige Strapazen auferlegte. Wenn der Grundaufbau des Bildes einmal feststand, warum kehrte er dann nichts ins Atelier zurück, um die Figuren auszuführen? Mein Vater machte sie darauf aufmerksam, dass ihm im Atelier die Farbwerte und die Tonwerte im Zusammenspiel von Figur und Landschaft fehlten. So wurden bis zum Schluss sämtliche Studien unter den genannten Bedingungen ausgeführt.»54 Führt man sich die von Burty und Charles Meissonier beschriebene
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Szenerie vor Augen, wird noch einmal deutlich, welcher inszenatorische Aufwand betrieben werden musste, um den beabsichtigten Realismus der Darstellung zu sichern: ein Maler im faksimilierten Mantel auf einem Holzpferd sitzend, das Napoleons authentischen Sattel trägt, im Begriff, vor einem ins Freie aufgestellten Spiegel ein Selbstbildnis zu zeichnen, umgeben von Bediensteten mit Fußwärmern und Kohlebecken. Während Meissonier sich einerseits historische Relikte beschaffte und darauf bestand, er müsse beim Malen alles real und sinnlich erfahrbar vor Augen haben, gründet ein Teil dieser Inszenierung auf der Wirkungsmacht der Imagination. Denn aus welchem Grund müssen die Vorstudien zu einem Historiengemälde mit Objekten aus dem persönlichen Besitz der Dargestellten angereichert werden? Meissoniers Hinweis auf Farbe und Licht, die er im Freien besser studieren könne als in der Geschlossenheit des Ateliers, mögen sein Ausharren unter freiem Himmel – ein kleines Martyrium für die gute Sache des Realismus – erklären. Sie erklären aber nicht, warum es notwendig war, bei dieser Veranstaltung Gegenstände aus dem persön lichen Besitz des Kaisers zu verwenden. Meissoniers Sohn spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von «authentischen Reliquien», und auch nach den Worten Yriartes waren es «Reliquien des Empire», mit denen Meissonier sich beim Malen umgab. «[…] er bestand darauf, dass alles authentisch sein müsse – Kostüme, Waffen, Dekorations gegenstände, selbst die unbedeutendsten Nebensächlichkeiten».55
4. Bild und Einbildung Meissoniers Reenactment der Geschichte spielt sich in einer Sphäre ab, die mit Kriterien der reinen Sichtbarkeit nicht hinreichend zu erklären ist: Ob ein Mantel oder Sattel tatsächlich aus dem Besitz des Kaisers stammte, ob eine Uniform diejenige des Marshall Ney war oder nicht, ließ sich diesen Objekten nicht ansehen – weder während der Vorstudien im Garten noch auf dem späteren Gemälde. Die erwähnten Details – die Gewohnheit des Kaisers, seinen Mantel über die Schulterklappen zu legen, die Farbe seines Pferdes
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oder die Beschaffenheit des Schnees während des Feldzugs von 1814 – waren auf dem Gemälde zu sehen – nicht aber, ob der Sattel, der Meissonier als Vorbild diente, eine persönliche Hinterlassenschaft des Kaisers war oder ein beliebiger Sattel vom Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Umso bemerkenswerter ist es, dass Meissonier eine solche Mühe für die Beschaffung der historisch verbürgten Objekte aufwandte. Der Umgang mit diesen Relikten versprach offenbar eine zusätzliche Authentifizierung – die Entfaltung historischer Aura. Auratisch, schreibt Georges Didi-Huberman, ist ein Gegenstand, «dessen Erscheinung über seine eigene Sichtbarkeit hinaus das verbreitet, was mit Vorstellungen zu bezeichnen wäre, Vorstellungen, die Konstellationen oder Wolken um ihn herum bilden […]».56 Solche Vorstellungen – über die «eigene Sichtbarkeit h inaus» – bewirkten auch die Relikte des Empire. Ihre Echtheit war ihnen nicht anzusehen, konnte ihnen aber zugeschrieben werden. Die Beglaubigung durch die ‹Sache selbst› stellte sich eben nicht von selbst her, sondern bedurfte ergänzender Verfahren der Authentifizierung. Die zahlreichen, von Meissoniers in Umlauf gebrachten Anekdoten von der Beschaffung originaler Requisiten dienten zweifellos auch d iesem Zweck. Sie waren «ein wichtiger Aspekt von Meissoniers Reputation»57 und dienten der Absicht, das Dargestellte gleichsam von außen mit zusätzlicher Referenz zu versorgen. Zu den bereits erwähnten Verfahren der Authentifizierung tritt hier ein weiteres Element hinzu. Diesmal war nicht der dokumentarische oder anschauliche Charakter der hinterlassenen Objekte entscheidend. In seiner Abhandlung Vom Ursprung des Museums hat Krzysztof Pomian eine Typologie von Objekten vorgeschlagen. Über die in Sammlungen aufbewahrten Exponate heißt es darin: «Die in einem Armeemuseum deponierten Schwerter, Kanonen und Gewehre dienen nicht mehr zum Töten. Utensilien, Werkzeuge und Kostüme, die Teile eines ethnographischen Museums oder einer Sammlung sind, haben keinen Anteil mehr an Alltag und Arbeit der Bevölkerung in Stadt und Land. […] Schlösser und Schlüssel, die keine Tür mehr schließen oder öffnen, Maschinen, die nichts produzieren, Taschenuhren und Zimmeruhren, von denen niemand mehr die Zeit abliest. Mochte diesen Dingen in ihrem früheren Leben ein bestimmter Verwendungszweck zukommen, als Museumsstücke haben sie ihn verloren.»58 Was die Dinge in der
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Sammlung hingegen gewonnen haben, ist ihre Funktion als Bedeutungsträger. Pomian nennt sie deshalb Semiophoren. Als materielle Reste verweisen sie auf Unsichtbares: eine vergangene Kultur, eine geologische oder evolutionäre Vorzeit. Nach Pomian sind Objekte deshalb entweder nützliche Alltagsdinge oder aber aufbewahrte Bedeutungsträger. Was hingegen weder nützt noch bedeutungsvoll ist, fällt in die Kategorie des Abfalls.59 Der überlieferte Sattel Napoleons und die Uniform des Marshalls Ney lassen sich nur mühsam in diese Trias einschreiben. Als Abfall kommen sie offensichtlich nicht in Betracht (zu sehr hat Meissonier sich bemüht, sie in seinen Besitz zu bringen), ebenso wenig sind sie ‹nützlich› im Sinne einer weiteren praktischen Verwendung. Aber auch als Semiophoren im Sinne Pomians kommen sie nicht wirklich in Frage. Zwar sind sie – jedenfalls für einen Verehrer Napoleons wie Meissonier einer war – mit Bedeutung aufgeladen, aber es ist äußerst schwierig anzugeben, um welche der von Pomian genannten Arten der Sinngebung es sich handeln soll: Dem Bündel Stoff war keinerlei kulturhistorisches Wissen zu entnehmen, das nicht jede andere Uniform derselben Machart und aus derselben Epoche auch geliefert hätte. Die Bedeutung der Objekte ist hier beinahe tautologisch. Letztlich reduziert sie sich darauf, dass sie es sind und keine anderen: dieser eine, besondere Sattel aus dem Besitz Napoleons, dieser eine, besondere Mantel, an dem Ney eine fragile Spur seiner Existenz hinterlassen haben soll. Die Wirkung dieser Relikte verdankte sich alleine ihrer historischen Echtheit: der Vorstellung, dass sie früher einmal in direkter physischer Verbindung mit ihrem Träger gestanden haben und ihnen diese Nähe – wie den Berührungsreliquien des Christentums – noch immer anzuhaften schien.60 Meissoniers Hantieren mit den Hinterlassenschaften der historischen Akteure und deren Repräsentation im Bild galt einmal mehr dem Versuch, die Malerei mit Fragmenten des vergangenen Wirklichen zu durchsetzen. Nur so ist zu erklären, dass es für Meissonier von entscheidender Bedeutung war, dass sie selbst es waren, die bei der Reinszenierung noch einmal ins Spiel kamen. Und wenn es, wie im Fall des grauen Mantels des Kaisers, nicht gelang, das historische Objekt für die gesamte Dauer der Vorbereitungsstudien zu entleihen, so musste es doch zumindest ein Faksimile sein, dem das
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historische Original zum Vorbild gedient hatte. Wie im Fall der minutiös registrierten Details grenzt auch die Aura der Überreste ans Tau tologische: ihre Präsenz entfaltet keinen reichhaltigen Diskurs, sie sind weder lehrreich noch anschaulich – es genügt die Vorstellung, dass sie selbst es sind, um einen Abglanz des Vergangenen in die Gegenwart zu retten. Die authentische Uniform des Marshall Ney, der echte Sattel Napoleons – auch diese Dinge bedeuteten, um Barthes’ Formulierung noch einmal aufzunehmen: ‹Wir sind das Wirkliche› oder genauer noch: ‹Wir waren dabei›. In seinem Reenactment im Garten inszeniert Meissonier einen ideellen Gehalt historischer Objekte, den auch andere Künstler der Zeit wahrgenommen haben. In seinen Skizzenbüchern gibt Adolph von Menzel ein schönes Beispiel für die Aufwertung alltäglicher Dinge durch den Namen ihrer Besitzer. Menzel studiert ein Fernglas und das dazugehörige Futteral, umkreist es, zeigt es in verschiedenen Pers pektiven, löst Details heraus, gibt Größenmaße an (Abb. 10). Zur Autopsie des Dings kommt jedoch eine zusätzliche Dimension: «Der Feldstecher ist stellenweise eingebeult und abgegriffen, Leder und Futter des Holsters verschlissen. Er muß seinen Besitzer ein Leben lang begleitet haben – und ist Teil seiner selbst geworden. Der Besitz ist Verdinglichung dieses Lebens, eine Spur.»61 Diese Dimension erhält das Objekt vor allem dadurch, dass es sich – wie Menzel auf seiner Skizze handschriftlich vermerkt – um «Feldmarschall Gr. v. Moltkes Fernglas (incl: Futteral)» handelt, von seinem Besitzer mit sich getragen «im Kriege 1870–71».62 Auch bei Meissonier tritt zur Sichtbarkeit und Anschaulichkeit des auf der Leinwand Dargestellten die Notwendigkeit der Imagination: Dass er die authentische Uniform Neys in Händen hält und während des Malens auf dem Sattel Napoleons sitzt, muss Meissonier sich vor stellen – so wie wir uns im Anblick des Gemäldes vorstellen sollen, dass seiner Produktion eine solche Beglaubigung durch authentische Relikte zugrunde liegt. Eine Vorstudie Meissoniers zu 1814 gibt einen Eindruck der von Burty und anderen geschilderten Szene (Abb. 11). Körperhaltung und Kleidung Napoleons entsprechen der späteren Ausführung des Bildes. Der Blick des Reiters geht jedoch nicht in die Ferne, sondern ist auf den Betrachter gerichtet. Vor allem aber hat
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Abb. 10 Adolf von Menzel, Feldmarschall von Moltkes Fernglas, 1871, Berlin, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett
Meissonier dem Kaiser unverkennbar seine eigenen Züge verliehen. Die Studie verweist auf das spätere Gemälde, aber zugleich ist sie ein Selbstbildnis des Malers im historischen Kostüm – im Begriff, eine Episode der Vergangenheit im Hier und Jetzt und mit sich selbst als Hauptdarsteller zu verkörpern. Napoleon/Meissonier blickt uns an. Neben der Akkumulation von Wirklichkeitseffekten ist hier eine zusätzliche und anders geartete Strategie der Inszenierung von Geschichte am Werk: die Einfühlung ins Gewesene. «Geschichte und Malerei», bemerkt Meissonier, «sind zwei Schwestern, die sich gegenseitig bestätigen und stützen. Der Künstler, dem das bewusst ist, tritt mitten in die Szenerie herein, identifiziert sich mit den Dingen und verkörpert die Menschen.»63 Der Historienmaler präsentiert sich als Medium, das Geschichte am eigenen Leib erfährt und uns auch ein Bild dieser Reanimation überliefert. Anders als im Fall der quasi-fotografischen Erfassung von Spuren und Details, ist es diesmal nicht die Aufmerksamkeit für Nebendinge, die den Wahrheitsgehalt des Dar
52 ⋅ Meissonier und das « Dagewesensein der Dinge»
Abb. 11 Ernest Meissonier, Selbstbildnis als Napoleon (Studie), 1863
gestellten garantieren soll, sondern die Präsenz des Malers als Verkörperung seines historischen Hauptakteurs – ein Vorgang, der, wie Burty überliefert, offenbar die persönliche Identifikation Meissoniers mit dem Kaiser einschließt: «Mein Modell kann nicht als Napoleon posieren. Ich hingegen habe genau seine Schenkel!»64 Dem resultierenden Bild ist dieser Akt der Einfühlung nicht anzu sehen, doch ist er zweifellos ein integraler Bestandteil des Verfahrens. Meissonier hat ihn nicht nur in der besagten Studie selbst ins Bild gesetzt, sondern ihn auch fotografisch dokumentieren lassen. In einem Album mit fotografischen Porträts des Malers findet sich auch eine Aufnahme, die ihn als Geschichtsdarsteller zeigt, im Freien auf der
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Abb. 12 Meissonier während der Arbeit an 1814, Der Feldzug in Frankreich
Attrappe eines Pferdes sitzend, mit Zweispitz und Faksimilie des kaiser lichen Mantels – «le poseur pour Napoléon 1 er»65 (Abb. 12). Das Zeugnis der Fotografie soll der Nachwelt ein Bild der Arbeit am Authentischen überliefern. Es ist bekannt, dass Meissonier auch sein häusliches Umfeld als quasi-historischen Stimmungsraum gestaltete, um sich «in die gerade von ihm dargestellte Atmosphäre und Umgebung hineinzuversetzen, ganz gleich ob er ein mittelalterliches Interieur malte, einen Salon aus der Zeit Ludwigs des Fünfzehnten, einen Kasernenhof der französischen Garde, eine Dorfschenke oder eine Szene auf dem Schlachtfeld.»66 Sein Stadthaus ähnelte der Folge von period rooms in historischen
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Museen. «In seiner Pariser Villa hatte er Ecken in verschiedenen Stilen eingerichtet, die ihm als Hintergrund für seine Gemälde dienten», notiert Yriarte und fügt hinzu, wie er selbst einmal – jedenfalls in der Rhetorik des Anekdotischen – der Illusion einer Versetzung ins Vergangene unterlag: «Eines Tages betrat ich Meissoniers Atelier in Poissy zu einem Zeitpunkt, als der Meister abwesend war. Zwei seiner Modelle, französische Gardisten aus der Zeit Ludwigs des Fünfzehnten, saßen auf einer Bank und spielten Karten. Der erste Eindruck war eine vollkommene Illusion. In meiner Vorstellung fand ich mich in den Kasernenhof der Französischen Garde in der rue de la Pépinière versetzt – so natürlich war die Haltung, die der Künstler seinen Modellen gegeben hatte, so wahrheitsgetreu und exakt die Kostümierung bis hinunter zum trivialsten Detail im Arrangement ihrer ledernen Riemen.»67 Die Betrachtung der Arbeitspraxis Meissoniers hat ein Ensemble diverser Verfahrensweisen zum Vorschein gebracht. Zu den vorbereitenden Tätigkeiten gehörten das Sammeln historischer Waffen und Uniformen, die Herstellung von Faksimiles, Attrappen und Modellen, die Befragung von Zeitzeugen und das Studium historischer Schriften, darunter etwa Adolphe Thiers’ fünfundzwanzigbändige «Histoire du Consulat». Auf dieser Grundlage inszenierte Meissonier die beschriebenen Wirklichkeitseffekte: das Vorzeigen von Details, deren tauto logische Existenz verbürgte, dass hier nichts vergessen wurde, die malerische Mimikry der indexikalischen Spur – ein Realismus des Vergangenen, dessen Fluchtpunkt «das Dagewesensein der Dinge»68 war. Wie sich gezeigt hat, war dieser Wille zur Wirklichkeit sich selbst nicht genug. Ihm korrespondierten die Hervorbindungen der Einbildungskraft: die Empfindung historischer Echtheit im Umgang mit auratischen Überresten der Geschichte, die Aneignung der Vergangenheit im historischen Kostüm und durch körperliche Einfühlung. Nicht zuletzt auch als Leser historischer Schriften überließ sich Meissonier der halluzinatorischen Wirkung der Einbildungskraft: «Welche doppelte Freude für einen Maler, wenn er eine Seite in einem Geschichtsbuch liest! Ich […] sehe die historischen Fakten, von denen man mir berichtet, in Fleisch und Blut; die Szenerie stellt sich vor meinen Augen wieder her, so wie sie wirklich gewesen ist. Alles geschieht wirklich,
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unmittelbar, vor meinen Augen; unverzüglich trete ich in das Schauspiel ein, ich sehe die Menschen mit ihren Waffen oder in ihrer Kleidung, in ihrer damaligen Gestalt, es ist eine lebhafte Inkarnation, die sich unwillkürlich vollzieht.»69 Die Arbeit am Faktischen bedurfte der Imagination. Bemerkenswerter als dieser Zusammenhang ist jedoch die gegenläufige Tendenz – der Umstand, dass Meissonier das Faktische überhaupt zum Fluchtpunkt seiner künstlerischen Arbeit am Bild der Geschichte wählte. «Traditionell war das Imaginäre der Bezugspunkt der Historienmalerei gewesen: da sie das Geschehen erfand, von dem zu berichten sie vorgab, konnte sie die vollständige Kontrolle über ihren Gegenstand behaupten», schreibt Stefan Germer.70 Von dieser Auffassung des Historienbildes als Erfindung und Idealisierung des Vergangenen war Meissonier ebenso weit entfernt wie von den zeitgenössischen Versuchen der Historienmalerei, vergangene Geschehnisse durch Emotionalisierung zu aktualisieren, indem die Wahl des Sujets auf den «anrührenden Moment» fiel, «anstelle von Heldentaten» auf «pikante Episoden», sei es in sentimentaler oder amüsanter Manier».71 In seinem Selbstbildnis als historisch kostümierter Kaiser der Franzosen bediente auch Meissonier die Register der Einfühlung und Fiktion, doch waren diese Bestandteil einer Inszenierung, die ihren Halt zugleich im Realen, in der physischen Präsenz histo rischer Hinterlassenschaften, der Lektüre historischer Chroniken und dem Bericht von Augenzeugen suchte. Meissonier ist nicht der Erste oder Einzige, der diese Form der Repräsentation von Geschichte gewählt hat. Die Historienbilder Horace Vernets, Adolphe Yvons und oder JeanLouis Gérômes traf in ihrer Zeit eine ähnliche Kritik am Ausbleiben klarer Botschaften, am sinnlosen Überschuss an Details und am quasi- fotografischen Blick, mit dem sie das historische Geschehen in Szene setzten. Unter den genannten Malern ist Meissonier aber doch der jenige, der das erzählerische Element der Historienmalerei am stärksten annulliert hat. Da dieses Buches zudem keinen erschöpfenden Überblick über einzelne Epochen oder Themen der Kunstgeschichte geben soll, sondern eine vergleichende Betrachtung exemplarischer Fallstudien, erschien die Konzentration auf Meissonier gerechtfertigt. Meissoniers Arbeit am Wirklichkeitseffekt schloss eine Spielart der Vergegenwärtigung von Geschichte aus: die Illusion der unmittelbaren
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Teilnahme am historischen Geschehen. Mit seiner 51 x 76 cm-Ab messung kam ein Gemälde wie 1814 gar nicht erst in den Verdacht, die Ausstellungsbesucher immersiv ins Vergangene verstricken zu wollen. Die physische Distanz des Betrachters zur gerahmten, miniaturisierten Welt des Bildes war unübersehbar und beabsichtigt. Mit dem 360° Panoramabild hat das neunzehnte Jahrhundert aber zugleich eine Darstellungsform etabliert, die ihr Glück im imaginativen Transfer der Zeitgenossen ins Gewesene suchte.
2. Kapitel
Eintritt ins Gewesene. Das Panorama
1. Die große Illusion Beim Betreten der Plattform des 360º-Rundbildes Die große Flotte 1791 auf der Reede von Spitehead am Londoner Leicester Square soll die Prinzessin Charlotte Auguste von Großbritannien am 1. Mai 1794 seekrank geworden sein. Der Wirklichkeitseindruck des Gemäldes sei so stark gewesen, heißt es, dass die Prinzessin nicht länger zwischen Kunst und Wirklichkeit zu unterscheiden vermochte und angesichts der gemalten Seekulisse dieselben Symptome entwickelte, die auch ein Aufenthalt an Bord eines Schiffes verursacht hätte.1 Eine ähnliche Szene soll sich im Januar 1832 in der Pariser Rue Marais-du-Temple ereignet haben, als der Anblick des Panoramabildes der Seeschlacht von Navarino bei einer Besucherin einen hysterischen Anfall auslöste. Die Geschichte des Panoramas kennt aber nicht nur Fälle der physischen Überwältigung von Frauen, auch «‹zartnervige Stutzer›» sollen der Illusion des Panoramas erlegen sein: In Innsbruck ist angeblich ein Bauer in Südtiroler Tracht über das Geländer des Panoramas der Unabhängigkeitsschlacht von 1809 gestiegen, um mit seinem Hut ein aus Staniolpapier simuliertes Feuer zu löschen. Überliefert wird schließlich auch die Täuschung eines Hundes, «der das gemalte Wasser in einer Rotunde für echt hielt und hineinsprang».2 Dass die Vorkommnisse auf der Betrachterplattform sich in der beschriebenen Form zugetragen haben, kann bezweifelt werden. Zu sehr erinnern die Berichte an die Legenden, die das Auftreten eines neuen Mediums grundsätzlich begleiten, den berühmten «Gründungsmythos»
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Abb. 13 Robert Mitchell, Robert Barkers Panoramarotunde am Leicester Square (Querschnitt), um 1798, London
des Kinos etwa, nach dem das Publikum während der Erstaufführung von Lumières Ankunft des Zuges 1895 in Panik von seinen Plätzen gewichen sein soll.3 «Die klassische Tradition», so Georges Didi-Huberman, «ist bekanntlich voller Anekdoten – mehr oder weniger berühmte, mehr oder weniger glaubwürdige, mehr oder weniger apokryphe – über die Macht der bildlichen Illusion: Eine so starke Macht, heißt es, daß die Täuschung den Körper eines Betrachters in Bewegung versetzt, seiner visuellen Wahrnehmung eine motorische, fast schon taktile Umsetzung abverlangt.»4 Dass die Berichte übertreiben und sich in veränderter Gestalt wiederholen, macht sie dennoch nicht bedeutungslos. Im Fall des Panoramas verarbeiten sie – wie übertrieben und formelhaft auch immer – das Erscheinen einer neuen Form von Illusionismus, eines künstlerischen Willens zur Wirklichkeit, der den Besuchern den Eindruck vermitteln sollte, sich am Schauplatz des Dargestellten selbst zu befinden. 1787 hatte der englische Maler Robert Barker ein Patent auf
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Abb. 14 Edouard Castres mit seinem Team des Luzerner Bourbaki-Panoramas
die Erfindung des Rundbildes angemeldet und sechs Jahre später am Londoner Leicester Square die eingangs erwähnte Rotunde mit zwei 360º-Rundbildern errichten lassen. Über eine verdunkelte Treppe erreichte man die Besucherplattform, wo sich dem Publikum ein Rundumblick auf die dargestellte Szenerie eröffnete (Abb. 13).5 Ein gleichmäßiges, gefiltertes Licht fiel von oben auf die Leinwand und ließ die Szene wie aus sich selbst h eraus erleuchtet erscheinen. «So konnten auch niemals Schatten der Betrachter auf das Bild fallen, ein Effekt, welcher der phantasmagorischen Wirkung zuwider gelaufen wäre, indem er die Zweidimensionalität der Malfläche offengelegt hätte.»6 Die veränderten Wahrnehmungsbedingungen des Panoramas betrafen nicht nur die Betrachter, sondern zunächst auch die Produzenten der Rundbilder. Man arbeitete in Teams (Abb. 14), in denen sich oftmals Spezialisten für einzelne Teile des Bildes – Perspektive, Himmel, Landschaft, Architektur, Kostüme – herausbildeten. Die Maler standen
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Abb. 15 Panoramaplattform mit Aufseher
auf fahrbaren Gerüsten und arbeiteten in einer solchen Nähe zu der riesigen Leinwand, dass der Einzelne keinen Überblick über das Gesamt werk haben konnte, zu dem er gleichwohl beitrug. Die Koordination der einzelnen Hände leistete ein auf der Plattform stehender A ufseher (Abb. 15). «Bei den gegebenen Rahmenbedingungen und Größenverhältnissen war es nicht mehr möglich, daß der einzelne Maler wußte und sah, was er eigentlich tat. Wenn er malte, war er ganz auf die Handarbeit reduziert; wenn er von seiner Arbeit zurücktrat und den weiten Weg ins Zentrum der Rotunde gemacht hatte, von wo aus allein das Ganze einen stimmigen Eindruck ergab, dann war er nur noch kontrollierendes Auge und war direkter Korrekturmöglichkeiten beraubt» (Wolfgang Kemp).7 Sechs bis zwölf Monate brauchte ein eingespieltes Team zur Vollendung eines Rundbildes. Wie Meissonier so legten auch die Panoramamaler Sammlungen historischer Waffen und Rüstungen an, um diese beim Malen vor Augen zu haben. Zur Finanzierung der Panoramen wurden seit 1850
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eigene Aktiengesellschaften gegründet, man setzte Standardmaße fest, um die Panoramen an anderen Orten erneut installieren und aus stellen zu können. Heute sind nur noch wenige dieser Rundbilder erhalten. Diejenigen, die nicht ohnehin bei einem der zahlreichen Brände der Zerstörung zum Opfer gefallen waren, wurden demontiert, in Einzelteile geschnitten und, falls sich kein Käufer für die Fragmente fand, entsorgt. Die Panoramen waren nicht auf Dauer berechnet, und wenn sie den Aktiengesellschaften genügend Geld eingespielt hatten, ersetzte man sie durch andere, neue Motive. Was die Panoramen aber vor allem von den etablierten Formen der Malerei unterschied, war ihr Anspruch auf eine nie zuvor erfahrene Wirklichkeitsnähe, die in den erwähnten Anekdoten seinen Niederschlag fand: eine «ringsum künstlich hergestellte Natur, deren nirgends unterbrochene illusionistische Einheit auch die schwächste Andeutung eines Rahmens verbot und den Charakter eines Bildes auf alle nur mögliche Weise verleugnen, den sonst selbstverständlichen Abstand des Betrachters vom Gemälde zu verringern oder zu überbrücken forderte.»8 Der traditionelle Bilderrahmen trennt ab, er markiert eine Schwelle zwischen dem Bild und dem Raum, der es umgibt, und er will diese Schwelle stabilisieren. Dahinter steht eine Kunstauffassung, die Georg Simmel am Ende des neunzehnten Jahrhunderts noch einmal mustergültig formuliert hat: «Das Wesen des Kunstwerks aber ist, ein Ganzes für sich zu sein, keiner Beziehung zu einem Draußen bedürftig, jeden seiner Fäden wieder in seinen Mittelpunkt zurückspinnend.»9 Daraus folgt, so Wolfgang Kemp, dass «die Illusion niemals überhandnehmen dürfe, sondern immer eine vom Betrachter eingeräumte und jederzeit zurücknehmbare Wirkung bleiben müsse. In diesem Zusammenhang erfüllt der Rahmen die positive Funktion eines ‹illusions störenden Momentes›».10 Im Panoramabild nun sollte die Illusion ganz im Gegenteil so weit vorangetrieben werden, dass die Ränder des Gemalten unwahrnehmbar wurden und übergangslos in den Umraum der Gemälde diffundierten. Vertretern idealistischer Ästhetik, die einen entscheidenden Teil der Bildwirkung der freien Einbildungskraft des Betrachters überlassen, war diese Form der Überwältigung suspekt. In seinem Handbuch der Ästhetik hatte Johann August Eberhard bereits 1807 ein Lob der Distanz
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zum Bild formuliert und die Illusionsmacht des Panoramas vor diesem Hintergrund als eine Art Gefangennahme der Sinne kritisiert: «Nicht die sichere Belehrung des Gefühls in der Entfernung des Standorts, nicht das volle Tageslicht, nicht die Vergleichung mit umgebenden Körpern kann mich aus dem ängstlichen Traum wecken, den ich wider meinen Willen fortträumen muß. Durch diese Mittel endet der Getäuschte [für gewöhnlich] seine Illusion, sobald sie ihm unangenehm wird; aber diese Mittel sind dem Anschauer des Panoramas versagt.»11 Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf eine Gruppe von Panoramen, deren Sujet – über die Rekonstruktion der Topo graphie hinaus – auch die Zeit in die Illusion miteinbeziehen musste. Die Rede ist von den Schlachtenpanoramen, die seit der Frühzeit des Mediums zum festen Repertoire des Genres zählten. Dabei konnten die dargestellten Ereignisse wenige Jahre zurückliegen wie in den Pa noramen des Deutsch-Französischen Krieges, aber auch Jahrzehnte oder Jahrhunderte – wie in den Rundbildern der Schlacht von Murten (1476), Lipany (1434), Lützen (1632), Raclawice (1793) oder Preußisch-Eylau (1807). Die künstlerische Rekonstruktion dieser Schlachten stellte die Panoramamaler vor ähnliche Herausforderungen wie sie bereits am Beispiel der Historienbilder Meissoniers beschrieben wurden: die äußere Erscheinung einer vergangenen Zeit sollte in der eigenen Gegenwart nachgebildet werden. Der vergleichende Blick auf Meissonier bringt aber auch entscheidende Unterschiede zwischen der tradierten, für die museale Präsentation konzipierten Form der Historienmalerei und den raumgreifenden Darstellungen der 360°-Rundbilder zum Vorschein. Der Kunstkritiker Edmont About findet in seinem Salon von 1864 eine treffende Formulierung für die Kompaktheit und Abgeschlossenheit von Meissoniers 1814. Der Feldzug in Frank reich: «C’est un bloc parfait».12 About hat hier die kompositorische Geschlossenheit des Bildes im Blick, die Charakterisierung des Gemäldes als «bloc parfait» bezeichnet aber auch sehr anschaulich die Komprimierung des Dargestellten im miniaturisierten Bild – ein «Block», wie in Harz gegossen, zugleich detailgenau und stillgestellt. Dem «offiziellen Maler von Lilliput» (Zola) ging es um eine Virtuosität im Detail, die sich gerade auch im kleineren Format entfalten konnte. Die bereits erwähnte Praxis, Meissoniers Gemälde durch eine Lupe zu
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betrachten, begünstigte eine solche Rezeption in Etappen: mit Hilfe der Lupe holte man Fragmente der verkleinerten Welt zu sich h eran und bewunderte das aus dem Gesamtensemble herausgelöste Detail – den metallischen Glanz eines Steigbügels, einen Helm im zerfurchten Schnee, die Falten im Mantel des Kaisers. Eine solche Form der Rezeption exakter Details schließt physische Überwältigung geradezu aus und unterscheidet diese Art der Historienmalerei vom Versprechen des Panoramas, mit dem eigenen Körper in das Dargestellte einzutauchen und den Blick in eine vergangene Welt zu richten.
2. Exzess der Mimesis – das faux terrain Dieses Versprechen konfrontierte die Maler mit einer ästhetischen Herausforderung: Wie konnte die räumliche Distanz, welche die Besucher auf der Plattform unübersehbar von der entfernten Leinwand trennte, überspielt oder scheinbar zum Verschwinden gebracht werden? Hier war die kritische Zone, in der die angestrebte Immersion am wahrnehmbaren Abstand zwischen Betrachter und Darstellung zu zerschellen drohte. Die Panoramamaler haben auf diese Herausforderung mit der Ausgestaltung eines sogenannten faux terrain reagiert. Der erste, der diese Technik einführte, war der französische Maler und Berufssoldat Jean-Charles Langlois. Langlois hatte an der Pariser Ecole polytechnique studiert, wurde 1807 Unterlieutenant, 1812 Capitain und nahm 1815 an der Schlacht von Waterloo teil. Zwei Jahre später begann er, sich neben seiner militärischen Karriere mit Malerei zu beschäftigen, wurde Schüler Ann-Louis Girodet-Triosons und Horace Vernets und stellte seit 1822 regelmäßig im Salon aus. Im Januar 1831 eröffnete Langlois sein bereits erwähntes Panorama der Seeschlacht von Navarino, bei der Frankreich vier Jahre zuvor gemeinsam mit England und Russland vor der griechischen Küste die türkisch-ägyptische Seeflotte besiegt hatte und Griechenland seine Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich erlangte. Honoré de Balzac, der das Rundbild wenige Tage nach seiner Eröffnung besuchte, beschreibt das inszenatorische Verfahren, mit dem Langlois den Illu
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Abb. 16 Jean-Charles Langlois, Panorama der Seeschlacht von Navarino
sionsgrad der tradierten Panoramen noch einmal zu übertreffen versuchte: «Es ging darum, ein Rundbild mit realen Gegenständen zu kombinieren, so dass der Anblick der Plattform, auf welcher der Betrachter sich befindet, die Illusion des Bildes noch erhöht.»13 Langlois hatte Teile des Schiffes Scipio erworben, das auf der Seite Frankreichs in der Schlacht zum Einsatz kam, und sie einer Replik des Schiffes inte griert, das in der Mitte der Rotunde als Betrachterplattform diente. Die Einfühlung in das historische Geschehen begann bereits im Rumpf des nachgebauten Schiffes, wo die eintretenden Besucher zunächst eine Batterie von Kanonen passierten und von dort in den nachgebildeten Essraum und die Galerie des Kommandanten Pierre
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Abb. 17 Jean-Charles Langlois, Panorama der Schlacht von Preußisch-Eylau, 1843, Paris
Bernard Milius gelangten. Hier waren, so berichtet Langlois’ Biograph, die erhaltenen Einrichtungsgegenstände des Kommandanten aufgestellt, die ihn während der Schlacht umgeben hatten: «Stühle, Kommoden, Sofakissen, Fernrohre, Kompass, Tische etc.»14 Den Objekten schien noch ein Abglanz der historischen Ereignisse anzuhaften, der als Aura in den Illusionraum des Panoramas hineinwirkte. Über eine Treppe gelangten die Besucher aus dem Inneren des Schiffsbugs schließlich auf das Oberdeck des Schiffes (Abb. 16). Durch den Einsatz von Gaslicht und Ventilation sollte zusätzlich der sinnliche Eindruck von Wind und Feuer hervorgerufen werden. «Wir leben wirklich im Jahrhundert der Erneuerung, wenn nicht gar der Erfindung», kommentierte das Journal des Artistes, «denn hier sehen wir zum ersten Mal eine so grundsätzliche und vollständige Vermischung von Malerei und Wirklichkeit.»15 Zu Recht erinnert Wolfgang Kemp daran, dass sich diese Orientierung am sinnlich erfahrbaren Realen das Panorama von früheren Formen der Illusionsmalerei unterschied, wie man sie etwa in den Kircheninterieurs des Barock erprobt hat. «Das Panorama […] setzt auf die Mittel der Illusion, aber es möchte nichts Überwirkliches glaubhaft machen, sondern einzig die Welt als faktische Wirklichkeit wiederholen. Mit dieser Tendenz steht es in einem lehrreichen Gegensatz zu den letzten großen Rundgemälden der Kunstgeschichte.»16 Das Schlachtenpanorama von Navarino war nur das erste in einer Reihe von insgesamt sieben Panoramen mit militärischen Themen, die Langlois bis zu seinem Tod im Jahr 1870 realisierte. Eine Erweiterung des faux terrain unternahm er 1843 in seinem Panorama der Schlacht von Preußisch-Eylau, bei der die Truppen Napoleons im Februar 1807 gegen Preußen und Russland kämpften. Auch dieses Rundbild, das in der von Jacob-Ignaz Hittorff auf den Champs-Élysées errichteten
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Abb. 18 Jean-Charles Langlois, Panorama der Schlacht von Preußisch-Eylau, 1843, Paris
Rotunde gezeigt wurde, hat sich nicht erhalten. Überliefert ist jedoch eine Serie von 18 Schwarz-Weiß-Fotografien, die das faux terrain im Vordergrund deutlich zu erkennen geben (Abb. 17). Im Niemandsland zwischen Leinwand und Betrachterplattform erblickte der Besucher einen drei-dimensionalen Zaun, der sich scheinbar nahtlos in den Illusionsraum des Gemäldes hinein fortsetzte (Abb. 18), und die geborstenen Munitionswägen, die man auf dem gemalten Schlachtfeld erblickte, fanden an der Schwelle zur Leinwand ihr reales Äquivalent (Abb. 19). Fortan gehörte das faux terrain zum Standard der panoramatischen Wirklichkeitsillusion. 1881 setzte der Genfer Historien maler Edouard Castres es für sein Bourbaki-Panorama ein. Castres und seine Mitarbeiter gestalteten ihr Rundbild einer Szene aus dem Deutsch-Französischen Krieg mit einem realen Eisenbahnwaggon, Zäunen, Bajonetten, Säbeln, Gestrüpp und Vegetation (Abb. 20). In Berlin versah Anton von Werner sein Panorama der Schlacht von
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Abb. 19 Panorama der Schlacht von Preußisch-Eylau, Detail
Sedan mit einem faux terrain (Abb. 21), und auch die Besucher des Panoramas der 1632 gefochtenen Schlacht bei Lützen sahen im Umfeld der schwedischen Kürassiere Fragmente historischer Rüstungen und Waffen auf dem Boden liegen. Die Ästhetik des faux terrain, sein eigentümlicher Status zwischen Kunstwerk und wirklichem Ding verdient eine genauere Betrachtung. Seit den Avantgarden des zwanzigsten Jahrhunderts gehört die Einbeziehung realer Gegenstände in die Kunst zur etablierten Praxis künstlerischer Produktion. Diese Konfrontation von bemalter Leinwand und realem Ding folgt jedoch einer ganz anderen Logik als das faux terrain der Panoramen. Wenn in Werken des zwanzigsten Jahrhunderts – etwa in Collagen von Kurt Schwitters und Max Ernst – dem Bild reale Objekte einverleibt werden, geschieht das nicht, um Malerei und Dingwelt einander anzugleichen. Die Objekte sind Bestandteil des Bildraums, aber Verwechslun-
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Abb. 20 Edouard Castres, ‹Bourbaki-Panorama›, Übertritt der französischen Armee in die Schweiz (Deutsch-Französischer Krieg 1870/71), 1881
gen mit der Sphäre der Malerei sind ausgeschlossen. Das faux terrain hingegen zielt auf eine exzessive Mimesis: die Malerei wird bis an die Schwelle herangeführt, an der die dargestellte Welt und die Real präsenz der ‹Sachen selbst› einander affizieren. Insofern fügt sich das faux terrain auch nur bedingt der Tradition des klassischen trompe l’œil, wie sie bereits die von Plinius überlieferten Maleranekdoten der Antike begründet. In seiner Naturalis historia berichtet Plinius bekanntlich von Künstlern, die das Handwerk der Täuschung so perfekt beherrschten, dass nicht nur herbeigeflogene Vögel, sondern auch ihre Malerkollegen selbst die Dinge auf der Leinwand für Objekte der realen Umwelt hielten. Im 16. Jahrhundert erneuerte Giorgio Vasari diesen Topos in seinen Lebensbeschreibungen der Künstler Italiens, und die europäische Kunst hat seither zahllose Beispiele der trompe l’œil– Malerei hervorgebracht. Als Kunst des ‹Als ob› rechnet das trompe l’œil mit Betrachtern, die am Ende nicht wirklich getäuscht werden, sondern wissen, dass sie kunstvoll getäuscht werden sollen. «[…] das trompe l’œil», so Oskar Bätschmann, «hat nicht die Täuschung zum letzten Ziel, sondern die Überwindung der Täuschung, die Desillusio-
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Abb. 21 Anton von Werner, Panorama der Schlacht von Sedan (Deutsch-Französischer Krieg 1870/71), 1883
nisierung des Betrachters. Daß er sich hat täuschen lassen, nun aber erkennt, daß der Gegenstand in seiner Präsenz eine Hervorbringung der Malerei ist, zu diesem Zweck ist das trompe l’œil veranstaltet.»17 Wenn etwa Franz von Mieris zwischen sein Blumenstilleben und den Raum des Betrachters einen blauen Seidenvorhang treten lässt, der – so die Illusion – jederzeit vor dem Gemälde zugezogen werden kann (Abb. 22), muss man sich um das gesamte Ensemble einen hölzernen Bilderrahmen vorstellen, der den Vorhang miteinschließt und ihn wieder ganz in den Raum der Malerei eintreten lässt. Die beabsichtigte Wirkung entfaltet sich eben erst in dem Augenblick, in dem die Illusion also solche erkannt, die mimetische Meisterleistung des Künstlers gerade als Kunst bewundert wird. Auf ein solches Spiel von Täuschung und Aufhebung der Täuschung zielt auch das faux terrain des Panorama. Und doch scheint der Wille zur Realpräsenz der Dinge hier noch ein Stück weiter getrieben zu sein.
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Abb. 22 Adriaen van der Spelt/Frans van Mieris, Stillleben mit Blumengirlande und Vorhang, 1658, Chicago, Art Institute of Chicago
Denn zu den Eigenschaften des faux terrain gehört es, dass seine Einzelteile nicht eigentlich ‹gemacht›, im Sinne der Kunst gestalterisch ‹hervorgebracht› sind: die Bajonette, Säbel, Uniformteile, Waggons und Wagenräder, die man vor der Leinwand versammelt, sind zwar als Teil der künstlerischen Repräsentation in den Illusionsraum der Malerei eingebunden. Zugleich aber existieren sie dort auch als ‹sie selbst› – dreidimensionale Gegenstände, die in Echtzeit verwittern und an derselben Dreidimensionalität partizipieren wie die Betrachter auf der Plattform. Während das trompe l’œil innerhalb des malerischen Illu sionsraums operiert und in ihm das Reale lediglich zitiert,18 inszeniert das faux terrain die Mimesis als Wechselspiel zwischen Bild und ‹Sache selbst› und fügt sich einmal mehr jener Spielart des Realismus ein, die Barthes als Wirklichkeitseffekt beschrieben hat: einen «Diskurs, der nur vom Referenten beglaubigte Äußerungen akzeptiert».19
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Die zeitgenössische Kritik hat diese Eigenart des faux terrain sehr genau erkannt, wenn auch zumeist nicht gutgeheißen. Bereits 1821 hatte Quatremère de Quincy seinen Lesern dargelegt, worin er «den größten Missbrauch» im Feld der bildenden Kunst erblickte: «Er besteht darin, die Ähnlichkeit durch das Bild (wie sie den bildenden Künsten entspricht) mit der Gleichartigkeit durch Identität (wie die mechanischen Künste sie anstreben) zu verwechseln.»20 Nicht zufällig ähnelt de Quincys Kritik der mechanischen Künste bis in den Wortlaut hinein der wenige Jahre später einsetzenden Kritik an der Foto grafie, die, so der Vorwurf, «Ähnlichkeit […], die der Geist erspürt», durch «simple Identität» ersetze.21 Auch hier galt es aus Sicht der Kritiker, die Kunstlosigkeit eines Verfahrens bloßzulegen, das seine Wahrhaftigkeit nicht in der künstlerischen Gestaltung, in Manier und Stil, sondern in der Einverleibung der realen Objekte suchte. In die gleiche Richtung weist auch das Vergleichsregister, das der Kunstkritiker Jules Claretie 1881 bemüht, wenn er das Panorama als «Kombination aus Leichenschauhaus und Musée de Luxembourg, Galerie und Wachsfigurenkabinett» bezeichnet.22 Clareties Vergleich von Panorama und Wachsfigurenkabinett bringt unmissverständlich zum Ausdruck, dass in den Augen des Kritikers die Defizite einer Kunstform zu beklagen waren, die, statt auf ästhetischen Schein von Wirklichkeit zu setzen, Fragmente des Realen selbst in die Darstellung überführen wollte. Die Requisiten des faux terrain erinnerten Claretie an die mit Kleidung und Perücken aus Echthaar versehenen Wachsfiguren, die aus Sicht einer idealistischen Kunstkritik am «Pol ästhe tischer Verabscheuung» landen mussten. «In der treuesten Nachahmung», so Bernhard Siegert, «wendet sich die Mimesis gegen sich selbst und fällt ins mauvais genre.»23 So fügt auch Balzac seiner Beschreibung des Seeschlacht-Panoramas hinzu: «Die Vertreter der Kunst und der Gelehrsamkeit haben sich noch nicht über den Wert dieses Werks ge äußert, das im Übrigen eine mechanistische Charlatanerie darstellt.»24 Die illusionistischen Ambitionen des Panoramas erscheinen auch Balzac in der Sphäre der effekthascherischen Jahrmarktsvergnügen und populären Gaukelspiele. Noch gegen Ende des Jahrhunderts beklagt Eduard von Hartmann in seiner Philosophie des Schönen die «Perversität des Geschmacks», die ihren Höhepunkt immer dann erreiche, wenn in
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der Kunst «nicht mehr ästhetischer Schein», sondern «unästhetische Täuschung» dominiere. Auch bei von Hartmann gerät das Panorama mit seiner Einverleibung «realer Requisiten und Puppen» ins Visier dieser Kritik: Einzig «durch völlige Ausscheidung» dieser Objekte könne diese Art der Malerei ästhetische Berechtigung erlangen.25 Hat der Illusionscharakter des Panoramas bei seinen Besuchern nun tatsächlich jene Medienvergessenheit bewirkt, von der die eingangs zitierten Anekdoten berichten? «An der Effektivität der Erfindung zweifelte […] niemand», bemerkt Bernard Comment. «Die Besucher vergaßen die Außenwelt und fühlten sich an Orte versetzt, die sie für die Wirklichkeit hielten.»26 Dolf Sternberger hingegen hat schon früh die gegenteilige Auffassung vertreten, dass nämlich im Panorama «jedermann, der fleißige Hersteller wie die bewundernden Betrachter, von Anfang an sich bewußt ist und auch darin einwilligt, getäuscht zu werden.» Als Beleg nennt Sternberger die Memoiren des Panoramamalers Anton von Werner: «Daß Anton von Werner in allen Partien seiner Erinnerungen, die vom Panorama handeln, nicht ein einziges Mal die Stimme der Naivität anführt, nicht ein einziges Zeugnis dafür beibringt, daß Besucher wirklich getäuscht wurden und sich an den Schauplatz versetzt fühlten oder auch nur getäuscht zu sein vorgegeben hätten – dieser Umstand kennzeichnet die ‹sachliche› Absicht des Malers wie die Erwartung der Zeitgenossen. Anstatt dessen hat Werner eine Fülle von Anerkennungsschreiben in- und ausländischer Fachgenossen zusammengetragen, welche insgesamt sehr eindrucksvoll belegen, daß diese Kunst der Täuschung eben um ihrer selbst willen getrieben wurde und nicht – um zu täuschen.»27 In ihrer Polarität stehen beide Auffassungen einander scheinbar unvereinbar gegenüber: als habe es in der zeitgenössischen Wahrnehmung des Panoramas nur die medienvergessene Hingebung an seinen Illusionscharakter oder aber den abgeklärten Blick hinter die Kulissen des Spektakels gegeben. Besser lässt sich das Wesen der Täuschung vermutlich durch Jonathan Crarys Hinweis auf die Unentschiedenheit begreifen, die in der Rezeption der Techniken zur «illusorischen Reproduktion oder der Simulation des Realen» am Werk war: «In dieser historischen Periode wird es niemals eine klare Unterscheidung geben zwischen dem Reiz einer Technik zur Erzeugung von Ähnlichkeit, die
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ihre eigene Operativität zur Schau stellt und der Aufmerksamkeit für den Referenten, den sie dabei heraufbeschwört.»28 Demnach entfaltet sich der Illusionscharakter des Panoramas als dialektischer Prozess, der die Wahrnehmung zwischen dem Effekt der Täuschung und der Einsicht in seine technische Gemachtheit oszillieren lässt.29
3. Erzählen im Stillstand «Angesichts der Unmöglichkeit, die Gesamtheit der Vorgänge dieses denkwürdigen Tages (des 8. Februar 1807) zu erfassen, begeben wir uns in das Zentrum der russischen Armee, zwischen die erste und die zweite Frontlinie, auf einen der von den Russen besetzten Hügel.»30 Mit diesen Worten erläutert Langlois den Standort, von dem aus sich den Betrachtern seines Panoramas der Schlacht von Preußisch-Eylau das dargestellte Geschehen erschloss. Neben dem Standort war auch ein Zeitpunkt zu bestimmen, der die Vorkommnisse der mehrstündigen Schlacht in einem entscheidenden Moment verdichten konnte. Die notwendige Fokussierung des Geschehens auf einen einzigen Augenblick stellte schon für die Maler traditioneller Historienbilder eine erzählerische Herausforderung dar und hatte seit der Etablierung dieser Gattung zu ausführlichen Debatten über die Wahl des ‹fruchtbaren Augenblicks› Anlass gegeben. Im Panorama, das einen ungleich weiteren Horizont bespielte als das klassische Tafelbild, erwies sich die Beschränkung auf einen bestimmten Augenblick als besondere Herausforderung. Sollte man diese Beschränkung aufgeben und die Ereignisse der Schlacht in einer sukzessiven Folge von Einzelszenen zeigen? Das hätte eine dynamische Erzählung der Schlacht in ihren verschiedenen Phasen erlaubt, zugleich aber die Illusion zerstört, zu einem bestimmten Augenblick an einen bestimmten historischen Schauplatz zurückversetzt zu sein. Abgesehen von wenigen Ausnahmefällen wurde diese Möglichkeit daher auch verworfen. So suggerierte die 360°-Erstreckung eine allumfassende Darstellung des Geschehens, die mit seiner gleichzeitigen Stillstellung kaum in Einklang zu bringen zu war. Während das faux terrain und die Ent-
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grenzung der Leinwand die Illusion einer unmittelbaren Gegenwart beschworen, arbeitete die Arretierung jeglicher Bewegung dieser Illusion entgegen. Hinzu kam die Mobilität der Betrachter. Die Besucher bezogen keinen distanzierten und fixen Standort vor dem Bild, sondern bewegten sich kontinuierlich im Kreis der Rotunde. Im schrittweisen Erfassen des Dargestellten verging Zeit, und dieses Nacheinander von Seheindrücken kollidierte abermals mit der scheinbaren Gleichzeitigkeit alles Gezeigten. Der Wille zur Reanimation des historischen Geschehens stieß hier an eine ästhetische Grenze. Meissonier hat dieses Problem erkannt und sich – mit der Ausnahme des großformatigen Friedland – stets an kleine Formate gehalten, die einen Anspruch auf raumgreifende Illusion erst gar nicht stellten. In einem Panorama hingegen, so der Künstler, «darf nichts dem Vertrauen überlassen werden. Alles ist so absolut real, dass es glaubwürdig erscheinen muss. Wir müssen die Dinge fortwährend an der gleichen Stelle betrachten können, ohne dabei ein Gefühl des Unbehagens zu verspüren.»31 Ein solches Gefühl des Unbehagens war aber kaum zu vermeiden, wie Meissonier am Beispiel des Panoramas von Rezonville von Édouard Detaille und Alphonse de Neuville notiert. «Detailles ruhende Soldaten sind wunderbar, aber der Effekt des galoppierenden Pferdes in der Nähe des Kreuzes ist höchst unan genehm.»32 Eine der erhaltenen Fotografien des Eylau-Panoramas lässt den von Meissonier monierten Effekt erahnen (Abb. 23): die im Aufbäumen für immer erstarrten Pferde, der regungslos in der Luft stehende Pulverdampf und die zum Standbild eingefrorenen Partikel aufgewirbelter Erde widersetzen sich dem Programm der illusionistischen Vergegenwärtigung des Gewesenen. Maxime du Camp, der Langlois’ Navarino-Panorama einerseits einen bis dahin nie erreichten Illusionismus attestierte – «Es war Langlois, der den Betrachter als erster mitten ins Zentrum des Dargestellten selbst versetzte» –, kommt zugleich nicht umhin, die Erfahrung einer «übernatürlichen» Er starrung zu benennen: «Wie kann das sein? Die von den Kanonen kugeln erzeugte Wasserfontäne senkt sich nicht, unentwegt glänzt das Mündungsfeuer ein- und derselben Kanone, Milius, der Schiffskommandant, senkt den zum Befehl erhobenen Arm nicht wieder herab; diese Unbeweglichkeit lässt mich erstarren, denn sie erscheint mir als
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Abb. 23 Panorama der Schlacht von Preußisch-Eylau, Detail
übernatürlich.»33 Stephan Oettermann spricht treffend von einem «Vakuum für den Augenschein»: Das «perfekte Stillstellen der Zeit im Panoramabild läßt die Starre der Darstellung bewußt und damit unerträglich werden».34 Eine Lösung dieses Problems, so Bernard Comment, «bestand darin, den Zuschauern ein Programmheft zu geben, das die ganze Situation inklusive Vorgeschichte und Folgen erklärte.»35 Der schriftliche Bericht sollte die Leerstellen des Bildes füllen. Dass dies gelang, kann bezweifelt werden. Die detaillierten Beschreibungen der Programmhefte lesen sich wie Notate eines zur Pedanterie neigenden Berichterstatters. So hebt die neunseitige Beschreibung der Schlacht von Preußisch-Eylau mit folgenden Erläuterungen an: «Am 8. Februar 1807 vor Tagesbeginn besetzte das 4. Corps unter dem Kommando des Marschall Soult in
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folgender Ordnung die Stellungen, die es am Vortag glorreich erobert hatte: Auf der Linken der französischen Armee befand sich die Division Leval in Richtung auf den Vorort Freihet (sic), zu ihrer äußersten Linken waren die leichten Kavalleriebrigaden der Generäle Durosnel, Guyot und Colbert positioniert. Die Division Legrand befand sich vor der Stadt auf den Straßen nach Königsberg und Friedland. Diese beiden Divisionen, geschwächt durch die Kämpfe, die sie sich am Tag zuvor mit der russischen Armee geliefert hatten, bildeten die linke Flanke der französischen Armee, abzüglich des 6. Corps, das sich in Marsch gesetzt hatte, um die rechte Flanke der feindlichen Armee abzuschneiden, ohne dass es von ihm bereits Neuigkeiten gab; ihre gefährliche Mission war es, die vom rechten Flügel der russischen, möglichweise auch der preußischen Armee, die jeden Augenblick auftauchen konnten, gegen die Stadt gerichteten Attacken zurückzudrängen. […] Das dritte Corps unter dem Kommando des Marschalls Davoust, bestehend aus drei Divisionen Infanterie und einer Kavalleriebrigade von fünfzehntausend Mann, bildete die rechte Flanke der französischen Armee und setzte sich am frühesten Morgen in Richtung Beisleben in Bewegung, um die linke Flanke der feindlichen Armee abzuschneiden und einzukreisen. Die Fußgarde und die Reitergarde, die Reservekavallerie und das 7. Corps verblieben in ihren Feldlagern hinter der Stadt Eylau. […] Der erste Kanonenschlag war am Morgen des 8. Februar 1807 um fünf Uhr früh zu vernehmen, gefolgt von einer frontalen Bombardierung der Stadt Eylau sowie der Divisionen des 4. Corps, die diese besetzt hielten.»36 In ihrer aufzählenden, nüchternen Diktion lesen sich diese Berichte wie ein zusätzlicher, autonomer Text, der vermutlich kaum zur größeren Anschaulichkeit des Dargestellten beitrug. Die Angaben zu Befehlshabern, Frontverläufen, Truppenstärken und taktischen Manövern waren mit der stillgestellten Szenerie auf der Leinwand zweifellos nur mühsam in Übereinstimmung zu bringen – statt das Dargestellte mit dem Wortlaut des Berichts anzureichern, offenbarte das Nebeneinander von Text und Bild wohl eher ihre unterschiedlichen Potenziale und Zuständigkeiten. In seiner Broschüre zum Panorama der Einnahme von Sebastopol lässt Langlois der ohnehin schon ermüdenden Beschreibung der Schlacht als zusätzliche Beglaubigungsinstanz noch den Rapport général des Kommandanten Aimable
77 ⋅ Ein Jahrhundert dreht sich im Kreis
Pélissier folgen – eine Aufzählung von Namen, Daten und Fakten, die das Rundbild wie ein zusätzlicher Flor an Historizität umgab. Wie das faux terrain und die raumgreifende Erstreckung der Leinwand war auch der Wiederabdruck der historischen Frontberichte ein Versuch, die gemalte Schlacht im Realen zu verankern. Dementsprechend empfahl der Moniteur de l’armée seinen Lesern das Panorama der Schlacht von Eylau nicht als Werk der Kunst, sondern als Musterbeispiel patriotischer Geschichtsschreibung. Bevor das panoramatische Inszenierungsrepertoire um weitere Aspekte ergänzt wird, soll ein kurzer Exkurs über den seltenen – vielleicht einmaligen – Versuch erfolgen, das Problem der animierten und doch stillgestellten Vergangenheit durch ein bewusst diskontinuierliches Arrangement von Raum und Zeit zu kompensieren. Die Rede ist von dem Panorama Histoire du Siècle von Alfred Stevens und Henri Gervex, das 1889 zu den Attraktionen der Pariser Weltausstellung gehörte.
4. Exkurs: Ein Jahrhundert dreht sich im Kreis Zur Feier des einhundertsten Jahrestags der französischen Revolution wählten Stevens und Gervex für ihr Panorama ein Sujet, das der traditionellen Ikonographie und Ästhetik dieser Gattung in mehrfacher Hinsicht zuwiderlief. Denn ihr Rundbild zeigt weder ein datierbares historisches Ereignis noch ein einheitliches Stadtbild, sondern – über eine Länge von einhundertzwanzig Metern hinweg – eine Reihe von sechshundertvierzig Persönlichkeiten der französischen Geschichte – Staatsmänner, Künstler und Wissenschaftler, die das Jahrhundert zwischen 1789 und 1889 geprägt haben. Vereinzelt oder zu lockeren Gruppen formiert, schweigsam oder im Gespräch begriffen, reihte sich die imaginäre Gesellschaft vor der Stadtkulisse von Paris und verkörperte, so die beiden Maler, «einhundert Jahre Geschichte, die der Besucher in einer halben Stunde überblicken kann, von Ludwig dem XVI. bis Sadi Carnot», der den Malern wie auch zahlreiche andere der noch lebenden Zeitgenossen im Ate-
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Abb. 24 Alfred Stevens/Henri Gervex, Panorama de l’histoire du siècle, Schemazeichnung
lier bereitwillig Modell gesessen hatte. Zur Identifizierung der Dar gestellten hatte man im Begleitheft ein Schema abgedruckt (Abb. 24). Sieben Jahre lang war das Panorama in den Tuillerien zu sehen, dann ereilte das Rundbild das übliche Schicksal dieser Gattung – die Leinwand wurde demontiert und in Einzelteile zerschnitten, sodass nur Fragmente und Vorstudien sowie einige fotografische Reproduktionen erhalten sind (Abb. 25). «Geschichte des Jahrhunderts» nennen Gervex und Stevens ihr monumentales Rundbild – wie aber sollte das bloße Beisammenstehen von Personen, deren Lebenszeit in ein gemeinsames Jahrhundert fiel, ‹Geschichte› repräsentieren? Die klassische Herausforderung an ein Historienbild, aus dem Kontinuum des Geschehens einen sinnfälligen Augenblick auszuwählen, stellte sich in diesem Fall nicht, denn hier wird nichts erzählt. Zwar gibt es Ansätze von Handlung – so nähert sich Charlotte Corday mit ihrer Mordwaffe dem ahnungslos im Gespräch begriffenen Jean Paul Marat – aber in der Menge der tatenlos Dastehenden wirken die anekdotischen Andeutungen wie eingefrorene Posen eines tableau vivant. Wo keine Handlung reinszeniert, kein historisches Ereignis animiert wird, reduziert sich ‹Geschichte› auf die
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Abb. 25 Alfred Stevens/Henri Gervex, Studie für das Panorama de l’histoire du siècle (rechts Ernest Meissonier)
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Außenseiten der Existenz – auf Kleidung, Accessoires und Utensilien. In ihnen artikuliert sich das Vergehen von Zeit. Ihre Absicht, so die beiden Maler, sei es gewesen, «einen langen Zeitraum wiederzube leben […], von einer Zeit, in der die königliche Garde mit Musketen bewaffnet war, bis zu unseren Infanteriegewehren, von einer Zeit, in der unsere Großmütter an ihren Hauben Schleier trugen, bis in unsere Tage, in denen die eleganten und modebewußten Damen ihre Hüte mit Federn schmücken.»37 Dementsprechend liest sich Gervex’ und Stevens’ Beschreibung ihres Rundbilds wie das Protokoll eines durch die Zeiten sich ersteckenden Defilees: «Ludwig XVI. trägt das blaue Band über einem malvenfarbigen Mantel mit Revers.» Sein Bruder «trägt das blaue Band und das Kreuz des heiligen Ludwig über einem himmelblauen Mantel.» «Die Herzogin de Berry trägt ein feines, mit Quasten und Seidenrosetten versehenes Gazekleid, das Mieder mit Ziernähten und gelben Borten geschmückt, der Kopfschmuck ein einziger Blumenflor.» «Napoleon III. trägt die Uniform eines Divisions generals, die Kaiserin den mit Bienen besetzten Mantel des Hofes, auf dem Kopf eine Krone aus Diamanten».38 Um die historische Gesellschaft ins Bild zu setzen, wurden Bildnisse studiert, die Bestände der Bibliothèque nationale konsultiert, fachkundige Couturiers befragt und historische Kleidungsstücke erworben. Anders als auf den Historienbildern Meissoniers war die Einhaltung historischer Korrektheit hier jedoch zugleich einer übergeordneten Fiktion unterstellt – der Fiktion eines Gruppenbilds aus Lebenden und Toten, eines die Jahre umspannenden Bildraums, in dem Personen, die einander nie begegnet waren, sich an einem imaginären Schauplatz zusammenfanden. Wenn Gervex und Stevens diese Zusammenkunft «selbstverständlich in chronologischer Reihenfolge» arrangieren, führen sie in das Rundbild eine zeitliche Ordnung ein, die seiner Ästhetik widerspricht. Panoramen wie Langlois, Castres und von Werner sie in Szene setzen, kannten weder Anfang noch Ende der Darstellung. Auch wenn sich das Gezeigte im Abschreiten der Rotunde als Aufeinanderfolge ver einzelter Ereignisse erschloss, sah man Episoden eines einzigen, auf 360° gedehnten Augenblicks. Gervex und Stevens zeigen ihre Helden ebenfalls in einer gemeinsamen Kulisse, unter der Wölbung eines das Ganze überspannenden Himmels. Doch führen sie in diese Gleichzei-
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tigkeit durch den Zeitstrahl der Geschichte die gegenläufige Ordnung der Chronologie ein. In der «halben Stunde», die Gervex und Stevens für den Gang durch die Rotunde veranschlagen, erschließt sich der zeitliche Ablauf eines Jahrhunderts. Wo die Grenze zwischen Lebenden und Toten aufgehoben, die Gesetze der Zeit außer Kraft getreten sind, wäre auch ein weniger diszipliniertes Auftreten der Dargestellten denkbar gewesen. Warum schert etwa Ludwig XVI. nicht aus der vertrauten Gesellschaft seiner Zeitgenossen aus, um mit Sadi Carnot, Emile Zola oder Gustave Courbet Bekanntschaft zu schließen? Die heillose Unordnung des Anachronismus bleibt aus. Und doch gerät in der «Geschichte des Jahrhunderts» die Chronologie aus den Fugen: die Rundform des Gemäldes führt den Zeitstrahl am Ende an seinen Anfang zurück. Die prekäre Zone begegnet dort, wo am Ende des Rundgangs die Gegenwart des Jahres 1889 unvermittelt auf ihre eigene Vergangenheit trifft. An dieser Stelle erscheint, an den steinernen Sockel einer Allegorie Frankreichs gelehnt, «einsam», wie es im Begleitheft heißt: Victor Hugo (Abb. 26). Was hier die Einsamkeit Hugos genannt wird, kann wohl nicht nur seine vereinzelte Position am Fuß des Denkmals meinen, sondern auch seine Verlorenheit in der Zeit. Hugo erscheint, so Gervex, als «Bindestrich [«trait d’union»] zwischen den Jahrhunderten,39 ein Scharnier zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zugleich aber selbst aus der Zeit heraus genommen. Zu seiner Linken erblickt man, in seine Arbeit vertieft an einem Schreibpult sitzend, den Chemiker Eugène Chevreul, mithin einen Zeitgenossen, zu seiner Rechten Philipp d’Orléans, gestorben 1701, einhundert Jahre, bevor Hugo geboren wurde. Durch das äußere Erscheinungsbild von Physiognomie und Mode voneinander getrennt, jeder in sein Jahrhundert eingerückt, stehen Hugo und Philippe d’Orléans doch zugleich auf demselben Grund. Zwischen beiden erstreckt sich ein Niemandsland, eine Niemandszeit. Die Inkohärenz der Zeit kulminiert in einem weiteren Detail. Vom bronzenen Relief am Sockel der Statue hinter Hugo ist eine Farbbahn herabgelaufen – historische Patina, Spur des Alterns und des Vergehens von Zeit. Aber welche Zeit genau soll hier vergangen sein? Vergeht in einem Bildraum, der mühelos das Personal zweier Jahrhunderte in sich aufnehmen kann, überhaupt die Zeit? In der Geschichte
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Abb. 26 Alfred Stevens/Henri Gervex, Panorama de l’histoire du siècle, Detail (am Fuß des Denkmals Victor Hugo)
der Historienmalerei markiert die «Geschichte des Jahrhunderts» einen außergewöhnlichen Fall – die paradoxe Verschränkung von Anachronismus und Chronologie, die Fiktion einer unmöglichen Zusammenkunft bei gleichzeitiger Wahrung historischer Korrektheit.
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5. Aufzeichnung, Augenzeugenschaft, die «Orte selbst» Kehren wir abschließend noch einmal zu der Inszenierungskunst des Schlachtenpanoramas zurück. Ein weiteres Mittel der Authentizitätssteigerung war die Gegenwart von Kriegsveteranen, die das Publikum auf der Besucherplattform in Empfang nahmen (Abb. 27). Dass die persönlichen Erinnerungen dieser Animateure ein exaktes Bild der historischen Ereignisse vermittelten, kann wohl bezweifelt werden. Die Desorientierung der Soldaten, die im Chaos der Schlacht oftmals nicht deuten konnten, was um sie herum geschah, ist häufig beschrieben worden. Vermutlich ähnelten die Berichte der Veteranen auf der Plattform den Erinnerungen des Grafen Rostov an die Schlacht bei Schöngrabern, wie Tolstoi sie in Krieg und Frieden beschrieben hat: «so, wie gewöhnlich an der Schlacht Beteiligte erzählen, das heißt so, wie sie wünschten, dass es gewesen wäre, so wie sie es von anderen Erzählern gehört haben, und so, wie es schöner zu erzählen wäre».40 Ganz gleich jedoch, wie wahrheitsgemäß die Erzählungen ausfielen – die Gegenwart von Überlebenden, der O-Ton derer, die selbst ‹dabei› gewesen waren, verlieh dem Schauspiel eine zusätzliche Aura historischer Authentizität. Man beließ es nicht dabei, überlebende Kriegsteilnehmer vor denLeinwänden zu postieren – auch die Maler selbst setzten sich in Bewegung, um die historischen Schauplätze ihrer Bilder aufzusuchen. Im Juli und August 1842 – über dreißig Jahre nach der Schlacht von Preußisch-Eylau – reiste Langlois nach Preußen, um den Ort des vergangenen Geschehens in Augenschein zu nehmen. Viel zu sehen gab es dort nicht. Abgesehen von einer Kirche, die während der Kämpfe als Lazarett gedient hatte, und einem Friedhof erinnerte nichts mehr an die Ereignisse vom Februar 1807. Langlois fertigte vor Ort eine Reihe topographischer Skizzen an, die er später in sein Panoramabild übersetzte. Zu diesem Zweck wurde das Gelände vermessen und mit Hilfe einer Camera obscura zeichnerisch dokumentiert (Abb. 28). Dass die Landschaft auf der Leinwand nach dem Modell der originalen Topographie entworfen worden war, dürfte sich der Wahrnehmung der Betrachter entzogen haben. Zweifellos ging es Langlois bei der Vermes-
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Abb. 27 Ehemalige Kriegsteilnehmer auf der Plattform
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Abb. 28 Jean-Charles Langlois, Schlachtfeld von Preußisch-Eylau
sung des historischen Schauplatzes nicht zuletzt auch um die Einlösung eines Wirklichkeitsversprechens, das über das Augenscheinliche hinausging und sich Abweichungen vom Vorbild auch dort nicht erlauben wollte, wo die erzielte Genauigkeit gar nicht wahrzunehmen war. Auch dass er sich dabei eines optischen Instruments bediente, das den Vorgang der Zeichnung teilweise automatisierte, kam diesem Ideal entgegen. Wenige Jahre später wechselte Langlois zu einem moderneren und noch stärker automatisierten Verfahren der Aufzeichnung. Als er sich im Oktober 1855 nach Sewastopol begab, um die Ereignisse des zwei Monate zuvor beendeten Krimkriegs zu dokumentieren, hatte er erstmals eine fotografische Ausrüstung im Gepäck. Anlass der Reise war die Erstellung eines fotografischen 360°-Panoramas, das Langlois nach seiner Rückkehr als exakte Vorlage für sein Schlachtenbild dienen sollte. Im Oktober 1855 erteilte Napoleon III. Langlois die Erlaubnis für seine Mission und sicherte die finanziellen Mittel zu. Als Ausgangspunkt seines Panoramas wählte Langlois den sogenannten Malakoff-Turm, dessen Einnahme durch die Franzosen wenige Monate zuvor die russische Niederlage besiegelt hatte. Mit der Fotografie fügte Langlois seinem Ensemble von Wirklichkeitseffekten ein weiteres Element hinzu. Da er nur unzureichend mit dem neuen Medium vertraut war, nahm er den Fotografen Léon-Eugène Méhédin, einen Schüler Gustave Le Grays, mit auf die Reise. Die Arbeit mit den lichtempfindlichen Chemikalien erwies sich als außerordentlich schwierig. «In ihrem rudimentären Stadium lähmte die fotografische Technik
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Abb. 29 Fotografisches Panorama des Schlachtfelds von Sewastopol
Langlois eher als dass sie ihm nützte.»41 Kälte, Feuchtigkeit und Staub kontaminierten das fotochemische Material, und in den zahlreichen Briefen, die Langlois während der fünf Monate seines Aufenthalts auf der Krim an seine Frau schrieb, ist immer wieder von den meteorologischen Verhältnissen die Rede, die für das Fotografieren – insbesondere im Frühstadium dieses Mediums – so essentiell waren. Zudem scheiterten Méhédins Versuche mit dem neuen Kollodiumverfahren, für die man aus Paris die notwendigen Utensilien eigens per Schiff hatte kommen lassen. Schließlich gelang Méhédin und Langlois ein aus vierzehn Teilen bestehendes Panorama, das von den Trümmern des Malakoff-Turms aus aufgenommen wurde (Abb. 29). Die Gegenüberstellung mit einem gemalten Modell des Sewastopol-Panoramas (Abb. 30) zeigt, wie genau Langlois sich in Teilen des Gemäldes an seine fotografische Vorlage gehalten hat. Fünf Wintermonate auf der Krim waren offenbar kein zu hoher Einsatz, um sich von der fotografischen Apparatur einen Teil der gestalterischen Entscheidungen abnehmen zu lassen und einmal mehr dem Anspruch zu genügen, dass hier nichts unterlassen worden war, um der Leinwand einen Abglanz des Realen zu verleihen. Ihre Funktion als «der ungeschminkte Zeuge des ‹Dagewesenen›» (Barthes)42 erfüllte die Fotografie in den Trümmern von Sewastopol zweifellos nur in sehr eingeschränktem Maße. Zwar mochten die Auf-
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Abb. 30 Modell des Panoramas des Schlachtfelds von Sewastopol, Detail
nahmen eine genaue Ansicht vom aktuellen Zustand der Befestigungsanlagen geben, vom historischen Geschehen jedoch, um das es hier letztlich ging, konnten sie naturgemäß nichts abbilden. Eine Foto grafie, schreibt Siegfried Kracauer, «muß wesentlich dem Zeitpunkt ihrer Entstehung zugeordnet sein».43 Dieser Zeitpunkt liegt zwangsläufig in der Gegenwart des Fotografen. So dokumentierten Langlois und Méhédin mit ihren Bildern weniger das vergangene Geschehen als jene Unordnung und Ödnis, die von ihm zurückgeblieben waren: Der Krieg war vorüber, die Toten waren begraben – was die Kamera vor Ort fixierte, waren Ansichten einer Kriegskulisse, aus der die historischen Akteure für immer verschwunden waren. Wie Langlois’ topographische Skizzen des Schlachtfelds von Eylau so bot auch das fotografische Panorama von Sewastopol nur die Folie, die erst noch belebt werden musste. Diese Animation geschah auf der Leinwand und mit den Mitteln der Malerei, zuvor aber bereits in der Einbildungskraft des Reisenden, der sein Wissen über das historische Geschehen an die verlassenen Schauplätze herantrug. In Sewastopol
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lagen die Ereignisse zwei Monate zurück, in Eylau waren es über dreißig Jahre. Jenseits ihrer Vermessung, ihrer zeichnerischen und foto grafischen Repräsentation waren die historischen Schauplätze auch Orte der Imagination. Man betrat sie in dem Bewusstsein, dass sich ‹hier› die Episoden der Geschichte ereignet hatten, von denen man in der Ferne gehört und gelesen hatte, und deren verlassene Kulissen man nun leibhaftig durchschritt. Gedenkorte, so Aleida Assmann, sind «Kontaktzonen»: «Die eigentümliche Verbindung von Nähe und Ferne macht diese zu auratischen Orten, an denen man einen unmittelbaren Kontakt mit der Vergangenheit sucht.»44 Auch wenn die zu spät Gekommenen nicht sagen konnten, dass sie «dabei» gewesen waren, so waren sie doch zumindest «dort» gewesen. Immer wieder erinnert Langlois daran, wie unerlässlich es für den Historienmaler sei, die Schauplätze seiner Sujets persönlich aufzusuchen: «für das Panorama von Algier habe ich zehn Monate in Algier verbracht, ich war ein Jahr in Russland für [das Gemälde vom] Brand Moskaus […], zehn Monate in Preußen für die Schlacht von Eylau […] und sieben Monate auf der Krim für die Schlacht von Sewastopol. […] Die stärksten Eindrücke erhält der Künstler auf den Schlachtfeldern selbst.»45 Zweifellos waren diese «Eindrücke» im wesentlichen Produkte der Einbildungskraft. Mit der Präsenz des eigenen Körpers an den historischen «Schlachtfeldern selbst» verband sich das Versprechen, in Verbindung mit der Vergangenheit zu stehen: ‹Hier war es›. Man stand auf dem Boden der Geschichte, aber dieser Boden war stumm und unanschaulich. Um dem Terrain ein Bild abzugewinnen, bedurfte es der Imagination. Auf einer Bleistiftskizze hat Anton von Werner einen solchen Aufenthalt in historischer Kulisse festgehalten (Abb. 31). «Sedan, 9. Juni 1882» – an diesem Tag hatte von Werner von einem Hügel in den Ardennen aus in Richtung der gegenüberliegenden Stadt Sedan geblickt. Mit der Einkesselung der Stadt durch preußische Truppen hatte hier zwölf Jahre zuvor die entscheidende Schlacht des DeutschFranzösischen Kriegs stattgefunden.46 Im Vordergrund platziert von Werner eine Rückenfigur. Wie die Wanderer auf den Landschafts bildern des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts lässt der Mann seinen Blick in die Weite der Landschaft schweifen. Am Horizont hat der Künstler mit Bleistift die Namen der entscheidenden
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Abb. 31 Anton von Werner, Das Schlachtfeld von Sedan, 1882, Saarbrücken
Kriegsschauplätze eingetragen. Die sich in den Himmel schlängelnden Namen deuten an, was der Reisende in der historischen Landschaft zwar nicht sehen, aber imaginieren kann. Insofern kommt der unschein baren Skizze eine ähnliche Bedeutung zu wie Meissoniers fiktivem Selbstbildnis als Kaiser der Franzosen (Abb. 11). Es zeigt einen Teil der Werkgenese, der im fertigen Bild nicht mehr erscheint, seine Her stellung aber begleitet hat – die Einbildung des Geschehenen auf den «Schlachtfeldern selbst». Langlois hielt sich einiges darauf zugute, die Schlacht von Eylau ganz anders dargestellt zu haben als sein ehemaliger Lehrer AntoineJean Gros. Gros hatte den offiziellen Anweisungen Napoleons Folge geleistet und nicht das Ereignis der Schlacht gezeigt, sondern den Tag danach, an dem Napoleon als Sieger durch die Reihe der Verwundeten ritt (Abb. 32). Während Gros an der Emotionalisierung des Geschehens arbeitet und seine Schilderung dementsprechend auf die Hauptfigur des Kaisers konzentriert,47 setzt Langlois auf historische Faktizität und das bedeutet: auf Zerstreuung und Unübersichtlichkeit. Wo Gros idealisiert, überhöht und abstrahiert, will Langlois zeigen, wie es wirklich gewesen ist – ungeordnet und ohne erkennbare Klimax der Geschehnisse. Der Realismus der Wirklichkeitseffekte war mit dem Wegfall erzählerischer Kohärenz erkauft. «Wie ist es möglich», fragt Langlois, «einen Augenblick zu wählen, der die Gesamtheit der Kämpfe mit ihren unzähligen Details, ihrer Bedeutung und ihren Folgen ohne eine allzu große Konfusion erfasst?»48 Der Kritiker des Moniteur universel
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hat im Eylau-Panorama vor allem diese Konfusion wahrgenommen. Während er nicht müde wird, die «naturgetreue Imitation» zu loben und Langlois gar versehentlich – irrtümlich – zum «Augenzeugen» des Geschehens stilisiert, kann er zugleich nicht verhehlen, dass dieser Naturalismus den Verlust an formaler Stringenz zur Folge hatte: «[…] es war dem Maler nicht möglich, diese Episoden einem Hauptgeschehen unterzuordnen, wie es die klassischen Regeln verlangen: alles in dieser Komposition ist episodisch, und selbst durch ein Fernglas betrachtet lässt sich die meilenweit vom Betrachter entfernte Figur des Kaisers kaum erahnen.»49 Was sich in den Worten des Kritikers wie ein künstlerisches Versagen Langlois’ liest, entsprach den Gesetzen des Mediums. Die «klassischen Regeln» der Historienmalerei, die der Rezensent hier noch einmal anmahnt – eine identifizierbare Hauptperson, eine sinnfällige Ordnung von Zentrum und Peripherie, Haupt- und Nebensachen – waren im Panorama nicht zu haben. Die mimetische Wiedergabe des historischen Geschehens verdoppelte zugleich auch seine Unübersichtlichkeit. Auch der O-Ton der Kriegs veteranen, deren Berichte den Ereignissen im Rückblick eine Ordnung gaben, die auf der Leinwand nicht zu sehen war, vermochte den Verlust der Mitte nicht zu kompensieren. Meissonier hatte die Apotheose des historisch korrekten Details durch eine weitgehende Stillstellung der Erzählung erkauft. Alles war da – zugleich jedoch beinahe nichts sinnfällig zur Darstellung gebracht. E twas Ähnliches geschieht – bei allen formalen Differenzen, die hier beschrieben wurden – auch im Panorama. Hier war es nicht die wie in einem Brennglas konzentrierte Wirklichkeit, die das Vergangene evozieren sollte, sondern ihre Dehnung auf 360°. Der Versuch, die Repräsentation der Geschichte den ‹Sachen selbst› zu übertragen, erzeugte eine Malerei, die als Reservoir von Wirklichkeitseffekten bestach, aber in Kauf nehmen musste, keine sinnvolle Erzählung mehr liefern zu können. Der Realismus grenzt ans Tautologische – die bloße Versicherung, dass alles Gezeigte tatsächlich ‹so› gewesen ist. Das Programm eines illusionistischen Totaleindrucks markiert einen Weg, den die Historienmalerei nicht weiterverfolgt hat. Seine Faszination bezieht es aber gerade daraus, dass hier ein Potenzial der Kunst bis an einen Punkt geführt wurde, der – zumin-
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Abb. 32 Antoine-Jean Gros, Napoleon auf dem Schlachtfeld bei Preußisch-Eylau, 1808, Paris, Musée du Louvre
dest im Medium der Malerei – nicht mehr überbietbar war. Der Anspruch, ein Double des Wirklichen zu sein, war im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts aber ohnehin auf ein neues Medium übergegangen. Von ihm handelt das folgende Kapitel.
3. Kapitel
Im Fixierbad der Geschichte. Der Einsatz der Fotografie
1. Die Augen, die den Kaiser gesehen haben «Eines Tages, vor sehr langer Zeit, stieß ich auf eine Photo graphie des jüngsten Bruders von Napoleon, Jérôme (1852). Damals sagte ich mir, mit einem Erstaunen, das ich seitdem nicht mehr vermindern konnte: ‹Ich sehe die Augen, die den Kaiser gesehen haben.›»1 Mit diesen Worten beginnt eines der bekanntesten Bücher zur Fotografie, Roland Barthes’ Die helle Kammer (1980). Welche Fotografie Bonapartes der Autor dabei vor Augen hatte, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Und auch, ob die von ihm genannte Datierung des Fotos (1852) zutrifft, erscheint eher ungewiss. Aber sein Erstaunen hätte Barthes zweifellos auch angesichts der Aufnahme Jérôme Bonapartes äußern können, von der sich ein Abzug in der Sammlung von Ruth und Peter Herzog erhalten hat. Sie zeigt Bonaparte im Atelier des Pariser Porträtfotografen Eugène Disdéri (Abb. 33). Eine schwere Stoffbahn fällt von oben ins Bild, und weil man den Dargestellten nicht alleine in die Ewigkeit schicken wollte, hat man ihm einen verzierten Beistelltisch zur Seite gestellt, darauf zwei Bücher und den abgelegten Zylinderhut des Dargestellten. Bonaparte wirkt gebrechlich, so, als habe er das Säulenpostament zu seiner Rechten und den stützenden Gehstock nötig, um sich der Nachwelt in angemessener Haltung zu zeigen. Sein Blick ist in die Kamera gerichtet, zugleich aber auch in eine unbestimmte Zukunft, in der spätere Jahrhunderte – lange nach dem Tod Jérômes – sein Bildnis betrachten werden. Diesen Blick aus der Zukunft auf das historische Bild hat Barthes beschrie-
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Abb. 33 Eugène Disdéri, Porträt Jérôme Bonaparte, Atelieraufnahme, 1860
ben. Und wie um die zeitliche Distanz, die ihn vom Dargestellten trennt, noch zu erhöhen, nennt Barthes auch den Zeitpunkt, an dem er zum ersten Mal auf diese historische Aufnahme stieß – ein Augenblick in ferner Vergangenheit, «eines Tages, vor sehr langer Zeit». Die Aufnahme ist wenig spektakulär, ein Porträt, wie Disdéri, Er finder des carte-de-visite-Porträtfotos, es in jenen Jahren hundertfach aufgenommen hat2 – dieselbe Pose, dieselben Requisiten, dieselbe Art des Arrangements. Aber Barthes interessiert auch gar nicht der künstlerische Gehalt dieses Bildes, sondern seine Verankerung in der Zeit. Das «Erstaunen, das ich seitdem nicht mehr vermindern konnte», gilt dem Anblick einer Person, deren Existenz weit in ein vergangenes Jahrhundert zurückreicht, die hier aber zugleich ihren Blick auf uns gerichtet hält – einen Blick, der nicht mit den gestalterischen Mitteln
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der bildenden Kunst hervorgebracht, sondern aufgezeichnet wurde. Als Barthes auf das Foto stieß, war Jérôme Bonaparte seit einem Jahrhundert schon nicht mehr unter den Lebenden, aber das Foto hatte etwas von seiner historischen Existenz zurückbehalten. In dieser «Ema nation des vergangenen Wirklichen»3 hat Barthes bekanntlich das Wesen der F otografie gesehen, eine Verschränkung von Vergegenwärtigung und Entzug. Fünfzig Jahre zuvor hatte auch Walter Benjamin beim Anblick einer historischen Porträtfotografie jenes «Fünkchen Zufall» erkannt, mit dem «die Wirklichkeit den Bildcharakter gleichsam durchsengt hat». Im Bild der jungen Frau, die David Octavius Hill um 1845 fotografiert hat, «bleibt etwas, was im Zeugnis für die Kunst des Photographen […] nicht aufgeht, etwas, was nicht zum Schweigen zu bringen ist, ungebärdig nach dem Namen derer verlangend, die da gelebt hat, die auch hier noch wirklich ist und niemals gänzlich in die ‹Kunst› wird eingehen wollen.»4 Das Verständnis der Fotografie als Zeugnis, gar «Emanation» einer vergangenen Wirklichkeit bedarf heute zweifellos einer Reihe von Erläuterungen, Präzisierungen und Revisionen. Mit seinem Insistieren auf dem Bestätigungscharakter der Fotografie kam Barthes den Überlegungen aus der Frühzeit des Mediums erstaunlich nahe und aktivierte ein ontologisches Potenzial, das als vergangen und historisch überholt erscheinen musste. Längst zeichneten sich gegenläufige Positionen ab: zum einen ein kunsthistorischer Diskurs, der die Foto grafie aufgrund ihrer formalen und ästhetischen Qualitäten zu Recht als eigenständige Kunst etabliert hatte – mit dem Nebeneffekt allerdings, dass ihre Deutung als Spur eines Vergangenen in den Hintergrund geriet oder als endlich überwundenes Erbe betrachtet wurde; zum anderen semiologische, soziologische und diskursanalytische Deutungen, denen jeder Rekurs auf natürlich fundierte Eigenschaften des Mediums als Ausdruck eines naiven Realismus, als Ideologie und Konstrukt erscheinen musste. Bekanntlich war Barthes aber weder der erste noch der einzige, der an der Bestimmung der Fotografie als einer Einschreibung des Realen festhielt. Schon Benjamin hatte den «magischen Wert» der Fotografie beschworen, André Bazin begriff sie als eine «Wirklichkeitsübertragung vom Ding auf seine Reproduktion», und drei Jahre vor Barthes’ Die helle Kammer beschrieb Susan Sontag
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das fotografische Bild als eine «materielle Spur» – «etwas wie eine Schablone des Wirklichen, wie ein Fußabdruck oder eine Totenmaske.»5 Aus einer ganz anderen Denktradition kommend galt auch Rudolf Arnheim das Foto als «ein mit Hilfe des Lichtes genommener Abguß oder Abdruck des Gegenstandes».6 Rosalind Krauss schließlich führte im Rückgriff auf Charles Sanders Peirce den Begriff des Index in den fototheoretischen Diskurs ein. Als «photochemisch hervorgebrachte Spur», so schrieb sie 1977, könne ein fotografisches Bild «nur durch eine anfänglich körperliche Verbindung mit dem Referenten zustande kommen.»7 Seither ist der Begriff des Index – wie auch seine Vorläufer namens ‹Abdruck› und ‹Spur› – aus dem Nachdenken über die Fotografie nicht wieder verschwunden. Damit ist nicht gesagt, dass dieses fototheoretische Paradigma eine unzerstörbare und zeitlose Gültigkeit besäße: Im veränderten diskursiven Umfeld der vergangenen Jahrzehnte haben sich auch seine Begründungen und Funktionen gewandelt. Wie mir scheint, waren es aber vor allem zwei Entwicklungen, die das Fortbestehen dieser Theorietradition begünstigt haben. Zunächst ist hier die bereits erwähnte Etablierung fototheoretischer Diskurse zu nennen, die den häufig beschriebenen Realismus der Fotografie als bloßen Effekt sozialer und kultureller Praktiken, Zuschreibungen und Codes begreifen. Diese Entwicklung setzte spätestens in den siebziger Jahren ein – man denke an Pierre Bourdieus soziologische Kritik des fotografischen Realismus8 – und hat sich seither erweitert und aus differenziert. Ihr Ziel ist es, die wechselnden Funktionen und Bedeutungen der Fotografie zu untersuchen und in den sozialen, kulturellen und historischen Grenzen ihrer Gültigkeit erkennbar zu machen. Versuche, spezifische Eigenschaften des Mediums aus dem Prozess seiner materiellen Herstellung abzuleiten, erscheinen von hier aus als un zulässiger Essentialismus. ‹Realismus› erscheint fortan nur mehr in Anführungszeichen. Diese Intervention war berechtigt und notwendig. Die in ihrer Folge entstandenen konstruktivistischen Deutungsroutinen riefen zwangsläufig aber auch Gegenstimmen hervor. Ist der fotografische Referent, nachdem man seine Künstlichkeit entlarvt und über die Mechanismen seiner Konstruktion aufgeklärt hat, tatsächlich restlos verschwunden? Der Eindruck drängte sich auf, dass «die
97 ⋅ Die Augen, die den Kaiser gesehen haben
Schwerkraft des Wirklichen»9 hier allzu vorschnell zum diskursiven Phantom erklärt worden war. Kann es sein, fragt etwa Sybille Krämer in dem Einleitungstext eines 2007 erschienenen Bandes, «dass die Beschäftigung mit dem Spurkonzept deshalb fruchtbar und an der Zeit ist, weil sie dem unbekümmerten und referenzlosen Flotieren der Zeichen etwas entgegenzuhalten vermag, das seine Erdung in einer ‹Dingsemantik› findet?» Krämer beobachtete ein Kreisen um die «Selbstgenügsamkeit von Zeichensystemen», das seinen Widerpart in einem erneuten Interesse für die dinglich-materielle Dimension der Zeichenproduktion provozierte.10 In seiner Theorie des Bildakts hielt auch Horst Bredekamp der Relativierung fotografischer Referenz entgegen, «dass die Annahme, im Bild eine körperliche Spur des Abge bildeten zu sehen, trotz aller Gegenbeweise nicht aufzuheben ist».11 Dass die Konzepte von Spur und Index ihre konstruktivistische Herausforderung überlebt haben, bedeutet keinen Rückfall in die Untiefen der Ontologie. Es erinnert daran, dass sich die Frage nach der Referenz des Bildes aus der fototheoretischen Diskussion offenbar nicht so schnell und ersatzlos verabschieden ließ, wie es zunächst den Anschein hatte. Daneben hat auch die technologische Entwicklung der Fotografie das Fortbestehen des Spurenparadigmas begünstigt – auch dies ex nega tivo. Denn mit dem Erscheinen des digitalen Bildes stellte sich zwangsläufig auch die Frage nach ihrem Gegenpart, dem analogen Bild, noch einmal neu. Ähnlich wie man die Fotografie in ihren Anfängen immer wieder als dasjenige beschrieben hatte, was sie nicht war – nämlich eine bloße Fortsetzung der vertrauten, manuellen Bildkünste – so beschrieb man nun die digitale Fotografie als historische Ablösung der analogen, die gerade durch dieses Postulat ihres Endes nach einer erneuten Definition verlangte. So führen die Texte zur digitalen, «postfotografischen Ära»12 das analoge Bild als negative Bezugsgröße beständig mit. Auch wenn man die programmatische Unterscheidung von ‹analog› und ‹digital› später relativierte, blieb das Spurenparadigma auch in den vergangenen zwei Jahrzehnten integraler Bestandteil des Nachdenkens über Fotografie, und in entscheidenden Punkten liegt es auch den folgenden Überlegungen zugrunde, die der Historienmalerei nun ein Kapitel zur fotografischen Darstellung von Geschichte folgen lassen – in der Überzeugung, dass beide Techniken über spezifische
98 ⋅ Im Fixierbad der Geschichte. Der Einsatz der Fotografie
Möglichkeiten der Rekonstruktion verfügen, ebenso wie über spezi fische Grenzen der Darstellbarkeit. «Ich sehe die Augen, die den Kaiser gesehen haben». Im Blick des Dargestellten glaubt Barthes eine Vergangenheit zu erkennen, die noch weiter zurückreicht als der Tag der Aufnahme in Disdéris Atelier. Als sei das Augenpaar Jérômes ein Scharnier, um über das Sichtbare hinaus in eine noch tiefere Zeitschicht zu gelangen – die Tage Napo leons, eine Zeit vor der Erfindung der Fotografie. Die Betrachtung des Fotos führt vom Sichtbaren zum Imaginierten. «Ich sehe die Augen, die den Kaiser gesehen haben», schreibt Barthes und hätte hinzufügen können: «Aber diese Augen sehen mich nicht.» Denn Jérômes Blick trifft uns zwar, aber er sieht uns nicht und weiß nichts von uns. Die Betrachtung einer Fotografie, so sehr sie die historische Existenz des Dargestellten bezeugen mag, ist kein Zwiegespräch mit der Vergangenheit. «[…] was ich sehe ist keine Erinnerung, keine Phantasie, keine Wiederherstellung, kein Teil der Maja, wie die Kunst sie in verschwenderischer Fülle bietet, sondern das Wirkliche im vergangenen Zustand: das Vergangene und das Wirkliche zugleich».13 Das wird übersehen, wenn man Barthes ‹Realitätsgläubigkeit› attestiert, einen naiven Glauben an die «Unmittelbarkeit und Gewissheit von Vergangenheit».14 Das historische Foto, wie Barthes es sieht, hält das Gezeigte nicht über alle Zeiten lebendig, sondern be stätigt seine Abgeschiedenheit – ein «Bild, das den Tod hervorbringt, indem es das Leben aufbewahren will».15 Vor dem Hintergrund dieser zweifachen Bestimmung erklärt sich die besondere Bedeutung der Fotografie für den Gegenstand dieses Buches: Als fixierte Spur des Gewesenen stellt sie eine Form historischer Zeugenschaft dar, die sie von den Wirklichkeitseffekten der Malerei ebenso unterscheidet wie von den bewegten Bildern des Films.
99 ⋅ ‹Hier war es›. Das Bild und der Ort
2. ‹Hier war es›. Das Bild und der Ort Im Dezember 1853 bereiste der französische Fotograf Auguste Salzmann Palästina, um die dort erhaltenen Altertümer zu dokumentieren. Eine der Aufnahmen zeigt die menschenleere Landschaft unweit von Jerusalem (Abb. 34). Zwischen Olivenbäumen schlängelt sich ein Weg in die Tiefe des Bildraums hinein, an seinem Ende, im Dunst kaum zu erkennen, liegt Bethlehem. «[…] nichts als ein steiniger Boden und ein paar Ölbäume», so kommentiert Barthes das Bild, «doch drei Zeiten verdrehen mir den Kopf: meine Gegenwart, die Zeit Jesu und die des Photographen, all dies dem Druck der ‹Realität› ausgesetzt […]».16 Barthes’ Desorientierung stellt sich im Zusammenspiel folgender Zeithorizonte ein: jenem Tag im Frühjahr 1979 («meine Gegenwart»), als Barthes beim Betrachten von Foto büchern auf die historische Aufnahme Salzmanns stieß; dem weit zurückliegenden Tag des Jahres 1854, an dem Salzmann seine Kamera auf die Landschaft um Jerusalem richtete; schließlich einer noch ferneren Vergangenheit – der «Zeit Jesu», im Bild nicht eigentlich zu sehen, aber doch virulent als vage, zusätzliche Referenz in der Ein bildungskraft des Betrachters. Die Aufnahme ist historisch – deutlich zu sehen an ihrer Körnigkeit, ihrer Unschärfe und der sepiaartigen Tonalität, die an die Zeit vor der Erfindung der Farbfotografie erinnert – historisch war aber auch bereits der Schauplatz der Aufnahme selbst, als Salzmann seine Kamera dort postierte. Barthes imaginiert neben dem Zeitpunkt der Entstehung der Aufnahme eine zweite, noch fernere Vergangenheit: Irgendwo hier zwischen den Hügeln, in der historischen Tiefe dieser Landschaft, haben sich der biblischen Über lieferung gemäß die Protagonisten der Passionsgeschichte bewegt. Ein Jahrzehnt später besuchte auch der französische Fotograf Louis de Clercq die historischen Stätten Jerusalems. In Begleitung des Historikers Emmanuel-Guillaume Rey hatte de Clercq Syrien und Kleinasien bereist und die Expedition in Richtung Ägypten und Palästina fortgesetzt.17 Die fotografische Dokumentation der Reise erschien wenig später in sechs Bänden unter dem Titel Voyage en Orient. Im
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Abb. 34 August Salzmann, Jerusalem, 1854
Unterschied zu Auguste Salzmann, der die Fotografien seiner Palästinareise 1856 durch einen ausführlichen Textband mit archäologischen Erläuterungen flankiert hatte, dokumentiert de Clercq die Stationen seiner Reise als eine bloße Folge von Bildern und reduziert den Anteil der Schrift auf die Bildlegenden. Der vierte Band der Voyage unterbricht die Folge der Einzelbilder durch eine ungewöhnliche erzähle rische Sequenz – Fotografien der vierzehn Stationen des Kreuzwegs Christi. Ein Geschehen, das seinen Ort Jahrhunderte lang im Repertoire der christlichen Kunst gefunden hatte, wird hier Gegenstand einer fotografischen Spurensuche – die Passion als Lichtbild vom historischen Ort des Geschehens. Die letzten Stationen des Kreuzwegs fielen einer technischen Unzulänglichkeit zum Opfer: Da es aufgrund der damals noch geringen Lichtempfindlichkeit der Emulsionen nicht möglich war, im dunklen Inneren der Grabeskirche zu fotografieren, mussten
101 ⋅ ‹Hier war es›. Das Bild und der Ort
Kreuzigung, Kreuzabnahme und Grablegung im Buch durch Lithographien ersetzt werden. Das dritte Bild der Serie zeigt in Schrägansicht ein antikes Bauwerk mit zugemauerten Bögen (Abb. 35). Auf dem Gesims und in den Fugen des Mauerwerks wuchert Gestrüpp, helles Sonnlicht trifft die Fassade, während der menschenleere Platz vor dem Gebäude im Schatten liegt. Die Bildlegende kommentiert: «Dritte Station. Jesus stürzt zum ersten Mal. Eine zerbrochene und zu Boden gestürzte Säule markiert den Ort dieser Station. Von hier aus zweigt der Kreuzweg in einer plötzlichen Wendung nach links ab». Offenbar übernimmt de Clercq ganz bewusst die Konvention der tradierten Kreuzwegdarstellungen, die Bildlegenden im Präsens anzugeben. Doch während diese Darstellungen tatsächlich zu sehen geben, wovon die Bildlegende berichtet, klafft bei de Clercq eine Lücke zwischen dem Sichtbaren und seiner Bezeichnung: Der beschriebene Jesus ist nirgends zu sehen, der Blick trifft einen menschenleeren Ort, aufgenommen im Sommer 1859, während der Text ein Ereignis aufruft, das hier vor über zweitausend Jahren stattgefunden haben soll. Die Bildlegende schickt uns auf die Suche nach Akteuren, die wir im Bild nicht finden können. Eine Fotografie, so wurde hier bereits mit Kracauer in Erinnerung gerufen, «muß wesentlich dem Zeitpunkt ihrer Entstehung zugeordnet sein».18 Sie fixiert, was sich in diesem Augenblick vor dem Objektiv der Kamera befunden hat, über diesen Zeitpunkt führt die Aufzeichnung nicht hinaus. Die Möglichkeit der Malerei, Vergangenes nach träglich vor Augen zu stellen, steht der Fotografie nicht zur Verfügung: Fotografieren lässt sich nur, was gerade jetzt geschieht. Meissonier malte Napoleons Feldzug von 1814 aus der Distanz eines halben Jahrhunderts: In der Malerei können das historische Ereignis und die Zeit seiner Darstellung beliebig differieren. In der Fotografie hingegen fallen beide Zeiten – Zeitpunkt der Darstellung und Zeitpunkt des Dargestellten – notwendig zusammen. Auch wenn diese Feststellung aus medienhistorischer Sicht ans Tautologische grenzt, lohnt es sich doch, sie hier zu betonen, denn für die Frage nach der medialen Darstellbarkeit von Geschichte hat sie eine entscheidende Konsequenz: man kann Vergangenes malen, inszenieren und erzählen, aber nicht fotografieren. Historisch werden Fotos immer erst nachträglich. Da die Er-
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Abb. 35 Louis de Clerc, Ansicht von Jerusalem, Kreuzweg, dritte Station, um 1860
103 ⋅ ‹Hier war es›. Das Bild und der Ort
eignisse der Passionsgeschichte der Erfindung der Fotografie um zwei Jahrtausende vorausgehen, ist es für ihre fotochemische Aufzeichnung für immer zu spät. Es sei denn, man folgt dem Beispiel des amerikanischen Fotografen Fred Holland Day und zeigt die Passion als fotografisches Reenactment (Abb. 36). Im Sommer 1898 bestieg Holland Day mit einer Gruppe von Freunden, Schauspielern und Modellen einen Hügel in der Nähe von Boston, um dort Leben, Tod und Auferstehung Christi vor der Kamera nachzustellen. Inspiriert von den Passionsspielen in Oberammergau (Abb. 37), die Holland Day 1890 besucht hatte, entstanden über zweihundert fotografische Darstellungen der Passion. Die Ansicht der vier Trauernden unter dem Kreuz lässt die Szene topographisch im Unbestimmten. Christus (dargestellt von Holland Day) erscheint vor einem wolkenlosen Himmel, vom Schauplatz gibt das Bild nur eine Andeutung von Vegetation zu erkennen. Sobald aber im Hintergrund des Gekreuzigten die Landschaft Neuenglands ins Blickfeld gerät (Abb. 39), ist die Inszenierung lokalisierbar, und neben dem himmelwärts gerichteten Blick des Sterbenden registriert die Kamera die Profanität der Requisiten: das Zeichen der Erleuchtung ist ein kreisrunder Heiligenschein aus Holz. Zweifellos hat Holland Day nicht die Absicht verfolgt, die Betrachter über den fiktiven Charakter seiner Bilder hinwegzutäuschen. Die Inszenierung ist offensichtlich und soll es auch sein.19 Im hier verfolgten Zusammenhang interessiert aber etwas anderes: Fotografische Inszenierungen der Geschichte wollen das Historische bedeuten, gehören ihm aber nicht an.20 Die fotografische Vergangenheitssuche stößt hier auf dieselbe ästhetische Herausforderung, die Kracauer am Beispiel des historischen Spielfilms beschrieben hat: «Er muß sich mit Jahrhunderten auseinandersetzen, in denen der Film und die ihm zugeordnete Welt noch gar nicht existierten. […] Ein Geschöpf der Gegenwart, dringt der Film als Fremdling in die Ver gangenheit ein; es bleibt ihm versagt, ihr Dasein […] mit seinen besonderen Mitteln vollkommen zu bewältigen.»21 Der Betrachter weiß, dass es vom Gezeigten keinen historischen Film, kein historisches Foto geben kann. Das Bild verkörpert dieses Wissen als Anachronismus: Die Inszenierung zielt auf eine Zeit, die der Fotografie weit vorausging, die stur das Hier und Jetzt registrierende Kamera holt die Szene jedoch
104 ⋅ Im Fixierbad der Geschichte. Der Einsatz der Fotografie
105 ⋅ ‹Hier war es›. Das Bild und der Ort
in die Gegenwart zurück. Zugleich mit dem nachgestellten G eschehen – und weitaus aufdringlicher – zeigt sie die Wirklichkeit dieser Nach stellung: Kostüme, Requisiten, einen Christus aus dem neunzehnten Jahrhundert. De Clerq wählt eine andere Spielart historischer Rekonstruktion. Anders als Holland Day fotografiert er, was vom Vergangenen geblieben ist – die historischen Schauplätze, auch wenn von diesen kaum mehr als die räumlichen Koordinaten überdauert haben. Die Kamera soll die Stationen des Kreuzwegs im Realen verankern, in der historischen Kulisse, in der de Clerq im Sommer 1859 das Stativ seiner Kamera aufgestellt hatte. «Dritte Station. Jesus fällt zum ersten Mal» (Abb. 35). Die Bildlegende beschreibt ein Ereignis, das auf dem Foto nicht zu sehen ist, das man sich dort aber vorstellen kann. De Clerqs Text-Bild-Ensemble verschränkt das stumme Zeugnis der Fotografie mit den Bilderarsenalen der Einbildungskraft. Auf dem Platz vor der Fassade ist niemand zu sehen, aber die Bildlegende ruft das flüchtige Vorstellungsbild eines Menschen hervor, der hier vor über zweitausend Jahren entlanggegangen sein soll. Die Fotografie übernimmt dabei die Geste des Zeigens: Hier war es, sagen die Bilder und Legenden, an dieser Stelle, wo heute die umgestürzte Säule liegt, stürzte Christus zum ersten Mal, unter diesem Torbogen traf er auf seine Mutter (Abb. 39), hier begegnete ihm die heilige Veronika mit dem Schweißtuch. Die Suche nach dem «Hier» des Gewesenseins gehört zu den klassischen Verfahren historischer Vergegenwärtigung. In ihr soll das Gedächt nis an ein vergangenes Geschehen in die Kulissen dieses Geschehens zurückversetzt werden. Auch Langlois hatte es nicht dabei belassen, in Paris die erhaltenen Zeugnisse der Schlachten Napoleons zu studieren – der historische Schauplatz musste betreten werden, selbst wenn es dort kaum mehr etwas zu sehen gab (siehe Kapitel 2.5.). Erst in der Überblendung von Ort und Schrift, Topographie und Erzählung entsteht die Authentizität geschichtlicher Schauplätze. In seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg hat Fontane
Abb. 36 Fred Holland Day, Kreuzigungsszene, 1898
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Abb. 37 Heinrich Korff, Ansicht der Oberammergauer Passionsfestspiele, 1890
eine eindrückliche Schilderung dieses Zusammenhangs gegeben. Für sich genommen, d. h. unbeschriftet und ohne das Bildreservoir der Erinnerung, sind diese Orte meist belanglos, öde und leer: ein «alter unschöner Bau», «ein Landarmenhaus», «ein paar Sandhügel», wie Fontane angesichts der verlassenen Schauplätze aus der Zeit Friedrichs II. notiert. Erst wenn die Imagination sich der leeren Orte bemächtigt, erscheinen sie «wie in wunderbarer Beleuchtung». «Wenn du reisen willst mußt du die Geschichte dieses Landes kennen und lieben. Dies ist ganz unerläßlich. Wer nach Küstrin kommt und einfach das alte graugelbe Schloß sieht, das, hinter Bastion Brandenburg, mehr häßlich als gespensterhaft aufragt, wird es für ein Landarmenhaus halten und entweder gleichgültig oder wohl gar in ästhetischem
Abb. 38 Fred Holland Day, Kreuzigungsszene, 1898
107 ⋅ ‹Hier war es›. Das Bild und der Ort
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Abb. 39 Louis de Clerc, Ansicht von Jerusalem, Kreuzweg, vierte Station, um 1860
Mißbehagen an ihm vorübergehn; wer aber weiß: ‹hier fiel Kattes Haupt; an diesem Fenster stand der Kronprinz›, der sieht den alten unschönen Bau mit anderen Augen an. – So überall. Wer, unvertraut mit den Großtaten unserer Geschichte, zwischen Linum und Hakenberg hinfährt, rechts das Luch, links ein paar Sandhügel, der wird sich die Schirmmütze übers Gesicht ziehn und in der Wagenecke zu nicken
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suchen; wer aber weiß, hier fiel Froben, hier wurde das Regiment Dalwigk in Stücke gehauen, dies ist das Schlachtfeld von Fehrbellin, der wird sich aufrichten im Wagen und Luch und Heide plötzlich wie in wunderbarer Beleuchtung sehn.»22 Was Fontane hier als «wunderbare Beleuchtung» beschreibt, kann man auch die Aura dieser Orte nennen – ein, so Benjamins berühmte Formulierung, «sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag».23 In ihr kehrt das Vergangene nicht auf wundersame Weise an seinen Ursprung zurück, es bleibt uneinholbar und fern, aber zugleich bewahrt der Ort Spuren seines Dagewesenseins. «Gedenkorte», so Assmann, «an denen sich etwas von dem erhalten hat, was nicht mehr ist, aber von der Erinnerung reaktiviert werden kann, markieren Diskontinuität. Hier ist noch etwas anwesend, aber dies verweist vor allem auf Abwesenheit; hier ist noch etwas gegenwärtig; aber es signalisiert in erster Linie dessen Vergangensein.» 24 In Fontanes Reisebeschreibungen ist dieses «Etwas» die historische Kulisse, die verlassene, aber doch in Resten noch vorhandene und begehbare Topographie vergangener Geschehnisse.25 Es bedurfte jedoch nicht unbedingt der sichtbaren Gestalt architektonischer Reste, um die Schauplätze des Gewesenen als solche zu entziffern. Noch in der kargen Präsenz von «ein paar Sandhügeln» (Fontane) ließ sich das Vergangene imaginieren. Was also wäre das Mindestmaß an Konsistenz und Dauer, das gegeben sein muss, um einen Ort zum histo rischen Schauplatz zu machen? Lässt sich das Vergangene auch an Orten völliger Leere imaginieren? Über William Turners Aufenthalt auf dem verlassenen Schlachtfeld von Waterloo im August 1817 – zwei Jahre nach der Schlacht – schreibt Monika Wagner: «Der Ort ist das einzig Authentische, das überdauert. In ihn haben sich die Ereignisse eingeschrieben, die über die Aura des Namens aufgerufen werden.»26 Demnach bedarf die ‹Einschreibung› einer Oberfläche, die als dauerhaft erfahren wird. Wo die Dinge fluide und veränderlich sind, kann die «Aura des Namens» sich nicht ansiedeln. Nur in der materiellen Konsistenz eines Ortes kann das Vergangene imaginiert werden – vorausgesetzt, dass man von ihm weiß, weil er durch Namen und Erzählungen bezeichnet ist. ‹Hier war es› – diese Beschwörungsformel
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des Historischen verschränkt Name und Ort, Sehen und Imagination, einen Schauplatz und seine Beschriftung. Mit ihren Bildern und Berichten wandten die Reisenden sich an ein Publikum, das ihre Erfahrungen in der Regel nicht teilte. Die besondere Aura der Schauplätze musste vermittelt, das ‹Hier war es› all jenen veranschaulicht werden, die dauerhaft woanders waren – sei es in der Form des Reisejournals wie bei Fontane, als monumentales Panoramabild wie bei Langlois oder als Serie fotografischer Aufnahmen wie in Clerqs Voyage en Orient. Wenn aber Geschichte schon an ihren Schauplätzen nur als «Diskontinuität» (Assmann) zu haben war, dann galt das erst recht für ihre mediale Vermittlung. Die Fotos konnten als Beleg gelten, dass der Fotograf sich tatsächlich vor Ort befunden hatte. Aus sich selbst heraus vermochten sie ihre historische Evidenz jedoch nicht zu erlangen. Sie zeigten menschenleere Orte, aufgenommen im Jahr 1859. Wie es zweitausend Jahre zuvor dort aussah, wer diese Straßen und Plätze bevölkerte, was sich dort zugetragen hat – darüber können die Fotografien nichts s agen. Dass die Malerei hier ganz anders verfahren kann, zeigt eine Serie von Aquarellen des französischen Malers James Tissot. 1886 bereiste Tissot Palästina, um die historischen Schauplätze der Passionsgeschichte zu studieren. Zehn Jahre später erschien das erste Konvolut von Aquarellen zum Alten und Neuen Testament – La Vie de Notre- Seigneur Jésus Christ.27 Zu den erstaunlichsten Darstellungen der Serie gehört Tissots Version der Kreuzigung mit dem Titel: «Was unser Herr vom Kreuz aus gesehen hat» (Abb. 40). In der Geschichte kunsthistorischer Passionsdarstellungen stellt die Interpretation Tissots vermutlich die äußerste Form künstlerischer Anverwandlung und Einfühlung in das historische Geschehen dar. Zu Füßen des Gekreuzigten erkennt man die Gruppe der Trauernden, die selbstgerechten Pharisäer und die höhnisch blickenden Legionäre – ebenso wie Christus sie aus der Höhe des Kreuzes in die Runde herabschauend gesehen haben müsste. In seiner Bemühung um Authentizität verzichtet Tissot auch nicht darauf, am unteren Rand des Bildes in starker Aufsicht die Fußspitzen des an sich selbst herabschauenden Erlösers ins Bild zu rücken. Dutzende von Blicken sind auf den Sterbenden gerichtet – zugleich aber auch auf uns, die Betrachterinnen und Betrachter des Bildes. Die Perspektiven
111 ⋅ ‹Hier war es›. Das Bild und der Ort
verschmelzen, wir sind Augenzeugen des Passionsgeschehens, zugleich aber auch – jeder und jede für sich – ihre imaginären Hauptdarsteller. Eine extremere Form von Identifizierung mit den Akteuren der Geschichte ist kaum denkbar, und es ist schwer zu entschieden, ob dieser Versuch einer Einverleibung von Geschichte am Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts eine intime Veranschaulichung des biblischen Geschehens war oder eine Vorform der Live-Reportage: ein Distanz verlust, der noch dem Sterben am Kreuz den Reiz des unmittelbaren Dabeiseins abverlangen will. An dieser Stelle interessiert Tissots malerische Vision aber vor allem als Kontrast zur fotografischen Ästhetik de Clercqs – als eine utopische Unmittelbarkeit, die das Foto in dieser Form nicht liefern konnte. De Clercqs Fotografien zeigen leere Schauplätze, Folien der Imagination, setzen das Imaginierte aber nicht sichtbar ins Bild. De Clercq hat jede Spur seines eigenen Jahrhunderts aus den Bildern des Kreuzwegs verbannt. Alles Lebendige ist verschwunden, auf den meisten Fotos sind nicht einmal Spuren von Vegetation zu erkennen. Jerusalem erscheint als Stadt ohne Bewohner, eine steinerne Kulisse außerhalb der datierbaren Zeit, zugleich aber eine leere Schaubühne der Imagination. Es ist faszinierend zu sehen, wie de Clercq in seinen Bildlegenden die Aura des ‹Hier war es› beschwört, wie diese Aura sich jedoch jeder exakten Lokalisierung entzieht. Als genüge es nicht, den Schauplatz in seiner Gesamtheit zu zeigen, hebt die Legende – wie der Pfeil auf einer kriminalistischen Tatortfotografie – einzelne Details innerhalb des Bildgefüges hervor: in der dritten Station («Jesus fällt zum ersten Mal», Abb. 35) ist es ein «zerbrochener und am Boden ausgestreckter Säulenschaft, der den Ort dieser Station bezeichnet»; in der vierten Station («Jesus begegnet seiner heiligen Mutter», Abb. 39) übernimmt der «Torbogen, den man hier sieht», diese Funktion; in der neunten Station («Jesus stürzt zum dritten Mal», Abb. 41) verweist die Legende erneut auf einen «Säulenschaft am Fuße der Mauer, der diese Station bezeichnet». In diesen Gegenständen scheint die Authentizität des Ortes sich zu konkreten Formen zu verdichten – als erhielte die Vorstellungskraft des Betrachters hier ihre physische Verankerung in der Wirklichkeit. Zugleich fällt auf, wie wenig de Clercq um eine archäologisch plau-
112 ⋅ Im Fixierbad der Geschichte. Der Einsatz der Fotografie
Abb. 40 James Tissot, Was unser Herr vom Kreuz aus sah, 1886–94, New York, Brooklyn Museum
sible Herleitung dieser Fragmente bemüht ist. Stärker als die archäologische Beweisführung zählt der inszenatorische Effekt: Ein von der Seite einfallendes Licht lässt den Säulenschaft hell hervortreten (Abb. 41), und de Clercq greift hier offenbar auf das Potenzial des Anthropomorphismus zurück: die umgestürzte Säule lässt sich als Stellvertretung des zu Boden gestürzten Christus sehen.
113 ⋅ ‹Hier war es›. Das Bild und der Ort
Abb. 41 Louis de Clerc, Ansicht von Jerusalem, Kreuzweg, neunte Station, um 1860
In anderen Fällen gelingt die Suche nach solchen Ankerpunkten der Imagination ungleich schwieriger. In der Bildlegende zur fünften Station («Simon kommt Jesus zu Hilfe») heißt es: «einzig eine Markierung an der Mauer bezeichnet diese Station» (Abb. 42). Aber wo genau befindet sich diese? Der Blick beginnt das Mauerwerk nach der genannten Stelle abzusuchen, einige Schemen und Unebenheiten im
114 ⋅ Im Fixierbad der Geschichte. Der Einsatz der Fotografie
Gemäuer lassen sich unterscheiden, man erkennt ein kleines weißes Rechteck – aber wo wäre hier die genannte Markierung? In der sechsten Station schließlich («Veronika trocknet das blutige Antlitz Jesu») kann de Clercq nur die Abwesenheit eines genau lokalisierbaren Fixpunktes des vergangenen Geschehens konstatieren: «Keine äußere Markierung bezeichnet diese Station. Der Überlieferung gemäß be findet sie sich am Fuß der kleinen Treppe.» Die Lokalisierung des Geschehenen bleibt im Ungefähren: Irgendwo hier am Fuße der Treppe sind Veronika und Christus einander begegnet. Die fotografische Vorlage muss der Einbildung Anhaltspunkte geben, sie darf aber auch nicht zu genau, zu konturiert und zu scharf umrissen sein, wenn sich in ihrem Anblick ein Vorstellungsbild des Vergangenen einstellen soll. De Clercqs Versuch, die notwenige Vagheit der Gedächtnisorte durch klare Markierungen zurückzunehmen, folgt einem Willen zur Präzision, der seinem Unternehmen letztlich widerspricht. Auratisch, so wurde hier bereits mit Didi-Huberman formuliert, ist «jener Gegenstand» – und hier lässt sich hinzufügen: jener Ort und sein Bild –, «dessen Erscheinung über seine eigene Sichtbarkeit hinaus das verbreitet, was mit Vorstellungen zu bezeichnen wäre, Vorstellungen, die Konstellationen oder Wolken um ihn herum bilden».28 Es bedarf des historischen Ortes und seiner Beglaubigung im fotografischen Bild, aber es bedarf auch der Imagination «über seine eigene Sichtbarkeit hinaus». Als «sonderbares Gespinst von Raum und Zeit» besitzt die Aura des Erinnerungsortes keine festumrissenen Grenzen. Jeder Versuch, sie im Sichtbaren dingfest zu machen, verkennt ihre Fluidität: Im Reich historischer Imagination lässt sich nicht auf Dinge und Personen zeigen. Wie die Lektüre der Fotos gezeigt hat, gehört zu ihrer Historizität wesentlich auch die Zeit, aus der heraus man sie betrachtet. Nicht nur die dargestellten Orte reichen weit in die Vergangenheit zurück, auch die Fotos selbst sind für uns historisch geworden. Niemand hat diese Zeitlichkeit fotografischer Bilder so eindrücklich beschrieben wie Kracauer in seinem Essay «Die Photographie», erschienen am 28. Oktober 1927 in der Frankfurter Zeitung.
115 ⋅ Fotografie als «Generalinventar»
Abb. 42 Louis de Clerc, Ansicht von Jerusalem, Kreuzweg, fünfte Station, um 1860
3. Fotografie als «Generalinventar» Kracauers Beispiel ist eine historische Fotografie – im Text beschrieben, aber nicht abgebildet – aus dem Jahr 1864, die eine vierundzwanzigjährige Frau im Atelier eines Hoffotografen zeigt, mit Chignon-Frisur, steifer Krinoline und Zuavenjäckchen. Drei Zeithori-
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zonte greifen in der Betrachtung des Fotos ineinander: der längst vergangene Tag im Jahr 1864, als die junge Frau im Atelier des Hoffotografen posierte; die Zeitlichkeit des Bildes, also jener Ausschnitt, den die Aufnahme aus dem Fluss der Ereignisse herauslöst und für immer auf Dauer stellt; schließlich die Gegenwart, das Hier und Jetzt, in dem der Blick das alte Foto trifft. In der Betrachtung des Bildes driften diese Horizonte auseinander: Das Foto von 1864 ist Fragment einer Vergangenheit, die keinen Anschluss an die Jetztzeit findet. Beharrlich zeigt es immer denselben, abgetrennten Augenblick und gibt kein Bild davon, was zuvor geschah oder was der Aufnahme noch folgte. Das historische Foto hat keine historische Umgebung. Die junge Frau von 1864 «lächelt in einem fort, immer dasselbe Lächeln, das Lächeln bleibt stehen, ohne noch auf das Leben zu weisen, aus dem es herausgenommen ist.»29 In Kracauers Betrachtung fotografischer Zeit spielt die Mode eine entscheidende Rolle. Am Beispiel der Panoramamalerei war bereits davon die Rede, dass Kleidung ein augenfälliger Indikator der Zeit ist. Im Panorama der «Geschichte des Jahrhunderts» hatten Stevens und Gervex dem Nebeneinander ihrer Protagonisten erst durch den Wechsel der Kostüme einen sichtbaren Ausdruck ihrer Verankerung in der Zeit geben können – vom malvenfarbigen Mantel Ludwig XVI. bis zur betressten Divisionsuniform Napoleons III. Kracauer nun setzt die Geschichtlichkeit der Mode in ein Verhältnis zur Fotografie. «Der Zeitgebundenheit der Photographie entspricht genau die der Mode.»30 Historienmaler wie Meissonier, Stevens und Gervex betrieben extensive Studien, um ihr Bildpersonal im korrekten Zeitkostüm zu präsentieren. Die Regisseure des historischen Spielfilms – davon später – folgten ihnen darin. Die Fotografie erfasst diese Zeitgebundenheit automatisch und überliefert sie der Nachwelt als historische Signatur. Während man die Kleidermode der eigenen Zeit (noch) nicht als historisch wahrnehmen kann, fällt die abgelebte Mode vergangener Jahrzehnte als befremdlich auf. Das historische Foto macht dieses Befremden offensichtlich: Die junge Frau von 1864 erscheint als «archäologisches Mannequin, das der Veranschaulichung des Zeitkostüms dient».31 Die Fotografie, so die prägnante Formulierung Kracauers, «faßt den Restbestand, den die Geschichte abgeschieden hat.»32 Die
117 ⋅ Fotografie als «Generalinventar»
Mode ist dabei nur ein Element der abgelebten Zeit – auch alles andere im Bild ist Teil der Zeitkostüms. «So zerbröckeln die Bestände, da sie nicht zusammengehalten werden. Das photographische Archiv versammelt im Abbild die letzten Elemente der dem Gemeinten entfremdeten Natur.»33 Dem «Gemeinten entfremdet»? Von wem gemeint? Und warum «entfremdet»? Kracauer unterscheidet hier idealtypisch zwischen foto grafischem Archiv und Gedächtnis. Im Gegensatz zur Kamera, die auch das ‹Sinnlose› registriert, gesteht er dem Gedächtnis eine stärkere Formatierung des Erinnerten zu: Es greift Einzelnes heraus, selektiert, was bewahrt und was vergessen werden soll. «Gleichviel, welcher Szenen sich ein Mensch erinnert: sie meinen etwas, das sich auf ihn bezieht, ohne daß er wissen müßte, was sie meinten. […] Sie organisieren sich also nach einem Prinzip, das sich von dem der Photographie seinem Wesen nach unterscheidet.»34 Ganz gleich, ob man dieser kategorischen Unterscheidung von Erinnerung und Aufzeichnung folgen möchte oder nicht – mit Blick auf das historiographische Potenzial der Fotografie macht Kracauer eine wichtige Beobachtung: Die Fotografie scheidet das Gegebene als Fragment und Überrest der Geschichte aus, sie zeigt sich «als ein Gemenge, das sich zum Teil aus Abfällen zusammensetzt». Das Foto «sammelt Fragmente um ein Nichts. Als die Großmutter vor dem Objektiv stand, war sie für eine Sekunde in dem Raumkontinuum zugegen, das dem Objektiv sich darbot. Verewigt worden ist aber statt der Großmutter jener Aspekt. Es fröstelt den Betrachter alter Photographien. Denn sie veranschaulichen nicht die Erkenntnis des Originals, sondern die räumliche Konfiguration eines Augenblicks; nicht der Mensch tritt in seiner Photographie heraus, sondern die Summe dessen, was von ihm abzuziehen ist. Sie vernichtet ihn, indem sie ihn abbildet, und fiele er mit ihr zusammen, so wäre er nicht mehr vorhanden.»35 Kracauer macht hier noch einmal deutlich, wie sehr die Geschichtlichkeit des Fotos an den Vorgang der Aufzeichnung gebunden ist. Im Augenblick der Aufnahme nimmt die Kamera das Dargestellte aus der chronologisch verlaufenden Zeit heraus. Was dabei ins Bild eingeht, überlebt dort nicht. Das Bild hält das Dargestellte nicht auf Dauer lebendig, sondern bestätigt im Gegenteil seine Abgeschiedenheit. Aus
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diesem Grund führt die Betrachtung auch nicht zum Dargestellten zurück, nicht zur «Erkenntnis des Originals», sondern zeigt, wie Kracauer schreibt, «die Summe dessen, was von ihm abzuziehen ist».36 Kracauers Überlegungen zur Fotografie werden hier so ausführlich in Erinnerung gerufen, weil in ihnen die Grundfigur dieses Buches aufscheint – das Nebeneinander von Sichtbarkeit und Unwiederholbar keit, Vergegenwärtigung und Entzug. Denn mit der Rede vom ‹vernich teten› Original ist nur die eine Seite fotografischer Sichtbarmachung beschrieben. Zugleich bestätigt das Bild, dass das Dargestellte im kurzen Augenblick der Aufnahme existiert hat. Kracauer, so Gertrud Koch, begreift die Fotografie als «Reservoir an Referenzobjekten».37 Die Großmutter war «für eine Sekunde in dem Raumkontinuum zugegen, das dem Objektiv sich darbot». Ähnlich wie später Barthes koppelt Kracauer das Wissen um die Unwiederholbarkeit des Dargestellten an das gleichzeitige Bestätigungsvermögen der Fotografie. «Die Photographie wird zum Gespenst, weil die Kostümpuppe gelebt hat.»38 Kracauer ist wohl der Erste, der Abbildung und Vernichtung, Dauer und Verschwinden als komplementäre Bestandteile der Fotografie ineins gedacht hat. Aus dieser zweifachen Bestimmung bezieht er auch die Sprachbilder seines Textes. Während André Bazin die fotografische «Objektivität der Zeit» dadurch gesichert sieht, dass ein Foto seinen Gegenstand bewahrt «wie der Bernstein, den intakten Körper von Insekten aus einer fernen Zeit»39, führt Kracauer Metaphern an, die mit dieser Vorstellung von Intaktheit brechen: Nicht das geborgene und unversehrte Lebewesen ist sein Leitbild, sondern die kostümierte Puppe, das Mannequin, die Leiche, das Gespenst. Alle diese Gestalten sind dem Bereich des Lebensechten und doch Leblosen entnommen. Diese zeitliche Inkongruenz der Fotografie ist für Kracauer kein Defizit, vielmehr bietet sie eine Erkenntnismöglichkeit, die es in der Geschichte der Bilder zuvor nicht gegeben hat. Zahllose Fotografien zeigen bedeutende Momente der Geschichte: Abraham Lincoln und General John A. McLernand auf dem Schlachtfeld in Antietam, Maryland im Oktober 1862, den fallenden Loyalisten im spanischen Bürgerkrieg, aufgenommen von Robert Capa, die Explosion des Luftschiffs «Hindenburg» in Lakehurst, New Jersey 1937,
119 ⋅ Fotografie als «Generalinventar»
Stalin, Roosevelt und Churchill auf der Terrasse der russischen Botschaft in Teheran 1943. Diese Aufnahmen setzen ausgewählte Episoden der Geschichte wirkungsvoll ins Bild, viele von ihnen sind Teil des kollektiven Bildgedächtnisses geworden. Mit Kracauers Interesse an der Fotografie als «Generalinventar» und «Sammelkatalog sämtlicher im Raum sich darbietenden Erscheinungen»40 verschiebt sich jedoch das Interesse am historischen Foto. Die Aufmerksamkeit richtet sich nun auf die unzählbare Menge von Aufnahmen, die gerade keinen ‹fruchtbaren Augenblick› der Geschichte einfangen, sondern den zeithistorischen ‹Abfall›, die tote Zeit, die ereignislos vergeht, bzw. noch unentschieden lässt, was im Rückblick als Ereignis erkennbar wird. Eine historische Schwarz-Weiß-Aufnahme des Hoffotografen Eugen Jacobi zeigt einen Moment aus dem Leben Wilhelms I. (Abb. 43). Auf den ersten Blick ist in der Fülle an Details kein Hauptmotiv zu erkennen. Nach einer Weile entdeckt man im Zentrum des Bildes den Kopf des Kaisers – in der blank polierten Pickelhaube spiegeln sich Bäume und Himmel. An der Seite Wilhelms I. erblickt man seine Ehefrau, Auguste Viktoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, im Rüschenkleid und mit Federhut, ein «archäologisches Mannequin, das der Veranschaulichung des Zeitkostüms dient». Die kaiserliche Kutsche passiert gerade die Fassade eines historischen Gebäudes, der Kaiser und seine Frau richten ihre Aufmerksamkeit offenbar auf Personen, die den Zug irgendwo außerhalb unseres Sichtfelds flankieren. Am rechten Rand des Abzugs liest man den Namen des Fotografen, die Reihe der goldenen Wappen darüber belegt die Prominenz seiner Kunden, deren Namen auf der Rückseite des Bildes verzeichnet werden: Seine Majestät der deutsche Kaiser Wilhelm II., Seine Königliche Hoheit der Großherzog von Baden, Seine Königliche Hoheit der Prinzregent Luitpold von Bayern, Seine Durchlaucht der Fürst Hohenlohe-Schillingfürst, Seine Durchlaucht der Prinz zu Waldeck und Pyrmont. Der Glanz dieser Namen, ihre Aura von Noblesse und Bedeutsamkeit, findet im Bild keinerlei Widerhall. Anstelle einer klaren Hierarchie von Hauptund Nebendingen erblickt man eine Akkumulation von Einzelheiten. Dass Jacobi den Kopf des Kaisers in die Bildmitte gerückt hat, ändert nichts daran, dass eine Messinglaterne im Vordergrund des Bildes den gleichen Raum für sich in Anspruch nimmt. Hoch auf dem Kutsch-
120 ⋅ Im Fixierbad der Geschichte. Der Einsatz der Fotografie
bock thront der Kutscher, eine Randfigur, deren Name vermutlich niemand mehr kennt, aber hier überragt er den Kaiser und lässt ihn in seiner Kutsche zusammenschrumpfen. Gemessen an den Meisterwerken des Fotojournalismus ist Jacobis Bild bemerkenswert unspektakulär. Hier ereignet sich beinahe nichts; falls doch – sollte es sich etwa um die Randepisode eines folgenreichen öffentlichen Auftritts des Kaisers handeln – lässt das Foto nichts von dieser Bedeutsamkeit erkennen: Zugleich mit dem Kaiser sehen wir das Ornament auf dem Kleid der Kaiserin, die Physiognomie des Kutschers, einen unbekannten Mann am Straßenrand, der dem Kaiserpaar zum Gruß seinen Zylinder lüftet. Im ersten Kapitel war bereits die Rede davon, dass Meissonier im Medium der Malerei gerade diese Eigenart des Fotos imitiert. Was bei Meissonier dann aber Zentimeter für Zentimeter in Feinmalerei auf die Leinwand gebracht wird, zeigt sich im Foto als Resultat einer Aufzeichnung, die mehr und anderes ins Bild bringt, als der Fotograf beabsichtigt hat. Warum nun aber soll dieses «Generalinventar» der Haupt- und Nebendinge überhaupt von Belang sein? Welchen Sinn hat es, nicht nur die historischen Akteure und ihre Handlungen in den Blick zu nehmen, sondern zugleich auch das gewöhnlich übersehene Beiwerk der Geschichte? Es geht hier nicht um eine symmetrische Vertauschung von Haupt- und Nebendingen, eine emanzipatorische Auflösung der Hierarchien, die dem Kutscher des Kaisers und dem unbekannten Mann am Straßenrand die ihnen versagte historische Bedeutung zurückerstatten will. Vielmehr zählt das Potenzial der Fotografie, Einblick in einen Zustand zu gewähren, in dem zwischen Haupt- und Nebensachen, Bedeutsamkeit und Kontingenz, noch nicht klar geschieden ist. Foto grafien, so Kracauer in Anlehnung an Marcel Proust, «übermitteln Rohmaterial, ohne es zu definieren».41 Kracauer beeilt sich, diese zugespitzte Sicht zu relativieren. «Zweifellos übertreibt Proust die Unbestimmtheit von Fotografien ebenso sehr wie ihren entpersönlichten Charakter. Tatsächlich verleiht der Fotograf seinen Bildern Struktur und Bedeutung in dem Maße, in dem er eine überlegte Wahl trifft.» Jenseits dieser Wahl eignet dem Foto jedoch die «Tendenz zum Diffusen und Unorganisierten».42 In einer Passage seines Pencil of Nature (1844) hatte bereits William
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Abb. 43 Eugen Jacobi, Kaiser Wilhelm II., um 1900
Henry Fox Talbot den visuellen Überschuss der Fotografie beschrieben: «Es geschieht häufig – und macht einen Reiz der Photographie aus –, daß der Photograph selbst, und unter Umständen erst nach langer Zeit, bei der Nachprüfung entdeckt, daß er viele Dinge aufgenommen hat, die ihm seinerzeit gar nicht aufgefallen waren. Auf Gebäuden findet man manchmal Inschriften oder Jahreszahlen oder man entdeckt auf ihren Mauern höchst belanglose gedruckte Anschlagzettel; und manchmal bemerkt man in der Ferne ein Zifferblatt, auf dem – unabsichtlich – die Stunde der Aufnahme festgehalten ist.»43 Fotografen wissen eben nur zum Teil, was sie tun. Es bleibt ein Rest des Ungesehenen und Unvorhersehbaren, zum Zeitpunkt der Aufnahme ist noch unentschieden, ob die «höchst belanglosen gedruckten Anschlagzettel», die Jahreszahl oder das Zifferblatt zu einem späteren Zeitpunkt, in einem anderen Zusammenhang nicht höchst bedeutungsvoll erscheinen. Jenseits der Absichten und Entscheidungen des Fotografen ist das Bild ein Reservoir von Einzeldingen, deren Status noch ungeordnet ist.
122 ⋅ Im Fixierbad der Geschichte. Der Einsatz der Fotografie
Das mindert seinen Anteil nicht: Ohne Jacobis Funktion als Hoffotograf, ohne seine Wahl des Bildausschnitts und die Entscheidung, den Auslöser in diesem besonderen Augenblick zu betätigen, wäre uns die Szene nicht überliefert worden. Zugleich geht das Foto in diesen Absichten nicht restlos auf: die «fotografische Einstellung» bewirkt einen «Zustand der Entfremdung».44 Kracauer denkt hier – im FotografieKapitel der Theorie des Films – in erster Linie an die Entfremdung, die das Foto für seinem Produzenten bedeutet: Es ordnet die Dinge anders, als er sie wahrgenommen hatte. Aus der Perspektive des Fotografie-Aufsatzes von 1927 bezeichnet Entfremdung aber auch die Erfahrung des Betrachters, der aus historischer Distanz auf alte Fotografien blickt. Sie zeigen die Signatur einer Zeit, deren Gestalt ihm aus der eigenen Lebenswelt nicht vertraut ist – ein historisches «Gemenge, das sich zum Teil aus Abfällen zusammensetzt». In ihrem Buch «Erinnerungsräume» unterscheidet Aleida Assmann verschiedene Medien des Erinnerns: Texte, Relikte, Spuren, Abfall. «Bei der Verlagerung des Interesses von Relikten auf Spuren geht es um die Rekonstruktion von Vergangenheit vor allem aus solchen Zeugnissen, die nicht an die Nachwelt adressiert und nicht zum Dauern bestimmt waren. Sie sollen von dem etwas mitteilen, wovon die Überlieferung in der Regel schweigt: dem unscheinbaren Alltag. Hier ist der Weg von Spuren zum Abfall vorgezeichnet. Dank seiner ‹Andacht zum Unbedeutenden› verwandelt sich dem Kulturhistoriker und ‹Vergangenheits-Detektiv› Abfall in Information.»45 Vergleichbares leistet das fotografische Bild im Sinne Kracauers (auch das Bild des Historikers als ‹Detektiv› finden wir bei ihm – im Kapitel zum Film wird davon noch die Rede sein). Ganz gleich, was ihr Autor mit der Aufnahme des Kaisers beabsichtigt haben mag, liefert sie ein Reservoir latenter Information, beispielsweise Material für eine Kulturgeschichte der Kleidung, der Transportmittel, des sozialen Habitus der Zeit um 1900. Kracauers Interesse gilt jedoch nicht allein dem Bewahren des unscheinbaren Einzelnen – er zielt auf eine ontologische Begründung der Fotografie. Das historische Foto offenbart darin nichts Geringeres als den «Untergrund» des Bewusstseins, ein verborgenes «Naturfundament»: «Das naturbefangene Bewußtsein vermag seinen Untergrund nicht zu erblicken. Es ist die Aufgabe der Photographie, das bisher
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noch ungesichtete Naturfundament aufzuweisen. Zum ersten Mal in der Geschichte treibt sie die ganze naturale Hülle heraus, zum ersten Mal vergegenwärtigt sich durch sie die Totenwelt in ihrer Unabhängigkeit vom Menschen.»46 Manches an diesen Sätzen irritiert. Wieso soll die für den Wahrheitsgehalt des Fotos zuständige Instanz ‹die Natur› sein? Und wieso bedarf es einer solchen ontologischen Grundsätzlichkeit, die gleich den ‹Untergrund› und das ‹Fundament› des Bewusstseins aufdecken will? Wer oder was schließlich hat dieses Anliegen der Fotografie als historische ‹Aufgabe› überantwortet? Offenbar nimmt Kracauer ‹Natur› hier als Emblem und Synonym für all dasjenige, was sich der von Menschen verantworteten Geschichte entzieht – die Hülle, die zurückbleibt, nachdem das Leben abgezogen wurde – daher seine Faszination für das Potenzial der Fotografie, «Natur im Rohzustand wiederzugeben, so wie sie unabhängig von uns interessiert».47 Eine Fotografie wie Jacobis Momentaufnahme des Kaisers – aber auch Tausende andere, vergleichbare Aufnahmen – liefert so gesehen ein Bild der Kontingenz, Einblick in einen Zustand historischer Unordnung, der von unserem Verlangen nach Bedeutung üblicherweise verdeckt wird. Bevor ich am konkreten Beispiel eines Fotos vom August 1914 auf diesen «Rohzustand» des Fotos zurückkomme, soll eine vergleichende Betrachtung zeigen, was die Mehrzahl der in diesem Buch behandelten Fotos von den bereits erwähnten «Ikonen» der Fotografiegeschichte unterscheidet.48 Im Februar 1945 nahm der Kriegsfotograf Joe Rosental auf der Pazifikinsel Iwo Jima eine solche ‹Ikone› auf, für die er im gleichen Jahr mit dem Pulitzer Preis für Fotografie ausgezeichnet wurde (Abb. 44). Das rasch berühmt gewordene Foto zeigt die Aufrichtung der amerikanischen Flagge auf dem Gipfel des Suribachi, einem erloschenen Vulkan und der höchsten Erhebung der Insel. Die ikonographische Karriere des Fotos ist häufig beschrieben worden.49 Noch im Jahr seiner Ent stehung erschien das Motiv als Briefmarke und auf einem landesweit verteilten Werbeposter für Kriegsanleihen, der Spielfilm Sands of Iwo Jima mit John Wayne zitierte die Aufnahme, für das US Marine Corps Memorial in Arlington wurde das Motiv in eine überlebensgroße Bronzeskulptur überführt und noch die zahlreichen Bilder vom Hissen
124 ⋅ Im Fixierbad der Geschichte. Der Einsatz der Fotografie
der US-Flagge in den Ruinen des World Trade Center nahmen unverkennbar Bezug auf die Aufnahme Rosenthals. Es ist leicht einzusehen, warum das Bild eine solche Wirkungsmacht entfalten konnte. Es stellt einen heroischen Moment der amerikanischen Militärgeschichte auf Dauer und verdeckt zugleich den Umstand, dass die Schlacht um die Pazifikinsel zu den verlustreichsten Militäraktionen der Amerikaner im Zweiten Weltkrieg gehörte. Ohne die Aufmerksamkeit durch ikonographisches Beiwerk abzulenken, verdichtet die Choreografie der Figuren die Botschaft des Bildes auf eine leicht verständliche Formel. Die Inszenierung ist offensichtlich – der schmale Fahnenmast wäre wohl auch ohne die kollektive Kraft anstrengung einer Kohorte von fünf Männern in die Höhe emporzuheben gewesen. Entscheidend war aber ohnehin nicht der Tatsachengehalt des Gezeigten, sondern sein symbolischer Überschuss. Dass die Gesichter der Soldaten nicht zu sehen waren trug zweifellos zur universalen Lesbarkeit der Szene bei – in den anonymen Stellvertretern konnte sich jeder Patriot mitgemeint fühlen. So bestand der Erfolg dieser «Ikone»50 der Kriegsfotografie para doxerweise darin, dass sie über die Umstände des Pazifikkrieges beinahe nichts aussagte, ihn stattdessen zur Pathosformel patriotischen Gemeinsinns gerinnen ließ. Diese Abstraktionsleistung der Bilder, ihr Potenzial zur Begründung kollektiver Symbole rückt Aufnahmen wie diejenige Rosenthals ins Zentrum, wenn es um die kulturelle Codierung der Bilder und ihre professionelle Decodierung geht. Was diese Fotos in diesem Zusammenhang zu wichtigen Quellen macht, lässt sie aus der Perspektive des vorliegenden Buches eher uninteressant erscheinen – denn hier geht es vor allem um den Zeugnischarakter der Fotografie, nicht um ihren Anteil an der Formierung einer konventionellen Bildsprache. Rosenthals Bild erinnert an die Kritik des ‹überkonstruierten› Fotos, die Barthes Mitte der fünfziger Jahre in seinen Mythen des Alltags formuliert hat.51 Die «geglückten Bilder haben keinerlei Wirkung auf uns. Das Interesse, das wir an ihnen nehmen, überschreitet nicht den kurzen Moment ihrer Lektüre; sie hallen nicht nach, sie verwirren uns nicht, unsere Aufmerksamkeit verengt sich zu rasch wieder auf ein reines Zeichen. Die perfekte Lesbarkeit der Szene, ihre Gestaltung, befreit uns davon, das skandalöse Bild in seiner gan-
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Abb. 44 Joe Rosenthal, Iwo Jima, 1945
zen Tiefe aufzunehmen».52 Die derart überkonstruierten Bilder lassen dem Betrachter wenig Spielraum, weil die Botschaft eindeutig in Szene gesetzt, die visuelle Pointe allzu offensichtlich ist. «Vom Künstler mit überdeutlichen Angaben versehen, haben diese Bilder für uns keinerlei Geschichte mehr.» Barthes sah in dieser Bemühung um eine konventionelle Bildsprache zugleich eine Verkennung der spezifischen Qualitäten der Fotografie: Die eingängigen, wohlkomponierten Fotos sind «falsch, gerade weil sie einen Zwischenzustand zwischen dem wörtlichen Faktum und dem erhöhten Faktum gewählt haben: zu absichtlich für Photographien, zu genau für Malerei, fehlt ihnen sowohl der Skandal des Wörtlichen als auch die Wahrheit der Kunst. Man hat reine Zeichen daraus machen wollen, ohne bereit zu sein, diesen Zeichen wenigstens die Doppelbödigkeit, die Verzögerung durchs Konkrete zu lassen». Dieser Ikonographie des Allgemeinen hält Barthes das Poten-
126 ⋅ Im Fixierbad der Geschichte. Der Einsatz der Fotografie
zial von Fotos entgegen, «auf denen das überraschte Faktum in seinem Eigensinn, in seiner Buchstäblichkeit, in der Evidenz seiner Stumpfheit hervorspringt».53 Von dieser Evidenz wird später noch die Rede sein (Kapitel 3.7). An dieser Stelle soll ein Hinweis genügen, worin im vorliegenden Fall die «Verzögerung durchs Konkrete» bestehen könnte. Im Umfeld der ‹ikonischen› Motive finden sich fast immer Aufnahmen, die ein weniger plakatives, ungeordnetes Bild der Geschehnisse zeigen. Ein solches Foto ist auch vom Hissen der Flagge auf Iwo Jima überliefert (Abb. 45). Der Kriegsfotograf Louis R. Lowery hat es am Morgen des 23. Februar 1945 aufgenommen, wenige Stunden, bevor Rosenthal seine Aufnahme machte. Die Fotos zeigen zwei verschiedene Versionen des historischen Geschehens. Wie sich rasch herausstellte, war die Flagge, die auf Lowerys Aufnahme zu sehen ist, aus der Entfernung kaum zu erkennen – die Bataillonsführung entschied, den Akt der Landnahme mit einer größeren Flagge noch einmal zu wieder holen. Rosenthals Bild zeigt dieses Reenactment, und es fügt sich gut in die Dramaturgie der Aufnahme, dass nicht nur die fotografische Repräsentation des Ereignisses, sondern bereits das Ereignis selbst eine theatralische Inszenierung war. Lowerys Aufnahme hingegen ist wenig spektakulär. Die Handlungen der Soldaten fügt sich zu keinem Gesamtbild zusammen: Das eigentliche Geschehen erscheint abgerückt im Hintergrund, die Hauptfigur vorne im Bild kehrt dem Schauplatz den Rücken zu und schaut in eine unbestimmte Richtung. Auf einer dünnen Stange flattert die Fahne im Wind, allerdings seitenverkehrt und ohne dramatischen Bezug zum Rest des Bildes. Das Foto zeigt den symbolischen Akt als Moment der Zerstreuung – richtungslos, ungeordnet, ikonen-untauglich. Zweifellos wird auch hier ein symbolischer, hochgradig codierter Akt der amerikanischen Militärgeschichte ins Bild gesetzt. Lowerys Bild zeigt diesen Akt aber als Geschehen ohne erkennbares Zentrum. In dieser Zerstreuung kommt die Aufnahme der Kontingenz historischer Ereignisse zweifelos näher als Rosenthals Bildformel, deren Pathos – im Medium der Fotografie – ein Erbe der Historienmalerei zitiert, das schon in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts an seine Grenzen gelangt war (siehe Kapitel 1). Für den Zusammenhang von Fotografie und Geschichte, so wie er hier verstanden wird, ist Lowerys Bild ein geeigneteres Emblem als Rosenthals preis-
127 ⋅ Fotografie als «Generalinventar»
Abb. 45 Lou Lowery, Iwo Jima, 1945
gekrönte Kriegschoreografie. Es zeigt die historischen Akteure am Schauplatz des Geschehens, aber jenseits des ‹fruchtbaren Augenblicks›, der das historische Geschehen zur sinnhaften Formel verdichtet.
128 ⋅ Im Fixierbad der Geschichte. Der Einsatz der Fotografie
4. Odeonsplatz, 2. August 1914 Eine historische Schwarz-Weiß-Aufnahme aus dem Jahr 1914. Aus der Menschenmenge vor der Fassade der Theatinerkirche auf dem Münchener Odeonsplatz ragen einzelne Personen erkennbar heraus (Abb. 46). Ein Junge ist auf den Sockel des steinernen Löwen vor der Feldherrenhalle gestiegen, um das Geschehen auf dem Platz besser überblicken zu können. Ein glatzköpfiger Mann zu seinen Füßen hebt seinen Hut in die Höhe. Die Aufnahme dokumentiert eine Kundgebung, die am 2. August 1914 anlässlich der Mobilmachung zum Ersten Weltkrieg abgehalten wurde. Auf dem Odeonsplatz hatte sich damals eine Menschenmenge eingefunden, um für den Krieg zu demonstrieren, man sang Die Wacht am Rhein. Eine zweite Version des Bildes (Abb. 47): Eine kreisrunde Markierung hebt nun eine einzelne Person aus der anonymen Menge hervor – einen fünfundzwanzigjährigen Mann, der damals in der Schleiß heimer Straße 34 lebte, Ölbilder malte und neunzehn Jahre später als Reichskanzler Adolf Hitler in die Geschichte eingehen wird. Die Aufnahme wurde erstmals 1932 in der Zeitschrift Illustrierter Beobachter publiziert und mit der kreisrunden Hervorhebung Hitlers versehen. Wenige Jahre später wurde sie als Sammelbild vertrieben, z. B. als Beigabe in Zigarettenschachteln, aber auch in zahlreichen internatio nalen Zeitschriften abgedruckt. Der Autor der Aufnahme war Heinrich Hoffmann, Parteimitglied Nr. 59 und seit den ersten Tagen der nationalsozialistischen Bewegung Hitlers persönlicher Fotograf. 1938 wurde Hoffmann zum Professor ernannt, besorgte die Bildauswahl der «Großen Deutschen Kunstausstellung» und baute seine Bildagentur zum Monopol der nationalso zialistischen Fotopropaganda aus. All das geschah Jahre nachdem das Bild vom August 1914 aufgenommen wurde. Angeblich hat Hitler selbst Hoffmann auf den Gedanken gebracht, die historische Aufnahme nach über zwei Jahrzehnten noch einmal hervorzuholen, und sie nach Spuren seiner Gegenwart abzusuchen. So jedenfalls berichtet es Hoffmann in seinen Memoiren.54 Folgt man dieser Darstellung, wäre Hoffmanns Fotografie nachträg-
129 ⋅ Odeonsplatz, 2. August 1914
lich zu etwas geworden, was sie zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme noch nicht sein konnte: ein Bild des zukünftigen Reichskanzlers, Dokument seines frühen Engagements für den Krieg. Denn die Aufnahme würde Hitler zu einem Zeitpunkt zeigen, als er noch gar keine Figur der Zeitgeschichte war, und insofern eine Ahnung jener Kontingenz vermitteln, die retrospektiv – d. h. vom Ende der Geschichte her gesehen – unmöglich zu erkennen ist. Der unbekannte und namenlose Mann auf dem Foto wäre ein Statist in der anonymen Menge der Zuhörer und unterschiede sich durch nichts von den anderen Namenlosen im Bild, die seither aus dem Gedächtnis der Weltgeschichte verschwunden sind. Greifen wir drei beliebig ausgewählte Personen aus dieser Menge heraus. Man könnte versuchen, die Biografie dieser drei anonymen Männer zu rekonstruieren, käme aber wahrscheinlich nicht sehr weit: Wer sie sind, in welchen Listen oder amtlichen Registern ihre vergangene Existenz eine Spur hinterlassen hat, wäre nur mit äußerster Mühe zu rekonstruieren. Hitler hingegen ist aus der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr wegzudenken, und ebenso unmöglich ist es geworden, das Foto von 1914 im Rückblick als das zu sehen, was es zum Zeitpunkt seiner Entstehung tatsächlich war – eine Momentaufnahme ohne bestimmbare Zukunft. Diese Wahrnehmung ist für immer verstellt: Wir können gar nicht anders, als in den Zügen des unbekannten Mannes in der Menge nachträglich immer schon die zukünftige Gestalt des Diktators sehen. Zwei Zeit regime fließen hier ineinander: der fotografisch fixierte Augenblick des Jahres 1914 mit seiner unbestimmten Zukunft und der retrospektive Blick auf die Fotografie, der diese Unbestimmtheit dementiert und dem Bild eine ‹falsche› historische Erkennbarkeit unterstellt. Wo auch immer die Aufnahme heute veröffentlicht wird, zeigt man zur besseren Lesbarkeit die Ausschnittsvergrößerung mit. Der weiße Kreis um Hitler stellt nachträglich eine historische Ordnung her, aber zugleich macht er die ursprüngliche Unordnung des Bildes unlesbar. Mit der kreisrunden Markierung rückt alles an seinen Platz. Der weiße Kreis teilt das Bild in Hauptsachen und Nebensachen, Wichtiges und Unwichtiges, eine Hauptperson und Nebenpersonen: Hitler ist geworden, was er zum Zeitpunkt der Aufnahme nicht war, die Historizität des Fotos macht den historischen Zustand des August 1914 unsichtbar.
130 ⋅ Im Fixierbad der Geschichte. Der Einsatz der Fotografie
Abb. 46 Heinrich Hoffmann, Odeonsplatz, 1914
Das Münchener Stadtmuseum versieht das Bild in seiner Sammlung mit dem Hinweis: «Hierbei könnte es sich um eine spätere Fälschung zu NS-Propagandazwecken handeln.»55 Diese Ansicht vertritt auch der Historiker Gerd Krumeich.56 Tatsächlich fügt sich die vermeint liche Botschaft des Bildes – Hitler als früher Exponent des Ersten Weltkriegs – gut in das propagandistische Programm der Nationalsozialisten. Das Negativ der Aufnahme, das gegebenenfalls Spuren einer Manipulation erkennen ließe, ist (vielleicht nicht zufällig) verschollen. Im wahrscheinlichen Fall, dass es sich bei Hoffmanns Foto um eine Fälschung handelt, wäre auch die oben beschriebene Zeitlichkeit des Bildes, sein Status als Momentaufnahme historischer Kontingenz, nur vorgetäuscht. Prinzipiell ändert das jedoch nichts an der Richtigkeit der obigen Beobachtungen. Zwar macht es für die Aussage des Bildes einen gravierenden Unterschied, ob Hoffmann es manipuliert
131 ⋅ Odeonsplatz, 2. August 1914
Abb. 47 Heinrich Hoffmann, Odeonsplatz, 1914 (mit Markierung)
hat oder nicht. Die Logik der Nachträglichkeit verliert ihre Gültigkeit aber nicht, auch wenn sie im konkreten Fall nur vorgetäuscht ist. Die beschriebene Zeitstruktur lässt sich auch an Fotos demonstrieren, die dem Verdacht der Fälschung nicht ausgesetzt sind. Eines von ihnen zeigt Hitler im Mai 1915 als Soldat im flandrischen Fromelles (Abb. 48). Das Bild ist Teil der Postkartenserie «Hitler im Felde», die der Münchener Kunstverlag Andelfinger in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts vertrieben hat. Die Rückseite der Postkarte trägt die Inschrift: «Gefreiter Adolf Hitler (im Drillich) Gefechts-Ordonnanz des 16. Bayer. Res.Inf-Regts. (List) bei Fromelles (Nordfrankreich), Mai 1915». Zum Zeitpunkt der Aufnahme gab es wohl kaum einen Anlass, das Bild dieser vier unbekannten Soldaten auf einer Postkarte in Umlauf zu bringen, noch weniger einen Grund, den Gefreiten Hitler durch eine besondere Bildlegende aus der Ano nymität hervorzuheben. Erst im historischen Rückblick wird das Bild
132 ⋅ Im Fixierbad der Geschichte. Der Einsatz der Fotografie
Abb. 48 Postkarte ‹Hitler im Felde›
133 ⋅ Das letzte Bild
zu dem Zeugnis, als das es den Zeitgenossen in den dreißiger Jahren präsentiert wird, und auch hier überdeckt unsere Vertrautheit mit der zweiten Person von rechts die ursprüngliche Indifferenz des Gezeigten, «die Unordnung des in der Fotografie gespiegelten Abfalls» (Kracauer).
5. Das letzte Bild Am 21. Mai 1954 machte der französische Fotograf Michel Descamps eine Aufnahme des Kriegsreporters Robert Capa (Abb. 49). Das Bild zeigt Capa im Hauptquartier des französischen Generals René Cogny in Indochina, wo er im Auftrag des Life Magazine den Krieg zwischen den französischen Truppen und der Liga für die Unabhängigkeit Vietnams dokumentierte. Links neben Capa ist ein französischer Militärarzt namens Huard zu sehen. Nahezu im Gleichschritt gehen die beiden Männer nebeneinander, während im Hintergrund eine Militärmaschine entladen wird. Huard, mit geöffnetem Hemd und in kurzen Hosen, die Hände in die Hüften gestemmt, richtet seinen Blick direkt in die Kamera. Würde man im Sinne Roland Barthes’ nach dem punctum dieses Fotos suchen, dem bestechenden, zugleich aber nebensächlichen Detail, so könnte es – abgesehen von dem verwischten Stiefel Huards an der Seite des scharf abgelichteten Stiefel Capas – auch der entblößte und eigentümlich flache Ober körper Huards sein, der dem kriegerischen Szenario einen beruhigend unheroischen und zivilen Anschein verleiht. Capa, die Hände in den Hosentaschen vergraben, hält den Blick zu Boden gesenkt, ernst und in sich gekehrt. Er trägt seine Kamera mit gelöstem Futteral vor der Brust, scheint im Augenblick aber ‹außer Dienst› zu sein. Vier Tage später starb Capa. Die Aufnahme Decamps’ ist das letzte Bild, das den Fotografen als Lebenden zeigt. Mit diesem Wissen ändert sich der Blick auf die unspektakuläre Aufnahme. Die Personen und Dinge verharren unverrückbar an ihrem Platz, aber als ‹letzte Fotografie› erhält das Bild eine zusätzliche Lesbarkeit. Fortan bedarf es einer gewissen Anstrengung, um hier lediglich jene kontingente, aus dem
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Zeitfluss herausgerissene Momentaufnahme zu sehen, die das Foto zum Zeitpunkt seiner Aufnahme zweifellos gewesen ist. Als Decamps im Mai 1954 auf den Auslöser drückte, wusste niemand, dass die Serie der Porträts Robert Capas mit dieser Aufnahme für immer abgeschlossen sein würde. In der Rückschau jedoch ist es unmöglich, die offene Zukunft dieses Augenblicks zurückzugewinnen und in die Betrachtung der Aufnahme Decamps’ neben dem Protagonisten nicht auch bereits dessen bevorstehenden Tod mit einzuschließen. Der zu Boden gesenkte Blick und die Introvertiertheit Capas sind zweifellos einer vorübergehenden Stimmung oder gar einer bloßen Zufälligkeit der Aufnahmesituation geschuldet – im Rückblick werden sie zu Vorzeichen seines bevorstehenden Todes: ‹Das waren seine letzten Tage. So sah er am Ende aus.› Diese Aura ist dem Bild schwerlich wieder zu entziehen. Die letzte Fotografie besitzt insofern eine ähnliche Dramaturgie wie die letzten Worte eines Sterbenden. Auch diese bleiben als erratische, unverrückbare Gebilde zurück. Sie können noch so belanglos und kontingent sein – da ihnen nichts mehr folgt, versiegeln sie eine abgelaufene Existenz und erhalten durch diese Endgültigkeit ihren ambivalenten Mehrwert.57 Selbst wenn es sich, wie im Fall Goethes, nur um die Aufforderung an den Kammerdiener handelt, das Fenster zu öffnen, so erhält das lakonische «Mehr Licht» im Rückblick den Anschein einer Mitteilung, die mehr besagen will. Man erwartet, dass am Ende eines Gelehrten- oder Künstlerlebens ein erkennbarer Schlusspunkt steht, dass noch einmal alles zusammenkommt und sich zu einer letzten, zitierfähigen Sentenz verdichtet. Der Tod soll komprimieren und abrunden, statt als bloßer Unterbrecher aufzutreten, der dem Sterbenden das letzte Wort abschneidet, ganz gleich, wovon gerade die Rede war. Bezeichnenderweise hat sich im Fall Goethe denn auch nicht die Überlieferung des Literaturhistorikers Carl Schüddelkopf durchsetzen können, der 1907 mit einer alternativen Version der letzten Worte Goethes an die Öffentlichkeit trat. Seine letzten Worte, so Schüddelkopf, habe Goethe an seinen Kammerdiener gerichtet, und zwar in Gestalt der Frage: «Du hast mir doch keinen Zucker in den Wein getan?»58 Im Vergleich zum Verlangen nach ‹mehr Licht› geht dieser Frage jegliches metaphysische Potenzial ab. Als Genie, wenn es zum
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Abb. 49 Michel Descamps, das letzte Bild Robert Capas
Ende kommt, über gepanschten Wein zu klagen, ist nicht zitierfähig – hagiographisch unverwertbar. Ein ähnliches Gewicht lastet auch auf der letzten Fotografie. Vom
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Toten oder der Totenmaske kann man beliebig viele Aufnahmen machen, aber vom noch Lebenden gibt es zwangsläufig nur ein einziges letztes Bild. In Biografien werden diese Aufnahmen häufig abgebildet. So zeigt z. B. Urban Roedl Die letzte Fotografie Adalbert Stifters (Abb. 50).59 Vermutlich gibt es dieses Genre erst, seit es Fotografien gibt. Goethe starb wenige Jahre zu früh, um fotografiert werden zu können. Zwar gibt es zahllose Büsten, Gemmen, Gemälde und Zeichnungen, die ihn porträtieren, und eine davon würde sich zur Not auch als das letzte zu Lebzeiten angefertigte Porträt ausmachen lassen. Aber man würde diese Darstellung nicht als ‹das letzte Bild› präsentieren. Letzte Bilder bedürfen der Temporalität der Fotografie. Sie müssen dem Dar gestellten zu Lebzeiten ‹abgenommen› worden sein (so wie man eine Totenmaske ‹abnimmt›) und ihn als Rest überleben. «Leibhaftiges Warten – das letzte Photo», so hat Arnold Stadler die Aufnahme Stifters betitelt. «Es ist ein sterbender Mensch, der hier für immer aufgehoben ist. […] Ich kann dieses Photo noch sehen, das unmittelbar vor dem Ende aufgenommen wurde, Beweis einer unverhohlenen Kapitulation», schreibt Stadler und fügt – in Anspielung auf den späteren Selbstmord des Abgebildeten – hinzu: «Die Hände jetzt unsichtbar, in sich verkrallt, ein Tier, und zwar ein verwundetes, waidwund, wie man in Jägermeisterzeiten sagte, als hätte er schon aus dem Hals geblutet, aber bald schon würde er mit der einen Hand zu seinem Hals gehen […].»60 Dieses ‹bald schon› stand dem Porträtierten im Augenblick der Aufnahme noch bevor. Aber im Rückblick auf das letzte Bild lässt sich diese Zukunft nicht wiederherstellen, da sie längst abgelaufen ist. Stadlers Blick auf ein Porträt, das «unmittelbar vor dem Ende» aufgenommen wurde, zeigt dieses Ende deshalb immer schon mit. An einem Tag im Mai 1954 schlenderte der Fotograf Robert Capa an der Seite eines Militärarztes durch ein Lager der französischen Truppen in Indochina. Der befreundete Reporter Michel Descamps machte ein Foto: nichts Besonderes. Aber sobald die Aufnahme unter zahl losen anderen, möglichen Bildern zum einen und unwiderruflich letz ten Foto wird, erhält sie eine zusätzliche Lesbarkeit. Der Betrachter dieser letzten Aufnahme weiß immer schon mehr als die still gestellten Personen im Bild, und dieses Wissen wird in die Aufnahme rück projiiziert.
137 ⋅ Das letzte Bild
Abb. 50 Das letzte Bild Adalbert Stifters
Bis zu einem gewissen Grad gilt diese Struktur des vorwegge nommenen Überlebens für jede Fotografie und auch für jede andere Praxis der Notation. Im Unterschied zu anderen Verfahren grafischer Repräsentation fixiert das Foto im Moment seiner Entstehung jedoch einen sichtbaren Rest des Dargestellten – «den Restbestand» so noch einmal Kracauer, «den die Geschichte abgeschieden hat».61 Auf dieser Abgeschiedenheit beruht die besondere Zeitlichkeit des Fotos. Diese Resthaftigkeit ist keine exklusive Eigenschaft der letzten Bilder. Das letzte Bild zeigt sie aber in zugespitzter Form, nämlich im Modus der Endgültigkeit: ihm kann nichts mehr folgen. Es gibt noch ein anderes ‹letztes Bild› Capas. Doch ist damit diesmal nicht das Foto gemeint, das ihn zum letzten Mal als Lebenden zeigt, sondern die letzte Aufnahme, die er selbst gemacht hat (Abb. 51). Die Fotografie vom 25. Mai 1954 zeigt einen französischen Konvoi, der sich der indonesischen Stadt Thai Binh im Delta des Roten Flusses nähert. In einer Diagonalen bewegt sich der Trupp auf den Horizont
138 ⋅ Im Fixierbad der Geschichte. Der Einsatz der Fotografie
Abb. 51 Robert Capa, Szene aus dem Indochinakrieg, 1954
zu. An der Spitze des Zugs ist undeutlich ein Panzer zu erkennen, in der Bildmitte erscheint eine einzelne Rückenfigur, im Vordergrund rechts sind zwei Soldaten zu sehen, die ihre Gewehre beinahe lässig über den Schultern tragen. Gemessen an anderen letzten Bildern aus dem Krieg wirkt das Foto auffällig unspektakulär. Das unterscheidet es beispielsweise von der Aufnahme, die der amerikanische Kriegsreporter Robert Frederic Read im August 1942 im Pazifik aufgenommen hat. Das Foto zeigt die Detonation einer Bombe an Deck des Flugzeug trägers USS Enterprise, bei der Read ums Leben kam (Abb. 52). Der Tod des Fotografen bleibt auch hier außerhalb des Gezeigten, ist dem Bild aber doch inhärent. Die Gewalt der Detonation, die sich in alle Richtungen entlädt, kommt auch auf den Betrachter zu, der vor dem Bild den Standort einnimmt, den auch Read im Augenblick der Aufnahme eingenommen hat. Einerseits zeigt das Foto die tödliche Detonation in einer Direktheit, die uns ungewöhnlich nahe an das Geschehen herankommen lässt (wenige Sekunden zuvor hätte die Aufnahme nur das
139 ⋅ Das letzte Bild
Abb. 52 Robert Frederic Read, Bombenexplosion beim Angriff auf die U. S. S. Enterprise, 1942
leere Deck des Flugzeugträgers gezeigt, eine Sekunde später wäre das Fotografieren unmöglich gewesen). Andererseits erreicht uns diese Unmittelbarkeit auf Umwegen: Die Detonation gibt sich als eine gewesene Gefahr zu erkennen, die im fotografischen Bild auf Dauer gestellt ist, uns aber nicht gilt. Man betrachtet sie aus der sicheren, zeitlichen und räumlichen Distanz heraus. Trotzdem bleibt die Zumutung, hier ein Bild zu betrachten, dessen Existenz an den Tod des Fotografen gebunden ist. Capas letzte Aufnahme hat nichts von dieser Dramaturgie. Ein Konvoi von Soldaten durchstreift eine Landschaft, das ist alles. Der Aufnahme liegt eine ‹leise›, gleichsam unsichtbare Dramaturgie zugrunde – obwohl der Tod des Fotografen nicht weniger gewaltsam war als im Falle des Explosionsfotos von Read. Wenige Minuten nachdem er das Foto aufgenommen hatte, trat Capa auf eine Landmine. Um sich einen Überblick zu verschaffen, war er einen Grashügel hinauf gestiegen und traf dort auf die tödliche Mine. Während die Wucht der
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Explosion eine der beiden Kameras, die Capa mit sich führte, in die Luft schleuderte, hielt er seine Contax bis zum Schluss in der rechten Hand. Während Read von der Bombardierung des Flugzeugträgers ein Bild lieferte, das – wie Goethes «Mehr Licht» – einen Moment ge steigerter Intensität verspricht, kennzeichnet Capas Aufnahme eine irritierende Unauffälligkeit: keine Klimax, keine Verdichtung, keine Synthese. Wie das letzte Porträt Capas (Abb. 49) besticht aber auch die Aufnahme vom Mai 1954 durch einen imaginativen Mehrwert, der im rein Sichtbaren nicht aufgeht: Der Tod des Fotografen ist hier nirgends zu sehen. Gleichwohl ist er im Rückblick kaum mehr aus der Betrachtung des Bildes zu verbannen. Der mögliche Einwand, dass diese Aufladung dem Bild also von außen zugeschrieben werden muss, ist banal: Kein Bild ist aus sich selbst heraus evident. Selbst die spektakuläre Explosionsaufnahme Reads bedarf des Kommentars, um als das ge sehen zu werden, was sie ist. Diese Verwiesenheit der Bilder auf Zeugnisse und Texte stellt jedoch kein Defizit dar. Visuelle Evidenz entsteht gerade nicht im stummen Vorzeigen sich selbst genügender Ikonen, sondern in Prozessen der Vermittlung: zwischen dem einzelnen Bild und anderen Bildern, zwischen dem einzelnen Bild und Texten, Zeugnissen und Spuren. «[…] je mehr Vermittlung», bemerkt Bruno Latour zu Recht, «desto besser das Begreifen der Realität.»62 Aus bildtheo retischer Sicht sind die ‹letzten Bilder› interessant, weil sie einen Extremfall dieser Verweisung darstellen: den Verweis auf einen Gehalt, der im Bild nicht zu sehen ist, seine Bedeutung aber doch maßgeblich bestimmt. Das Letzte ist, um diesen Begriff noch einmal zu bemühen, Teil der ‹Aura› dieser Bilder. Die Erscheinungsweise des Letzten geht über die Sichtbarkeit hinaus und richtet sich vor allem an die Vorstellungskraft. Betrachtet man noch einmal die beiden letzten Fotografien Capas – diejenige, die ihn zuletzt als Lebenden zeigt und diejenige, die er selbst zuletzt gemacht hat (Abb. 49, Abb. 51) –, zeigt sich, wie labil dieses Verhältnis von Fotografie und Vorstellung ist. Die Betrachtung schwankt zwischen Emphase und Kontingenz, zwischen ‹Mehr Licht› und ‹Du hast mir doch keinen Zucker in den Wein getan?›, zwischen der existentiellen Zuschreibung des Letzten und dem irritierenden Befund, dass diese letzten Bilder ‹nichts Besonderes› zu sehen geben.
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6. Bilder ohne Kontext 1977 veröffentlichten die beiden Künstler Larry Sultan und Mike Mandel eine Serie von 61 Schwarz-Weiß-Fotografien unter dem lakonischen Titel Evidence. Der Band zeigt Aufnahmen, die Sultan und Mandel Mitte der 1970 er Jahre bei ihren Recherchen in Archiven verschiedener Institute, Behörden und Firmen der Vereinigten Staaten zusammengetragen hatten – Institutionen wie dem California Institute of Technology, der Polizeibehörde von Pasadena, dem physikalischen Labor der Stanford University, der Feuerwehr von Los Angeles oder der Highway Users Federation in Washington, D. C. An all diesen Orten wurden Bilder hergestellt, klassifiziert und archiviert, wurden fotografische Evidenzen erzeugt: Aufnahmen von Experimenten und Materialtests, Bilddokumentationen von Schäden, Verletzungen oder Unfällen, allesamt aus einer Welt der sachlichen Bestandsaufnahme, die von den Imaginationsräumen der bildenden Kunst weit entfernt zu sein schien. Ohne den Fotos etwas Eigenes hinzuzufügen, ohne Bildunterschrift, Datierung oder Angabe des Herkunftsorts wurden die Fotos in einem Bildband abgedruckt. Der Titel Evidence war dem blauen Leinenumschlag des Buches in goldenen Lettern eingeprägt und verlieh dem Unternehmen einen Anschein unbezweifelbarer Autorität, wie ihn sonst vielleicht nur ein Titel wie Die Bibel oder Das Grundgesetz vermitteln – Zeugnisse, hinter denen man gewöhnlich die Gewissheit höherer Instanzen vermutet. Wovon hätten die aus technischen Anstalten, Laboratorien, Test räumen und Polizeistationen hervorgeholten Fotos aus Evidence also Zeugnis ablegen können? Wo ist – nach der Definition des Histori schen Wörterbuchs der Rhetorik – ihre evidentia, das «Herausscheinen und Hervorscheinen», «dasjenige, was einleuchtet, weil es gleichsam aus sich herausstrahlt»?63 Werfen wir einen Blick auf einige der einundsechzig Bilder. Auf Abbildung 53 hält ein Mann in Jeans und kurzem Hemd ein strohartiges Gebilde in die Höhe. Der Unbekannte lächelt mit einem kaum merklichen Anflug von Gewissenhaftigkeit und Stolz von oben in die Kamera herab. In der linken Brusttasche trägt er Notizblock und Stift. Auf Abbildung 54 wird eine Frau in wei-
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ßen Schuhen und karierter Hose vor einer attrappenartigen Holzwand von einem offenbar professionell miteinander agierenden Paar in horizontaler Lage emporgehoben. Während der Mann, hinter dessen Bein ein von links kommendes, elektrisches Kabel verschwindet, nur einige leichte, beispringende Bewegungen ausführt – eher Andeutungen und symbolische Gesten, wie um der Frau zu demonstrieren, wie das Gewicht eines menschlichen Körpers fachmännisch gehalten werden kann – scheint die Frau die Hauptlast zu tragen. Die Szene erinnert von Ferne an ein profanes Reenactment der Grablegung Christi mit vertauschten Rollen. Auch der rätselhafte Holzkasten links im Hintergrund, eine Art Käfig, in dem man Pappkartons aufeinandergetürmt hat, trägt wenig zur Verständlichkeit der Szene bei. Abbildung 55 zeigt einen Moment höchster Arbeitsanstrengung und Konzentration: Drei Männer machen sich an einem kompakten Gebilde aus Stoff zu schaffen – eine hybride Kombination aus Fallschirm, Schlafsack und karierter Matratze. Die Männer arbeiten nicht im Stehen, sondern befinden sich, wie die Flucht des neonbeleuchteten Raumes zeigt, zu dritt auf einem Tisch. Ihre Anstrengung gilt o ffenbar dem Versuch, mit vereinten Kräften eine transparente Plastikfolie über das rätselhafte Gebilde zu ziehen. Die glitzernde Folie scheint von geradezu unmenschlichem Gewicht zu sein. Auf einem trapezförmigen Stück Stoff im Vordergrund ist – aber warum? – eine dünne, gerade Linie eingezeichnet. A bbildung 56: In einem aus Holzlatten und Plastikfolie gezimmerten Käfig, der einen Obstbaum ‹gefangen› hält, befinden sich außerdem sechs Menschen. Da der eingeschlossene Baum weder Blätter noch Früchte trägt, kann es sich offenbar nicht um eine Ernte szene handeln. Abbildung 57: Ein Mann im Schilf. Fast blickt er uns an, aber seine Augen sind vom oberen Bildrand passgenau abgeschnitten. Vor sich hält er einen flachen, weißen Karton, auf dem sich Silhouetten und Schatten einiger Schilfgewächse nebeneinander abzeichnen, ein Bild im Bild. Entscheidend aber ist die Geste des Mannes: So hält die heilige Veronika auf zahlreichen Gemälden des Mittelalters das Schweißtuch mit dem Gesicht des Kreuz tragenden Christus. Auf Abbildung 58 sehen wir eine männliche Delegation. Vermutlich handelt es sich um eine Gruppe von Sachverständigen, die ‹vor Ort› zusammengekommen sind, um die Sache einmal direkt
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in Augenschein zu nehmen. Aber welche ‹Sache›? Bei längerer Betrachtung erweckt das Nebeneinander der Männer dort oben auf dem Hügel den Anschein einer Musterausstellung. Jeder für sich nimmt vor dem grauen Himmel eine typische Position ein. Sie stehen aufgereiht wie die Figuren einer Auswahlkollektion, die Personenstaffage aus der künst lichen Welt einer Modelleisenbahn, wahlweise als ‹Mann mit Funksprechgerät›, als ‹Passant› oder ‹Armeeangehöriger mit Sonnenbrille›. Was ist auf diesen Bildern evident? Weder weiß man, warum, wann und von wem diese Fotos aufgenommen wurden, noch wen sie zeigen, was genau sie dokumentieren sollten, und bei welcher Gelegenheit und warum sie betrachtet wurden. Zwar lassen sich einige wieder kehrende Motive ausmachen: Karomuster, Plastik, der Gebrauch von Holzlatten. Auch die hohe Präsenz männlicher Akteure fällt auf. Bestimmte Gesten kehren wieder: das Vorzeigen von Objekten, die Bearbeitung von Material, die Herstellung abgegrenzter Flächen oder Hintergründe, auf deren Folie etwas sichtbar werden soll. Aber all diese Fragmente sind so lose zusammengefügt, dass sich kein kohärenter Gesamtzusammenhang einstellen will. Der ernsthafte Wille zu Klarheit und Dokumentation ist erkennbar, aber durch die Heraus lösung aus seinem Zusammenhang ist dem Gezeigten der Sinn abhandengekommen. Der professionelle Gestus und die Gewissen haftigkeit der Sachverständigen kippt um ins Surreale. Sultan und Mandel setzen auf den Effekt der Verfremdung, der sich einstellt, wenn man die Dinge ihrem Zusammenhang entzieht. Deshalb müssen die beiden Künstler auch gar nicht aktiv in die Gestaltung der Fotos eingreifen. Es reicht, die Bilder aus ihrem ursprünglichen Kontext herauszulösen, der sie als Kokon der Normalität umgab. Könnte man sie noch einmal dorthin zurückversetzen, würden sie augenblicklich wieder normal und unauffällig. Nach dem Verlust ihrer Welt jedoch treiben sie als heimatlos gewordene Monaden umher – unangetastet, zugleich aber kaum entzifferbar. Ihr Anblick hat etwas von der Distanz, mit der intelligente Außerirdische auf die Machenschaften der Menschen schauen würden: Sie könnten Gesten und Posen der Erdbewohner erkennen, aber nur als leere Zeichen und ohne ihren zugrunde liegenden Sinn. Zur Beschreibung des Befrem-
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Abb. 53 Fotografie aus Larry Sultan/Mike Mandel, Evidence, 1977
dens angesichts der Bilder könnte man die Perspektive aber auch umkehren wie in Don Siegels Invasion of the Body Snatchers (1956), einem der zahlreichen Science-Fiction-Filme des Kalten Krieges, die vom Einbruch des Fremden in den friedlichen Alltag einer amerikanischen Kleinstadt handeln: Außerirdische haben dort heimlich die Körper der Menschen besetzt und diese entseelt. Rein äußerlich ist alles beim Alten geblieben, Familie und Freunde sehen aus wie immer, nur ihre Handlungen sind über Nacht unerklärlich geworden. So ist auch auf
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Abb. 54 Sultan/Mandel, Fotografie aus Evidence
den Fotos von Evidence nach wie vor alles einwandfrei benennbar: ein ‹Mann›, eine ‹Frau›, ein ‹Obstbaum›, ein ‹Funksprechgerät›, das ‹Vorzeigen›, das ‹Hochhalten›, das ‹Messen› etc. Aber die Zusammen stellung der Elemente ist in Unordnung geraten, als habe man die Lebenswelt in Einzelteile zerlegt und nach einem verborgenen Plan noch einmal neu zusammengesetzt. Die vermutlich früheste Erwähnung der Begriffs «Evidenz» im Zusammenhang mit der Fotografie findet man 1844 bei Talbot. Der
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Abb. 55 Sultan/Mandel, Fotografie aus Evidence
Autor des Pencil of Nature wird nicht müde, seine Leserinnen und Leser darauf hinzuweisen, dass sie es bei den vierundzwanzig in das Buch eingeklebten Aufnahmen nicht länger mit vertrauten Formen der Grafik zu tun hatten, sondern mit fotochemischen Lichtbildern – «Selbstrepräsentationen» der Natur: «Die Tafeln des vorliegenden Werks sind allein durch die Einwirkung des Lichts hervorgerufen worden, ohne irgendeine Mithilfe von Künstlerhand. Es handelt sich um originale Sonnen-Bilder und nicht, wie einige gemeint haben, um
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Abb. 56 Sultan/Mandel, Fotografie aus Evidence
gestochene Imitationen solcher Bilder.»64 Das war zweifellos über trieben: Ohne Talbots Eingreifen, ohne seine jahrelangen Experimente zur Lichtempfindlichkeit der Silbersalze, ohne die Geschichte der Optik, ohne die Positionierung einer Camera obscura vor dem Motiv wäre kein «Sonnen-Bild» zustande gekommen: Auch «Selbstrepräsen tationen» entstehen nicht ausschließlich von selbst. Und doch hat Talbot als einer der Ersten einen entscheidenden Einschnitt in der Geschichte der Bildherstellung wahrgenommen: Das Motiv muss gewählt, die Kamera muss positioniert werden, aber der Vorgang der Bildherstellung, die Schwärzung des Silberchlorids, ereignete sich ohne die manuelle Intervention der beteiligten Akteure. Talbot deponierte ein Stück Papier im Inneren seiner Kamera, und als er es später wieder herausnahm und das latente Bild entwickelte, fand er eine Abbildung
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Abb. 57 Sultan/Mandel, Fotografie aus Evidence
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Abb. 58 Sultan/Mandel, Fotografie aus Evidence
vor. Die Zeit der Aufzeichnung war eine Zwischenzeit, in der Auge und Hand des Produzenten partiell entlassen waren. Aus dieser besonderen Art ihrer Herstellung leitete Talbot auch die Beweisfunktion fotogra fischer Bilder ab: Was sich auf fotochemischem Weg ins Bild gesetzt hatte, musste einen anderen Status haben als die Erzeugnisse der tradierten Formen und Gattungen bildlicher Repräsentation. Eine der Fotografien des Buches zeigt ein Holzregal mit dreißig aufgereihten Sammlungsgegenständen aus Porzellan: bemalte Suppenschüsseln, Becher, verzierte Vasen, Tassen und Obstschalen (Abb. 59). In einer neuen Variante des alten Wettstreits zwischen Bild und Schrift
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weist Talbot darauf hin, wie schnell und genau die Fotografie ihren Betrachtern Auskunft über Form und Aussehen dieser Gegenstände geben könne und wie mühsam, verwirrend und ungenau hingegen ein geschriebener Bericht über die äußere Beschaffenheit dieser filigranen Gegenstände gewesen wäre. Das Bild zeigt, was eine Beschreibung weitaus weniger deutlich hätte evozieren können. Mehr noch: «Und sollte einmal ein Dieb diese Schätze entwenden, dann würde sicher eine neue Art der Beweisführung entstehen, wenn man das stumme Zeugnis des Bildes gegen ihn bei Gericht vorlegt» («it would certainly be evidence of a novel kind», heißt es im Original).65 In Talbots Fantasie verschiebt sich die Zeugenschaft vom leibhaftigen und redenden Zeugen vor Gericht zum «stummen Zeugnis» des fotochemischen Bildes. Dessen Zeugenschaft kann ruhig «stumm» sein – aber nicht aus Mangel an Überzeugungskraft, sondern im Gegenteil aus einer neuen Form der Beredsamkeit heraus, die im Unterschied zur noch so eloquenten Rede die gemeinte Sache in Gestalt ihres fotografischen Doubles vorzeigen konnte. Im Englischen hat evidence vor allem auch die Bedeutung von «Beweis», «Beweismittel», «Zeugnis» oder «Indiz». Demnach kann nicht alleine ein Sachverhalt, ein Urteil oder Argument Evidenz besitzen, sondern auch ein materielles Ding oder eben ein Bild. Das Vorzeigen des Bildes vor Gericht, so Talbots Fantasie, wäre Beweis genug für die historische Existenz der abhanden gekomme nen Gegenstände. Die Fotografie hätte die dargestellten Dinge überlebt und würde fortan in deren Namen auftreten können. Nun war Talbot aber vorsichtig genug, seiner Vision von der Zeugen aussage des Fotos vor Gericht einen entscheidenden Zusatz hinzu fügen: «Ich überlasse es der Spekulation der Rechtskundigen, wie der Richter und die Jury darauf reagieren werden.»66 Hier war bereits angedeutet, dass die Beweiskraft des Bildes offenbar doch nicht so autonom und offenkundig ausfallen würde, dass sich jede weitere Erörterung erübrigen müsste. Tatsächlich bezeugt die Aufnahme nicht, wem die abgebildeten Objekte gehören, an welchem Ort und zu welchem Zeitpunkt sie abgelichtet wurden oder wer im Fall ihres Diebstahls die Sammlerstücke aus dem Regal entwendet hat. Seit zwei hundert Jahren zeigt das Foto beharrlich dreißig Gegenstände, die an einem bestimmten Tag im frühen neunzehnten Jahrhundert auf
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einem fotochemisch sensibilisierten Blatt Papier eine Spur hinter lassen haben: Diese Dinge hat es irgendwo einmal gegeben, und sie besaßen die Form, in der wir sie noch heute auf der Aufnahme sehen. Über alles andere schweigt die «stumme Evidenz» des Bildes. Wenn ein fotografisches Bild im unkommentierten Zustand also nichts über Absicht, Funktion und Bedeutung seines Zustandekommens, nichts über die Identifizierung der gezeigten Personen und Gegenstände sagt, so ist sein Bestätigungscharakter damit gleichwohl nicht annulliert: Dass die gezeigten Personen oder Dinge einmal existiert haben, lässt sich schwer bestreiten – es sei denn, man stellt sie unter den Generalverdacht der Fälschung und Manipulation, was im einzelnen Fall dann aber ebenfalls erst zu beweisen wäre. Diesem Befund entspricht die obige Betrachtung der Aufnahmen aus Mandel und Sullivans Evidence. Auch wenn die Aufnahmen in ihrem unkommen tierten Zustand nichts über Absicht, Funktion und Bedeutung ihrer Existenz aussagen, dementiert das nicht ihren Bestätigungscharakter. Der Frage nach dem Zusammenhang, aus dem die von Mandel und Sullivan ausgewählten Fotos einmal herausgelöst wurden, korrespondiert die Frage nach der neuen Umgebung, in die man sie versetzt hat. Diese neue Heimstatt war die Kunst. Das nach drei Auflagen ver griffene Künstlerbuch wird inzwischen für ein Vielfaches seines ursprünglichen Preises gehandelt. Seit den ersten Ausstellungen der Bilder durch Sultan und Mandel (u. a. im San Francisco Museum of Modern Art und dem Fogg Museum in Cambridge/Mass.) kursieren die Bilder aus Evidence im Kunsthandel und folgen seinen Gesetzen. Wie der Essay von Sandra S. Philipps in der Auflage des Buches von 2003 zeigt, lassen sie sich auch mühelos in den zeitgeschichtlichen Kontext der konzeptuellen Kunst der siebziger Jahre einpassen.67 Ihr Bezugssystem ist dann nicht länger die Polizeibehörde von Pasadena, das physikalische Labor der Stanford University oder der Highway Users Federation in Washington, D. C., sondern das Museum und das künstlerische Werk von Fotografen wie James Agee, Ed Ruscha oder John Baldessari. Im vorliegenden Zusammenhang interessierte aber vor allem, wie sich mit Mandel und Sullivans konzeptueller Arbeit das Verhältnis von fotografischer Evidenz und der Notwendigkeit ihrer Kontextualisierung veranschaulichen lässt. Dieses Verhältnis stellt
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Abb. 59 William Henry Fox Talbot, Sammlung chinesischer Porzellangefäße, 1843/44
sich noch einmal anders dar, wenn mit dem Zeigen der Bilder eine dokumentarische Funktion verbunden ist. Zu den Präsentationen, bei denen dieser Zusammenhang am intensivsten diskutiert wurde, gehören die beiden Versionen (1995 und 2001) der Ausstellung «Verbrechen der Wehrmacht» des Hamburger Instituts für Sozialforschung.
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7. E videnz des Bildes, Wissen der Schrift – die Ausstellung «Verbrechen der Wehrmacht» Die ungeahnte Resonanz der ersten Wehrmachtsausstellung ist häufig beschrieben worden. «Der Skandal der Ausstellung», so resümiert Helmut Lethen, «bestand darin, daß sie die Trennungslinien überschritt und Überschneidungspunkte von Krieg und Verbrechen im Handlungsraum der Wehrmacht sichtbar machte.68 Sie «schleppte tabuisierte oft unbekannte Bilder in den Austausch der Erinnerung.»69 Beim überwiegenden Teil dieser Bilder handelte es sich um private Fotos, die deutsche und österreichische Soldaten in ihren Brieftaschen mit sich führten, wo man sie nach ihrem Tod oder ihrer Gefangennahme entdeckte. Einen weiteren Teil der Exponate bildeten Aufnahmen professioneller Fotografen der deutschen Propagandakompanien. Bekanntlich waren es maßgeblich die Bilder und ihr kuratorischer Gebrauch, die 1999 auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen zum Abbruch der Ausstellung führten. Die zur Überprüfung eingesetzte Kommission ging in ihrem Abschlussbericht in einem eigenen Passus zur «Fotografie als Quelle und Mittel der Darstellung» auf die besonderen Herausforderungen im Umgang mit den Fotos ein. Die von den Soldaten mitgeführten Bilder tragen meist keine Datierung oder Ortsbezeichnung, die gezeigten Ereignisse sind insofern nur schwer zu identifizieren. Wiederholtes Kopieren der Bilder kann Details verschwinden lassen, ebenso können Notate auf der Rückseite der Fotos verloren gehen. «Eng mit dem geringen gesicherten Wissen über die Provenienz der Fotos (bzw. ohne mit dem Abzug gemeinsam zur Verfügung gestellten weiteren Informationen) verbunden ist die unklare Herkunft der Bildlegenden, wie sie in Archiven den Fotografien beigefügt sind: Handelt es sich um zeitgenössische oder um nachträglich ergänzte Beschriftungen? Stammen sie vom Fotografen, von einer Zensurstelle, einer Redaktion, einer juristischen Instanz, dem Archiv? Nicht selten vermitteln die Bildlegenden in Archiven den Eindruck, als handle es sich um freie Formulierungen von früheren Bildnutzern oder den Archivmitarbeitern.»70 Da Archive oftmals spätere Abzüge einer historischen Fotografie besitzen, lässt sich über die Beschaffen-
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heit der ursprünglichen Aufnahme häufig keine gesicherte Aussage machen. «Zu klären ist daher immer: Liegt ein Originalabzug, d. h. ein zeitgenössischer Abzug (des Fotografen, eines Nutzers?) vor oder handelt es sich um einen späteren Abzug vom Negativ bzw. um eine Reproduktion von einem Abzug? Ist das Negativ ein Originalnegativ oder ein Repro-Negativ?»71 Vor dem Hintergrund dieser Richtlinien konnte die Kommission in der Konzeption der ersten Ausstellung einige Irrtümer nachweisen. Nicht in allen Fällen wurde die Herkunft der Bilder exakt (d. h. unter Angabe der Archiv-Signaturen) nachgewiesen. Zwei Bilder wurden aus Versehen seitenverkehrt gezeigt, andere waren am Rand leicht beschnitten. Ein anderer Einwand der Kommission betraf eine inszenatorische Entscheidung der Ausstellungsmacher: Durch die Herstellung von Bilderreihen mussten einige Fotos, die zeitlich und räumlich getrennte Ereignisse zeigten, als kontinuierliche Sequenz erscheinen. Die entscheidendste Korrektur betraf jedoch eine Reihe von Fotografien, deren Beschriftungen man ungeprüft aus den Archiven übernommen hatte. Eine falsche Bildlegende wies die Pogrome von Tarnopol als Verbrechen der Wehrmacht aus, während die Verantwortung für die Tat nicht eindeutig zu bestimmen war. «Eine zweifelsfreie Identifizierung der Toten als NKWD-Opfer auf den im Katalog reproduzierten Fotografien ist bei zwei von zehn kritisierten Fotografien möglich (in der 3. Auflage 5 von 13), auf den übrigen Fotos sind neben den NKWDOpfern auch Juden zu sehen bzw. lassen die Fotos keine eindeutige Identifizierung der Toten zu.»72 Die zweite Ausstellung geht diesem Hinweis in einer präzisen Rekonstruktion der Fotos, ihrer Herkunft aus Archiven in Wien und Prag und ihrer Entstehungsgeschichte nach. Vergleichsaufnahmen wurden herangezogen, die Datierung der Fotos konnte korrigiert werden, abschließend ließ sich feststellen: «Das Pogrom in Tarnopol ist nicht der 6. Armee anzulasten, wie in der Ausstellung ‹Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944› geschehen. Im vorliegenden Bildmaterial überlagern sich die Ereignisse, NKWD-Opfer wie auch Pogromopfer sind zu sehen.»73 Die auf dem Bild gezeigten Soldaten der Wehrmacht wären demnach bloße Zeugen der Erschießungen gewesen, nicht deren Ausführende.
155 ⋅ Evidenz des Bildes, Wissen der Schrift
Der Punkt war essentiell: Wenn die Legende eines Fotos eine falsche Identifizierung von Tätern und Opfern vornimmt, ist die Wahrheitsfunktion des Text-Bild-Ensembles im Kern berührt. Die falsche Bild legende kontaminiert das Bild, das Bild widersetzt sich der falschen Zuschreibung nicht: Bild und Text schließen sich zusammen, um eine Unwahrheit zu bezeugen. Ohne Zusatzwissen, ohne Intervention von außen – wie in der zweiten Ausstellung geschehen – lässt sich das falsche Ensemble nicht trennen, lässt sich seine Botschaft weder bestätigen noch dementieren. Zugleich jedoch war die erste Ausstellung in ihrer Gesamtaussage durch die ungeprüft übernommene Bildunterschrift keineswegs diskreditiert. Die Überprüfung, so der Abschluss bericht, hat «die Intensität und Seriosität der von den Ausstellungs autoren geleisteten Quellenarbeit bestätigt», die Ausstellung sei «sinnvoll und nötig» gewesen.74 Zweitens ergab die Arbeit der Kommission «keine Hinweise darauf, dass für die Hamburger Ausstellung Fotografien manipuliert oder retuschiert wurden».75 Der vor allem von Bogdan Musial und Krisztián Ungváry erhobene Vorwurf der Manipulation der Bilder bzw. Texte erwies sich als unhaltbar, der Versuch, die Ausstellung zu diskreditieren, war gescheitert.76 Die Auseinandersetzung war daher von Anfang keine Diskussion über gefälschte Bilder, über betrügerische Absichten und bewusste Manipulation. Was im Hamburger Bilderstreit zur Disposition stand, war die richtige oder falsche Beschriftung einzelner Fotos. Das grundsätzliche Potenzial der Fotografie als Quelle wurde von dieser Frage nicht berührt: Niemand bestritt die Evidenz der historischen Bilder, die Debatte kreiste um die Auslegung dieser Evidenz. So widmete sich die Dokumentation im Katalog der zweiten Ausstellung der Frage, wer auf den Aufnahmen zu sehen ist. Dass die Fotografien ein Verbrechen zeigen, dass dieses Geschehen tatsächlich irgendwo stattgefunden hat, konnte angesichts der Aufnahmen kaum bezweifelt werden. Im Fluchtpunkt der Auslegungen standen Bilder, die sich in ihrer charakteristischen Unentschiedenheit zu erkennen gaben: ihrer Verschränkung von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, der Gleichzeitigkeit von Faktizität und Offenheit der Auslegung. Die sachliche Diktion des Kommissionberichts wird an einer Stelle durch einen Einschub freier Reflexivität, einen unvermittelten Aus-
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blick auf die Interpretierbarkeit der dargelegten Sachverhalte unterbrochen: «Die Fotos schwanken zwischen Beweis und Illustration.» Dieser Hinweis auf das «Schwanken» im Umgang mit den überlieferten Bildern war als Kritik gemeint: «Die Ausstellung hat, mit anderen Worten, im Fall der Fotos ihr Narrativ häufig nicht ernst genommen».77 Hier wird zu Recht daran erinnert, dass es keineswegs selbstverständlich war, in welcher Funktion die Fotos in der Ausstellung gezeigt werden sollten: «Beweis» oder «Illustration»? Ein Fenster wird geöffnet, dann aber rasch wieder geschlossen. Denn statt der aufgeworfenen Frage nach der unterschiedlichen Funktion der Bilder ein Stück weit nachzugehen, verharrt der Bericht in seiner dezidierten, aber nicht eigens begründeten Unterscheidung von Faktizität und Anschaulichkeit: «In der Ausstellung trafen die wissenschaftliche Praxis, Fotos allein ihrer Faktizität, d. h. ihres Quellenwertes wegen zu benutzen, auf das berechtigte Anliegen von Ausstellungsautoren und -gestaltern, die Wirkung der Fotos auf die Besucher zu berück sichtigen.»78 Folgt man dem Urteil der Experten, wäre anstelle des Schwankens ein eindeutiges und geradliniges Vorgehen die angemessenere Praxis gewesen: entweder die Strenge akademischer Beweisführung oder aber die publikumswirksamen Effekte der Anschaulichkeit, entweder Wissenschaft oder Bilderschau. Lässt sich der Quellenwert eines Fotos aber wie ein Destillat reiner Faktizität aus Sichtbarkeit herausfiltern? Und droht umgekehrt die Arbeit mit der «Wirkung» eines Fotos, das Feld der Wissenschaft zu verlassen? Im Folgenden möchte ich zeigen, dass angesichts der Fotos des Vernichtungskriegs das Schwanken des Kommentars, so wie die erste Ausstellung es ins zeniert hat, möglicherweise die angemessene Form des Umgangs mit den überlieferten Bildern darstellt. In einem Gespräch mit dem Philosophen Bernard Stiegler entwickelt Jacques Derrida einen bemerkenswerten Gedanken zur Frage der Zeugenschaft. Derrida unterscheidet zwischen «Zeugenschaft» und «Beweis», «Zeugenschaft» und «Beweisstück», «Zeugenschaft» und «Indiz».79 Das Bezeugen, wie es sich etwa im Akt des Schwörens manifestiert, gehört demnach einer anderen Ordnung an als die Wahrheitsfindung durch das Vorzeigen von Beweisen, Beweismitteln und Indizien. Zeugenschaft setze Vertrauen und Glauben voraus, es beruhe
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auf einem Treueschwur, dem Versprechen des Zeugen, die Wahrheit zu sagen. Die Eindeutigkeit eines Beweises ist auf diese Art nicht zu erlangen. Zeugenschaft und Beweis können einander ergänzen, kommen aber auch dann nicht einfach zur Deckung. Zugespitzt formuliert: «Là où il y a preuve, il n’y a pas témoignage.» («Wo es Beweise gibt, existiert keine Zeugenschaft».)80 Übertragen auf unseren Gegenstand führt Derridas Überlegung zu der Frage, wie ein historisches Foto – verstanden als Beweis oder Beweisstück – eine Form von Zeugenschaft begründen kann. Auch hier kommen Zeugenschaft und Beweis nicht einfach zur Deckung: Das Bild zeigt etwas, aber es ist kein beredter Zeuge. Schon Talbot hatte dieses Problem in seinen Überlegungen zur Evidenz des fotografischen Bildes umkreist: Ein Foto mag ein Beweisstück sein («evidence of a novel kind»), um aber Zeugnis abzulegen, bedarf es zusätzlicher Akteure und Instanzen, die das Bild aus sich selbst heraus nicht mobilisieren kann. Dieser Sachverhalt lässt sich aber auch positiv formulieren: das Foto besitzt ein Potenzial, das die rein juristische Diktion übersteigt. «Die gerichtliche Evidenz», so bemerkt Helmut Lethen zu Recht, «ist von einer anderen Natur und einer anderen Ordnung als die fotografische». 81 Wie das Beispiel der Bilder aus Tarnopol gezeigt hat, ist eine der Instanzen fotografischer Evidenzerzeugung die Schrift: Eine falsche Beschriftung kann die Betrachterinnen und Betrachter eines Fotos in die Irre führen, es bedarf dann anderer Beschriftungen, um die Bildaussage zurecht zu rücken. Damit ist aber nur ein Teil fotografischer Zeugenschaft beschrieben. Bilder sind mehr und anderes als die stumme Dienerschaft wechselnder Zuschreibungen. Vermutlich hatte die Expertenkommission dieses Eigenleben des Ikonischen im Sinn, als sie von der «Wirkung der Fotos auf die Besucher» (s. o.) sprach, einer Wirkung, die man offenbar als unvereinbar mit den Beweisführungen der «wissenschaftlichen Praxis» sah. In der Presseberichterstattung zur zweiten Wehrmachtsausstellung wurde wiederholt auf das vermeintlich erfolgreiche Abmildern dieser Wirkung angespielt. Die undisziplinierten Bilder konnten der fürsorglichen Kontrolle durch die Texte übergeben werden. Das überarbeitete Konzept, schrieb V olker Ullrich in der «Zeit», sei «von strenger Sachlichkeit»: «Denn die neue Ausstellung setzt nicht mehr auf die Suggestivkraft der Bilder, sondern
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auf die aufklärerische Wirkung der Texte.»82 Durch diese Art der Präsentation, so die These, kämen die Dimensionen des Vernichtungskriegs nur umso klarer zum Vorschein – eine Leistung des Projekts, die nach den Gesetzen der Dialektik zugleich der Vorarbeit der ersten Ausstellung bedurfte: «Ohne seinen Vorläufer wäre es in dieser Form nicht denkbar gewesen.»83 An dieser Stelle interessiert jedoch vor allem ein Detail der Argumentation: Die mediale Differenz von Text und Bild wird mit einer zweiten Unterscheidung kurzgeschlossen – «aufkläre rische Wirkung» versus «Suggestivkraft». Damit war offenbar nicht einfach die falsche Zuschreibung der Fotos aus T arnopol und ihre wichtige Korrektur gemeint, sondern das Gesamtdesign der Ausstellung: «Fotos sind eher rar».84 Für den Umgang mit historischer Fotografie folgen aus diesen Überlegungen entscheidende Konsequenzen: Es ging nicht nur darum, wie man die stummen Fotos mit den rich tigen Beschriftungen zum Sprechen bringen konnte, um sie zum Teil einer historischen Beweiskette zu machen; es ging auch darum, sie dort zum Schweigen zu bringen, wo man ihre Wirkung als «suggestiv» erachtete – ein undiszipliniertes Agieren, das sich der eigenen Auffassung wissenschaftlicher Aufklärung nicht fügte. Die Debatte um die falsche Zuschreibung der erwähnten Fotos bot im Katalog der zweiten Ausstellung den Anlass zu einer grundsätz lichen Stellungnahme zu den Möglichkeiten und Grenzen des Umgangs mit historischen Fotografien. «Anders als der abstrakte Text», heißt es dort, «suggeriert das gegenständliche Bild dem Betrachtenden, er oder sie sei Zeuge des Geschehens.»85 Der Text gilt hier als «abstrakt», das (fotografische) Bild als «gegenständlich». Zu Recht haben auch die Organisatoren der zweiten Ausstellung auf diese Gegenständlichkeit nicht einfach verzichtet. Den Fotografien kommt aber eine andere Bedeutung zu, zudem wurde ihre Anzahl gegenüber der ersten Ausstellung reduziert. Unter dem Stichwort «Kontextualisieurng» wird der Umgang mit den Bildern im Katalog erläutert: «Eine Fotografie erklärt sich nicht aus sich selbst. Für den historischen Kontext der abgebildeten Ereignisse ist die Ergänzung durch Schriftquellen unerläßlich.» Auch der Literaturwissenschaftler Daniel Fulda erinnert im Zusammenhang der Ausstellung an die Textabhängigkeit der Fotos – «their deficieny in contextualization».86 Die Gründe für diese Not-
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wendigkeit von Schriftquellen habe ich im vorliegenden Text noch einmal dargelegt – zugleich aber auch daran erinnert, dass diese Abhängigkeit auch in umgekehrter Richtung gilt: Für den historischen Kontext der abgebildeten Ereignisse ist auch die Ergänzung der Texte durch Bilder entscheidend – zweifellos ist sie für deren Entzifferung nicht «unerläßlich», aber doch ein entscheidendes Komplement.87 Die Fotografie ist defizitär, aber der Text ist es auch. Hier noch einmal die Erläuterungen im Katalog: «Für den historischen Kontext der abgebildeten Ereignisse ist die Ergänzung durch Schriftquellen unerläßlich. Das mindert nicht den Quellenwert von Bildern, im Gegenteil: Der Wert der Fotografien liegt gerade in der Übermittlung von Information, die durch Wort und Schrift nicht transportiert werden können oder die vom Autor nicht gegeben werden w ollen.»88 Neben der Angewiesenheit der Fotos auf Texte wird hier ein Eigenwert der Bilder eingeräumt. Er entfaltet sich auf der Grundlage der beigefügten Texte, verdoppelt diese aber nicht einfach. Das trifft einen wichtigen Punkt. Ist dieses zusätzliche Potenzial der Bilder aber erfasst, wenn man es als ergänzende «Übermittlung von Information» beschreibt? Ist demnach die «Informativität» der Bilder – ihre sachdienliche Beantwortung der Fragen wer? was? wo? – die Folie, vor der Eigenart und Mehrwert des historischen Fotos zu verstehen sind? An dieser Stelle soll ein kurzer Exkurs zu einem weiteren Schauplatz fotografischer Zeugenschaft eingeschoben werden. Er betrifft einen anderen historischen Zusammenhang, behandelt andere Bilder und andere Absichten ihrer Produzenten, liefert aber doch einen wichtigen Beitrag zur Frage nach der spezifischen Bedeutung der Fotografie als historischem Zeugnis. In seinem Buch Bilder trotz allem behandelt Georges Didi-Huberman vier Fotografien, die im Sommer 1944 von Mitgliedern des Sonderkommandos in Auschwitz aufgenommen wurden. Während einer der Häftlinge die Wachmänner der SS im Auge behielt, gelangen einem Mithäftling, vermutlich dem aus Griechenland deportierten Marineoffizier Alberto Errera, Aufnahmen des Geländes um das Krematorium V. Der Fotoapparat war am Boden eines Eimers verborgen, der Film mit den Negativen wurde später von einer Angestellten der SS-Kantine in einer Zahnpastatube aus dem Lager geschmuggelt und Mitgliedern des polnischen Widerstands in Krakau überbracht. Zwei
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der Aufnahmen zeigen Mitglieder des Sonderkommandos beim Verbrennen von Leichnamen. Auf dem dritten Bild ist undeutlich im Hintergrund eine Kolonne entkleideter Frauen auf dem Weg ins Krematorium zu sehen (Abb. 60). Der Fotograf stand diesmal ungeschützt im Freien. In dieser Situation war es unmöglich, die Kamera ruhig vor das Auge zu halten: die Aufnahme wurde ohne kontrollierenden Blick des Fotografen ‹blind› ausgelöst. Baumstämme queren das Bild als schwarze Balken, das Bildgefüge kippt aus der Orthogonalen heraus, die Gefangenen und ihre Bewacher sind nur unscharf und am äußersten Bildrand zu erkennen. Die größte Irritation bereitet zweifellos die vierte Aufnahme der Serie – ein beinahe abstraktes Bild (Abb. 61). Im Sucher der Kamera erscheint eine opake, schwarze Fläche, darüber, unscharf und in starkem Gegenlicht, das wirre Geäst einiger Bäume. Kein Mensch ist zu sehen, wo oben und unten des Bildes sind, ist kaum zu entscheiden. Diese Aufnahme ist wenig ‹informativ› – ein faktisches Wissen über die Geschehnisse im Lager (wer? was? wann? wo?) ist ihr nicht zu entnehmen. Didi-Huberman interessiert aber nicht der Informations gehalt des Bildes, sondern sein Status als historische Spur. Auch wenn sie keine dechiffrierbare Repräsentation des Lagers liefert, ist die Aufnahme gleichwohl ein Zeugnis der historischen Situation, in der sie aufgenommen wurde: Zeugnis der Unmöglichkeit, durch den Sucher der Kamera zu blicken, des Risikos, entdeckt zu werden, der verwischten Bewegungsspur des Fotografen. «Auch diese Dringlichkeit hat Anteil am Historischen».89 Für Didi-Huberman zählen die vier Fotos deshalb weniger als historische ‹Quellen›, ‹Dokumente› oder ‹Beweise›. Vielmehr bezeugen sie gerade in ihrer technischen Unvollkommenheit, ihrer Unschärfe und Ausschnitthaftigkeit die existenzielle Situation, in der sie gemacht worden sind, um der Außenwelt ein Bild der Geschehnisse im Lager zu vermitteln. Es handelt sich um Überreste von einem Ort, an dem man alles daransetzte, den Gefangenen ihr Schicksal durch gezielte «Mechanismen der Entbildlichung (désimagination)» undarstellbar zu machen – «Bruchstücke des Nachlebens», «Fetzen», die dem historischen Geschehen «entrissen» wurden, «kostbarer und beunruhigender für uns als alle erdenklichen Kunstwerke».90 Gleichwohl ist ein Archivbild für sich genommen «eine unentzifferbare und
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bedeutungslose Fotografie», solange «man keine spekulative Verbindung imaginiert, die das, was man dort sieht, mit dem, was man aus anderer Quelle weiß, verbindet».91 Die Fotografien sind lückenhaft und uneindeutig, sie bestätigen die Abwesenheit des Gezeigten und bilden doch zugleich dessen physische Hinterlassenschaft: «Das lückenhafte Bild ist eine Bild-Spur (image-trace) und zugleich ein Bild im Verschwinden (image-disparition). Etwas bleibt zurück, aber es ist nicht die Sache selbst, sondern ein Fetzen ihrer Ähnlichkeit. […] Es geht hier weder um eine vollständige Anwesenheit noch um eine absolute Abwesenheit, weder um Auferstehung noch um einen restlos sich verlierenden Tod. Es geht um den Tod, insofern er etwas zurückläßt.»92 Es versteht sich von selbst, dass den vier Fotografien aus Auschwitz eine ganz andere Bedeutung zukommt als den in den Wehrmachtsausstellungen gezeigten Bildern vom Krieg in der Sowjetunion. In seinem Buch zeigt Georges Didi-Huberman bezeichnenderweise keine einzige Aufnahme der Lager, die von den Tätern oder ihren Sympathisanten gemacht worden wäre, obwohl es diese bekanntlich gegeben hat.93 Für seine Betrachtung der vier Fotografien war es entscheidend, dass sie nicht aus der Perspektive der Täter aufgenommen wurden, sondern von den Gefangenen selbst als ein Akt des Widerstands gegen die Täter. Zugleich geht jede Fotografie über die Absichten ihres Urhebers hinaus: sie zeigt Dinge, die dieser übersehen hat, die ihn nicht interessiert haben, die später und in anderen Zusammenhängen anders gelesen werden und sich unter Umständen gegen ihn und seine Absichten richten können. Insofern gilt Didi-Hubermans Hinweis auf den affektiven Gehalt und den Überschuss auch für die Bilder, von denen hier die Rede ist. Auch sie gehen im Leitbild der Sachdienlichkeit, im Paradigma der Information und der nüchternen Beweisaufnahme nicht auf. Die von Petra Bopp dokumentierten Reaktionen der Besucher auf die Fotos der ersten Ausstellung zeigen das. «Der Erschütterung und ersten Sprachlosigkeit in der Ausstellung folgen die oft seitenlangen Berichte in den Briefen mit Hinweisen auf eigene Fotos und Alben (manchmal gleich beigelegt).»94 Die Erschütterung durch die Bilder kann das präzise quellenkritische Arbeiten nicht ersetzen. Betroffenheit ist auch kein Argument –
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Abb. 60 Auschwitz, Sommer 1944, heimlich aufgenommene Fotografie
weder für noch gegen etwas. Sie entspricht aber einer Dimension der Bilder, die als ‹Information› nicht angemessen beschrieben ist. Unter den Kommentatoren beider Ausstellungen hat vor allem Helmut Lethen diese Dimension hervorgehoben. Eine Fotostrecke der ersten Ausstellung, die auch in der zweiten beibehalten wurde, zeigt jüdische Einwohner aus Lubny auf dem Weg zur Exekution.95 «Die Bilder von den auf dem Rasen lagernden Familien haben nichts Anonymes. Aber den Fotos steht auch kein Narrativ zur Seite, das dem Jungen mit dem hochgeknöpften Wintermantel oder dem kleinen Mädchen neben
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Abb. 61 Auschwitz, Sommer 1944, heimlich aufgenommene Fotografie
dem Marktkorb oder der Mutter, die vom ahnungslosen Kind getröstet werden muss, Namen und Zukunft zu verleihen vermöchte. Sie sind abgeschnitten vom Leben.» (Abb. 62, 63).96 Der tödliche Kontext ist auf den Bildern nur indirekt zu sehen. «Auf den Fotos des Todeszugs von Lubny scheint das Bewusstsein in verschiedenen Schattierungen den Gesichtern eingeprägt oder schlägt sich in Entgeisterung, die sich auf ihren Antlitzen spiegelt, nieder.»97 Diese Gesichter sind kein Gegenstand der Quellenkritik. Das im Katalog angemahnte «methodische Handwerkszeug zur angemessenen Deutung von Fotos»98 ist für sie nicht zuständig. «[…] das Wissen, daß diese Menschen im nächsten Moment liquidiert werden, das der Betrachter mit dem Mann hinter der Kamera teilt, macht es unmöglich, das Foto zu verstehen.»99 Ähnliches gilt für den Blick auf die Täter, ihre Gesten, ihr Posieren,
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ihre Gesichter.100 Das Töten wird auf manchen der Fotos auf eine Weise als «Handwerk» erkennbar – als ausgeübte Profession, mit ihren gekonnten Handgriffen und der fachgerechten Handhabung der Mittel –, die sich der sachlichen Beschreibbarkeit entzieht (Abb. 66).101 Manche der Fotos rufen Erinnerungen an tradierte Motive der Kunstgeschichte wach – die berühmten Erschießungsbilder von Goya oder Manet zum Beispiel. Vielleicht hatten die Profifotografen der Propagandakompanien oder auch manche der privaten Knipser solche Bildformeln aus dem kollektiven Bildgedächtnis tatsächlich vor Augen. Aber über die dargestellten Ereignisse, das Hier und Jetzt jedes e inzelnen Fotos, sagen solche Vergleiche nichts aus. Im Gegenteil: Das professionelle Abgleichen der Motive mit Vorbildern aus der euro päischen Hochkunst läuft Gefahr, von der Tatsächlichkeit der Ereignisse abzu sehen und die Bilder den Deutungsroutinen einer wissenschaftlichen Disziplin zu unterstellen. Eines der Fotos aus Tarnopol (Abb. 64) erscheint im Katalog mit der Erläuterung: «Vor der Treppe – der Betrachter steht ihr jetzt direkt gegenüber – beugt sich ein Oberscharführer der Waffen-SS über einen vor ihm zwischen den Leichen kauernden jungen Mann, der ein weißes Hemd und eine dunkle Weste trägt». 102 Auf dem Foto der folgenden Seite sieht man den jungen Mann noch einmal (Abb. 65). In der sachlichen Diktion des Kommentars heißt es dazu: «Zu den abgebil deten Leichen auf Foto 5 ist in der Aufnahme 6 der junge Mann mit weißem Hemd und dunkler Weste hinzugekommen.103 In der Sprache der Quellenkritik wird hier ein Vorgang – als Übergang von A nach B – registriert, den der Blick auf die Fotos als das Ende eines Menschen lebens erfahrbar macht. Vielleicht ist aber gerade diese unbeirrte, lakonisch-registrierende Art der Bildbeschreibung die geeignete Sprachform, um indirekt anzuzeigen, was sich der Beschreibung ohnehin entzieht? Vielleicht muss man die Wirkung der Bilder gar nicht beschreiben. Ihr stummes Zeugnis stellt sich ohnehin ein, indem man sie – begleitet vom notwenigen Wissen – zeigt. Und doch bleibt im Katalog der zweiten Ausstellung eine eigentümliche Spannung bestehen: zwischen der Diktion der Beweisführung und den Fotos selbst, zwischen der gut begründeten, disziplinär gesicherten Quellenkritik und der undisziplinierten Wirkung der Bilder. «Die von der Kritik gepriesene
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Abb. 62 Einwohner aus Lubny auf dem Weg zur Exekution
‹Sachlichkeit› der Ausstellung», so Lethen, habe «einen paradoxen E ffekt. Der analytische Zugriff federt keineswegs ‹die emotionale Zuspitzung diskursiv» ab, wie manche Kommentare behaupten.» Der «Schein der Diskursivität trügt. Auch die Neue Ausstellung zeigt Fotos, die das Netz des Wissens, das den Regeln der Zunft gehorcht, zer reißen.»104 Zugleich steht die Unverzichtbarkeit dieses Wissens außer Frage. Das Foto braucht eine diskursive Rahmung, der Text ein Wissen darüber, was dieser Rahmen nicht fassen kann.
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Abb. 63 Einwohner aus Lubny auf dem Weg zur Exekution
8. D ie Welt in Farbe und die «Wahrheit des SchwarzWeiß» Stellen Sie sich den deutschen Kaiser Wilhelm II. vor – mit gezwirbeltem Schnauzbart, Pickelhaube und in hochdekorierter Uniform. Vermutlich wird bei dieser Übung eine Gestalt in SchwarzWeiß vor Ihrem geistigen Auge erscheinen. Denn in solcher Farblosigkeit kennt man den Kaiser von historischen Fotografien – wie beispielsweise der hier bereits besprochenen Aufnahme des Hoffotografen Jacobi (Abb. 43). Da man historische Fotografien in der Erwartung betrachtet, dass sie einen Einblick in die Wirklichkeit eines vergangenen Jahrhunderts zeigen, liegt es nahe, aus dem Anblick dieser Bilder unbewusst zu schließen, dass die Dargestellten ihr Leben in einem Jahrhundert aus Schwarz und Weiß verbracht haben. Zweifellos wird niemand diese Annahme ernsthaft vertreten, die spontanen Vor
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Abb. 64 Tarnopol, Juli 1941
stellungsbilder des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts kann dieses Wissen aber nicht vertreiben. Dass in der Betrachtung von Fotografien die über das rein Sichtbare hinaus reichende Imagination eine entscheidende Rolle spielt, wurde auf den vorangegangenen Seiten bereits mehrfach demonstriert. Tatsächlich aber betrat Wilhelm II. 1908 ein Berliner Fotoatelier in durchaus farben froher Aufmachung (Abb. 67): grüne Weste, orangefarbene Schärpe und eine rosafarbene Blüte im Knopfloch. In dieser Montur ließ er sich ablichten, wenige Minuten später folgte eine zweite Aufnahme in roter Weste. Der Zweck dieser Veranstaltung war die Herstellung einiger Musterbilder, mit der das Berliner Atelier mit einem besonders prominenten Modell für ein von ihm entwickeltes Verfahren der Farbfotografie werben wollte. Im schwarz-weißen Kosmos der frühen Fotografie erscheinen diese Farbaufnahmen wie künstliche Gewächse. Seltsamerweise bringt ihre Farbigkeit das Vergangene nicht automatisch näher, sondern lässt es –gemessen an den gewohnten Überlieferungen in Schwarz-Weiß – im Gegenteil auf eine irritierende Weise als
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Abb. 65 Tarnopol, Juli 1941
‹unwirklich› und ‹unecht› erscheinen. Ein Ereignis des Jahres 1908 in Farbe zu sehen, erscheint gewöhnungsbedürftig – zu sehr speisen sich die Vorstellungsbilder dieser Vergangenheit aus den überlieferten Schwarz-Weiß-Fotografien und Filmen. Die Wirkungsmacht des Schwarz-Weiß ist aber auch fotografie geschichtlich von Belang. Es ist eine fragwürdige Konvention der Fotografiegeschichtsschreibung, die Farbigkeit der Bilder, wie sie gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts dann in standardisierten Ver fahren möglich wurde, im historischen Rückblick zum immer schon ersehnten Normalfall der Fotografie zu erklären. Brian Coe etwa beschreibt die ersten hundert Jahre der Schwarz-Weiß-Fotografie als «Suche nach Farbe», und auch Pamela Roberts spricht vom historischen «Wettlauf um die Farbe» und dem «Farbdefizit», das die Fotografie ein ganzes Jahrhundert lang heimgesucht habe.105 Zwar wurde die Ab wesenheit natürlicher Farben seit Beginn der Fotografie als Eigenart des neuen Mediums zur Kenntnis genommen.106 Auch wurde immer wieder nach Verfahren der farbigen Wiedergabe gesucht. Daraus den
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Abb. 66 Erhängung, Minsk 1941
Schluss auf einen ontologischen oder ästhetischen Mangel des Schwarz-Weiß zu ziehen, folgt jedoch einer teleologischen Lesart von Geschichte, die eine später gemachte Erfindung als angebliches Defizit in die Zeit vor dieser Erfindung rückprojiziert – als habe man Jahrzehnte lang auf dieses eine Ziel hingearbeitet, es aber unentwegt verfehlt. Was man (noch) nicht kennt, kann man aber auch nicht vermissen. Auch wenn auf den Fotografien des neunzehnten Jahrhunderts natürliche Farben abwesend waren, wurden sie nicht zwangsläufig vermisst. Das belegt nicht zuletzt der Umstand, dass sämtliche historische Bestimmungen der Fotografie als Spur des Gewesenen – von Talbot über Barthes bis Krauss – auf der Grundlage schwarz-weißer Foto grafien formuliert wurden: das Fehlen mimetischer Farben hat der Überzeugung vom Bestätigungscharakter der Fotografie offenbar keinen Abbruch getan. Im Falle Barthes’ ist sogar das Gegenteil der Fall – das Schwarz-Weiß gilt ihm als Garant des Zeugnischarakters der Fotografie, die Farbe hingegen als Indikator einer falschen Lebendigkeit: «Vielleicht weil es mich so sehr erhebt (oder bedrückt), wenn ich
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Abb. 67 Eugen Jacobi, Kaiser Wilhelm II., 1908
weiß, daß der einstige Gegenstand durch seine unmittelbare Aus strahlung (seine Leuchtdichte) die Oberfläche tatsächlich berührt hat, auf die nun wiederum mein Blick fällt, kann ich an der Farbe keinerlei Gefallen finden. […] nie kann ich mich des Eindrucks erwehren, daß (ungeachtet dessen, was sich tatsächlich abspielt) bei jeder Photo graphie die Farbe […] eine Tünche ist, mit der die ursprüngliche Wahrheit des Schwarz-Weissen nachträglich zugedeckt wird. Die Farbe ist für mich eine unechte Zutat, eine Schminke (von der Art, die man den Toten auferlegt). Denn nicht das ‹Lebendige› der Fotografie (ein rein ideologischer Begriff) hat für mich Bedeutung, sondern die Gewißheit, daß der photographierte Körper mich mit seinen eigenen Strah-
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len erreicht und nicht durch eine zusätzliche Lichtquelle.»107 Barthes’ Beharren auf der Unmittelbarkeit fotografischer Aufzeichnung – als gäbe es zwischen dem «photographierten Körper» und dem Betrachter seines Abbilds keinerlei vermittelnde Instanz – wurde häufig kritisiert. Sie kollidiert im Übrigen mit Barthes’ eigener Auffassung, dass es sich beim Foto um die Emanation eines «vergangenen» (also gerade nicht unmittelbar gegenwärtigen) Wirklichen handelt. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert aber ein anderer Aspekt des Zitats: Barthes’ Beobachtung, dass der farbigen Fotografie gegenüber dem SchwarzWeiß-Bild gewöhnlich die größere ‹Lebendigkeit› attestiert wird, eine Lebendigkeit, die jedoch rein ideologischer Natur sei. Zum Verständnis dieser Position ist es hilfreich, an dieser Stelle einen weiteren Theoretiker der Fotografie zu zitieren. «Die ersten Fotos», bemerkt Vilém Flusser, «waren schwarz-weiß und bezeugten ihren Ursprung aus der Theorie der Optik noch deutlich. Doch mit dem Fortschreiten einer anderen Theorie, der der Chemie, wurden schließlich auch bunte Fotos möglich. Scheinbar also abstrahierten die Fotos zuerst die Farben aus der Welt, um sie dann wieder hineinzuschmuggeln. In Wirklichkeit sind jedoch die Fotofarben mindestens ebenso theoretisch wie das Foto-Schwarzweiß.» Mehr noch, sie sind sogar weitaus künstlicher als Fotos in Schwarz-Weiß, weil der fotochemische Aufwand in ihrem Fall noch höher ist: «zwischen dem Foto-Grün und dem Wiesen-Grün ist eine ganze Reihe komplexer Codierungen eingeschoben, eine Reihe, die komplexer ist als jene, die das Grau der schwarz-weißen foto grafierten Wiese mit dem Wiesengrün verbindet. In diesem Sinne ist die grün fotografierte Wiese abstrakter als die graue. Farbfotografien stehen auf e iner höheren Ebene der Abstraktion als die schwarz-weißen. Schwarz-Weiß-Fotos sind konkreter und in diesem Sinne wahrer: Sie offenbaren ihre theoretische Herkunft deutlicher; und umgekehrt: Je ‹echter› die Fotofarben werden, desto lügnerischer sind sie, desto mehr vertuschen sie ihre theoretische Herkunft.»108 Sowohl Barthes als auch Flusser betonen die Künstlichkeit des Farbfotos. Ihre Motive sind aber denkbar unterschiedlich: Barthes argumentiert phänome nologisch, «ungeachtet dessen, was sich tatsächlich abspielt»; Flusser argumentiert von der «theoretischen Herkunft» des Fotos her, wenn man so will: medienwissenschaftlich. Für Barthes ist das Schwarz-
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Weiß-Bild ‹wahr›, weil es etwas Vergangenes bezeugt, zugleich aber dementiert, im Foto werde dieses Vergangene wieder ‹lebendig›. Für Flusser ist das Schwarz-Weiß-Bild ‹wahr›, weil es ehrlicher ist, d. h. seine technische Gemachtheit weniger kaschiert als das scheinbar lebensechtere Farbfoto. Worin liegt nun aber die Bedeutung dieser Beobachtungen für den Gegenstand dieses Buches? Wie die folgenden Überlegungen zeigen, wird die Farbe gegenüber dem SchwarzWeiß oftmals als Garantin größerer Authentizität angeführt – ein Anspruch, dessen scheinbare Offensichtlichkeit sich (mit Barthes wie mit Flusser) infrage stellen lässt. Seit Beginn der 1990 er-Jahre tauchen in Archiven und Nachlässen vermehrt Farbfotografien und Farbfilme aus der Zeit der beiden Weltkriege auf und finden zunehmend Eingang in Publikationen und Ausstellungen.109 Durch die Verbreitung dieser Bilder tritt in den Imaginationsraum des Historischen, der lange Zeit vor allem durch Schwarz-Weiß-Aufnahmen bestimmt war, vermehrt die Farbe ein. Diese Herausforderung an das Authentizitäts-Monopol des SchwarzWeiß führt zu eigentümlichen Turbulenzen der Vorstellungskraft. Welche Farbskala soll man für ‹wahrer› halten? Der Vorgang erinnert an das Erstaunen, das in den USA Ende der 1970 er-Jahre das Auftauchen eines vergessenen Archivs von Farbfotografien der berühmten Farmer Security Association bewirkte, jener großangelegten Fotokampagne der 1930 er und 1940 er Jahre, in der im Rahmen der New DealPolitik Franklin D. Roosevelts die Lebensbedingungen der ländlichen Bevölkerung dokumentiert werden sollten.110 In das kollektive Gedächt nis hatten sich die Schwarz-Weiß-Fotografien von Jack Delano, Ben Shahn und Russell Lee eingebrannt, an erster Stelle jedoch Dorothea Langes berühmte Migrant Mother, die als «Madonna des New Deal» schließlich «universalistischen Status» erlangte.111 Die Karriere dieses Bildes und mit ihm auch der anderen Bilder des Projekts vollzog sich im Denkraum des Schwarz-Weiß. In den siebziger Jahren jedoch rief die amerikanische Kunsthistorikerin Sally Stein in Erinnerung, dass über 1500 Fotografien der Dokumentation auf Kodachrome-Farbfilm aufgenommen wurden.112 Dorothea Lange war zu diesem Zeitpunkt bereits aus dem Projekt ausgeschieden, aber Marion Post Wolcott, Jack Delano und Russell Lee fotografierten seit 1938 auch in Farbe.113 Die
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Farbfotos gingen später im bürokratischen Labyrinth der Library of Congress verloren, und den Worten des amerikanischen Journalisten Paul Hendrickson zufolge verschwanden sie nach ihrer erfolgreichen Bergung durch Sally Stein noch ein zweites Mal: Gegen die historische Aura des Schwarz-Weiß vermochte die Farbe sich zunächst nicht durchzusetzen.114 2004 veröffentlichte die Library of Congress eine Auswahl der Farbfotos, und wie Hendrickson in seinem Vorwort zu dieser Publikation bemerkt, löste der unvermutete Einbruch der Farbe in die historische Welt des Schwarz–Weiß bei einigen Betrachtern Irritation aus: «Viele Amerikaner in einem bestimmten Alter, mich selbst eingeschlossen, neigen stark zu dem Glauben, dass sich die Große Depression irgendwie in Schwarz-Weiß abgespielt hat. […] Diese alten, von einer Gruppe äußerst begabter Regierungsfotografen hergestellten Silbergelatine-Abzüge sind Teil unserer nationalen Identität geworden. Es ist, als seien diese Bilder in unserer kollektiven Retina gespeichert, ja dort eingebrannt.»115 Offenbar gerieten hier zwei Regime visueller Rekonstruktion in Kollision: der Wirklichkeit des Historischen entsprach das SchwarzWeiß, weil auch die fotografischen Zeugnisse, die diese Wirklichkeit fixiert und überliefert hatten, schwarz-weiß waren (und andere Ansich ten der Vergangenheit, denen man eine ähnliche Beglaubigungsfunktion zugetraut hätte wie dem fotografischen Bild, lagen nicht vor). Zugleich konnten diese Bilder jedoch nicht vergessen lassen, dass die Vergangenheit sich ohne Zweifel bereits in Farbe abgespielt haben musste – als historischer Vorlauf der eigenen, farbig erlebten Gegenwart. Hier zeichnet sich ein divergierendes Verständnis fotografischer Farbigkeit ab: Das Schwarz-Weiß-Foto bezeugte Vergangenes, hielt es dabei aber zugleich auch auf Distanz – die Differenz zur Erscheinungsweise der eigenen Gegenwart war unübersehbar. Das Farbfoto hingegen stand für größere Unmittelbarkeit und die Möglichkeit der Einfühlung in eine vergangene Lebenswelt. Diese Konvention hat sich bis heute in zahlreichen Zusammenhängen gehalten. In den täglichen Nachrichtensendungen dominieren Bilder in Farbe. Wenn hinter der Sprecherin oder dem Sprecher jedoch das Schwarz-Foto eines Prominenten erscheint, weiß man, dass die betreffende Person gestorben ist. Ver gangensein und Tod zeigen sich in unbunten Farben.
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Hendricksons Rezeption der Fotografien der Farm Security Administ ration stellt diese Differenz beider Farbregime beinahe idealtypisch vor Augen. Im Unterschied zu Barthes sieht Hendrickson jedoch keinen Grund, eine der beiden Varianten zu favorisieren, sondern wechselt wahlweise zwischen beiden Modi hin- und her: Dem Schwarz-Weiß gesteht er die historische Zeugenschaft zu, zugleich gilt ihm der Wiedereintritt der Farbe als notwendiger Gegenentwurf («ein hoffungsvolles Korrektiv»116). Die Betrachtung einer Farbfotografie, die Jack Delano im September 1941 auf einem Volksfest in Rutland/Vermont aufgenommen hat (Abb. 68), gerät Hendrickson zum Schaustück der Empathie: «Die Farbe ist ein wenig ausgewaschen und verblasst, aber weil das Bild in Farbe existiert, erlaubt es uns, so scheint mir, uns vollständiger in es zu versenken, am emotionalen Gehalt und dem Vergnügen, das es bereitet, unmittelbarer teilzuhaben. Es geht mir nicht darum, irgendein pauschales ästhetisches Urteil über die Wirkungsmacht von Farbe im Unterschied zu Schwarz-Weiß zu fällen. (Müßte ich mich entscheiden, würde ich vermutlich weiterhin für SchwarzWeiß votieren.) Ich spreche nur über dieses eine Bild, jenen bestimmten Augenblick vor dreiundsechzig Jahren, als die Zeit in einer foto grafischen Box angehalten wurde, und uns diese fünf leicht benommenen, bezaubernden und namenlosen Kinder auf diesem Jahrmarkt in Neuengland sozusagen dauerhaft geschenkt wurden. […] Auch hier, so glaube ich, ist es die Farbe, die möglich macht, noch einmal mit der karnevalesken Pracht dieser state-fair midways in Berührung zu kommen.»117 In der Frau, die dem Betrachter den Rücken zukehrt, erkennt Hendrickson die Mutter der fünf Mädchen, die deren Baumwoll kleider von eigener Hand genäht hat, «spät in der Nacht, am Küchentisch». Der Anblick der Falten im Saum der Kleider versetzt ihn in die eigene Kindheit zurück («Das lässt mich daran denken, wie lange unsere Mütter noch mit Bügeln beschäftigt waren, während wir schon im Bett lagen»118), und der aquamarinfarbige Pulli eines blonden Jungen im Bild ruft die Erinnerung an ein anderes Kleidungsstück wach: jenen gerippten, kurzärmeligen Pulli in Aquamarin, den er selbst als Kind getragen hat. Von «Emotion» und «Wohlgefallen», vom Eintreten ins Bild und der Erinnerung an die eigene Kindheit war im An-
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Abb.68 Jack Delano, Auf dem Jahrmarkt in Vermont, Rutland, 1941
blick der Schwarz-Weiß-Aufnahmen der Farm Security Administra tion nicht die Rede. Mit Schwarz-Weiß und Farbe stehen sich zwei verschiedene Modi der Rezeption gegenüber: Distanzierung und Anverwandlung, Zeugenschaft und Animation, Beglaubigung und Empathie.
9. Die nachkolorierte Zeit I Wie das vorangegangene Beispiel gezeigt hat, koexistieren Schwarz-Weiß-Fotografie und Fotografie in Farbe seit dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert als zwei eigenständige Verfahren, in verschiedenen Kontexten und in unterschiedlichen Funktionen. Mit der digitalen Nachkolorierung historischer Schwarz-Weiß-Aufnahmen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ein neuer Standard der Visu-
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alisierung etabliert. An die Stelle des Umgangs mit den beiden über lieferten Verfahren tritt die Herstellung einer neuen, ebenfalls technikbasierten Sichtbarkeit. So stellte die brasilianische Koloristin Marina Amaral in Zusammenarbeit mit dem Historiker Dan Jones 2018 eine «neue Geschichte der Welt von 1850 bis 1960» in Aussicht, zwei Jahre später folgte der Band The World Aflame. The Long War, 1914–1945, beide Bände ein «Versuch, der ausgeblichenen Vergangenheit farbliche Brillanz zurückzugeben».119 Die Formulierung ist erklärungsbedürftig: Sie legt nahe, dass der Vergangenheit durch das schwarz-weiße Bild ihre ursprüngliche Farbigkeit ‹genommen› wurde und ihr ein Jahrhundert später dank der digitalen Technik nun «zurückgegeben» wird – eine Art Wiedergutmachung an der Wirklichkeit, die das Schwarz-Weiß-Bild «oft einseitig und verblasst» erscheinen ließ. Aber inwiefern «zurückgeben»? Und wohin «zurück»? Die Nachkolorierung stellt schließlich keinen Zustand der Wirklichkeit ‹wieder her›, deren farbige Brillanz sich irgendwo latent erhalten hätte, um auf ihre Wiederbelebung zu warten. Vielmehr überschreibt der Vorgang der Kolorierung ein Bild der Wirklichkeit durch ein anderes. Bei Amaral und Jones liest sich dieser Vorgang hingegen so: «Wir wissen, dass die Welt immer schon so lebendig, farbenfroh, spontan und ‹real› war, wie wir sie heute kennen. Die Vergangenheit können wir dennoch selten so lebendig und farbig betrachten»120 – erst das nachkolorierte Foto, so die Gleichung, stellt die lebendige und farbenfrohe Welt ‹wieder her›. Der Gewissheit, dass die Wirklichkeit sich auch im neunzehnten Jahrhundert bereits in Farbe abgespielt hat, lässt sich schwer widersprechen. Dieser Hinweis geht jedoch am Gegenstand vorbei, denn es geht hier nicht um eine reine und unverstellte Wirklichkeit, sondern um die Darstellbarkeit einer vergangenen Wirklichkeit in Bildern. Dass die Welt von gestern farbig war, ist unbenommen. Die über lieferten Bilder dieser Welt – und etwas anderes liegt uns im Bereich des Sichtbaren nicht vor121 – sind es zu großen Teilen jedoch nicht. Insofern gründet die «neue Geschichte der Welt» auf einer eigentümlichen Medienvergessenheit: als ließe sich – gleichsam durch die Schichten des Schwarz-Weiß hindurch – zu den unverstellten Farben der Vergangenheit vordringen. Folgt man Amaral und Jones, findet die
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Natürlichkeit dieser Bilder ihre unmittelbare Entsprechung im natürlichen, anthropologisch tief verwurzelten Bedürfnis nach Farbe: «Es versteht sich von selbst, dass wir als Teil der Spezies Homo sapiens instinktiv auf Farbe reagieren, auf eine tiefe und ursprüngliche Weise.» Die Kolorierung «fordert uns dazu heraus, der Geschichte nicht einfach als Buchhalter und Analytiker zu begegnen, vielmehr als menschliche Wesen mit derselben Angst, Verwirrung, Leidenschaft, Begierde, Zorn und Liebe wie sie diejenigen empfunden haben, deren Bilder wir betrachten».122 Einmal mehr verschwindet die Geschichte hinter dem «Mythos der conditio humana».123 So sieht man bei Amaral und Jones nun viele der vertrauten Bilder der Geschichte noch einmal, diesmal jedoch in Farbe: Alexander Gardeners Foto der Gefallenen auf dem Schlachtfeld von Gettysburg, die hingerichteten Kommunarden in ihren Särgen, wie Disdéri sie 1871 aufgenommen hat, ein Bildnis Bismarcks, die Ruinen von Ypern, die Überlebenden von Buchenwald, aufgenommen im April 1945 (Abb. 69). Viele dieser Bilder rufen zugleich die Erinnerung an ihre bekannten schwarzen-weißen Vorbilder herauf. Zahlreiche andere Fotos sieht man hier zum ersten Mal, sodass die Differenz zwischen historischer und nachträglicher Farbe verwischt. Mit Flusser ließe sich sagen, dass Amarals Bilder künstlicher sind als ihre historischen Vorbilder in Schwarz-Weiß (da der technische Aufwand ihrer Herstellung höher ist), mit Barthes, dass die neuen Farben eine «Tünche» sind, Ausdruck einer falschen ‹Lebendigkeit›. Wie weit wir uns hier von der eingangs beschriebenen Bestimmung des Fotos als Zeugnis eines vergangenen Wirklichen entfernt haben, zeigt eine Gegenüberstellung. Zu den von Barthes kommentierten Fotos gehört eins der von Alexander Gardener aufgenommenen Porträts Lewis Paynes, wie er nach dem gescheiterten Attentat auf den Außenminister der USA in seiner Zelle sitzt und seinen Tod erwartet (Abb. 70). Barthes bringt die paradoxe Zeitlichkeit des Bildes, seine Verschränkung von Leben und Tod, auf die Formel: «Er ist tot und er wird sterben».124 Auch Amaral zeigt eine Aufnahme dieser Serie (Abb. 71). Die Losung müsste jetzt heißen: «Er war tot, aber wir zeigen ihn lebendig». Denn die Utopie der visuellen Reanimation ist die Aufhebung der Zeit, die Beseitigung der Distanz, die uns vom Vergangenen trennt. «Eines
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der Dinge, die man annulliert, um die Geschichte ‹relevant› zu machen, ist die Geschichte selbst», bemerkt Elisabeth Edwards zu Recht.125 Dass es sich bei der nachkolorierten Welt um eine Fiktion handelt, ist nicht der entscheidende Punkt. Bemerkenswerter ist, dass diese Fiktion mit dem Anspruch verbunden wird, eine wirklichere Wirklichkeit zu zeigen als die überlieferten Bilder der Geschichte. Man mag hier einwenden, dass Amaral nicht als professionelle Historikerin agiert und auch Jones, der die Texte zu den Büchern verfasst, sich eher im Feld der populären Vermittlung von Geschichte bewegt. Aber ist mit diesem Hinweis auf das Selbstverständnis Amarals und Jones’ eine Kritik ihrer Arbeit obsolet? Die Zukunft wird zeigen, ob die nachkolorierte Geschichte ein peripheres Phänomen darstellt oder aber eine Umformung des visuellen Gedächtnisses und eine Revision der Archive. In einer Zusammenarbeit mit dem Auschwitz Memorial hat Amaral damit begonnen, Fotografien aus der ehemaligen Lagerkartei zu kolorieren. Unter den Aufnahmen befindet sich auch die Fotografie der vierzehnjährigen Polin Czeslawa Kwoka, die im März 1943 wenige Monate nach ihrer Ankunft im Lager ermordet wurde. Kwokas Mithäft ling Wilhelm Brasse hat die Aufnahme im Auftrag des Erkennungsdienstes der Gestapo für die Lagerkartei aufgenommen. Aus einem Interview mit Amaral kennt Der Spiegel weitere Details der nachträg lichen Bearbeitung des Bildes: «Mit Photoshop hat Amaral der Haut der 14-Jährigen Farbe gegeben, zum Beispiel die Streifen ihrer Häftlingskleidung in blau und grau getaucht. Details hat sie aus der Überlieferung vom Fotografen Wilhelm Brasse übernommen. Laut seiner Aussage hatte eine KZ-Wärterin Czeslawa Kwoka kurz zuvor mit einem Stock ins Gesicht geschlagen, deshalb färbte Amaral das Blut an ihrer aufgeplatzten Lippe rot».126 Es lässt sich fragen, was genau diese Geste des Kolorierens ausmacht. Es wird, so Amaral, «von Hand koloriert. Der Prozess kennt keine Algorithmen».127 Die Geste der Hand besteht darin, eine Sichtbarkeit durch eine andere Sichtbarkeit zu überdecken. Zugleich ist diese Schaffung einer neuen Sichtbarkeit ein Versuch der Wieder herstellung, der Wiederaneignung, der Aufhebung der Distanz, z. B.
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Abb. 69 Marina Amaral, Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald (nachkolorierte Schwarz-Weiß-Fotografie)
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Abb. 70 Alexander Gardener, Lewis Payne
indem man ein schwarz-weißes Bildnis mit der Farbe ‹Rot› koloriert, um mit Hilfe des digitalen Werkzeugs den Schlag einer Wärterin zu bedeuten. Was genau wird auf diese Weise ‹wiederhergestellt›? Am Ende des folgenden Kapitels komme ich auf diese Frage zurück. Denn die Praxis der Nachkolorierung beschränkt sich gegenwärtig nicht auf historische Fotografien, sondern gewinnt auch an Bedeutung im Umgang mit dem historischen Film.
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Abb. 71 Marina Amaral, Lewis Payne (nachkolorierte Schwarz-Weiß-Fotografie)
4. Kapitel
Found footage und die verlorene Zeit
1. «Archäologischer Verismus» im Film Siebzig Jahre nachdem Ernest Meissonier die Uniform des Marshall Ney zum Schneider trug und sich ein Faksimile des Mantels von Napoleon umlegte, machten sich die Regisseure Hollywoods auf die Suche nach dem historisch korrekten Detail. Um etwa William Dieterles Juarez (1939), einem Film über das Ende Kaiser Maximilians I. in Mexiko, das wahrheitsgetreue Zeitkolorit zu geben, war Klarheit über folgende Details zu erlangen: «Welche Uniform trug Maximilian als er in Veracruz landete oder in Mexiko City eintraf?» – «Benennung der aufgereihten schwarzen Zipfel auf den fünf Mänteln, die bei Krönungen getragen wurden» – «Details zu den Satteldecken Maximilians und anderer Offiziere der mexikanischen Armee» – «Coat of arms auf dem Briefpapier des Grafen Metternich, auf dem er an Maximilian schrieb».1 Die Filmgesellschaft Warner Bros führte ein «General Research Record», das die Suchaufträge der Drehbuchschreiber und Regisseure verzeichnete. Die Anfragen zu Juarez wurden im Oktober 1938 beantwortet: Die Bezeichnung der Zipfel an den Krönungsmänteln war «Miniver» («es handelt sich um eine Art von Pelz»), Maximilian betrat Veracruz in «einfacher Reisekleidung», das Signet auf den Briefen Metternichs war der Austrian Coat of Arms, wie ihn die Botschaft von Österreich verwendete.2 Die Rechercheure von Warner Bros konnten Auskunft darüber geben, ob Laborarbeiter im Jahr 1910 Gummihandschuhe trugen, wie das Monogramm der Kaiserin von Mexiko aussah und ob es im alten Ägypten Perücken gab.
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Sie kannten den Briefkopf Abraham Lincolns, die häufigste Haarfarbe der Hebräer und das Aussehen deutscher Telefone zu Beginn der 20. Jahrhunderts. In einem Film müssen alle diese Dinge gezeigt – oder genauer: mitgezeigt – werden, ganz gleich, ob ihnen innerhalb der Handlung eine Bedeutung zukommt oder nicht: Wenn Maximilian I. ins Bild tritt, sind auch die Knöpfe seiner Uniform und die Satteldecke seines Pferdes mit im Bild und müssen dementsprechend ebenfalls gestaltet werden – eine Eigenart, die das Filmbild vom geschriebenen Text eines Historikers oder einer Verfasserin historischer Romane unterscheidet. Solche Details können, wie Barthes am Beispiel Michelets gezeigt hat, als «Wirklichkeitseffekte» in die Erzählung eingestreut werden. Als Autor kann Michelet es jedoch bei dem Hinweis belassen, dass der Henker mehrfach an die Zellentür Charlotte Cordays klopft und muss nicht zusätzlich auch die materielle Beschaffenheit der Türe, die Kleidung des Henkers oder das Mobiliar der Zelle beschreiben. In Texten «genügt es mitunter, historische Gestalten und Ereignisse lediglich zu benennen; im Film müssen die Gestalten Gesichter und die Ereignisse Konturen haben, müssen Dinge konkret visualisiert werden, die ein Schriftsteller stillschweigend übergehen kann. Für Historiker spielt es keine, jedenfalls keine wesentliche Rolle, auf welchem Pferd Napoleon geritten ist. Filmemacher hingegen müssen sich genau darüber Gedanken machen […].»3 Das Ausmaß, in dem sie das tun, kann allerdings erheblich variieren. Die Historienfilme Carl Theodor Dreyers sind häufig als Beispiele einer Imagination des Historischen genannt worden, die das Nachbilden äußerlicher Details weitgehend ausspart. Die Passion der Jungfrau von Orleans (1928) beispielsweise zeigt «auf jedes historische Kolorit verzichtend, statt der ganzen Menschen lauter Gesichter in Großaufnahme […], die aus ihrer Umgebung und damit aus der Zeit gehoben sind»4; und auch Dreyers Tag der Rache (1943), ein Film über Hexenprozesse im siebzehnten Jahrhundert, hält das historische Beiwerk in Grenzen: «Die Ausstattung und Requisiten sind – wie für Dreyer charakteristisch – einfach und konzentrieren sich nur auf das, was für die Handlung wichtig ist (Annes Strickrahmen, der Wäscheschrank).»5 Am anderen Ende des Spektrums stehen Filme wie Fred Niblos Ben
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Abb. 72 Fred Niblo, Filmstill aus Ben Hur, 1925
Hur (1925), die ihren Anspruch auf historische Authentizität gerade aus der historisch korrekten Rekonstruktion beziehen und die Leinwand bis an den Rand mit historisierendem Beiwerk füllen (Abb. 72). «Die Masse tut es», bemerkt Siegried Kracauer in seiner Rezension des Films lakonisch: «160 000 Meter Stoffbahnen wurden in Berlin für 8000 Kostüme, Mäntel, Requisiten usw. zugeschnitten. 22 000 Kilo Messing und Eisenblech wurden zu 6000 vollständigen Römerrüstungen verwendet. 9000 Pfund Leder verwandelten sich in Schuhe und Lederzeug, 100 seetüchtige, in Livorno gebaute antike Kriegsschiffe lagen im Kampf miteinander. […] Die historische Echtheit der Bauten, Hintergründe, Gewänder ist durch ausgedehnte Studien verbürgt.»6 Wie Kracauers Beispiele zeigen, ist es aber nicht einfach die Unvermeidbarkeit des Details (kein Filmbild historischer Akteure, ohne zugleich auch deren äußere Gestalt zeigen zu müssen), die seine Präsenz im Historienfilm begründet: Das Detail wird auch gezielt gesucht und als Garant historischer Authentizität inszeniert. Den Regisseuren der entsprechenden Historienfilme genügte es nicht, ihre Inszenierungen im Bereich des Wahrscheinlichen zu belassen. Man berief sich auf das
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Wissen von Experten, die prüften, ob im Film «Soldaten von 1914 zu Unrecht Helme tragen, da diese erst nach 1916 in Gebrauch waren», oder sicherstellten, «dass Dekoration und Außenräume wahrheitsgetreu, die Dialoge authentisch» waren.7 Der klassische Historienfilm lebt von den Möglichkeiten der Fiktion, doch gibt er zugleich das Versprechen auf historische Korrektheit des Fingierten nicht auf. Welche Verwerfungen dieses Ensemble aus Faktentreue und Fiktion mit sich bringen kann, zeigt sehr schön ein Interview, das der Bielefelder Historiker Ulrich Wehler anlässlich der Ausstrahlung des Fern sehfilms Rommel (2012) von Niki Stein gegeben hat. Wehler, so heißt es in der Einleitung des Artikels, «kann der Fiktionalisierung des Generalfeldmarschalls etwas abgewinnen». Tatsächlich äußert der Befragte im Gespräch keine grundsätzlichen Einwände gegen die schauspielerische Nachstellung historischer Ereignisse. Die Grenzen der Fiktionalisierung sind für ihn allerdings erreicht, wenn es um die korrekte Wiedergabe der Augenfarbe und des Schnurrbarts Adolf Hitlers geht. Hitler, so Wehler, sei «berühmt wegen seiner grünen Augen», der Hitler-Darsteller hingegen habe schwarze Augen. «Und der Schnurrbart saß nicht richtig. Im Vergleich zu Bruno Ganz in ‹Der Untergang› war das ein starker Abfall.»8 Als Geschichtswissenschaftler setzt Wehler eine historische Faktizität voraus, an der jede Narration von Geschichte sich auszurichten hat. Die Grenzen der Fiktionali sierung werden dort gezogen, wo das Fingierte von den überlieferten Fakten abweicht: Fiktionalisierung ist legitim – aber nur mit historisch korrektem Schnurrbart. «Die abendländische Geschichtswissenschaft», bemerkt Michel de Certeau, «liegt mit der Fiktion im Kampf.» Demnach kann der Gelehrte den Bereich der Fiktion «nur erobern, indem er ihre Fehler feststellt.» Die Fiktionalisierung wird nicht als solche anerkannt, sondern liefert lediglich die Negativfolie für das Hervorteten des eigenen, überlegenen Wahrheitsanspruchs. «So gesehen, stellt die Fiktion innerhalb einer Kultur das dar, was die Historiographie als Irrtum einsetzt, um ihren eigenen Bereich abgrenzen zu können.»9 In Zusammenhang dieses Kapitels ist Wehlers Kritik am historischen Spielfilm vor allem auch deshalb bemerkenswert, weil sie an der filmischen Inszenierung der Geschichte nicht etwa eine verfälschende Darstellung des Kriegsverlaufs, ein Ausblenden historischer Hinter-
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gründe oder gravierende Datierungsfehler moniert, sondern die fehlerhafte Wiedergabe vergleichsweise unbedeutender Details – Schnurrbart und Augenfarbe. Was hier eingeklagt wird, betrifft wohl weniger die tatsächliche historische Bedeutung der fraglichen Details als vielmehr das in ihnen verkörperte Wahrheitsprinzip. Schnurrbart und Augenfarbe hatten vermutlich keinen nennenswerten Einfluss auf den historischen Verlauf des Zweiten Weltkriegs, aber für Wehler steht mit ihrer wahren oder unwahren Darstellung auch das Wirklichkeitsversprechen der historischen Rekonstruktion auf dem Spiel. Umgekehrt hätte die historisch korrekte Wiedergabe solcher Details die Glaubwürdigkeit der gesamten Rekonstruktion erhöht. Auf dieses besondere Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Film komme ich im fünften Unterkapitel noch einmal zurück. Die Rekonstruktion gerät an ihre Grenze, wo die nachgemachte Echtheit des Vergangenen auf das Zeitkolorit der eigenen Gegenwart trifft. Schon Hegel hatte mit Blick auf die klassischen Künste von der un vermeidbaren «Kollision» der Zeiten gesprochen. Die historisierende Kunst, so die entsprechende Passage der Ästhetik, wählt «vornehmlich Stoffe aus vergangenen Zeiten, deren Bildung, Sitten, Gebräuche, Verfassung, Kultus verschieden ist von der gesamten Bildung ihrer eigenen Gegenwart». Die Erscheinungen dieser «Außengestalt der alten Zeit» haben «sich wesentlich geändert und sind ihm fremd geworden»,10 diese Fremdheit aber lässt sich nicht überspielen. Was Hegel für die klassischen Künste konstatiert, gilt ein Jahrhundert später für den historischen Spielfilm nicht minder: Reanimierte Zeit und Zeit der Reanimation kollidieren im Anachronismus. Das historische Kostüm mag noch so akkurat, das wiederhergestellte Setting noch so vollständig sein – die Signaturen der Gegenwart mischen sich unübersehbar ein. «Wie viele morphologische Anachronismen gibt es in dieser Hinsicht!», bemerkt Roland Barthes. «Wie viele ganz und gar moderne Gesichter, die auf naive Weise auf falschen Halskrausen sitzen und in g efälschten Drapierungen posieren! Hier liegt bekanntlich eines der gravierendsten Probleme des Historienfilms (römische Senatoren mit Sheriffsgesichtern, wobei Johanna von Orleans von Dreyer in dieser Hinsicht eine Ausnahme bildet).»11 Barthes hat seine Kritik am «veristischen Übel» der Rekonstruktion
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am Beispiel des Theaters formuliert, den Historienfilm jedoch mit einbezogen: «Das Grundübel ist jene Übersteigerung der historischen Funktion, die man als archäologischen Verismus bezeichnen kann. Es ist daran zu erinnern, dass es zwei Arten von Geschichte gibt: eine intelligente Geschichte, die grundlegende Erschütterungen und spezifische Konflikte der Vergangenheit erforscht und eine oberflächliche Geschichte, die auf mechanische Weise bestimmte historische Anekdoten wiederholt. Das Kostüm im Theater war lange Zeit ein bevorzugtes Betätigungsfeld für die Ausübung dieser zweiten Auffassung von Geschichte. Man kennt die epidemischen Verheerungen, die das veristische Übel in der bürgerlichen Kunst anrichtet: in seiner Funktion als eine Ansammlung wahrheitsgetreuer Details, absorbiert und atomisiert das Kostüm die gesamte Aufmerksamkeit des Zuschauers, der sich fernab des Schauspiels in der Region des unendlich Kleinen verliert […] Das veristische Kostüm, wie man es in bestimmten Aufführungen der Oper oder der komischen Oper noch immer sehen kann, grenzt an die äußerste Absurdität: die Wahrheit des Ganzen wird durch die Exaktheit der einzelnen Teile verdeckt, der Schauspieler verschwindet hinter der sorgfältigen Darstellung seiner Knöpfe, seiner falschen Haare, der Falten in seinem Gewand. Das veristische Kostüm produziert unfehlbar folgenden Effekt: man sieht die Wahrhaftigkeit sehr wohl, aber man glaubt ihr nicht.»12 Einmal mehr erscheinen Knöpfe und Falten als Embleme eines Realismus, der sein Glück in der Exaktheit des korrekt rekonstruierten Details sucht. Insofern erinnert der «archäologische Verismus» in Theater und Historienfilm an die Wirklichkeitseffekte Meissoniers – den Versuch, nichts auszulassen, um im Überschuss der Details die Botschaft zu vernehmen: ‹Wir sind das Wirkliche›. In seiner Studie zum Historienfilm spricht Charles Shiro Tashiro von «Designer History»: «Die Vergangenheit wird zu einer Abfolge leerer Formen und erlesener Objekte […], einem Vor und Zurück von Mannequins, deren einzige Sorge der Qualität der Garderobe gilt. Gerade diese Leere macht die Faszination solcher Filme aus. Sie sind zum Selbstzweck geworden, eine Folge makelloser Posen, aufgeführt in einem Leerraum»13 Dass der archäologische Verismus in Film, Malerei und Theater gleichermaßen virulent ist, sollte die Besonderheiten dieser Gattungen
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jedoch nicht vergessen lassen. Im Unterschied zur Malerei haben Theater und Film es mit der physischen Präsenz von Schauspielern zu tun, die unweigerlich der Gegenwart entstammen. Der «archäologische Verismus» inszeniert hier nicht nur einen Überschuss an Details, diese stehen, so Barthes, zudem im Missverhältnis zur Jetztzeit-Physiognomie der Schauspieler. Im historischen Spektakel schimmert überall die Gegenwart hindurch – absichtslos und zugleich auf eine Weise, die sich nicht abstellen lässt. Der archäologische Verismus mag noch so gekonnt am Kostüm des Vergangenen arbeiten, das moderne Gesicht, das unverwandt aus den Drapierungen herausblickt, entgleitet ihm. Barthes kritisiert das «Übel» dieser Art des Verismus, seine Mängel und Inkonsistenzen, die «naive Weise», mit der er sich der Wahrheit der Geschichte zu nähern versucht. Als Zulieferer jener «oberfläch lichen» Auffassung von Geschichte (s. o.) ist er blind für die «Wahrheit des Ganzen» (deren genauere Bestimmung Barthes hier leider unterlässt). Diese Kritik sollte jedoch nicht vergessen lassen, dass der archäologische Verismus gerade in seinem Scheitern eine Wahrheit zu erkennen gibt – nicht als reflektiertes Produkt jener «intelligenten», sich der «Konflikte der Vergangenheit» bewussten Geschichte, wie sie Barthes vorschwebt, aber doch als ein Zeugnis des Historischen selbst: Symptom des sichtbaren Vergehens der Zeit, absichtslos zur Schau gestellt im anachronistischen Kostüm. Die «morphologischen Anachronismen» des Historienfilms sind insofern nicht bloß der Kollateralschaden einer gescheiterten Dramaturgie: Sie bezeichnen den blinden Fleck der historischen Rekonstruktion, das Mitlaufen der eigenen Gegenwart, das jede Anverwandlung des Vergangenen grundiert. Folgt man der Filmtheorie Kracauers bringt der Film diesen Anachronismus noch sehr viel deutlicher zum Vorschein als der Illusionsraum des Theaters. «Das Wesen der Fotografie lebt in dem des Films fort», heißt es in der Theorie des Films, und für Kracauer ist dieses Wesen an die «registrierende Funktion» der Kamera gebunden.14 «Filme sind, anders gesagt, in einzigartiger Weise dazu geeignet, physische Realität wiederzugeben und zu enthüllen, und streben ihr deshalb auch unabänderlich zu.»15 Kracauers Realismus, seine Hoffnung, der Film könne die «Errettung der äußeren Wirklichkeit» herbeiführen, muss heutigen Lese
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rinnen und Lesern befremdlich erscheinen. Zu deutlich stehen die Möglichkeiten der Bearbeitung und – bis in die dokumentarischen Nutzungen des Films hinein – die Allgegenwart von Inszenierung und Montage vor Augen. Die dramaturgische Gestaltung interessiert Kracauer aber erst an zweiter Stelle. «Nicht das Atelier», so Friedrich Balke, «nicht der Schneideraum, sondern die Kamera ist für Kracauer die zentrale Größe, die über den Realismus eines Films entscheidet» – genauer: die Kamera «als Apparat, der spezifische Möglichkeiten seiner (unauffälligen) Positionierung zulässt, und zwar mitten in einem Geschehen, das nicht eigens für die Kamera angeordnet ist».16 Die Kamera ist «erstmals in der Geschichte fähig, Zeit als das Medium der Veränderung, des Werdens, der Transformation und der Möglichkeit, d. h. des Virtuellen zu speichern […].» (Thomas Elsaesser)17 Dieses Verständnis des Films als Speichermedium und Chronik der laufenden Ereignisse begründet seinen historiographischen Einsatz. Im Film findet Kracauer «die Möglichkeit einer anderen Form der Geschichtsschreibung».18 Was von ihr ‹geschrieben› – in Kracauers Wort: regis triert – wird, bildet ein Reservoir von Bildern, deren zukünftige Bedeutung im Moment der Aufzeichnung noch unentschieden ist. Filme können auf sehr unterschiedliche Weise ‹historisch› sein: indem sie Vergangenes in Szene setzen, es durch Kostüm, Schauspiel und Staffage nachstellen; oder aber, indem sie Bilder einer Gegenwart festhalten, die später – durch das bloße Vergehen von Zeit – historisch werden. Im ersten Fall bietet der Film eine Imagination von Geschichte, im zweiten ist er ein historisches Relikt: Darstellung einer Vergangenheit, zugleich aber auch ein Teil von ihr. Wie die vorangegangenen Kapitel zu Malerei und Fotografie, so konzentrieren sich auch die folgenden Überlegungen zum Film auf einen Teilaspekt des Mediums – seine Aufzeichnungsfunktion, sein Potenzial als historisches Zeugnis.19 Der historische Spielfilm interessiert dabei nur in soweit, als er mit dieser Funktion in Kollision gerät oder aber: indem er sie gezielt aneignet und sich in Gestalt von ‹found footage› ein verleibt. Am Beginn der Überlegungen steht ein Exkurs zu Kracauers Kritik am klassischen Historienfilm. An ihr lässt sich – ex negativo – zeigen, worin ihr Autor das eigentliche Potenzial des Films als Bilderreservoir der Geschichte sieht.
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2. Kracauers Unbehagen Es gibt, bemerkt Kracauer, «verschiedene sichtbare Welten. Man denke zum Beispiel an eine Theateraufführung oder ein Gemälde: auch sie sind real und wahrnehmbar. Die einzige Realität aber, auf die es hier ankommt, ist die wirklich existierende, physische Realität – die vergängliche Welt, in der wir leben.»20 Was Kracauer ausgehend von dieser Bestimmung als filmische Ästhetik formuliert, hat mit dem Wert des Films als Kunst nicht notwendigerweise zu tun. Denn «selbst Filme ohne künstlerischen Ehrgeiz, wie Wochenschauen, wissenschaftliche Filme oder Lehrfilme, schlichte Dokumentarfilme usw.» können «ästhetisch standhalten – vermutlich oft besser als Filme, die, bei aller Kunstbeflissenheit, der gegebenen Außenwelt nur geringe Beachtung schenken.»21 Jeder Versuch nun, der Kamera anstelle jener «wirklich existierenden, physischen Realität» eine künst liche Welt historischer Kostüme und Requisiten vorzuhalten, wird unfehlbar als solcher registriert: der Film erfasst die Realität der Kostümierung, nicht die vergangene Zeit, die mit ihr heraufbeschworen werden sollte. «‹Die Kamera›, sagt Cavalcanti, ‹nimmt die Dinge so wörtlich, daß sie, wenn man ihr verkleidete Schauspieler zeigt, verkleidete Schauspieler sieht, nicht die gemeinten Charaktere.› Historische Kostüme im Film erinnern ans Theater oder an eine Maskerade.»22 In letzter Konsequenz relativiert diese Sichtweise die strikte Trennung zwischen Spielfilm und Dokumentarfilm. Denn strukturell kann ihr zufolge «jeder Film als Zeitdokument benutzt werden» – auch der historische Spielfilm. Es ist, so Gertrud Koch, die «unintendierte, aber unhintergehbare physikalische Aufzeichnungsfunktion der Kamera, die jedes Stück Film zu einem Stück der Vergangenheit werden läßt, das als Subtext noch im fiction-Film mitläuft. […] Mode, Alltagsdesign, Reklamewelten, tausende bedeutsame Zeichen lassen sich finden, die von der Kamera mitgezogen werden, ohne intendiert zu sein.»23 Gegen Kracauers Unbehagen am Historienfilm ließe sich einwenden, dass die registrierende Funktion der Kamera jegliche Form der Inszenierung erfasst – ganz gleich, ob der Film ein historisches Geschehen oder ein in der Gegenwart spielendes in Szene setzt. Auch die Darsteller
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eines Films, dessen Handlung in der Jetztzeit spielt, agieren schließlich in Kostümen und künstlichen Kulissen. Entscheidend für Kracauer ist aber nicht die Inszeniertheit als solche, sondern ihr Umgang mit der historischen Zeit: Der Historienfilm zielt auf Epochen, die aus der Gegenwartserfahrung herausgefallen sind. Sein Versuch, die ver schwundene Welt im Jetzt noch einmal aufzuführen, macht seinen Inszenierungsaufwand unübersehbar. Eine zeitgenössische Handlung im zeitgenössischen Kostüm erscheint dem Filmzuschauer unauffällig; der moderne Schauspieler im Kostüm einer abgelebten Zeit jedoch macht die Verstellung offensichtlich. «Ungleich der jüngsten Vergangenheit läßt sich die historische nur mit Hilfe von Kostümen und Dekorationen inszenieren, die dem Leben der Gegenwart entrückt sind. Beim Anblick dieser notwendig gestellten Dinge kann daher der fürs Medium empfängliche Kinobesucher kaum umhin, Unbehagen zu spüren.»24 Kracauer variiert hier ein Argument, das er drei Jahrzehnte zuvor schon einmal formuliert hatte, damals im Hinblick auf die Zeitgebundenheit der Fotografie (siehe Kapitel 3.3). Während das Foto der Filmdiva auf dem Titelblatt einer Illustrierten den Zeitgenossen des Jahres 1924 e inen Ausschnitt ihrer eigenen Lebenswelt zeigt und historisch unauffällig ist, drängen sich im Foto der Großmutter von 1864 die Signaturen einer fremd gewordenen Epoche auf. Der historische Spielfilm steigert diesen Eindruck von Entfremdung noch, da seine Geschichtlichkeit – anders als im historischen Foto – sich nicht durch das bloße Verstreichen der Zeit von selbst ergibt, sondern in der Gegenwart nachgespielt werden muss. «Die Welt, die sie [historische Filme] zeigen, ist als Reproduktion einer vergangenen Epoche ein künstliches Erzeugnis, vollständig abgetrennt vom Raum-Kontinuum der Lebenden, ein geschlossener Kosmos, der keine Erweiterungen zuläßt.»25 Mit der «registrierenden Funktion» der Kamera geht für Kracauer ein Wirklichkeitsversprechen einher, das auf der Bühne erst gar nicht gegeben wird und insofern auch nicht enttäuscht oder irritiert werden kann.26 Während das Theater seine Kulissen offen als solche zur Schau stellt, präsentiert sich der Film als Ausschnitt einer vorgefundenen Welt, jener «wirklich existierenden, physischen Realität», der die Bilder auf der Leinwand Rechnung tragen müssen. «‹Die Kamera, die an
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jeder Straßenecke stehen könnte›, ist das Emblem der Filmästhetik Kracauers» (Balke).27 Kracauers kategorische Kritik am Historienfilm ist nur nachzuvollziehen, wenn man die Prämisse des Autors von der «Affinität des Films zum Ungestellten»28 hinzunimmt. Die Inszenierungen des Historienfilms können nur dann als Störung der filmischen Ordnung gelten, wenn man zuvor das ungestellte Bild zum Normalfall dieser Ordnung erklärt hat und den Film als Medium begreift, «das der unbeschönigenden Darstellung der Außenwelt zustrebt».29 Ein Blick auf Kracauers Arbeit als Filmkritiker der Frankfurter Zeitung zeigt, dass ihn das Unhehagen am Historienfilm anscheinend erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und als Theoretiker des Films heimgesucht hat. Zwar stößt man auch in den frühen journalistischen Arbeiten auf entsprechende Urteile wie beispielsweise in der Rezension zu Hans Jysers Luther (1927), an dem Kracauer die «Methoden der üblichen Geschichtsklitterung» moniert, den «vermeintlichen Zeitstil» und ein «Personal, dessen Verkleidung jeder Untertertianer durchschaut».30 Aber dem Regisseur Dimitri Buchowetzki gesteht er zu, in seinem Historienfilm Danton (1921) «wahre Wunderdinge» geleistet zu haben,31 und an Fridericus Rex (1920/21) von Arzen von Cserépy missfällt ihm zwar die politische Botschaft, nicht aber die filmische Anverwandlung des achtzehnten Jahrhunderts.32 Kracauers Skepsis in Bezug auf den Historienfilm interessiert im Rahmen dieses Buchs aber ohnehin nicht als Urteil über ein filmisches Genre. Entscheidender ist, dass Kracauers Kritik historischer Rekonstruktion die Möglichkeiten und Grenzen der Wiederholbarkeit des Vergangenen auslotet und zugleich eine Würdigung des Films als Seismograf des Beiläufigen und Randständigen formuliert – als «Lumpensammler» und Spiegel jener «ungestalten, larvenähnlichen Welt […], aus der wir kommen».33 Aus diesem Grund ereilt Kracauer bei der Betrachtung von Lawrence Oliviers Hamlet «etwas wie ein Schock». Die Kamera der ShakespeareVerfilmung von 1948 folgt den Darstellern durch das labyrinthische Schloss Helsingör, und in den wenigen Szenen, in denen sie sich aus dem Inneren der Kulisse ins Freie bewegt, umhüllen Schwaden von Studionebel die Szene oder der Blick geht durch die Fensterbögen hin-
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Abb. 73 Lawrence Olivier, Szene am Fenster, Filmstill aus Hamlet, 1948
durch auf gemalte Landschaftsprospekte (Abb. 73). Der «Schock» erfolgt in einer «kleinen, in sich belanglosen Szene». In rascher Fahrt folgt die Kamera den Windungen einer Treppe in die Höhe empor, begleitet von einer Orchestermusik, die sich ebenfalls dramatisch nach oben windet. Der Blick gleitet über die obersten Stufen ins Freie hinaus und zum ersten Mal erstreckt sich über die gesamte Leinwand ein Stück Außenwelt – der weite, graue Himmel über Helsingör, ein menschenleeres Bild (Abb. 75). Die Musik beruhigt sich, die Kamera fährt langsam senkrecht hinunter und schließlich erfüllt «das reale Meer» das gesamte Blickfeld (Abb. 76).« […] sobald der fotografierte Ozean auf der Leinwand erscheint, verspürt der Zuschauer etwas wie einen Schock. Er kann nicht umhin, diese kleine Szene als einen störenden Fremdkörper zu empfinden, als die Einmischung eines Elements, das mit dem Rest der Bilderwelt unvereinbar ist.»34 Im Kontrast zu den «bizarren, gegen die Außenwelt hermetisch abgeschlossenen Strukturen» öffnet sich ein
195 ⋅ Kracauers Unbehagen
Abb. 74 Lawrence Olivier, Kamerafahrt aufwärts, Filmstill aus Hamlet, 1948
weiter Raum, der jener «Vorstellung des Unbegrenzten», der Aussicht auf potentiell «endlose Realität»35 entspricht, die nach Kracauer ein Wesensmerkmal des Films darstellt. Das «im Atelier erbaute, ausgesprochen kulissenhafte Schloß» stößt hier auf ein Reales, das sich im Raum der Nachstellung als «störender Fremdkörper» zeigt. Kracauer diskutiert diesen Filmausschnitt aus Hamlet, nachdem er im ersten Kapitel der Theorie des Films die «realistische» von der «formgebenden» Tendenz des Mediums unterschieden hat und nun auf die möglichen «Zusammenstöße zwischen den beiden Tendenzen» zu sprechen kommt. An der kurzen Szene registriert Kracauer einmal mehr das irritierende Nebeneinander von «imaginärer Welt» und «Kamera-Realität», nur dass er dieses «unnatürliche Bündnis einander widerstreitender Kräfte»36 diesmal von der anderen Seite her beleuchtet: «Störender Fremdkörper» in Oliviers Hamlet ist nicht der historisch kostümierte Schauspieler, der ‹Vergangenheit› verkörpern
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Abb. 75 Lawrence Olivier, Himmel über Helsingör, Filmstill aus Hamlet, 1948
soll, dabei aber unübersehbar in der Gegenwart steckt; «Störung» und «Schock» erfolgen umgekehrt durch die «Einmischung» des Realen, das sich den Regeln des Schauspiels entzieht. Gleichwohl sind damit zwei Seiten desselben Phänomens beschrieben. Vor allem kann die Rede von der «Einmischung» des Realen – stellt man Kracauers Vorliebe für die filmische Schilderung der physischer Realität in Rechnung – nicht als ‹Störung› im negativen Sinn, als Belästigung des Kinobesuchers durch die Zumutungen der Wirklichkeit, gemeint sein. Die Störung des historischen Films durch das Erscheinen des Meers macht die Geschichtlichkeit des Films offensichtlich.37 Und umgekehrt: Erst seine dramaturgische Rahmung lässt das Meer als «real» erscheinen. Denn es versteht sich von selbst, dass in Hamlet auch das schockhafte Erscheinen des «realen Meer» dramaturgisch in die Handlung eingebunden ist, einem Drehbuch folgt und nicht zuletzt auch durch die begleitende Musik im Imaginationsraum des Films ver-
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Abb. 76 Lawrence Olivier, Das ‹reale› Meer, Filmstill aus Hamlet, 1948
ankert ist. Die «‹rohe Natur› in Form des ‹realen Ozeans›», schreibt Thomas Elsaesser, ist «gerade deswegen so real und präsent, weil sie nicht nur von einem Fenster, sondern auch von Shakespeares Text, dem Bühnenbild und Oliviers Schauspiel und Regie gerahmt ist.»38 Zugleich ist das Meer – wie auch der weite Himmel über Helsingör – ein Zeugnis des Ungestellten und nur bedingt Inszenierbaren. Meer und Himmel sind weder verkleidet noch nachgestellt, sind nicht eigens für den Film ‹gemacht›. Zwar bedurfte es einer dramaturgischen Entscheidung, sie ins Bild zu setzen, zugleich sind sie dort zu sehen, weil sie ohnehin vorhanden waren. Die Kamera setzt ihre langsame Abwärtsbewegung fort. Nach dem fernen Horizont, an dem Himmel und Meer fast ununterscheidbar ineinander übergehen, werden nun auch die Wellen der Brandung und schließlich das felsige Ufer am Fuß des Schlosses sichtbar. Von unten schiebt sich Hamlets Hinterkopf ins Bild, und für einige Augenblicke zeigen sich beide Elemente – Gestell-
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Abb. 77 Lawrence Olivier, Hamlets Silhouette vor der Felsküste, Filmstill aus Hamlet, 1948
tes und Ungestelltes, Schauspiel und Natur – unmittelbar nebeneinander: das blonde, akkurat in Wirbel gelegte Haar des Schauspielers und die weiße Gischt der Brandung; ein Umriss der makellosen, blütenweißen Hemdkrause und die dunkle Silhouette der rauen Felsküste (Abb. 77). Die Szene ist kurz, aber Kracauer sieht in ihr einen Angelpunkt des Films und macht die Irritation des Zuschauers durch die «Einmischung» des Realen sogar zum Prüfstein für dessen Sensibilität für die Grundeigenschaften des Mediums: «Wie der Zuschauer dann darauf reagiert, hängt von seiner Sensibilität ab. Wer für die eigentümliche Beschaffenheit des Mediums nicht viel Sinn hat und sich deshalb auch das g estellte Schloss ohne weiteres gefallen lässt, mag den unvermuteten Anblick roher Natur als eine Entgleisung übel vermerken; wer aber fürs spezifisch Filmische empfänglich ist, dem erhellt sich nun schlagartig der trügerische Charakter von Helsingörs mystischem Glanz.»39
199 ⋅ Kracauers Unbehagen
«Trügerischer Charakter»? Ein starkes Wort. Was ist das für ein Realismus, der den Film auf das Registrieren der «wirklich existierenden, physischen Realität» verpflichten will und die Wirklichkeit der Inszenierung als schnöden Betrug am Realen versteht? Kracauer, so Gertrud Koch, geht es «mitnichten um ein einfaches Widerspiegelungsverhältnis». Man sollte seine Äußerungen zum Film «nicht als starre Ontologien lesen, die auf eine Realität zielen, die quasi erkannt wird und dann die Wahrheit verkörpert». Kracauers ‹Wirklichkeit› ist vielmehr «so etwas wie die ‹Umwelt›, in der wir uns bewegen. Es geht erst einmal gar nicht darum, ob diese Wirklichkeit abgebildet werden kann oder ob wir die Wirklichkeit erkennen können, sondern dass die Kamera in den Fluss eintaucht und damit den lebendigen Strom überträgt und ihn in einem zweiten Medium quasi aufbewahren kann.»40 Um diese Möglichkeit des Aufbewahrens geht es hier. Bekanntlich ist Kracauer nicht der Einzige, der dem Film dieses Potenzial zur Aufbewahrung attestiert. Auch Rudolf Arnheim erinnert an das Zittern der Blätter in den frühen Filmen von Méliès und der BrüderLumière und wählt dabei nicht zufällig ein Motiv, dass sich im Abseits der eigentlichen Handlung dieser Filme hält – ein beiläufiges Detail, das eher mitaufgezeichnet als inszeniert wurde. «[…] wenn wir uns […] ernsthaft mit dem Film befassen wollen, bleiben jene Blätter genauso wesentlich, wie sie es 1895 waren.»41 Und auch Arnheim sieht die Registrierfunktion der Kamera als Widerpart zu den Staffagen des Historienfilms: «als riesige ägyptische Tempel und römische Kastelle auf dem Studiogelände errichtet wurden, beschränkte sich der Beitrag der Natur auf Sonnenlicht, Himmel und Wind.» Und doch lässt sich die unverfügbare Natur nicht restlos aus dem filmischen Bild beseitigen: Es «blieb zweifellos ein Rest von materieller Wirklichkeit übrig, der nicht überwunden werden konnte.»42 Dabei muss es kein Rest «materieller Wirklichkeit» sein, auch nicht, wie in Hamlet, die «rohe Natur» des Meeres, die das Rekonstruktionsbemühen des Historienfilms konterkariert. Man kann hier auch an die Unverfügbarkeit der Tiere denken – die zahllosen Vögel und Insekten etwa, die während der Dreharbeiten zu Historienfilmen unbeabsichtigt ins Bild geraten sind. Als in Dreyers Passion der Johanna von Orléans einer der Kleriker im Verlauf der quälenden Verhöre die
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Abb. 78 Carl Theodor Dreyer, Maria Falconetti als Johanna von Orléans (mit Fliege), Filmstill aus Die Passion der Jungfrau von Orleans, 1928
Gefangene hinterhältig fragt, ob sie angesichts ihrer angeblichen Auserwähltheit des besonderen Heils der Kirche denn gar nicht mehr bedürfe, setzt sich eine Fliege auf die Stirn der Hauptdarstellerin Maria Falconetti (Abb. 78). Auch in Lawrence Oliviers Henry V. (1943/44) und Stanley Kubricks’ Barry Lyndon (1975) durchkreuzen Fliegen die Szene. Das Erscheinen dieser Tiere ist kein dramaturgisch verbürgter Auftritt. Sie sind nicht Teil der historischen Rekonstruktion, sondern waren ohnehin gerade vor Ort und gelangten auf diese Weise mit ins Bild. Neben solchen unabsichtlich gefilmten Tieren gibt es freilich auch solche, die ihren festen Platz in der historischen Erzählung haben: der Hund, der in Luchino Viscontis Ludwig II. (1972) als Haustier Richard Wagners auftritt oder der Adler in Napoleon (1927) von Abel Gance, ein Exemplar aus dem Tierpark Hagenbeck in Hamburg (Abb. 79). Dieser
201 ⋅ Kracauers Unbehagen
Abb. 79 Abel Gance, Vladimir Roudenko als junger Napoleon Bonaparte mit Adler, Filmstill aus Napoleon, 1927
Adler, so Ursula von Keitz, «taucht an den emotionalen Extrempunkten des Films auf und entwickelt sich in seiner Zeichenfunktion vom szenisch realen, tierischen Gefährten Napoleons zur Metapher für
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dessen heroische Größe und schließlich zu seinem Abbild».43 Jenseits seiner Funktion als Zeichen, Metapher und Abbild ist dieser Adler aber auch ein wirkliches Tier in einem Filmstudio, das von Abel Gance und seinem Drehbuch nichts weiß und seinen eigenen Instinkten folgt. Das Tier leidet unter dem grellen Licht und der Hitze der Bogenlampen.44 Als das Drehbuch vorsieht, dass der Adler dem jungen, von seinen Kameraden gepeinigten Napoleon entgegenfliegt, bleibt er ungerührt auf seinem Ast sitzen, und der Dresseur muss mit einem Stock gegen die Baumattrappe schlagen, um das unwillige Tier zum Abflug zu bewegen. Im fertigen Film ist von dieser Widerspenstigkeit nichts zu sehen. Die als misslungen erachteten Szenen wurden herausgeschnitten, und am Ende fügen sich die Tiere äußerlich dem Als ob des historischen Schauspiels ein. Und doch lebt in ihrer Gegenwart im Historienfilm ein Moment von Fremdheit und Unverfügbarkeit fort – jene von Kracauer (am Beispiel des Meeres) beschriebene «Einmischung eines Elements, das mit dem Rest der Bilderwelt unvereinbar ist.» In der Weltvergessenheit der Tiere zeigt sich, dass sie der Zeit des Historienfilms nicht angehören. Sie versetzen sich nicht (wie die Schauspieler) zurück und spielen keine Rollen. Ihr Erscheinen im Film, schreibt Béla Balázs, «ist keine Kunst, sondern belauschte Natur.» Denn im Unterschied zu den Schauspielern, deren Gefühlsdarstellungen auf gekonnter Illusion beruhen, sind die Ausdrucksgebärden der Tiere «echteste Tatsache»: «Die besondere Freude, Tieren auf dem Film zuzusehen, liegt darin, daß sie nicht spielen, sondern leben. Sie wissen nichts vom Apparat und machen ihre Sache mit naivem Ernst. Selbst wenn sie dressiert vorgeführt werden, wissen nur wir es, daß es Komödie ist.»45 Auch das gilt für sämtliche Spielfilme und ist daher kein Spezifikum des Historienfilms. Im Historienfilm ist der Eigensinn der Tiere aber oftmals augenfälliger, da sie die inszenierte Welt der Vergangenheit, um Kracauers Begriff zu übernehmen, als «Fremdkörper» bewohnen. Kracauers Faszination für das zufällig Registrierte führt ihn zu einem Gedankenexperiment des französischen Kunsthistorikers Élie Faure – einer «science-fiction-Fantasie». Faure imaginiert einen Dokumentarfilm, «der jetzt von einem weltenfernen Stern aus aufgenommen worden ist und uns entweder durch ein Projektil geschickt oder durch interplanetare Projektion zugänglich gemacht wird.» Hier wären Bil-
203 ⋅ Kracauers Unbehagen
der einer fernen Vergangenheit zu sehen, in die der Film bislang nicht vordringen konnte. «Ließe dieser Traum sich verwirklichen, würden wir zu Augenzeugen des Abendmahls, der Agonie im Garten Gethsemane, der Kreuzigung.» Kracauers Interesse an der interplanetaren Wiedergabe der Passion richtet sich erwartungsgemäß nicht zuletzt auf die «scheinbar belanglosen Begleitvorgänge», die den Wirklichkeitsgehalt der Aufzeichnung verbürgen würden – die «kartenspielenden Soldaten, die von Pferdehufen aufgewirbelten Staubwolken, die Menschenmengen, die Lichter und Schatten in einer verlassenen Straße.»46 An ihnen offenbart sich die Zeugnisfunktion des Films. Dass sie für das Hauptgeschehen unbedeutend sind, aber gleichwohl überliefert werden, macht sie zu Statthaltern des Realen. Ihr Erscheinen zeigt an, dass die Kamera auch dort noch registriert, wo sich scheinbar nur Nebensächliches ereignet. Kracauers Realismus folgt an dieser Stelle derselben Logik, die hier bereits als «Wirklichkeitseffekt» der Historienbilder Meissoniers beschrieben wurde – mit dem entscheidenden Unterschied allerdings, dass die im Film gezeigten Nebendinge ihre Existenz nicht künstlerischer Könnerschaft und Imagination, sondern der Aufzeichnungsfunktion der Kamera verdanken. Auch wenn Kracauer seinen Gedanken zum Film an dieser Stelle die utopische Gestalt einer «science-fiction-Fantasie» verleiht, wird in ihr ein Potenzial der Kamera beschrieben, das auch im gewöhnlichen Film am Werk ist. Zur bestätigenden Funktion des Wirklichkeitseffekts («Wir sind das Wirkliche») tritt hier ein weiteres Motiv hinzu: Das Wirkliche ist ungeordnet, die Kamera erfasst nicht nur zahllose Details, sie lässt auch ihr semantisches Gewicht tendenziell im Unbestimmten. Zwar rückt auch der registrierende Film im Sinne Kracauers einzelne Motive ins Zentrum, andere ins Abseits. Doch erfasst er auch «den Hof un gewisser Zeichen» (Lethen).47 Was als bedeutend oder unbedeutend gelten soll, steht im Akt des Registrierens noch aus: Eine spätere Zeit wird sich vielleicht ihr Bild davon machen.
204 ⋅ Found footage und die verlorene Zeit
3. «Geriesel» – San Francisco, 14. April 1906 Am Nachmittag des 14. April 1906 überquerte ein Bote der Western Union die Market Street in San Francisco. In der Hand trug er ein Bündel Papier, und die vorüberfahrende Straßenbahn, in deren Richtung er ein unbestimmtes Zeichen gab, setzte ihre Fahrt unbeirrt fort. Unentwegt kreuzten Passanten die Fahrbahn, Dutzende von Fahrzeugen waren unterwegs: elektrische Straßenbahnen, Automobile, Wagen der Post und der städtischen Wasserversorgung, Fahrräder, ein unbeladenes, hölzernes Pferdefuhrwerk, ein anderes, über und über mit verschnürten Waren beladen. Zwei Jungen hielten sich im Lauf am Rückenpolster eines fahrenden Automobils mit offenem Verdeck fest. Zwischen 3th und 4th Street überquerte ein Polizist mit weißen Handschuhen die Fahrbahn, in der rechten Hand einen Schlagstock, der kurz im Sonnenlicht aufblitze. Eine Frau mit einem großen, blumengeschmückten Hut bestieg eine Straßenbahn, in der Lücke zwischen zwei Fahrzeugen trat ein Straßenfeger hervor und säuberte mit seinem Strohbesen die Fahrbahn. An den Hausfassaden waren Reklamen und Firmennamen zu lesen: Ein Schriftzug warb für Zigarren der Marke Nathaniel Hale, ein anderer, dessen Buchstaben einen Halbkreis beschrieben, für Californias Best Beer. Eine Straßenbahn mit der Aufschrift Sight Seeing Car querte die Market Street und setzte ihre Fahrt in Richtung Kearny Street fort. Gegenüber dem Palace Hotel flatterten zwei Fahnen im Wind, in den Pfützen standen noch die Reste des letzten Regens, und die Uhr am Turm des Ferry Buildings zeigte Viertel nach drei. Diese Geschehnisse sind im Film A Trip Down Market Street über liefert, aufgenommen von einer Kamera, die der Filmpionier Harry Miles an der Frontseite einer fahrenden Straßenbahn montiert hatte.48 Die Fahrt beginnt an der Kreuzung von Hyde Street und Market Street und führt in gerade Linie auf das von weitem schon sichtbare Ferry Building zu. Kracauer hätte A Trip Down Market Street zweifellos gemocht. Denn der dreizehnminütige Film zeigt einen Schauplatz, den er als eines der grundlegenden Motive des Kinos benannt hatte: die Straße, «Sammelpunkt flüchtiger Eindrücke», ein «Geriesel» und
205 ⋅ «Geriesel» – San Francisco, 14. April 1906
Abb. 80 Harry Miles, Straßenszene, Filmstill aus A Trip Down Market Street, 1906
«Gemenge von Menschen und Dingen».49 Im Film ist das «Geriesel» festgehalten (Abb. 80). Der Postbote, der Straßenfeger, die Frau mit dem blumengeschmückten Hut – sie alle hat es gegeben, und der Film zeigt ihr flüchtiges und zufälliges Zusammentreffen an diesem einen Tag zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Hier zeigt sich das Spezifikum des Films. Die Fotografie stellt Menschen und Dinge still, die «Affinität zum Kontinuum des Lebens» ist ihr versagt. Die Filmkamera hingegen kann in den «Fluß des Lebens» eintauchen, «eine Art von Leben, das noch, wie durch eine Nabelschnur, aufs engste mit den materiellen Phänomenen verbunden ist».50 Sein Kennzeichen ist das Ungeordnete, Flüchtige und Richtungslose des Geschehens. «Die kaleidos kopisch wechselnden Konfigurationen unidentifizierter Ge stalten und fragmentarischer visueller Komplexe heben sich gegenseitig auf, so daß der müßige Betrachter nicht dazu kommt, irgendeiner ihrer unzähligen Suggestionen wirklich zu folgen.»51 Es gehört zu den Eigen-
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arten des Films, das im «Fluß des Lebens» Erfasste im Unbestimmten zu belassen. Angesichts der «Menge skizzenhafter, völlig unbestimmbarer Figuren» im Großstadtfilm notiert Kracauer: «Jede hat ihre persönliche Geschichte, aber die Geschichte wird nicht mitgeteilt.»52 Kurz nach Fertigstellung des Films verschickte Harry Miles die Negative an die New Yorker Dependance seines Unternehmens. Als der Film wenige Tage später an der Ostküste eintraf, waren große Teile San Franciscos und der Market Street durch das Erdbeben vom 18. April 1906 zerstört, darunter auch das Studio der Miles Brothers im Haus Nr. 1139. Die wenige Tage zuvor aufgenommenen Bilder, Szenen einer belebten Stadt, waren unversehens zu Nachbildern geworden, Erinnerung an eine verlorene Welt, deren Phantom im Licht der Projektoren über die Leinwand huschte. Die Katastrophe hatte schlagartig herbeigeführt, was auch ohne sie geschehen wäre, nur eben sehr viel langsamer, unmerklich, im Laufe der Zeit, nämlich die Alterung der Bilder, ihre Verwandlung von Ansichten des Zeitgeschehens in historische Relikte. Folgt man Kracauers Bestimmung des Films als Notation einer «wirklich existierenden, physischen Realität», ist diese Zeugnisfunktion prinzipiell jedem Film mitgegeben, auch ohne dass ein Desaster wie das Erdbeben von 1906 es schlagartig zum Vorschein bringen müsste. Jede Aufzeichnung nimmt das Verschwinden ihres Gegenstands bereits vorweg: «Wenn wir jemanden zu seinen Lebzeiten mit Namen rufen oder nennen, wissen wir, daß sein Name ihn überleben kann und ihn bereits überlebt, daß er bereits zu seinen Lebzeiten damit beginnt, sich von ihm zu lösen, indem er jedes Mal, wenn er in eine Liste, ein amtliches Register oder eine Signatur eingeschrieben wird, seinen Tod aussagt und vorträgt. […] er ist von Anbeginn ‹in Gedenken an›» (Jacques Derrida).53 Ähnliches lässt sich von der Aufzeichnungsfunktion des Films sagen. Die Bilder der Passanten, die sich am 14. April 1906 in der Market Street im Radius der Kamera bewegt haben, sind seit dem Moment dieser Aufnahme ‹in Gedenken an›. Zum Überleben gehört auch die Physis der Bilder. Langs Metapher vom Film als «Büchse mit kondensiertem Leben»54 spielt darauf an. Neben seiner Erscheinung als ephemeres Lichtbild oder YouTube-Video ist der Film auch ein physisches Relikt – ein Ding, das eingerollt, verpackt und in einem Zugabteil vor seiner Zerstörung gerettet werden konnte.
207 ⋅ «Geriesel» – San Francisco, 14. April 1906
Abb. 81 Harry Miles, Straßenszene, Filmstill aus A Trip Down Market Street, 1906
In seiner äußerst reduzierten Dramaturgie entspricht A Trip Down Market Street Kracauers Verständnis der Kamera «als Apparat, der spezifische Möglichkeiten seiner (unauffälligen) Positionierung zulässt». Er registriert ein «Geschehen, das nicht eigens für die Kamera an geordnet ist» (Balke). Das schließt nicht aus, dass die Gegenwart der Kamera bemerkt wird: Zahlreiche Passanten blicken ins Objektiv, einige winken dem Kameramann zu, beim Erreichen der Endstation, zugleich das Ende des Films, drängen sich einige Jungen ins Blickfeld und schwenken lachend ihre Mützen.55 Aufmerksamen Zuschauern wird auch nicht entgehen, dass immer wieder ein- und dasselbe Fahrzeug das Bildfeld kreuzt (Abb. 81). Der Wagen mit dem Kenn zeichen 4867 schiebt sich von links ins Bild, steuert den rechten Straßenrand an, verschwindet im Off, um wenig später wieder auf der linken Seite aufzutauchen und erneut zum Überholmanöver anzu-
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setzen. Sechsmal kreuzt das Fahrzeug auf diese Weise das Bild. Der Filmhistoriker David Kiehn hat anhand historischer Zulassungslisten für die Automobile San Franciscos den Fahrer des Fahrzeugs ermittelt: Es handelt sich um Mr. Jay Anway, und Kiehn vermutet wohl zu Recht, dass Anways wiederholtes Überholmanöver einem vorgegebenen Skript folgt, der Fahrer also instruiert war. Demnach hat Miles das Treiben auf der Market Street nicht einfach registriert, sondern zugleich auch auf es eingewirkt, um den Eindruck urbaner Belebtheit zu erhöhen. Der Fahrer des Wagens 4867 ist Passant, aber zugleich auch Darsteller eines Passanten. Miles’ dramaturgischer Eingriff ändert aber nichts daran, dass der Film in weiten Teilen von der Unvorhersehbarkeit des Geschehens bestimmt wird – das «Geriesel» lebt wesentlich vom Zufall. Inwiefern aber sind die Bilder vom 14. April 1906 ‹historisch›? Genügt das flüchtige Winken nach einer vorüberfahrenden Tram bahn, das Überqueren einer Fahrbahn, um im Medium des Films in ‹die Geschichte› einzugehen? Welche Art historischer Zeugenschaft soll das sein? Kracauer wird nicht müde, auf das Beiläufige, Zufällige und Randständige im Umkreis der Kamera hinzuweisen. Die Kamera dringt in eine Sphäre ein, in der die Aufteilung in nichtige und weltbewegende Ereignisse, historische Akteure und Statisten noch nicht stattgefunden hat und über Wert oder Unwert des Gezeigten noch nicht entschieden ist. Kracauers «Kamera-Realität», so Friedrich Balke, ist «durch einen Moment der technisch bedingten ‹Gleichstellung› der abgebildeten Phänomene definiert und bringt damit die etablierten Ordnungen und Hierarchien ins Wanken, die darüber befinden, was darstellungswürdig ist und was nicht.»56 Die Kamera erfasst Erscheinungen und «Ausfallerscheinungen», Menschen und «all den Abfall, den sie hinter sich lassen», sie zeigt den gekreuzigten Christus (im Gedankenexperiment Élie Faures) ebenso wie den Postboten der Western Union, der wenige Tage vor dem Erdbeben die Market Street entlanggegangen ist. «Jede hat ihre persönliche Geschichte», heißt es über die Figuren im Straßenfilm, «aber die Geschichte wird nicht mitgeteilt.» (s. o.) Auf die Hintergründe kommt es Kracauer nicht an. Was die Passanten bewegt, wie sie leben, woran sie glauben, gibt der Film nicht zu erkennen. Und
209 ⋅ «Geriesel» – San Francisco, 14. April 1906
doch traut Kracauer den Bildern zu, im «Geriesel» einen «Seinsbestand» zu erfassen. Zur Straße im Film gehört es, dass «sich bei ihrem Erscheinen die verschiedenen Intentionen neutralisieren. Übrig bleibt der Eindruck: auf der Straße herrscht ‹Bewegung›, ‹Leben› … Das heißt aber, daß die verfilmte Straße (oder die Bar, der Bahnhof usw.) Menschen auf eine Art zeigt, die Intentionen von ihnen fernhält und sie so besonders transparent gegen ihren Seinsbestand macht».57 «Seinsbestand» – kein unbescheidener Begriff. Er zeigt sich hier aber jeglicher Inhaltsschwere entkleidet. Kracauer denkt an einen «Seinsbestand» ohne ontologische Tiefe, kein Konzentrat aus Eigentlichem, eher ein loser «Bodensatz» von Äußerlichkeiten – dasjenige, was übrig bleibt, wenn vom «Fluß des Lebens» die Intentionen abgezogen sind.58 Theologisch inspirierte Leser der Theorie des Films, «möglicherweise angezogen vom amerikanischen Untertitel – müssen erschreckt feststellen, dass sich die versprochene ‹Erlösung› auf so etwas Triviales wie das blinde Treiben der Dinge, das die Kamera einfängt, bezieht» (Lethen).59 Man kann hier auch an Kracauers Begriff des «Rohmaterials» denken. In Anlehnung an Proust erscheint er in der Theorie des Films zuerst im Fotografie-Kapitel. Fotografien, so die bereits zitierte Stelle, übermitteln «Rohmaterial, ohne es zu definieren». Dieselbe Enthaltsamkeit attestiert Kracauer dem Film. Die Kamera registriert «gegebenes Rohmaterial»,60 ohne dessen Sinn zu taxieren. Erst von hier aus erschließt sich Kracauers Engführung von Film und Geschichte, wie er sie vor allem in seinem letzten Buch, Ge schichte. Vor den letzten Dingen, formuliert hat – selbst erstaunt darüber, «daß mein Interesse an der Geschichte […] eigentlich aus den Ideen hervorging, die ich in meiner Theorie des Films auszuführen suchte.»61 Geschichtsschreibung und Film, so die These, seien in ihren Grundstrukturen einander ähnlich. Diese «Analogie zwischen der Geschichtsschreibung und den photographischen Medien» ist «nicht einfach ein bequemes Hilfsmittel, sondern geht aus der unumstöß lichen Tatsache hervor, daß die Arbeit in beiden Bereichen von identischen Bedingungen abhängt: Beide Kunstfertigkeiten müssen sich mit vorgegebenen Welten vergleichbarer Struktur befassen und daher die schöpferischen Möglichkeiten der Künstler auf ähnliche Weise kanalisieren.»62 Die «deutlichsten Entsprechungen» zur Geschichtsschrei-
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bung weisen «Dokumentarfilme» auf, «die die (physische) Realität unvermittelt porträtieren sollen.»63 Kracauers Analogien sind nicht durchweg überzeugend. So spricht er beispielsweise von «den photographischen Medien» und unterschlägt mit dieser Generalisierung die Differenz zwischen dem Ablauf von Zeit im filmischen Bewegtbild und ihrer dauerhaften Stillstellung im Medium der Fotografie. Auch finden die Besonderheiten von Bild und Text, Kinematographie und Geschichtsschreibung kaum Beachtung. Und welche Instanzen genau will Kracauer eigentlich vergleichen? Den Historiker mit dem Filmregisseur? Oder den schreibenden Historiker mit der Aufzeichnungsfunktion der Kamera? Im Zusammenhang dieses Buches interessiert aber weniger die Frage, inwieweit Geschichts schreibung und Film zwei Tätigkeiten sind, die einander ähneln, als vielmehr der Gedanke, dass die Herstellung eines Films für sich genommen bereits eine Form von Geschichtsschreibung ist, genauer: die Bildung eines Reservoirs, das dem zukünftigen Historiker zuarbeitet. De Certeaus Metapher von den «Mülleimern der Geschichte» in denen der Historiker/«Clochard» nach «unsinnigen Resten, Abfällen und Manuskripten» sucht, um daraus ein Bild des Vergangenen zu entwerfen, trifft sich mit Kracauers Verständnis der Kamera als «Lumpensammler» und der Affinität des Films zum «Abfall».64 Geschichtsschreibung und Film verbindet die Tätigkeit des Sammelns. Sehr deutlich zeigt das Kracauers Kritik aller Versuche, «den projektiven Charakter von Geschichtsschreibung» zur eigentlichen Grundlage zu machen.65 Geschichtstheoretikern wie Benedetto Croce und Robin George Collingwood wirft Kracauer vor, dass sie den Historiker in einer statischen Bindung an seine Zeit verhaftet sehen, die sein historisches Interesse dominiert und ihn blind macht für das «vor gegebene Material»: «Historiker, die geradewegs vom Gegenwart-Interesse ausgehen, sind geneigt, das Belegmaterial zu verdunkeln und sogar zu unterdrücken. […] Die Angriffslust des Forschers tendiert dazu, die Vergangenheit zurück in die Vergangenheit zu scheuchen; anstatt die Texte zum Sprechen zu bringen, bestreitet er den größten Teil der Unterhaltung selbst.»66 Dagegen hält Kracauer die «chronologische Exteriorität» des Historikers, der seiner Zeit zwar unweigerlich angehöre, aber zugleich auch für den Zuspruch vergangener Zeiten
211 ⋅ «Geriesel» – San Francisco, 14. April 1906
empfänglich sei. Der Deutung der Quellen soll ein «Zustand passiver Haltung» vorausgehen, der den «Zustrom von Einzelheiten» begünstigt. «Nur in diesem Zustand der Selbstauslöschung oder Heimatlosigkeit kann der Historiker mit dem Material, das ihm am Herzen liegt, vertraulich verkehren.»67 Kracauers Ideal des Historikers im Zustand «aktiver Passivität»68 soll hier nicht weiter diskutiert werden. Entscheidend ist hier, was es im Rückschluss über das historiographische Potenzial des Films besagt. Collingwood vergleicht den Historiker mit einem Detektiv, der durch logische Schlüsse und planmäßiges Denken zu seinen Resultaten kommt. «Dieses für einen Collingwoodschen Historiker archetypische Modell verspottet die Polizei dafür, daß sie alles aufnimmt, was sich am Ende als Anhaltspunkt erweisen könnte, und behauptet im strengen Gegensatz zu den kleinlichen Methoden der Polizei energisch, das Geheimnis des Ermittelns liege darin, seine ‹kleinen grauen Zellen› zu benutzen.»69 Kracauers Sympathie gilt hingegen den ‹dummen› Ermittlern, den Archivaren und Sammlern, die wie Philip McDonalds Scotland Yard-Ermittler Arnold Pike alles registrieren, was sie vorfinden – gerade weil sie noch nicht wissen, was es später vielleicht einmal bedeuten wird. Auch sie agieren nicht blind und absichtslos, sondern folgen einem Skript. Aber ihre Akkumulation von Einzelheiten geschieht in der Absicht, einen Überschuss an noch Unbestimmtem herzustellen. Dieser Haltung des Detektiv-Historikers entspricht im Denken Kracauers die Aufzeichnungsfunktion der Kamera. Auch sie wird von einer Absicht gesteuert, operiert nicht ungerichtet und ‹von sich aus›. Aber ihr Registrieren erzeugt ein Reservoir an Unvorhersehbarem: Rohmaterial, das entziffert werden muss, aber der Ordnung von Hauptund Nebensachen, Bedeutung und Abfall vorausgeht. Dem «Zustrom von Einzelheiten», dem sich der Historiker nach Kracauer aussetzen soll, entspricht im Film das «Geriesel». Vielleicht erklärt dieses Lob des Sammelns auch eine der rätsel haftesten Passagen des Geschichtsbuchs. In ihr führt Kracauer aus, dass quellenorientierte Geschichte unverzichtbar ist, dass es für sie zugleich aber keine Letztbegründung geben kann. «Es gibt nur ein einziges Argument zu ihren Gunsten, das ich für schlüssig halte. Es ist
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jedoch ein theologisches. Ihm zufolge ist die ‹vollständige Sammlung der kleinsten Fakten› aus dem Grund erforderlich, daß nichts ver lorengehen soll. Es ist, als sollten die tatsachenorientierten Darstellungen Mitleid mit den Toten haben. Das rechtfertigt die Gestalt des Sammlers.»70 Bezieht man hier die Kamera als «Lumpensammler» mit ein, kommt zu den genannten Bestimmungen des Wirklichkeits effekts – das Detail als Zeichen des Realen, die Entmischung von Haupt- und Nebensachen – eine dritte hinzu: nichts soll vergessen werden, die Aufbewahrung selbst «der kleinsten Fakten» entspricht der «Empfänglichkeit für das sprachlose Plädoyer der Toten».71 In den folgenden Kapiteln möchte ich Kracauers Überlegungen zum historiographischen Potenzial des Films als Ausgangspunkt nehmen und in einigen konkreten Fallstudien fragen, inwieweit sie auch heute noch tragfähig sind. Ist Kracauers Vision einer filmischen «Errettung der Wirklichkeit» sechzig Jahre nach ihrer Niederschrift noch zu retten?
4. Zweimal found footage – The Stranger (1946) und Overlord (1975) Die Utopie eines zur Zeit Christi aufgenommenen Dokumentar films führt zu einer für die Geschichte des Historienfilms bemerkenswerten Zäsur: An ihrem Beispiel unterscheidet Kracauer zwischen Historienfilmen, deren Handlung in Zeiten nach der Erfindung des Films angesiedelt ist, und solchen, die «sich mit Jahrhunderten auseinandersetzen, in denen der Film und die ihm zugeordnete Welt noch gar nicht existierten.»72 Im zuletzt genannten Fall führt der Film seinen Zuschauern eine Zeit vor Augen, die ihrer unmittelbaren Erfahrung entzogen ist.73 An dieser Stelle geht es aber nicht noch einmal um den Hinweis auf die allmähliche Entrückung des Vergangenen: Kracauers Argument ist vielmehr ein historiographisches, zugleich filmspezi fisches. Demnach lässt die Vergangenheit sich in zwei Zeiträume unterteilen: die filmisch dokumentierbare Zeit nach 1895 und die langen, bewegtbildlosen Jahrhunderte zuvor. Kein Kamerabild ist aus dieser Zeit
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überliefert, der Historienfilm nähert sich ihr folglich retrospektiv und «als Fremdling».74 Niblos Ben Hur, Dreyers Passion der Jungfrau von Orleans oder Gance’ Napoleon imaginieren Bilder einer Vergangenheit, die kein Kameraauge zuvor registriert hat. Ein Historienfilm hingegen, dessen Handlung nach der Erfindung des Kinos einsetzt, trifft auf die Nachbarschaft anderer, bereits vorhandener Filmbilder. Die Bilder t reten zwangsläufig in ein Verhältnis zu historischen Filmaufnahmen der Zeit – ganz gleich, ob dieses Bildreservoir aktiv genutzt wird oder nicht. Für die folgenden Überlegungen ist die beschriebene Zäsur von Bedeutung, denn aus ihr ergibt sich die Möglichkeit des Films, in den Handlungsverlauf historisches Bildmaterial zu integrieren. Kracauer nennt als Beispiel Frank Lloyds «wunderbaren Film» Calvacade (1933), der, beginnend in der Silvesternacht 1899, die Geschichte einer Londoner Familie vor dem Hintergrund historischer Ereignisse – des Zweiten Burenkrieges in Südafrika, des Todes der Königin Victoria, des Ersten Weltkriegs – erzählt. «[…] nichts erregender in ihm als die Szenen, die den Abtransport der Truppen zum Burenkrieg, den Flug Blériots über einem englischen Badestrand und die Beerdigung der Königin Victoria schildern».75 Bei diesen Szenen handelt es sich um historische Wochenschauaufnahmen, found footage, die Lloyd mit der fiktiven Spielfilmhandlung verwoben hat. Der Begriff des found footage wurde zu Recht wiederholt in Frage gestellt.76 Denn was genau bedeutet hier ‹finden›? Die wiedereingesetzten Bilder, etwa die Wochenschaueinlagen in Lloyds Calvacade, stießen dem Regisseur schließlich nicht unerwartet zu. Vielmehr hat Lloyd nach ihnen gesucht, sie gesichtet und gezielt ausgewählt. Und doch trifft der Begriff etwas Richtiges, wenn man ‹finden› im Sinne von ‹vorfinden› versteht. Gemeint sind dann «Filme, bei denen die Macher auf das Drehen verzichten, um aus Bildern, Bildsequenzen und (Ton-) Aufnahmen, die von anderen stammen, ein eigenständiges Filmwerk herzustellen».77 Die Kompilation kann ausschließlich aus vorgefun denen Filmfragmenten bestehen oder aber diese mit neuen, eigenen Aufnahmen kombinieren. In den folgenden Teilkapiteln werden Beispiele für beide Verwendungsweisen diskutiert: die französische Fernsehserie Apocalypse. La deuxième guerre mondiale (2009), Peter Jacksons
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Abb. 82 Orson Welles, Filmstill aus The Stranger, 1946
Dokumentarfilm They Shall Not Grow Old (2018) sowie Harun Farockis Aufschub (2007) sind Kompilationen ohne neu hinzugefügte Bilder; Orson Welles’ The Stranger (1946) und Stuart Coopers Overlord (1975) nehmen historisches Bildmaterial in die Spielfilmhandlung auf. The Stranger erzählt die fiktive Geschichte des Kriegsverbrechers Franz Kindler, eines maßgeblichen Organisators der sogenannten ‹Endlösung›. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs lebt Kindler unerkannt in einer amerikanischen Kleinstadt, wo er als anerkanntes Mitglied der Gemeinde an der lokalen Universität Geschichte unterrichtet. Ein Fahnder der alliierten Kriegsverbrecherkommission (Mr. Wilson) spürt Kindler auf und enthüllt seine wahre Identität. Zunächst gelingt es ihm jedoch nicht, auch Kindlers Frau von der Schuld ihres Mannes zu überzeugen. Um ihr ein Bild der nationalsozialistischen Verbrechen zu geben, führt Wilson ihr die von den Alliierten gedrehte Dokumentation Nazi Concentration Camps vor. Für die
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Abb. 83 Orson Welles, Filmstill aus The Stranger, 1946
Dauer der Vorführung verwandelt sich das heimische Wohnzimmer in ein Privatkino, und auf der provisorischen Leinwand erscheinen Bilder von der Befreiung der Lager (Abb. 82, 83). Hier ist vor allem von Interesse, wie der Film die Übergänge zwischen Spielfilmhandlung und integriertem Bildmaterial gestaltet. Die Ästhetik des film noir und die Rohheit der Dokumentaraufnahmen, der bürgerliche, wohlgeordnete Wohnraum und die Welt der Lager stehen sich als geschlossene Sphären gegenüber. Obwohl erzählerisch in die Handlung eingebunden, wirken die Filmaufnahmen innerhalb der fiktiven Handlung des Films wie Monaden, Fragmente des Realen. Auch formal sind sie deutlich als Film im Film erkennbar – gerahmt durch das Rechteck der Leinwand, eine Bildfläche, die in einer Einstellung der Szene den Schatten Wilsons zu erkennen gibt (Abb. 84). Am Ende der Vorführung löst sich das eine Ende des Filmstreifens aus dem Projektor und rotiert noch eine Weile weiter im Leeren, bevor Wilson
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Abb. 84 Orson Welles, Filmstill aus The Stranger, 1946
das Gerät abschaltet. Die Projektion ist beendet, der Spielfilm nimmt seine Erzählhandlung wieder auf. Für die Dauer der Vorführung überlagern sich Spielfilm und historische Dokumentation, ohne jedoch ihre Erkennbarkeit als eigenes Genre einzubüßen. Die physische Einverleibung eines Stücks Films in einen anderen Film ist in gewissem Grad der Verwendung von Spolien in der Architektur vergleichbar. Wie die Spolie wird found footage dem neuen Kontext als Fragment einer vergangenen Zeit einverleibt (wobei es sich auch um die jüngste Vergangenheit handeln kann), lässt die Bruch linien in der Regel aber deutlich erkennen. The Stranger etwa markiert die Differenz sehr deutlich, indem die integrierten Bilder als Film im Film inszeniert werden. Das folgende Beispiel, Stuart Coopers Over lord, erinnert an eine andere Form der Verwendung von found footage. Der Film, benannt nach dem Kennwort der Alliierten für die Invasion in der Normandie, erzählt die Geschichte des jungen Engländers
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Abb. 85 Stuart Cooper, Filmstill aus Overlord, 1975
Tom Beddows, der 1944 eingezogen wird, noch einen letzten Nachmittag mit seinen Eltern verbringt, in kurzer Zeit eine notdürftige Grundausbildung absolviert und schließlich den Befehl zum Einsatz an der Südküste Englands erhält. Cooper folgt der Konvention des Hollywood-Kriegsfilms, «den Zuschauern Zeit zu geben, mit den Darstellern vertraut zu werden, bevor diese sterben.»78 Als Beddows bei der Invasion in der Normandie in einem der ersten anlandenden Boote den Tod findet, hat man ihn zuvor im Haus seiner Eltern ge sehen, seine lange Anreise in die Kaserne verfolgt, seine Begegnung mit einer jungen Frau auf einem Dorffest miterlebt und von seinen Gedanken über den Krieg erfahren. Da es an dieser Stelle nicht um eine eingehende Interpretation der Filmhandlung geht, sondern um Coopers Umgang mit vorgefundenem Bildmaterial, beschränke ich mich im Folgenden auf diesen einen Aspekt. Cooper hat vier Jahre lang im Londoner Imperial War Museum recherchiert, las Briefe und Tagebücher von Soldaten und sichtete über dreitausend Stunden historisches Filmmaterial: Bilder aus Wochenschauen, vor allem aber Aufnahmen filmender Soldaten der Armee, der
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Abb. 86 Stuart Cooper, Filmstill aus Overlord, 1975
Marine und der Air Force (Abb. 85, 86) Die Schauspieler in Overlord wurden von Marinesoldaten trainiert, Cooper setzte o riginale Uniformen, Waffen und Requisiten aus dem Imperial War Museum e in, eines der erhaltenen Landeboote wurde verwendet, ein Lancaster-Bomber wieder flugtauglich gemacht und für die Aufnahmen verwendet. Vor allem aber hat Cooper Teile des historischen Archivmaterials mit seinen eigenen Aufnahmen zusammengeschnitten – dreißig Prozent des Films bestehen aus historischem Archivmaterial des Imperial War Museums, siebzig Prozent sind Spielfilmhandlung. Der Kameramann John Alcott (der später auch Stanley Kubricks Barry Lyndon gedreht hat) drehte die Spielfilmteile mit historischen Objektiven von 1938, um der Textur des Archivmaterials möglichst nahezukommen. Coopers Film dient hier vor allem als Folie und Vergleichsbeispiel für die in den folgenden Teilkapiteln diskutierten Formen des Umgangs mit found footage. Anders als Orson Welles in The Stranger setzt Cooper in Teilen des Films auf eine visuelle Verschleifung von historischem Archivmaterial und Spielfilm, behält deren Differenz aber zugleich bei. In zahlreichen Sequenzen sind die Übergänge zwischen
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Abb. 87 Stuart Cooper, Filmstill aus Overlord, 1975
historischen und nachgedrehten Bildern deutlich zu sehen – etwa in den Luftbildaufnahmen, die ohne direkten erzählerischen Zusammenhang in die Filmhandlung eingestreut werden und mit denen der Film auch beginnt. Zugleich legt das Nacheinander der Bilder es aber doch nahe, beide Bildfolgen als gleichzeitige Ereignisse zu sehen: Während sich Beddows auf dem Weg in die Kaserne befindet, ist der Krieg in der Luft bereits im Gange. Hier spielt auch die Musik eine entscheidende Rolle, die beide Sequenzen verbindet und dem gesamten Film in ihrem Leitmotiv eine elegische Note verleiht. Am Ende kommen beide Stränge punktuell zusammen: Beddows ist nun Teil der historischen Ereignisse, und der Film vollzieht diese Bewegung auch optisch, indem er die Ästhetik des Archivmaterials zitiert – Unschärfe, verwackelte Bilder, Unterbrechungen, ganze Phasen, in denen kaum etwas zu erkennen ist, und die dadurch eine Dringlichkeit und Unmittelbarkeit fingieren, in der dem Kameramann scheinbar keine Zeit blieb, die Kamera in Ruhe zu justieren (Abb. 87, 88). Die Spielfilmhandlung erhält durch ihren Anschluss an das historische Archiv eine Aura des Tatsächlichen, zugleich erhalten die Archivbilder durch ihren An-
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Abb. 88 Stuart Cooper, Filmstill aus Overlord, 1975
schluss an die Spielfilmhandlung eine narrative Komponente. Der historiographische Einsatz von Overlord ist nicht die ununterscheidbare Assimilation von Archivmaterial und Spielfilm, sondern eine Montage, die beide in ein Verhältnis wechselseitiger Affizierung versetzt. Zu einer Zeit, in der Historienfilme in Farbe gedreht wurden, setzt Cooper auf Schwarz/Weiß. Der narrative Spielfilm stellt eine Nähe zu den historischen Bildern her. Die in Schwarz-Weiß und mit Objektiven von 1938 gedrehten Bilder kommen ihren Vorbildern aus dem Archiv gewissermaßen entgegen.
5. Die nachkolorierte Zeit II Im September 2009, siebzig Jahre nach dem deutschen Überfall auf Polen, zeigte das französische Fernsehen die sechsteilige Filmdokumentation Apocalypse – La deuxième Guerre Mondiale. Circa sechshundert Stunden historisches Filmmaterial wurden gesichtet und
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zu einer sechsstündigen Dokumentation montiert – vom Reichsparteitag in Nürnberg bis zur Landung der Alliierten in der Normandie und den Ruinen von Hiroshima. Den stummen Bildern wurde eine Tonspur sowie ein gesprochener Kommentar in 5.1-Mehrkanalton unterlegt, der japanische Komponist Kenji Kawai besorgte die musikalische Untermalung. Seine Bekanntheit erlangte Apocalypse aber vor allem durch den dramaturgischen Einsatz der Farbe. Das Bildmaterial besteht zu dreißig Prozent aus historischen Farbaufnahmen, d. h. Filmbildern, die in den vierziger Jahren im Agfacolor- oder TechnicolorVerfahren gedreht wurden. Beim überwiegenden Teil handelt es sich hingegen um ursprünglich in Schwarz-Weiß gedrehtes Bildmaterial, das man im Rahmen seiner digitalen Remontage nachkoloriert hat. Im Prinzip ist dieses Verfahren so alt wie der Film selbst. Eine frühe Form der nachträglichen Färbung war etwa die Hand- und Schablonenkolorierung, bei der Bild für Bild Farbe auf einzelne Partien des Films aufgetragen wurde. Im Unterschied zu sogenannten ‹mimetischen› Verfahren des Farbfilms, «die über mechanische oder optische Prinzipien eine Äquivalenzbeziehung zwischen Abbildungsgegenstand und Filmbild herzustellen versuchen»,79 handelt es sich bei der Kolorierung um das nachträgliche Applizieren von Farbe auf einen ursprünglich schwarz-weiß gedrehten Film.80 Die Zusammenschau der Bilder in Apocalypse lässt nicht länger erkennen, welche Teile des historischen Materials ursprünglich in Schwarz-Weiß, welche Teile in Farbe gedreht wurden. Bemerkenswert ist auch der bewusste Verzicht der Filmemacher Isabelle Clarke und Daniel Costelle auf einige der gängigen Standards aktueller TV-Dokumentationen. In Apocalypse gibt es keine Reenactments historischer Ereignisse wie sie im Genre des Doku-Dramas mittlerweile gängig sind – keine durch Schauspieler nachgestellte Szene soll die Integrität der überlieferten Aufnahmen durchbrechen. Ausgespart wird auch die seit den 1980 er Jahren etablierte Befragung von Zeitzeugen – kein Bild der Gegenwart soll den historischen Bilderfluss unterbrechen. Schließlich verzichten die Filmemacher ebenso auf die Figur des Experten, der das Gezeigte – meist vor der Kulisse einer imposanten Bücherwand – fachmännisch kommentiert und der Produktion die zusätzliche No blesse akademischer Seriosität verleiht.
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Während also einerseits im Namen der Integrität des überlieferten Bildmaterials auf etablierte Standards der Authentifizierung verzichtet wird, erfolgt der Eingriff an anderer Stelle umso entschiedener. «Ich gebe den Bildern ihre Farbe zurück», sagt François Montpellier, der für die digitale Bearbeitung der historischen Aufnahmen verantwortliche Bildredakteur. Die Kolorierung sei «so realitätsnah wie möglich» erfolgt. «Die Menschen haben nicht in Schwarz und Weiß gelebt!»81 Daran erinnert auch David Royle, der die Ausstrahlung der Serie im amerikanischen Fernsehen betreut hat: «Der zweite Weltkrieg wurde in Farbe erlebt. Er wurde nicht in Schwarz-Weiß ausgefochten. Das Blut der Soldaten war rot.»82 Den Bildern ihre Farbe «zurückgeben» – diese Formulierung fiel bereits in Amarals Beschreibung ihrer Kolorierungspraxis auf83 – als sei den überlieferten Schwarz-Weiß-Aufnahmen ihre ursprüngliche Farbigkeit genommen worden, als sei zwischen die Wirklichkeit der Geschichte und ihre filmische Darstellung eine parasitäre Instanz getreten, deren Wirken man nun neutralisieren müsse. «Während der Schlacht von Dünkirchen im Juni 1940 war der Himmel von er drückendem Frühlingsblau», so Montpellier.84 Dieses Blau, so das Anliegen von Apocalypse, soll nach Jahrzehnten seiner Abwesenheit an seinen historischen Ursprungsort zurückkehren. Die Farbe wurde den Bildern demnach nicht hinzugefügt: Irgendwo unter der Schicht des Schwarz-Weiß schien ein Abglanz jenes vergangenen Himmelsblau verborgen geblieben zu sein, der den Bildern nun – in einem diskreten Akt der Restitution – ‹zurückgegeben› wird. Dass die Nachkolorierung der Bilder dem historischen Material neue Qualitäten hinzufügt (statt alte, verloren gegangene wieder herzustellen), demonstrieren die Filmemacher durch die Dokumen tation ihrer technischen Aufbereitung des Archivmaterials hingegen selbst.85 Die Spuren ihrer nachträglichen Bearbeitung sind den Bildern aber auch anzusehen (Abb. 89): Die Blässe der hinzugefügten Farben imitiert die verblichenen Farben der Agfacolor- und Technicolorfilme, denen man das Schwarz-Weiß-Material farblich angeglichen hat. Nicht die Farben einer vermeintlichen Wirklichkeit dienten der Kolorierung als Vorbild – wie sollte das auch möglich sein? Wer wüsste zu sagen, welchen Blauton der Himmel über Dünkirchen im Juni 1940
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Abb. 89 Filmstill aus Apocalypse, la Seconde Guerre mondiale, 2009
hatte? –, sondern die Farben der erhaltenen Filme, der chromatische Zustand überlieferter Artefakte. Auf seiner Homepage ImaginColor formuliert Montpellier dementsprechend: «Ausführliche Studien wurden angestellt, um herauszufinden, wie die Farben der verschiedenen Filmrollen aus unterschiedlichen Perioden des Films gealtert sind. Im Umkehrschluss erlaubt uns das, zeitbedingte Farbverfälschungen zuverlässig zu rekonstruieren.»86 Demnach ist die Rekonstruktion keine Rückgewinnung historischer Farben, sondern die digitale Mimikry «zeitbedingter Farbverfälschungen». «Die Abwesenheit konstituiert den historischen Diskurs», so wurde am Beginn dieses Buches Michel de Certeau zitiert.87 In seiner ursprünglichen Gestalt lässt sich das Vergangene nicht wiederherstellen. Für de Certeau ist die Unwiederholbarkeit der Geschichte aber kein Kollateralschaden der Geschichtswissenschaft, vielmehr eine ihrer Grundbedingungen. An den «Zeitenabstand», der den Historiker vom Vergangenen trennt, erinnert auch Reinhart Koselleck: «Der reflektierte Zeitenabstand zwingt den Historiker geschichtliche Wirklichkeit zu fingieren, und zwar nicht in der Redeweise des ‹es war›.» Seine Ar-
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beit gilt dem Versuch, «einer Wirklichkeit habhaft zu werden, deren Tatsächlichkeit entschwunden ist.»88 De Certeau und Koselleck äußern sich als Vertreter historischer Wissenschaften. Aber ist ihr Anliegen, der Unwiederholbarkeit der Geschichte Rechnung zu tragen, nur auf dem Gebiet akademischer Geschichtsschreibung von Belang? Müsste der «reflektierte Zeiten abstand» nicht auch für Autoren historischer Filme eine Herausforderung sein – jedenfalls solange sie einen dokumentarischen Anspruch verfolgen? Von Seiten der Geschichtswissenschaft wurde an Apocalypse das Fehlen einer solchen Reflexion kritisiert. Die Kolorierung der Bilder, schreibt Thierry Bonzon, will «die Distanz zwischen dem Zuschauer und der Vergangenheit beseitigen».89 Da die Akteure den Krieg vor siebzig Jahren in Farbe erlebt haben, so die Gleichung, bewirkt die Kolorierung eine größere Nähe zu den historischen Ereignissen als das abstrakte Schwarz-Weiß. «Die Farbe», so Isabelle Costelle, «hat den Krieg aus der Vergangenheit in die Gegenwart geholt.»90 Bemerkenswert ist, dass dieser Versuch einer sinnlich-visuellen Vergegenwärtigung zugleich an den Anspruch unbedingter Wahrheitstreue gebunden bleibt – als bedürfe auch das Nachempfinden zuallererst noch der Absicherung durch Fakten. An dieser Stelle bemühen die Autoren des Films die Autorität der Geschichtswissenschaft. «Die Farben müssen genau sein, daran haben die Historiker mitgearbeitet. Die Uniformen der Wehrmacht im Winter sind nicht die gleichen wie im Sommer. Sie haben sich im Verlaufe des Krieges verändert. Man muss die Abnützung zeigen. Tagelang haben wir die Grüntöne der Farbe Feldgrau gesucht.»91 Dieser Anspruch auf Detailtreue erinnert von ferne an Baudelaires Beschreibung des Historienmalers Horace Vernet: «Wer weiß besser als er […], welche Form nach zahlreichen Märschen eine Gamasche oder ein ausgetretener Stiefel annimmt? an welcher Stelle des Lederzeugs das Kupfer der Waffen einen Fleck Grünspan hinterläßt?»92 Anders jedoch als die Historienmalerei des neunzehnten Jahrhunderts, aber auch im Unterschied zum Dokudrama und seinen Verfahren des Reenactment und der Simulation, stellen Clarke und Costelle ihre Arbeit in die Tradition dokumentarischer Recherche am historisch überlieferten Material. Im Making Off, das der DVD-Version der Serie beigegeben ist, finden
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die Autoren für diesen Anspruch die Formel: «100 % Archives». Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs wird hier nach dem Muster etwa eines Fruchtsaftherstellers beworben, der für sein Produkt einhundert Prozent Direktsaft verspricht – ohne Zusatz verdünnender Substanzen: den einhundertprozentigen Gehalt an historischer Faktizität unter Verzicht auf fiktionale Beimischungen. Wie aber ist dieser Anspruch auf Wiedergabe und Bewahrung der Quellen mit ihrer gleichzeitigen Veränderung durch die nachträgliche Farbgebung vereinbar? Nach den Worten des Historikers Robert Belot bewirkt das Nachkolorieren des historischen Schwarz-Weiß-Materials eine Fiktionalisierung des Archivs: «Die Farben wollen die Realität des Krieges zugänglicher machen, während diese Bearbeitung tatsächlich den Effekt hat, diese Realität zu ‹fiktionalisieren› und also zu derealisieren» – «als wolle dieser Dokumentarfilm seinem dokumentarischen Status entfliehen, um sich demjenigen der Fiktion anzunähern».93 Belots Entgegensetzung von Dokumentation und Fiktion macht das Nachdenken über Apocalypse unversehens zur Frage von Wahrheit und Fiktion, historischer Realität und deren ‹Derealisierung›. Das Fiktive, so Wolfgang Iser, werde in der Regel als «Oppositionsbegriff» ver standen, als Synonym für «das Nicht-Wirkliche, als Lüge und Täuschung».94 Müssen wir angesichts der farbigen Bilder von Apocalypse also von einem Täuschungsversuch sprechen, von Manipulation, Lüge und Betrug? Wenige Tage nach der Ausstrahlung der ersten Folge von Apocalypse in Frankreich hat sich Georges Didi-Huberman in der französischen Tageszeitung Libération mit einer vehementen Kritik der Serie zu Wort gemeldet. «Bilder machen uns die Geschichte sichtbar. Sie sind entscheidend, um zu verstehen, was um uns herum geschehen ist.»95 Warum Didi-Huberman dieses Potenzial der Bilder in Apocalypse nicht verwirklicht sieht, lässt sich besser vor dem Hintergrund seiner Überlegungen zur historischen Zeugenschaft des fotografischen Bildes begreifen, wie er sie vor allem in dem hier bereits zitierten Buch Bilder trotz allem dargestellt hat.96 Vor der Folie dieser Überlegungen erklärt sich Didi-Hubermans Kritik an Apocalypse. Ein Bild erhalte seinen Wert «einzig durch die Position, die es innerhalb einer Montage einnimmt, in der selbstverständlich andere, ausgewählte Bilder hinzu
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treten, aber auch Worte, Gedanken, Stellungnahmen zur Geschichte.»97 Im Fall von Apocalypse jedoch überführe die Montage das ursprünglich heterogene Bildmaterial in eine visuelle Einheitlichkeit. Die Geschichte, so Didi-Huberman, verlaufe diskontinuierlich und werde aus endlos vielen Perspektiven erfasst. Apocalypse hingegen ersetze diese Diskontinuität durch eine Anordnung, die von nur einem einzigen Standpunkt aus erzählt und diesen Standpunkt auch gar nicht als solchen benennt.98 Als entscheidendes Mittel dieser Vereinheitlichung nennt Didi- Huberman das Nachkolorieren der Bilder: «Kolorieren bedeutet, einem Sichtbaren ein anderes Sichtbares hinzufügen. Es bedeutet also, fortan etwas von einer Oberfläche zu verdecken, wie jedes Schönheitsprodukt das tut.» Was die Autoren von Apocalypse als Wiederherstellung einer ursprünglichen Wirklichkeit verstanden wissen wollen, als Befreiung der Bilder von der defizitären Farbigkeit des Schwarz-Weiß, stellt in den Augen Didi-Hubermans einen Akt der Vertauschung und Ersetzung dar. Die Kolorierung trifft auf keine tabula rasa, sie verdeckt Vorhan denes und ersetzt eine historisch überlieferte Sichtbarkeit durch eine andere. Das Hinzufügen von Farbe setzt ein Verschwinden an a nderer Stelle voraus, der Sichtbarmachung korrespondiert eine Unsichtbarmachung. In seiner Kritik der Nachkolorierung greift Didi-Huberman auf eine vertraute Metapher zurück: «Kolorieren, eine Technik so alt wie die Welt, ist nichts anderes als Schminken: das Auftragen einer bestimmten Farbe auf einen zu diesem Zweck präparierten Grund.»99 Das Bild der Schminke entstammt einer alten Tradition der Verschleierungs kritik, wie sie etwa Immanuel Kant in der Unterscheidung von Täuschung (illusio) und Betrug gefasst hat. «Illusion ist dasjenige Blendwerk, welches bleibt, ob man gleich weiß, daß der vermeintliche Gegenstand nicht wirklich ist. […] Betrug aber der Sinne ist: wenn, sobald man weiß, wie es mit dem Gegenstande beschaffen ist, auch der Schein sogleich aufhört. Dergleichen sind die Taschenspielerkünste von allerlei Art. – Kleidung, deren Farbe zum Gesicht vorteilhaft absticht, ist Illusion, Schminke aber ist Betrug. Durch die erstere wird man verleitet, durch die zweite geäfft.»100 Die trügerische Schminke zu erkennen, bedeutet also zu wissen,
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«wie es mit dem Gegenstande beschaffen ist». Die Kritik an Apocalypse erhält hier unversehens einen ontologischen Unterton – sie unter scheidet die supplementäre Manipulation von einer ursprünglichen, ungeschminkten Wahrheit, trennt die «wirklichen Spuren der Zeit» vom «Bluff» der Montage: «So macht man die wirklichen Spuren der Zeit auf einem Gesicht unsichtbar – oder auch die Bilder der Geschichte. Die Lüge besteht nicht darin, dass hier Bilder bearbeitet wurden, sondern in der Behauptung, uns ein nacktes und wahrhaftiges Gesicht des Krieges zu zeigen, wo man uns ein geschminktes Gesicht, einen Bluff anbietet.»101 Nicht der Umstand also, dass hier interveniert und manipuliert wurde, wäre Gegenstand der Kritik an Apocalypse. «Es geht gerade nicht um Purismus: nichts ist hier rein und ‹pur›, und jedes Bild ist – vom Moment seiner Aufnahme an – das Resultat einer technischen Operation, einer Vermittlung und somit einer Manipu lation.»102 Wenn also die Nachkolorierung eine uneigentliche Zutat ist – welche ‹ungeschminkte› Wahrheit käme zum Vorschein, wenn man den Bildern ihre Farben wieder nähme? In ihrer Auseinandersetzung mit Didi-Hubermans Kritik an Apocalypse (sowie mit einem von mir verfassten Beitrag zum Thema103) hat Maria Muhle diese Frage aufge worfen. Die Kritik am vermeintlichen Realismus der Kolorierung, so das Argument, scheine ihrerseits «einem impliziten Realismusanspruch aufzusitzen […].»104 Muhle erinnert daran, dass die Kritik hier leicht die Form eines «naiven Glaubens» annehmen kann – des Glaubens, «dass das Weglassen der Manipulation die Sicherung der historischen Wahrheit verspreche – sei diese auch noch so fragmentarisch». Seine Verteidiger verleihen dem schwarz-weißen Bild demnach eine Aura historischer Ursprünglichkeit. In genauer Umkehrung dieser Figur gesteht Muhle dem kolorierten Bild den höheren Erkenntniswert zu. Diesen erreicht es nicht durch eine größere Wirklichkeitsnähe, sondern dadurch, dass es seine Künstlichkeit offensichtlich zur Schau stellt. Gerade «die nachstellenden Strategien – konkret: die nachkolorierten Bilder des Zweiten Weltkriegs» rufen «malgré eux einen Verfremdungseffekt» hervor, «der eine größere Einsicht in die problematische Verfasstheit von Geschichte ermöglicht, als es die (schwarz-weißen) Bilder eines kritischen Dokumentarismus tun, der letztendlich Gefahr läuft,
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den Glauben an ein ungestörtes Abbildungsverhältnis zu bestärken und den Prozess historischer Darstellung abzuschließen.»105 Je offensichtlicher die Manipulation der Bilder, so das Argument, umso klarer die Einsicht in die Konstruiertheit von Geschichte. Und umgekehrt: je dezenter die Zurichtung der Bilder, umso größer die Gefahr, dem naiven Glauben an ein ungestörtes Abbildungsverhältnis zu verfallen. Muhle hat eine entscheidende Wendung in die Diskussion um Apo calypse eingebracht, indem sie die Aufmerksamkeit auf die Ebene der Bilder verlagert – ihr Potenzial, eine Gegenerzählung zu erzeugen. Ganz gleich, was die Autoren von Apocalypse über die Wahrhaftigkeit ihrer visuellen Rekonstruktion von Geschichte sagen mögen: die Bilderarbeiten dagegen. Wo Didi-Huberman die Unwahrheit der Montage sieht, die ein gegebenes Sichtbares durch ein anderes Sichtbares verdeckt, sieht Muhle die Wahrheit einer Montage, die ihre eigene Gemachtheit zur Schau stellt und damit jeden Anspruch auf Wahrheitstreue dementiert. «Was die farbigen Bilder von Apocalypse also tun, ist, das Operieren der Wirklichkeitseffekte vorzuführen und in diesem Sinne die Infragestellung des Purismus der Bilder weiter zudenken, indem sie in der Manipulation der Bilder jene Darstellungstechniken sichtbar machen, die noch anspruchsvolle Realisten wie eben Geimer oder Didi-Huberman zugunsten des Ergebnisses der Darstellung verkürzen wollen.»106 Was sollen die «anspruchsvollen Realisten» dazu sagen? Zunächst ist zu fragen, warum dem Plädoyer für Schwarz-Weiß der «Glauben an ein ungestörtes Abbildungsverhältnis» zugrunde liegen soll. Wieso sind die schwarz-weißen Archivbilder «mystifizierend, weil sie dem ‹Mythos Wirklichkeit› Evidenz verleihen»?107 Der Hinweis auf das Schwarz-Weiß der Bilder ist keine Mystifikation: Er erinnert an die technischen Bedingungen, unter denen diese aufgenommen wurden. Schwarz-Weiß zu sein, war eine Eigenschaft der Bilder, eine historische Gegebenheit, die für sich genommen keine Instrumentalisierung durch den «Mythos Wirklichkeit» einschließt. Wie selbstverständlich das schwarz-weiße Bild damaligen Betrachtern war, zeigt der Umstand, dass die Einführung des Farbfilms oftmals als Verlust an farblicher Prägnanz beschrieben wurde. Für Siegfried Kracauer waren die
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Abb. 90 Alain Resnais, Filmstill aus Nacht und Nebel, 1955
neuen «Farbenspiele» des Films 1935 eine befremdliche «Zutat»: «Warum? Weil sie nichts von dem aussagen, was der Schwarzweißfilm – man weiß es aus dem langjährigen vertrauten Umgang mit ihm – ohne ihre Beihilfe aussagen kann.»108 Im gleichen Jahr beschreibt auch Rudolf Arnheim die «Farbverwirrung im Farbfilm» als Folge des vertrauten Umgangs der Zuschauer mit der Farbskala des Schwarz-WeißFilms.109 Gerade die Diversität des historischen Materials – teils in Farbe, teils in Schwarz-Weiß aufgenommen – bietet also die Möglichkeit einer filmischen Reflexion über Bedeutung und Funktion der Farbe. Eine solche «Dialektik des Farbwechsels»110 inszenierte bekanntlich Alain Resnais in Nacht und Nebel (1956). Der Film besteht zu zwei Dritteln aus historischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen – von den Natio nalsozialisten produzierte Bilder und solche der Alliierten, die von der
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Abb. 91 Alain Resnais, Filmstill aus Nacht und Nebel, 1955
Befreiung der Deportierten im Frühjahr 1945 handeln –, die übrigen Einstellungen zeigen die gleichen Schauplätze ein Jahrzehnt später: im Zustand ihrer Verlassenheit, aufgenommen mit einer 35mm-Kamera in Eastmancolor (Abb. 90, 91). Die Farbe unterscheidet hier zwei Zeithorizonte, ihre Zusammenstellung artikuliert die «zeitliche Kluft zwischen dem Schwarzweiß der Vergangenheit und der Farbe der Gegenwart».111 Einige wenige Einstellungen des Films deuten die Möglichkeit einer imaginären Verschleifung beider Horizonte an – etwa wenn den Farbaufnahmen verlassener Gebäude historische Schwarz-WeißAufnahmen aus ihrem Inneren folgen.112 Die Mehrzahl der von Resnais in Farbe gedrehten Sequenzen hingegen «entzieht sich der L ogik der Rückblende radikal; Deleuze schrieb sogar, Nacht und Nebel könne ‹als die Summe der Möglichkeiten gelten, der Rückblende (…) zu entkommen›.»113 Resnais’ Montage bestimmt der Bruch, die Differenz,
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der Schnitt, nicht das Verschmelzen der Zeithorizonte.114 Apocalypse hingegen produziert ein Amalgam und löscht damit einen Teil der historischen Signatur des Films. Das Schwarz-Weiß der überlieferten Bilder ist Teil ihrer Historizität, Teil ihrer Funktion als Zeugnis. Diesen Zustand zu verändern, bedeutet, das Archiv zu verändern, seine Inhalte zu überschreiben. Die Kritik am Überschreiben der Bilder steht nicht, wie Didi-Huberman zu Recht erinnert, im Zeichen eines dokumentarischen Purismus. Die Überlieferung ist niemals ein neutraler Vorgang, der den Gehalt der Quellen über alle Zeiten hinweg unangetastet ließe. Das bloße Vergehen von Zeit zwingt zur Abstraktion, jede Wiederholung versetzt das Wiederholte in einen neuen Zusammenhang. Auch wenn die Metapher der ‹Quelle› den Eindruck erweckt, «als würden aus dieser ‹Quelle› die Informationen der Vergangenheit sprudeln und direkt zu uns zu fließen», wird durch jede Deutung «bereits eine bestimmte Perspektive eingenommen, wird das Material vorsortiert, wird ein bestimmter Aspekt betont, und wird die Möglichkeit anderer Sichtweisen ausgeschlossen» (Achim Landwehr).115 So sind auch die überlieferten Bilder der Geschichte Gegenstand beständiger Umdeutungen, die es unmöglich machen, den einen Ursprungsort zu benennen, an dem sie noch ganz ‹sie selbst› wären. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, historische Filmaufnahmen zu fragmentieren, zu recyclen und neu zu montieren, wie Sylvie Lindeperg am Beispiel der zahlreichen Zitate von Nacht und Nebel erinnert: «beschnittene Einstellungen», «Umschnitt im Rahmen eines ganz anderen Dokumentarfilms», «Einspiegelung in fiktionale Werke», «Entkopplungen zwischen Bildmontage und Tonspur, die zu völlig neuen Korrespondenzen führen».116 Daraus folgt aber nicht, dass die erhaltenen Bilder bloße Container sind, eigenschaftslose Folien ihrer beständigen Überschreibung. Das historische Archiv ist keine tabula rasa. Eine Quelle ist auch «eine ‹Reliquie›, ein (so wörtlich) ‹Überbleibsel› aus der Vergangenheit, das man in seiner Medialität und Materialität ernst nehmen sollte» (Landwehr).117 In seinem Aufsatz Der moderne Denkmalkultus (1903) unterscheidet Alois Riegl verschiedene Formen des Umgangs mit kunst- und kulturgeschichtlichen Objekten. Riegls Spektrum historiographischer Leit
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bilderist der Entstehungszeit des Textes verhaftet, und auch sein zentraler Gegenstand, die historische Architektur, unterliegt eigenen Gesetzen. Gleichwohl lässt sich Riegls systematische Unterscheidung verschiedener Rekonstruktionsideale auf die Frage nach dem Umgang mit historischem Filmmaterial übertragen. Das betrifft vor allem die Unterscheidung zwischen «Alterswert»/«historischem Wert» einerseits, «Erinnerungswert» andererseits, denn mit ihr zielt Riegl auf die zentrale Frage, ob man die Überreste der Vergangenheit in ihrer Inte grität bewahren oder aber sie den Bedürfnissen der eigenen Gegenwart anpassen soll. «Der Alterswert eines Denkmals verrät sich auf den ersten Blick durch dessen unmodernes Aussehen.»118 Ein historischer Kirchturm beispielsweise erhält seinen Alterswert aufgrund der «allgemeinen nicht lokalisierten Vorstellung der Zeit, die der Turm ‹mitgemacht› hat und die sich in seinen unmittelbar wahrzunehmenden Altersspuren verrät.»119 Der Hinweis auf die Jahrhunderte, «die der Turm ‹mitgemacht›» hat, weist ihn als historischen Gegenstand aus, ein Ding in der Zeit, die an dessen Äußerem ihre Spuren hinterlassen hat. Diese Spuren sind erkennbar, zugleich aber, wie Riegl präzisiert, Gegenstand einer «allgemeinen nicht lokalisierten Vorstellung», der Imagination verflossener Zeit. Auch der «historische Wert» beruht auf der Zeitlichkeit der Objekte, mit dem Unterschied allerdings, dass für ihn deren «ursprüngliche geschlossene objektive Individualität» entscheidend ist, nicht die «subjektive Stimmungswirkung», die dem «Alterswert» entspricht. «Alterswert» und «historischen Wert» verbindet jedoch ihr gemeinsames Interesse am Vergangensein der Werke: die Bereitschaft, ihr «unmodernes Aussehen» als historische Signatur zu akzeptieren. Der «gewollte Erinnerungswert» hingegen ist ein «Gegenwartswert». Seine Absicht ist es, «einen Moment gewissermaßen niemals zur Vergangenheit werden zu lassen», ihn «im Bewußtsein der Nachlebenden stets gegenwärtig und lebendig zu erhalten».120 Am deutlichsten scheiden sich die Leitbilder in Fragen der Restaurierung, des physischen Eingriffs, der nachträglichen «Veränderung von Form und Farbe».121 Vertreter des «Alterswerts» werden darin eine Entstellung der physischen Integrität sehen, Vertreter des historischen Werts – solange die «Grundform» des Denkmals bewahrt und die «Beurteilung aller historischen Nebenfragen» möglich bleibt122 – kein
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prinzipielles Problem. Aus Sicht des «Gegenwartswerts» ist die permanente Umformung des Überlieferten geradezu geboten, um dem Anspruch auf Aktualität des Denkmals gerecht zu werden. Riegls Systematik beschreibt keine absoluten Gegensätze, eher verschiedene Tendenzen des Umgangs mit historischen Artefakten, die einander auch überlagern können. Auch Befürworter des «Alterswerts» werden kaum dafür eintreten, die Überreste der Vergangenheit, um ihre Integrität nicht anzutasten, dem physischen Verfall zu überlassen. Umgekehrt können selbst die Vertreter absoluter Gegenwärtigkeit kein Interesse an der völligen Annullierung des Vergangenen haben, da auch der «Gegenwartswert» am überlieferten Objekt den Appeal des Historischen schätzt. Auch wenn es aber zu solchen Überlappungen kommt, bleiben die gegensätzlichen Grundtendenzen beider Auffassungen doch erkennbar. Die Parallelen zur Kontroverse um Apocalypse sind – bei aller gebotenen Abstraktion – leicht erkennbar. Die Kritik am nachkolorierten Bild erfolgt (frei nach Riegl) im Namen des Alterswerts und des historischen Werts. Den überlieferten Bildern gesteht sie eine Alterität und einen Eigensinn zu, ihr Schwarz-Weiß soll als historische Signatur erhalten bleiben. Die nachträgliche Kolorierung hingegen erscheint aus dieser Perspektive als Versuch, die Zeitgebundenheit des historischen Bildmaterials durch eine simulierte Lebendigkeit zu ersetzen. Der Vergleich mit Riegls Kategorien stößt hier allerdings an seine Grenzen. Denn anders als standortgebundene Bauwerke sind Bilder – vor allem technisch produzierte – von vornherein Gegenstand beständiger Reproduktion und Zirkulation. Es ist kaum zu bestimmen, worin ihre physische Integrität bestehen könnte. Die Überführung der historischen Aufnahmen von analogen auf digitale Bildträger, ihre Über formung durch Computersoftware, ihre Umcodierung durch neue Formate und zeitgenössische Abspielgeräte – alle diese Transformationen machen es unmöglich, einen historischen Urzustand der Bilder zu fixieren und erst recht, an einen solchen Ursprungsort zurückzuge langen. Wie die vorhergehenden Kapitel gezeigt haben, korrespondiert diesem Wissen um die Unwiederholbarkeit des Vergangenen jedoch zugleich auch die Einsicht, dass dieses Vergangene nicht restlos verschwunden ist. Das visuelle Archiv stellt nichts wieder her, es ist aber
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auch kein Reservoir des Wunschdenkens, das die historischen Bestände nach Belieben formen kann. Der Kritik an der Kolorierung geht es nicht um die Verteidigung eines naiven Realismus, der nicht sehen will, dass Filme, ganz gleich ob Schwarz-Weiß oder in Farbe, noch niemals mit der Wirklichkeit übereingestimmt haben. Solche Medienvergessenheit wäre eher den Autoren von Apocalyse zu bescheinigen, die das digitale Blutrot für natürlicher halten als das analoge Schwarz-Weiß. Vielmehr geht es um die Einsicht, dass die Geschichte sich nicht nach Belieben animieren und nacherleben lässt, sondern in Gestalt von Resten, Spuren und Fragmenten vorliegt, deren Leerstellen die Basis für jede komplexe Form der Rekonstruktion sind. Insofern markiert die neue Lebendigkeit der Bilder einen Verlust ihrer historischen Zeugenschaft. Apocalypse war erst der Auftakt einer ganzen Reihe von Nachkolorierungen. 2018 folgte Peter Jacksons They shall not grow old, ein im Auftrag des Londoner Imperial War Museum erstellter Dokumentarfilm über die Grabenkämpfe des Ersten Weltkriegs. Dass die Betreiber des Museums den Regisseur der Fantasy-Trilogie Der Herr der Ringe für die geeignete Person hielten, um ihr Archivmaterial zu erschließen, gibt bereits einen Hinweis auf ein verändertes Verständnis historischer Dokumentation. Filmhistorisch verbindet die Wahl Jacksons nun die Kriegsschauplätze des Ersten Weltkriegs mit Auenland, Gondor und Mordor, die Grabenkämpfe in Flandern mit der Befreiung von Mittelerde durch eine Schar von Elfen, Hobbits, Zwergen und Menschen. Jacksons neunzigminütige Dokumentation beginnt mit Aufnahmen der Kriegsvorbereitungen in England, zeigt Bilder der Rekrutierung und Ausbildung der Soldaten, ihren Alltag an den Kriegsschauplätzen, schließlich die Grabenkämpfe in Flandern und den Waffenstillstand vom November 1918. Im Voiceover hört man Zeitzeugeninterviews aus dem BBC-Archiv, Zitate aus Tagebüchern und Briefen, in denen die Soldaten von ihren alltäglichen Erfahrungen und Ängsten berichten. Die Kompilation der Aufnahmen folgt demselben Prinzip der Entkontextualisierung, das Georges Didi-Huberman und Robert Belot bereits an Apoclaypse kritisiert hatten – ohne Hinweis auf die Herkunft der Aufnahmen, ihre Entstehungsbedingungen und ihre propagandistische Funktion.123
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Abb. 92 Peter Jackson, Filmstill aus They Shall not Grow Old, 2018
Jackson hat die Techniken der Animation noch einmal perfektioniert: Geschwindigkeitsschwankungen des Films – bewirkt durch die ungleichmäßigen Kurbelbewegungen des Kameramanns – wurden mit Hilfe eines Algorithmus ausgeglichen, Unschärfen beseitigt, fehlende Zwischenbilder zwischen Einstellungen simuliert.124 Der Einzug der Farbe wird wirkungsvoll in Szene gesetzt: Jackson zeigt die ersten zwanzig Minuten des Films im historischen Schwarz-Weiß und im Originalformat, als blicke man aus dem Dunkel eines alten Kinosaals auf die entfernten, stummen Bilder auf der Leinwand. Dann erfolgt die Verwandlung: Der Regisseur scheidet Licht und Finsternis, der Erste Weltkrieg wird zum bildfüllenden Ereignis in Farbe (Abb. 92, 93). Stärker noch als Apocalypse setzt der Film aber auch auf die Rekonstruktion des Akustischen. Das Donnern der Geschütze und das Rumpeln der Panzer wurden nach dem Modell historischer Tonaufnahmen rekonstruiert. «Man sieht rotes Blut aus zerschossenen Körpern strömen, man hört das Trappeln der Pferdehufe und das Quieken der Ratten, die sich an den Leichen mästen, man vernimmt Sätze, die vor hundert Jahren in die Kamera gesprochen wurden, lange vor dem Tonfilm.»125 Diese Animationsleistung verdankt sich der Kunst einer Lippenleserin, die von ihr entzifferten, tonlosen Sätze werden im Film
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Abb. 93 Peter Jackson, Filmstill aus They Shall not Grow Old, 2018
von Schaupielern gesprochen. Selbst wenn es gelungen sein sollte, die Dialoge Wort für Wort zu entziffern (beziehungsweise – wenn die Dargestellten sich von der Kamera abwenden – zu erraten, worüber im Off wohl gesprochen wurde), bleibt doch vieles unbestimmbar. Wer spricht hier zu uns? Es sind jedenfalls nicht die historischen Akteure: die Bilder verraten nichts darüber, wie ihre Stimmen geklungen haben – dunkel oder hell, mit walisischem Akzent, im Dialekt von Yorkshire, London oder Essex. Wir sehen Bilder von Personen, die es einmal gegeben hat, versehen mit Stimmen aus ihrer Nachwelt. Für die Aussage des Films mag das unerheblich erscheinen. Es gibt aber einen Hinweis auf das Verständnis historischer Rekonstruktion, das hier zugrunde liegt: Auf die historische Integrität von Einzelpersonen, soweit sie sich im Rückblick bestimmen lässt, kommt es nicht an. Man erzeugt eine hybride Lebendigkeit, ein historisches Bild mit der Stimme eines Zeitgenossen. «Wir haben», so Jackson im Trailer, «einen einhundert Jahre alten footage film transformiert, um den Großen Krieg so zu sehen, wie die Soldaten ihn gesehen haben.» Sobald man die Bilder des Krieges von ihrem «Charlie-Chaplin-Schwarz-Weiß-Look» befreie, erkenne man:
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«Die Leute sind genauso wie heute.» Jackson formuliert hier noch einmal idealtypisch das Leitbild der digitalen Rekonstruktion: unmittelbarer Anschluss an die Erfahrungswelt der Toten. Wenn erst das falsche Schwarz-Weiß beseitigt, die Farbe an ihren Ursprungsort zurückgekehrt ist, erfahren wir den Krieg in reiner Unmittelbarkeit («wie die Soldaten ihn gesehen haben»). «Wäre es nicht fantastisch», so Jackson, «wenn alle Archive der Welt beginnen würden, auf diese Weise zu arbeiten? […] Lasst uns dieses Fenster in die Vergangenheit öffnen. Lasst uns die Leute nicht länger in dieser Charlie-Chaplin-Welt gefangen sein.» Die Befreiung, die Jackson in Aussicht stellt, wäre die Be seitigung des Abstands, der uns vom Vergangenen trennt, und damit: die Beseitigung des Historischen selbst, die Auslöschung von Differenz im Namen eines unterschiedslosen, überzeitlichen Humanismus: «Die Leute sind genauso wie heute.» «Die Idee, etwas historisch zu sehen», schreibt Gertrud Koch, «heißt, etwas in einer Distanz sehen zu können.»126 Die Distanz, die uns vom Vergangenen trennt, ist kein Hindernis, sie ist eine Bedingung seiner Erkennbarkeit. Aus dieser Perspektive ist die Nachkolorierung der schwarz-weißen Bilder weder die Rückgewinnung einer vergangenen, farbigen Wirklichkeit (wie ihre Befürwörter schreiben) noch eine unfreiwillige Aufklärung über die Machenschaften der historiographischen ‹Wirklichkeitsmaschinerie› (wie Maria Muhle schreibt), sondern ein inszenatorischer Eingriff, der den Bildern, in der Absicht, sie zu vergegenwärtigen, einen Teil ihrer Geschichtlichkeit nimmt. Mit der Kolorierung der schwarz-weißen Bilder, so Muhle, werde «ein Sperrmoment in die Quellen eingezogen», das «stets an den unsicheren Status historischer Dokumente erinnert».127 Wahrt man diesen unsicheren Status der Dokumente aber nicht eher, indem man sie – soweit wie möglich – in ihrer historischen Verfasstheit b elässt? Apocalypse, wie Bonzon zu Recht bemerkt, zielt darauf, das Bildmaterial «den Modalitäten der aktuellen Wahrnehmung anzu passen»;128 die «pädagogische Absicht» der Montage ist es, so Belot, «die Aufmerksamkeit einer Generation zu erleichtern, der die Zeit des Schwarz/Weiß unbekannt ist».129 Wäre in diesem Sinne aber nicht g erade die Unvertrautheit mit dem historischen Schwarz-Weiß ein Grund gewesen, es beim befremdlichen Anschein der Bilder zu belassen?
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Das gilt auch für They Shall Not Grow Old. Die Filmkritik hat Jacksons audiovisuelle Wiederbelebung der Toten als Offenbarung einer ungeahnten Authentizität gewürdigt.130 Zu den wenigen Kritikern des Films gehörte der Rezensent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die Szenen, in denen der Film «die Gesichter von damals zum Sprechen bringt, haben etwas Indezentes», bemerkt Andreas Kilb.131 Der Autor wechselt hier in ein ethisches Register: «indezent» ist kein Sachkriterium, keine gewöhnliche Kategorie der Filmkritik, kein rationales, auch kein ästhetisches Urteil; «indezent» beschreibt viel eher eine Einstellung, eine Haltung oder Umgangsform. Im konkreten Fall meint «indezent» einen Umgang mit Geschichte, der es an Zurückhaltung und Rücksichtnahme fehlen lässt. In seiner Kritik an Apocalypse hat Georges Didi-Huberman einen ähnlichen Begriff ins Spiel gebracht: Es gehe darum, ob man die historischen «Bilder ersticke» oder «taktvoll mit ihnen umgehe» («étouffer les images ou bien les traiter avec tact»).132 Der Umgang mit dem überlieferten Bildmaterial wäre demnach auch eine Frage des Takts – der Rücksichtnahme einer Nachwelt auf das ihr Überlieferte. Den Bildern ihre historische Form zu belassen, hieße, ihre Differenz anzuerkennen, statt sie den Bedürfnissen, Vor lieben und Sehgewohnheiten der Gegenwart anzupassen. Diese Überlegungen bewegen sich auf unsicherem Grund. «Takt» und «Dezenz» sind keine gesicherten Kriterien historiographischer Forschung, weder allgemeinverbindlich, noch empirisch bestimmbar.133 Der Versuch, ihnen gleichwohl Rechnung zu tragen, antwortet den Animateuren der Geschichte auf dem Terrain, das sie für sich selbst beanspruchen. Das Versprechen, die Toten aus ihrer «CharlieChaplin-Welt» zu befreien, gründet letztlich in einem ethischen Anspruch. Die digitale Animation soll «das menschliche Gesicht des Ersten Weltkriegs» erfahrbar machen.134 «Die Männer auf den Bildern sind genau wie wir», bemerkt Jackson – als annulliere das geteilte Menschsein jegliche historische Differenz, als erzeugten die animierten Bilder über einhundert Jahre hinweg eine unmittelbare Nähe zu den Soldaten in den Schützengräben. Diesen «Mythos der conditio humana» hat Roland Barthes vor über fünfzig Jahren bereits an Edward Steichens The Family of Man kritisiert. Die Vorstellung einer zeitlos gültigen «‹Beschaffenheit› des Menschen, beruht auf einer sehr alten
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Mystifikation, die von jeher die Geschichte auf Natur gründen möchte.»135 «Wir alle», so illustriert Jackson diese Mystifikation im Interview, «teilen die DNA der Soldaten, die in diesem Krieg gekämpft haben».136 Hier ist nicht der Ort, um in eine Grundsatzdiskussion über die Motive und Voraussetzungen dieses vermeintlichen Humanismus einzutreten. Der Hinweis auf die historische Distanz als eine Frage des Takts ist aber wichtig, um eine Polarität zu vermeiden, die der historischen Forschung das Sichern der Fakten, der medialen Geschichts darstellung die Empathie mit den Toten zuschreiben will. Diese Aufteilung bemüht eine falsche Opposition zwischen akademischer Wissenschaft und medialer Vermittlung von Geschichte, Rationalität und Einfühlung, Abstraktion und Unmittelbarkeit, analytischer Distanz und Nähe zur Lebenswelt. Es versteht sich von selbst, dass eine Produktion wie Apocalypse oder They Shall Not Grow Old andere Formate wählt, einem anderen institutionellen Rahmen unterliegt und ein anderes Publikum adressiert als die hier zitierten Theoretiker der Geschichtswissenschaft. Aber folgt aus dieser grundlegenden Differenz, dass man dem dokumentarischen Film nicht mit einer historiographisch begründeten Kritik begegnen kann? Was Michel de Certeau als «Widerstand der Quellen» beschrieben hat, begegnet jedenfalls auch im Umgang mit den Filmbildern der Vergangenheit. Es ist, so präzisiert de Certeau, «der Widerstand von etwas […], das nicht mehr existiert»: «Der Historiker geht von einer bestimmten Anzahl von Elementen aus, die Teil seiner Gegenwart sind. Und seine Arbeit konstituiert in dem Ausmaß eine ‹Vergangenheit›, in dem es dort Vergangenes gibt, wo er in der einen oder anderen Form einem Widerstand von etwas begegnet, das nicht mehr existiert.»137 Im Bereich des Films ist eine Artikulationsform dieses Widerstands das Schwarz-Weiß und die Stummheit von Bildern, die sich den audiovisuellen Standards der Gegenwart nicht fügen. Es gehört zu den Eigenarten von Apocalypse, dass die Bilder aus den Lagern von der Kolorierung ausgenommen wurden. Die Aufnahmen aus Auschwitz erscheinen im historischen Schwarz-Weiß. «In wessen Namen geschieht das?», fragt Belot. «Gibt es zwei, hierarchisch geordnete historische Wahrheiten: eine, die Rücksicht verdient und eine
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andere, deren Integrität weniger anspruchsvoll wäre?»138 Diese Zurückhaltung wurde von anderer Seite inzwischen aufgehoben – siehe die Kolorierung von Auschwitz – Fotos durch Marina Amaral (Kapitel 3.9).
6. Harun Farocki – «Politik der minimalen Intervention» Zwei Jahre vor der Erstausstrahlung von Apocalypse zeigte Harun Farocki auf dem Internationalen Filmfestival im südkoreanischen Jeonju seinen Film Aufschub. Der Film, wie oft bei Farocki, präsentiert keine eigenen und neuen Bilder, sondern montiert historische Filmaufnahmen – die Dokumentation des niederländischen Durchgangslagers Westerbork durch den Lagerinsassen Rudolf Breslauer im Frühjahr 1944. Das Lager, ursprünglich eine Unterkunft für aus Deutschland geflüchtete Juden, wurde 1940 nach der Besetzung der Niederlande durch die Nationalsozialisten in ein sogenanntes Durchgangslager umfunktioniert. Etwa zehntausend Insassen hielten sich jeweils im Lager auf, bevor sie von dort nach Bergen-Belsen, Theresienstadt oder Auschwitz deportiert wurden. Es gab Fabriken, wissenschaftliche Labore, ein Theater, ein Krankenhaus, einen Kindergarten. Sowohl die Patienten als auch die Ärzte des Krankenhauses waren Lagerinsassen. In der Aufnahmestelle des Lagers waren es Häftlinge, die ihre neu angekommenen Mithäftlinge registrierten, im Theater spielten Häftlinge vor ihren Mitgefangenen, und auch in der Lagerpolizei dienten Insassen. 1944 beauftragte der Lagerkommandant, der SS-Offizier Albert Gemmeker, den Fotografen Breslauer, eine filmische Dokumentation des Lageralltags zu erstellen. Breslauer drehte im Frühjahr 1944 mit zwei 16mm-Kameras. Erhalten haben sich 90 Minuten kaum bearbeiteten Filmmaterials, das der Ordnung der Schauplätze – Aufnahmestelle, Fabrik, Theater, Arbeit auf dem Feld etc. – folgt. Aus diesem Material hat Farocki eine vierzigminütige Montage erstellt. Farockis Vorgehen ist «gleichermaßen minimalistisch, bescheiden und subtil», «deutlich und leise zugleich» – eine «Politik der mini malen Intervention».139 Als erstes Bild erscheint eine schwarze Lein-
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Abb. 94 Harun Farocki, Filmstill aus Aufschub, 2007
wand, darauf in weißer Schrift das Wort «Silent Movie» (Abb. 94) – eine Anspielung auf die Frühzeit des Kinos, zugleich ein Hinweis auf die Dominanz der Bilder und die Abwesenheit des Tons. «Nachdem ich immer wieder Marschkolonnen gesehen hatte, denen man einen Ton aus dem Studio unterlegt hatte und Musiken gehört hatte – Eislers Paraphrase des Deutschlandliedes bei Resnais, Lieder auf Hebräisch bei den Bildern vom Ghetto bei Leiser – nahm ich mir vor, einen stummen Film zu machen.»140 Farockis «Respekt vor dem stummen Material»,141 sein Verzicht auf eine nachträgliche Vertonung der Bilder, lassen Aufschub als Solitär in der Landschaft des historischen Dokumentarfilms erscheinen. Das Vorgehen ist gleichermaßen radikal und zurückhaltend, ein Akt des Gewährenlassens, der die gegebene Stummheit der Bilder auf sich beruhen lässt, sie in ihrer Wiederholung aber doch kommentiert. «Die Bilder, die Rudolf Breslauer, ein Fotograf aus München, der mit seiner Familie in die Niederlande geflüchtet war, auf Anordnung des Lagerkommandanten aufgenommen hatte, sind stumm. Ich nahm mir vor, nur dieses Material zu benutzen und innerhalb der Sequenzen, die zi-
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tiert werden, nichts hinzuzufügen oder wegzulassen.»142 Zur «Politik der minimalen Intervention» gehört neben dem Verzicht auf Ton auch die Beibehaltung der historischen schwarz-weißen Farbskala des Films. Ein Nachkolorieren der Bilder würde der Dramaturgie von Aufschub in jeder Hinsicht zuwiderlaufen. Breslauer filmte das Ein- und Ausfahren der Züge, das Treiben am Bahnsteig, wenn ein weiterer Abtransport von Häftlingen vorbereitet wurde. Andere Einstellungen zeigen die Häftlinge bei gymnastischen Übungen im Freien, bei der Feldarbeit, im Labor oder in der Fabrik, wo sie ausrangierte Motoren zur Wiederverwertung der Rohstoffe demontieren: Flugzeugteile werden auseinandergenommen, Batterien recycelt, das Kupfer aus elektrischen Drähten gezogen. Auf diesen Bildern sieht man die Häftlinge «eine fast sinnlose Arbeit mit großer Sorgfalt ausführen, um nicht in den Osten abtransportiert zu werden […].» Auf diesen Zusammenhang spielt Farocki im Titel des Films an: Die Arbeit gewährt einen «Aufschub», solange gearbeitet wird, ist die bevorstehende Deportation noch einmal abgewendet. «[…] auch der Filmaufnahme ist anzusehen, daß sie einen Aufschub bewirken soll. Es kann nur schlimmer werden, darum wird die Gegenwart im Lager filmisch in die Länge gezogen».143 Einige Einstellungen dreht Breslauer in Zeitlupe – wie um in dieser symbolischen Verlangsamung zusätzlich Zeit zu gewinnen. Beim Betrachten von Aufschub nimmt man die anhaltende Stummheit der Bilder wahr – vierzig Minuten Film ohne Stimmen, Musik oder Geräusch. Man sieht, wie die Dargestellten sich über die Leinwand bewegen, aber zugleich entrückt die Abwesenheit des Tons sie in eine u nerreichbare Ferne, eine Abgeschiedenheit wie tief unter Wasser. Insbesondere die Szenen, die uns die Gefangenen als Musiker und Sänger auf der Bühne des Lagers zeigen, kehren diese Stummheit hervor. Man sieht den Pianisten die Tasten des Klaviers anschlagen, aber kein Ton dringt bis zu uns hervor; der Chor singt und schweigt zugleich, eine Dirigentin bewegt den Taktstock im Rhythmus einer unhörbaren Musik (Abb. 95). Und doch ‹fehlt› diesen Bildern nichts. Die Abwesenheit des Tons ist kein zu behebender Mangel: Sie gibt zu verstehen, dass hier etwas Vergangenes zu sehen, aber nicht wieder zurückzuholen ist.
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Abb. 95 Harun Farocki, Filmstill aus Aufschub, 2007
Elsaessers Wort von der «Politik der minimalen Intervention» benenntbeide Motive des Verfahrens genau: die Behutsamkeit der Eingriffe, zugleich aber ihren Status als ‹Politik› und bewusste Entscheidung für eine bestimmte Art des Umgangs mit historischen Bildern. Die Interventionen sind minimalistisch und doch nehmen sie eine entschiedene Re-Strukturierung des Materials vor. Farocki lässt Breslauers Film noch einmal ablaufen, stellt aber Sequenzen um, unterbricht und verlangsamt Einstellungen, indem er sie zum Standbild einfriert. «Die Montage», schreibt Antje Ehmann, «folgt dabei der von Farocki häufig eingesetzten Loop-Struktur: er präsentiert eine Sequenz, stellt sie in einen Kontext mit anderen Sequenzen, liefert Verständnishinweise, um die gleiche Sequenz dann später, zum Teil mehrfach, wieder aufzugreifen, wobei sie sich jeweils neu entschlüsseln wird.»144 All das geschieht innerhalb der Bilder: A ufschub ist ein
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Film über einen Film, aber zugleich sind kommentierende und kommentierte Bilder identisch, lässt Farocki die Bilder des Films sich selbst repräsentieren. Das wäre nicht möglich ohne das Hinzutreten der Sprache. Wie im klassischen Stummfilm kommentieren zwischengeschaltete Texttafeln das Gezeigte. Kein Bild, so wurde hier wiederholt festgestellt, ist aus sich selbst heraus evident. Die Sprache strukturiert das Gesehene, zugleich vermag sie aber nicht, es restlos zu kontrollieren. «Das hauptsächliche filmische Verfahren», so beschreibt Farocki eine übliche Praxis der Text-Bild-Montage im historischen Film, «besteht darin, dass ein Text etwas darlegt und Fotografien oder Filmausschnitte ihn bebildern […]. Wenn etwa von Hindenburg die Rede ist, sieht man diesen mit seinem Sohn durch einen Park gehen.»145 Diese ans Tautologische grenzende Art der Montage will die Bilder zeigen lassen, was zugleich auch der Text besagt. Der Kommentar sagt: «Hindenburg», das Kamerabild zeigt: «Hindenburg». Sprache und Bild sollen zur Deckung kommen, um eine stabile Wirklichkeit vor Augen zu führen, deren scheinbare Evidenz jede Vermittlungsarbeit, jedes Eigenleben von Text und Bild vergessen lässt. An anderer Stelle bemerkt Farocki, «wie die Bilder unter einer Last ächzen, wenn man in sie hineinspricht».146 In Aufschub wird nicht ‹in die Bilder hinein› gesprochen. Es gibt kein Voiceover, die Sprache interveniert als geschriebener Text zwischen den Bildern. «Die Einblendungszeit geht dabei weit über eine durchschnittliche Lesedauer hinaus», sodass die Schrifttafeln den Bilderfluss durch reflexive Einschübe unterbrechen.147 Wiederholt setzt Farocki die Texttafeln ein, um die Bilder des Films zu befragen: «Sind diese Bilder eine Beschönigung?», heißt es einmal. Da Westerborg kein Vernichtungslager war, entsprechen manche der Aufnahmen nicht der Vorstellung, die man vom Alltag in einem Lager der Nationalsozialisten hat. Eine wiederkehrende Sequenz zeigt Frauen bei Gymnastikübungen im Freien, in der Mitte des Kreises die Vorturnerin. Sie tanzt mit ausgestreckten Armen, hüpft von einem Bein auf das andere, dreht sich lächelnd in die Kamera (Abb. 95). «Diese Bilder werden kaum je gezeigt» / «wohl um ein falsches Bild von den Lagern zu vermeiden». Auch solche «Augenblicke der Selbstbehauptung», so der Kommentar, gelte es je-
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doch wahrzunehmen. Es folgen Aufnahmen vom belebten Bahnsteig vor der Abfahrt eines Zuges: Lagerinsassen irren mit ihren Koffern umher und suchen nach der Nummer des Waggons, in den sie einsteigen sollen. «Diese Bilder werden eher gezeigt», heißt es.148 Die Schrift übernimmt hier die Regie über den historischen Status der gezeigten Bilder: Der Kommentar kennt bereits ihre spätere, historische Rezeption in anderen Zusammenhängen, und er weiß auch von anderen, späteren Bildern, die sie überlagern, auch wenn sie in Breslauers Filmaufnahmen nicht unmittelbar zu sehen sind. «Bilder, die wir aus anderen Lagern kennen, überlagern die aus Westerbork». Diese Beobachtung bezieht sich auf eine Sequenz, die auf dem Feld arbeitende Häftlinge während einer Ruhepause im Gras liegend zeigt. «Auf das Bild der Mittagsruhe – legt sich das Bild von den Toten unter freiem Himmel in Bergen-Belsen». Aufschub setzt Breslauers Aufnahmen in ein Verhältnis zur Zeit. Wie alle historischen Filme verweisen die Aufnahmen Breslauers auf den Zeitpunkt ihrer Entstehung, der Kommentar benennt aber auch die Gegenwart, aus der heraus wir sie betrachten. Aufschub reflektiert Breslauers Film, zugleich aber auch «unser Wissen um die Bilder des Holocaust». Es geht darum, «wie wir ein Bild aus dem ‹Archiv› ‹sehen›.»149 Der Kommentar zu einer Sequenz in Aufschub, die Männer und Frauen beim Einsteigen in die abfahrbereiten Züge zeigt, erinnert daran, dass die Präsenz der Kamera die dargestellten Ereignisse mög licherweise mitbestimmt hat. Die Gefasstheit der Dargestellten, die ohne Anschein innerer Erregung den Zug besteigen, könnte ein Hinweis sein, dass sie ihr Gefilmtwerden als Zeichen der Entwarnung verstanden haben. «Vielleicht hat die Anwesenheit der Kamera eine Wirkung getan» / «Konnte es am Ziel so schlimm sein wie befürchtet, wenn die SS die Abfahrt filmen ließ?» Eine solche Aufmerksamkeit für die Bedingungen des Films und die Präsenz der Kamera sucht man in Jacksons Montage vergebens. Das zeigt nicht nur der völlige Verzicht auf Hinweise zu Herkunft, Autorschaft und Entstehungsbedingungen der kompilierten Filme, sondern insbesondere ein Detail, das die Dramaturgie der audiovisuellen Animation merkwürdig konterkariert. Wie bereits beschrieben, gehört zu dieser Dramaturgie das nachträg liche Vertonen der stummen Dialoge. Es fällt aber auf, dass in den
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historischen Filmen oftmals gar nicht gesprochen wird. In diesen Sequenzen fährt die Kamera eine Gruppe von Soldaten entlang, die aufmerksam und schweigend in das Objektiv blicken: Die Gefilmten wussten, dass der Apparat keinen Ton aufzeichnen konnte, und haben wohl deshalb auf das Sprechen in die Kamera verzichtet. Das Bewusstsein der Dargestellten, Akteure eines Stummfilms zu sein, ist den Bildern hier unmittelbar anzusehen. Insofern widersprechen in diesen Passagen die historischen Aufnahmen bereits von sich aus den Versprechungen ihrer Animation. Eine der in Aufschub mehrfach wiederholten Sequenzen wird zum Gegenstand einer beinahe detektivisch anmutenden Lektüre (und wenn an dieser Stelle das Wort ‹detektivisch› fällt, geschieht das in Erinnerung an Kracauers Sympathie für die Figur des Ermittlers Arnold Pike und seine Wahrheitssuche im scheinbar nebensächlichen Detail). Die Sequenz zeigt eine alte Frau, die auf einer hölzernen, mit großen Rädern versehenen Liege am Bahngleis entlanggefahren wird. Der Kommentar hält fest: «Auf dem Koffer der Frau eine Aufschrift». Der Film wird angehalten, und ein unscharfes Standbild lässt die Aufschrift auf dem Koffer eher erahnen als erkennen (Abb. 96). Der Kommentar: «F oder P Kroon ist zu entziffern und 26. ? 82 oder 92». Anhand der Transportliste des Zuges konnte die alte Frau als Frouwke Kroon identifiziert werden, geboren am 26. September 1882. Mit dem Eintrag in der Liste ließ sich auch das Datum der Filmaufnahmen, der 19. Mai 1944, bestimmen. Die Verankerung der Bilder in der Zeit macht aus ihnen ein Zeugnis, das über das bloße Wissen der Datierung weit hinaus geht: «Die Schrift auf dem Koffer macht es möglich, den Tag der Filmaufnahme zu bestimmen: / 19. Mai 1944 / An diesem Tag winkte ein Kind zum Abschied (Abb. 97) / half ein Mann, die Tür des Güterwagens zu schließen, mit dem er deportiert wurde (Abb. 98) /An diesem 19. Mai 1944 ging ein Zug mit 691 Menschen von Westerbork ab». Der Film bewahrt diese Szenen auf. Man kann sie wiederholen und aus der Distanz betrachten, zugleich bestätigt der historische Film die Unmöglichkeit, die Ereignisse aus der Vergangenheit zurückzuholen. In dieser zweifachen Bestimmung zeigen die Aufnahmen Breslauers und ihre Remontage durch Farocki noch einmal die Möglichkeiten und Grenzen des historischen Bildes: seinen Status zwischen Vergegenwärtigung und Unwieder-
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Abb. 96 Haroun Farocki, Filmstill aus Aufschub, 2007
holbarkeit, Nähe und Distanz, Sichtbarkeit und Entzug. Jeder Versuch, diese zweifache Bestimmung des Bildes im Zeichen seiner Wiederbelebung aufzuheben, erzeugt nur eine Welt aus Untoten. In seinen Überlegungen zur Montagetechnik Farockis formuliert Georges Didi-Huberman eine bemerkenswerte These. Obwohl Farocki in beinahe allen seinen Arbeiten vorgefundene Bilder übernehme, seien diese trotzdem nicht Teil eines künstlerischen Œuvres geworden. Die Bemerkung richtet sich auf die Rolle Farockis «als Produzent von Werken der Kunst, die an jenen Orten der Kulturindustrie zugänglich sind, die man ‹Galerien› oder ‹Museen› nennt.»150 Tatsächlich hat Farocki diese Rolle erst in den letzten Jahrzehnten seines Schaffens angenommen. Die zweifache Teilnahme an der Documenta, Einzelausstellungen in großen Museen moderner und zeitgenössischer Kunst in New York, Seoul, Tel Aviv, Bregenz oder Köln dokumentieren diese Entwicklung. Die frühen Arbeiten entstanden für Programmkinos
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Abb. 97 Haroun Farocki, Filmstill aus Aufschub, 2007
und Sendeanstalten, erst später wurden sie in Räumen der bildenden Kunst gezeigt, zugleich kamen neue Arbeiten hinzu, die bereits im Hinblick auf ihre museale Präsentation konzipiert wurden.151 Aus manchen der Fernseh- und Kinofilme wurden Videoinstallationen, die Arbeit des Essayfilmers traf auf ein neues und anderes Feld von Akteuren und die professionellen Kommentare verlagerten sich zusehends von der Filmkritik und der Filmwissenschaft in die Domäne der Kunstkritik und der Kunstgeschichte. Vor dem Hintergrund dieser Präsenz in den Institutionen der Kunst überrascht Didi-Hubermans These, die von Farocki übernommenen Bilder blieben außerhalb des künstlerischen Œuvres. Farocki präge dem visuellen Archiv der Geschichte kein künstlerisches Markenzeichen auf. «Seine Entscheidung, die Bilder, die ihn interessieren, hier oder da zu nehmen, wird nicht von der Frage der Ware und nicht einmal von der Frage der Kunst bestimmt. Sein
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Abb. 98 Haroun Farocki, Filmstill aus Aufschub, 2007
Bestreben geht just dahin, das Copyright im Bereich der visuellen Archive der Geschichte verschwinden zu lassen. Er nimmt nur, um zur Kenntnis zu nehmen, und niemals, um sein Markenzeichen einzu prägen.»152 Dass Farockis Arbeiten ungeachtet ihrer Präsenz im Kunstsystem keinerlei Markenzeichen tragen und ohne Copyright zirku lieren, kann wohl bestritten werden. Im Abspann von Aufschub heißt es: «Autor/Produzent Harun Farocki 2007». Als bloßes «Nehmen» und «Zurückgeben» ist die Aneignung historischen Bildmaterials wohl nicht angemessen beschrieben. Und doch erinnert Didi-Huberman zu Recht daran, dass Farockis Art der Montage die Bilder in weiten Teilen in ihrer historischen Form belässt. Auch ihre Nachbearbeitung in Aufschub macht Breslauers Aufnahmen nicht nachträglich zum Kunstprodukt. In seinen Überlegungen verweist Didi-Huberman auf ein Bildzitat aus Farockis Bilder der Welt und Inschrift des Krieges
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Abb. 99 Auschwitz-Album
(1988). Es zeigt eine Fotografie aus dem sogenannten Auschwitz- Album, das die Lagerinsassin Lily Jacob nach der Befreiung des Lagers in den Baracken entdeckt hat (Abb. 99).153 Die Frau auf diesem Foto, so Didi-Huberman, werde «nie zu einem stilistischen Indikator der Kunst Farockis werden.»154 Das gilt auch für die Aufnahmen Breslauers in Aufschub. Auch wenn sie im Zuge ihrer Montage durch Farocki heute zum Gegenstand von Retrospektiven geworden ist, vermag der neue Rahmen ihre historische Substanz nicht zu löschen. Das vorliegende Kapitel hat sehr unterschiedliche Formate des historischen Films in einen gemeinsamen Zusammenhang gebracht – Spielfilme von Orson Wells und Stuart Cooper, zwei Weltkriegsdokumentationen, schließlich Farockis Stummfilm-Remontage. Allen gemeinsam ist der Rückgriff auf historisches Bildmaterial, zugleich repräsentieren sie unterschiedliche Gattungen des Films, verfolgen unterschiedliche Absichten und richten sich zweifellos auch an unterschiedliche Adres-
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saten. Macht eine Zusammenschau dieser Filme sich demnach nicht der gleichen Nivellierung schuldig, die hier an den Kompilationen von Apocalypse und They Shall Not Grow Old kritisiert wurde? Mehr noch: Warum dieser argumentative Aufwand, nur um den naheliegenden Befund zu liefern, dass historische Spielfilme, Auftragsarbeiten für das zeitgenössische Kino und öffentliche Sendeanstalten, schließlich Werke des Essayfilms unterschiedlich mit den historischen Beständen der Bildarchive umgehen? Die verschiedenen institutionellen Bedingungen und Kontexte der genannten Filme sollen nicht in Abrede g estellt werden. Sie waren hier aber nicht das Thema. Die Perspektive der vorangegangenen Betrachtungen war nicht diejenige einer interesselosen Untersuchung, die verschiedene Formate empirisch unterscheidet, sondern diejenige einer Kritik verschiedener Leitbilder historischer R ekonstruktion.
Nachwort (Der Vergangenheitseffekt)
Die Vergangenheit ist unbeobachtbar – von dieser Feststellung hat dieses Buch seinen Ausgang genommen und nach Versuchen gefragt, der verlorenen Zeit nachträglich dennoch ein Bild abzugewinnen. Den Leserinnen und Lesern wird nicht entgangen sein, dass im Verlauf dieser Darstellung mal von ‹Vergangenheit›, mal von ‹Geschichte› die Rede war. Beide Begriffe, schreibt Valentin Groebner zu Recht, «werden häufig als Synonyme verwendet, bezeichnen aber sehr Verschiedenes. Denn Vergangenheit ist unwiderruflich vorbei. Egal ob sie mehrere Jahrhunderte, Jahre oder nur Wochen zurückliegt: Sie ist zwar vom Standpunkt des Sprechers unterschiedlich weit weg, aber zugleich unerreichbar, ein für immer unzugänglicher Zeitbezirk.» Die so verstandene Vergangenheit ist «ein lückenhafter, heterogener und mehrdeutiger Bestand an Überresten», sie «kann nicht mehr ver ändert, verbessert, repariert werden […].»1 Diese Unzugänglichkeit war auf den vorangegangenen Seiten immer wieder Gegenstand der Darstellung: in der Betrachtung von Bildern, deren historische Bezugs punkte verschwunden sind, in der Beschreibung von Schauplätzen, an denen keine sichtbare Spur vergangener Ereignisse sich erhalten hat, im unwiederbringlichen Verlust so vieler schriftlicher und bildlicher Zeugnisse. Das also wäre ‹die Vergangenheit›. «Geschichte dagegen», so Groebner weiter, «ist die Darstellung dieses Abwesenden. Sie muß erzählt und präsentiert werden, und deswegen hat sie (auch und gerade dann, wenn sie die Geschichte weit zurückliegender Epochen ist) ziemlich lebendige Protagonisten. Geschichte spielt sich immer in der Gegenwart ihrer Erzähler und ihres Publikums ab.»2 Auch für diese Beobachtung wurden hier zahlreiche Beispiele genannt: Historienfilme und Reenactments, die Vergangenes
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zurückholen wollen, dabei aber nicht zuletzt die Gestalt ihrer eigenen Gegenwart offenbaren; Personen und Ereignisse der Vergangenheit, die erst in der Einbildungskraft ihrer Nachwelt Kontur gewinnen; der zeitgenössische Blick, der auf historischen Fotos Eigenschaften erkennt, die sie zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme noch gar nicht besessen haben. Wie verhalten sich nun aber diese beiden Zeiten zueinander? Anders gefragt: Wie kommt man von der ‹Vergangenheit› zur ‹Geschichte›? Die Vergangenheit, so noch einmal Valentin Groebner, weiß «nichts von allen späteren Anstrengungen, sie zu kommentieren. Es sei denn, man verwandelt sie in Geschichte, und das heißt, in form-, knet-, und veränderbare Erzählungen mit Rückkopplungsschleife, in der auch die Erzähler des Vergangenen und ihr Publikum einen Platz finden können, nachträglich.»3 Sind Vergangenheit und Geschichte demnach voneinander getrennte Sphären, in sich geschlossene Zeitkapseln ohne die Möglichkeit wechselseitiger Affizierung? Der abgelebten und unförmigen ‹Vergangenheit› stünde dann die präsente und lebendige ‹Geschichte› gegenüber, dem Rohstoff «jenseits der ordnenden Erzählungen» der ordnende Text des Historikers: die vergangene Zeit – wenn man bei der Metapher des ‹Rohstoffs› bleiben will – im ‹gekochten› Zustand. Der Einsatz dieses Buches war es, am Beispiel visueller Repräsenta tionen nach Formen der Vermittlung zwischen diesen Polen zu fragen: nach Artefakten im Zustand der Latenz, die sich weder ganz der ‹Vergangenheit› noch ganz der ‹Geschichte› im oben beschriebenen Sinn zurechnen lassen, da sie unentschieden zwischen beiden Polen oszillieren.4 Die hier geschilderten Verfahren der historischen Rekonstruktion, der Aneignung und Authentifizierung beruhen jedenfalls ausnahmslos auf solchen uneindeutigen Verfahren: die Arbeit eines Historienmalers, der erhaltene Relikte zum Beweggrund seiner Bilder macht; historische Fotografien, die ihren Gegenstand als ‹wirklich›, aber zugleich auch als ‹vergangen› ausweisen; die Suche nach historischen Orten, an denen keine Spur sich erhalten hat und die trotzdem nicht leer sind; der Umgang mit found footage in seiner doppelten Funktion als Wiederholung und Überarbeitung historischer Fragmente. Der Vergegenwärtigung des Vergangenen korrespondiert in all
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diesen Fällen – falls man den Neologismus gelten lassen will – seine ‹Entgegenwärtigung›. Aus dieser Perspektive folgt ganz zwangsläufig eine grundsätzliche Skepsis gegenüber allen Versuchen, die Arbeit an der Rekonstruktion auf eine einzige dieser gegenläufigen Bewegungen zu reduzieren. Das geschieht etwa im Versprechen auf Unmittelbarkeit – Versuchen, die Vergangenheit im Jetzt ‹wiederaufleben› zu lassen, sie ‹erlebbar› zu machen, mit anderen Worten: ihr Vergangensein zu überspielen. «Die Idee, etwas historisch zu sehen, heißt, etwas in einer Distanz sehen zu können», so noch einmal Gertrud Koch.5 Beide Aspekte dieser Tätigkeit sind gleichermaßen von Bedeutung: das Sehen und die Distanz, der Blick und sein Abstand zum Gesehenen. Die Betrachtung aus der Distanz ist dabei weder einem Wunsch nach Neutralität geschuldet – ein ohnehin unmögliches Unterfangen – noch steht sie für den Versuch, das vergangene Wirkliche von der eigenen Gegenwart fernzu halten. Distanznahme ist vielmehr die Bedingung, um überhaupt etwas zu sehen. Darum war das Motiv der Entfremdung für die vor liegende Arbeit grundlegend – als Einsicht in das Anderssein der Vergangenheit und zugleich als Verfremdung der eigenen, als selbst verständlich empfundenen Gegenwart. Eine stabile Synthese aus Aneignung und Entzug, Anwesenheit und Abwesenheit des Vergangenen ist wohl kaum zu erlangen. Ihrem Antagonismus entspricht es eher, Formen der Paradoxie zu bemühen, wie Michel de Certeau es getan hat: «Der Historiker geht von einer bestimmten Anzahl von Elementen aus, die Teil seiner Gegenwart sind. Und seine Arbeit konstituiert in dem Ausmaß eine ‹Vergangenheit›, in dem es dort Vergangenes gibt, wo er in der einen oder anderen Form einem Widerstand von etwas begegnet, das nicht mehr existiert.»6 Dieses Buch galt dem Versuch, Erscheinungsformen dieses ‹Widerstands› in der Betrachtung von Spuren, Resten und historischen Bildern auszumachen. Dass für diese Betrachtung auch der Zeitpunkt entscheidend ist, von dem aus sie erfolgt, wurde hier mehrfach angesprochen. Unser Blick etwa auf die Historienmalerei des neunzehnten Jahrhunderts ist dadurch geprägt, dass es heute auch den Film und das digitale Bild gibt. Daneben ist offenbar aber noch eine andere Zeitlichkeit ent-
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scheidend – das Alter und die erfahrene Lebenszeit der Betrachtenden. In seinen Überlegungen zur Farbfotografie erinnert Hendrickson daran, dass die irrationale (aber darum nicht weniger wirkungsmächtige) Vorstellung, das Leben der dreißiger Jahre habe sich «irgendwie in Schwarz-Weiß abgespielt», der Erfahrung vieler Amerikaner «in einem bestimmten Alter» entspricht. Wer wie Hendrickson der Generation der in den vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts Ge borenen angehört und das historische Erbe und die Eigenschaften des Schwarz-Weiß aus eigener Erfahrung kennt, musste das ungeahnte Wiederauftauchen der historischen Farbbilder der dreißiger Jahre als Irritation empfinden. Einer späteren Generation, für die Schwarz-Weiß und Farbe immer schon koexistierende Phänomene waren, und einer noch späteren, die das Schwarz-Weiß vielleicht als bloßen Effekt digi taler Filter erlebt, werden sich die Farben der Vergangenheit ganz anders darstellen. So wird man dem Autor dieses Buches (Jahrgang 1965) vorhalten können, dass er mit Kracauer und Barthes die Schutzhei ligen des analogen Zeitalters herbeizitiert – Autoren, die vom digitalen Bild oder neuesten Verfahren der Simulation von Geschichte noch gar nichts wissen konnten. Tatsächlich – um beim Beispiel der Farben zu bleiben – gibt es längst Gebrauchsweisen der Fotografie und des Films, die sich in den hier verwendeten Begrifflichkeiten nur sehr unzureichend beschrieben lassen. Abbildung 100 lässt auf den ersten Blick an eine historische Aufnahme aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts denken. Der Gegenstand des Bildes ist alt, und alt erscheint auch das Foto selbst – aufgenommen im historischen Schwarz-Weiß, an den Rändern noch mit fotochemischen Artefakten seiner Herstellung versehen, wie man sie aus der Frühzeit der Fotografie kennt. Zwar irritiert der Umstand, dass aus der Dämmerung an den Rändern des Bildes in seinem Zentrum eine gestochen scharfe Ansicht der Londoner St. Pauls Cathedral in beinahe hyperrealistischer Deutlichkeit hervortritt. Aber der visuelle Gesamteindruck bleibt doch derjenige einer historischen Aufnahme. Tatsächlich jedoch handelt es sich um ein Foto aus dem Jahr 2004, bearbeitet mit der Fotoapp Hipstamatic, einer Kombination aus Software-Filtern zur Erzeugung visueller Retro-Effekte. Verglichen mit der im dritten und vierten Kapitel beschriebenen Praxis digitaler Nachkolorierung entfaltet sich hier ein ganz anderes,
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Abb. 100 Jamie Gladden, St. Paul’s Cathedral, aufgenomen mit Hipstamatic
historiographisches Szenario: keine nachträglich kolorierte SchwarzWeiß-Aufnahme, die verlebendigt werden soll, sondern ein Bild der Jetztzeit, dessen Schwarz-Weiß historische Aura simuliert – ein Vergangenheitseffekt, der nichts ‹wiederherstellen› will, sondern unter Umgehung der verfließenden Zeit einen Anschein von Geschichtlichkeit produziert. Dieser Effekt ist nicht notwendig auf Schwarz-WeißAufnahmen beschränkt, auch der spezifische Look historischer Farb fotografien lässt sich per Filter problemlos erzeugen – wie auf dieser,
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einem Web-Blog entnommenen Aufnahme einer Stadtsilhouette, die das stimmungsvolle Licht eines allmählich zu Ende gehenden Tages mit der Farbbildästhetik der siebziger Jahre koppelt (Abb. 101). Die auf diese Weise entstandenen Bilder «sehen so aus, als hätten sie bereits jene Patina angesammelt, über die historische Distanz ästhetisch überhaupt erst wahrnehmbar wird. Diese Distanz ist die Voraussetzung für den nostalgisch-affektiven Blick auf die Bilder, der nicht erst in der Zukunft eingenommen werden soll, sondern sofort, direkt nach oder sogar schon während der Aufnahme.»7 In Riegls Typologie historiographischer Leitbilder (Kapitel 4.5) könnte man vom «simulierten Erinnerungswert» sprechen. Was folgt daraus für die Geschichte historischer Rekonstruktion? Zweifellos steht Hipstamatic für einen spielerischen Umgang mit den Möglichkeiten digitaler Bildbearbeitung – eine Gebrauchsweise von Bildern, die ohne Wahrheitsanspruch in Erscheinung tritt. Das schränkt die Vergleichbarkeit mit Produktionen wie Apocalypse oder They Shall Not Grow Old, die einen solchen Anspruch verfolgen, erheblich ein. Hier interessieren aber weniger die tatsächlichen und empirisch nachweisbaren Gebrauchsformen der Retro-Ästhetik als vielmehr ihr historiographisches Potenzial – die Möglichkeiten visueller Simulation von Vergangenheit, die mit ihnen nun in der Welt sind. Mit Blick auf das Paradigma der Spur und der Zeugenschaft der Bilder zeichnet sich hier eine bemerkenswerte Verschiebung ab. Garantin der historischen Spur war das Vergehen von Zeit. Dieses war nicht mit den Mitteln der Technik oder Kunst herbeizuführen – es geschah von selbst. «Es kam darauf an, zu warten. Die Zeit musste ihre Arbeit tun. Es war notwendig, zu vergessen und dann durch eine Suche, ein Gespräch oder den Anblick eines Fotos wieder erinnert zu werden.»8 Im Retro-Bild wird die Dauer dieses Vergehens als Effekt vorweggenommen. Die Zeit der Spur ist außer Kraft gesetzt. Näher an die Thematik dieses Buches als die spielerisch-unverbindliche Retrobild-Produktion von Hipstamatic rückt eine Produktion wie The Secret Plot To Kill Hitler, ein Film des Satellitensenders Discovery Channel aus dem Jahr 2004. Als Teil des Sendeformats virtual history zeigt der Film Ereignisse, von denen kein historisches Bildmaterial existiert – das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944, den Herzanfall, den
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Abb. 101 Privates Blogfoto
Winston Churchill am gleichen Tag in einem Regierungs-Sonderzug erlitten haben soll, ein Gespräch Churchills mit seinen Beratern über die Möglichkeit von Giftgasangriffen auf Deutschland. In die Leerstelle der nicht vorhandenen Archivaufnahmen setzt der Film mit Hilfe von CGI (Computer Generated Imagery) produzierte Bilder ein, eine digitale Technik, wie sie auch in fiktionalen Filmen wie Jurassic Park oder Der Herr der Ringe Verwendung fand. Schauspieler stellten die historische Handlung nach, diese Spielszenen wurden anschlie-
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ßend digital mit Gesicht, Körperhaltung und Bewegungsmuster der historischen Akteure abgeglichen, wie man sie aus erhaltenen Archivaufnahmen kannte. In der ausgestrahlten Version wechseln sich die neuen, digital erzeugten Bilder mit historischen Archivaufnahmen ab, die «nahtlos in den laufenden Fluss der künstlichen Dokumente eingeschnitten» wurden. «Auf diese Weise konnten die noch nie ge sehenen Aufnahmen sich in den bereits bekannten Aufnahmen gut abstützen und mit ihnen einen gemeinsamen Kontext bilden.»9 Inte ressanterweise erscheinen die simulierten Szenen nicht in scharfen und gut ausgeleuchteten Bildern (was technisch leicht möglich ge wesen wäre), sondern imitieren die Patina historischer Filmbilder – Unschärfen, Kratzer, Bildsprünge, Fehlfarben –, um den Anschein des Historischen zu erzeugen: der Film ist ein Reenactment historischer Ereignisse, zugleich aber auch die Mimikry einer historischen Filmtechnik, die diese Ereignisse im Juli 1944 registriert haben könnte – «eine – extrem aufwändige – Interpolation, die Archivalien erzeugt, wo bisher keine waren» (Lorenz Engell).10 Die traditionelle Kategorie der Fälschung fasst das Prinzip der virtual history nicht. Eine Betrugsabsicht ist nicht erkennbar, im Gegenteil: in der ausgestrahlten Version werden die technischen Produktionsverfahren in allen Einzelheiten offengelegt – die Dokumentarfunktion wandert von der Rekonstruktion des Vergangenen in sein ‹Making of›. The Secret Plot To Kill Hitler war ein Experiment, dessen Reichweite noch unentschieden ist. Andere Formate der Animation – etwa der Versuch, das Leben und Sterben von Sophie Scholl als Alltag einer Bloggerin von heute wiederaufleben zu lassen – bilden vermutlich einenneuen Standard.11 Ihr Leitbild ist die Beseitigung historischer Differenz, ein «Taumel der Vergegenwärtigung».12 Ob das Paradigma der Spur, des Nachlebens und der Zeugnisfunktion der Bilder dabei restlos überschrieben wird oder als «Widerstand von etwas begegnet, das nicht mehr existiert», wird sich zeigen.
Dank
Das vorliegende Buch ist im Rahmen der von Klaus Krüger und mir geleiteten DFG-Kolleg-Forschungsgruppe «BildEvidenz. Geschichte und Ästhetik» an der Freien Universität Berlin entstanden. Ich danke den Fellows, den Kolleginnen und Kollegen der Forschungsgruppe für ihre wichtigen Anregungen, für Hinweise und Kritik, vor allem: Friedrich Balke, Georges Didi-Huberman, Harun Farocki (†), Eva Geulen, Karin Gludovatz, Valentin Groebner, Tony Kaes, Gertrud Koch, Helmut Lethen, Ethel Matala de Mazza und Monika Wagner. Für die Einladung als Fellow an ihre Institutionen gilt mein großer Dank: Lorenz Engell und Bernhard Siegert (Internationales Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie, Weimar) Helmut Lethen (Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Wien) sowie Claus Pias und Martin Warnke (DFG-Kolleg-Forschungsgruppe «Medienkulturen der Computersimulation», Lüneburg). Teile des vorliegenden Buches wurden in vielen Gesprächen, auch im Rahmen von Einladungen, Tagungen und Vorträgen diskutiert. Dafür danke ich: Marcel Beyer, Jens Bisky, Bettina Brandt, Jan v. Brevern, Elisabeth Bronfen, Lucas Burkart, Beate Fricke, Britta Hochkirchen, Eva Horn, Petra Lange-Berndt, Hubert Locher, Thomas Macho, Vered Maimon, Bettine Menke, Tanja Michalsky, Gregg Mitman, Jutta Müller-Tamm, Vanessa Schwartz, Klaus Scherpe, Elisabeth Wagner, Tristan Weddigen, Kelly Wilder, Georg Witte, Christopher Wood und Hanns Zischler. Für ihre Ermutigung und Unterstützung danke ich Detlef Felken und Alexandra Schumacher vom Verlag C.H.Beck. – Mein größter Dank aber gilt, wie seit nunmehr drei Jahrzehnten, Gloria-Stella Meynen.
Anmerkungen
Einleitung 1 Michel de Certeau, Geschichte und Struktur, in: ders., Theoretische Fiktionen: Geschichte und Psychoanalyse, hg. v. Luce Giard, Wien 2006, S. 153–168, hier: S. 156. 2 Ebd., S. 154. 3 Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 11, hg. v. E. Beutler, Zürich 1979, S. 307. 4 Ebd., S. 302. 5 Ebd. 6 Johann Joachim Winckelmann, Sendschreiben von der Reise eines Liebhabers der Künste nach Rom an Herrn Baron von Riedesel, in: ders., Briefe, hg. v. Walter Rehm, Bd. 4, Berlin 1957, S. 31–36, hier: S. 31. 7 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd 1, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988, S. 243–334, hier: S. 248. 8 Ebd., S. 272. 9 Ebd., S. 330. 10 Niklas Luhmann, Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, in: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht u. Karl Ludwig Pfeiffer, Frankfurt am Main 1986, S. 620–672, hier: S. 657. 11 Ebd. Dabei findet Luhmann zu einer in der Prosa der Systemtheorie eher seltenen Anschaulichkeit: «Man zelebriert alte Musik wieder auf alten Instrumenten – obwohl, und weil! – es Instrumentenentwicklungen gibt, die einen besseren Klang ermöglichen. Fabriken im Stile von Tudor-Schlössern werden, wenigstens als Fassade, das genügt vollauf, gerettet. Dahinter steht, so in Bielefeld, ein Supermarkt». Man sammelt «Spinnräder und Dampflokomotiven, nicht mehr verwendbare Fördertürme, hölzerne Küchenschränke und Kuchenformen aus Kupfer.» 12 Johann Gottfried Herder, Plastik, in: ders., Sämtliche Werke, Bd VIII, S. 495. 13 Zur Gleichzeitigkeit von Klage und Erleichterung über den Verlust des Vergangenen siehe Peter Geimer, Die Vergangenheit der Kunst. Strategien der Nachträglichkeit im 18. Jahrhundert, Weimar 2002. 14 Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main 1989, S. 75. 15 Marc Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers, hg. v. Peter Schöttler, Stuttgart 2002, S. 54. 16 Reinhart Koselleck, «Erfahrungsraum» und «Erwartungshorizont» – zwei his-
263 ⋅ Anmerkungen torische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, S. 356. 17 Thomas Kirchner, Der epische Held. Historienmalerei und Kunstpolitik im Frankreich des 17. Jahrhunderts, München 2001, S. 283. Vgl. auch Peter Johannes Schneemann, Geschichte als Vorbild. Die Modelle der französischen Historienmalerei 1747–1789, Berlin 1994. 18 Siehe Werner Busch, Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne, München 1993. 19 Ulrich Keller, The Ultimate Spectacle. A Visual History of the Crimean War, Amsterdam 2001, S. 35–36. Vgl. auch Stefan Germer, Taken on the Spot. Zur Inszenierung des Zeitgenössischen in der Malerei des 19. Jahrhunderts, in: Bilder der Macht. Macht der Bilder. Zeitgeschichte in Darstellungen des 19. Jahrhunderts, hg. v. Stefan Germer und Michael F. Zimmermann, München/Berlin 1997, S. 17– 36 sowie John House, Über Historienmalerei, Zensur und Hintersinn. Manets «Erschießung Kaiser Maximilians», in: Edouard Manet. Augenblicke der Geschichte, hg. v. Manfred Fath u. Stefan Germer, München 1992, S. 23–39. 20 Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2/1, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1977, S. 368–385, hier: S. 370. 21 Siegfried Kracauer, Die Photographie, in: ders., Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt am Main 1977, S. 21–39, hier: S. 30. 22 Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem, München 2007, S. 15 u. S. 74. 23 Thomas Elsaesser, Die «Neue Filmgeschichte» und das frühe Kino, in: ders., Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels, München 2002, S. 20–46, hier: S. 33. 24 Fritz Lang, Kitsch-Sensation-Kultur und Film, zit. n. Fritz Lang, Die Nibelungen. Eine Publikation des Kulturreferats der Landeshauptstadt München 1986, S. 13–16, hier: S. 13. 25 Gertrud Koch, Nachstellungen – Film und historischer Moment, in: Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte, hg. v. Eva Hohenberger u. Judith Keilbach, Berlin 2003, S. 216–229, hier: S. 217–218. 26 Siegfried Kracauer, Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit (1960), hg. v. Inka Mülder-Bach unter Mitarbeit von Sabine Biebl, Frankfurt am Main 2005, S. 104. 27 de Certeau, Geschichte und Struktur, S. 153. 28 Siegfried Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen, hg. v. Ingrid Belke unter Mitarbeit von Sabine Biebl, Frankfurt am Main 2009, S. 69. 29 So die Autoren der Fernsehserie Apocalypse. La deuxième guerre mondiale; dazu ausführlich Kapitel 4.5. 30 Vgl. etwa Bilder als historische Quellen? Dimensionen der Debatten um historische Bildforschung, hg. v. Jens Jäger u. Martin Knauer, München 2009, Visual History. Ein Studienbuch, hg. v. Gerhard Paul, Göttingen 2006, Bernd Röck, Das historische Auge. Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit, Göttingen 2004 sowie Peter Burke, Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin 2003. 31 Wenn etwa Peter Burke «Gemälde, Statuen, Drucke und so weiter» als «Beweismittel» anführt, kommen Bilder primär als Ausdruck einer außerbildlichen Realität in Betracht. Diese Realität bilden sie entweder «zuverlässig» ab oder aber sie «verschleiern» diese, da die «darstellende Kunst oft gar nicht so realistisch ist, wie scheint». Gerade diese «Tücken», «Schwächen» und «Probleme» der
264 ⋅ Anmerkungen Bilder machen sie am Ende aber wieder zu zuverlässigen Quellen: «Beweis für Phänomene, die viele Historiker untersuchen wollen: Mentalitäten, Ideologien und Identitäten» (Burke, wie Anm. 30, S. 34). Bilder kommen hier also primär als «Beweis für Phänomene», weniger als eigenständige Phänomene in Betracht. 32 Ulrich Raulff, Letzte Sätze oder Vom Aufhören, in: Zeitschrift für Ideengeschichte XIII/1 (Frühjahr 2019), S. 129–142, hier: 133.
1. Kapitel
Meissonier und das « Dagewesensein der Dinge» 1 Charles Yriarte, Ernest Meissonier: Personal Recollection and Anecdotes, in: The N ineteenth Century 43 (Mai 1898), S. 831–832. In Poissy befanden sich Wohnhaus und Atelier des Künstlers. 2 Stefanie Muhr, Der Effekt des Realen. Die historische Genremalerei des 19. Jahrhunderts, Köln 2006, S. 314. 3 Théophile Thoré, Salons de W. Bürger, 1861–1868, avec une préface de T. Thoré, Paris 1870, S. 48. 4 Constance Cain Hungerford, ‹La redingote grise›. L’histoire militaire, in: Aust. Kat. Ernest Meissonier. Rétrospective, Musée des Beaux Arts de Layon, LyonParis 1993, S. 84–217, hier : S. 189 u. S. 192. 5 Jean Paul Laurens, Notice sur Meissonier, Paris 1892, S. 7. 6 Georges Barral, Salon de 1864. Vingt-sept pages d’arrêt!!!, Paris 1864, S. 14. 7 Hungerford, La redingote grise, S. 383. 8 Thoré, Salons de W. Bürger, S. 48. 9 Muhr, Der Effekt des Realen, S. 306. 10 Jean-Louis-Ernest Meissonier. Ses souvenirs – ses entretiens. Précédés d’une étude sur sa vie et son œuvre par M. O. Gréard, Paris 1897, S. 270. 11 Stefan Germer, Die Gestalt der Wünsche. Zur gesellschaftlichen Modellierung des Imaginären in der Salonkunst des 19. Jahrhunderts, in: Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der Frühzeit, Mainz 2000, S. 169–182, hier: S. 175. Zur Nivellierung von Hauptund Nebensachen siehe auch Muhr, Der Effekt des Realen, S. 306. 12 Louis Auray, Salon de 1864, Paris 1863, S. 23. 13 Jules Janin, Der Daguerreotyp, in: Theorien der Fotografie, hg. v. Wolfgang Kemp, Bd. 1, München 1980, S. 46–51, hier: S. 47. 14 Oliver Wendell Holmes, Das Stereoskop und der Stereograph, in: Theorien der Fotografie, a. a. O., S. 114–121, hier: S. 116–17. 15 Ludwig Schorn/Eduard Koloff, Der Daguerreotyp (1839), in: Theorien der Fotografie, S. 56–59: S. 57; Janin, Der Daguerreotyp , S. 50, Holmes, Das Steroskop und der Stereograph, S. 118 sowie Rodolphe Töpffer, Über die Daguerreotypie, in: Theorien der Fotografie, S. 70–77, hier: S. 72. 16 Hermann Vogel, Die chemischen Wirkungen des Lichts und die Photographie in ihrer Anwendung in Kunst, Wissenschaft und Industrie, Leipzig 1874, S. 124. 17 Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, S. 373. 18 Vgl. Mathias Krüger, Ernest Meissonier und der Blick durch die Lupe – Fernund Nahsichten im französischen Salon, in: Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal, 2009-4 https://www.kunstgeschichte-ejournal.net/archiv/2009/ krueger.
265 ⋅ Anmerkungen 19 «Unconsciously recorded» – so die Formulierung William Henry Fox Talbots in seinem berühmten «The Pencil of Nature» (1844), Reprint: New York 1968, o. P. Siehe dazu Kapitel 3.3. 20 Meissoniers Interesse an der Fotografie zeigt sich auch in seiner Auseinandersetzung mit Eadward Muybridges Momentfotografien des Pferdegalopps. Im November 1881 kam es zu einer Begegnung der beiden, als Meissonier Muy bridge in seinem Haus in Paris empfing und Pläne für eine gemeinsame Publikation geschmiedet wurden. Tatsächlich hat Meissonier, wie bereits sein Zeitgenosse, der Physiologe Emile Duhousset, in einem Schema gezeigt hat, ein Pferd seines Bildes Friedland (1875) gemäß der fotografischen Erfassung des Pferde galopps korrigiert. Zu Meissonier und der Fotografie siehe Marc J. Gotlieb, The Plight of Emulation. Ernest Meissonier and French Salon Painting, Princeton 1996, S. 175–184 sowie Alain Sayag, Meissonier et la photographie, in: Ausst. Kat. E rnest Meissonier, S. 258–261. 21 Emile Zola, Die französische Malerei in der Weltausstellung von 1878, in: ders., Die Salons von 1866–1896. Schriften zur Kunst, Weinheim 1994, S. 195–224, hier: S. 213–214. 22 Germer, Taken on the Spot, S. 29. 23 Charles Baudelaire, «Der Salon 1846», in: ders., Sämtliche Werke/Briefe, Bd. 1, hg. v. Friedhelm Kemp u. Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost, S. 193–283, hier: S. 254–255. 24 Sybille Krämer, Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme, in: Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, hg. v. Sybille Krämer, Werner Kogge und Gernot Grube, Frankfurt am Main 2007, S. 11–54, hier: S. 15. 25 Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2009, S. 210–11. 26 Carlo Ginzburg, Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, in: ders., Spurensicherungen. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 1995, S. 7–44, hier: S. 87. Die von Ginzburg beschriebenen Beispiele der «Spurensicherung» sind die detektivische Suche nach Indizien (Sherlock Holmes), die Autopsie malerischer Details in der kunsthistorischen Stilanalyse (Morelli) und die psychoanalytische Untersuchung des Symptoms (Freud). 27 Paul Ricœur, Temps et récit. Tome III. Le temps raconté, Paris 1985, S. 219. Zur «Orientierungsleistung» siehe auch Krämer, Was also ist eine Spur?, S. 15 sowie Werner Stegmaier «Anhaltspunkte. Spuren zur Orientierung», in: Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst (ebd., S. 82–94). 28 Constance Cain Hungerford, Meissoniers Historiengemälde. Die Autorität des Augenzeugen, in: Bilder der Macht. Macht der Bilder. Zeitgeschichte in Darstellungen des 19. Jahrhunderts, hg. v. Stefan Germer und Michael F. Zimmermann, München/Berlin 1997, S. 382–389, hier: S. 387. 29 Jules Claretie, Peintres et sculpteurs contemporains, Paris 1873, S. 206–207. Zu Meissoniers «Transformation des Historiengemäldes zum Genrebild» siehe auch Hungerford, Meissoniers Historiengemälde, S. 388. 30 Siehe Thoré, Salons de W. Bürger, S. 49, Barral, Salon de 1864, S. 14 sowie Claretie, Peintres et sculpteurs, S. 217. 31 Zola, Die französische Malerei, S. 12.
266 ⋅ Anmerkungen 32 Historischer Hintergrund ist die Hinrichtung Kaiser Maximilians durch mexikanische Aufständische am 19. Juni 1867 auf dem Cerro de las Campanas, dem «Glockenhügel», im Westen der mexikanischen Stadt Querétaro. 33 Meissonier, Ses souvenirs, S. 222. 34 Marc Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers. Nach der von Étienne Bloch edierten französischen Ausgabe, hg. v. Peter Schöttler, Stuttgart 2002, S. 69–70. 35 Assmann, Erinnerungsräume, S. 213. 36 Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie, in: ders., Sämtliche Schriften, hg. v. Karl Lachmann, Neunter Band, Stuttgart 1893, S. 19. 37 Roland Barthes, Der Wirklichkeitseffekt, in: ders., Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV, Frankfurt am Main 2005, S. 164–172, hier: S. 164–65. 38 Ebd., S. 166. 39 Zur Kritik der «Prämisse strukturaler Erzählanalyse, dass es strukturell bedeutungslose Elemente in der realistischen Erzählung gibt», siehe etwa Elisabeth Strowick, ‹Schliesslich ist alles bloss Verdacht›. Zur Kunst des Findens in Fontanes Unterm Birnbaum, in: Realien des Realismus. Wissenschaft – Technik – Medien in Theodor Fontanes Erzählprosa, hg. v. Stephan Braese u. Anne-Kathrin Reulecke, Berlin 2010, S. 157–181, hier: S. 178–181. 40 Barthes, Der Wirklichkeitseffekt, S. 166. 41 Ebd., S. 165. 42 Ebd., S. 170. Auch wenn Barthes Aristoteles hier nicht unmittelbar nennt, sondern nur allgemein auf eine «seit der Antike» geläufige Tradition verweist, steht hier wohl die bekannte Unterscheidung aus dem neunten Paragraphen der Poetik im Hintergrund, wonach der Geschichtsschreiber «das wirklich Ge schehene mitteilt», während der Dichter beschreibt, «was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche» (Aristoteles, Poetik, übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 29). 43 Barthes, Der Wirklichkeitseffekt, S. 170. 44 Ebd., S. 171. 45 Ebd., S. 171 und S. 170. 46 Ebd., S. 171. 47 Zur kunsthistorischen Rezeption von Barthes’ Essay siehe Jonathan Crary, Géricault, the Panorama, and Sites of Reality in the Early Nineteenth Century, in: Grey Room 9, (2002), S. 6–25 sowie Wolfgang Kemp, Koinzidenz und Kontingenz: Realitätseffekte in Malerei und Fotografie, in: Lob der Illusion, hg. v. Reinhard Steiner u. Caecilie Weissert, München 2013, S. 127–139. 48 Ross King, Zum Frühstück ins Freie. Manet, Monet und die Ursprünge der modernen Malerei, München 2006, S. 311. 49 Charles Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, in: ders., Sämtliche Werke/Briefe, Band 5, hg. v. Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost, München/Wien 1989, S. 213–258, hier: S. 230. 50 Vassili Verestchagin, Reminiscenes of Meissonier, in: Contemporary Review 75 (Mai 1899), S. 660–666, hier: S. 662. 51 Yriarte, E. Meissonier, S. 831. 52 Charles Meissonier, zit. n. Thiébault-Sisson, Meissonier. Ses procédés de travail, in: Le Temps, 6 novembre 1895, S. 2.
267 ⋅ Anmerkungen 53 Philippe Burty, Croquis d’après nature, Paris 1892, S. 16–17. Siehe auch die Schilderung dieses Anblicks bei Charles Yriarte, E. Meissonier, S. 833. Siehe auch Yriarte (wie Anm. 1), S. 831: Meissonier, der «aus der Überlieferung oder aus Memoiren wusste, dass sein Held bei dieser oder jener Schlacht ein geschecktes Pferd geritten hatte, bestand darauf, ein identisches Pferd zum Modell zu haben und beauftragte einen Pferdehändler, ihm ein solches zu beschaffen […].» 54 Charles Meissonier zit. n. Thiébault-Sisson, S. 2. 55 Yriarte, E. Meissonier, S. 831. 56 Georges Didi-Huberman, Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999, S. 137. 57 Hungerford, Meissoniers Historiengemälde, S. 387, siehe auch Muhr, Der Effekt des Realen, S. 315. 58 Krzysztof Pomian, Zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem: die Sammlung, in: ders., Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln (1987) Berlin 1998, S. 13–72, hier: S. 14. 59 Krzysztof Pomian, Für eine Geschichte der Semiophoren. Anmerkungen zu den Vasen aus den Medici-Sammlungen, in: ders., Der Ursprung des Museums, S. 73–90, hier: S. 81: «Wenn ein Gegenstand nicht mehr am Austausch teilnimmt, wenn er, was auf dasselbe hinausläuft, jede Bedeutung verloren hat und möglicherweise auch jede Nützlichkeit, wird er zu Abfall.» 60 Mit dem Unterschied freilich, dass mit den christlichen Reliquien das Versprechen verbunden war, durch sie in Verbindung mit ihren Urhebern zu treten und Fürsprache oder Wunder zu erwirken. 61 Jörg Probst, Adolf von Menzel, Die Skizzenbücher. Sehen und Wissen im 19. Jahrhundert, Berlin 2005, S. 24. 62 Siehe auch Grisebach, Lucius, Moltkes Fernglas, der Köchin Lenas Kamm und das Tintenfaß auf dem Tisch der Akademie. Menzels Blick für das Konkrete, in: Ausst. Kat. Adolph Menzel. Zeichnungen, Druckgraphik und illustrierte Bücher. Ein Bestandskatalog der Nationalgalerie, des Kupferstichkabinetts und der Kunstbibliothek des SMPK, Berlin (West), Berlin 1984. 63 Meissonier, Ses souvenirs, S. 171. 64 Philippe Burty, Meissonier, Paris o. J., S. 172. 65 So die handschriftliche Bildlegende im Exemplar des Albums der Pariser Bibliothèque Nationale. 66 Yriarte, E. Meissonier, S. 832. 67 Ebd., S. 831 u. 833. 68 Barthes, Der Wirklichkeitseffekt, S. 170. 69 Meissonier, Ses souvenirs, S. 175. 70 Stefan Germer, Le Répertoire des Souvenirs. Zur Reflexion des Historischen bei Manet, in: Manet. Augenblicke der Geschichte, hg. v. Manfred Fath u. Stefan Germer, München 1992, S. 40–54, hier: S. 40. 71 Germer, Taken on the spot, S. 24 und House, Über Historienmalerei, S. 24. Zu dieser Tradition der Überführung des Historienbildes ins Familiäre und Vertraute des Genrebildes siehe auch Werner Busch, Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne, München 1993, S. 237 f.
268 ⋅ Anmerkungen
2. Kapitel
Eintritt ins Gewesene. Das Panorama 1 Bernard Comment, Das Panorama, Berlin 2000, S. 24. 2 Ebd., S. 103. Siehe auch Stephan Oettermann, Das Panorama – Ein Massen medium, in: Sehnsucht. Über die Veränderung der visuellen Wahrnehmung, hg. v. d. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 1995, 72–82, hier: S. 73. 3 Siehe Martin Loiperdinger, Lumières Ankunft des Zugs. Gründungsmythos eines neuen Mediums, in: KINtop. Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films, KINtop 5 (Aufführungsgeschichten), hg. v. Frank Kessler, Sabine Lenk u. Martin Loiperdinger, Basel/Frankfurt 1996, S. 37–70. 4 Georges Didi-Huberman, Kontaktbilder, in: ders., Phasmes. Essays über Erscheinungen von Photographien, Spielzeug, mystischen Texten, Bildausschnitten, Insekten, Tintenflecken, Traumerzählungen, Alltäglichkeiten, Skulpturen, Filmbildern, Köln 2001, S. 30–39, hier: S. 30. 5 Zur Geschichte der Panoramen siehe Stephan Oettermann, The Panorama. History of a Mass Medium, New York 1997, Bernard Comment, Das Panorama, Ausst. Kat. Sehnsucht. Dolf Sternberger, Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1981 sowie Heinz Buddemeier, Panorama, Diorama, Photographie. Entstehung und Wirkung neuer Medien im 19. Jahrhundert, München 1970. 6 Crary, Géricault, S. 19. 7 Wolfgang Kemp, Die Revolutionierung der Medien im 19. Jahrhundert. Das Beispiel Panorama, in: Moderne Kunst, Das Funkkolleg zum Verständnis der gegenwartskunst, Bd. 1, hg. v. Monika Wagner, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 75–93, hier: S. 87. 8 Sternberger, Panorama, S. 16–17. 9 Georg Simmel, Der Bilderrahmen. Ein ästhetischer Versuch, in: ders., Zur Philosophie der Kunst, Potsdam 1922, S. 46. 10 Wolfgang Kemp, Heimatrecht für Bilder. Funktionen und Formen des Rahmens im 19. Jahrhundert, in: Kemp Reader. Ausgewählte Schriften von Wolfgang Kemp, hg. v. Kilian Heck und Cornelia Jöchner, München/Berlin 2006, S. 21– 41, hier: S. 33. 11 Johann August Eberhard, Handbuch der Ästhetik, zit. n. Comment, Das Panorama, S. 98. 12 Edmont About, Salon de 1864, Paris 1864, S. 78. 13 Honoré de Balzac, «Lettres sur Paris», zit. n. Ausst. Kat. Jean-Charles Langlois (1789–1870). Le spectacle de l’histoire, Muséee des Beaux-Arts Caen 2005, S. 59. 14 E.-Ch. Bourseul, Biographie du Colonel Langlois, Paris 1874, S. 13. 15 Journal des Artistes, zit. n. Comment, Das Panorama, S. 49. 16 Kemp, Die Revolutionierung der Medien, S. 82. 17 Oskar Bätschmann, Einführung in die kunsthistorische Hermeneutik, Darmstadt 1988, S. 61. 18 Eine Ausnahme wäre hier Samuel von Hoogstratens trompe l’œil eines Leinwandbildes, das auf einer realen Staffelei steht. 19 Barthes, Der Wirklichkeitseffekt, S. 171.
269 ⋅ Anmerkungen 20 Antoine Quatremère de Quincy, Essai sur la nature, le but et les moyens de l’imitation dans les beaux-arts, Paris 1823, S. 8 f. 21 Rodolphe Töpffer, Über die Daguerreotypie (1841), in: Theorien der Fotografie I. 1839–1912, hg. v. Wolfgang Kemp, München 1980, S. 70–77, hier: S. 73. 22 Jules Claretie, La vie de Paris, 1881, zit. n. Comment, Das Panorama, S. 102. 23 Bernhard Siegert, Die Leiche in der Wachsfigur. Exzesse der Mimesis in Kunst, Wissenschaft und Medien, in: UnTot. Existenzen zwischen Leben und Leblosigkeit, hg. v. Peter Geimer, Berlin 2014, S. 116–135, hier: S. 116 u. 118. 24 Balzac, Lettres sur Paris, S. 59. Siehe auch folgende Kritik aus dem Journal des Luxus und der Moden: «Die Urtheile vieler strengerer Kenner sind vom Anfange nicht sehr zum Vortheil dieser optischen Gaukelspiele ausgefallen. Die Mahler haben darin nichts als eine kostbare Sudeley zur Belustigung großer und kleiner Kinder finden wollen, bey welcher nichts als die Beobachtung der Perspective und die Treue in der Darstellung zum Verdienste angerechnet werden können.» (Journal des Luxus und der Moden, Jahrgang 1900, zit. n. Sternberger, Das Panorama, S. 262.) 25 Eduard von Hartman, Philosophie des Schönen (1887), Berlin 1924, S. 622– 623 u. 624–625. 26 Comment, Das Panorama, S. 102. 27 Sternberger, Panorama (wie Anm. 103), S. 19–21. 28 Crary, Géricault, S. 11. 29 Ähnliche Überlegungen wurden auch für das immersive Potenzial des Films angestellt. Die im Kino angestrebte Involviertheit des Zuschauers, so Martin Seel, setzt «Darstellungsvergessenheit» nicht voraus. Zugleich mit dem Abtauchen in die Welt des Films nehmen die Zuschauer im Kino auch die Kunstgriffe wahr, die diese Welt vor ihren Augen erst entstehen lassen. Keine Illusion halte sie von der Wahrnehmung der Finessen der filmischen Inszenierung ab. (Martin Seel, Die Künste des Kinos, Frankfurt am Main 2013). 30 Jean-Charles Langlois, Relation du combat et de la bataille d’Eylau, Paris 1844, zit. n. Ausst. Kat. Jean Charles Langlois, S. 109. 31 Meissonier, Ses souvenirs, S. 251. 32 Ebd. 33 Maxime du Camp, Souvenirs littéraires, Bd. 1, Paris 1882–1883, zit n. François Robichon, Langlois, photograph et panoramiste, in: François Robichon/André Rouillé, Jean-Charles Langlois, La photographie, la peinture, la guerre. Correspondance inédite de Crimée (1855–1856), Nîmes 1992, S. 14. 34 Oettermann, The Panorama, S. 80. 35 Comment, Das Panorama, S. 108. 36 Bataille d’Eylau, in: Bourseul, Biographie, S. 33–34. 37 Georges Stevens/Henri Gervex, Paris Panorama of the Nineteenth Century, in: The Century; a popular quarterly 39 (1889), S. 256–269, hier: S. 260. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 269. 40 Lew Tolstoi, Krieg und Frieden, Bd. 1., übers. u. komm. v. Barbara Conrad, München 2010, S. 422. 41 Robichon, Langlois, S. 49. 42 Barthes, Der Wirklichkeitseffekt, S. 170. 43 Siegfried Kracauer, Die Photographie, in: ders., Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt am Main 1977, S. 21–39, hier: S. 29.
270 ⋅ Anmerkungen 44 Assmann, Erinnerungsräume, S. 339. 45 Langlois, zit. n. Ausst. Kat. Jean-Charles Langlois, S. 169–197. Siehe auch Oettermann, Das Panorama, S. 44: «Um etwa ein Panorama von Jerusalem mit der Kreuzigung Christi darstellen zu können, hielt sich eine mehrköpfige Expedition monatelang im Heiligen Land auf, um an Ort und Stelle das Gelände topographisch getreu aufzunehmen. Dann wurden die Ergebnisse archäologischer Forschung ausgewertet, um ein möglichst präzises Stadtbild von Jerusalem im Jahre 30 n. Chr. rekonstruieren zu können. DasStudium der entsprechenden Bibelstellen legte Art, Anzahl und Konstellation der Figuren des Bildes fest.» 46 Zur ideologischen Funktion des Sedan-Panoramas, das im September 1883 im Beisein des Kaisers eröffnet wurde, siehe Oliver Grau, Das Sedanpanorama. Einübung soldatischen Gehorsams im Staatsbild durch Präsenz, in: Medien der Präsenz: Museum, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert, hg. v. Jürgen Formann, Andreas Schütte u. Wilhelm Voßkamp, Köln 2001, S. 143–169. 47 Siehe Martina Hansmann, Zum Verhältnis von Innovation und Tradition in Gros’ «Napoleon auf dem Schlachtfeld bei Preußisch-Eylau». Schilderung und Interpretation historischer Realität im Auftrag Napoleons, in: Bilder der Macht. Macht der Bilder, S. 157–175. 48 Langlois, Ausst. Kat. Jean-Charles Langlois (1789–1870), S. 148. 49 Moniteur universel, zit. n. Ausst. Kat. Jean-Charles Langlois (1789–1870), S. 115.
3. Kapitel
Im Fixierbad der Geschichte. Der Einsatz der Fotografie 1 Barthes, Die helle Kammer, S. 11. 2 Vgl. Anne McCauley, Industrial Madness. Commercial Photography in Paris 1848–1871, Yale 1994. 3 Barthes, Die helle Kammer, S. 99. 4 Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, S. 370. 5 André Bazin, Ontologie des photographischen Bildes, in: ders., Was ist Film?, hg. v. Robert Fischer. Mit einem Vorwort von Tom Tyker und einer Einleitung von François Truffaut, Berlin 2004, S. 33–42, hier: S. 37, Susan Sontag, Die Bilderwelt, in: dies., Über Fotografie, Frankfurt am Main 1980, S. 146–172, hier: S. 147. 6 Rudolf Arnheim, Die Fotografie – Sein und Aussage (1978), in: ders., Die Seele in der Silberschicht. Medientheoretische Texte. Photographie – Film – Rundfunk, hg. v. Helmut H. Diederichs, Frankfurt 2004, S. 36–42, hier: S. 41. 7 Rosalind Krauss, Marcel Duchamp oder das Feld des Imaginären, in: dies., Das Fotografische. Eine Theorie der Abstände, m. einem Vorwort v. Hubert Damisch, München 1998, S. 73–89, hier: S. 79, zur Fotografie als Inbegriff des Indexikalischen siehe auch Rosalind Krauss, Anmerkung zum Index: Teil 1, in: Paradigma Fotografie, hg. v. Herta Wolf, Frankfurt am Main 2002, S. 140–157. 8 Pierre Bourdieu/Luc Boltanski u. a., Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie (1965), Hamburg 2006. 9 Helmut Lethen, Der Schatten des Fotografen. Bilder und ihre Wirklichkeit, Berlin 2014, S. 55. 10 Krämer, Was also ist eine Spur?, S. 12.
271 ⋅ Anmerkungen 11 Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010, S. 190. 12 William J. T. Mitchell, The Reconfigured Eye. Visual Truth in the Post-Photographie Era, Cambridge/Mass./London 1994. 13 Barthes, Die helle Kammer, S. 93. «[…] das, was ich sehe, befand sich dort, an dem Ort, der zwischen der Unendlichkeit und dem wahrnehmenden Subjekt (operator und spectator) liegt; es ist dagewesen und gleichwohl auf der Stelle abgesondert worden; es war ganz und gar, unwiderlegbar gegenwärtig und war doch bereits abgeschieden» (ebd. 87). 14 Achim Landwehr, Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt a. M. 2016, S. 69. 15 Ebd. 103. 16 Barthes, Die helle Kammer, S. 106–108. 17 Siehe Eugenia Parry Janis, «O Saisons, O Châteaux». Louis de Clerq, die Photographie und der Heroismus der Entdeckung, in: Louis de Clerc, hg. v. Rolf Mayer Stuttgart/Bad Cannstatt 1989, S. 53–79 sowie Marjorie Münsterberg, Louis de Clerq’s Stations of the Cross, in: Arts Magazine 61 (May 1987), S. 48– 53. 18 Kracauer, Die Photographie, S. 29. 19 Siehe Kristin Schwain, F. Holland Day’s Seven Last Words and the Religious Roots of American Modernims, in: American Art 19, 1 (Spring 2005), S. 32–59. 20 Jedenfalls nicht zum Zeitpunkt ihrer Entstehung. Dass auch diese Bilder später historisch werden, versteht sich von selbst. 21 Siegfried Kracauer, Der historische Film (1940), in: ders., Kleine Schriften zum Film, Band 6.3 (1932–1961), hg. v. Inka Mülder-Bach unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel und Sabine Biebl, Frankfurt am Main 2004, S. 314–316, hier: S. 314–315. 22 Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Erster Teil. Die Grafschaft Ruppin, hg. v. Gottharf Erker u. Rudolf Mingau, Berlin 1997, S. 5–6. 23 Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, S. 370. 24 Assmann, Erinnerungsräume, S. 309. 25 In der schottischen Grafschaft Kinross besichtigt Fontane die Überreste von Loch Leven Castle, jener Burg, aus der im Mai 1568 Maria Stuart nach elfmonatiger Gefangenschaft die Flucht gelang: «[…] der Rundturm steht noch, in dem Queen Mary gefangensaß, die Pforte ist noch sichtbar, durch die Willy Douglas die Königin in das rettende Boot führte, und das Fenster wird noch gezeigt, über dessen Brüstung hinweg die alte Lady Douglas sich beugte, um mit weit vorgehaltener Fackel dem nachsetzenden Boote den Weg und womöglich die Spur der Flüchtigen zu zeigen.» Die historischen Akteure haben am Ort des Geschehens keinen Abdruck hinterlassen, geblieben aber sind die Orte selbst. «Schloß und Turm, wohin das Auge fiel, alles trug den breiten historischen Stempel» (Fontane, Wanderungen, S. 1–2). 26 Monika Wagner, Turners Ort der Erinnerung. Über die Undarstellbarkeit von Geschichte, in: Bilder der Macht. Macht der Bilder, S. 213–240, hier: S. 238. 27 Siehe Ausst. Kat. James Tissot. L’ambigu moderne, Musée d’Orsay, Paris 2020. 28 Didi-Huberman, Was wir sehen, S. 137. 29 Kracauer, Die Photographie, S. 22, Was wir sehen, S. 137. 30 Kracauer, Die Photograhie, S. 30. 31 Ebd., S. 22.
272 ⋅ Anmerkungen 32 Ebd., S. 30. 33 Ebd., S. 38. Zu dieser «Desintegration der Bildelemente» und dem «Zurücktreten von Personen und Körpern hinter einem Allerlei von dinglichen Accessoires» siehe auch Ethel Matala De Mazza, Schneegestöber und Abfall. Residuen des Dämonischen in Siegfried Kracauers Essay über die Photographie, in: Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe, hg. v. Eva Geulen, Kirk Wetters, Christian Meierhofer u. Lars Friedrich, Paderborn 2014, S. 345–359. 34 Kracauer, Die Photographie, S. 25. 35 Ebd., S. 25 u. S. 32. 36 Ebd., S. 32. 37 Gertrud Koch, Siegfried Kracauer zur Einführung, Hamburg 2012, S. 130. 38 Ebd., S. 31. 39 André Bazin, Ontologie des photographischen Bildes, S. 33–42, hier: S. 39. 40 Kracauer, Die Photographie, S. 37. 41 Kracauer, Theorie des Films, S. 54 f. Kracauer bezieht sich hier auf die berühmte Szene der «Recherche», in der Marcel nach langer Abwesenheit in den Salon der Großmutter tritt, ohne dass diese ihn bemerkt. Marcel nähert sich als «Fremder», der «nicht zum Haus gehört», als «Zeuge» und «Beobachter» – wie ein «Photograph, der eine Aufnahme von Stätten machen soll, die man nicht wiedersehen wird.» Der vertraute Salon zeigt sich unversehens als «Bestandteil einer ganz neuen Welt, der Welt der Zeit», die Großmutter erscheint darin herausgelöst aus dem lebendigen Zusammenhang, in dem Marcel sie sonst gesehen hat: «Was auf ganz mechanische Weise in diesem Moment in meinem Auge zustande kam, als ich meine Großmutter bemerkte, war wirklich eine Photographie.» Fotografie, so deutet Kracauer die Szene, «ist nach Proust das Produkt völliger Entfremdung» (ebd., S. 46). 42 Ebd., S. 55. 43 William Henry Fox Talbot, Der Zeichenstift der Natur, in: Die Wahrheit der Photographie. Klassische Bekenntnisse zu einer neuen Kunst, hg. v. Wilfried Wiegand, Frankfurt am Main 1989, S. 45–89, hier: S. 74. 44 Kracauer, Theorie des Films, S. 47. 45 Assmann, Erinnerungsräume, S. 213. 46 Ebd., S. 38. 47 Kracauer, Theorie des Films, S. 52. 48 Der Begriff der «Ikone» hat sich zur Beschreibung solcher schlagkräftigen Bilder eingebürgert, ohne dass Bedeutung und Herkunft dieser Formel im Einzelnen allerdings begründet würden. 49 Siehe etwa Jost Dülffer, Über-Helden – Das Bild von Iwo Jima in der Repräsentation des Sieges. Eine Studie zur US-amerikanischen Erinnerungskultur seit 1945, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2006), S. 247–272. 50 Gerhard Paul, Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Visualisierungen des modernen Krieges, Paderborn 2004, S. 264. 51 Anlass war eine Ausstellung von «Schockphotos» – Aufnahmen tagespolitischer Ereignisse, die aufgrund ihrer besonders prägnanten Ikonographie – ein junger Soldat betrachtet ein Skelett, eine Kolonne Gefangener wird an einer Schafherde vorbeigeführt – für eine Präsentation in der Galerie d’Orsay ausgewählt wurden. Rosenthals Foto ist zweifellos kein ‹Schockfoto› im klassischen Sinn – es zielt nicht
273 ⋅ Anmerkungen auf die Erschütterung des Betrachters – Barthes Kritik der allzu offensichtlichen Botschaft der Bilder lässt sich aber mühelos auf seine Dramaturgie übertragen. 52 Roland Barthes, Schockphotos, in: ders., Mythen des Alltags, vollständige Ausgabe, Berlin 2010, S. 135–138. 53 Ebd., S. 137. 54 «Ich ging in die Dunkelkammer und legte eine der Platten vom 2. August 1914 in den Vergrößerungsapparat. Mit höchster Spannung suchte ich unter den Zehntausenden nach einem Gesicht, das Hitler gehören konnte» (Das HitlerBild. Die Erinnerungen des Fotografen Heinrich Hoffmann, hg. v. Joe J. Heydecker, St. Pölten/Salzburg 2008, S. 50). 55 https://sammlungonline.muenchner-stadtmuseum.de/objekt/muenchner-ode onsplatz-am-2-august-1914-vergroesserte-darstellung-adolf-hitlers-10166564. html. 56 Siehe Ausst. Kat. Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen, hg. v. Simone Erpel u. Hans U. Thamer, Berlin/Dresden 2010. 57 Vgl. Stephan Schlak, Ernst Jüngers letzte Worte, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft 11/2, Sommer 2008, S. 5–10 sowie Dolf Sternberger, Hauch, Laut und Einbildung. Über die verschiedenen Berichte von Goethes letzten Worten, in: ders., Über den Tod, Frankfurt am Main 1981, S. 37–45. 58 Siehe Sternberger, Hauch, Laut und Einbildung, S. 40. 59 Siehe Klaus Wagenbach, Franz Kafka in Selbstzeugnissen und Briefdokumenten, Reinbek bei Hamburg 1964, S. 132, Wilfried Berghahn, Robert Musil in Selbstzeugnissen und Briefdokumenten, Reinbek bei Hamburg 1963 sowie Urban Roedl, Robert Musil in Selbstzeugnissen und Briefdokumenten Reinbek bei Hamburg 1965. 60 Arnold Stadler, Mein Stifter. Porträt eines Selbstmörders in spe und fünf Photo graphien, Köln 2005, S. 21–24. 61 Kracauer, Die Photographie, S. 30. 62 Bruno Latour, Iconoclash. Gibt es eine Welt jemseits des Bilderkrieges?, Berlin 2002, S. 25–26. 63 Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gerd Ueding, Band 3, Tübingen 1996, S. 33. 64 William Henry Fox Talbot, Der Zeichenstift der Natur (1844–1846), in: Die Wahrheit der Photographie. Klassische Bekenntnisse zu einer neuen Kunst, hg. v. Wilfried Wiegand, Frankfurt am Main 1981, S. 45–89, hier: S. 89. 65 Ebd., S. 62 und William Henry Fox Talbot, The Pencil of Nature, London 1844 (Reprint: New York 1968), ohne Paginierung. 66 Ebd. 67 Sandra S. Philipps, A History of the Evidence, in: Larry Sultan/Mike Mandel/ Robert F. Forth, Evidence, New York 2003, o. S. 68 Helmut Lethen, Der Text der Historiografie und der Wunsch nach einer physikalischen Spur. Das Problem der Fotografie in den beiden Wehrmachtsausstellungen, in: Zeitgeschichte 29/2 (März/April 2002), S. 76–86, hier: S. 76. 69 Helmut Lethen, Der Schatten des Fotografen. Bilder und ihre Wirklichkeit, Berlin 2014, S. 158–178, hier S. 161. Siehe auch Klaus Theweleit, Schulddiskussion und Wehrmachtsaustellung, in: Badische Zeitung, 11. November 2000, zit. n. Hannes Heer, Das Haupt der Medusa. Die Verbrechen der Wehrmacht und der Kampf um die Erinnerung in Deutschland, in: Geschichte und Region/ Storia e regione 16, 2007, S. 193–218, hier: S. 216: «Der Mord wird nicht als ‹Mord› wahrgenom-
274 ⋅ Anmerkungen men, weil er genehmigt ist, er kann als Urlaubsfoto nach Hause gehen oder neben die Familienbilder ins Portemonnaie geraten, weil er das eigene Leben im Zustand krimineller paradiesischer Freiheit zeigt, das sich dabei gefällt, die Erde von Ungeziefer zu befreien. ‹Strafe?› Keine zu erwarten. Wir werden gesiegt haben. Dieses Bewusstsein, diesen Blick zeigen die Fotos der fotografierenden Soldaten in Russland, in Polen oder auf dem ‹Balkan› in aller Klarheit; in aller unschuldigen Klarheit. Die ganze Rede von der behaupteten Schuldlosigkeit des deutschen Soldaten im Osten, wie sie nach dem Ende des Krieges in den westdeutschen Rechtfertigungsreden zur Wehrmacht auftauchte, ist auf diesen Fotos vor- und abgebildet. Dies ist der Schock, den die Fotos bei den Gegnern der Wehrmachtsausstellung auslösten». 70 Omer Bartov/Cornelia Brink/Gerhard Hirschfeld/Friedrich P. Kahlenberg/Manfred Messerschmidt/Reinhard Rürup/Christian Streit/Hans-Ulrich Thanner, Bericht der Kommission zur Überprüfung der Ausstellung «Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944», November 2000, S. 24. https://web. archive.org/web/20131021095032/https://www.his-online.de//fileadmin/ user_upload/pdf/veranstaltungen/Ausstellungen/Kommissionsbericht.pdf. 71 Ebd., S. 25. 72 Ebd., S. 32. «NKDW» bezeichnet das Innenministerium der UDSSR, das auch die Funktion einer Geheimpolizei ausübte. 73 Ausst. Kat. Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges, S. 121. 74 Ebd. S. 92 und 93. Siehe auch Bernd Hüppauf, Jenseits des Tribunals. Welche Zukunft hat die Wehrmachtsausstellung?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 273, 23.11.2000, S. 60: «Der Nachweis fehlerhafter Zuordnungen einzelner Fotos berührt nicht die Konzeption der Ausstellung.» 75 Bartov et al., Bericht der Kommission, S. 41. 76 Siehe Bogdan Musial, Bilder einer Ausstellung. Kritische Anmerkungen zur Wanderausstellung ‹Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944›, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 47 (1999), S. 563–591 sowie Krisztián Ungváry, Echte Bilder – problematische Aussagen. Eine quantitative und qualitative Analyse des Bildmaterials der Ausstellung ‹Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944›, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 10 (1999), S. 584–603. Zur Zurückweisung dieser Kritik und der «Unzulänglichkeit ihres Umgangs mit fotografischen Quellen» siehe Miriam Y. Arani, ‹Und an den Fotos entzündete sich die Kritik›. Die ‹Wehrmachtsausstellung›, deren Kritiker und die Neukonzeption. Ein Beitrag aus fotohistorisch-quellenkritischer Sicht, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der F otografie 85/86 (2002), S. 97–124. 77 Bartov et al., Bericht der Kommission, S. 37. 78 Ebd. 79 «Il faut distinguer entre témoignage et preuve, témoignage et pièce à conviction, témoignage et indice» (Jacques Derrida/Bernard Stiegler, Échographies de la télévision. Entretiens filmés, Paris 1996, S. 106–107). 80 Ebd. 81 Lethen, Der Text der Historiografie, S. 81. 82 Volker Ullrich, Von strenger Sachlichkeit. Die neue Wehrmachtsausstellung zeigt ein noch dunkleres Bild des NS-Militärs als die alte, in: Die Zeit, Nr. 50, 13.12.2001.
275 ⋅ Anmerkungen 83 Ebd. 84 Ebd. 85 Ausst. Kat. Verbrechen der Wehrmacht, S. 107. 86 Daniel Fulda, ‹Selective› History. Why and How ‹History› Depends on Readerly Narrativization, with the Wehrmacht Exhibition as an Example, in: Narratology beyond Literary Criticm. Mediality, Disciplinarity, hg. v. Jan Christoph Meister, Berlin/New York 2005, S. 173–194, hier: S. 186. 87 Ähnlich wie auch die im Zusammenhang der ersten Ausstellung geführten Interviews mit den Soldaten und der durch die Erinnerung ausgelöste «Strudel der Emotionen» ein «Komplement» zur Analyse der Strukturen des Vernichtungskriegs darstellt (siehe Hannes Heer, Landschaft mit Kratern, in: Besucher einer Ausstellung. Die Ausstellung ‹Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944› in Gesprächen und Interviews, hg. v. Hamburger Institut für Sozialforschung, Hamburg 1998, S. 75–105. 88 Ebd., S. 121. 89 Didi-Huberman, Bilder trotz allem, S. 63 90 Ebd., S. 36, 74, 15. 91 Ebd., S. 163. 92 Ebd., S. 234. 93 Siehe etwa das von Lily Jacob nach der Befreiung von Auschwitz in den Baracken entdeckte Album mit Aufnahmen der SS-Fotografen Bernhard Walter und Ernst Hofmann (Tal Bruttmann/Stefan Hördler/Christoph Kreutzmüller, Die fotografische Inszenierung des Verbrechens – Ein Album aus Auschwitz, Darmstadt 2019). 94 Petra Bopp, ‹Wo sind die Augenzeugen, wo die Fotos?›, in: Eine Ausstellung und ihre Folgen. Zur Rezeption der Ausstellung ‹Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944›, hg. v. Hamburger Institut für Sozialforschung, Hamburg 1999, S. 198–229, hier: S. 213. Siehe etwa folgende Äußerungen von Besuchern: «Durch die Fotos haben wir einen Eindruck in die Geschehnisse der damaligen Zeit bekommen, die in Geschichtsbüchern nicht in derart lebendiger Weise vermittelt werden (können).» (ebd., S. 200). «Hier bekommen Opfer und Täter ein Gesicht, man sieht ihre Angst und Verzweiflung. Aus Zahlen werden Menschen» (ebd., S. 201). «Insofern empfinde ich das dargelegte Fotomaterial für fast wichtiger als die Darstellung der Fakten, weil dadurch vieles greifbarer wird» (S. 204). «Sehr beeindruckend waren die ca 700 Bilder der getöteten Leute aus Serbien, da hier deutlich wird, daß jedes einzelne Menschenleben, das vernichtet wurde, sehr sehr schlimm war. Ein Foto sagt viel mehr aus als die Zahl 20 000 Tote» (ebd., S. 208). «Man soll sich nicht abwenden von diesen Bildern. Sie sind ein Teil deutscher Geschichte, die man nicht verdrängen oder vergessen sollte» (ebd. S. 213). 95 Siehe Ausst. Kat. Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, hg. v. Hamburger Institut für Sozialforschung, Hamburg 1996, S. 81–83 sowie Ausst. Kat. Verbrechen der Wehrmacht, S. 168–173. 96 Lethen, Der Text der Historiografie, S. 82. 97 Ebd., S. 83. 98 Ausst. Kat. Verbrechen der Wehrmacht (wie Anm. 2), S. 107. 99 Lethen, Der Text der Historiografie, S. 82 100 «Die Bilder zeigen vieles, zum Beispiel einen soldatischen Blick, der von Tötungs aktionen Urlaubsphotos herstellt» (Saubermänner mit Schluckbeschwerden,
276 ⋅ Anmerkungen Klaus Theweleit im Interview mit Stefan Günther, in: Taz. Die Tageszeitung, 19.6.1999). 101 Die Beschreibbarkeit der Bilder wurde auch im Hinblick auf die Bedingungen und Motive ihrer Herstellung befragt. Ihnen entspricht ein «Element des Piktoralen als nicht in Sprache zu übertragendes ‹Bildwollen›» (ders., Der entleerte Blick hinter der Kamera. Tod und Gewalt in der fotografischen Bildtradition, in: Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, hg. v. Hannes Heer u. Klaus Naumann, Hamburg 1995, S. 504–527, hier: S. 517). «Die bloße Existenz dieser Fotos ist erklärungsbedürftig und kein harmloses Element der Fotogeschichte» (Bernd Hüppauf, Jenseits des Tribunals, wie Anm. 24). Zur Perspektive der Fotografen siehe auch: Dieter Reifrath/Victoria Schmidt- Linsenhoff, Die Kamera der Henker, in: Fotogeschichte 3 (1983), S. 57–71 sowie Bernd Boll, Das Adlerauge des Soldaten. Zur Fotopraxis deutscher Amateure im Zweiten Weltkrieg, in: Fotogeschichte 85/86 (2002), S. 75–87. 102 Ausst. Kat. Verbrechen der Wehrmacht, S. 118. 103 Ebd., S. 119. 104 Lethen, Der Text der Historiografie, S. 77 und 83. Der im ersten Zitat angesprochene Kommentar ist: Rudolf Walther, Amtshilfe für Himmlers Einsatztruppen, in: Freitag, 7. Dezember 2001. 105 Brian Coe, Color Photography. The first hundred years 1840–1940, London 1978, S. 8, Pamela Roberts, 100 Jahre Farbfotografie, Berlin 2007, S. 18–19. 106 Um hier präzise zu sein, ist daran zu erinnern, dass es auch im ersten Jahrhundert der monochromen Fotografie bereits farbige Bilder gab. In seinem Account of the Art of Photogenic Drawing beschreibt Talbot im Januar 1839 die erstaunliche Vielfalt an Farben, die seine ersten fotografischen Versuche hervorgebrachten: «[…] the ground upon which they display themselves is variously and pleasingly coloured. Such is the variety of which the process is capable, that by merely varying the proportions and some trifling details of manipulation, any of the following colours are readily attainable: Sky-blue, Yellow, Rose-colour, Brown, of various shades, Black» (William Henry Fox Talbot, Some Account of the Art of Photogenic Drawing, in: The London and Edinburgh Philosophical Magazine and Journal of Science XIV, no 88 (March 1839), S. 196–208, hier: S. 199). Auch in den Jahrzehnten danach wurden Fotografien aus ästhetischen Gründen häufig ganzflächig eingefärbt. Zudem besaß auch die pauschal als ‹schwarz-weiß›klassifizierte Fotografie eine große Varianz an Farbtönen. (Siehe dazu Kim Timby, The colors of black-and-white photography, in: The colors of photography, hg. v. Bettina Gockel unter Mitarbeit von Nadine Jirka und Stella Jungmann, Berlin/ Boston 2020, S. 201–229). Die Farbigkeit all dieser Bilder hatte jedoch keinen mimetischen Charakter (es sei denn als Artikulation der ihnen zugrunde liegenden fotochemischer Prozesse). Da es im vorliegenden Zusammenhang jedoch um die mögliche Abbildungsfunktion der Fotografie geht, ihr Potenzial, vergangene Schauplätze, Personen und Ereignisse abzubilden, können diese abstrakten Visualiierungen hier ausgespart bleiben. 107 Barthes, Die helle Kammer, S. 91 f. 108 Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen 1992, S. 40–41. 109 Siehe etwa: Die Farben des Krieges. Die Belagerung Warschaus in den Farbfotografien von Julien Bryan, hg. v. Aleksandra Janiszewska, Berlin/München 2010, David Okuefuna, The Wonderful World of Albert Kahn. Colour Photographs from a Lost Age, London 2008, Das Auge des Dritten Reiches. Hitlers Kamera-
277 ⋅ Anmerkungen mann und Fotograf Walter Frentz, hg. v. Hans Georg Hiller von Gaertringen, Berlin/München 2006, Couleurs de guerre. Autochromes 1914–1918, hg. v. Dominique Seridji, Gent 2006, Bilder des Zweiten Weltkriegs, hg. v. Michael Sontheimer, München 2005, Béatrice de Pastre/Emmanuelle Devos, Les couleurs du voyage. L’œuvre photographique de Jules Gervais-Courtellemont, Paris 2002. Zu dieser Konjunktur der Farbe siehe Rolf Sachse, Die K olorierung der Zeitgeschichte. Der Zweite Weltkrieg in neuen Medienfarben, in: Bild welten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 4, 1 (2006), S. 53–60. 110 Das Projekt wurde von Rexford Guy Tugwell, dem stellvertretenden Landwirtschaftsminister der Roosevelt-Regierung initiiert und unter der Leitung des Ökonomen Tugwell Roy Stryker realisiert. «Obwohl ursprünglich zur Produktion von Bildern geschaffen, die dazu beitragen sollten, um Unterstützung für verschiedene, hauptsächlich zur Linderung der Not der armen Landbevölkerung eingerichtete Hilfsprogramme zu werben, verschob sich Ende der dreißiger Jahre im Zusammenhang mit den Kriegsvorbereitungen und dem Bedarf an patriotischen, erhebenden Bildern der Schwerpunkt des Projekts. Es endete offiziell 1943» (Abigail Solomon-Godeau, Wer spricht so? Einige Fragen zur Dokumentarfotografie, in: Diskurse der Fotografie (wie Anm. ), S. 53–74, hier: S. 66. 111 Lethen, Der Schatten des Fotografen, S. 134. 112 Sally Stein, The rhetoric of the colorful and the colorless. American photography and material culture between the wars, Diss. o. O. 1991. 113 Das Fotografieren in Farbe blieb dabei die Ausnahme. Wie Stein erläutert, waren dafür einerseits die höheren Kosten sowie die kompliziertere Handhabung des Verfahrens verantwortlich. Wolcott, Delano und Lee mussten aber offenbar auch erst ein Gespür dafür entwickeln, welche Motive ihnen für ein Farbbild überhaupt geeignet schienen. Dazu gehörten an erster Stelle Jahrmärkte – «as a source of relief, of vitality and color and conviviality in areas that often struck them as culturally repressed as well as economically depressed» (Stein, The rhetoric of the colorful, S. 328). 114 Paul Hendrickson, The Color of Memory, in: Bound for Glory. America in color, 1939–43, hg. v. Deborah Aaronson, New York 2004, S. 7–19. 115 Ebd., S. 7. 116 Ebd. S. 14. 117 Ebd., S. 10. 118 Ebd. 119 Marina Amaral/Dan Jones, Die Welt von gestern in Farbe. Eine neue Geschichte der Welt von 1850 bis 1960, München 2018, S. 8. 120 Dan Jones/Marina Amaral, Die Welt von gestern in Farbe. Eine neue Geschichte der Welt von 1850 bis 1960, München 2018, S. 8. 121 Abgesehen von materiellen Überresten der Vergangenheit – aber um diese geht es hier nicht. 122 Dan Jones/Marina Amaral, The World Aflame. The long War 1914–1945, London 2020, S. 9. 123 Zu dieser Formulierung siehe Roland Barthes, Die große Familie des Menschen, in: ders., Mythen des Alltags, vollständige Ausgabe, Berlin 2010, S. 226–229. 124 Barthes, Die helle Kammer, S. 107. 125 Elisabeth Edwards, Review, The Color of Time. A New History of the World 1850–1960, in: History of Photography 43 (2019), S. 331–332, hier: S. 332.
278 ⋅ Anmerkungen 126 Carolina Torres/Inken Dworak, Was hinter dem Farbbild des Mädchens aus Auschwitz steckt (https://www.spiegel.de/kultur/holocaust-marina-amaralfaerbt-auschwitz-foto-von-jungem-maedchen-ein-a-00000000-0003-00010000-000002201144). 127 Amaral/Jones, The World Aflame, S. 9
4. Kapitel
Found footage und die verlorene Zeit 1 «General Research Record» der Warner Bros Entertainment, zit. n. Philip Rosen, Change Mumified. Cinema, Historicity, Theory, Minneapolis 2001, S. 150–51. 2 Ebd. 3 Fabienne Liptay/Matthias Bauer, Einleitung, in: Filmgenres. Historien- und Kostümfilm, hg. v. Fabienne Liptay u. Matthias Bauer, Stuttgart 2013, S. 9–31, hier: S. 19. 4 Kracauer, Der historische Film, S. 315. 5 Natalie Zemon Davis, «Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen …»: Der Film und die Herausforderung der Authentizität, in: Bilder schreiben Geschichte. Der Historiker im Kino, hg. v. Rainer Rother, Berlin 1991, S. 37–63, hier: S. 56. 6 Siegfried Kracauer, Ben Hur. Zur Aufführung in Frankfurt, in: ders., Kleine Schriften zum Film, Band 6.1, 1921–1927, hg. v. Inka Mülder-Bach unter Mitarbeit v. Mirjam Wenzel u. Sabine Biebl, Frankfurt am Main 2004, S. 264–266, hier: S. 264–265. 7 Marc Ferro, Cinéma et Histoire, Paris 1993, S. 219. 8 «Der Mann wußte, dass der Krieg verloren ist». Hans-Ulrich Wehler im Gespräch mit Jan Wiele, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.11.2012. 9 Michel de Certeau, Die Geschichte: Wissenschaft und Fiktion, in: ders., Theoretische Fiktionen: Geschichte und Psychoanalyse, hg. v. Luce Giard, Wien 2006, S. 33–60, hier: S. 33. 10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, hg. v. Friedrich Bassenge, Bd. 1, Berlin 1985, S. 259–260. 11 Roland Barthes, Les maladies du costume de théâtre, in: ders., Essais critiques, Paris 1964, S. 56–65, hier: S. 64. 12 Ebd. S. 57–58. 13 Charles Shiro Tashiro, Pretty Pictures. Production Design and the History Film, Austin 1998, S. 96. 14 Siegfried Kracauer, Theorie des Films, S. 63 u. 85. 15 Ebd., S. 65. 16 Friedrich Balke, «Rohmaterial». Kracauers Wirklichkeitsbegriff zwischen fotografischem Effekt und Arbeit am Mythos, in: Komplexität und Einfachheit. DFG-Symposium 2015, hg. v. Albrecht Koschorke, S. 482–506, hier: S. 486. 17 Thomas Elsaesser, Siegfried Kracauers Affinitäten, in: Siegfried Kracauers Grenzgänge. Zur Rettung des Realen, hg. v. Sabine Biebl, Helmut Lethen u. Johannes von Moltke, Frankfurt/New York 2019, S. 83–100, hier: S. 96 18 Gertrud Koch, Kracauers Theorie der Geschichte und des Films, in: Film und Geschichte. Produktion und Erfahrung von Geschichte durch Bewegtbild und
279 ⋅ Anmerkungen Ton, hg. v. Delia González de Reufels, Rasmus Greiner u. Winfried Pauleit, Berlin 2015, S. 117–126, hier: S. 124. 19 Mit dieser Entscheidung ist keine Wertung verbunden. Die Konzentration auf die Zeugnisfunktion des Films entspricht einfach der Fragestellung dieses Buches. 20 Kracauer, Theorie des Films, S. 65. 21 Ebd., S. 83. 22 Kracauer, Theorie des Films, S. 137–138. 23 Koch, Nachstellungen, S. 217–218. Dementsprechend formuliert auch Marc Ferro, im fiktionalen Film könne das «Bild der Wirklichkeit so wahr sein wie im Dokumentarfilm». Aufgrund ihrer dokumentarischen Szenen seien fiktionale Filme wie Vsevolod Pudovkins Sturm über Asien oder Alexander Dovzhenkos Uk raine Trilogie zugleich ein «imaginäres Museum der Vergangenheit Russlands». «Es handelt sich um ein methodologisches Problem; es geht darum, entlang der Fiktion und des Imaginären, Elemente der Wirklichkeit ausfindig zu machen» (Marc Ferro, Cinéma et Histoire, S. 74–75). 24 Kracauer, Theorie des Films, S. 137. Was der «völligen Authentizität» des Historienfilms im Wege steht, ist «die nahezu unüberwindliche Schwierigkeit, Schauspieler von heute historischen Kostümen anzupassen. Die feineren Nuancen ihres Mienenspiels und ihrer Gesten sind so sehr von dauernden Einflüssen der Umwelt bedingt, daß sie sich gegen jede derartige Anpassung sträuben. Die Kostüme gehören ganz und gar der Vergangenheit an, während die Schauspieler noch halb in der Gegenwart stecken» (ebd., S. 139–140). 25 Kracauer, Theorie des Films, S. 138. 26 In den zitierten Passagen rechnet Kracauer offenbar nicht mit den Möglich keiten eines Theaters, das die Grenzen der Inszenierung überschreiten oder sichtbar machen will, historische Stoffe aktualisiert, Kostümierung verweigert, die Schauspieler im Zuschauerraum agieren lässt etc. Vermutlich hätten aber auch diese Versuche an seiner Grundunterscheidung nichts geändert: Jeder noch so elaborierte Versuch, das Theater im Theater zu transzendieren, hält sich unweigerlich im Rahmen. 27 Balke, Rohmaterial, S. 486 (unter Einbeziehung eines Zitats aus Kracauers Aufsatz «Ornament der Masse»). 28 Kracauer, Theorie des Films, S. 137. 29 Ebd., S. 140. 30 Siegfried Kracauer, Der Luther-Film, in: ders., Kleine Schriften zum Film. Band 6.2, 1928–1931, hg. v. Inka Mülder-Bach unter Mitarbeit v. Mirjam Wenzel u. Sabine Biebl, Frankfurt am Main 2004, S. 60–62, hier: S. 61. 31 Siegried Kracauer, Großfilm «Danton», in: ders., Kleine Schriften zum Film, Band 6.1, 1921–1927, hg. v. Inka Mülder-Bach unter Mitarbeit v. Mirjam Wenzel u. Sabine Biebl, Frankfurt am Main 2004, S. 10–11, hier: S. 10. 32 Siegfried Kracauer, Fridericus Rex, in: ders. Kleine Schriften zum Film, S. 82–83. 33 Kracauer, Theorie des Films, S. 104 u. 108. 34 Ebd., S. 78. 35 Ebd., S. 138 u. 140. 36 Ebd., S. 78. 37 Etwa in dem Sinne, in dem Martin Heidegger in Sein und Zeit in positiver Weise von der «Störung der Verweisung» spricht. Die Störung – in Heideggers Beispiel: die Unterbrechung eines reibungslosen Arbeitsablaufs durch ein nicht «zuhandenes» Werkzeug – ist kein Defizit, sondern macht in ihren «Modi der Auffällig-
280 ⋅ Anmerkungen keit, Aufdringlichkeit, und Aufsässigkeit» den unauffälligen Normalfall erst offensichtlich (Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1993, S. 73–74). 38 Elsaesser, Siegfried Kracauers Affinitäten, S. 97. 39 Kracauer, Theorie des Films, S. 78. 40 Koch, Kracauers Theorie der Geschichte und des Films, S. 118–119. 41 Rudolf Arnheim, Fiktion und Tatsache, S. 266–267. An dieses Detail erinnert auch Kracauer: «Lumières Zeitgenossen rühmten seine Filme um eben der Werte willen, auf die schon die Propheten und Vorläufer in ihren Ankündigungen des Mediums hingewiesen hatten. So war es verständlich, daß man jetzt mit Begeisterung vom ‹Zittern der im Winde sich regenden Blätter› in Lumières Filmen sprach» (Kracauer, Theorie des Films, S. 70). 42 Arnheim, Fiktion und Tatsache, S. 267. 43 Ursula von Keitz, Der Idealheld des Monumentalfilms. Napoleon in der Kinematographie, in: Mythen der Nationen: Völker im Film, hg. v. Rainer Rother, München/Berlin 1998, S. 250–266, hier: S. 255. 44 Kevin Brownlow, Napoleon. Abel Gance’s Classic Film, London 1983, S. 67. 45 Béla Balázs, Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films (1924), Frankfurt am Main 2001, S. 76. 46 Kracauer, Theorie des Films, S. 139. 47 Lethen, Der Schatten des Fotografen, S. 78. 48 Die sogenannten Phantom Rides sind ein verbreitetes Genre dieser Frühzeit des Films. «Diese Filme bedeuten eine neue Vorstellung des Sehens, welche durch die technologischen Revolutionen in der Photographie und der Verkehrstechnik ermöglicht wurde und durch die alle Anblicke der Welt und alle Menschen, die diese bewohnen, zum Subjekt einer neuen, umherschweifenden Form des Sehens und der Repräsentation werden» (Tom Gunning, Vor dem Dokumentarfilm. Frühe Non-Fiction Filme und die Ästhetik der Ansicht, in: Wie Bilder Dokumente wurden, hg. v. Renate Wöhrer, Berlin 2015, S. 155–174, hier: S. 171). 49 Kracauer, Theorie des Films, S. 116 u. 130 sowie ders., Faksimiles (‹Marseiller Entwurf› zu einer Theorie des Films), in: Kracauer, Theorie des Films, S. 521– 803, hier: S. 595. 50 Kracauer, Theorie des Films, S. 129 u. 130. 51 Ebd., S. 130. 52 Kracauer, Theorie des Films, S. 130–131. 53 Jacques Derrida, Mémoires. Für Paul de Man, hg. v. Peter Engelmann, Wien 1988, S. 70. 54 Lang, Kitsch-Sensation-Kultur, S. 13. 55 Tom Gunning erinnert daran, dass solche Reaktionen auf die Gegenwart der Kamera für diese frühe Zeit des Aktualitätenfilms typisch sind. «Die Kamera agiert im wörtlichen Sinne als Tourist, Zuschauer und Forscher, und das Vergnügen an dem Film liegt in diesem Surrogat des Blickens.» Dazu gehört, dass der Blick der Kamera von den Angeblickten erwidert wird – «mit Blicken oder Gesten, welche sie direkt in die Kamera richten» (Gunning, Vor dem Dokumentarfilm, S. 162). 56 Balke, Rohmaterial, S. 484. 57 Kracauer, Theorie des Films, S. 596. Siehe auch ebd. S. 595: «Dadurch daß die Straße nicht allein einen unstellbaren Komplex, sondern eine unstellbare Men schenmenge darstellt, sind ihre Aufnahmen doppelt gegen die intentionale Sphäre ab gedichtet.»
281 ⋅ Anmerkungen 58 Der Film «zielt nicht nach oben, zur Intention, sondern drängt nach unten, zum Bodensatz, um auch diesen mitzunehmen» (Ebd., S. 531). 59 Lethen, Der Schatten des Fotografen, S. 74. 60 Kracauer, Theorie des Films, S. 75. 61 «Indem ich mich der Geschichte zuwandte, führte ich nur Gedanken fort, die in jenem Buch manifest waren» (Siegfried Kracauer, Geschichte – Vor den letzten Dingen, hg. v. Ingrid Belke unter Mitarbeit v. Sabine Biebl, Frankfurt am Main 2009, S. 11). 62 Ebd., S. 71. 63 Ebd., S. 103. 64 Zur Formulierung de Certeaus siehe de Certeau, Geschichte und Struktur, S. 153. Zu Kracauers Motiv des Lumpensammelns siehe auch Till van Rahden, Lumpensammeln: auf Um- und Abwegen durch das 19. Jahrhundert, in: Siegfried Kracauers Grenzgänge, S. 189–201. 65 Kracauer, Geschichte, S. 75. 66 Kracauer, Geschichte, S. 79–80 u. 94. 67 Ebd., S. 79, 97, 101 u. 104. 68 Ebd., S. 98. 69 Ebd., S. 80–81. 70 Ebd., S. 150. 71 Ebd., S. 14. 72 Kracauer, Der historische Film, S. 314. 73 «Ungleich der jüngsten Vergangenheit läßt sich die historische nur mit Hilfe von Kostümen und Dekorationen inszenieren, die dem Leben der Gegenwart entrückt sind» (ebd., S. 314). 74 Ebd. 75 Kracauer, Der historische Film, S. 316. 76 Siehe etwa Thomas Elsaesser, Die Geschichte, das Obsolet und der found footage-Film, in: Ortsbestimmungen. Das Dokumentarische zwischen Kino und Kunst, hg. v. Eva Hohenberger u. Katrin Mundt, Berlin 2016, S. 135–155, Christa Blümlinger, Kino aus zweiter Hand. Zur Ästhetik materieller Aneignung im Film und in der Medienkunst, Berlin 2009, Mathias Steinle, Das Archivbild und seine ‹Geburt› als Wahrnehmungsphänomen in den 1950 er Jahren, in: Mediale Ordnungen. Erzählen, Archivieren, Beschreiben, hg. v. Corinna Müller u. Irina Scheidgen, Marburg 2007, S. 259–282, Tilman Baumgärtel, Vom Guerilla kino zum Essayfilm. Harun Farocki. Werkmonographie eines Autorenfilmers, Berlin 2002 sowie Found Footage Film, hg. v. Cecilia Hausherr u. Christop Settele, Luzern 1992. 77 Elsaesser, Die Geschichte, S. 136. 78 Toby Haggith, D-Day Filming: For Real. A Comparison of ‹Truth› and ‹Reality› in «Saving Private Ryan» and Combat Film by the British Army’s Film and Photographic Unit, in: Film History 14, 3/4 (2002), S. 332–353, hier: S. 334. 79 Barbara Flückiger, Filmfarben. Materialität, Technik, Ästhetik, in: Colormania. Materialität Farbe in Fotografie und Film, Fotomuseum Winterthur, Zürich 2020, S. 17–49, hier: S. 22. 80 In England wurde dieses Verfahren bereits 2003 für die sechsteilige Fernseh dokumentation World War I in Color verwendet, in Deutschland 2012 in den acht Episoden der ZDF-produktion Weltenbrand. 81 François Montpellier, zit. n. Marion Festraëts: Comment Apocalypse a redonné
282 ⋅ Anmerkungen des couleurs à la guerre, in: L’Express, 8.9.2009, http://www.lexpress.fr/culture/tele/comment-apocalypse-a-redonne-des-couleurs-a-la-guerre_784414. html. 82 David Royle, zit. n. Ralph Blumenthal: Film From the Frontline: New Glimpses of War, in: New York Times, 9.11.2009, http://www.nytimes.com/2009/11/10/ arts/television/10war.html?_r=0 (30.05.2014). 83 Amaral/Jones, Die Welt von gestern in Farbe, S. 8. 84 Montpellier, Comment Apocalypse. 85 Diese Dokumentation ist den Extras der DVD-Version der Serie beigegeben. 86 Siehe http://www.imagincolor.com/la-technique/. 87 Michel de Certeau, Geschichte und Struktur, in: ders., Theoretische Fiktionen: Geschichte und Psychoanalyse, hg. v. Luce Giard, Wien 2006, S. 153–168, hier: S. 153 f. 88 Reinhart Koselleck, Terror und Traum. Methodologische Anmerkungen zu Zeit erfahrungen im Dritten Reich, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, S. 288–299, hier: S. 282. 89 Thierry Bonzon, Usages et mésusages des images d’archives dans la série Apocalypse, in: Vingtième Siècle. Revue d’histoire 107 (2010), S. 175–179, hier: S. 179. «Apocalypse ist in erster Linie ein Spektakel, das als solches darauf zielt, das Bildmaterial im Recycling den Modalitäten der aktuellen Wahrnehmung anzupassen: durch Wiedergabe der Bilder in hoher Auflösung, im Format 16/9 und versehen mit 5.1 Mehrkanalton» (ebd.). 90 Im Gespräch: Isabelle Clarke und Daniel Costelle: Macht Farbe den Krieg verständlicher?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.3.2010. Robert Belot nennt hier auch eine «pädagogische Absicht» der Kolorierung: sie ziele darauf, «die Aufmerksamkeit einer Generation zu erleichtern, der die Zeit des Schwarz/ Weiß unbekannt ist und Personen und Landschaften ‹lebendiger› zu machen und näher zu bringen.» (Robert Belot, Apokalypse, un documentaire sur la Seconde Guerre mondiale, in: Vingtième Siècle. Revue d’histoire 107 (2010), S. 171–175, hier: S. 172). 91 Im Gespräch: Isabelle Clarke und Daniel Costelle: Macht Farbe den Krieg verständlicher?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.3.2010. 92 Siehe Kapitel 1.1 (Baudelaire, Der Salon 1846, S. 255). 93 Belot, Apocalypse, hier: S. 172. 94 Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer An thropologie, Frankfurt am Main 1991, S. 20 u. 23. 95 Georges Didi-Huberman: En mettre plein les yeux et rendre «Apocalypse» irregardable, in: Libération, 22.9.2009, http://ecrans.liberation.fr/ecrans/2009/ 09/22/en-mettre-plein-les-yeux-et-rendre-apocalypse-irregardable_952332 (10.09.2020). 96 Siehe Kapitel 3.7. 97 Didi-Huberman, En mettre plein les yeux. 98 Auch der Historiker Robert Belot kritisiert die «künstliche Einheit» der Montage und die Entscheidung der Filmemacher, die Herkunft der Bilder nicht zu benennen. «Handelt es sich um ein Dokument der Alliierten oder um ein Dokument der Achsenmächte? Um eine private oder um eine öffentliche Aufnahme? Um das Bild eines professionellen Reporters oder dasjenige eines Amateurs? Wenn man vorgibt, den Ansprüchen einer wirklichen historischen Vorgehensweise gerecht zu werden, verbietet sich eine solche Praxis der
283 ⋅ Anmerkungen Entstellung von Dokumenten.» Belot, Apocalypse, S. 172. Zur Kritik an der ssimilierung dieser «Bilder ohne Autor», die unterschiedslos auch Material A aus Propagandafilmen einbezieht, siehe auch Bonzon, Usages et mésusages, S. 175. 99 Didi-Huberman, En mettre plein les yeux. 100 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, hg. v. Wolfgang Becker, Stuttgart 1983, S. 65 f. 101 Didi-Huberman, En mettre plein les yeux. 102 Ebd. 103 Die Farben der Vergangenheit. Über die Evidenz von Geschichte im Film, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 201 (Beilage Literatur und Kunst), 31.8.2013, S. 63. 104 Maria Muhle, Krieg in Farbe. Darstellung und Nachstellung, in: Mittelweg 36 2 (2015), S. 84–98, hier: S. 96. 105 Ebd., S. 85. 106 Ebd. 107 Ebd. 108 Siegfried Kracauer, Zur Ästhetik des Farbenfilms, in: ders., Kino. Essays, Studien, Glossen zum Film, hg. v. Karsten Witte, Frankfurt am Main 1974, S. 48–53, hier: S. 48–49. 109 Rudolf Arnheim, Bemerkungen zum Farbfilm, in: ders., Die Seele in der Silberschicht. Medientheoretische Texte. Photographie – Film – Rundfunk, hg. v. Helmut H. Diederichs, Frankfurt am Main 2004, S. 248–253, hier: S. 252. 110 Sylvie Lindeperg, ‹Nacht und Nebel›. Ein Film in der Geschichte, Berlin 2010, S. 129. 111 Ebd. Siehe auch Ute Holl, Nostalgia, Tinted Memories and Cinematic Historiography: On Otto Preminger’s Bonjour Tristesse (1958), in: Media and Nostalgia. Yearning for the Past, present and Future, hg. v. Katharina Niemeyer, New York 2014, S. 160–175, hier: S. 170. 112 «Die sich über die Straße des Lagers Auschwitz bewegende Kamera hält vor dem Eingang des Reviers inne, und daraufhin erscheinen auf der Leinwand, so als habe man eine Türe aufgestoßen, die von den Sowjets und den westlichen Alliierten bei der Öffnung der Lager gedrehten Sequenzen» (Ebd. S. 114). 113 Ebd., S. 114. Zum Zitat von Deleuze siehe: Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt am Main 1985, S. 163. 114 Dass «Nuit et brouillard» in anderer Hinsicht dann doch ein Amalgam zweier Bildgenerationen erzeugt, ist häufig kritisiert worden: In den Schwarz-Weiß- Sequenzen verschleift Resnais Bildmaterial der Täter mit solchem der Alliierten, ohne Motivation und Herkunft der Aufnahmen zu benennen. «Wir wissen heute erheblich mehr über die ‹Bilder aus den Lagern› und sehen uns deshalb veranlasst, das Amalgam der vom Filmemacher zusammengestellten hetero genen Quellen aufzuschlüsseln» (Lindeperg, ‹Nacht und Nebel›, S. 129). An dieser Stelle interessiert aber nicht Resnais’ problematische Montage des Schwarz-Weiß-Materials, sondern der Umstand, dass er den historisch überlieferten Film in seiner Farbigkeit belässt. 115 Landwehr, Die anwesende Abwesenheit, S. 58–59. 116 Lindeperg, ‹Nacht und Nebel›, S. 14. Selbst «wenn solche Verwendungsweisen und Fremdnutzungen der Ausrichtung des Films häufig zuwiderlaufen, gehören doch auch sie zu seiner Geschichte.» 117 Ebd., S. 58.
284 ⋅ Anmerkungen 118 Alois Riegl, Der moderne Denkmalkultus, sein Wesen, seine Entstehung, in: ders., Gesammelte Aufsätze. Mit einem Nachwort zur Neuausgabe v. Wolfgang Kemp, Berlin 1995, S. 144–193, hier: S. 160. 119 Ebd., S. 149. 120 Ebd., S. 172–73. 121 Ebd., S. 171. 122 Riegls Beispiel ist erneut der in die Jahre gekommene Turm: «Wenn an einem alten Turme einige geborstene Steine entfernt und durch neue ersetzt werden, wird der historische Wert des Turms keine nennenswerte Einbuße erfahren, da vor allem die ursprüngliche Grundform die gleiche geblieben ist und für die Beurteilung aller historischen Nebenfragen hinlänglich genug Altes beibehalten wurde, so daß die wenigen ausgewechselten Steine dafür so gut wie ganz außer Betracht fallen, während hingegen dem Alterswerte schon diese geringen Zutaten, namentlich wenn sie durch ihre ‹neue› Farbe (…) aus der Masse des Alters grell herausstechen, im höchsten Maße störend erscheinen können» (ebd., S. 171–172). 123 «Das Wort Kompilation», so Harun Farocki, «ist ein Gattungs-Begriff für Filme, die aus Materialien verschiedenen Ursprungs zusammengestellt sind. Man muss nicht lange in Wörterbüchern suchen um zu finden, dass compilare auch plündern heißen kann.» (Harun Farocki, Wie Opfer zeigen?, in: Verwertungen von Vergangenheit, hg. v. Elisabeth Wagner u. Burkhardt Wolf, Berlin 2009, S. 11–25, hier: S. 58). 124 Jackson gibt an, dass die historischen Aufnahmen mit zehn bis achtzehn Bildern pro Sekunde gefilmt wurden. Die dadurch entstandenen Leerstellen und Un regelmäßigkeiten wurden im fertigen Film digital bereinigt. Dazu gehörte auch, wie Franziska Heller und Ulrich Rüdel notieren, dass im Originalfilm nicht erkennbare Details simuliert wurden. «Hier wurde von Jackson offenbar deutlich dramaturgisch und kompositorisch nachgeholfen, zumal unter Ergänzung ganzer Bildelemente» (Franziska Heller/Ulrich Rüdel, Das menschliche Gesicht des Krieges? Archivbilder im digitalen Wandel, https://www.kinofenster.de/filme/ archiv-film-des-monats/kf1907/kf1907-they-shall-not-grow-old-hg1-archivbilder-im-digitalen-wandel). 125 Andreas Kilb, Sie wurden nicht alt, und jetzt sind sie bunt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.6.2019. 126 Koch, Kracauers Theorie der Geschichte, S. 123. 127 Muhle, Krieg in Farbe, S. 98. 128 Bonzon, Usages et mésusages des images d’archives dans la série Apocalypse, S. 179. 129 Belot, Apocalypse, S. 171. 130 Siehe etwa Peter Bradshaw, They Shall not Grow Old – Peter Jackson’s electrifying journey into the first world war trenches, in: The Guardian, 16.10.2018 und Marion Löhndorf, Nun reden die Soldaten. Peter Jackson verleiht Filmdokumenten aus dem Ersten Weltkrieg neues Leben, in: Neue Zürcher Zeitung, 10.11.2018. 131 Kilb, Sie wurden nicht alt. 132 Didi-Huberman, En mettre plein les yeux. 133 Zu den Versuchen, das Phänomen näher zu bestimmen, gehören Helmuth Plessners Überlegungen zur «Hygiene des Taktes». Sie zielen auf Verhaltensweisen der «Geselligkeit», auf den sozialen Umgang miteinander; manche von Plessners
285 ⋅ Anmerkungen Formulierungen zur sorgfältigen «Innehaltung von Distanz» lassen sich aber auf den vorliegenden Zusammenhang übertragen: «Takt ist die Bereitschaft, […] andere nach ihrem Maßstabe und nicht dem eigenen zu messen», ein Instrument der «Fernfühlung, Ferntastung» (Helmuth Plessner, Die Logik der Diplomatie. Die Hygiene des Taktes, in: ders., Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt am Main 2001, S. 95–112, hier: S. 107 u. 110. 134 So die Presseankündigung von They Shall Not Grow Old. 135 Barthes, Die große Familie des Menschen, S. 227. 136 https://topmovielocations.com/where-was-they-shall-not-grow-old-filmed/. 137 de Certeau, Geschichte und Struktur, S. 156. 138 Belot, Apocalypse, S. 172. Belot deutet an, dass der Verzicht auf Kolorierung auf eine Intervention der Fondation pour la Mémoire de la Shoah zurückgeht. 139 Sylvie Lindeperg, Vies en sursis, images revenantes, in: Trafic 70, 2009, S. 25– 32, hier: S. 27, Antje Ehmann, Der essayistische Film – eine Abgrenzung wovon? Zur Bestimmung von Harun Farockis Film Aufschub, in: Der Essayfilm. Ästhetik und Aktualität, hg. v. Sven Kramer u. Thomas Todein, Konstanz 2011, S. 89–100, hier: S. 95 und Thomas Elsaesser, Der Vergangenheit ihre eigene Zukunft lassen. Harun Farockis Aufschub, in: Film und Geschichte. Produktion und Erfahrung von Geschichte durch Bewegtbild und Ton, hg. v. Delia González de Reufels, Rasmus Greiner u. Winfried Pauleit, Berlin 2015, S. 11–25, hier: S. 21. 140 Harun Farocki, Wie Opfer zeigen?, S. 52. Farocki bezieht sich hier auf Alain Resnais’ Nuit et Brouillard (1956) und seine Vertonung durch Hanns Eisler sowie auf Edwin Leisers Dokumentarfilm Mein Kampf (1960). 141 Ehmann, Der essayistische Film, S. 95. Zum Verzicht auf Ton, um die «Technik der ‹stummen› Aufnahme zu respektieren» siehe auch Philippe Despoix, Travail/sursis – délai sans remission, in: Intermédialités. Histoire et théorie des arts, des lettres et des techniques, 11/2008, 89–93, hier: S. 89–90 sowie Georges DidiHuberman, Remontages du temps subi. L’Œil de l’histoire, 2, Paris 2010, S. 111. 142 Ebd. 143 Harun Farocki, Die Bilder sollen gegen sich selbst aussagen, in: Auszug aus dem Lager. Zur Überwindung des modernen Raumparadigmas, hg. v. Ludger Schwarte, Berlin/Bielefeld 2007, S. 295–311, hier: S. 308. 144 Ehmann, Der essayistische Film, S. 97. 145 Farocki, Wie Opfer zeigen?, S. 53. 146 Harun Farocki, Eine Rede über zwei Filme, in: ders., Unregelmäßig, nicht regellos. Texte 1986–2000 (Schriften Bd. 5), hg. von Tom Holert, Berlin/Köln 2021, S. 112–118, hier: S. 113. 147 Monika Wermuth, Bilder erinnern sich. Diskursgeschichte und Bildgedächtnis in Harun Farockis Film AUFSCHUB (2007), in: Film- und Fernsichten, hg. v. Katharina Klung, Susie Trenka u. Geesa Marie Tuch, Marburg 2013 (Film- und Fernsehwissenschaftliches Kolloquium 24), S. 17–25, hier: S. 21. 148 Tatsächlich hat schon Resnais diese Sequenz aus Breslauers Film in Nuit et Brouillard übernommen. «Man begegnet dieser Sequenz fast täglich, denn sie wird routinemäßig in Fernseh-Dokudramen oder sogar in den Nachrichten gezeigt, wenn ein Produzent die Deportation und die Züge evozieren möchte, aber nur ein paar Sekunden hat, um dies gebündelt zu tun» (Elsaesser, Der Vergangenheit, S. 14). 149 Elsaesser, ebd., S. 18; siehe auch Sven Kramer, Neuere Aneignungen von doku-
286 ⋅ Anmerkungen mentarischem Filmmaterial aus der Zeit der Shoah, in: Film und Geschichte, S. 26–33 sowie Philippe Despoix, Travail/sursis, S. 89. 150 Georges Didi-Huberman, Ein Bild wiedergeben, in: Ausst. Kat. Bild-Gegen-Bild / Image Counter Image, Haus der Kunst München, München/Köln 2012, S. 76. Siehe auch die ausführlichere Darstellung in: Georges Didi-Huberman, Remontages du temps subi. L’œil de l’histoire 2, Paris 2010, S. 72–95. 151 Farocki selbst hat diese Entwicklung wiederholt kommentiert, wenn er etwa verschiedenen Institutionen verschiedene Arten von Zuschauern bzw. Betrachtern seiner Arbeiten zuordnet: «Wird eine Arbeit von mir im Fernsehen gezeigt, so kommt es mir vor, als würfe ich eine Flaschenpost ins Meer, stelle ich mir einen Fernsehzuschauer vor, so ist der frei erfunden. In einem Kino scheint es mir jedoch, als könnte ich die kleinsten Schwankungen in der Aufmerksamkeit der Zuschauer auffassen und auf die Konstruktionen des Filmstücks zurück schließen. Die Zuschauer von Vorführungen in Kunsträumen sprechen mich häufiger an als die von Kinovorführungen, ich kann aber schwerer verstehen, was ihre Worte b edeuten.» (Harun Farocki, «Quereinfluss / Weiche Montage», in: Brecht plus minus Film, hg. v. Thomas Martin u. Erdmut Wizisla, Berlin 2003, S. 120). 152 Didi-Huberman, Ein Bild wiedergeben, S. 76. 153 Siehe dazu Harun Farocki, Die Wirklichkeit hätte zu beginnen, in: ders., Unregelmäßig, S. 119–133, hier: S. 130. 154 Didi-Huberman, Ein Bild wiedergeben, S. 76.
Nachwort (Der Vergangenheitseffekt) 1 Valentin Groebner, Retroland, Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen, Frankfurt am Main 2018, S. 20–21. 2 Ebd. 3 Ebd. 4 Siehe dazu auch Landwehr, Die anwesende Abwesenheit. 5 Koch, Kracauers Theorie der Geschichte, S. 123. 6 de Certeau, Geschichte und Struktur, S. 156. 7 Dominik Schrey, Analoge Nostalgie in der digitalen Medienkultur, Berlin 2017, S. 263. 8 Gil Bartholeyns, The instant past: nostalgia and digital retro photography, in: Media and Nostalgia. Yearning for the past, present and future, hg. v. Katharina Niemeyer, New York 2914, S. 51–69, hier: S. 55. 9 «Eine einwandfreie, sogar mathematisch codierte Kausalkette verbindet die neuen Dokumente mit den bekannten» (Lorenz Engell, «Virtual History». Geschichte als Fernsehen, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 6 (2009), S. 391–412, hier: S. 398–99. 10 Ebd. 11 Siehe: https://www.swr.de/unternehmen/ich-bin-sophie-scholl-instagramserie-102.html. 12 Andreas Bernard, Selfie vom Schafott. Der neue Instagram-Kanal «ichbinsophiescholl» lässt die Widerstandskämpferin in Echtzeit posten, in: Die Zeit, 23 (2021).
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Bildnachweis
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301 ⋅ Bildnachweis of Art, New York, NY: Abb. 34; Mayer, Rolf (Hg.), Louis De Clercq. «Voyage en Orient», Ausst. Kat. Köln, Galerie Mayer & Mayer, Stuttgart 1989: Abb. 35, 39, 41, 42; The Louise Imogen Guiney Collection, Library of Congress, Prints & Photographs Division: Abb. 36, 38; Perez, Nissan N., Corpus Christi. Christusdarstellungen in der Fotografie, Ausst. Kat. Hamburg, Deichtorhallen, Heidelberg 2003: Abb. 37; Ausst. Kat. James Tissot. L’ambigu moderne, Paris, Musée d’Orsay, Paris 2020: Abb. 40 ; Paul, Gerhard, Bilder des Krieges. Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn/Zürich 2004: Abb. 44; New York World- Telegram and the Sun Newspaper Photograph Collection (Library of Congress): Abb. 45; Rudolf Herz, Hoffmann & Hitler. Fotografie als Medium des Führer- Mythos, München 1994: Abb. 46 (Rudolf Herz, München); Heydecker, Joe J. (Hg.), Das Hitler-Bild. Die Erinnerungen des Fotografen Heinrich Hoffmann, St. Pölten/ Salzburg 2008: Abb. 47; Kunstverlag Andelfinger, München: Abb. 48; Kershaw, Alex, Blood and Champagne. The Life and Times of Robert Capa, London 2002: Abb. 49; Stadler, Arnold, Mein Stifter, Köln 2005: Abb. 50; Whelan, Richard, Robert Capa. Die Sammlung, Berlin 2005: Abb. 51; Department of Defense. Department of the Navy. Naval Photographic Center. (12/1/1959 – ca. 1998): Abb. 52; Gronert, Stefan (Hg.), Larry Sultan, Ausst. Kat. Bonn/Gent, Kunstmuseum Bonn/S. M. A. K., Bielefeld/Berlin 2015: Abb. 53, 54, 57; Hentschel, Beate/Luckow, Dirk/Tyradellis, Daniel (Hg.), Wunder. Kunst, Wissenschaft und Religion vom 4. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Ausst. Kat. Hamburg, Deichtorhallen, Köln 2011: Abb. 55, 56, 58; Fox Talbot Museum/Museum of Photographic Arts San Diego, First Photographs. William Henry Fox Talbot and the Birth of Photography, New York 2002: Abb. 59; Didi-Huberman, Georges, Bilder trotz allem, übers. v. Peter Geimer, München 2007: Abb. 60, 61; Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozial forschung, 5–6/2021: Abb. 62, 63, 64, 65, 66; Ausst. Kat. Farbe im Photo. Die Geschichte der Farbphotografie von 1861 bis 1981, Köln, Josef-Haubrich-Kunsthalle, Köln 1981: Abb. 67; Hendrickson, Paul (Hg.), Bound for Glory. America in Color 1939–43, New York 2004: Abb. 68; Amaral, Marina/Jones, Dan, Die Welt von gestern in Farbe. Eine neue Geschichte der Welt von 1850 bis 1960, München 2018: Abb. 69, 71; Barthes, Roland, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main 1989: Abb. 70; © MGM courtesy APL Archive: Abb. 72; © 2011 KSM GmbH, 1948: Abb. 73, 74, 75, 76, 77; Geimer, Peter, Fliegen. Ein Porträt, Berlin 2018: Abb. 78; Brownlow, Kevin, Napoleon. Abel Gance’s Classic Film, London 1983 Abb. 79; Library of Congress, Motion Picture, Broadcasting, and Recorded Sound Division, Before and After the Great Earthquake and Fire: Early Films of San Francisco, 1897 to 1916 Collection: Abb. 80, 81; © MGM: Abb. 82, 83, 84; © 1975 National Film Trustee Co. Ltd. under license by Last Shot Films Inc.: Abb. 85, 86, 87, 88; © CC&C Clarke Costelle et Cie: Abb. 89 ; © The Criterion Collection: Abb. 90, 91; © 2018 Imperial War Museum/Warner Bros: Abb. 92, 93; © Harun Farocki, 2007: Abb. 94, 95, 96, 97, 98; Holert, Tom (Hg.), Harun Farocki. Unregelmäßig, nicht regellos. Texte 1986–2000 (Schriften Bd. 5), Berlin/Köln 2021: Abb. 99; Jamie Gladden/Stockimo/Alamy Stock Foto: Abb. 100; http://www.meinungs-blog.de/hipstamatic-retro-kamera-app-fuers-iphone-11751: Abb. 101 Leider war es nicht in allen Fällen möglich, die Inhaber der Rechte zu ermitteln. Wir bitten deshalb gegebenenfalls um Mitteilung. Der Verlag ist bereit, berechtigte Ansprüche abzugelten.
Personenregister
About, Edmond 62 Agee, James 151 Alcott, John 218 Amaral, Marina 176–178, 179, 181, 222, 240 Aristoteles 266 Anm. 42 Arnheim, Rudolf 96, 199, 229 Assmann, Aleida 29, 38, 88, 109 f., 122 Auray, Louis 26 f. Balázs, Bela 202 Baldessari, John 151 Balke, Friedrich 190, 193, 207 f. Balzac, Honoré de 63, 71 Barker, Robert 58, 58 Barral, Georges 23–25, 28, 43 Barthes, Roland 10, 39–42, 50, 70, 86, 93–95, 98 f., 118, 124 f., 133, 169, 171 f., 174, 177, 184, 187, 189, 238, 256, 266 Anm. 42, 273 Anm. 51 Bätschmann, Oskar 68 Baudelaire, Charles 28 f., 34 f., 44, 225 Bayern, Luitpold von 119 Bazin, André 95, 118 Belot, Robert 225, 234, 237, 239, 282 Anm. 90 & 98, 285 Anm. 138 Benjamin, Walter 12, 27, 95, 109 Berthier, LouisAlexandre 20 Bloch, Marc 10 f., 37 f. Bonaparte, Jérôme 93, 94, 95 Bonzon, Thierry 224, 237, 282 Anm. 89 Bopp, Petra 161, 275 Anm. 94 Bourdieu, Pierre 96 Brasse, Wilhelm 178 Bredekamp, Horst 97
Breslauer, Rudolf 240– 243, 245 f., 249 f., 285 Anm. 148 Buchowetzki, Dimitri 193 Burgund, Bertha von 35 Burke, Peter 16, 263 Anm. 31 Burty, Philippe 45 f., 50, 52 Camp, Maxime du 74 Capa, Robert 13, 118, 133 f., 135, 136 f., 138, 139 f. Castres, Edouard 59, 66, 69, 80 Cavalcanti, Alberto 191 Certeau, Michel de 7, 14, 186, 210, 223 f., 239, 255 Chaplin, Charlie 236 f., 238 Chevreul, Eugène 81 Churchill, Winston 119, 259 Claretie, Jules 32, 71 Clarke, Isabelle 221, 224 Clercq, Louis de 99 ff., 105, 108, 111 f., 113, 114, 115 Coe, Brian 168 Cogny, René 133 Collingwood, Robin George 210 f. Comment, Bernard 72, 75 Cooper, Stuart 214, 216, 217, 217, 218, 218, 219, 220, 220, 250 Corday, Charlotte 39 f., 78, 184 Costelle, Daniel 221, 224 Crary, Jonathan 72 Croce, Benedetto 210 Cserépy, Arzen von 193 Day, Fred Holland 103, 105 (106), 107 (106) Delano, Jack 172, 174, 175, 277 Anm. 113 Deleuze, Gilles 231 Derrida, Jacques 156 f., 206, 274 Anm. 79
Descamps, Michel 133, 135, 136 Dessoles, Jean Joseph Paul Augustin 30, 31, 32, 37, 38 Detaille, Édouard 74 Didi-Huberman, Georges 13, 48, 58, 114, 159–161, 225–228, 231, 234, 238, 247–250 Dieterle, William 183 Disdéri, Eugène 93, 94, 94, 98, 177 Dreyer, Carl Theodor 184, 187, 199, 200, 213 Drouot, Antoine 20 Duhousset, Emile 265 Anm. 20 Eberhard, Johann August 61 Edwards, Elisabeth 178 Ehmann, Antje 243 Eisler, Hanns 241, 285 Anm. 140 Elsaesser, Thomas 13, 190, 197, 243 Engell, Lorenz 260 Ernst, Max 67 Errera, Alberto 159 Falconetti, Maria 200, 200 Farocki, Harun 14, 214, 240, 241, 241, 242, 243, 243–247, 247, 248, 248, 249, 249 f., 284 Anm. 123, 285 Anm. 140, 286 Anm. 151 Faure, Élie 202, 208 Ferro, Marc 279 Anm. 23 Flaubert, Gustave 39–42 Flusser, Vilém 171 f., 177 Fontane, Theodor 105 f., 109 f., 271 Anm. 25 Froissart, Jean 37 Fulda, Daniel 158 Fürst HohenloheSchillingsfürst 119
303 ⋅ Personenregister Gance, Abel 200, 201, 202, 213 Ganz, Bruno 186 Gardener, Alexander 177, 180 Gemmeker, Albert 240 Germer, Stefan 25, 55 Gérôme, Jean-Louis 55 Gervex, Henri 77, 78, 78, 79, 80, 81, 82, 116 Ginzburg, Carlo 32, 265 Anm. 26 Girodet-Trioson, Anne-Louis 63 Gladden, Jamie 257 Goethe, Johann Wolfgang von 7 f., 134, 136, 140 Gregor V. 35 Groebner, Valentin 253 f. Gros, Antoine Jean 33, 89, 91 Großbritannien, Charlotte Auguste von 57 Großherzog von Baden 119 Gunning, Tom 280 Anm. 48 & 55 Hartmann, Eduard von 71 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 187 Heidegger, Martin 279 Anm. 37 Heilbuth, Ferdinand 17, 43 Heller, Franziska 284 Anm. 124 Hendrickson, Paul 173 f., 256 Herder, Johann Gottfried 9 f. Herodot 37 Herzog, Peter 93 Herzog, Ruth 93 Herzogin de Berry 80 Hill, David Octavius 95 Hindenburg, Paul von 244 Hitler, Adolf 128–131, 132, 186, 258, 260, 273 Anm. 54 Hittorf, Jacob-Ignaz 65 Hoffmann, Heinrich 128, 130, 130, 131 Hofmann, Ernst 275 Anm. 93
Hoogstraten, Samuel van 268 Anm. 18 Hugo, Victor 81, 82 Hungerford, Constance Cain 32 Ingres, Jean-Auguste-Dominique 18 Iser, Wolfgang 225 Jackson, Peter 213, 234, 235, 235, 236, 236, 237–239, 245, 284 Anm. 124 Jacob, Lily 250, 275 Anm. 93 Jacobi, Eugen 119 f., 121, 122 f., 166, 170 Janin, Jules 26 Joffre, Joseph Jacques Césaire 37 Jones, Dan 176–178 Jyser, Hans 193 Kant, Immanuel 226 f. Kawai, Kenji 221 Keitz, Ursula von 201 Keller, Ulrich 12 Kemp, Wolfgang 60 f., 65 Kiehn, David 208 Kilb, Andreas 238 Kindler, Franz 214 Kniep, Christoph Heinrich 7 f. Koch, Gertrud 13, 118, 191, 199, 237, 255 Koselleck, Reinhart 10 f., 223 f. Kracauer, Siegfried 12, 14, 87, 101, 103, 114–120, 122 f., 133, 137, 185, 189–193, 195 f., 198 f., 202–204, 206–213, 228, 246, 256, 272 Anm. 33 & 41, 279 Anm. 24 & 26, 280 Anm. 41 & 57, 281, Anm. 61 Krämer, Sybille 29, 97 Krauss, Rosalind 96, 169 Kroon, Frouwke 246 Krumeich, Gerd 130 Kubrick, Stanley 200, 218 Kwoka, Czeslawa 178 Landwehr, Achim 231 f. Lang, Fritz 13 f., 206 Lange, Dorothea 172 Langlois, Jean-Charles 63,
64, 64, 65, 65, 66, 73 f., 76, 80, 83, 85, 85–90, 105, 110 Latour, Bruno 140 Laurens, Jean Paul 23, 32–37, 34, 35, 43 Le Grays, Gustave 85 Lee, Russell 172, 277 Anm. 113 Leiser, Erwin 242, 285 Anm. 140 Lessing, Gotthold Ephraim 39 Lethen, Helmut 153, 157, 162, 165, 203, 209 Lincoln, Abraham 118, 184 Lindeperg, Sylvie 231, 283 Anm. 114 & 116 Lloyd, Frank 213 Lowery, Louis R. 126, 127 Ludwig XV. 53 Ludwig XVI. 77, 80 f., 116 Luhmann, Niklas 9, 262 Anm. 11 Lumière, Auguste 58, 199 Lumière, Louis 58, 199, 280 Anm. 41 Mandel, Mike 141, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 151 Marat, Jean Paul 78 Maximilian I. 33, 34, 36 f., 183 f., 266 Anm. 32 McDonald, Philip 211 McLernand, John A. 118 Méhédin, Léon-Eugène 85–87 Meier, Christian 10 f. Meissonier, Charles 45–47 Meissonier, Jean-Louis-Ernest 12, 17, 18, 18, 20, 21, 21, 22 f., 24, 24–28, 30, 30, 31, 32–34, 36–39, 43 f., 45, 45–51, 52, 52, 53, 53, 54–56, 60, 62, 74, 79, 80, 89, 90, 101, 116, 120, 183, 188, 203, 265 Anm. 20, 267 Anm. 53 Méliès, Georges 199 Menzel, Adolph von 50, 51 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 183 Mexiko, Carlota von 183
304 ⋅ Personenregister Michelet, Jules 39–42, 184 Mieris, Frans von 69, 70 Miles, Harry 204, 205, 206, 207, 208 Milius, Pierre Bernard 65, 75 Mitchell, Robert 58 Moltke, Helmuth von 50, 51 Montpellier, François 222 f. Moreau, Jean-Victor-Marie 30, 31, 32, 37, 38 Muhle, Maria 227 f., 237 f. Muhr, Stefanie 25 Musial, Bogdan 155 Muybridge, Eadweard 265 Anm. 20 Napoleon I. 16–18, 20–22, 25, 33, 37 f., 43, 46 f., 49–51, 52, 53 f., 65, 89, 90, 91, 93, 98, 101, 105, 183 f., 201, 202 Napoleon III. 18, 24, 24, 26, 37, 80, 85, 116 Neuville, Alphonse de 74 Ney, Michel 17, 20, 43, 45 f., 47–51, 183 Niblo, Fred 184, 185, 213 Nietzsche, Friedrich 8 f. Oettermann, Stephan 75, 270 Anm. 45 Olivier, Lawrence 193, 194, 195, 195, 196, 197, 197, 198, 200 Orléans, Philipp d’ 81 Österreich, Johann Baptist Josef Fabian Sebastian von 32 Payne, Lewis 177, 180, 181 Peirce, Charles Sanders 96 Pélissier, Aimable 77 Philipps, Sandra S. 151 Pillardeau 25 Plessner, Helmuth 284 Anm. 133 Plinius 68 Pomian, Krzysztof 48 f., 267 Anm. 59 Prinz zu Waldeck und Pyrmont 119 Proust, Marcel 120, 209, 272 Anm. 41
Quincy, Quatremère de 71 Raulff, Ulrich 16 Read, Robert Frederic 138 f., 140 Resnais, Alain 229, 229, 230, 230, 241, 283 Anm. 114, 285 Anm. 140 & 148 Rey, Emmanuel-Guillaume 99 Ricoeur, Paul 32 Riegl, Alois 231–233, 258 Robert II. 35, 36 Roberts, Pamela 168 Roedl, Urban 136 Roosevelt, Franklin D. 119, 172, 277 Anm. 110 Rosenthal, Joe 123 f., 125, 126 f., 272 Anm. 51 Roudenko, Vladimir 201 Royle, David 222 Rüdel, Ulrich 284 Anm. 124 Ruscha, Ed 151 Salzmann, Auguste 99 f., 100 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 27 Schleswig-HolsteinSonderburg- Augustenburg, Auguste Viktoria von 119 Scholl, Sophie 260 Schüddekopf, Carl 134 Schwitters, Kurt 67 Seel, Martin 269 Anm. 29 Shahn, Ben 172 Siegel, Don 144 Siegert, Bernhard 71 Simmel, Georg 61 Sontag, Susan 95 Spelt, Adriaen van der 70 Stadler, Arnold 136 Stalin, Josef 119 Steichen, Edward 238 Stein, Niki 186 Stein, Sally 172 f., 277 Anm. 112 Sternberger, Dolf 72 Stevens, Alfred 77, 78, 78, 79, 80, 81, 82, 116 Stewart, Alexander T. 21
Stiegler, Bernard 156, 274 Anm. 79 Stifter, Adalbert 136, 137 Stryker, Tugwell Roy 277 Anm. 110 Sultan, Larry 141, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 151 Talbot, William Henry Fox 120 f., 145 ff., 149 f., 152, 157, 169, 265 Anm. 19, 276 Anm. 106 Tashiro, Charles Shiro 188 Thiers, Adolphe 54 Thoré, Théophile 20, 25 Tissot, James 110 f., 112 Tolstoi, Lew 83 Tugwell, Rexford Guy 277 Anm. 110 Turner, Joseph Mallord William 109 Ullrich, Volker 157 Ungváry, Krisztián 155 Vasari, Giorgio 68 Verestchagin, Vassili 44 Vernet, Horace 28, 34 f., 55, 63, 224 Victoria 213 Visconti, Luchino 200 Vogel, Hermann Wilhelm 26 f. Wagner, Monika 109 Wagner, Richard 200 f. Walter, Bernhard 275 Anm. 93 Wayne, John 123 Wehler, Ulrich 186 f. Welles, Orson 214, 214, 215, 216, 218 Werner, Anton von 66, 72, 80, 88, 89, 89 Wilhelm II. 119, 121, 166 f., 170 Winckelmann, Johann Joachim 8, 29 Wolcott, Marion Post 172, 277 Anm. 113 Yriarte, Charles 17, 43 f., 47, 54, 267 Anm. 53 Yvon, Adolphe 55 Zola, Emile 28, 33, 62, 81
Zum Buch Obwohl Sprache traditionell als Leitmedium des Historischen gilt, beruht unsere Vorstellung des Vergangenen maßgeblich auch auf Bildern. Wie Schriftquellen, so rekonstruieren Bilder Geschichte aber nur bruchstückhaft – sie bilden Fragmente auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Das vorliegende Buch stellt vielfältige Erscheinungsweisen visueller Rekonstruktion in den Medien Malerei, Fotografie und Film vor. Die Zusammenschau zeigt, dass diese diversen Formen der Vergegenwärtigung – vom detailgenau rekonstruierenden Historienbild des 19. Jahrhunderts über das dokumentarische Foto bis zum «reenactment» im zeitgenössischen Video – sehr unterschiedliche Möglichkeiten der Imagination des Vergangenen darstellen. Dabei zeigt sich auch, dass Bilder nicht einfach historische Sachverhalte illustrieren, sondern selbst Erscheinungsformen der Geschichte sind.
Über den Autor Peter Geimer ist Professor für Kunstgeschichte an der FU Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Theorie und Geschichte der Fotografie, die visuelle Repräsentation von Geschichte und Wissenschaftsgeschichte.