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German Pages 104 [106] Year 2019
Jan-Philipp Schäfer
Der Mensch als Grenzgänger
Diese Arbeit wurde an der Julius-Maximilians-Universitat Würzburg als Masterarbeit eingereicht und mit der Höchstnote bewertet. Auf Empfehlung von Herrn Prof. Dr. Andreas Dörpinghaus und Herrn Prof. Dr. Andreas Nießeler wurde die Arbeit in das Programm von wbg Young Academic aufgenommen.
„Die Masterarbeit von Jan-Philipp Schäfer setzt sich mit sehr großem hermeneutischen Gespür mit dem erst unlängst veröffentlichten Frühwerk von Günther Anders auseinander und leistet damit eine überaus ertragreiche Pionierarbeit.“ Andreas Nießeler
„Die Fähigkeiten von Jan-Philipp Schäfer, sich verstehend einer logischen Darstellung der essayistischen Schriften von Günther Anders zu widmen, sind herausragend.“ Andreas Dörpinghaus
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Jan-Philipp Schäfer
Der Mensch als Grenzgänger Distanz und Nähe in der negativen Anthropologie von Günther Anders
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar
wbg Young Academic ist ein Imprint der wbg © 2019 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Satz und eBook: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40207-6 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-40209-0 eBook (epub): 978-3-534-40208-3
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Inhalt 1. Einleitung ....................................................................................................... 7 2. Charakterzüge der Doppelposition. Von der Selbstzur Weltinsuffizienz.................................................................................... 13 2.1 Abgeschiedensein als Bedingung von Abstraktion ....................... 15 2.2 Einsamkeit als Bedingung von Verzicht ......................................... 18 2.3 Vorstellung als spezifisch menschliche Fähigkeit .......................... 22 2.4 Übertragungen des Mangels auf die Welt. Die utopische Grundsituation ................................................................................... 26 3. Kommunikation mit der Welt. Das Problem der Erfahrung................ 30 3.1 Die Fenster der Monaden. Bedingungen der Nötigkeit von Erfahrung ..................................................................................... 31 3.1.1 Die Unmöglichkeit von Erfahrung in absoluter Distanz ...................................................................................... 32 3.1.2 Fensterunbedürftigkeit und Erfahrung als spezifisch menschliches Fenster ............................................ 36 3.1.3 Verbergen und Äußern als Kondition des Individuums ............................................................................. 40 3.2 Sehen als Praxis der Erfahrung ......................................................... 43 3.2.1 Sichtbarkeit als Kommunikation in der Mitwelt ................ 45 3.2.2 Sichtbarkeit und Fremdheit der Naturwelt ......................... 48 3.2.3 Undeutlichkeit als Teil der Sichtbarkeit............................... 54 3.3 Bildung und Erfahrung – eine Spurensuche .................................. 58 3.3.1 Das Verhältnis von Selbst und Welt ..................................... 59 3.3.2 Das Eigene in der Erfahrung ................................................. 62 3.3.3 Das Fremde in der Erfahrung ................................................ 64
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4. Die Grenzen der Mangelhaftigkeit ........................................................... 71 4.1 Grenzen der Freiheit.......................................................................... 72 4.1.1 Die pathologische Freiheit des Menschen........................... 72 4.1.2 Die Leiblichkeit des Menschen ............................................. 76 4.2 Grenzen der Erfahrung ..................................................................... 79 4.2.1 Instinktwissen als Transitivität von Mensch und Welt .................................................................................. 80 4.2.2 Schlafen und Wachen als Positionswechsel des Menschen .......................................................................... 84 5. Kritik und Resümee.................................................................................... 88 5.1 Der Mensch-Tier-Vergleich in der negativen Anthropologie von Günther Anders ............................................... 88 5.2 Kritik einer Definition des Menschen............................................. 91 5.3 Resümee .............................................................................................. 94 Literaturverzeichnis .......................................................................................... 99 Editorische Notiz ............................................................................................ 103 Danksagung ..................................................................................................... 104
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1. Einleitung In einer Zeit, in der nicht nur über die Verbesserung des Menschen nachgedacht wird, sondern darüber selbst die Gattung Mensch zu überwinden, so das erklärte Ziel einiger Transhumanisten, scheint eine Beschäftigung mit anthropologischen Fragen hochaktuell. Wissenschaft, die sich mit der expliziten Forderung nach einer Transformation des Menschlichen kritisch auseinandersetzen will, muss sich zunächst selbst fragen, von was für einem Menschenbild sie ausgeht. Nach Bröckling liegen der Soziologie immer explizite oder implizite anthropologische Annahmen zugrunde (vgl. Bröckling 2017, S. 46). Sozialkritische Analysen zeichnen sich dabei vor allem durch eine negative Anthropologie aus, die das Bild des Menschen leer lässt. Stattdessen zielen sie auf eine Relativierung gesellschaftlicher Machtstrukturen, welche erst zu einem bestimmten Bild des Menschen geführt haben (vgl. ebd., S. 47 ff.). Ebenso wie in der Soziologie, zeigt sich auch in der Pädagogik, dass „Erziehungs- und Bildungsvorstellungen gebunden sind an anthropologische Entwürfe“ (Zirfas 2004, S. 7). Nicht zufällig sind die wissenschaftlichen Ursprünge von Pädagogik und Anthropologie gleichsam in der brüchig werdenden Alleinstellung christlicher Weltanschauung verankert. Daraufhin können sie als Versuch eines aufklärerischen Umbruchs gesehen werden, um die Frage nach dem Selbstbild des Menschen neu auszuloten (vgl. ebd., S. 8 f.). Wenn pädagogische Anthropologie heutzutage die Aufgabe hat, „die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Erkenntnisse und [...] deren kulturellen, historischen und damit relativen Charakter“ (ebd., S. 23) zu betonen, so sieht sie sich derselben Aufgabe verpflichtet, die auch die negative Anthropologie von Günther Anders bestimmt (vgl. Anders 1929, S. 141). Gerade deshalb erscheint eine pädagogische Beschäftigung mit den anthropologischen Analysen von Günther Anders umso aufschlussreicher. Bisher findet die pädagogische Auseinandersetzung mit Günther Anders vor allem mit seinen Hauptwerken, den beiden Bänden der Antiquiertheit des Menschen, statt und fokussiert somit eine Kritik an der Entmenschlichung aufgrund moderner
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Technikimperative (vgl. Kluge 2014; Meyer-Drawe 2014). Doch von welchem Menschenbild geht die Pädagogik hierbei aus? Die vorliegende Arbeit spricht sich dafür aus, dass eine Diskussion von Anders negativer Anthropologie für heutige Erziehungs- und Bildungsdiskurse fruchtbar sein kann, um ihre impliziten und expliziten Menschenbilder erneut zu hinterfragen. Deshalb geht die Arbeit einer Exegese der Frühschriften von Anders nach, um ein Fundament der Analyse zu legen. Ziel der Arbeit ist es, in den anthropologischen Frühschriften von Günther Anders die Dialektik von Distanz und Nähe aufzuzeigen und diese als zentrales Charakteristikum seiner negativen Anthropologie auszuweisen. Dabei liegt auch der negativen Anthropologie von Anders die These zugrunde, dass das Wesen des Menschen letztlich nicht bestimmt werden kann und somit alle Bemühungen sein Wesen auf ein bestimmtes Kriterium festzulegen, scheitern müssen (vgl. Anders 1936/ 37, S. 81). Weder weiß der Mensch die Welt vorweg, noch weiß er von einer natürlichen Bestimmung seiner selbst. Vielmehr ist es gerade die Unbestimmtheit, welche die spezifische Freiheit des Menschen ausmacht. Freiheit ist hier also nicht gleichzusetzen mit Selbstbestimmung oder Autonomie – diese sind stattdessen bedingt dadurch, dass der Mensch frei ist (vgl. Anders 1930, S. 17; vgl. auch Anders 1929, S. 170). Die Freiheit des Menschen ergibt sich für Anders aus seiner Distanziertheit. Der Mensch ist also da frei, wo er nicht eingezwängt ist in vorgefertigte Selbst- und Weltbilder, nicht auf Bestimmtes zugeschnitten ist, sondern sich selbst im Bereich des Unbestimmten und Möglichen befindet (vgl. Anders 1936/37, S. 50). Die Freiheit des Menschen verweist somit auf eine spezifische Stellung des Menschen zur Welt – seine fehlende Einbettung und Distanziertheit. Er ist frei, weil er als Einzelner nicht im Ganzen aufgeht, sondern distanziert zur Welt steht. In Kapitel 2 wird deutlich, dass Anders die menschlichen Vermögen und Fähigkeiten, wie gerade am Beispiel der Freiheit angedeutet, als Indiz einer spezifisch menschlichen Stellung zur Welt sieht. Dies soll sowohl an der Abstraktionsfähigkeit (Kapitel 2.1), am Verzichtenkönnen (Kapitel 2.2), wie auch am Vorstellungsvermögen (Kapitel 2.3) exemplifiziert werden. Kapitel 2.4 betont schließlich, dass der Mensch aufgrund seiner distanzierten Stellung stets utopische Ansprüche an die Welt stellt, jedoch zugleich darauf angewiesen ist, diese Distanz zu überwinden (vgl. Müller 2012, S. 25). Der zunächst weltfremde Mensch überwindet seine Weltfremdheit durch Erfahrung, gewinnt Einsichten in die Welt und macht sie dadurch zu seiner Welt. 8
Doch wie ist es möglich, überhaupt zur Welt zu kommen, war der Mensch doch durch Freiheit und Distanziertheit charakterisiert? Kapitel 3.1 widmet sich den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung und stellt sie als spezifische Nötigkeit, also Abhängigkeit des Menschen von der Welt heraus. Gerade hierin wird deutlich, was es für den Menschen bedeutet, dass er sich in einer distanzierten Position in der Welt befindet (vgl. Anders 1930, S. 16). Das Sehen erweist sich dabei als menschliche Praxis der Erfahrung schlechthin (Kapitel 3.2), kann der Mensch einerseits die Welt durch Einsichten einholen, bleibt jedoch von der Welt distanziert – der Sehende ist hier, das Gesehene dort (vgl. ebd., S. 19). Die Erfahrung mit dem Fremden und Undeutlichen wird als ursprüngliche Erfahrung eines weltfremden Wesens angesehen, welches darauf angewiesen ist, die Welt zu veranschaulichen, um sich in ihr zurechtzufinden. Dabei wird deutlich, dass der Mensch weder davon abhängig ist, die Einsichten in die Welt beständig festzuhalten, noch die Welt als zu durchschauendes und letztlich zu kontrollierendes Objekt anzusehen (vgl. Anders 1928b, S. 70). Vielmehr gehört es ebenso zur Praxis des Sehens die Welt immer wieder anders sehen zu können, sie einmal fixiert, wieder freizugeben für eine andere Sichtweise. In diese Erfahrung von Perspektivität bezieht sich der Mensch selbst mit ein, seine eigene Perspektive wird ihm bewusst und öffnet so einen Möglichkeitsraum für eine andere Sicht der Dinge (vgl. Dörpinghaus 2014, S. 48). Gerade hierin wird das konstitutive Moment einer Bildung als Distanz erkannt (Kapitel 3.3). Das Wandern, welches Anders als ein Aus-sich-heraustreten-können beschreibt, setzt Bildungsprozesse in Gang, welche die Welt mit anderen Augen sehen lassen (vgl. Anders 1928b, S. 66). Die bildungsphilosophische Beschreibung des Sich-fremd-werdens kann hier anthropologisch fundiert werden durch die Einsicht, dass der Mensch stets nur provisorisch von der Welt und von sich erfährt. Wurde der Mensch in den bisherigen Kapiteln in Bezug auf seine mangelnde Einbettung in die Welt betrachtet, widmet sich Kapitel 4 den Grenzen dieser Mangelhaftigkeit. Diese Grenzen werden sowohl im Bereich der Freiheit (Kapitel 4.1), wie auch im Bereich der Erfahrung (Kapitel 4.2) diskutiert. Wo der Mensch nicht mehr distanziert in der Welt steht, sondern vielmehr eingebettet und abhängig ist von der Welt, wie beispielsweise in seiner Leiblichkeit (Kapitel 4.1.2), verschwinden auch die Möglichkeiten von Freiheit und Erfahrung. Da mit dem Aufzeigen der faktischen Grenzen der Mangelhaftigkeit der Mensch nun nicht einzig durch seine Unfestgelegtheit definiert werden kann, plädiert 9
Anders dafür, dem Menschsein eine grundsätzliche Bewegung zwischen Freiheit und Unfreiheit einzurechnen (vgl. Anders 1928, S. 129). Dies meint Anders, wenn er die Position des Menschen als zweiseitig charakterisiert (vgl. Anders 1929, S. 147). Schließlich kann jedoch eine Analyse der anthropologischen Schriften von Anders nicht beschlossen werden, ohne die Kritik aufzuzeigen, welche Anders selbst an der Anthropologie übt. Kapitel 5.1 geht dabei auf das anthropozentrische Vorurteil der philosophischen Anthropologie ein, welche sich im Mensch-Tier-Vergleich einer Uniformierung aller Tierspezies schuldig macht (vgl. Anders 42018a, S. 365 f.). Außerdem zeigt Anders die Antiquiertheit eines solchen Vergleichs vor dem Hintergrund der aktuellen technisierten Gesellschaft auf (vgl. ebd.). Schließlich führt Kapitel 5.2 die Kritik an einer abschließenden Definition des Menschen an, welche sowohl einer Regierbarkeit des Menschen in die Hände spielt, als auch angesichts der menschlichen Tat stets am Wesen des Menschen vorbeidefiniert (vgl. Anders 1936/37, S. 80). Anthropologie kann, insofern sie sich nicht der Ideologie schuldig machen will, nur als negative Anthropologie auftreten. In diesem Zusammenhang stehen die hier zu analysierenden Frühschriften von Günther Anders für eine „kritische Selbstaufklärung der Anthropologie“ (Lohmann 1996, S. 155). Ziel der Arbeit ist es, durch den Nachweis der Dialektik von Distanz und Nähe einen zentralen Bestandteil der negativen Anthropologie von Günther Anders aufzuschließen und hiermit ein Fundament zu legen für eine weitere Beschäftigung mit Anders Frühschriften. In seinen anthropologischen Schriften verwendet Günther Anders einen positionstheoretischen Ansatz, welchen er stets von der Erkenntnistheorie abgrenzt (vgl. Anders 1930, S. 19)1. Gerade weil dieser jedoch zum Verständnis seiner negativen Anthropologie entscheidend ist, soll die Erklärung des positionstheoretischen Ansatzes als Einstieg in die vorliegende Arbeit dienen. 1
Die positionstheoretische Charakterisierung des Menschen als frei und unbestimmt scheint aus sozialwissenschaftlicher Perspektive problematisch. Eine grundsätzliche Wesenslosigkeit muss auch dann angezweifelt werden, wenn die sozial-historischen Menschenbilder lediglich kontingent sind. Wie soll eine Analyse eines unerfahrbaren Konzepts von Freiheit überhaupt möglich sein? Wie kann auf eine vormoralische Unbestimmtheit geschlossen werden, bewegt sich der Mensch in der Erfahrung doch stets in Machtstrukturen und Bestimmungen? Aus sozialwissenschaftlicher Sicht erscheint die Analyse einer negativen Anthropologie, die in der Konstatierung einer wesenshaften 10
Dem positionstheoretischen Ansatz liegt die Annahme zugrunde, dass der Mensch sich prinzipiell in einer bestimmten Lage zur Welt befindet. Damit ist nicht etwa eine soziale Lage innerhalb einer bestimmten Gesellschaft gemeint, sondern eine ontologische Lage. Die anthropologische Frage nach dem Wesen des Menschen kann nach Anders nie ohne die Charakterisierung seiner Situation, seiner bestimmten Lage, beantwortet werden (vgl. Anders 1929, S. 142 f.). Die Lage lässt Rückschlüsse auf das Wesen schließen und dem Wesen liegt eine bestimmte Lage voraus. Anders geht also davon aus, dass der Mensch nie im luftleeren Raum beschrieben werden kann, sondern sich bereits wesenhaft in einer bestimmten Position zur Welt befindet. Ein erstes Anzeichen für diese Lage kann nun bereits darin gesehen werden, dass der Mensch überhaupt über seine Lage nachdenkt (vgl. Anders 1930, S. 16). So geht Anders davon aus, dass sich ein Wesen, welches in die Welt eingebettet ist, die Frage nach der eigenen Position nicht stellen wird. Hieraus ergibt sich für ihn eine positionelle Bedingung der Möglichkeit von Anthropologie: Dass ein Fragen über den Menschen allein dadurch entsteht, dass der Mensch in Distanz zur Welt steht (vgl. ebd., S. 19). Dass nämlich MenschSein etwas anderes ist als Welt-Sein. Die Frage: ‚Wer bin Ich?’, ist schließlich nur dann sinnvoll, wenn von einem Ich auszugehen ist, welches als Selbst diese Frage stellt und somit nicht gänzlich in Welt aufgeht. Aufgrund dieser Distanziertheit erscheint eine weitere Frage positionstheoretisch relevant: „Unausgestattet mit apriorischem Material, angewiesen auf Realitäten, die es nicht gibt, die er selbst erst realisieren muss, so wenig zugeschnitten auf diese Welt, so sehr abgeschnitten von ihr, so weltfremd, dass er die sonderbare Frage tut nach der Realität der Außenwelt.“ (Anders 1930, S. 15)
Freiheit und Unbestimmtheit mündet, unglaubwürdig und realitätsfern. Günther Anders Forderung, die philosophische Anthropologie in eine historische Ideologiekritik zu überführen, wird aus diesem Kritikpunkt verständlich (vgl. Anders 1929, S. 141). Rechtfertigen kann Anders seine negative Anthropologie dahingehend, dass sie keinen Wesenskern des Menschen generalisiert, sondern lediglich die Tatsache, dass der Mensch Logos und Erfahrung hat als Indiz einer spezifischen Lage zur Welt betrachtet (vgl. ebd.).
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Dass der Mensch sich also überhaupt fragen kann, ob die Welt, die er vorfindet, real ist, sieht Anders als Indiz für die relative Weltabgeschiedenheit des Menschen. Nur dadurch, dass der Mensch ein Weltfremder ist, taucht die Frage nach Realität auf. Anders zufolge muss die „anthropologische Bedingung der Möglichkeit der Fragestellung (nach der Realität der Außenwelt)“ (ebd.) ernst genommen werden und zwar im Hinblick auf die menschliche Lage. Diese kann nicht als je schon in-derWelt beschrieben werden, da ansonsten die Frage nach dem Außen überhaupt nicht gestellt werden würde. Den Menschen abschließend als Außenstehenden zu charakterisieren liegt, Anders jedoch fern. Die Position des Menschen ist vielmehr eine doppelweltliche (vgl. Anders 1929, S. 146 f.). So kann der Mensch auch die Frage nach sich selbst jeweils nur in der Welt stellen. Er geht jedoch nicht gänzlich in der Welt auf, sondern stellt die Frage als Selbst in der Welt. Nur dadurch, dass er ein Wesen zweier Welten ist, kann er sich selbst perspektivisch betrachten. So erfährt sich der Mensch weltlich, beispielsweise in seiner Leiblichkeit, und doch distanziert, als Verstandeswesen. Nur aufgrund seiner prinzipiellen Unklarheit, seinem Zwischen, seiner Zerrissenheit und seinem Mangel, ist der Mensch in der Lage, sich über sich auszufragen und sich nachzustellen. Fraglich ist der Mensch, da er sich in einer unfestgelegten Positioniertheit zur Welt befindet. Insgesamt lässt sich festhalten, dass das Interesse von Anders im Gegensatz zu Kant weniger einer Erkenntnistheorie als einer Positionstheorie gilt: „Welt als Gegenstand, als Gegenüberstand, ist mehr als ein erkenntnistheoretischer Index; er ist positionstheoretisch: d.h. Ausdruck für die Lage des Menschen, für das Zugleichsein von In-Sein und Von-weg-sein, Ausdruck für die menschliche Freiheit von Welt in der Welt.“ (Anders 1930, S. 19)
Dieses Zugleich von Distanz und Nähe, welches in der Position des Menschen beschrieben ist, stellt das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit dar. Die ambivalente Position des Menschen soll aufgrund der anthropologischen Frühschriften von Anders erhellt werden. Das nachfolgende Kapitel stellt nun verschiedene Vermögen des Menschen, unter Anderem seine Freiheit, durch positionstheoretische Betrachtung zur Disposition.
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2. Charakterzüge der Doppelposition. Von der Selbst- zur Weltinsuffizienz „Bis hierher, d. h. bis zur spezifischen Unbestimmtheit, reicht die generelle Bestimmbarkeit des Menschen. Was aus dieser Unbestimmtheit wird, was der Mensch aus ihr macht, ist wesensmäßig generell nicht mehr zu bestimmen“ (Anders 1930, S. 36)
Die Bestimmung des menschlichen Wesens, das Ziel einer philosophischen Anthropologie, wird bei Anders negativ gefasst – sein Wesen ist die Wesenslosigkeit. Diese Unbestimmbarkeit des menschlichen Wesens lässt sich für Anders in erster Linie in dem Verhältnis zwischen Mensch und Welt erkennen. Dabei stellt er die These auf, dass sich die Unbestimmbarkeit des menschlichen Wesens gerade daraus ergibt, dass er unterversorgt ist mit Wissen und Sinn von Welt (vgl. Anders 1929, S. 173). „Schon im Mythos in Platons Protagoras (vgl. Platon 1977: 320c-322d) wird der Mensch bei der Bestückung mit nützlichen Qualitäten unterversorgt und daher von Prometheus nachträglich mit Technik und Feuer ausgestattet." (Müller 2012, S. 40 f.)
Die Unterversorgung erfährt historisch gesehen, vor allem in christlicher Tradition, eine Umdeutung zur Krönung des Menschen. Gleich des Kaisers neuer Kleider schmückt sich der Mensch mit dem Mangel, der ihn ausmacht (vgl. Reimann 1990, S. 12). So wird Mangelhaftigkeit zur Einzigartigkeit, aus der Unverbundenheit wird Freiheit und aus dem Nichts-Haben ein Asket (vgl. Scheler 1976 zit. 13
nach Müller 2012, S. 45) 2 . Dass Günther Anders dieser Auszeichnung des menschlichen Mangels als Tugend stets skeptisch gegenüberstand, zeigt sich am eindringlichsten in den erinnerten Gesprächen mit Hannah Arendt in der ‚Kirschenschlacht’ (vgl. Anders 2011, S. 37 f.). Doch auch in seinen anthropologischen Untersuchungen ist diese Skepsis zu finden. Die menschlichen Vermögen und Fähigkeiten werden hierbei nicht als positive Tatsachenbestände aufgefasst, geschweige denn als ein Geschenk Gottes. Vielmehr sind sie selbst nur die Kehrseite einer mangelnden Einbettung in die Welt. So ist die Freiheit des Menschen nicht von der Warte der Autonomie zu betrachten, sondern als grundsätzliches Getrenntsein zur Welt zu verstehen (vgl. Anders 1930, S. 18)3. Im Gegensatz zum Tier, welches nach Anders jeweils mit seiner Welt kongruent lebt, ist der Mensch ontologisch unausbalanciert. Freiheit ist somit nicht zuerst als natürliche menschliche Fähigkeit anzusehen, sondern Indiz einer bestimmten Weltbeziehung. So ist sie nur dadurch und nur dann gegeben, wenn Einzelnes nicht bloß zugehörig zum Ganzen ist, sondern gerade von diesem abgehoben (vgl. Anders 1930, S. 16 f.). In der Distanz zur Welt erkennt Anders die menschliche Möglichkeit zur Freiheit. Die folgenden Kapitel (2.1 – 2.4) folgen dem Beispiel, die Charakterzüge des Menschen als Positionsindex zu betrachten. Da die Position des Menschen für Anders stets doppelseitig ist, münden die Betrachtungen der menschlichen Vermögen stets in Ambivalenzen. Letztlich verweisen sie jeweils auf eine Mangelhaftigkeit, wie sie im platonischen Mythos von Prometheus bereits beschrieben ist. 2
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In der ‚Kirschenschlacht’ nennt Anders Scheler unter Anderen einen zeitlich zwar nach-kopernikanischen, in seinen Analysen jedoch vor-kopernikanischen Denker (vgl. Anders 2011, S. 33). Lütkehaus zeigt jedoch auf, dass auch Scheler sich die Frage nach der Sinnentleertheit menschlicher Existenz und schließlich Weltexistenz stellte (vgl. Lütkehaus 22002, S. 72 Anm. 78). Anders will den Begriff der Freiheit gänzlich vormoralisch fassen. Hierzu schreibt er: „Dieser Begriff der Freiheit ist noch ganz vormoralisch: er impliziert als ein Hauptstück gerade die Freiheit zur Verwendung des Weltstücks ‚Mensch’, also zur Knechtung“ (Anders 1940/41, S. 169). Wie ist nun die Freiheit als Knechtung des Menschen zu verstehen, soll sie doch gerade nicht moralisch sein? Es liegt nahe, diese Ambivalenz in einer Nähe zur Foucaultschen Ausdeutung des Subjekts zu sehen. Denn auch hier spannt sich die Freiheit zwischen Entwerfen und Unterwerfen. Der Mensch ist zwar frei sich zu entwerfen, beugt sich jedoch im jeweiligen Entwurf, in der Verwendung des Menschen als Material, einer bestimmten Seinsweise (ebd., S. 170).
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Diese Mangelhaftigkeit stellt für Anders zwar ein ontologisches Faktum dar, gleichzeitig ist der Mensch jedoch darauf angewiesen, seinen Mangel zu überwinden (vgl. Müller 2012, S. 25). Kapitel 2.4 weist die Verurteilung zur nachträglichen Einholung von Welt als utopische Grundsituation des Menschen aus und stellt das Problem der Erfahrung schließlich zur Disposition.
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Abgeschiedensein als Bedingung von Abstraktion
Die Freiheit des Menschen ist für Anders aus dem Getrennt-Sein des Menschen zu verstehen: „[der Mensch] selbst ist ein ‚abstraktes’ Wesen“ (Anders 1936/37, S. 48). Die Fähigkeit zum Abstrahieren ist also nur dadurch ermöglicht, dass es dem Menschen an einer a priori festgelegten Welt mangelt. „Bedingung der Möglichkeit theoretischer Abstraktion ist aber stets ein abstractum – esse, d.h. ein in der Existenz Nicht-gebunden-sein an das zu Abstrahierende.“ (Anders 1930, S. 27) Doch wieso trifft dieses Abstrakt-Sein speziell die Seinsweise des Menschen? Tiere können das Vorfindliche und Seiende nicht abstrahieren – die Welt existiert, als sie auch für die eigene Existenz bedingend ist. Das jeweilige In-der-WeltSein eines Seienden kann nun nach Anders mit einem bestimmten ‚Einbettungskoeffizient’ beschrieben werden. Dieser zeichnet sich aus durch einen Grad an „Zugehörigkeit zum Ganzen“, also einer Bindung an Welt, sowie einem Grad an „Abgehobenheit“, also einer Losgelöstheit und Freiheit von Welt (ebd., S. 14). Das Tier beispielsweise ist weniger eingebettet in die Welt als die Pflanze, kann es sich doch relativ frei in ihr bewegen. Wodurch ist nun aber der Unterschied zu erklären, sich frei in der Welt zu bewegen und frei von Welt zu sein? Für Anders ist dies ein qualitativer Unterschied zwischen Mensch und Tier, für den es keine Übergänge gibt. Es ist somit kein gradueller Unterschied, in dem der Mensch lediglich mehr Bewegungsfreiheit besäße als das Tier. Egal wie sehr sich das Tier von seinem Platz entfernt, es bleibt doch innerhalb seiner apriorischen Materialität in seine Welt eingebunden. Die Freiheit des Tieres bleibt eine natürliche Freiheit – sie ist bereits in der Natur des Tieres angelegt. Deshalb kann sich das Tier auch nur innerhalb seiner Welt relativ frei verhalten. Das Sein des Tieres ist 15
deshalb bedürfniskongruent mit dem Sein der Welt, weil es sich von diesem niemals löst und sich Angebot und Nachfrage stets decken können (vgl. ebd., S. 12 ff.). Gleichzeitig blockiert das Bereits-inne-haben von Weltmaterial die Möglichkeit, sich von der Welt loszulösen. Während Tiere zwar relativ frei in der Welt sind, sind es Menschen auch von der Welt. „[Ein] Wesen ist mehr oder minder der Welt eingebettet, hat mehr oder minder die Welt als apriorische Bedingung, als conditio, so dass ihm nun mehr oder minder auch wissensmässig Welt ein Mitgegebenes, conditum ist.“ (Anders 1929, S. 149)
Eben gerade dieses fehlende Wissen um die Welt, welches aus der Abgeschiedenheit von Welt resultiert, ist das, was die Abstraktionsfähigkeit des Menschen ausmacht. Durch den Mangel an apriorischer Fülle ist das Sein des Menschen unabhängig vom Sein der Welt. Doch wie ist es möglich, dass hieraus überhaupt eine Überlebensfähigkeit erwächst? Müsste ein Wesen, das nicht kongruent mit der Welt, in die es geboren wird, lebt, nicht vielmehr gar nicht überleben können? Statt dass der Mensch sich in der Welt überhaupt nicht zurechtfindet, charakterisiert Anders die Welt, in die der Mensch geboren wird, als nicht ‚eigentlich’ seine (vgl. Anders 1930, S. 12). „Er ist nicht nur auf diese Welt nicht festgelegt, sondern auf keine: nur darauf, jeweils in einer seiner Welten zu leben“ (ebd., S. 375). Die Abgeschiedenheit von Welt bringt eine prinzipielle Unwissenheit über die Welt mit sich, die wiederum darauf angewiesen ist, nachträgliches Wissen über die Welt herzustellen. Die Abstraktionsfähigkeit des Menschen lässt sich nur dadurch verstehen, dass er eben unbestückt ist mit apriorischem Wissen über die Welt. Dadurch, dass es kein richtiges Wissen über eine ursprüngliche Welt gibt, zu der der Mensch gewissermaßen zurückkommen könnte, muss er selbst nachträglich Wissen über die Welt herstellen. Dies macht ihn existenziell unabhängig vom Leben in einer bestimmten Welt. „[O]b etwas aus der Fülle dessen, was er ‚unter anderem’ und in Distanz trifft, ist oder nicht ist, ist relativ gleichgültig. Seine eigene Existenz hängt nicht daran und hängt nicht davon ab.“ (ebd., S. 22) Sein Überleben sichert sich der Mensch durch nachträgliche Auffüllung seiner Mangelhaftigkeit. Mit welcher aller möglichen Welten er diese ausfüllt, ist jedoch relativ gleichgültig. Gerade in dieser Gleichgültigkeit ist die Fähigkeit zur Abstraktion beheimatet. 16
Nun entsteht aufgrund der Gleichgültigkeit von Welten auch eine Mehrperspektivität. Dieses spezielle Sehen-Können als Perspektivität, also die grundsätzliche Tatsache, dass etwas so oder so sein kann, bedarf einer wesensmäßigen Distanziertheit zur Welt. Nur wenn diese Welt nicht gleichzeitig Bedingung der eigenen Existenz ist, kann auf mögliche andere Welten geschaut werden. Tieren fehlt aufgrund ihrer Eingebundenheit die nötige Distanz, um auf Welt mehrperspektivisch blicken zu können. (vgl. Anders 1929, S. 167 ff.) Überhaupt setzt das Blicken auf die Welt voraus, dass die eigene Welt nur eine Mögliche darstellt. Perspektivität ergibt sich nur aus der Relativität der eigenen Sichtweisen (vgl. Anders 1928b, S. 58, vgl. auch Anders 1930, S. 23). Dass aufgrund dieser Losgelöstheit allein der Mensch überhaupt Erfahrung mit der Welt bzw. Natur machen kann, wird in Kapitel 3.2.2 näher erläutert. Für Anders ist klar, dass die Freiheit des Menschen nicht primär von einer Individualität, sondern von einer Dividualität, also einer Abgeschiedenheit von Welt, zeugt (vgl. ebd., S. 16). Um überhaupt frei und selbstbestimmt im Sinne einer Individualität zu sein, bedarf es ja gerade einer Dividualität im Sinne prinzipiellen Getrenntseins. Die Radikalität dieser Abgeschiedenheit erweist sich jedoch erst in einem weiteren Schritt. So ist es dem Menschen nicht nur möglich auf eine bestimmte Fülle (oder Welt) Bezug zu nehmen, sondern eben auch auf jene Leere, die ihn ursprünglich kennzeichnet (vgl. Anders 1930, S. 29). Er reist nicht nur praktisch von einer Welt zur nächsten, insofern sie sich ihm anbietet. Er ist damit auch nicht nur das sich stets neuer Umwelten anpassende Wesen, was sich aufgrund seiner bio-genetischen Dispositionen entwickeln und anpassen muss (vgl. Anders 1929, S. 149 f.). Das abstractum-esse, welches Anders beschreibt, ermöglicht es zu dem Möglichkeitsraum selbst einen Bezug zu haben. Der Mensch kann somit nicht nur auf einen bestimmten Inhalt, eine bestimmte Welt, Anspruch erheben, sondern hat auch einen Bezug zur unbestimmten Formalität, zum Möglichkeitsraum von Welten überhaupt. Abstraktion ist also dieser leeren Formalität des Menschen nach ein „Zugeschnittensein[.] auf das Allgemeine und das Beliebige“ (Anders 1936/37, S. 48). Die Freiheit des Menschen als ein Losgelöstsein kann sich nun dorthin ausdehnen, dass der Mensch sich selbst im Horizont des Beliebigen verortet. Hierdurch entstehen Kontingenzerfahrungen und die Problemfelder, welche sich durch diese radikale Abgeschiedenheit ergeben, sollen in Kapitel 4.1.1 näher erläutert werden (vgl. ebd., S. 50). 17
Zunächst stellt sich jedoch aufgrund der Tatsache menschlicher Erfahrung und somit der Möglichkeit, sich Welt anzueignen die Frage, wieso der Mensch stets auf seinen Mangel beziehungsweise seine Abgeschiedenheit zurückkommt. Wieso muss ihn die Welt, einmal eingeholt, sogleich wieder verlassen? Die Möglichkeit zum Verzicht lässt sich aus der ontologischen Einsamkeit als Grundstellung des Menschen heraus erklären.
2.2
Einsamkeit als Bedingung von Verzicht
Wenn Günther Anders schreibt: „Nur aus seiner grundsätzlichen Einsamkeit heraus ist das Erfahren-Können des Menschen zu verstehen“ (Anders 1929, S. 173), dann lohnt es sich, einen genaueren Blick auf diese grundsätzliche Einsamkeit zu werfen. Was versteht Anders unter Einsamkeit und wieso trifft sie das Sein des Menschen? Einsamkeit beschreibt für Anders sowohl ein prinzipielles Unverbunden-Sein, wie auch ein Verbunden-Sein-Wollen. Bewusst schreibt er nicht von einer Autonomie oder Autarkie des Menschen, welche das Unverbunden-Sein als moralische Tugend darstellen (vgl. Anders 1930, S. 17). Genauso wenig ist ihm an einer Ethik des Loslassens im Sinne einer stoischen Philosophie gelegen, wonach es um eine Kultivierung der Einsamkeit ginge (vgl. Liessmann 2002, S. 35). Anders stellt lediglich fest, dass es eine Grunddimension des menschlichen Daseins ist, Welt zu verlassen. Nicht nur das Jagen und Sammeln ist also Grundgestik des Menschen, sondern in gleichem Zuge auch das Loslassen. Nicht nur das sich häuslich Einrichten in der Welt, sondern auch das Nomaden-Sein. Die Einsamkeit verweist auf eben jenen ontologischen Mangel, wie er in vorherigem Kapitel als Bedingung von Abstraktion dargestellt wurde. So ist diese ja gerade das Gefühl, von der Welt verlassen zu sein. Das Verzichten-Können ist letztlich wiederum eine Funktion, die aus der mangelnden Materialität des Menschen erwächst. Dies soll in folgendem Kapitel näher beleuchtet werden. „Da die Welt für den Menschen von vornherein von der Negativität gezeichnet ist, kann auch die Negativität bewahrt bleiben.“ (Anders 1930, S. 24) Diese Negativität als Praxis nimmt also stets Bezug auf eine ontologische Negativität als Grundsituation des Menschen. Aus ihr schöpft sie, von ihr zeugt sie und zu ihr kommt sie stets zurück. Das Verlassen von Welt beziehungsweise der Verzicht 18
ist eben jene negative Praxis. Zwar lässt sich der Mensch jeweils auf eine bestimmte Welt ein, jedoch stets mit der Möglichkeit, sie wieder zu verlassen. „Abschied droht schon im Haben, das als Nochhaben schon den Verlust ankündigt“ (ebd.). Für Anders ist die Möglichkeit zur Vorstellung zunächst nicht etwa neutrales Herstellen von Nichtdaseiendem, sondern das „Loslassen eines Präsenten in die Absenz, d.h. [...] Abschied und [...] Verzicht“ (ebd., S. 23). Das Vorhandene und Seiende lässt sich also durch die Möglichkeit der Vorstellung verabschieden. Gerade die Relativität ist die Sphäre, in der sich das Sein des Menschen bewegt. Ein Beispiel dafür sieht Anders in dem Gedenken an einen Verstorbenen, „der nun gerade darum erhalten bleibt, weil er schon als Lebender verlorengegeben war“ (ebd., S. 24). Eben weil der Lebende aufgrund des Vermögens zur Absenzvorstellung nur noch-lebend ist, kann auch der Verstorbene weiterhin in Bezug zum Leben stehen. In der Vorstellung kann der Verstorbene hier verabschiedet werden und trotzdem an irgendeinem dort weiterleben (so beispielsweise in der christlichen Vorstellung des Himmelreiches). Hiermit ist erneut das Prinzip der relativen Gleichgültigkeit beschrieben, welches sich nun in der Praxis des Verzichts erweist. Am eindringlichsten zeigt sich diese Praxis für Anders im Lügen: „[D]arin, dass der Mensch dem Faktum Trotz bieten, dass er auf Gru[n]d seiner eigenen unabhängigen Existenz-Behauptung dem Existierenden ins Gesicht Nichtexistenz, Nichtsosein; oder dem Nichtdaseienden gegenüber Existenz behaupten: dass er das Seiende verleugnen kann.“ (ebd., S. 24 f.)
Die Verleugnung von Seiendem in der Lüge spiegelt die mangelnde Einbettung des Menschen in die Welt wieder. Der Mensch ist frei von Welt, da er selbst der „Faktizität des Seins“ (Liessmann 2002, S. 36) von Welt nicht unterworfen ist. Lügen-Können wird deshalb zum „Symptom für das spezifische Nichtsein des Menschen, d.h. hier für sein Nicht-diese-Welt-sein“ (Anders 1930, S. 25). Er ist mit der Welt so wenig verbunden, dass er selbst ihr Sein verleugnen kann. Keinem Spruch einer apriorischen Welt muss er sich beugen, vielmehr ist er selbst in der Lage Seiendes in die Sphäre des Relativen zu übergeben. „Im ‚Als’ liegt bereits die Verleugnung, die Freiheit des Menschen gegenüber dem Seinsbestand der Welt“ (ebd., S. 26). So kann sich die Welt nicht dagegen wehren ‚als’ 19
diese oder jene angesprochen zu werden4. Eben jenes fehlende conditum, jener fehlende zwingende Wissensbestand, erfordert es Wissen und Meinung über die Welt zu entwickeln und sie als-etwas anzusprechen. Durch die fehlende Kongruenz zwischen dem Sein des Menschen und dem Sein der Welt spricht er sich frei von ihr und spricht sie als diese oder jene an. Indem der Mensch die Welt als-etwas anspricht, eignet er sich a posteriori Wissen über eine Welt an, die er gleichsam konstituiert. Letztlich ist jedoch dieses Wissen-über-die-Welt kein transitives Welt-Wissen, sondern ein sachgegenständliches Wissen, wodurch eine klare Trennung zwischen Mensch und Welt entsteht. Der Mensch lebt hierin nicht eingebunden in die Welt, sondern schafft sich in seiner Verobjektivierung von Welt ein Gegenüber. Anstatt Welt mit zu wissen, wie es das Tier tut, produziert der Mensch Wissen über die Welt (vgl. Anders 1929, S. 141, 153). Durch die Feststellung von Welt als Gegenüber ergibt sich nun jene Trennung zwischen Mensch und Welt. Die Welt als-etwas anzusprechen impliziert bereits das „Loslassen eines Präsenten in die Absenz, d.h. [...] Abschied und [...] Verzicht“ (Anders 1930, S. 23) und zeugt so von der Einsamkeit des Menschen gegenüber einer ihn ständig verlassenden Welt. Nun ist jedoch umgekehrt auch Teil dieser Einsamkeit nicht allein sein zu wollen bzw. zu können. Anders spricht in dem Zusammenhang davon, dass der Mensch „auf eine nachträgliche, d.h. unverlässliche Welt angewiesen ist, auf eine Welt, die ihn dauernd verlassen kann“ (ebd., S. 24). Auf eine Welt also, der der Mensch grundsätzlich nicht habbar wird, ist er gleichzeitig angewiesen. So wird
4
In den hier dargestellten Ausführungen von Anders, wie sie vor allem in der Weltfremdheit zu finden sind, entsteht der Eindruck einer schutzlosen Welt, die dem Spruch eines allmächtigen Menschen ausgeliefert ist. Während sich der Mensch also aufgrund seiner Ungebundenheit vor der Faktizität von Welt abschirmt und die Welt stets verlassen kann, ist die Welt selbst so biegsam und handlich wie ein einfaches Handwerksmaterial. Vor allem in den Kapiteln 3 und 4 wird jedoch gerade diese Ungebundenheit von Welt problematisiert. Zwar ist sie für die hier dargestellten menschlichen Vermögen Bedingung der Möglichkeit, jedoch trifft dies nicht die gesamte Stellung des Menschen zur Welt. Gerade die Faktizität der Welt, das Gerade-Hier- und Gerade-Jetzt-Sein ist mitunter von keiner Abstraktionsfähigkeit oder Freiheit des Menschen überwindbar. (vgl. Anders 1930, S. 381)
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schon hier deutlich, was Anders vor allem in der Pathologie der Freiheit beschreibt. Zwar ist der Mensch frei-von-Welt, insofern er in einer anderen Welt als der vorfindlichen leben kann. Ein Leben abseits von Welt überhaupt ist jedoch nicht denkbar. Dadurch wird auch aufgrund der Analyse der Einsamkeit des Menschen deutlich, dass dessen Freiheit-von-Welt nicht unbegrenzt ist. Außerdem wird deutlich, wieso der Begriff der Autarkie bzw. Autonomie nicht die Grundstellung des Menschen in den Darstellungen von Anders treffen kann. So steht der Mensch eben nicht von selbst, ist nicht selbstständig, sondern ist angewiesen auf die Welt, auch wenn dieses Angewiesen-sein von einem ständigen Verlassen begleitet wird. So geht beispielsweise jeder Tag unweigerlich vorüber, zieht vorbei und macht Platz für Neues. Ständig ist die Welt am Passieren, zieht vorüber und lässt den Menschen einsam zurück. Ebenso ist jedoch der Mensch zum Verabschieden fähig. Die Unverbundenheit des Menschen zur Welt erweist sich im Abschied deshalb als so spezifisch, da er im Unterschied zum Tier, auf den Anspruch von Welt verzichten kann. „Der Mensch aber nimmt Abschied; gibt Abschied; er kann verzichten; macht sich über das Verabschiedete keine Illusion, macht auf das Verabschiedete keinen Anspruch“ (Anders 1928b, S. 70). Die Anspruchslosigkeit macht deutlich, inwiefern das Asketische zum Menschen gehört. Der Mensch muss Welt nicht ständig als-etwas ansprechen, er muss auf das, was sich ihm anbietet keinen Anspruch erheben. Dies ist die Freiheit, welche sich aus der Einsamkeit als Verzichten-Können ergibt. Einmal zur Welt gekommen ist der Mensch nicht determiniert in dieser zu leben, sondern kann zurückkommen zu seiner ontologischen Einsamkeit und somit verzichten auf die Welt, die sich ihm darbietet. „Im Abschied manifestiert sich so eine Grunddimension menschlichen Daseins: daß letztlich nichts dem Menschen zugehörig ist, alles, auch die Welt, die er sich selbst geschaffen hat, wieder verschwinden kann“ (Liessmann 2002, S. 35).
Aufgrund der menschlichen Vorstellung, die aus dem Mangel beziehungsweise dem Verzicht von Welt resultiert, wird auch jedes Herstellen und jedes Haben zu einem Noch-Haben. Der Versuch, diese Einsamkeit durch Anhäufung von Besitz oder irgendeiner Verewigung des Selbst zu kompensieren, muss aufgrund der Möglichkeit menschlicher Vorstellung, sich immer bereits hinter das Selbst 21
ausdehnen zu können, zwangsläufig scheitern. So können wir uns zwar vorstellen morgen berühmt zu werden, ebenso jedoch ist in dieser Vorstellung bereits ein potenzielles Übermorgen verankert, an dem wir weder berühmt sind, noch überhaupt noch sind. Auch die menschliche Vorstellung, so viel Freiheiten sie ihm bietet, kommt doch stets zurück auf einen Mangel, den sie nicht bewältigen kann. (vgl. Anders 1930, S. 381 Anm. 42; Kapitel 4.1.1) Die menschliche Vorstellung ist, wie bisher beschrieben, von einem Distanzakt gekennzeichnet. Sie distanziert das unmittelbar Gegebene vom potenziell Möglichen und bringt somit eine Distanz zwischen Mensch und Welt. Bisher blieb jedoch relativ undeutlich beschrieben, wieso Anders die Vorstellung als spezifisch menschliche Fähigkeit kennzeichnet und wie sich diese vom Tier unterscheidet. Dies gilt es in folgendem Kapitel aufzuklären.
2.3
Vorstellung als spezifisch menschliche Fähigkeit
Vorstellung ist eine Funktion der Fähigkeit „Nichtdaseiendes zu vermeinen“ (Anders 1930, S. 23), also der Absenzvorstellung. Wenn aber die Vorstellung aus einer Absenzposition heraus erwächst, wie sie in vorherigem Kapitel beschrieben wurde, so muss sie sich als spezifisch menschliche Eigenschaft als dem ‚abstrahierten Wesen’ schlechthin erweisen. Eben diesem Beweis gehen die Andersschen Analysen nach. Für Anders leben Tiere in einer ‚Realitätsblockade’. Ihre Erkenntnis speist sich aus Materialität von Welt, die sie in ihrem Sein bereits innehaben. Die Wahrnehmung von Welt geht auf diese innewohnende Materialität zurück und nicht über sie hinaus. Zwar gibt es auch für Tiere Nichtdaseiendes und Vermissbares, aber doch nur insofern es bereits in der material-apriorischen Welt der Tiere vorgesehen ist. „Positives Absenzverständnis, also Positivierung des Nicht setzt erst da ein, wo kein bestimmtes Dasein als Apriori eigener Existenz besteht, wo nicht Daseiendes realisiert werden kann“ (ebd.). Eben dies kennzeichnet den Begriff der Vorstellung. Sie ist Positivierung von Nichtdaseiendem. Wörtlich genommen stellt sie das Nichtdaseiende vor das Seiende und trägt so zur Realisierung dessen bei. Sie macht also immer einen Doppelschritt – sowohl drängt sie das Seiende in die Absenz, als auch das Nichtseiende in die Präsenz. 22
Die Wahrnehmung der Tiere unterscheidet dahingegen lediglich zwischen Widerstand und Stillung. Anhand des Vergleichs mit der spezifischen Mangelhaftigkeit des Menschen lässt sich dies besser aufklären. Im Phänomen der Stillung (beispielsweise von Bedürfnissen) gibt es, ebenso wie bei der Vorstellung, einen Unterschied zwischen Intention und Erfüllung. Gäbe es diesen nicht, erübrigte sich auch die Möglichkeit zur Stillung des Intendierten. Diese Stillung kennzeichnet in den Analysen von Anders eine sogenannte Jetzt-Implikation. Er beschreibt diese als Anwesenheitsliste, auf der in den jeweiligen Jetzten die Anwesenheit bzw. Abwesenheit des Intendierten vermerkt wird. So zeigt das materiale Apriori der Tiere den Bestand an Möglichkeiten an, wie Welt überhaupt sein kann. Im jeweiligen Bedürfnis der Tiere ein Jetzt-Abwesendes zu stillen, präsentiert sich ihre charakteristische Sorge. „[...] denn die Sorge des Tieres geht lediglich auf Ausfüllung des Vermissten, des – obwohl apriorisch Versprochenen, so doch faktisch nicht Gehaltenen, nicht Daseienden“ (Anders 1929, S. 176). „Dem material apriorisch antizipierenden Wesen [...] besteht der vorgewusste Gegenstand als undiskutabel seiend und ohne Negationsmöglichkeit. Ist er dennoch nicht da, so ist dieses Nicht im Grunde unvollziehbar: hier erst gibt es radikales Vermissen; das Nicht-Sein ist nicht nur wirklich, sondern wirklich, obwohl unmöglich; unmöglich: denn das Dasein des a priori vorgewussten Gegenstandes macht die Möglichkeit des wissenden Wesens selbst mit aus; so bedeutet das Nicht-Dasein des Gegenstandes oft geradezu die Zerstörung oder den Tod des Vermissenden.“ (ebd., S. 179)
Für das Tier ist die Welt nicht vorerst so zu gestalten, dass sie den Bedürfnissen gerecht wird, sondern es lebt mit der Welt in Bedürfniskongruenz. All das, was sich möglicherweise auf der Bedürfnisliste des Tieres verzeichnet, findet bereits a priori sein Pendant in der Bereitstellung der Welt. Die Welt, in der das Tier lebt, ist bereits das Spiegelbild der inneren Welt des Tieres, wodurch sich die Nachfrage des Tieres mit dem Angebot der Welt stillen lässt. Gerade hierdurch ergibt sich die Radikalität des tierischen Vermissens. Ist etwas innerhalb des Tieres auf der Anwesenheitsliste verzeichnet, das sich in der äußeren Welt nicht wiederspiegelt, so ist dieses Nicht-Sein wirklich, obwohl unmöglich. So zum Beispiel bei der Kuh, die von ihrem Kalb getrennt wird. Die Vorstellung der Kuh dehnt sich nun nicht soweit aus, dass sie beispielsweise das Kalb im 23
Schlachthof sieht. Sie bleibt als Sehnsucht, als Vermissen in der jeweiligen JetztSituation verhaftet. Das, was hier ist, ist nicht hier. Wie bei einer Sucht, die ja auch da ist, obwohl ihr Gegenstand permanent zu fehlen scheint. „’Vorstellen’ ist hier kein isolierter und eigenständiger Akt, sondern nichts, als der enttäuschte Wahrnehmungs- bzw. Kommunikations-Impuls selbst“ (Anders 1928b, S. 68). Im Vermissen wird die Alternative von Wahrnehmen und Vorstellen aufgehoben – etwas wird wahrgenommen, obwohl es fehlt. Das Kalb ist selbstverständlich da, obwohl nicht da. Hiermit ist der Widerstand umschrieben, den Anders als charakteristisch für tierische Existenz ansieht. Dieser beschreibt die schon vorher erwähnte Realitäts- oder Wirklichkeitsblockade. Die Realität zeigt sich gegenüber der material vorgewussten Welt des Tieres als widerständig. So zeigt sich in vorherigem Beispiel, dass es auch für das Tier Unmöglichkeiten gibt, die wirklich sind. Die Radikalität dieser Unmöglichkeit besteht nun darin, dass das Tier den Widerstand nicht überwinden kann, sondern die vorgewusste Welt weiterhin bestimmend ist für die eigene Existenz. Deshalb „trifft das Tier nichts als diese seine eine vorgewusste Welt, in die es „instinct“ ist. Alles andere ist „Ungegebenheit“, ist schlechthin nicht da, es sei denn als Widerstand, vielleicht als gefürchtetes Un-heimliches, niemals als Tod, den das Tier nicht erfährt oder trifft, von dem es vielmehr getroffen wird.“ (Anders 1929, S. 170)
Die Auflösung dieses Widerstandes ist Teil menschlicher Existenz, insofern diese mangelnd in die Welt eingebettet ist. Das grundsätzliche Nichtverbundensein mit der Welt ermöglicht den Distanzschritt von unmittelbarer Wahrnehmung in eine Welt der Vorstellung. „Von der Existenz einer Sache absehen können, heißt: von ihr, ihrer Existenz unabhängig sein, ihr als Existenter nicht eingebettet sein, also von ihr frei sein“ (Anders 1930, S. 22). Der Charakterzug menschlicher Vorstellung ist es, über das unmittelbar Gegebene hinauszuwachsen. Dies ist der Unterschied zwischen der Vorstellung qua Vermissen und der spezifisch menschlichen Vorstellung. „Die grundsätzlich neue Art der Vorstellung, die weit mehr ist als getäuschte Wahrnehmung, setzt nun in der spezifisch menschlichen Schicht ein; es ist die Vorstellung als ‚Denken an’“ (Anders 1928b, S. 69). Auch hier wird der Kommunikationsimpuls getäuscht, aber: der Getäuschte ist nicht enttäuscht. Er weiß von 24
der Abwesenheit, vermutet sogar an einem anderen Ort eine Anwesenheit des hier-Abwesenden (bis hin zur Anwesenheit eines Verstorbenen im Himmelreich, wie in vorherigem Kapitel bereits angesprochen). „Der Enttäuschungsmöglichkeit ist von vornherein ein Riegel vorgeschoben: man anerkennt, daß der Gegenstand des Gedenkens abwesend ist“ (ebd.). Doch ist nicht die menschliche Existenz ebenso sehr abhängig von der Existenz von Welt, wie die tierische Existenz? Ist nicht das Fehlen von Luft für die menschlichen Lungen gleichzusetzen mit dem Fehlen von Wasser für die Kiemen von Fischen? Ist nicht sogar das Sterben der Mutter für einen Vogel ebenso schmerzlich, resultiert hieraus nicht ein gleichartiges Vermissen für ihn, wie für einen Menschen? Bis zu einem bestimmten Punkt zeigen auch die Andersschen Analysen hier Parallelen auf. Diese werden vor allem in Kapitel 4.2 deutlich herausgestellt. Dennoch gibt es einen Unterschied zwischen dem Vermissen des Tieres und dem Vermissen des Menschen, welcher aus seiner ontologischen Situation erklärt werden kann. Der tierischen Existenz liegt die Welt als Ganzes vor. In diese ist sie selbst, ebenso als Ganze, eingebettet. So ist auch die Welt als materiales Apriori, insofern sie verschwindet, ein Verschwinden der eigenen Existenz. Deshalb spricht Anders von einem radikalen Vermissen. „Aber die Tatsache ‚materiales Apriori’ bestimmt, geschweige denn erschöpft nicht die spezifische Lage des Menschen in der Welt“ (Anders 1930, S. 12). Die ontologische Situation des Menschen nimmt ihren Ausgang in einem grundsätzlichen Verfehlen von Welt. Dieses Verfehlen ist der Grund, weshalb sich Vorstellung und Wahrnehmung voneinander scheiden. Daraus resultiert, dass das Vermissen des Menschen ein ebenso grundsätzlich anderes ist, wie das des Tieres. „Vermisst der Mensch, so doch in der selbstverständlichen Voraussetzung, dass das Vermisste eben da sein oder auch nicht da sein könne. Seine Welt ist [...] ‚kontingent’“ (Anders 1929, S. 179). Zwar fehlt dem Tier, wie auch dem Mensch okkasionell Existenzbedingendes, aber nur die Welt des Menschen ist eine grundsätzlich mangelnde5.
5
In Kapitel 4 wird hingegen aufgezeigt, dass bestimmte Grenzen dieser Mangelhaftigkeit in das Sein des Menschen miteinbezogen werden müssen. Kapitel 3 hingegen klärt weiter auf, dass es nur die Welt der Erfahrung ist, welcher es stets mangelt.
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Wenn Welt eine grundsätzlich mangelnde ist, so gibt es auch einen beständigen Spalt zwischen ihrem Angebot und der menschlichen Nachfrage. Dass sich hieraus eine utopische Grundsituation des Menschen ergibt und wie diese beschrieben werden kann, soll nachfolgend näher erläutert werden. Außerdem wird aufgezeigt, inwiefern der Mensch gerade aufgrund seiner Mangelhaftigkeit darauf angewiesen ist, die Welt nachträglich durch Erfahrung einzuholen.
2.4
Übertragungen des Mangels auf die Welt. Die utopische Grundsituation
„Der Seinsunterschied zwischen Vorgestelltem und Wahrgenommenem gründet also letzten Endes in der wesensmäßigen Diskrepanz zwischen menschlicher Nachfrage und Angebot: die Prätentionen des Menschen auf seine Welt sind grundsätzlich so, dass sie von der Welt nicht gestillt werden können.“ (Anders 1929, S. 187)
Dies geht, wie aufgezeigt, auf die Mangelhaftigkeit als Seinsprinzip des Menschen zurück. Aus diesem prinzipiellen Mangel heraus erhebt er nun Ansprüche an die Welt. Anstelle einer positionellen Einbettung muss hierdurch von einer Gegenüberstehung von Mensch und Welt ausgegangen werden. Aus der Gegenüberstehung ist es nun möglich, Welt als Welt zu erkennen. Dieser Erkenntnisakt kann jedoch in den Andersschen Analysen nicht als bloße Aneignung von Wissen verstanden werden, sondern muss sich stets als Praxis, als Entwurf, erweisen. Der Mensch findet somit Welt nicht einfach vor, sondern muss sie entwerfen, um sie vorzufinden (vgl. Dries 2012, S. 46). In der Erkenntnis als spezifischer Entwurf von Welt gewinnt der Mensch Wissen über die Welt und kommt so zu ihr. Die Welt, zu der der Mensch kommt, ist jedoch keine apriorische Welt, sondern eine aposteriorische. Eine Welt, an deren Entwurf er selbst beteiligt ist. Der Mensch „überträgt auf sie [die Welt] seine eigene Unfestgelegtheit“ (Anders 1930, S. 21). Nun wird deutlich, wieso es auch der aposteriorischen Welt stets mangeln wird. In der Möglichkeit der Erkenntnis, dem zur-Welt-Kommen aus Distanz, überträgt sich das Unfertigsein und der Mangel des Menschen auf die nunmehr insuffiziente Welt. 26
Hierin zeigt sich ein unauflösbares Problem der menschlichen Erkenntnis. Ein wahres, im Sinne von transitives Wissen von der Welt, ist nur einem in die Welt eingebetteten Wesen möglich. Nur ein apriorisches In-Sein weiß die Welt, wie sie ist und sein sollte. Diese Wahrheit von der Welt ist jedoch nicht im Sinne der Erkenntnis als ein Eigentliches zu verstehen, welches unter Anderem, eben Falschem, existiert. Diese Wahrheit ist ein Wahr-Sein, ein Mit-Sein und nichtanders-sein-können – und somit ein existenzbedingendes Sein. Die Wahrheit, auf die sich die Erkenntnis bezieht, „stiftet sich ja erst durch die Kongruenz von Intention und Erfüllung bei möglicher Inkongruenz.“ (Anders 1929, S. 171) Eben diese mögliche Inkongruenz oder auch nachträgliche Kongruenzstiftung erübrigt sich für das in-der-Welt-sein bzw. in-Wahrheit-sein der tierischen Existenz – sie ist schlichtweg nicht da, anders formuliert, blockiert. Die Stellung des Menschen ist jedoch durch ein in-der-Welt-sein nicht ausreichend beschrieben. Dadurch, dass der Mensch immer auch in Distanz zur Welt beziehungsweise auf eine andere Welt eingestellt ist, verliert die Welt ihren Anspruch auf Wahrheit. „Durch seine Nichtzugehörigkeit zur Welt und sein Auf-eine-andere-Welt-Eingestelltsein, kurz, durch seine Doppelweltlichkeit ist der Mensch ein wahrhaft utopisches Wesen.“ (Anders 1929, S. 188) Utopie trifft für Anders die Grundstellung des Menschen zur Welt. Er grenzt sich dabei von Karl Mannheim ab, dem es um die Utopie als inkongruentes Bewusstsein geht. Anders bewegt sich damit weg von einer erkenntnistheoretischen Behandlung des Problems zu einer positionstheoretischen. Somit fragt er wiederum nicht wie etwas in-der-Welt richtig oder falsch sein kann, sondern stellt Welt als solche als inadäquat heraus. „Hier, in der Position der Inadäquatheit, in der prinzipiellen und dauernd vom Menschen zu überwindenden Insuffizienz der Welt für den Menschen liegt erst der Grund dafür, dass Welt überhaupt adäquat gemacht werden muss.“ (Anders 1929, S. 190)
Utopisch ist die Grundstellung des Menschen deshalb, da das Adäquat-Machen von Welt zwar geleistet werden kann und sogar geleistet werden muss, dies jedoch ein nie endender Prozess des Korrigierens darstellt (vgl. ebd., S. 189). Letztlich kann angenommen werden, da die Erkenntnis bedingte Funktion der Mangelhaftigkeit ist, dass sich auch deren Wahrheit als stets in Gang zu haltendes Korrigieren erweist. 27
Dass der Mensch überhaupt Ansprüche an die Welt macht, ließ sich bisher aus der mangelnden Einbettung erklären. Doch was resultiert daraus, dass die Ansprüche utopischer Natur sind? Der Anspruch des Menschen auf die Welt ist größer als die vorfindliche Welt, wodurch er auf Veränderung von Welt drängt. Der Mensch „ist zugeschnitten auf eine Welt, die es nicht gibt, zu deren nachträglicher Realisierung er aber frei ist, für die er sich einsetzt, an deren Realisierung er eminent interessiert ist“ (Anders 1930, S. 21). Diese Realisierung findet ihr Vermögen nun im ‚Als’ des Logos, das die insuffiziente Welt als-etwas anspricht, um sie den Bedürfnissen des Menschen anzugleichen. Jedoch bleiben die Ansprüche des Menschen weiterhin utopisch, weshalb die Welt niemals so viel anbieten kann, wie der Mensch in seinen unmöglichen Ansprüchen nachfragt. Er bleibt also in einer Spannung zwischen ontologischer Weltfremdheit und utopischer Weltoffenheit verhaftet (vgl. Dries 2012, S. 46 f.). „Die Inkongruenz zwischen getroffener und ‚gebührender’ Welt, die Zweiweltigkeit, das weder hier noch dort Zuhause-sein, das dauernde Getriebensein aus der Insuffizienz macht die eigentlich utopische Weltposition des Menschen aus.“ (Anders 1930b, S. 152)
Doch kann dieses Getriebensein je ein Ende finden? Wird der Mensch also je in der ‚besten aller denkbaren Welten’ (Leibniz) leben? Für die Welt des Tieres sieht Anders dies bestätigt, wobei dessen Welt strenggenommen nicht so ist, wie sie sein sollte, sondern so ist, wie sie ist. Für den Menschen bleibt die Welt a priori eine unzuverlässige und aufzubessernde. „Aber eben diese Aufbesserungsbedürftigkeit der Welt, diese konstante Aufgegebenheit ist doch ein den Menschen ausmachendes ontologisches Faktum. Es ist nicht einzusehen, warum die Insuffizienz der Welt für den Menschen, qua Weltbürger, warum das „faciendum esse“ nicht selbst als „ontologisches Faktum“ mit zur Weltbestimmung und Menschenbestimmung gehören soll, wie jedes andere Faktum.“ (Anders 1929, S. 187)
„’Kein Ort, Nirgends’ – das ist die Realgestalt des Ou-topos, der Utopie“ (Lütkehaus 22002, S. 17). Nirgends beheimatet und somit stets weiter an der Welt arbeitend, so lässt sich der utopische Grundcharakter des Menschen nach Anders 28
ausdeuten6. Die Natürlichkeit, durch die das Tier in der Welt beheimatet ist, ist dem Menschen fremd. Ihm ist die Künstlichkeit Natur geworden. Aufgrund dieser natürlichen Künstlichkeit ist es ihm möglich, die Welt stets zu verlassen und weiterzuziehen. Zwar ist „Künstlichkeit [...] die Natur des Menschen“ (Anders 1936/37, S. 48), jedoch ist es seine Kunst eine Welt über der Welt zu errichten. „Dem Menschen ist Welt zwar zunächst etwas Fremdes, aber er ist zugleich a priori darauf angewiesen, seine Weltfremdheit zu überwinden“ (Müller 2012, S. 25). Dies meint Anders mit dem „Abstand des Menschen von der Welt in der Welt“ (Anders 1930, S. 16). Anders spricht weder der Freiheit als Distanz, noch der Erfahrung ein genetisches prius zu. Gerade da der Mensch, wie ihn Anders beschreibt, stets ambivalenten Standes ist, stets in dialektischen Strukturen lebt, muss nun, nach dem die Distanz des Menschen betont wurde (die sich nie isoliert zeigen konnte, sondern stets auch auf die Angewiesenheit zur Welt hinwies), auch seine Annäherung an die Welt (und der dabei aufzufindende Distanzakt) näher analysiert werden.
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Aufschlussreich zu diesem utopischen Grundcharakter sind vor allem die Fortschrittsanalysen von Anders. In verschiedenen Skizzierungen zeigt Anders auf, wie der Begriff des Fortschritts von den verschiedensten Interessensgruppen dazu genutzt wurde, einen Ausweg beziehungsweise ein Heilsversprechen für die Unfertigkeit des Menschen bereitzustellen. Dabei deutet Anders darauf hin, dass die Ideale des Fortschritts, sei es im Christentum, bei Darwin, der Arbeiterbewegung oder im Glauben an die Technologie, jeweils dialektisch in ihr Gegenteil, in Regress, umschlagen. (vgl. Anders 1940/ 41, S. 172-176).
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3. Kommunikation mit der Welt. Das Problem der Erfahrung Nachdem Kapitel 2 die Abständigkeit des Menschen in der Welt als eine Voraussetzung menschlicher Vermögen aufzeigen konnte, soll nun die Erfahrung des Menschen mit dieser Abständigkeit konfrontiert werden. Wie ist es möglich, dass der Mensch zur Welt kommt und mit der Welt Erfahrungen macht, steht er doch in Distanz zu ihr? Ist nicht die Distanziertheit gerade ein Indiz dafür, dass eine Kommunikation mit der Welt unmöglich ist und der Mensch als transzendentes Wesen getrennt von Welt leben muss? Die zahlreichen Missverständnisse und Kommunikationsschwierigkeiten, mit denen es die Menschen täglich zu tun haben, sprechen doch gerade dieser Distanziertheit zu. Da die Tatsache der Erfahrung aus der distanzierten Position des Menschen heraus grundsätzlich problematisch erscheint, geht Kapitel 3.1 den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung auf die Spur. Dabei wird das Angewiesensein des Menschen von der Welt als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung herausgestellt. Anders Nachweis der Möglichkeit von Erfahrung versteht sich deshalb auch nicht als Bedingung der Möglichkeit, sondern als Bedingung der Nötigkeit von Erfahrung (vgl. Anders 42018b, S. 468 ff.). Doch wie lässt sich ein Individuum denken, das zugleich distanziert, als auch darauf angewiesen ist diese Distanz zu überwinden? In Kapitel 3.1.3 wird die Kondition des Individuums als ein Wechselspiel von Verbergen und Äußern diskutiert. Nachdem Kapitel 3.1 die Bedingungen der Nötigkeit von Erfahrung aufzeigt, widmet sich Kapitel 3.2 der Praxis der Erfahrung. Für die traditionelle Erkenntnistheorie ist der Begriff des Sehens gleichzusetzen mit dem Begriff der Erkenntnis und die Wissenschaft bezieht ihre Motivation aus der Sichtbarmachung von Welt (vgl. Anders 1928b, S. 19, 49). Kapitel 3.2.1 und Kapitel 3.2.2 nehmen sowohl die Sichtbarkeit der Mitwelt, als auch die Sichtbarkeit von Naturwelt in den Blick und kennzeichnen Sichtbarkeit 30
als ein mediales Tiefenphänomen, welches auf eine sich äußernde Welt angewiesen ist (vgl. ebd., S. 25). Die Sichtbarmachung von Welt ist deshalb nötig, weil sie zunächst unvertraut und undeutlich ist. Undeutlichkeit wird jedoch nicht bloß als auszuräumender Makel angesehen, wodurch Wissenschaft sich auf die Kompensierung dieses Makels beschränken ließe (Kapitel 3.2.3). Die Erfahrung des Fremden und Anderen ist nach Anders eine dem Menschsein einzurechnende Tatsache, welche die Welt nicht nur als Sachverhalt bzw. Objekt erkennt, sondern gerade ihre Andersartigkeit anerkennt (vgl. ebd., S. 61-66). In diese Erfahrung von Andersartigkeit bringt sich der Mensch selbst ein – das Fundament einer Bildung als Distanz (Kapitel 3.3).
3.1
Die Fenster der Monaden7. Bedingungen der Nötigkeit von Erfahrung
Die Untersuchungen von Anders bezüglich der Erfahrung bzw. der Erfahrungserkenntnis8 können als erkenntnistheoretische Grundlagenforschung angesehen werden. Anders stellt sich die Fragen: Wie ist das Verhältnis zwischen Mensch und Welt gegeben, damit Erfahrung möglich und nötig wird? Grundsätzlicher noch hinterfragt Anders, ob es überhaupt ein Verhältnis zwischen Mensch und Welt gibt, das auf eine Erfahrung miteinander schließen lässt. Konsequenterweise liegt diesen Fragen ein Erfahrungsbegriff zugrunde, welcher zunächst mit Kommunikation gleichzusetzen ist. Erfahrung ist die „Kommunikation des Menschen
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Unter dem Begriff der Monade versteht Anders die Einheit eines Wesens, welches gerade dadurch, dass es eins ist, von anderen Wesen abgeschottet und unabhängig ist. Diese Begriffsbestimmung entlehnt Anders der Monadologie von Leibniz (vgl. Anders 2011, S. 53 f.). Im weiteren Verlauf der Arbeit werden die Begriffe Erfahrung und Erkenntnis synonym verwendet. Dies folgt der Verwendung der Begriffe von Anders selbst (vgl. Anders 1928b, S. 50). Letztlich stehen beide Begriffe dafür etwas Anderes als das Selbst, hier Welt genannt, bekannt zu machen mit dem Eigenen. Gerade im Bekanntmachen von Welt verliert sie jedoch ihren Fremdheitscharakter und wird zur bloßen Umwelt. Dies ist eines der Problemfelder der Erfahrung, welche im Laufe des Kapitels diskutiert werden.
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mit der Welt“ (Anders 1930, S. 11). Die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung ist, dass die Möglichkeit einer Verständigung, eine Verbindung der Individuen bzw. eine gemeinsam geteilte Welt, überhaupt gegeben ist. Erfahrung meint also das Treffen eines Anderen, einer anderen Welt, als die eigene Umwelt (vgl. Anders 1928b, S. 50). In den Untersuchungen der Bedeutung des alltäglich gewordenen Begriffs ‚Individuum’ wird gerade diese Bedingung der Möglichkeit zum Problemfeld. Individuen sind nach Anders zunächst die voneinander Getrennten. Darauf spielt er an, wenn er vom „Vorbeiexistieren“ (Anders 2011, S. 22), dem fehlenden Weltsystem und dem Nicht-verständigtsein spricht. Im Laufe des Kapitels wird jedoch deutlich, dass dies nicht die gesamte menschliche Seinsweise treffen kann. Relativiert werden muss die zunächst aufzuzeigende Distanziertheit jedoch nicht durch eine Einschränkung derselben, sondern durch das Aufzeigen von Ambivalenz. Der Mensch lebt in einer Dialektik von Distanz und Nähe (vgl. Anders 1928b, S. 54 f.). Worauf diese Untersuchung dann, mit dem Aufzeigen der Ambivalenz hinausläuft, ist eben jene Stellung des Menschen, wie sie Anders in der Weltfremdheit formuliert: „Der Abstand des Menschen von der Welt in der Welt“ (Anders 1930, S. 16). Das Problem der Erfahrung dreht sich also um die Fragen: Wie müssen die Individuen, wie Seiendes, da sein, um überhaupt kommunizieren zu können; wie der Mensch da sein, um erfahren zu können? Oder grundsätzlicher: Ist Erfahrung überhaupt möglich aufgrund der ontologischen Ausgangslage des Menschen?
3.1.1 Die Unmöglichkeit von Erfahrung in absoluter Distanz Dass die Tatsache der Erfahrung vor dem Hintergrund ihrer scheinbaren Alltäglichkeit selbstverständlich erscheint, war für Anders kein zureichender Grund sie nicht zu hinterfragen. Gerade da sie das Fundament der Erfahrung beleuchten, sollen die Überlegungen von Anders zur radikalen Distanziertheit der Individuen hier aufgeführt werden. Die Möglichkeit der Erfahrung wird hier aus der Möglichkeit einer Verbindung zueinander erklärt. Dabei liegt ein Erfahrungsbegriff zugrunde, der zunächst ein voneinander-erfahren, als voneinander-wissen meint. Dies muss doch zumindest 32
die Grundlage einer Erfahrung im erkenntnistheoretischen Sinne sein, sodass überhaupt die Möglichkeit besteht, mit der Welt Erfahrung zu machen. Erfahrung also als ein Verbundensein, ein Zusammenhang oder eben dass es Welt als ein verbindendes System gibt. Was hiermit nicht gemeint ist, ist beispielsweise die alltägliche Tatsache des Miteinander-Sprechens. Selbstverständlich kann der Mensch durch Sprache kommunizieren, doch ist dies noch kein Argument gegen ein solipsistisches Unverbundensein. Steht der Mensch wirklich in-der-Welt als einem alles verbindenden System? „Wenn das Wort ‚System’ ‚Zusammenhang’ oder ‚-halt’ bedeuten soll, und Zusammenhang alles Seienden mit allem Seienden bedeutet, dann scheint ja diese Welt [...] bedauerlicherweise nichts weniger zu sein als ein ‚System’. Da niemand sich die Mühe macht, die millionenfach partikularen ónta abzuzählen, ergibt sich vielleicht sogar – noch nicht einmal eine Summe!“ (Anders 2011, S. 14)
Für Anders kann es diese Verbindung, da die Welt durch nichts zusammengehalten wird, auch unter den Seienden nicht geben. Dies ist die Ausgangslage der Erfahrungsuntersuchung und die These, die es näher zu untersuchen gilt. Dem gegenüber stünde eine Weltvorstellung, in der alles Seiende ständig miteinander verständigt ist, alles Seiende seinen richtigen Platz hat und alle Seienden in ein Weltganzes eingebettet sind. Dieses verbindende Ganze, welches hier problematisiert wird, stellt dann das Fundament der Kommunikation dar, das alles durchzieht und durch das die Einzelnen voneinander wissen würden. Auch im zweiten Band der Antiquiertheit des Menschen, also mindestens 50 Jahre später, wenn sich die Kirschenschlacht-Dialoge tatsächlich in den 20er Jahren zugetragen haben, zieht Anders in Betracht, dass „das Seiende kein ‚Ganzes’ ist, daß sogar – dies die Klimax der Ketzerei – der Singularausdruck ‚die Welt’ bereits ein ontologisches Vorurteil, vielleicht ein falsches, darstellt“ (Anders 42018b, S. 460). So fragt Hannah Arendt in den Kirschenschlacht-Dialogen: „Du meinst zum Beispiel [...] daß keine dieser Kirschen, obwohl sie vermutlich von einem und demselben Baum stammen, jetzt irgendetwas von den anderen Kirschen weiß? Daß jede vereinsamt da-ist? [...] daß das Seiende also nicht einmal dann eine Summe, geschweige denn
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ein System ergeben würde, und daß das Ganze selbst dann ein Chaos bleiben würde, wenn die Zahl der ónta endlich wäre?“ (Anders 2011, S. 14)9
Doch was bedeutet es für die Welt, wenn „das Ganze weniger wäre als die Summe seiner Teile“ (Anders 42018b, S. 462)? Umgekehrt bedeutet ein Mehr-als-die-SummeSein, dass es einen bestimmten Überschuss gibt, der durch bloße Summierung der Einzelnen nicht auftaucht. Einen Sinnüberschuss also, der von keinem Einzelnen in das Ganze mit eingebracht wird, sondern sich erst durch die Verbindung der Einzelnen zu einem Ganzen ergibt. Dieser Überschuss sorgt eben dafür, dass die Einzelnen zu einem Ganzen zusammengehalten werden, dass es einen Sinn jedes Einzelnen für das Ganze gibt. Dass das Ganze also weniger sein soll als die Summe seiner Teile, kann nur dadurch verständlich werden, dass es diesen Sinn der Einzelnen prinzipiell nicht gibt. Dass sie nicht durch einen Überschuss zusammengehalten werden, sondern vielmehr voneinander getrennt sind. Diese Trennung wird noch deutlicher, wenn es heißt, dass die Einzelnen überhaupt keine Summe ergeben. Dass die Einzelnen nicht einmal addierbar sind, lässt darauf schließen, dass sie nicht gleich sind, sie keine
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Dieser zunächst eigentümlich erscheinenden Frage, liegt eine ‚Geschichte des Systems’ zugrunde, wonach die Idee des Weltganzen zurückzuführen ist auf den Stadtstaat des antiken Griechenlands. Von diesem beeinflusst resultierte die Vorstellung des Kosmos als einem endlichen und aufgrund dieser Endlichkeit auch geordneten Systems. So „stiftete die Kosmologie das Modell des endlichen, geordneten, in sich stimmigen Kosmos. Die Abbildung dieses Modells ist das, was wir auch heute noch ein ‚philosophisches System’ nennen“ (Anders 42018b, S. 523). Anders weißt in einigen Anmerkungen darauf hin, dass sich zwar die Weltvorstellung aufgrund naturwissenschaftlicher Erkenntnisse geändert hat, die Philosophie diesen jedoch hinterherhinkt. So geht sie, trotz des Wissens um die spezifische Unendlichkeit des Universums und die Prozesshaftigkeit von Welt davon aus, dass es ein geordnetes Weltsystem gäbe. Anders merkt dahingehend an, dass es unmöglich ist, eine prozesshafte Welt als ein Ganzes, als Eine, zu beschreiben. Die Vorstellung der Welt als Einer, als ein Weltsystem, impliziert zwangsläufig, dass sie endlich im Sinne von abschließbar und begrenzt ist. Somit ergibt sich umgekehrt für das Unendliche, dass es durch kein System beschrieben werden kann. In diesem Sinne ist zu verstehen, dass Welt als Unendliche stets Chaos im Sinne einer Unordnung charakterisiert. (vgl. ebd., S. 523 f.) Die Radikalität von Anders Behauptung in den Kirschenschlacht-Dialogen ist jedoch, dass er die Ordnung von Welt auch dann anzweifelt, wenn sie eine Endliche wäre.
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gemeinsame Grundlage besitzen, wie beispielsweise Zahlen, die sie addierbar werden lassen. Anders meint also, dass die Seienden keinen Wesenskern, keinen gemeinsamen Nenner, überhaupt kein Wesen haben, welches sie vereint. In diesem Sinne zerfällt die Welt in Individuen, und das Dasein der Individuen ist ein unteilbar Getrenntes. Auch hier sind die Individuen primär Dividuen, unwiderruflich und ontologisch voneinander Getrennte. Standen sie in den bisherigen Überlegungen in einem distanzierten Verhältnis zueinander10, so beschreibt sie Anders hier in absoluter Distanz vom Ganzen. Zu diesem alles verbindenden Ganzen ist nicht lediglich eine Verbindung in Distanz möglich, sondern überhaupt keine. Monaden sind, obwohl gleichzeitig da, gegenseitig blind (vgl. Anders 2011, S. 17 ff.). Wenn die Welt in monadische Individuen zerfällt, so ist sie weder anschaulich, noch sind ihre Äußerungen verständlich. Damit zusammenhängend ist auch die hier angesprochene Einsamkeit zunächst radikaler, als sie in Kapitel 2.2 diskutiert wurde. Diese Einsamkeit kennt weder Möglichkeit noch Nötigkeit von Sinn und Erfahrung, wodurch „das ganze, oder jedes einzelne im Ganzen, ad Kalendas Graecas völlig ziellos vor sich hin [brodelt]“ (ebd., S. 15). Es ist davon auszugehen, dass Anders hier zunächst das festgestellte Getrennt-Sein bzw. Individuum-Sein ernst nimmt und es als Charakterzug des Seins selbst ausweist. Hierin sieht er sich im Einklang mit Leibniz: „Leibniz hat das Nicht-verständigtsein [...] nicht verschwiegen. Denn was sonst hätte er denn meinen können, als er die einzelnen Monaden ‚fensterlos’ nannte? Wenn nicht die Tatsache, daß keine einzige eine andere erreiche? Oder gar in kausale Wechselwirkung mit einer anderen treten könne?“ (ebd., S. 18)
Dass die Welt eben nicht eine ist, führt in der Folge dazu, „daß [die Monaden] aneinander vorbeiexistieren“ (ebd., S. 22). Die Einzelnen leben nicht kongruent miteinander und aufeinander bezogen, sondern verfehlen und verpassen sich. Treffend formuliert Anders dies in einem Gedicht, dessen letzte Zeilen sind: „[...] Wenn kein Ding das andre kennt, bleibt sich alles transzendent.“ (ebd., S. 20)
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So beispielsweise bei dem Gedenken an einen Verstorbenen, der durch die menschliche Vorstellung seine Verbindung zum Leben nicht verliert (siehe Kapitel 2.2).
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Von dem Problem des systemlosen Ganzen wird das Problem der Erfahrung hier diskutiert. Die partikularen Monaden, die nichts voneinander wissen, stehen somit im Gegensatz zu einer Weltvorstellung als Kommunikations- und Verständigungssystem. Wenn Erfahrung aber „Kommunikation des Menschen mit der Welt“ (Anders 1930, S. 11) bedeuten soll, so wird hier deutlich, dass Erfahrung unmöglich ist, wäre der Mensch im Ganzen ein „Schalentier[.]“ (Anders 2011, S. 16). Die Grundlage dafür, dass Erfahrung gemacht werden kann, dass etwas in Erfahrung gebracht werden kann, ist diejenige, dass Welt verständlich ist. Erfahrung ist somit ein Einholen von Welt, in dem Sinne, dass etwas von außen ins Innere gebracht werden kann. Wenn Anders hier jedoch davon ausgeht, dass Welt als gemeinsame Grundlage nur nominalistischen Wert hat, also als erfahrungswirksames Verbindungselement gar nicht existiert und auch die Monaden untereinander undurchdringliche Schalen umgibt, so ist eben auch der Erfahrung die Existenzgrundlage entzogen. Verständlichkeit ist ohne Verständigung nicht möglich. Zumal die Welt für den Menschen ja nicht selbstverständlich ist, wie Anders dies für die Tiere in seinen anthropologischen Aufsätzen diagnostiziert (vgl. Anders 1929, S. 170 f.). Schon in Kapitel 2.4 wurde deutlich, dass der Mensch auf nachträgliche Kommunikation, eben auf Verständigung, angewiesen ist. Ist davon auszugehen, dass es keine prinzipielle Verbindung der Monaden gibt, so läuft auch dieses Angewiesen-Sein ins Leere. Zwei Argumentationsstränge sind jedoch mit Anders gegen Anders hier anzuführen. So ist sowohl ein bereits Verständigt-Sein mit der Welt, als ‚Naturkondition’, wie auch die Nötigkeit von Erfahrung durch das spezifische Distanzverhältnis zur Welt im menschlichen Dasein nachzuweisen. An diesen lässt sich in folgendem Kapitel die ambivalente Stellung des Menschen in der Welt aufzeigen.
3.1.2 Fensterunbedürftigkeit und Erfahrung als spezifisch menschliches Fenster Zunächst ist anzuführen, dass Anders von einer unterschiedlichen Interpretierbarkeit von Leibniz ausgeht. So vertritt dieser zwar die Tatsache absoluter Abgeschottetheit der Monaden und beschreibt darin die Auswirkungen des Individuum-Seins. Andererseits gibt es für Leibniz auch die absolute Distanzlosigkeit der Monaden, unter anderem dadurch, dass es eben keine ‚Lücken’ zwischen diesen gibt. Damit zusammenhängend gibt es für Leibniz nichts, was nicht 36
ist. Das ganze Universum sei durchzogen von Monaden, die unmittelbar aneinanderhängen. Somit hängt doch wiederum alles mit allem zusammen und die Bewegung der einen Monade überträgt sich auf alle anderen. Fenster bedarf es hierbei freilich keine, „weil es keine durch Fenster unterbrechungsbedürftigen Wände gibt; weil sich Fenster, die eine, gewissermaßen nachträgliche, Kommunikation ermöglichen müßten, erübrigen“ (Anders 2011, S. 59)11. Die vorher beschriebene Distanziertheit soll hierbei nicht bestritten werden. Die ambivalente Stellung des Menschen zur Welt wurde jedoch verfehlt, unter anderem dadurch, dass der Erfahrung jegliche Existenzgrundlage entzogen war. Außerdem beschreibt Anders selbst eine Fenster- bzw. Erfahrungsunbedürftigkeit, welche sich aus der Naturkondition des Menschen ergibt. Untypischerweise vertritt er hier die These eines weltverbundenen und ‚natürlichen’ Menschenbildes. Die Abgeschottetheit ist aus dieser Perspektive nicht dem natürlichen Zustand der Menschen zuzurechnen, sondern erst durch kulturelle Prägungen entstanden. In den frühen Stadien menschlichen Lebens, das hierin vergleichbar wird mit dem Verhältnis von Pflanzen und Tieren, sieht er seine Argumentation bestätigt. So kann bei einem Fötus beispielsweise weder von einem In-der-Welt-Sein, noch von einem In-dividuum-Sein gesprochen werden. Vielmehr ist der Fötus ja sogar noch in seiner leiblichen Existenz gebunden an die ‚Muttermonade’. „[...] die zwei ‚Individuen’ waren eben noch ‚indivisa’, noch nicht geteilt. Nicht nur abhängig blieben wir, vielmehr hingen wir eben wirklich noch zusammen.“ (Anders 2011, S. 55). Und selbst nach der Geburt und in der Kindheit ist diese Verbundenheit selbstverständlich und erfahrungsunbedürftig da. So bedarf es weder einer verbindenden göttlichen Instanz, noch einer sprachlichen Kommunikation, um „uns durch das ‚offene Fenster’ warm und satt zu trinken“ (ebd., S. 56 f.). Eben diese Kommunikationsunbedürftigkeit lässt sich auch in der Verbindung zwischen Pflanzen und Tieren nachweisen. So stellen Pflanzen instinktiv Farben und Gerüche her, die sie weder selbst sehen noch riechen können, um Insekten anzulocken
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Durch die Verankerung seiner Theorie in der Theologie vertritt Leibniz die Vorstellung, dass eine Beziehung und Verbindung der Monaden einzig durch Gott zustande käme. Gott ist somit nicht nur die ‚erste’ Monade, aus der alles entstand, sondern dadurch auch die alles durchdringende, kontrollierende und organisierende Verbindungsinstanz. (vgl. Anders 2011, S. 54)
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und somit beide Spezies am Leben zu halten12. „Fensterlos? Noch einmal: höchstens fensterunbedürftig“ (ebd., S. 57). Für Leibniz war der Widerspruch, der sich aus der Gleichzeitigkeit von VereintSein und Eins-Sein ergibt, ein durch keine Philosophie aufzulösender Widerspruch des Seienden selbst. So verleugnet die Monadologie die Geburt und völlige Abhängigkeit der Einzelnen von Anderen. Des Weiteren sind die Monaden, einmal als Distanzierte gebrandmarkt, zu ihrer ewigen Einsamkeit verurteilt. Andererseits übersieht eine allzu harmonische Darstellung sowohl die Tatsache der Erfahrung als Antwort auf die Nötigkeit nachträglicher Kommunikation, sowie die Bedingungen des Individuum-Seins. „man sieht gewöhnlich nicht, daß, um ‚Individuum’ zu sein, jede Monade eben ‚divisa’, das heißt: abgetrennt von anderen, von diesen abgeschottet, sein muß, weil sie eben als total ‚offene’ nicht ‚eine’, nicht sie selbst, und darum auch nicht seiend, wäre“ (Anders 2011, S. 60)
Weder die Tatsache der Distanz, noch die Tatsache der Nähe, kann den Individuen somit abgesprochen werden. Eben dies zeigt den ambivalenten Stand des Menschen auf. Dass die Erfahrungsunbedürftigkeit, sowie die Erfahrungsunmöglichkeit nicht sein gesamtes Sein beschreibt, sondern dieser zudem auf Kontakt und Kommunikation nachträglich angewiesen ist. Unmittelbare Nähe bzw. Distanzlosigkeit bedarf keiner Kommunikation. Dies ist die Erkenntnis, welche sich aus den hier besprochenen Analysen ableiten lässt. „[...] nur dort, wo gegenseitige Anwesenheit nicht selbstverständlich ist, nur dort, wo es Absenzmöglichkeit gibt, wird Erfahrung zum Garanten der Anwesenheit“ (Anders 1929, S. 157). Die Erfahrung antwortet somit schon auf den Mangel der Unselbstverständlichkeit und möglichen Verfehlung von Welt. Sie ist damit nicht primär Zeugnis einer Fähigkeit, sondern Kompensation einer Unfähigkeit – der mangelnden Einbettung in die Welt. Individuen sind, insofern sie ein Abgespaltet-sein kennzeichnet, auf Kommunikation angewiesen. Erfahrungsbedürftigkeit und die Einholung
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Das spezifische Wissen, welches Anders diesem instinktiven Verhalten zuspricht, wird in Kapitel 4.2.1 näher beleuchtet.
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von Welt lassen sich nur aus der distanzierten Stellung des Menschen zur Welt erklären. Dass der Mensch es also überhaupt nötig hat zu kommunizieren ist Zeugnis dafür, dass er der Welt getrennt gegenübersteht. (vgl. ebd., S. 187 f.) „In der Tat ist Erfahrung dasjenige Fenster, durch das mehr als alle anderen Wesen die von der Welt und voneinander maximal abgeschlossenen und entrückten Monaden, d.h. die Menschen kommunizieren. (Anders 1927, S. 97)
Doch ist Kommunikation mit allen Wesen auf die gleiche Art und Weise möglich? Anders spricht sich dafür aus, dass es Abstufungen der Verständigungsmöglichkeiten gibt und Natur tatsächlich ab einem bestimmten Punkt absolut fremd und unerreichbar wird. Zunächst heißt Sich-verstehen-mit-etwas, dass ein gemeinsames Verstehen möglich ist. So beispielsweise in den gemeinsam geteilten Umwelten von Mensch und Hund, wonach der Hund ‚auf den Ton’ herbeikommt oder der Mensch instinktiv weiß, wie er den Hund zu kraulen hat, etc. (vgl. Anders 1928b, S. 52). Fremder wird die Natur, wenn sie nur noch von einem Verstehen-von-etwas begleitet wird, das schon keine Kommunikation mehr mit dem Naturwesen impliziert. Wenn das Verstehen überhaupt keinen Gegenstand mehr besitzt, der verstanden werden kann, so bleibt das Verständnis von Evidenz, welches Natur als Natur erkennt. „Das sich-Verstehen-mit, das noch Fühlung hat, nimmt bereits weitere Distanz: es wird zum puren Verstehen von etwas, ohne daß Kommunikation noch möglich wäre, oder ohne daß die Kommunikation in etwas Anderem bestünde, als in diesem Verstehen selbst: so verstehen wir das ängstliche Flattern des Schmetterlings eben evident als ängstliches Flattern, aber mit dem Schmetterling selbst können wir uns gar nicht mehr verstehen.“ (ebd., S. 54)
Schließlich verstehen wir Pflanzen bloß in ihrem Das und können dieses Das anhand von Kriterien wie Tiefe oder Fülle voneinander unterscheiden. Anzunehmen, dass aus der Möglichkeit von Erfahrung ein unmittelbarer Zugang zur Natur in ihrer großen Vielfalt erwächst, wäre somit falsch. „Was uns bei diesem [Naturwesen] noch Blick ist, ist uns bei jenem nur noch Auge“ (ebd., S. 53) und verschließt sich somit jeglicher Deutbarkeit und Erfahrbarkeit. 39
Aufgrund der Abstufungen der Kommunikationsmöglichkeiten wird deutlich, dass die Erfahrung miteinander sowohl von einem Äußern und Erkennen, wie von einem Verbergen durchzogen ist. Zwar äußert sich der Schmetterling in seiner Angst, jedoch bleibt sein Inneres relativ verborgen und der Blick des Hundes kann noch so viel aussagen, er wird stets auch fremd bleiben (vgl. ebd., S. 55). Dass die Individuen durch Fenster kommunizieren können, sich also äußern können und trotzdem für ihr Individuum-Sein auch verborgen sein müssen, soll in folgendem Kapitel näher beleuchtet werden.
3.1.3 Verbergen und Äußern als Kondition des Individuums Die Unbestimmtheit des menschlichen Wesens ist letztlich durch seine Distanz zur Welt bedingt. Wie in vorherigem Kapitel bereits angedeutet wurde und in Kapitel 4.2 noch einmal verdeutlicht wird, gilt dies nicht für die ‚erfahrungsunbedürftige’ Seite des menschlichen Seins. Diese zeugt gerade von der Verbundenheit, der unmittelbaren Nähe also Einbettung des Menschen in die Welt. Unbestimmt wäre der Mensch somit nicht in einem restlosen Entäußern seines Selbst in die Welt. Unbestimmbar ist er nur dadurch, dass er Teile seines Selbst vor der Welt verbirgt. Dieses Verbergen ist die Bedingung dafür, Individuum13 zu sein. Möglich wird das Verbergen durch die Trennung zur Welt. Als Konsequenz der Trennung ergibt sich jedoch ebenso eine Verborgenheit von Welt. In einem Wechselspiel von verbergen und äußern ist es möglich diese Trennung aufrechtzuerhalten und gleichzeitig Welt nachträglich einzuholen. Die Fenster der Erfahrung stehen sinnbildlich für die Möglichkeit der Verständlichmachung von Welt – oder wie Anders es beschreibt, als Möglichkeit der Deutung. „Die Erforderlichkeit und die Möglichkeit von Deutung sagt [dabei] ein Doppeltes aus: sowohl etwas über das zu Deutende, also über das Objekt; als auch über den Deuter, also über das Subjekt.“ (Anders 42018b, S. 468 f.) Deutung ist 13
Auch die ontologischen Untersuchungen des Individuums müssten einer sozialkritischen Analyse unterzogen werden. So bleibt hier unbeachtet, dass sich Individuation stets nur in Bezug zu bestimmten Machtstrukturen abspielt. Weshalb sich ein Individuum also auf eine bestimmte Art und Weise verbirgt oder äußert, ist von Subjektivierungsprozessen und Machtbeziehungen abhängig.
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nur dadurch möglich, dass sich die Welt äußert. Nötig ist sie, da sie sich immer auch zum Teil verbirgt. Für Anders gibt es jedoch Grenzen von dem, was gedeutet werden kann. Dies wurde in vorherigem Kapitel bereits mit den Abstufungen der Kommunikationsmöglichkeiten angedeutet. An anderer Stelle geht Anders davon aus, dass sich nur Lebendiges äußern, und somit auch deuten lassen kann. Der Mond lasse sich beispielsweise nicht deuten (vgl. ebd., S. 469). Deutung umfasst also zweierlei: Einerseits bedarf es etwas Lebendiges, das sich deutlich machen kann und durch seine Äußerungen auch tut. Gerade deshalb sperrt sich der Mond jeglicher Deutung, eben da er sich nicht äußern kann14. Auf der anderen Seite muss es ein Subjekt geben, das fähig ist zu deuten. Da Welt für den Menschen, wie aufgezeigt wurde, nicht selbstverständlich da ist, ist dieser nicht nur fähig die Welt zu deuten, sondern sogar darauf angewiesen. „Die Fähigkeit ist die Antwort auf die Nötigkeit – womit ich sage, daß kein lebendiges Leben in einer total abgedunkelten Welt auch ‚nur ein Nu lang’ leben könnte“ (ebd., S. 470). Äußerungen sind Verständigungsformen von Lebendigem, das, ohne eine Verbindung mit Anderem einzugehen, nicht überleben könnte. Diese Äußerung muss an sich schon das Deutungsvermögen des Anderen mitantizipieren. Wäre dies nicht der Fall, würde die Äußerung ins Leere laufen und keine Verständigung erfahren. Es ist somit davon auszugehen, dass bereits die Äußerungen der Individuen Deutbarkeit implizieren und sogar gedeutet werden wollen. Individuen sind also darauf aus, ihr Verborgenes zu entbergen. Äußerungen sind jedoch nicht so deutlich, dass all ihre Deutungsmöglichkeiten dem Sich-Äußernden bereits bekannt wären. Wie eine bestimmte Äußerung gedeutet werden kann, ist zunächst unbestimmt. Wären diese völlig transparent, also eindeutig, wäre letztlich auch jegliche Deutung überflüssig. Eine Äußerung würde das Sein des sich-Äußernden direkt offenlegen. Jedoch muss sie, damit das Deuten überhaupt relevant wird, auch eine bestimmte Transparenz aufweisen (vgl. ebd., S. 471). 14
Zwar könnte ebenso argumentiert werden, dass sich der Mond unendlich deuten lässt, da er eben jenen Deutungsraum leer lässt, in welchem sich die menschliche Vorstellung ins Unendliche ausbreiten kann. Der Deutungsbegriff, welchen Anders hier verwendet, meint jedoch ein tatsächliches deutlich-machen. Und das Sein des Mondes, letztlich der Natur angehörig, wird durch das künstliche hierhin und dorthin Ausdeuten des Menschen nicht deutlicher.
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Umgekehrt zeigt sich, dass auch das Verbergen Teil des Individuum-Seins sein muss. So würde sich Deutung überflüssig machen, gäbe es nichts Verborgenes mehr. Deutung ist nur dann nötig, wenn es etwas gibt, das sich in sich versteckt. Die Wände des Individuums einzureißen, sodass es nur noch in einem Außen bestünde, würde bedeuten, das Individuum selbst zu zerstören. „Verborgensein ist wahrscheinlich die conditio sine qua non individuellen Seins. [...] Wahrheit wird verhindert durch das Individuumsein. Gelänge es uns, in das (individuierte) Seiende einzudringen, dann würden wir es de-individuieren, also vernichten.“ (Anders 42018b, S. 470)
Bereits das Eindringen stellt eine De-Individuation da, weil das Individuum selbst in seinem Verborgen-Sein besteht15. Wahrheit gibt es dadurch, wie Anders hier anmerkt, nicht aufzudecken. Sie ist zwar im Individuum-Sein verborgen, hat jedoch ihr Sein nur durch jenes Verborgen-Sein und wird mit der ‚Aufdeckung’ des Individuums mitvernichtet. Die bisherigen Ausführungen befassten sich mit der Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung beziehungsweise auf die spezifisch menschliche Weltstellung gerichtet, den Bedingungen der Nötigkeit von Erfahrung. Dabei konnte aufgezeigt werden, dass sich Individuen, um zu erfahren, zwar äußern müssen. Ihr Sein jedoch ebenso davon abhängig ist, dass sie sich verbergen. Verborgenes ist distanziert, wohingegen das Äußern sich annähert – Individuen stehen gerade deshalb zwischen Distanz und Nähe. In folgendem Kapitel soll nun der Fokus auf die Praxis der Erfahrung gerichtet werden. So reicht ja die Tatsache von Fenstern zur Kommunikation nicht aus, gäbe es niemanden, der durch sie hindurchsieht. Das Sehen als Praxis der Erfahrung erweist sich als Art und Weise menschlicher Erfahrung schlechthin.
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Interessant wäre es an dieser Stelle eine Analyse der Scham anzusetzen, die ja gerade von dem Wechselspiel des Verbergens und Entbergens ausgemacht wird (vgl. Anders 1936/37, S. 56 ff.).
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3.2
Sehen als Praxis16 der Erfahrung
Die spezifisch menschliche Erfahrung soll hier über das Phänomen des Sehens näher analysiert werden. „Der in der traditionellen Philosophie, speziell der Erkenntnistheorie, vorherrschende Erkenntnisbegriff war – am Vorbild des Sehens gestiftet – schließlich nichts anderes gewesen als der Begriff des Sehens selbst“ (Anders 1928b, S. 49). Wird das Sehen als Praxis in den Blick genommen, so lässt dies auch den Charakter der Erfahrung erkennen. Zwischen dem Aussehen bzw. dem Ausdruck von Welt und der menschlichen Praxis des Sehens erfährt der Mensch die Welt. Sehen als Praxis ist nicht nur passives Empfangen von Eindrücken und Wahrnehmungen, sondern muss als aktive Form der Weltgestaltung verstanden werden. Dieser Gedanke ist ebenso in der negativen Anthropologie von Günther Anders aufzufinden. Hierbei findet der Mensch die Welt nicht nur jeweils historisch oder kulturell vor. Er ist darauf angewiesen, die Welt durch Erfahrung einzuholen. In diese Einholung bringt er sich selbst ein, verändert und gestaltet die Welt nach seinen Bedürfnissen. (vgl. Clemens 1996, S. 51) Für den Menschen existiert keine vorgesehene Welt, er muss sie selbst sehen, um sie als seine zu erkennen. Die prinzipielle Distanz zwischen Mensch und Welt, die der Mensch im Sehen potenziell überwinden kann, verbürgt die Freiheit des Menschen von einer ihm zwingend auffindbaren Welt (vgl. Anders 1930, S. 21). Da die Welt nicht einfach Bestandscharakter hat, sondern gestaltet werden kann, so kann von der Welt nur im Sinne einer sich verändernden Welt gesprochen werden. Wenn der Mensch, um seine Welt herzustellen, selbst ‚nachsehen’ muss, so ist prinzipiell die Tatsache unterstellt, dass die Welt nicht nur irgendwie, sondern eben ganz speziell sichtbar ist. Dies nimmt Anders als Ausgangspunkt seiner ontologischen Überlegungen (vgl. Anders 1928b, S. 22). Die Welt zeigt sich und gibt sich in ihrem Aussehen preis. Sie wird dann auch theoretisch Einholbar–der 16
Anders macht deutlich, dass Tiere im Vergleich zum Menschen nicht nur keine Theorie haben, sondern auch keine Praxis (vgl. Anders 1930, S. 376 Anm. 18). Die Praxis des Tieres ist zwar auch ein Schaffen, jedoch schafft das Tier nichts Neues, sondern seine vorherbestimmte Welt. Der Mensch schafft und praktiziert frei und nimmt die Welt als „pures Material“ (ebd.).
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altgriechische Begriff θεωρíα (theoria) steht für jenes Schauen, jenes Nachsehen, das der Mensch leistet, um Welt zu erkennen. Die Möglichkeit dieses Schauens als Sichtbarmachung bringt es mit, in immer neue Welten einzutauchen17. So lässt sich auch das Phänomen des ‚Staunens’ erklären, zeugt es doch gerade davon, dass Welt nicht einfach vorgewusst, sondern erst nachträglich erfahren wird. Sogar so nachträglich, dass es nicht einmal im Horizont des Erwartbaren liegt und der Mensch über das staunt, was sich ihm im (Nach-)Sehen offenbart (vgl. Anders 1929, S. 185). Ebenso muss jedoch gefragt werden: „[W]as bedeutet es für die Welt so zu sein, daß sie obwohl sichtbar, dennoch in gewissem Sinne versteckt bleibt? [...] weil es so etwas wie Undeutlichkeit der sichtbaren Welt gibt, ist das Faktum Wissenschaft überhaupt nur motiviert und verständlich.“ (Anders 1928b, S. 19)
Wäre die Welt eindeutig einsehbar, bedürfte es also keiner Wissenschaft, keiner θεωρíα, keiner Einsicht in die Dinge, eben keiner Praxis des Sehens. Gerade die Undeutlichkeit muss in eine Theorie des Sehens mit einbezogen werden und ist kein ausgrenzbarer Bereich. Ebenso wie dem Individuum, wie in Kapitel 3.1.3 aufgezeigt wurde, müssen der Welt Deutbarkeitsräume zugestanden werden, um ihrer Veränderbarkeit gerecht zu werden. Das Verborgene muss einer Welt zugerechnet werden, denn wäre sie gänzlich entborgen, wäre sie als (gegenüberständliche) Welt ausgelöscht. Welt wäre gänzlich Umwelt geworden und lediglich Substrat menschlicher Erkenntnis – damit ebenso nutzbar, wie kontrollierbar. Vielmehr, so wird im Laufe des Kapitels argumentiert, ist die Beziehung des Menschen zur Welt eine flüchtige und paradoxe Beziehung, die sich nie ganz deutlich macht: „Eine solche Weltbeziehung (wie sie diese Beziehung zur Natur repräsentiert) ist in der Tat eine spezifische: sie ist durch pure Negation von Umweltbeziehungen nicht zu definieren. Ihre paradoxen Charaktere: Wiederholung (das heißt: Zeitindifferenz in der Zeit, trotz Zeit), gewohnte Ferne, ferne Nähe, oder wie sie auch immer formuliert werden mögen, verlieren vollends ihren rein negativen 17
Plessner sieht dies im Wechselspiel von Finden und Erfinden, wonach der Mensch aufgrund der Materialität von Welt, die er vorfindet, schließlich Neues erfindet. (vgl. Plessner 1982, S. 30 f.)
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Sinn, wenn sie nicht nur als theoretische, sondern als ontologische Beziehungen genommen werden: als die Beziehungen derer, die sich zwar immer wieder einen Blick zuwerfen, letzten Endes aber aneinander vorbeigehen.“ (Anders 1928b, S. 66)
Das Undeutliche, das Fremde und das Verborgene müssen einer Welt zuerkannt werden, insofern ihr stets ein nicht sichtbarer Eigensinn innewohnt. Die Welt ist stets mehr als man sieht und das Sehen selbst ist bereits nur eine Art und Weise der Kommunikation mit der Welt – ihm liegt bereits ein ‚Als’ zugrunde (vgl. Anders 1928b, S. 16). Wenn Sehen als Praxis der Erfahrung verstanden werden soll, so muss doch zunächst die Kategorie der Sichtbarkeit analysiert werden. Was ist Sichtbarkeit und in welchem Verhältnis steht die sichtbare Welt zum sehenden Menschen? In die Sichtbarkeit begibt sich sowohl das sehende Subjekt, wie auch das zu sehende Subjekt bzw. Objekt. Die Welt als Sichtbare lässt Rückschlüsse zu auf die menschliche Praxis des Sehens. Anschließend wird die Undeutlichkeit des Sichtbaren als Teil der Andersschen Anthropologie betrachtet.
3.2.1 Sichtbarkeit als Kommunikation in der Mitwelt18 Von besonderer Wichtigkeit ist für Anders, dass Sichtbarkeit immer auch Kommunikation bedeutet. Sie ist eine Form des Füreinander-Seins. Wenn das Sichtbare sich sichtbar macht, so, dass es von etwas oder jemandem gesehen werden kann. Das Sichtbare erscheint, um erkannt zu werden (vgl. Anders 1928b, S. 23). Dies ist die ontologische These von Anders, welche es zu untersuchen gilt. Sichtbarkeit ist an sich schon ein mediales Phänomen, insofern es auf eine Gegenseitigkeit verweist. Sie ist weder bloß am Zu-Sehenden festzumachen, noch am Sehenden selbst. Sichtbarkeit hat nur einen Sinn in einem Mensch-Welt-Verhältnis, das sich gegenseitig bedingt. Sichtbarkeit beschreibt somit die einander zugewandte Seite
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Als Mitwelt versteht Anders die Welt der Mitmenschen. Deutlich zu trennen ist diese von der Umwelt und der Naturwelt dadurch, dass der Mensch in ihr Erfahrung mit Subjekten macht oder, wie im Beispiel des Auges, Erfahrungen eines Zugleichs von Subjekt und Objekt (vgl. Anders o. A., S. 313 f.)
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menschlicher Seh- und Erfahrungspraxis. Wäre der Mensch als Monade zu definieren, so würde auch das Phänomen der Sichtbarkeit seine Bedeutung verlieren (vgl. ebd., S. 25). Weder gäbe es eine Nötigkeit der Sichtbarkeit füreinander, noch die Möglichkeit der Einsicht in die Welt bzw. den Anderen (siehe Kapitel 3.1.1). Im Bereich des Zwischenmenschlichen (der Mitwelt) wird der Aspekt der Gegenseitigkeit noch deutlicher. Sichtbarkeit ist nicht nur aus der Perspektive des sehenden Subjektes zu betrachten, sondern auch immer Teil des sich-sehen-lassenden Subjekts. In diesem Sinne gibt sich das gesehene Subjekt hin, lässt sich vom Anderen sehen und bildet eine sichtbare Außenschicht. Anders führt hierbei den Begriff der Äußerung an, um dies zu verdeutlichen. Das Äußere einer Person ist nicht einfach eine Grenze, welche die Welt vom Inneren trennt, sondern immer schon medial. Es ist durchlässig und vermittelnd. So wird aus Sicht der Person das Innere durch Äußerungen nach außen getragen. Diese Äußerungen verdichten sich zu sichtbaren Schichten, wie beispielsweise einem wütenden Ausdruck. Sichtbarkeit spielt sich hierbei also in Schichten ab. Insofern ist auch das Kennenlernen des Anderen ein Sehen seiner Tiefenschichten und kein bloßes Anhäufen von Wissen über eine Person oder dessen unmittelbare Wahrnehmung. Deshalb kann sich durch ein tiefes Kennen einer Person hinter dem wütenden Gesichtsausdruck Güte und Wohlwollen zeigen, welche oberflächlich unerkannt bleiben. Gerade die Betonung der Gegenseitigkeit der Sichtbarkeit zeigt jedoch auf, dass es auch eine Form der Entäußerung der eigenen Tiefenschichten bedarf, um ein tiefes Kennenlernen zu ermöglichen (vgl. ebd., S. 21). Den anderen zu sehen ist nur dadurch möglich, dass dieser sich äußert und dieses außen sichtbar werden lässt. Seinem moralischen Keuschheitsgebot bleibt Anders jedoch auch in dieser Linie treu19. Keinesfalls lässt sich aus seiner Perspektive das Außen einer Person lediglich als Hindernis eines Zugangs zum wahren Inneren deuten. Ontologisch
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Anders konstatiert für seine anthropologischen Überlegungen, dass sie die Bedingungen von Moralität erhellen wollen, selbst jedoch vor-moralisch sind (vgl. Anders 1929, S. 140; Anders 1930, S. 16 f.; Anders 1940/41, S. 169). Ob sich jedoch überhaupt aus einer moralisch-kontingenten und letztlich von Machtstrukturen durchwobenen Gesellschaft auf eine apriorische Wesenhaftigkeit schließen lässt, bleibt zumindest aus sozialwissenschaftlicher Perspektive fraglich (siehe Fußnote 1)
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gilt es nicht zu untersuchen, wie möglichst viele Tiefenschichten einer Person freigelegt bzw. nach außen getragen werden können, sondern die Bedeutung des Außen selbst für eine Person darzulegen. Somit ist weder dem Außen noch dem Innen einer Person das Primat zu geben, sie müssen beide als wesenhafte Bestandteile betrachtet werden (vgl. ebd., S. 32 f.). Das Außen einer Person bildet keine starre Grenze, sondern konstituiert sich primär als Äußerung, d.h. in der Bewegung des Sich-äußerns. So kommt es, dass sich zwischenmenschliches Erleben nicht an körperlichen Grenzen abspielt, sondern an Äußerungen. Beispiele hierfür sind Reden20 oder eine außer-sich-geratene Person (vgl. ebd., S. 34 f.). Das Außen als Zwischenschicht zu betrachten und nicht als körperliche oder gar geistige Grenze führt hier zu einem ontologischen Verständnis menschlicher Erfahrung. Dass der Mensch vor allem in einer Zwischenschicht erkennt und erfährt, vermag Anders am Beispiel des Blicks verdeutlichen. So wird das Auge einer anderen Person niemals nur als Ding oder Grenze erfahren, sondern immer schon als Blick. Dieser Blick lässt zwar genauso wenig direkte Einsichten in das Innerste einer Person zu. Dennoch ist es möglich, jemandem tief in die Augen zu sehen. In diesem Blick offenbart sich somit nicht bloß eine äußere Fläche, sondern die Person selbst in ihrer Äußerung, in ihrem Blick. Der Blick ist jedoch weder ein zu objektivierendes Ding, noch eine Grenze von Außen- zu Innenwelt, sondern die Person in ihrer Zwischenschicht. Zwischenmenschliche Erfahrungen spielen sich in diesen Zwischenschichten ab. So ist der Blick als Zwischenschicht das sichtbare und eben auch kommunizierende der Person. (vgl. ebd., S. 38 f.) Deutlich wird hierbei wiederum, dass Erfahrungen von einem Distanzverhältnis bestimmt sind. Eine Äußerung „gelangt nicht wahrhaft nach draußen, sondern bildet, obwohl geäußert, die eigentümliche Zwischenschicht ‚Außen’“ (ebd., S. 35). Die Wut einer Person wird nicht unmittelbar, sondern über den Blick geäußert. So macht auch der Blickende Erfahrungen nur über seine Zwischenschicht und nur mit der Zwischenschicht des Anderen.
20
Nicht ungewöhnlich ist, dass Anders auch das Reden hier mit einbezieht, ist dies für ihn nichts anderes als akustische Sichtbarkeit. So führen auch akustische Äußerungen zu einem Erkennen, also der Sichtbarkeit einer Person (vgl. Anders 1928b, S. 34 f.).
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Unmöglich ist es beispielsweise Erfahrungen zu machen mit dem unmittelbaren Schmerz des Anderen. Vielmehr macht der Blickende Erfahrungen mit den Äußerungen des Anderen aufgrund seines Schmerzes. Nur dadurch lässt er sich nachfühlen, nur dadurch wird er selbst erfahrbar und verständlich. Die Erfahrung in Zwischenschichten ist eine Erfahrung in Distanz. Kein Inneres vermag es unmittelbar und ohne Äußerung nach Draußen zu gelangen. Der Mensch lebt vielmehr in seinen Äußerungen und, so muss ergänzt werden, in seinen Innerungen. Ein wütender Blick wirkt auf die Zwischenschicht, auf das Außen der angeblickten Person und hierüber auch in ihr Inneres. In der Sichtbarkeit zeigt sich der Charakter menschlicher Erfahrung erneut. Sie ist gleichzeitig gekennzeichnet durch ein bestimmtes Distanzverhältnis zwischen Außen und Innen, sowie der Möglichkeit der Sichtbarmachung füreinander. Wie sich in diesem Innen-Außen-Verhältnis Undeutlichkeit realisiert und wieso diese zur menschlichen Erfahrung ontologisch zugehörig ist, wird in Kapitel 3.2.3 beleuchtet. Zunächst stellt sich jedoch außerhalb der zwischenmenschlichen Erfahrung die Frage der Sichtbarkeit neu. Sehen wir auch der Welt tief in die Augen? Machen wir auch hier Erfahrungen mit Zwischenschichten, mit dem was die Welt äußert und somit sichtbar werden lässt? Was bedeutet es für den Menschen, dass die Welt sich in einer „distanzierte[n] Gegebenheit“ (Anders 1930, S. 19) zu ihm befindet?
3.2.2 Sichtbarkeit und Fremdheit der Naturwelt Zunächst ist festzustellen, dass auch die Welt als Naturwelt in gewisser Weise sichtbar ist. Auch sie drückt sich aus, jedoch in anderer Weise als der Mensch. Nach Anders ist die optische Erkenntnis das Modell menschlicher Erkenntnis schlechthin. In dieser optischen Erkenntnis ist die Welt gegenüberständlich, es ergibt sich eine klare Distanziertheit zwischen Betrachter und Objekt (vgl. Anders 1928b, S. 90). Die Welt ist dort, der Sehende hier. Einen solchen Distanzakt bringt vor allem die Erfahrung von Welt über das Sehen hervor. Für die anderen Sinne ist die Welt kein Gegenüber. Das Sehen abstrahiert die Qualitäten der Dinge von ihrem Träger – so beispielsweise die Farbe Gelb, die nun als Qualität an sich überall auftreten kann. Der Geschmack eines rohen Eis hingegen kann nun weniger mit objektiven Qualitäten wie süß, salzig, etc. beschrieben 48
werden, „es schmeckt lediglich ‚eiig’“ (ebd., S. 51). Qualitäten also, die weniger abstrahierbar sind, bleiben auch symptomatisch untrennbare Qualitäten der Dinge selbst. Das Sehen des Menschen ist dabei gekennzeichnet durch einen spezifischen Mangel, es übersieht die Eigenarten der Dinge und neutralisiert sie – „Fremdes und Eigenes, Fernes, Nahes, Gemachtes, Gewordenes, schließlich Natur und nicht-Natur [...]. Selbst der eigene Leib sieht aus wie ein fremdes Ding“ (ebd., S. 50). Da sich das Sehen so sehr distanziert, so viele Qualitäten und Eigenheiten der Dinge übersieht, kann es nicht mehr in unmittelbare Kommunikation mit den Dingen treten. Es trifft nur noch in der Ferne. Die anderen Sinne sind kommunikativer – das Gerochene ist nie dort, sondern es riecht jeweils hier (vgl. Anders 1930, S. 19). Dennoch ist das Distanzverhältnis des Sehens nicht radikal und Anders argumentiert dafür, in dem sichtbar neutralen Ausdruck von Welt eine Bedingtheit und Verbundenheit des Menschen mitauszumachen. Anfänglich soll jedoch aufgezeigt werden, welches Problem Anders in der bisherigen Beschäftigung mit dem Ausdruck von Welt sieht: „Man konnte es sich eben nicht erklären, bzw. man glaubte, man müßte es erklären, warum auch die Welt ein Gesicht habe: man fälschte das Phänomen, indem man dem neutral ausdruckshaft Aussehenden ein ausdrückendes Subjekt unterschob, dessen Äußerung nun dieser Ausdruck sein sollte. Man gab vor, sich nunmehr mit dem Ausdrückenden zu identifizieren. Man legte etwas hinein, um zu wissen, weshalb man etwas heraussehen könnte. Daß das ‚Wie’ durch diese ‚Warum’-Frage gefälscht wurde, übersah man.“ (Anders 1928b, S. 96)
‚Das Wetter ist heiter’, ‚die Sonne scheint unbarmherzig’, ‚das wütende Meer’, ‚die Trauerweide’, etc.–auch in der Alltagssprache finden sich zahlreiche Beispiele, in denen der Welt ein Subjekt unterstellt wird. Ist die Welt jedoch erst einmal subjekthaft, so besitzt sie auch einen Willen, Intentionen und Gefühle. Nur so wird verständlich, wie die ‚Wut’ des Meeres zurückgeführt werden kann auf moralische Verwerfungen des Menschen. Gerade hiergegen argumentiert Anders jedoch. Der Welt wird eine falsche Verständlichkeit unterstellt, und die Erkenntnis, welche die Welt als Fremde verstehen wollte, lässt letztlich nur das Selbst erkennen. Das Treffen von Welt steht hier 49
vor dem Problem, dass die Welt, sobald getroffen, schon als die Andere ausgelöscht ist: „Denn wo man bleibt, stirbt die Natur. [...] Darum wandert das Wandern. Sieht es auch wenig, so sieht es Natur; sieht es mehr, so ist es schon eine Sehenswürdigkeit, und der Name des Beschauers wächst in die Rinde der stärksten Eiche“ (ebd., S. 61). Der Wanderer steht hier symbolisch für die Naturerkenntnis. Sobald sie bei der Natur verweilt, um sich mit ihr vertraut zu machen, wird Natur zur Umwelt. Das Vertraute wird zum Eigenen und so überträgt sich das Subjekt in die fremde Welt, deren Ausdruck nun auf die Künstlichkeit des Subjekts verweist. Deshalb kann sich die ‚Wie’-Frage nach dem weltlichen Aussehen nicht in eine ‚Warum’-Frage überführen lassen. Für Anders gibt es keinen Grund für weltliches Aussehen, der außerhalb ihrer Natürlichkeit liegt. Die Künstlichkeit, welche Natur des Menschen ist, ist kein Bestandteil weltlichen Ausdrucks. Doch ist es damit unmöglich, mit der Welt Erfahrungen zu machen bzw. Erkenntnis über die Welt zu gewinnen, wenn sich hinter dem wütenden Meer keine Güte oder Ähnliches zeigt? Wenn selbst die Wut nur fälschlicherweise als Wut erkannt wurde? Obwohl die Welt sich nicht subjekthaft ausdrückt, gilt, daß das Gesehene eben nicht als draußenstehender Gegenstand mich nur als erfassenden Ichpol eines Aktes benötige, sondern daß es seiner Qualität nach jeweils zugehöre zu meinem (weit über den Leibhorizont herausreichenden) Ich-Bereich, den es zuständlich jeweils mitausmacht.“ (ebd., S. 99)
Mit gutem Grund kann angenommen werden, dass Anders hierbei einen Nachweis für die Welt als erfahrungsunbedürftigem Bereich des Menschen erbringt. So ist die Welt hier keiner permanenten Verobjektivierung unterzogen und wird als Umstand, als Umgebung, mitgewusst. Ein Umstand, der den eigenen Zustand mitausmacht. Der Leib beispielsweise erlebt sich nicht primär selbst und erst nachträglich den Raum, in dem er sich befindet. Vielmehr gibt es nur ein Erleben des Leibes im Raum, so z.B. auf dem Bett liegend oder unter der Decke kauernd. Das Erleben von Welt ist also in diesem Sinne überhaupt kein Objekthaftes. Welt gehört vielmehr in diesen Beispielen zum Ich-Bereich, der nach Anders weit über den Leibhorizont hinausreicht. Im Beispiel des Wanderers, ist die Landschaft, welche 50
ihn begleitet, weder wütend oder glücklich, noch ist sie bloßer Gegenüberstand. Vielmehr macht sie den Ich-Bereich des Wanderers mit aus, wäre er ohne sie doch überhaupt kein Wanderer. In diesem inhaltlich neutralen Umstand befindet sich der Zustand des Menschen, der diesen nicht isoliert wahrnimmt, sondern nur innerhalb des Umstandes (vgl. ebd., S. 99 f.). Das Verhältnis des Menschen mit der Welt als Umstand, die zu seinem IchBereich dazugehört und erfahrungsunbedürftig ist, ist gekennzeichnet durch eine subjekt-objekt, wie durch eine inhaltlich-formale Neutralität. Die Welt ist weder eigenständiges Subjekt, noch bereits verobjektiviert. Außerdem wird sie weder bloß als leere Form wahrgenommen, noch bereits durch einen bestimmten Inhalt definiert. Der Wanderer nimmt die Landschaft zwar schon als etwas wahr, jedoch nicht als etwas Bestimmtes oder Gegenständliches. Ihm ist die Landschaft weder nur fremd, noch nur gegenständlich, obwohl sie ihn umgibt: „Denn in der Tat findet die geradezu paradox kombinierte Beziehung (von uns zur Natur, von Natur zu uns): die Kombination von grundsätzlicher Nähe und Ferne, Vertrautheit und Befremdung, in jenem Aussehen (bzw. in dessen Einheit von Unbegrifflichkeit und dennoch vielsagendem und greifbarem Ausdruck) ihr vollkommenes Gegenbild.“ (Anders 1928b, S. 63)
Der Wanderer lässt die Landschaft an sich vorbeiziehen, ohne sich mit ihr als Objekt vertraut zu machen. Die Erfahrung mit Natur resultiert nicht in einer restlosen Erkenntnis dieser, sondern verbleibt in einer Sphäre des Vertraut-unvertrauten. Hierin sinkt Natur nie ab in den Bereich der Umwelt. Gegenständlich wird Natur beziehungsweise Welt erst dann, wenn etwas aus dem neutralen Umstand von Welt auffällig wird: „Der uns umgebende Umstand, der in seinem stimmungsmäßigen und anschaulichen Ausdruck eindeutig [nicht eindeutig im logischen Sinne, sondern vielmehr selbstverständlich] ist, hebt erst einmal die ihm zukommenden Gegenstände in sich auf. Dennoch gehen diese nicht völlig im Umstand unter. Sind sie zwar nicht dauernd selbst als „ein...“, als dieses oder jenes Bedeutende angesprochen, so bieten sie sich doch, als physiognomische Einheiten, einem solchen, nur sie betreffenden Ansprechen an. [...] innerhalb eines bekannten Milieus mit seinem bestimmten Gesamt-Ausdruck fällt einem
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ein fremder Gegenstand auf (nicht weil er bereits „ein...“ ist, sondern) als Ausdruckseinheit; und als solcher wird er nun erst zum Gegenstand möglicher Ansprechung.“ (ebd., S. 93)
Gerade in diesem Auffällig-werden wird es möglich, etwas-als-etwas anzusprechen und somit zum Gegenstand zu machen. Etwas fällt heraus aus der Welt als neutralem, erfahrungsunbedürftigen Umstand, wie sie gewöhnlich für den Menschen da ist. Für Anders besteht grundsätzlich die ständige Möglichkeit der Ansprechung eines Einzelnen im Umstand. Realisiert wird diese Ansprechung jedoch erst, wenn das Einzelne selbst eine Ausdruckseinheit bildet und nicht mehr im Gesamtausdruck des Umstandes untergeht. In der prinzipiellen Möglichkeit der Auffälligkeit ist nun auch die Erfahrung bzw. Erkenntnis zu verorten. Etwas ist nicht mehr im erfahrungsunbedürftigen Umstand aufgehoben, sondern wird als etwas Eigenes erkannt. (vgl. Anders 1929, S. 190) Anders zufolge trifft die Möglichkeit der Erkenntnis jedoch nur einseitig die grundsätzliche Doppelweltlichkeit des Menschen. So resultiert aus seiner natürlichen Künstlichkeit: „Nur was nicht nur Natur ist, findet Natur“ (Anders 1930, S. 20). Das Naturwesen, insofern es selbst in die Natur eingebettet ist, trifft nur sich-selbst, eben seine Welt. Etwas als Natur zu treffen, dass Natur überhaupt als Natur auffällig wird, bedarf schon einer Abgeschiedenheit von dieser. Um überhaupt auf etwas blicken zu können, muss von einem Standpunkt geblickt werden, der sich außerhalb des Angeblickten befindet. Jedoch gehört auch ein bestimmtes Bewegungsverhältnis zum Treffen von Natur dazu. Der Mensch in seiner Doppelweltlichkeit, der stets zur-Welt zurückkommt und sich wieder verabschiedet, trifft Natur. Kein Wesen, das nie aus der Natur herausgeht und kein Wesen, das nie in Natur sein kann, trifft sie. Sie ist in der Bewegung von Distanz und Nähe anzutreffen. Nur der Mensch kann so überhaupt Erfahrung mit der Natur machen (vgl. Anders 1928b, S. 58 f.). Hieraus lässt sich verstehen, dass Erfahrungen nur mit dem gemacht werden, das nicht selbstverständlich ist. Aufgrund der Doppelweltlichkeit des Menschen kann jedoch alles aus dieser Selbstverständlichkeit herausfallen. Sowohl Natur, als auch Kultur sind ihm mögliche Erfahrungswelten. Die Bedingung dafür, diese zu treffen, ist sie in Freiheit, in der Bewegung beziehungsweise in einem Spannungsverhältnis zu treffen. Da der Mensch prinzipiell in einem solchen Spannungsverhältnis lebt, ist es ihm auch möglich dieses in der Welt aufrechtzuerhalten. 52
„Wer aber frei geben kann, kann auch nicht Freigegebenes für frei nehmen. Was Gestus einer einzelnen Verzichthandlung war, kann totale Einstellung und Stellung zur Welt sein. Der Mensch kann Welt als Natur meinen, als Natur treffen: sein in Freiheit reduzierter Anspruch erschließt ihm Horizonte, von deren Existenz die nur habelustige Natur nichts vermutet: die Natur.“ (ebd., S. 70)
Das Naturwesen ahnt nichts von seiner Welt, ist es doch selbstverständlich in sie eingebettet. Die Welt als Natur zu treffen, Naturerfahrungen zu machen, ist an sich durch ein paradoxes Verhältnis bestimmt – ist die Natur doch durch eine Fremdheit gekennzeichnet, die in der Erfahrung verschwindet. Dadurch, dass der Mensch jedoch Getroffenes wieder frei geben kann, durch die Fähigkeit des Abschiednehmens also, welche aus seiner prinzipiellen Einsamkeit resultiert, wird es ihm möglich, Natur als die Fremde zu treffen. Aufgrund dieser Zwischenweltlichkeit kann der Mensch Natur meinen ohne sie haben zu müssen – er kann sein Meinen, sein Treffen, seine Erfahrung entkoppeln von dem Anspruch besitzen zu müssen. „Wie die private Erinnerung die Stiftung des ‚objektiven’ Reiches ‚Geschichte’ ermöglicht, so ermöglicht der private Verzicht das Meinen des Reiches Natur. Die Bedingung des theoretischen ist eine sittliche: die Freiheit.“ (ebd.)
Nicht dadurch, dass es ihm möglich ist, sich selbst zu bestimmen, ist der Mensch frei, sondern dadurch, dass er nicht bestimmen muss – sich, den Anderen, die Natur. Deutlich wird nun, dass mit der Erfahrung von Natur eine gänzlich andere Erfahrung beschrieben ist, wie sie in der Verobjektivierung von Welt geschieht. Gegenstände, welcher in Distanz getroffen werden, sind in ihrem Ausdruck zunächst inhaltlich uneindeutig. So ist das fremde Gewürz oder das unbekannte Instrument in ihrer Auffälligkeit gerade dadurch gekennzeichnet, dass es erfahrungsbedürftig und noch unbestimmt ist. Der sich bewegende Schatten, der aus dem gesehenen Umfeld auffällt, ist ja gerade deshalb unheimlich, da er so undeutlich und unbestimmt ist. Potenzielle Umweltgegenstände verlieren nun in der Intimisierung bzw. Bekanntmachung ihre weltliche Neutralität. Anders verhält es sich mit der fremden Natur. Obwohl man sich an sie gewöhnen kann, wird man nie wirklich vertraut mit ihr sein21. 21
So beispielsweise mit dem Fisch, der an sich schon fremd ist, da er niemals in seinem Blick erfasst werden kann (vgl. Anders 1928b, S. 53)
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Die Natur treffe ‚ich’ „in jedem Querschnitt, in jedem Augenblicke meines Dauerblickes neu an“ (ebd., S. 65). So kann die Natur zwar stets gesehen, jedoch nie gänzlich gehabt werden. Sie ist zwar in der Nähe, entzieht sich jedoch dem Zugriff des Erkennenwollens. Wo nun eine Leerstelle entsteht durch den stetigen Entzug von Vertrautheit der Natur, wird häufig ein sich ausdrückendes Subjekt unterstellt. Doch auch wenn der Schatten des sich im Wind bewegenden Astes unheimlich aussieht, so drückt er selbst diese Unheimlichkeit nicht aus. Er ist vielmehr deshalb unheimlich, da er stets fremd und unergründlich bleibt. Die Natur bleibt, auch wenn sie aus einem Gesamtumstand auffällt, subjekt-objekt, sowie formal-inhaltlich neutral (vgl. ebd., S. 96). Wenn allerdings kein sich ausdrückendes Subjekt von Welt besteht, so wirkt sich dies auch auf die Erfahrung des Menschen mit der Welt aus. Nur dadurch, dass die Welt sich formal-inhaltlich neutral ausdrückt, kann die Fähigkeit des Sehens zur Praxis der Weltgestaltung werden. Die spezifische Neutralität der Welt lässt Platz für die menschliche Vorstellung. Wäre sie durch ein Weltensubjekt inhaltlich bestimmt und würde dieses sich eindeutig ausdrücken, so wäre jegliche menschliche Interpretation hinfällig. Gerade in der inhaltlichen Unbestimmtheit macht der Mensch Erfahrungen im Möglichen und Unfertigen (vgl. ebd., S. 40). Dies ist jedoch bereits Teil des Mensch-Welt-Verhältnisses und der Makel, jeweils nur im Möglichen zu verbleiben, ist ein ontologischer Makel. Die Undeutlichkeit in der menschlichen Erfahrung, welche nun stärker in den Blick geraten ist, soll näher betrachtet werden.
3.2.3 Undeutlichkeit als Teil der Sichtbarkeit Durch ihre inhaltliche Neutralität ist die Welt undeutlich. Sie verweigert sich einer eindeutigen Bestimmbarkeit, aber ist als Umstand des Menschen konstituierend für seinen eigenen Zustand. Die Undeutlichkeit ist also kein Indiz dafür, dass es kein Verhältnis zwischen Mensch und Welt gibt: „Die Welt, die nicht als etwas angesprochen ist, besagt noch immer etwas, ohne etwas Bestimmtes zu sagen – wie wäre sonst Kunst, insbesondere Musik möglich?“ (Anders 1928b, S. 42) Am Beispiel der Kunst wird auffällig, dass gerade auch im Bereich des Undeutlichen mit der Welt Erfahrungen gemacht werden können. So ist die Kunst ja häufig gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie einen Bezug zum Betrachter herstellt, ohne sich selbst deutlich gemacht zu haben. Sehen als Erfahrung von Welt ist somit nicht gleichzusetzen mit einer Wissenschaft, die Welt bloß deutlich macht. Dazu muss sich der 54
Begriff der Erfahrung jedoch frei machen vom Anspruch der Wahrheit als Eindeutigkeit: „Diese Vielheit [des Seins] verwirrt nur dann den Begriff der Wahrheit, wenn er mit Recht vom Sein verlangte, daß es eindeutig, nicht vieldeutig sei (ein Verlangen, daß sich der Wahrheitsbegriff lange dadurch gestillt hat, daß er sich im Begriff der mathematischen Natur einen Gegenstand erschuf, der darum nicht vieldeutig sein konnte, weil er überhaupt nichts bedeuten wollte)“ (ebd., S. 11)
Erfahrungen zu machen mit einer Welt an sich, etwa so als gäbe es einen wahren Kern, muss an jener Vielheit des Seins scheitern, welche Anders hier prognostiziert. Dies ist jedoch keine Absage an jegliche Erfahrungsmöglichkeit, sondern ihr bestimmter Charakterzug. Die Praxis des Sehens als Erfahrung ist zwar auch ein Deutlichmachen von Welt. Nicht jedoch in dem Sinne eines Aufdeckens letztbegründeter Wahrheiten, sondern eines Verständnisses von Welt, welche an sich vieldeutig ist. Gerade da sich die Welt nicht eindeutig ausdrückt, antwortet die Praxis des Sehens, welche Anders beschreibt, auf die vieldeutigen Möglichkeiten des Lebens selbst. „Nun ist aber das Leben andauernd, da es auf das Sogleich loslebt, ein Versuchen in der Möglichkeit und im Unfertigen. Es ist jetzt und ist doch schon ein Sogleich. Es ist in der Wahl dessen oder dessen. Damit ist gesagt, daß es undeutlich sei nicht nur in seiner Spiegelung nach Außen, sondern uneindeutig in bezug auf seinen jeweiligen (nun auch zu sehenden) Bestand.“ (ebd., S. 40)
Der Umgang mit der Welt ist durch eine spezifische Unsicherheit bestimmt, die aus dem Zugleich von Fremdheit und Vertrautheit resultiert. So zum Beispiel auch beim Umgang mit dem Haustier, das, wie sehr sich die Umwelten zwischen Tier und Mensch auch überlappen, immer auch Fremd und Unverständlich bleiben wird (vgl. ebd., S. 55). Auch das Sehen des Menschen ist im Bereich des Relativen und Uneindeutigen zu verorten. Dies lässt sich als Teil der These der Unbestimmtheit und Ambivalenz des Menschen lesen. Das Leben gibt keinen eindeutigen und nur aufzufindenden Bestand von Welt vor, sondern spielt sich in einem Raum zahlreicher Möglichkeiten ab. Es ist ein Teil des Seins selbst, uneindeutig zu sein und sich wenigstens 55
partiell zu verbergen (vgl. Clemens 1996, S. 15). Gilt die Vieldeutigkeit für jedes Leben, so ist auch im menschlichen Leben Uneindeutigkeit nachzuweisen. Dies muss also auch für die Äußerungen gelten, welche in Kapitel 3.1.1 ja gerade als das Sichtbare der Kommunikation herausgestellt wurden. So kann die Äußerung nicht auf einen kausalen Zusammenhang eines sich eindeutig äußernden Inneren zurückgeführt werden. Anders stellt die These auf, dass sogar für die Person selbst ihre eigenen Tiefenschichten überhaupt nicht eindeutig erkennbar sind. Ein Grund hierfür ist, dass die Person in ihrer Zwischenschicht nach innen und außen gleichzeitig lebt. Jedoch ist die Person kein Resultat eines Tauziehens zwischen außen und innen – vielmehr vereint sie das Nach-innen-leben und Nach-außen-leben permanent in sich. Da sich die Person selbst somit in einem Prozess befindet, sie selbst also Praxis ist, kann sie sich auch nicht eindeutig und abschließend bestimmen oder äußern. Vielmehr ist die Person stetig damit beschäftigt eine Balance von innen und außen zu finden (vgl. Anders 1928b, S. 41). Dass es nicht einmal eine Deutlichkeit der eigenen Person gibt, lässt sich beispielsweise im Etwas-auf-der-Zunge-haben erkennen22. Das, was geäußert werden soll, ist nicht aufzufinden, lässt sich nicht nach außen tragen und ist nicht deutlich zu machen (vgl. ebd., S. 38 ff.). Da ja schon das Selbstverhältnis durch eine solche Undeutlichkeit und einen Balanceakt gezeichnet ist, können sich diese letztlich auf die Welt übertragen. Auch in der Erfahrung mit der Welt findet sich dieses Zugleich von innen und außen beziehungsweise In-Sein und Distanz wieder. So kann der Mensch einerseits In-Natur-Sein, versunken und gänzlich in der Stimmung der Natur aufgehoben. Hierfür sprechen die Andersschen Untersuchen des Kindseins, des Schlafens und der Leiberfahrungen (Kapitel 4.2). Auf der anderen Seite steht das NaturHaben, welches Natur als Idee hat, unversunken und als distanziertes Gegenüber. Das Natur-Haben versucht die Natur stets zu greifen, kann sich ihr jedoch jeweils nur annähern und sie nie wirklich erreichen. Die Doppelweltlichkeit des Menschen ist nun gerade durch dadurch gekennzeichnet, dass sie beide ‚Naturerfahrungen’ in sich vereinen kann. Der Mensch ist somit das 22
Die Undeutlichkeit der eigenen Person zeigt sich auch darin, dass man von einer anderen Person vor den Kopf gestoßen werden kann, sprachlos gemacht werden kann, indem sie etwas über die eigenen Tiefenschichten äußert, das einem selbst bis dahin unbekannt war. Die gesamte Psychotherapie hat in der Undeutlichkeit der eigenen Person ihren Ausgangspunkt.
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„Umweltwesen, das zwar auf dem Grunde der Stimmung hinlebt, nun aber auch das Andere, die Welt zu fassen bekommt: sie nicht nur abstößt oder benötigt oder braucht, sondern das Nötige zu etwas gebraucht, zu etwas bestimmt (um es endlich auch theoretisch zu bestimmen).“ (Anders 1928b, S. 58)
Auf der Grundlage der Stimmung des In-Natur-Seins wird die Welt als Gegenüber getroffen und schließlich bestimmt. Nicht nur konstituiert sich in dem Naturtreffen die Welt als Welt, sondern im gleichen Zuge konstituiert sich auch das Eigene im Anderen – in der Bestimmung von Welt trifft der Mensch sich selbst. So bestimmt der Mensch die Welt ja nicht etwa als Fremde, sondern in der Bestimmung von Welt macht er sich diese zu eigen. Er konstituiert die Welt als Material und sich gleichzeitig als Anwendenden, Herstellenden, Bauenden, Wissensdurstigen, Bedürftigen, etc. Als Freier nimmt er die Welt als Freie, um sie hierhin und dorthin auszudeuten. Hier endet jedoch nicht die Erfahrbarkeit von Natur: „In einer dritten, der für uns wichtigen Phase wird das Andere bereits wieder als anders gefunden, nun aber nicht mehr in der Unbestimmtheit der ersten, sehr negativen Weltbeziehungsstufe als purer Störenfried, sondern, es wird nunmehr als selbst anerkannt, bestimmt, ja gesucht.“ (ebd.)
Erst hierhin offenbart sich die Freiheit der Doppelweltlichkeit – Welt kann auch als einmal Bestimmte wieder freigegeben werden. In dieser Verabschiedung von Welt als Bekannter und Verfügbarer zeigt sich eine Anerkennung der Welt als Fremder, als Natur, die niemals gänzlich bestimmbar ist. Hierin offenbart sich nun, was Anders als Grundcharakter der negativen Anthropologie ausmacht: Der „Abstand des Menschen von der Welt in der Welt“ und das „Insein als Insein in Distanz“ (Anders 1930, S. 16). Auch diese Doppelcharaktere sind Spannungen, Balanceakte, drücken Bewegung aus und kennzeichnen den Menschen im Zwischen. Der Mensch sieht die Welt und kann sie deutlich machen, um in ihr zu leben. Die Welt ist hierdurch jedoch nicht gänzlich entborgen, sondern lässt sich immer wieder anders treffen. Zwar kann der Mensch Abstand nehmen von der Welt und das Sehen selbst lässt sich bereits als einen Distanzakt beschreiben, jedoch nimmt diese Distanznahme jeweils Bezug auf das In-derWelt-sein des Menschen. Dieses In-der-Welt-sein ließ sich als Umstand kennzeichnen. Niemals kann sich der Mensch völlig von der Welt lösen, ebenso wenig, wie er 57
völlig in ihr aufzugehen vermag. Sein Leben ist ein Balanceakt, der ihn jeweils zwischen den Welten stehen lässt. Auch der Begriff der Bildung steht mit den bisher analysierten Phänomenen der Sichtbarkeit, der Erfahrung mit dem Anderen und der Negativität menschlicher Selbstbilder in Verbindung. Gerade die Zwischenweltlichkeit des Menschen erbringt eine anthropologische Aufklärung von Bildung, welche die Erfahrung mit dem Anderen und Fremden als konstitutiv ansieht. Somit lassen sich der spezifische Makel, die undeutliche Sichtbarkeit und die anthropologische Unbestimmtheit, welche den Erfahrungsbegriff nach Anders füllten, nun auch einem Bildungsbegriff zuordnen.
3.3
Bildung und Erfahrung – eine Spurensuche
Das nachfolgende Kapitel spürt der These nach, dass sich Bildung und Erfahrung in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis befinden. Nach diesem Verhältnis müssen sich also auch die verschiedenen Positionscharaktere, wie sie in der Analyse der Erfahrung des Menschen aufzuweisen waren, für den Bildungsbegriff nachweisen lassen. Dabei wird deutlich, dass Günther Anders in jenem Bildungsdiskurs gelesen werden kann, in dem Bildung als Distanz verstanden wird, ohne dass Anders den Bildungsbegriff in seinen Erfahrungsuntersuchungen selbst verwendet hätte. Das Bedingungsverhältnis von Bildung und Erfahrung lässt sich wie folgt explizieren: „Vielmehr muss sich das Verständnis von Bildung aus der Erfahrung selbst herleiten und zwar aus dem Verhältnis von Rezeptivität und Spontaneität. Es kann keinen sinnvollen Begriff von Bildung geben, der nicht gleichzeitig anzugeben wüsste, wie er auf die Erfahrung anzuwenden wäre (vgl. Strawson 1992, S. 13). Wiederum kann es keinen sinnvollen Gebrauch des Erfahrungsbegriffs geben, wenn nicht die Art der begrifflichen Fähigkeiten, die ihm den Status eines Reflexionsurteils zuschreiben und die Bildung des Menschen ausmachen, beschrieben werden können.“ (Dörpinghaus 2014, S. 46)
Dem Bildungsbegriff lässt sich ein Doppelcharakter (Rezeptivität und Spontaneität) nachweisen, welcher sich ohne Weiteres auf die negative Anthropologie von Anders 58
übertragen lässt. Für den Menschen ist es unmöglich und unvorstellbar, nicht in seiner Doppelweltlichkeit zu leben. Keine seiner Welten von Sinnlichkeit und Verstand lässt sich aufgeben, ohne sein Menschsein mit aufzugeben, weshalb für den Bildungsbegriff gilt: „Ein Ort von Bildung, der sich außerhalb der Erfahrung befände, ist nicht begründbar, weder als Ort reiner Reflexion oder Subjektivität, noch als einer der reinen Rezeptivität oder Weltgegebenheit“ (ebd.). Erfahrung ist der Raum, welcher sich aus der Doppelweltlichkeit des Menschen ergibt und so kann es keine Erfahrung von Welt ohne spezifisches Verhältnis von Nähe und Distanz beziehungsweise Rezeptivität und Spontaneität geben. Bildung ist eben nicht im Raum empirischer Gegebenheiten zur Verwaltung und Kontrolle von Welt aufzufinden, sondern verbindet den Raum des Intelligiblen mit sinnlicher Lebenspraxis. Im Weiteren soll aufgezeigt werden, dass diese Verbindung auch in dem Erfahrungsbegriff von Günther Anders zu finden ist und gerade seine Beschreibungen des Naturtreffens mit einem Bildungsverständnis als Distanz korrelieren.
3.3.1 Das Verhältnis von Selbst und Welt Bildung als die begriffliche Fähigkeit der Weltbegegnung ist nur aus der Erfahrung des Menschen verständlich. „Begriffliche Fähigkeiten gehören zum Kern, zum Gehalt von Bildung. Sie wurzeln in konkreten Lebenspraxen und sind nicht von dieser Verwendung und ihrer Ausformung im Kontext der Erfahrung zu trennen“ (Dörpinghaus 2014, S. 45). Durch begriffliche Fähigkeiten wird Welt verständlich und kann gleichzeitig gestaltet werden. Die Möglichkeit der Weltbegegnung, so kann hier aufgrund der Andersschen Anthropologie ergänzt werden, fußt allerdings in der Nötigkeit. Der Mensch weiß seine Welt nicht vorweg, sie ist ihm nicht als apriorisches Material mitgegeben, sondern er ist darauf angewiesen, von der Welt nachträglich zu erfahren (vgl. Anders 1930, S. 21). Aufgrund dieses apriorischen Mangels, steht ihm die Welt als offener Möglichkeitsraum gegenüber und er kann sich selbst einen Begriff von Welt machen. Somit ist „Bildung [die] begriffliche Fähigkeit und Leistung, die wir durch unsere natürliche Empfänglichkeit und Offenheit für die Welt erwerben“ (Dörpinghaus 2014, S. 47). In der Weltoffenheit des Menschen spricht er sie an und macht sie so zu seiner Welt. Sein ‚apriorisches Aposteriori’ lässt ihn diese Offenheit bewahren und jeweils Neues sehen (vgl. Anders 1929, S. 183). Der Mensch wendet sich hin zur Welt, 59
richtet seinen Blick auf sie und macht sie sich hierdurch anschaulich. In der Anschauung von Welt kann sie gedeutet und verstanden werden. Bildung ist eben als jenes Sehen von Welt zu verstehen, wie es bereits im Theoria-Begriff für die Erfahrung aufgezeigt wurde (Kap. 3.2). In der Bildung als begriffliche Hinwendung zur Welt verweilt das Auge bei seinem angeblickten Gegenstand und macht ihn somit begreiflich. Dadurch verweist die Bildung als begriffliche Hinwendung zur Welt jedoch wiederum auf die ursprünglich distanzierte Stellung des Menschen zur Welt. Erfahrungsbedürftig ist die Welt, indem sie unvertraut ist. Der Mensch braucht die Erfahrung mit der Welt, um sie mit sich vertraut zu machen (vgl. Anders 1930, S. 21 f.). Helmuth Plessner23 schreibt hierzu: „Wir nehmen nur das Unvertraute wirklich wahr. Um anschauen zu können, ist Distanz nötig“ (Plessner 1982, S. 169). Anschauung und das Sehen von Welt ist gerade nicht dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch die Welt in der Nähe trifft, sondern dadurch, dass sie in Distanz getroffen wird. Das, was in der Nähe steht, geschweige denn gehabt wird, wie der Leib, wird meist nicht gesehen und wenn doch, erscheint es wie ein fremdes Ding (vgl. Anders 1929, S. 159). Die Nähe und Bekanntschaft, die dadurch entsteht, dass das Auge bei seinem Gegenstand verweilt, darf nicht mit einem naturwissenschaftlichen Ansatz gleichgesetzt werden, der seinen Gegenstand nur aufgrund von selbstgesetzten Bedingungen ansieht und nur um diesen anschließend kontrollierbar und quantifizierbar zu machen (vgl. Anders 1928b, S. 61 f.).
23
Die Ausführungen von Plessner sollen in diesem Kapitel dazu dienen, die Verbindung des Erfahrungsbegriffs nach Anders und dem Bildungsbegriff als Distanz deutlicher herauszustellen. Insbesondere in seinem Aufsatz ‚Mit anderen Augen’ kann Plessner aufzeigen, dass sich der Mensch im Sehen als Praxis von Erfahrung in die Erfahrung selbst miteinbringt und gerade dadurch die Möglichkeit eines Sichfremd-werdens entsteht. Dies stellt eine Bedingung von Bildung da, wie sie insbesondere im Bildungsbegriff als Distanz vorhanden ist. Plessner lässt sich andererseits gerade deshalb zur Erhellung dieser Verbindung heranziehen, da die negative Anthropologie von Anders unter anderem auf der Basis der Philosophischen Anthropologie von Plessner entstanden ist (vgl. Dries 2018, S. 438). Die Nähe zwischen Anders und Plessner lässt sich auch daran ablesen, dass Anders ihm explizit dafür dankt, ihn von der theoretischen Verbindung zu Heidegger losgelöst zu haben (vgl. ebd., S. 506 Anm. 49).
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„Der Mensch hat keinen unmittelbaren Zugang zur Welt in der Erfahrung“ (Dörpinghaus 2014, S. 47) und so muss für die Erfahrung gelten, dass in ihr die Welt zwar getroffen wird, jedoch nur in Distanz. Auch hier ist also die Distanz Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung und so kommt es, dass der Mensch in indirekt-direkter Beziehung zur Welt steht. „Eine indirekt-direkte Beziehung soll diejenige Form der Verknüpfung heißen, in welcher das vermittelnde Zwischenglied notwendig ist, um die Unmittelbarkeit der Verbindung herzustellen bzw. zu gewährleisten“ (Plessner 1982, S. 34). Erfahrung benötigt somit den Aspekt einer Bildung als begriffliche Fähigkeit, um die indirekt-direkte Beziehung zur Welt herzustellen. In diesem Zwischen, in dem der Mensch Erfahrungen macht, kann er jedoch die Bedingungsverhältnisse seines Treffens von Welt vergessen. Das Subjekt vergisst sich gewissermaßen selbst und glaubt eine direkte Verbindung zur Welt zu haben (vgl. ebd., S. 39). Bedingung des Treffens von Welt ist jedoch gerade die Distanz: „Nur die Indirektheit schafft die Direktheit, nur die Trennung bringt die Berührung“ (ebd., S. 44). Der ursprüngliche Doppelcharakter der Stellung des Menschen zur Welt verlässt diesen nun in der Erfahrung von Welt nicht. Deshalb ist Erfahrung nicht bloß eine Aneignung von Welt als Umweltfaktor des Menschen, sondern die Aufrechterhaltung von Distanz und Nähe: „Nur ein Wesen, das in die Nähe involviert ist, braucht Distanz zu dieser Nähe. Der Mensch begegnet einer Welt und schafft zugleich Distanz zu ihr“ (Dörpinghaus 2014, S. 47). Das Handeln des Menschen in der Welt steht für ein Produzieren von Neuem auf der Grundlage von Welt – es ist dem Menschen verwehrt in einer selbstverständlichen Beziehung zur Welt zu leben. „Durch seine Taten und Werke, die ihm das von Natur verwehrte Gleichgewicht geben sollen und auch wirklich geben, wird der Mensch zugleich aus ihm wieder herausgeworfen, um es aufs neue mit Glück und doch vergeblich zu versuchen. Ihn stößt das Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit ewig aus der Ruhelage, in die er wieder zurückkehren will.“ (Plessner 1982, S. 52 f.)
Der Mensch hat die Möglichkeit sich durch Erfahrung die Welt anzueignen und so nachträglich zur Welt zu kommen. Diese Nachträglichkeit zeichnet ihn jedoch wesentlich aus und bleibt gerade deshalb als doppelte Distanz erhalten. Nicht nur 61
steht das Gesehene in Distanz zum Subjekt, sondern das blickende Subjekt erkennt sich auch selbst in seinem Blick und schafft so Distanz zu sich selbst. „Der Mensch tritt in der Erfahrung in Distanz zu dieser Erfahrung, ohne ihre Nähe jemals verlassen zu können“ (Dörpinghaus 2014, S. 47). Bildung als reflexive Erfahrung geht, wie der Erfahrungsbegriff, den Anders seiner Anthropologie zugrunde legt, über die unmittelbare Empfängnis von Welt beziehungsweise Weltaneignung hinaus. Vielmehr bringt sich der Mensch selbst in den Prozess der Erfahrung mit ein, er erfährt in einer Zwischenschicht von sich und Welt. Bildung hat somit nicht nur die Welt zum Gegenstand sondern auch das Subjekt selbst. „Bildung markiert das reflexive Moment der Erfahrung, durch das die Erfahrung selbst zum Tribunal des Denkens werden kann“ (ebd., S. 45).
3.3.2 Das Eigene in der Erfahrung Dörpinghaus beschreibt die Erfahrung als Netz, welches die Wirklichkeit, die Welt des Menschen, einfängt. Auch hier wird deutlich, was Anders als ein Prinzip der Erfahrung ausmachte. Sie braucht die Weile, die Dauer, den Prozess des Einfangens, in dem sich die Welt verfängt und gerade dadurch schon nicht mehr Welt an sich ist. Sie wird im Prozess des Einfangens gleichsam eingefärbt durch den Menschen, der in den Prozess der Erfahrung involviert ist. So kommt es, dass „[...] die Erfahrung im Akt der Distanzierung selbst zum Tribunal der eigenen Erkenntnis, des eigenen Erfahrungshorizontes werden kann“ (Dörpinghaus 2014, S. 48). Mit der Erfahrung geht eben nicht bloß ein Zuwachs von Wissen einher, sondern gleichzeitig gerät das Subjekt der Erfahrung selbst in den Blick, fällt dem Färber der Wirklichkeiten seine Färbung auf. Nun geht gerade damit ein Verlust von Selbstverständlichkeit einher, der auch den Umgang mit der Welt betrifft. „Mit dem Verlust der Vertrautheit geht die Umgänglichkeit des Verstehens verloren und das kontemplativ-theoretische Element tritt an seine Stelle, eine Art von Einsicht, in der die Sicht überwiegt“ (Plessner 1982, S. 176). Die Welt, welche nun nicht mehr selbstverständlich ist, bringt einen Verlust an Vertrautheit hervor. Das Sehen des nun Entfremdeten verändert nun nicht lediglich den Umgang mit der Welt. Vielmehr geht die Umgänglichkeit von Welt verloren, als Teil der Erfahrung der Entfremdung – das, was vorher so umgänglich war, wird jetzt unhandlich und widerständig. 62
Anstellte dessen fokussiert sich in der Erfahrung nun eine Einsicht, eine Anschauung im Sinne der θεωρíα (theoria). Diese Fokussierung auf das Einsehen, welches mit dem Verlust von Umgänglichkeit einhergeht, bezieht sich nun direkt auf den Erfahrungshorizont des Subjekts. Der Erfahrungshorizont wird durch den Verlust von Vertrautheit auffällig und steht nun selbst der Anschauung frei. Dem Färber fällt seine Färbung auf. Zu einer Bildung als reflexivem Moment der Erfahrung, also dafür, dass der eigene Horizont zum Tribunal wird und sich die Erfahrung von sich ablöst, bedarf es, wie Plessner und Dörpinghaus einstimmig formulieren, eine Bereitschaft. „Die Erfahrung kann sich selbst quasi nur zum Tribunal werden, wenn es bereits eine latente Aufmerksamkeit, eine sich herausbildende Empfänglichkeit oder Sensorik für das fungierende Begriffliche in unserer Erfahrung gibt. Nur so kann eine solche Sinn- und Bedeutungsverweigerung der Erfahrung überhaupt wahrgenommen werden, nur in dieser Weise wird sie auffällig.“ (Dörpinghaus 2014, S. 48)
Die Welt, in der wir leben, muss bereits als nur Mögliche anerkannt werden. Es bedarf also einer Form von Einsicht in die Relativität des Eigenen, um eine Einsicht in das Andere, das sich in der Erfahrung auftut, zu ermöglichen (vgl. Anders 1928b, S. 58). Dass diese Möglichkeit zum Menschlichen dazugehört, offenbart sich in den anthropologischen Untersuchungen von Anders. Die ‚Sinn- und Bedeutungsverweigerung der Erfahrung’ fußt in seiner ontologischen Einsamkeit und dem Herausfallen des Menschen aus der Welt, zu der er nun distanziert steht. Daraus ergibt sich jene Möglichkeit des Loslassens von Realität und der Verweigerung, wie sie im ‚Lügen’ ihre letzte Ausprägung findet (vgl. Kapitel 2.2). Es bedarf eben letztlich einer Ausformung des Abschieds, um Verstehen möglich zu machen. Die Dinge müssen entfremdet sein, distanziert sein, um sie in den Blick zu bekommen. „So wie die Verständlichkeit des Vertrauten erst mit der Bereitschaft zum verstehenden Begreifen ausdrücklich wird, so auch die Auffälligkeit und Übersichtlichkeit des Fremden erst mit der Bereitschaft zum distanzierenden Blick. [...] Die Kunst des entfremdenden Blicks erfüllt darum eine unerläßliche Voraussetzung allen echten Verstehens.“ (Plessner 1982, S. 170)
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Verständnis, welches hier gleichzusetzen ist mit reflexiver Bildung, wird eben durch ein Suchen hervorgerufen – zumindest setzt es doch eine Bereitschaft voraus. Dieses Suchen oder die Kunst des entfremdenden Blicks darf hierbei jedoch nicht gleichgesetzt werden mit einem aktiven Aufsuchen, das seinen Gegenstand schon so deutlich vor Augen hat, dass es ihn nur noch aufzufinden braucht. Die Bereitschaft zum Fremden schützt nicht vor dem Schock der Entfremdung: „Aus der Erschütterung geboren, macht die Entfremdung Phantasie, Denken und Anschauen möglich“ (ebd., S. 176). Als Suchen nach dem Anderen wird für Anders deshalb das Wandern. Wandern tut der Mensch grundsätzlich immer dann, wenn er aus sich heraus geht und das Weite sucht. Mit dem Begriff des Wanderns meint Anders diesen metaphorischen Gehalt (vgl. Anders 1928b, S. 66). Dabei schafft die Bewegung des Aus-sichheraustretens eben jene vorher besprochene Distanz, welche das Subjekt zu sich selbst herstellt. Der selbstverständlich wirksame Erfahrungshorizont wird auffällig: „Die begrifflichen Gehalte, die selbstverständlich wirksam sind, werden explizit und fordern ein Umdenken“ (Dörpinghaus 2014, S. 49). Hier laufen die Beschreibungen des Naturtreffens von Anders und der Bildungsbegriff nach Dörpinghaus zusammen. In der Erkenntnis des provisorischen Gehalts des eigenen Erfahrungshorizontes entsteht die Möglichkeit zum Anders-sein. In der grundsätzlichen Erfahrung des Auch-anders-sein-könnens, welche die Individualität des Menschen erst bedingt, erfährt der Mensch von seiner grundsätzlich provisorischen Stellung zur Welt. Zwar kann der Mensch stets Anderes finden, jedoch niemals Erstes oder Letztes. Dies ist Teil der Naturkondition des unfixierten und deshalb freien Menschen. Plessner nennt diese provisorische Stellung „konstitutive[.] Heimatlosigkeit“ (Plessner 1982, S. 16). In der Heimatlosigkeit wandert der Mensch und findet das grundsätzlich Andere und Fremde – die Welt als Natur.
3.3.3 Das Fremde in der Erfahrung Die Erkenntnis muss, um ihren Gegenstand deutlich zu machen, bei diesem verweilen. „[S]ie will ihr Objekt ins Auge fassen und im Auge behalten, sich mit ihm vertraut machen“ und so den Augenblick überdauern (Anders 1928b, S. 61). Distanz ergibt sich somit nicht nur in räumlicher Hinsicht zwischen dem Subjekt und dem angeschauten Gegenstand, sondern ebenso als zeitliche Distanz. Dies gilt auch für die Bildung begrifflicher Fähigkeiten. Diese zeichnen sich durch zeitliche 64
Distanzcharaktere aus (vgl. Dörpinghaus 2014, S. 50). Zeitliche Distanz schafft Veränderung und so verweilt die Erkenntnis bei ihrem Gegenstand nicht in gleichbleibender Wirklichkeit, sondern schafft selbst eine Distanz des Erkenntnissubjekts zu sich selbst. Dauer in der Zeit ist hierbei nicht gleichzusetzen mit einer Dauerhaftigkeit von Subjekt und Objekt. Der erkannte Gegenstand, sowie das erkennende Subjekt bleiben nicht gleich, sondern werden selbst prozesshaft. Wie bereits erwähnt findet Anders hierfür den Begriff des Wanderns, in welchem der Mensch die Welt als Natur und somit als Fremde erfahren kann: „Obwohl das Naturtreffen[24] seine Momentanität eingebüßt hat, steht sein Objekt noch immer nicht der Erkenntnis frei. Denn pures Bleiben, pure Dauer (bzw. pure Wiederholung während der Dauer) stellt einen Zeittyp dar, der sich ganz und gar unterscheidet von jenem – sicherlich gleichfalls dauernden – zeitlichen Prozeß, in welchem ein Gegenstand vertraut gemacht, expliziert, d.h. erkannt wird.“ (Anders 1928b, S. 66)
Dieser Erkenntnisbegriff von Natur steht komplementär zur Bildung als Distanz und der Begriff der Natur meint hier, über das Reich von Pflanzen und Tieren hinausgehend, die Welt selbst als Andersartige. Dörpinghaus spricht von Verzögerung als dem Begriff dieses zeitlichen Prozesses der Distanzierung. „Die Verzögerung betrifft als reflexiver Status des Begrifflichen eine andere Sichtweise, ein anderes Bild von Welt. Sie markiert als Prozess der Distanzierung
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Interessanterweise konstatiert Plessner hier für den Verlauf der Geschichte, dass sich die Konstellationen von Naturerkenntnis und Lebenserfahrung, wie sie in der Antike vorherrschten, umgekehrt haben: „Das lang noch weiterwirkende Ideal der Antike, für welche Naturerkenntnis echtes Verständnis im Sinne des begreifenden Sehens war, Erkenntnis des menschlichen Lebens aber im Dienste des Lebens verblieb, hat seinen Einfluß auf uns verloren. Wir beherrschen eine Natur, die wir nicht mehr verstehen. Wir verstehen eine menschliche Welt, die wir nicht mehr beherrschen.“ (Plessner 1982, S. 177 f.) In diesem Sinne zielt auch das Naturtreffen von Anders auf ein Verstehen von Natur als Anderem und Fremden und nicht auf eine Möglichkeit zur Verobjektivierung und Kontrollierung der Natur.
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genau den Übergang vom So-Sein-müssen des Faktischen hin zum Anderssein-können des Möglichen.“ (Dörpinghaus 2014, S. 51)
Die Verzögerung, das Wandern in der Zeit eröffnet aufgrund der Fremdheitserfahrung, die in diesen Prozessen gemacht wird, einen Raum für das Mögliche und Andere. Der selbstverständliche Horizont, in der Welt stets gesehen wurde, wird durch die Erfahrung des Fremden prekär. Dies betrifft nun direkt die Sichtweise des Subjekts, in der die Welt bisher gesehen wurde und der Mensch sieht die Welt mit anderen Augen. Das Wandern des Menschen in die Welt ist eine gerade für ihn charakteristische Art, Welt zu erfahren, da er darauf angewiesen ist, eine ursprünglich fremde Welt zu treffen. Allerdings ist das Sein des Menschen selbst prozesshaft (vgl. Plessner 1982, S. 9). Gleich der Bildung des Menschen ist die Naturerfahrung deshalb keine einmalig zu erwirtschaftende Aufgabe, geschweige denn die einzige Art der Welterfahrung, sondern eine, welche der ständigen Sorge bedarf: „Nichts ist hier für immer getan. Was einmal in der Erschütterung und dank dem Einfall der schöpferischen Phantasie gegen eine Tradition sichtbar wurde, büßt im Laufe der Zeit seine Farbe ein. Es wird selbstverständlich und banal, die Sicht verschwindet. Stets wieder sind andere Augen nötig, um von neuem sichtbar zu machen, auf andere Weise, was längst gesehen, doch nicht bewahrt bleiben konnte.“ (ebd., S. 179)
Wie sind nun die zeitlichen Charaktere dieser Sorge zu spezifizieren? Das Andere, welches als Fremdes getroffen wurde, verliert in der Zeit seinen Fremdheitscharakter. Die Erfahrung macht die sich gegenüber Gestandenen bekannt und die Welt wird zur (umgänglichen und selbstverständlichen) Umwelt des Menschen. Zur Bereitschaft, wie sie vorher für die Bildung als Distanz herausgestellt wurde, gehört deshalb auch die Bereitschaft den Gegenstand der Erfahrung immer wieder loszulassen und freizugeben, um ihn neu und anders zu sehen. Hierin spiegeln sich die paradoxen Charaktere des Menschen wieder: „Eine solche Weltbeziehung (wie sie diese Beziehung zur Natur repräsentiert) ist in der Tat eine spezifische: sie ist durch pure Negation von Umweltbeziehungen nicht zu definieren. Ihre paradoxen Charaktere: Wiederholung
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(das heißt: Zeitindifferenz in der Zeit, trotz der Zeit), gewohnte Ferne, ferne Nähe, oder wie sie auch immer formuliert werden mögen, verlieren vollends ihren rein negativen Sinn, wenn sie nicht nur als theoretische, sondern als ontologische Beziehungen genommen werden: als die Beziehungen derer, die sich zwar immer wieder einen Blick zuwerfen, letzten Endes aber aneinander vorbeigehen.“ (Anders 1928b, S. 66)
Gerade dieses aneinander Vorbeigehen von Mensch und Welt ist nicht als mangelhafte Beziehung zueinander aufzufassen, die es grundsätzlich aufzuheben gilt. Das Aneinander-vorbeigehen umfasst sowohl das Anders-sein-können und die Ablösung vom Faktischen, wie auch die Anerkennung des Anderen als Anderen. In dieser Anerkennung wandert der Mensch in die Welt, ohne sich jemals gänzlich in ihr einzurichten. Der Wanderer wandert nicht nur in die Fremde, er ist auch der Heimatlose und so steht er in doppelter Distanz zu sich und der Welt (vgl. Plessner 1982, S. 11). Dieses Wandern ist nun in der Bildung als Verzögerung realisiert. Die Verzögerung kennt keinen schnellsten Weg, der effizient zu einem vordefinierten Zielpunkt führt. Ihr Element ist die zeitliche Distanz, der selbst ein Erfahrungsreichtum innewohnt, welcher der schnellste Weg schlichtweg übersieht. Wenn ein solches Verhältnis des Menschen zur Welt dem Erfahrungsbegriff zugrunde gelegt wird, so kann dieser nicht allein mit Weltaneignung, der Ordnung von Welt oder einem empirisch-nomologischen Verständnis von Welt beschrieben werden (vgl. Dörpinghaus 2014, S. 50). In einem solchen Verhältnis zur Welt ist die Welt selbst flüchtig und inkonstant und das Verhältnis zum Menschen bewegungs- und spannungsreich – stets gekennzeichnet durch ein Doppel von Distanz und Nähe. „Etwas, das möglicherweise auf den Fortgang nahezu drängt und den Abschluss sucht, wird verzögert, auf Distanz gehalten, so dass eine andere Ebene der Sicht eröffnet wird“ (ebd., S. 51). Auf Distanz gehalten werden muss aber nur dasjenige, welches die Nähe sucht. Gerade diese Spannung, das „Verhältnis von Bleiben und Bewegung“ (Anders 1928b, S. 57) betrifft die gesamte Existenz des Menschen. Es verändert sich nicht etwa lediglich der rationale Wissensfundus von Welt, etwa so als sähe der Mensch nach der Erfahrung mehr und deutlicher vom Kern der Welt. Die Welt mit anderen Augen zu sehen, bedeutet ja nicht bloß, dass sich die Welt verändert hat, sondern eben das Eigene, die eigenen Augen nun andere Augen sind. Es kann 67
hierbei nicht darum gehen, ein allumfassendes Verständnis von Welt hervorzubringen, das zeitlos und vom Selbst losgelöst Gültigkeit behauptet. Vielmehr setzt sich der Mensch im Verstehen selbst aufs Spiel: „Im Verstehen muß ich mich selbst zum Einsatz bringen, soll der Gegenstand, um den es geht, zum Reden gebracht werden. Je größer der Einsatz, d.h. je reicher und tiefer die persönliche Resonanzfähigkeit, je stärker sie ins Gewicht fällt, um so schwerer, um so gewichtiger wird der Gegenstand. Verstehen ist nicht das sich Identifizieren mit dem Anderen, wobei die Distanz zu ihm schwindet, sondern das Vertrautwerden in der Distanz, die das Andere als das Andere und Fremde zugleich sehen läßt.“ (Plessner 1982, S. 179)
Erfahrung wird ermöglicht, indem das Subjekt sein Selbstverständnis relativiert und sich somit für ein Verstehen des Anderen öffnet. Das Verstehen des Anderen ist nur dadurch möglich, dass man aufhört, sich selbst zu verstehen. Selbst-verständlichkeit steht eben konträr zum Verstehen des Fremden. Deshalb kennzeichnet Bildung die „Unterbrechung eines selbstverständlichen Fortgangs, eine Erschütterung der Erwartung, die zur Umgestaltung des Verstehenshorizontes zwingt“ (Dörpinghaus 2014, S. 52). Der Gegenstand von Bildung ist das Fremde, welches eine distanzierte Offenheit für die Erfahrung des Menschen aufweist. Hierin bleibt die Welt gewissermaßen als Schatten des Verstehenshorizontes, als das stets verborgene Andere erhalten. Jedoch nicht so, als gäbe es zu diesem Anderen überhaupt kein Verhältnis. Vielmehr steht die Welt als Andere in einem Sichtverhältnis, das die Welt in Distanz sieht, aber nie wirklich haben kann. Das, was durch dieses nie wirklich intime Verhältnis stets verborgen bleibt, wird zum Gegenstand der Erkenntnis. Sich für ein solches Verhältnis offenzuhalten, ist Aufgabe einer Bildung als Fähigkeit zur Distanz: „Bildung steht für die Gestaltung von Welt durch begriffliche Fähigkeiten, die – in der Tradition der phronesis – immer auch die Aufgabe haben, sich selbst zu befragen und damit offenzuhalten für die Welt, das Andere und das Tribunal der Erfahrung.“ (ebd.)
Bildung lässt sich somit als Teil der negativen Anthropologie von Anders lesen, welche die Bedingungen des Menschseins offenlegt, und hinterfragt, und letztlich 68
auf den Möglichkeitsraum verweist, der sich aus der Freiheit als Fremdheit des Menschen zur Welt ergibt (vgl. ebd., S. 53). „’Erfahren-werden’ [und hier kann ergänzt werden – Bildung] heißt: sich durch solche Begegnungen bilden lassen, die man sich unter keinen Umständen von sich aus hätte einbilden können. Also niemals: „Werde was du bist", sondern: „Werde, was du nicht bist" oder: „Sei was du wirst." (Anders 2 1993, S. 17 f.)
Die Begegnung mit dem Anderen und Fremden, das aus dem eigenen Erfahrungshorizont herausfällt, setzt Bildungsprozesse in Gang. Das Fremde in der Welt lässt sich jedoch nicht nur in Naturerfahrungen treffen, sondern auch in der Sphäre der Mitwelt. Kunst, Musik, Geschichte oder Kritik etwa können das Bekannte mit anderen Augen sichtbar werden lassen. „Sie erziehen zum Blick, sie provozieren das innere Auge, sie geben uns andere Augen“ (Plessner 1982, S. 171). So kann die Welt mit den Augen eines Anderen zu sehen, die eigene Perspektive auf die Welt völlig verändern und Vorurteile fallen wie Schuppen von den Augen (vgl. ebd.). Die Erfahrung des Fremden ist die ursprüngliche Erfahrung eines weltfremden Wesens, das nie gänzlich Natur in der Natur sein kann, „denn was Natur ist, vermag Natur nicht mehr als Natur zu treffen“ (Anders 1928b, S. 45). Die Freiheit des Auch-anders-sein-könnens liegt nur einem Wesen zugrunde, welches selbst fremd und uneingebunden ist. Wie in den anthropologischen Aufsätzen von Günther Anders deutlich wird, kann sich die Freiheit des Menschen aufgrund dieser Fremdheit gewissermaßen auch zu schwer werden. Wie bisher deutlich wurde, ist der Mensch in der Erfahrung auch selbst in diese Fremdheit involviert. Sich selbst fremd geworden, kann der Mensch auch die eigene Existenz als nur möglich, als nicht zwingend notwendig und letztlich kontingent erkennen. Anders beschreibt hierfür die Figur des Nihilisten als den Menschen, der nicht nur über die jetzige Welt, sondern über Welt überhaupt hinausblickt, sich in der Kontingenz verliert und sich selbst zu viel wird, da er sich stets zu wenig ist. Er ist sich aufgrund seiner Kontingenz als das, was er geworden ist zu viel und als das, was er nicht ist, zu wenig. Das nachfolgende Kapitel zeigt Grenzen der Mangelhaftigkeit des Menschen auf. Diese Grenzen sind Orte des Paradoxen, in denen sich der Mensch verfängt und die ihn auf die unauflösbare Spannung seines Seins verweisen. 69
Genauer kann dabei auf zwei Phänomene eingegangen werden, die für die vorliegende Arbeit konstitutiv sind. Einerseits auf die bereits angedeutete Ambivalenz der Freiheit, welche sich zu viel wird. Andererseits zeigt Kapitel 4.2 Grenzen der Erfahrung auf, in denen die Distanz, welche in der Erfahrung nachgewiesen wurde, selbst fraglich wird.
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4. Die Grenzen der Mangelhaftigkeit „Nichts ist falscher, als den Menschen durch diese Freiheit und Unfestgelegtheit zu ‚definieren’; die Charaktere treffen zwar die Stellung des Menschen in der Welt, aber nicht erschöpfend. Wenn ‚Definition’ eines Wesens mehr sein soll als Klassifizierung durch Unterscheidung (distinctio), sondern die Nachzeichnung seiner faktischen Begrenztheit (finitio), so muss betont werden: Der Mensch kommt aus der Welt; ist Welt; lebt von der Welt. Erst auf diesen Fakten baut sich auf: der Mensch kommt ‚zur’ Welt (dazu), er lebt ‚in’ der Welt (Heidegger), er lebt weltverändernd, kann sich zu ‚Ende’ schaffen, ja kann selbst ‚nicht Existentes’ meinen. (Einbildungskraft und Praxis); also: der Mensch ist nicht nur indefinit.“ (Anders 1940/ 41, S. 170)
Günther Anders definiert den Menschen also nicht endgültig aufgrund seiner Unbestimmtheit. Vielmehr ist das Bild des Menschen anhand seiner Grenzen nachzuzeichnen. Der Mensch als Grenzgänger steht sowohl in der Welt, als auch außerhalb von ihr; er ist abhängig von der Welt, durch seine Distanz zu ihr jedoch unabhängig; er lebt von der Welt, kann jedoch ebenso auf sie verzichten. Diese Paradoxien sollen in folgendem Kapitel näher aufgeklärt werden. Dabei stellt sich heraus, dass sowohl die Freiheit, als auch die Erfahrung des Menschen auf seine Mangelhaftigkeit verweisen. Ist der Mensch jedoch nicht nur mangelhaft eingebettet, so ergeben sich auch bestimmte Schranken für die Freiheit und die Erfahrung. Deutlich wird hierbei, was Anders meint, wenn er von einem Positionswechsel spricht, der für das Menschsein konstitutiv ist (vgl. Anders 1928, S. 122). Menschsein heißt deshalb für ihn nicht entweder frei oder unfrei sein, noch entweder in der Welt oder selbst Welt sein. Menschsein heißt vielmehr in der Bewegung von Freiheit und Unfreiheit, im Zwischen von Weltbedürftigkeit und Weltfremdheit, also letztlich unbalanciert sein (vgl. Anders 1930, S. 18, 34). 71
4.1
Grenzen der Freiheit
Ausgangspunkt des folgenden Kapitels ist die zuvor begründete Annahme (Kapitel 2), dass die Mangelhaftigkeit des Menschen seine Freiheit begründet. Da er nicht in eine bereits vorgefertigte Welt eingebettet ist, kann er sich auch jeweils von der Welt lossagen (vgl. Anders 1929, S. 173). Weder hat er die Welt als apriorischen Wissensbestand, noch weiß er instinktiv, was er in der Welt tun soll. Die Grenzen dieser Mangelhaftigkeit aufzuzeigen, das Ziel dieses Kapitels, zeigt also ebenso die Grenzen der Freiheit auf. Anders verweist auf die paradoxe Tatsache, dass die Freiheit des Menschen in dem Versuch einer autonomen Selbstbestimmung aufgrund seiner letztlich kontingenten Situation in Unfreiheit umschlägt (Kapitel 4.1.1). Gerade die Leiblichkeit des Menschen, als Grenze seiner mangelnden Einbettung, lässt den Versuch einer freien Selbstsetzung pathologisch erscheinen. Deshalb widmet sich Kapitel 4.1.2 der näheren Betrachtung dieser Leiblichkeit.
4.1.1 Die pathologische Freiheit des Menschen In den Ausführungen zur Pathologie der Freiheit macht Günther Anders deutlich, wie sich die Freiheit selbst in die Irre führen kann – wie sie sich, aufgrund der ursprünglich paradoxen Situation des Menschen, in unauflösbaren Paradoxien verläuft. Die Freiheit wird hierbei mit der Weltfremdheit des Menschen, seinem Anders-Sein, zusammengedacht. Wie in den bisherigen Analysen der Erfahrung, vor allem in denen der Bildungserfahrung, ist auch hier die Distanz Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung mit dem Anderen und Fremden. Der Mensch, aufgrund seines „abstractum – esse“ (Anders 1930, S. 27), befindet sich in einem Abstand zur Welt. Dieser Abstand ermöglicht ihm Erfahrung mit der Welt. Gerade durch den Abstand wird ihm jedoch auch sein Selbst bewusst. Diese nun auf sich selbst rückwirkende Distanz macht es möglich, den eigenen Erfahrungshorizont, das Selbst in den Blick zu bekommen – sich selbst zu erfahren und, wie in Kapitel 3.3 aufgezeigt wurde, sich fremd zu werden. Die Erfahrung mit dem Fremden zahlt den Preis des Sich-fremd-werdens, worin das Subjekt mit seiner gesamten 72
Existenz involviert ist. Um solche Bildungserfahrungen zu ermöglichen, ließ sich sogar eine bestimmte Bereitschaft voraussetzen, in der bereits die eigene Welt als nur Mögliche erkannt werden muss, um offen für das Andere zu sein. Gerade in dieser Offenheit, das Eigene als nur Mögliches anzuerkennen, kann sich das Selbst in der Erfahrung verlieren. Selbsterfahrung wird, so zeigt Anders auf, immer dann zum Problem, wenn sich das Selbst als Urheber seiner intentionalen Akte und deren unabgelenkten Erfüllung ansieht. Wenn es also versucht, seinen ambivalenten und letztlich kontingenten Charakter in einem münchhausenschen Akt der Selbstbefreiung über Bord zu werfen. Was heißt in diesem Zusammenhang Kontingenz? „Kontingent ist das zufällige Tatsächliche, das als solches auch die Möglichkeit des Anders-Seins und des Nicht-Seins impliziert: ‚contingens est, quod potest esse et non esse’; ‚kontingent ist, was sein und auch nicht sein kann’, nach der Formel des Thomas von Aquin.“ (Lütkehaus 22002, S. 63)
Der Begriff, auf den Menschen angewandt, umfasst somit eine Zufälligkeit, mit der er sich unter der Bedingung seiner Freiheit unmöglich identifizieren kann. Wer zufällig er selbst ist, hat sich nicht in Freiheit gewählt. Nur wer sich intendiert hat, hat sich auch gewählt. „Aber die Selbstbestimmung in Freiheit bringt es wiederum nur zu kontingenten und demgemäß distanzierten Akten der Konstitution“ (ebd., S. 66). Der Selbstbestimmung des Menschen haftet jener ontologische Makel, jener Distanzcharakter an, der seine Freiheit erst hervorbrachte. In der Welt stehend, sich selbst erfahrend, bringt er eine Distanz zu sich selbst hervor, die ihn fremd werden lässt. Sein Fremd-sein jedoch, die Bedingung von Freiheit, wird nun selbst zum pathologischen Gegenspieler der selbstgesetzgebenden Freiheit. Anders verknüpft hierbei das Identisch-sein mit der Welt mit einem einheitlichen, also letztlich gesunden Zustand, wohingegen das Getrennt-sein von Welt ihm zur Krankheit, zur Pathologie, wird. Entspricht das Getrennt-sein der Freiheit des Menschen, so muss auch sie sich letztlich als Pathologische erweisen. Wieso jedoch diese Wendung ins Krankhafte? Was kennzeichnet diese Pathologie und wieso betrifft sie gerade die Freiheit des Menschen? „Freisein heißt: nicht Bestimmtem verbunden sein, nicht auf Bestimmtes zugeschnitten sein, in der Treffmöglichkeit von Beliebigem stehen, das unter anderem auch getroffen werden kann“ (Anders 1936/1937, S. 28)
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Individuum ist man jedoch nicht dadurch, dass man beliebig ist, sondern dadurch, jeweils auf eine bestimmte Art und Weise zu sein. Mehr als alles andere Beliebige, Auch-sein-könnende, fällt gerade das Ich aus dem Beliebigen heraus. Dem Ich hängt die ontische Mitgift eines Gerade-so-seins an (vgl. Liessmann 2002, S. 40). Die Selbsterfahrung, also das Aufspüren und Erkennen des Selbst, wird zu einer paradoxen Freiheitserfahrung, da sich das Selbst in der Selbstschau illusionär wird. „Nur als Freier erfährt man sich; aber gerade als nicht Freien“ (Anders 1930, S. 27). Die Bedingung dafür, sich zu erfahren ist Freiheit, doch was hierin vorgefunden wird, ist gerade keine Freiheit, sondern Unfreiheit. Das Versprechen der Freiheit, Ursprung zu sein, unbewegter Beweger, und somit auch über die eigene Existenz zu bestimmen, wird in der Erfahrung paradox. Nicht nur ist man dazu verurteilt, überhaupt ein Ich zu sein–dies die erste Bedingung, der sich die Existenz unterwirft. Dieses Ich ist auch noch bedingt durch eine Seinsweise, ein gerade so, „obwohl man anders sein könnte“ (ebd., S. 28). Unter all den anderen Seinsmöglichkeiten, die es in Freiheit zu wählen gäbe, ist der Mensch gerade so, wie er ist. Im Reich der Freiheit erfährt sich der Mensch als zu gering. Das Ich, welches sich zu viel wiegt und keine Möglichkeit mehr hat, in das Beliebige aufzusteigen, ist sich gleichsam in der Erkenntnis seiner Kontingenz zu wenig. Dieses Gerade-Ich-sein rührt vom Ursprung her, aus dem der Mensch kommt, den er aber nicht mitverantworten kann. Der Geburt des Menschen liegt bereits der Makel zugrunde, nicht über die Bedingungen der eigenen Existenz bestimmt zu haben. Die Gebürtlichkeit, welcher häufig eine selbstgesetzgebende Freiheit zugesprochen wird, ist also ursprünglich durch Beliebigkeit gekennzeichnet. Da die erste Geburt nicht selbstgewählt war, muss ihr die Gebürtlichkeit im Prinzip nachfolgen. Dadurch trägt jede Handlung und jede neue Erfahrung den Stempel der ursprünglichen Unfreiheit mit. Zwar kann Neues geschaffen werden, Mögliches gewählt werden und Unmögliches möglich gemacht werden, jedoch lässt sich dies nie gänzlich identifizieren mit einem absolut selbstgewählten Akt. Versucht der Mensch also sich im Ursprung zu erkennen, erfährt er sich stets als Gefangener seiner Kontingenz, schockiert darüber, Ich sein zu müssen und nur Ich sein zu können25 (vgl. Dries 2012, S. 50). Ergründen lässt sich dies jedoch 25
Fragen lässt sich hierbei allerdings, wie das Ich überhaupt schockiert sein kann über die Erkenntnis der Unfreiheit, kann es sich doch niemals in Freiheit erfahren haben. Freiheit ist zwar denkbar, nie jedoch erfahrbar.
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nicht nur in der Rückschau auf den jeweils unbekannten Ursprung, sondern anhand der Ontologie der Erkenntnis selbst. Deutlich wird der ontologische Makel der Erfahrung, sobald ihr Bezug zur Praxis des Sehens aufgezeigt wird. Um einen Gegenstand zu erkennen, muss er sichtbar sein. Sichtbar wird er, indem er in Distanz zum Sehenden steht. Die Distanz ist die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis. Letztlich lässt sich diese Distanz nicht nur auf die Erkenntnis von Welt übertragen, sondern auch auf die Selbsterkenntnis. Wenn gesehener eigener Leib fremd ist (vgl. Anders 1929, S. 111), so ist auch erkanntes Ich fremd. Von sich auf die Welt schauend, wird die Welt in Distanz als kontingent erkannt, als nur Mögliche. Von sich auf sich schauend, ergibt sich nun eine gleichartige Kontingenz. Das Selbst tritt in Distanz zum Sehenden und wird nur noch mögliches Selbst, neben unzähligen anderen Möglichkeiten. Die Erkenntnis kann keinen unmittelbaren Zugang zu ihrem Gegenstand aufnehmen. Somit löst sich das Selbst von seiner Selbstverständlichkeit, verliert an Umgänglichkeit, wird in der Distanz unverständlich und fremd (vgl. Plessner 1982, S. 176). Das Widerständige und Unumgängliche ist aber auch der eigenen Herrschaft unzugänglich und so kommt es, dass die Freiheit, durch die zuerst das Selbst als Selbst erkannt werden konnte, umschlägt in Unfreiheit. In der Selbsterfahrung hat sich das Selbst letztlich mit der eigenen Fremdheit zu identifizieren (vgl. Anders 1930, S. 27). In den Fluchtversuchen, der eigenen Kontingenz zu entkommen und den ambivalenten Charakter der Freiheit doch noch zu überlisten, wird dies deutlich. Wenn schon der Ursprung, die eigene Vergangenheit kontingent ist, so versucht sich der Mensch in die Zukunft zu flüchten. In der Distanz in die Zeit, dem Ich-werde-sein, erscheint dies nun auch realisiert. Der Mensch springt gewissermaßen aus seinem ungewählten Ursprung in die selbstgewählte Zukunft, um doch noch selbstgesetzgebende Freiheit zu ermöglichen. Die Bewegung in die Zukunft jedoch erst einmal angestoßen, schlägt sie, zu Ende gedacht, wiederum in Unfreiheit um. So hat das Futur II „meine Existenz, als wäre sie schon jetzt nicht mehr seiend, bereits übersprungen. [...] die Überspringung schlägt um in Übersprungensein, das Werdesein in ein Werdenichtsein“ (ebd., S. 33 f.). So sieht die Vorschau in die Zukunft, die selbst über das eigene Leben hinausschauen kann, nun auch das eigene Leben als zukünftige Vergangenheit an – wiederum unbestimmt, ungewählt und fremd. In der Selbstbestimmung des Raumes verhält es sich ebenso. Der Mensch besitzt zunächst eine große Bewegungsfreiheit. Er kann sich in Beziehung setzen 75
zum Hier und Dort und die Differenz selbstbestimmt überwinden. Die Distanzbewegung, der Fluchtversuch des Hier-Unfreien in ein freies Dort, schlägt letztlich jedoch wieder in Unfreiheit um: „Unzählige Auch-dorts zeigen sich dann ohne jede Unterscheidung; sie sind gleichzeitig da und melden ihren Anspruch an, Hiers zu sein, ohne dass sich diese Gleichzeitigkeit derart realisierte, dass der Mensch zur selben Zeit dort-und-dort sein könnte.“ (Anders 1936/1937, S. 61)
Somit schlägt die Bewegungsfreiheit um in ein jeweils zu entfliehendes GeradeHier, wobei der Mensch doch nur von einem Konjunktiv in das Nächste flieht (vgl. ebd.). Verdichten sich alle Hiers und Dorts zu einer Weltperspektive, so scheint die Bewegungsfreiheit des Menschen geradezu erstarrt. Egal wohin er sich bewegt, er ist und bleibt in der Welt. Zwischen Weltfremdheit und Weltoffenheit ist dem Menschen letztlich weder das eine noch das andere zu eigen, er kann sich weder ganz aus der Welt zurückziehen, noch steht ihm die Welt so zur Verfügung, als dass er sie seinem Ich gänzlich anpassen könnte. Der Mensch steht als Ambivalenz im Dazwischen, ist stets zerrissen und durch beide Charaktere, Fremdheit und Freiheit, eingeschränkt (vgl. Dries 2012, S. 54). Durch die Bedingungen der Freiheit, Gerade-Jetzt und Gerade-Hier sein zu müssen, ist implizit die Leiblichkeit des Menschen angesprochen. Der Leib trägt eine besondere Rolle in den Grenzen der Freiheit. Deshalb soll die Leiblichkeit des Menschen nachfolgend noch näher analysiert werden. Hierin wird sich der Mensch wiederum als Grenzgänger erweisen, stets zwischen Distanz und Nähe zu verorten.
4.1.2 Die Leiblichkeit des Menschen Der Leib ist durch die Welt gestimmt. Wie in Kapitel 3.2 bereits aufgezeigt, erfährt der Mensch die Welt aufgrund seines Leibes nicht primär als Gegenüberstand und getrenntes Objekt. Vielmehr macht die Welt durch ihren selbstverständlichen Umstand den Zustand des Leibes mit aus. Dies gilt nicht nur für die Lokalisierung des Leibes, er ist auf dem Bett, unter dem Baum, etc., sondern auch für eine gemeinsame Gestimmtheit. Wie bereits aufgezeigt, lässt sich dies jedoch nicht auf ein Weltsubjekt zurückführen, das sich versuchen würde auszudrücken. 76
Zugleich beschreibt die gemeinsame Gestimmtheit keine nachträglich übertragene Stimmung des Menschen in die Welt. Das ‚Aussehen-nach-etwas’, durch das Welt primär wahrgenommen wird, zeugt davon, dass der Leib in erfahrungsunbedürftiger Verbindung zur Welt steht und deshalb der Ich-Bereich des Menschen weit über den Leibhorizont hinausgeht (vgl. Anders 1928b, S. 99). Wenn für den Leib des Menschen eine gemeinsame Gestimmtheit von Welt aufgezeigt werden soll, so kann dieser nicht an den Körperrandflächen aufhören. Ebenso hört auch der Blick des Menschen nicht an den Augenrändern auf, sondern bewegt sich in einem Zwischen – ist selbst der Bruch zwischen Innen- und Außenwelt (vgl. Plessner 1982, S. 11). Andererseits ist der Leib auch nicht bloß ein Teil von Welt, sondern eben eigenständig. „’Teil-Sein’ und ‚Darinnensein’ ist eben toto coelo Verschiedenes; und obwohl der Leib als solcher nicht endlich ist, ist er doch einer: so allerdings nicht durch Begrenztheit, sondern durch Gehörigkeit: ‚einer’ als ‚meiner’“ (Anders 1928b, S. 33). Begrenzt wird der Leib nicht durch die Körperflächen, sondern durch die Person, welche sich über ihren Körper hinauswagt. Durch dieses Außen ist der Leib selbst Weltstück und wird durch den Umstand der Welt mitausgemacht. So ist der Mensch aufgrund seines Leibes nicht nur in-der-Welt, sondern selbst Welt. „Wenn der Leib jedoch ein – wie es später heißt – materiales Apriori ist, dann gilt [...], dass er dem Menschen als Gehabtes schicksalhaft vorgegeben ist; seine Zustände können wechseln, er selbst ist eine conditio sine qua non“ (ebd., S. 68). Beispielsweise im Essen ist der Leib als materiales Apriori des Menschen verwirklicht – das Essen gehört als das ‚Meinige’ des Leibes existenziell zur Außenwelt und die Trennung zwischen Existenz und Essenz ist aufgehoben (vgl. Anders 1929, S. 112 f.). Die Ambivalenz des Leibes ist nun näher ausführbar. Zunächst erscheint der Leib als modifizierbarer Bereich, er lässt sich bewegen und ist somit der Sphäre der Freiheit zuzuordnen. Dann allerdings ist er selbst Schicksal und in seinem Dasein unhintergehbare Tatsache der eigenen Existenz. Letztlich ist er nicht nur irgendwie da, sondern stets in einem bestimmten Zustand, welcher sich dem weltlichen Umstand hingibt (vgl. Anders 1928b, S. 86). Wenn aber der Leib sowohl modifizierbar und unbegrenzt ist, als auch gleichzeitig in seiner Zugehörigkeit ein materiales Apriori darstellt, so tritt die Frage nach den Grenzen der Freiheit in den Vordergrund. Wo treten diese Grenzen auf, wie wird der Mensch aufgrund seines Leibes zum Grenzgänger der Freiheit? Mit der Einführung des Haben-Begriffes kann Günther Anders die Grenzen der Freiheit näher bestimmen. Der Leib wird gehabt, und dieses Haben steht vor jeder 77
Unterscheidung von Bewusstsein und existentem Gegenstand. Gegenstände des Bewusstseins können freigesprochen werden, wie in Kapitel 2.2 anhand der Vorstellungskraft aufgezeigt wurde. Der Leib jedoch, im Bereich des Habens zu verorten, lässt sich weder leugnen, noch auf andere Art und Weise abstrahieren (vgl. ebd., S. 72 ff.). Deshalb wird er der pathologischen Freiheit des Menschen, welche sich stets abheben will, zum nicht loszulösenden Anker von Welt. Der Leib ist stets bestimmt in seinem Zustand und beliebig in seinem gerade-hier und geradejetzt-sein (vgl. Dries 2012, S. 49). Im Beispiel eines Schmerzes wird dies deutlicher. Der Schmerz im eigenen Leib kann nicht sachlich gemeint werden, ohne ihn als den Meinigen zu meinen. Er lässt sich vom Leib nicht abstrahieren. „Das ‚mein’ ist aber eine Bezugskategorie, die vor jeder Spaltung des ‚Meinens’ in originäres und fingierendes a priori da sein muß“ (Anders 1928b, S. 81). Im LeibHaben steht die Erfüllung somit vor ihrer Intention, nicht wie bei den logischen Akten wie der Vorstellung. Der Leib wird nicht intendiert, um schließlich erfüllt zu werden, sondern er ist bereits erfüllt (vgl. Wittulski 1992, S. 27). Er stellt eine Grenze der Freiheit darin da, Apriori zu sein, wodurch er nur in der Umkehrung von den logischen Akten Intention-Erfüllung gemeint werden kann. Der Leib, der gemeint wird, ist bereits erfüllt (vgl. Anders 1928b, S. 83). Der Mensch weißt nun ebenso wie das Tier durch die garantierte Erfüllung seines Leibes ein materiales Apriori auf. „Alles dasjenige, was wir in der Macht haben, prinzipiell stets präsent zu machen, weil es die Präsenz mitausmacht (wie etwa die ‚Leiblichkeit’), weil Intention Erfüllung garantiert, nennen wir nun gehabt“ (ebd., S. 85 f.). Aufgrund des Unterschiedes zum freien Individuum-Sein, wird nun deutlich, worauf sich die Grenzen der Freiheit beziehen: Distanz. Freiheit verschwindet, wenn sie an Distanz verliert. Das Selbst vermag sich nicht von seinem Leib zu lösen, weshalb dieser faktisch ist. Der Leib wird zuständlich von der Welt ausgemacht und so bleibt der Zustand faktisch, bis das Selbst sich von der Welt distanziert (vgl. ebd., S. 105 f.). Zwar kann auch die faktische Verbindung von Leib und Welt als ‚Als-Beziehung’ angesehen werden, jedoch nur als ein ontologisches ‚Als’: „Dieses vorlogische Als ist die einzige Rechtfertigung dafür, daß Existenz überhaupt subjektprädikathaft aufgeteilt werden darf“ (ebd., S. 106). Im ‚Als’ wird die Doppelweltlichkeit des Leibes bewusst. Das Subjekt lebt gleichzeitig im logischen ‚Als’ seiner Freiheit und Distanziertheit zur Welt, wie im vorlogischen ‚Als’, in der Nähe und unhintergehbaren Verbindung mit der Welt. Hierin tritt Welt erneut 78
als erfahrungsbedürftige Einheit des Menschen hervor. So zum Beispiel im Essen: „[...] trotz aller Heideggerschen Beteuerungen ist der Mensch so ontisch, daß er sich Ontisches einverleiben muß, um ontologisch, nämlich ‚da’ zu sein“ (Anders 2001 zit. nach Dries 2012, S. 45). Mit dem Verlassen der Freiheit des Leibes, wird dieser auch kein erfahrbares Datum mehr – Freiheit und Erfahrung bedingen sich gegenseitig. „[...] als dauernd ‚gehabter’ (s. ‚Über das Haben’, S. 73 ff.) benötigt er ebenso wenig dauerndes ‚Erfahrenwerden’, wie dauerndes ‚Gewusstwerden’; die Bestreitung der Absenz besagt lediglich, dass Leib, insofern er überhaupt gemeint wird, stets auch direkt gewusst werden kann“ (Anders 1929, S. 156).
Hiermit ist ein apriorisches Instinktwissen beschrieben, welches anhand der Grenzen der Erfahrung näher beschrieben werden soll. An dieser Stelle wird nun explizit deutlich, dass sich Freiheit und Erfahrung bedingen. Braucht es kein Erfahrenwerden des Leibes, ist dieser selbstverständlich und apriori da, so kann auch nicht bewusst über ihn verfügt werden. Selbstverständnis und Selbstbewusstsein sind einander widerstrebende Personensachverhalte. Nur das, was unselbstverständlich wird und somit in Distanz steht, kann auch erfahren und bewusst gemacht werden.
4.2
Grenzen der Erfahrung
Die Grenzen der Mangelhaftigkeit zeigen auch Grenzen der Erfahrungsmöglichkeit auf. Auch hier wird deutlich, dass der Mensch nicht allein anhand seiner Uneingebundenheit beschrieben werden kann (vgl. Anders 1940/41, S. 170). Vielmehr steht das instinktive Wissen von Welt für eine Erfahrungsunbedürftigkeit, welche die Welt nicht in ein Gegenüber trennt. Im instinktiven Wissen ist die Trennung von Mensch und Welt noch nicht vollzogen. So weiß der Säugling bereits ohne jeweils den Mund, das Saugen oder die Mutterbrust zu intendieren von ihrer ontischen Verbindung, die mit dem eigenen Leben in existenziellem Zusammenhang steht. Wo das Sein des Menschen in seiner Mangelhaftigkeit 79
Unabhängigkeit hervorbringt, ist sein Miteinandersein im Instinkt gerade durch Abhängigkeit gekennzeichnet (vgl. Anders 1927, S. 95 f.). Instinkthafte Beziehungen sieht Anders vor allem in der Beziehung zwischen Mutter und Kind, Leib und Welt, Geschlechtern, sowie in jeglichen Beziehungen zwischen Pflanzen, Tieren und ihrer gemeinsam geteilten Welt (Kapitel 4.2.1). Die Schlafsituation nimmt eine weitere besondere Stellung des Menschen in den anthropologischen Untersuchungen von Anders ein. So steht sie stellvertretend für den stetigen Positionswechsel, welchen der Mensch in seinem Leben vollzieht. Insbesondere die Ichwerdung und mit ihr die Geschichtlichkeit des Menschen entsteht erst im Aufwachen des Schlafenden in die Wachwelt (vgl. Anders 1928, S. 125 f.). So transzendiert der Mensch beständig zwischen Weltfremdheit und Weltlosigkeit (Kapitel 4.2.2).
4.2.1 Instinktwissen als Transitivität von Mensch und Welt „Natürlich haben Verteidiger eines bornierten Wissenschaftsbegriffes immer wieder Anstoß daran genommen, daß ich angesichts dieser Fakten [der Erfahrungsunbedürftigkeit – siehe Kapitel 3.1.2] ungeniert das Wort ‚wissen’ verwende, und haben als ernste Akademiker dieses durch das andere Wort ‚Instinkt’ ersetzt. Sinnlose Ersatzhandlung. Denn dieser Terminus erklärt nichts; ist vielmehr auch nur eine, freilich etwas seriöser klingende, Bezeichnung für die von uns gemeinte Tatsache, daß es sich um ein Informiertsein handelt, das auf Inanspruchnahme üblicher Empirie nicht angewiesen ist.“ (Anders 2011, S. 122)
Wogegen sich Anders hierbei wehrt, ist nicht nur das Austauschen des Begriffes ‚Wissen’ durch ‚Instinkt’, sondern vor allem die Gründe dieses geforderten Tausches. Anders distanziert sich gegen die Beschränkung der Philosophie auf den einsamen erwachsenen Menschen, welcher lediglich ein Sachverhältnis mit der Welt pflegt. Er fordert den Instinkt als ebenbürtigen Teil des menschlichen Lebens in der Wissenstheorie zu berücksichtigen. Das Verhältnis des Menschen zur Welt kann hierbei nicht in einem Subjekt-Objekt-Verhältnis erschöpfend beschrieben werden, in dem die Trennung von Mensch und Welt bereits vollzogen ist (vgl. Anders 1927, S. 93 ff.). Dabei wird deutlich, dass sich das Sachverhaltswissen 80
über die Welt aus der Erfahrung des Menschen schöpft und ein Wissen, welches die Welt instinktiv weiß, nicht auf nachträgliche Erfahrung angewiesen sein kann. In Kapitel 3.1.2 wurde bereits betont, dass menschliches Leben nicht individuell beginnt, sondern stets indivisa, also noch nicht geteilt, ist. Auch im Säugling sieht Anders eine Unbedürftigkeit von Erfahrung bestätigt, welche sich durch die Untrennbarkeit von Organ (Mund), Handlung (Saugen) und Gegenstand (Mutterbrust) auszeichnet. Im Essen, worin er die existenzielle Abhängigkeit des Menschen von der Welt sieht, bleibt dieses apriorische Instinktverhältnis auch im Laufe des Lebens erhalten (vgl. Anders 1929, S. 112 f.). Bedarf es somit einer Auslassung dieses transitiven Weltverhältnisses, um den Menschen als Individuum auszuzeichnen? Wie lassen sich die Übergänge eines ursprünglich vereinten Wesens zum einsamen erwachsenen Wesen verstehen, wenn es doch die gleiche leibliche Existenz bleibt? „das herkömmliche Ich wird sich als das Ich des einsamen erwachsenen hominis sapientis quod philosophi herausstellen; als das Ich dessen, der nicht so sehr Erfahrung hat als (im Gegensatz zum Tier oder Kind) auf die nachträgliche Beziehung zu seiner gegenüberständlichen Welt, d.h. auf Erfahrung angewiesen ist.“ (Anders 1927, S. 95)
Für Anders ist diese Reduzierung auf ein von der Welt getrenntes und schließlich weltfremdes Individuum nur dadurch legitimiert, dass das menschliche Leben auf die unhistorische Phase der Erwachsenheit beschränkt wird. Er fordert somit eine Miteinbeziehung des menschlichen Werdens, wie auch der apriorischen Weltbeziehung in die Erkenntnistheorie (vgl. Anders 1929, S. 111 f.). Zunächst ist der Unterschied zwischen den Verhältnissen zur Welt jedoch nicht auf ein bestimmtes Lebensalter zurückzuführen, sondern unterscheidet sich durch die Art und Weise des Ansprechens von Welt. Das ‚Ansprechen-Als’ kann hierbei entweder von einer logischen oder einer ontologischen Beziehung bestimmt sein. Das sachverhaltlich logische Wissen über die Welt betrifft ein Wissen, welches besteht. Dieses bestehende Wissen ist zu unterscheiden von einem Wissen, welches das Sein selbst betrifft (vgl. Anders 1927, S. 103 f.). Dieses Sein ist dann transitiv, wenn es nicht solipsistisch sein kann, sondern nur ist, insofern es auch abhängig ist – insofern es nur ist, da etwas Anderes Garant für 81
die eigene Existenz ist. Eben dies trifft in den Beschreibungen von Anders auf die Beziehungen von Mutter-Kind, Leib-Welt, Pflanze-Insekt, Mann-Frau, Essen-Nahrung usw. zu. „in der Tat richtet sich hier zwischen Subjekt und Objekt keine Glaswand auf [...]. Subjekt und Objekt (das in diesem Falle eben wiederum ein Subjekt ist) liegen von vornherein auf gemeinsamer Seinsebene [...]“. (ebd., S. 105)
Zwar hebt auch eine ontologische Wissensbeziehung die Subjektivität nicht vollständig auf, sodass die einander Wissenden sich objektiv wüssten. Jedoch sprechen sich diese in gegenseitiger Abhängigkeit an – sie sind füreinander ansprechend. So weiß das Kind die Mutter nicht objektiv, aber das MutterSein stellt für Anders nicht bloß einen Sachverhalt unter anderen dar, sondern eine Seinsbeziehung. Das transitive Wissen beinhaltet jedoch keine Verständnisdeckung oder Angleichung der sich-Wissenden. Vielmehr leben beide vom Anderen, insofern er anders ist. „Materiales Vorwissen heißt niemals Mitverstehen mit anderen, sondern Sich-auf-das-mit-dem-Andern-sein-Verstehen“ (Anders 1929, S. 402). Auch in der Betrachtung der Sinne neben dem SehSinn bestätigt sich dies für Anders. So ist die Rose für den Riechenden da, und nicht im Gegensatz zum Riechenden dort. Das Sachverhaltswissen, welches aus der Erfahrung des Menschen erwächst, lässt sich auch hier wieder mit einem Sehen-in-Distanz gleichsetzen. Im Gegensatz zu den ontologischen Beziehungen ergeben sich hier logische Beziehung, welche die Welt als etwas sehen, um sie nachträglich zu bestimmen. Diese Welt als Sachverhalt bestimmt eine „Haltung des Fortschiebens, der Distanzierung, der Isolierung, der Verselbständigung, des Vergegenständlichens, der Gleichgültigkeit und somit die Haltung der Theorie“ (Anders 1927, S. 106). Die Einheit, welche die sich-Wissenden in den ontologischen Beziehungen gebildet haben, löst sich in den logischen Beziehungen Anders zufolge in Dualismen auf. Dies liegt an der Art und Weise des Voneinander-wissens. Wo die ontologisch-Wissenden in ihrem Sein vom Anderen abhängig waren, ist das Sein desjenigen, der die Welt als Sachverhalt anspricht, unabhängig von diesem Anspruch. Sachverhalte bestehen unabhängig vom Sein und beschreiben somit eine Beziehung zur Welt, die unabhängig ist vom Wissenden selbst. 82
Dies bezeichnet die von Anders prognostizierte Weltfremdheit des Menschen – logische Beziehungen zur Welt erwachsen aufgrund der Erfahrung nachträglich. Da sie unabhängig vom ontologischen Zustand des Menschen sind, steht er hier in prinzipieller Distanz zur Welt, einsam und frei (vgl. Anders 1927, S. 107 ff.). Gerade für diese beiden unterschiedlich und getrennt wirkenden Beziehungsformen stellt Anders Übergänge zueinander fest. Ihm zufolge gibt es sowohl eine Apriorisierung von Erfahrungswissen, wie auch eine Aposteriorisierung von Instinktwissen. Eine Aposteriorisierung ergibt sich beispielsweise dann, wenn die instinktiv gewusste Mutter erfahrungsbedürftig wird – wenn sie nur noch Mutter unter Müttern ist und schließlich Frau, Berufstätige, usw. Eine Apriorisierung hingegen findet Anders in der Geschlechtsreife. Das vorher aposteriorisch erfahrene Wissen über die eigene Geschlechtlichkeit wird dem Geschlechtsreifen apriorisch. Er benötigt kein Sachverhaltswissen mehr, sondern weiß transitiv vom anderen Geschlecht (vgl. Anders 1929, S. 159 f.). Ebenso wird die Erfahrenheit eines Menschen zu einem aposteriorischen Apriori des Lebens: „’Erfahrung’ bedeutete in der Philosophie ja stets den Akt des Erfahrens, niemals aber den menschlichen Stand des Erfahrungen-Habens, des Erfahren-Seins, der durch Addition von ‚Erfahren-haben’ und Gedächtnis respektive Gewohnheit erklärt bzw. diskreditiert wurde. Mit dieser Addition wird die ‚Erfahrung’ der Erwachsenen niemals erschöpft.“ (ebd., S. 164 f.)
Das Erfahren-Sein nähert sich damit in apriorisierender Art und Weise dem Instinktwissen an – es wird zur zweiten, nachträglich erfahrenen Natur des Menschen. Damit stellt es nun jedoch selbst die Grenzen der Erfahrung auf. Der durch Erfahrenheit Ausgezeichnete weiß, wie es in der Welt zugeht und hat deshalb keinen Bedarf an weiteren Erfahrungen. Das, was zum Apriori der eigenen Existenz wird, besteht nicht nur unter Anderem, sondern ist zwingend evident (ebd., S. 163 f.).
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4.2.2 Schlafen und Wachen als Positionswechsel des Menschen26 Anders geht davon aus, dass sich der Mensch immer in einer bestimmten Stellung zur Welt befindet. Im wachen Zustand ist diese bestimmte Stellung gekennzeichnet durch Unbestimmtheit. Hierin ist er angewiesen auf Erfahrung und darauf, in der Erfahrung die distanzierte Welt jeweils zu seiner zu machen. Die Erfahrung stellt für Anders eben jene Doppelposition zur Welt dar, wie sie charakteristisch ist für den Menschen. Er steht abseits von Welt und ist zugleich darauf angewiesen diese Abseitigkeit zu überwinden. Im Aufsatz ‚Die Positionen Wachen – Schlafen. Relativierender Exkurs’ stellt Anders dieser Position des Wachens die Position des Schlafens gegenüber. Dabei geht er davon aus, dass sich die Position des Schlafenden durch eine andere Form von Weltfremdheit auszeichnet, als die des wachen Menschen. Genauer geht es ihm um eine erkenntnistheoretische Aufklärung der Transzendierung menschlicher Positionen. Dass es sich beim Menschen um eine transzendierende Positionalität handeln muss, erweist sich Anders vor allem im Hinblick auf seine Geschichtlichkeit und die Beobachtung eines Einschlafenden. Zwar gibt es für Anders verschiedene Positionswechsel, etwa in Krankheit, Trance oder im Rausch, doch tritt keiner so regelmäßig auf wie der Schlaf, weshalb Anders diesen als Gegenstand der Untersuchung wählt (vgl. Anders 1928, S. 120 f.). Der Mensch ist, da er den Schlaf zum Wachsein benötigt, dazu verurteilt, seine Positionen ständig zu transzendieren (ebd., S. 133). Eine erste theoretische
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Das Träumen ist Anders zufolge keine Widerlegung des Positionswechsels von Schlafen und Wachen, insofern im Träumen auch Erfahrungen mit der Wachwelt gemacht werden. Träumen zeugt zwar von der Wachwelt, allerdings innerhalb der Position des Schlafens – enthistorisiert und entindividualisiert. Zwar werden auch im Traum neue Erfahrungen gemacht und die Welt erscheint als Material, aber nicht in gleichem Sinne wie die Welt Material für das wache Ich ist. Vielmehr nimmt der Traum die unbestimmte Welt des Wachseins als bestimmte und unwiderrufliche Welt – die Traumwelt zeugt von der Geschichtlichkeit des Schlafenden als Wachen-Könnendem (vgl. Anders 1928, S. 135 f.). So kann im Traum ja gerade nicht frei vorgestellt oder abstrahiert werden. Träumen kann nach Anders somit nur derjenige, der als Wachender die Welt als Material nimmt und zugleich stets von ihr getrennt ist (vgl. ebd., S. 133 f.).
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Annäherung an den Positionswechsel, lässt sich in der Beobachtung eines Einschlafenden finden. In Kapitel 3.2 wurde aufgezeigt, dass sowohl das Sehen, als auch das Gesehen-Werden einer möglichen Erfahrungskommunikation zugerechnet werden muss (vgl. Anders 1928b, S. 21). Die Erfahrung des Anderen ist nur dann möglich, wenn sich der Andere in gewisser Weise aufschließt. Dieses Aufgeschlossensein, das den voneinander Erfahrenden zugesprochen werden muss, ist nun für Anders beim Schlafenden völlig unrealisiert. „In der Tat ist zwar das langsame Einschlafen eines Menschen sichtbar, aber nicht im selben Sinne wie das Aufwachen, das von sich aus dem Gesehen-Werden entgegenkommt“ (ebd., S. 36). Der Schlafende ist nicht nur anders in der Welt, sodass er von ihr auch auf andere Art und Weise erfahren kann, er ist in einer anderen Welt. Zeugnis davon hat für Anders derjenige, der den Einschlafenden sieht und ihn dabei entsinken sieht. Mit dem Nicht-mehr-aufgeschlossensein des Schlafenden kommt nun gleichsam das Ungesehen-werden des Beobachters – beide Seiten der Kommunikation sind entsunken und tauchen erst mit dem Aufwachen wieder auf. Eine gegenseitige Erfahrung in der Welt ist also nur den Wachen möglich (vgl. Anders 1928, S. 125). Weiterhin erschließt sich eine Aufklärung des Positionswechsels aufgrund der Geschichtlichkeit des Menschen. Wachsein ist für Anders gleichzusetzen mit Historischsein, insofern sich der Mensch stets in Zeiten bewegt: „Ist aber Wachsein so viel wie ‚wieder derselbe wie gestern, vorgestern etc. Sein’, so heißt Wachsein Historischsein“ (ebd., S. 135). Selbst die Veränderung in der Zeit, im Sinne von ‚Ich war ein Anderer’ oder Ähnlichem behält das Ich als Fixpunkt und stetiges Relikt der Veränderung bei. Die Individuierung des Ichs ist zeitlich geformt, was sich für Anders auch im Positionswechsel von Schlafen und Wachen erweist. „[E]s ist immer dieselbe Nacht, in die man einschläft, es ist immer ein anderer Tag, in den man aufwacht“ (ebd., S. 128). Tage werden gezählt, etwa durch Kalender, Nächte bleiben jeweils Einzelnächte. Das Ich bildet deshalb ein historisches Kontinuum, da es von sich als Gestrigem und Morgigem weiß. Zwar weiß es ebenso von sich als gestern und morgen Schlafendem, einmal eingeschlafen entgleitet dieses Wissen jedoch zusammen mit dem Ich selbst in den Schlaf. Dieses Aussetzen vom Ich und somit auch der Möglichkeit von Erfahrung im erkenntnistheoretischen Sinne wird für Anders zum Skandal für die Philosophie – ihm zufolge habe diese nie den gesamten Menschen betrachtet, sondern 85
jeweils den begrenzten Teil wachen und erwachsenen Lebens zum Eigentlichen des Menschen verabsolutiert (ebd., S. 118). Die Miteinbeziehung der Position des Schlafens in die philosophische Aufschließung menschlichen Seins erfordert nun eine Relativierung der erkenntnistheoretischen Charaktere. So zunächst in dem Verhältnis von Apriori und Aposteriori: „die für den wachen Menschen apriorischen Tatsachen, dass es so etwas wie Welt als Rahmen möglichen Aposterioris, oder dass es ‚mich’ als Pol möglicher Erfahrung gebe, ist für den Aufwachenden aposteriorisch, ja das Aposteriori schlechthin“ (ebd., S. 125).
Ein Bewusstsein von Welt erschließt sich für Anders nur für denjenigen, dem auch er selbst bewusst ist. Dies steht komplementär zu der Feststellung, dass Natur nur von dem getroffen wird, der nicht selbst Natur ist (vgl. Anders 1930, S. 20). Nötig für ein Bewusstsein von Welt ist also wiederum die Distanz zu ihr. Die apriorische Tatsache, dass es überhaupt Welt gibt, muss also vom Erwachenden aposteriorisch erfahren werden und erfordert eine Anpassungsleistung in das wache Ich in Gegenüberstand zur Welt. Wie ist das möglich angesichts der Tatsache, dass der Schlafende doch an Ort und Stelle bleibt? Anders erklärt dies anhand der transzendierenden Positionalität des Menschen. Die Welt und mit ihr das Ich ist für den Schlafenden schlichtweg nicht da – die Welt ist transzendent, sodass der Schlafende von ihrer Existenz nichts weiß (vgl. Anders 1928, S. 131). Insofern ist der Schlafende für Anders vergleichbar mit dem Tier, denn beide erleben weder die Welt als Möglichkeit, noch das Ich im Zeitkontinuum. Die Möglichkeit von Erfahrung und die aposteriorische Erfahrung von Ich und Welt ist für Anders zunächst als Krise gekennzeichnet. Die Welt drängt sich dem Aufwachenden als Widerstand auf. Stellte der Schlaf eine subjekt-objekt-neutrale Stimmung dar, in der Welt nicht als Objekt existiert, ist nun das Aufwachen die Trennung von Ich und Welt in Gegenüberständliche und die Neutralität von Welt geht verloren (vgl. Anders 1928b, S. 58 f.). Aufwachen ist hier also Individuation, Ich-Werdung. Erst mit dem Aufwachen in die Trennung von Ich und Welt erwächst für Anders auch der Anspruch, beziehungsweise das Ansprechen von Welt, als diese oder jene. Für den Schlafenden gibt es nichts zu tun, es existiert kein Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Vorfindlichem und Gebührendem (vgl. Anders 1928, S. 127 f.). 86
Somit ist er auch nicht auf Erfahrung angewiesen. Die Angewiesenheit auf Erfahrung ergibt sich erst aufgrund der ontologischen Getrenntheit von Mensch und Welt und somit erst durch seine Weltfremdheit. Die Position des Menschen ist also nur durch Positionswechsel beschreibbar. Er pendelt hier zwischen der Weltlosigkeit des Schlafenden und der Weltfremdheit des Wachen. Dem Menschsein muss also „dauernder Positionswechsel, wechselnde Nähe und Ferne, wechselnde Freiheit und Unfreiheit“ von vornherein eingerechnet werden (ebd., S. 129). Gerade in der Kritik an der philosophischen Anthropologie, wie sie in Kapitel 5.2 dargelegt wird, stellt sich dieser Wechsel zwischen Freiheit und Unfreiheit erneut heraus. Darüber hinaus wird in Kapitel 5 ein erneuter Blick auf die negative Anthropologie von Anders im Kontext seines Gesamtwerks geworfen. Hierbei soll die Arbeit also nicht bloß in ihren wesentlichen Punkten zusammengefasst (Kapitel 5.3), sondern auch eine kritische Perspektive auf die negative Anthropologie aufgezeigt werden.
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5. Kritik und Resümee Eine Analyse der negativen Anthropologie von Günther Anders kommt nicht drum herum, auch die scharfe Kritik zu thematisieren, welche Anders an der philosophischen Anthropologie übte. Zunächst ist aufzuzeigen, dass Anders der Vergleich zwischen Mensch und Tier suspekt darin wird, dass hierin jegliche Tierspezies auf lediglich einen Nenner gebracht werden (vgl. Anders 42018a, S. 366). Dies und die Tatsache, dass Anders vor dem Hintergrund der aktuellen Lebenswelt des Menschen ein Vergleich zwischen Mensch und Tier antiquiert erscheint, soll in Kapitel 5.1 weiter ausgeführt werden. Darüber hinaus unterzieht Anders den Versuch einer Definition des Menschen einer sozialkritischen Analyse. So wird ihm die Wesensbestimmung des Menschen gerade deshalb suspekt, da sie einer Herrschaftsideologie in die Hände spielt, welche den Menschen gleichschaltet und ihn so seiner Freiheit beraubt (vgl. Anders 1936/37, S. 79 ff.). Letztlich kann eine sozialkritische Analyse ihr Fundament der Kritik aus einer negativen Anthropologie schöpfen. Die jeweiligen machtstrukturellen Zurichtungen des Menschen können so, da sie den Menschen einer Bestimmung unterziehen, als Form der Entmenschlichung enttarnt werden (Kapitel 5.2).
5.1
Der Mensch-Tier-Vergleich in der negativen Anthropologie von Günther Anders
Die Frage nach dem Wesen des Menschen und seiner Stellung zur Welt führt Anders in seinen frühen anthropologischen Schriften in einen Vergleich zwischen Mensch und Tier. Dies lässt sich vor allem vor dem Hintergrund der Tatsache begreifen, dass Anders sich in den 1920er Jahren, auch um sich von der Fundamentalontologie Heideggers abzugrenzen, vermehrt mit Max Schelers und Helmuth Plessners Anthropologien beschäftigte. Diesen, ins biologische und zoologische 88
greifenden Anthropologien im Geiste folgend, versuchte auch Anders sich an einer philosophischen Anthropologie (vgl. Dries 2018, S. 506 Anm. 49, S. 447). So schreibt er: „Diese anthropologische Untersuchung erfordert ihrerseits als Folie die Darstellung des Verhältnisses von Vorsatz und Nachnahme beim Tier, das ein grundsätzlich anderes ist als beim Menschen. Diese Folie wird während der ganzen Untersuchung sichtbar bleiben.“ (Anders 1929, S. 172)
Die negative Anthropologie der Weltfremdheit des Menschen entfaltet sich vor dem Hintergrund des Anders-Seins des Tieres. Das Tier kontrastiert die Weltfremdheit, insofern es diese gerade nicht zum Gegenstand hat, sondern in Welt eingebettet ist. Es liegt jedoch nahe, dass das Tier nicht aufgrund irgendeiner speziellen Tierhaftigkeit zu diesem Kontrastbild taugt, sondern aufgrund eines bestimmten Prinzips, welches Anders, wie auch Scheler und Plessner, im Tier verhaftet sehen. Dieses Prinzip ist die selbstverständliche Einbettung eines Wesens in die Welt und lässt sich, ohne die spezifischen Differenzen verleugnen zu wollen, ebenso in der kindlichen Existenz, wie in der Leiblichkeit des Menschen oder im Schlafenden auffinden. Nur vor dem Hintergrund einer gänzlich anderen Stellung zur Welt, ist es Anders möglich, die Weltfremdheit des Menschen zu ergründen. Dabei wird deutlich, dass der Mensch für Anders nicht mit einer definierbaren Wesenhaftigkeit beschreibbar, sondern gerade durch Wesenslosigkeit gekennzeichnet ist (vgl. Anders 1930, S. 11 f.). Dieser Methodik, vor allem der Reduzierung des Tieres auf eben jenes Prinzip, steht Anders in seinen späteren Schriften vehement kritisch gegenüber. Anders möchte das spezifisch Unspezifische am Menschen, seine Freiheit, nicht als positive Sonderstellung gegenüber anderen Lebewesen wissen (vgl. Liessmann 2002, S. 46). Selbstkritisch bemerkt er, dies sei nur denkbar vor der Folie eines konstruierten Vergleichs zwischen Mensch und Tier und der Unterstellung des unfreien und natur-bestimmten Tieres als solches, also einer Uniformierung aller Tierspezies. In seinem ersten Band der Antiquiertheit des Menschen relativiert er sogar seine frühen Untersuchungen zur philosophischen Anthropologie. So erscheint es ihm hier mehr als fraglich, die eine Spezies Mensch mit dem Singular einer eigentlich unendlich vielfältigen Tierwelt zu vergleichen – dies sei „anthropozentrischer Größenwahn“ (Anders 42018a, S. 366). 89
Auch wenn Anders seine frühen Schriften im Hinblick auf diesen ‚Größenwahn’ selbstkritisch relativiert, bleibt die Weltfremdheit weiterhin Fixpunkt, nunmehr sogar Fixpunkt der Kritik, seiner Untersuchungen (vgl. Dries 2018, S. 480). Für diesen Wechsel von negativer Anthropologie zur sozialkritischen Anthropologie bedarf es jedoch ebenfalls eines Wechsels der Hintergrundfolie, vor dem der Mensch betrachtet wird. Effektiver, im Sinne von tatsächlicher Bezugspunkt der menschlichen Selbstwahrnehmung, sind Anders zufolge nicht Vögel, Hunde oder Insekten, sondern die von ihm produzierten Geräte und Maschinen (vgl. Anders 42018a, S. 366). Sozialkritisch wird dieser Folienwechsel, da nach Anders der Mensch vor dem Hintergrund seiner Geräte nicht als frei und wandelbar erscheint. Vielmehr ist gerade er unfrei, tölpelhaft, in seiner Leiblichkeit eingeschränkt und vorbestimmt, wohingegen die Geräte frei, wandelbar, flexibel, anpassungsfähig und prinzipiell unbestimmt sind (vgl. ebd., S. 33). Die sich durch den Folienwechsel scheinbar widersprechenden Ansätze, können vor dem Hintergrund des jeweiligen Interesses parallel gelesen werden. Dreh- und Angelpunkt ist die Weltfremdheit des Menschen, welche es im Angesicht der drohenden Entmenschlichung durch die Technokratie nun zu verteidigen gilt (vgl. Dries 2018, S. 480). Dafür spricht auch, dass sich viele Bestandteile und zentrale Themenfelder in der Anthropologie, wie in der Technikphilosophie wiederfinden – so zum Beispiel die Freiheit als Unbestimmtheit, die Möglichkeit von Erfahrung, Leiblichkeit, Scham, etc. So liegt es beispielsweise nahe, dass die Scham vor den Geräten und der Mangel des Menschen im Angesicht moderner Apparate den Bereich des Menschlichen beschreibt, welcher in den frühen anthropologischen Untersuchungen als ‚ontische Mitgift’27 beschrieben wird – schon hier für den Nihilisten ein Grund zur Scham (vgl. Anders 1936/ 37, S. 56 f.). Die Parallelen sind deutlich und verschwimmen lediglich durch den Interessenwechsel, welchen Anders zwischen früher Anthropologie und später Technikphilosophie vollzieht.
27
Beispielsweise seine Einzigartigkeit und sein Geborensein, wie auch die Faktizität des Leibes.
90
5.2
Kritik einer Definition des Menschen28
Rückblickend stellt Anders in seinen ‚Ketzereien’ selbstkritisch fest: „In der Tat sind wir, wenn wir ‚philosophische Anthropologie’ treiben, nicht weniger komisch, als es Wäscherinnen wären, wenn sie den Menschen als ‚animal lavans’ definieren würden“ (Anders 1996, S. 93). Die Definitionsproblematik des Menschen, welche sich hier humorvoll darbietet, durchzieht den Andersschen Bezug zur philosophischen Anthropologie wie einen roten Faden. So lässt er auch in seinem antinationalsozialistischen Roman mitteilen: „’Nimm Dich in acht’ warnte ihn Olo, ‚vor dem Singular der Philosophen. Er vertuscht’“ (Anders 1992, S. 233). In der Wesensbestimmung des Menschen bzw. dem Versuch ihn auf eine Definition zu fixieren, sieht Anders dann auch die Parallelen zum Nationalsozialismus, insofern sich die Frage nach dem Wesen des Deutschen zunehmend zu einer ausgrenzenden und unterdrückenden Praxis verschärfte (vgl. Müller 2012, S. 35). Hier wird ihm eine Tendenz der philosophischen Anthropologie bewusst, welche sie als Zuspieler der Machthabenden entlarvt. Die Kritik an der Festlegung des Menschen durch die philosophische Anthropologie macht sich bei Anders nun zunehmend durch Einschränkungen und Grenzziehungen bemerkbar. „Es ist in der Tat ein Problem, ob überhaupt eine allgemeine Anthropologie und nicht nur eine Interpretation und ideologische Erklärung bestimmter Epochen und Menschbegriffe erlaubt bzw. sinnvoll sei“ (Anders 1929, S. 141). So ist die Unterstellung einer Bestimmbarkeit des Menschen nur aufgrund einer Bestimmung des Menschen denkbar. Nach Anders kann sich somit die philosophische Anthropologie allein daraus legitimieren, insofern sie dem Menschen eine theistische Bestimmung 28
Die Unterscheidung zwischen philosophischer Anthropologie und Philosophischer Anthropologie wurde von Marcel Müller (2012) mit Rückgriff auf Joachim Fischer dezidiert ausgearbeitet und in Bezug zu Günther Anders gesetzt. Die Philosophische Anthropologie bezeichnet eine bestimmte Denkschule, zu der unter anderen Scheler und Plessner gezählt werden, wohingegen mit philosophischer Anthropologie eine Methode zur philosophischen Untersuchung der Frage nach dem Wesen des Menschen gemeint ist.
91
unterstellt, bzw. die Welt aus einem bestimmten Grund für den Menschen geschaffen ist. Einer solchen Bestimmbarkeit muss der Atheist Anders skeptisch gegenüberstehen (vgl. Dries 2012, S. 79). Anders weist jedoch auch immanent, aus den eigenen anthropologischen Untersuchungen, auf ein kritisches Verhältnis zur philosophischen Anthropologie hin. Seine Analysen zur pathologischen Freiheit schließt Anders mit einer anthropologischen Betrachtung der menschlichen Tat. Hierbei steht die philosophische Anthropologie jedoch grundsätzlich vor einem Problem, denn die Seinsweise des Handelns ist das Werden. Solange sich Anthropologie jedoch mit dem Wesen des Menschen befasst, wird ihr der handelnde Mensch stets durch die Finger gleiten29. Im französischen Exil, in der die pathologie de la liberté erschienen ist, wird Anders das anthropologische Fragen selbst fraglich (vgl. Müller 2012, S. 34 f.). „Die Philosophische Anthropologie mit ihrem Problem der Definition des Menschen hat sich angesichts der menschlichen Tat als ein produktives Missverständnis zu betrachten und sich selbst ein Ende zu setzen. (Anders 1936/37, S. 80)
Die Definition des Menschen, als Finition, also Grenzsetzung bzw. Wesensbestimmung, muss also, da der Mensch sich in seinem Handeln permanent neu definiert, stets ins Leere treffen. „In diesem ununterbrochenen Selbstdefinieren, das der tätige Mensch vorführt, ist es vergeblich, sich auf die Geschäftsordnung zu berufen und einen Moment Unterbrechung zu fordern, um die Frage nach der ‚eigentlichen’ Definition zu stellen und zu ermitteln, wer der Mensch im ‚eigentlichen’ Sinn sei. Es gibt nichts Suspekteres als diese Eigentlichkeit.“ (ebd., S. 80 f.)
29
Letztlich rückt Anders selbst von seiner negativen Anthropologie aufgrund der sich radikalisierenden Technokratie ab. Sie versperre die Sicht für die offenliegende Unfreiheit, welcher aufgrund eben jenem gesellschaftlichen Wandel, eine besondere Aufmerksamkeit zugewendet werden muss. Anders reicht dieser Wandel jedenfalls aus, seiner ‚vormoralischen’ Anthropologie den Rücken zu kehren und zu einer technikkritischen Anthropologie zu finden. (vgl. Dries 2012, S. 62 ff.)
92
Die Kritik der philosophischen Anthropologie aufgrund der menschlichen Tat lässt sich auch hier als politische Kritik lesen. So kritisiert Anders jegliche Eigentlichkeit des Menschen, welche es bestimmten Interessensgruppen ermögliche, den Menschen gleichzuschalten und ihn somit seiner Freiheit zu berauben. „[Die philosophische Anthropologie] macht aus der Autonomie eine Sache der Selbstdefinition; und während sie den Menschen lehrt, seiner ‚Eigentlichkeit’ hinterherzulaufen, überlässt sie ihn denen, die daran interessiert sind, ihn gleichzuschalten, und bringt ihn um seine Freiheit.“ (ebd., S. 81)
Deutlich wird hierbei nicht nur, dass sich die Freiheit bei Anders nun explizit als moralische Kategorie manifestiert, welche es gegen die ‚Eigentlichkeit’ zu verteidigen gilt. Hier spricht also der Moralist Anders, welcher seine Anthropologie auf spezifische Art und Weise ja gerade jeglicher Moraltheorie und praktischer Moral vorangestellt sieht. Gerade aus der Kritik jeglicher ‚Eigentlichkeit’ als Wesensbestimmung des Menschen lässt sich die negative Anthropologie, welcher sich Anders widmet, verstehen. Durch ihre Negativität verzichtet diese auf Ausformungen der Eigentlichkeit. Einer Erhabenheit ist die Anderssche Anthropologie dabei entledigt. Sie verzichtet sowohl auf ihre Legitimation aus theistischer Bestimmung, weiß um die Gefahren ihrer politischen Instrumentalisierbarkeit und bringt sich durch die Bestimmung des Menschen als Unbestimmten gegen jene Eigentlichkeit in Stellung. In diesem Sinne betreibt Anders eine „kritische Selbstaufklärung der Anthropologie“ (Lohmann 1996, S. 155). Den Menschen als Unbestimmten zu bestimmen darf somit nicht darüber hinwegtäuschen, die gesellschaftlichen Zwänge und Ordnungen zu hinterfragen, in denen menschliches Leben stattfindet. Unbestimmtheit kann vielmehr der kritische Ausgangspunkt sein, von welchem die sozialen Zwänge in Augenschein genommen werden. Statt sich also auf das Eine, das Wesen, die Welt, die Position und die Stellung des Menschen zu berufen, resultiert Anders negative Anthropologie in Pluralität, Ambivalenzen und Dialektik. Anders schlussfolgert: „Nicht durch Zweiseitigkeit entsteht Position, sondern Position als eine Position ist zweiseitig“ (Anders 1929, S. 147). Die Position des Menschen in der Welt besteht somit aus den Perspektiven der ‚Weltfremdheit’ und der ‚Freiheit’. Die Stellung des Menschen ist einerseits eine „Gestelltheit des Menschen in der Welt“, aber auch eine „Stellung zur 93
Welt“ (ebd., S. 147). Und die Welt, das sind plurale Welten, denen der Mensch zukommen und abkömmig sein kann. Insofern Anders also die Seinsweise des Menschen untersucht, untersucht er diese in der Mehrdeutigkeit, die ihrem spezifischen Sein mitgegeben ist (vgl. ebd.).
5.3
Resümee
Ziel der Arbeit war es, die Dialektik von Distanz und Nähe als das zentrale Motiv der negativen Anthropologie von Günther Anders nachzuweisen. Ausgangspunkt dieser These war, dass die Fähigkeiten und Vermögen des Menschen für Anders nicht einfach aus einer positiven Bestimmung lediglich als Tatsachenbestände aufzufassen, sondern selbst erklärungsbedürftig sind. Die Erklärung der menschlichen Vermögen liefert Anders aus der Position des Menschen heraus, welche er als eine distanzierte Position in der Welt kennzeichnet (vgl. Anders 1930, S. 15 f.). Da sie Ausformungen dieser Position darstellen, verweisen die Vermögen des Menschen letztlich wiederum auf die Distanziertheit beziehungsweise Weltfremdheit des Menschen. Kapitel 2 widmete sich eben diesen menschlichen Vermögen, insbesondere der Freiheit, der Vorstellung, dem Verzicht und der Abstraktionsfähigkeit. Abstrahiert werden lässt sich da, wo Gegebenes als Mögliches ausgewiesen werden kann und somit die Wirklichkeit keine Notwendigkeit darstellt. Auf das Gegebene zu verzichten und die eigene Vorstellung der Realität vor-zustellen ist nach Anders da möglich, wo keine notwendige Abhängigkeit zu dieser Realität besteht – wo die Welt prinzipiell auch anders sein kann (vgl. Anders 1936/37, S. 48 f.). Die Freiheit des Menschen verweist deshalb auf ein Abständigsein des Menschen von der Welt, auf eine fehlende Einbettung in ihre Materialität, welche es dem Menschen vorschreiben würde, wie die Welt sein muss. Der Mensch „ist zugeschnitten auf eine Welt, die es nicht gibt, zu deren nachträglicher Realisierung er aber frei ist, für die er sich einsetzt, an deren Realisierung er eminent interessiert ist“ (Anders 1930, S. 21). Für Anders ist der Mensch zwar frei, also unabhängig von der Welt, jedoch ebenso dazu verurteilt, diese Freiheit nachträglich aufzugeben. Aufgeben muss der Mensch seine prinzipielle Freiheit jeweils im Zur-Welt-Kommen, also der Erfahrung von Welt. Dieses Zur-Welt-Kommen galt es näher aufzuklären. 94
Nachdem Kapitel 2 die Distanziertheit des Menschen in der Welt jeweils als eine Bedingung menschlicher Vermögen mitdachte, widmete sich Kapitel 3 der Frage, inwiefern der Mensch in der Kommunikation mit der Welt überhaupt noch distanziert zu ihr ist. Wenn die Distanz als Grundmotiv menschlicher Position nachzuweisen sein soll, so muss diese auch in der Erfahrung erhalten bleiben. Dies ließ sich aufgrund der ontologischen Untersuchungen der Erfahrung bei Anders ergründen. Erfahrung macht der Mensch mit dem Nicht-selbstverständlichen und Erklärungsbedürftigen. Sie antwortet so auf die Nötigkeit, der Welt nicht prinzipiell eingebunden zu sein, sondern sie nachträglich einholen zu müssen. Die Erfahrung des Anderen ist für Anders somit die ursprüngliche Erfahrung eines weltfremden Wesens, welches sich in der Welt zurechtfinden muss (vgl. Anders 1930, S. 20 f.). Letztlich wird bei der Betrachtung der Erfahrung, welche als Praxis des Sehens zu verstehen ist, deutlich, dass der Mensch die Welt nicht nur sichtbar werden lassen kann (das ursprüngliche Motiv der Wissenschaft), sondern sie ebenso in ihrer Fremdheit und Natürlichkeit anerkennen kann (vgl. Anders 1928b, S. 70). In die Erfahrung des Fremden bezieht sich der Erfahrende selbst ein, in der Anerkennung des Anderen sieht der Erfahrende die Welt mit anderen Augen – er wird sich selbst fremd. Der Exkurs in die Bildungsphilosophie (Kapitel 3.3) konnte einen Kerngedanken von Günther Anders weiter aufschließen, welcher nur in der Verbindung von Anthropologie und Bildungsphilosophie erhellt werden kann: was es für den Menschen bedeutet, dass er sich in die Erfahrung selbst mit einbringt. Das Wandern steht bei Günther Anders metaphorisch für die Aufgabe des Eigenen in der Erfahrung des Anderen – ein Aus-sich-heraustreten-können (vgl. ebd., S. 66). Dies lässt sich mit dem Bildungsgedanken als Distanz vereinbaren, wonach der eigene Verstehenshorizont durch die Erfahrung des Anderen ins Wanken gerät. Bildungsprozesse werden dort in Gang gesetzt, wo das Eigene nicht mehr selbstverständlich ist. Wo man sich selbst nicht mehr versteht und gerade dadurch ein anderer werden kann (vgl. Dörpinghaus 2014, S. 48). In dieser Bildungserfahrung ist es möglich, die Welt nicht ständig in ein zu verobjektivierendes Gegenüber zu setzen. Die Welt erscheint nicht bloß als Sachverhalt, als Erkenntnisobjekt, die letztlich organisierbar und kontrollierbar wird. Vielmehr bezieht sich der Mensch selbst in die Distanz mit ein, die Erfahrung des Anderen verändert Mensch und Welt (vgl. Anders 1928b, S. 61-66). Kapitel 4 widmete sich den Grenzen der Mangelhaftigkeit. Hierbei liegt die zuvor begründete Annahme zugrunde, dass die Mangelhaftigkeit des Menschen 95
seine Freiheit hervorbringt. Grenzen der Mangelhaftigkeit müssen somit auch Grenzen der Freiheit sein. Dies erweist sich zunächst in der paradoxen Tatsache, dass der Mensch zwar frei ist, also losgelöst von Welt, der Versuch einer autonomen Selbstbestimmung jedoch aufgrund der kontingenten Situation des Menschen in Unfreiheit umschlägt (Kapitel 4.1.1). Gerade aufgrund seines Geborenseins ist er nicht Herr seines Ursprungs und deshalb unweigerlich verankert im Hier und Jetzt (vgl. Anders 1936/37, S. 59 ff.). Pathologisch verfängt sich die Freiheit aufgrund der Leiblichkeit des Menschen (Kapitel 4.1.2). So ist der Leib eben nicht durch Intention erfüllbar, sondern die Erfüllung des Leibes steht bereits vor seiner Intendierung. Diese Faktizität des Leibes bildet eine Grenze der Freiheit (vgl. Anders 1928b, S. 68). Ebenso aus den Grenzen des spezifischen Mangels zu erklären, sind die Grenzen der Erfahrung (Kapitel 4.2). Instinktives Wissen von Welt bedarf keiner Erfahrung, es stellt gleich dem Leib eine bereits erfüllte Tatsache dar, die nicht weiter intendiert werden muss. Im Gegensatz zum Sachverhaltswissen der Erkenntnis, welches in Dualismen teilt, bildet der Instinkt eine Einheit von Mensch und Welt und verweist auf die Abhängigkeit des Menschen von der Welt (Kapitel 4.2.1). (vgl. Anders 1927, S. 93 ff.) Eine besondere Stellung nimmt das Schlafen in den anthropologischen Untersuchungen von Anders ein. Es stellt eine jeweils zu vollziehende Transzendierung der menschlichen Positionalität dar, eine Transzendierung der Weltfremdheit des wachen Menschen in die Weltlosigkeit des Schlafenden (vgl. Anders 1928, S. 128). Im Aufwachen beginnt erst die Individuation als Trennung von Mensch und Welt, welche für den Schlafenden schlichtweg nicht existiert (Kapitel 4.2.2). Kapitel 5 klärte abschließend verschiedene Kritikpunkte auf, welche Anders insbesondere selbst an der Methode der philosophischen Anthropologie anführt. Einerseits sieht er die Gefahr, dass sich die Anthropologie nur vor dem Hintergrund eines fiktiven Mensch-Tier-Vergleichs ergibt, der sowohl aufgrund seiner Antiquiertheit, wie aufgrund einer Uniformierung aller Tierspezies revidiert werden muss (Kapitel 5.1). (vgl. Anders 42018a, S. 366) Andererseits steht die philosophische Anthropologie bei Anders im Generalverdacht einer politischen Instrumentalisierbarkeit des Wesens Mensch (vgl. Anders 1936/37, S. 80 f.). In diesem Sinne stellt die negative Wendung der Andersschen Anthropologie eine „kritische Selbstaufklärung der Anthropologie“ (Lohmann 1996, S. 155) dar (Kapitel 5.2). 96
Zwar konnte die Dialektik von Distanz und Nähe für die Position des Menschen in der Welt als konstitutiv herausgestellt werden, jedoch gerade nicht als Stand oder starre Position. Die Position, so stellt auch Günther Anders fest, ist vielmehr zweiseitig, der Mensch unausbalanciert und in Bewegung. Er ist letztlich gerade nicht durch seine Weltfremdheit zu definieren, sondern auch diese stellt lediglich eine Seite menschlicher Position dar. „Nichts ist falscher, als den Menschen durch diese Freiheit und Unfestgelegtheit zu ‚definieren’; die Charaktere treffen zwar die Stellung des Menschen in der Welt, aber nicht erschöpfend“ (Anders 1940/41, S. 170). Leiblichkeit, Schlaf, Weltverbundenheit und -abhängigkeit stellen andere Positionen dar, weshalb der Wechsel der Positionen nach Anders in den Begriff des Menschseins einkalkuliert werden muss (vgl. Anders 1928, S. 128 f.). Günther Anders Schriften zur negativen Anthropologie sind bis dato noch relativ unerschlossen. Insbesondere im pädagogischen Diskurs und so auch in der pädagogischen Anthropologie sind Günther Anders Frühschriften bisher unbeachtet. Sicherlich lässt sich dies auch darauf zurückführen, dass die anthropologischen Frühschriften bis zuletzt unveröffentlicht blieben. Gerade deshalb kann die vorliegende Arbeit, besonders Kapitel 3.3, als Versuch gelten, Anders Analysen in den aktuellen Bildungsdiskurs miteinzubetten. Es ist davon auszugehen, dass das weite Feld pädagogischer Anthropologie einen fruchtbaren Diskussionsboden in Günther Anders Frühschriften finden kann. Auf ihr jeweiliges Menschenbild hin befragt, kann sich die pädagogische Anthropologie in Bezug zur Theorie der Unbestimmtheit, einer kritischen Reflexion unterziehen. Doch nicht nur für die pädagogische Anthropologie ist eine Beschäftigung mit den anthropologischen Frühschriften von Günther Anders erhellend. Auch eine kritische Pädagogik, welche sich mit den aktuellen Tendenzen des Transhumanismus beschäftigt, findet in den Bestimmungen des Menschen als Unbestimmten ein anthropologisches Fundament der Kritik – so können beispielsweise die Feststellungen des Menschen als gentechnisch Manipulierten oder durch Präimplantationstechnik Vorgefertigten als eine Aufgabe menschlicher Unbestimmtheit gesehen werden. Ebenso schließen die Versuche die Nötigkeit menschlicher Erfahrung auszulöschen, wie es beispielsweise technische Aufrüstung des Menschen zum Ziel hat, die Erfahrung des Anderen und Fremden aus. Wandern (als Erfahrung mit dem Anderen) muss dem Transhumanisten als überflüssige Handlung erscheinen, strebt er doch nicht dazu anders zu werden, sondern besser. Dabei übersieht er das Erfahrungsreichtum und das Potential einer Mehrperspektivität, welche erst durch die 97
stetige Aufgabe seiner selbst und der immer wieder neu zu bewältigenden Anerkennung des Anderen entstehen. Im Zurückkehren zur eigenen Unbestimmtheit eröffnen sich Freiräume, welche durch Festlegungen und Vorurteile außer Sicht geraten sind. Gerade hierfür kann Günther Anders als inspirierendes Vorbild gelten. So hat er einerseits stets versucht die gegenwärtigen Festlegungen des Menschen zu entlarven und andererseits Möglichkeiten gesucht, den Zumutungen dieser Festlegungen zu entkommen. In diesem Sinne gilt es weiterzumachen und sich von den bestehenden Versuchen, den Menschen auf eine bestimmte Art und Weise zu definieren, loszusagen.
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Editorische Notiz Aus Gründen besserer Lesbarkeit ist im Fließtext darauf verzichtet worden Anders Geburtsnamen Stern, unter dem einige der hier zitierten Werke geschrieben wurden, mit aufzuführen. Im Literaturverzeichnis wird dies in den entsprechenden Werken berücksichtigt. Hervorhebungen, die im Original als auseinanderstehende Lettern gekennzeichnet sind, wurden in dieser Arbeit kursiv dargestellt. Hervorhebungen, die im Original als doppelte Anführungszeichen gekennzeichnet sind, wurden durch einfache Anführungszeichen ersetzt. Hervorhebungen, die im Original als Guillemets gekennzeichnet sind, wurden ebenfalls durch einfache Anführungszeichen ersetzt. Alle anderen Hervorhebungen wurden beibehalten.
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Danksagung Ich danke Prof. Andreas Dörpinghaus und Josephine Geisler dafür stets ein offenes Ohr und wertvolle Anregungen bei der Betreuung meiner Arbeit gehabt zu haben. Ich danke ihnen sowie Prof. Andreas Nießeler zudem für die Begutachtung. Ausdrücklich bedanken möchte ich mich außerdem bei Gerhard Oberschlick, Nachlassverwalter von Günther Anders, sowie Christian Dries, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Freiburg, welche mir Anders Frühschriften zur Anthropologie bereits vor ihrer Veröffentlichung zur Verfügung stellten. Nun sind diese im C. H. Beck-Verlag erschienen unter: Anders, G. (2018): Die Weltfremdheit des Menschen. Schriften zur philosophischen Anthropologie. Herausgegeben von Christian Dries unter Mitarbeit von Henrike Gätjens. München: C. H. Beck. Für die Ermöglichung der Veröffentlichung meiner Arbeit möchte ich mich ganz herzlich bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, insbesondere bei Götz Fuchs sowie Jens Seeling bedanken.
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