Widerständige Nostalgie: Osteuropäische Film- und Fernsehkulturen, 1965-2013 9783839447505

An alternative history of the reception of Eastern European film classics and TV productions - or the resistance of nost

136 22 4MB

German Pages 294 Year 2020

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1 Postsozialismen im Vergleich: Transnationale Perspektiven auf die Film- und Fernsehwissenschaft
2 Die Zukunft der Nostalgie. Plurimediale Erinnerungskonstellationen zwischen »Memory« und »History«
3 Filmanalysen im Double Feature – Tertium Comparationis
4 Narrative der Heterosexualität
5 Fernsehen, Feminismus und nationale Identität
6 Kollektives Trauma und »Competing Memories«
7 Genre, Ironie und Nostalgie
8 Conclusio – Transnationale Vergleiche
Schlusswort
Danksagung
Literatur
Filme und TV-Serien
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Widerständige Nostalgie: Osteuropäische Film- und Fernsehkulturen, 1965-2013
 9783839447505

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Nicole Kandioler Widerständige Nostalgie

Film

Nicole Kandioler (Dr. phil.), geb. 1977, ist Film- und Medienwissenschafterin am tfm | Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind (ost-)europäische Medienkultur, Gender Media Studies und dokumentarische Formen.

Nicole Kandioler

Widerständige Nostalgie Osteuropäische Film- und Fernsehkulturen, 1965–2013

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustim­ mung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Verviel­ fältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildungen: Collage aus Filmstills von »Nordrand« (1999), © Lotus Film; »Sex in Brno« (2003), © Tschechisches Fernsehen und Bontonfilm Prag Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4750-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4750-5 https://doi.org/10.14361/9783839447505 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Einleitung | 7



1

Widerständige Nostalgie – Misframing Nostalgia | 7 Film und Fernsehen im (Post-)Sozialismus | 9 Double Features als methodisches Tool | 12 Postsozialismen im Vergleich: Transnationale Perspektiven auf die Film- und Fernsehwissenschaft | 21

1.1 Rezeption: Das Erbe des Kalten Krieges | 23 1.2 Eurasia: Von der »Ghostly Region« zur Dekonstruktion der drei Welten | 32 1.3 »Transnationalizing Comparison« oder über unzulässige Vergleiche | 36



2

Die Zukunft der Nostalgie. Plurimediale Erinnerungskonstellationen zwischen »Memory« und »History« | 43

2.1 Post-Communist Nostalgia als analytisches Raster | 46 2.2 Intermedialität und plurimediale Konstellationen von Erinnerung | 53 2.3 Ironische Überidentifikation: (Post-)Sozialistisches Fernsehen | 60



3

Filmanalysen im Double Feature – Tertium Comparationis | 69

3.1 3.2 3.3 3.4

Beschreibung des Korpus | 70 Fragmente im Vergleich | 71 Double Feature und Double Screening | 74 Das Double Feature als kuratorische Praxis | 76

4

Narrative der Heterosexualität | 79 Double Feature 1 – Süße Emma Nordrand | 80 Double Feature 2 – Langeweile einer Blondine | 94 Double Feature 3 – Amateur Hühner | 105 Double Feature 4 – Vater, Zottelschreck und Nimmersatt | 122



4.1 4.2 4.3 4.4

5 Fernsehen, Feminismus und nationale Identität | 133

5.1 Double Feature 5 – Acht Stunden Frau hinter dem Ladentisch | 135 5.2 Double Feature 6 – Auf ewig Ehe-Etüden | 154 6

Kollektives Trauma und »Competing Memories« | 173 6.1 Double Feature 7 – Ohr Riss | 175 6.2 Double Feature 8 – Wir müssen zusammenhalten auf dem Korso | 191 6.3 Double Feature 9 – Reconctruction of Mr. Lăzărescu | 212



7

Genre, Ironie und Nostalgie | 227 7.1 Double Feature 10 – Lemonade Reverse | 227 7.2 Double Feature 11 – Dank Euch die Welt | 245



8



Conclusio – Transnationale Vergleiche | 257

Schlusswort | 263 Danksagung | 267



Literatur | 269 Filme und TV-Serien | 287

Einleitung

Geschichtskonstruktion operiert aus einem Bewusstsein der Gegenwart, welches das Kontinuum der Geschichte aufsprengt. Ein chronologisches Vorgehen, die vermeintliche Folgerichtigkeit eines Und-Dann-und-Dann kündigen wir auf und bewegen uns entlang von Motiven und Ideensträngen. Zeitebenen lagern nebeneinander und verschränken sich. Zentrum und Korrektiv bleibt die jeweils sichtbare Geschichte des Kinos, bleiben die Filme selbst.1 Elisabeth Büttner, Christian Dewald

WIDERSTÄNDIGE NOSTALGIE – MISFRAMING NOSTALGIA Der Witz, der, wie die Redewendung ›Kennst du den vom...‹ nahelegt, immer schon mindestens einmal erzählt wurde, verfügt über eine von Beginn an zwischen Anonymität und Gemeinschaft oszillierende Autorschaft. Slavoj Žižek versteht ihn als Sprache gewordenes Symptom eines kollektiven Unbewussten.2 Im Witz drängen Ängste, Sehnsüchte und Affekte des Kollektivs an die Oberfläche der Sprache, um dort verhandelt, bewältigt, gezähmt zu werden. An den Beginn dieses Buches über osteuropäische Film- und Fernsehkulturen stelle ich einen bulgarischen Witz, den Maria Todorova in der Einleitung zu ihrem zusammen mit Zsuzsa Gille herausgegebenem Band Post-Communist Nostalgia notiert hat.3 Eine Frau 1

Elisabeth Büttner, Christian Dewald: Das tägliche Brennen. Eine Geschichte des österreichischen Films von den Anfängen bis 1945. Salzburg/ Wien: Residenz Verlag 2002, S. 8.

2

Vgl. Slavoj Žižek: Žižek´s Jokes: Did You Hear the One about Hegel and Negation?

3

Maria Todorova, Zsuzsa Gille (Hg.): Post-Communist Nostalgia. Oxford/ New York:

Cambridge, MA/ London: MIT Press 2014. Berghahn Books 2010, S. 6.

8 | Widerständige Nostalgie

wacht mitten in der Nacht aus einem Albtraum auf. Sie fährt hoch, springt aus dem Bett und läuft ins Badezimmer, wo sie den Arzneischrank öffnet und gleich wieder schließt. Dann läuft sie in die Küche, wo sie einen Blick in den Kühlschrank wirft. Schließlich läuft sie noch ins Wohnzimmer und sieht kurz aus dem Fenster auf die Straße, um nach wenigen Sekunden erleichtert in das eheliche Schlafzimmer zurückzukehren. Als sie sich zurück ins Bett legt, fragt ihr Mann: »Alles in Ordnung mit dir?« »Nein,« sagt sie, »Ich hatte einen schrecklichen Albtraum. Ich habe geträumt, dass wir uns Medikamente leisten können, dass der Kühlschrank voll ist und dass die Straßen sicher sind.« »Was ist denn daran schlecht, das ist doch kein Albtraum?« »Doch: die Kommunisten waren wieder an der Macht.«4 In diesem Witz, dieser kurzen narrativen Sequenz aus dem Alltag eines bulgarischen Ehepaars (es könnte sich ebenso gut um ein tschechisches, polnisches oder rumänisches Ehepaar handeln), liegt – so scheint mir – zunächst ein ambivalenter Bezug auf die kommunistische Vergangenheit, der mit dem Wort ›Nostalgie‹ nicht direkt zu fassen ist. Es handelt sich vielmehr um eine verschobene, eine verquere Nostalgie, eine Nostalgie des zweiten Grades sozusagen, die weniger auf die Wiederbelebung der Vergangenheit, auf ein Zurückkehren zu einem vergangenen und überkommenen Zustand abzielt, als dass sie in einer Geste des Rückblicks verharrt, in ihr verweilt und eine Stimmung vermittelt, die ebenso kritisch wie affektbesetzt ist. Die Film- und Fernsehproduktionen, die hier untersucht werden, stehen aufgrund ihrer dialogischen Anordnungen als Double Features im Zeichen dieser notalgischen Geste, die ich mit dem Begriff des ›Misframing‹ bzw. des Widerständigen zu dynamisieren suche. Auch dass die Protagonistin und der Protagonist dieser kleinen Szene ein Mann und eine Frau, ein Ehepaar, sind, scheint mir keineswegs zufällig. Im Mikrokosmos der heteronormativen Anordnung par excellence, der heterosexuellen Paarbeziehung, zeigen sich die komplizierten Verstrickungen von Identität, Geschichte und Nation mitunter überdeutlich. Die Narrative der Heteronormativität, die romantische Paarbeziehung und die Ehe als Sanktion dieser kulturellen Praxis, die eng mit der Konstruktion nationaler Identität verbunden ist, stehen daher ebenfalls im Fokus meiner film- und fernsehwissenschaftlichen Analysen.

4

Während der Arzneischrank und die leistbaren Medikamente auf eine Krankenversorgung verweisen, die allen Mitgliedern der Gemeinschaft gleichermaßen zugänglich ist, symbolisiert der volle Kühlschrank weniger eine florierende Wirtschaft und eine große Auswahl an Lebensmitteln (vor dem Hintergrund der Mangelwirtschaft wenig vorstellbar) als die Tatsache, dass sich alle dasselbe leisten konnten. Die »sicheren Straßen« verweisen wiederum nicht unbedingt darauf, dass Kriminalität im Kommunismus nicht vorkam, sondern darauf, dass sie medial weniger präsent war.

Einleitung | 9

FILM UND FERNSEHEN IM (POST-)SOZIALISMUS Mit dem Fall des Kommunismus und dem Ende des Kalten Krieges in Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei, Jugoslawien, der Sowjetunion, Rumänien, Bulgarien, Albanien und in der DDR, gehen nicht nur Grenzverschiebungen, politische Restrukturierungen sowie wirtschaftliche Umschichtungen einher. Vielmehr hat der Systemwechsel bzw. der Bruch mit in der Region verbreiteten historischen Narrativen5 zu einem Paradigmenwechsel in der Film-, der Fernsehwissenschaft und in der Medienwissenschaft geführt, der Fragen nicht nur hinsichtlich der Entwicklung der audiovisuellen Medien in Gegenwart und Zukunft aufruft, sondern auch eine Relektüre der osteuropäischen Filmgeschichte(-n) notwendig macht, die wie Anikó Imre, Rosalind Galt und Dina Iordanova gezeigt haben, teilweise noch bis heute gemäß einer Logik des Kalten Krieges erfolgt.6 Das Jahr der Wende, 19897, kann in wirtschaftspolitischer und kulturhistorischer Hinsicht für den osteuropäischen Film nicht eindeutig als das Jahr eines Umbruchs bezeichnet werden. Das Ende des Kommunismus bedeutete zwar auch das Ende einer kommunistischen staatlichen Filmzensur. Aber die mit ihm einhergehende Öffnung des freien Marktes und die Konventionen der westeuropäischen und der US-amerikanischen Kinoindustrie brachten auch einen neuen Wettbewerbsdruck, eine ökonomische Zensur und darüber hinaus eine ›westeuropäische‹ Film- und Medienge-

5

In ihrer 600-seitigen Doktorarbeit, in der sie sieben osteuropäische Länder miteinander vergleicht, beschreibt Christina Stoianova das Verhältnis zwischen sozialistischem Staat, Gesellschaft und Film als eines, das von 1948 bis 1989 im Zeichen einer nachhaltigen Krise der Selbst(er-)kenntnis stand. Vgl. Christina Stoianova: The Eastern European Crisis of Self-Knowledge (1948-1989): The Relationship between State and Society as Reflected in Eastern European Film – A Genre Approach. (Eingereicht als Dissertation an der Concordia University in Montréal.) Ottawa: UMI 1999.

6

Vgl. Anikó Imre (Hg.): East European Cinemas. New York: Routledge 2005; Rosalind Galt: The New European Cinema: Redrawing the Map. New York: Columbia University Press 2006; Dina Iordanova: Cinema of the Other Europe. The Industry and Artistry of East Central European Film. London/ New York: Wallflower Press 2003.

7

Die Erwartungen und die an die Wende geknüpften Identitätsfantasien hat Timothy Garton Ash, in vier verschiedenen europäischen Städten die Revolution verfolgend, in einem Zeitzeugenbericht beschrieben. Vgl. Timothy Garton Ash: Rok zázkraků. Svědectví o revoluci roku 1989 ve Varšavě, Budapešti, Berlině a Praze. Praha/ Litomyšl: Paseka 22009. (Übersetzung ins Tschechische von Miroslav Drozd, Original auf Englisch: We The People: The Revolution of ’89 Witnessed in Warsaw, Budapest, Berlin and Prague, 1990.)

10 | Widerständige Nostalgie

schichte mitsamt ihren wechselseitigen Bezugnahmen mit sich, deren Implikationen für die osteuropäischen Film- und Fernsehkulturen auf verschiedenen Ebenen nachgegangen werden muss. Diesen paradigmatischen Veränderungen film- und fernsehwissenschaftlicher Zugänge zum Komplex osteuropäischer Kinematographien seit 1989 möchte ich auf die Spur kommen und anhand einer methodisch experimentellen Anordnung eine Analyse von Filmen und TV-Produktionen in Form von Double Features vorlegen, die eben jene Relektüre und kritische Neuverortung der Filme und TV-Produktionen ermöglicht. Der Akzent wird dabei auf Aspekte des Bruchs und der Kontinuität in osteuropäischen Filmgeschichten seit den 1960er Jahren gelegt, wobei eine komparatistische Perspektive auf transnationale Phänomene ebenso zum Tragen kommt wie die kritische Auseinandersetzung mit in verschiedenen Theoriekontexten und mit verschiedenen Absichten vorgelegten Konzepten postkommunistischer und postsozialistischer Nostalgie. Osteuropäische Filmgeschichtsschreibung, genauer: westeuropäische Geschichtsschreibung osteuropäischer Filmgeschichte, verfolgte zu Zeiten des Kalten Krieges vorwiegend das Ziel, Eigenheiten und Spezifika nationaler Kinematographien zu benennen. Die Differenzen und die Brüche zwischen den Nationalkinematographien standen dabei im Fokus des Interesses von Historikerinnen und Filmwissenschaftlern wie Mira und Antonin Liehm, Michael J. Stoil, David W. Paul oder Daniel J. Goulding.8 Die Auseinandersetzung mit Kontinuitäten, parallelen Entwicklungen und wechselseitigen kulturellen Transferleistungen bzw. Einflüssen findet erst seit den 1990er Jahren verstärkt statt: Film- und geschichtswissenschaftliche Studien zum europäischen Kino (in Abgrenzung vom großen Hollywood´schen Anderen9), zum ›begrenzten‹ Horizont nationaler Kinematographien und zum epistemologischen Potential einer transnational respektive supranational ausgerichteten Filmwissenschaft10 oder auch zu Verflechtungen der 8

Mira Liehm und Antonin J. Liehm: The Most Important Art: Soviet and Eastern European Film after 1945. Berkeley: University of California Press 1977; Michael J. Stoil: Cinema Beyond the Danube: The Camera and Politics. Metuchen: Scarecrow Press 1974; David W. Paul (Hg.): Politics, Art, and Commitment in the East European Cinema. London: Palgrave Macmillan 1983; Daniel J. Goulding (Hg.): Post-New Wave Cinema in the Soviet Union and Eastern Europe. Bloomington: Indiana University Press 1989.

9

Thomas Elsässer: European Cinema: Face to Face with Hollywood. Amsterdam: Amsterdam University Press 2005.

10 Andrew Hidgson: »The Limiting Imagination of National Cinema«, in: Mette Hjort, Scott MacKenzie (Hg.): Cinema and Nation. New York 2000, S. 63-74; Tim Bergfelder: »National, Transnational or Supranational Cinema? Rethinking European Film Studies«, Media, Culture and Society, Nr. 3, (2005), S. 315-331; Luisa Rivi:

Einleitung | 11

Nationalgeschichten (unter dem Stichwort »verflochtene Erinnerung«11) sind hierbei maßgeblich. Mit dem Fokus auf die Beschäftigung mit Filmen und TV-Produktionen aus verschiedenen europäischen Ländern und mit seiner kontrastiv vergleichenden historischen (diachronen und synchronen) Analyse von filmischem Material, reiht sich das Buch in diesen medienhistorischen Kontext ein und zielt auf dreierlei ab: Erstens geht es darum, durch die intertextuellen12 Kontextualisierungen von Filmen ihre historischen Positionen zu ergänzen und zu komplettieren. Zweitens sollen vermeintlichen Brüchen und Kontinuitäten innerhalb der osteuropäischen Kinematographien aufgezeigt werden, wobei durch die Anordnung des Filmmaterials in Double Features und die Fokussierung auf Berührungspunkte zwischen den filmischen Narrationen die Aufmerksamkeit auf die verborgenen Aspekte der Filme (auf die blinden Flecken der Filme bzw. ihrer historischen Kontextualisierungen) gelenkt wird. Drittens geht es um eine Perspektivierung des Film- und Fernsehmaterials hinsichtlich der »Mediascapes« und »Ideoscapes«13 eines postsozialistischen Europas. Dem zugrunde liegt der Versuch, mittels des nostalgischen Doppelformats der Cinéphilie, das ich hier mit dem Begriff des European Cinema after 1989: Cultural Identity and Transnational Production. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2007. 11 Vgl. Michael Werner, Bénédict Zimmermann: »Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen«, Geschichte und Gesellschaft, Nr. 28, (2002), S. 607-632. 12 »Intertextualität« verstehe ich dabei sowohl als theoretisches als auch als analytisches Konzept. Filme und TV-Produktionen stehen immer in einer Reihe anderer Filme und TV-Produktionen, auf die sie sich beziehen und »die die Formen und Modi der Äußerung, die Konventionen der Genres [...] bestimmen und deren Kenntnis in die Inszenierung und Dramaturgie sowie in die Bedeutungserschließung eines einzelnen Films eingeht«. Gleichzeitig werden anhand des Double Features in der vorliegenden Arbeit konkrete Verweisungszusammenhänge zwischen den Filmen beleuchtet. Vgl. http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=1816,

[letzte

Sichtung am 18. 03. 2020]. 13 Arjun Appadurai: »Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy«, Theory Culture Society, 7; 295, (1990), S. 295-310, hier: S. 298-300. Beide Begriffe beschreiben bzw. fluide Prozesse, die Appadurai »Dimensionen der Globalisierung« nennt. Mit dem Begriff der »Mediascapes« beschreibt Appadurai einerseits (elektronische) Medien der Produktion und Verbreitung von Information (Zeitungen, Fernsehsender, Filmproduktion, etc.) und andererseits die Bilder, die durch diese Medien geschaffen werden. Die »Ideoscapes« bezeichnen komplexe ideelle Landschaften, die wie die »Mediascapes« Vorstellungen und Bilder generieren.

12 | Widerständige Nostalgie

Double Features fasse, gerade jene nostalgischen Verschiebungen in den Blick zu bekommen, die die medialen und imaginären Topographien des Postsozialismus heute prägen. Diese Verschiebungen mit ihrem ambivalenten Zugriff auf die sozialistische Vergangenheit und ihre Mediascapes, die bisweilen im Zeichen einer geradezu anti-nostalgischen Nostalgie stehen, sind es, die hier in den Blick kommen sollen: (Mis-)Framing Nostalgia. Was sich auf den folgenden Seiten entfaltet, ist eine in Double Features angeordnete, transnationale Kinematographie – mit Softfokus auf das nicht immer nur im Schatten des Kinos agierende Fernsehen – des zentraleuropäischen Raums im 20. Jahrhundert und ausgehenden 21. Jahrhundert, wobei hier nicht der Anspruch auf Vollständigkeit gelten kann. Vielmehr denke ich mit den Double Features über Aspekte der Ästhetik, der Rezeption und des historiographischen Potentials von osteuropäischen Filmen und Fernsehen in einem postsozialistischen Europa nach. Zum anderen fragt das Buch mit seinem spezifischen methodischen Zugriff auf den Gegenstand nach dem epistemischen Potential einer komparatistischen Analyse, die das Double Feature zur Methode erhebt und den Vergleich filmischer Bilder hinsichtlich ihrer Formensprache als Analysekategorie fruchtbar macht, wie er in der Kunstgeschichte bereits seit Heinrich Wölfflin14 Tradition hat und wie er durch Alain Bergala15, im Kontext der Theoretisierung der Filmvermittlung und der Pädagogik des Fragments bearbeitet wurde.

DOUBLE FEATURES ALS METHODISCHES TOOL Der dem Bereich der Filmdistribution entliehene Begriff des Double Features wird methodisch fruchtbar gemacht, indem er einerseits einen komparatistischen Zugriff auf das Material erlaubt und indem mit ihm andererseits ein cinephiler Diskurs evoziert ist, der auf die Bedeutung der individuellen (und mitgeteilten) Filmerfahrung ebenso stark abhebt wie auf die immer schon dialogische Existenz des

14 Mit einer 1915 erschienenen Abhandlung, in der er Werke der Renaissance und des Barock anhand ihrer stilistischen und formalen Merkmale miteinander verglich, bot Heinrich Wölfflin einen revolutionären Ansatz für die Kunstgeschichte. Vgl. Heinrich Wölflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst. Basel/ Stuttgart: Schwabe & Co. Verlag 141970. 15 Vgl. Alain Bergala: Kino als Kunst. Filmvermittlung an der Schule und anderswo. Hg. von Bettina Henzler und Winfried Pauleit. Marburg: Schüren 2006.

Einleitung | 13

Kinos.16 Vor diesem Hintergrund verstehe ich das Double Feature als Einladung zu einem Dialog jeweils zweier Filme (oder Fernsehproduktionen), aus dem erneut eine »mentale Leinwand« wie es bei Antoine De Baecque heißt, entsteht, die gleichermaßen das tertium comparationis der beiden Filme visualisiert. Der sich aus dem Kontext des Studiosystems der 20er bis 40er Jahre in den USA und in England herleitende Begriff des Double Features bezeichnet ursprünglich ein Doppelprogramm von zwei thematisch nicht unbedingt miteinander korrespondierenden Filmen eines Verleihs.17 Die Zuschauerinnen und Zuschauer mit dem Angebot, zwei Filme zum Preis von einem in die Kinos zu locken, hatte für die Filmindustrie zur Folge, dass die Zweitfilme – die sog. B-Filme – des Double Features in separater und billigerer Produktion hergestellt wurden. Unter dem in den 1950er Jahren aufkommenden Konkurrenzdruck des Fernsehens verschwand das Double Features aus den Kinosälen18, wobei die Praxis heute immer wieder im Rahmen von Retrospektiven oder kuratierten Filmreihen in Programmkinos auftaucht. Die Doppelung der Filme in Double Features hat hier primär thematischen und ästhetischen, aber auch auch chronologischen Charakter: Die Filme sind durch einen historischen Bruch (nicht immer 1989) voneinander getrennt, gleichzeitig stehen sie in einem metahistorischen Dialog zueinander. Der Vergleich der Filme startet in einem ersten Schritt vom Kontext der Nationalkinematographien aus: Narrative und visuelle Motive und ihre Remediatisierungen sollen zunächst in der jeweiligen nationalen Kinematographie verortet werden. In einem zweiten Schritt 16 Vgl. Bettina Henzler: Filmästhetik und Vermittlung. Zum Ansatz von Alain Bergala: Kontexte, Theorie und Praxis. Marburg: Schüren 2013. Im ersten Kapitel Cinéphilie und Filmvermittlung zitiert Henzler entsprechend Antoine De Baecque: »Car le cinéma a besoin que l´on parle de lui. Les mots qui le nomment, les récits qui le racontent, les discussions qui le font revivre, modèlent sa véritable existence. L´écran de sa projection, le premier et le seul qui compte, est mental: il occupe la tête de ceux qui voient les films pour, ensuite, en rêver, en partager les émotions, en pratiquer la mémoire, la discussion, l’écriture.« (Dt. von Bettina Henzler: »Denn für das Kino ist es notwendig, dass man von ihm redet. Die Worte, die es benennen, die Geschichten, die es erzählen, die Diskussionen, die es wiederbeleben, formen seine wahre Existenz. Die Leinwand seiner Projektion, die erste und einzige, die zählt, ist geistig: Sie besetzt den Kopf derjenigen, die Filme sehen, um danach davon zu träumen, die Gefühle zu teilen, sich an Filme zu erinnern, sie zu diskutieren und von ihnen zu schreiben.«) Antoine de Baecque: La cinéphilie. Invention d´un regard, histoire d´une culture 1944-1968. Paris: Fayard 2003, S. 10f. 17 Vgl.

http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=1953,

[letzte Sichtung am 18.03.2020]. 18 Vgl. ebd.

14 | Widerständige Nostalgie

werden die Filme in ihrem transnationalen und intertextuellen Kontext analysiert. Die Anordnung der Filme und Fernsehproduktionen in Double Features erfolgte vorrangig nach inhaltlichen sowie genre-spezifischen Kriterien. Für die Benennung der Double Features, deren Titel aus den jeweiligen beiden Filmtiteln montiert wurden, verwendete ich sowohl die deutschen als auch die englischen Verleihtitel der Filmtitel19, wobei ich Eingriffe in die Syntax der einzelnen Filmtitel durchwegs vermieden habe. Dies geschah keineswegs aus Sorge um grammatikalische Korrektheit, sondern es ist programmatisch zu verstehen. Anstatt das Double Feature als einen Prozess zu verstehen, in dem die ›Zutaten‹ der beiden Filme oder TV-Produktionen miteinander gemischt und neu sortiert werden, sodass etwas Drittes dabei herauskommt, das weder dem Einen noch dem Anderen mehr entspricht, soll dem Einzelnen, dem Fragment zu seinem Recht verholfen werden. Die einzelnen Teile der beiden Filme sollen mit- oder gegeneinander montiert werden, ohne dass die Filme jedoch ihre Spezifik aufgeben müssten. Entsprechend der Definition des ›tertium comparationis‹ als dem dritten Glied des Vergleichs hebt das Double Feature als Methode darauf ab, ein Gemeinsames zu zeigen, ohne das jeweils Eigene der beiden Filme zu mißachten.20 Die Idee, das Double Feature als analytisches Instrument einzusetzen bzw. als filmanalytische Kategorie fruchtbar zu machen, entstand durch den anlässlich der Abschlusskonferenz des Initiativkollegs Kulturen der Differenz. Transformationen im zentraleuropäischen Raum21 gehaltenen Vortrag über NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO (2003) von Vladimír Morávek und LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY / DIE LIEBEN EINER BLONDINE (1965) von Miloš Forman, in dem ich Sequenzen der beiden Filme miteinander verglich und anhand des Vergleichs versuchte, der Frage (bzw. der Vermutung) auf den Grund zu kommen, warum man im Falle von 19 Bevorzugterweise verwendete ich jene Übersetzungen, die dem Originaltitel am nächsten kamen. 20 Dieses Gemeinsame, das aber dennoch über den Binarismus des zweiteiligen Vergleichs hinausweist, beschreiben Ella Shohat und Robert Stam gewissermaßen als nostalgisches Objekt des Vergleichs, wenn sie fragen: »[...] [I]s comparison always in search of a third entity, Aristotle’s tertium comparationis, and is it a sideways-glancing utterance that is addressed to a third party, which also implies the transcendance of binarism?« Ella Shohat, Robert Stam: »Transnationalizing Comparison: The Uses and Abuses of Cross-Cultural Analogy«, New Literary History, Vol. 40, 2009, S. 475. 21 Die Abschlusstagung des Initiativkollegs der Universität Wien fand von 24. bis 26. September 2009 unter dem Titel Kulturanalyse im zentraleuropäischen Kontext statt. Vgl. den Tagungsbericht von Mirjam Bitter (Universität Gießen): http://kult-online.uni-giessen.de/archiv/veranstaltungsberichte/bericht-zur-tagung-kulturanalyse-im-zentraleuropaeischen-kontext, [letzte Sichtung am 18.03.2020].

Einleitung | 15

Moráveks Film nicht so einfach von einem geistigen Nachkommen der tschechischen ›Nová Vlna‹ Bewegung und einem Schüler von Miloš Forman sprechen kann.22 Die Forschungsfrage meines Vortrages fokussierte darüber hinaus auf die in den beiden Filmen unterschiedlichen Inszenierungen und Medialisierungen von Narrativen der Heterosexualität. Die Gegenüberstellung der beiden Filme und der Dialog, in den die Filmbilder und die Filmsprachen miteinander traten, zeigte mir, wie NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO Strategien von LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY / DIE LIEBEN EINER BLONDINE demaskierte bzw. dekonstruierte, die darauf abhoben, Narrative von ›boy meets girl‹ vor dem Hintergrund nationaler Identität zu naturalisieren. Die Kopplung von Heteronormativität an vermeintlich spezifische Charakteristika nationaler Identität stand daher am Beginn meiner Überlegungen über osteuropäische Filme und Fernsehproduktionen. In der Auseinandersetzung mit der Fachliteratur wurde mir jedoch bewusst, dass die Arbeit mit Double Features erst dann überzeugen würde, wenn ich ein Design entwickeln könnte, in dem transnationale diachrone und synchrone Vergleiche gezogen werden, die nicht den landläufigen Forschungslinien der Osteuropaforschung (i.e. der Erforschung einzelner Nationalkinematographien) folgen. Tabelle 1: Korpus-Double Features DF Double Feature Filmtitel:

Jahr

R: Regie

DF

Original, (dt. Übersetzung)

Land

D: Drehbuch

Take

K: Kamera

R: István Szabó

H

D: István Szabó K: Lajos Koltai

nach 1989

1992

(Süße Emma, liebe Böbe)

synchron,

Édes Emma, drága Böbe

Transnational,

DF 1 Süße Emma Nordrand - Kap. 4 Narrative der Heterosexualität

22 Vgl. die verschriftlichte Version des Vortrages: Nicole Kandioler: »Narrative der Heterosexualität in DIE LIEBEN EINER BLONDINE (ČSSR, 1965) und SEX IN BRNO (ČR, 2003)«, in: Finzi, Daniela; Lauggas, Ingo; Mancic, Emilija (Hg.): Kulturanalyse im zentraleuropäischen Kontext. (Reihe Herrschaft - Kultur - Differenz). Tübingen: Francke 2011, S. 211-221.

16 | Widerständige Nostalgie

Nordrand

1998

R: Barbara Albert

A

D: Barbara Albert K: Christine A. Maier

1965

R: Miloš Forman

(Lieben einer Blondine)

ČSSR

D: Jaroslav Papoušek / Miloš Forman / Ivan Passer / Václav Šašek K: Miroslav Ondříček

Nuda v Brně

2003

R: Vladimír Morávek

(Langeweile in Brünn)

ČR

D: Pavel Bedura

National, diachron

Lásky jedné plavovlásky

vor und nach 1989

DF 2 Liebe Langeweile in Brno

K: Marek Diviš

D: Krzysztof Kieślowski K: Jacek Petrycki

Moje pieczone kurczaki

2002

R: Iwona Siekierzyńska

(Meine Brathühner)

PL

D: Iwona Siekierzyńska

vor und nach 1989

R: Krzysztof Kieślowski

PL

vor und nach 1989

1979

(Der Amateur)

National, diachron

Amator

National, diachron

DF 3 Amateur Hühner

K: Witold Płóciennik

DF 4 Vater, Zottelschreck und Nimmersatt Všehochlup

1978

R: Zdeněk Smetana/Zdena

(Alles Haar)

ČSSR

Bártová D: Zdeněk Smetana / Edgar Dutka / nach Jozef Stefan Kubín K: Milan Racek / Jiří Ševčík

Otesánek

2000

R: Jan Švankmajer / Eva Švank-

(Kleiner Oto/ Nimmersatt)

ČR

majer D: nach Karel Jaroslav Erben K: Juraj Galvánek

Einleitung | 17

D: Jaroslav Dietl

ČSSR

K: Jindřich Novotný

1972/

R: Rainer Werner Fassbinder

1973

D: Rainer Werner Fassbinder

BRD

K: Dietrich Lohmann

Manželské etudy

1987/

R: Helena Třeštíková

(Eheliche Etüden)

2005/

D: Helena Třeštíková

2006

K: Vlastimil Hamerník / Miroslav

ČR

Souček / Jan Malíř

Na vždy svoji aneb A žili

2013

R: Erika Hníková

št’astně až do...

ČR

D: Irena Hejdová / Erika Hníková

Acht Stunden sind kein Tag

nach 1989

R: Jaroslav Dudek

1978

Transnational, synchron

1977/

national, transnational, dia-

Žena za pultem

chron, synchron, vor und nach

DF 5 Acht Stunden Frau hinter dem Ladentisch - Kap. 5 Fernsehen, Feminismus und nationale Identität

K: Lukáš Hyksa

1989

DF 6 Auf ewig Ehe-Etüden

D: Karel Kachyňa / Jan Procházka K: Josef Illík

Rysa

2008

R : Michał Rosa

(Kratzer)

ČR

D : Michał Rosa K : Marcin Koszałka

vor und nach 1989

R: Karel Kachyňa

ČSSR

chron vor und nach 1989

1970

(Ohr)

Transnational; diachron

Ucho

national, transnational; dia-

DF 7 Ohr Riss - Kap. 6 Kollektives Trauma und Competing Memories

DF 8 Wir müssen zusammenhalten auf dem Korso Obchod na korze

1965

R: Elmar Klos / Ján Kadár

(Das Geschäft auf dem Korso)

ČSSR

D: Elmar Klos nach Ladislav Grosman K: Vladimír Novotný

Musíme si pomáhat

2000

R: Jan Hřebejk

(Wir müssen einander helfen)

ČR

D: Jan Hřebejk/Petr Jarchovský K: Jan Malíř

18 | Widerständige Nostalgie

D: Horia Pătraşcu / Lucian Pintilie K: Sergiu Huzum

Mortea domnului Lăzărescu

2005

R: Cristi Puiu

(Der Tod des Herrn Lazarescu)

RO

D: Cristi Puiu / Răzvan Rădulescu

National, diachron

R: Lucian Pintilie

RO

vor und nach 1989

1968

(Rekonstruktion)

vor und nach 1989

Reconstituirea

Transnational, diachron

DF 9 Reconstruction of Mr. Lăzărescu

K: Oleg Mutu

DF 10 Lemonade Reverse - Kap. 7 Genre, Ironie und Nostalgie Limonadový-Joe aneb Końska

1964

R: Oldřich Lispký

Opera

ČSSR

D: Jiří Brdečka / Oldřich Lispký

(Limonaden-Joe oder

K: Vladimír Novotný

Die Pferde Oper) Rewers

2009

R: Borys Lankosz

(Rückseite/Kehrseite)

PL

D: Andrzej Bart K: Marcin Koszałka

1967

R: unbekannt

Dziwny jest ten świat

PL

D: unbekannt

(Seltsam ist diese Welt)

K: unbekannt

Hana Hegerová: Můj dík

1968

R: Ján Roháč

(Mein Dank)

ČSSR

D: Ján Roháč/

k.A.

Gilbert Bécaud

vor 1989

Czesław Niemen:

Transnational, synchron,

DF 11 Dank Euch die Welt

K: Miroslav Ondříček

Wie aus der Korpustabelle ersichtlich ist, vergleichen fünf der elf Double Features Filme und TV-Produktionen aus zwei verschiedenen Ländern, d.h. aus transnationaler Perspektive, sechs davon vergleichen sie auf nationaler Ebene, wobei im Fall des Vergleichs eines tschechoslowakischen und eines tschechischen Filmes (DF 8) sowohl die Beschreibungskategorie ›national‹ als auch ›transnational‹ zutrifft. Neun der elf Double Features sind diachron angeordnet, wobei das Jahr 1989 nur in drei Fällen nicht die Zäsur ist (DF 1, DF 6, DF 11), diese heben primär auf

Einleitung | 19

eine synchrone Vergleichsperspektive ab.23 Durch das Forschungsdesign ergeben sich vier verschiedene Vergleichsebenen: diachroner Vergleich von Film- und TV-Produktionen aus einem Land: DF 3, DF 4, DF 6, DF 9; diachroner Vergleich von Film- und TV-Produktionen aus zwei Ländern: DF 2, DF 6, DF 7, DF 8, DF 10; synchroner Vergleich von Film- und TV-Produktionen aus zwei Ländern: DF 1, DF 5, DF 11; und synchroner Vergleich von Film- und TV-Produktionen aus einem Land: DF 6 Die elf Double Features werden in vier thematischen Blöcken bearbeitet: 4. Narrative der Heterosexualität, 5. Fernsehen und nationale Identität, 6. Kollektives Trauma und »Competing Memories« und 7. Genre, Ironie und Nostalgie. Weder möchte ich theoretische Konzepte auf filmisches Material anwenden, noch mit Filmen die Theorie erklären. Vielmehr kommt durch die reziproken Perspektivierungen der theoretischen Konzepte und der Film- und TV-Analysen eine Dynamik in den Blick, die durch den wiederholten Austausch und Dialog zwischen Untersuchungsgegenstand und Theorie-Framing entsteht

23 Auch in einer synchronen Vergleichsperspektive liegen die Filme und TV-Produktionen der Double Features in einem zeitlichen Abstand von mindestens einem Jahr (DF 11) und maximal acht Jahren (DF 6) und sind insofern immer auch einer diachronen Vergleichsperspektive zuzuordnen.

1

Postsozialismen im Vergleich: Transnationale Perspektiven auf die Film- und Fernsehwissenschaft

In diesem Kapitel werden drei für die Fragestellung grundlegende Begriffe definiert und hinsichtlich der Forschungsfragen im Kontext von Film und Fernsehen perspektiviert. Bei diesen Begriffen handelt es sich um: ›Postsozialismus‹, ›postkolonial‹ und ›transnational‹. Ich werde zum einen aufzeigen, dass mit dem Begriff Postsozialismus weniger ein konkreter geopolitischer Raum denn eine transnationale Realität gefasst werden muss, die eng mit der Diskursivierung sozialistischer Geschichte und Erinnerungen zusammenhängt. Film und Fernsehen verstehe ich hier als mediale Techniken dieser Diskursivierung. Mit dem Begriff des Postsozialismus muss aber auch der Begriff des Sozialismus aufgerufen werden und die auf Deng Xiaoping1 zurückgehende, wirkmächtige historische Metageographie2 der ›Ersten‹, ›Zweiten‹ und ›Dritten‹ Welt, die das Wissen über die heutige Welt, über Kapitalismus und Globalisierung und die darin eingeschrie-

1

Während das Drei-Welten-Modell von den chinesischen Autoritäten aus strategischen Gründen Mao Zedong zugeschrieben wurde, belegt Yee, dass die Differenzierung dreier politischer Kräfte in der internationalen Politik erstmals durch Vizepremier Deng Xiaoping erfolgte, der damit auf der UN-Generalversammlung am 9. April 1974 international großes Aufsehen erregte. In seinem Konzept beschrieb er die Vereinigten Staaten von Amerika, die westeuropäischen Staaten und die Sowjetunion als Erste Welt, die sog. Entwicklungsländer als Dritte Welt und die entwickelten Länder dazwischen als die Zweite Welt. China verstand er als Teil der Dritten Welt. Vgl. Herbert S. Yee: »The Three World theory and post-Mao China´s global strategy«, International Affairs 59, 1983, S. 239-249.

2

Vgl. die Verwendung des Begriffes »Metageographie« bei Martin W. Lewis und Kären E. Wigen: The Myth of Continents. A Critique of Metageography. Berkeley: University of California Press 1997.

22 | Widerständige Nostalgie

benen hegemonialen Formierungen und Dynamiken strukturiert. Die Befragung des (zentral-)europäischen Raumes und der Zweiten Welt aus einer postkolonialen, das Moment der Habsburger Monarchie mitdenkenden Perspektive, erlaubt es, die zu untersuchenden kulturellen Phänomene in ihrem historischen, machtpolitischen Kontext, ohne den sie nicht denkbar sind, zu sehen.3 Die bis ins 21. Jahrhundert nachwirkenden Wechselbeziehungen zwischen ›mitteleuropäischem‹ Zentrum und osteuropäischer Peripherie bestimmen maßgeblich die Symbolik des Selbst und des Anderen,4 welche Narrationen und Narrative, Motive und Imagery der zu untersuchenden Film- und Fernsehproduktionen maßgeblich prägt. Anstatt jedoch von Transformationen und Übergängen zu sprechen, bieten Konzepte der Postcolonial Studies die Möglichkeit politische, gesellschaftliche und kulturelle Phänomene im zentraleuropäischen Raum kritisch zu fassen, wie es Jennifer Suchland in ihrem 2011 erschienen Text Is Postsocialism Transnational? auf den Punkt bringt: »Adopting the framework of postcolonialism to reflect on and represent the position of the former Eastern bloc vis-à-vis the Soviet empire and Europe has provided an epistemic alternative to the uncritical language of transformation and transition.«5

Die Notwendigkeit, den Postsozialismus und seine medialen Ausprägungen als ›transnationales‹ Phänomen zu fassen, ergibt sich aus zweierlei Argumentationshintergründen: Erstens ist die Fokussierung von transnationalen Phänomenen und von interkulturellen Kontinuitäten programmatisch in Abgrenzung zu einer nach dem Modell der Area Studies vorgehenden Filmwissenschaft des Kalten Krieges zu verstehen. Dina Iordanova, Anikó Imre und Rosalind Galt6 haben mehrfach darauf hingewiesen, dass die Rezeptionsmodi von Film und Fernsehen aus dem osteuropäischen Raum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorwiegend 3

Vgl. Wolfgang Müller-Funk: »Post Colonialism and the Dialectic of the Other in a European context: The Habsburg monarchy«, in: Fitz, Angelika; Kröger, Merle; Schneider, Alexandra; Wenner, Dorothee (Hg.): Import Export. Cultural Transfer. India, Germany, Austria. Berlin: Parthas 2005, S. 40.

4

Vgl. Wolfgang Müller-Funk; Peter Plener; Clemens Ruthner (Hg.): Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie. Tübingen/ Basel: Francke 2002.

5

Jennifer Suchland: »Is Postsocialism Transnational?«, Signs, Vol. 36, No. 4, S. 837862; hier: S. 854.

6

Vgl. Iordanova: Cinema of the Other Europe. The Industry and Artistry of East Central European Film; Imre (Hg.): East European Cinemas; Galt: The New European Cinema: Redrawing the Map.

Postsozialismen im Vergleich | 23

durch das epistemologische Raster des Kalten Krieges und seine auf binären Oppositionen beruhende Logik gegründet ist. Zweitens berufe ich mich auf das transnationale Denken der feministischen Theorie7, das auf die Destabilisierung fixer Geographien abhebt und das die Intersektionalität und die Hybridität von eurozentrischen Machtstrukturen beleuchten will.8 Schließlich werde ich die Herausforderungen und die Gefahren eines transnationalen Vergleichens skizzieren, wie Ella Shohat und Robert Stam9 es einfordern, und grundlegende Aspekte einer komparatistisch vorgehenden Film- und Fernsehwissenschaft darlegen, die ich für meine Film- und TV-Analysen (Kapitel 4-7) fruchtbar machen werde.

1.1 REZEPTION: DAS ERBE DES KALTEN KRIEGES Die Rezeption von Filmproduktionen aus Osteuropa in west- und osteuropäischen Ländern in der zweiten Hälfte des 20. und im beginnenden 21. Jahrhundert ist, wie u.a. Dina Iordanova (2003), Anikó Imre (2005) und Rosalind Galt (2006) gezeigt haben, stark von der einflussreichen und andauernden wirtschaftspolitischen Logik des Kalten Krieges geprägt.10 Wie äußert sich diese? Zum einen hat sich in der west- und osteuropäischen Rezeption und Analyse eine Katalogisierung osteuropäischer Kinematographien nach Nationalitäten durchgesetzt.11 Geographisch gebündelte, nationalstaatliche Einheiten, die mit entsprechenden Nationalsprachen korrespondieren, werden zu Analyseeinheiten, die es voneinander zu unterscheiden gilt. Dies erfolgt in entsprechenden, nach Philologien unterteilten, wissenschaftlichen Disziplinen im Sinne der Area Studies. Der Fokus auf die Unterschiede innerhalb osteuropäischer Kinematographien (›der tschechische Film‹,

7

Vgl. Inderpal Grewal, Caren Kaplan: »Introduction: Transnationalist Feminist Practices and Questions of Postmodernity.« In: Sanjeev Khagram (Hg.): The Transnational Studies Reader: Intersections and Innovations. New York: Routledge 2008, S. 251-261; Rosi Braidotti: Transpositions: On Nomadic Ethics. Cambridge: Polity Press 2006.

8

Vgl. Suchland: »Is Postsocialism Transnational?«, S. 838.

9

Vgl. Shohat; Stam: »Transnationalizing Comparison: The Uses and Abuses of CrossCultural Analogy«, S. 473-499; Ella Shohat, Robert Stam: Unthinking Eurocentrism. Multiculturalism and the Media. London/ New York: Routlege 1994.

10 Vgl. Iordanova: Cinema of the Other Europe. The Industry and Artistry of East Central European Film; Imre (Hg.): East European Cinemas; Galt: The New European Cinema: Redrawing the Map. 11 Freilich betrifft das zu dieser Zeit auch westeuropäische Kinematographien, der Fokus auf Nationalkinematographien ist ein allgemeiner Trend.

24 | Widerständige Nostalgie

›der polnische Film‹, ›der rumänische Film‹) ist jedoch vor dem Hintergrund einer strategischen sowjetischen Politik kritisch zu sehen, der ihrerseits nicht daran gelegen war, dass die Satellitenstaaten des Kommunismus ihre Gemeinsamkeiten entdeckten und sich miteinander (gegen die Sowjetunion) verbündeten.12 Kontinuitäten innerhalb der osteuropäischen Kinematographien aufzuzeigen und hervorzuheben, entsprach also weder dem politischen Interesse der sowjetischen Machthaber, noch den Forschungsinteressen westeuropäischer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Wie Anikó Imre belegt, orientieren sich westeuropäische »Osteuropastudien«, die im Bereich von osteuropäischer Film- und Literaturwissenschaft ab den 1970er Jahren Konjunktur haben, an einigen wenigen sehr einflussreichen Veröffentlichungen, die den Westen über Jahrzehnte darüber informiert halten, was hinter dem Eisernen Vorhang passiert und die den Diskurs über das osteuropäische Kino dominieren.13 Zu diesen Veröffentlichungen zählen Mira und Antonin Liehms The Most Important Art: Eastern European Film after 1945 (1977), Michael J. Stoils Cinema Beyond the Danube: The Camera and Politics (1974), David W. Pauls Politics, Art, and Commitment in the East European Cinema (1983) sowie Daniel J. Gouldings Post New Wave Cinema in the Soviet Union and Eastern Europe (1989). Das epistemologische Raster einer solcherart informierten Fachliteratur, führt Anikó Imre aus, sortiert osteuropäische Filmproduktionen nach ihrer Positionierung hinsichtlich des kommunistischen Totalitarismus und privilegiert solche Produktionen, die dem westlichen kritischen Ideal der »twin ideas of good, liberatory nationalism and the moral integrity of the East European auteur«14 entsprechen. Das Autorenkino von Filmemachern (und einigen wenigen Filmemacherinnen) wie Miloš Forman, Jiří Menzel, Miklos Jancsó, István Szabó, Andrzej Wajda, Krzysztof Kieślowski, Vĕra Chytilová, Agnieszka Holland und Márta Mészáros wurde so nicht nur zu einem Synonym für hochwertige, subversive (dissidente) Filmkunst, sondern für osteuropäische Filmkultur insgesamt.15 12 Vgl. Imre (Hg.): East European Cinemas, S. XIII. 13 Vgl. ebd., S. XII. 14 Ebd.. 15 Joachim Paech hat in einem Vergleich zwischen Jean-Luc Godards À BOUT DE SOUFLLE / AUßER ATEM

(F 1960) und Jerzy Has’ JAK BYĆ KOCHANĄ / DIE KUNST GE-

LIEBT ZU WERDEN (PL 1963) gezeigt, dass sich der Autorenfilm in Polen und in Frank-

reich sehr unterschiedlich entwickelt hat und dass die französische Nouvelle Vague nur bedingt als Einfluss auf das polnische Kino der 1960er und 1970er Jahre beschrieben werden kann. Vgl. Joachim Paech: »Die ›Neue Welle‹ in Westeuropa und in Polen«, in: Konrad Klejsa, Schamma Schahadat (Hg.): Deutschland und Polen. Filmische Grenzen und Nachbarschaften. Marburg: Schüren 2011. S. 191-204.

Postsozialismen im Vergleich | 25

Im Zuge der geopolitischen Entwicklungen im südosteuropäischen Raum und durch eine, wie im Bereich der Sozialwissenschaften mehrfach attestiert, beschleunigte Transformation der Länder des ehemaligen Ostblocks vom Staatssozialismus zu einem globalem Kapitalismus kam es zunächst in der westeuropäischen Osteuropa-Forschung zu einer Konjunktur von wissenschaftlichen Studien über die durch den Fall der Berliner Mauer metaphorisch gekennzeichnete ›Wende‹. Dieser historische ›Bruch‹ – wobei wir sehen werden, dass die Bezeichnung nur mangelhaft jene politischen Phänomene zusammenfasst, die in der Zeit von 1960 bis 1992 auftreten – liegt jener retrospektiven Logik zugrunde, die Entwicklungen in osteuropäischer Politik, Gesellschaft und Kunst in ein ›Vorher‹ und ›Nachher‹ teilen wird. Diese Logik wird, wie Anikó Imre ausführt, weder dem komplexen ost- und zentraleuropäischen Raum in seiner historischen Heterogenität noch dem gesamteuropäischen Raum mit seinen transnationalen ästhetischen Phänomenen gerecht.16 In seiner kanonischen Untersuchung Von Caligari zu Hitler: Eine psychologische Geschichte des deutschen Films trat Siegfried Kracauer an, mit Analysekategorien wie dem »inneren Leben«, den »psychologischen Dispositionen« und den »kaum wahrnehmbaren Oberflächenerscheinungen« eine Mentalitäten- und Ideologiengeschichte des deutschen Films zu erstellen. Die Frage der Genres, der Qualität und Produktionskontexte der Filme interessierte ihn dabei nur am Rande. Wesentlich sei weniger, so Kracauer, der Film sehr früh als Massenphänomen begriff, »die statistisch erfassbare Popularität von Filmen als die Popularität ihrer bildlichen und erzählerischen Motive. Beharrliche Vorherrschaft dieser Motive kennzeichnet sie als äußere Projektion innerer Bedürfnisse. Und sie haben offensichtlich am meisten symptomatisches Gewicht, wenn sie in sowohl populären wie unpopulären Filmen, in als zweitrangig eingestuften Filmen wie in Superproduktionen auftauchen.«17

Durch die Analogsetzung jener »inneren Bedüfnisse« der Massen mit den »äußeren Projektionen« des Kinos und dem daraus folgenden Schluss, dass Film notwendig »über die gesamt-gesellschaftlichen Entwickungen [Aufschluss gäbe]«18, folgt – so könnte man kritisch anmerken – Kracauers Filmgeschichte einer deter16 Vgl. Imre (Hg.): East European Cinemas, S. XI. 17 Siegfried Kracauer: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 14. 18 Marcus Rheindorf: »Die Sprachen, die Filme sprechen: Die Geschichte der deutschsprachigen Filmtheorie als Diskursgeschichte.«, in: Siegfried Mattl, Elisabeth Timm, Birgit Wagner (Hg.): Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft, Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2, Bielefeld: transcript 2007, S. 11-25; hier: S. 16.

26 | Widerständige Nostalgie

ministischen Logik. Die in Von Caligari zu Hitler besprochenen Filme weisen einen Weg, der vom deutschen Expressionismus direkt in den Faschismus führt, geradezu so als habe erst der deutsche Film Hitler den Weg bereitet. Die Geschichte osteuropäischer kinematographischer und televisueller Motive und jener »kaum wahrnehmbaren Oberflächenerscheinungen« durch die Brille der Wende zu lesen, birgt eine ähnliche Gefahr der retrospektiven Konstruktion von Bedeutung und Motivation für Handlungen und Phänomene, die nicht auf ein eindeutiges Ziel hin gerichtet sind. Anstatt lediglich auf die Brüche zu fokussieren, werde ich daher auch Kontinuitäten und Entwicklungen in den Blick nehmen, die einer postkolonialen Perspektive auf ein postsozialistisches Europa ebenso Rechnung tragen wie sie die Wechselwirkungen zwischen den zu untersuchenden Kino und Fernsehkulturen reflektieren. Eine Ausdifferenzierung der »zu starken Vereinfachung des Verhältnisses von Ideologie und Ästhetik«, deren Opfer, wie Anikó Imre schreibt, »osteuropäische Filme disproportional«19 wurden, ist dringend vorzunehmen und erfolgt derzeit im Rahmen interdisziplinärer und multiperspektivischer epistemologischer Zugänge der Transition Studies sowie der Postsocialist Studies20. Auch die vorliegende Studie unternimmt den Versuch einer solchen Ausdifferenzierung, indem sie Konzepte aus der Film- und Medienwissenschaft, den Gender Studies, der Kultur- und der Politikwissenschaft für Film- und Fernsehproduktionen aus dem zentraleuropäischen Raum auf eine Weise perspektiviert, dass eine eurozentrische Position mitgedacht und dekonstruiert werden kann. Wie Imre in ihrer luziden Analyse der wissenschaftlichen Bearbeitung des osteuropäischen Films herausstellt, gehorchen die seit den späten 1980er Jahren bis heute erfolgenden, großteils zirkulär argumentierenden Untersuchungen der nationalen Kinematographien der ideologischen Perspektive des Kalten Krieges, die die Filme innerhalb binärer Oppositionen zwischen Osten (schlecht: Kommunismus, Totalitarismus, Unterdrückung, Lüge) und Westen (gut: Kapitalismus, Demokratie, Befreiung, Wahrheit) verorten: »Good and bad, liberation and oppression, authoritarianism and democracy, truth and lies continued to guide and simplify the discourse that underscored both East European nationalisms – eagerly supported by the very same socialist states against whom those nationalisms were allegedly directed – and the interpretation of East European films, mirroring the global binary divisions of the Cold War era.«21

19 Imre (Hg.): East European Cinemas, S. XVIII. (Übersetzung aus dem Engl., N.K.) 20 Vgl. beispielsweise die interdisziplinäre Forschungsplattform Soyuz Postsocialist Cultural Studies http://soyuz.americananthro.org/, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 21 Imre (Hg.): East European Cinemas, S. XIII.

Postsozialismen im Vergleich | 27

Der zweite Aspekt, den Anikó Imre hier hervorhebt, ist die Rolle der osteuropäischen Staaten in der Diskursivierung und Historisierung osteuropäischer Nationen und Nationalismen auf der Folie westlicher Werte. Die proeuropäische Orientierung von osteuropäischen Intellektuellen und Dissidenten an Idealen der Aufklärung und der Mitteleuropadiskurs der Zwischenkriegszeit, wiederaufgenommen in den 1980er Jahren, der ›Europa‹ weniger als einen geopolitischen Raum, denn als einen geistigen Wert fasste, verhinderten einen kritischen Diskurs über postimperialistische Aspekte im Europa der Nachkriegszeit. In seinem leidenschaftlichen Plädoyer, 1983 und 1984 erschienen in der New York Times, in Le Monde und in der Zeit, forderte Milan Kundera den westlichen Teil Europas dazu auf, sich des Verlusts des kulturellen Mittelpunktes Zentraleuropas bewusst zu werden.22 Geographisch im Zentrum, kulturell im Westen und politisch im Osten liegend, sei es das Schicksal der kleinen Nationen Polen, Tschechoslowakei und Ungarn, ihre innerhalb der kulturellen Grenzen des Vielvölkerstaats, der Habsburger Monarchie gewachsenen Identitäten an eine sowjetisch-zentralistische Vereinheitlichungsstrategie zu verlieren.23 Nach einer europäischen Einheit fragend, stellte Kundera die These auf, dass, ebenso wie im Mittelalter die Religion als vereinendes Paradigma europäischer Identität der Kultur in der Neuzeit gewichen war, die Kultur nun einem neuen Wert, der allerdings vage bleibt – »[...] technische Errungenschaften? Der Markt? Die Medien?« – Platz mache.24 Ohne die identitätsstiftende Kraft kultureller Errungenschaften, intellektueller und geistiger Werke, seien aber diese Werte »leer und nutzlos«.25 Aleksej Miller weist darauf hin, dass sich das Bild des gestohlenen Westens auch bei dem rumänischen Religionswissenschaftler, Schriftsteller und Philosophen Mircea Eliade findet, der bereits 1952 vor dem »Verschwinden der Kulturen« und der »Amputation des eigenen Fleisches« Europas warnte.26 Die Trennungslinie zwischen Westen und Osten Europas ist jedoch freilich keine Erfindung Stalin und Churchills.27 Vielmehr beruht das Konzept Mitteleuropas auf historischen Bestrebungen des 18. Jahrhunderts, 22 Vgl. Milan Kundera: »Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas.«, Kommune. FoRO für Politik und Ökonomie 2, Nr. 7, 1984, S. 43-52; teilweise abrufbar auf http://www.europa.clio-online.de/2007/Article=87, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 23 Vgl. ebd. 24 Vgl. ebd., S. 43-52. 25 Ebd., S. 3. 26 Aleksej Miller: »Die Erfindung der Konzepte Mittel- und Osteuropa.«, in: Wieser Enzyklopädie des Europäischen Ostens (WEEO), 2006, S. 139-163, hier: S. 146; abrufbar auf https://eeo.aau.at/wwwg.uni-klu.ac.at/eeo/Miller_Erfindung.pdf, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 27 Vgl. ebd., S. 146.

28 | Widerständige Nostalgie

den Osten zu orientalisieren. Larry Wolff beschrieb 1994 die Erfindung Osteuropas als Projekt einer Halborientalisierung.28 Die Hauptfunktion der verschiedenen Ostmitteleuropakonzeptionen besteht, wie Miller ausführt, darin, Konkurrenten im Wettkampf um eine privilegierte Position in den Beziehungen zum Westen entweder auszuschließen oder nachzureihen und sich von Russland (als dem konstitutiven Anderen aller europäischen Identitätskonzepte) abzugrenzen.29 Im Kontext westeuropäischer Bestrebungen, die Vormacht der Vereinigten Staaten zu brechen, diente der Mitteleuropadiskurs aber auch als Instrument und als »Projektionsfläche für Vorstellungen einer Emanzipation Europas von den USA.«30 Zurück zur Filmwissenschaft: Abgesehen vom Ausschluss der Zweiten Welt von vor allem im englischsprachigen Raum entwickelten wissenschaftlichen Konzepten, die aus der produktiven Verbindung von feministischer Theorie, Psychoanalyse, Cultural Studies und Filmwissenschaft hervorgingen, fehlt in der bisherigen Auseinandersetzung mit osteuropäischen visuellen und medialen Kulturen eine kritische Reflexion der Narrative und der Konstruktionen nationaler Identität.31 Das empathische Aufgreifen der »moralischen Integrität des osteuropäischen Auteur«32, der seinen heroischen Kampf gegen den kommunistischen Imperialismus oftmals an Zensurbestimmungen vorbei führt, verunmöglicht den Blick auf die Konstruiertheit einer solchen Identität und ihre Verstrickung in westliche Ideologie. Jennifer Suchland weist in diesem Kontext auch darauf hin, dass die prowestliche Position solcher Auteurs (aber auch intellektueller Gallionsfiguren aus dem Osten) oftmals fälschlicherweise unterstellt wurde, was zur Folge hatte, dass sich eine kritische, postkoloniale Auseinandersetzung zwischen Erster und Zweiter Welt erst nach dem Fall der Sowjetunion aufrollte: »[...] the third world was associated with anticolonial and critical views of the West. On the other hand, dissident voices originating from the second world were understood as opposing totalitarianism and Soviet hegemony. While certainly not the assumption of all, the dissident or anti-Soviet position was presumed to also be pro-Western. The predominant U.S. perspective mythologized the link between anti-Soviet critique within communist states and the West, using figures such as Aleksandr Solzhenitsyn, Václav Havel, and Milan Kundera 28 Vgl. Larry Wolff: »Die Erfindung Osteuropas: Von Voltaire zu Voldemort.«, in: Wieser Enzyklopädie des Europäischen Ostens (WEEO), 2006, S. 21-34; abrufbar auf https://eeo.aau.at/wwwg.uni-klu.ac.at/eeo/Wolff_Erfindung.pdf, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 29 Miller: »Die Erfindung der Konzepte Mittel- und Osteuropa«, S. 162. 30 Ebd., S. 147. 31 Vgl. Imre (Hg.): East European Cinemas, S. XIV. 32 Ebd., S. XII.

Postsozialismen im Vergleich | 29

as poster children for the horrors of communism. In contrast to postcolonial theories, which developed during and through the demise of colonialism, critical reflection on the relationship between the West and second world did not occur until after the collapse of the USSR.«33

Im Folgenden werde ich mit Bezug auf Anikó Imre fünf Konsequenzen34 einer der Ideologie des Kalten Krieges aufsitzenden Filmwissenschaft beschreiben, um am Ende des Kapitels meine Forschungsfragen entsprechend zu perspektivieren: a) Blinde Flecken in der Erfassung osteuropäischen Filmschaffens: Filme, die sich nicht in die von der westlichen Filmkritik vorgefertigten Schablonen einpassen, bleiben der Forschung verschlossen und erhalten keine internationale Aufmerksamkeit. Subversives Potential wird nur dann erfasst, wenn es sich mit (pro-europäischen) Stimmen gegen die Staatsdoktrin äußert. Dazu zählt beispielsweise umfassendes Dokumentarfilm- und Animationsfilmmaterial, aber auch Genre-Filme und Genre-Parodien, die bisher kaum von der filmwissenschaftlichen Forschung berücksichtigt wurden, sowie Filme aus den am weitesten entfernten Satellitenstaaten der Sowjetunion, z.B. aus Rumänien, Albanien und Bulgarien. b) Gleichsetzung der gesamten osteuropäischen Filmgeschichte mit der sowjetischen Ära35: Der Fokus der westeuropäischen Kritik auf den Sozialismus blendet Nachkriegsproduktionen (nach dem Ersten Weltkrieg) sowie beliebte Genre-Filmproduktionen aus, die für das Profil des osteuropäischen Films von maßgeblicher Bedeutung sind. Die Ost-West-Dialektik der westeuropäischen Forschung verunmöglichte auch den Vergleich mit Kinematographien der Dritten Welt und eine Auseinandersetzung mit Epistemen der Postcolonial Studies, die das Konzept nationaler Identität kritisch beleuchten. c) Zuschreibung nationaler Identitäten im Sinne von Moskaus Machtinteressen: 33 Suchland: »Is Postsocialism Transnational?«, S. 845. 34 Vgl. Imre (Hg.): East European Cinemas, S. XIII-XV. 35 Ein Forschungsdesiderat der aktuellen europäischen Filmgeschichtsforschung wäre es, frühe Filmtheorien aus dem osteuropäischen Raum zu lesen, zu übersetzen und hinsichtlich ihrer Querverbindungen zu den kanonischen Autoren des Frühen Films (Béla Balázs, Rudolf Arnheim, Jean Epstein und Siegfried Kracauer) zu analysieren. Vgl. dazu die Pionierarbeiten von Jaroslav Anděl; Petr Szczepanik (Hg.): Cinema All The Time: An Anthology of Czech Film Theory and Criticism, 1908-1939. Michigan: Michigan Slavic Publications 2008; Andrzej Gwóźdź (Hg.): Filmtheorie in Polen. Eine Anthologie. Frankfurt am Main: Peter Lang 1992.

30 | Widerständige Nostalgie

In der Absicht, Kontinuitäten zwischen Osten und Westen hervorzuheben, schreiben westeuropäische Kritiker den einzelnen Kinematographien nationale Charakteristika zu und unterstützen somit die Moskauer Strategie zur Aufrechterhaltung der Kontrolle, deren Ziel es ist, kulturelle und nationale Differenzen zwischen den sozialistischen Staaten im Sinne der machiavellistischen Formel ›divide et impera‹ zu betonen. d) Fokus auf westeuropäische Kritik und Theorie: Aufgrund von Ausreisebeschränkungen und sprachlichen Einschränkungen (und vermutlich aufgrund einer gewissen Ignoranz der westlichen Filmkritik) bleiben osteuropäische Stimmen aus Kritik und Theorie unbeachtet. e) Romantisierung des Auteur: Als wichtigste Konsequenz einer durch den Kalten Krieg geprägten Filmwissenschaft greift Imre die Dominanz der (vorwiegend männlichen) Filmautoren und der Auteur-Theorie auf. Einer autoritären Staatspolitik steht in der Logik der westeuropäischen Filmrezeption der (männliche) intellektuelle Dissident gegenüber – eine Fokussierung, die interdisziplinäre Herangehensweisen und theoretische Rahmungen aus Semiotik, Psychoanalyse, feministischer Filmtheorie, Cultural Studies, Identitäts-, Repräsentations- oder Zuschauertheorien a priori verunmöglichen. Das Forschungsinteresse westeuropäischer Filmwissenschaft filtert somit Filmproduktionen nach dem Grad ihrer Subversivität im Bezug auf das kommunistische Regime und erliegt damit den eigenen ideologischen Vorurteilen. Gleichzeitig ist auch das zeitgenössische osteuropäische Filmschaffen sehr stark von den überlebensgroßen Autoren der Filmgeschichte geprägt und generiert neue Auteurs: »As far as quality goes, films from the region have maintained strong aesthetic and thematic continuities with what had become fossilized as the »artistic character« of East European cinema – the Eurocentric male or masculine intellectual´s attempt to process national history in a sophisticated, self reflective, allegorical film-style.«36

Auch im Bereich der Fernsehwissenschaft muss von einer »Western centric perspective«37 ausgegangen werden, die entsprechend in aktuell vorliegenden Publikationen mit ›europäischem‹ Fernsehen vor allem ›westeuropäisches‹ Fernsehen meint.38 Wie Anikó Imre, Timothy Havens und Katalin Lustyik festhalten, erfolgt 36 Imre (Hg.): East European Cinemas, S. XII. 37 Anikó Imre, Timothy Havens, Katalin Lustyik (Hg.): Popular Television in Eastern Europe During and Since Socialism. New York/ London: Routledge 2013, S. 2. 38 Vgl. bspw. Titel wie Jan Wieten, Graham Murdock, Peter Dahlgren (Hg.): Television Accross Europe: A Comparative Introduction. London: SAGE Publications 2000;

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osteuropäische Fernsehwissenschaft aber nicht nur an den Rändern der internationalen Fernsehwissenschaft, sondern sie nimmt auch innerhalb der osteuropäischen Medienwissenschaft, deren Fragestellungen vorwiegend den Printmedien, dem Journalismus und dem demokratischen Gemeindeleben gewidmet sind, einen marginalen Platz ein.39 Die Analyse televisueller Programme und Ästhetiken aus dem osteuropäischen Raum eignet sich aber im besonderen Maße dazu, so die Herausgeberinnen und der Herausgeber des paradigmatischen Bandes Popular Television in Eastern Europe During and Since Socialism, die Funktionsweisen televisueller Technologien zu untersuchen. Nicht nur ist die Transformation osteuropäischen Fernsehens von einem staatlich kontrollierten, einer strengen Zensur unterliegenden Rundfunksystem hin zur Entwicklung transnationaler Multiplattformen, die sich stark an westeuropäischen und US-amerikanischen Unterhaltungsprogrammen orientiert, von großem Interesse. Auch die Tatsache, dass osteuropäisches Fernsehen sozialistische Programme remediatisiert und somit zum Verhandlungsort von Erinnerungsmodi wird, die die Verarbeitung des Sozialismus vorantreiben, verdient erkenntnistheoretisches Interesse. Sozialistische Fernsehfilme und Serien, Animationsfilme für Kinder und Jugendliche, sogar Werbeeinspielungen, so Imre, Havens und Lustyik, sind intrinsischer Bestandteil des Fernsehprogramms seit 1989 und müssen als »irreplacable source of national and regional meomory and identity«40 untersucht werden. Als populärkulturelles (und noch stärker als die Kinoindustrie staatlich kontrolliertes) Medium wurde osteuropäisches Fernsehen in westeuropäischer Forschung lange nicht ernst genommen. Auch das intime Verhältnis des Mediums zu nationalen Sprachen und Kulturen stellte mitunter ein Hindernis dar, das Non-Natives den Zugang zu den Programmen erschwerte.41 Aber auch osteuropäische Filmemacher interessierten sich, insofern sie ihren Auftrag in der ›Herstellung‹ von regime-kritischer und subversiver, der (europäischen) Hochkultur zuordenbarer, Kunst sahen, nur am Rande für das Fernsehen.42 Als ein Medium, das heutige Erinnerungsdiksurse im osteuropäischen Raum maßgeblich mitgestaltet, generiert das Fernsehen Räume, in

Ulrike H. Meinhof, Kay Richardson: Worlds in Common? Television Discourses in the Changing Europe. New York/ London: Routledge 1999; Jean K. Chalaby: Transnational Television in Europe: Reconfiguring Global Communication Networks. London: I.B. Tauris 2009. 39 Vgl. Imre; Havens; Lustyik (Hg.): Popular Television in Eastern Europe During and Since Socialism, S. 1. 40 Ebd., S. 3. 41 Vgl. ebd. 42 Vgl. ebd.

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denen sozialistische Vergangenheit und der traumatisierte oder nostalgische Umgang damit vermittelt und diskutiert, verhandelt und verarbeitet werden. »Spanning decades and nations, the scholarship [...] on television and cultural memory in Eastern Europe not only adds to the ongoing theorization of post-communist nostalgia and trauma, but also makes a powerful case for the centrality of popular television in the production, continuation and study of cultural memory.«43

Das Fernsehen übernimmt so einen politischen Auftrag und holt gleichzeitig auf symbolischer Ebene Versäumnisse der postsozialistischen Realpolitiken nach. Dies trifft in exemplarischer Weise auf den Fall Tschechiens zu, wo die öffentliche Diskussion aufgrund einer nach 1989 von öffentlicher Seite stark vorangetriebenen Entkommunisierung, die mit der weitgehenden Tabuisierung der kommunistischen Vergangenheit im öffentlichen Leben einherging,44 noch am Anfang steht.

1.2 EURASIA: VON DER »GHOSTLY REGION« ZUR DEKONSTRUKTION DER DREI WELTEN Mit dem Ende des Kalten Krieges, schrieb Ernesto Laclau 1994, ging auch das Ende globaler Ideologien einher, die die politische Arena seit 1945 dominiert hatten.45 Das Auffällige an dieser Entwicklung sei jedoch, dass die beiden Ideologien des Sozialismus und des Kapitalismus nicht durch Ideologien ersetzt wurden, die ähnliche strukturelle Funktionen übernommen hätten.46 Das Ende des Kalten Krieges hätte vielmehr einen allgemeinen Rückgang ideologischer Politiken und eine Erstarkung partikularer Interessen mit sich gebracht. Laclau schreibt: »In a post-Cold War world, on the contrary, we are witnessing a proliferation of particularistic political identities, none of which tries to ground its legitimacy and its action in a

43 Imre, Havens, Lustyik (Hg.): Popular Television in Eastern Europe During and Since Socialism, S. 5. 44 Vgl. Françoise Mayer: Les Tchèques et leur communisme. Mémoire et identités politiques. Paris: Editions EHESS 2003. 45 Vgl. Ernesto Laclau (Hg.): The Making of Political Identities, London/New York: Verso 1994, S. 1. 46 Vgl. ebd.

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mission predetermined by universal history – whether that be the mission of a universal class, or the notion of a privileged race, or an abstract principle.«47

In einer Analyse der politischen Umbrüche von 1989 und 2009 (Reform des Lissabonner Vertrages) kommt Wolfgang Müller-Funk fast zwanzig Jahre später zu einem ähnlichen Schluss. Haben die führenden Köpfe der ›Samtenen Revolution‹ (von Václav Havel bis Jiří Dienstbier) an Überzeugungskraft verloren und stehen sie als Angehörige der intellektuellen Elite nicht (mehr) im Kontakt mit den Wählerinnen und Wählern, scheint die Politik des Postsozialismus geprägt von der Auflösung glaubwürdiger politischer Parteien, seien sie nun dem linken oder rechten politischen Spektrum zuzuordnen.48 Postsozialismus bezeichnet weder eine spezifische Politik noch eine Ideologie und kann auch nicht als universelles Prinzip verstanden werden, das auf sämtliche ehemalige Ostblockländer applizierbar ist. Dass dem Begriff ›Post-Sozialismus‹, der die Abgeschlossenheit des Sozialismus suggeriert, eine grundlegende Unmöglichkeit innewohne, argumentiert Jennifer Suchland: Der Sozialismus bleibe auch heute ein »mächtiges globales Gespenst«, »that is feared (in the United States) and feigned (in China)«.49 Auch müsse die Kohärenz der Kategorien »postsocialist countries, postsocialism, and the (former) second world« einer grundlegenden Analyse unterzogen werden. Auch Länder, deren politische Systeme eine Nähe zur Marxistisch-Leninistischen Ideologie aufweisen (Angola, Vietnam und Grenada), müssten hinsichtlich des Postsozialismus befragt werden.50 Gleichzeitig behauptet Postsozialismus eine transnationale Realität der politischen Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit, die im Grunde genommen gerade erst begonnen hat. Keinesfalls dürfe Postsozialismus als Zwischenstation in der Entwicklung zu einer vollwertigen europäischen Identität bzw. wie Suchland es nennt als unkritischer »Prozess der Demokratisierung und Europäisierung«51 verstanden werden. Gegen die verbreitete Behauptung, dass das Konzept der Zweiten Welt nach dem Ende des Kommunismus der Vergangenheit angehört, führt Katarzyna

47 Laclau (Hg.): The Making of Political Identities, S. 1. 48 Vgl.Wolfgang Müller-Funk: »Gulfs and Gaps – Prague and Lisbon – 1989 und 2009«, in: Peter I. Barta (Hg.): The Fall of the Iron Curtain and the Culture of Europe. London/ New York: Routledge 2013, S. 40-47. 49 Suchland: »Is Postsocialism Transnational?«, S. 837 (Fußnote 3). 50 Ebd., S. 837. 51 Ebd., S. 839.

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Marciniak das Konzept der »post-socialist hybrids«52 ins Feld. Sie wendet sich damit gegen namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie Ella Shohat und Robert Stam, Zygmunt Bauman, Michael Hardt und Antonio Negri, die zwischen 1994 und 2000 das Verschwinden der Zweiten Welt konstatierten.53 Von einem Verschwinden könne aber nicht die Rede sein, argumentiert Marciniak, wenn sie beispielweise auf die Präsenz einer großen Anzahl ehemaliger kommunistischer Funktionäre in der kulturellen und politischen Landschaft des heutigen Polen verweist.54 Diese geisterhafte Stimme des Kommunismus gälte es zu fassen und ihren Widersprüchen, Ambivalenzen und erstaunlichen Kontrasten Rechnung zu tragen.55 Mit dem Begriff des »post-socialist hybrids« referiert Marciniak auf Homi K. Bhabha und auf sein Konzept des »third space«56, greift aber gleichzeitig auch die Kritik an Bhabhas Kulturalismus auf. Es geht ihr nicht so sehr um die positive Umwertung und die Neuproduktion zweier Komponenten, die eine dritte ergeben (im Sinne der Bhabha’schen Resignifikation), sondern um ein Moment, in dem Risse und Brüche sichtbar werden.57 In ihrer Analyse der Photographien postsozialistischer Landschaften von Kamil Turowksi58, der Radiostation Radio Maryja59 mit ihrem partizipativen Internetauftritt und des Internetprojektes einer Plattform für sozialistische Führungen im postsozialistischen Krakau,

52 Katarzyna Marciniak: »Post-socialist Hybrids.«, European Journal of Cultural Studies (2009), S. 173-190. 53 Marciniak: »Post-socialist Hybrids.«, S. 174. Katarzyna Marciniak bezieht sich hier auf folgende drei Publikationen: Ella Shohat, Robert Stam: Unthinking Eurocentrism. Multiculturalism and the Media; Zygmunt Bauman: »The Making and the Unmaking of Strangers«, in: Pnina Werbner, Tariq Modood (Hg.): Debating Cultural Hybridity: Multi-cultural Identities and the Politics of Anti-Racism. London: Zed Books 1997, S. 46-57; Michael Hardt, Antonio Negri: Empire. Globalization as a New Roman Order, Awaiting its Early Christians. Harvard: Harvard University Press 2000. 54 Marciniak: »Post-socialist Hybrids.«, S. 177. 55 Vgl. ebd., S. 175. 56 Vgl. Jonathan Rutherford: »The Third Space. Interview with Homi Bhabha«, in: Ders. (Hg.): Identity: Community, Culture, Difference. London: Lawrence and Wishart 1990, S. 207-221. 57 Vgl. Marciniak: »Post-socialist Hybrids.«, S. 179. 58 Katarzyna Marciniak, Kamil Turowski: Street of Crocodiles. Photography, Media, and Postsocialist Landscapes in Poland. Bristol/Chicago: Intellect 2010. (Mit einem Vorwort von Jim Hoberman.) 59 Vgl. http://www.radiomaryja.pl/, [letzte Sichtung am 18.03.2020].

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Crazy.Guides60, zeigt sie, wie die geisterhafte Präsenz des Sozialismus einerseits mit neo-liberalen, andererseits mit ultra-konservativen Ansprüchen interferiert: »[The] desire for instant westernization, globalization and refashioning of culture persists alongside the need to reassert Polishness and an ultranational ethos promoted most strongly through TV channels and radio programs belonging to conservative Catholic groups.«61

Wie Anikó Imre weist auch Jennifer Suchland darauf hin, dass die Wissensproduktion der Area Studies im ideologischen Kontext des Kalten Krieges die Zweite Welt im Gegensatz zur Dritten Welt als unkritisch gegenüber dem Westen positioniert hat.62 Dies hätte zu einer Wahrnehmung der Zweiten Welt als »nonregion« geführt.63 Im Bezug auf Bestrebungen eines globalen Feminismus, der ausgehend von theoretischen Denkmodellen der Postcolonial und der Development Studies das Konzept des Transnationalen einsetzte, um den Essentialismus von Herkunftspolitik bloß zu legen64, führt Suchland aus: »This simplification of the geoideological positions of the second and third worlds contributes to both the exoticization of third-world women and the erasure of second-world women.«65

Die Repräsentation der Zweiten Welt, so Suchland, sei im Wesentlichen durch zwei Narrative66 geprägt: Zum einen durch das Narrativ der Förderung in Form finanzieller Unterstützung, das die Achse zwischen Erster und Zweiter Welt aufrechterhält. Die Beziehung zwischen Erster und Zweiter Welt wird hier in eine Geber-Nehmer-Logik übersetzt und verhält sich analog zur Beziehung zwischen Erster und Dritter Welt. Das zweite Narrativ ist jenes der »globalen Repräsentanten des Postsozialismus«, mit dem einige Länder (vor allem osteuropäische Länder und Russland) gefasst werden, während andere postsozialistische Staaten und Nationen in andere geopolitische Kategorien (i.e. Zentralasien, Balkan, Kaukasus) fallen. Sich einem postkolonialen Denken des Postsozialismus verpflichtend, schlägt Jennifer Suchland »Eurasia« als epistemologisches Instrument (»tool«) der 60 Vgl. http://www.crazyguides.com/, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 61 Marciniak: »Post-socialist Hybrids.«, S. 174. 62 Suchland: »Is Postsocialism Transnational?«, S. 839. 63 Ebd., S. 839. 64 Vgl. ebd., S. 849. 65 Ebd., S. 846. 66 Vgl. ebd., S. 844.

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Gender Studies vor, das ultimativ darauf abzielt, die Metageographie der drei Welten sowie die Grenzen von Nationalstaaten zu überwinden sowie Europa und Russland zu dezentralisieren.67 »Eurasia« versteht Suchland also als: »a tool for rethinking the second world as a legitimate difference and at the same time as a place and identity that challenges the three-world metageography. To bring the second world in should entail the recognition of the experiences of state socialism as part of the global, and at the same time it should resist the problems of ethnocentrism and oversimplified categories of women that plague the ideology of global sisterhood.«68

So stichhaltig das Konzept »Eurasia« in Suchlands Argumentation anmutet, scheint es mir doch eine Gefahr zu beinhalten: Das Subsummieren der postsozialistischen Erfahrungen als postkoloniale könnte zur Folge haben, dass die Machtbeziehungen zwischen Westen und Osten privilegiert werden und andere Machtdynamiken (innerhalb der Länder der sogenannten Zweiten Welt) unterbeleuchtet bleiben. Den Postsozialismus mit der Kategorie des Postkolonialen zu fassen, könnte nämlich auch als die Rückkehr zu einer Logik des Kalten Krieges gelesen werden, nach der Sozialkritik ein Phänomen des Orients bzw. der Peripherie sei.69 »The postcolonial turn in the second world«, so Suchland, »may actually be a testament to the rigidity of international discourse that represents alterity.«70

1.3 »TRANSNATIONALIZING COMPARISON« ODER ÜBER UNZULÄSSIGE VERGLEICHE Zwei (oder mehrere) Menschen, Dinge, Ideen oder Phänomene miteinander zu vergleichen, hat für gewöhnlich zum Ziel, dass aufgrund der festgestellten Differenzen ein Urteil darüber getroffen werden kann, in welcher hierarchischen Ordnung (vom Komparativ zum Superlativ) die untersuchten Sub- oder Objekte sich zueinander verhalten. »Der Vergleich macht Sie sicher!«, hieß es in einer

67 Vgl. Suchland: »Is Postsocialism Transnational?«, S. 844. 68 Ebd., S. 853. 69 Ähnlich argumentiert Neil Lazarus in seinem Text, in dem er auf die Gefahr einer Reaffirmierung des Ost-West Gefälles durch eine Analogsetzung der Bedingungen von Postsozialismus und Postkolonialismus hinweist. Vgl. Neil Lazarus: »Spectres Haunting: Postcommunism and Postcolonialism.«, Journal of Postcolonial Writing, 05 (2012), S. 117-129. 70 Suchland: »Is Postsocialism Transnational?«, S. 855.

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Fernsehwerbung des Österreichischen Rundfunks der 1980er Jahre, in der der Konzern Siemens Staubsauger anpries. Der Vergleich scheint im Alltagsgebrauch ein kompetitives Setting aufzustellen, in dem verschiedene (aber nicht zu verschiedene) Sub- oder Objekte gegeneinander antreten und aus dem eines der partizipierenden Sub- oder Objekte als Gewinner hervorgeht.71 Die Mythologie der Alltagssprache lehrt uns, dass man nicht ›Äpfel mit Birnen‹ vergleichen solle.72 Sub- und Objekte, die zu große Unterschiede aufweisen, eignen sich – so möchte es uns die Redewendung vermitteln – nicht für einen Vergleich. Vor dem Hintergrund einer kritisch zu reflektierenden Rhetorik des interkulturellen Vergleichs weisen die Kulturwissenschaftlerin Ella Shohat und der Literatur- und Filmwissenschaftler Robert Stam gerade auch auf die Produktivität einer Poetik des unzulässigen Vergleichs (discordia concors) hin, »[who] has catalyzed major artistic schools, from John Donne and the metaphysical poets to the paintings of the Surrealists, to the films of Jean-Luc Godard. Jorge Luis Borges´s heterotopic Chinese Encyclopedia might be absurd from the standpoint of logic, but its exploding the ground of commensurability has been productive from the standpoint of aesthetics.«73

Von der Frage ausgehend, die in den Postcolonial, den Cultural Studies und in den Sozialwissenschaften zu paradigmatischen Texten geführt hat – was passiert, wenn Ideen von einem geographischen Raum und aus dem Kontext einer kulturellen oder disziplinären Semantik in eine/n andere überführt werden?74 – 71 In der Rechtswissenschaft spricht man übrigens von einem Vergleich, wenn der Streit zwischen zwei Parteien im Wege gegenseitigen Nachgebens beseitigt wird. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Vergleich_(Recht), [letzte Sichtung am 18. 03.2020]. 72 Roland Barthes vergleicht in seinen Mythologies ganz im Widerspruch zu der (im Französischen gleichlautenden) Redewendung der Äpfel und der Birnen übrigens Wein und Milch, sowie Steak und Pommes frites. Die Vergleiche der inkommensurablen Objekte fokussieren auf das tertium comparationis, das in Fall von Milch/Wein und von Steak/Pommes Frites Attribut einer zu (de-)konstruierenden nationalen Identität ist. Vgl. Roland Barthes: Mythologies. Paris: Éditions du Seuil 1957, S. 83-86 (»Le vin et le lait«); S. 87-89 (»Le bifteck et les frites«). 73 Shohat; Stam: »Transnationalizing Comparison: The Uses and Abuses of Cross-Cultural Analogy«, S. 481-482. 74 Vgl. Edward Said: The World, the Text, and the Critic. Cambridge MA: Harvard University Press 1983. (Essay »Travelling Theory«); Mieke Bal: Travelling Concepts in the Humanities. A Rough Guide. Toronto: University of Toronto Press 2002; Pierre Bourdieu: »Les conditions sociales de la circulation internationale des idées« Actes de

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sondieren Shohat und Stam die Tiefen und Untiefen interkultureller Vergleiche. In ihrem 2009 erschienenen Text Transnationalizing Comparison: The Uses and Abuses of Cross-Cultural Analogy schlagen Shohat und Stam eine »relationale, transnationale Methode des Vergleichens« vor, die von einem Denkmodell ausgeht, das Nationen immer schon als Transnationen, Kulturen als Transkulturen fasst.75 Das Konzept Nation scheint, so argumentieren Shohat und Stam, selbst aus dem semantischen Kontext der Idee des Vergleichs entlehnt, definieren sich doch Nationalstaaten in einem »diakritischen, identitätsbildenden Prozess«76 mit und gegen andere Nationalstaaten. Gleichzeitig gehen Nationen nie in homogenen Zuschreibungen auf, sondern weisen ihrerseits »Widersprüche, Lücken und Brüche auf«, die in transnationaler Perspektive analysiert werden müssen. »National cultural fields are dynamic, heteroglossic, impure, dissensual, and internally differentiated. Cultures are not comparable in the form of a stable set of unchanging properties or a static list of traits. France is not eternally Cartesian; Brazil is not perpetually carnivalesque; the United States is not unfailingly puritanical. Although cross-border comparisons have often conjured up the image of nations as coherent, consistent, and hermetically sealed units, our emphasis has been on the contradictions, gaps, and fissures within a transnational perspective. We have called attention, in this sense, to what Édouard Glissant calls ›transversalities‹, that is, the comparisons and dialogisms taking place across fluid transnational spaces – not between nation-states but rather between ›nation-relations‹.«77

Bezugnehmend auf das Konzept der »Transversalitäten« des französischen Dichters, Schriftstellers und Philosophen Édouard Glissant schlagen Shohat und Stam vor, die dialogischen, flüssigen Strukturen in den Blick zu nehmen, die transnationale Räume ausmachen und anstelle über Nationalstaaten über »nation-relations« nachzudenken. Ebenfalls in der Absicht, eurozentristische Zugänge des Vergleichens zu dekonstruieren, jedoch mit einer grundverschiedenen Prämisse, polemisierte Paul Willemen einige Jahrzehnte lang die akademische Welt der Komparatistik und der Vergleichenden Filmwissenschaft. In seinem umstrittenen Text For a

la recherche en science sociales 5, 145 (2002), S. 3-8. Aufrufbar auf http://www.cairn.info/revue-actes-de-la-recherche-en-sciences-sociales-2002-5-page3.htm, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 75 Shohat; Stam: »Transnationalizing Comparison: The Uses and Abuses of Cross-Cultural Analogy.«, S. 497. (Übersetzungen ins Deutsche im Fließtext, N.K.) 76 Ebd., S. 475. 77 Ebd., S. 497. (Hervorhebung, N.K.)

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comparative film studies, erschienen 2006 in dem Journal Inter-Asia Cultural Studies78, richtet sich der britische Filmwissenschaftler, Kritiker, Kurator und Aktivist Paul Willemen gegen akademische und institutionalisierte anglo-amerikanische Film- und Kulturwissenschaften, deren Relationismus und Eurozentrismus er problematisiert.79 Nicht nur befänden sich westliche zeitgenössische Theorien noch immer in ihrer »prähistorischen Phase«80, insofern sie nämlich ihre eigene Historizität nicht überwinden können. Auch sei es bisher noch nicht gelungen, eine westliche Kulturtheorie zu etablieren, die sich ihrer »Westlichkeit« bewusst wäre. »[...] what is wrong with Western theory«, poltert Willemen, »is not that it is Western, but that so much of it fails to realize that is is Western.«81 Willemen bildet sein Argument aufbauend auf den Thesen von Franco Moretti, bei dessen 2000 in der New Left Review erschienem Essay über Weltliteratur er eine Reihe produktiver Fehler am Werk sieht, die er in der Folge für sein eigenes Projekt fruchtbar macht. Als Forschungsdesideratum, auf das das Projekt der Comparative Film Studies Antwort geben möchte, benennt er die Analyse kultureller Dynamiken in Interaktion mit den sozio-ökonomischen Feldern, in welchen diese auftreten.82 Moderne kulturelle Formen und somit Filme sollten, so die These Paul Willemens, nicht in ihrem nationalen Kontext im Sinne von Nationalliteratur analysiert werden (dies berge die Gefahr des Relationismus und der Fetischisierung geopolitischer Grenzen). Vielmehr gälte es, sie als kulturelle Formen am Knotenpunkt ökonomischer und kultureller Interessen zu fassen. In der späteren, posthum erschienenen Einleitung zu einer selbstständigen Publikation zum Thema, die nicht mehr erscheinen konnte, bringt Willemen das Projekt der Comparative Film Studies noch einmal auf den Punkt: Anstatt Filme als Schnittmengen aus nationalen Eigenheiten und universellen Werten zu begreifen, möchte Willemen die Aufmerksamkeit einer »forensisch vorgehenden Filmwissenschaft«83 auf 78 Die Debatte um Paul Willemens Plädoyer für eine komparatistische Filmwissenschaft wird zum größten Teil in diesem Journal geführt. Mitsuhiro Yoshimoto reagiert beispielweise aus der Perspektive der japanischen Filmwissenschaft mit einer Kritik an den von Willemen vorgestellten Thesen. Vgl. Mitsuhiro Yoshimoto: »A Future of Comparative Film Studies.«, Inter-Asia Cultural Studies, (Special Issue: Considering Comparative Film Studies: in Memory of Paul Willemen), Vol. 14. Nr. 1, (w2013), S. 54-61. 79 Vgl. Paul Willemen: »For a Comparative Film Studies«, Inter-Asia Cultural Studies, 6:1, (2005), S. 98-112. 80 Ebd., S. 98. 81 Vgl. ebd. 82 Ebd., S. 99. 83 Ebd., S. 107.

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die Schnittstelle von nationaler Geschichte und der kapitalistisch-industriellen Produktion von Filmen lenken.84 Das »forensic« oder »archeological reading« stellt er dem »close reading« gegenüber, das er unter Rückbezug auf Moretti als ein elitistisches Instrument der Kanonisierung disqualifiziert.85 Kino versteht Willemen als immer schon globales Phänomen, das mit Parametern des Nationalen nicht zu fassen ist. Die Idee des Universalismus ist mit der Geschichte des Kinos eng verbunden. Bereits in frühen Texten zum Kino haben Theoretikerinnen und Filmkritiker von einer universellen, intersubjektiven kinematographischen Sprache geträumt, die jenseits philologischer Barrieren verständlich wäre.86 Dieser universellen kinematographischen Sprache steht Willemen jedoch skeptisch gegenüber, auch interessiert Film ihn nicht als metasprachliches Zeichensystem, das in ausgewählten Produktionen eines »World Cinema« Ausdruck fände. Den Universalismus von Film verortet Willemen vielmehr in der »universellen Begegnung mit dem Kapitalismus«, die allen filmischen Produktionen gemeinsam ist und die jeglichen Vergleich überhaupt erst ermöglicht.87 Das Verdienst des Willemen´schen Projektes sieht der japanische Filmwissenschaftler Mitsuhiro Yoshimoto demgemäß weniger in der Zurverfügungstellung einer spezifischen Methode des Vergleiches. Tatsächlich mangelt es dem Projekt der Comparative Film Studies einstweilen noch an konkreten methodischen Angeboten. Das Angebot dieser neuen Schule des Vergleichens liegt vielmehr in der Rekonzeptualisierung der Geschichte des Films als einer Geschichte, die den ›Akt des Vergleiches‹ möglich macht, indem sie auf eine universelle Gemeinsamkeit fokussiert, die Filme jenseits ihrer nationalen Herkunft teilen.88 So sehr Yoshimoto jedoch das Konzept Willemens als eine Kritik vor allem an der US-amerikanischen Academia begrüßt, fragt er auch, ob es im nicht euro-amerikanischen Kontext überhaupt anwendbar ist.89 Insofern schon die ›klassische‹ euro-amerikanische Filmwissenschaft in 84 Vgl. Willemen: »Introduction to Subjectivity and Fantasy in Action: For a Comparative Film Studies«, Inter-Asia Cultural Studies, 14:1, (2013), S. 96-103, hier: S. 97. 85 Willemen: »For a Comparative Film Studies«, S. 100. 86 Für aktuellere Zugänge zur frühen Filmtheorie (Jean Epstein, Siegfried Kracauer u.a.) vgl. Miriam Bratu Hansen: Cinema and Experience: Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, and Theodor W. Adorno. Berkeley: University of California Press 2012; Sarah Keller (Hg.): Jean Epstein: Critical Essays and New Translations. Amsterdam: Amsterdam University Press 2012; André Gaudreault: A Companion to Early Cinema. Chichester: Wiley-Blackwell 2012. 87 Willemen: »Introduction to Subjectivity and Fantasy in Action: For a Comparative Film Studies«, S. 97. 88 Vgl. Yoshimoto: »A Future of Comparative Film Studies.«, S. 54. 89 Vgl. ebd., S. 55.

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Japan beispielsweise nicht rezipiert werde, sei es unwahrscheinlich, dass die dieses Paradigma anfechtende, kritische Denkbewegung wahrgenommen werde. Der Kern der Kritik der Comparative Film Studies, führt Yoshimoto folgerichtig und hellsichtig aus, betrifft also nicht nur die Filme, sondern auch die Institutionalisierung des akademischen Diskurses. »As the production, distribution, and reception of movies cannot be seriously discussed without reference to capitalism, the institutionalization of academic discourse is also profoundly affected by the works of capitalism. The discipline-centered university system in the US and the international traffic of knowledge, professional academics, and cultural capital this system manages and controls, are analogeous to a free market system of the US economy.«90

Yoshimoto kritisiert in weiterer Folge auch Willemens unhinterfragte Nutzung des Englischen zur Vermittlung und zur Verbreitung seiner Thesen. Ziel einer globalen, vergleichenden Filmwissenschaft müsste es sein, die Position des Englischen als Sprache der internationalen Academia kritisch zu reflektieren. Ebenso wie der Mythos der universellen Sprache des Films dekonstruiert wurde, muss der Mythos des Englischen als »Amtsprache des akademischen Diskurses dekonstruiert«91 werden. Dies müsse durch einen strategischen Einsatz des Englischen durch nicht englischsprachige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geschehen, die sich auf diese Weise in einen globalen Diskurs über Film, Filmproduktion und -zirkulation einschreiben und die hegemoniale Position der US-zentrierten Filmwissenschaft aushebeln.92 Als Ziel dieser bewusst eingesetzten Verwendung des Englischen als strategisches Mittel nennt Yoshimoto nichts Geringeres als Systemkritik: »The final goal is not to create a globally unified discursive space of film studies, but to forge new networks and channels of communication, which are presently being mediated by the US.«93 Perspektivierungen Mit dem transnationalen Vergleich von Filmen und TV-Produktionen aus dem zentraleuropäischen Raum, mit dem Fokus auf verschiedene Genres und heterogene Produktionskontexte sowie auf Koproduktionen zwischen west- und osteuropäischen Ländern ziele ich auf multifokale Analysen (post-)sozialistischer 90 Yoshimoto: »A Future of Comparative Film Studies.«, S. 57. 91 Ebd., S. 60. 92 Vgl. ebd., S. 59. 93 Ebd., S. 60.

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Medienrealitäten, die den traditionellen Zugang zu den nationalen Kinematographien des osteuropäischen Raums transzendieren und die Auflösung des scheinbaren Antagonismus von Film und Fernsehen anstreben. Das Film- und TV-Material soll im Sinne der Bal’schen Widerworte94 Gelegenheit bekommen, aus den bisher erfolgten Kanonisierungen heraus zu treten und – bewusst aus dem (konstruierten) Zusammenhang gerissen – neue Korrelationen einzugehen, die ihrerseits eine postkoloniale, postimperiale Perspektive auf die postsozialistischen Mediascapes95 ermöglichen. Die Spektren des Sozialismus, die in hybriden und geisterhaften Erscheinungen diese Mediascapes heimsuchen, sind dabei ebenso zu analysieren wie untersucht werden muss, inwiefern sich das dekonstruktivistische Konzept von Eurasia als Metageographie für die Erzählung einer transnationalen Film- und TV-Geschichte im zentraleuropäischen Raum eignet. Der transnationale Vergleich soll dabei interaktiv und dialogisch gedacht werden. Anstatt in ursprünglichen und normierenden Kulturen werden die zu untersuchenden medialen Objekte im Sinne von Ella Shohat und Robert Stam in einem laufenden Prozess »reziproker Transtextualität«96 verortet, die in vier verschiedenen Rahmungen gefasst werden kann: Revoicing, Reaccentuation, Indigenization, Mediation.97 Diese vier Rahmungen werden in der Conclusio als Analysekategorien eingesetzt, mit der die transtextuellen Verhältnisse der Double Features beleuchtet und näher bestimmt werden sollen. Die Reflexion über das Projekt der programmatisch geforderten anti-kanonischen Comparative Film Studies von Paul Willemen sowie die Kritik (von Mitsuhiro Yoshimoto) an der Unlesbarkeit dieses Projekts außerhalb einer englischsprachigen Academia leiten mich in der kritischen Reflexion meiner eigenen Positionierung innerhalb der deutschsprachigen universitären Landschaft an.

94 Mieke Bal: Kulturanalyse. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 18. Mieke Bal legt mit ihrem Konzept der Cultural Analysis eine kulturwissenschaftliche Methode vor, die die Beweglichkeit und Wandelbarkeit von Begriffen und Theorien immer mitdenkt. In diesem Sinn, schreibt Mieke Bal, muss »das Objekt die Möglichkeit haben, `Widerworte zu geben´.« 95 Vgl. Appadurai: »Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy«, S. 295-310. 96 Shohat; Stam: »Transnationalizing Comparison: The Uses and Abuses of Cross-Cultural Analogy.«, S. 473. 97 Ebd.

2

Die Zukunft der Nostalgie. Plurimediale Erinnerungskonstellationen zwischen »Memory« und »History«

Im Bereich der Vergleichenden Literatur- und Filmwissenschaften im Allgemeinen sowie der Kulturwissenschaften mit Osteuropafokus im Speziellen hat sich in den letzten Jahren ein Denkmodell durchgesetzt, das auf produktive Weise gesellschaftspolitische und mediale Aspekte von Geschichts- und Erinnerungsdiskursen zusammen denkt. Die Rede ist von der Engführung der Begriffe Postkommunismus und Nostalgie, erstmals miteinander in Zusammenhang gebracht in der Veröffentlichung der Literaturwissenschaftlerin Svetlana Boym The Future of Nostalgia (2001), im 6. Kapitel »Nostalgia and Post-Communist Memory«1, später methodisch produktiv gemacht anhand von Fallstudien aus den »Nostalgic Realms

1

Svetlana Boym: The Future of Nostalgia. New York: Basic Books 2001, S. 57-71. Während Boym einerseits der osteuropäischen »Massennostalgie«, die sie als länderübergreifende Midlife-Crisis der Generation der in den späten 1940er Jahren Geborenen beschreibt, kritisch gegenüber steht, betont sie andererseits den transnationalen Beitrag dieser Generation zu einer »Countermemory«, die zuerst den Grundstein für den demokratischen Widerstand einer Öffentlichkeit legte, wie er während der letzten Revolutionsjahre Ausdruck fand: »While there are vast differences between the USSR and Eastern and Central Europe, one could speak about one common feature of the alternative intellectual life in these countries from the 1960s to the 1980s: a development of ›counter-memory‹ that laid a foundation of democratic resistance and arguably was a prototype of a public sphere that already had emerged under the Communist regime. Countermemory was for the most part an oral memory transmitted between close friends and family members and spread to the wider society through unofficial networks. The alternative vision of the past, present and future was rarely discussed explicitly; rather it was communicated through half words, jokes and doublespeak.« (S. 61).

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in Word, Sound, and Screen«2 in dem von den Historikerinnen Maria Todorova und Zsuzsa Gille herausgegebenen Band Post-communist nostalgia (2010).3 Boym legt mit ihrer Arbeit eine Kulturgeschichte der Nostalgie vor, die neben einer Taxonomie zweier unterschiedlicher Nostalgien auch eine Neudefinition der Moderne anhand der Analyse und Relektüre verschiedener Untersuchungsgegenstände (von literarischen Analysen exemplarischer Werke von Vladimir Nabokov und Joseph Brodsky zu den Betrachtungen über die Installationen von Ilya Kabakov zur ›Lektüre‹ metropolischer Architekturen von Moskau, Berlin und St. Petersburg) bereithält. Todorova und Gille hingegen geht es um die systematische Korrektur des ihrer Meinung nach in der west- und osteuropäischen Presse falsch gebrauchten Begriffs der postkommunistischen Nostalgie, um seine Epistemologisierung und um die Frage seiner methodischen Anwendbarkeit und Anwendung. In Abgrenzung zum Begriff der »Ostalgie«, den Filmkritikerinnen und Filmkritiker im Zusammenhang mit Filmen wie GOOD BYE, LENIN! (D 2003, Wolfgang Becker)4 in Umlauf gebracht haben und den Dominic Boyer 2006 in seinem Text »Ostalgie and the Politics of the Future in Eastern Germany«5 als Projektion der Westdeutschen auf die Ostdeutschen markiert, verstehe ich Nostalgie hier nicht als spezifische Sehnsucht nach einem vergangenen Zeitraum oder einem fernen oder unerreichbaren Ort, sondern als multifokales Bezugssystem für das Verstän2

Todorova; Gille (Hg.): Post-Communist Nostalgia, S. 129-290.

3

Zum Themenfeld der Nostalgie ohne den osteuropäischen Kontext gibt es freilich zahlreiche Veröffentlichungen, von denen hier exemplarisch Susan Stewart, die Nostalgie als soziale Krankheit betrachtet, und Frederic Jamenson, der Nostalgie als das Symptom bzw. die Ursache für den Riss zwischen historischen Signifikanten und ihren Signifikaten auffasst, erwähnt sein sollen. Vgl. Susan Stewart: On Longing. Narratives of the Miniature, the Gigantic, the Souvenir, the Collection. London: Duke University Press 1993; Fredric Jameson: »9. Nostalgia for the Present.«, in: ders.: Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism. Durham: Duke University Press 1991, S. 279296.

4

Vgl. »Ganz Deutschland lacht und weint über den Film Good bye, Lenin!« Stern, 25.11.2003, abrufbar auf http://www.stern.de/panorama/ostalgie-ganz-deutschlandlacht-und-weint-ueber-den-film--good-bye--lenin---3506338.html, [letzte Sichtung am 18.03.2020]; »Ostalgie-Welle rollt durch die Kinosäle. Der Erfolg für Good Bye, Lenin! – was Berliner und der Regisseur dazu sagen« Berliner Kurier, 21.02.2003, abrufbar auf

http://www.berliner-kurier.de/ostalgie-welle-rollt-durch-die-kinosaele-dererfolg-

fuer--good-bye--lenin-----was-berliner-und-der-regisseur-dazu-sagen-21777772, [letzte Sichtung am 20.08.2016]. 5

Dominic Boyer: »Ostalgie and the Politics of Future in Eastern Germany«, Public Culture 18, Nr. 2, (2006), S. 361-381.

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dnis Europas nach dem Kalten Krieg. Nostalgie kommt als Modus der Erinnerung und der kritischen Auseinandersetzung in den Blick, der intrinsisch mit dem Gebrauch von Medien verbunden ist. Die Medien sind es, die das Dispositiv dieses Modus´ erst zur Verfügung stellen. Anikó Imre bezeichnet postkommunistische Nostalgie als »a relational expression of heterogeneous desires that operate in an intercultural network.«6 Dieser »Ausdruck heterogener Sehnsüchte« wird, das würde ich hinzufügen wollen, immer schon durch heterogene textuelle und audiovisuelle Medien wie Literatur, Film und Fernsehen vermittelt. Die Verwendung des Konzepts ›Nostalgie‹ als Bezugssystem für das Verständnis des Postsozialismus und seiner vielfältigen (Re-)Präsentationen in Film- und TV-Produktionen zielt also weniger auf die Verklärung einer konkreten Vergangenheit ab als auf einen medialen und intertextuellen Bezug auf die Vergangenheit(-en), wie sie für die Diskussion und die Konstruktion der Gegenwart(-en) höchst brisant ist. Svetlana Boym stellt einen intrinsischen Zusammenhang zwischen einer hypermedialen Gesellschaft und dem nostalgischen Zugriff auf Vergangenes her.7 Wenn audiovisuelles Material aus der Vergangenheit jederzeit und überall abrufbar ist, liegt Nostalgie als Rezeptionsmodus nahe. Gerade der erleichterte Zugriff auf die Bilder und die Töne der Vergangenheit (bspw. durch optimierte Technologien und die partizipativen Strukturen verschiedener Speichermedien) führt also zu einer gesteigerten Anfälligkeit für nostalgische Anwandlungen. Nostalgie bedeutet bei Boym aber nicht ein psychologisches Setting (oder eine Pathologie), sondern Nostalgie bezeichnet vielmehr einen Gebrauch von Medien, der nicht so sehr auf die Aktualisierung der Vergangenheit abzielt als auf die Ermöglichung einer Reappropriierung derselben. Nostalgie versteht Boym also weniger als Rezeptionsmodus denn als eine spezifische Form der Agency. Ähnlich argumentiert Sean Scanlan, wenn er schreibt, dass Nostalgie darauf abhebt, die Funktionsweisen von Erinnerung zu kommentieren. Das Ziel der Nostalgie sei es hierbei aber nicht, in der Sehnsucht selbst aufzugehen, sondern vielmehr eine Technik zur Disposition zu stellen, die eine »Sekundärreaktion« provoziert. Bei Scanlan heißt es: »Now, nostalgia may be a style or design or narrative that serves to comment on how memory works. Rather than an end reaction to yearning, it is understood as a technique for provoking a secondary reaction.« 8

6

Imre: »Why should we study socialist commercials?« View. Journal of European Television History and Culture. Volume 3/ Issue 2, (2012), S. 65-76.

7

Boym: The Future of Nostalgia, S. 346 f.

8

Sean Scanlan: »Introduction: Nostalgia«, Iowa Journal of Cultural Studies 5 (2004), S. 4.

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Diese Sekundärreaktion umfasst meines Erachtens funktionale Aspekte wie die bereits genannten der Reappropriierung, der Kommentierung, aber auch solche der Handhabung im Sinne einer Bewältigung der Vergangenheit und in Form einer Reflexion der Funktionsweisen von Erinnerung.

2.1 POST-COMMUNIST NOSTALGIA ALS ANALYTISCHES RASTER Kollektive Ausbrüche von Nostalgie folgen, wie Svetlana Boym gezeigt hat, zumeist auf umfassende gesellschaftspolitische Veränderungen, insbesondere Revolutionen. Als Beispiele nennt sie die Französische Revolution von 1789, die Russische Revolution und die ›samtenen‹ Revolutionen in Osteuropa.9 Im Fall dieser spezifischen postrevolutionären Nostalgie handelt es sich allerdings nicht (nur) um die Sehnsucht nach einem spezifischen Ancien Regime oder gestürzten Imperium, sondern nach den »unrealized dreams of the past and visions of the future that became obsolete«10. Mehr als um ein rückwärts gewandtes Schwelgen in einer idealisierten Vergangenheit geht es bei dieser ›Nostalgie für die Zukunft‹ also um eine Aktualisierung dieser, wenn auch vielversprechenden, so doch vergangenen Imaginationen der Zukunft aus der und für die Gegenwart. In dieser Hinsicht zeichnet sich jene Nostalgie nicht durch Realitätsverweigerung aus, sondern durch die Tatsache, dass sie die Gegenwart sowohl mit der Vergangenheit als auch mit der Zukunft zu verbinden weiß. Bei Boym heißt es: »Nostalgia is not always about the past; it can be retrospective but also prospective. Fantasies of the past determined by needs of the present have a direct impact on realities of the future.« 11

Voraussetzung für diese utopische Nostalgie ist ein Denken der Vergangenheit als nicht abgeschlossen, als ›unsicher‹. Während Svetlana Boym sich auf eine russische Redewendung bezieht, in der es heißt, dass »die Vergangenheit unvorhersehbarer geworden ist als die Zukunft«12, zitiert Maria Todorova in Post-Communist Nostalgia den polnischen Autor und Journalisten Daniel Singer, der, sich auf Walter Benjamins Aufsatz Über den Begriff der Geschichte (1940) beziehend, be-

9

Vgl. Boym: The Future of Nostalgia, S. XVI.

10 Ebd. 11 Ebd. 12 Ebd., S. XIV.

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hauptet hat, »that we don´t know yet what our past is going to be«13. Die Vergangenheit als unabgeschlossen zu denken, fordert auch der Historiker und Literaturwissenschaftler Hayden White, der in den 2007 erschienen Manifestos for History14 für eine Auffassung von Geschichte plädierte, die die Gegenwart insofern immer schon als historisch begreift, als sie Gegenwart und Vergangenheit als ständig korrespondierende Entitäten innerhalb der entropischen Größe ›Geschichte‹ konzeptualisiert. Wie White ausführt: »[...] if by history we mean not simply ›the past‹ but the relation between the ›present‹ understood as a part of ›history‹ and the ›past‹, then it is incumbent upon us to think about the possibility of the present as history.«15

Diese von White feierlich aufs Tapet gebrachte »Möglichkeit, die Gegenwart als Geschichte zu denken« impliziert eine Meta-positionierung und eine Distanzierung zum Jetzt, die meines Erachtens nicht so sehr einer hemmungslosen Zukunftsbegeisterung geschuldet ist als vielmehr dem kritischen Versuch, die Errungenschaften und Verwerfungen der Menschheitsgeschichte nicht in einer restrospektiven Hierachisierungslogik zu lesen und das Verständnis und die Deutung (Sinngebung) der Vergangenheit nicht (nur) über die Schablonen der Gegenwart zu generieren. Die negative Konnotation16 des Begriffes der Nostalgie rühre von einer falschen Verwendung des Begriffes her, gar von einer systematischen »Fehlbezeichnung«, wie es bei Zsuzsa Gille heißt.17 Während der Begriff in Alltagssprache und

13 Todorova; Gille (Hg.): Post-Communist Nostalgia, S. 11. 14 Keith Jenkins; Sue Morgan; Alun Munslow (Hg.): Manifestos for History. New York: Routledge 2007. 15 Hayden White: »Afterword: Manifesto time«, in: Jenkins; Morgan; Munslow (Hg.): Manifestos for History, S. 224. 16 Auch bei Boym heißt es übrigens, dass das Konzept der Nostalgie oftmals abgewertet würde, die Nostalgie der Erinnerung sei wie der Kitsch der Kunst, eine »ethical and aesthetical failure«. Boym: The Future of Nostalgia, S. XIV. 17 Todorova; Gille (Hg.): Post-Communist Nostalgia, S. 286. (Übersetzung aus dem Englischen, N.K.) Zsuzsa Gille schreibt: »As I think it has become clear to the reader, postCommunist nostalgia is not simply a shorthand; it is a misnomer. First, lamenting the losses that came with the collapse of state socialism does not imply wishing it back. Certainly our cases proved that not all aspects of state socialism are missed or longed for. Mainstream ideological treatment of this phenomenon, however, would like us to believe that it was all one package – that one cannot have full employment without

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Mainstreammedien seinen negativen Beigeschmack behält, hat der wissenschaftliche Begriff der poskommunistischen Nostalgie in den letzten Jahren eine epistemologische Neuverortung erfahren: » [...] in the past two or three decades the term has been expanded, and it also has has been heavily theorized (most critically and negatively for what has been seen as its inherent conservatism and distance from real history). It has been linked to memory, history, affect; it has been attached to political allegiances and models of consumerism [...].«18

Dass dem Begriff »Konservatismus und Distanz zur wirklichen Geschichte« wie es in dem Zitat heißt, unterstellt wurde, hängt mit einer Simplifizierung des historischen Kontextes zusammen, an der auch namhafte Intellektuelle aus dem osteuropäischen Raum Anteil haben.19 Die postkommunistische Nostalgie erschwere bzw. verhindere, so die Kritik jener Intellektuellen, die im Osten so notwendige Vergangenheitsbewältigung der sozialistischen Geschichte. Als Prämisse einer solchen Argumentation werden allerdings Vergleichskategorien herangezogen, die eine kritische Auseinandersetzung mit der europäischen Geschichte erschweren. Wie Todorova ausführt, handelt es sich bei diesen Vergleichkategorien nicht um Kommunismus und Kapitalismus bzw. (Neo-)Liberalismus, sondern um Kommunismus und Faschismus bzw. Nazismus. »In such circumstances«, folgert Todorova, »post-Communist nostalgia can be subsumed only (and appropriately) under the Marxist notion of false consciousness.«20 Nostalgie wird hier also im Sinne des falschen Bewusstseins von Marx als eine realitätsverleugnende, shortages, interethnic peace without forced homogenization, or free health-care without totalitarianism.« 18 Todorova; Gille (Hg.): Post-Communist Nostalgia, S. 2. 19 Der Philosoph Tzvetan Todorov steht, wie Todorova ausführt, für eine moralische Überheblichkeit, die die Nostalgie seiner Kompatriotinnen und Kompatrioten als Zeichen von Ignoranz und Dummheit begreift. Vgl. Todorova; Gille (Hg.): Post-Communist Nostalgia, S. 3. Der tschechische Schriftsteller Ivan Klíma wiederum beschreibt die Nostalgie als eine die nicht der stalinistischen Ära, sondern der eigenen Jugend gilt. Dazu Todorova: »Klima shook off the phenomenon apologetically, by confining it exclusively to an aging and passive minority, but given the stereotypes expected in the Western press, this is understandable. What he could have said is that the longing for security and stability often leads people towards stupidity, but it is not a stupid longing. And it is not only the longing for security, stability, and prosperity. There is also a feeling of loss for a very specific form of sociability, and of vulgarization of the cultural life.« Todorova; Gille (Hg.): Post-Communist Nostalgia, S. 7. 20 Ebd., S. 3.

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vergangenheitsverklärende Praxis dargestellt, als Selbsttäuschung und Ideologie. Das gesellschaftspolitische Projekt der ›Vergangenheitsbewältigung‹ könne jedoch nicht eins zu eins vom westeuropäischen (deutschen) Kontext in den osteuropäischen Kontext übertragen werden.21 Todorova schreibt: »The point is not to explain, admonish, or excuse why Vergangenheitsbewältigung is not a household item in Eastern Europe, but to question the mandatory character of this approach.«22

Voraussetzung dieses Zugangs ist nämlich die Analogsetzung der Erfahrungen des Nationalsozialismus auf der einen Seite und jener des Sozialismus auf der anderen Seite. Eine solche Analogsetzung verhindert aber gerade einen differenzierteren Blick auf die Erfahrungen der osteuropäischen Sozialismen, die eine »relatively long Eastern European experience,« darstellen, »which went through different stages and displayed amazing geographical varieties.«23 Der kroatisch-österreichisch Philosoph Boris Buden setzt gar den Postkommunismus, von dessen Ende er in seinem Buch Zone des Übergangs. Vom Ende des Postkommunismus24 berichtet, mit der hysterischen Patientin Sigmund Freuds gleich, die »ihre Vergangenheit nicht loswerden kann«25. Postkommunismus wird somit zum Synonym einer vergangenheitsversessenen Nostalgie. Dieses Vorgehen erzeugt eine falsche Optik 21 Vgl. Todorova; Gille (Hg.): Post-Communist Nostalgia, S. 3. 22 Ebd., S. 4. (»Vergangenheitsbewältigung« im Original auf Deutsch und kursiv, Anm. N.K.) 23 Ebd. 24 Vgl. Boris Buden: Zone des Übergangs. Vom Ende des Postkommunismus. Frankfurt am Main: edition Suhrkamp 2009. 25 Ebd., S. 163. Sich von der zeitgeschichtlichen Analyse von Boris Groys, Anne von der Heidens und Peter Weibel distanzierend, schreibt Buden in extensio: »Dass der Postkommunismus ein Problem mit der Zukunft hat, ist kein Geheimnis. Er definiert sich ja gerade durch seine Abwendung von der Zukunft. So vergleicht man [die genannten Autoren und die Autorin, Anm. N.K.] etwa den Sieg der Demokratie über den Kommunismus mit einer ›Rückkehr aus der Zukunft‹. Dem Postkommunismus, als historischer Zustand verstanden, fehlt die Zukunftsperspektive, die der Ära des Kommunismus wesentlich war. Als sei die Zukunft selbst eine Illusion gewesen, die man zusammen mit den leeren Versprechungen der Kommunisten losgeworden ist – um jetzt in einer Realität zu leben, die, wie einst Freuds hysterische Patientin, ihre Vergangenheit nicht loswerden kann.« Vgl. dazu Boris Groys; Anne von der Heiden; Peter Weibel (Hg.): Zurück aus der Zukunft. Osteuropäische Kulturen im Zeitalter des Postkommunismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2005.

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auf die osteuropäische Geschichte und verunmöglicht gleichzeitig, dass das ambivalente Potential einer Nostalgie vollständig ausgelotet wird, die auf die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und die Ausdifferenzierung individueller und kollektiver Erfahrungen abhebt. Mit der utopischen Dimension der Nostalgie geht im Übrigen gerade auch eine widerständige Dimension einher. Boym verweist darauf, dass Nostalgie im Kontext von historischen Umbrüchen und im 20. Jahrhundert namentlich im Zusammenhang mit einer allgemeinen Beschleunigung des Alltagslebens unvermeidbar auch als Verteidigungsmechanismus auftaucht.26 Nostalgie fungiert hier also als Modus des Widerstands, als Mittel der Distanznahme zu einer überwältigenden und überfordernden Gegenwart. Svetlana Boym unterscheidet zwei Typen von Nostalgie, die auf jeweils unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Zielen ultimativ auf eine (Neu-)Verortung des Selbst abzielen. Die restaurative Nostalgie (»restorative nostalgia«), die oftmals als Instrument ideologischer nationaler und religiöser Diskurse fungiert, zielt auf eine »transhistorical reconstruction of the lost home«27. Restaurative Nostalgie begreift sich selbst nicht als nostalgisch und funktioniert, so Boym, entlang der Mechanismen zweier »Plots«: »the return to the origins and the conspiracy«28. Die reflektive Nostalgie (»reflective nostalgia«) hingegen hebt nicht so sehr auf die Rekonstruktion und die Restauration des zurückgelassenen Ortes, des vergangenen Zeitraums ab, als auf das Erleben der Sehnsucht selbst. Das Heimkommen wird hinausgezögert, »wistfully, ironically, desperately«29. Die Ambivalenzen des nostalgischen Sehnens sowie die »Widersprüche der Moderne«30 sind in der Figur der reflektiven Nostalgie aufgehoben, die ebenso wie die restaurative Nostalgie primär darauf abzielt, der traumatischen oder traumatisierenden Vergangenheit Sinn zu geben. Die Moderne, die Boym klar vom Konzept der Modernisierung unterschieden wissen will31, »kombiniert die Faszination für die Gegenwart mit der Sehnsucht nach einer anderen Zeit«32 – eben darin liegt ihr Widerspruch begründet. Das moderne Subjekt ist mit Svetlana Boym also eines, das immer schon nostalgisch ist.

26 Vgl. Boym: The Future of Nostalgia, S. XIV. 27 Ebd., S. XVIII. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Im Original heißt es bei Boym »modernity« und »modernization«, vgl. ebd., S. 22. 32 Ebd. (Übersetzung ins Deutsche, N.K.)

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Während restaurative Nostalgie die »absolute Wahrheit«33 schützen will, zweifelt reflektive Nostalgie a priori an der Existenz einer solchen. Das Erkenntnisinteresse ihrer kleinen Typologie der Nostalgien beschreibt Boym wie folgt: »This typology of nostalgia allows us to distinguish between national memory that is based on a simple plot of national identity, and social memory, which consists of collective frameworks that mark but do not define the individual memory.«34

Restaurative Nostalgie dient also den (unreflektierten) Zielen der nationalen Identität, während reflektive Nostalgie im Rahmen »kollektiver Netzwerke« stattfindet, die aus heterogenen, individuellen Erfahrungen soziale Erinnerung speist, aber nicht abschließend definiert.35 Aus diesen Aufführungen wird bereits klar, dass Boym die beiden Typen von Nostalgie einer Wertung unterzieht und für einen der beiden Typen, wenig überraschend die reflektierte Nostalgie, Partei ergreift. Diese Parteilichkeit ihres Arguments ist ebenso die Stärke wie die Schwäche der vorgelegten Taxonomie. Es gelingt ihr zwar einerseits, Nostalgie als epistemologisches Tool salonfähig zu machen und teilweise von der negativen Konnotation zu lösen, andererseits bereitet sie einer Dialektik den Weg, die eine politisch korrekte von einer politisch fragwürdigen Nostalgie unterscheidet und das ambivalente Potential von Nostalgie, gerade wenn sie scheinbar ›nur‹ auf die Rekonstruktion der (idealisierten) Vergangenheit abzielt, untergräbt. Über den Zusammenhang von Ideologie und Nostalgie hält sich Boym eher bedeckt, wenn sie die restaurative Nostalgie als eine politische Strategie konservativer Nationalpolitik begreift, aber nicht ausführt, ob und inwiefern Nostalgie Produkt einer bestimmten Ideologie ist. Für Linda Hutcheon ist der Zusammenhang von Ideologie und Nostalgie evidenter. In ihrem Text Irony, Nostalgia, and the Postmodern36, in dem sie auf die Spannungen zwischen postmoderner Ironie und Nostalgie rekurriert, betont sie den ›transideologischen‹ Charakter von Ironie, der für Nostalgie 33 Boym: The Future of Nostalgia, S. XVIII. 34 Ebd. (Hervorhebungen, N.K.) 35 Die Unterscheidung von nationaler und sozialer Erinnerung scheint mir argumentativ und auch epistemologisch weniger produktiv als die aus den Memory Studies vorliegende Unterscheidung von ›History‹ und ›Memory‹, die im Kapitel 2.2. ausgeführt wird. Vgl. zur Unterscheidung ›History‹ und ›Memory‹: Małgorzata Pakier und Bo Stråth: A European Memory? Contested Histories and Poitics of Remembrance. New York/ Oxford: Berghahn Books 2010, S. 3 f. 36 Linda Hutcheon: »Irony, Nostalgia, and the Postmodern«, (1998), abrufbar auf: https://www.researchgate.net/publication/266871259_Irony_Nostalgia_and_the_Postmodern_A_Dialogue, [letzte Sichtung am 18.03.2020].

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in dieser Form nicht gelte, da Nostalgie immer auf eine Bewahrung eines überkommenen Zustandes abhebe.37 Nostalgie wäre demnach immer Produkt oder Auswuchs (Zuspitzung?) einer spezifischen Ideologie. Aus einer psychoanalytisch-therapeutischen Perspektive ist dem nicht zuzustimmen, da nostalgisches Sehnen als ein wesentliches Element in der durch die Analyse geleiteten Identitätsfindung begriffen werden kann. Nostalgie würde also gerade ermöglichen, das Überkommene zu überwinden. Auch bei Boym, die zumindest in der ›reflektiven Nostalgie‹ vor allem eine Reflexion der Gegenwart sieht, die auf eine per definitionem unabgeschlossene Vergangenheit rekurriert, kann nicht die Rede davon sein, dass das nostalgische Sehnen gegenwartsverneinend oder –leugnend wäre. Boym gelingt es einerseits, den ›nostalgischen‹ Zugriff auf die Vergangenheit als individuelle reflektive, politische Praxis zu rehabilitieren (progressiv), während andererseits jedoch eine restaurative Politik der Nostalgie als notwendigerweise reaktionär einstuft (konservativ). Maria Todorova schlägt eine dritte graduelle Stufe post-kommunistischer Nostalgie vor, indem sie Boyms Begriff der restorativen Nostalgie aufspaltet in eine »restorationist (in the sense of the desire to restore the past)« und die »restorative or curative« Nostalgie.38 Damit schlägt sie eine Ausdifferenzierung von Boyms Begriff der restorativen Nostalgie vor, die sie zwar rückwärtsgewandt im Sinne einer Sehnsucht nach der Wiederherstellung der Vergangenheit versteht, aber eben auch als heilsam einstuft. In ihrem therapeutischen Verständnis der restorativen Nostalgie unterstreicht Todorova die sinnstiftende Bedeutung der Nostalgie, die einem postsozialistischen »feeling of loss«39 entgegen gestellt wird: »Above all there is a desire among those who have lived through communism, even when they have opposed it or were indifferent to its ideology, to invest their lives with meaning and dignity, not to be thought of, remembered, or bemoaned as losers or ›slaves‹.«40

Die »curative nostalgia« von Todorova differenziert den negativ konnotierten Begriff der »restaurative nostalgia« von Boym aus, wobei mir hier scheint, dass die analytische Schlagkraft auch einer Dreierfigur mit einer »reflective«, einer »restaurative« und einer »restorationist nostalgia« fragwürdig bleibt. Ein Konzept von Nostalgie, das die Pole konservativ/ regressiv und progressiv tatsächlich überwinden kann, ist jenes von Jennifer Ladino vorgeschlagene Konzept der »counternostalgia«. In einem Text über die Assimilierung amerikanischer Indianer ver37 Hutcheon: »Irony, Nostalgia, and the Postmodern«. 38 Todorova; Gille (Hg.): Post-Communist Nostalgia, S. 8. 39 Ebd., S. 7. 40 Ebd.

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wendet Jennifer Ladino das Konzept der »counter-nostalgia« um Nostalgie als einen Mechanismus kenntlich zu machen, der »konterhegemoniale Effekte«41 zeitigen kann. »Counter-nostalgia,« schreibt Sean Scanlan sich auf Ladinos Beitrag beziehend in der Einleitung des Iowa Journals for Cultural Studies, »›depends upon a tactical reappropriation‹ of the totalizing metanarratives of ›official‹ nostalgia; it revises and blurs both official history and readers’ emotions.«42 Im Begriff der Counter-Nostalgia klingt also zweierlei an: Erstens adressiert er das subversive Potential der Nostalgie, also jenes Moment, das sich die Metanarrative der offiziellen Nostalgie neu aneignet. Zweitens zweifelt er an den Konter-Potentialen der Nostalgie ohne Präfix. Die Anwendbarkeit des Begriffs und seine methodische Schlagkraft scheinen sehr stark an den Kontext gebunden, in dem er verwendet wird. Umso brauchbarer sind die analytischen Fragen, die Todorova und Gille in dem von ihnen herausgegebenen Buch Post-Communist Nostalgia in der Einleitung (Todorova) und im Nachwort (Gille) vorschlagen und die ich im Folgenden in der Originalsprache wiedergebe: »1. Who is speaking or performing nostalgia? [...] 2. What does nostalgia express? What is its content? [...] 3. What are the spheres of life and particular genres in which nostalgia is expressed? How much is censured and self-censured? «43 »[...] Does nostalgia express or mask a certain politics? If so, what ideology or what political agenda constitutes nostalgia?«44

Diese Fragen zielen auf eine Fruchtbarmachung des Begriffs der Nostalgie anhand konkreter Gegenstände, der über den moralisierenden Gebrauch des Wortes im Kontext von Journalismus und Filmkritik weit hinausweist.

2.2 INTERMEDIALITÄT UND PLURIMEDIALE KONSTELLATIONEN VON ERINNERUNG Habe ich in der Einleitung schon auf die Bedeutung des Begriffs der ›Intertextualität‹ für das hier zur Anwendung kommende Forschungsdesign hingewiesen, möchte ich nun kurz ausführen, inwiefern der Begriff der ›Intermedialität‹ mit den

41 Scanlan: »Introduction: Nostalgia«, S. 8. 42 Ebd. 43 Todorova; Gille (Hg.): Post-Communist Nostalgia., S. 7-8. 44 Ebd., S. 282.

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im Korpus zusammengefassten Film- und TV-Produktionen resoniert. Als ›Umbrella Term‹ verweist der Begriff der Intermedialität auf multiple Forschungszusammenhänge und Disziplinen (u.a. Medienwissenschaft, Literaturwissenschaft, Soziologie, Filmwissenschaft und Kunstgeschichte).45 In ihrem 2005 erschienen Text Intermediality, Intertextuality and Remediation: A Literary Perspective on Intermediality legt Irina O. Rajewsky ein praktisches, heuristisch einsetzbares Konzept von Intermedialität vor, indem sie sich von anderen Zugängen abgrenzt. Das ›literary‹ im Titel ihres Textes möchte sie allerdings nicht missverstanden wissen: »I mean less a perspective coming from literature in the narrow sense, and more a perspective on intermediality informed by literary studies, and specifically by its conceptual and heuristic objectives and approaches. Accordingly, my remarks on intermediality will not confine themselves to discussing literary texts; instead, I will be t aking various forms of medial articulation into account.«46

Prinzipiell versteht Rajewsky Intermedialität als Sammelbegriff für jene Phänomene, die zwischen Medien stattfinden, und jener Konfigurationen, die die Grenzen eines spezifischen Mediums in der einen oder anderen Form überschreiten.47 Intermediale Phänomene können daher von inter- und transmedialen Phänomenen unterschieden werden, wobei transmediale Phänomene beispielsweise durch das Auftauchen eines bestimmten Motivs, einer Ästhetik, eines Diskurses durch mehrere Medien hindurch charakterisiert wären.48 Rajewsky konzeptualisiert drei Subkatgeorien von Intermedialität49: a) Intermedialität im engeren Sinn einer medialen Übersetzung (zum Beispiel Film Adaptierungen, Novellisierungen, usw.) b) Intermedialität im engeren Sinn einer Kombination mehrerer Medien in einem Medium (zum Beispiel Oper, Film, Theater, Performances, etc.) c) Intermedialität im engeren Sinn intermedialer Referenzen (zum Beispiel filmische Referenzen – filmische Techniken wie Zoom, Montage, etc. – in einem

45 Vgl. Irina O. Rajewsky: »Intermediality, Intertextuality and Remediation: A Literary Perspective on Intermediality.« Intermédialités, N. 6, (Herbst 2005), S. 43- 64; abrufbar auf: http://cri.histart.umontreal.ca/cri/fr/intermedialites/p6/pdfs/p6_rajewsky_text.pdf, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 46 Ebd., S. 45 Fußnote 5. 47 Ebd., S. 46. 48 Vgl. ebd. 49 Vgl. ebd., S. 51-52.

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literarischen Text, künstlerische Referenzen in einem Film oder in der Photographie) Intermedialität ist aber auch ›in einem breiteren Sinn‹ zu verstehen, wie Irina Rajewsky unter Bezugnahme auf André Gaudreault, Philippe Marion, W.J.T. Mitchell u.a. ausführt.50 Liegt Medien nach W.J.T.Mitchell prinzipiell immer schon eine intermediale Qualität zugrunde, »all media are mixed media«51, ist für Gaudreault und Marion Intermedialität die unhintergehbare Vorbedingung für kulturelle Produktionen und das Verständnis von Medien im Allgemeinen: »[A] good understanding of a medium [...] entails understanding its relationship to other media: it is through intermediality, through a concern with the intermedial, that a medium is understood.«52

Eine solche Auffassung des Medialen, als eines immer schon ›Inter-Medialen‹, liegt auch dem Konzept der Remediatisierung von Jay D. Bolter und Richard Grusin53 zugrunde, auf das ich mich bei den Filmanalysen mehrfach beziehe. Das von Jay David Bolter und Richard Grusin entwickelte Konzept der Remediatisierung fokussiert Wechselwirkungen zwischen Medien vor dem Hintergrund der Digitalen Revolution. In Remediation: Understanding New Media verweisen Bolter und Grusin darauf, dass die Entwicklung neuer Medien ohne den Bezug auf bereits vorhandene Medien nicht auskomme. Ein Medium konstituiert sich als solches, insofern es eine Wiederholung eines anderen Mediums darstellt. Das Medium hat keine abgeschlossene Identität, es konstituiert sich in anhaltenden, nicht zum Abschluss kommenden Prozessen: »The content of any medium is always another medium.«54 Remediatisierung unterliegt, führen Bolter und Grusin weiterhin aus, der Doppellogik zweier widerstreitender Repräsentationspraktiken: der Unmittelbarkeit (»immediacy«) und der Hypermedialität (»hypermediacy«).55 50 Vgl. Rajewsky: »Intermediality, Intertextuality and Remediation: A Literary Perspective on Intermediality.«, S. 46- 50. 51 W.J.T. Mitchell: Picture Theory: Essays on Visual and Verbal Representation. Chicago/ London: University of Chicago Press 1994, S. 5. 52 André Gaudreault; Philippe Marion: »The Cinema as a Model for the Genealogy of Media«, Convergence: The International Journal of Research into New Media Technologies, Part 4, 12/2012, S. 12-18; hier: S. 15-16. 53 Vgl. Jay David Bolter; Richard Grusin: Remediation: Understanding New Media. Cambridge, MA: MIT Press 1999. 54 Ebd., S. 8. 55 Vgl. ebd., S. 20-52.

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Während die Logik der Unmittelbarkeit das Verschwinden des Mediums einfordert, stellt die Logik der Hypermedialität das Medium aus.56 Mit ihrem Konzept des ›Plurimedialen‹ lassen sich Astrid Erll und Stephanie Wodianka dem Diskurs zum ›Intermedialen‹ wohl zuordnen, überschreiten diesen aber gleichzeitig. Astrid Erll und Stephanie Wodianka weisen in ihrem gemeinsam herausgegebenen Buch Film und kulturelle Erinnerung. Plurimediale Konstellationen mit Rückgriff auf Jan und Aleida Assmann auf eine paradigmatische Wende innerhalb der Cultural und der Memory Studies hin. Diese Wende lässt sich abstrakt mit der Neukonzeption von Gedächtnistheorie als Medientheorie bzw. Medienanthropologie57 beschreiben und drückt sich konkret in der »Verlagerung der Aufmerksamkeit von Speicher- zu Verbreitungsmedien, von Symbolsystemen hin zu Sozialsystemen und von Produkten zu Prozessen kultureller Erinnerung«58 aus. Kinofilmen und TV-Produktionen, die sich seit Beginn der 1980er Jahre zu Werkzeugen par excellence der Vergangenheitsdarstellung, -deutung und -verhandlung herausgebildet haben59, kommt hierbei eine spezifische erinnerungskulturelle Rolle zu. Da »eine klassische filmimmanente Produktanalyse« der Bedeutung und der Reichweite der von den Autorinnen als solche bezeichneten »Erinnerungsfilme« nicht gerecht werde, plädieren Erll und Wodianka für die Analyse der »plurimedialen Konstellationen«60, die sozusagen zusätzlich zu einer hermeneutischen Dimension den Wirkungsbereich der Filme kennzeichnen. Der »Erinnerungsfilm« müsse also »weniger als ein bestimmtes Filmgenre denn als ein gesellschaftlich und plurimedial ausgehandeltes Phänomen«61 begriffen werden. Speichermedien leisten im Gegensatz zu Verbreitungsmedien das, was Aleida Assmann als ›identitätsstabilisierende Langzeitkommunikation‹ bezeichnet. Das Spektrum solcher Medien, die zumeist zu den Gegenständen und Artefakten der sogenannten Hochkultur gezählt werden, reicht von den ägyptischen Pyramiden, über Homers Epen bis hin zur Bibel, dem Koran und schließlich den klassischen Texten der Nationalliteraturen. Erll und Wodianka schreiben: »Speichermedien und der soziale Kontext, der sie produziert, auslegt, kanonisiert und tradiert, bilden 56 Übertragen auf das Medium Film entspricht die Logik der Unmittelbarkeit dem filmwissenschaftlichen Paradigma der Kinoleinwand als Fenster und die Logik der Hypermedialität dem Paradigma der Kinoleinwand als Spiegel. 57 Vgl. Astrid Erll, Stephanie Wodianka (Hg.): Film und kulturelle Erinnerung. Plurimediale Konstellationen. Berlin/ New York: Walter de Gruyter 2008, S. 3, Fußnote 4. 58 Ebd., S. 2. 59 Ebd., S. 1. 60 Vgl. ebd., S. 2. 61 Ebd., S. 2.

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in diesem Sinne das Gedächtnis der Kultur«.62 Die Funktion der Verbreitungsmedien hingegen ist nicht so sehr die Speicherung der Informationen über die Vergangenheit, sondern vielmehr ihre Verbreitung.63 Dies bedeute allerdings nicht, dass »Verbreitungsmedien nicht auch Speicheraspekte aufwiesen.«64 Vielmehr ginge es um »die dominante Funktionalisierung von Medien in der Erinnerungskultur – entweder als Speicher oder als Verbreiter von Vergangenheitsversionen.«65 Es versteht sich von selbst, dass die Reichweite von Massenmedien aufgrund ihrer Distributionsökonomien und -politiken sehr stark gegeben ist. Die Rezeption von Massenmedien (beispielsweise von populären Spielfilmen) verläuft auf kollektiver sowie auf individueller Ebene über »Hinweisreize« oder »Cues«, die auf kollektiver Ebene als Trigger für gesellschaftliche Debatten über Geschichte und Erinnerung oder auf individueller Ebene als »Ressource für die Imagination von Vergangenheiten« dienen können.66 Astrid Erll und Stephanie Wodianka identifizieren in ihrem Buch Film und kulturelle Erinnerung. Plurimediale Konstellationen sechs Leitfragen, die sich einerseits durch die Beiträge des Sammelbandes ziehen67, in denen es um in Westund Osteuropa, in den Vereinigten Staaten und in Afrika produzierte Erinnerungsfilme geht, und die andererseits besonders auch für die hier untersuchten Spielfilme im dritten Kapitel produktiv gemacht werden. Die sechs in der Einleitung skizzierten Leitfragen, die ich im Folgenden verkürzt wiedergebe, heben ab auf: a) das Verhältnis zwischen Film und erinnerungskulturellem Mediennetz68 :

Dieses Verhältnis betrifft das Eingebettetsein des Films in einen gesellschaftspolitischen Kontext, in dem tagespolitische Debatten, Jahrestage und Jubiläen historischer Ereigneisse, Feuilletondiskussionen und andere Akteurinnen und Akteure eine Rolle spielen und der dem Film als diskursiver Pool gilt, aus dem der Bedeutungshorizont der filmischen Narrationen generiert wird (Konnotationen, mögliche Lektüren: affirmativ/subversiv etc.).

62 Vgl. ebd., S. 4. 63 Vgl. ebd. In ihrer Definition von Speicher- und Verbreitungsmedien folgen Erll und Wodianka den Ausführungen von Harold Innis The Bias of Communication (1951), der die stärker zeitgebundenen Speichermedien von den stärker raumgebundenen Verbreitungsmedien unterschied. 64 Vgl. ebd., S. 5, Fußnote 7. 65 Vgl. ebd.. (Kursiv im Original, Anm. N.K.) 66 Vgl. ebd., S. 5. 67 Vgl. ebd., S. 12. 68 Vgl. ebd., S. 13.

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b) das Zusammenspiel von Präformation und Refiguration69:

Die Begriffe »Präformation« und »Refiguration« entlehnen Erll und Wodianka der Erzähltheorie Paul Ricœurs70. Während das Verhältnis zwischen Film und erinnerungskulturellem Mediennetz (Leifrage 1) als synchron zu bezeichnen wäre, beschreiben die Autorinnen ihre Verwendung der beiden Begriffe als eine, die der diachronischen Einbettung von Erinnerungsfilmen dient und die darauf abzielt, sowohl die Vorformungen und die Bedingungen der Filmproduktion offen zu legen, als auch die dem Film folgenden »Aneingnungsprozesse«71, die aber nicht mit Rezeptionprozessen gleichgesetzt werden dürfen, zu beschreiben. Die Präformation der Filme erfolgt beispielsweise durch Genrekonventionen, Erinnerungen und Repräsentationspraktiken. Die Refiguration beschreibt »kollektive Lesarten und Funktionalisierungen«72, die aus Filmen auch erst in der Rückschau Erinnerungsfilme machen können, bzw. aber auch, falls diese Erinnerungsfilme nämlich »nicht mehr überzeugen oder gebraucht werden, wieder in den Status eines Films zurückversetzen.«73 Während ich letzteren Punkt problematisch finde, da er eine Hierarchie von Filmgenres unterstellt, die übrigens mehr als vage bleibt (was ist »Film«, nachdem er einmal den Status »Erinnerungsfilm« inne hatte?74), finde ich das Beispiel zweier Filme über den Genozid in Ruanda, die in Erll und Wodiankas Band analysiert werden, interessant und aufschlussreich.75 In ihrem Beitrag behauptet die Autorin Christiane Reichart-Burikukiye, dass beide Filme, HOTEL RWANDA (US 2004, Terry George) und SOMETIMES IN APRIL (US 2005, Raoul Peck) durch Debatten des Holocaust nicht nur präformiert seien, sondern ermittelt auch, »inwiefern aus diesen Parallelführungen sowohl der Status als auch der Legitimationsdruck der beiden Filme als Erinnerungsfilme resultierte.«76

69 Vgl. Erll; Wodianka (Hg.): Film und kulturelle Erinnerung, S. 13. 70 Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. München: Fink 1988. 71 Erll; Wodianka (Hg.): Film und kulturelle Erinnerung, S. 14. 72 Ebd. 73 Ebd. 74 Darüber hinaus erschüttert diese Behauptung meines Erachtens die epistemologische Brisanz des Begriffs »Erinnerungsfilm«, da es nahe zu liegen scheint, dass ohnehin alle Filme schon immer Erinnerungsfilme sind und waren. 75 Vgl. Christiane Reichart-Burikukiye: »Der Völkermord auf der Leinwand. HOTEL RUANDA

und SOMETIMES IN APRIL und die Erinnerung an den Genozid in Ruanda.«, in:

Erll; Wodianka (Hg.): Film und kulturelle Erinnerung, S. 77-107. 76 Ebd., S. 14.

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c) die Bedeutung von Authentizität und Authentizitätseffekten77:

Im beschriebenen Kontext der plurimedialen Konstellation versteht es sich beinhahe von selbst, dass Authentizität in den als »Erinnerungsfilmen« zu bezeichnenden filmischen Produktionen nicht als Instrument zur Überprüfung der Wahrhaftigkeit der profilmischen Realität und der Identität letzterer mit der vorfilmischen Wirklichkeit verstanden wird. »Vielmehr interessiert hier erstens«, führen Erll und Wodianka aus, »inwiefern Authentizität und Authentizitätseffekte eben maßgeblich nicht filmimmanent, sondern außerhalb des Mediums Film bzw. durch ein intensives plurimediales Zusammenspiel erzielt werden.«78 Als zweiten Punkt führen die beiden die »Authentizitätsdebatten« an, die in verschiedenen Medien ausgetragen werden.79 d) die (pluri-)mediale Selbstreflexivität80: Mit dem Begriff (pluri-)medialer Selbstreflexivität markieren Erll und Wodianka die intertextuellen und intermedialen Bezüge und Referenzbeziehungen zwischen den Medien, die einerseits die Ebene miteinander konkurrierender Medien innerhalb der Filme (Chanson und Film) bzw. andererseits die Ebene eines autothematischen Bezugs meint.81 e) die Relevanz komparatistischer Perspektiven82 Der komparatistischen Perspektive kommt bei Erll und Wodianka insofern eine besondere Bedeutung zu, als sie gleichsam die Prämisse des Denkens plurimdialer Konstellationen bildet. Eine soziokulturelle Bezugnahme auf Filme inkludiert notwendiger Weise einen transnationalen Rahmen, der sowohl die Gegenwart der Diskurse und gesellschaftspolitischen Veränderungen als auch für historische Phänomene wie die Filmgeschichte, die Geschichte der Massenmedien, der Populärkultur, der Hochkultur, etc. beinhaltet. Der komparatistische Zugriff auf das Medium erlaubt, das Bedeutungsspekrutm der filmischen Narrationen und Motive zu erweitern und verschiedene Lektüren zu verstehen. Erll und Wodianka schreiben: »Der erinnerungskulturelle Status eines Films kann in verschiedenen Kulturen unterschiedlich sein, und ein und derselbe Film kann in verschiedenen Erinnerungskulturen sogar

77 Erll; Wodianka (Hg.): Film und kulturelle Erinnerung, S. 14. 78 Ebd., S. 15. 79 Ebd. 80 Vgl. ebd. 81 Vgl. ebd., S. 16. 82 Ebd.

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verschiedene Erinnerungsbestände transportieren und somit aus anderen Gründen als Erinnerungsfilm gelten.«83

f) die Möglichkeit des Scheiterns von Erinnerungsfilmen84:

Das Scheitern von Erinnerungsfilmen erlaube, so Erll und Wodianka, Rückschlüsse auf die Parameter des Gelingens von Erinnerungsfilmen. »Auch in Bezug auf ihr Scheitern«, schreiben die Autorinnen, »sind Erinnerungsfilme nicht nur als symbolische Artefakte zu begreifen, sondern als sozialsystemische Phänomene.«85 Erll und Wodianka analysieren präferentiell Kinofilme (und hier Spielfilme) und machen die Differenz zwischen Kino und TV-Produktionen nicht methodisch fruchtbar. Dabei darüber nachzudenken, wie das Fernsehen als ›mnemonic tool‹ in Aktion tritt und funktioniert, sind die Ausführungen Anikó Imres, Timothy Havens und Katalin Lusztyks äußerst hilfreich, die ich im folgenden Kapitel darlegen möchte.

2.3 IRONISCHE ÜBERIDENTIFIKATION: (POST-)SOZIALISTISCHES FERNSEHEN In ihrem 2012 erschienen Text »Why should we study socialist commercials« macht Anikó Imre deutlich, dass das Fernsehen, verortet an der Schnittstelle postsozialistischer Repräsentationspolitik und wirtschaftspolitischer Interessen, unverzichtbar ist für die Beforschung der in einem postkolonialen Europa miteinander verschränkten Funktionsweisen von Nostalgie und Nationalismus.86 Imre verbindet mit der Herausbildung eines nostalgischen Postsozialismus spezifische televisuelle Technologien und Programme der 1960er und 70er Jahre, die zunächst zu einer ironischen Überidentifikation von Nutzerinnen und Nutzern mit dem Medium führten, die ihrerseits in den frühen 1990er Jahren der Nostalgie als Rezeptionsmodus den Weg ebnen konnte. »The gap between the projective ideals and the actual experiental realities of socialism created a layer of ironic distance between television and its viewers. This was exacerbated by the increasing influx of information about capitalist lifestyles and consumer products despite even the most repressive states’ efforts to minimize it. By the 1980s of late socialism,

83 Erll; Wodianka (Hg.): Film und kulturelle Erinnerung, S. 16. 84 Ebd., S. 17. 85 Ebd. 86 Vgl. Imre: »Why should we study socialist commercials?«, S. 65.

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television had turned into the primary medium of a mode of ironic overidentification, which characterized life under late socialism in most countries of the region.«87

Die ironische Distanzierung von einem Fernsehen, das sich in der Projektion einer idealen Wirklichkeit von der erlebten Wirklichkeit des Sozialismus stark unterschied,88 beschreibt Imre also als eine notwendige Reaktion der Fernsehzuschauerinnen und -zuschauer der 1960er bis hin zu den 1980er Jahren. Zusätzlich zu dieser Kluft zwischen den Fernsehbildern und den Erfahrungen des alltäglichen Lebens kamen in dieser Zeit zunehmend Informationen über den westeuropäischen, kapitalistischen Lebensstil in Umlauf, die letztlich zu jener von Imre beschriebenen »ironischen Überidentifikation« führen, die charakteristisch für die meisten Länder in der Region ist. Was ist damit gemeint? In ihrer qualitativen Analyse der tschechischen Fernsehserie VYPRÁVĚJ / ERZÄHL! (ČT 1, 2009-2013, 5 Staffeln, 106 Folgen) zeigen Irena Carpentier Reifová, Kateřina Gillárová und Radim Hladík ausgehend von Zuschauerbefragungen, wie in der Rezeption der Serie, die das Alltagsleben und die offiziellen Daten von 1964 bis 2005 erzählt und die in den Jahren 2009 bis 2013 vom tschechischen Fernsehen produziert wurde, ältere Zuschauerinnen und Zuschauer (die die 1960er Jahre als Kinder und Jugendliche erlebt haben) ihrer Sorge darüber Ausdruck gaben, ob die jüngeren Fernsehzuschauerinnen und -zuschauer, die Serie überhaupt »richtig verstehen könnten«.89 Diese Sorge interpretieren Carpentier, Gillarova und Hladik als Ausdruck der traumatischen Erfahrung der Unmöglichkeit, »die Vergangenheit mittels einer legitimen Erzählung in die Gegenwart zu integrieren.«90 Auf die intensive Beschäftigung mit der Vergangenheit sowie die hohe Präsenz der Vergangenheit im (post-)sozialistischen Raum weist auch Anikó Imre hin, wenn sie schreibt: »This near-obsessive concern with history has been consistently identified as one of the core features of film, literature and other arts produced during the Cold War period. However, it has taken on even greater urgency after the collapse of socialism as national regimes and

87 Ebd., S. 67. 88 Denken wir nur an den bulgarischen Witz, mit dem das vorliegende Buch beginnt. 89 Irena Carpentier-Reifová, Kateřina Gillárová, Radim Hladík: »The Way We Applauded. How Popular Culture Stimulates Collective Memory of the Socialist Past in Czechoslovakia – The Case of the Television Serial Vypravej and its Viewers.«, in: Imre; Havens; Lustyik (Hg.): Popular Television in Eastern Europe During and Since Socialism, S. 212. 90 Ebd., S. 218.

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individual citizens alike have tried to revive usable paradigms of identity from past periods to clear away or at least cover up the historical debris left behind by socialism.«91

Gerade die auch von Carpentier, Gillarova und Hladik aufgezeigte Schwierigkeit, die Vergangenheit produktiv zu diskursivieren – bei Imre heißt es, »[to revive] usable paradigms of identity« – scheint das Fernsehen aufzugreifen, wenn es im nostalgischen Rückgriff auf sozialistische Programme für Zuschauerinnen und Zuschauer als »mnemonic tool«92 nutzbar wird. Gleichzeitig verweist Imre auf gesellschaftspolitische Tendenzen, die darauf abzielen, die Bedeutung des Fernsehens zu minimieren und die sie als nationalistisch motivierten Schachzug zur Erhaltung eines konservativen Wertesystems entlarvt: »Downplaying the importance of television as a resource is motivated by nationalistic investments in keeping distinct public and private, state and commercial, high and popular, masculine and feminine registers of culture.«93

Das Desinteresse der westeuropäischen (und osteuropäischen) Forschung am osteuropäischen Fernsehen liegt, wie ich im ersten Kapitel gezeigt habe, ebenfalls in der Logik des Kalten Krieges begründet, die Produkte der Populärkultur systematisch aus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ausklammerte.94 In diesem Zusammenhang weist Imre auf den Nationalismus einer komparatistischen Forschung, die gerade wenn sie auf interkulturelle Analyse abzielt, dennoch ein implizites epistemologisches Raster anwendet, das populärkulturelle Ästhetiken und Produktionen ausschließt.95 In der akademischen Bearbeitung des Überganges des Sowjetischen Empires zu einer postsozialistischen Form des Kapitalismus herrschen zwei Schlüsselbegriffe vor: »History« fasst einen offiziellen Modus der 91 Imre: »Why should we study socialist commercials?«, S. 66. 92 Vgl. ebd., S. 65-66. 93 Ebd., S. 66. 94 Die Bedeutung des Fernsehens für die Entwicklung westeuropäischer Kinematographien der 1950er und 1960er Jahre ist freilich ebenfalls unterbelichtet. Joachim Paech betont in einem Artikel über die Nouvelle Vague in Westeuropa und in Polen, dass der Einfluss des Fernsehens auf die französische Nouvelle Vague »noch viel zu wenig berücksichtigt worden [sei]«. Joachim Paech: »Die ›Neue Welle‹ in Westeuropa und in Polen.«, S. 195. Vgl. außerdem Joachim Paech: »Von der Filmologie zur Mediologie? Film- und Fernsehtheorie zu Beginn der 60er Jahre in Frankreich«, in: Scarlett Winter, Susanne Schlünder (Hg.): Körper-Ästhetik-Spiel. Zur filmischen écriture der Nouvelle Vague. München: Fink Verlag 2004, S. 31-46. 95 Vgl. Imre: »Why should we study socialist commercials?«, S. 66.

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Erinnerung (»official, public and professional modes such as commemoration and musealization«96), während »Memory« inoffizielle Modi der Erinnerung meint (»unofficial, private modes frequently associated with nostalgia and consumerism«97). Das Fernsehen als kulturelle Praxis ermöglicht es, die Unterscheidung zwischen diesen beiden Erinnerungsmodi und den damit korrespondierenden wissenschaftlichen Zugängen diffus zu machen.98 Fernsehen ist daher in postsozialistischen Ländern stärker als anderswo ein Politikum. Während die Osteuropaforschung Nostalgie als komplexen Erinnerungsmodus tendenziell auf ein simplizistisches Modell (i.e. der rückwärtsgewandte Blick der Osteuropäerinnen und Osteuropäer nach dem Fall der Mauer) reduziert hat, ermöglicht gerade die Auseinandersetzung mit dem Fernsehen eine Neudefinition von einer missverstandenen (im Zitat »misframed«) und einer unterschlagenen (»missappropriated«) Nostalgie: »My main point here is that the evasion of television allows for nostalgia to be misframed and misappropriated as a sentiment that marks the end of socialism temporally and clearly demarcates backward-looking postsocialist populations from forward-looking (Western) observers.«99

Anikó Imre folgend, muss eines der Hauptanliegen der vorliegenden Studie daher sein, Nostalgie als epistemologisches Tool aus den bisherigen Forschungskontexten herauszulesen, als wesentliches Merkmal einer zwischen History und Memory oszillierenden Erinnerungspolitik zu begreifen und für das Verständnis eines Europas nach dem Kalten Krieg fruchtbar gemacht werden. In ihrem Versuch, eine Typologie zeitgenössischer televisueller Nostalgien in der postsozialistischen Region zu entwickeln100, verweist Imre auf den transnationalen Charakter der Nostalgie, der sich zum einen in der Koexistenz verschiedener Zeitlichkeiten, bzw. gelebter Sozialismen in der Gegenwart101 äußert. Zum anderen impliziert er the »overlap and interaction of different geopolitical vectors across space«102. Wenn also einerseits von erkennbaren regionalen Eigenschaften der Nostalgie ausgegangen werden kann, so führen die unterschiedlichen Zeitlichkeiten der historischen Entwicklungen der Nationalstaaten andererseits nicht 96

Ebd., S. 65.

97

Ebd.

98

Vgl. ebd., S. 66.

99

Ebd., S. 67.

100 Vgl. ebd. 101 Vgl. ebd., S. 68. 102 Ebd.

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notwendig zu einem einheitlichen Auftreten der Nostalgie in der Region. Zsusza Gille vergleicht beispielsweise die postsozialistische Nostalgie Rumäniens mit der späten sozialistischen Nostalgie Ungarns.103 Auf den engen Zusammenhang von Nationalismus und Nostalgie verweisend, erläutert Imre, wie die Geschichte der osteuropäischen Nationalstaaten, die durch Intellektuelle und Vertreter der gebildeten Mittelschicht konzipiert wurden, zu einem anhaltenden »kulturellen Nationalismus«104 führt, der mit der Präferenz von Literatur und Hochkultur statt Populärkultur einhergeht. Dieser kulturelle Nationalismus, dessen Vertreter zu einem großen Teil auch osteuropäische Dissidenten wurden, wurde in der Zeit des Kalten Krieges gewissermaßen entschärft rezipiert, insofern er als ›guter Nationalismus‹ galt, da er sich gegen das kommunistische Regime richtete.105 Anikó Imre weist allerdings ganz zurecht darauf hin, dass gerade dieses (übrigens ebenfalls nostalgische) Festhalten der osteuropäischen Intellektuellen und der Dissidenten in den 1990er Jahren an einem nationalen und hochkulturellen Erbe nicht nur zu einer konservativen Skepsis gegenüber jeglicher Populärkultur geführt habe, sondern darüber hinaus auch rassistische bzw. antifeministische Aspekte aufweise: »With the cause of anti-socialist nationalism a thing of the past, the nationalistic conservatism has also exposed it´s more damaging racialized and gendered foundations.«106 Die Bedeutung der weiblichen Konsumentin des Fernsehens als räumlicher Mittelpunkt des häuslichen Lebens, wurde bereits von der frühen feministischen Film- und Fernsehwissenschaft erforscht.107 Das sozialistische Fernsehen befand sich in der ambivalenten Situation, einerseits seine Zuschauerinnen und Zuschauer als aktive nationale Bürgerinnen und Bürger zu adressieren und andererseits als Massenmedium zu unterhalten, was mit der Passivierung derselben Zuschauer/innen einherging. »While socialist television addressed its viewers as masculinized national citizens in the first place, it was also the instrument through which desire for entertaiment and consumer products most commonly seeped into socialist lives. Television was the mass medium of the socialist period. As such, it constantly posed the danger of a passive, mindless 103 Zsuzsa Gille: »Postscript« In: Todorova; Gille (Hg.): Post-Communist Nostalgia, S. 278. 104 Imre: »Why should we study socialist commercials?«, S. 68-69. 105 Ebd., S. 69. 106 Vgl. ebd. 107 Vgl. Lynn Spigel: Make Room for TV: Television and the Family Ideal in Postwar America. Chicago: University of Chicago Press 1992; Charlotte Brunsdon: The Feminist, the Housewife and the Soap Opera. Oxford: Clarendon Press 2000.

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consumption of formulaic narratives – a danger that has been ascribed to women´s inferior psychological needs and tastes as opposed to the cerebral modernist masculinity of art.«108

Sozialistisches Fernsehen stellt also den Versuch dar, die maskulinisierte Kunst der Moderne zu repräsentieren, in die sich die weibliche Lust am unterhaltenden Massenmedium (un-)willkürlich einschreibt. Wenn das postsozialistische Fernsehen nach 1989 in nostalgischer Manier Fernsehwerbungen der sozialistischen Ära aufgreift, dann tut es das in der Absicht, Kontinuitäten zur jüngsten Vergangenheit hervorzuheben, auf die zu rekurrieren das offizielle Narrativ verunmöglicht.109 Im Zentrum der postsozialistischen Nostalgie des Fernsehens steht die flüchtige Ära des sogenannten Tauwetters, in der an der starken Opposition zwischen Kommunismus und Kapitalismus erstmals gerüttelt wurde. Das Fernsehen beschreibt Imre als das Hauptmedium und als Vehikel dieser Entmythologisierung. »The postsocialist nostalgia that is triggered by TV commercials is a defiant longing for a bond specific to an elusive era – that of late socialism of the 1970s and 80s, a period or political and economic thawing in most countries. This period unravelled Cold War scripts of a stark opposition between communism and capitalism. Television was the chief medium and vehicle of this unravelling, where the softening and feminizing of socialism within popular culture first manifest itself – unlike in high culture, whose products had to sustain the illusion of dissidence in opposition to the regime.«110

Die Tauwetterperiode, die in der Fachliteratur111 sehr stark mit den Produktionen einer künstlerischen Avantgarde (zum Beispiel ›Nová Vlna‹ in Tschechien, ›Kino

108 Imre: »Why should we study socialist commercials?«, S. 69. 109 Vgl. ebd., S. 74; Mayer: Les Tchèques et leur communisme. Mémoire et identités politiques. 110 Imre: »Why should we study socialist commercials?«, S. 75. 111 Vgl. Peter Hames: The Czechoslovak New Wave. London/ New York: Wallflower Press 2005; Lutz Haucke: Nouvelle Vague in Osteuropa? Zur ostmittel- und südosteuropäischen Filmgeschichte. 1960 - 1970. Rhombos Verlag: Berlin 2008; Pavle Levi: Disintegration in Frames: Aesthetics and Ideology in the Yugoslav and PostYugoslav Cinema. Stanford University Press 2007; Jonathan L. Owen: Avant-Garde to New Wave: Czechoslovak Cinema, Surrealism and the Sixties. New York: Berghahn Books 2011; Łukasz Ronduda, Barbara Piwowarska (Hg.): Polish New Wave. The History of a Phenomenon that Never Existed. Centre for Contemporary Art - Ujazdowski Castle & Adam Mickiewicz Institute: Warschau 2008; Margarete Wach: Der polnische Film. Von seinen Anfängen bis zu Gegenwart. Marburg: Schüren 2012;

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moralnego niepokoju‹ in Polen) verbunden wird, erhält in Imres Perspektivierung eine neue Schlagseite. Anstatt auf die Autorenfilme und das modernistische Kino zumeist männlicher osteuropäischer Filmemacher (und Dissidenten) zu fokussieren, deren regimekritische Haltung sie als ›westlich‹ markierte, nimmt sie die kulturelle Praxis des Fernsehens in den Blick, die abgewertet als Massen- und Unterhaltungskultur in der Fachliteratur klar unterbelichtet ist. Der zwiespältige Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit kann aber gerade durch das Dispositiv Fernsehen auf eine Art und Weise gefasst werden, die den kollektiven affektiven Erschütterungen Rechnung trägt. Die postsozialistische Nostalgie verortet Imre genealogisch in einer historischen Nostalgie, die bereits den Rezeptionsmodus des späten Sozialismus (1970er, 1980er Jahre) im Rückgriff auf die heroischen 1940er und 1950er Jahre und die sozialistische Propaganda kennzeichnet. »It is because late socialist culture itself lived in a nostalgic mode, at a certain ironic, knowing distance from what it was supposed to be according to the memories of the heroic 40s50s and the remnants of socialist propaganda, that it has been so seamlessly and eagerly adopted by generations who never experienced socialism. It is a familiar, ironic mode of experiencing history vicariously. Late socialism introduced and prefigured an affect and epistemology that can only access the ›authentic‹ trough contradiction, ambivalence and self-reflective irony.«112

Perspektivierungen Ausgehend von den produktiven Re-Konzeptualisierungen von Nostalgie und spezifisch von postsozialistischer, postkommunistischer Nostalgie von Svetlana Boym, Anikó Imre, Maria Todorova, Zsusza Gille und Sean Scanlan arbeite ich mit einem Verständnis von Nostalgie, das im Zusammenspiel mit intermedialen Anordnungen (Irina O. Rajewsky, Jay D. Bolter und Richard Grusin) und plurimedialen Konstellationen des Erinnerns (Astrid Erll und Stephanie Wodianka) auf dreierlei abzielt: Zum ersten auf eine Reflexion der Vergangenheit, die die Gegenwart als Geschichte konzeptualisiert und es ermöglicht, die westeuropäische Erzählung der Periode des Kalten Krieges zu dezentralisieren. Ich beziehe mich hier auf das Konzept der »reflective nostalgia« von Svetlana Boym und auf die Auffassung von Geschichte nach Hayden White. Zweitens soll in meinem Zugriff auf das Konzept der Nostalgie aber jene von mir beschriebene, problematische DiaMargarete Wach: Krzysztof Kieślowski. Zufall und Notwendigkeit. Marburg: Schüren 2014. 112 Imre: »Why should we study socialist commercials?«, S. 75.

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lektik des Boym’schen Konzeptes überwunden werden. Anstatt Nostalgie in einer progressiven und einer reaktionären Ausformulierung festzuschreiben, möchte ich Nostalgie prinzipiell immer schon als »Counter-Nostalgia« fassen und das ambivalente Potential auch einer Art von Nostalgie, die scheinbar lediglich auf die Restauration der Vergangenheit abhebt, im Auge behalten. Dieses widerständige Potential scheint mir in jener Geste zu liegen, die die Nostalgie gezielt verfehlt oder absichtsvoll missversteht – um den (eigentlich negativ gebrauchten) Begriff von Imre aufzugreifen113 und positiv zu wenden: Misframing. Drittens möchte ich Nostalgie mit Anikó Imre und mit Hayden White als jenen Rezeptionsmodus begreifen, der »the great divide« (Andreas Huyssen) zwischen Hochkultur und Massenkultur destabilisiert.114 Einerseits werden die Funktionsweisen des sozialistischen und des postsozialistischen Fernsehens als maßgeblicher Faktor und als Hauptvehikel der Nostalgie untersucht. Andererseits erfordert die Neuperspektivierung der Tauwetterperiode (nach Imre) eine Relektüre des osteuropäischen Autorenkinos. Im Fall von ŽENA ZA PULTEM / DIE FRAU HINTER DEM LADENTISCH (ČST 1977/78) ist die (zeitgenössische) ironische Rezeption der Vorzeigeserie der Normalisierung beim heutigen Fernsehpublikum – wie ich anhand von Onlinebewertungen zeigen werde – zweifelsohne einer nostalgischen Rezeption gewichen. Dafür scheint die Geste des Wiederaufgreifens des Autorenkinos der 1960er und 1970er Jahre – man denke an das TV-Drama von Iwona Siekierzyńska, MOJE PIECZONE KURCZAKI / MY ROAST CHICKEN (TVP 2002), das Krzysztof Kieślowski Reverenz erweist, und an NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO (2003) von Vladimír Morávek, der als Hommage an Miloš Forman zu verstehen ist – durchaus von Ironie getragen. Diese intermedialen Referenzen und »plurimedialen Konstellationen« der Filme, werden durch das Double Fature als Methode erst sichtbar. Dem Double Feature als cinephiler Praxis der Filmgeschichte ist Nostalgie a priori nicht fremd. Es ist immer schon Ausdruck eines plaisir du texte, einer Lust am Film, am Nachdenken über Filme mit Filmen. In seinem spezifischen Einsatz in dieser Arbeit hebt es auf zweierlei ab: auf den transnationalen Vergleich von Filmen und TV-Produktionen, mit dem Ziel nationale Kinematographien aus der Logik des Kalten Krieges herauszulesen. Zweitens soll durch das Double Feature, die cine-

113 Vgl. noch einmal Imre: »Why should we study socialist commercials?«, S. 67: »My main point here is that the evasion of television allows for nostalgia to be misframed and misappropriated as a sentiment that marks the end of socialism temporally and clearly demarcates backward-looking postsocialist populations from forward-looking (Western) observers.« 114 Vgl. Andreas Huyssen: After The Great Divide. Modernism, Mass Culture, Postmodernism. Bloomington: Indiana University Press 1986.

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phile Nostalgie und die Lust am Film auf das Massenmedium Fernsehen ausgeweitet werden.

3

Filmanalysen im Double Feature – Tertium Comparationis

Der Vergleich von zwei Filmen oder TV-Produktionen bringt es mit sich, dass die Verschiedenheit von Signifikanten Bedeutungen schaffen, die sich aus der Vergleichsanordnung und der damit einhergehenden Differenz der Signifikanten erst ergeben. Bedeutungen also, die erst aus dem Dialog der Filme erstehen, die der Dialog der Filme gleichsam generiert. Es ist nicht mein Anliegen, die Komplexität der Filme zu schmälern, indem ich sie gegen einander ausspiele. Der Vergleich soll sie vielmehr in eine dialogische Situation bringen, in der die Intervisualität, das Zitieren von Motiven, Bildern, das Kommunizieren der Narrative produktiv gemacht werden und für das Verständnis der Filme und ihrer filmhistorischen Kontexte zum Einsatz kommen können. Im dritten Kapitel werden Filmanalysen zu vier verschiedenen Themenkomplexen zusammengeführt, deren Analysekategorie das Double Feature ist. Nach einer kurzen Präsentation des Korpus werde ich den Vergleich als methodisches Instrument der Film- und Medienwissenschaft kontextualisieren und auf seine Herkunft aus dem Bereich der Kunstgeschichte und der Bildwissenschaft hinweisen, um dann auf aktuelle künstlerische Techniken des Double Features/ Double Screenings einzugehen und diese auf ihr Potential für den Vergleich von Filmen und TV-Produktionen abzuklopfen. In einem letzten Schritt fasse ich das Double Feature als kuratorische Praxis, die als intellektueller, ästhetischer und körperlicher Akt der Filmvermittlung diskutiert werden soll. Die elf Double Features operieren mit Sequenz- und Einstellungsanalysen, die einerseits immanent am filmischen Material entlangführen, um andererseits auch die intertextuellen und die intermedialen Aspekte des filmischen Materials bzw. die historischen Kontexte der Filme einer intensiven Lektüre zu unterziehen.

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3.1 BESCHREIBUNG DES KORPUS Das Korpus der vorliegenden Studie beinhaltet insgesamt 22 Objekte, davon 13 Spielfilme und 9 TV-Produktionen, die sich im Genrespektrum von Spiel-, und Dokumentarfilm über Animationsfilm und Musikclip bis zum TV-Live-Mitschnitt bewegen.1 Die Spielfilme wurden in Ungarn, Österreich, der Tschechoslowakei, der Tschechischen Republik, Polen, der BRD und Rumänien produziert. Bei zwei Filmen handelt es sich um Co-Produktionen mit der Schweiz und mit Deutschland (NORDRAND von Barbara Albert) und mit Großbritannien (OTESÁNEK / NIMMERSATT von Jan Švankmajer). Die TV-Produktionen wurden durch das Polnische Fernsehen (Telewizja Polska), das Tschechoslowakische und das Tschechische Fernsehen (Československá und Česká Televize) und das Deutsche Fernsehen (WDR) produziert, wobei das Fernsehen auch bei insgesamt drei Spielfilmen als Koproduzent in Erscheinung trat (ARTE und ZDF bei NORDRAND von Barbara Albert; Česká Televize bei NUDA V BRNĚ / SEX IN BRNO von Vladimír Morávek und bei MUSÍME SI POMÁHAT / DIVIDED WE FALL von Jan Hřebejk). Zwei Filme sind Animationsfilme, wobei der eine Animationstechniken (Stop Motion) in einem Realifilm (OTESÁNEK / NIMMERSATT von Jan Švankmajer) und der andere grafisches Material (Stickereien) verwendet (VŠEHOCHLUP/ ZOTTELSCHRECK von Zdeněk Smetana). Zwei Filme sind Musikvideos aus TV-Produktionen (DÍKY VÁM / DANK EUCH von Ján Roháč und DZIWNY JEST TEN ŚWIAT / SELTSAM IST DIE WELT2), die ich als Youtube-Clips analysiert habe, da gerade ihre Verbreitung und Nutzung im Internet interessante Rückschlüsse über den Umgang heutiger Internetuser und –userinnen mit sozialistischem TV-Material erlaubt. Zwei der Filme sind Genre-Parodien (LIMONADOVÝ JOE ANEB KOŃSKÁ OPERA / DER LIMONADENJOE ODER DIE PFERDE-OPER von Oldřich Lipský und REWERS / THE REVERSE von Borys Lankosz). Insgesamt neun der Filme sind Fernsehproduktionen, wobei es sich bei zwei davon um die erwähnten Musikclips handelt, bei einem um den ebenfalls bereits genannten Animationsfilm (VŠEHOCHLUP/ ZOTTELSCHRECK von Zdeněk Smetana), bei zwei weiteren um TV-Serien (ŽENA ZA PULTEM / DIE FRAU HINTER DEM LADENTISCH von Jaroslav Dietl und Jaroslav Dudek und ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG von Rainer Werner Fassbinder), bei zwei weiteren um eine Langzeitdokumentarfilmserie (MANŽELSKÉ ETUDY / EHE-ETÜDEN von Helena Třeštíková) und eine Doku-Soap (NA VŽDY SVOJÍ / AUF EWIG DEIN von Erika

1 2

Siehe Tabelle Korpus – Double Features in der Einleitung. Den Namen des Regisseurs des Clips – es handelt sich um einen Live-Mitschnitt auf dem Kultursender der Telewizja Polska von 1967 – konnte ich nicht in Erfahrung bringen.

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Hníková) und bei den zwei letzten um Spielfilme, die für das Fernsehen produziert wurden (MOJE PIECZONE KURCZAKI / MY ROAST CHICKEN von Iwona Siekierzyńska und RYSA / THE SCRATCH von Michał Rosa). Zwölf der Filme wurden zwischen 1964 und 1987 gedreht, die restlichen zehn wurden zwischen 1992 und 2013 gedreht, wobei der Dokumentarfilm von Helena Třeštíková eine Langzeitstudie ist, die insgesamt über einen Zeitraum von über zwanzig Jahren, von 1981 bis 2005, gedreht wurde.

3.2 FRAGMENTE IM VERGLEICH Für eine »Pädagogik des Fragments«3 hat sich Alain Bergala zu Beginn der 2000er Jahre eingesetzt, als die DVD als neues Trägermedium für Filme längst ihren kulturellen und marktwirtschaftlichen Siegeszug angetreten hatte. Der klassischen, vornehmlich an Fachbegriffen orientierten Filmanalyse stellte er »die Arbeit am Filmausschnitt und den Vergleich zwischen Ausschnitten aus demselben Film, aus verschiedenen Filmen oder auch zwischen Filmauschnitten und Werken der bildenen Kunst«4 gegenüber. Das Ziel einer solchen Pädagogik ist es, »Beziehungen zwischen Filmen und Filmfragmenten herzustellen«5, die ein Denken in und mit Filmen ermöglichen, das sich gegen den Monolith eines überspezialisierten Wissensdiskurses stellt. Filmvermittlung solle mit Bergala daher auch nicht unbedingt in der Hand von Expertinnen und Experten liegen, sondern als empathischer Akt in den Blick kommen, bei dem weniger die systematische Weitergabe von Wissen im Zentrum steht, als eine lebendige, dialogische Dynamik zwischen filmischem Gegenstand, Vermittler oder Vermittlerin und Publikum. Wesentliches Element dieser Pädagogik ist daher die Figur des Passeur, die Bergala aus dem Kontext der französischen Cinéphilie und von dem Filmkritiker Serge Daney übernimmt.6 An dieser Stelle wird schon deutlich, dass ›Filmvermittlung‹ im Verständnis Alain

3

Bergala: Kino als Kunst, S. 81-91 (»Kapitel VI. Für eine Pädagogik des Fragments:

4

Bettina Henzler, Winfried Pauleit: »Vorwort zur deutschen Ausgabe«, in: Bergala: Kino

5

Bergala: Kino als Kunst, S. 82.

6

Henzler; Pauleit: »Vorwort zur deutschen Ausgabe«, S. 12. Bei Henzler und Pauleit

Fragmente in Beziehung setzen«). als Kunst, S. 10.

heißt es: »Passeur bezeichnet im Französischen sowohl den Fährmann, der andere von einem Ufer zum anderen übersetzt, als auch den Schmuggler, der Waren und Menschen heimlich über Grenzen bringt, oder aber im Sport denjenigen, der den Ball weitergibt.«

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Bergalas auf mehreren Ebenen mit film-kuratorischer Praxis in Beziehung setzbar ist; doch dazu später. Ausgehend von der Beobachtung, dass im Fragment (in einem Filmauschnitt oder auch nur in einer Einstellung) oftmals das Ganze (der ganze Film) angelegt sei, definiert Bergala die Sichtung eines filmischen Fragments als beinahe körperliche Erfahrung. Das Fragment verhake sich aufgrund seiner Prägnanz stärker in der Erinnerung und löst gleichzeitig eine Vielzahl von Assoziationen und Emotionen im Kopf der Rezipientin und des Rezpienten aus; und sei es die Enttäuschung über das Ende des Ausschnitts und die Sehnsucht, den ganzen Film zu sehen.7 Bergala erzählt in seinem Text von der Begegnung des jungen Pier Paolo Pasolini mit dem italienischen Kunsthistoriker Roberto Longhi, der an der Universität von Bologna mittelalterliche und moderne Kunstgeschichte lehrte. In seinen kunstgeschichtlichen Vorlesungen stellte Longhi Dias mit Gemäldeausschnitten einander gegenüber und leitete sein Publikum in einer Schule des Sehens an, die die Werke aus einem unüblichen Blickwinkel betrachtet und sie damit auf eine Weise sichtbar werden lässt, »wie man sie nie gesehen hatte«8. Diese unübliche Perspektive, die einem ›von der Seite sehen‹ gleichkommt, bezeichnet Bergala unter Rückbezug auf die Malerei und die Psychoanalyse als »anamorphotisches Sehen«. Während das Verfahren der Anamorphose in der Malerei von mittelalterlichen Gemälden wie beispielsweise Hans Holbeins Die Gesandten9 bekannt ist, beschreibt die lacanianische psychoanalytische Theorie die Anamorphose als »eine Versinnbildlichung des verdrängten vorsprachlichen ›Realen‹ [...], das das Bewusstsein immer wieder stört.«10 Die Gegenüberstellung von filmischen Fragmenten, von zwei ästhetisch und historisch möglichst verschiedenen Sequenzen beispielsweise, erlaube es, so Bergala, den Standpunkt durch den anamorphotischen Blickwinkel zu verrücken. »Der Wechsel von einer Perspektive zur anderen, von einer Einstellung bei Chaplin zu einer bei Peleschjan etwa, ist für Geist und Wahrnehmung eine solche Gymnastik, dass jede dieser Einstellungen die andere gewissermaßen anamorphotisch verzerrt und sie ›sichtbarer‹

7

Vgl. Bergala: Kino als Kunst, S. 86.

8

Ebd., S. 87.

9

Hans Holbeins 1533 entstandenes Gemälde, das heute im Raum Vier der National Gallery in London ausgestellt ist, zählt zu den rätselhaftesten Bildern der Kunstgeschichte. Im vorderen Zentrum des Bildes ist ein anamorpher Totenschädel zu sehen, der nur aus extremer Nahsicht von rechts nach links unten erkennbar ist.

10 Bergala: Kino als Kunst, S. 86-87, Fußnote 5.

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macht, als sie es im Zusammenhang und aus der Perspektive des gesamten Films je geworden wäre.«11

Die Anordnung der besprochenen Filme und Fernsehproduktionen in Double Features hebt auf eine solchermaßen anamorphotische Perspektivierung ab, die sich in der Konfrontation der Filmstills und der Gegenüberstellung der physischen und stofflichen Formenwelten der Filme verdinglichen lässt. Die Filmstills als wichtige Elemente des Vergleichs werden zu ›Trägerfragmenten‹, die zwischen verschiedenen Filmen, Nationen und Kulturen übersetzen. Insofern sie als zwischen visuellen Kulturen migrierende Bilder auftreten, möchte ich sie als »Transmission Images« lesen, wie sie Birgit Mersmann und Alexandra Schneider beschreiben.12 »Transmission Image is thought of as an attempt at and a methodological tool for grasping the migration of images not only between cultures but specifically in between imaging cultures, tracing the paths of their transmittance, and determining moments of admission and denial.«13

Das »Transmission Image« ermöglicht also einerseits den Nachvollzug der Übertragung (transmittance) und andererseits die Bestimmung von Übertragungsmomenten der Durchlässigkeit (admission) und der Verweigerung (denial). Als Fragment eines visuellen Diskurses, als dessen Träger es fungiert, erfährt es durch die Neukontextualisierung des Double Features eine Umdeutung. Das Aufeinandertreffen verschiedener Repräsentationssysteme und verschiedener medialer und piktoraler Codes ermöglicht eine Fokussierung der »points of contact, [...] intersections and ›third spaces‹«14, die über Bilder als ›Überträger‹ von Kulturen Auskunft geben können.

11 Bergala: Kino als Kunst, S. 88. 12 Vgl. Birgit Mersmann; Alexandra Schneider (Hg.): Transmission Image. Visual Translation and Cultural Agency. Newcastle: Cambridge Scholars Publishing 2009. 13 Ebd., S. 2. 14 Ebd., S. 3.

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3.3 DOUBLE FEATURE UND DOUBLE SCREENING Svetlana Boym beschreibt die Überblendung als cinematisches, medien-nostalgisches Verfahren par excellence. In der Überblendung zweier Bilder wird ein nostalgischer Überfluß sichtbar, der eigentlich ein Rest ist. Wie Boym ausführt: »[...] the cinematic image of nostalgia is a double exposure, or a superimposition of two images – of home and abroad, past and present, dream and everyday life.«15 Wenn man den Vergleich von Filmen als ein per se nostalgisches Verfahren betrachtet, könnte man überlegen, anstatt Fragmente für den Vergleich nebeneinander zu stellen, sie übereinander zu positionieren, d.h. mit gleichzeitigen Projektionen oder Screenings der Filme zu arbeiten. Der Filmwissenschaftler und -kritiker Jim Hoberman experimentiert mit dem sogenannten Double Screening, der gleichzeitigen Projektion von zwei cinematischen Objekten16 neben- oder übereinander. Das Double Screening hebt darauf ab, zunächst ›Points of Contact‹ im gescreenten filmischen Material auszumachen und in einem zweiten Schritt Subtexte der jeweiligen Narrationen, blinde Flecken deutlich zu machen, die Rückschlüsse, weniger über die beiden Filme, als über die thematischen Kontexte der Filme er-

15 Boym: The Future of Nostalgia, S. XIII-XIV. 16 In seinem programmatischen Buch Film After Film: Or What Became of 21st Century Cinema? erläutert Hoberman die Verwendung der Begriffe ›cinema‹, ›motion pictures/movie‹ und ›film‹ folgendermaßen: »[...] I will use cinema to mean a form of recorded and hence repeatable moving image and, for the most part, synchronized recorded sound. Television kinescopes and TV since videotape are cinematic; so is YouTube. The terms motion pictures or movies imply a projected image; film refers to movies that are produced on or projected as celluloid (or its derivatives) and hence have some basis in photography.« Jim Hoberman: Film After Film: Or What Became of 21st Century Cinema?, London / New York: Verso 2012, S. 3 Fußnote 1. Für Hoberman beinhaltet also der Begriff ›Cinema‹ (Kino) sämtliches filmisches Material, das heute via Internet und über diverse Endgeräte (Mobiltelefon, iPad, Computer), über das Fernsehen und über das Kino zu sichten ist. Der Begriff ›Movie‹ oder ›Motion Picture‹, der im Deutschen mit ›Bewegtbild‹ nicht ganz eindeutig zu fassen ist, ist gebunden an eine wie auch immer geartetete Projektion und der Begriff ›Film‹ referiert auf die Verwendung von Zelluloid (und den Folgeprodukten), weshalb er im Bereich der Photographie zu verorten ist. Die Übertragung dieser Unterscheidungen ins Deutsche erfolgt nicht reibungslos. Kino scheint im Deutschen doch viel stärker an die Institution des Kinos gebunden, während Film tatsächlich am Besten für sämtliche Produktionen (Internet, TV, Kino, analog und digital) zu gebrauchen wäre.

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möglichen.17 Als Beispiel soll hier das Double Screening von Lee Daniels’ Film THE BUTLER (US 2013) und Roland Emmerichs Film WHITE HOUSE DOWN (US 2013) angeführt werden, die Hoberman in einem Double Screening mit dem Titel WHITE HOUSE BUTLER DOWN gleichzeitig und übereinander projizierte.18 Beide Filme spielen im Weißen Haus und entstanden anlässlich der Präsidentschaft Barack Obamas. Während Emmerich in seinem Blockbuster Movie die erste Amtszeit von Barack Obama fiktionalisiert und von einem terroristischen Angriff auf das Weiße Haus erzählt, verhandelt das historische Drama THE BUTLER die wahre Geschichte des schwarzen Kellners Eugene Allen, der in der Zeit von 1957 bis 1986 als Butler im Weißen Haus sieben US-Präsidenten diente. Durch die durch das Double Screening entstehenden Rückkoppelungen zwischen den beiden Filmen, auf jeweils narrativer und auf motivischer Ebene, erzählen die Bilder eine ›größere Geschichte‹, eine Geschichte, die nicht linear erzählt werden kann und die nicht in retrospektiven Logiken aufgeht. Eine Geschichte, wie sie auch im Rahmen von Geschichtsschreibung nicht abbildbar ist, wenn sie der Logik einer Sprache gehorchen muss, deren Syntax auf die Kohärenz eines Anfangs, eines Endes und eines Teils dazwischen aufgebaut ist. Diese Gleichzeitigkeit von Sichtweisen, Narrativen und Motiven entspricht vielmehr dem Phänomen der »Vergangenheitsversionen«19, wie es Astrid Erll und Stephanie Wodianka diskutieren. Diese Versionen vereinen einander mitunter widersprechende, ambivalente Narrative und Erzählungen (von Geschichte) in sich. Die gleichzeitige Projektion der beiden Filme in WHITE HOUSE BUTLER DOWN legt, wie Simon Abrams schreibt, auch eine antagonistische Dynamik zwischen den Filmen offen: »THE BUTLER'S narrative is ostensibly about moving forward while WHITE HOUSE DOWN is essentially regressive.«20 Gerade diese antagonistischen Dynamiken zweier gleichzeitig gescreenten Filme scheinen mir aber auch in der Anordnung des Double Features 17 Simon Abrams: »Films in Conversation: J. Hoberman’s Presentation of ›White House Butler Down‹«, in: Balder and Dash Archives, (2014). Vgl. http://www.rogerebert.com/balder-and-dash/films-in-conversation-j-hobermans-presentation-of-whi te-house-butler-down, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 18 Weitere Beispiele für Double (Triple/ Quadruple) Screenings von Jim Hoberman wären die gleichzeitige Projektion aller vier ROCKY Filme oder die Projektion eines »Twofers« von David Cronenberg: EASTERN PROMISES (US 2007) und A HISTORY OF VIOLENCE (US 2005),

die er im Rahmen seiner Film-Lehre an der University of New York

gezeigt hat. Vgl. Abrams: »Films in Conversation: J. Hoberman’s Presentation of ›White House Butler Down‹«. 19 Vgl. Erll; Wodianka (Hg.): Film und kulturelle Erinnerung, S. 5, Fußnote 7. 20 Abrams: »Films in Conversation: J. Hoberman’s Presentation of ›White House Butler Down‹«.

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sichtbar zu werden, wie überhaupt die beiden Verfahren eng miteinander verwandt scheinen.21 In den Filmanalysen habe ich daher immer wieder auf die für Hoberman wesentlichen ›Points of Contact‹ bzw. die blinden Flecken hingewiesen, die durch die Double Features deutlich wurden.

3.4 DAS DOUBLE FEATURE ALS KURATORISCHE PRAXIS Das Double Feature als Verfahren der Filmdistribution ist von Beginn an mit den Agenden der Filmvermittlung verbunden. Als spezifische Programmentscheidung im Rahmen der Präsentation von Filmreihen und -retrospektiven kommt es auch als eine kuratorische Praxis in den Blick, wie sie oftmals in den Arbeitsbereich museumspädagogischer Tätigkeiten fällt.22 Wenn ich das Double Feature als kuratorische Praxis begreife, so deshalb, weil ich damit die Auswahl der Film- und Fernsehproduktionen als stark subjektive ausweisen möchte, der persönliche Seherfahrungen ebenso zugrunde liegen wie der Wunsch, teilweise unbekanntes Filmmaterial einem interessierten (akademischen) Publikum zugänglich zu machen. Das ›Programm‹, das ich mit den elf beschriebenen Double Features zusammengestellt habe, zielt auf Reibungen sowie Kontaminierungen, auf Harmonie sowie Konflikt. Es zielt letztlich auf einen »kognitiven Prozess«23 auf der Seite des

21 Auch wenn ich im Rahmen dieser Studie nicht mit Double Screenings gearbeitet habe und die Idee der Überblendung daher eher metaphorisch (im Zusammenhang mit Nostalgie, vgl. Boym) bzw. als Effekt der Perspektivierung verstanden habe, scheint mir das von Hoberman vorgeschlagene Verfahren sehr aufschlußreich und es wäre überlegenswert, das Experiment des Double Screenings mit den Filmen meiner Double Features zu wagen. Gerade für Double Features, die stark von widersprüchlichen Narrativen und Antagonismen geprägt sind, wie zum Beispiel DF 8 Wir müssen zusammenhalten auf dem Korso, scheint mir das Verfahren des Double Screenings produktiv. 22 Mit der Theorie und Praxis kuratorischer Arbeit hat sich beispielsweise das Österreichische Filmmuseum in Rahmen eines experimentellen Buchprojektes befasst: Paolo Cherchi Usai; David Francis; Alexander Horwarth; Michael Loebenstein (Hg.): Film Curatorship – Archives, Museums, and the Digital Marketplace. Wien: FilmmuseumSynemaPublikationen 9 2008. 23 Nico de Klerk zit. nach: Christine Rüffert: »›Writing a Text that Will be Read with the Body‹. Kuratieren als somatischer Akt«, in: Bettina Henzler; Winfried Pauleit; Chris-

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Lesers und der Leserin, der durch die kuratorische Geste erst ausgelöst wird. Im Zentrum dieses kognitiven Prozesses stehen Erkenntnisse über eine vom Kalten Krieg geprägte osteuropäische (und westeuropäische) Filmgeschichte, während die (trans-)nationalen Double Features Neuverortungen der »cinematischen Objekte« (Hoberman) und eine Relektüre der stark durch die Ästhetik des Autorenfilms geprägten Film-Kanons ermöglichen sollten. Für Christine Noll Brinckmann, ihres Zeichens Filmemacherin, Professorin und Kuratorin, liegt »der Hauptfehler vieler Kuratoren [darin], ähnliches Material zu vereinen, sodass alles zu einer großen Soße zusammenfließt.«24 Die Filme nach Ähnlichkeit zu sortieren, sei daher massiv abzulehnen. Erst durch eine kontrastive Gegenübersetllung könne es gelingen, die Filme »gegenseitig zum Leuchten zu bringen, statt sie miteinander stumpf werden zu lassen.«25 Die Filmsequenzen, Einstellungen und Stills, die in den Double Features zum Vergleich stehen, repräsentieren die cinematischen Objekte auf einer somatischen Ebene. Es handelt sich dabei um Bilder, Töne, um Formen und Details, die die Filme eher sekundär transportieren und die weniger als Trigger der Narration oder auch als Ausdruck dramaturgischer Entscheidungen, denn als filmische Idiosynkrasien in den Blick kommen, die das Eigenwillige und Eigenartige des jeweiligen Filmes hervorheben. Die Singularität der einzelnen Kino- und Fernsehfilme herauszustellen, anstatt sie durch ein »rigides kuratorisches Konzept zu erdrücken«, bzw. »zum Argument eines Diskurses zu degradieren«26, war der Anspruch der hier zusammengestellten Double Features. Die den Double Features vorangestellten Filmzitate, Transkripte kurzer Sequenzen aus den beiden jeweils ein Double Feature konstituierenden Filmen, verstehe ich als Türöffner, die en exergue in die profilmischen Welten einführen. In der Mehrzahl der Fälle entsprechen die Filmzitate der Transkription einer Einstellung.27 Diese auf die Tonebene reduzierten Einstellungen sollen wie die Filmstills miteinander ins Gespräch kommen und durch ein Hören ›von der Seite‹, das dem

tine Rüffert; Karl-Heinz Schmid; Alfred Tews (Hg.): Vom Kino lernen. Internationale Perspektiven der Filmvermittlung. Berlin: Bertz + Fischer 2010, S. 130. 24 Christine Noll Brinckmann in einem E-Mail-Interview mit Christine Rüffert. Vgl. Rüffert: »›Writing a Text that Will be Read with the Body‹«, S. 130. 25 Ebd. 26 Matthias Müller in einem E-Mail-Interview mit Christine Rüffert. Vgl. ebd. 27 Das betrifft konkret DF 1, 2, 5, 6, 7 und 10. Die Filmzitate der DF 3, 4 entsprechen einer narrativen Sequenz und die Filmzitate der DF 6, 8, 9, 11 entsprechen einem in sich schlüssigen Ausschnitt aus einer längeren narrativen Sequenz.

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Sehen von der Seite, wie es Bergala nannte, zur Seite gestellt ist, die polyphonen Stimmen und die vieldeutigen ›Tonarten‹ der Filme vergegenwärtigen.28

28 Sich dem Kino über die Einstellung zu nähern, schlägt Bergala in seiner Arbeit nachdrücklich vor, »da sie für mich in ihrer Zeitlichkeit, ihrem Werden, ihrem Rhythmus die kleinste lebendige Zelle, ein relativ autonomer Bestandteil des großen Körpers Kino ist.« Bergala: Kino als Kunst, S. 88.

4

Narrative der Heterosexualität

Im ersten Unterkapitel der Filmanalysen, in dem vier Double Features untersucht werden, stehen Narrative der Heterosexualität im Zentrum der Aufmerksamkeit, deren Spektrum von ›Boy meets girl‹ (DF 2 Langeweile einer Blondine) über ›Vater, Mutter, Kind‹ (DF 3 Amateur Hühner, DF 4 Vater, Zottelschreck und Nimmersatt) zu ›Freundinnen‹ (DF 1 Süße Emma Nordrand, DF 2 Langeweile einer Blondine), bis hin zu ›Und wenn sie nicht gestorben sind...‹ (DF 4 Vater, Zottelschreck und Nimmersatt) reicht. Die in den Filmen verhandelten Gender-Identitäten werden nicht als abgeschlossene Entitäten gefasst, die aus den filmischen Narrationen zu destillieren sind. Vielmehr soll der Versuch unternommen werden, »dekonstruktiv in die Herstellungsverfahren dieser Identitäten zu intervenieren« und ihre »textuelle Funktion innerhalb des filmischen Materials«1 aufzudecken. Auch die Wechselbeziehungen zwischen der Performativität von Geschlecht und der Performativität von Medien werden in den Blick genommen. Andrea Seier verweist auf die »Medialität des Geschlechts«, die gerade da evident werde, »wo mit dem Begriff Gender eine Kulturtechnik beschrieben wird, die außerhalb von Medien gar nicht stattfinden kann.«2 Während es also einerseits darum geht, die medialen Anteile von Gender-Performativität herauszustellen, befasse ich mich auf motivischer Ebene mit intertextuellen Referenzen zwischen den Filmen. Die Semantik homosozialer Figurationen habe ich beispielsweise in den ersten beiden Double Features in Kapitel 4. untersucht: In DF 1 Süße Emma Nordrand stehen einander in den beiden Filmen zwei Frauenfreundschaften gegenüber, in DF 2 Langeweile einer Blondine steht jeweils eine Szene im Zentrum des Vergleichs, in der flüsternde Mädchen vorkommen. Während DF 1 Süße Emma Nordrand in der Figur der Freundinnen Klassendifferenzen verhandelt, hat die Figur der

1

Andrea B. Braidt: Film-Genus. Gender und Genre in der Filmwahrnehmung. Marburg: Schüren 2008, S. 67.

2

Andrea Seier: Remediatisierung. Die performative Konstitution von Gender und Medien. Münster/ Hamburg/ Berlin/ London: LIT Verlag 2007, S. 24.

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Freundinnen in DF 2 Langeweile einer Blondine einmal die Funktion Heterosexualität zu affirmieren (Forman), um sie dann jedoch zu subvertieren (Morávek). Neben den intertextuellen Referenzen interessierten mich aber auch die intermedialen Referenzen der Filme. In DF 1 Süße Emma Nordrand haben wir es mit zwei Kinofilmen zu tun, wobei Istvan Szábo sich eines literarisch-fragmentarischen Erzählverfahren bedient. Die DF 3 Amateur Hühner und DF 4 Vater, Zottelschreck und Nimmersatt kombinieren verschiedene Medien (Kino und Fernsehen, analoges und digitales Filmmaterial sowie Stickereien) sowie verschiedene Genres (Animationsfilm und Realfilm, Drama und Fantasy). Wenn die hier versammelten Double Features einerseits zu queeren Lektüren von Narrativen der Heterosexualität anregen, regen sie auch zu einem Queering von Filmkanons an, indem sie die Ästhetik und die Politik des osteuropäischen Autorenfilms dekonstruieren. Dieses Queering wird auf drei Ebenen vollzogen: Erstens kommt das Narrativ von Kontinuität als identitätsstiftendes Instrument nationaler Filmgeschichtsschreibung in den Blick (DF 2 Langeweile einer Blondine, DF 3 Amateur Hühner, DF 4 Vater, Zottelschreck und Nimmersatt), das potentielle Brüche glatt bügelt. Zweitens werden scheinbare Brüche untersucht, die potentielle Kontinuitäten verbergen (DF 1 Süße Emma Nordrand, DF 4 Vater, Zottelschreck und Nimmersatt) und drittens wird die klare Trennlinie von erster und zweiter Welt (DF 1 Süße Emma Nordrand) destabilisiert.

4.1 DOUBLE FEATURE 1 – SÜßE EMMA NORDRAND »Du bist isoliert. Was in der Welt passiert, hast du nie erlebt, erst aus politischen Gründen nicht, jetzt aus materiellen Gründen nicht.« ÉDES EMMA, DRÁGA BÖBE – VÁZLATOK, AKTOK / SWEET EMMA, DEAR BÖBE - SKETCHES, NUDES

(1992)

»Ich war immer so neidisch auf dich. Du warst so hübsch und alle sind dir nachgerannt und haben das gemacht, was du gesagt hast. Und zu mir habts ihr immer gesagt, dass ich Läuse hab. Dabei hab ich nie welche gehabt.« Jasmin: »Ich schon. In der Zweiten und in der Vierten.« NORDRAND (1999)

Migrationshintergrund im Vordergrund Vorspann NORDRAND (Ö 1999, Barbara Albert): Die Credits des Films werden von Kinderstimmen begleitet, die ein Kinderlied singen. Plötzlich legen sich flüsternde Stimmen in den auditiven Vordergrund, während Frames von Kinderzeichnungen sichtbar sind. »Wenn ich groß bin, möchte ich viele Kinder haben.

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Jasmin« hört man ein Mädchen aus dem Off. Und »Kada budem velika, budem medicinska sestra. Tamara«.3 In einigen kurzen Sequenzen, die fast gänzlich ohne Dialog auskommen, erzählt Barbara Albert daraufhin die Vorgeschichte der Freundschaft (Close-Up der Freundschaftsflöhe aus den 80er Jahren) von Jasmin (Nina Proll) und Tamara (Edita Malovčić), den Protagonistinnen von NORDRAND. Tamara bewundert Jasmin und möchte mit ihr befreundet sein, sie wickelt also einen Holzfloh in ein Papierstückchen ein, auf das sie geschrieben hat »Lernst du mir den Zauberwürfel? Bittet Tamara.« Jasmin interessiert sich aber nicht für Tamara und der Zauberwürfel wird mit anderen Freundinnen gelernt, während Tamara ausgeschlossen und im Abseits bleibt. Jahre später begegnen sich die beiden jungen Frauen in einer Wiener Abtreibungsklinik wieder. Der Jugoslawienkrieg ist noch nicht zu Ende, die österreichische Republik feiert indes ihr 40-jähriges Bestehen, Gegendemonstrantinnen und –demonstranten protesierten gegen den militärischen Aufmarsch. Tamara arbeitet als Krankenschwester und Jasmin wechselt von Job zu Job, derzeit ist sie Kellnerin in einer Wiener Aida-Filiale. Während Tamara sich nicht sicher ist, ob Roman, der österreichische Soldat der richtige Mann für sie ist, wechselt Jasmin ihre Männer wie Kleider und weiß daher auch gar nicht so genau, wer der Vater ihres Kindes sein könnte. Kaleidoskopartig entwickelt Albert die Geschichten weiterer Figuren, die in NORDRAND versammelt sind. ›Nordrand‹ meint den Norden Wiens, den 21. Wiener Gemeindebezirk, die Großfeldsiedlung4, wo Tamara mit ihrer Familie wohnt und jene Gegenden, in die sich Hipster und Touristinnen nur selten verirren. ›Nordrand‹ meint aber auch den nördlichen Rand jenes geographischen Raums, in dem die Protagonistinnen und Protagonisten des Films zu Hause sind: den Raum des zerfallenden Jugoslawien, von Kroatien über Bosnien und Serbien bis nach Rumänien. Dieser Rand ist gleichzeitig Peripherie und Zentrum, Sehnsuchtsort sowie transitärer Ort und urbane Kulisse des Stehenbleibens.5 Um ›Menschen mit Migrationshintergrund‹ geht es in Barbara Alberts Spielfilmdebüt – einen Begriff, der in den 90er Jahren den aufgrund massiver femdenfeindlicher Politik negativ konnotierten Begriff 3

»Wenn ich groß bin, werde ich Krankenschwester. Tamara«, verraten den Sprachunkundigen Untertitel.

4

Vgl. Barbara Albert in einem Interview auf der Webseite der Fama Film AG: http://www.famafilm.ch/filme/nordrand/interview-mit-regisseurin-barbara-albert-zunordrand/, [letzte Sichtung am 18.03.2020].

5

Vgl. Nicole Kandioler: »Schauplatz Sprach/en/losigkeit. ImmigrantInnen im zeitgenössischen österreichischen Spielfilm. Am Beispiel MEIN RUSSLAND (A 2002), NORDRAND (A 1999) und STRUGGLE (A 2003)«, in: Aspetzberger, Friedrich; Corbin, Anne-

Marie (Hg.): Traditionen und Modernen. Historische und ästhetische Analysen der österreichischen Kultur. Innsbruck: StudienVerlag 2008, S. 107-117.

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›Ausländer‹ ersetzte und zum Ziel eine Ausdifferenzierung der verschiedenen ausländischen und internationalen Identitäten hatte. Dieser Hintergrund wird zum Vordergrund, wenn Albert mit NORDRAND die Räume erschließt, die realen und die imaginären (erinnerten und ausgedachten, räumlichen und zeitlichen) Schauplätze, die in den Bildern von Christine A. Maier auf- und abtauchen. Der nördliche Rand bedeutet auch eine Kälte, die sich im Film in der winterlichen Stimmung ausdrückt, ein großer Teil der Story spielt tatsächlich im schneebedeckten Wien. Da ist zum Beispiel Valentin (Tudor Chirilà), ein rumänischer Student, der von Amerika träumt und letztendlich doch zurück in das kleine Dorf (Orăştioara, Eisenmarkt) in Rumänien gehen wird, wo seine Frau und sein neu geborenes Kind auf ihn warten. Dann ist da der Bosnier Senad (Astrit Alihajdaraj), der aus Sarajewo flieht und illegal in Österreich einwandert. Jolanta (Marta Klubowicz), die perfekt Deutsch sprechende und ehrgeizige Polin, die ihrerseits von Australien träumt und in Wien als Kellnerin arbeitet. Und, im Umfeld Jasmins und Tamaras, Jasmins jüngere Schwester Sonja (Martina Stojan), die von ihrem Vater (Karl Markovic) missbraucht wird und Tamaras Freund Roman (Michael Tanczos), der Soldat beim Bundesheer ist und ihr zwar eine gewisse Sicherheit bieten könnte, aber in den sie einfach nicht so richtig verliebt ist. Am Ende werden Jasmin und Tamara sich von ihrer Kindheit verabschiedet haben und etwas Neues beginnen.6 István Szabós Film beginnt mit einem Albtraum, den Emma (Johanna Ter Steege7) immer wieder träumt. Bei völliger Dunkelheit schlittert sie nackt in einen sandigen Trichter und wird in die Tiefe gezogen. Auf der Tonebene sind ihr Atem und erstickte Schreie zu hören. Von der Totale ihres über den Hügel schlitternden Körpers schneidet die Kamera auf ein Close-Up ihrer Hand, die sich an einer Pflanze festzukrallen versucht und auf eine Nahaufnahme ihres Gesichts, Mund und Augen geweitet vor Entsetzen. Das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren und in einen Abgrund zu schlittern, begleitet die junge Russischlehrerin Emma, die kurz nach der Wende in Budapest als Englischlehrerin Fuß fassen möchte, ständig. Am Ende des Films steht ein Selbstmord. Aber es ist nicht Emma, die sich das Leben nimmt, sondern ihre Mitbewohnerin und Freundin Böbe (Enikö Börcsök).

6

Vgl. Barbara Albert in einem Interview auf der Webseite der Fama Film AG: http://www.famafilm.ch/filme/nordrand/interview-mit-regisseurin-barbara-albert-zunordrand/, [letzte Sichtung, am 18.03.2020].

7

Die holländische Schauspielerin Johanna Ter Steege wurde in der ungarischen Originalversion des Filmes von Ildikó Bánsági synchronisiert. Vgl. John Cunningham: The Cinema of István Szabó. Visions of Europe. London/ New York: Wallflower Press 2014, S. 90.

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In seinem Film ÉDES EMMA, DRÁGA BÖBE – VÁZLATOK, AKTOK / SWEET EMMA, DEAR BÖBE - SKETCHES, NUDES (H 1992) zeigt István Szabó in fragmentarischen, skizzenhaften Szenen einen postkommunistischen Alltag, der geprägt ist von den Geistern der Vergangenheit und den Schwierigkeiten des Neuanfangs.8 Da sie als Russischlehrerinnen keine sichere Anstellung mehr in Aussicht haben, müssen Emma und Böbe, »zwei Mädchen vom Lande«9, die vor sieben Jahren nach Budapest gekommen sind und sich fortan als Englischlehrerinnen ihren Unterhalt verdienen. Beide unterrichten an einer Budapester Schule und absolvieren gleichzeitig einen Englischkurs. Da ihr Gehalt für eine Wohnung nicht ausreicht, leben sie »zusammen mit 300 anderen Pädagogen in einem Wohnheim [...] am Rande von Budapest, in der Nähe des Flughaftens«10. Dreimal in der Woche arbeitet Emma außerdem als Putzfrau bei einer wohlhabenden Familie. Der Alltag der beiden Frauen ist nicht einfach. Die Stimmung in der Schule ist geprägt von gegenseitigen Unsterstellungen und Verdächtigungen. Der Schuldirektor Stefanics (Péter Andorai), der seine schulische Karriere den Kommunisten verdankt, fürchtet nun nach dem Regierungs- und Systemwechsel um seine Stelle. Im Lehrerkollegium gibt es ständig Streitereien darüber, wer nun tatsächlich Mitläufer oder aber Gegner des ›Regimes‹ war. Als Russischlehrerin steht Emma a priori unter Verdacht. In der Pause verbrennen Schülerinnen und Schüler im Schulhof russische Lehrbücher und singen der russischen Sprache und Literatur ein sarkastisches Abschiedslied. Als Emma dazwischen tritt und die Schüler auffordert, damit aufzuhören, hält ihr der halbstarke Hauptakteur eine kommunistische Brosche hin und sagt: »Sehen Sie mal, haben Sie was verloren?« In der Lehrerkonferenz trifft Emma auf Widerstände seitens des Kollegiums gegen ihre strenge Benotung. Die Klassenlehrerin von Emmas Russischklasse hat wenig Verständnis dafür, dass ihre junge Kollegin zwei Schüler in Russisch durchfallen lassen möchte, obwohl die Sprache nicht einmal mehr unterrichtet wird. Während Emma aber auf ihrer Benotung beharrt und ausführlich darüber Auskunft 8

Moritz Pfeifer schreibt in seiner Online-Filmkritik »Lost in Translation« im Eastern European Film Bulletin Vol. 44 (August 2014): »István Szabó’s most improvised film is also his most unique. Sweat Emma, Dear Böbe was shot with no budget in the immediacy of the crumbling Kádár/Grosz regime in 1992.« Vgl. https://eefb.org/retrospectives/istvan-szabos-sweet-emma-dear-bobe-edes-emma-draga-bobe-vazlatok-aktok1992/, [letzte Sichtung am 18.03.2020].

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Dies verrät ein Textinsert am Anfang des Films ÉDES EMMA, DRÁGA BÖBE – VÁZLATOK, AKTOK / SWEET EMMA, DEAR BÖBE - SKETCHES, NUDES

(H 1992), was den lite-

rarischen Charakter einer in Fragmenten erzählten Kurzgeschichte betont. 10 Textinsert am Anfang des Films ÉDES EMMA, DRÁGA BÖBE – VÁZLATOK, AKTOK / SWEET EMMA, DEAR BÖBE - SKETCHES, NUDES (H 1992).

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gibt, wie sie zu ihrer Einschätzung kommt, verbleibt die Klassenlehrerin auf ihrem Standpunkt und setzt auch den Direktor unter Druck, indem sie sagt: »Ich weiß nicht, was du davon hältst, dass man nach dem Ende der Russenherrschaft an unserer Schule und mit unserem Einverständnis Kinder in Russisch durchfallen lässt.« Da Emma nicht nachgeben will, hält ihr die Klassenlehrerin schließlich vor, dass sie ihre Korrekturen von einem externen Dozenten prüfen habe lassen und dass dieser zu dem Schluss gekommen sei, dass die Korrekturen mangel- und fehlerhaft seien. Als sie danach auch in einem Zwiegespräch mit dem Direktor, der um seine Anstellung fürchtet, unter Druck gesetzt wird, gibt Emma schließlich nach. Dass sie nachgibt, hat auch mit der Tatsache zu tun, dass sie verliebt in Stefanics ist und eine Affäre mit dem verheirateten Familienvater hat. Ihre Hoffnung, dass sich Stefanics von seiner Frau trennen und mit ihr leben könnte, wird jedoch bei einem Wochenendausflug mit ihrer besten Freundin Böbe zerstört. Eigentlich sollte Emma das Wochenende mit ihrem Liebhaber in dessen Wochenendhaus am Balaton See verbingen. Als ihr Stefanics kurzfristig absagt, beschließt sie, Böbe an seiner statt mitzunehmen. Die beiden Freundinnen verbringen eine innige und harmonische Zeit miteinander. Am Abend verrät Böbe Emma, dass sie über Emmas Affäre Bescheid weiß. Als Emma nachfragt, woher Böbe das wisse, stellt sich heraus, dass Böbe selbst eine Affäre mit Stefanics gehabt hat und dass er selbst ihr gesagt hat, dass er sich nicht für Emma von seiner Frau trennen wird. Daraufhin bricht ein Streit zwischen den Freundinnen aus, Emma ist enttäuscht von Böbe und vor allem von Stefanics. Am Ende der Nacht schwören sich beide, dass sie nie wieder mit Stefanics reden wollen. Mit seinem Film hat István Szabó in Rom den Preis der italienischen Filmkritik erhalten und auch die niederländische Schauspielerin Johanna Ter Steege, die in der ungarischen Originalversion der Filmes von der ungarischen Schauspielerin Ildikó Bánsági synchronisiert wird, hat mehrerer Preise für ihre schauspielerische Leistung erhalten, u.a. bei Berlinale 1992 den Silbernen Bären als Sonderpreis der Jury und den Preis der ungarischen Filmkritik.11 Beim ungarischen Publikum konnte der Film keinen großen Erfolg verzeichnen, wenngleich er mit knapp 29.000 Besucherinnen und Besuchern dennoch der dritte meistbesuchte ungarische Film des Jahres 1992 war.12 11 Johanna Ter Steege hatte ihren ersten Auftritt in Szabós erstem englischsprachigen Film MEETING VENUS (H 1991). Die synchronisierte Rolle der »Emma« war ihre erste große Spielfilmrolle. Vgl. Cunningham: The Cinema of István Szabó. Visions of Europe, S. 160-161. 12 Vgl. ebd., S. 93. Für Cunningham überwiegt der Aspekt der Künstlichkeit des Films, den er im Vergleich zu anderen Filmen Szabós für weniger gelungen befindet. Auf

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Freundinnen im Aufbruch und am Abgrund Barbara Albert und István Szabó porträtieren in ihren beiden Filmen Freundinnen und Frauenfreundschaften, deren Dynamik zu einem großen Teil aus der Spannung einer Differenz zwischen den Figuren entsteht, die in beiden Fällen nicht gleich erkennbar ist. Beide Freundinnenpaare kennen sich aus ihrer Kindheit. Emma und Böbe stammen aus demselben Dorf und teilen dieselbe behütet-provinzielle Kindheit und Jugend, aus der sie durch ihre Ausbildung nach Budapest ausbrechen wollen. Die Stimmung in ÉDES EMMA, DRÁGA BÖBE – VÁZLATOK, AKTOK / SWEET EMMA, DEAR BÖBE - SKETCHES, NUDES ist einerseits getragen von der Sehnsucht nach einem anderen Leben, nach einem Glück, das die Gegenwart Budapests nicht in petto hat. Beide Frauen möchten diese Gegenwart hinter sich lassen und sind von dem Wunsch getragen, aus ihrer Welt auszubrechen. Während die eine (Böbe) ihr Lebensziel in der Aufwertung ihres sozialen Status sieht und einfach nur gut leben will, geht es Emma darum, ein sinnvolles Leben in einer Gemeinsschaft zu führen, in der sie auch Solidarität erleben kann. In NORDRAND haben die beiden Protagonistinnen dieselbe Grundschule besucht. Während Tamara aber als Außenseiterin gilt, wetteifern die Mitschülerinnen geradezu um die Gunst Jasmins. Auch den weiter oben beschriebenen Freundschaftsantrag von Tamara via Brief und mit beigelegten Holzflöhen lehnt Jasmin ab. Von Freundschaft kann also zunächst nicht die Rede sein. Erst als sich die beiden ca. zehn Jahre später in einer Abtreibungsklinik13 über den Weg laufen, lernen sie sich besser kennen und kurze Zeit sogar zusammen wohnen. Im Folgenden werde ich drei Szenen miteinander vergleichen, in denen das Motiv der Freundinnenschaft, des Schauplatzes (Stadt und Land, urbane Szenerie vs. Natur) und ästhetische Aspekte (Autorenfilm: Musik, Sketches vs. Nähe zu den Protagonistinnen) der beiden Filme in den Blick kommen. Seite 92 schreibt er: »In Sweet Emma, dear Böbe there is a tendency towards verbosity and speechifying which, at times, seems artificial.« 13 In seinem preisgekrönten Film 4 LUNI, 3 SĂPTĂMÂNI ȘI 2 ZILE / 4 MONATE, 3 WOCHEN UND

2 TAGE (RO 2007) erzählt Cristian Mungiu die im Rumänien der späten 1980er

Jahre angesiedelte Geschichte zweier Freundinnen, den Studentinnen Găbița und Otilia, die sich ein Zimmer im Studentenwohnheim teilen. Găbița ist schwanger und will gegen die durch Ceauşescu geprägte Ideologie des nationalen Bevölkerungswachstums und die strengen Gesetze ihr Kind abtreiben. 4 LUNI, 3 SĂPTĂMÂNI ȘI 2 ZILE / 4 MONATE, 3 WOCHEN UND 2 TAGE in ein Double Feature mit Barbara Alberts oder mit István Szabós Film zu fassen, wäre interessant gewesen. Beide Filme teilen narrative Motive mit dem rumänischen Film: die Freundschaft, die Abtreibung, das gemeinsame Zimmer, die Systemkritik.

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Abbildungen 1, 2: Emma und Böbe vs. Jasmin und Tamara

Quelle: Screenshots SWEET EMMA, DEAR BÖBE (H 1992), NORDRAND (A 1999)

Süße Tamara, liebe Jasmin – im Class Closet Wiewohl die Freundinnen in den beiden Filmen aus eine ähnlichen oder dem gleichen Bildungsmilieu kommen – Emma und Böbe sind beide Russischlehrerinnen und bilden sich weiter aus zur Englischlehrerin, Jasmin und Tamara haben dieselbe Grundschule besucht – scheint es bei beiden Freundinnenpaaren soziale Unterschiede zu geben, die an einigen Details der Narration festgemacht werden können. Tamara, deren serbische Eltern zusammen mit ihrem Bruder in Sarajewo leben, hat eine Ausbildung zur Krankenschwester absolviert. Sie verdient sich ihren eigenen Lebensunterhalt und lebt völlig auf sich gestellt im Haus ihrer Eltern am »Rand« der Stadt. Jasmin arbeitet als Kellnerin bzw. auch Konditorin im Werk der österreichischen Kaffee- und Konditoreikette Aida und wohnt zusammen mit ihren jüngeren Geschwistern bei ihren Eltern. Das Zusammenleben mit den Eltern gestaltet sich schwierig. Während das Verhältnis zur Mutter von kleineren Konflikten geprägt ist, ist die Beziehung zu ihrem sie und ihre Schwester sexuell missbrauchenden Vater hoch problematisch. Durch ihr Elternhaus und ihren sozialen Hintergrund determiniert, lebt Jasmin selbst in den Tag hinein, ohne Ambitionen und ohne Plan, mit dem einzigen hedonistischen Ziel, sich zu amüsieren. Tamaras Leben hingegen ist geprägt von der Sorge um ihre Familie, um ihren Buder, der im Krieg in Jugoslawien gegen die Bosnier und die Kroaten kämpft. Die Beziehung zu ihrem Freund, dem Österreicher Roman, scheitert in erster Linie an der Nicht-Vermittelbarkeit dessen, was ihre Familie gerade erlebt. In den Alltag der Menschen in Tamaras Leben dringt der Krieg höchstens über die Bilder der Fernsehnachrichten ein14 und die Ignoranz ihrer Umgebung gegenüber dem nur wenige 14 Barbara Albert montiert die bekannten Fernsehbilder in die Aufnahmen von NORDRAND und bläst die Motive dadurch gewissermaßen auf, sodass eine Überwältigung der Kinozuschauerinnen und -zuschauer durch die TV-Bilder wahrscheinlich

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hundert Kilometer hinter den Grenzen stattfindenden Krieg äußert sich in einer Sprachlosigkeit und im Nicht-Teilen-Können von Erfahrungen. Auf den ersten Blick scheint zwischen Emma und Böbe keine vergleichbare Sprachlosigkeit zu herrschen. Die Innigkeit der Beziehung der beiden fällt auch durch eine körperliche Nähe auf, die Jasmin und Tamara nicht in dieser Form teilen. Nicht nur bewohnen die beiden ein kleines Zimmer in einem Heim für Lehrerinnen und Lehrer am Rande der Stadt, auch ihr Intimleben spielt sich aufgrund der eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten in höchster Vertraulichkeit ab. Böbe kommt beispielsweise einmal nachts mit einem Mann nach Hause und schläft mit ihm, während Emma im gleichen Zimmer in ihrem Bett liegt. Das gemeinsame Wochenende im Haus des Schuldirektors Stefanics verbringen die beiden Freundinnen zunächst in großer Harmonie. Während sie am Nachmittag durch die Natur wandern und wie Kinder über einen Hügel tollen, betrinken sie sich am Abend im Doppelbett und plaudern über die Enge ihres Heimatdorfes. Sich über ihre Zukunftswünsche austauschend, erzählt Emma von ihrer Großmutter, die ihr immer wieder gesagt hätte, dass Wissen der größte Wert sei. Dem hält Böbe entgegen, dass sich nur ein bisschen etwas ändern müsse und das Wissen sei über Nacht nichts mehr wert. Aus dem Geplänkel entwickelt sich ein Streit, als Böbe Emma Naivität unterstellt und auf ihre geheime Affäre mit Stefanics anspielt, der sie doch in Wahrheit am liebsten loswerden würde. Wie sich herausstellt, hatte auch Böbe eine kurze Geschichte mit Stefanics, den sie als Feigling bezeichnet, der sich niemals von seiner Frau trennen wird. Nach einer tränenreichen Auseinandersetzung schlafen Emma und Böbe schließlich aneinander geschmiegt ein, nicht ohne einander vorher zu versprechen, dass sie beide nicht mehr mit Stefanics sprechen werden. In beiden Szenen wird deutlich dass Emma/Tamara dem (klein-)bürgerlichen Ideal einer monogamen langjährigen Beziehung und einem ›ordentlichen‹ Leben als valider Teil einer größeren Gemeinschaft jeweils näher sind als Böbe/Jasmin, deren materialistische Weltsicht und hedonistische Züge (bei Böbe durch die Tatsache, dass sie auch vor Prostitution nicht zurückschreckt, bei Jasmin aufgrund ihres familiären deterministischen Hintergrunds15 und der zahlreichen Affären) sie eher einem scheint und dass sie diese im kinematographischen Setting bewusster wahrnehmen als im Dispositiv des Fernsehens mit seiner eher zerstreuten Wahrnehmung. Zu den Charakteristika des Dispositivs Fernsehen vgl. Knut Hickethier: »Dispositiv Fernsehen. Skizze eines Modells.« montage/AV 4, (1995), S. 63-84. 15 Typisch für den Determinismus der Filme von Barbara Albert die Szene, in der Jasmin mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester fernsieht (das beliebte tschechoslowakische TV-Märchen: TŘI OŘÍŠKY PRO POPELKU / DREI HASELNÜSSE FÜR ASCHENBRÖDEL,

ČSSR/DDR 1973, Václav Vorlíček) und sich folgender Dialog entspinnt: Mutter:

»Iss ned so vü, schaut dich ja keiner mehr an.« Jasmin: »Sicher noch mehr wie dich.«

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sozial benachteiligten Milieu zuweisen. Während Emma und Böbe von ihrem Umfeld aber dauernd verwechselt werden, liegt eine Verwechlung von Tamara und Jasmin schon aufgrund ihrer unterschiedlichen Herkunft fern. Die Gleichgetaktetheit, die Szabó bei seinen beiden Protagonistinnen andeutet, hat aber auch damit zu tun, dass es darum geht zu zeigen, wie eine Generation von Ungarn und hier Ungarinnen nach der Wende in die Übergangszeit der 90er Jahre schlittert, die noch geprägt von den Erwartungen an den Kapitalismus und bereits enttäuscht vom Verlust des sinnstiftenden Gefüges des Kommunismus ist. Die Albträume und die Ängste, die Emma ihren Schlaf rauben und die sie nicht ganz einordnen kann, scheinen es zu sein, die Böbe schließlich in den Selbstmord treiben. Wenn Emma am Ende des Films über der sterbenden Böbe kauernd ihr Gesicht küsst und sagt: Aber das ist doch wirklich keine Lösung, dann sagt sie das auch zu sich selbst. Die Verzweiflung ihrer Freundin, die sich ob mangelnder Zukunftsperspektiven aus einem oberen Stockwerk des Lehrerinnenwohnheims stürzt, ist ihr keineswegs fremd. Und wenn wir sie in der letzten Szene als Zeitungsverkäuferin in einer U-Bahn-Unterführung sehen, ist ihre Krise keineswegs überwunden, sondern beginnt vielleicht gerade erst. Die Homogenität dieser bei Szabó geschilderten postsozialistischen Erfahrungen steht bei Albert einer Heterogenität der Lebensentwürfe in einem Wien gegenüber16, das als Sehnsuchtsort und Ziel verschiedener (ost-)europäischer junger Menschen nicht mehr weiß, was war und noch nicht weiß, was sein wird. Die verschiedenen Sprachen und Nationalitäten der Protagonistinnen und Protagonisten, ihre Geschichten werden zur Geschichte dieses Wiens. Bei Szabó kommen nicht-ungarische Protagonistinnen und Protagonisten nur in der Form der männlichen reichen Touristen aus dem Westen in den Blick, die auf der Suche nach dem billigen Abenteuer sind und in der Figur der bettelnden Roma-Frau, die mit ihren Kindern sehr hartnäckig um Geld bittet und die von Emma mit den Worten vertrieben wird: »Ich habe doch selbst kein Geld.« In dieser Szene klingt natürlich auch eine Verschiebung gesellschaftlicher Verhältnisse im Sinne des Kapitalismus an, in der deutliche soziale Differenzen und Gaps an der Tagesordnung sind.

Mutter: »Wirst schon sehen, wenn dir einer von deinen leiwanden Haberern ein Kind anhängt.« 16 Der Zeitpunkt der beiden filmischen Erzählungen liegt übrigens nur zwei Jahre auseinander, NORDRAND spielt 1995 und ÉDES EMMA, DRÁGA BÖBE – VÁZLATOK, AKTOK / SWEET EMMA, DEAR BÖBE - SKETCHES, NUDES spielt 1992.

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Schauplatz Nicht-Ort und »Joining Europe« Die transitären Orte und Räume in ÉDES EMMA, DRÁGA BÖBE – VÁZLATOK, AKTOK / SWEET EMMA, DEAR BÖBE - SKETCHES, NUDES und auch in NORDRAND verweisen auf Zwischenräume, Grauzonen, die sowohl auf vertikaler (räumlich) als auch horizontaler (zeitlich) Ebene in die Narration und ins Bild kommen. Zum einen befinden sich die Protagonistinnen an der Schwelle zum Erwachsenenleben, zum anderen sind die urbanen Szenerien in beiden Filmen gekennzeichnet von einer Offenheit, einer Vorläufigkeit, die mit dem gesellschaftspolitischen Hintergrund der beiden Filme zu erklären ist. Im Fall von NORDRAND verschiebt sich die Perspektive von einem deutlich an architektonischen Symbolen der Stadt erkennbaren mitteleuropäischen Wien (Stephansdom, Riesenrad) an die Peripherie, die soziale Peripherie einer bürgerlichen westeuropäischen Stadt, die geopolitische Peripherie eines Kriegsgebietes, das mehrere Nachbarländer umfasst (Kroation, Bosnien und Serbien). Wien (wie Budapest) werden aber auch als Zwischenstation auf einem Weg kenntlich, der »Joining Europe« heißt. John Cunningham bringt es auf den Punkt: »In the 1990s there was much talk in Hungary and in the other countries of the former Eastern Bloc about ›joining Europe‹, which of course actually meant joining the European Union, as if this would somehow be the final episode in an untroubled, seamless transition from Hungary´s homespun and very much watered-down version of Stalinism to a fullblooded embrace of free-market capitalism.«17

Im Fall von ÉDES EMMA, DRÁGA BÖBE – VÁZLATOK, AKTOK / SWEET EMMA, DEAR BÖBE - SKETCHES, NUDES sind es die Institutionen des Gemeinwesens (Schule, Wohnheim), denen einerseits sozialistische Geschichte eingeschrieben ist und die andererseits auf eine Identität verweisen, die vor dem Hintergrund der politischen Veränderungen keine Sicherheit mehr bietet. Die Flugzeuge, die ständig mit ohrenbetäubendem Lärm über das Wohnheim fliegen und auf die offenen Grenzen hindeuten, auf die Teilhabe an einem geeinten Europa, die Mobilität europäischer Bürgerinnen und Bürger, verweisen gleichzeitig auf die Unmöglichkeit für die beiden Protagonistinnen, selbst in ein solches Flugzeug zu steigen. Ganz einfach, weil sie es sich nicht leisten können. Die Isolation der Protagonistin wird besonders in einer Sequenz deutlich, als Emma mit der Straßenbahn von der Schule in das Wohnheim fährt. Im Vordergrund des Frames sitzt Emma schweigend neben ihrer Arbeitskollegin, einer rund 30 Jahre älteren Lehrerin aus ihrer Schule. Die beiden sind in einem Medium Close Up photographiert und hinter ihnen steht eine 17 Cunningham: The Cinema of István Szabó. Visions of Europe, S. 83.

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Gruppe von laut miteinander diskutierenden Punks. Einer von ihnen zieht abfällig über eine abwesende Person her, die ihn potentiell »bei den Bullen verpfeiffen könnte, dieser Arschwichser.« Schließlich geraten alle in Streit und beschimpfen sich gegenseitig. Die Kamera fokussiert Emmas Gesicht in einem Close-Up. Ihr Gesichtsausdruck deutet weder Abscheu noch Sympathie an, am ehesten Verwunderung über den Kontrast dieser jungen Menschen und der anderen Personen in der Straßenbahn, die durch die Lautstärke der Diskussion selbst daran gehindert werden, sich zu unterhalten, die aber auch nicht eingreifen. Ebensowenig wie übrigens Emma eingreift. Da sie weder zu den griesgrämig schweigenden Kleinbürgerinnen und Kleinbürgern noch zu den wütenden Punks gehört, wird ihre Verlorenheit deutlich. Auch Tamara sehen wir immer wieder in U-Bahnen oder Zügen oder durch Stationen laufen und auch sie wirkt in diesen Settings verloren und einsam. Abbildungen 3, 4: in der U-Bahn – in Budapest, in Wien

Quelle: Screenshots SWEET EMMA, DEAR BÖBE (H 1992), NORDRAND (A 1999)

Während aber bei Szabó die Straßenbahn oder auch das Wohnheim als Nicht-Orte im Sinne von Marc Augé verstanden werden können, wirken die Bahnhöfe, Stationen und die Straßen in Nordrand merkwürdig aufgeladen. Die Stadtkulisse ist ihren Protagonisten gegenüber nicht feindlich verschlossen. In der Selbstermächtigung der eigenen (optimistischen) Erzählung und in der Aneignung des Raums liegt utopisches Potential. Dies wird in den letzten Minuten von Nordrand deutlich, wenn Jasmin über eine Brücke geht unter der Zuggleise sichtbar sind und plötzlich zu laufen beginnt. Die Kraft dieser Bewegung wird auch durch die extradiegetische Musik ausgedrückt und mit dem Sound von Youssou NDour und Neneh Cherrys »7 seconds« ist sie trotz ihres Kampfes plötzlich frei. Ebenso frei ist Tamara, wenn sie in der Disko zu serbokroatischer Popmusik tanzt und der Raum nichts mehr mit der Enge Wiens zu tun hat. Diese transitären Orte sind bei Barbara Albert also nicht notwendig als Nicht-Orte zu verstehen. Marc Augé schreibt:

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»Si un lieu peut se définir comme identitaire, relationnel et historique, un espace qui ne peut se définir ni comme identitaire, ni comme relationnel, ni comme historique définira un nonlieu.«18

Diese Orte weisen sehr wohl identitätsstiftendes Potential auf, sie sind relational und historisch. Ich möchte sie mit Homi K. Bhabha daher eher mit dem Konzept des Third Space begreifen, eines identitätsstiftenden Raumes, dessen Potential seine Hybridität ist: »The process of cultural hybridity gives rise to something different, something new and unrecognisable, a new area of negotiation of meaning and representation.«19 Die geographische Bezeichnung ›Nordrand‹, die als Filmtitel und diegetischer Ort meines Erachtens darauf abhebt, geopolitische Grenzen zu dekonstruieren und Räume mit neuen identitätsstiftenden Bildern und Narrativen zu bespielen, funktioniert ähnlich dem in Kapitel 1.2. aufgegriffendem Konzept der feministisch informierten Transnational Studies, »Eurasia«, das wie ich mit Jennifer Suchland argumentiert habe, eine kritische Denfigur zur Dekonstruktion der Metageographie der Drei Welten ist. Während bei Albert also die urbane Kulisse als »Areal der Verhandlung von Bedeutung und Repräsentation« (siehe Zitat oben) begreifbar wird, scheint bei Szabó die Stadt nur an ihren Rändern durchlässig zu werden. Die Stadt und ihre Infrastruktur sind in ÉDES EMMA, DRÁGA BÖBE – VÁZLATOK, AKTOK / SWEET EMMA, DEAR BÖBE - SKETCHES, NUDES bedrohlich, sie künden vom Tod. Die einzigen Momente, in den Emma und Böbe frei sind, sind jene, die sie am Land verbringen. Bei einem Spaziergang mit Stefancics durch den Wald, der völlig ohne Sprache auskommt, drücken die Mimik und die Gestik von Emma und Stefancic eine Offenheit und eine Neugier aus, ihre Blicke stellen Fragen, die auf der Tonebene durch die laut wirkenden Geräusche des Waldes (Vogelgezwitscher, Wind und Blätterrauschen) und die Musik Schumanns unterstrichen wird. Ähnlich verhält es sich in der weiter oben beschrieben Szene, als Emma und Böbe in schwarzen androgynen Trainingsanzügen über die Wiese in der ungarischen Landschaft laufen und ausgelassen miteinander ringen. Auch hier ist die Weite der Landschaft überwältigend und befreiend und steht im Gegensatz zur Enge der Stadt. Auch hier sind die Geräusche der Natur auf der Tonebene sehr stark (Wind und Grillen), das Motorengeräusch eines Flugzeuges geht hinter den Geräusch der Ebene fast unter, während die Menschen in der Stadt dem Geräusch der Flugzeuge hilflos ausgeliefert sind.

18 Marc Augé: Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité. Paris: Seuil 1992, S. 100. 19 Homi Bhabha, in: Rutherford: »The Third Space – Interview with Homi Bhabha.«, S. 211.

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Abbildung 5: Böbe und Emma in der Natur

Quelle: Screenshot SWEET EMMA, DEAR BÖBE (H 1992)

Noch ein anderer Aspekt scheint mir von einer Offenheit zu künden, die die filmische Narration vielleicht gegen sich selbst erzählt: die Holländerin Johanna Ter Steege musste, da sie des Ungarischen nicht mächtig war, von einer ungarischen Schauspielerin synchronisiert werden. In der Tatsache, dass die Figur der Emma, einer in ihrer Lebensweise und Herkunft typischen jungen Ungarin, von einer Holländerin dargestellt wird, liegt meines Erachtens ein Aspekt jener Hybridität, die Bhabha beschreibt. Wenn wir in ÉDES EMMA, DRÁGA BÖBE – VÁZLATOK, AKTOK / SWEET EMMA, DEAR BÖBE - SKETCHES, NUDES Emma in einem bürgerlichen Wohnzimmer ›sehen‹ und in dem Gespräch von Emma und Stefanics, an das sie sich gerade erinnert, die Stimme von Ildikó Bánsági aus dem Off ›hören‹, kommentiert der Film in einer selbstreferentiellen Geste, die Montage vom Körper der Schauspielerin und einer Stimme, die nicht ihre ist. In der Sprachlosigkeit oder vielmehr in der Stimmlosigkeit dieser Figur liegt das Versprechen einer Utopie. Autoren-Ästhetik Mit seinem Low-Budget-Film, der in kürzester Zeit gedreht wurde und im Gegensatz zu seinen anderen Filmen etwas stärker improvisiert ist20, setzt István Szabó 20 John Cunningham weist im sechsten Kapitel »New Europe, New Hungary, New Problems. Meeting Venus and Sweet Emma, Dear Böbe« darauf hin, dass Szabó prinzipiell ungern vom Drehbuch abweicht und Improvisation ermöglicht. Gleichzeitig betont er, dass dieser Film einer der persönlichsten Filme von Szabó ist, der bei einem

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tatsächlich einen Kontrapunkt in seinem filmischen Werk. Barbara Alberts erster Film hingegen steht paradigmatisch am Beginn eienr Erfolgsserie des österreichischen Kinos, die an ihrem vorläufigen Höhepunkt mit dem Oskar für DIE FÄLSCHER (A 2007, Stefan Ruzowitzky) angelangt ist. Beide Filme sind einem Autorenkino zuzuschreiben, das geprägt von einem politischen Anliegen ist: jenem der systemischen Kritik. Die Protagonistinnen sind Produkte ihrer Zeit und der Verhältnisse, mit denen sie gleichzeitig ringen. Doch während Barbara Albert ihren Protagonistinnen, deren Kindheits- und Jugenerfahrungen sie selbst teilt, näher ist, nimmt die Perspektive István Szabós auf die beiden jungen Frauen eine stärker distanzierte und auch kommentierende Funktion ein. Dies wird bei den stark ästhetisierten Nacktszenen bewusst, bei der Verwendung filmtechnischer Strategien wie der Überblendung von Zeichnung und Bild (»Sketches and nudes« heißt es im Filmtitel), bei der Vewendung asychroner Ton und Bildgebung. Obgleich Szabó in ÉDES EMMA, DRÁGA BÖBE – VÁZLATOK, AKTOK / SWEET EMMA, DEAR BÖBE – SKETCHES viel mit Improvisation gearbeitet hat, scheinen die Szenen von NORDRAND teilweise viel spontaner, manchmal fast dokumentarisch. Das Dokumentarische liegt einerseits in der Mise-en-scène und der Wahl authentischer Props aus den 1980er und 90er Jahren. Andererseist dokumentiert der Film den Pop-Soundtrack der frühen 90er Jahre (»I wish I were an Angel« von The Kelly Family, »All that she wants« von Ace of Bace) und die Musik aus Südosteuropa (I Parazitii, Husein Alijevic, Sapo Perapaskero, Texta, Zana, Dr. Iggy, Mitar Miric), die in den 90er Jahren in den Wiener Diskotheken und Nachtclubs Einzug erhielt. In einer Sequenz bei Jasmin zu Hause taucht in NORDRAND ein weiterer Vertreter der Populärkultur auf: An einem Abend, es ist kurz vor Weihnachten, schauen Jasmin und ihre Schwester das tschechoslowakische Märchen TŘI OŘÍŠKY PRO POPELKU / DREI HASELNÜSSE FÜR ASCHENBRÖDEL [ČSSR/DDR 1973, Václav Vorlíček] in der deutschen Synchronfassung.

Spaziergang durch Budapest auf dem Vörösmarty Tér zufällig einen befreundeten Grundschullehrer traf, der durch das Zeichnen von Touristinnen und Touristen sein geringes Gehalt aufbesserte und nach dessen Geschichte die Geschichte von Emma und Böbe modelliert ist. Vgl. Cunningham: The Cinema of István Szabó. Visions of Europe, S. 92.

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Abbildungen 6, 7: Emma und Böbe vs. Tamara und Jasmin

Quelle: Screenshots SWEET EMMA, DEAR BÖBE (H 1992), NORDRAND (A 1999)

Die Sehnsucht der Protagonistinnen nach dem Märchenprinzen, die hier ironisch kommentiert wird, verbindet die Mutter mit der Tochter, gleichzeitig endet das Märchen aus der Sicht der Mutter vorzeitig, sobald »dir einer ein Kind anhängt«. Am Ende des Films, als genau das Jasmin zum zweiten Mal in kurzer Zeit passiert, steht die Entscheidung im Raum, ob Jasmin das Kind nicht alleine aufziehen soll, mit der Hilfe ihrer Freundin Tamara. So unterschiedlich die beiden Freundinnen sind, so solidarisch verhalten sie sich letztlich zueinander. Für Emma und Böbe gibt es keine positive Utopie, die jenseits der gesellschaftlichen Anerkennung durch Beruf und (Ehe-)Mann läge und der einzige Ausweg aus der Hoffnungslosigkeit Böbes ist für sie daher der Selbstmord.

4.2 DOUBLE FEATURE 2 – LANGEWEILE EINER BLONDINE »Mädchen, jetzt hört doch mal, es gibt sie wirklich, die jungfräuliche Ehre. Wenn ihr so mit ihr umgeht, braucht ihr euch gar nicht zu wundern, wenn euch die Burschen schlecht behandeln. Wenn ihr jeden Tag mit einem anderen geht, ist das bald unter den Jungen bekannt. [...] Ihr wünscht euch einen lieben Burschen, der euch das ganze Leben lang gerne mag. Das müsst ihr euch aber zuerst einmal verdienen! Jetzt denkt doch einmal darüber nach, Mädchen!« LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY / DIE LIEBEN EINER BLONDINE (1965)

»Alles wird heute Nacht passieren. Und ich werde allein und hilflos sein. Heute Nacht!« NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO (2003)

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Erzählungen und Inszenierungen von Heterosexualität Die Gegenüberstellung von NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO (ČR 2003) von Vladimír Morávek und LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY / DIE LIEBEN EINER BLONDINE (ČSSR 1965) von Miloš Forman fokussiert die Frage, wie diese beiden Filme Heterosexualität erzählen und was sie über die Inszenierung von Geschlechterverhältnissen im postsozialistischen Tschechien 2003 (SEX IN BRNO) und in der wenige Jahre vor dem Prager Frühling stehenden Tschechoslowakei 1965 (LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY / DIE LIEBEN EINER BLONDINE) vermuten lassen. Ziel der Analyse ist hier weniger, die Filme auf das repräsentative Potential der historischen Sittenbilder, die sie zeichnen, abzuklopfen. Vielmehr geht es mir darum, den »filminhärenten Brüchen zu hegemonialen Diskursen auf die Spur zu kommen«.21 Die hypothetische Anordnung von LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY / DIE LIEBEN EINER BLONDINE und NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO als Double Feature verweist auf das Moment einer resignifizierenden Wiederholung, auf eine selbstreferenzielle Remediatisierung (im Sinne von J.D. Bolter und Richard Grusin)22. Durch die Sequenzanalyse der Filme, die beide als Hommagen an die Liebe (bzw. das heterosexuelle Begehren) »gegen der Strich« gelesen werden, ergibt sich ein Blick auf die Narration, der sie als Konstruktion heteronormativer Romantikvorstellungen entlarvt, die ihrerseits Vorstellungen des Nationalen mitkonstruieren. Abgesehen von der Zeit, die zwischen den Filmen steht, ist davon auszugehen, dass der Regimewechsels 1990 und die mit ihm einhergehenden gesellschaftspolitischen Veränderungen auf dem ehemaligen Gebiet der tschechoslowakischen Republik eine Transformation von heterosexuellen Narrativen mit sich gebracht haben, die den Fokus der vorliegenden Filmanalysen bildet. Die tschechische Filmkritik hat Vladimír Morávek euphorisch als einen Erben der ›Nová Vlna‹23 rezipiert. Tatsächlich finden sich trotz unterschiedlich konzipierter Plots zahlreiche inhaltliche, semantische und audiovisuelle Zitate von LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY / DIE LIEBEN EINER BLONDINE im Film Moráveks. Die unmittelbare empathische Bezugnahme der Filmkritik auf den Film Formans und die nostalgische Bezeichnung Moráveks als Erbe der ›Nová Vlna‹ (Neue Welle) verweisen auf eine scheinbare Kontinuität im tschechischen Film, die vierzig Jahre Realgeschichte gleichermaßen aushebelt. 21 Andrea Seier: Remediatisierung. Die performative Konstitution von Gender und Medien, S. 21. 22 Vgl. Bolter; Grusin: Remediation: Understanding New Media. 23 Vor allem atmosphärisch und hinsichtlich des Humors der frühen Forman- oder auch Menzel-Filme schließe der Film Vladimír Moráveks an die ›Nová Vlna‹ an, aber auch die beschränkten Produktionsmittel und die radikalen ästhetischen Entscheidungen erinnern an die tschechoslowakischen Filme der 1960er Jahre.

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Das Double Feature der beiden Filme hebt zunächst darauf ab, diese scheinbare Kontinuität zu untersuchen und eventuelle Brüche und Verschiebungen in der Darstellung und Herstellung von Heterosexualität aufzeigen. Zum anderen sollen die für die filmische Konstruktion der geschlechtlichen Identitäten relevanten Kategorien von Zentrum und Peripherie ebenso wie gesellschaftspolitische Transformationen im osteuropäischen Raum in die Analyse der Filme miteinbezogen werden. Meine Argumentation geht von der Prämisse aus, dass Identitäten als narrative Konstrukte gedacht werden sollten, die in engem Zusammenhang mit der Erzählung von Kultur und damit von dominierender Norm stehen. Wolfgang Müller-Funk (2008) beschreibt Kulturen als »Ensembles von Narrativen«24. Kulturen konstituieren sich über narrative Strukturen und diese »sind durch Formen der Medialisierung in den Kulturen präsent und stehen als Repräsentationen zur Verfügung«25. Sie benötigen die Formen der Medialisierung sogar, schreibt Müller-Funk, insofern sie bestimmter Rhetoriken des Erzählens und bestimmter Techniken ihrer Speicherung und Abrufbarkeit bedürfen.26 Der narrative Film als eine Form der Medialisierung eignet sich wie kaum ein anderes Medium dazu, die Erzählung von Kultur als »whole way of life« (T.S. Eliot, R. Williams) zu erzählen. Für die Analyse dieser Narrative beziehe ich mich nicht auf ein poetologisches Verständnis des Narrativs als diachrone Entfaltung einer von Figuren getragenen Handlung. Vielmehr orientiere ich mich an einem – an Lévi Strauss´ Konzept des Mythème angelehnten – Verständnis des Narrativs als paradigmatische Verbreitung semantischer Makroeinheiten.27 Die Verbreitung und Funktion eines solchen Narrativs wird dann sichtbar, wenn ein Paradigmenwechsel eintritt. Erst dann wird kenntlich, dass das Narrativ identitätsstiftende Funktion hat. Es geht mir nicht um eine Destillierung geschlechtlicher oder nationaler Identitäten aus dem Geflecht der filmischen Narration. Rückschlüsse auf die realen gesellschaftlichen Kontexte erlauben diese Narrative nur bedingt. Am ehesten versuche ich mittels des Sequenzvergleichs in die filmischen Herstellungsweisen dieser Identitäten zu inter24 Müller-Funk, Wolfgang: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Wien: Springer 2008, S.171. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Vgl. Lévi-Strauss, Claude: Anthropologie structurale, Plon 1958, S.241-246; De Lauretis, Teresa: Alice doesn´t. Feminism, Semiotics, Cinema. Indiana University Press 1982, S. 104. Das Mythème (in Anlehnung an Phonem, Morphem, Semem) hat bei Lévi-Strauss strukturelle, konstitutive Bedeutung in Bezug auf den Mythos. Der Mythos, ein Sprachgebilde, besteht aus kombinierten, gebündelten semantischen Einheiten, den Mythèmes, die seine Grundlage bilden. Erst die Relationen unter den Mythèmes ergeben in ihrer Bündelung die Bedeutung des Mythos.

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venieren28 und ihre semiotischen Codes zu dechiffrieren. Die beiden SchwarzWeiß-Filme erzählen die Geschichte einer Initiation, wobei in LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY / DIE LIEBEN EINER BLONDINE ein Paar und in NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO mehrere Paare im Zentrum der Narration stehen. Der Film Formans ist im Genre der Tragikomödie angesiedelt, die Darsteller und Darstellerinnen sind zu einem großen Teil Laien.29 Der Film Moráveks gehört dem Genre der (romantischen) Komödie an, im Presseheft wird er »mit Augenzwinkern als optimistische Tragikomödie« angekündigt.30 Das Drehbuch, das Vladimír Morávek gemeinsam mit dem Hauptdarsteller Jan Budař verfasst hat, beruht auf einer Erzählung von Jan Budař alias Pavel Bedura namens Standa debütiert. Die Kernbesetzung von NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO setzt sich großteils aus Theaterschauspielern und schauspielerinnen des Klipcera Theaters in Hradec Králové in Nordost-Böhmen zusammen, dessen Intendant Morávek ist. Lieben des Zentrums und Lieben der Peripherie LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY / DIE LIEBEN EINER BLONDINE spielt zu einem großen Teil in der ca. 60 km von Prag entfernten Kleinstadt Zruč. Dort lebt Andula, titelgebende Blondine31, und erlebt erste amouröse Abenteuer mit dem anderen Geschlecht. Andulas Alltag ist von der Arbeit in der ortsansässigen Schuhfabrik, dem Internatsleben mit den anderen Mädchen und den geheimen und halboffiziellen Rendez-vous mit ihren Liebhabern geprägt. Die Begegnung mit dem Pianisten aus der Hauptstadt, Milda (Vladimír Pucholt), wird jedoch alles andere in den Schatten stellen. Beim Ball mit den Reservisten aus dem Nebenort, wo Milda auftritt, lernen die beiden sich kennen und verbringen eine Liebesnacht miteinander, die nicht ohne Folgen bleibt. Schwanger ist Andula zwar nicht, aber ernsthaft verliebt! 28 Vgl. Braidt: Film-Genus. Gender und Genre in der Filmwahrnehmung, S. 67. 29 Professionelle Schauspieler und Schauspielerinnen sind u.a. Vladimír Pucholt, Hana Brejchová, Vladimír Menšík. Zur Zusammenarbeit mit Laien und professionellen Darstellern und Darstellerinnen, vgl. Miloš Forman, Jan Novák: Rückblende. Erinnerungen. Heyne Verlag, München 1994, S. 193 f. 30 Vgl. das deutsche Presseheft des Filmes: https://archiv.polyfilm.at/sex_in_brno/PHSexInBrno.pdf, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 31 Hana Brejchová ist hier in ihrem vielversprechenden Spielfilmdebüt zu sehen. Zu dem Zeitpunkt, als Miloš Forman die Achtzehnjährige für die Rolle der Andula entdeckte, war er mit ihrer älteren Schwester, Jana Brejchová, verheiratet, die in der Folge die weitaus erfolgreichere Karriere im tschechischen Film und Fernsehen absolvierte. Vgl. Miloš Formans Official Website, http://milosforman.com/en/movies/loves-of-a-blonde, [letzte Sichtung am 18.03.2020].

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Und so macht sie sich auf den Weg nach Prag und steht eines Abends sehr zur Verwunderung von Mildas Eltern (Milada Ježková, Josef Šebánek) in der elterlichen Wohnung, wo sie, ängstlich auf Milda wartend und von der Mutter missgünstig beäugt, die Nacht verbringen wird. NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO – der Originaltitel bedeutet übersetzt Langeweile in Brünn – privilegiert vor einer Protagonistin einen Schauplatz: Brünn ist hier mehr als eine Kulisse, Brünn ist ein Lebensstil. Der diegetische Zeitraum ist eine Nacht, eine Nacht, die einen Wendepunkt im Leben der Protagonisten und Protagonistinnen darstellt und die andererseits auch nicht anders ist als eine Nacht wie tausend andere Nächte davor oder danach. Die Nacht der Nächte soll es aber zunächst für Olinka (Kateřina Holánová) und Standa (Jan Budař) werden, die sich vor einem Jahr bei einem Sportfest kennen gelernt haben und sich seither Briefe schreiben. Olinka plant gemeinsam mit ihren Freundinnen diese erste Liebesnacht, sie erfährt von jeder etwas anderes: wie sie sich am besten beim Liebesakt verhalten soll, worauf sie bei der Verführung Standas achten muss oder aber was der optimale Soundtrack für das Ereignis i st. Auch andere Paare finden in dieser Nacht in Brünn zu- oder auch gleich wieder auseinander. Obwohl sie auf die Diegese von NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO keinen oder nur geringen Einfluss nimmt, ist doch die Tatsache, dass der Protagonist und die Protagonistin des Films als Menschen mit mentaler Behinderung dargestellt werden, für die Gegenüberstellung der beiden Filme im Double Feature von zentraler Bedeutung. Im Presseheft erzählt Vladimír Morávek, dass die beiden Figuren ursprünglich nicht als Menschen mit Behinderung konzipiert waren. Aufgrund einer Begegnung mit einem jungen Mann in Karlsbad, der »geradezu [als] der Prototyp von Standa« erschien, »ungeschickt, aber in gewissem Sinne auch frech und ungelenk«32, entschloss sich das Filmteam dazu, die Hauptfiguren, ohne dass im Film ein Wort darüber fiele, als Menschen mit Behinderung darzustellen. Auf die Implikationen dieser ›Entscheidung‹ in Bezug auf die Darstellung stereotyper Vorstellungen heterosexueller Romantik, werde ich noch zurückkommen. Im Folgenden sollen drei Sequenzen von LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY / DIE LIEBEN EINER BLONDINE und NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO jeweils verglichen und zueinander in Bezug gesetzt werden. Ziel des Vergleiches ist es, zu zeigen, wie sich beide Filme zentraler Narrative von Zentrum und Peripherie und gesellschaftspolitischer Transformationen auf der Folie von Heteronormativität bedienen.

32 Wer dieser rätselhafte junge Mann war und ob er selbst eine Behinderung aufwies, wird aus dem Kontext nicht klar. Es könnte sich dabei allerdings auch um ein Spiel mit der Alias-Identität von Jan Budař/ Pavel Bedura handeln. Vgl. https://archiv.polyfilm.at/sex_in_brno/PHSexInBrno.pdf, [letzte Sichtung am 18.03.2020].

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Flüsternde Mädchen: Nähe und Distanz über das Foto In beiden Filmen findet sich eine Szene von Intimität und Vertrautheit zwischen zwei Freundinnen: Zu sehen ist die Protagonistin jeweils mit einer Freundin im Bett, heimelige Stimmung. Es wird geflüstert, in einem Fall, weil die anderen Internatsbewohnerinnen schon schlafen, im anderen Fall, damit der neugierig und misstrauisch vor der Tür auf und ab schleichende Liebhaber der Freundin nicht hört, was gesagt wird. In LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY / DIE LIEBEN EINER BLONDINE werden erste amouröse Erlebnisse und Fantasien erzählt, in NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO erhält die Protagonistin eine Anleitung, wie sie sich in der ersten Liebesnacht mit Standa verhalten soll. Es handelt sich bei dieser Szene der flüsternden Mädchen um das augenscheinlichste audiovisuelle Zitat des FormanFilms. In LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY hat die Szene die Funktion eines Leitmotivs und kommt wiederholt vor. Die Erlebnisse Andulas werden immer wieder mit ihrer Erzählung darüber kontrastiert. Die ›flüsternden Mädchen‹ als Motiv kommen übrigens auch in einem weiteren bekannten Film der ›Nová Vlna‹, den SEDMIKRÁSKY / TAUSENDSCHÖNCHEN (ČSSR 1966) von Vĕra Chytilová vor. Auch hier oszilliert das Motiv der flüsternden Mädchen zwischen romantisch verklärter Schüchternheit und der angedeuteten lesbisch-subversiven Intimität der Beziehung. Während das Flüstern in LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY / DIE LIEBEN EINER BLONDINE noch stärker ein mädchenhaftes, verhalten kokettes ist, hat es in NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO eher ausschließende Funktion. Abbildungen 8, 9: Flüsternde Mädchen

Quelle: Screenshots DIE LIEBEN EINER BLONDINE (ČSSR 1965), SEX IN BRNO (ČR 2003)

Eine besondere Rolle kommt in dieser Szene einem Foto zu, das im Film Formans als trennendes und im Film Moráveks als verbindendes Moment gelesen werden kann. In LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY / DIE LIEBEN EINER BLONDINE berichtet Andula von ihrer neuesten Eroberung und zeigt das Bild des Auserwählten und den

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Ring, den er ihr geschenkt hat. Es geht darum, sich vor der anderen zu profilieren, die ›Erwachsenere‹ zu sein, Teil von etwas zu sein, an dem alle teilhaben wollen. Das Bild des jungen Mannes repräsentiert das Ziel, das beide Mädchen zu erreichen suchen, das gemeinsam Begehrte, das sie gleichzeitig aber auch trennt und zu Konkurrentinnen in einem umfassenderen Spiel macht.In der zitierten Szene in NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO ist die Stimmung ebenso intim, jedoch weniger feierlich. Man hält sich nicht mehr lange mit Photos und Ringen des Auserwählten auf, man spricht und berät sich über ›das erste Mal‹. Der bei dieser nüchternen und nicht zimperlichen Anleitung zur Sache überflüssige Liebhaber der älteren Freundin wird kurzerhand des Zimmers verwiesen, als er den geflüsterten Geheimnissen auf den Grund kommen will. Nicht ehrfürchtig und naiv wird hier die Initiation (geradezu ein ›rite de passage‹) vorbereitet, sondern selbstbewusst und abgeklärt. Das Foto des begehrten Objekts in LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY / DIE LIEBEN EINER BLONDINE ist in NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO dem Fotocover eines Bildbandes von Helmut Newton gewichen, auf dem zwei Frauen sich einander mit nackten Oberkörpern zugewandt berühren. Als Spiegel der Schauspielerinnen weist das Foto auf ein potentiell homoerotisches Moment im Gespräch zwischen den beiden Frauen hin. Ihre Verbundenheit wird durch die schroffe Abweisung des Liebhabers noch betont.33 Die in beiden Sequenzen ironisch inszenierte Abbzw. Anwesenheit des Mannes weist auf einen Paradigmenwechsel in den Geschlechterverhältnissen hin: Der abwesende idealisierte Held von 1965 ist 2003 dem manipulierbaren, etwas lästigen Nebendarsteller gewichen. In beiden Filmen werden Narrative der Initiation in Szene gesetzt, die, insofern sie von einer heterosexuellen Matrix ausgehen, natürlich eine Initiation in die Heterosexualität meinen. Während im Film Formans die Initiation vor dem Hintergrund einer verschlafenen kommunistischen Dorfgemeinschaft und einer als Fluchtpunkt imaginierten Großstadt stattfindet, haben sich Zentrum und Peripherie bei Morávek zunächst einmal geographisch verschoben. Nach der Wende ist Brünn von der regionalen Provinzstadt (in Zeiten des Kommunismus galt es allemal als Station zwischen Prag und Pressburg) wieder zur europäischen Kulturstadt aufgestiegen. Dennoch liegt es im internationalen und westlich orientierten Mental Mapping an der europäischen Peripherie. Diese Situation einer Stadt, die zwischen vergangenem Ruhm und Provinzialität schwankt, reflektiert NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO auch durch die Ausstattung bzw. den Soundtrack des Films. 33 Andererseits liegt ein ironisches Moment in der Konfrontation der beiden zwillingshaften, kühlen Blondinen, von denen eine (noch dazu) eine Schaufensterpuppe ist, und die einen Westen repräsentieren, der unpersönlich, künstlich und asexuell (lesbisch) ist mit den beiden lebendigen und sinnlichen (heterosexuellen) Frauen, die sich darin üben, wie man den Namen des begehrten Mannes beim Sex am besten stöhnen solle.

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Einerseits haben wir es mit knalligen Interieurs, ausgesucht originellen Outfits zu tun, andererseits mit einem tschechoslowakischen Soundtrack der 1960er Jahre. Auch auf einer sozialen Ebene hat eine Verschiebung stattgefunden, die, wie ich meine, ebenfalls mit dem Begriffspaar von Zentrum und Peripherie gefasst werden kann. Wenngleich LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY / DIE LIEBEN EINER BLONDINE in der geographischen und politischen Peripherie angesiedelt ist, so positioniert sich der Film doch sozial im Zentrum der Norm. Der engagierte Fabriksleiter möchte ›seinen Mädchen‹ dazu verhelfen, ein bisschen Licht in ihren grauen Fabriksalltag zu bringen. Also werden die Soldaten der benachbarten Garnison eingeladen. Es versteht sich von selbst, dass alle Beteiligten von dieser Einladung begeistert sind. NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO entscheidet sich hingegen für die Fokussierung des Randes, der Minderheit. Das Liebespaar in NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO besteht eben nicht aus den sprichwörtlichen ›ganz normalen‹ Jugendlichen von nebenan. Die Familien und die Freunde des Paares blenden die Tatsache der Behinderung weitgehend aus. (Heterosexuelle) Liebe und (heterosexuelles) Begehren werden als universell, als mentale und soziale Unterschiede überschreitend angenommen. Die Handlungen und Reaktionen des Umfelds entsprechen also exakt dem Erwarteten. Nicht so die Handlungen und Reaktionen des Liebespaars. Standa und Olinka handeln nicht nach ihrem Instinkt, nicht nach einem Trieb, sie imitieren vielmehr, was ihnen von ihrem Umfeld vermittelt wird. Diese Identifizierung durch Mimesis unterläuft aber gerade die Annahme, dass Heterosexualität ›das Natürlichste der Welt‹ sei, bzw. sich von selbst versteht. Es lässt sich also ein Verfremdungseffekt im Sinne einer Inszenierung von Genderrollen feststellen, der auf eine Sichtbarmachung der Konstruktivität heterosexueller Verhaltensweisen und -normen abzielt. Erziehung von Mädchen in Böhmen – die Lehrerin Der Szenenkomplex zwei, benannt nach der 1994 erschienenen Novelle34 des tschechischen Bestseller-Autors Michal Viewegh, dessen Bücher in den letzten Jahren mehrfach als Grundlagen erfolgreicher Spielfilme35 fungiert haben, stellt der namenlosen Genossin Erzieherin aus LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY / DIE LIEBEN EINER BLONDINE die Psychologin Vlasta Kulková (Pavla Tomicova) aus

34 Deutscher Titel des 1999 in deutscher Sprache erschienen Skandalromans von Michal Viewegh: Výchova dívek v Čechách. Prag: Petrov 1994. 35 Zum Beispiel: VÝCHOVA DÍVEK V ČECHÁCH / ERZIEHUNG VON MÄDCHEN IN BÖHMEN (ČR 1997, Petr Koliha), BÁJEČNÁ LÉTA POD PSA / WUNDERBARE HUNDEJAHRE (ČR 1997, Petr Nikolaev), ROMÁN PRO ŽENY / ROMAN FÜR FRAUEN (ČR 2005, Filip Renč).

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NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO gegenüber, die sich ihren Lebensunterhalt durch Vorträge an der Volkshochschule verdient. Abbildungen 10, 11: Die Lehrerin

Quelle: Screenshots DIE LIEBEN EINER BLONDINE (ČSSR 1965), SEX IN BRNO (ČR 2003)

Während die Genossin Erzieherin die Internatszöglinge über die »Ehre der jungen Mädchen« aufklärt, appelliert die Psychologin an die Frauen, sich über ihre sexuellen Wünsche klar zu werden, ohne dabei den Orgasmus des Mannes aus den Augen zu lassen. Die namenlose Erzieherin verkörpert kompromiss- und humorlos die Prüderie und Bigotterie des Systems, die darin gipfelt, dass über ihre Empfehlung, sich zu bessern, im Plenum der Internatszöglinge abgestimmt wird. Als könnte sich eines der Mädchen frei dafür entscheiden, schlecht bleiben zu wollen. Als stünde die freie, willentliche Entscheidung zur oder gegen die Besserung über der Autorität der ›Genossin‹ Erzieherin. Die Psychologin Vlasta Kulková gehört ihrerseits aufgrund ihrer Bildung und ihres gesellschaftlichen Umfelds der Generation befreiter Frauen an. Aufgeklärt und selbstbewusst spricht sie über Frauen und Männer. Darüber, wie frau mit einem Mann glücklich wird. Ihre Expertise lockt allerdings kaum ein Dutzend Frauen in den Hörsaal. Und auch der Ausschnitt aus ihrem Leben in NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO zeigt vielmehr eine in Konventionen gefangene als davon befreite Frau. Die LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY / DIE LIEBEN EINER BLONDINE sowie NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO bedienen hier das sehr produktive und sehr komplexe Stereotyp der mehr oder weniger emanzipierten, mehr oder weniger tugendhaften, mehr oder weniger unerotischen und vor allem traurigen Gestalt der ›Lehrerin‹. Auch motivgeschichtlich handelt es sich bei der Figur der Lehrerin um eine symbolisch stark aufgeladene Figur. Die Genossin Erzieherin mag von der Ehre jungfräulicher Mädchen und die selbstständige Psychologin Vlasta Kulková von der Selbstverwirklichung moderner Frauen predigen, semantisch bewegen sie sich in ein und demselben Bedeutungsrahmen. Es würde allerdings zu kurz greifen, in den beiden

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Figuren lediglich stereotype Darstellungen von Frauen in verschiedenen historischen Kontexten zu lesen. Bei Forman ist die Genossin Erzieherin ja vor allem als ein Teil und auch als Auswuchs einer totalitären Ideologie zu begreifen, die es durch die ironische Inszenierung dieser absurden Szene auch zu subvertieren gilt. Ich würde also meinen, dass in diesem Fall die undifferenzierte Darstellung der Genossin Erzieherin auch als widerständige Praxis in Bezug auf das System gelesen werden muss. In NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO wiederum ist Vlasta Kulková nicht die einzige ›traurige Gestalt‹: Das Festhalten an den Konventionen ihrer Männlich- und Weiblichkeiten, hat sich geschlechtsunabhängig für die Figuren als leerer Wahn erwiesen. Obwohl sie ganz genau zu wissen meinen, wie sie sich verhalten sollten, was es für sie bedeutet, eine Frau oder ein Mann zu sein, gelingt es ihnen nicht so recht, glücklich zu sein. Die stereotype Darstellung dieser Figuren kann also auch als Kritik an Heteronormativität gelesen werden. Vlasta Kulkovás frustriertes Liebesleben wird in der Szene deutlich, als ihre wortstark proklamierte Freizügigkeit bei ihrem Liebhaber (Miroslav Donutil) zu zeitweiliger sexueller Impotenz führt. Honza (Pavel Liška) der heterosexuelle Macho wiederum, der mit seinem besten Freund Pavel (Filip Rajmont), von Kneipe zu Kneipe zieht, ist von den Frauen besessen und spricht unablässig über seine potentiellen Eroberungen. Allerdings hat er kategorisch keinen Erfolg bei den Frauen und muss sich letztlich eingestehen, dass er sich in seinen besten Freund verliebt hat. Dem Frau- und dem Mann-Sein, wie es von Normen und Konventionen überformt ist, scheint konstitutiv auch der Bruch mit der Inszenierung dieser Normen und Konventionen zugrunde zu liegen. Familien und Idyllen: Narrative familiärer Autorität Aus dem dritten Szenenkomplex habe ich zwei einander ebenfalls formal und semantisch stark ähnelnde Szenen ausgewählt, die auf jeweils unterschiedliche Art und Weise familiäre Strukturen in Szene setzen. In beiden Filmen taucht einmal nach und einmal vor der Peripetie der Handlung – die Liebesnacht als Höhepunkt der Initiation – eine Situation der Legitimierung auf. In LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY / DIE LIEBEN EINER BLONDINE begibt sich Andula nach Prag, um dem Angebeteten nahe zu sein und trifft in der elterlichen Wohnung Milda´s Eltern. In NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO wird der potentielle Liebhaber, Standa, kurz vor dem großen Akt noch einmal bei den FreundInnen Olinkas vorstellig. Während die Eltern (vor allem die Mutter Mildas) sich nicht genug darüber wundern können, dass ein fremdes Mädchen aus Zruč mit Koffer und ohne Plan die Nacht in ihrer Wohnung und mit ihrem Sohn verbringen wollte, erkundigen die FreundInnen Olinkas sich lediglich lapidar, wo der gutaussehende Bruder von Standa

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die Nacht zu verbringen gedenke. Letztlich wird die schlagfertige Jitka (Simona Peková) Standas Bruder (Martin Pechlát) verführen und auf diese Weise Teil des Reigens der Paare werden, die in dieser Nacht in Brünn zusammen sind. Narrative familiärer Autorität und deren Unterwanderung bilden den Subtext dieser beiden Szenen. Während in Formans Film die familiären Strukturen klar an jene einer Kleinbürgerfamilie gebunden sind, scheint Morávek durch den Akt des Zitats eine Verschiebung familiärer und freundschaftlicher Strukturen andeuten zu wollen. Die Legitimierung der Wahl des Sexualpartners erfolgt nicht mehr durch die elterliche Autorität – die wird in NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO durch Schlafmittel ruhig gestellt – sondern durch eine Art freundschaftliches Ritual, in dem die traditionelle Rolle der Eltern gleichzeitig imitiert, persifliert und neu interpretiert wird. Abbildungen 12, 13: Familie/n

Quelle: Screenshots DIE LIEBEN EINER BLONDINE (ČSSR 1965), SEX IN BRNO (ČR 2003)

Eine Hommage an das Leben nannte die zeitgenössische Filmkritik Miloš Formans Film LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY / DIE LIEBEN EINER BLONDINE. Es wäre noch treffender, von einer Hommage an die Heterosexualität zu sprechen. Der Film Vladimír Moráveks NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO wiederum, und das sollte der vorliegende Beitrag zeigen, kann als eine Hommage an heterosexuelle Praktiken, aber auch als eine subtile (oder unbeabsichtigte) Kritik an Heteronormativität gelesen werden. Die Erzählung der ›uralten Geschichte eines Mannes und einer Frau‹ im Kontext zweier außerhalb der Norm angesiedelter Individuen lässt sich als Dekonstruktion heteronormativer Romantikvorstellungen lesen und ermöglicht einen differenzierteren Blick auf die Thematik von Sexualität und Gesellschaft. Was Vladimír Morávek als individuelle künstlerische Entscheidung darstellt, könnte auch als eine durch die Entwicklung der Geschlechterverhältnisse aufgekommene Notwendigkeit gedeutet werden. Vielleicht ist es nach Jahrzehnten feministischer Kritik nicht mehr möglich, die ›boy meets girl‹ Geschichte mit

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unveränderten Narrativen von Männlichkeit und Weiblichkeit zu erzählen. Denn auf der Ebene gesellschaftspolitischer Transformationen ist es eben jener Paradigmenwechsel, mit dem die Entwicklung und die Differenzierung der Kategorie Geschlecht einhergeht, der die scheinbare Kontinuität zwischen LÁSKY JEDNÉ PLAVOVLÁSKY / DIE LIEBEN EINER BLONDINE und NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO unterbricht und der die Erzählungen von Heterosexualität als identitätsstiftende Narrative kenntlich macht.

4.3 DOUBLE FEATURE 3 – AMATEUR HÜHNER Als Filip von seinem Treffen mit dem Fernsehredakteur nach Hause kommt, überrascht er seine Frau dabei, wie sie ihre Koffer packt. Die gemeinsame Tochter hat sie schon zu ihrer Mutter gebracht. Filip ist wütend darüber, dass Irena ihn verlassen will. Filip: »Was ist los?« Irenka: »Nichts.« Filip: »Was heißt nichts?« Irenka: »Nichts eben.« Pause. »Ich ziehe zu meiner Mutter.« [...] Filip außer sich: »Aber warum denn jetzt? Wo es langsam gut läuft für mich. Wo ich endlich kapiert habe, worum es in diesem beschissenen Leben geht. Wo ich endlich weiß, wozu ich lebe. Ich habe das doch alles für euch gemacht. Warum jetzt?« Irenka: »Mir geht es um etwas Anderes.« Filip: »Um was denn?« Irenka: »Mir geht es um das, was dir auch wichtig war, am Anfang: um Zufriedenheit und Ruhe.« Filip: »Das ist doch Quatsch! Du liebst mich einfach nicht.« Irenka: »Das wäre am einfachsten.« Irenka dreht sich um. Filip formt mit seinen Fingern einen Kader und filmt Irenka, wie sie das Zimmer verlässt. AMATOR / CAMERA BUFF (1979) Magda hat ihre Kamera auf dem Kühlschrank positioniert, so dass sie auf Wojtek gerichtet ist. Es entspinnt sich ein Streit um das neue Hemd, das sie Wojtek geschenkt hat und das ihm nicht gefällt. Magda: »Gib mir das Hemd zurück.« Wojtek: »Was soll das jetzt?« Magda: »Gib es mir zurück.« Wojtek: »Aber es geht nicht um das Hemd, das weißt du.« Langes Schweigen. Magda: »Worum geht es?« Wojtek: »Das weißt du nicht? Du liebst mich nicht mehr.« Langes Schweigen. Wojtek: »Stimmt´s?« Marta: »Ich weiß es nicht!« Wojtek: »Was weißt du? Magda, schau dir an, wie wir leben! ich kann so nicht weiter. Schau dir dieses Chaos an, so sieht unser Leben aus. Ich halte das nicht mehr aus. Wo sind wir? Wo? Bist du überhaupt da? Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll.« MOJE PIEZCONE KURCZAKI / MY ROAST CHICKEN (2002)

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Filmische Hybridität als transnationales Apriori Obwohl er bereits mit seinen ersten nichtdokumentarischen Filmen, PERSONEL / DAS PERSONAL (TVP 1975) und BLIZNA / DIE NARBE (PL 1976), dann als Vertreter des sogenannten Kinos der moralischen Unruhe36 und als erfolgreicher Regisseur französischsprachiger und in Frankreich produzierter Filme37 in die europäische Filmgeschichte einging, ist die Entwicklung und der Status des französischpolnischen Filmemachers Krzysztof Kieślowski zumindest in Polen auf interessante Weise ambivalent. Als den ›Sänger kommunistischer Tränen‹ bezeichneten Krzysztof Kieślowski seine Kollegen, nachdem sein Film AMATOR / CAMERA BUFF (PL 1979) beim Moskauer Filmfestival den Hauptpreis erhalten hatte.38 Wiewohl der Film Publikum und Kritik überzeugte, schien er polnischen Filmemacherinnen und Filmemachern im Umfeld von Agnieszka Holland und Andrzej Wajda zu wenig kritisch gegenüber dem kommunistischen Regime. In seinem Anspruch, alle Seiten des Konflikts sichtbar machen zu wollen und selbst den sozialistischen Kader noch in seiner menschlichen Ambivalenz zu zeigen, habe sich Kieślowski in eine Art Relativismus verlaufen, der ihm kurzfristig eher geschadet habe, erklärt Agnieszka Holland ihrem französischen Interviewpartner.39 Auch 36 Zu Kieślowskis Filmen des Kino moralnego niepokoju (dt. Kino der moralischen Unruhe, engl. Cinema of moral anxiety) zählen neben dem hier behandelten Film AMATOR / DER FILMAMATEUR (PL 1979) auch PRZYPADEK / DER ZUFALL MÖGLICHERWEISE (PL 1981), BEZ KOŃCA / OHNE ENDE (PL 1984), KRÓTKI FILM O ZABIJANIU / EIN KURZER

FILM ÜBER DAS TÖTEN (PL 1987), KRÓTKI FILM O MIŁOŚCI / EIN KURZER FILM

ÜBER DIE LIEBE (PL 1988) und

die TV-Serie DEKALOG (TVP 1988), mit der die Bewe-

gung des Kinos der moralischen Unruhe endete. Vgl. Margarete Wach: Krzysztof Kieślowski. Kino der moralischen Unruhe. Köln: KIM-Verlag 2000; Wach: Krzysztof Kieślowski. Zufall und Notwendigkeit. 37 Beispielsweise LA DOUBLE VIE DE VERONIQUE / DIE ZWEI LEBEN DER VERONIKA (F 1991), TROIS COULEURS: BLEU / DREI FARBEN: BLAU (F 1993), TROIS COULEURS: BLANC / DREI FARBEN: WEIß (F 1994) und TROIS COULEURS: ROUGE / DREI FARBEN: ROT (F 1994). 38 Das erzählt Agnieszka Holland in einem Interview auf der Kauf DVD Artificial Eye: Krzysztof Kieślowski, Camera Buff. 39 Hier Agnieszka Holland im Wortlaut: »C´était une petite ombre, ce prix de Moscou, et surtout comme le film a essayé de ne pas être manichéen et que le film montre par exemple les raisons des gens qui représentent les autorités communistes dans une façon beaucoup plus ambigue et beaucoup plus complexe que c´était le cas dans les autres films comme L´HOMME DE MARBRE, par exemple, ou les films de Zanussi. Je me souviens que je pensais qu´il s´est un peu trompé dans l´équilibre. On avait des discussions

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Krzysztof Zanussi beschreibt in einem Interview, wie der Preis des Moskauer Filmfestivals der internationalen Wahrnehmung der Filme Kieślowskis zunächst eher im Weg gestanden habe, da westliche Kritiker der Ansicht gewesen seien, dass es sich bei Kieślowski vor allem um einen lokalen Künstler handelt, der keine universelle (i.e. über die Grenzen des Ostblocks hinausgehende) Reichweite für seine Filme beanspruchen kann.40 Erst mit dem in Cannes gezeigten Fernsehfilm DEKALOG (TVP 1988) konnte Kieślowski ein internationales Publikum erreichen. Zanussi bezeichnet diesen verhältnismäßig spät eingetretenen Erfolg Kieślowskis als dessen größte persönliche Tragödie.41 Der Einfluss des relativ jung verstorbenen Regisseurs auf das junge polnische und das europäische Kino bleibt jedoch ungebrochen, wie zahlreiche einschlägige Publikationen42 belegen. Der 2009 erschienene und von Steven Woodward herausgegebene Band After Kieślowski. The Legacy of Krzysztof Kieślowski43 folgt in drei Kapiteln den Spuren des Kinos von Krzysztof Kieślowski in Polen (Part I. The Polish Legacy), in Europa (Part II. The European Legacy) und in der Welt (Part III. The Global Legacy). In den äußerst erhellenden Beiträgen werden Einflüsse des und auf das Kino Kieślowskis in einer die Spezifika nationaler Kinematographien überwindenen Perspektive analysiert und das visuelle Erbe von Jean-Luc Godard bis Abbas Kiarostami, die Verwandtschaft der Filme Michael Hanekes und Kieślowskis ebenso untersucht wie die metaphysischen Aspekte spezifischer Produkte des US-amerikanischen Quality TV, zum Beispiel der HBO-Serie SIX FEET UNDER (HBO 2001-2005, 5 Staffeln). Die in der Tat erstaunlich breite Rezeption der Filme von Krzysztof Kieślowski, die assez fortes dessus. Je trouvais qu´il... en essayant d´être juste et de ne pas entrer dans la peau d´un juge, mais de voir les raisons pourquoi les gens doivent faire ce qu´ils font, il a un tout petit peu dépassé la frontière.« Agnieszka Holland in einem Interview auf der Kauf DVD Artificial Eye: Krzysztof Kieślowski, Camera Buff. 40 Krzsysztof Zanussi in einem Interview auf der Kauf DVD Artificial Eye: Krzysztof Kieślowski, Camera Buff. 41 Selbst nach seinem Tod ist die Bedeutung Kieślowskis in Polen umstritten. Polnische Filmkritiker bleiben, wie Steven Woodward schreibt, skeptisch gegenüber dem internationalen Ruhm des Regisseurs und der Tatsache, dass er sich in seinen Filmen nach seiner Emigration nicht mehr der polnischen Geschichte widmete und den Realismus aufgab, mit dem er seine Karriere begann. Vgl. Steven Woodward (Hg.): After Kieślowski. The Legacy of Krzysztof Kieślowski. Detroit: Wayne State University Press 2009, S. 5. 42 Vgl. Woodward (Hg.): After Kieślowski. The Legacy of Krzysztof Kieślowski; Emma Wilson: Memory and Survival. The French Cinema of Krzysztof Kieślowski. London: Legenda 2000. 43 Woodward (Hg.): After Kieślowski. The Legacy of Krzysztof Kieślowski.

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wie die Autorinnen und Autoren des Buches betonen, noch nicht am Ende angelangt sei, erlaubt eine produktive Diskussion nationaler Kinematographien einerseits und transnationaler filmwissenschaftlicher Zugänge andererseits: »Evidently much work is still to be done... on the influence Kieślowski will have had on the future development of French national cinema. Such a prospective survey... might again open new ways of thinking about hybridity in film and about how national cinemas are always already open to infiltration and identificatory mechanisms whereby what is alien is absorbed, repeated, and reproduced.«44

Diese prinzipielle Hybridität von nationalen Kinematographien und ihre Offenheit dem gegenüber, was Woodward als »infiltration and identificatory mechanisms« (siehe Zitat oben) bezeichnet, ist es, die auch im Zentrum der Analysen der Filme und TV-Produktionen steht. Diese Auffassung opponiert gegen eine Auffassung, für die das Nationale eine klar definierbare und abzugrenzende Eigenschaft von Film sein kann und muss. Die Herausforderung, der sich die osteuropäischen Kinematographien nach 1989 zu stellen hatten, beschreibt zum Beispiel Marek Haltof als das Problem, »to find a new voice to adequately express the ›national‹ while incorporating other cinematic discourses.«45 In der Beschreibung dieses scheinbaren Widerspruchs, dieser Unvereinbarkeit des »Nationalen« mit »anderen kinematographischen Diskursen« liegt meines Erachtens die Symptomatik jenes reduzierenden Blicks auf die Kinematographien des Kalten Krieges (als Nationalkinematographien). Während für Haltof, das Eigene (das Nationale) und das Fremde (die Einflüsse anderer Filmgeschichten) nur schwierig zu vereinen scheinen, geht Emma Wilson ähnlich wie Steven Woodward von einer prinzipiellen Hybridität46 von Film aus, in dem das Eigene immer schon das Fremde inkludiert und umgekehrt. Filmemacher und Filmemacherinnen: Das Private ist politisch Die letzten Minuten des Films: Filip Mosz (Jerzy Stuhr) wendet die Kamera um 180 Grad und richtet sie auf sich selbst. Er beginnt zu sprechen, erst stockend, dann immer müheloser. Er erzählt von jener Nacht, mit der die filmische Narration vor ca. 80 Minuten begonnen hat und die nun ein diegetisches Jahr zurück liegt.

44 Woodward (Hg.): After Kieślowski. The Legacy of Krzysztof Kieślowski, S. 2-3. 45 Marek Haltof: Polish National Cinema. New York: Berghahn 2003, S. 182. Vgl. Woodward (Hg.): After Kieślowski. The Legacy of Krzysztof Kieślowski, S. 4. 46 Wilson: Memory and Survival. The French Cinema of Krzysztof Kieślowski, S. 118.

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Die Nacht, in der bei seiner Frau die Geburtswehen einsetzen, in der seine Tochter zur Welt kommt und die entscheidend für sein weiteres Leben ist. Abbildung 14: Selbstreflexivität

Quelle: Screenshot CAMERA BUFF (PL 1979)

Laut Drehbuch hatten Krzysztof Kieślowski und Jerzy Stuhr, der an der Entwicklung der Dialoge maßgeblich beteiligt war, ein anderes Ende für den Film vorgesehen. Eigentlich sollte Filip Mosz seinen letzten Film zerstören und sich vom Filmemachen verabschieden.47 Seine Erfahrungen zeigen ihm nicht nur, dass durch seine Transformation zum Filmemacher sein Familienleben bedroht ist und dass durch Entscheidungen, die er als Filmemacher trifft, das Leben seiner Arbeitskollegen und Freunde in Gefahr gerät, sondern auch, dass der Akt des Filmemachens (und die Arbeit am ›Bild‹) mit einer Verantwortung gegenüber seinen Mitmenschen (i.e. den gefilmten Objekten) einher geht, die mit seinen moralischen Ansprüchen nicht zu vereinbaren ist. Moral/ Ethik und Ästhetik sind inkommensurabel. AMATOR / CAMERA BUFF ist eine Metapher über das Filmemachen, über die Selbstfindung eines Menschen, der erkennt, dass er mehr vom Leben möchte als »Ruhe und Zufriedenheit«48 und der letzlich hin und hergerissen ist

47 Wie das Krzysztof Kieślowski selbst kurz vor seinem Tod in der Mitte der 1990er Jahre tat, als er bei öffentlichen Auftritten ankündigte, dass er keine Filme mehr drehen wolle. Zum Beispiel auch in der polnischen Fernsehsendung 100 pytan do ... Krzsztof Kieślowski (dt. »100 Fragen an ... Krzsztof Kieślowski«, vgl. https://www.youtube.com/watch?v=6vBAiQClEoQ, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 48 Am Ende wirft Irenka (Małgorzata Ząbkowska), Filips Frau, ihm vor, dass er doch immer nur »Ruhe und Zufriedenheit« gewollt habe und nun nicht nur darauf, sondern auch

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zwischen dem egozentrischen Rausch der Subjektivität und dem Gefühl, sich zwischen den moralisch-ethischen Entscheidungen einerseits und den zensorischen Aushandlungen mit den Autoritäten andererseits zu zerreiben. Der Film beginnt mit einer darwinistischen Metapher. Ein Raubvogel greift im Sturzflug eine kleine Schar weißer Hühner an, schlägt eines und beginnt, es brutal zu verzehren. Diegetisch stellt diese Sequenz Irenkas (Małgorzata Ząbkowska) Traum dar, den sie in der Nacht kurz vor der Geburt ihrer Tochter träumt. Der Traum kündigt den Anfang vom Ende ihrer Ehe mit Filip an. Extradiegetisch symbolisiert der Traum einen Determinismus, der so gedeutet wird, dass der Lebenswillen des einen das Schicksal des anderen bedeutet. Die (scheinbare) Grausamkeit der Natur klingt darin ebenso an wie die Unschuld ihrer Akteure. Der Raubvogel will das Huhn nicht aus Mordeslust töten, es zu töten, entspricht seiner Natur. Die Sequenz nimmt auch die Rolle des Filmemachers in den Blick, der Beobachter des Geschehens ist. Greift er in den grausamen Akt ein, der erst durch seine Anthropomorphisierung grausam wird, und rettet er das Huhn oder bleibt er in der Rolle des Beobachters und ›ermöglicht‹ so die Aufzeichnung des Aktes. Zum Anlass der Geburt seiner Tochter kauft sich Filip eine 8-mm Kamera (eine russische Kwarc 2), mit der er die ersten Schritte im Leben seines Kindes aufzeichnen will. Die Kamera hat hier also zunächst die Funktion eines Tagebuchs für die Aufzeichnung privater Szenen. Die Frage der Zensur, sei es einer ethischmoralischen oder einer politisch motivierten, die Leitmotiv des Films ist, rückt jedoch schon in der kurzen Sequenz in den Blick, als Irenka Filip im Krankenhaus bittet, das nackte Kind nicht zu filmen. »Warum nicht?«, fragt Filip. »Aber sie ist doch ein Mädchen!«, antwortet Irenka. Als Filips Vorgesetzter, der Direktor des Betriebs, davon erfährt, dass einer seiner Mitarbeiter eine Kamera besitzt, fordert er ihn auf, einen Film über das Firmenjubiläum zu drehen und verspricht ihm gleichzeitig, dass der Betrieb für sämtliche Kosten der Filmproduktion wie zum Beispiel Zelluloid aufkommt. Filip entdeckt, dass er mit seiner Kamera die Wirklichkeit zeigen kann, wie er sie wahrnimmt. Er entdeckt, dass er seine Sicht der Dinge durch das Instrument der Kamera mitteilen kann und dass die Aufzeichnung seiner Bilder nachhaltig ist und ihn aus der relativen Bedeutungslosigkeit seines Lebens herausholt. Gleichzeitig merkt er früh, dass die Bilder seines Films nicht unschuldig sind. Nach der Sichtung des Rohschnittes des Films über das Firmenjubiläum verlangt der Direktor, dass drei Elemente aus dem Film heraus geschnitten werden: erstens Tauben49, die Filip in der Zeit filmte, als die Sitzungen (unter noch auf sie und die gemeinsame Tochter verzichten will, um sich nur mehr seiner Arbeit als Filmemacher widmen zu können. 49 In seinen frühen Dokumentarfilmen nutzte Krzysztof Kieślowski narrativ scheinbar unmotivierte Einstellungen (namentlich gurrende Tauben), die er in Szenen einfügte, als

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Ausschluss der Öffentlichkeit) stattfanden, zweitens Mitarbeiter, die den Sitzungsraum kurz verlassen, um die Toilette aufzusuchen und drittens den Moment der Bezahlung der Musikerinnen und Musiker, die bei den Jubiläumsfeierlichkeiten auftreten. Trotz der Schnitte überzeugt der Film Anna Włodarczyk (Ewa Pokas) von der Amateurfilm Vereinigung, die auf Einladung des Betriebsleiters zur Sichtung des Films in Wielice erscheint und Filip auffordert, seinen Film als Wettbewerbsbeitrag einzureichen. Der Film (mit den wieder eingefügten geschnittenen Szenen) gewinnt schließlich einen Preis bei dem Amateurfilmfestival in Krakau, durch den Filip in Kontakt mit anderen Filmemachern und Produzentinnen aus der Szene tritt. Wiewohl der Direktor den Erfolg des Films anerkennt und Filip sogar ein kleines Filmstudio im Keller der Firma einrichtet, bleibt die Zusammenarbeit konfliktträchtig. Auch bei seinem nächsten Film konfligieren Filips Interessen als Filmemacher mit den Absichten der Firma. Filip möchte ein Porträt des kleinwüchsigen Mitarbeiters, Pan Wawrzyniec, machen, »der es schwerer hat als die anderen.«50 Der Direktor ist aber vielmehr der Ansicht, dass ein Porträt des kleinen Mannes diesen lächerlich machen und gleichzeitig den Betrieb diskreditieren würde. Gegen die Anweisungen des Direktors dreht Filip den Film und zeigt ihn dem Verantwortlichen (Andrzej Jurga) des Polnischen Fernsehens in Krakau51, der den Film kaufen möchte und gleich auch noch einen weiteren in Auftrag gibt: eine Reportage über die Stadt, die Fortsetzung einer TV-Produktion, in der bereits einmal über Wielice berichtet wurde. Aufgrund dieser TV-Reportage erhielt das Städtchen damals eine beträchtliche Summe als staatliche Förderung. Nun soll Filip zeigen, wie das Geld eingesetzt wurde. Als Konsequenz dieses Engagements wird Filips direkter Vorgesetzter und guter Freund, der Abteilungsleiter Stanisław Osuch (Jerzy Nowak) früher in die Rente gehen müssen. Filip ist verzweifelt und zerstört zum Entsetzen seines jungen Freundes Witek (Tadeusz Bradecki), der die Begeisterung Filips für die Kinematographie teilt und darin einen Sinn für sein Mittel, seine subjektive Position zu verdeutlichen. Steven Woodward schreibt diesbezüglich: »Unwilling to actually intervene in those events or to comment on them in voiceover, Kieślowski used editing to punctuate these films.« Woodward (Hg.): After Kieślowski. The Legacy of Krzysztof Kieślowski, S. 4. 50 Filip Mosz zum Direktor in AMATOR / CAMERA BUFF. 51 Andrzej Jurga war zum Zeitpunkt der Dreharbeiten tatsächlich ein Fernsehredakteur in Polen. Tadeusz Sobolewski, der als Teil der Amateurfilmjury auftritt, die Filips Film mit einem Preis auszeichnet, spielt ebenfalls sich selbst. Er war damals Kritiker des Magazins »Film«. Vgl. einen Artikel der Gazeta Wyborcza: »Mija 35 lat od premiery filmu ›Amator‹ Krzysztofa Kieślowskiego.« vom 15.11.2014, abrufbar auf http://wyborcza.pl/1,91446,16972214,Mija_35_lat_od_premiery_filmu__Amator__Krzysztofa. html, [letzte Sichtung am 10.09.2016].

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Leben erkennt, die Reportage, derentwegen sein Freund und Vorgesetzter seine Arbeit verlieren soll. Anstatt aber das Filmemachen ganz aufzugeben, wählt Filip den einzigen Ausweg aus dem Dilemma. Er wendet die Kamera gegen sich selbst, um so selbst zum Objekt und zum Gegenstand seines Filmes zu werden. Neben dem TV-Produzenten Andrzej Jurga und dem Filmkritiker Tadeusz Sobolewski tritt noch eine weitere Figur in Kieślowskis AMATOR / CAMERA BUFF als sie selbst auf. Krzysztof Zanussi, Kieślowskis Freund und Lehrer an der Filmschule in Łódź, zeigt seinen ein Jahr früher entstandenen Film BARWY OCHRONNE / CAMOUFLAGE (PL 1977) in einem Amateurfilmclub in Krakau52 und diskutiert diesen mit dem Publikum, in dem auch Filip Mosz sitzt. In seinem Film zeichnet Zanussi ein äußerst bitteres und zynisches Bild der polnischen Gesellschaft, indem er die Handlung an die Universität versetzt und den Konflikt von einem jungen Assistenten und einem älteren Professor erzählt, dessen diabolischer Zynismus den Idealismus des Jüngeren gänzlich auslöscht. Der Film gewann 1977 beim Polnischen Filmfestival in Danzig den Goldenen Löwen. Während die Begegnung von Filip und Zanussi diegetisch die Funktion hat, in Filip den Wunsch zu wecken, mit seinen Filmen Kritik an gesellschaftlichen Umständen zu üben, scheint sie doch extradiegetisch eine Differenz zwischen Zanussis Film/ Zanussis Haltung als Filmemacher und Filip Mosz/ Krzysztof Kieślowski anzudeuten. Für Zanussi besteht kein Zweifel an der moralischen Verrohtheit seiner Charaktere (und der polnischen Gesellschaft vor dem Hintergrund des kommunistischen Systems), für Kieślowski stellt sich die Realität komplexer und vielschichtiger dar. Die durch Filips Reportage aufgedeckte Misswirtschaft in Wielice (die Fassaden wurden renoviert, nicht aber die Hinterhöfe), erklärt der Direktor durch eine Umverteilung der Gelder, die in die dringend notwendige Renovierung eines Schlachthofes und die ebenso dringende Konstruktion eines Kindergartens geflossen seien. Durch Filips Reportage wird Wielice keine weiteren Gelder für die notwendigen Verbesserungen erlangen. Die Wirklichkeit ist komplex, argumentiert der Direktor: »Wir bekommen Geld für Veränderungen, die wir nicht nötig haben und für Verbesserungen, für die wir dringend Geld brauchen, geben sie uns keines.« So willkürlich die Entscheidungen des Direktors zunächst scheinen, in der Auseinandertzung mit ihm wird Filip klar, dass die Zusammenhänge vielschichtiger sind als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Die Differenz zwischen (dem Film von) Zanussi und (dem Film von Kieślowski) zeigt sich auch filmtechnisch in dem stark 52 Tatsächlich entspricht das Thema des Amateurfilms einer Aktualität der 1970er Jahre in Polen, als es in Polen ca. 100 Filmamateur-Clubs gab. Krzysztof Zanussi war darüber hinaus selbst der Vorsitzende des polnischen Vorstands der Filmclubs (auf Poln. ›Ówczesny prezes ogolnopolskiej Rady Dyskusyjnych Klubów Filmowych‹). Vgl. »Mija 35 lat od premiery filmu ›Amator‹ Krzysztofa Kieślowskiego«.

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dokumentarischen Charakter von AMATOR / CAMERA BUFF, der dem fiktionalen, blau gefilterten und artifziell anmutenden Filmausschnitt aus BARWY OCHRONNE / CAMOUFLAGE gegenübergestellt ist. Durch diesen ästhetischen Unterschied gewinnt die Zuschauerin den Eindruck, Kieślowskis Film dokumentiere die Realität, während Zanussis Film eher als fiktionale Parabel über die gesellschaftlichen Verhältnisse lesbar wird. Auch sieht sich Filip nicht als ›Künstler‹, wie er dem zynischen Fernsehredakteur auf dessen Nachfrage treuherzig gesteht. Dass die Zeit für Künstler schwer sei, wird an der Figur des Fernsehredakteurs ebenso evident wie andererseits an der Figur eines exaltierten namenlosen Filmemachers, der immer wieder auftaucht und in der ›Szene‹ bekannt ist, offenkundig wird, dass ›Künstler‹ zu sein zur Attitüde verkommt. AMATOR / CAMERA BUFF ist als Manifest für ein Filmemachen zu verstehen, das weniger als künstlerischer Akt, denn als offen subjektive Auseinandersetzung mit der eigenen Umwelt, mit den Themen des eigenen Alltags und mit der Verantwortung dem Abgebildeten gegenüber in Erscheinung tritt. Eine ähnliche Haltung zum Filmemachen entwickelt die Hauptfigur Magda (Agata Kulesza) in Iwona Siekierzyńskas erstem Spielfilm MOJE PIECZONE KURCZAKI / MY ROAST CHICKEN (PL 2002). Dass polnische Filmkritiker den Film als die feministische Version von Kieślowskis AMATOR / CAMERA BUFF bezeichnen, hält Marek Haltof in seinem Artikel »Kieślowskis Influence on Post-Communist Polish Cinema«53 keineswegs für übertrieben. Im Zentrum ihres 63-minütigem Spielfilms, den Iwona Siekierzyńska für das Polnische Fernsehen produzierte, steht wie in AMATOR / CAMERA BUFF ein junges Ehepaar, das nach einem gemeinsamen fünfjährigen Aufenthalt in Kanada nach Łódź zurückkehrt. Der Plan, sich in Kanada dauerhaft niederzulassen, ist gescheitert. Magda möchte das unterbrochene Studium an der Filmschule wieder aufnehmen und ihr Mann Wojtek (Adam Nawojczyk) ist auf Arbeitssuche. Zur Überbrückung der Übergangssituation und da es den beiden an Geld mangelt, wohnen sie zusammen mit ihrem 6-jährigen Sohn Antek (Antek Barszczak) bei Magdas Mutter (Maria Maj). Nachdem sämtliche Bewerbungen scheitern, kauft Wojtek kurz entschlossen einen Kleinlastwagen und entschließt sich, auf dem Hauptplatz von Łódź gebratene Hühner zu verkaufen. Abgesehen von deutlichen Referenzen zu Kieślowskis Film, wenn Madgda und ihr Mann beispielsweise über den Kinderwagen sprechen (»er war blau«, »nein, er war rot«) oder wenn Magda wie Filip ihre ersten Schritte als Filmemacherin geht und mit der Gefahr der Verwechslung von Film und Leben konfrontiert ist, scheint die Verbindung zwischen dem Kino Kieślowskis und den Filmen 53 Marek Haltof: »Kieślowski’s Influence on Post-Communist Polish Cinema«, in: Woodward (Hg.): After Kieślowski. The Legacy of Krzysztof Kieślowski, S. 28 f.

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Siekierzyńskas tiefer zu gehen. Marek Haltof zitiert diesbezüglich die Filmemacherin: »Commenting on the similarities between her cinema and that of Kieślowski, Siekierzyńska once stated that ›there are no direct traces of the master-student relation.‹ Instead, her film becomes ›a discussion and polemic with his movies, and moreover an attempt to make his way of looking at the world more contemporary‹ [...].« 54

Die dynamische Erzählweise Siekierzyńskas Film und die Bezugnahme auf die Probleme des postkommunistischen Polen sind kennzeichnend für das von Kritikern als Neues Polnisches Kino der Generation 2000 (auf Pl. ›Pokolenie 2000‹) bezeichnete Filmschaffen.55 Auf das in polnischen Filmen der Jahrtausendwende rekurrente Motiv der Flucht hat Ewa Mazierska hingewiesen.56 Anita Piotrowska beschreibt in ihrem Artikel »Is Poland a Woman? Feminist and homosexual themes in Polish film from 1989-2009«57 eine Wende im polnischen Kino hin zu »Frauenthemen«58. Piotrowska schreibt: »In the 20 years of the new political system, which has to a great extent re-evaluated the former roles of families and society, one can see more and more young female characters on screen who appear to be stronger than men of the same age (i.e. more determined to fight for what they want, both privately and socially.) This particularly concerns films by directors [...] who became adults after the 1989 watershed, and made films in an entirely new reality less encumbered by memories and social obligations.«59

Ähnlich wie im vorangegangenen DF 2 Langeweile einer Blondine soll in DF 3 Amateur Hühner die Beziehung zwischen den beiden Filmemachern aus einer 54 Haltof: »Kieślowski’s Influence on Post-Communist Polish Cinema«, S. 29. 55 Ebd. Auch die TV-Reihe, in der der Film entstand, ist nach dieser Generation benannt. Folgende Regisseure zählen zu Pokolenie 2000: Janusz Kijowski, Filip Bajon, Dariusz Jabłoński, Jerzy Kapuściński, Leszek Kwiatek, Wojciech Solarz, Carmen Szwec. Vgl. http://filmpolski.pl/fp/index.php?film=1210380, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 56 Ewa Mazierska: »The Motif of Escape in Recent Polish Films«, New Cinemas: Journal of Contemporary Film, Volume 3, Number 1, (2005), S. 17-28. 57 Anita Piotrowska: »Is Poland a Woman? Feminist and homosexual themes in Polish film from 1989-2009«, in: Mateusz Werner (Hg.): Polish Cinema Now! Focus on Contemporary Polish Cinema. London/ Warsaw: Adam Mickiewicz Institute, John Libbey Publishing Ltd. 2010, S. 104-130. 58 Im Original »women´s issues«. Vgl. ebd., S. 117. 59 Ebd., S. 117.

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Meister-Schüler(-in)-Logik herausgelöst werden. Auch die scheinbare Kontinuität eines Kinos, das von den politisch-kritischen Prämissen des Kinos der moralischen Unruhe (Kieślowski) sich nun weiterentwickelt hätte zu einem Kino der Generation 2000 (Siekierzyńska) ist kritisch zu befragen. In den Blick kommen sollen vielmehr die mit Hoberman beschriebenen ›Points of contact‹ die Dynamik der beiden Filme im Dialog, das im Double Feature liegende Potential, ihre formalen und inhaltlichen Ambivalenzen aufzuspüren. Andererseits liegt mir aber auch an der Auflösung des scheinbaren Antagonismus zwischen Film und Fernsehen aufzulösen, der in der west- und osteuropäischen Filmwissenschaft paradigmatisch perpetuiert wird. So schreibt Steven Woodward beispielsweise, dass das polnische Kino während des Kommunismus und gerade rund um den Höhepunkt des Kino moralnego niepokoju in den späten 1970er Jahren als Gegengift für die Propaganda des staatlichen Fernsehens gesehen wurde.60 Andrzej Wajda greift in seinem Schlüsselfilm CZŁOWIEK Z MARMURU / MAN OF MARBLE (PL 1976) diese Kritik am Fernsehen auf, wobei das Ende des Filmes dennoch zu suggerieren scheint, »that even television might eventually be turned to searching ethical examinations of the past with a goal toward charting a better future.«61 Gerade die Fernsehproduktionen von Krzysztof Zanussi und Krzysztof Kieślowski Ende der 1980er und 1990er Jahre realisieren dieses Ziel, wie Sarah Cooper schreibt.62 Mann mit der Kamera vs. Frau mit der Kamera Zu Beginn beider Filme sind weder Filip noch Magda im Besitz einer Kamera. Tatsächlich werden beide sich die Kamera und damit das Instrument, dessen Handhabung und Manipulation sie erst zur Filmemacherin und zum Filmemacher machen, auf jeweils unterschiedliche Weise beschaffen. Während Filip zwei Monatslöhne für den Erwerb einer 8-mm Kamera ausgibt, wodurch er mit seiner Frau Irenka in einen Konflikt gerät, bittet Magda ihre Mutter, ihr ihre digitale Kamera zu leihen. Die erste Frau mit Kamera, die wir in MOJE PIECZONE KURCZAKI / MY ROAST CHICKEN de facto zu Gesicht bekommen, ist tatsächlich die Mutter Magdas, die die Familie vom Łódźer Bahnhof abholt und die, ehe sie noch ihren Enkel, den sie fünf Jahre lang nicht gesehen hat, in die Arme nehmen kann, das Ankommen der Familie bereits digital festhalten will. Zwischen dem Satz aus dem Mund der fremden Erwachsenen »Ich bin deine Großmutter!« und dem kleinen Antek steht die Kamera und distanziert den Enkel von der Großmutter und darüber 60 Woodward (Hg.): After Kieślowski. The Legacy of Krzysztof Kieślowski, S. 5. 61 Ebd., S. 6. 62 Sarah Cooper: »Living On: From Kieślowski to Zanussi«, in: Woodward (Hg.): After Kieślowski. The Legacy of Krzysztof Kieślowski, S. 34-49, hier: S. 6.

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hinaus auch die Tochter von der Mutter, die sich über das Verhalten ihrer Mutter wundert. Die Kamera, die also für die Großmutter das Instrument bedeutet, mit dem sie sich ihre Familie näher holen kann, möglicherweise vorausschauend befürchtend, dass ihre Tochter mitsamt ihrer Familie nicht lange in Polen bleiben wird, bedeutet für die gefilmte Familie ein die Nähe zu Mutter/ Großmutter erschwerendes oder geradezu verhinderndes Obstakel. Die Mutter Magdas repräsentiert aber auch jene Generation der polnischen Bevölkerung, die den Kommunismus und die Revolutionen persönlich erlebt hat, was auf zweifache Weise interessant ist: Zum einen repräsentiert sie jene Generation von Polen und Polinnen, die mit den Insignien des Kapitalismus und mit den unumschränkten Möglichkeiten des Konsums noch nicht richtig umgehen kann. Ihrer Tochter ihre Kamera zu leihen, verweigert sie zunächst damit argumentierend, dass heutzutage alles gestohlen würde und dass Magda in ihrer Ungeschicktheit bestimmt Opfer eines Diebes würde. Gleichzeitig gehört die Mutter der Generation von Krzysztof Kieślowski und Jerzy Stuhr an und wird somit als Verweis auf Filip lesbar, der durch den Kauf der Kamera, motiviert zunächst lediglich durch den Wunsch, das Leben seiner Tochter zu dokumentieren, seine Familie letztlich verlieren wird. In der Nacht der einsetzenden Geburtswehen, als er Irenka ins Krankenhaus gebracht hat und seine Freunde und Arbeitskollegen in seiner Wohnung auf die Verkündigung der Geburt seines Kindes warten, wird auch die Kamera im Bewusstsein der Umgebung Filips ›geboren‹, deren Kauf er seinen Freundinnen und Freunden bisher verborgen hatte. Es ist früher Morgen, die Gäste sind des Feierns langsam müde, da bringt einer der Anwesenden eine kleine Tasche und gibt sie Filip, der sie ihm aus der Hand reißt und unwirsch reagiert: »Nein, lass das! Warum musst Du das jetzt holen?« Schließlich lässt er sich überreden und öffnet den Reißverschluss der kleinen hellen Tasche, die eher wie ein Kosmetiktasche (ein eher weiblich konnotiertes Utensil) aussieht als eine Kameratasche. Zum Vorschein kommt die kleine schwarze Kamera, die Filip alsdann vorführt, indem er den Kameramann mimt. Einen Schwenk von links nach rechts ausführend, verharrt er einige Sekunden mit dem Fokus auf dem Fernsehbilschirm, auf dem ein Konzertmitschnitt des noch sehr jungen Pianisten Krystian Zimerman zu sehen ist, der den E-Moll Walzer von Frédéric Chopin spielt. Als Filip die Kamera absetzt, sehen wir sein Gesicht frontal und nah. Er lächelt verklärt und sentimental: »Aber schön hat er gespielt.«63 63 Diese Szene scheint ironisch das anzudeuten, was der Fernsehredakteur Andrzej Jurga den Amateurfilmern und – filmerinnen anlässlich des Wettbewerbes in Krakau vorwerfen wird: Dass diese geradezu so filmen würden, als ob sie die Informationen über das Leben nur aus dem Fernsehen und aus dem Kino beziehen würden. Dass sie zu wenig riskieren, sich zu wenig auseinandersetzen mit der Frage: was bedeutet das Leben für

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Magda hingegen muss sich die Möglichkeit zu filmen wie schon angedeutet erkämpfen. Besorgt um ihre Kamera schlägt ihre Mutter vor, dass sie ihren Film am besten nur in der Wohnung drehen solle. Das Gespräch zwischen Magda und ihrer Mutter verläuft so, als ob die Tochter ein kleines Kind wäre. Die Unsicherheit, die mit den neuen, postsozialistischen Lebensläufen (Arbeitslosigkeit) einhergeht, wird von Magdas Mutter als Charakterschwäche der neuen Generation im Allgemeinen und ihrer Tochter im Speziellen interpretiert. Abbildungen 15, 16: Auteur/e

Quelle: Screenshots CAMERA BUFF (PL 1979), MY ROAST CHICKEN (PL 2002)

Dokumentierte Gegenwart Filips Interesse als Filmemacher gilt zunächst der Dokumentation seines Familienlebens, das ihm als das wertvollste Gut seines Lebens scheint. Bei dem Versuch festzuhalten, was die Zeit ihm nehmen wird, scheitert er und verliert erst recht seine Tochter und seine Frau, die die Kamera vom ersten Augenblick an als Eindringling in das gemeinsame Leben und als Konkurrentin in der Liebesbeziehung mit Filip wahrnimmt.64 Dass die Kamera aber auch die Macht hat, die Zeit anzuhalten und Fragmente des Lebens einzufangen, wird Filip klar, als er lediglich zum Zeitvertreib seinen Freund Piotr und dessen Mutter filmt. Als Piotrs Mutter kurz darauf überraschend stirbt, wird das Stückchen Zelluloid für Piotr zu einem Relikt. Nachdem er üverwältigt durch die Trauer über ihren Tod, nicht am Begräbnis mich persönlich? Andererseits ist die Sequenz auch als ein Kommentar über die Faszination des Mediums lesbar, des Fernsehens, das uns durch einen Livemitschnitt verzaubern kann und tiefste Emotionen in uns weckt. 64 »Warum hat deine Frau dich verlassen, jetzt, wo du berühmt bist?«, fragt Pani Wawrzyńska, die Frau des kleinwüchsigen Mitarbeiters Filip (Jerzy Stuhr). Und: »Hat sie den Fernseher dagelassen? Dann kommt sie bestimmt wieder.«

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seiner Mutter teilnehmen kann, bittet er Filip, ob dieser ihm den Film zeigen könne. Nach der Sichtung des Filmstreifens, auf dem die Mutter in ihrer Vitalität gebannt scheint, möchte Piotr den Film behalten. Auch wenn er nicht über einen Projektor verfügt (die Sichtung des Films findet im Filmstudio des Betriebs statt) und sich daher den Film zu Hause gar nicht ansehen kann, symbolisiert der Filmstreifen dennoch ein Stück Leben seiner Mutter. Da die Filmsessions zu Hause rasch zu Konflikten mit seiner Frau führen, widmet sich Filip stärker dem Auftrag des Direktors, einen Film anlässlich des Firmenjubiläums zu drehen. Auch hier ist er mit Zensur-Maßnahmen der Firmenleitung konfrontiert, was ihn dazu veranlassen wird, sich selbst ein Motiv und ein Thema zu suchen. Filip entscheidet sich, ein Portrait von Pan Wawrzyniec zu drehen, einem kleinwüchsigen Mitarbeiter der Firma. Die Dreharbeiten schreiten gut voran und auch Herr Wawrzyniec freut sich über die Aufmerksamkeit, die ihm durch Filips Filmprojekt zuteil wird. Als der Film gegen den Willen der Firmenleitung im Fernsehen gezeigt wird, finden sich das Filmteam und Herr Wawrzyniec mit seiner Frau zur gemeinsamen Filmsichtung im Haus des Ehepaars ein. Die Reichweite seines filmischen Handelns wird Filip durch die Rührung von Herrn Wawrzyniec erst bewusst, den der Film so bewegt, dass er den Raum nach wenigen Minuten verlassen muss. Angeleitet durch den Fernsehproduzenten, den er beim polnischen Fernsehen kennen gelernt hat, macht sich Filip voller Eifer an das nächste Projekt, das der Firmenleitung erneut nicht zusagt. Die Reportage über das Städtchen Wielice soll Rückstände und Fehler seiner Entwicklung aufzeigen. Schnell sind die offenkundigen Mängel aufgedeckt. Der Film, den Filip zunächst gar nicht machen wollte, geht ihm nun leicht von der Hand. Allerdings stellt sich im Gespräch mit dem Direktor heraus, dass die vermeintlichen Fehler, die der Stadtplanung unterlaufen sind, mit bewussten Entscheidungen zu tun haben, die in ihrer Komplexität nun durch die Reportage konterkariert werden. Auch der nächste Film, den Filip plant und der der Sache des ortsansässigen neuen Maurerbetriebs gewidmet ist, stellt sich komplizierter heraus als zunächst gedacht. Da die Maurer aufgrund mangelnder Nachfrage nicht tätig werden können, sind die meisten von ihnen arbeitslos. Der neue Betriebsanlage bleibt leer und ungenutzt. Der Direktor weist Filip allerdings darauf hin, dass die arbeitslosen Maurer in anderen Branchen und Bereichen tätig sind, die dem Allgemeinwohl sehr wohl zugute kommen. »Warum hat man den Maurerbetrieb dann überhaupt gebaut?«, fragt Filip. Gleichzeitig wird im bewusst, wie wenig die Bilder über den Zustand der Dinge, über die Verhältnisse aussagen können. Durch die Filme über die Menschen seiner Umgebung hat er ihnen entweder geschadet oder sie aus seinem Leben vertrieben. Die Konsequenz scheint evident.

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In der Vorbesprechung ihrer Filmprojekte an der Filmhochschule erklärt Magda vor einer Gruppe von ca. zehn Filmschülerinnen und Filmschülern, sie sei am Dialog interessiert und in ihrem nächsten Film solle es daher um Dialoge gehen. Ein bisschen gelangweilt entgegnet der Filmprofessor, dass es in jedem Anfängerstatement über Film um Dialog geht und dass sie schon etwas konkreter werden müsse, wenn sie einen guten Film drehen wolle. Während in Kieślowskis Film der Amateur zum Filmemacher wird, da er erstens über die technische Ausstattung verfügt und indem er zweitens thematische Vorschläge entgegen nimmt, bleibt bei Siekierzyńska die (im Rahmen einer universitären Ausbildung zu werdende) Filmemacherin zunächst einmal Amateurin; über die technische Ausstattung zum Filmemachen verfügen auch ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen und Themen für Filme gibt es ebenfalls wie Sand am Meer. Ihre Filmsprache findet sie nicht wie Filip, indem sie einfach loslegt in einem Learning by Doing Prozess, ihre filmische Sprache soll sie sich über die Reflexion und Diskussion erarbeiten. So ist die Entwicklung, die sie im Rahmen der Filmklasse durchmacht, tatsächlich eine Reise zum Zentrum der Bilder, eine Reise zu sich selbst. Die ersten filmischen Bilder, die sie in der Klasse zeigt, sind statische Aufnahmen von einem Friedhof, die Gräber sind aus der Totale aufgenommen. Auf die Nachfrage des Professors, was dieser Friedhof mit Magda zu tun habe, antwortet sie, dass ihr Vater dort begraben sei. Das zweite Projekt, das sie der Klasse präsentiert, sind Aufnahmen von Passantinnen und Passanten, die in Bewegung sind. Die in der Totale aufgenommenen Personen wirken wie zufällig angeordnet, eine Figur sticht aber immer aus der Masse der anderen heraus: eine Person, die auf etwas wartet, die still hält. Da Magda diese Aufnahmen auf dem Platz dreht, wo ihr Mann seine gebratenen Hühnchen verkauft, kommt auch dieser ins Bild, wie er sich auf einem weißen Plastistuhl an einem weißen Plastiktisch sitzend vor seinem Kleinlastkraftwagen kurz ausruht. Magda interessiert er nicht weiter. Abbildung 17: Wojtek filmen

Quelle: Screenshot MY ROAST CHICKEN (PL 2002)

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Der Filmprofessor aber sagt: »Wer ist der Kerl? Der interessiert mich. Sehen Sie sich den doch genauer an.« Magda entschließt sich also, einen Film über Wojtek zu drehen, über das Projekt seiner Brathühner, über seine Antrengungen, seiner Familie eine existenzielle Grundlage zu bieten. Aber Wojtek zu filmen, wird nicht einfach. Sieht Magda denn ohne Kamera überhaupt, was Wojtek tut? Es spielt sich vor ihren Augen ab, aber nimmt sie es wahr? Auch Wojtek scheint irritiert. Macht sich seine Frau über ihn lustig oder freut sie sich über seinen Einsatz? Warum filmt sie ihn? Bei der nächsten Sichtung in der Klasse ist der Professor erneut unzufrieden mit Magdas Film, der Wojtek in Aktion vor seinem mobilen Stand zeigt. »Was ist ihre Beziehung zu diesem Mann? Was haben Sie mit ihm zu tun?« Magda scheint an einer Grenze angelangt zu sein. Was will sie zeigen? Selbstreflexivität Als Filip die Kamera auf sich selbst richtet, vollzieht er eine gedankliche Wendung, die eng mit dem feministischen Credo zusammenzuhängen scheint, dass das Private politisch sei und daher der eigentliche Gegenstand seines Filmemachens werden soll. Magda scheint festzustecken. Ihr Filmprojekt hängt in der Luft, ihre Lebenssituation scheint aussichtslos. Eine Aufnahmesituation mit Wojtek läuft aus dem Ruder. Nachdem sie miteinander geschlafen haben, suchen sie in der Küche nach etwas Essbarem. Wojtek macht Scherze mit der Kamera, immitiert einen kanadischen Akzent und stellt sich vor. »Ich heiße Wojtek, ich arbeite mit Chickens und ich trage ein neues Hemd.« Magda lacht. »Gefällt dir dein neues Hemd?«, fragt sie. Und Wojtek sagt »No!« in die Kamera. Die Situation, die gerade noch spielerisch und spaßig war, kippt. Aus der Frage, ob der Kauf dieses Hemdes (konventionell, seriös) die richtige Wahl war (»Du kennst mich, du müsstest eigentlich wissen, dass ich solche Hemden nicht trage.«) entsteht eine Grundsatzdiskussion. Wojtek wirft Magda vor, dass sie ihn nicht liebe, worauf Magda keine Antwort weiß. Der Konflikt eskaliert und hinterlässt das Paar in einer totalen Sprachlosigkeit. Die Kamera zeichnet alles auf. Als Magda sich die Aufnahme am nächsten Tag noch einmal ansieht, wird ihr klar, dass genau das das Thema ihres Filmes ist. Sie selbst. Ihr Mann, ihr Kind, ihr Leben. Zuversichtlich bringt sie den Film ihrem Professor in die Filmschule. Das Filmprojekt hat ihr einerseits geholfen, zu begreifen, an welchem Punkt in ihrem Leben sie steht und was sie tun muss, um weiterzuleben. Andererseits funktioniert der Film als Film erst dann, als Magda begreift, dass sie selbst Teil des Gezeigten ist. Dass es ihr Leben ist, dass sie filmt. Solange sie nicht die Kontrolle über ihr Leben hatte, hatte sie auch nicht die Kontrolle über ihren Film. In diesem Punkt unterscheiden sich die beiden Filme sehr

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stark voneinander. Während Filips Entwicklung zum erfolgreichen Filmemacher dazu führen wird, dass er Frau und Kind verliert und letztlich auch das Filmemachen selbst prekär wird, hilft Magda der Film, den sie macht, dabei, etwas über sich selbst und ihr Leben und ihre Mitmenschen zu verstehen. Die Konflikte mit ihrem Mann kann sie lösen, da sie durch den Film begriffen hat, wie wichtig ihr Mann eigentlich für sie ist. Und auch als Filmemacherin reift sie durch diesen Konflikt. Am Ende der Krise steht endlich der Durchbruch als Filmemacherin. Abbildung 18: Abendessen mit dem Fernseher

Quelle: Screenshot CAMERA BUFF (PL 1979) Das DF 3 Amateur Hühner ist eine Reflexion über das Filmemachen, über die Selbstfindung (als Auteur), über das Verhältnis von Film und Realität, über die Frage nach dem moralischen und autobiograpfischen Einsatz des Filmemachers und der Filmemacherin, über die Distanz zum eigenen Film und zum eigenen Leben, zum Unterschied zwischen Leben und Film. Während bei Kieślowski die Differenz zwischen Film und Leben nicht überbrückbar scheint, plädiert Siekierzyńska für einen Dialog zwischen Film und Leben, der, wenn auch nicht immer einfach, so doch sehr produktiv ist. DF 3 Amateur Hühner reflektiert auch die Co-Existenz von Kino und Fernsehen. In Kieślowskis Film sind die Akteure und Akteurinnen des Fernsehens die Verbündeten Filips, die ihn unterstützen und die innovative Ideen (finanziell und ideell) fördern. Das Fernsehstudio in Warschau steht für Bewegung, Veränderung und Aktualität, während das Dorf Wielice still zu stehen scheint. Auch in der Szene, als Filip den Filmemacher mimt und den Pianisten Krystian Zimerman ›filmt‹, der auf dem Fernsehbildschirm zu sehen ist, wird das Fernsehen als ein dem Kino zutiefst verwandtes Medium adressiert. Das Fernsehen gerät hier als potentielles Instrument autodidaktischer Bemühungen in den Blick, gleichzeitig triggert es Affekte, die Filip in seiner Rührung über den Konzertmitschnitt am eigenen Leib erfährt. Bei Siekierzyńska gibt es eben-

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falls eine Szene im Wohnzimmer von Magdas Mutter, in der der Fernseher läuft, während Magda, Wojtek und sie zu abendessen. Auf dem Bildschirm sehen wir Aufnahmen der Familie, die der verstorbene Vater realisiert hat. Plötzlich erscheint der Vater selbst auf dem Bildschirm. Auch hier wird das Fernsehbild als affektives Bild kenntlich, das kollektive sowie individuelle Erinnerung speichern kann.

4.4 DOUBLE FEATURE 4 – VATER, ZOTTELSCHRECK UND NIMMERSATT Voice-Over: »Tage- und nächtelang saß er auf dem Thron wie ein Häufchen Elend65 und die Einsamkeit überwältigte ihn. Dass seine Töchter das elterliche Heim verlassen hatten... Gott mit ihnen, die hätte er ja ohnehin nicht heiraten können, aber wie würde er ohne Zottelschreck bloß schlafen können, er war doch so gewöhnt an das Luder. Er versuchte sogar, seine Hand auf ein Schäfchen zu legen oder auf ein Zicklein, aber es war doch nicht dasselbe. Ohne seine zotteliges Biest war an Einschlafen einfach nicht zu denken.« VŠEHOCHLUP / ZOTTELSCHRECK (1978) Alžbietka liest: Der Nimmersatt. Es waren einmal ein Mann und eine Frau. Sie waren arm und sie sagten sich oft: »Hätten wir doch nur ein Kindchen.« Eines Morgens grub der Mann einen Baumstumpf aus, der ihm wie ein Kind erschien. Die Wurzeln beschnitt er so, dass sie wie Ärmchen und Beinchen aussahen. Die Mutter kochte einen Topf voll süßen Brei für den Kleinen. Nimmersatt aß den ganzen Brei auf und sagte: »Mutter, ich habe Hunger!« Die Mutter lief zum Nachbarn um eine große Kanne Milch. Nimmersatt trank die Milch in einem Zug und sagte: »Mutter, ich habe Hunger!« »Warte, mein Kleiner, ich gebe dir noch etwas.«, sagte die Mutter und brachte rasch einen großen Laib Brot von der Nachbarin herüber, den sie auf den Tisch legte. Als sich die Mutter kurz umdrehte, verschlang Nimmersatt das Brot und mit dem Brot auch gleich den ganzen Tisch. Da wurde die Mutter böse: »Du hast doch jetzt nicht etwa den ganzen Laib Brot gegessen!« »Doch« sagte Nimmersatt und machte seinen Mund weit auf wie ein Tor, »und dich, Mutter, esse ich auch.« OTESÁNEK / NIMMER-SATT (2001)

65 Im Original auf Tschechisch heißt es »jako slepá patrona« was ins Deutsche übersetzt »wie eine blinde Patrone« bedeutet und metaphorisch für »planlos, verloren« steht.

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Verliebtes Fleisch: Märchen, Mythos und Animation. Vom Zottelschreck ... »Es war einmal ein König und der hatte eine Schwäche.«66 Mit diesen Worten setzt das Voice-Over ein und das Märchen des haarigen Fantasiewesens, VŠEHOCHLUP / ZOTTELSCHRECK67 (ČSSR 1978, Zdeněk Smetana), das an der Seite des Königs gemeinsam mit den drei heiratsfähigen Töchtern und dem Sohn im Schloss eines kleinen, kaum über seine Schlossmauern hinausreichenden Königreichs lebt, beginnt. Všehochlup, wortwörtlich übersetzt ›Ganz-aus-Haar‹ oder ›Alles-Haar‹, unterhält eine mehrdeutige Beziehung zum König, deren Ambivalenz sich sehr stark aus dem von František Filipovský gesprochenem Voice-Over speist: »Dieses Hässliche, Haarige ist sein Zottelschreck. Und dieser Zottelschreck ist auch die Schwäche, die ihn um den Verstand gebracht hat. Seit er sich das Luder aufs Schloss geholt hat, ist Schluss mit Königieren. Er schläft ja sogar mit dem Miststück. Und wenn er seine Hand einmal nicht ganz genau so auf den Bauch von Všehochlup legen kann, dann schläft der König gar nicht erst ein.«68 Abbildung 19: König mit Zottelschreck

Quelle: Screenshot ZOTTELSCHRECK (ČSSR 1978)

66 Im Original auf Tschechisch: »Byl král, měl slabost.« 67 Der englische Verleihtitel lautet SHAGGY HAIR, vgl. den Youtube-Clip des Films auf: https://www.youtube.com/watch?v=Tg03Y39k7ok [letzte Sichtung am 20.03.2020]. 68 Im Original auf Tschechisch: »To vošklivý chlupatý, je jeho všehochlup. A to je právě ta slabost, co ho vo rozum připravila. Vod tí doby, co si tu mrchu přives na zámek, bylo s kralovaním utlum. Vždyť on s ní i spával. A jak si na ní takhle nepoložil ruku, ani ne usnul.«

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Wer ist dieser Zottelschreck? Ist es ein Tier, eine Katze ein Hund, ein Haustier oder ein gezähmtes wildes Tier? Ist es ein Mensch, eine bärtige Frau, eine Frau, die den Märchen-Konventionen weiblicher Königinnenschönheit nicht entspricht? Ist es ein stark behaarter Mann? Oder ist es nicht Mensch nicht Tier, ein sprachloses Fantasiewesen jenseits geschlechtlicher Grenzen. In seinem 1978 für das tschechische Fernsehen realisierten, elfminütigem Animationsfilm, der auf dem Motiv der gleichnamigen Volkserzählung von Josef Š. Kubin beruht, bedient sich Zdeněk Smetana narrativer Konventionen und animationsfilmtechnischer Mittel, die abhängig von der spekulativen Leistung der Zuschauerin oder des Zuschauers die Figur des Všehochlup als »little princess with shaggy hair« (Film and TVDatabase des British Film Institute69), als schräges Haustier oder aber als schwuler Liebhaber im Bear-Style (queer Reading) lesbar machen. ... zum Nimmersatt Abbildung 20: Mutter und Vater des Otesánek – Nimmersatt

Quelle: Screenshot NIMMERSATT (ČR 2001)

Im über zwanzig Jahre später von Eva und Jan Švankmajer realisierten Film OTÉSANEK / NIMMERSATT70 (ČR 2001) steht ein kinderloses Paar im Zentrum der Erzählung, dessen verzweifelter Wunsch nach einem Kind ein Monster generieren wird. Bei Švankmajers ist es das Kind, das als (hybride) Fantasiewesen der realen Eltern in Erscheinung tritt: eine Kopfgeburt, entstanden durch die Materialisierung des Begehrens der Eltern, vom Vater aus einem Baumstumpf geschnitzt und belebt allein durch den hysterischen Willen der Mutter. Auch dieser - Elemente 69 Vgl. die Film- und TV-Database des BFI, https://www.bfi.org.uk/films-tv-people/ 4ce2b7854a9df, [letzte Sichtung am 20.03.2020]. 70 Die englischen Verleihtitel lauten LITTLE OTIK und GREEDY GUTS.

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des Realfilms ebenso wie Sach- und Zeichenanimationssequenzen beinhaltende Langspielfilm, den Jan Švankmajer in einem Gespräch mit Peter Hames besonders aufgrund des Einsatzes von Dialog, aber wohl auch aufgrund der kleinfamiliären Plotstruktur, als einen seiner konventionellsten Filme bezeichnet, beruht auf einem Volksmärchen aus dem 19. Jahrhundert in der Überlieferung von Karel Jaromír Erben. Wofür steht nun der Nimmersatt? Was ist die Funktion der märchenhaften Folie der beiden Filme? Im DF 4 Vater, Zottelschreck und Nimmersatt soll über die Verschränkung filmischer, narrativer Verfahren und der ›Erzählung‹ von Heterosexualität im Hinblick auf die spekulativen Leistungen des Zuschauers und der Zuschauerin nachgedacht werden. Inwieweit spielen diese Spekulationen der Aufrechterhaltung von Heteronormativität zu, inwiefern zielen sie auf eine Konterlektüre von Gendernormen ab? Hypermediale Remediatisierung Beide hier besprochenen Filme stehen im Zeichen einer Remediatisierung71, einer Wiederaufnahme spezifischer Genre- und Medienmerkmale. Auf jeweils unterschiedliche Weise zitieren und transzendieren sie narrative Strukturen und ästhetische Elemente des Volksmärchens, die sie sich aneignen, um sie gleichzeitig zu dekonstruieren. VŠEHOCHLUP / ZOTTELSCHRECK gehorcht in der Realisierung dieser Remediatiserung einer Ästhetik der Hypermedialität und stellt Elemente der oralen Tradition des Märchenerzählens sowie des folkloristischen Kontexts aus: Sowohl auf der Tonebene (Musik von Jaroslav Celba für ein kleines Orchester mit Trompeten, dialektale Erzählung), als auch auf der visuellen Ebene (zweidimensionale Animation auf der Grundlage von Stickereien) verwendet Smetana folkloristische Elemente, die auf einen kulturkonservativen Kontext, auf Authentizität, Handwerk und nationale Kultur verweisen. So beginnt das Märchen entsprechend der Konvention mit der Formel ›Es war einmal...‹ und eröffnet damit eine Erwartungshaltung, die gute Feen, böse Hexen, Prinzen und Prinzessinnen auf den Plan ruft. Schon der Beginn des Films spekuliert seinerseits mit einer zuschauerischen Spekulationsleistung: heteronormative Strukturen in einem Märchen voraussetzend, interpretiert die Zuschauerin das Wesen an der Seite des Königs zunächst als sein Haustier, schließlich als seine Frau (bzw. seine Partnerin oder seinen Partner). Eva und Jan Švankmajer nutzen ebenfalls inter- und transmediale Strategien, um die Verwicklungen und Überschneidungen des Imaginären und des Realen in ihrem Film zu zeigen. Auch hier ist die Folie der Story ein Märchen in der Version des Schrifstellers und Ethnographen Karel Jaromír Erben. Das Mädchen Alžbětka, 71 Bolter; Grusin: Remediation: Understanding New Media.

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das wie Švankmajer sagt, eine Fortsetzung der früheren Heldinnen aus ALICE / NĚCO Z ALENKY (ČSSR 1988) und DO PIVNICE/ DOWN THE CELLAR (ČSSR 1983) ist,72 liest das Märchen und erklärt sich mit der Hilfe des Märchenbuches das Leben des in ihrer Nachbarschaft auftauchenden Baumstumpfkindes Otesánek. Das Märchen, illustriert und animiert von Eva Švankmajer73, konfligiert, wie es František Dryje ausdrückt, mit dem »zivilen Pragmatismus des Alltags«74: »The civic, pragmatic and positivist nature of everyday life finds itself in ever new conflicts with the fairy tale world, a profaned myth.« 75 Während das Märchen im Alltagsgebrauch gleichzeitig didaktisch-moralische und eskapistische Momente aufweist, verunsichert die Präsenz märchenhafter Figuren die bei Švankmajer dargestellte Realität. Wenn das Märchen Realität wird, wird umgekehrt die Realität nicht zum Märchen, sondern zum Horror. Das Märchen bildet in beiden Filmen die Folie, die gleichzeitig transzendiert und doch nicht ganz hinter sich gelassen wird. Die Märchenhaftigkeit selbst ist es, die das prekäre Gleichgewicht zwischen Moralität und Monströsität der Geschichten aufrecht erhält. Erst die Formel ›Und wenn sie nicht gestorben sind...‹ mit der VŠEHOCHLUP / ZOTTELSCHRECK endet, legitimiert das Zusammenleben des Königs mit dem haarigen Wesen vollends. In OTÉSANEK / NIMMERSATT wiederum »schafft das Begehren eine Wirklichkeit, die zunehmend mit der vermeintlichen Fantasiewelt des Märchens konform geht.«76 Somit zielt auch OTÉSANEK / NIMMERSATT auf ein Happy End, in dem alle von Otésanek aufgefressenen Menschen schließlich wieder aus seinem großen Bauch herausgeschnitten werden. Vater, Mutter, Kind Das Drama des OTÉSANEK / NIMMERSATT entsteht aus einem harmlosen Spiel, das plötzlich ernst wird. Einem Kinderspiel, das zur Einübung erwachsener Rollen dient, das die Strukturen der Kleinfamilie nachahmt: ›Vater, Mutter, Kind‹. Das Ehepaar Horák versucht seit Jahren vergeblich ein Kind zu bekommen: Božena ist verzweifelt, Karel sieht überall nur noch Babies. Auf Einladung der 72 Peter Hames: The Cinema of Jan Švankmajer: Dark Alchemy. London/ New York: Wallflower Press 2008, S. 133. 73 In einem Interview mit Peter Hames erzählt Švankmajer, dass seine Frau das Märchen Otesánek bereits für ein Kinderbuch illustriert hatte und dass er die Geschichte für den Film übernommen hätte. Vgl. ebd., S. 130. 74 František Dryje zitiert nach Hames: The Cinema of Jan Švankmajer: Dark Alchemy, S. 190. 75 Ebd. 76 Ebd., S. 90.

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Nachbarsfamilie Štádler, verbringen sie ein Wochenende auf dem Land, um auf andere Gedanken zu kommen. Bei der Gartenarbeit fällt Karel einen kleinen Baum und entfernt mühsam die Wurzel aus dem Erdreich. Als er den Baumstumpf endlich aus der Erde zieht, hält er einen schreienden Säugling in den Händen. Nachdem die Nachbarn Božena und Karel alleine lassen und zurück in die Stadt fahren, zieht sich Karel stundenlang in die Werkstatt zurück und schnitzt aus dem Baumstumpf ein Holzbaby. Das Ergebnis dieser handwerklichen Sublimierungsarbeit präsentiert er schließlich seiner Frau. Abbildung 21: Vater schnitzt den Otésanek

Quelle: Screenshot NIMMERSATT (ČR 2001)

Božena ist verzaubert, das Holzbaby ersetzt ihr endlich das sehnlichst vermisste eigene Kind. Aus Sorge um die geistige Gesundheit seiner Frau spielt Karel zunächst ihr Spiel mit und verspricht ihr, dass sie den kleinen Otík jedes Wochenende im Häuschen der Nachbarn besuchen kann. Als Božena jedoch den Nachbarn erzählt, dass sie nun doch schwanger ist und alle Symptome (bis hin zu den Geburtsschmerzen) einer Scheinschwangerschaft aufweist, fasst Karel den Entschluss, das Holzkind zu zerstören und seine Frau aus ihrer Illusion zu reißen. Dazu ist es aber, wie Karel feststellen muss, längst zu spät. Das einst leblose Holzbaby ist tatsächlich lebendig geworden, das materialisierte Begehren hat sich in dem Homunculus verselbstständigt und gerät außer Kontrolle. Die Formel ›Vater, Mutter, Kind‹ wird in VŠEHOCHLUP / ZOTTELSCHRECK auf fantasievolle und interessante Weise variiert. Steht es außer Frage, dass der König vier Kinder hat, drei zu verheiratende Töchter und einen Sohn, so ist zu Beginn der Erzählung nicht ganz klar, ob der König auch eine Königin hat und welche Funktion der Zottelschreck an seiner Seite hat. Erst als der Zottelschreck von einem Zauberer entführt wird, zeigt sich, dass der König ohne Zottelschreck nicht

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nur furchtbar unglücklich ist, sondern gleich auch nicht mehr leben will. Dass die drei Töchter in der Nacht der Entführung ihrerseits das Weite gesucht und sich jeweils mit der Sonne, dem Mond und dem Wind liiert haben, kümmert den König wenig, umso weniger, als »er sie ja ohnehin nicht hätte heiraten können«77 wie uns das Voice-Over verrät. Also macht sich der Sohn des Königs kurzerhand auf die Suche nach dem Zottelschreck und dank der Talente seiner drei neuen Schwäger Sonne, Mond und Wind findet er den bösen Zauberer, der den Zottelschreck gefangen hält. Zunächst muss er aber drei Tage und drei Nächte lang die Tochter des Zauberers hüten, die ihrerseits jede Gelegenheit nutzt, von zu Hause fort zu laufen und die Nächte mit ihren Liebhabern zu verbringen. Es kommt wie es kommen muss, der Sohn des Königs verliebt sich in die junge Zaubererin und sie verbringen noch eine Liebesnacht miteinander, ehe der Zauberer – froh, dass er seine Tochter (standesgemäß) los wird, die Frischverliebten mitsamt dem Zottelschreck ziehen lässt. Der über den Verlustschmerz um Jahre gealterte König kann sich erneut des Lebens freuen und spielt er nun auch nicht mehr ›auf‹ dem Zottelschreck, so schläft er doch ›auf‹ ihm.78 Während unter der folkloristischen und märchenhaften Tarnung von VŠEHOCHLUP einzig auf der Tonebene die Märchenkonventionen frivol unterlaufen werden, legt OTESÁNEK / NIMMERSATT das Unbewusste (das Imaginäre) des Märchens/bzw. des Mythos der Elternschaft offen. OTÉSANEK / NIMMERSATT könne auch als Allegorie der Eltern-Kind-Beziehung gelesen werden, sagt Jan Švankmajer79, und die unbewusste Angst der Eltern personifizieren, dass sich das von ihnen geschaffene Wesen als Monster entpuppen könnte. Diese Angst resultiert aber vor allem auch aus dem alles beherrschenden Wunsch, der Norm zu entsprechen und ein Kind zu zeugen. Der Normalisierungszwang ist das eigentlich tragische Moment in OTÉSANEK / NIMMERSATT, wobei der Film gleichzeitig keinen Zweifel daran lässt, dass es etwas Natürliches gibt, das essentiell ist, eben nicht hergestellt und dem etwas Monströses gegenübersteht. Insofern könnte man Švankmajers Film auch als radikal konservative Fortschrittskritik lesen, die in jeder Form der künstlichen Fortpflanzung ein Werk des Teufels sieht. VŠEHOCHLUP / ZOTTELSCHRECK scheint weniger besessen von der normativen Anpassung. Die spekulative Leistung des Zuschauers oder der Zuschauerin ermöglicht hier immerhin eine 77 Im Original auf Tschechisch: »Že šly holky s domu, pán Bůh s nima, sám si je vzít nemohl, že jo.« (Dt. » Dass seine Töchter das elterliche Heim verlassen hatten... Gott mit ihnen, die hätte er ja ohnehin nicht heiraten können, nicht wahr.«) 78 Im Original auf Tschechisch: »Jenom starej král na všehochlupovi víc spal než si hrál. Nojo, to už tak ve stáří chodí.« (Dt. »Nur der alte König spielte weniger auf dem Zottelschreck, als dass er auf ihm schlief. Naja, im Alter ist das schon so.«) 79 Hames: The Cinema of Jan Švankmajer: Dark Alchemy, S. 131.

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Gegenlektüre. Im Fall des VŠEHOCHLUP wäre ein Queer-Reading möglich, dessen ›Moral‹ lauten könnte: Liebe nimmt die verschiedensten Formen an. Prinzessinnen, die sich in Planeten verlieben (Sonne und Mond), ein Prinz, der sich in die nymphomanische Tochter des bösen Zauberers (und Antagonisten des Königs) verliebt und eben ein schwuler König, der anstelle einer Königin, einen stark beharrten und überaus zärtlichen (sowie zärtlich geliebten) ›Bären‹ an seiner Seite hat. Verliebtes Fleisch, performatives Geschlecht und Erzählkonventionen OTESÁNEK / NIMMERSATT zitiert einen früheren Kurzfilm von Jan Švankmajers, nämlich ZAMILOVANÉ MASO / MEAT LOVE (ČR 1989), der als Werbeclip für Mehl im Fernsehen zu sehen ist und der ganz wie der Film OTESÁNEK / NIMMERSATT selbst das unheimliche Eigenleben der Dinge personifiziert und gleichzeitig die Materialisierung des menschlichen Begehrens darstellt. ZAMILOVANÉ MASO / MEAT LOVE handelt von zwei anthropomorphisierten Fleischstücken, die für die Dauer ihres kurzen Lebens eine leidenschaftliche Liebesgeschichte erleben: Die Geschichte beginnt kurz nach ihrer Geburt, als sie von dem Fleischkluppen abgeschnitten werden und das männliche Fleischstück um das weibliche wirbt und sie endet mit dem des Geschlechtsaktes und dem ›Tod‹ der Liebenden, als beide in das heiße Öl der Pfanne geworfen und als Schnitzeln gebraten werden. Auch hier sind es die narrativen und filmtechnischen Konventionen (Animation, Einstellungsgrößen und Mise-en-scène) gekoppelt an die spekulative Leistung der Zuschauerin, die die beiden Fleischstücke zu Liebenden machen. Ausgehend von der Überlegung, dass »der Diskurs die Autorität [...] gewinnt, hervorzubringen, was er benennt« und sich »die Norm des Geschlechts in dem Maße durchsetzt, indem sie als eine solche Norm zitiert wird«80, hat Judith Butler die Performativität von Sprechakten untersucht und in der ärztlichen Interpellation ›Es ist ein Mädchen!‹ eine Anrufung des sozialen Geschlechts erkannt, die auf die Naturalisierung des Geschlechts abzielt.81 »Das Benennen setzt zugleich eine Grenze und wiederholt einschärfend eine Norm«82, schreibt Judith Butler. In OTESÁNEK / NIMMERSATT gibt es eine Szene kurz nach der ›Geburt‹ von Otesánek, als die Mutter Božena, den Kleinen gewickelt und angezogen mit in die Stadt

80 Butler, Judith: Körper von Gewicht: Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin: Suhrkamp 1997, S. 37. 81 Vgl. Hannelore Bublitz: Judith Butler zur Einführung. Hamburg: Junius 2002, S. 23. 82 Butler: Körper von Gewicht, S. 29.

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nehmen möchte, in der Karel plötzlich die Beherrschung verliert und seine Frau zur Vernunft bringen will. Er packt das Holzstück, bringt es zurück ins Haus und schlägt damit vor den Augen seiner Frau wiederholt gegen den Tisch: »Es ist ein Stück Holz, es ist ein Stück Holz!«, ruft er mehrmals verzweifelt aus. Man könnte das so lesen, dass die »Interpellation« des Vaters den Prozess der Belebung der Materie nicht mehr aufhalten kann. Das Benennen setzt keine Grenze mehr zwischen Mensch und Materie. Die Materie entwickelt ein Eigenleben, das ihr aber durch menschliche unbewusste Wünsche eingegeben ist. Otesáneks Überlebenswille nährt sich einzig von ›menschlichen‹ Trieben, Hunger, Gewalt, Kannibalismus, sein einziges Ziel ist Lusterfüllung. Švankmajers Film setzt der diskursiven Macht die Macht des Unbewussten, des Imaginären, aber auch die Macht der Materie entgegen, die er immer auch im Zusammenhang mit menschlichen Ängsten, Wünschen und Gefühlen sieht: »I believe that objects have a life of their own, because they have witnessed certain events, or rather because they´ve been handled by people who were in a certain frame of mind, who were tense or anxious, and these objects have absorbed all that. In certain situations objects can convey what they have absorbed.«

Eva und Jan Švankmajer verweben in ihrem Langspielfilm biologistischen Determinismus, psychoanalytische Trieblogik und die ikonoklastische Kraft des Unbewussten. Den abstrakten Abbildungen in Alžbětkas Buch über Geburt und Schwangerschaft in einer schnell geschnittenen Abfolge Leben einhauchend, verursacht der Film (oder diegetisch erklärt - Alžbětka mittels ihrer Vorstellungskraft) selbst den Geschlechtsverkehr. Der Film als deterministische Macht (als Trieb) motiviert die kopulativen Bewegungen. In einem asynchronen Voice-Over hören wir bereits den Ton der nächsten Einstellung: eine Motorsäge. Jene Motorsäge, mit der Karel den kleinen Otík ›zeugen‹ wird. Für Švankmajer steht OTESÁNEK / NIMMERSATT auch für die Rebellion des Menschen (der Eltern) gegen die Natur.83 Sie rebellieren gegen die ihnen durch die Natur vorenthaltene Elternschaft. In dieser Rebellion sieht Švankmajer die tragische Dimension des Daseins, da sie immer zum Scheitern verurteilt ist. Letztendlich tötet Otesánek seine Eltern, indem er sie sich einverleibt.84 Die Moral des 83 Hames: The Cinema of Jan Švankmajer: Dark Alchemy, S. 131. 84 Ebd. Im Interview mit Švankmajer heißt es wörtlich: »In LITTLE OTÍK, the child devours its ›parents‹. Otík is the product of their desire, their rebellion against nature. This is not a child in the real sense of the word, but the materialisation of desire, of a rebellion. That is the tragic dimension of the human destiny. It is impossible without rebelling against the human lot. That is the subject proper of freedom.«

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Märchens von Jaromír Erben lautet vermutlich: »Wende dich nicht gegen die Natur, sonst schlägt sie dich mit ihren Waffen, gegen die du machtlos bist.« In OTESÁNEK schwingt aber noch etwas Anderes mit: In der hier vorgeschlagenen Lektüre versinnbildlicht OTESÁNEK / NIMMERSATT nicht so sehr die Rebellion gegen die Natur, als eine drastische Ironisierung und damit auch Subvertierung des Gesetzes der Heteronormativität. Mutterschaft sowie Vaterschaft werden auch in ihrer Angelerntheit und Performativität kenntlich: es bedarf keines echten Kindes, um den Mythos der Mutterschaft zu beleben, es genügt die hysterische Identifikation der Mutter mit einem Holzstumpf. Durch den Einsatz einer Variablen in der heteronormativen Gleichung ›Mutter+Vater=Kind‹ legen VŠEHOCHLUP / ZOTTELSCHRECK und OTESÁNEK / NIMMERSATT die Instrumente der diskursiven Macht offen und unterlaufen diese gleichzeitig. Das DF 4 Vater, Zottelschreck und Nimmersatt verweist auf eine stark an Elementen des Fantastischen orientierte Tradition des tschechischen Animationsfilms. Die Gegenüberstellung eines späten Films von Jan Švankmajer und einer vergleichsweise bedeutungslosen Fernsehproduktion aus den späten 1970er Jahren zeigt einererseits, wie sehr die Imagery der Švankmajer Filme auch von den Volksmärchen beeinflusst zu sein scheint. Andererseits beeindruckt der TV-Film VŠEHOCHLUP / ZOTTELSCHRECK durch seine Originalität, seine Kreativität sowie queere Subversivität.

5

Fernsehen, Feminismus und nationale Identität

Das zweite Unterkapitel der Filmanalysen widmet sich dem Zusammenhang von Narrationen und Remediatiserungen des Privaten und des Öffentlichen sowie nostalgischen Rezeptionsweisen des Fernsehens. In insgesamt vier TV-Serien und einem Dokumentarfilmen aus der Tschechoslowakei, der Tschechischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland wird die Verstrickung von Gender-Identität mit nationaler Identität vor dem Hintergrund der beiden politischen und ökonomischen Systeme, Kommunismus und Kapitalismus, diskutiert. Das Fernsehen wird dabei mit Andrea Seier als ein Dispositiv und damit als ein Ort aufgefasst, »an dem die multiplen Dimensionen untersucht werden können, mit denen Individuen und Bevölkerungen ›gemacht‹ werden und kontinuierlich als aktive und verantwortliche Bürger und Bürgerinnen autorisiert und neu erfunden werden.«1 Zu diesem Dispositiv sind nicht nur die apparative Dimension des Fernsehens und das televisuelle, durch Bildschirmbegrenzungen fixierte Bild zu zählen, sondern es umfasst darüber hinaus die spezifischen gesellschaftlichen Rahmungen des Fernsehens in seiner Bedeutung als kulturelle Praxis. Knut Hickethier beschreibt die verschiedenen Ebenen jener gesellschaftlichen Rahmungen folgendermaßen: »Die dispositivbezogene Betrachtung dieser gesellschaftlichen Rahmungen sucht nun gerade nach den Verflechtungen und Vernetzungen auf den verschiedenen materialen Ebenen, sieht Gesetze und gebaute Architektur, Senderlogos und Programmrichtlinien, administrative Strukturen der Sender und Genrekategorien, Rezeptionssituationen und Technik, Zuschauererwartungen und medienindustrielles Kalkül zusammen.«2

1

Andrea Seier: »Mikropolitik des Fernsehens. Reality-TV als Regierung aus der Distanz.« kultuRRevolution – zeitschrift für angewandte diskurstheorie, Nr. 55, (2009), S. 47.

2

Hickethier: »Dispositiv Fernsehen. Skizze eines Modells.«, S. 70.

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Die geopolitischen Veränderungen im osteuropäischen Raum und der damit zusammenhängende Umbau eines staatlich kontrollierten Mediums mit politischpropagandistischem Auftrag zu einem Medium nach (westeuropäischen) Marktbedingungen bieten, wie es Anikó Imre, Timothy Havens und Katalin Lustyik auf den Punkt bringen,3 in besonderem Maß die Möglichkeit, Wechselwirkungen zwischen Ökonomie und Subventionierung, zwischen Imperialismus, Populärkultur und kultureller Identität zu untersuchen. »[Eastern European] [t]elevision´s transformation has been especially spectacular, shifting from a state-controlled broadcast system delivering national, regional and heavily filtered Western programming to a deregulated, multiplatform, transnational system delivering predominantly American and Western European entertainment programming. Consequently, the nations of Eastern Europe provide opportunities to examine the complex interactions among economic and funding systems, regulatory policies, globalization, imperialism, popular culture and cultural identity.«4

Diese »komplexen Wechselbeziehungen« gerade »zwischen Populärkultur und kultureller Identität«, wie es im letzten Satz des Zitates heißt, werden durch die Analyse der TV-Produktionen, aber auch ihrer plurimedialen Konstellationen untersucht. Im ersten Teil des Kapitels wird das DF 5 Acht Stunden Frau hinter dem Ladentisch behandelt, in dem sich zwei in den 70er Jahren produzierten fiktionalen TV-Serien aus der Tschechoslowakei und aus der BRD gegenüber stehen und die auf synchroner Ebene verglichen werden. Im dritten Teil des Kapitels, mit dem DF 6 Auf ewig Ehe-Etüden werden zwei dokumentarische TV-Serien auf diachroner Ebene verglichen, die im heutigen Tschechien und in der Tschechoslowakei der 1980er Jahre entstanden sind. Der synchrone Vergleich fokussiert auf Narrative und Motive des öffentlichen und des beruflichen Lebens im Kontext von Utopie (1968) und Normalisierung (1971), der diachrone Vergleich nimmt das Private und seinen intrinsischen Zusammenhang mit der Medientechnologie des Fernsehens in den Blick. Eine Mittlerrolle zwischen den beiden Teilen übernimmt der für das Kino produzierte Dokumentarfilm SOUKROMÝ VESMÍR / PRIVATE UNIVERSE (ČR 2012, Helena Třeštíková) mit seinem ambivalenten, dennoch aber als kritisch-nostalgisch auszuweisenden Fokus auf das Private. Der Analyse von SOUKROMÝ VESMÍR / PRIVATE UNIVERSE ist daher Exkurs I gewidmet, wobei es sich weniger um einen Exkurs im eigentlichen Sinn handelt, als um eine Kontextualisierung des ›Fernsehkapitels‹ und um eine ausführlichere Einführung in das 3

Vgl. Imre; Havens; Lustyik (Hg.): Popular Television in Eastern Europe During and

4

Ebd., S. 2.

Since Socialism.

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DF 6 Auf ewig Ehe-Etüden. Wiewohl es sich bei SOUKROMÝ VESMÍR nicht um eine Fernsehproduktion handelt, steht doch das Fernsehen als Mnemotechnologie im Zentrum der Narration jenes ›privaten Universums‹; das Fernsehen (und konkret das Fernsehgerät) rahmt als Motiv den Plot des Dokumentarfilms und strukturiert durch Archivaufnahmen von Nachrichten- und Unterhaltungssendungen die Chronologie der Ereignisse im Film von Helena Třeštíková. Ausgehend von John Fiskes Behauptung, dass »das Fernsehen [selbst] Teil von Familienverhältnissen und der Familienpolitik, [...] Teil von Geschlechterverhältnissen und -politik, Teil von Konsumverhältnissen und -politik [ist]«5, konzentriert sich die folgenden Analyse auch auf Narrative und Medialisierungen von Familie, Gender und sozialer Identität.

5.1 DOUBLE FEATURE 5 – ACHT STUNDEN FRAU HINTER DEM LADENTISCH Marion: »Man hat euch für eine bestimmte Arbeit in einer bestimmten Zeit eine bestimmte Prämie versprochen. Die bestimmte Arbeit leistet ihr in einer bestimmten Zeit und die Prämie wird euch einfach gestrichen. Das ist doch [...] sittenwidrig!« [...] Jochen: »Ziemlich hartes Wort, findste nicht?« M: »Aber exakt.« J: »Also schön, ich gehe also zum Betriebsrat [...] und der findet raus, die Betriebsleitung ist im Recht! Und [...] dann?« M: »Dann müsst ihr eben zur Selbsthilfe greifen. [...] Noch nie was von Selbsthilfe gehört? [...] Wieso haltet ihr denn nicht zusammen? [...] Also, resignieren find ich wirklich das Letzte!« ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG, Folge 1 »Jochen und Marion« (1972) »So! Und nun werden wir uns hinter den Ladentisch begeben, der für unsereins die Welt bedeutet.« ŽENA ZA PULTEM / FRAU HINTER DEM LADENTISCH, Folge 1 »Anna tritt ihren Dienst an« (1977)

5

John Fiske: »Augenblicke des Fernsehens. Weder Text noch Publikum«, in: Claus Pias et al. (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, DVA 1999, S. 252.

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Utopie und Normalisierung. TV-Serien als Indikatoren und Mediatoren von Vergesellschaftlichung6 Radio Prag berichtete am 26. September 20057 von der Initiative des ODS - Abgeordneten8 Josef Pavlata, den ›Internationalen Frauentag‹, diesen »widerwärtigsten kommunistischen Feiertag« aus dem Kalender zu streichen und stattdessen den katholischen Karfreitag als offiziellen Feiertag in den tschechischen Kalender aufzunehmen. Hana Havelková, Professorin am Institut für Gender Studies an der Karlsuniversität (Prag), bezeichnet diesen Backlash in der gegenwärtigen tschechischen Gleichstellungspolitik als ein Phänomen der »Retraditionalisierung«, das seine Wurzeln bereits im Kommunismus hat: »Diese traditionellen Haltungen waren eigentlich eine Reaktion auf die offizielle Politik, die ja pro-emanzipatorisch war. In den 50er Jahren war die Gesellschaft Veränderungen gegenüber relativ offen, aber dann, in der Opposition zum Regime haben die traditionellen Werte einen neuen, speziellen Stellenwert bekommen.«9

Feministische Politik wurde entsprechend sehr stark als sozialistische Pflichtübung, als ideologischer Zwang wahrgenommen, auf den mit reaktionären, antifeministischen gesellschaftlichen Positionen reagiert wurde. Vor der kommunistischen Machtübernahme, führt Havelková weiter aus, hätte es in der Tschechoslowakei hingegen eine sehr aktive feministische Szene gegeben:

6

Teile dieses Kapitels wurden in einer früheren Fassung veröffentlicht. Vgl. Nicole Kandioler: »Utopie und Normalisierung. TV-Serien als Indikatoren und Mediatoren von gesellschaftlichen Brüchen«, in: Wagner, Birgit (Hg.): Bruch und Ende im seriellen Erzählen. Wien: Vienna University Press 2016, S. 109-125.

7

Vgl. Sandra Dudek: »Alle Menschen sind gleich, nur Männer sind gleicher: Gleichstellungspolitik in Tschechien nicht prioritär«, Radio Praha (26.09.2005), http://www.radio.cz/de/rubrik/eurodomino/alle-menschen-sind-gleich-nur-maenner-sind-gleichergleichstellungspolitik-in-tschechien-nicht-prioritaer (26.09.2005), [letzte Sichtung am 18.03.2020].

8

Občanská demokratická strana: konservative, wirtschaftsliberale und zweitstärkste Partei in Tschechien. Vertreter sind der ehemal. Präsident der Tschechischen Republik, Václav Klaus, und Mirek Topolánek, amtierender Parteivorsitzender ist Petr Fiala.

9

Vgl. Dudek: »Alle Menschen sind gleich, nur Männer sind gleicher: Gleichstellungspolitik in Tschechien nicht prioritär«.

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»Hier gab es eine der ersten Modernisierungen des Familienrechts in Europa überhaupt, es gab seit 1950 kein Familienoberhaupt in unserem Rechtssystem, also das war sehr progressiv.«10

In ihrem Artikel »The Public and the Private from a Feminist Perspective«11 stellt die Sozialwissenschaftlerin Zuzana Kiczková die These auf, dass Frauen in der kommunistischen Tschechoslowakei der 1980er Jahre weniger von einem Ausschluss aus der Sphäre des Öffentlichen betroffen waren, als vielmehr von den Schwierigkeiten, die mit einer Doppelbelastung durch Ansprüche an das private und an das öffentliche Leben einhergingen. »Socialism needed women as a production force and it paternalistically created conditions for them (their children werde looked after in pre-school cheap institutions like crèches or nursery schools while they were working) but at the same time, it also underestimated their work and homemaking.« 12

Zudem spricht Kiczkova von einer Aufwertung der Sphäre des Privaten und des sozialen Kapitals, die mit der gleichzeitigen Abwertung des ökonomischen Kapitals einherging.13 In Ermangelung einer Zivilgesellschaft und sozialer Organisationen gewann der Arbeitsplatz als elementarer Knotenpunkt des Soziallebens zunehmend an Bedeutung.14 Frauen als ›Expertinnen des Privaten‹ übernahmen im Kontext sozialer Kontaktnetze und beim Networking eine zentrale Rolle und hatten direkt an der »Hervorbildung und der Reproduktion des sozialen Kapitals [Anteil]«15. Vor diesem historischen Hintergund scheint es besonders interessant, die tschechoslowakische TV-Serie ŽENA ZA PULTEM / DIE FRAU HINTER DEM LADENTISCH, (ČST 1977/78, 1 Staffel, 12 Folgen, à ca. 45 mn) zu untersuchen. ŽENA ZA PULTEM gilt als ein Meisterstück des Sozialistischen Realismus, das heute noch (bzw. wieder) Kultstatus hat, und dessen Lektüre sich als überaus ambivalent erweist. Jaroslav Dudek und Jaroslav Dietl (Drehbuchautor) waren ein sehr erfolg10 Dudek: »Alle Menschen sind gleich, nur Männer sind gleicher: Gleichstellungspolitik in Tschechien nicht prioritär«. 11 Zuzana Kiczková: »The Public and the Private from a Feminist Perspective« Human Affairs 1, 2003; abrufbar auf der Webseite der Central and Eastern European Online Library https://www.ceeol.com/search/article-detail?id=5189, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 12 Ebd., S. 6 (Fußnote 1). 13 Vgl. ebd., S. 13. 14 Vgl. ebd., S. 14. 15 Ebd.

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reiches Regie-Duo, das mit der Serie NEMOCNICE NA KRAJI MĚSTA / DAS KRAN(ČST 1978-1981, 2 Staffeln, 20 Folgen)16, die in insgesamt 21 Ländern ausgestrahlt wurde, und die Krankenhausserien wie bspw. der SCHWARZWALDKLINIK (ZDF 1984-1988, 6 Staffeln, 71 Folgen) Modell stand, Fernsehgeschichte schrieb. Die Protagonistin von ŽENA ZA PULTEM / DIE FRAU HINTER DEM LADENTISCH, Anna Holubová, dargestellt von der beliebten, wenn auch heute aufgrund ihrer bis zum Fall des Kommunismus unbeirrbar regime-unkritischen Haltung umstrittenen, tschechischen Fernsehschauspielerin Jiřina Švorcová17, spielt eine Verkäuferin in einem Feinkostladen in Prag. Mit ihrer gleichzeitig offenherzigen wie auch pragmatischen Einstellung meistert sie die Schwierigkeiten sowohl des Alltags im Feinkostladen als auch ihres nicht konfliktfreien Familienlebens: Auseinandersetzungen zwischen den Mitarbeiterinnen, Mitarbeitern und dem Abteilungsleiter, die Nachwirkungen ihrer Scheidung und die Spannungen zwischen ihrem Ex-Mann und ihren beiden pubertierenden Kindern. Die fiktionale Figur der 1970er Jahre ist also wie Kiczková das in ihrem Artikel für Frauen in der Tschechoslowakei der 1980er Jahre behauptet, einer Doppelbelastung ausgesetzt, die sie jedoch – wir befinden uns im Grenzbereich von Fiktion und Propaganda – als positive Herausforderung begreift und die die Serie nicht zum Gegenstand von Gesellschaftskritik macht. Anna Holubová wird als selbstbewusste, eigenständige Frau inszeniert, die Verantwortung übernimmt und falls notwendig Führungsqualitäten vorweisen kann, um gleichzeitig ihre weiblichen Pflichten und den ihr von der Gesellschaft zugewiesenen Platz als Mutter und Hausfrau selbstverständlich anzunehmen. ŽENA ZA PULTEM / FRAU HINTER DEM LADENTISCH (ČST 1977/78, 1 Staffel, 12 Folgen, à ca. 45 mn) von Jaroslav Dudek soll in DF 5 Acht Stunden Frau hinter dem Ladentisch mit der deutschen TV-Serie ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG (WDR 1972/73, 5 Folgen) von Rainer Werner Fassbinder verglichen werden. Im Fokus des Vergleichs stehen die unterschiedlichen Inszenierungen des Arbeiters und der Arbeiterin. Folie der Untersuchung der beiden TV-Serien sind die beiden historischen gesellschaftspolitischen Brüche 1968 und 1971 und ihre jeweilige Umsetzung im Fernsehen im Osten und im Westen Europas. Während mit westKENHAUS AM RANDE DER STADT

16 Erstausstrahlung in der Deutschen Demokratischen Republik, am 5. Januar 1979 auf DDR F1. Vgl. den Eintrag »Das Krankenhaus am Rande der Stadt« auf Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Krankenhaus_am_Rande_der_Stadt, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 17 Jiřina Švorcová verstarb am 8. August 2011 in Prag. Die Rolle in der TV-Serie DIE FRAU HINTER DEM LADENTISCH prägte ihre gesamte Karriere. Sehr oft »verkörperte sie den Rollentypus der selbstbewussten, modernen und in die kommunistische Gesellschaft eingebundenen jungen Frau.« Vgl. ebd.

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europäischen Entwürfen einer gesellschaftlichen Utopie (hetero-)normative Narrative in Frage gestellt werden, folgt auf die Aufbruchsstimmung der Tauwetterperiode und des Prager Frühlings die ›Normalizace‹ und die Einebnung politisch subversiven Potentials. Feministischer Aktivismus ist hier allerdings gleichzeitig mit Bezug auf Hana Havelková nicht als subversiv zu verstehen, sondern gilt als konform zur Staatsideologie. Die Geschlechterdifferenz tritt im Kontext der beiden Ideologien jeweils spezifisch als konstruktives Moment zutage, das die sozialistische oder die kapitalistische Gesellschaft unterschiedlich konstituiert. Ausgehend von der Behauptung von Teresa de Lauretis, dass »das sex-gender-System stets in enger Verbindung zu den politischen und ökonomischen Faktoren der jeweiligen Gesellschaft«18 steht, werden die ineinander verschränkten Wirkungsweisen von Gender, Ideologie und Medium anhand der beiden TV-Serien beleuchtet. Auf die Wechselwirkungen zwischen Ideologie und Individuum hat schon Louis Althusser in Ideologie und Ideologische Staatsapparate hingewiesen. De Lauretis greift seine Überlegungen auf und erweitert Althussers ideologische Konstituierung von »konkreten Individuen« zur Konstituierung von konkreten Individuen »zu Männern und Frauen.« Während es bei Althusser heißt » [...] jede Ideologie [hat] die (sie definierende) Funktion, konkrete Individuen zu ›konstituieren‹«,19 liest man paraphrasiert bei de Lauretis: »Das (soziale) Geschlecht hat die (es definierende) Funktion, konkrete Individuen zu Männern und Frauen zu konstituieren.«20 Gerade die soziale Dimension von Geschlecht und die Art und Weise, wie Geschlecht sozial ausagiert wird, bestimmt den komplexen Bedeutungszusammenhang dessen, was in einer Gesellschaft als männliche oder weibliche Identität gefasst wird. Wie das öffentliche Fernsehen als maßgeblicher Agent des ideologischen Apparates also männliche und weibliche, soziale Individuen inszeniert und adressiert, erfolgt demnach immer nach den ideologischen Prämissen des jeweiligen sex-gender-systems. Trotz weitgehend positiver Reaktionen seitens der Fernsehzuschauer und -zuschauerinnen und einer Schauquote von 60 % fiel Rainer Werner Fassbinders Serie ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG sowohl bei der konservativen als auch bei der

18 Teresa De Lauretis: »Die Technologie des Geschlechts« (1987), in: Elvira Scheich (Hg.): Vermittelte Weiblichkeit. Feministische Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie, Hamburger Edition 1996, S. 62. 19 Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg / Berlin: VSA-Verlag 1977, S. 140; De Lauretis »Die Technologie des Geschlechts«, S. 63. 20 De Lauretis: »Die Technologie des Geschlechts«, S. 64.

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liberalen und linken deutschen Filmkritik durch.21 Das Bild der Arbeiter sei zu wenig realistisch gezeichnet, die Mise-en-scène und das Casting (hier vor allem die dem deutschen Publikum aus deutschen TV-Produktionen der 1950er und 1960er Jahre bekannte Luise Ullrich) entspräche zu sehr den als unzeitgemäß empfundenen »Klischees der Unterhaltungsindustrie«.22 Die Kritik an der TV-Serie Rainer Werner Fassbinders muss natürlich auch als eine Kritik am Medium Fernsehen verstanden werden, das als Medium der Populärkultur nicht mit den Ansprüchen der Hochkultur (und der Vertreter des Jungen Deutschen Films) vereinbar schien.23 In fünf Folgen, die mit Namen von Paaren betitelt sind, inszeniert Rainer Werner Fassbinder deutsche »Lebenszusammenhänge«24 der frühen 1970er Jahre, als die Fahndung nach den Mitgliedern der Roten Armee Fraktion (RAF) unter Willy Brandt gerade ihren Höhepunkt erreichte. Anhand von Protagonistinnen und Protagonisten aus dem Arbeitermilieu - dargestellt u.a. von Hanna Schygulla, Irm Hermann, Kurt Raab - behandelt Fassbinder alltagspolitische Themen wie den Nulltarif in öffentlichen Verkehrsmitteln, die Mitbestimmung der Arbeiter im Betrieb, hohe Mieten und die Macht der Wohnungsmakler, Geschlechterbeziehungen und Ehe, antiautoritäre Kindererziehung und Vorurteile gegen Arbeiter und Gastarbeiter. Fassbinder zitiert vor allem kamera- und mise-en-scène-spezifische Konventionen der TV-Serie - hier vor allem frühe deutsche Familienserien wie die zunächst als ein Hörspiel des Hessischen Rundfunks ausgestrahlte FAMILIE HESSELBACH25 und die erste deutsche TV-Familienserie UNSERE NACHBARN 21 Peter W. Jansen, Wolfram Schütte (Hg.): Rainer Werner Fassbinder. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1992, S. 161. 22 Ebd. 23 Der Junge Deutsche Film ist vor dem Fernsehen erstarrt »wie das Kaninchen vor der Schlange«, schreibt Joachim Paech, und nennt Alexander Kluge als einzige Ausnahme der fernsehfeindlichen Phalanx der (vorwiegend männlichen) Regisseure des Jungen Deutschen Films. Vgl. Paech: »Die ›Neue Welle‹ in Westeuropa und in Polen.«, S. 196. 24 Jansen; Schütte (Hg.): Rainer Werner Fassbinder, S. 64. »Erst im Rückblick – und vielleicht braucht dieser Blick noch eine größere Distanz, um sich dessen bewusst zu werden – wird man inne, welche Comédie humaine Rainer Werner Fassbinder in seinem Œuvre hinterlassen hat, wie intensiv seine filmischen Erzählungen von Menschen durchtränkt sind von der Politik, der Geschichte und dem Alltag, den Wechseln und den Kontinuitäten im Lebenszusammenhang Deutschlands – gerade auch dort, wo er das Land und seine Geschichte nicht in paradigmatischen Augenblicken und Menschen [...] sich zu imaginieren versuchte.« (Hervorhebung, N.K.) 25 FAMILIE HESSELBACH (auch DIE HESSELBACHS) startete als Hörspiel des Hessischen Rundfunks am 17. September 1949. 1960 bis 1961 zeigte die ARD die Fernsehserie

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HEUTE ABEND: FAMILIE SCHÖLERMANN26

oder auch die erste britische Seifenoper, CORONATION STREET27, die erstmals ausgestrahlt 1960 mit der amerikanischen Tradition brach und die Narration im Arbeitermilieu situierte.28 Fassbinder spielt mit diesen gerade entstehenden Konventionen, indem die Narration von ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG einer verfremdeten Dialogsdynamik und der Darstellung sozialer Realitäten wie in der Petrischale eines Experiments verpflichtet ist. In der Szene, wo Gottfried John zum ersten Mal auf Hanna Schygulla trifft,29 verwendet Fassbinder also zum einen konventionelle fernsehtechnische Mittel wie bspw. einen ästhetisch motivierten Zoom auf Johns Gesicht, als dieser erfährt, dass Schygulla nicht verheiratet ist. Andererseits verfügt der Dialog selbst über theatralisch anmutende Passagen (Wiederholungen, Mischung von Elementen aus Umgangs- und Hochsprache), die in dieser Form nicht in den zu dieser Zeit gängigen Serienformaten zu finden sind. Die Bilder verweisen also vor allem hinsichtlich ihrer Form auf die Bilder der ›Heile Welt-Serien‹ und transzendieren diese gleichzeitig, indem sie als politische Utopie lesbar sind. Die Themenkomplexe ›Arbeit‹ und ›zwischenmenschliche Beziehungen‹ bilden auch die Grundpfeiler des Mikrokosmos der dem sozialistischen Realismus verpflichteten TV-Serie von Jaroslav Dudek ŽENA ZA PULTEM. Während aber Fassbinder den Fokus der Aufmerksamkeit auf die Selbstbestimmung und die Emanzipation der (männlichen) Arbeiter von Vorgesetzten und ökonomischen Zwängen legt, spielt in ŽENA ZA PULTEM das durch scheinbar flache Hierarchien geprägte Kollektiv der Genossinnen und Genossen lediglich als Kontext von Erzählungen eine Rolle, die ganz einem apolitischen Individuum und seinen Eigenarten gewidmet sind. Jaroslav Dudek und Drehbuchautor Jaroslav Dietl mischen

unter dem Titel DIE FIRMA HESSELBACH (1. Staffel). Ende 1961 ging die zweite Staffel DIE FAMILIE HESSELBACH auf Sendung, und die dritte Staffel wurde 1966 bis 1967 unter dem Titel HERR HESSELBACH UND ... ausgestrahlt. Vgl. den Wikipedia-Eintrag ›Die Hesselbachs‹, https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Hesselbachs [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 26 Unsere Nachbarn heute Abend: Familie Schölermann (NWDR 1954-1960, 111 Folgen). 27 CORONATION STREET (ITV, STV, UTV, seit 1960, über 8.000 Folgen). 28 Die US-amerikanischen Prototypen der Seifenoper DALLAS (CBS 1978-1991, 14 Staffeln, 357 Folgen) und DYNASTY (ABC 1981-1989, 218 Folgen; dt. Titel DER DENVER CLAN) werden erst fast zehn Jahre später produziert werden. 29 ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG (WDR 1972/73, Rainer Werner Fassbinder), Folge 1: »Jochen und Marion«.

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also Elemente der klassischen Familienserie und des Arbeiterfilms30, indem sie ihre Serie wohl in das Arbeitermilieu versetzen, das Hauptthema aber nicht die Problematisierung des Arbeitsalltags, Interessenkonflikte zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, sondern vor allem zwischenmenschliche Beziehungen sind. ŽENA ZA PULTEM beinhaltet 12 Folgen in einer einzigen Staffel, die nach den Monaten benannt sind. In der ersten Folge, Jänner – Anna wird angestellt, nimmt die Figur Anna Holubová ihre Tätigkeit als Leiterin der Feinkostabteilung in einer Kaufhalle im Prager Stadtteil Smíchov auf. In der letzten Folge, Dezember – Anna Holubovás Weihnachten, wird sie zur Abteilungsleiterin ernannt und hat einen neuen Partner gefunden. Das von Jaroslav Dietl verfasste Drehbuch thematisiert das alltägliche Leben von Anna Holubová und ihren Arbeitskolleginnen und - kollegen, Themen sind Liebes- und sonstige Beziehungen, Ehe, Freundschaft, Solidarität, Kindererziehung, alleinerziehende Mütter, Alltag, sozialistische Feiertage und damit einhergehende Anforderungen an den Betrieb. »Menschlich«, »herzerwärmend«, »liebevoll« und »voll aus dem Leben gegriffen« - so lauten die am häufigsten gebrauchten Adjektive in aktuellen Kundinnen- und Kundenbewertungen anlässlich des Erscheinens der deutschen Synchronfassung der Serie auf DVD auf der Webseite www.buchredaktion.de.31 Die anhaltende Beliebtheit der Serie bei tschechischen, slowakischen, polnischen und deutschen Zuschauerinnen und Zuschauern sowie die wiederholte Ausstrahlung im tschechischen Fernsehen ist mehrfach zu begründen: Zum einen fungiert die Serie für jenen Teil des Publikums, der die Serie zur Zeit ihrer Erstausstrahlung gesehen hat, als das, was Carpentier-Reifová, Gillárová und Hladik als »Retro-Signifier«32 bezeichnen, sowie als affektives Symbol, mit dem die eigene Kindheit oder Jugend eng verhaftet ist. Für jenen Teil des Publikums, der der postsozialistischen Generation angehört, hat die Serie weniger informativen Gehalt, als dass sie das Versprechen beinhaltet, etwas über die affektiven Erfahrungen der vorhergehenden Generation (i.e. in vielen Fällen der Eltern) preiszugeben. Besonders auffällig erscheint aus heutiger Perspektive die Darstellung von Luxus und Überfluss an Ware, die mit der Realität der Mangelwirtschaft und mit Berichten von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen von leeren Regalen in den Supermärkten und der Exotisierung von Früchten wie 30 Zur Definition des Genres Arbeiterfilm, dessen Genealogie sehr stark mit dem Westdeutschen Rundfunk verbunden ist, vgl. Richard Collins, Vincent Porter: WDR and the Arbeiterflm: Fassbinder, Ziewer and others. London: British Film Institute 1981. 31 Vgl. http://www.buchredaktion.de/die-frau-hinter-dem-ladentisch.html [letzte Sichtung am 8.10.2016]. 32 Carpentier-Reifová; Gillarová; Hladík: »The Way We Applauded. How Popular Culture Stimulates Collective Memory of the Socialist Past in Czechoslovakia – The Case of the Television Serial Vypravej and its Viewers.«, S. 207 f.

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Bananen und Mandarinen, die man nur selten in tschechoslowakischen Supermärkten kaufen konnte, nicht konform geht. Die Eröffnungssequenz zeigt die Protagonistinnen und die Protagonisten (kantige und dennoch herzliche Verkäuferinnen und Verkäufer, geschäftige Kundinnen und Kunden) und das Lebensmittelgeschäft (großzügig angefüllte Vitrinen und Regale, Delikatessen und Feinkostwaren) mit Close-Ups von farbenfrohem Obst, Gemüse, Brot, Konserven und Luxusgütern. Diesen Kontrast zwischen Darstellungen des sozialistischen Alltags durch Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und der Erzählung dieses Alltags durch die propagandistische Serie evoziert auch ein interessantes Youtube-Video33, das die hochbetagte Jiřina Švorcová in einem Interview mit Martina Vrbová vom tschechischen Fernsehen (Česká Televize 234) zeigt. Das Video erhielt 63.892 Klicks, 87 Likes und 14 Dislikes und löste eine Diskussion unter den Usern und Userinnen aus, die sich in 218 Wortmeldungen niederschlug. Die Aufnahmen des Gesprächs, das sich ästhetisch an den Stil des Cinéma Vérité anlehnt, sind in Over Shoulder Shots auf Švorcová aufgelöst, die von zwei Kameras mit verschiedenen Farbfiltern aufgezeichnet sind. Das unruhige Wechseln zwischen den beiden Kameraperspektiven (statisch und bewegt), die Zooms auf Švorcová suggerieren, dass sich die Sendung der Schauspielerin aus allen Perspektiven annähert, dass nichts versteckt bleiben kann und dass die ganze Wahrheit ans Tageslicht kommt. Mit Ausschnitten aus ŽENA ZA PULTEM / FRAU HINTER DEM LADENTISCH sowie undatierten Archivaufnahmen aus der Zeit des Kommunismus kontrastiert, konzentrieren sich die Fragen von Vrbová vor allem auf die Darstellung des Lebensmittelladens. Sie befragt Švorcová dahingehend, ob ihre individuellen Erfahrungen mit der Art und Weise, wie die Kaufhalle sich in Žena za pultem inszeniert ist, denn übereinstimmen: »Ich kann mich erinnern,« sagt die Interviewerin, »dass es damals sehr schwierig war, Fleisch zu 33 Der Clip mit dem Titel »Jiřina Švorcová« dauert ca. 4,5-minütigen und zirkuliert auf dem Internet-Videoportal der Google Incorporation, Youtube. Hochgeladen wurde er am 9.11.2008 vom User carlosotono. Vgl. http://www.youtube.com/watch?v= AKkJ1Csgf_A, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 34 Es handelt sich um einen Ausschnitt aus der Sendung RETRO vom 31.12.2013, Folge »Selbstbedienungsläden«. Produzent der Serie ist Michal Petrov, Dramaturg ist Jan Rozkošný. RETRO existiert seit dem 6. Februar 2008 und verfolgt das Ziel, so kann man es auf der Homepage des Tschechischen Fernsehens nachlesen, »das Design und die Trends der Tschechoslowakei nach dem 2. Weltkrieg abzubilden. [...] Es geht hier nicht um Nostalgie, sondern um eine Reflexion, die uns heute noch immer fehlt. [...]«. [Übersetzung aus dem Tschechischen, N.K.] Vgl. die Webseite des Tschechischen Fernsehens,

www.ceskatelevize.cz/porady/10176269182-retro/2234-poslani-a-autori-po-

radu/, [letzte Sichtung am 18.03.2020].

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bekommen und dass man dafür lange Schlange stehen musste. Bei ihnen sieht es aber so aus, als hätte es an nichts gemangelt und als hätte es alles gegeben.« Die Ausgangssituation des Clips ist insofern ambivalent, als die Interviewerin der (immerhin fiktionalen!) Serie unterstellt, die Wirklichkeit verschönt abzubilden und Švorcová auf diesen Vorwurf reagierend die dokumentarische ›Abbildungsleistung‹ der Serie zu verteidigen versucht. Der naiv-provokative Fragemodus von Vrbová, die der postsozialistischen Generation angehört und die die 70er Jahre als Kleinkind erlebt hat, fordert eine Konfrontation mit der Schauspielerin heraus, die zwischen mehreren Erinnerungsgenres35 oszilliert und die allgemeine Gültigkeit für den Umgang mit der sozialistischen Vergangenheit hat. Die Interventionen der Interviewerin, die den dokumentarischen Wahrheitsgehalt der fiktionalen Serie offensiv in Frage stellen, provozieren bei Švorcová abwechselnd Widerstand (Berichtigung von überlieferter Geschichte durch ihre Expertise als Zeitzeugin – »Es gab genug zu essen, man musste nicht hungern«), Verdrängung (Amnesie – »Ich kann mich daran nicht erinnern, ich erinnere mich viel besser an die Gedichte, die wir in der Schule gelernt haben«) und Relativierung (»Scheinbar gab es damals wichtigere Dinge in unserem Leben als Bananen und Mandarinen«). Die Diskussion unter den Usern und Userinnen, die das Regime zum Teil nur als Kinder erlebt haben, spaltet sich im Wesentlichen in zwei Lager. In das kleinere Lager derjenigen, die zur Ehrenrettung von Švorcová antreten und in das größere Lager derjenigen, die wie die Interviewerin unter Bezugnahme auf ihre eigenen Erfahrungen oder die Erfahrungen ihrer Eltern die Aussagen Švorcovás kritisieren. Die beiden Sequenzen, die ich im Folgenden vergleichen werde, zeigen die Arbeiterinnen und Arbeiter in Konflikt mit dem jeweiligen Vorgesetzten. In ŽENA ZA PULTEM / FRAU HINTER DEM LADENTISCH fordert der Verkaufsstellenleiter, verkörpert von Vladimir Menšík, von seinen Mitarbeiterinnen, dass sie alle am Freitag vor den Osterfeiertagen ausnahmsweise länger arbeiten und jeweils zwei Schichten anstatt nur einer übernehmen.36 Den spontan aufkeimenden Protest beruhigt der Verkaufsstellenleiter, indem er an den ›gesunden Menschenverstand‹ seiner Untergebenen appelliert: »Da kann man gar nichts machen. Wir haben uns alle nun einmal für dieses Gewerbe entschieden und müssen nun mit seinen Vorteilen und mit seinen Nachteilen leben.« Das überzeugt das Kollektiv zwar nicht restlos, aber bei der anschließenden Abstimmung ist keine(r) gegen die verlängerte Arbeitszeit. Am Ende der Sequenz soll noch eine ›Vertrauensbeauftragte‹ – sozialistisches Surrogat des Betriebsrats – gewählt werden. Die stotternde Jiřinka 35 Carpentier-Reifová; Gillarová; Hladík: »The Way We Applauded. How Popular Culture Stimulates Collective Memory of the Socialist Past in Czechoslovakia – The Case of the Television Serial Vypravej and its Viewers«, S. 201 f. 36 ŽENA ZA PULTEM / FRAU HINTER DEM LADENTISCH, Folge 1, »Anna tritt an«.

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schlägt Anna vor, die das zunächst ostentativ bescheiden ablehnt, da sie findet, noch nicht lange genug im Betrieb zu sein, um eine solche Position des Vertrauens zu übernehmen. Trotzdem wird sie einstimmig gewählt. Der Abteilungsleiter kommentiert scherzend, dass er es mit einer solchen Opponentin wohl eher schwer haben wird, (weil er ihr nichts abschlagen könne). In Fassbinders ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG verweigert der ›Meister‹ den Arbeitern eine Leistungszulage, die sie aufgrund der frühzeitigen Erledigung eines Auftrages erhalten sollten37. Begründet wird die Streichung der Prämie mit dem Argument, dass der Arbeiter Jochen, verkörpert von Gottfried John, eine Vorrichtung erfunden hätte, die die Arbeit erleichtert und somit beschleunigt hätte. Der Vergleich der beiden Sequenzen scheint mir auf drei Ebenen interessant: 1. hinsichtlich der Inszenierung des Kollektivs der Arbeiterinnen und der Arbeiter, 2. hinsichtlich der Darstellung des/der Einzelnen in Konfrontation oder in Harmonie mit dem Kollektiv und 3. hinsichtlich des autoritären oder gleichberechtigten Verhältnisses von Angestellten und Abteilungsleitern. Das Kollektiv der Arbeiterinnen und der Arbeiter Vergleicht man die beiden Sequenzen oberflächlich, zeigen sich auf den ersten Blick Ähnlichkeiten, die sich bei näherer Betrachtung auflösen: Die Szene ist bei Dudek durch Medium Shots aufgelöst, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kaufhalle sitzen und stehen in scheinbar zufälliger Anordnung rund um einen Tisch, einige beteiligen sich stärker am Gespräch, einige sieht man nur von hinten; die Kamera schwenkt zwischen den einzelnen Gesichtern. Der Verkaufsstellenleiter und Anna bilden jeweils zwei symmetrische Pole einer horizontalen Achse im Raum und sind nicht gleichzeitig zu sehen. Dass Anna, obwohl nur eine einfache Mitarbeiterin, mit ihm ›auf gleicher Höhe‹ ist – in der letzten Folge der Serie wird sie seine Stelle übernehmen – wird hier bereits angedeutet. Fassbinder bedient sich einer amerikanischen Einstellung mit leichter Aufsicht, die Mitarbeiter Jochens scheinen allerdings nicht zufällig angeordnet, sie stehen im Halbkreis um eine Maschine und bilden in diesem formstrengen Bild alle relativ gleichberechtigt das Gegenüber für Jochen, der für sich alleine steht: das Gespräch zwischen ihnen ist durch eine Schuss-Gegenschuss Sequenz realisiert.

37 ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG, Folge 1 »Jochen und Marion«.

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Abbildungen 22, 23: Arbeiterinnen-Kollektive

Quelle: Screenshots ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG (WDR 1972/73), FRAU HINTER DEM LADENTISCH (ČST 1977/78)

Auf der Tonebene fällt auf, dass die Sprache in der tschechischen Serie sich sehr stark an Spontanäußerungen und Umgangssprache orientiert. Teilweise sprechen alle gleichzeitig, die Tonebene vermittelt Authentizität und Unmittelbarkeit. Bei Fassbinder herrscht auf der Tonebene die so charakteristische Mischung aus Künstlichkeit und Umgangssprache vor. Durch Wiederholung und Pathos gewinnt die Sprache eine verfremdende Dimension, die er Erzählung immer auch ein selbstreflexives Moment einschreibt. In ŽENA ZA PULTEM / FRAU HINTER DEM LADENTISCH sticht die kurze Sequenz der stotterenden Jiřinka hervor, die innerhalb des gleichberechtigten Kollektivs zu Wort kommen kann und einen Vorschlag macht, den schließlich alle aufgreifen. Im sozialistischen Kollektiv sind alle gleich, ist die Message. In ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG hingegen gilt das Faustrecht. Der von der Meinung der anderen abweichende Kollege fängt sich einen Schlag ins Gesicht ein. Beide Szenen inszenieren hier auf der Folie ihrer ideologischen Hintergründe verschiedene Narrative des Arbeiters: Im Falle Fassbinders den Narrativ des ehrlichen und einfachen (männlichen) Arbeiters, der Konflikte schon mal mit der Faust austrägt. Im Falle Dudeks den Narrativ des gleichberechtigten und schützenden Arbeiterkollektivs, in dem jede und jeder zu Wort kommen kann und gehört wird. Der und die Einzelne vor dem Hintergrund des Kollektivs Während bei Fassbinder die Hauptfigur Jochen ganz klar für sich steht und räumlich sozusagen zwischen den Arbeitern und dem Meister positioniert ist, ist Anna Teil des Kollektivs. Andererseits bildet sie auch das Pendant des Verkaufsstellenleiters, dessen Gegenüber (off frame) sie in der Einstellung der Gruppenbesprechung ist.

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Abbildungen 24, 25: Jochen vs. Anna

Quelle: Screenshots ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG (WDR 1972/73), FRAU HINTER DEM LADENTISCH (ČST 1977/78)

Sowohl Jochen als auch Anna fungieren aber auch als Vermittler zwischen dem Kollektiv der Arbeiterinnen und der Arbeiter auf der einen Seite und den Abteilungsleitern auf der anderen Seite. Während das Verhältnis von Anna zu den beiden Leitern sexualisiert ist (der Chef der Kaufhalle deutet immer wieder an, wie attraktiv er Anna findet; der stellvertretende Chef verliebt sich in der Folge 3 »Der Stellvertreter vom Chef« sogar leidenschaftlich in sie und blitzt allerdings, da er verheiratet ist, bei ihr ab), ist das Verhältnis Jochens zum Meister von Pragmatismus und betrieblicher Aushandelung geprägt. Allerdings ist es auch unmissverständlich hierarchisch. Angestellte und Autoritäten Auch auf der Ebene der Beziehungen zwischen Angstellte/n und betrieblichen Autoritäten zeigen sich deutliche Unterschiede in der medialen Adressierung der Arbeiter und Arbeiterinnen. Bei Dudek ist sowohl der Verkaufsstellenleiter als auch der stellvertretende Chef Teil des Kollektivs. Letzterer kommt nicht einmal zu Wort, sondern steht sozusagen als teilnahmsloser Beobachter in der zweiten Reihe. Auch der Verkaufsstellenleiter sitzt nicht im Vordergrund, sondern hinter den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, quasi als einer von ihnen. Lediglich durch die weißen Mäntel unterscheiden die beiden sich von den anderen. Bei Fassbinder hingegen ist der Meister räumlich klar getrennt von den Arbeitenden, er sitzt in einem durch ein Gitterfenster abgetrennten Raum, aus dem er die Arbeiter sehen, aber nicht hören kann. Die räumliche Schwelle, die hier ins Bild kommt und bei Fassbinder als Motiv sehr rekurrent ist, verweist auf die Grenzen, die Abgren-

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zungen, die Markierungen der Räume, auf die Gegenstände und sozialen Barrieren, die zwischen den Menschen stehen.38 Abbildungen 26, 27: Raum und Hierarchie

Quelle: Screenshots ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG (WDR 1972/73), FRAU HINTER DEM LADENTISCH (ČST 1977/78)

Auch ŽENA ZA PULTEM / FRAU HINTER DEM LADENTISCH greift das Motiv der Schwelle (und nicht zuletzt schon im Titel der Serie) auf. Die Schwelle in der tschechoslowakischen Serie ist ein metonymischer Gegenstand, der Ladentisch. Aber schon der Titel deutet darauf hin, dass es nicht um den Ladentisch (oder die Verkaufshalle), sondern um die Frau dahinter gehen soll. In den Fokus der Aufmerksamkeit soll der Mensch treten und nicht die soziale Klassifizierung, der Beruf der Verkäuferin, der eben nur als Teil der Identität von Anna Holubová dargestellt wird. Diese Dimension des Privaten wird auch durch den Titel von Fassbinders Serie evoziert, der andeutet, dass das Leben eines Arbeiters eben nicht nur aus seiner Arbeitszeit besteht. Trotz ihrer Beliebtheit wurde die Serie ŽENA ZA PULTEM / FRAU HINTER DEM LADENTISCH nach der ersten Staffel eingestellt. Man könnte sich nun fragen, ob das damit zu tun hat, dass die Erzählung der einfachen Verkäuferin nach ihrem Aufstieg als Abteilungsleiterin für das Programm des Sozialen Realismus uninteressant geworden war. Die angedeuteten flachen Hierarchien, die fröhliche und herzliche Atmosphäre im Lebensmittelgeschäft haben ja ihre Ursache nicht zuletzt in einer heterosexualisierten Grundstimmung zwischen männlichen Leitern (und Kunden) und weiblichen Angestellten. Die Geschlechterdifferenz ›dämpft‹ die Klassendifferenz und sie verflacht die beruflichen Hierarchien. Dass die Stimmung unter Frauen weniger ›herzerwärmend‹ wäre, scheint die Serie selbst zu glauben und deutet dies in der Szene an, als Anna eine Verkäuferinnenkollegin 38 Thomas Elsaesser: Rainer Werner Fassbinder. Berlin: Bertz und Fischer Verlag 2012, S. 344 f.

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zurechtweist39 – einer der autoritärsten Momente der Protagonistin in ŽENA ZA PULTEM / FRAU HINTER DEM LADENTISCH. Die traditionelle Darstellung der Geschlechterrollen in der tschechoslowakischen Serie ŽENA ZA PULTEM / FRAU HINTER DEM LADENTISCH lediglich als konservativ abzutun, wäre allerdings zu kurz gegriffen. Der Rückgriff auf ein konservativeres Frauenbild muss historisch – in der Argumentation von Hana Havelková - ja auch als potentielle Kritik am sozialistischen System verstanden werden. Was aus heutiger Perspektive reaktionär anmutet, könnte im historischen Kontext des totalitären Regimes eine durchaus gewollte Kritik am russischen Kommunismus (und am kommunistischen Staatsfeminismus) sein. Die wiederholte Ausstrahlung von ŽENA ZA PULTEM / FRAU HINTER DEM LADENTISCH im tschechischen Fernsehen sowie der Vertrieb der DVD auf Tschechisch und auf Deutsch (in der Synchronfassung des Rundfunks der DDR) verweisen auf die Funktion, die sozialistische Fernsehprogramme in der Aushandlung und der Verarbeitung der sozialistischen Vergangenheit einnehmen können. Die mnemotechnische Dimension des Fernsehens und seinen Anspruch, in der »Produktion, der Kontinuität und der Untersuchung kultureller Erinnerung«40 eine Rolle zu spielen einerseits, und die partizipativen Strukturen zeitgenössischer Fernsehprogrammierung andererseits, ermöglichen einen Blick auf die Vergangenheit, der diese immer auch als gegenwärtig begreift. Die gegenwärtige Ausstrahlung von Fernsehproduktionen aus den 1970er Jahren wie ŽENA ZA PULTEM / FRAU HINTER DEM LADENTISCH und ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG, sowie der Dialog dieser beiden so verschiedenen Produktionen, der durch das Double Feature entsteht, gibt Aufschluss nicht nur über die westund osteuropäische Vergangenheit oder Gegenwart als abgeschlossenen Entitäten, sondern sie erlauben eine Auseinandersetzung mit den Bildern der Geschichte(n), die zu divergenten Lektüren gesellschaftspolitischer Positionen und Brüche führen kann und ständig neu gedacht werden muss. DF 5 Acht Stunden Frau hinter dem Ladentisch fokussiert auf Brüche innerhalb und im Kontext der beiden TVProduktionen auf unterschiedlichen Ebenen: Fassbinder bricht einerseits mit formal-ästhetischen Konventionen des aufkommenden TV-Genres Familienserie. Andererseits zeigen sich in ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG Brüche auch auf der Ebene der Narration in der Art und Weise, wie gesellschaftspolitische, postrevolutionäre Veränderungen der 1970er Jahre repräsentiert werden: Kritik am kapitalistischen System und der Ausbeutung der Arbeiter; Kritik an Autoritätsver39 Vgl. den Werbeclip in der deutschen synchronisierten Version auf http://www.buchredaktion.de/die-frau-hinter-dem-ladentisch.html [letzte Sichtung am 8.10.2016]. 40 Imre; Havens; Lustyik (Hg.): Popular Television in Eastern Europe During and Since Socialism, S. 5.

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hältnissen (Familie) und am Patriarchat (Beziehungen zwischen Männern und Frauen). In der kommunistischen TV-Serie ŽENA ZA PULTEM / FRAU HINTER DEM LADENTISCH hingegen zeigen sich Brüche vor allem auf der Ebene der Rezeption der Serie nach 1989. Während die systemkritischen Fernsehzuschauerinnen und Fernsehzuschauer zur Zeit der Erstausstrahlung in der Tschechoslowakei sich von den propagandistischen Aspekten der Serie abschrecken lassen mochten oder sich »ironisch« mit der Serie »überidentifizierten«41, eignet sich das heutige TV-Publikum die Serie affektiv an, indem es sich einer Form der Nostalgie anheimgibt, die weder unter einem ausschließlich unkritischen und idealisierenden Blick auf die Vergangenheit zu subsumieren wäre, noch als rationalisierte, distanzierte Form der Vergangenheitsbewältigung gedacht werden darf. Mit Svetlana Boym ist diese spezifische Form der Nostalgie, die sie – wie ich es in Kapitel 2.1. ausführlich dargelet habe – als »reflective nostalgia«42 konzeptualisiert, als ein sinnstiftender Zugriff auf die Vergangenheit zu verstehen, der den Systembruch nicht so sehr als eindeutig fassbare Schwelle denkt, denn als Prozess eines polymorphen Überganges, der bis heute nicht gänzlich abgeschlossen ist. Während Fassbinders Serie also formale, ästhetische und narrative Brüche vorweist, die vor allem darauf abzielen, das Genre TV-Serie in Richtung der Utopie zu transzendieren, werden Brüche in der Serie von Dudek und Dietl an zwei Stellen sichtbar: Zum einen, wenn die Botschaft der traditionellen Frauenfigur Anna retrospektiv als Kritik am sozialistischen Regime und am sowjetischen Staatsfeminismus lesbar wird, zum anderen, wenn das postsozialistische Fernsehen die Serie wiederausstrahlt und sich aktuelle Rezeptionsweisen von einer ironischen Überidentifikation distanziert und in eine nostalgisch-kritische Reflektion von Narrativen der Normalisierung transformiert haben.

41 Vgl. Imre: »Why should we study socialist commercials?«, S. 67: »The gap between the projective ideals and the actual experiental realities of socialism created a layer of ironic distance between television and its viewers. This was exacerbated by the increasing influx of information about capitalist lifestyles and consumer products despite even the most repressive states’ efforts to minimize it. By the 1980s of late socialism, television had turned into the primary medium of a mode of ironic overidentification, which characterized life under late socialism in most countries of the region.« (Hervorhebung, N.K.) 42 Boym: The Future of Nostalgia, S. XVIII f.

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Exkurs: Erinnerungen an das Private (Universum). Fernsehen als Mnemotechnologie Im tschechischen Film und Fernsehen der letzten fünfzehn Jahre lässt sich ein auf den ersten Blick nostalgischer Rückgriff auf den sozialistischen Alltag der späten 1970er und der 1980er Jahre feststellen, mit dem zuweilen kritisch, zuweilen ironisch sympathisierend kollektive und individuelle Geschichte neu verhandelt wird. Ich denke hier exemplarisch an beim tschechischen Kino und TV-Publikum sehr erfolgreiche Spielfilmproduktionen wie KOLYA (ČR 1996, Jan Svěrák), die Literaturverfilmung des Romans von Michal Viewegh BÁJEČNÁ LÉTA POD PSA / WUNDERBARE JAHRE UNTER DEM HUND (ČR 1997, Petr Nikolaev), PELÍŠKY / KUSCHELNESTER (ČR 1999, Jan Hřebejk), PUPENDO (ČR 2003, Jan Hřebejk) oder zuletzt OBČANSKÝ PRŮKAZ / IDENTITY CARD (ČR 2010, Ondřej Trojan). Die Nostalgie gilt hier einer relativen Stabilität und Berechenbarkeit gesellschaftlicher und ökonomischer Zusammenhänge, dem (verloren geglaubten) Wert privater Beziehungen, sei es in familiären, freundschaftlichen oder nachbarschaftlichen Bindungen, und schließlich einem privaten Leben, das trotz restriktiver, gesellschaftspolitischer Lebensbedingungen scheinbar unbehelligt von den Auswüchsen des sozialistischen Regimes blieb. Die Langzeitdokumentaristin Helena Třeštíková ruft dieses scheinbar verlorene Private symptomatisch in ihrem neuesten Film mit dem emphatischen Titel SOUKROMÝ VESMÍR / PRIVATE UNIVERSE (ČR 2012) auf. Ein ganzes Universum scheint hier bei der Überführung in ein anderes politisches System und aufgrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen wie vom Erdboden verschluckt. Zurückgeblieben ist die Sehnsucht nach gesellschaftlichem Rückhalt, nach ›Sinn‹ jenseits neoliberaler Wertmaßstäbe, aber auch nach der Autonomie eines Privaten, das als ein von gesellschaftspolitischen Kontexten und Transformationen unabhängiger Wert für sich aufscheint. Die Autonomie scheint die Konsequenz des inneren Exils in einem menschenverachtenden Systems zu sein und das Fernsehen ist auf bemerkenswerte Weise mit dieser Autonomie des Privaten verbunden, wie ich im Folgenden zeigen möchte. In Helena Třeštíkovás Dokumentarfilm SOUKROMÝ VESMÍR tritt das Fernsehen – zumal das Fernsehgerät – als Protagonist des Films und als wirkmächtiger Apparat einer Technologie des Privaten in Szene. Die Langzeitstudie, die Schlaglichter auf das Leben einer tschechischen Familie wirft43, die Třeštíková 37 Jahre

43 Aus dem ursprünglichen Projekt, einen Film über die Schwangerschaft und die Geburt des ersten Kindes ihrer Freundin, Jana, zu machen (MIRAKEL, 1974) entwickelte Třeštíková ihre bisher längste Langzeitstudie, in deren Zentrum das Leben von Janas Sohn, Jan (Honza) steht. Vgl. die Webseite von Radio Prag, http://www.radio.cz/

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lang mit der Kamera begleitet hat, verwendet als visuelles Leitmotiv das Fernsehgerät, aus dem die Bilder des ›anderen‹ Universums kommen, die mit den Bildern aus dem ›privaten Universum‹ kontrastiert werden. Politische Transformationen auf dem Gebiet der ehemaligen Tschechoslowakei sowie technologische Errungenschaften bei der Eroberung des Weltraums durch den Menschen werden in kurzen Sequenzen aus dem tschechischen Fernsehen (Nachrichten- und Unterhaltungssendungen) Sequenzen aus dem regelmäßig aufgezeichneten Familienleben, kommentiert vor allem durch die Stimme des Vaters, gegenübergestellt.44 Der wiederholte Versuch Třeštíkovás, mit Petr über den Text aus den Tagebüchern bzw. über den Prozess des Schreibens ins Gespräch zu kommen, sozusagen also eine Metaebene der Reflexion über das Vorgelesene in das Gespräch einzuführen, scheitert. Für Petr erschließt sich der Sinn der Tagebücher einzig darin, dass sie als Erinnerungsstütze fungieren. »Wenn man die Dinge nicht aufschreibt und abfotografiert, vergisst man sie. Man erinnert sich nur an die Dinge, die auf den Fotos zu sehen sind. Was nicht fotografiert wurde, ist verloren.«, sagt Petr an einer Stelle und seine Worte erinnern an das psychoanalytische Konzept der »Deckerinnerung«, die Sigmund Freud in seiner Traumtheorie entwickelt hat. Die Deckerinnerung ist eine, die durch das vermittelnde Medium (eine Photographie) an die Stelle der wirklichen Erinnerung tritt.45 Es scheint, als wollte Helena Třeštíková in ihrem Film gerade dieses Verdeckte aufrufen, das jenseits des durch das Fernsehen Dokumentierte von Bedeutung ist. Der Film befragt in subtiler Weise die (notwendigen) blinden Flecken der Chronik der öffentlichen Ereignisse, die durch das Fernsehen vermittelt werden. Die Bilder dieses Öffentlichen rahmen gleichwohl die Erinnerung an das Private. Das Fernsehen als Technologie, die die öffentliche Sphäre (gesellschaftspolitische Ereignisse in den Nachrichten) in den en/section/arts/a-very-private-universe-helena-trestikovas-latest-documentary-soukromy-vesmir, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 44 Der dokumentarische Zugriff wird durch einen intermedialen Trick quasi verdoppelt: Zum einen wird das filmische Material aus über 37 Jahren montiert, zum anderen wurde das Leben der Familie Kettner auch durch den Vater, Petr, in insgesamt 37 Tagebüchern dokumentiert, die die Stationen des Familienlebens nicht zuletzt auch durch zahlreiche vor allem von Petr angefertigte Photographien illustrieren. Aus diesen Tagebüchern liest Petr im Film und seine Stimme bildet so einen Off-Kommentar zu den von Třeštíková montierten Bildern. Interessant ist der Dialog zwischen Třeštíková, deren Stimme man ebenfalls aus dem Off hört, mit diesem anderen Dokumentaristen in ihrem Film, dem Vater Petr. 45 Sigmund Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglauben und Irrtum. Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1923, S. 52-63.

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privaten Raum (Wohnzimmer) holt, ist an der Konstruktion dieses privaten Raums maßgeblich beteiligt. Wenn Třeštíková beispielsweise Sequenzen aus einer kommunistischen Silvestersendung und aus den Nachrichten in den Film montiert und gleichzeitig das reale Leben der Familie dokumentiert, so hat dies einen komischen Effekt: der Pathos der TV-Sendung reibt sich an der Nüchternheit der Realität. Gleichzeitig verstehe ich das Aufgreifen der Sequenz aus dem sozialistischen Fernsehen auch als Geste des Misframing (von Nostalgie), wie ich es im ersten Teil der vorliegenden Studie beschrieben habe: In der relativ langen Eingangssequenz (2,3 min) sehen wir ein Fernsehgerät in frontaler Aufnahme, einen Röhrenfernseher aus den 1960er Jahren, der sich mit dem charakteristischen Geräusch der elektrischen Magnetisierung einschaltet. Das Schwarz-Weiß-Bild der Fernsehsprecherin mutet ebenfalls historisch an und adressiert ein Publikum, das die Fernsehprogramme der 1960er Jahre kennt oder bereit ist, sich auf den nostalgischen, rückwärtsgewandten Blick einzulassen. Die Fernsehsprecherin spricht die Zuschauerin und den Zuschauer direkt an: »Wie wird unsere Zukunft sein? Wie werden wir leben? Welche technischen Neuerungen werden uns umgeben? Wie werden wir selbst sein?« Třeštíková wählt hier Ausschnitte aus Silvestersendungen aus den 1960er, 1970er und 1980er Jahren, die ganz im Stil des didaktischen Auftrags des sozialistischen Fernsehprogramms die kommunistischen Bürgerinnen und Bürger zur kollektiven Reflexion über ihr Leben eingeladen werden. Auch wir, das Kinopublikum, werden nun eingeladen, über das Leben nachzudenken. Über die historischen Veränderungen und unsere Gegenwart, über die sozialistische Vergangenheit und ihre postsozialistische Imagery. Wir sehen Bilder aus einer Nachrichtensendung, die über die erste Umkreisung der Erde durch »den gewöhnlichen sowjetischen Bürger« Jurij Gagarin 1967 berichtet. Durch die frontale Einstellung auf das Fernsehgerät und das charakteristische Umspringen von einem Kanal auf den anderen durch das Zappen wird das Kinopublikum gleichzeitig auch als Fernsehkonsumentin und Fernsehkonsument im privaten Haushalt adressiert. Wir befinden uns nun in unserem eigenen Wohnzimmer, in der Hand eine Fernbedienung. Noch einmal zappen wir aus dem Programm über den Erdumflug und landen bei einem Bericht über Karel Gott, der eben aus Las Vegas in die Tschechoslowakei zurückkehrt und vom Journalisten über seine Erfahrung mit LSD befragt wird. Noch einmal Schnitt und wir sehen Bilder der sowjetischen Armee, die 1968 in der Tschechoslowakei einmarschiert, um den Aufstand der tschechoslowakischen Bürgerinnen und Bürger niederzuschlagen. »Die Zukunft ist ein überaus relatives Konzept,« sagt die Fernsehsprecherin mit der gestrigen Frisur. »Die Zukunft, das ist in einer Stunde, aber auch morgen oder nächste Jahr. Die Zukunft, das ist auch in 100 Jahren.« In der nächsten Sequenz sehen wir Neil Armstrong auf dem Mond landen. Das Nebeneinandestellen von unerheblichen

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Ereignissen aus der Populärkultur und aus der Chronik (Karel Gott und LSD), von politischen Ereignissen, die die Zukunft des Landes nachhaltig beeinflusst haben (die Niederschlagung des Prager Frühlings) und von Ereignissen der Menschheitsgeschichte (Mondlandung) verweist auf die Kontingenz all dieser Ereignisse und entlastet im Sinne von Maria Todorova jene Menschen, die den Kommunismus als Erwachsene erlebt haben und die »don´t want to be remembered or bemoaned as losers or ›slaves‹«.46 Die Sequenz endet mit der pädagogischen Überlegung der Fernsehsprecherin: »Wie immer auch die Zukunft wird, sie wird so sein, wie Sie sie gestalten. Es liegt also vor allem an Ihnen selbst!« Hier springt das Bild, der TV Tuner kann das Bild nicht mehr deuten, es entsteht das ebenfalls für die Zeit der Röhrentechnologie charakteristische Bildrauschen. Im Bildkader leuchtet der Titel des Films auf: ›Private Universe‹ und das Fernsehgerät schaltet sich noch einmal mit dem charakteristischen Geräusch aus. Das private Universum, das der Film aufruft, liegt also jenseits der Bilder aus dem Fernsehen. Jenseits jener Ereignisse, die das Fernsehen dokumentieren kann. Und es unterliegt den Gesetzen einer Selbstermächtigung: »[die Zukunft] wird so sein, wie Sie sie gestalten. Es liegt also vor allem an Ihnen selbst!« Ist es geradezu zwingend, dass dieser Satz im zeitlichen Kontext seiner Ausstrahlung während des Sozialismus zu einer ironischen Rezeption führen musste, scheint mir im nostalgischen Aufgreifen der Sequenz heute ein kritisches Potential zu liegen, das in der Ermächtigung des Subjekts liegt, die Deutung der eigenen Vergangenheit, des privaten Lebens, der persönlichen Entwicklung in die Hand zu nehmen und die traumatischen Erfahrungen des Sozialismus mit den positiven Erinnerungen an das eigene Leben oder das Leben der Eltern und Großeltern zu versöhnen.

5.2 DOUBLE FEATURE 6 – AUF EWIG EHE-ETÜDEN Helena Třeštíková (Off): »Warum habt ihr geheiratet?« Ivana: »Weil wir uns gern haben. Und so weiter. Das sagt man nicht.« Schnitt. Vašek: »Weil wir uns gern haben natürlich. Lacht. Wir heiraten und wissen gar nicht, warum. Nein. Ich mag sie, sie mag ich, also haben wir geheiratet.« Schnitt. Ivana: »Es wird schon schief gehen. Hauptsache, wir streiten uns nicht.« MANŽELSKÉ ETUDY / EHE-ETÜDEN (1987) Erika Hníková (Off): Jaroslav, warum willst du Běla heiraten? Jaroslav: Weil sie eine echte Frau ist. Erika Hníková: Und du Běla, warum willst du Jaroslav heiraten? 46 Todorova; Gille (Hg.): Post-Communist Nostalgia, S. 7. (Siehe Kapitel 2.1. Post-Communist Nostalgia als analytisches Raster für die Untersuchung osteuropäischer Modi der Erinnerung.)

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Běla: Naja, das kann man sich nicht aussuchen. Sind ja eh alle gleich. NA VŽDY SVOJÍ ANEB A ŽILI ST’ASTNĚ AŽ DO... / AUF EWIG DEIN ODER SIE LEBTEN GLÜCKLICH BIS... (2013)

Regierungsweisen des Selbst im tschechischen Lifestyle-TV In DF 6 Auf ewig Ehe-Etüden werden Fragen nach televisuellen Konstruktionen von Heteronormativität und Privatheit sozialistischen Dokumentarfilmfernsehen und im postsozialistischen Reality-TV zur Diskussion gestelltm indem gezeigt wird, auf welche unterschiedlichen Weisen das Dispositiv Fernsehen und das spezifische Format jeweils Regierungsweisen des Selbst und seine medialen Implikationen adressieren. Vor dem Hintergrund einer aktuell behaupteten postfeministischen Ära und des sog. Postfeminismus47 lohnt der Blick auf aktuelle televisuelle Strategien der Subjektivierung und Re-Naturalisierung von Geschlecht in besonderer Weise. Die Gleichberechtigung der Geschlechter scheint in der LifestyleSerie von Erika Hníková kein politisches Ziel, vielmehr wird die Geschlechterdifferenz anhand ironisch aktualisierter Rollenstereotype thematisiert, um gegenüber der politischen Diagnose eines Verlustes von Werten in relativer Bedeutungslosigkeit zu versinken. Erkenntnistheoretischer Hintergrund meiner hier angeführten Überlegungen ist zum einen das von Andrea Seier vorgestellte Modell eines »Fernsehens der Mikropolitiken«.48 Zum anderen werde ich die Ausführungen zur strukturellen Nähe der Begriffkomplexe Fernsehen und Privatheit49 von Thomas Waitz in meiner Serienanalyse berücksichtigen. Mit dem Begriff des Fernsehens der Mikropolitiken fasst Seier eine spezifische Praxis des Reality-TV, die in der Medienwissenschaft verschiedentlich mit dem Begriff des Lifestyle-Fernsehens beschrieben wurde.50 Ausgehend von Foucaults Konzept der Gouvernementalität 47 Vgl. Angela McRobbie: Top Girls. Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes. Wiesbaden: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010. 48 Vgl. Seier: »Mikropolitik des Fernsehens. Reality-TV als Regierung aus der Distanz«, S. 45-50. 49 Thomas Waitz: »Privat/Fernsehen. Fernsehen, Bürgerlichkeit und die Konstruktion des Privaten«, in: Stefan Halft, Hans Krah (Hg.): Diskurs Privatheit. Strategien und Transformationen. Passau: Karl Stutz 2012, S. 63-84. Im Folgenden zitiert nach der Onlinefassung: http://thomaswaitz.de/downloads/publikationen/waitz-thomas-privat-fernseh en-fernsehen-buergerlichkeit-und-die-konstruktion-des-privaten.pdf, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 50 Charlotte Brunsdon et al.: »Factual Entertainment On British Television: The Midlands TV Research Group’s ›8-9 Project‹«. In: European Journal of Cultural Studies, Nr. 4, (2001), S. 29-62; Gareth Palmer: »›The new You‹. Class and Transformation in Life-

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und einem Verständnis von Medien als Regierungstechnologien untersucht Seier »subjektivitätsgenerierende Potenziale«51 und Strategien der Selbstbearbeitung und -optimierung in gegenwärtigen TV-Formaten. Sich von einer reinen Repräsentationskritik schrittweise verabschiedend, fokussieren aktuelle Tendenzen der Medienwissenschaft auf die medialen Anteile der Repräsentationen und auf die perfomativen Anteile der Medien selbst. Andrea Seier schreibt: »Das aktuelle Fernsehen der Mikropolitiken ist demnach nicht als eine textuelle Praxis zu untersuchen, die mit Hilfe genrespezifischer Dramaturgien und Rhetoriken eine neoliberale Subjektfassung befördert, die es aufzudecken oder zu überwinden gilt. Vielmehr ist es als diskursive Praxis zu analysieren, die mit einer zunehmenden Anzahl spezifischer Programmangebote Beratungen, Hinweise und Richtlinien für Alltagsroutinen operationalisiert und in ein Set von Wissenskulturen und Techniken der alltäglichen Lebensführung ausdifferenziert.«52

Die »Subjekteffekte«53 des Fernsehens stehen aber immer auch in intrinsischem Zusammenhang mit der Formierung sozialer Ungleichheit, als deren Agentur Thomas Waitz das Fernsehen fasst. Im Rahmen »einer umfassenden Problematisierung des Sozialen« sei das Fernsehen gegenwärtig damit beschäftigt, »[...] Privatheit zu adressieren, zu verhandeln und zu bearbeiten.«54 Auf der Ebene zwischenmenschlicher Beziehungen zeigt sich das Interesse am Privaten in der Rede von der sozialen Vereinsamung der tschechischen Bevölkerung und der Beziehungsunfähigkeit der Angehörigen der heutigen Generation. Mit ihrer sechsteiligen Dokumentarfilmserie NA VŽDY SVOJÍ ANEB A ŽILI ST’ASTNĚ AŽ DO... / AUF EWIG DEIN ODER SIE LEBTEN GLÜCKLICH BIS... (ČT 2, 2013, 6 Folgen) tritt Erika Hníková an, ebendiese Vereinsamung55 aufzuzeigen und den style Television.«, in: Su Holmes, Deborah Jermyn (Hg.): Understanding Reality Television. London/ New York 2004, S. 173-190. 51 Seier: »Mikropolitik des Fernsehens. Reality-TV als Regierung aus der Distanz«, S. 47. 52 Ebd., S. 48. 53 Hickethier: »Dispositiv Fernsehen. Skizze eines Modells.«, S. 63-84. 54 Waitz: »Privat/Fernsehen. Fernsehen, Bürgerlichkeit und die Konstruktion des Privaten«, S. 7. 55 In einem Interview mit dem Tschechischen Rundfunk danach befragt, was der gemeinsame Nenner ihrer bisherigen Filme sei, sagt Hníková, es gehe sowohl im Dokumentarfilm NESVATBOV / MATCHMAKING MAYOR (ČR 2011) als auch in der TV-Serie NA VŽDY SVOJÍ ANEB A ŽILI ST’ASTNĚ AŽ DO... / AUF EWIG DEIN ODER SIE LEBTEN GLÜCKLICH BIS...

um Einsamkeit und um die Vereinsamung der tschechischen Gesellschaft.

Vgl. Programmseite der TV-Serie AUF EWIG DEIN auf der Webseite des Tschechischen

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Zuschauerinnen und Zuschauern Instrumente zur Hand zu geben, ihre eigenen Beziehungen und auf diese Beziehungen rekurrierende Sehnsüchte und Wünsche zu reflektieren. 56 Wenn in der Rezeption von NA VŽDY SVOJÍ ANEB A ŽILI ST’ASTNĚ AŽ DO... / AUF EWIG DEIN ODER SIE LEBTEN GLÜCKLICH BIS... die Rede davon ist, dass Erika Hníková die »Subjekte [...] der Lächerlichkeit preisgebe«57 und die Penetration der privatesten Räume lediglich den Voyeurismus eines sensationslüsternen TV-Publikums bediene, so spielt dies dem gängigen Vorurteil eines ›Unterschichten-Fernsehens‹ in die Hände, das oftmals mit der Rede von der ›Verblödung des Publikums‹ einhergeht.58 Vielmehr als präexistente soziale Unterschiede abzubilden, verhandelt das Fernsehen jedoch selbst »divergierende Modelle von Gesellschaftlichkeit und Verbürgerlichung [und] liefert Werturteile, als deren Folge Privatheit erst zu einer zuschreibbaren Kategorie wird.«59 Das Fernsehen tritt also selbst als Konstrukteur komplexer sozialer Gefüge zutage, die es gleichzeitig problematisiert und in seiner apparativen Funktion als Instrument sichtbar macht. In den sechs Folgen der Lifestyle-Serie NA VŽDY SVOJÍ ANEB A ŽILI ST’ASTNĚ AŽ DO... / AUF EWIG DEIN ODER SIE LEBTEN GLÜCKLICH BIS... begleitet Erika Hníková60 drei tschechische Paare bei den Hochzeitsvorbereitungen. Der Zeitraum der Dreharbeiten beginnt wenige Monate vor den Hochzeiten und endet mit einem Epilog, vier Monate nach den Hochzeiten. Das Casting der Paare fand von März bis Mai 2012 statt, im Juni wurde gedreht und die Hochzeiten waren für Juli Fernsehens unter dem Menüpunkt Videobonusy (Rozhovor z režiserkou Erikou Hníkovou, dt. »Gespräch mit der Regisseurin Erika Hníková«): Vgl. http://www.ceskatelevize.cz/porady/10397753566-navzdy-svoji/, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 56 Teile der hier von mir angestellten Überlegungen über Erika Hnikovás Dokumentarfilmserie habe ich bereits veröffentlicht. Vgl. Nicole Kandioler: »Serielle Hochzeiten. Postsozialismus und Postfeminismus im aktuellen tschechischen Lifestyle-TV«, in: Schrader, Sabine; Winkler, Daniel (Hg.): TV glokal. Zur Vielfalt europäischer Fernsehund Onlineserien seit den 1990er Jahren. Marburg: Schüren 2014, S. 250-263. 57 Ilya Marritz: »Czechs today. ›My films are not nice to these people.‹«, Czech Radio 7, Radio Prague, (6.12.2006). Abrufbar auf http://www.radio.cz/en/article/85994, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 58 Vgl. Thomas Waitz: »›Unterschichtenfernsehen‹. Eine Regierungstechnololgie« kultuRRevolution – zeitschrift für angewandte diskurstheorie, Nr. 55, (2009), S. 55-59. 59 Waitz: »Privat/Fernsehen. Fernsehen, Bürgerlichkeit und die Konstruktion des Privaten«, S. 1. 60 Regisseurin von Box-Office Hits wie ŽENY PRO MĚNY / THE BEAUTY EXCHANGE (ČR 2003), SEJDEME SE V EUROCAMPU / I GUESS WE´LL MEET AT THE EUROCAMP (ČR 2006) und NESVATBOV / MATCHMAKING MAYOR (ČR 2010).

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und August anberaumt. In den drei Monaten des Casting meldeten sich rund 150 Paare, 30 davon wurden in einem ersten Schritt von einem Team rund um Erika Hníková ausgewählt.61 Zu diesem Team zählten, abgesehen von der Regisseurin selbst, die Drehbuchautorin Irena Hejdová, der Dramaturg des Tschechischen Rundfunks Filip Novák und der externe Dramaturg Martin Mareček. Aus dem Interview geht hervor, dass es klare Vorgaben seitens des Tschechischen Rundfunks für die Auswahl der Protagonistinnen und Protagonisten gab; bspw. sollten in der Serie sowohl Stadt-, als auch Landbewohner vorkommen. Auch sollten die Protagonistinnen und Protagonisten ungewöhnliche oder extreme Positionen zum Thema Hochzeit vertreten. Nicht zuletzt aufgrund der ›problematischen‹ Fälle, die NA VŽDY SVOJÍ ANEB A ŽILI ST’ASTNĚ AŽ DO... / AUF EWIG DEIN ODER SIE LEBTEN GLÜCKLICH BIS... inszeniert, wird die Serie in ihren verschiedenen Paratexten und Kontexten des Dispositivs als Dokusoap beworben – eine Kategorisierung, der Hníková nicht müde wird zu widersprechen.62 Sie hätte in der Entstehung von NA VŽDY SVOJÍ ANEB A ŽILI ST’ASTNĚ AŽ DO... / AUF EWIG DEIN ODER SIE LEBTEN GLÜCKLICH BIS... Wert darauf gelegt, dass auf voice-over Kommentar weitgehend verzichtet werde und dass die Filmsprache möglichst pur bleibe. Auch die für die Dokusoap typischen grafischen Kadrierungen und Montagetechniken hätte sie demnach nicht verwendet. Vereinzelte in der Serie vorkommende Codes und Konventionen der Dokusoap (wertender voice-over Kommentar und Zusammenfassungen zu Beginn und am Ende jeder Folge im Sinne eines Previously on und Next time on) wurden in Konflikt mit den Vorstellungen der Regisseurin in der Postproduction hinzugefügt. Hníková betont dennoch, in der Realisierung der Serie freie Hand gehabt zu haben. Ihre Methode habe vor allem darin bestanden, die Protagonistinnen und Protagonisten zu begleiten, in authentischen, realen Situationen zu beobachten und in Gesprächen mit ihnen, bestimmte Themen anzusprechen.63 Die Betonung der Authentizität der Situationen im Gespräch mit der Regisseurin zielt meines Erachtens auf zweierlei ab: Zum einen geht es hier darum, die Serie als eigenständiges dokumentarisches Artefakt vom weniger qualitätsvollen Mainstream-TV abzugrenzen, zum anderen funktioniert die Distanznahme zum Genre der Dokusoap als Verweis auf ihre Autorschaft und die künstlerische Signatur des Films.

61 Webseite des Tschechischen Fernsehens unter dem Menüpunkt Videobonusy (Rozhovor z režiserkou Erikou Hníkovou, dt. ›Gespräch mit der Regisseurin Erika Hníková‹): http://www.ceskatelevize.cz/porady/10397753566-navzdy-svoji/, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 62 Vgl. ebd. 63 Vgl. ebd.

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Im Vorspann des ersten Teiles der Serie sehen wir eine Montage von Archivaufnahmen von Paaren aller Altersstufen, Schwarz-Weiß-Bilder von Männern und Frauen aus den 70er, 80er und 90er Jahren. Zu heiterer Retro-Orchestermusik spricht der männliche Kommentator von der sich wandelnden Funktion der Ehe in der Gesellschaft. Während man früher aus pragmatischen Gründen (vor allem Besitz) geheiratet habe, sei die Heirat aus Liebe eine Erfindung der Moderne. Langsam löse sich aber auch dieser Mythos auf: »Immer schneller lassen wir uns scheiden und immer öfter möchten wir einfach so miteinander leben, ohne Gelübde. In unserer Geschichte geht es um drei Paare, die aus irgendwelchen Gründen finden, dass eine Hochzeit für sie das Richtige ist. Auch wenn es nicht einfach wird. Aber wollen sie wirklich auf ewig zusammen sein?«

Als Jingle fungieren die ersten Noten des Hochzeitmarsches von Felix Mendelsohn-Bartholdy, auf der Bildebene bewegen sich computeranimierte Porzellanscherben rückwärts auf ein Zentrum zurück und setzen sich im Zeitraffer zu einem Teller zusammen auf dem in altdeutscher Schrift in goldenen Lettern der Titel der Serie und die Genrebezeichung Dokumentarfilmserie zu lesen ist. Verschiedenes klingt in dieser Eingangssequenz bereits an. Zum einen wird sowohl auf der Bildals auch auf der Tonebene auf die Historizität der kulturellen Praxis der Ehe vermittelt. In einem gewissen Sinn deutet der spöttische Ton des Kommentators das Scheitern der Hochzeiten bereits an. Auch die rückwärts laufende Explosion der Teller im Jingle birgt Konfliktpotential. Der Vorspann referiert wiederum auf die Geschichte des tschechischen Fernsehens, indem die Schwarz-Weiß-Aufnahmen eine andere berühmte tschechischen TV-Serie über Hochzeiten evozieren: die Langzeitstudie MANŽELSKÉ ETUDY / EHE-ETÜDEN (ČT 1987) von Helena Třeštíková. MANŽELSKÉ ETUDY / EHE-ETÜDEN (ČT 1987) wurde in den 1980er Jahren von Helena Třeštíková als Langzeitstudie für das Fernsehen gedreht und war in den 2000er Jahren mit einem Spin-Off, MANŽELSKÉ ETUDY PO 20 LETECH / EHE-ETÜDEN – 20 JAHRE SPÄTER (ČT 2005/2006) beim Fernsehpublikum sehr erfolgreich. Im ersten Zyklus entstanden sechs ca. 30-minütige Filme, in denen die jungen Paare am Beginn ihres Erwachsenenlebens stehen. Obwohl die Lebensumstände der Paare oftmals nicht einfach sind, scheinen sie sich einig in ihrem Urvertrauen die Zukunft. Nach dem Systembruch filmte Třeštíková die Paare erneut und begleitete sie bis in die 2000er Jahre. MANŽELSKÉ ETUDY - PO 20 LETECH / EHE ETÜDEN – 20 JAHRE SPÄTER (ČR 2007) ist nicht nur ein ergreifendes Portrait sechs verschiedener Ehepaare und der Höhen und Tiefen ihrer individuellen Lebens-

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läufe, sondern nachgerade eine Sozialstudie, die auf eindrückliche Weise den gesellschaftlichen Übergang vom Kommunismus zum Kapitalismus aufzeichnet.64 Insbesondere im ersten Teil der MANŽELSKÉ ETUDY / EHE-ETÜDEN von Helena Třeštíková dominieren Talking Head Aufnahmen, die dergestalt montiert sind, dass die Protagonisten und die Protagonistinnen sich einerseits vor dem Publikum (und der Regisseurin) erklären und gleichzeitig in einen filmischen Dialog miteinander treten, in dem sie die komplexen und konfliktuellen Beziehungen zueinander kommentieren. Das dokumentarische Universum Třeštíkovás präsentiert sich als heterogenes Gefüge, das in verschiedenen zeitlichen Kontexten über einen Zeitraum von über 20 Jahren und mehr mittels verschiedener televisueller und kinematographischer Techniken (analog bis digital, Schwarz-Weiß- bis Farbfilm) keine schnellen Schlussfolgerungen über außerfilmische Wirklichkeiten anbietet. Vielmehr thematisieren ihre abwechselnd für das Kino und für das Fernsehen produzierten Langzeitdokumentarfilme am Schnittpunkt von privatem und öffentlichen Leben Zeitlichkeit, intermediale Bildpolitiken und Subjektivierungsstrategien, die der jahrelange, sich ständig wandelnde Dialog mit der Regisseurin generiert. Sechs Paare begleitet Třeštíková von der Vorbereitungen der Hochzeit 1987 bis weit in das Eheleben hinein, drei Paare sind nach dem Ende der Dreharbeiten noch verheiratet, drei Paare trennen sich innerhalb von wenigen Jahren.65 Seit über 40 Jahren sammelt Helena Třeštíková in filmischen Bildern verdichtete Zeit. Die »zeitsammelnde« Methode wie die Langzeitbeobachtung auf Tsche64 Gerade der erste Teil der EHE-ETÜDEN wird immer wieder im tschechischen Fernsehen ausgestrahlt. Das Wiederauftauchen von sozialistischen Fernsehfilmen, Komödien, Animationsfilmen aus dem Kinder- und Jugendprogramm in lokalen TV-Programmen im osteuropäischen Raum nach 1989 begründen Anikó Imre, Timothy Havens und Katalin Lustyik vor allem mit der »enduring significance of socialist entertainment programming for post-socialist generations«. Diese Programme müssten demnach als »irreplacable source of national and regional memory and identity« verstanden werden. Vgl. Imre; Havens; Lustyik (Hg.): Popular Television in Eastern Europe During and Since Socialism, S. 3. 65 Der Dokumentarfilmzyklus mit den sechs Teilen ist in jeweils zwei Unterteile gegliedert, MANŽELSKÉ ETUDY / EHE-ETÜDEN (Film 1) und MANŽELSKÉ ETUDY PO 20 LETECH / EHE-ETÜDEN NACH 20 JAHREN

(Film 2): 1. ETÜDE: IVANA UND PAVEL, Film 1

(1987), 35 min; Film 2 (2005), 55 min; 2. ETÜDE: MIRKA UND ANTONÍN, Film 1 (1987), 37 min; Film 2 (2005), 54 min; 3. ETÜDE: ZUZANA UND VLADIMÍR, Film 1 (1987) 35 min; Film 2 (2006), 58 min; 4. ETÜDE: ZUZANA UND STANISLAV, Film 1 (1987), 35 min; Film 2 (2005), 57 min; 5. ETÜDE: MARCELA UND JIŘÍ, Film 1 (1987), 45 min; Film 2 (2006), 61 min; 6. ETÜDE: IVANA UND VÁCLAV, Film 1 (1987), 35 min; Film 2 (2006), 57 min.

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chisch heißt, »časosběrná metoda«, zielt auf einen Überschuss an Drehmaterial, das später durch die Montage radikal reduziert wird. Ihre durch das Cinéma Vérité inspirierten Filme sondieren die Grenzen des Dokumentarischen, indem sie Fragen nach der Empathie und allgemein nach der Ethik des Dokumentarfilms stellen. Für ihren Film RENÉ erhielt Helena Třeštíková 2008 den Jahrespreis der Europäischen Filmakademie in Kopenhagen und schaffte damit den internationalen Durchbruch. Abbildungen 28, 29, 30: Paare

Quelle: Screenshots AUF EWIG DEIN (ČT2 2013)

Während man bei Třeštíková noch darüber nachdenken könnte, inwiefern ihre Filme sozialiwissenschaftliche Enqueten und Erhebungen reflektieren, ist bei NA VŽDY SVOJÍ ANEB A ŽILI ST’ASTNĚ AŽ DO... / AUF EWIG DEIN ODER SIE LEBTEN GLÜCKLICH BIS... offensichtlich, dass weniger die spezifischen Lebensweisen einzelner Vertreterinnen und Vertreter von Gesellschaft, »sondern vielmehr unterschiedliche Konzepte von Körperlichkeit, Intimbeziehungen, Geschlechterkonstruktionen, [...] – kurzum: Fragen der privaten Lebensführung als Optionen verhandelt werden.«66 Da sind zum einen Běla und Jaroslav aus dem 400 Einwohner und Einwohnerinnen zählenden Dorf Řepníky, die seit dem Beginn ihrer Beziehung im Haus von Jaroslavs Eltern leben, wo sich Běla vor allem um den Haushalt und Jaroslav gemeinsam mit seinem Vater um die Landwirtschaft kümmert. Běla arbeitet außerdem als Teilzeitkraft in einem Lebensmittelladen und hat sich 66 Waitz: »Privat/Fernsehen. Fernsehen, Bürgerlichkeit und die Konstruktion des Privaten«, S. 17 (in Bezug auf die RTL 2-Serie Frauentausch).

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in den Kopf gesetzt, ihre Hochzeit im Alleingang zu organisieren. Das zweite Paar, Lukáš und Isabela, lebt mit den beiden Söhnen von Isabela in einer durch Isabelas Einkommen als Nacktmodell finanzierten Wohnung in der Prager Vorstadt. Schließlich die beiden gläubigen Katholiken aus Brünn, Zděnka und Ondřej, die zum Zeitpunkt des Aufnahmestarts zusammen mit einem Dutzend Freundinnen und Freunden in einer christlichen Wohngemeinschaft (Signály Life) leben, nach der Hochzeit aber eine kleine Zweizimmerwohnung beziehen wollen. Bei allen drei Paaren handelt es sich einerseits um Außenseiter, insofern sie zu gesellschaftlichen Randgruppen zu zählen sind (bäuerliches Milieu, Nacktmodell, Arbeitsloser, streng gläubige Katholiken), andererseits entsprechen sie auch den Konventionen des Reality-TV als sie ›Menschen wie du und ich‹ sind, ihr Identifikationspotential also hoch ist. Im DF 6 Auf ewig Ehe-Etüden stehen den drei Paaren aus NA VŽDY SVOJÍ ANEB A ŽILI ST’ASTNĚ AŽ DO... / AUF EWIG DEIN ODER SIE LEBTEN GLÜCKLICH BIS... drei Paare aus MANŽELSKÉ ETUDY / EHE-ETÜDEN gegenüber, wobei ich solche ausgewählt habe, die Gemeinsamkeiten (Ausbildung, Beruf, sozialer Hintergrung) mit den Paaren von Erika Hníkova vorzuweisen haben. Schon die schwierige Auswahl der zu vergleichenden Paare verweist allerdings auf die verschiedenen CastingPolitiken. Während Hníková wie oben beschrieben Paare castete, die auf die eine oder andere Weise auffällig sind, wählte Třeštíková ihre sechs Paare mehr oder weniger zufällig (in der Vorhalle des Prager Rathaus) aus.67 Dem dörflichen Paar, Běla und Jaroslav, steht das Paar aus der fünften Etüde, Marcela und Jiří gegenüber. Bei der Erstausstrahlung der MANŽELSKÉ ETUDY PO 20 LETECH / EHE-ETÜDEN - 20 JAHRE SPÄTER (ČT 2007) berührte Marcela das Fernsehpublikum mit ihrem schwierigen Schicksal ganz besonders.68 Nicht nur trennen sich Jiří und Marcela bereits wenige Jahre nach der Hochzeit und nach der Geburt einer gemeinsamen Tochter wieder, auch das zweite Kind (mit einem anderen Mann), ein Sohn, der mit einer geistigen Behinderung auf die Welt kommt, wächst ohne Vater 67 Dieses Vorgehen ist für die Arbeit von Helena Třeštíková eher untypisch und hat mit den Produktionsbedingungen des Tschechischen Fernsehens für die Serie zu tun. Wie sie in Interviews immer wieder betont, verbringt die Filmemacherin für gewöhnlich sehr viel Zeit mit der Auswahl der Protagonistinnen und Protagonisten ihrer Filme. Vgl. Maša Hilčišin Dervišević: Helena Třeštíková’s Long-term Observational Documentary Film: Monitoring the Effect of Authenticity in Representation. (Dissertation). Masaryk University, Faculty of Arts: Brno 2014. Abrufbar auf: http://is.muni.cz/th/346470/ff_d /MH_Dissertation.pdf, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 68 Helena Třeštíková widmete Marcela zwei weitere Filme: Z LÁSKY / AUS LIEBE (ČSSR 1987) und einen Teil der Trilogie MARCELA (ČR 2006), RENÉ (ČR 2008) und KATKA (ČR 2009).

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auf. Schließlich stirbt Marcelas Tochter als junge Frau unter mysteriösen, nie ganz aufgeklärten Umständen beim Überqueren eines Bahnübergangs. Abbildung 31: Ehe-Etüden, erste Generation

Quelle: Screenshot EHE-ETÜDEN (ČT 1987)

Das Paar mit Kindern, Isabela und Lukáš, wird mit Mirka und Antonín, dem Paar der zweiten Etüde konfrontiert. Ähnlich wie Isabela und Lukáš scheinen auch Mirka und Antonín keine gemeinsame Zukunft zu haben. Schon in den ersten Jahren nach der früh geschlossenen Ehe zeigen sich Konflikte, die dem Paar nicht lösbar scheinen. Umso überraschter ist das Fernsehpublikum, als Helena Třeštíková im zweiten Teil, 19 Jahre später, einem geeinten Paar gegenüber tritt. Mirka und Antonín scheinen insofern typisch für das filmische Universum der Filmemacherin, als sie gewöhnliche Menschen sind, die sprichwörtlichen ›Leute von nebenan‹, die weder durch ihren exzentrischen Lebenstil auffallen, noch von schweren Schicksalsschlägen gezeichnet sind. In der ständigen, subtilen Unzufriedenheit mit ihrem Leben, die Mirka und Antonín unabhängig voneinander in den Gesprächen mit Třeštíková immer wieder andeuten, liegt dennoch eine interessante Spannung, die ihren Höhepunkt erreicht, als ihre Tochter Lucie mit 18 Jahren den Thaiboxer Martin heiratet und einen Sohn mit ihm hat. Dass ihre Tochter exakt denselben Lebensweg wählen könnte wie sie selbst, missfällt Mirka und Antonín. Dem studentischen Paar, Zděnka und Ondřej, steht ein studentisches Paar gegenüber, Ivana und Václav, das Paar aus der sechsten Etüde, die 1981, zu dem Zeitpunkt, als Helena Třeštíková sie kennenlernt, beide Architektur studieren. Das erste Kind und die gemeinsame Wohnung kommen noch, bevor beide ihr Studium abschließen. Vier weitere Kinder folgen. Dass die Großfamilie Stigmatisierungen

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erfährt und immer wieder mit Vorurteilen ihrer Umgebung konfrontiert ist, rückt sie in die Nähe des jungen Paares, Zděnka und Ondřej, die aufgrund ihrer Religiosität und ihrer konservativen Einstellung zur Ehe aus den drei Paaren von NA VŽDY SVOJÍ ANEB A ŽILI ST’ASTNĚ AŽ DO... / AUF EWIG DEIN ODER SIE LEBTEN GLÜCKLICH BIS... hervorstechen. Heteronormavitität und Privatheit Im Zusammenschluss von Heteronormativität und Privatheit – mit der Hochzeit als Höhepunkt des heterosexuellen Privatlebens – stellen beide TV-Serien konventionelle Modelle heterosexuellen Zusammenlebens aus. Bei Hníková werden die drei Paare in ihrem familiären Umfeld, in ihren häuslichen Kontexten und bei alltäglichen Handlungen gezeigt. In der Montage folgen auf Aufnahmen mit bewegter Kamera, die im Freien, im Supermarkt, in der Kirche o.ä. gedreht werden, solche mit statischer Kamera, auf denen das Paar nebeneinander sitzend, jeweils frontal in seinen privaten Räumen (oftmals Wohn- oder Schlafzimmer) dabei gefilmt wird, wie es Fragen von Erika Hníková (im Off) beantwortet. Dieses therapeutisch anmutenden Setting dient der gemeinsamen Reflexion des Prozesses der Hochzeitsvorbeitungen. Die Paare treten hierbei als Experten und Expertinnen ihres privaten Lebens und ihrer Beziehungen zutage, die sie im Gespräch mit der Regisseurin reflektieren und evaluieren. Die mediale Inszenierung der Paare in stereotypischen Geschlechterrollen – zum einen auf visueller Ebene durch das Staging der Protagonistinnen und der Protagonisten, als auch auf narrativer Ebene durch die Auswahl der in der Serie gezeigten Aktivitäten – rückt vor der Frage in den Hintergrund, ob und wie ihnen ›ihr Projekt‹ ge- oder misslingt. Während die Konflikte bei Běla und Jaroslav (die äußeren Umstände: Schwiegermutter) und bei Isabela und Lukáš (die inneren Umstände: mangelnde Kommunikation innerhalb der Beziehung) vorprogrammiert scheinen, bietet sich das Paar Zděnka und Ondřej insofern zur positiven Identifikation an, als es das Format geradewegs zur Selbstverortung und -reflexion zu nutzen scheint. Es beteiligt sich also aktiv am partizipativen Experiment der Serie. Die Möglichkeit der Teilhabe als wesentlicher Aspekt der Mikropolitiken des Fernsehens appeliert auch an die Zuschauer und Zuschauerinnen.69 69 Im Diskussionsforum der Webseite des Senders ČT 2 des Tschechischen Rundfunks hinterlässt die Userin Marta folgenden Kommentar: »An Isabela und Lukáš. Ich bewundere Isabela und Lukáš dafür, dass sie sich so bemühen, obwohl sie beide bisher ein schweres Leben hatten. [...] Was getan werden muss, damit die Familie funktioniert: (1) Lukáš muss Arbeit finden – und zwar sofort. (2) Isabela muss mit ihrer Arbeit aufhören und sich einen anständigen Job suchen [...] Auch würde es den beiden nicht schaden,

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Während in Hníkovás Film die Aufnahmen mit den Paaren einigen wenigen Aufnahmen von Familien und Freunden der Paare gegenübergestellt werden, treten in der Langzeitdokumentation die Familienmitglieder (im ersten Teil die Eltern, im zweiten Teil die Kinder) stärker in den Blick. Das Ehepaar ist bei Třeštíková die kleinste Einheit einer umfassenden gesellschaftlichen Struktur, an der andere Paare und Einheiten teilhaben. Einer Struktur, die politischen Veränderungen ebenso unterworfen ist wie persönlichen Schickssalsschlägen. Hnikovás Serie vermittelt hingegen, dass das Gelingen oder Misslingen des Projektes ›Ehe‹ von der Einzelnen und vom Einzelnen abhängt. Als Instrument einer Handlungsermächtigung sind die MANŽELSKÉ ETUDY / EHE-ETÜDEN indessen schwerlich lesbar, obwohl sie das Fernsehpublikum ebenfalls zur Reflexion über Liebes- und Ehebeziehungen sowie verwandtschaftliche Beziehungen im Allgemeinen einladen. Die TV-Serie als Instrument der (Selbst-)Reflexion Auf der Webseite des Senders ČT 2 des Tschechischen Rundfunks kann man die sechs im Mai und Juni 2013 ausgestrahlten Teile der Lifestyle-Serie von Erika Hníková streamen. Außerdem stellt der Sender weiteres Informationsmaterial rund um die Serie zur Verfügung: Interviews mit der Regisseurin (vier VideoInterviews, und ein transkribiertes Interview), einen Chat mit der Regisseurin, der kurz nach der Ausstrahlung der ersten Folge im Mai stattfand, ein Diskussionsforum, das zur kollektiven Reflexion der Rolle der Ehe in der heutigen Zeit einlädt.70 Folgendermaßen werden Zuschauerinnen und Zuschauer im Diskussionsforum adressiert: »Diskutiert mit uns über Eure ungewöhnlichen Eheschließungen, über sich Ratgeber-Literatur über Kindererziehung zuzulegen (zum Beispiel auf der Verlegerwebseite www.portal.cz) oder hin und wieder mal eine Vorlesung oder einen Kurs zu besuchen... Ich bin Euer Fan! Ihr seid toll! Ihr dürft einfach keine Angst davor haben, ein paar grundlegende Dinge zu verändern und Euch davon zu verabschieden, was Euch bremst...« Bemerkenswert an diesem verhältnismäßig ausgefeilten Kommentar – der 15 Likes und 16 Dislikes sowie eine Antwort von Isabela höchstpersönlich erhalten hat – ist, dass er das partizipative Angebot des Fernsehens, auf gleicher Höhe Strategien der Lebensführung zu diskutieren, illustriert und gleichzeitig auch Rezeptionsweisen sichtbar macht, die die dominante Rezeption (von Isabela und Lukáš als mit ihrem Leben und ihrer Beziehung nicht zurechtkommendes Paar) unterlaufen. Vgl. Website des Tschechischen Fernsehens, http://www.ceskatelevize.cz/porady/10397753566-navzdysvoji/diskuse/, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 70 Vgl. Website des Tschechischen Fernsehens, http://www.ceskatelevize.cz/porady/103 97753566-navzdy-svoji/, [letzte Sichtung am 18.03.2020].

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Eure Meinung zur aktuellen Bedeutung der Hochzeit für das Beziehungsleben und über alles, was damit zusammenhängt.« Das spezifische Programmangebot der Serie löst somit das Versprechen jener »diskursiven Praxis«71 des Fernsehens ein, die Strategien der alltäglichen Lebensführung verhandelt und Subjektivierungspotenziale bereitstellt. Im interaktiven Teil der Webseite befindet sich zudem eine Zuschauerbefragung, an der rund 5.831 Personen teilgenommen haben. Die Frage der Enquête lautet: »Welches Paar von NA VŽDY SVOJÍ findet Ihr am Ende der Serie am Sympathischsten?« Das Ergebnis überrascht wenig: das scheinbar konservativste Paar, die streng gläubigen Katholiken, liegt mit rund 83 % weit vor dem Nacktmodell und ihrem arbeitslosen Freund (10%) und den Landmenschen Běla und Jaroslav (7%). Trotz ihres christlich-konservativen Hintergrundes und ihrer altmodisch anmutenden Werte führen Ondřej und Zděnka scheinbar die Beziehung mit dem größten Identifikationspotential. Ihr Umgang miteinander ist liebe- und respektvoll, auf kommunikativer Ebene gleichberechtigt, sie finden Worte für ihre Gefühle, Konflikte, Ängste, während die anderen beiden Paare oft in einer Sprachlosigkeit gefangen bleiben, die den prüfenden Blick der Kamera (und der Regisseurin) offen legt. Diese Sprachlosigkeit hat aber auch mit der filmischen Inszenierung der drei Paare und mit unterschiedlichen sprachlichen Codes zwischen Filmemacherin und den Gefilmten zu tun. Es scheint evident, dass die Regisseurin und das studentische Paar eine Sprache sprechen, Schlüsselwerte und nicht zuletzt Humor miteinander teilen. Der sprachliche (und damit gesellschaftliche) Code (und somit) Schlüssel zur Kommunikation mit den beiden anderen Paaren bleibt, so möchte ich behaupten, hingegen ungeknackt. Die Interaktionen zwischen Běla und Jaroslav sowie Lukáš und Isabela (und der Regisseurin) wirken immer misslungen, in offenkundiger Differenz zu Zděnka und Ondřej.72 Im Interview mit dem Tschechischen Fernsehen, betont die Regisseurin wiederum, dass das Paar Zděnka und Ondřej sie sehr beeindruckt hätte. In unserer heutigen Zeit, wo Ehe und Heiraten immer mehr zu bedeutungsleeren Begriffen würden, sei es 71 Seier: »Mikropolitik des Fernsehens. Reality-TV als Regierung aus der Distanz.«, S. 48. 72 Die Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Hníková und dem Paar Isabela und Lukáš zeigen sich beispielsweise in einem Dialog, in dem es um die Nacktfotos von Isabela geht. In einer gestellten Szene, in der Isabela sich Fotos von sich selbst auf dem Rechner ansieht, fragt Erika Hníková sie: »Wenn du dich da so siehst, schämst du dich dann nicht?« Und um auf die negative Antwort von Isabela noch einmal nachzulegen: »Interessiert dich denn gar nicht, was die Leute über dich denken?« Mit diesen Fragen bietet Hníková dem Fernsehzuschauern und den Fernsehzuschauerinnen eine Perspektive, die diese wie die Beliebtheitsenquete zeigt, mehrheitlich aufgreifen.

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bemerkenswert, Menschen zu begegnen, »denen Hochzeit wirklich etwas bedeutet.«73 Vielmehr als um die Bedeutung von Ehe scheint es mir aber um die Bedeutung von Selbstreflexion und (in eigenen Worten erläuterbaren) Werten zu gehen. Die latente, nicht ausgesprochene Differenz zwischen den Paaren, die das Medium gegen den Willen der Regisseurin, so scheint es, aufdeckt, ist daher eine soziale: Die Mathematikerin Zděnka und der Informatiker Ondřej verfügen über den Bildungshintergrund zur sozialen Distinktion. Dennoch konstruiert das Medium eine (scheinbar) demokratische Ausgangssituation, in der alle dieselben Voraussetzungen haben. Was Andrea Seier in Bezug auf die RTL 2 Serie FRAUENTAUSCH schreibt, scheint mir auch für NA VŽDY SVOJÍ / Auf ewig dein zuzutreffen. »Klassenzugehörigkeiten spielen im Rahmen des Austarierens normalistischer Toleranzgrenzen zwar eine entscheidende Rolle. Sie werden allerdings nicht als soziale Position thematisiert, sondern in die (vermeintlich) dynamischeren Kategorien Geschmack und Habitus überführt.«74

Die soziale Differenz der Protagonistinnen und der Protagonisten der Serie rückt also vor der Ausstellung und der Herstellung von Strategien der Selbstbearbeitung und – optimierung in den Hintergrund. In den beiden Teilen der MANŽELSKÉ ETUDY / EHE-ETÜDEN kommt der Aspekt des Sozialen in seiner historischen Entwicklung in den Blick. Sind die Voraussetzungen der jungen Paare in der kommunistischen Tschechoslowakei kurz vor und nach ihrer Eheschließungen als relativ homogen zu beschreiben und verlaufen die Hochzeitsfeiern alle ähnlich, entwickeln sich ihre Leben nach dem Ende des Kommunismus höchst unterschiedlich. Marcela wird als alleinstehende Mutter, die ihr behindertes Kind alleine versorgen muss, zum Sozialfall, während sowohl Ivana und Václav als auch Mirka und Antonín sich als Unternehmer und Unternehmerinnen versuchen. Für die Absolventin und den Absolventen eines Architekturstudiums, Ivana und Václav, ist das mit Ambition (ein eigenes Label für Inneneinrichtung), aber auch mit einer großen Anstrengung verbunden, die zwar zu einem gewissen Wohlstand (einem großen Haus), aber andererseits auch zu Überforderung (Depression Ivanas, Selbtszweifel Václavs) und Konflikten (mit dem zweitältesten Sohn) führt. Mirka und Antonín können als Friseursalonbesitzerin und als Vertreter für KFZ-Teile ein relativ gutes Leben führen. Dass sie sich aber dennoch 73 Vgl. Webseite des Tschechischen Fernsehens, http://www.ceskatelevize.cz/porady/103 97753566-navzdy-svoji/, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 74 Andrea Seier: »Falsche Ge-Fährten. Frauentausch als Lifestyle-Fernsehen.« In: Patric Blaser et al. (Hg.): Falsche Fährten in Film und Fernsehen. Maske und Kothurn, 53. Jg., Heft 2-3, Wien: Böhlau 2007, S. 297.

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soziale Distinktion wünschen, wird deutlich, als ihnen ihr zukünftiger Schwiegersohn, der als Thaiboxer und Türsteher seinen Lebensunterhalt mehr schlecht als recht verdient, nicht adäquat scheint. Autorstimme vs. Partizipation, Makropolitik vs. Mikropolitik Die partizipative Politik der Serie NA VŽDY SVOJÍ ANEB A ŽILI ST’ASTNĚ AŽ DO... / AUF EWIG DEIN ODER SIE LEBTEN GLÜCKLICH BIS... beinhaltet wie schon gesagt die Kommentierung des Drehprozesses durch die Regisseurin in den auf der Webseite zu streamenden Interviews. Dass es zu einem Konflikt zwischen dem Filmteam und Isabela und Lukáš kommt, kündigt Erika Hníková in diese Interviews zur Serie bereits an. Schon ab dem dritten Teil verweigern sich Isabela und Lukáš immer öfter den Fragen der Regisseurin, indem sie mit »Keine Ahnung!«, »Das weiß ich doch nicht!« antworten, was auch dazu zu führen scheint, dass Hníková ihnen tendenziell weniger Fragen als den anderen beiden Paaren stellt. Als das Paar in der fünften Folge, kurz vor der geplanten Hochzeit beispielsweise einen Ausflug zum Pilze suchen in den Wald unternimmt, wird keine einzige Frage aus dem Off gestellt. Die beiden geben sich (daher?) auch verhältnismäßig friedlich, gesprächig und scherzen miteinander. In der letzten Folge kommt es zum Eklat: Lukáš´s Mutter möchte auf die Frage der Regisseurin, was sie von der Hochzeit halte, keine Antwort geben und als Hníková insistierend nach der Kindheit Lukáš´s fragt, verlässt Lukáš´s Mutter in defensiver Geste den Frame. Auch als Hníková einen rätselhaften Gast der Hochzeitsgesellschaft, der zu spät dazu gekommen ist und dessen Besuch Isabela und Lukáš augenscheinlich unangenehm ist, nach seiner Identität fragt, unterbricht Isabela das Gespräch sehr erregt aus dem Hintergrund rufend »Nein, Erika! Das wünsche ich mir nicht!« Sich im medialen Wettstreit der Selbsttechnologien möglicherweise am meisten benachteiligt fühlend und als Fotomodell die Wirkungsmechanismen des Mediums kennend, weiß das Paar Isabela und Lukáš um die Inszenierungsmacht des Fernsehens. NA VŽDY SVOJÍ ANEB A ŽILI ST’ASTNĚ AŽ DO... / AUF EWIG DEIN ODER SIE LEBTEN GLÜCKLICH BIS... endet mit einer ambivalenten Szene im Haus der beiden, als sie sich vier Monate nach der Hochzeit bereits wieder scheiden lassen möchten. Nach den Gründen für das Scheitern ihrer kurzen Ehe befragt, nennen beide erstmals die exegetische Funktion die das Fernsehen für die Erzählung ihrer Beziehung und daher auch für ihre Beziehung spielt. »Die Leute geben ihm [Lukáš, Anm. N.K.] Recht, wenn sie das sehen,« sagt Isabela, »aber sie sehen nicht, wie es hier ist. Wie er sich zu mir verhält.« Nachdem das Gespräch zwischen den beiden immer mehr in einen Streit kippt, schlägt Lukáš vor, anschließend mit Erika zu diskutieren, ob diese Szenen aus dem Film geschnitten werden können. »Aber wie soll die Serie denn enden?«, fragt Hníková daraufhin im Gestus der

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Deeskalation. »Wie wünscht ihr euch, dass die Serie endet?« Mit dieser Frage erinnert die Regisseurin das Paar an die Inszeniertheit auch dieses Moments, an seine Vermitteltheit durch das Medium. Man könnte insofern sagen, Hníková bietet ihnen einen Ausweg aus der vermeintlichen Authentizität, mit der die Serie gleichzeitig arbeitet. Außerdem betont Hníková durch diese Frage den partizipativen Aspekt der Serie: Isabela und Lukáš machen den Film, haben Anteil an der Herstellung ihrer Figuren. Wenig überraschend nehmen Isabela und Lukáš das Angebot, ein Ende für die Serie zu finden, nicht an. Aufgrund ihres quasi soziologischen Interesses am Gegenstand, das sich in gesellschaftspolitischen Fragestellungen wie zum Beispiel »Frauen und Drogen« oder »Männer im Wandel der Zeit«75 ausdrückt, gründete Třeštíková gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus Filmwissenschaft und Soziologie 1989 die Stiftung Film und Soziologie.76 In der genannten Trilogie und in den neueren Filmen verschiebt sich der Fokus ihrer Arbeit jedoch stärker auf den/die Einzelne/n. Die einzigartige Begegnung mit einem Menschen, mit seinen Vorstellungen und Wünschen, die Unvorhersehbarkeit der vergehenden Zeit und das ›Leitmotiv‹ seines Lebens stehen im Zentrum des Langzeitprojektes. Von Film und Soziologie also zu Mensch und Zeit, so der Name des Vereins, den Helena Třeštíková 1994 mit ihrem Ehemann gegründet hat und dessen Programm lautet, »den Menschen und die Veränderungen, die das Vergehen der Zeit mit sich bringt« zu reflektieren.77 Die Heldinnen und Helden der Filme Helena Třeštíkovás sind einerseits Unbekannte, die auf den ersten Blick nicht notwendigerweise interessant erscheinen. Andererseits sind es bekannte Zeitgenossinnen und -genossen des öffentlichen Lebens, die in der einen oder anderen Form tschechische Geschichte geschrieben haben. Gemein ist ihnen allen, dass sie der Filmemacherin einen Einblick in ihr privates Leben gewähren und dass sie bereit sind, über sich selbst, über ihre Rolle in der Gesellschaft und über ihr Schicksal nachzudenken: vom Häftling René Plášil zum Schriftsteller und Präsidenten Václav Havel, von unserem Paar Ivana und Václav Strnad zum umstrittenen UFA-Star Lída Baarová.78 75 Vgl. die Webseite der Doc Alliance Films über Helena Třeštíková, https://dafilms.com/ director/167-helena-trestikova, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 76 Vgl. Hilčišin Dervišević: Helena Třeštíková’s Long-term Observational Documentary Film. 77 Vgl. ebd. 78 René Plášil und Václav Havel in RENÉ (ČR 2008), wobei Havel lediglich in Archivaufnahmen zu sehen ist, die den Lebenslauf Renés mit Eckpunkten der tschechischen Geschichte konfrontieren. Ivana und Václav Strnad als sechstes Paar der MANŽELSKÉ ETUDY / MARRIAGE STORIES und Lída Baarová in ZKÁZA KRÁSOU / DOOMED BEAUTY

(ČR 2016, Co-Regisseur Jakub Hejna).

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Die Ästhetik der Filme von Helena Třeštíková ist geprägt von den Beziehungen, die sie mit ihren Protagonisten und Protagonistinnen eingeht. Die abwesende Anwesenheit der Filmemacherin, ihre helle, alterslose Stimme aus dem Off, erzeugt eine Spannung, die darauf beruht, dass Třeštíková nicht a priori die Kontrolle über alle Fragen hat und auch nicht haben will. Immer wieder kommt es in ihren Filmen vor, dass das ›Untersuchungsobjekt‹ zurückfragt und dass die Logik von Fragender und Befragter/ Befragtem dynamisiert wird. Gleichzeitig wird in diesen Momenten ein autothematischer Aspekt ihrer Arbeit offenkundig, der dokumentarische Gestus befragt sich selbst. In einem Gespräch mit Ivana MANŽELSKÉ ETUDY PO 20 LETECH / MARRIAGE STORIES 20 YEARS LATER beispielsweise verlässt diese plötzlich das Zimmer, als es an der Tür läutet. Abbildung 32: Regisseurin und Tonmeister warten.

Quelle: Screenshot EHE-ETÜDEN – 20 JAHRE SPÄTER (ČT 2007)

Die Kamera zoomt rückwärts und in den Blick kommen die mit dem Rücken zu uns sitzende Filmemacherin und der Tontechniker, der das Mikrofon hält. Zusammen mit Třeštíková warten wir auf die Rückkehr der Protagonistin ins Bild. Diese Sequenz, die dem Zuschauer und der Zuschauerin zunächst als ›Störung‹ des dokumentarischerzählerischen Flusses scheinen mag, entlarvt die filmische Erzählung der Leben von Ivana und Václav als mediale Konstruktion und verweist auf den Dokumentarfilm als sinnstiftende Instanz. Helena Třeštíková kommt hier aber auch als Mensch in den Blick, der über die Zufälle eines Lebens keine Kontrolle hat. Die Einstellung verweist meines Erachtens auf die Grenzen, die einem schinbar alles überblickenden und alles kontrollierenden ›Auteurs‹ gesetzt sind.

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Ehe als nostalgisches Konzept Die Lifestyle-Serie NA VŽDY SVOJÍ ANEB A ŽILI ST’ASTNĚ AŽ DO... / AUF EWIG DEIN ODER SIE LEBTEN GLÜCKLICH BIS... adressiert die Bedeutung und Integration der ›kulturellen Praxis der Ehe‹ innerhalb der tschechischen Gesellschaft. Schon die Vorgängerserie von Helena Třeštíková interessierten Fragen nach dem Grund für die Hochzeit, nach den potentiellen Schwierigkeiten oder Widerständen und nach der Bedeutung der Ehe für das weitere Leben im Allgemeinen und für die jeweilige Beziehung im Speziellen. Die Historizität der Ehe ist konzeptuelle Prämisse aller drei TV-Produktionen. Der den Filmen zugrunde liegende Gestus problematisiert a priori eine gewisse Abgedroschenheit (Überkommenheit) des Konzeptes Ehe, der bei Třeštíková durch einen nostalgisch-melancholischen, bei Hníková durch einen ironischen Gestus der Aneignung Ausdruck gegeben wird. Aufgrund ihrer seriellen Anordnung und ihres enzyklopädischen Anspruchs fallen alle drei TV-Produktionen unter das, was David Bordwell und Kristin Thompson als »categorical form«79 dokumentarischen Filmschaffens beschreiben. Die categorical form ist von der rhetorical form abzugrenzen und nähert sich der Komplexität eines Themas, indem sie es aus verschiedenen Perspektiven zu fassen versucht. Die categorical form verzichtet darauf, Urteile zu treffen und den Zuschauer und die Zuschauerin von einer Meinung überzeugen zu wollen. Bordwell und Thompson betonen allerdings auch, dass ein Dokumentarfilm selten nur einer der beiden Kategorien zugeordnet werden kann, sondern dass oft beide Formen anteilig im filmischen Material vorhanden sind. Der rhetorische Gestus im Sinne von Bordwell und Thompson lässt sich bei Hníková als auch bei Třeštíková da ausmachen, wo die Autorinnenstimme strukturgebend und evaluierend vernehmbar wird. Der Frage nach den ehelichen Beziehungen liegt nicht nur ein spezifisches Unbehagen und eine tendenziell kritische Position gegenüber heteronormativen Strukturierungen zugrunde, in ihr ist darüber hinaus immer auch schon die Frage nach dem Gelingen und dem Scheitern dieser Beziehungen angelegt. Die Serie von Erika Hníková stellt ein beschränktes Kontinuum möglicher Haltungen zu heteronormativen Lebensstilen aus, das sich von einer unpolitischen, unreflektierten NichtHaltung (Isabela und Lukáš), bzw. von der unkritischen Reproduktion gesellschaftlicher Konventionen (Běla und Jaroslav) zum anderen Extrem eines christlich-orthodoxen, uneingeschränkt affirmativen Umganges mit dem Sakrament der Ehe (Zděnka und Ondřej) erstreckt. Helena Třeštíkovás Paare hingegen lassen sich hinsichtlich ihrer Haltungen zur Ehe nicht in Stichworten pointieren. Anders als die Lifestyle-Serie verfolgt die Langzeitdokumentation nicht primär das Ziel, mit 79 David Bordwell, Kristin Thompson: Film Art: An Introduction, New York 92010, S. 353.

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allegorisch verkürzten Protagonistinnen und Protagonisten Politiken des Privaten diskutierbar zu machen. Als Kultserie des sozialistischen sowie des postsozialistischen Fernsehens gelingt es ihr jedoch auf geradezu einzigartige Weise, die Lebenswelten der Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden und die Gegenwart durch die Vergangenheit zu erklären. DF 6 Auf ewig Ehe-Etüden zeigt, wie in Fernsehproduktionen der kommunistischen Tschechoslowakei sowie der demokratischen tschechischen Republik durch die kurz- und langfristige Dokumentation von (Ehe-)Paaren aus allen sozialen Schichten die kulturelle Praxis der Ehe und die (heterosexuelle) Gemeinschaft als identitätsstiftendes Moment in den Blick kommt, die an der Konstruktion nationaler Identität massiv Anteil hat.

6

Kollektives Trauma und »Competing Memories«

Im Kapitel Kollektives Trauma und Competing Memories werden sechs Spielfilme aus Polen, Rumänien, Tschechien und der Tschechoslowakei hinsichtlich ihrer Bearbeitung historischer traumatischer Erfahrungen des 2. Weltkrieges (DF 8 Wir müssen zusammenhalten auf dem Korso), des Kommunismus (DF 7 Ohr Riss) und der postsozialistischen Gegenwart (DF 9 Reconstruction of Mr. Lazarescu). Gleichzeitig wird mit dem Schlagwort der Competing Memories der Frage nachgegangen, wie das Konfliktpotenzial von Erinnerungskonjunkturen filmisch verhandelt wird, wie also Aspekte konfligierender Erinnerungen in den sechs Filmen aufgegriffen oder verhindert werden, die bestimmte narrative und visuelle Motive verstärken oder im Gegenteil aus dem Fokus der filmischen Aufmerksamkeit rücken. Dass Narrativ des ›Kleinen Mannes‹ oder der ›gewöhnlichen Menschen‹ gerät dabei ebenso in den Blick (DF 8 Wir müssen zusammenhalten auf dem Korso) wie die komplexe Ambivalenz von Erinnerungsfilmen, die neben einem Objekt immer auch ein Subjekt sowie einen Modus der Erinnerung inszenieren. Was wie und durch wen erinnert wird, ist einer der zentralen Aspekte einer Forschung, die sich mit ›Competing Memories‹ befasst. Mit Mette Hjort und Scott MacKenzie gesprochen, muss bei Filmen, die zwischen den Koordinaten von Nation und Repräsentation oszillieren, das Konfliktpotential in den Blick genommen werden. »Films do not simply represent or express the stable features of a national culture, but are themselves one of the loci of debates about a nation´s governing principles, goals, heritage and history.« 1

1

Mette Hjort; Scott MacKenzie (Hg.): Cinema and Nation. New York: Routledge 2000, S. 4.

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Wenn es in Filmen um Nationen geht, liegt die Frage nach einer historiographisch korrekten, ›repräsentativen‹ Erzählweise nahe. So sehr das Paradigma der Repräsentation in kulturwissenschaftlichen Diskursen und unter dem Einfluss konstruktivistischer und poststrukturalistischer Denkschulen als überwunden gilt, die Repräsentation in soziale Beziehungen umdeuten, die Bedeutung und Subjektivität produzieren2, scheinen gerade Spielfilme, die Geschichte dramatisieren, besonders häufig hinsichtlich ihrer Repräsentationen analysiert zu werden.3 Im Zentrum der hier vorgenommenen Untersuchung der Spielfilme steht jedoch weniger ihre Repräsentativität als die zentrale Frage, wie die Filme kollektive und individuelle Traumatisierungen verhandeln, welche narrativen Verfahren bei der Erzählung von Geschichte zum Tragen kommen, welche Bilder inszeniert oder (als Assoziationen) abrufbar werden. Die Rekonstruktion der tabuisierten Geschichte zielt also weniger auf die Verarbeitung eines traumatischen Ereignisses europäischer Geschichte, als vielmehr auf eine Art Reenactment traumatischer Erlebnisse und die Schaffung eines Raums, wo der Verlust auch offiziell betrauerbar wird. In vier der sechs Filme, die genre-technisch allesamt dem (historischen) (Melo-)Drama zugedacht werden können, werden die traumatischen kollektiven Erfahrungen mittels von Paargeschichten erzählt. Das heterosexuelle Ehepaar steht im Zentrum des dramatischen Geschehens, ebenso die Gegenüberstellung von System (Kollektiv) und Individuum; die Narration folgt entsprechend binären Erklärungsmustern: In UCHO (ČSSR 1970) steht der in seiner Integrität an der paranoiden Anordnung des Systems scheiternde Protagonist einer Protagonistin (Ehefrau) gegenüber, die die ohnehin prekäre Situation des Ehemannes durch ihre Alkoholsucht noch destabilisiert. In RYSA (PL 2008) korrumpiert die verheimlichte Vergangenheit des Ehemanns die Paarbeziehung und destabilisiert die Gegenwart des Paares. In OBCHOD NA KORZE (ČSSR 1965) und in RECONSTITUIREA (RO 1968) werden die Protagonisten ›durch‹ das System zu Tätern und in MUSÍME SI POMÁHAT (ČR 2000) wird der Protagonist ›gegen‹ das System zum Helden. In MORTEA 2

Vgl. Hjort; MacKenzie (Hg.): Cinema and Nation, S. 1.

3

So kritisieren Didier Péron und Nathalie Versieux in der Libération vom 16. Februar 2008 beispielsweise, dass Andrzej Wajdas Film KATYŃ (PL 2007) über das Massaker von 22.000 Polnischen Offizieren und Intellekturellen in den Wäldern der heutigen Ukraine, die Vernichtung der Juden im Zweiten Weltkrieg in das Hors-champ der Story verschiebe. Das Schicksal der polnischen Juden werde in der Narration des Massakers nicht erfasst, der Name Ausschwitz käme lediglich zwei Mal vor. Vgl. Didier Péron; Nathalie Versieux: »Andrzej Wajda dans la forêt de Katyń«, Libération vom 16. Februar 2008. Abrufbar auf http://next.liberation.fr/culture/2008/02/16/andrzej-wajdadans-la-foret-de-katyn_65194, [letzte Sichtung am 18.03.2020].

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DOMNULUI LĂZĂRESCU / THE DEATH OF MR. LAZARESCU (RO 2004) ist der Prota-

gonist einem System (hier dem Gesundheitssystem) hilflos ausgeliefert, dessen Opfer er schließlich wird.

6.1 DOUBLE FEATURE 7 – OHR RISS Anna: »Was sind wir denn? Sind wir denn noch Menschen? Was willst du von uns, Ohr? Dass wir uns umbringen? Sollen wir uns töten? (…) Auf dem Klo darfst aber nicht einmal du zuhören, Ohr! Und im Badezimmer darfst du auch nicht zuhören. Und in der Küche wirst du auch nicht zuhören. Im Badezimmer, auf dem Klo und in der Küche dürfen auch Funktionäre offen sprechen, hörst du?« UCHO / THE EAR (1970) Jan: »Wir sind seit 40 Jahren zusammen. Ich habe unserem Kind die Windeln gewechselt. Ich habe mit dir getanzt, ich habe mich mit dir betrunken und ich habe mit dir geschlafen. Und nach all dem hast Du Zweifel? Du musst das überprüfen? [...] Und was würde das überhaupt beweisen? Selbst wenn ich ein Agent gewesen wäre. Ich meine, wer, wenn nicht du, weiß, was für ein Mensch ich bin!« RYSA / THE SCRATCH (2008)

Ein Ohr: Paranoia oder Wer hat Angst vor Überwachung? Das nächtliche Prag, die Moldau, in der sich die Straßenbeleuchtung schwach spiegelt, der Hradschin, mit dem beinahe ganz im Dunkel verborgenen Veitsdom sowie der hell erleuchteten Fassade der Prager Burg. Die Musik verkündet Unheil und erreicht ein verhaltenes Crescendo als die Standbilder einer in fahles Licht getauchten Blumenwiese und das Detail einer Blüte aufscheinen. Die Musik geht in den Motorenlärm eines herannahenden Autos über. Ludvík (Radoslav Brzobohatý) und Anna (Jiřina Bohdalová) kommen von einer Feier nach Hause, Anna weinselig, Ludvík ungeduldig. Der Ton zwischen ihnen ist angespannt, sie streiten über Bagatellen. Setting sowie Mise-en-scène erinnern an das Regiedebüt von Mike Nichols, der 1966 Edward Albees Drama WHO´S AFRAID OF VIRGINIA WOOLF mit Elisabeth Taylor und Richard Burton verfilmte. Auch UCHO / THE EAR (ČSSR 1970, Karel Kachyňa) ist die Chronik einer langen Nacht im Leben eines seit zehn Jahren miteinander verheirateten Ehepaares – er Provinzbürokrat mit großer Zukunft, sie Tochter eines Olmützer Gastwirten mit Tendenz zum Alkoholismus; einer Nacht, die die Zukunft der beiden entscheidet. Nach dem hochoffiziellen Empfang anlässlich des Geburtstags des Genossen Präsidenten auf der

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Prager Burg kommen Ludvík und Anna nach Hause und bemerken sehr rasch, dass jemand in ihrer Abwesenheit in ihrem Haus war. Weitere unerklärliche Vorfälle (auch der Ersatzschlüssel ist verschwunden, der Strom in ihrem Haus ist ausgefallen, obwohl das Licht bei den Nachbarn brennt und die Telefonleitungen im Haus sind tot) sowie das Gerücht, dass der Minister und Vorgesetzte Ludvíks, Košara, gekündigt wurde, führen das Ehepaar in eine existenzielle Krise, die durch schwelende Beziehungskonflikte noch verstärkt wird. »An extremely powerful, polemical film, it provides a profound insight into the mental framework of a totalitarian society.«, schreibt Peter Hames über den Film.4 Das Interessante an dieser Bemerkung scheint mir zu sein, dass sie in gewisser Weise ebenso auf den Film von Mike Nicols zutrifft, auf WHO´S AFRAID OF VIRGINIA WOOLF. Auch dieser erlaubt einen Einblick in ein ›totalitäres‹ System. Natürlich ist der politische Kontext des Filmes nicht mit jenem von UCHO zu vergleichen. In Edward Albees Stück steht nicht die paranoide Enge eines mittels Überwachung operierenden kommunistischen Staates im Zentrum. Dennoch scheint mir das Stück ebenso wie UCHO eine Ideologie sichtbar zu machen, die es gleichzeitig dekonstruiert, jene der Heteronormativität nämlich mit ihrem Reproduktionsdruck und der ambivalenten Institution der Ehe, die als Medium der Repräsentation innerhalb einer auf monogame heterosexuelle Beziehungen ausgerichteten Gesellschaft fungiert und die gleichzeitig das Potential eines subtilen Folterinstruments inne hat, mit dem sich zwei Menschen im Schutz der durch die Ehe erst hergestellten Privatheit quälen können. Beide Filme enden in einer Art Katharsis, in beiden Filmen brechen die Konflikte der Paare vor einem Höhepunkt ab. Während jedoch Mike Nichols Film im Sinne einer therapeutischen Konfrontation mit den profundesten Ängsten der beiden Paare diese erkennen lässt, dass sie ihr Leben ändern müssen, um glücklich zu werden, dass sie den Feind in ihrem Inneren (der sie sich selbst sind) überwinden müssen, bleibt der Feind bei Karel Kachyňa einem diffusen Außen verhaftet, i.e. dem politischen System. In der Konfrontation mit diesem Außen, verbünden sich Anna und Ludvík und scheinen letztlich trotz ihrer multiplen Differenzen als Einheit. Zwanzig Jahre lang war dieser Film von Karel Kachyňa, dem späteren Lehrer von Agnieszka Holland, nicht zugänglich und seine Uraufführung fand erst nach dem Fall des Kommunismus im Jahr 1989 statt.5 Das Drehbuch hatte der tschechische Schriftsteller Jan Procházka verfasst, auf dessen Roman es beruhte. Diesen Roman hatte Procházka zu Ende geschrieben, als die Sowjets schon einmar-

4

Hames: The Czechoslovak New Wave, S. 75.

5

Vgl. ebd.

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schiert waren und Kachyňa machte rasch einen Film daraus.6 In dieser jahrelangen, fruchtbaren Zusammenarbeit entstanden zahlreiche bedeutende tschechische Filme7, die als Meilensteine in der tschechoslowakischen Filmgeschichte (und Literaturgeschichte8) gelten. Nur ein Jahr nach der Fertigstellung des Filmes starb Jan Procházka. SMĚŠNÝ PÁN / FUNNY OLD MAN (ČSSR 1969) und UCHO / THE EAR (ČSSR 1970) sollten die letzten gemeinsamen Filme gewesen sein. In seinen semi-literarischen Reportagen über das kulturelle Leben der Tschechoslowakei seit Beginn des 20. Jahrhunderts, zusammengefasst unter dem Titel Gottland, beschreibt Mariusz Szczygieł die letzten Monate im Leben von Jan Procházka.9 Procházka war eine der Hauptfiguren des Prager Frühlings, beliebt und gut vernetzt, und stand als überzeugter, aber kritischer Kommunist wie viele seiner Zeitgenossen für eine Demokratisierung des tschechoslowakischen Sozialismus. Nach der gewaltvollen Niederschlagung des Prager Frühlings avancierte er zum Staatsfeind, seine Bücher und seine Filme wurden verboten. Szczygieł schreibt über eine am Abend des 21. März ausgestrahlte Fernsehsendung10, die Procházka und seiner Familie als Ehrensendung angekündigt worden war und die am Anfang einer Reihe von Demütigungen stand. Der ›Dokumentarfilm‹ AUSSAGEN AN DER SEINE, der heute nicht mehr zugänglich und aus den Archiven des tschechoslowakischen Fernsehens verschwunden ist11, ist die Montage eines durch ein Abhör6

Vgl. Mariusz Szczygieł: Gottland. Reportagen. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2006, S.

7

Zum Beispiel NADĚJE / HOFFNUNG (ČSSR 1964), mit Hana Hegerová, AŤ ŽIJE REPUB-

135. LIKA / ES LEBE DIE REPUBLIK

(ČSSR 1965), KOČÁR DO VÍDNĔ / WAGEN NACH WIEN

(ČSSR 1966), NOC NEVĚSTY / NIGHT OF THE BRIDE (ČSSR 1967) und SMĚŠNÝ PÁN / FUNNY OLD MAN (ČSSR 1969). 8

Auf die Bedeutung der Literatur für die Filmkunst in der Periode des Sozialistischen Realismus haben Otakár Vávra und Milan Kundera hingewiesen, der wie Peter Hames anführt in einer Rede vor dem 4. Kongress des Vereins der tschechoslowakischen Schriftstellerinnern und Schriftsteller so weit ging zu behaupten, dass die wichtigsten Filme der Epoche als Teil der tschechoslowakischen Literatur zu zählen seien. Vgl. Hames: The Czechoslovak New Wave, S. 25, Fußnote 38.

9

Vgl. Szczygieł: Gottland. Reportagen. »Gottland« ist der Name des 2006 durch den tschechischen Unternehmer Jan Motovský gegründeten Museums für Karel Gott in dessen ehemaliger Villa in Jevany, östlich von Prag, und gleichzeitig eine ironische Anspielung auf den Atheismus der Tschechinnen und Tschechen. Das Museum wurde im Februar 2009 wieder geschlossen.

10 Vgl. ebd., S. 135. 11 »Die im Abspann genannten Personen sind entweder tot oder niemand hat je von ihnen gehört. Der damalige Chef des Prager Fernsehens arbeitet seit Mitte der achtziger Jahre

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gerät aufgezeichneten Gesprächs von Jan Procházka mit dem Literaturhistoriker Václav Černý, in dem sich die beiden in der Küche von Procházka über Politik unterhielten und Dubček in seinem Umgang mit dem Sowjetregime Naivität vorwarfen. Für den Film AUSSAGEN AN DER SEINE, der auf der Bildebene die Perspektive (subjective shot) aus dem Inneren eines Autos auf die (vermeintlich französische) Straße zeigt und Hände, die das Lenkrad halten, wurden ausschließlich die Aussagen Procházkas verwendet. Die Aussagen Černýs mussten für eine weitere Sendereihe im Radio herhalten, die laut Mariusz Szczygieł den Titel trug Über Professor Černý und die anderen.12 Die öffentliche Diskreditierung der kritischen Stimmen des Prager Frühlings zielte auf die Inszenierung eines bourgeoisen Komplotts der tschechoslowakischen Intelligentsia gegen das Volk ab. Wiewohl Procházka mit den propagandistischen Methoden des kommunistischen Regimes vertraut war13 und gleichzeitig als Drehbuchautor preisgekrönter Filme um die Macht der Montage wusste, erschütterte ihn die ausgestrahlte Sendung derart, dass er das Haus nicht mehr verlassen konnte. Auch bemühte er sich in Hunderten »Briefen an Zeitungsredaktionen, an das tschechische Radio und Fernsehen, an seinen Friseur, an den Besitzer seines chinesischen Lieblingsrestaurants«14, die Lage zu erklären, zu zeigen, dass er bertrogen worden war. UCHO / THE EAR erzählt also eine stark autobiographische Erfahrung, deren Dimension umso dramatischer anmutet, als an ihrem Ende der Tod des Drehbuchautors steht. Dass der Film zu einem Zeitpunkt produziert werden konnte, in dem die sog. Normalisierung zu Massenentlassungen in allen gesellschaftlichen Bereichen führte (70.000 Menschen wurden aus der Partei ausgeschlossen, 400.000 Menschen wurde die Mitlgiedschaft entzogen, 60 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der marxistisch-leninistischen Institute an den Universitäten wurden gekündigt15) ist damit zu erklären, dass die Filmindustrie erst während der zweiten Hälfte des Jahres 1969 reorganisiert wurde. Die Grundstimmung der Filme, die kurz vor der Umstruturierung nicht mehr dort, seine Adresse ließ sich nicht in Erfahrung bringen. Die Zeitschrift Rudé právo behauptete, sie hätten die Niederschrift der Sendungen eines gewissen Karel Janík bekommen. Die gute Arbeit des Redakteurs wurde gelobt. Es gab niemanden mit diesem Namen.« Szczygieł: Gottland. Reportagen, S. 134. 12 Vgl. ebd., S. 132. Zu diesen »anderen« zählten Procházka, Václav Havel und Pavel Kohout. 13 Szczygieł betont allerdings, dass Procházka selbst dachte, dass er erst nach dem Einmarsch der Sowjets abgehört worden war; dass er bereits in den Tagen des Prager Frühlings abgehört wurde, fand er erst durch die Aussagen an der Seine heraus. Vgl. ebd., S. 136. 14 Vgl. ebd., S. 129. 15 Vgl. Hames: The Czechoslovak New Wave, S. 239-240.

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(die einem Kahlschlag gleichkam) produziert wurden, war daher nicht mehr jene Aufbruchstimmung des Prager Frühlings, sondern manifestierte sich vielmehr in einer zutiefst desillusionierten und gleichwohl kämpferischen, einer zwischen »Romantik, Trotz [und] Protest« oszillierenden und letztlich moralischen Geste, wie Karel Pryl ausführt: »[These] remarkable achievements were not merely works born during the spell of freedom and still emerging from the pipeline; they were quite conscious demonstrations of a refusal to give in. When the art of film should have been silent, it bore rich fruit, when it should have died, it lived. Call it what you like – romanticism, defiance, protest – the main thing is the moral quality of the act. An event which under other circumstances would be of little interest except for the historians is charged with profound signification because it reflects something of the national character; and the responsibility of the artist towards the society for which he speaks.« 16

Diese Bemerkung scheint mir auch dahingehend interessant, als sie symptomatisch für die Beschreibung und für die Konstruktion jenes Künstlertypus scheint, der mit dem Begriff des Dissidenten gefasst wird. Wie ich im ersten Kapitel mit Bezug auf Anikó Imre ausgeführt habe, ist eine der Konsequenzen der Filmgeschichtsschreibung des Kalten Krieges die Romantisierung des fimischen Auteur. Das politisch widerständige und identitätsstiftende Potential einer solchen moralisch integren Figur steht außer Frage. Dennoch muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass eine solche Perspektive auf die heldenhaften Künstler, die wie Kryl schreibt, »für die Gesellschaft« sprechen, den Blick auf Kontingenzen verstellt, auf Zufälle, Diskontinuitäten und Widersprüchlichkeiten wie sie durch solche Erzählungen glatt gestrichen werden sollen. Der Historiker Peter Hames hat gezeigt, dass die tschechoslowakische ›Nová Vlna‹ Bewegung mit ihren emblematischen Namen wie Miloš Forman, Ivan Passer, Jiří Menzel und Věra Chytilová im Grunde weniger auf den Werken der französischen Nouvelle Vague als auf den Werken einer (tschechoslowakischen) Ersten Welle17 fusst, zu der Regisseure wie Karel Kachyňa, das Regie-Duo Jan Kadár und Elmar Klos, von dem im nächsten Kapitel im Zusammenhang mit Double Feature 8 – Wir müssen zusammenhalten auf dem Korso die Rede sein wird, aber auch Ladislav Helge, Vojtěch Jasný, Štefan Uher und František Vlačil zu zählen sind. Die Beziehung Karel Kachyňas, der einer der ersten Abgänger der tschechoslowakischen FAMU (Filmová a televizní fakulta Akademie múzických umění v 16 Karel Pryl (pseud.): »Swan Song«, Sight and Sound, 40:3 (Summer 1971), S. 126, zitiert nach: Hames: The Czechoslovak New Wave, S. 240, Fußnote 8. 17 Vgl. ebd., S. 29-78.

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Praze / Film- und Fernsehfakultät der Akademie der Musischen Künste) war, zum kommunistischern Regime ist wie Hames gezeigt hat von Ambivalenzen und Widersprüchen geprägt.18 So sehr die letzten mit Procházka produzierten, regimekritischen Filme zweifelsohne dazu geführt haben, dass sich Kachyňa, um überhaupt weiter als Regisseur tätig sein zu können, auf Kinderfilme spezialisieren musste, so sehr stand dennoch der Vorwurf im Raum, dass die Zusammenarbeit der beiden 18 Eine Ambivalenz, auf die Mariusz Szczygieł hinweist, die bei Hames allerdings keine Erwähnung findet, betrifft wohl auch die noch heute kursierenden Gerüchte, die besagen, dass Kachyňa Procházka nach dessen Tod verraten hätte. So habe er in einem Interview erklärt, dass er alles bedauere, was sie zusammen gedreht hätten. Szczygieł schreibt dazu: »Das Interview, von dem hier die Rede ist, erschien in der Filmzeitschrift Zábĕr, noch am selben Tag druckte Rudé právo kommentierte Auszüge. Allerdings war das zwei Monate nach Jans Tod, was niemand mehr weiß. Wer will nach dreißig Jahren noch etwas in einer Zeitung nachschlagen. In beiden Texten wird Procházkas Name kein einziges Mal erwähnt. Kachyňa erzählt von seinem neuen Film. Was die Distanzierung angeht, sagt er: ›Kein Mensch ist unfehlbar. Und ich erst recht nicht, denn ich arbeite mit emotionaler Materie.‹ Der Journalist insistiert: ›Vielleicht haben Sie dem noch etwas hinzuzufügen?‹ Der Regisseur: ›Es wäre einfach, hier auf dem Papier allem Gestrigen abzuschwören und sich flammend dem Heutigen zu verschreiben.‹ Und das ist fast alles. Noch ein Satz über den Sozialismus und die Zusage, in Zukunft einen Film über Lenin zu drehen. ›Man muss Karel Kachyňa von Herzen zu seinen Worten gratulieren, gibt er doch zu verstehen, dass er sich auf dem rechten Weg der Selbstkritik befindet‹, schreibt der Kommentator von Rudé právo. Unmittelbar danach drehte Kachyňa einen Kinderfilm, über Lenin hat er nie einen Film gemacht. [...]« In einem persönlichen Gespräch mit Kachyňa, fragt Szczygieł schießlich nach dem Interview. Er schreibt: »Wir kommen auf das Interview zu sprechen. ›Ich musste es geben, sonst hätte ich zwanzig Jahre lang nicht filmen dürfen, und ich bin mit Leib und Seele Filmemacher‹, erklärt er. ›Dieses kleine Stück Text habe ich mit dem Journalisten einen ganzen Monat lang zurechtgebogen. Sehen Sie den Satz über den Sozialismus hier?‹ ›Ja.‹ ›Um nicht sagen zu müssen, dass ich den Sozialismus befürworte, habe ich mir mit dem Redakteur folgende Formulierung überlegt: Ich habe also nicht gesagt , ich habe nur gesagt, dass andere dafür sind. Jetzt sehen Sie, dass das, was den Leuten heute , stärker ist als das, Der Kommentar im Rudé právo hat sich den Leuten eingeprägt und heute ist das alles eins geworden, meine vorsichtigen Worte und die kommunistische Propaganda‹, sagt der Regisseur und schaut vor sich hin.« Szczygieł: Gottland. Reportagen, S. 138-140.

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Künstler Werke einer »officially approved art« generierte, deren Stilverliebtheit und Formalimus vor allem Kachyňa angelastet wurde.19 Auch die Freundschaft mit dem damailigen Präsidenten der Tschechoslowakei, Antonín Novotný, die das Resultat einer irrtümlichen Einladung auf den Hradschin war, ließ Kachyňa vor seinen Peers in keinem guten Licht erscheinen.20 Nichtsdestotrotz zählen die beiden letzten Filme des Duos zweifelsohne zu den gewagtesten und mutigsten Filmen jener Zeit. Ein Riss: die Rückkehr des Verdrängten Vogelgezwitscher aus dem Off, noch bevor die erste Einstellung zu sehen ist: der Krakauer Esplanadenring, die ›Planty‹, im Frühling. Ein Dutzend Menschen sind unterwegs. Eine schwarz gekleidete, leicht humpelnde Frau mit einem Blumenstrauß bewegt sich aus der Ferne auf die Kamera zu, die leicht nach links schwenkt und auf scharf stellt, wodurch der Hintergrund – die Natur und der Spazierweg mit den Spazierenden – unscharf wird. Es scheint, als würde die Frau an der Kamera vorbei gehen; schließlich tritt sie doch noch einmal in den Frame. Wir sehen sie im Profil, sie zündet sich eine Zigarette an. Plötzlich erscheint sie uns sehr nah. Die Frau, die wir in der Intro sehen, ist nicht die Protagonistin. Wir werden sie in der nächsten Szene als Freundin des Paares kennen lernen. In diesen ersten Sekunden des Films wird bereits das visuelle Vokabular dekliniert, das die spezifische filmische Sprache ausmacht: ein Spiel mit Sehen und Nicht-Sehen, On und Off Frame Aufnahmen bzw. Unscharf- und Scharfstellung. In seinem für das polnische Fernsehen produzierten Film RYSA / THE SCRATCH (PL 2008), sondiert der Regisseur Michał Rosa den Mikrokosmos eines seit Jahrzehnten miteinander verheirateten Paares, dessen Leben – ähnlich wie im Plot des Films CACHÉ (A 2005) von Michael Haneke – durch das Auftauchen einer VHSKassette mit nicht restlos verifizierbaren Informationen aus der Bahn gerät. Joanna (Jadwiga Jankowska-Cieślak21) und Jan (Krzysztof Stroiński) laden zu ihrem 19 Vgl. Hames: The Czechoslovak New Wave, S. 67. 20 Vgl. ebd. 21 Ihr Filmdebüt feierte die Theaterschauspielerin Jadwiga Jankowska-Cieślak mit dem Film TRZEBA ZABIĆ TĘ MIŁOŚĆ / DIESE LIEBE MUSS MAN TÖTEN (PL 1972) von Janusz Morgenstern, der von den Warschauer Behörden sechs Jahre für den Westen gesperrt wurde. Einem internationalen Publikum ist Jankowska-Cieślak aus dem ungarisch-polnischen Film EGYMÁSRA NÉZVE / EIN ANDERER BLICK (H 1982, Károly Makk, János Xantus) bekannt, in dem sie eine lesbische Journalistin spielt, die sich in den Tagen der ungarischen Revolution in ihre verheirate Arbeitskollegin (Grażyna Szapołowska) verliebt. Für ihre Darstellung der Journalistin erhielt sie als erste polnische Schauspielerin

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40. Jahrestag und feiern ein ausgelassenes Fest im Kreis ihrer besten Freundinnen und Freunde. Nachdem die letzten Gäste gegangen sind, räumt Jan das Geschirr in die Küche, während Joanna noch die Geschenke auspackt, die die Freundinnen und Freunde mitgebracht haben. Eines der Geschenke - wer es mitgebracht hat, erschließt sich nicht, ist eine VHS-Kassette, die ein Interview mit einem ehemaligen Sicherheitsagenten des polnischen Geheimdienstes zeigt. Dieser Agent behauptet, dass Jan, in den 70er Jahren selbst Geheimagent (poln. »UBEK« von Urząd bezpieczeństwa, Mitarbeiter des polnischen Amtes für Staatssicherheit), vom Geheimdienst angewiesen wurde, Joanna Kocjan, die Tochter eines oppositionellen Politikers und Regimegegners zu heiraten, um ihren Vater intensiver beschatten zu können. Ob die Behauptung zutrifft, ob die Enthüllungen der aufgezeichneten Sendung über den geringsten Wahrheitsgehalt verfügen, klärt der Film nicht abschließend. Historiographische Richtigstellungen, nachträgliche Überführung der Täter sind nicht Thema des Films, anders als bspw. in KATYŃ von Andrzej Wajda, auf den ich in einem kurzen Exkurs genauer eingehen werden. Im Zentrum von RYSA / THE SCRATCH steht vielmehr das subtile Abdriften der Wahrnehmung der Protagonistin, das der Verlust einer gemeinsamen Erzählung verursacht und das zu einer umfassenden Verunsicherung führt, die letztlich nicht nur das Beziehungsleben des Paares stark erschüttert (bzw. zerstört), sondern mit einer grundlegenden Lebenskrise und einer pathologischen Störung der Protagonistin einhergeht. Die Fernsehaufnahme eines Interviews über die Vergangenheit ihres Mannes steht am Beginn der allmählichen Implosion der über die Jahre gewachsenen Strukturen einer bürgerlichen Ehe. In einem Interview mit der Kinozeitschrift Kino danach befragt, ob die Enthüllung der (historischen) Wahrheit auch dann prioritär sei, wenn sie pathologische Folgen nach sich ziehe, kurz ob die Wahrheit auch dann erzählt werden muss, wenn sie krank machen kann, sagt Michał Rosa: »It is the only way for us to start functioning normally. However, it is a problem which I cannot solve or come to terms with and that's why I wanted to make this film. While I am aware that truth can involve an individual tragedy, I believe that this process is necessary in a wider, social perspective and it would be a greater tragedy to stop it.« 22

den Darstellerpreis auf den Filmfestspielen in Cannes. Vgl. den Wikipedia-Eintrag über Jadwiga Jankowska-Cieślak, https://de.wikipedia.org/wiki/Jadwiga_Jankowska-Cie% C5%9Blak, [letzte Sichtung am 1. Juli 2016]. 22 Konrad J. Zarębski: »Scratch – Michał Rosa«. Vgl. http://culture.pl/en/work/scratchmichal-rosa [letzte Sichtung am 18.03.2020].

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Vielmehr als ein Film über die Wahrheit bzw. die Vergangenheit scheint mir RYSA tatsächlich ein Film über die Lüge bzw. die Gegenwart zu sein. Die Frage der Vergebung stellt sich hier gar nicht mehr, zu umfassend ist die Erschütterung, zu wenig integrierbar in die Welt der Protagonistin ist der Vertrauensbruch. Das totalitäre System, das in UCHO / THE EAR noch allgegenwärtig ist, gehört zwar der Vergangenheit an, die Gegenwart wird aber von ihren Geistern immer noch heimgesucht. Auf tagespolitischer Ebene ist Rosas Film als Reaktion auf die 2005 im Internet erschienene Wildstein-Liste zu lesen, auf der der polnische Journalist Bronisław Wildstein im Auftrag des staatlichen Instituts für Nationales Gedenken die Namen derer veröffentlichte, die entweder mit der Staatssicherheit zusammen gearbeitet hatten oder als potentielle Verbündete bewertet wurden.23 Marci Shore schreibt dazu: »Bronisław Wildstein stellte viele Leute vor ein schreckliches Dilemma. Nicht wenige der Namen auf der Liste waren nämlich die ehemaliger Dissidenten, die die Geheimpolizei zum Verrat an ihren Freunden bringen wollte. Stand man auf der Liste, konnte man seine Unschuld nur beweisen, indem man den Inhalt seiner Akte veröffentlichte.«24

Mit der Veröffentlichung des Inhaltes der eigenen Akte, gab man aber nicht nur sein Privatleben preis, sondern auch das der eigenen Familie und Freunde und Freundinnen. Auch in RYSA / THE SCRATCH wird die Frage der Schuld des Protagonisten und seiner Beteiligung am Überwachungsprogramm der Staatssicherheit nicht abschließend aufgeschlüsselt. Sollte sich Jan auch als Spion auf irgendeine Weise schuldig gemacht haben, so fokussiert der Film auf seine Qualitäten als Ehemann und als Vater und zeigt sich dadurch empathisch mit seinen Figuren. Ein Geist, der den Film von Michał Rosa auf ästhetischer Ebene heimsucht und der, wie Steven Woodward gezeigt hat,25 als Vorbild für Rosas filmische Arbeit gelten kann, ist Krzysztof Kieślowski. Bereits Ende der 1990er Jahre begann Michał Rosa mit dem Drehbuchautor von Kieślowski, Krzysztof Piesziewicz, zusammen zu arbeiten, der nach Kieślowskis Tod noch mehrere unvollendete 23 Marci Shore: Der Geschmack von Asche. Das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa. München: C.H. Beck Verlag 2014, S. 316. Marci Shore weist übrigens darauf hin, dass die Wildstein-Liste erstmals eine Debatte in der polnischen Gesellschaft auslöste, die in der Tschechoslowakei dreizehn Jahre vorher statt gefunden hatte: im Kontext der Lustration von 1992. Vgl. dazu: Dagmar Unverhau (Hg.): Lustration, Aktenöffnung, demokratischer Umbruch in Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn. Münster: LIT Verlag 2005. 24 Shore: Der Geschmack von Asche, S. 316. 25 Woodward (Hg.): After Kieślowski. The Legacy of Krzysztof Kieslowski, S. 23 ff.

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Projekte der Zusammenarbeit zum Abschluss bringen wollte.26 Rosa hatte sich als Absolvent der Filmschule Katowice mit seinen frühen realistischen Filmen GORĄCY CZWARTEK / HOT THURSDAY (PL 1993) und FARBA / PAINT (PL 1997) bereits einen Namen gemacht und mit Piesiewicz realisierte er 2001 CISZA / SILENCE, für den er zwei Preise beim Filmfestival in Gdynia und einen Preis beim Karlsbader Filmfestival erhielt.27 Obwohl der Film beim Publikum nicht besonders gut ankam, feierte ihn die Filmkritik als einen Autorenfilm im Stil Krzysztof Kieślowskis. Szenen zweier Ehen Im Folgenden möchte ich fragen, wie das Ehepaar als mikropolitische Institution einer gegebenen Gesellschaft zum Schauplatz einer Heimsuchung durch vergangene bzw. gegenwärtige traumatische Erlebnisse wird. Die Heimsuchung, der die beiden Paare je unterschiedlich zum Opfer fallen, ist in einem Fall gebunden an das Auftauchen einer Videokassette mit Informationen aus der Vergangenheit, die die Geschichte des Paares als eine Konstruktion kenntlich machen, was die Protagonistin letztentlich nachhaltig aus der Bahn ihres Lebens wirft. Die über das Haus verteilten Abhörgeräte (Ohren) wiederum in UCHO / THE EAR stellen einen anhaltenden Zugriff auf die Privatsphäre des Paares dar, dessen in der Semi-Öffentlichkeit der Überwachung geführte Beziehung beinahe scheitert. Beide Filme thematisieren das Verhältnis der Intimität zwischen den beiden Partnern und der PaarIdentität in der Öffentlichkeit, das in seiner Verschränktheit deutlich wird. Anna und Ludvík kommen in UCHO / THE EAR von einer Veranstaltung zurück nach Hause, in der sie einen öffentlichen Auftritt absolvieren mussten, der dem beruflichen Vorankommen von Ludvík dienlich ist. Auch Joanna und Jan treten in RYSA / THE SCRATCH als semi-öffentliches Paar in Erscheinung, das zunächst einmal als Gastgeber eines Festes mit Freundinnen und Freunden (ihrer Peer-Community) fungiert. Während das Fest bei Kachyňa in Rückblenden erzählt wird – Erinnerungen an den Abend, die Ludvíks voranschreitende Paranoia und die 26 Zum Beispiel die mit Kieślowski geplante Trilogie RAJ / HEAVEN, PIEKŁO / HELL und CZYŚCIEC / PURGATORY. Am Drehbuch zu RAJ / HEAVEN arbeitet Kieślowski noch selbst mit, die beiden anderen Drehbücher verfasste Piesiewicz nach seinem Tod. Das Drehbuch wurde schließlich von dem deutschen Regisseur Tom Tykwer verfilmt, in HEAVEN [D, I, F, US, GB 2002]. Vgl. Woodward (Hg.): After Kieślowski. The Legacy of Krzysztof Kieslowski, S. 22. 27 In Karlsbad (2002) den Ecumenical Jury Award und in Gdynia (2001) den Preis für Beste Regie und den Preis für die beste Schauspielerin für die in CISZA / SILENCE die Rolle der Mimi verkörpernde Kinga Preis. Vgl. ebd., S. 24.

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Angst, dass er ebenso wie sein Vorgesetzter verhaftet werden könnte, nährt – scheint das Fest bei Rosa zunächst überaus harmonisch zu verlaufen. Beim Minigolfspielen in der großzügigen bürgerlichen Altbauwohnung beschädigen Jans Freunde zwar ein Bild, die Schwarzweißfotografie des Vaters von Joanna, aber das Glas zerbricht nicht zu Scherben. »Tylko rysa«, sagt Joanna, »Nur ein Kratzer.« Der ›Riss‹ ist zunächst also nur ein Sprung im Glas des Bilderrahmens einer alten Fotographie. Nachdem die Gäste die Wohnung verlassen haben und Jan das benutzte Geschirr aus dem Wohnzimmer in die Küche trägt, öffnet Joanna eher beiläufig und unaufmerksam die Geschenke. Abbildung 33: Entdeckung der Videokassette

Quelle: Screenshot THE SCRATCH (PL 2008)

Die Hülle, in der sich die Videokassette befindet, ist nicht beschriftet und trägt auch keinen Titel, liefert keinen Hinweis auf den Absender. Ebenso wie das Abhörgerät in UCHO / THE EAR scheint die Videokassette ein Fremdkörper neben den Objekten des bürgerlichen Haushaltes. Die Wohnung der Protagonisten von RYSA / THE SCRATCH ist voll von alten Einrichtungsgegenständen und liebevoll ausgesuchten Möbeln, die die Genealogie des Paares vermitteln und für ihre Teilhabe an einem kulturellen und intellektuellen Erbe stehen: Joannas verstorbener Vater, der als Regimekritiker und Oppositioneller für die moralische Integrität des Paares gleichermaßen bürgt, ist von Anfang an präsent in der Fotografie, die im Wohnzimmer hängt. Vor dem Hintergrund des alten Porzellans und des Silberbestecks wirkt die Videokassette gleichzeitig profan und banal. Sie stört das Bild, sie irritiert die Oberfläche. Das Abhörgerät in UCHO / THE EAR ist zwar schon zu Anfang präsent, wenn Ludvík Anna beispielsweise darauf hinweist, dass sie nur in der Küche, im Bad und in der Toilette offen sprechen darf und Anna immer wieder Provokationen in den Flur hinausruft, die sie dem ›Ohr‹ präsentieren möchte. Als technisches Gerät und konkreter Gegenstand taucht es jedoch erst in der Mitte des Films auf, als Anna zuerst ein ›Ohr‹ neben der Spüle entdeckt, um in der Folge

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weitere Abhörgeräte im Badezimmer und auf der Toilette zu finden, die sie allesamt zerstört. Abbildung 34: Entdeckung des ›Ohrs‹

Quelle: Screenshot THE EAR (ČSSR 1970)

Im Gegensatz zur Videokassette in Rosas Film mutet das ›Ohr‹ bei Kachňa beinahe organisch bzw. körperlich an. Ein Fremdkörper, der aber eben auch ein Körper ist und ein geradezu lebendiges Wesen vorstellt, wenn Anna es direkt anspricht, bzw. wenn Ludvík es behutsam aufhebt. Auch irritiert es als Gegenstand die allgemeine Unordnung und das Chaos des gemeinsamen Haushalts nur wenig. Ganz im Gegenteil, die staubigen Nischen und provisierten Wohnräume laden dazu ein, Dinge zu verbergen oder Geheimnisse zu tarnen. Diese Unaufgeräumtheit des gemeinsamen Hauses, die Ludvík gegenüber Anna mehrfach bemängelt28 und die als Symptom des dysfunktionalen Paares fungiert, steht scharf im Kontrast zur Aufgeräumtheit und Organisation des Haushaltes in RYSA / THE SCRATCH. Joanna und Jan sind ein seit vielen Jahren perfekt aufeinander eingespieltes Team, das sich die alltäglich anfallenden Aufgaben gerecht aufteilt.29 Gerade diese Routine ist es aber auch, die durch das Undenkbare durcheinander gebracht wird. Dass ihr eigener Mann, den sie seit 40 Jahren zu kennen glaubt, sie (und ihren Vater) überwacht und aus Berechnung geheiratet haben soll, ist in der Erzählung des gemeinsamen Lebens nicht unterzubringen. Der gemeinsame Haushalt, die gemein28 Beispielsweise als Ludvík zu Anna sagt: »Ich weiß, dass, wenn ich einen sauberen Teller in diesem Haus haben will, ich ihn mir kaufen muss.« 29 Ersichtlich in der Selbstverständlichkeit ihrer Organisation: Joanna kocht für die Gäste, Jan macht den Abwasch.

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samen Routinen, die Gegenstände selbst erscheinen Joanna plötzlich trügerisch und zutiefst ekelerregend. Sie flieht in einen somatischen Zustand, in dem sie zunächst den Geschmackssinn verliert, um sich schließlich jeglicher körperlicher Nähe mit Jan zu entziehen. Der Geschmacksinn verweist auf eine sinnliche Wahrnehmung, auf Nahrungsaufnahme und auf die Küche, der in beiden Filmen eine spezielle Bedeutung zukommt. In UCHO / THE EAR ist die Küche zunächst einmal ein Rückzugsort, da vermeintlich ›ohrfreie‹ Zone. Anna und Ludvík halten sich in der Küche auf, um offen zu sprechen. Die Küche ist der Ort der schärfsten Auseinandersetzungen, da die Unordnung in der Küche auf das Chaos in der Beziehung verweist. Nicht nur, dass sie sich laufend Alkohol nachschenkt, auch dass sie immer wieder Essenreste aus dem Kühlschrank nascht, verstört Ludvík. Obwohl die Küche als Empfangsraum nicht repräsentativ scheint, werden die das Paar spätnachts noch besuchenden Genossen am Küchentisch versammelt.30 Gleichzeitig ist die Küche der Ort, wo die beiden – sehr zum Missfallen von Anna – miteinander schlafen. Am Beispiel der Küche wird in UCHO / THE EAR der durch die Überwachung zutiefst bedrohte Raum des Privaten deutlich. Das Haus des Ehepaares bietet keine Zuflucht mehr; im Laufe des Filmes stellt sich heraus, dass alle Räume bewanzt sind. Am Ende wird das Paar, eingehüllt in Decken und vereint in der gemeinsamen Verzweiflung, auf dem Balkon sitzen. In RYSA / THE SCRATCH erscheint die Küche zunächst als das über die Jahre gewachsene Zentrum des gemeinsamen Lebens. Zu Beginn des Films, als Joanna in der Küche das Dessert für ihre Gäste vorbereitet, hält sie ein Schwätzchen mit einer Freundin, die am Küchentisch sitzt und ein Glas Likör trinkt. Die Küche kommt hier als Ort der Fürsorge ins Bild. Jan und Joanna kochen immer wieder füreinander und auch Auseinandersetzungen finden in der Küche statt. Abbildungen 35, 36: Der bedrohte Raum des Privaten

Quelle: Screenshots THE EAR (ČSSR 1970), THE SCRATCH (PL 2008)

30 Später stellt sich heraus, dass der Besuch ein Vorwand war, um weitere Abhörgeräte im Haus des Ehepaares zu platzieren.

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Während einer dieser Auseinandersetzungen, als Joanna Jan gesteht, dass sie den Historiker aufgesucht hat, der Jan im Fernsehinterview als ehemaligen Geheimagenten bezichtigt, bereitet Jan das Abendessen vor und schneidet mit einem großen Messer zunächst Zwiebel und dann Fleisch. Das Gespräch wird lauter. Jan ist verstört darüber, dass seine Frau an ihm zweifelt. Obwohl Joanna berichtet, dass die Beweise des zwielichtigen Historikers keineswegs glaubwürdig sind, versteht Jan nicht, warum sie überhaupt das Bedürfnis verspürt, nach Beweisen zu fragen. In seiner Wut wirft Jan das Messer von sich und mit seinen bloßen Händen seinen Oberkörper berührend, fragt er Joanna: »Und selbst wenn ich ein Agent war, wer, wenn nicht du, weiß, was für ein Mensch ich bin?« In der Folge wird Joanna das von Jan gekochte Essen nicht mehr akzeptieren und schließlich auch für ihn nicht mehr kochen. Nach ihrem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung und dem vollständigen Verlust ihres Geschmackssinns, ernährt sie sich nur mehr von Frühstücksflocken und Haltbarmilch. Das Essen, das Nähren und Genährt-werden steht in RYSA / THE SCRATCH für das Annehmen und Aufnehmen der Identität des Partners. Der Zweifel an Jans Identität vergiftet Joannas Geschmacksempfinden und führt zur völligen Ageusie. Ohr – Auge – Haut Die Überwachung des Protagonisten in UCHO / THE EAR und den Verfolgungswahn der Protagonistin in RYSA / THE SCRATCH reflektieren Karel Kachyňa und Michał Rosa jeweils auch in der Mise-en-scène der beiden Filme. Während Ludvík (und auch Anna) in UCHO / THE EAR immer wieder direkt in die Kamera blicken, sind auch die Dialogszenen in den Rückblenden durch frontale Medium Close ups in Weitwinkeleinstellungen aufgelöst. Der Blick in die Kamera bewirkt so zweierlei: Einerseits verbindet es zwei diegetische Ebenen, die profilmische Gegenwart mit der profilmischen Vergangenheit in der Rückblende. Die Gespräche und die Gesprächspartner des Abends sind auch im Haus des Ehepaars gespenstisch präsent.31 Andererseits gerät durch das Sprengen der vierten Wand ein Außen in den Blick, eine beoachtende Instanz, die dem omnipräsenten Ohr ein allmächtiges Auge zur Seite stellt. Dieses Auge verweist innerdiegetisch auf den kommunistischen Staatsapparat und den Geheimdienst, extradiegetisch ist es als selbstreferentielle Andeutung lesbar, in der der Film selbst als Instrument der Überwachung und die Zuschauerinnen und Zuschauer als Beobachtende reflektiert werden. Der titelgebende Riss im Leben von Joanna in RYSA / THE SCRATCH

31 Dieser Effekt wird durch asynchrone Bild- und Tonanschlüsse zwischen den Sequenzen der Rückblende und der Jetztzeit noch verstärkt.

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zeigt sich filmisch in der Bearbeitung der Oberflächen. Der Verlust des Geschmacksinns ist nur der Beginn des Identitätsverlustes. Abbildungen 37, 38: Verschwomme Konturen

Quelle: Screenshots THE SCRATCH (PL 2008)

Joanna verweigert jegliche Kommunikation mit ihrem Außen, geht ihrer Arbeit als Universitätsdozentin (Biologin) nicht mehr nach und zieht sich in einem untervermieteten Zimmer in einer ansonsten leerstehenden Wohnung zurück. Den ihr zugewiesenen Teil der Wohnung reinigt sie minutiös, während sie den Verfall (Staub) im anderen Teil interessiert beobachtet. Das Verschwimmen der Konturen der Protagonistin zeigt Rosa vor allem durch unscharfe Bilder: Joanna beim Blumengießen zu Hause, das Wasser auf der Linse verundeutlicht das Bild und allein in der neuen Wohnung vor einem Telefonapparat, dessen Anrufbeantworter Anrufe für eine andere Frau aufzeichnet. Diese andere Frau, der die Wohnung einst gehörte, gerät Joanna immer mehr zu einem Fantasma, zu einem Ausweg aus der eigenen in eine andere Identität. Am Ende des Films bricht sie in den ihr verschlossenen Teil der Wohnung ein und eignet sich Kleider, Gegenstände und Fotografien der anderen an. Das letzte Bild in RYSA / THE SCRATCH zeigt Joanna in den Kleidern der fremden Frau auf der Straße in dichtem Schneegestöber. In Krakau ist es Winter geworden. In der Aufmachung der anderen, deren Identität sie sich

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als neue Haut übergestreift hat, scheint der Riss gekittet und der Weg zurück verbaut. Das DF 7 Ohr Riss bildet ein filmisches Paar, das auf indirekte Weise miteinander korrepondiert. RYSA / THE SCRATCH verstehe ich im DF 7 Ohr Riss als die filmische Zukunft von UCHO / THE EAR bzw. UCHO / THE EAR als die filmische Vergangenheit von RYSA / THE SCRATCH. Das totalitäre System, das die Gegenwart des Ehepaares in Karel Kachyňas Film noch ›determiniert‹ hat, gehört der gemeinsamen Vergangenheit des Ehepaares bei Michał Rosa an. Der Kommunismus mit seinem Überwachungsapparat und seinen Disziplinierungsstrategien ist überwunden. Im ersten Teil von RYSA / THE SCRATCH überwiegen warme, gelbliche Farben.32 Erst als das Fantom des Kommunismus und der Lüge im Leben von Joanna und Jan auftaucht, ist die Vergangenheit plötzlich in der Gegenwart angekommen, was sich in der blaugrauen Filterung der Bilder zeigt. Während in UCHO / THE EAR jedoch klar ist, woher die Abhörgeräte stammen, erschließt sich in RYSA / THE SCRATCH nicht, wer dem Paar die Videokassette geschickt hat. Bei all ihren Differenzen und trotz aller Schwierigkeiten, die das Zusammenleben mit sich bringt, vereint Anna und Ludvík (noch) die Angst vor einem gemeinsamen Feind. Als sich Ludvík kurz vor dem Ende des Films das Leben nehmen möchte, riskiert Anna ihr eigenes und klettert über die Hausfassade in das Zimmer, in dem ihr Mann sich verbarrikadiert hat. Trotz ihrer Wut, ihrem Frust und ihrem Alkoholismus bleibt sie ihrem Mann gegenüber unerschütterlich loyal. Im postsozialistischen Polen hingegen scheint die Vergangenheit unsicherer als die Zukunft. Auch nach dem Niedergang des Kommunismus bleibt die Gegenwart prekär. In ihren unterschiedlichen historischen Kontexten sind die beiden Filme als Plädoyers für eine Bewusstwerdung lesbar: Sie treten an zu zeigen, wie politische Systeme und gesellschaftspolitische Veränderungen den Einzelnen affizieren und wie sehr diese Affizierung den Bereich von Intimität und Privatsphäre betrifft.

32 Die Mise-en-scène erinnert in der Tat an die in der französischen Bourgeoisie angesiedelten Filme von Claude Chabrol wie zum Beispiel LA FLEUR DU MAL (F 2003) oder MERCI POUR LE CHOCOLAT (F 2000).

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6.2 DOUBLE FEATURE 8 – WIR MÜSSEN ZUSAMMENHALTEN AUF DEM KORSO Tóno: »Pani Lautmannka, ich bin nicht wegen des Rezeptes hier. Ich äh. (…) Da, lesen Sie das.« Lautmannová: »Verzeihen Sie, junger Herr, ich seh doch so schlecht.« Tóno: »So, Du siehst schlecht. Hm. Kurz, es steht darin, dass ich als Arisator Ihres Ladens berufen wurde.« Lautmannová: »Wie bitte?« Tóno: »Ihres Ladens!« Zeigt auf die Ware. Lautmannová: »Ah Knöpfe, die haben wir natürlich! Kleine, große, Hemdknöpfe und (…)« Tóno: »Frau Lautmannká, so hören Sie doch. Ich erkläre es Ihnen so: Sie sind Jüdin, nicht wahr? Na und ich bin ein Arier. Jüdische Läden gibt´s nicht mehr. Die sind futsch. Sagt das Gesetz. Ab jetzt gibt es nur mehr arische Läden. Das ist eben die Arisierung. Verstehen Sie? » Er lacht gutmütig. »Ich bin Ihr Arier und Sie sind meine Jüdin.« Lautmannová strahlend: »Ich verstehe nicht.« OBCHOD NA KORZE / THE SHOP ON MAIN STREET (1965) Horst zum Sturmführer auf Deutsch: »Hier werden Sie nichts finden. Sie befinden sich in einem Haus von Bürgern des deutschen Reiches, die unserer gerechten Sache ergeben sind.« Sturmführer sieht seine Papiere durch: »Horst Prohazka? » Horst: »Ja.« Sturmführer: »Na gut. (…)« Horst geht ins Haus. Horst: »Sie sind weg.« Josef setzt sich schwer atmend auf die Treppe. Josef: »Du hast uns das Leben gerettet, Horst. Danke.« Horst: »Doch wohl drei Leben, oder?« Josef: »Du meinst das Kind?« Zündet sich eine Zigarette an und gibt sie Horst weiter. Horst auf Deutsch: »Wir müssen zusammenhalten.« MUSÍME SI POMÁHAT / DIVIDED WE FALL (2000)

Kleine Männer und »Ordinary People«. Narrative des Holocaust-Diskurses Die beiden landläufig unter dem Begriff der ›Wehrmachtsausstellung‹ in das kollektive Gedächtnis eingegangenen Wanderausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung33 haben die Diskussion über den Nationalsozialismus in

33 Erste Ausstellung von 1995-1999: Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944; zweite Ausstellung von 2001-2004: Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 bis 1944. Vgl. Hans-Ulrich Thamer: »Eine Ausstellung und ihre Folgen. Impulse der ›Wehrmachtsausstellung‹ für die historische Forschung«, in: Ulrich Bielefeld, Heinz Bude, Bernd Greiner (Hg.): Gesellschaft-GewaltVertrauen. Jan Philipp Reemtsma zum 60. Geburtstag. Hamburger Edition: Hamburg 2012, S. 489-503.

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Deutschland (und Österreich34) ab Mitte der 1990er Jahre neu befeuert und den Fokus auf die vermeintlich unbeteiligten gewöhnlichen Deutschen (und Österreicherinnen und Österreicher) gelenkt, die an den Verbrechen der Wehrmacht partizipiert haben. Auch in osteuropäischen Ländern kam es nach 1989 zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. In Polen beispielsweise wurde die Diskussion namentlich durch den Bericht des polnischen Historikers Jan T. Gross über das Pogrom an jüdischen Einwohnerinnen und Enwohnern in der polnischen Kleinstadt Jedwabne 1941 entfacht, bei dem ca. 300 Menschen ums Leben kamen.35 Die Täterinnen und Täter entstammten zu einem großen Teil der örtlichen Bevölkerung. Als eine frühe kritische Stimme in der Diskussion der Mitschuld europäischer Länder am Holocaust, darf der OscarGewinner und tschechoslowakische Spielfim OBCHOD NA KORZE / THE SHOP ON MAINSTREET (ČSSR 1965) von Ján Kadár und Elmar Klos gelten. Der klerikalfaschistische, unabhängige slowakische Staat kam mit Hitler überein, dass die Deutschen die politische Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Slowakei respektieren würden, sofern die nationalsozialistischen Gesetze (gegen die Juden) umgesetzt würden. 1942 war die Slowakei eines der ersten Länder, die die Nürnberger Gesetze applizierten.36 Die slowakische Kleinstadt Sabinov 1943. Der eigenbrötlerische Schreiner Tóno Brtko (Jozef Kroner) lebt relativ zufrieden, doch an der Grenze zur Armut. Angetrieben von der Sehnsucht seiner Frau Evelyna (Hana Slivková) nach sozialem Aufstieg und mit der Unterstützung seines faschistischen Schwagers Marek Kolkotsky (František Zvarík) übernimmt Tóno die Schneiderei der Witwe Rozalia Lautmann (Ida Kamińska37) auf dem Korso, die arisiert werden soll. Da er es nicht 34 Die Aufarbeitung der österreichischen Kriegsbeteiligung und die kritische Auseinandersetzung mit dem Opfermythos erhielt 1991 durch eine Erklärung des damaligen Bundeskanzlers Franz Vranitzky entscheidenden Auftrieb, in der dieser erstmals vor dem Nationalrat die Mitverantwortung Österreichs für das im Nationalsozialimus entstandene Leid einräumte. 35 Małgorzata Pakier: The Construction of European Holocaust Memory: German and Polish Cinema after 1989. Frankfurt am Main: Peter Lang 2013, S. 103. 36 Vgl. Peter Hames: Czech and Slovaq Cinema: Theme and Tradition. Edinburgh: Edinburgh University Press 2010, S. 104. 37 Ida Kamińska, Tochter der Ester Kamińska, der ›Jüdischen Duse‹ war 1926 Mitbegründerin des Jüdischen Kunstheaters in Warschau und spielte auch in Ján Kadárs erstem amerikanischen Film THE ANGEL LEVINE (US 1970) eine Rolle. In einem Gespräch, das auf der Kauf DVD von OBCHOD NA KORZE / THE SHOP ON MAIN STREET zu sehen ist, berichtet Juraj Herz wie das Casting von Ida Kamińská abgelaufen sei. Herz, selbst ein großer Name der ›Nová Vlna‹ Bewegung und Regisseur eindrücklicher Filme wie

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übers Herz bringt, die hoch betagte schwerhörige Dame aus ihrem eigenen Laden, der darüber hinaus kurz vor dem Bankrott steht, zu vertreiben, lässt er sich auf einen Deal mit der jüdischen Gemeinde ein, die ihm ein Gehalt verspricht, wenn er die Witwe in ihrer Schneiderei unterstützt und Reparaturarbeiten für sie erledigt. Seiner Frau lügt er indes vor, dass das Geschäft gut läuft und dass er die Witwe für sich arbeiten lässt. Als die Faschisten die Juden aus der Stadt vertreiben wollen und sie dazu auf dem Korso versammeln, beschließt Tóno, die ahnungslose Witwe zu verstecken und sie vor dem sicheren Ende zu bewahren. Selbst außer sich vor Angst, die er mit Alkohol zu betäuben versucht, beschließt er im Alkoholrausch plötzlich, Pani Lautmannová auszuliefern, um sich kurz darauf doch noch eines Besseren zu besinnen. Zuguterletzt verrät sich Tóno und die alte Frau begreift, dass sie sich in großer Gefahr befindet. Panisch möchte sie ihr Geschäft mitsamt dem betrunkenen Tóno verlassen. Als Tóno sie in seiner Verzweiflung in den Abstellraum stößt, um sie zu verstecken, stürzt sie und verletzt sich tödlich, woraufhin sich Tóno, der mit dieser Schuld nicht leben kann, an einem Strick erhängt. In einer traumhaften Sequenz am Ende des Films verlassen Tóno im chaplinesken Aufzug (im Anzug von Frau Lautmannovás verstorbenem Mann) und die jüdische Witwe feierlich die Schneiderei, um in gleißendem Licht und im Zeitraffer über den Korso zu laufen. Der vielfach preisgekrönte Film38 OBCHOD NA KORZE / THE SHOP ON MAINSTREET (ČSSR 1965) von Ján Kadár und Elmar Klos gilt als Vorläufer der ›Nová Vlna‹ Bewegung. Kann man die Mise-en-scène dieser schwarzen Komödie noch als verhältnismäßig konventionell beurteilen, so scheint mir die filmische SPALOVAČ MRTVOL / DER LEICHENVERBRENNER (ČSSR 1968), der später vor allem mit seinen Märchenfilmen internationale Aufmerksamkeit errang, war bei OBCHOD NA KORZE

/ THE SHOP ON MAIN STREET als Hilfsregisseur tätig. Eine Schauspielerin zu

finden, die die Rolle der alten Jüdin Rozalia Lautmannová überzeugend darstellen würde, fiel Kadár und Klos schwer. Also begab sich Jan Kadár nach Polen und lernte dort die Direktorin des Jüdischen Theaters und auch als Theaterschauspielerin tätige »große« Ida Kamińská kennen, die von dem Angebot, eine mittellose alte Frau in einem tschechoslowakischen Film zu spielen, wenig begeistert war. Der Ankündigung, dass in der Maske ihr perfektes künstliches Gebiss kaschiert werden würde, entgegnete sie mit der sofortigen Abreise nach Polen. Es bedurfte einiger Überzeugungskunst seitens der Regisseure, die divaeske Schauspielerin wieder ans Set zu locken. Vgl. OBCHOD NA KORZE / THE SHOP ON MAIN STREET,

Kauf DVD Blesk, Bonusy/ Rozhovory/Juraj

Herz. 38 U.a. 1965 Cannes, Auszeichnung für schauspielerische Leistung für für Ida Kamińska und Jozef Kroner, 1966 Oscar, Bester Fremdsprachiger Film, 1966 Filmkritikerpreis New York, 1968 Film Festival Pilsen, Beliebtester Film.

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Reflexion des Mitläufertums der slowakischen Landbevölkerung während des Faschismus durchaus vielschichtig. Der Schreiner Tóno entspricht einem rekurrenten Narrativ in der Erzählung des Zweiten Weltkrieges, das in den 1960er Jahren am Beginn seiner vielfältigen medialen Ausgestaltungen stand: jenes des »kleinen Mannes«, der sich für die Politik und für die Autoritäten nicht interessiert und der von den politischen Ereignissen des Nationalsozialismus überwältigt wird.39 In der tschechischen Literatur begegneten wir dem einfältig-bauernschlauen Außenseiter bereits in der Figur des Braven Soldaten Schwejk40, wobei Peter Hames zu recht darauf hinweist, dass Tóno weniger schweikhaft als chaplinesk scheint: »He is portrayed as a well-meaning ›little man‹, Chaplinesque rather then Švejkian, for whom everyday work and relations matter more than grand political schemes.«41 Tatsächlich findet sich in der Figur das eloquent ausweichende, schelmisch-tölpelhafte des Schweik nicht, auch ist Tóno nicht Teil des Militärs, sondern verheiratet und damit anders Teil der Gesellschaft als das bei Schwejk der Fall ist. Das Chaplinesque der Figur liegt aber meines Erachtens vor allem in der unschuldigen Wesenhaftigkeit der Figur, die nicht unähnlich dem sie ständig begleitenden Hund namens Essenc (dt. Essenz) auf das Wesentliche reduziert scheint.42 Die von Zdeněk Liška komponierte Musik mit ihrer eindringlichen und unheilsverkündenden Melodie trägt zu dieser Reduktion auf das Wesentliche stark bei. Es scheint auch nicht zufällig, dass Frau Lautmannová aufgrund ihres schwachen Gehörs Tóno immerzu ›Krtko‹ (dt. Maulwurf) nennt statt Brtko wie sein Nachname richtig lautet. Die Tiermetaphorik verweist einerseits auf die Unschuld der Hauptfigur

39 Im weitesten Sinne lässt sich diese Figur wohl vom Schelm des pikaresken Romans aus dem Spanien des 16. Jahrhunderts herleiten, wo sie die Funktion hat, alle gesellschaftlichen Schichten zu durchlaufen und zu spiegeln. In der deutschsprachigen Barockliteratur entwickelt sich der Schelmenroman zu einer von drei anerkannten Romanformen: dem höfisch galanten und dem Schäferroman. Zum Beispiel: Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, Der Abentheurliche Simplicissimus (1668). Vgl. Hans Gerd Rötzer: Der europäische Schelmenroman. Stuttgart: Reclam 2009. Im 20. Jahrhundert wurde der subversive Antiheld u.a. von Bertolt Brecht aufgegriffen. Vgl. Ernest Schonfield: »Brecht an the Modern Picaresque« Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Nr. 66, 1, (2008), S. 57-75. 40 Zu den unterschiedlichen Rezeptionen der von Jaroslav Hašek erfundenen SchwejkFigur im 2. Weltkrieg und während des Kalten Krieges, vgl. William Walker: Dialectics and Passive Resistance: The Comic Antihero in Modern Fiction. Bern: Peter Lang 1985. 41 Hames, The Czechoslovak New Wave, S. 38. 42 Auch die Hitler-Imitation Tónos erinnert an das große Vorbild in THE GREAT DICTATOR (US

1940, Charlie Chaplin).

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(ein harmloser Maulwurf). Andererseits beinhaltet sie auch schon die Drohung, dass Menschen im Angesicht mit dem Tod zu Tieren werden könnten. Die Rezeptionsgeschichte von OBCHOD NA KORZE / THE SHOP ON MAIN STREET (nach der gleichnamigen Novelle von Ladslav Grosmann) sollte an dieser Stelle auch noch erwähnt werden, da sie intrinsisch mit der tschechoslowakischen Geschichte verbunden scheint. Besonders nach 1970 wurden Ján Kadár, der selbst Jude war, zionistische Absichten unterstellt, aufgrund seines politischen Engagements jedoch konnte er, wie Peter Hames ausführt, in der stalinistischen Phase des tschechoslowakischen Kommunismus weiterhin arbeiten.43 Nach der Message seines Films befragt, betonte Kadár den universellen, allgemeinmenschlichen Aspekt seines Filmes und legt eine Lektüre nahe, die in der Tragödie der Juden die Tragödie Europas verständlich macht.44 Dieses Statement scheint mir allerdings antisemitische Tendenzen der zeitgenössischen Rezeption a priori abfedern zu wollen. Dass jüdische Themen in den frühen 1960er Jahren in der Tschechoslowakei überhaupt behandelt werden konnten, hängt zum einen stark mit der Liberalisierung der Filmindustrie vor dem Prager Frühling zusammen. Zum anderen hat es, wie Małgorzata Pakier betont, mit einer zu dieser Zeit erstmals vor allem in Westeuropa einsetzenden kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu tun.45 Sich auf Tony Judt beziehend, führt sie aus, dass die Verbreitung von Narrativen des heroischen Widerstandes und der Auffassung, Opfer des Nationalsozialismus zu sein, sowohl in den alliierten westeuropäischen Ländern als auch im kommunistischen Osten stark verbreitet waren.46 Aus dem Entstehungskontext des Filmes lässt sich jedoch noch ein dritter Grund für die erfolgreiche Realisierung von OBCHOD NA KORZE / THE SHOP ON MAIN STREET destillieren. Der Sohn des Drehbuchautors Elmar Klos, der ebenfalls Elmar Kloss (mit einem verdoppelten ›s‹) heißt, erzählt in einem Interview, dass die Untertützung des Filmprojektes durch den tschechoslowakischen Präsident Novotný mit dessen Animositäten gegenüber der Slowakei zu tun hatte. Eine Gelegenheit, »die Slowaken zu ärgern«47, habe sich Novotný nicht entgehen lassen wollen. Und ein Ärgernis für »die Slowaken« war der Film, insofern er die wenig rühmliche historische Tatsache zu seinem Ausgangspunkt nahme, dass der faschistische slowakische Staat ein Handlanger des nationalsozialistischen Terrors geworden war. Der damalige Parteiführer Gustav Husák wandte sich in den Medien immer wieder erbost gegen die »Schwarz43 Vgl. Hames: The Czechoslovak New Wave, S. 39. 44 Vgl. ebd., S. 40. 45 Vgl. Pakier: The Construction of European Holocaust Memory: German and Polish Cinema after 1989, S. 9-10. 46 Vgl. ebd. 47 OBCHOD NA KORZE, tschechische Kauf-DVD Blesk, Bonusy/ Rozhovory/ Elmar Kloss.

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malerei« dieses Filmes.48 Wie Elmar Kloss sagt, haben sich die slowakischen Autoritäten erst nach 1989 zu diesem Kapitel der slowakischen Geschichte voll bekannt.49 Aber gilt der Film denn nun als tschechische oder als slowakische Produktion? OBCHOD NA KORZE / THE SHOP ON MAIN STREET ist, wenn man von den Passagen absieht, in denen die Hauptfigur, Rozalia Lautmannová, ins Jiddische wechselt, bzw. auch ihren starken durch das Polnische gefärbten Akzent nicht berücksichtigt, ein Film in slowakischer Sprache. Gedreht wurde er in einer slowakischen Kleinstadt und er behandelt ein slowakisches Thema: den klerikal-faschistischen Staat der Slowakei während des 2. Weltkrieges. In der Fachliteratur wird der Film als Schlüsselfilm des slowakischen Kinos diskutiert.50 Andererseits stellt er als eine Produktion der Barrandov Studios einen Meilenstein in der tschechischen Filmgeschichte dar. Die Filmcrew und die beiden Filmemacher setzten sich aus ›Tschechoslowaken‹ zusammen: Ján Kadár, geb. 1918 in Budapest, war ein jüdischer Slowake und Elmar Klos, geb. 1910 in Brünn, war Tscheche. L’ubica Mistríková schreibt, dass es sich bei OBCHOD NA KORZE / THE SHOP ON MAIN STREET um »one of the first Czecho-Slovak co-productions«51 avant la lettre halte; der Begriff der Koproduktion existierte zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Abgesehen vom Produktionskontext sei dies vor allem mit der Verwobenheit historischer Themen und den engen historischen und kulturellen Verbindungen zwischen slowakischen und tschechischen Künstlerinnen und Künstlern zu begründen.52 MUSÍME SI POMÁHAT / DIVIDED WE FALL (ČR 2000, Jan Hřebejk) zählt wie OBCHOD NA KORZE / THE SHOP ON MAINSTREET zu den erfolreichsten Kinoproduktionen seiner Zeit. Auch in MUSÍME SI POMÁHAT / DIVIDED WE FALL nominiert für den Academy Award for Best Foreign Language Film und Preisträger des Böhmischen Löwen, steht ein unpolitischer Vetreter des Kleinbürgertums im Zentrum, der ähnlich wie die Hauptfigur von OBCHOD NA KORZE / THE SHOP ON MAINSTREET unfreiwillig zum Helden wird. Wir befinden uns in einer kleinen Stadt53 in der Tschechoslowakei, es ist das Jahr 1939. Das kinderlose Paar Josef

48 OBCHOD NA KORZE, tschechische Kauf-DVD Blesk, Bonusy/ Rozhovory/ Elmar Kloss. 49 Ebd. 50 Vgl. Hames: Czech and Slovaq Cinema: Theme and Tradition, S. 106. 51 L’ubica Mistríková: »Obchod na korze / A Shop on the High Street«, in: Hames: The Cinema of Central Europe. New York/ London: Wallflower 2004, S. 97-105, hier: S. 97. 52 Vgl. ebd. 53 Es handelt sich um die osttschechische Stadt Jaroměř in der Region Königgrätz im heutigen Tschechien.

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Čížek (dargestellt von Bolek Polívka54) und Marie Čížková (Anna Šišková) stehen im Zentrum einer Geschichte, die stark mit christlicher Symbolik ausgestattet ist. Josef und Maria leben in relativ einfachen Verhältnissen, da Josef als Invalide von einer kleinen Rente lebt; obwohl sie sich Kinder wünschen, können sie aufgrund Josefs Unfruchtbarkeit keine haben. Ihr Freund Horst Proházka, Sudetendeutscher, überzeugter Nationalsozialist und verheiratet mit einer Deutschen, bringt ihnen immer wieder Essen (Blutwurst, Kaffee und Zigaretten) vorbei und unterstützt das Paar, wo er kann (beispielsweise, indem er Josef eine Fahrerlaubnis verschafft); als ambivalenter Hausfreund – Josef verachtet die Nazis, nimmt aber Horsts Geschenke doch (und nicht einmal zähneknirschend) an – hat er ein Auge auf Marie geworfen, von der er sich nicht nur Dankbarkeit erhofft, sondern auch ein kleines Abenteuer. Das einfache und beschauliche, vom Krieg kaum berührte Leben von Josef und Marie wird problematisch, als Josef eines Abends den sich auf der Flucht befindenenden Sohn der Nachbarn, David Wiener (Csongor Kassai55), mit nach Hause bringt und Marie und Josef entscheiden, David in ihrer Wohnung vor den Nazis zu verstecken. Einerseits wirft Marie Josef zwar vor, dass er, indem er David in ihr Haus brachte, ihrer beider Leben in Gefahr bringt, andererseits fühlt sie sich ebenso wie Josef verantwortlich für den jungen Mann. Durch eine dramatische Wendung in der Geschichte wird David dem Paar das Kind bescheren, das sie zusammen nicht haben können. Horst hingegen, der nachdem er wiederholt bei Marie abgeblitzt ist und herausgefunden hat, dass die beiden einen Juden verstecken, wird im furiosen Finale des Films, als die Nazis kapitulieren und die tschechische Bürgerwehr die Kontrolle über Prag übernimmt, fast als Verräter getötet, ehe er sich als Arzt ausgibt, um schließlich Maries Kind auf die Welt zu bringen. MUSÍME SI POMÁHAT / DIVIDED WE FALL ist, wie Ewa Mazierska gezeigt hat, ein Palimpsest (mindestens) dreier Filme über den Krieg, die im Kontext der ›Nová Vlna‹ entstanden sind: DÉMANTY NOCI / DIAMONDS OF THE NIGHT (ČSSR 54 Der Theaterschauspieler und Mime Bolek Polívka ist zweifelsohne als Star des tschechischen Kinos zu bezeichnen und steht wie kaum ein anderer Schauspieler für jenen Mythos des schwejkhaften Tschechen, der unbeirrbar und unbestechlich auf seinem Weg bleibt. Dabei verkörpert er Vertreter aus allen Schichten, Intellektuelle und Bauern, Betrüger und Geistliche. Er erhielt zweimal den Tschechischen Löwen (1997, ZAPOMENUTÉ SVĚTLO / FORGOTTEN LIGHT und 2000, MUSÍME SI POMÁHAT / DIVIDED WE FALL)

und wirkte in mehreren Filmen von Věra Chytilová mit, so z. Bsp. in der

schwarzen Kultkomödie zum Systemwechsel, DĚDICTVÍ ANEB KURVAHOŠIGUTNTAG / DAS ERBE ODER FUCKOFFJUNGSGUTNTAG (1992) und in der Verfilmung seines eigenen Theaterstückes ŠAŠEK A KRÁLOVNA / DER NARR UND DIE KÖNIGIN (1987). 55 Csongor Kassai ist ein slowakisch-ungarischer Theater- und Filmschauspieler.

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1964) von Jan Němec, OSTŘE SLEDOVANÉ VLAKY / CLOSELY WATCHED TRAINS von Jiří Menzel (ČSSR 1966) und der hier besprochene Film OBCHOD NA KORZE / THE SHOP ON MAINSTREET.56 Die Situierung des Krieges ›bei uns zu Hause‹ und der Fokus auf eine menschenverachtende Kriegslogik57, die alle zu Verlierern und Unschuldige gleichermaßen zu Opfern wie zu Tätern macht, stehen im Zentrum aller dieser Filme, wobei die Figuren jeweils unterschiedlich dimensioniert und ausdifferenziert sind. ›Nová Vlna‹ im Kalten Krieg In den Filmproduktionen der tschechoslowakischen ›Nová Vlna‹ sei im Gegensatz zu den Produktionen des polnischen Kinos der 1950er Jahre und zu den Produktionen des ungarischen Kinos der 1970er Jahre ein stärkerer und nachhaltigerer Bruch mit dem Sozialistischen Realismus zu verzeichnen, schreibt Peter Hames in seinem Standardwerk »The Czechoslovak New Wave«, das 1985 zum ersten Mal erschien und mittlerweile in zweiter Auflage vorliegt.58 Dass auch Ján Kadár und Elmar Klos’ Film einen deutlichen Bruch mit dem Sozialistischen Realismus symbolisiert, lässt sich schon allein an der sehr kritischen Darstellung der ›einfachen‹ Menschen aus dem Dorf Sabinov feststellen. Durch die erfolgreiche Teilnahme an internationalen Festivals während der 1960er Jahre konnten tschechoslovakische Filme international auf sich aufmerksam machen und mit dem Academy Award Best Foreign Language Film 1965 für OBCHOD NA KORZE / THE SHOP ON MAIN STREET (Ján Kadár, Elmar Klos, ČSSR 1965) und 1967 für OSTŘE SLEDOVANÉ VLAKY / CLOSELY WATCHED TRAINS (ČSSR, Jiří Menzel 1966) einen Durchbruch im westlichen Filmmarkt erreichen.59 Es folgten Auszeichnungen und Erfolge bei Kritik und Publikum, die dazu führten, dass Namen wie Miloš Forman und Jiří Menzel in einem Atemzug mit Namen wie Godard, Truffaut, Antonioni, Fellini, Buñuel und Bergman genannt wurden.60 Nach dem Prager Frühling jedoch kam es zu einem einzigartigen Kahlschlag in der tschechoslowakischen Filmlandschaft, der die Entwicklung der ›Nová Vlna‹ Bewegung schlagartig eindämmte. Erst 1969-1970, während der ›Normalisierung‹, kam es zu einer Neuorganisation der tschechoslovakischen Filmindustrie, was zunächst dazu führte, dass die Produktion zehn neuer Spielfilme (ein Drittel der Jahresproduktion) eingestellt 56 Vgl. Ewa Mazierska: Masculinities in Polish, Czech and Slovak Cinema. Black Peters and Men of Marble. New York/ Oxford: Berghahn Books 2010, S. 76. 57 Vgl. ebd., S. 76. 58 Vgl. Hames: The Czechoslovak New Wave, S. 1. 59 Vgl. ebd. 60 Vgl. ebd., S. ix.

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wurde, bzw. dass jene Filme, die sich bereits in der Postproduction befanden, keine Aufführungsfreigabe erhielten und verboten wurden.61 Später wurde die Liste der verbotenen Filme retrospektiv erweitert, sodass eine große Anzahl der wichtigsten Filme der 1960er Jahre darin enthalten waren.62 In manchen Fällen, wie Peter Hames am Beispiel von Jaromil Jireš´s auf dem Roman von Milan Kundera beruhenden Film ŽERT / THE JOKE zeigt, verschwanden die Filme selbst aus den offiziellen Filmographien der Filmregisseure und -regisseurinnen.63 Insgesamt beinhaltete die Liste der sogenannten Regal- oder Tresorfilme (in der DDR auch Kellerfilme oder Kaninchenfilme genannt) über 100 Titel.64 Auch das Fernsehen war von Restrukturierungen stark betroffen. 90 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des tschechoslowakischen Fernsehens wurden in kürzester Zeit gekündigt.65 Warum besaßen diese Filme, oftmals humanistische, einem eigenwilligen Realismus verpflichtete Komödien, ein solches Bedrohungspotential für das kommunistische Regime der Sowjetunion? Peter Hames nennt dafür zwei Gründe, wobei der eine im geopolitischen Kontext wurzelt und der zweite historisch ist: 1. Das aufrührerische Potential dieser Filme steckte weniger in ihren subversiven Inhalten und der Befürchtung, dass die Filme »fodder for Western anti-Communist propaganda«66 liefern könnten, als in einer umfassenderen Haltung und Reformbegeisterung der tschechoslowakischen Gesellschaft, die in den Bereichen der Wirtschaft, der Politik, der Literatur und Kunst um sich griff und sich in der neuen Freiheit der Filmemacherinnen und Filmemacher zeigte. Diese Reformbewegung war es, die zum Sturz des Novotný Regimes und im April 1968 zum Aktionsplan von Alexander Dubček führte, welcher vorsah, dass die kommunistische Partei in Zukunft weitgehend auf ihr Machtmonopol verzichten würde.67 Die Einführung einer »sozialistischen Demokratie« in einem osteuropäischen Land bedeutete jedoch eine direkte Bedrohung der Vormachtsstellung der Sowjetunion. 2. Die Tschechoslowakei war tatsächlich eines der wenigen Länder Osteuropas, das selbst auf eine demokratische humanistische Tradition und die Erfahrung 61 Vgl. ebd., S. 2. 62 Vgl. ebd. 63 Vgl. ebd. 64 Vgl. ebd. 65 Vgl. ebd., S. 3. 66 Ebd., S. 2. 67 Vgl. Stefan Karner: »Der ›Prager Frühling‹. Moskaus Entscheid zur Invasion.« Abrufbar auf Webseite der Bundeszentrale für politische Bildung, http://www.bpb.de/geschi chte/deutsche-geschichte/68er-bewegung/52007/prager-fruehling?p=all, [letzte Sichtung am 18.03.2020].

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einer ›westlichen‹ Demokratie in der Zwischenkriegszeit (unter Präsident Tomáš Garrigue Masaryk, 1918-1935) zurückblickte. Aus der Sicht der Sowjetunion speisten sich die Ideen der Reformer und Filmemacherinnen daher aus einer kapitalisch-bürgerlichen Tradition, die es zu unterbinden galt.68 Interessant scheint mir an dieser Stelle, dass Peter Hames in einer Fußnote auf die Zugehörigkeit der Tschechoslowakei zu einem »Zentraleuropa« (aufgrund der vielschichtigen Konnotationen, die Hames ohne Zweifel evozieren will, hier besser mit »Mitteleuropa« übersetzt) hinweist, indem er schreibt: »Geographically and culturally, Czechoslovakia is in Central Europa. The term ›Eastern Europe‹ here implies the country´s political position as a member of the Eastern bloc.« 69 Mit diesem keineswegs harmlosen Hinweis spielt Hames selbst einer Logik des Kalten Krieges in die Hände, die die Unvereinbarkeit und die Betonung der Unterschiede zwischen den einzelnen Satellitenstaaten begrüßte, wie ich es zu zeigen versucht habe. Dass die Filme wie weiter oben erwähnt nicht notwendig als anti-kommunistische Propaganda lesbar waren, dürfte erklären, warum die Rezeption vieler ›Nová Vlna‹ Filme im Kontext westeuropäischer Linker und Marxisten oftmals erstaunlich kritisch verlief. Der französische Filmkritiker Luc Moullet verurteilte beispielsweise in den Cahiers du cinéma Jan Němec´ DÉMANTY NOCI / DIAMONDS OF THE NIGHT (1964) wegen seiner angeblich reaktionären Ästhetik.70 Jean-Luc Godard interviewte Věra Chytilová in seinem dokumentarischen Film PRAVDA / WAHRHEIT (BRD/F 1970), um sie für ihre zweifelhafte Haltung zu kritisieren und ihr zu unterstellen, dass sie »wie Arthur Penn und Antonioni« spreche.71 Antonín Liehm sieht darin ein fundamentales Missverständnis zwischen Westen und Osten begründet, das sich darin äußerte, dass »viele westliche Marxisten nicht-marxistische Kriterien zur Beurteilung von Kunst und Verhalten«72 nutzten und ihren eigenen Kontext zum Ausgangspunkt ihrer Analysen wählten.

68 Vgl. Hames: The Czechoslovak New Wave, S. 2. 69 Vgl. ebd., S. 275 (Fußnote 5). 70 Vgl. ebd., S. 4. 71 Vgl. ebd. 72 Ebd., S. 5. (Im Original auf Englisch, Übersetzung N.K.)

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What is remembered, how is it remembered, and who remembers? 73 Bei der Analyse historischer (und hier: filmischer) Erinnerungsdiskurse über den Holocaust empfiehlt es sich, so Małgorzata Pakier, die drei in der Überschrift genannten Fragen an den Untersuchungsgegenstand zu stellen, und Maurice Halbwachs’ Erkenntnis zu reflektieren, dass vor allem die Gegenwart bestimmt, welche Vergangenheit wir auf welche Weise erinnern.74 Pakier vergleicht in ihrer Analyse deutsche und polnische Filme aus den 1990er Jahren miteinander75, die die gewöhnlichen Deutschen bzw. Polinnen und Polen sehr kritisch zeigen. Das Ziel der Filme, das Thema in einem breiteren sozio-psychologischen Kontext zu bearbeiten, geht mit einem Fokus auf Charakterdarstellung und sprachliche Authentizität und einer eher puristischen Mise-en-scène einher, die Pakier wie folgt beschreibt: »There is an absence of elaborate shots or dynamic editing. Non-diegetic elements of style, such as music, are also almost entirely absent [...]. And reconstruction of the historical miseen-scnène – scenery and costumes – was evidently not the primary aim of the films´ creators. Scenes take place in a limited number of indoor and outdoor locations, the scenery is usually only symbolic, and extras are almost absent.«76

Die beiden im DF 8 Wir müssen zusammenhalten auf dem Korso in Dialog tretenden Filme legen es im Gegenteil auf eine relativ hohe Authentizität sowohl historischer als auch narrativer Details und eine ausgefeilte Mise-en-scène an. MUSÍME SI POMÁHAT / DIVIDED WE FALL orientiert sich geradezu an einer Superlativ-Ästhetik wie sie Miriam Bratu Hansen in ihrer Analyse von Steven Spielbergs SCHINDLER´S LIST / SCHINDLERS LISTE (US 1993) beschrieben hat77 und könnte

73 Vgl. Pakier: The Construction of European Holocaust Memory: German and Polish Cinema after 1989, S. 149 f. 74 Vgl. ebd., S. 149. 75 Es handelt sich um Didi Danquarts VIEHJUD LEVI (D/CH/Ö 1999), um Jan Łomnickis JESZCZE TYLKO TEN LAS / JUST BEYOND THIS FOREST (PL 1991) und um Jan Jakub Kolskis POGRZEB KARTOFLA / BURIAL OF A POTATO (PL 1990). 76 Pakier: The Construction of European Holocaust Memory: German and Polish Cinema after 1989, S. 108. 77 Vgl. Miriam Bratu Hansen: »SCHINDLER´S LIST is not Shoah: The Second Commandment, Popular Modernism and Public Memory.« in: Loshitzky, Yosefa (Hg.): Spiel-

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sehr gut als Hollywoodfilm durchgehen. OBCHOD NA KORZE / THE SHOP ON MAINSTREET bedient sich einer eher symbolischen Mise-en-scène: Die nationalsozialistischen Abzeichen sind beispielsweise nicht historisch authentisch, sondern zitieren Charlie Chaplins übereinander positionierte Kreuze aus THE GREAT DICTATOR (US 1940). Beide Filme fokussieren dennoch auf die hohe Emotionalität der Geschichten, ihr Ziel ist es, die Zuschauerin und den Zuschauer zu affizieren, aufzurütteln, zu berühren. Wie Hansen anhand Spielbergs Film aufgezeigt hat, gibt es nicht die eine politische korrekte Weise, die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges auf Leinwand zu bannen. Die von Pakier gestellte Frage »wer erinnert« ist im Kontext eines filmwissenschaftlichen Zugangs immer auch eine Frage nach dem Genre des jeweiligen Erinnerungsifilms. Eine aufwendig produzierter Hollywoodfilm (wie zum Beispiel Roman Polańskis THE PIANIST / DER PIANIST, US 2002) erinnert anders als ein im selben Jahr entstandener, unabghängiger Dokumentarfilm (wie zum Beispiel André Hellers HITLERS SEKRETÄRIN – IM TOTEN WINKEL, A 2002). Wolfgang Müller-Funk hat im Kontext literarischer Erzählungen des Holocaust darauf hingewiesen, dass Erinnerung auf einer »interpretierenden, narrativen Rekonstruktion«78 gründe, die als prinzipiell unabschließbarer Prozess gefasst werden müsse. Die Wahl des ästhetischen Ausdrucksmittels obliegt dabei dem Autor oder der Autorin – Ähnliches trifft m.E. auf die Filmemacherin und den Filmemacher zu, der/die die narrativen Koordinaten einer »Ethik der Ästhetik«79 jeweils neu zu bestimmen haben. Von Tóno Brtko zu Josef Čížek – von Chaplin (zurück) zu Schwejk Das DF 8 Wir müssen zusammenhalten auf dem Korso stellt dem eigenbrötlerischverträumten Schreiner aus einer slowakischen Kleinstadt, Tóno Brtko, einen ebenso unpolitischen, gutmütigen, seine Mittagspause zelebrierenden Josef Čížek aus einer tschechischen Großstadt gegenüber. Die Figur des Tóno kann nicht eindeutig als schuldig oder unschuldig bezeichnet werden. Tóno steht der Wesenhaftigkeit eines Tieres (Hund und Maulwurf) ebenso nahe, wie der tänzerischen

bergs Holocaust. Critical Perspectives on »Schindler´s List«, Bloomington: Indiana University Press 1997, S. 77-103. 78 Wolfgang Müller-Funk: »Erinnerung als narrative Konstruktion des Vergangenen. Theoretische Überlegungen zu einer großen europäischen Erzählung, der Shoah«, in: Hajnalka Nagy; Werner Wintersteiner (Hg.): Erinnern – Erzählen – Europa. Innsbruck: Studienverlag 2015, S. 37. 79 Ebd., S. 42.

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Ungeschicktheit Charlie Chaplins. In der Art und Weise, wie die Ereignisse über ihn hereinbrechen, ohne dass er sie aktiv zu beeinflussen suchte, liegt die Tragik der Figur. Josef Čížek80 hingegen ist weniger eine tragische als eine komische Figur. Auf jedes Ereignis (jeden Wendepunkt in der Narration) reagiert er mit einem konkreten Manöver, das wiederum weitere Peripetien hervorbringt. In der Logik einer schwejk´schen Figur und in seiner passiven Widerständigkeit kann er sich jedoch immer aus der Affäre ziehen und landet letztlich auf zwei Beinen. Abbildungen 39, 40: Tóno vs. Josef

Quelle: Screenshots THE SHOP ON MAIN STREET (ČSSR 1965), DIVIDED WE FALL (ČR 2000)

In der Art, wie sie totalitäre Systeme abbilden, kommentieren beide Filme natürlich auch den Kommunismus. Vor allem MUSÍME SI POMÁHAT / DIVIDED WE FALL ist als intertextuelle Reminiszenz an den subversiven Humor populärer tschechischer Kulturen lesbar, die sich gegen das kommunistische Regime richteten.81 »Du kannst dir nicht vorstellen, was abnormale Zeiten mit normalen Menschen machen«, sagt Josef Čížek zu Beginn des Films zu seiner Frau und zu David, um sich vorausblickend dafür zu rechtfertigen, dass er und seine Frau David nicht helfen möchten. »Doch, das kann ich mir vorstellen«, antwortet David, der gerade

80 Auch Hřebejk bedient sich einer tierischen Metapher. ›Čížek‹ bedeutet auf Tschechisch ›Zeisig‹ und bezeichnet eine zu den Sperlingen zählende Singvogelart. 81 Zum einen ist gerade die Referenz auf Schwejk eine, die als Kennzeichen von Populärkultur während des (und gegen den) Sozialismus gelten darf. Zum anderen sind Bolek Polívka (Josef) und Jaroslav Dušek (Horst) dem tschechischen Publikum als Kontrahenten aus dem Kultfilm desselben Regisseurs PUPENDO (ČR 2003, Jan Hřebejk) bekannt, wo sie einen regimekritischen Künstler und einen kommunistischen Hardliner verkörpern. Vgl. Mazierska: Masculinities in Polish, Czech and Slovak Cinema. Black Peters and Men of Marble, S. 78.

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dem Tod im Konzentrationslager Terezín entkommen ist und beim Versuch, bei Josef und Maries Nachbarn unterzukommen, beinahe den Nazis ausgeliefert wurde. MUSÍME SI POMÁHAT / DIVIDED WE FALL veranschaulicht hier den Vermittlungsauftrag des Filmes: Menschen sind so gut oder so schlecht, wie der gesellschaftspolitische Hintergrund es ihnen erlaubt. Gleichzeitig klingt in Davids Stimme und eigenartig gefärbter Sprache82 die arendt´sche Erkenntnis von der Banalität des Bösen an. In der beschriebenen Szene hören wir das von Aleš Březina komponierte Leitmotiv, das ähnlich dem Leitmotiv von Zdeněk Liška aus wenigen Noten und einer eingängigen Melodie besteht. Anders als bei Liška, wo die Geigen die Bilder fortissimo kommentieren und bedrohlich wirken, unterstützt die ätherische Musik von Březina pianissimo die melancholische Grunstimmung. Während OBCHOD NA KORZE / THE SHOP ON MAINSTREET einerseits einen eher versöhnlichen Blick auf den Protagonisten wirft, wird Tóno dennoch und unzweifelhaft zum Mörder Rozalias. Auch die Familie Tóno Brtkos, seine Frau Evelyna und sein Schwager Marcus, der Angehöriger der slowakischen Garde ist, sind ›einfache‹ Menschen, deren Begeisterung über das neue Regime weniger einer ideologischen Überzeugung geschuldet ist als der Hoffnung auf materiellen Wohlstand.83 Dennoch erscheinen sie in einer offenkundigen Skrupellosigkeit, die keineswegs auf Naivität gründet. Die bittere Pointe des Films von Elmar Klos und Ján Kadár ist, dass selbst der kleine Mann Tóno sich schuldig machen wird, sich schuldig machen muss, in einem System, das unmenschlich ist. Durch diese Moral unterscheidet sich der Film einerseits von solchen Narrativen des kleinen Mannes, die zu einem positiven Ende im Sinne eines Happy Ends führen.84 Er unterscheidet sich dadurch aber auch ganz klar von MUSÍME SI POMÁHAT / DIVIDED WE FALL, der fünfundreißig Jahre später ebenfalls für den Oscar nominiert wurde. Auch die Protagonisten von MUSÍME SI POMÁHAT / DIVIDED WE FALL machen sich mitunter schuldig, wo sie es nicht beabsichtigen: beispielsweise der sich für den politischen 82 Csongor Kassai spricht in MUSÍME SI POMÁHAT / DIVIDED WE FALL (im Gegensatz zu Josef und Marie) ein sehr stark an der Schriftsprache orientiertes Tschechisch mit leichtem Akzent, was erstens darauf verweist, dass David einer sozial höher stehenden Schicht angehört (Josef war der Chauffeur von Davids Vater) und zweitens, dass er kein gebürtiger Tscheche ist. Für die Čížeks ist David damit trotz aller Sympathie von Anfang an ein Außenseiter und ein Fremdkörper in ihrem Leben. 83 Vgl. Hames: The Czechoslovak New Wave, S. 38. 84 Ein Vergleich mit den sehr erfolgreichen österreichischen Bockerer-Produktionen von Franz Antel (vor allem mit dem im Zweiten Weltkrieg stattfindenden ersten Teil, DER BOCKERER, A 1981) würde sich hier lohnen. Tatsächlich bestehen zahlreiche Ähnlichkeiten (und interessante Unterschiede) zwischen der Figur des Bockerers und Josef ČÍžek.

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Untergrund engagierende Nachbar der Čížeks, František Šimáček (Jiří Pecha), der David, den er nachts auf der Straße trifft, in einem Anflug von Panik an die Deutschen verraten will. Aber die Figur Josefs zeigt, dass es möglich ist, trotz der schwierigsten Umstände ›anständig‹ zu bleiben. Am Ende von MUSÍME SI POMÁHAT / DIVIDED WE FALL hat Josef nicht nur David das Leben gerettet, sondern auch dem Nazi Horst. Und auch David vergibt dem Nachbarn Šimáček, der ihn fast an die Deutschen verraten hätte. Die toten Eltern und Geschwister Davids sowie der tote Sohn des nationalsozialistischen Oberst Kepke sitzen im Epilog des Films ebenfalls vereint (und versöhnt) an einem Tisch. Anständigkeit erscheint als eine Eigenschaft, die unabhängig von der politischen Überzeugung des Einzelnen und der Einzelnen ist. Der Hausfreund Horst ist zwar ein Mitläufer und Opportunist, der vom Regime profitiert. Im Finale des Films wird er aber der Einzige sein, der das Kind von Marie auf die Welt bringen kann. Der Oberst Kepke ist aus voller Überzeugung Nazi und schickt seine Kinder aus Idealismus und Fanatismus in den Krieg, letztlich trauert er aber so sehr um seine Söhne, dass er fast daran zerbricht. Der Nachbar Šimáček (und seine Frau) verachten die Nationalsozialisten und treten dem politischen Untergrund bei. Dennoch wird gerade Šimáček David fast verraten.85 Romanzen auf dem Korso Tóno und Josef, die Helden von DF 8 Wir müssen zusammenhalten auf dem Korso, sind beide mehr oder weniger glücklich verheiratet. Josef und Marie werden in MUSÍME SI POMÁHAT / DIVIDED WE FALL als harmonisch miteinander lebendes Paar gezeigt, das die Krisen des Lebens (die vermeintliche Unfruchtbarkeit Maries, die tatsächliche Unfruchtbarkeit Josefs, das gemeinsam gewahrte Geheimnis über David) zusammen meistert. Die Beziehung von Tóno und Evelyna in OBCHOD NA KORZE / THE SHOP ON MAINSTREET hingegen ist stärker geprägt von Konflikten und geschlechterspezifischen Verhaltensmustern. Evelyna hält Tóno für faul und nimmt ihm gegenüber oft die Position einer strengen Mutter ein, die ihren Sohn 85 Im Lexikon des Internationalen Filmes heißt es über MUSÍME SI POMÁHAT / DIVIDED WE FALL:

»Die Tschechoslowakei während der deutschen Okkupation: Der ›kleine

Mann‹ entwickelt unterschiedlichste Überlebensstrategien, um als Kollaborateur, Profiteur und Judenhasser zu überleben, und hängt nach der Befreiung durch die Rote Armee sein Mäntelchen in den nächsten Wind. Ein Film über das Grauen der Zeit, der sich als Posse gefällt und durch die allzu verzeihenden Gesten des Regisseurs der Verharmlosung zuarbeitet. Auch die überspitzte (Ver-)Zeichnung der Personen mindest die Überzeugungskraft des Films.« Abrufbar auf http://www.zweitausendeins.de/filmlexikon/?sucheNach=titel&wert=516267, [letzte Sichtung am 18.03.2020].

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regelrecht dazu antreiben muss, in der Früh aus dem Bett zu kommen. Tóno wiederum lässt sich die (ihm lästige) Behandlung zwar gefallen, äußert aber seinen Unmut durch Wortkargheit und schlechte Laune. Immerhin versucht er den Ansprüchen seiner Frau zu genügen, verschweigt Evelyna aber, dass der Laden von Pani Lautmannová kurz vor dem Ruin steht und dass er als ihr Assistent sein Gehalt von der jüdischen Gemeinde erhält. Als sich abzeichnet, dass die Juden bald aus der Stadt deportiert werden sollen, steigt der Druck auf Tóno und die Angst um Pani Lautmannová und um sich selbst lähmen ihn. In einem Streit mit seiner Frau wird er handgreiflich und verprügelt sie. Diese Szene, die in starkem Kontrast zu der sonst so sanften Charakterzeichnung der Figur steht, kündet von der Ambivalenz Tónos. Der harmlose und gutherzige Clown wird am Ende zu Rozalias Henker. Die Begegnung zwischen Tóno und Rozalia ist zunächst aber geprägt von Heiterkeit und Charme. Obwohl die Kommunikation mit der alten Frau durch ihre Schwerhörigkeit beinahe unmöglich ist, verstehen sich Tóno und Rozalia auf Anhieb. Durch die gemeinsame Arbeit im Laden (Rozalia kümmert sich um die Kundinnen und Tóno übernimmt Reparaturarbeiten im privaten Hinterraum des Ladens), die zusammen verbrachte Zeit (Rozalia kocht für Tóno und singt im Lieder vor, die sie für ihren verstorbenen Mann Henryk gesungen hat) entsteht eine Vertrautheit zwischen den beiden, die sie fast als ein Liebespaar erscheinen lässt. Abbildung 41: Erste Begegnung von Tóno und Rozalia

Quelle: Screenshot THE SHOP ON MAIN STREET (ČSSR 1965)

Als Rozalia Tóno schließlich den Sonntagsanzug ihres verstorbenen Mannes zum Geschenk macht, der diesem ›wie angegossen passt‹, scheint das Bild perfekt.

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Kurz vor dem dramatischen Ende des Films, als Tóno betrunken und ängstlich auf den anbrechenden Morgen wartet, an dem die Juden und Jüdinnen der kleinen Stadt auf dem Korso versammelt werden sollen, hat Tóno einen Traum: Wir sehen ihn und Rozalia den Lade verlassen, er trägt seinen Anzug und Rozalia ist ebenfalls elegant gekleidet.86 Vertieft in ein wortloses Gespräch (ihre Stimmen hören wir als Voice Over) schweben sie über den gleißend hellen Korso. Rozalia schlägt vor, am Abend eine Suppe im Restaurant zu essen, jetzt, wo alles vorbei sei. Tóno vertraut Rozalia an, dass er große Angst gehabt habe und Rozalia versichert ihm: »Hab keine Angst, mein Sohn, am Beginn von allem Bösen ist die Angst. Wenn wir nur einmal aufhören, uns voreinander zu fürchten...« In diesem Dialog erscheinen uns Tóno und Rozalia in einer idealen Realität, in der die Schwerhörigkeit kein Obstakel für eine Kommunikation ist, die keiner gesprochenen Worte bedarf und die telepathisch erfolgt. In der Betonung der Gestik und Mimik der beiden Charaktere nimmt die Szene den Geistertanz am Ende des Filmes bereits vorweg. Abbildung 42: Maria und David

Quelle: Screenshot DIVIDED WE FALL (ČR 2000)

In MUSÍME SI POMÁHAT / DIVIDED WE FALL wird das romantische Element in die Dramaturgie der Narration verwoben. Als Josefs Vorgesetzter, Oberst Kepke, bei Čížeks unterkommen will, da er als Vater eines Deserteurs geächtet wird und seine Unterkunft verliert, fürchten Josef und Marie, dass ihr Geheimnis gelüftet und David entdeckt werden könnte. Marie erfindet daher spontan, dass sie ein Kind 86 In eben jener Aufmachung, in der sie auch in der geisterhaften Szene am Ende des Filmes über den Korso laufen werden.

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erwartet und dass Kepke daher nicht bei ihnen einziehen kann. Mittlerweile wissen Marie und Josef, dass sie aufgrund Josefs Unfruchtbarkeit keine Kinder haben können. Es bleibt also nur eine Lösung: David muss Marie schwängern, um sie alle vor dem Auffliegen zu retten. Dass dabei mehr als Pragmatismus im Spiel ist, deutet der Film dabei höchstens an. In seinem Versteck kommen sich David und Marie näher, als Letztere entscheidet, mit David Französisch zu lernen. Letztendlich überwiegt aber der Eindruck einer jungferlich-keuschen Marie in der Darstellung der Figur: Die Pietà mit Marie und David zitiert das Abbild von Maria und dem Jesuskind, das wir zu Beginn des Films sehen, als sich Josef über die Frömmigkeit seiner Frau lustig macht. Die Pietà-Einstellung ist auch insofern interessant, als sie eine der wenigen Einstellungen (insgesamt zwei) in MUSÍME SI POMÁHAT / DIVIDED WE FALL darstellt, in denen die Protagonistinnen oder die Protagonisten in die Kamera blicken. In der Logik des Filmes adressiert der Blick ins Publikum eine richtende Instanz, die man abstrakt als eine Instanz des Gewissens oder als aber konkreter als den kritischen Blick der nachfolgenden Generationen deuten kann. Marie scheint diesem kritischen Blick in der Abbildung standhalten und ihm entgegnen zu wollen: »Was hätte ich sonst tun können? Habe ich nicht nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt?« Intertextuell gesehen zitiert MUSÍME SI POMÁHAT / DIVIDED WE FALL auch hier den Film von Kadár und Klos. Der Blick in die Kamera ist auch hier ein wichtiges Motiv, wie ich im Folgenden noch zeigen werde. Geister MUSÍME SI POMÁHAT / DIVIDED WE FALL wird von Geistern heimgesucht. Sind es innerdiegetisch die Geister der Toten, die im Epilog des Films noch einmal zu sehen sind, so sind es extradiegetisch die Referenzen aus dem tschechischen Kino, die in die filmische Narration und in die Mise-en-scène eingewoben sind. So gibt es eine Szene am Ende von OBCHOD NA KORZE / THE SHOP ON MAINSTREET, in der der Blick in die Kamera auf bemerkenswerte Weise eingesetzt wird. Tóno hat gerade entdeckt, dass Rozalia tödlich gestürzt ist, als er sie in die Abstellkammer stieß. Ein makabrer Chor von Männerstimmen erklingt zunächst leise, dann immer lauter. Überwältigt und verzweifelt schließt Tóno die Tür. Die Kamera fokussiert die Klinke (die Einstellung wirkt zunächst wie ein subjective shot), um dann nach links und durch den Raum des Ladens zu schwenken. Der Hund Essenc läuft hinter der Ladentheke hervor. Die Kamera ›sucht‹ weiter und findet Tóno87, der wie ertappt in die Kamera schaut und schnell aus dem Bild läuft. Die Kamera schwenkt 87 Spätestens hier ist klar, dass es sich nicht um einen subjective shot handelt. Die Kameraperspektive ist nicht diejenige des Protagonisten.

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nach links und durchsucht den hinteren, privaten Raum der Wohnung. Sie fokussiert Details der Einrichtung: die Pendeluhr, das Fenster, den Spiegel und wieder Tóno, der noch einmal in die Kamera schaut und aus dem Bild läuft. Ein letztes Mal verfolgt die Kamera Tóno, ins Bild kommen eine Tasse aus Zwiebelporzellan, zwei Eier und ein Stück Strietzel, die Kerzen auf dem Tisch. Und wieder Tóno, der auf der Couch sitzt und sich nicht rührt. Abbildung 43: Blick in die Kamera I

Quelle: Screenshot THE SHOP ON MAIN STREET (ČSSR 1965)

Die Kamera schwenkt kurz nach links oben und zeigt zwei Schwarzweißfotografien von Pani Lautmannová und ihrem Mann als Soldaten des Ersten Weltkriegs, um zurück zu Tóno zu schwenken, der, als wäre er dem Blick der Kamera gefolgt, nach oben sieht und scheinbar die beiden Bilder betrachtet. Er blickt zurück in die Kamera und nickt. Ein letztes Mal schwenkt die Kamera nach links, gleichzeitig steht Tóno auf und bewegt sich nach vorne. Wir erkennen, dass Tóno nicht die Bilder betrachtet hat, sondern einen Haken über der Türe, an dem er sich in der Folge erhängen wird. Ähnlich wie in MUSÍME SI POMÁHAT / DIVIDED WE FALL scheint die Kamera hier das Gewissen zu verkörpern. Einen entkörperlichten, omnipräsenten und richtenden Blick, dem sich Tóno nicht entziehen kann. Der Blick ist es, dem Tóno durch ein Nicken antwortet, das besagt: »Ja, ich bin schuldig. Ja, ich nehme die Strafe an.« Während der Blick auf die Protagonisten in MUSÍME SI POMÁHAT / DIVIDED WE FALL als solidarisch beschrieben werden kann, ist der Blick der Kamera in OBCHOD NA KORZE / THE SHOP ON MAINSTREET autoritär und erbarmungslos. Gleichzeitig insistiert die hier beschriebene Sequenz stärker auf dem selbstreferentiellen Aspekt der Szene, der dem Zuschauer die Fähigkeit des Kinos in Erinnerung ruft, nicht nur Bilder zu erschaffen, sondern auch Bildern zu

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folgen. Die Realität abzusuchen nach den Bildern, die lieber im Verborgenen bleiben möchten. Film wird hier als ein Mittel der Vergangenheitsbewältigung und als ein Instrument zur Auseinandersetzung mit dem Verdrängten reflektiert. Wie weiter oben erwähnt, gibt es in MUSÍME SI POMÁHAT / DIVIDED WE FALL eine weitere Sequenz, in der der Blick in die Kamera von OBCHOD NA KORZE / THE SHOP ON MAINSTREET zitiert wird. Abbildung 44: Blick in die Kamera II

Quelle: Screenshot DIVIDED WE FALL (ČR 2000)

Dieser Sequenz geht eine Szene voraus, auf die später mit dem Blick in die Kamera Bezug genommen wird. Es handelt sich um die ebenfalls schon mehrfach beschriebene Sequenz, in der der Nachbar Šimáček abends seinen Hund ausführt und auf David Wiener trifft, der sich auf der Flucht befindet und die Stadt auf der Suche nach Menschen durchstreift, die ihm helfen könnten. Šimáček schreckt zurück und bedeutet David das Weite zu suchen, da ihm hier niemand helfen könne. »Wir haben Kinder«, sagt Šimáček und drückt den kleinen Hund an die Brust. Als die Abendpatrouille in einem Motorrad mit Beiwagen um die Ecke biegt, wird Šimáček panisch. Er läuft in Richtung des Motorrades und ruft auf Deutsch: »Jude ist hier!« Der Fahrer des Motorrades hört und sieht ihn jedoch nicht und Šimáček bleibt alleine zurück auf der Straße. Die dramatische Musik Břežinas erklingt und die Kamera fährt zurück. Šimáček dreht sich auf der Straße im Kreis, in alle Richtungen überprüfend, ob ihn jemand bei dieser Aktion beobachtet hat und in der Totale kommt eine an einem Haus angebrachte Fahne mit Hakenkreuz in den Blick. Der Titel des Films erscheint: Wir müssen einander helfen. Als Josef im Epilog von MUSÍME SI POMÁHAT / DIVIDED WE FALL mit dem Kinderwagen und seinem Sohn durch das vom Krieg zerstörte Prag läuft, wo die

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Aufräumungsarbeiten in vollem Gange sind, hören wir die Arie »Erbarme dich, mein Gott« aus der Matthäus Passion. Der Nachbarhund Alík, der in der Szene davor von den Nazis erschossen wurde und der über eine auffallende Ähnlichkeit mit Tóno Brtkos Hund Essenc verfügt, läuft Josef kläffend vor die Füße und entfernt sich wieder. Josef sieht dem Hund nach und erkennt am Horizont, inmitten der Trümmer an einem Tisch versammelt und Karten spielend, die verstorbenen Eltern und die Schwester David Wieners sowie den als Soldat im Krieg gefallenen Sohn von Oberst Kepke, die ihm freundlich zuwinken. Die Bilder und die Musik bedeuten uns Versöhnung. Den Opfern des Krieges wird ein neues Leben gegenüber gestellt, das unschuldige Kind des Juden und der Tschechin, dem der Faschist zum Leben verholfen hat und das messianistisch eine neue Ära verheißt. Abbildung 45: Die Toten versöhnt…

Quelle: Screenshot DIVIDED WE FALL (ČR 2000)

Die Geister, die sich mit Josef verbünden, verweisen zitathaft auf die Geister in OBCHOD NA KORZE / THE SHOP ON MAIN STREET. Nachdem Tóno erkennen muss, dass er die Witwe Rozalia Lautmannová getötet hat, scheint ihm als einziger Ausweg der Tod. Mit dem Geräusch und dem Bild des umgefallenen Stuhls endet die Story. Die letzten Bilder des Films weisen über dieses Ende hinaus. Die Kamera schwenkt auf die Eingangstür des Ladens, die sich wie von selbst öffnet. Wir sehen das gleißende Sonnenlicht und hören jene Orchestermusik, mit der der Film begonnen hat. Tóno und Rozalia erscheinen in ihren Sonntagskleidern vor dem Laden, Tóno ergreift Rozalias Hand und in Zeitlupe (und überbelichtet) laufen sie über den menschenleeren Korzo.Vor den Musikern des Orchesters, die sich auf dem Sockel des faschistischen Bauwerks positioniert haben, das nun verschwunden ist, deuten Tóno und Rozalia einen kleinen Tanz an, ehe sie sich – Tóno zieht

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noch einmal seinen Hut und die Kamera schwenkt langsam zurück nach links – nach rechts aus dem Bild entfernen. Abbildung 46: … mit den Geistern

Quelle: Screenshot THE SHOP ON MAIN STREET (ČSSR 1965)

Das DF 8 Wir müssen einander helfen auf dem Korso thematisiert ein kollektives ›wir‹, das auf dem Narrativ des ›kleinen Mannes‹ fusst und das als Ausdruck filmästhetischer Kontinuität vom Zweiten Weltkrieg über den Sozialismus bis in die Gegenwart als Stabilisator nationaler Identität kenntlich wird. An diesem jegliche Unterschiede gleichbügelnden, homogenen ›wir‹ partizipiert nicht nur der ›kleine Mann‹, sondern auch das Umfeld des kleinen Mannes, die ›ordinary people‹. DF 8 bietet aber auch eine kritische Lektüre des Narrativs und destabilisiert es, indem es das Potential auf den Plan ruft, das ›auf dem Korso‹ schlummert und indem es den ›Maulwurf‹ ans Tageslicht befördert, der im harmlosen ›Zeisig‹ schlummert: die Mitschuld tschechischer Bürgerinnen und Bürger an den Verbrechen des Nationalsozialismus.

6.3 DOUBLE FEATURE 9 – RECONCTRUCTION OF MR. LĂZĂRESCU Das Auto fährt hupend ein. Vuica und Ripu steigen zuletzt aus. Der Prokurator, der Polizist, der Professor, der Filmregisseur und der Kameramann stehen wild gestikulierend vor der Motorhaube. Keiner weiß, wie man das Hupen abstellen kann. Vuica sieht eine Weile zu und sagt leise: »Es ist die Dichtung.« Der Prokurator fährt ihn an : »Was ist mit dir, Bursche? Und seit wann bist du ein Automechaniker? Da bist

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du wohl auch Spezialist, nicht nur im Köpfe einschlagen? Los, hau ab.« RECONSTITUIREA

/ RECONSTRUCTION (1968)

Arzt: »Sag mal, Opa, hat dich ein Internist untersucht?« Lazarescu: »Herr Doktor, ich hatte vor 14 Jahren ein Geschwür.« Arzt: »Und warum trinkst du, wenn du ein Geschwür hattest?« Zum Assistenten, während er eine Narbe Lazarescus untersucht: »Schau dir den Reißverschluss an. Aber der Alte trinkt weiter, als ob nichts gewesen wäre. (…) Hast du schon einmal einen Koloskopie gemacht?« Lazarescu: »Mit meinem Magen stimmt etwas nicht. Ich glaube, ich habe wieder ein Geschwür.« Arzt: »Nein, Opa, mit deinem Kopf stimmt etwas nicht.« Sanitäterin: »Ich glaube, es ist der Darm, Herr Doktor.« Arzt zu Lazarescu: »Eines Tages wird deine Leber platzen, wenn du so weiter trinkst.« Zur Sanitäterin: »Und seit wann machst du Diagnosen? Hast du eine Spezialmethode, die ich nicht kenne? Ist das Bio-Energie oder der Heilige Geist? (…) Warum hast du uns den hierher gebracht ? Der Gang ist voll von solchen Typen. (…) Sie ertränken ihr Gehirn im Alkhohol und schlagen ihre Frauen und Kinder.« MORTEA DOMNULUI LĂZĂRESCU / THE DEATH OF MR. LAZARESCU (2005)

Traumatische Rekonstruktionen Im DF 9 Reconstruction of Mr. Lăzărescu werden Diskontinuitäten und Kontinuitäten des rumänischen Kinos reflektiert sowie die gesellschaftlichen Auswirkungen des Systemwechsels von Staatssozialismus zu Neoliberalismus auf die filmischen Erzählungen sowie die Produktionskonstexte der beiden in Dialog tretenden Filme evaluiert. Auf den ersten Blick scheinen die beiden Filme nicht miteinander zu korrespondieren. Während RECONSTITUIREA / RECONSTRUCTION (RO 1968) als Parabel über den unverantwortlichen Umgang mit der Macht einzelner kollektive Autoritäten repräsentierende Individuen gelesen werden kann, denen zwei junge und naive Männer zum Opfer fallen, begibt sich MORTEA DOMNULUI LĂZĂRESCU / THE DEATH OF MR. LAZARESCU (RO 2005) im Stil eines Dokumentarfilms auf die letzte Reise des Alten, Dante Remus Lăzărescu, dem im Kontext eines völlig unzureichenden und überforderten Gesundheitssystems gepaart mit der Gleichgültig seiner Mitmenschen im Sinne des Kruges, der zu Wasser geht bis er bricht, so lange nicht geholfen wird, bis er stirbt. Die Parallele zwischen den beiden Filmen scheint mir darin zu liegen, dass die Protagonisten/ der Protagonist in einem Fall an der Arroganz, dem Zynismus und letztlich der Gleichgültigkeit der für sie verantwortlichen Autoritäten scheitern, was zum Tod eines der Protagonisten führen wird. Im anderen Fall sind es die Gleichgültigkeit, die Überforderung und

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Überlastung der handelnden Personen (der Ärzte und der Nachbarn), die den Tod des Protagonisten vielleicht nicht verursachen, aber jedenfalls auch nicht hinauszuzögern im Stande sind. Die Schuldfrage lässt sich in beiden Filmen nicht eindeutig beantworten. Beide Filme sind eindeutig als Kritik an einem unmenschlichen, menschenverachtenden System (bei Pintillie ein nicht näher identifiziertes Rechtssystem, das jedoch eindeutig als jenes eines totalitären Staates markiert ist, bei Cristi Puiu weniger latent das Gesundheitssystem des heutigen Rumäniens88) lesbar. Puiu deutet in einem Interview allerdings auch an, dass es ihm in dem durch die NBC-Serie EMERGENCY ROOM (ex negativo) inspirierten Film weniger um den sozialen Aspekt der Repräsentation einer Institution gehe als um den metaphyischen Aspekt, insbesondere »the extinction of a human being«.89 Auf dieses Schwanken zwischen naturalistischer Darstellung und allegorischem Kommentar zur rumänischen Gegenwart hat auch Jim Hoberman hingewiesen: » [...] the movie´s staged hyper-reality offers a stunning dialectic between drama and artifice [...]. [It] oscillates between naturalism and allegory.« 90 Diese Dialektik zwischen Naturalismus und Allegorie scheint mir umso verblüffender, als sie eine im Grunde unmögliche Kombination auf den Plan ruft. Insofern als die Ästhetik des Dokumentarischen der Unmittelbarkeit eines chaotischen und nicht vorhersehbaren Geschehens verpflichtet ist, scheint sie mit der kontrollierten Struktur eines 88 Doru Pop schreibt, dass die Symptomatik der autoritären Hülsen ein Kennzeichen der (wie er sie nennt) »Neuen Neuen Welle« im Rumänischen Film sei. So seien auch die Ärzte in MORTEA DOMNULUI LĂZĂRESCU / THE DEATH OF MR. LAZARESCU weniger Ausdruck einer lokalen oder nationalen Gegebenheit denn Zeichen einer universellen Kritik an Gesundheitssystemen überall in der Welt. Vgl. Doru Pop: »The Grammar of the New Romanian Cinema«, Acta Univ. Sapientiae, Film and Media Studies. The Journal of Sapientia, Hungarian University of Transylvania, De Gruyter, Nr. 3, (2010), S. 29. 89 Hoberman: Film after Film: Or, What Became of 21st-Century Cinema?, S. 232, Fußnote 1. (Hoberman zitiert hier ohne Seitenangabe aus einem Gespräch, das Christoph Huber mit Cristi Puiu führte und das im Frühling 2006 in der kanadischen Zeitschrift Cinema Scope erschienen ist. Hoberman schreibt: »Subsequently asked by interviewer Christoph Huber to clarify his feelings about ER, Puiu replied: ›Actually, inspired is the wrong word. I´m revolted by it! The way they treat the patients is completely unbelievable... What disgusts me about ER is how the doctors are portrayed, their level of involvement [with their patients]. [...] When you watch the American TV series, there’s movement in every direction, the choreography of the characters is amazing... In my country, doctors and everyone else live in slow motion, as if they were on Valium and still had 500 years to live.‹« 90 Ebd., S. 232.

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griechischen Dramas wenig gemein zu haben. In MORTEA DOMNULUI LĂZĂRESCU / THE DEATH OF MR. LAZARESCU trifft aber genau das zu: das Drama trifft auf den Dokumentarfilm und aus dieser Mischung entsteht ein neues Genre, in dem Fiktionalität nach ihren realen Resten befragt und umgekehrt Realität als Fiktion ins Bild kommt. Nicht zufälligerweise erinnern Jim Hoberman die Materialität des Körpers des Alten Lăzărescu und die haptischen Oberflächen des Films an ein Meisterwerk des avant-gardistischen Dokumentarfilmkinos, an Stan Brakhage´s ›Horrorfilm‹ THE ACT OF SEEING WITH ONE’S OWN EYES (US 1971).91 In seinem Film filmt Brakhage in einer Leichenhalle in Pittsburgh sezierte Körper und geöffnete Schädel. Autopsie kommt als kinematographisches Verfahren par excellence in den Blick, das ›die Untersuchung eines Gegenstandes mit den eigenen Augen‹ (so die Übersetzung des griechischen Begriffes) erst ermöglicht. Auch wenn die Körper in MORTEA DOMNULUI LĂZĂRESCU / THE DEATH OF MR. LAZARESCU noch interagieren, so scheint mit der Vergleich doch dahingehend überzeugend, als der Blick Brakhages auf die in der Leichenhalle anwesenden Körper (auch die lebenen Körper der Gerichtsmediziner) ebenso unvoreingenommen scheint, wie der Blick Puius auf das Drama Lazarescus. Der erste Film des DF 9 Reconstruction of Mr. Lazarescu ist mit RECONSTITUIREA / RECONSTRUCTION (RUM 1969, Lucian Pintilie) ein Meilenstein des rumänischen Kinos, dessen Bedeutung für die Generation heutiger Filmemacherinnen und Filmemacher meines Erachtens noch nicht abschließend ausgewertet ist. In seinem zweiten Spielfilm spielt Lucian Pintilie die Rekonstruktion einer straffälligen Handlung durch, die zu erzieherischen Zwecken rekonstruiert und aufgezeichnet werden sollte. Ähnlich wie auch Cristi Puius Film osziliiert RECONSTITUIREA / RECONSTRUCTION zwischen zwei Genres. Während der Film im Cinéma Vérité Stil beginnt, endet er in einer Tragödie. RECONSTITUIREA / RECONSTRUCTION basiert auf der Kurzgeschichte der Journalistin und Autorin Horia Pătraşcu, die auch das Drehbuch für den Film verfasste.92 In ihrer Kurzgeschichte zeichnete Pătraşcu reale Geschehnisse auf, deren Zeugin sie selbst wurde: Ende der 1950er Jahre überfiel eine Gruppe junger Männer in Transsilvanien die rumänische Nationalbank und wurde verhaftet. Vor der Exekution der Strafe wurde den Tätern Straferleichterung versprochen, insofern sie sich einverstanden erklärten, ihre Tat mit einem Kamerateam zu rekonstruieren und vor laufender Kamera zu wiederholen. Der so entstandene Film sollte als didaktische Maßnahme in Schulen gezeigt werden. Die tatsächliche Rekontstruktion fand 1963 statt. Horia Pătraşcu war 91 Ebd., S. 233. 92 Vgl. Dominique Nasta: Contemporary Romanian Cinema: The History of an Unexpected Miracle. New York: Columbia University Press 2013, S. 89.

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bei den Dreharbeiten anwesend ebenso wie Sergiu Huzum, der später Pinitilies wichtigster Kameramann wurde und auch für die Photographie von RECONSTITUIREA / RECONSTRUCTION verantwortlich war.93 Während am profilmischen Horizont Pintilies Film also ein anderer Film auftaucht, nämlich jener, der 1963 gedreht wurde, wurde die Arbeit Pintilies und Pătraşcus in einem weiteren Film festgehalten, der erstmals beim Underground Festival in Arad im Mai 2009 gezeigt wurde: Es handelt sich um die Doku-Fiktion LA NOSTALGIE DE LA RECONSTITUTION (sic!)/ THE NOSTALGIA OF RECONSTRUCTION (RO 2009) von Armand Richelet-Kleinberg und Radu Dinulescu.94 Über diesen Film schreibt Dominique Nasta: »What the docu-fiction reveals is to what extent Pătraşcu and later on Pintilie wanted to be as close to reality as possible, both when depicting the facts by means of which he accuses the Communist procedures and when illustrating the modernist reflexive nature of the filming process.«95

Die rumänische ›Noul val‹ (Neue Welle) als ›Post-New Wave‹ Anders als das tschechoslowakische oder das polnische Kino der 1960er bis 1980er Jahre ist die Entwicklung eines rumänischen Autorenkinos während des Sozialismus an einzelnen fimischen ›Ereignissen‹ ablesbar, die wie Doru Pop zeigt »selten und inkohärent«96 auftraten. Zu diesen herausragenden Werken des rumänischen Films zählen die Arbeiten von u.a. Lucian Pintilie, Liviu Ciulei, Mircea Daneliuc und Mircea Mureşan.97 Nichtsdestotrotz erreichte die rumänische Filmindustrie dieser Zeit insgesamt eine hohe Produktivität. Das rumänische Kino der 1960er, 1970er und 1980er Jahre ist bevölkert von Historienfilmen und Literaturverfilmungen, die sich in den Dienst eines neuen sozialistischen Realismus 93 Vgl. Nasta: Contemporary Romanian Cinema: The History of an Unexpected Miracle. 94 Die Erwähnung dieses Filmtitels liegt mir lediglich durch Dominique Nastas Buch vor. Ob das Wort »Reconstitution« im französischen Titel tatsächlich beabsichtigt ist, konnte ich nicht abschließend klären. Vgl. ebd., S. 241, Fußnote 7. 95 Ebd. 96 Pop: »The Grammar of the New Romanian Cinema«, S. 20. 97 Liviu Ciulei erhielt für seinen Historienfilm PĂDUREA SPÂNZURAȚILOR / THE FORREST OF THE

HANGED (RO 1965) den Preis für die beste Regie in Cannes, ein Jahr später

wurde der Film RĂSCOALA / THE REVOLT (RO 1966) als das beste Debüt Mircea Mureşans gekürt. Lucian Pintilies Filme erhielten zwar keine Preise aber internationale (i.e. westliche) Aufmerksamkeit, weswegen er Rumänien in den 1970er Jahren verlassen musste.

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stellten.98 Wie in vielen osteuropäischen Filmen dieser Zeit ist der Rückgriff auf historische und/ oder literarische Stoffe oft die einzige Möglichkeit, überhaupt Filme zu produzieren. Der verstorbene rumänische Filmkritiker Alexandru Leo Şerban bringt es lakonisch auf den Punkt: »Turning something »safe,« namely classic Romanian novels, into something even safer, namely films based on such novels, was really the law before 1989 [...].«99 Vor dem Hintergrund von Nicolae Ceauşescus Direktiven, die jenen in Nordkorea oder China ähnelten, wurden diese historischen Filme oftmals dazu genutzt, propagandistische Inhalte zu vermitteln.100 Wenn von der rumänischen Neuen Welle (Noul val) die Rede ist, so sind also keineswegs Filme gemeint, die im Kontext des Sozialismus produziert wurden. Es handelt sich vielmehr um jene Filme, die nach dem Ende des Kommunismus entstanden und die aufgrund ihrer bemerkenswerten Erfolge auf internationalen Filmfestivals und durch ihre hohe künstlerische Qualität die Rede von einem rumänischen Filmwunder bewirkt haben. Ob die künstlerische Bewegung als ›Neue Welle‹, als ›Post-New Wave‹101 oder als ›Neue neue Welle‹ beschrieben werden soll, darüber scheiden sich die rumänischen Geister.102 Doru Pop plädiert (mit Peter Hames, auf den er sich bezieht) für die Verwendung des Begriffes der ›Neuen neuen Welle‹, da der Begriff der ›Post New Wave‹ zu stark mit der Nouvelle Vague verbunden sei.103 Jeanine Teodorescu und Anca Munteanu haben die rumänische Neue Welle als einen filmischen Stil beschrieben, der eine Reihe von Charakteristika aufweist.104 Zu diesen zählen sie: den quasi-dokumentarischen Filmstil, lange Einstellungen, Verwendung der Handkamera, natürliche Beleuchtung, Fakten des alltäglichen Lebens, Einheit von Raum und Zeit, schwarzer Humor. Teodorescu und Munteanu schreiben: 98

Einer der erfolgreichsten Filmemacher dieser Generation ist Sergiu Nicolaescu, dessen historische Re-enactments als ideologische Stütze des kommunistischen Regimes dienen sollte. Nicolaescu zählt, wie Doru Pop schreibt, zu jenen Vorgängern und ›Dinosauriern‹, gegen die sich die Filmemacher der Neuen neuen Welle explizit wenden. Vgl. Pop: »The Grammar of the New Romanian Cinema«, S. 30.

99

Alexandru Leo Şerban: »Romanian Cinema: From Modernity to Neo-Realism.«, in: Film Criticism, 34 (2-3), 2010, S. 2.

100 Pop: »The Grammar of the New Romanian Cinema«, S. 20-23. 101 Dieser Begriff von Daniel J. Goulding wurde für das osteuropäische Kino nach dem Kommunismus konzipiert. Vgl. Goulding (Hg.): Post-New Wave Cinema in the Soviet Union and Eastern Europe. 102 Vgl. Pop: »The Grammar of the New Romanian Cinema«, S. 20. 103 Vgl. ebd., S. 22. 104 Jeanine Teodorescu; Anca Munteanu: »›Lăzărescu, come forth!‹: Christian Puiu and the Miracle of Romanian Cinema« Film Criticism, (Winter 2010), 34, 2-3, S. 63-64.

218 | Widerständige Nostalgie

»Philosophically, young film directors associated with this style embrace a certain type of realism based largely on truthfulness and integrity, as opposed to the old ›allegorical‹ or ›metaphorical‹ style of Romanian cinema, a style inevitably adopted by artists forced to work in a society suffocated politically and cuturally by deception and fraud.«105

Während die Filmemacher, die zur Bewegung der Neuen Rumänischen Welle gezählt werden,106 sich gegen eine Subsummierung ihrer unterschiedlichen Arbeitsweisen wehren, scheint es laut Teodorescu und Munteanu doch allgemeinen Konsens darüber zu geben, welche Rolle Lucian Pintilies Werk für die Filmemacherinnen und Filmemacher der heutigen Generation einnimmt: »The Romanian directors have been acknowledging their dept to Lucian Pintilie, the internationally celebrated director, by avoiding large-scale productions and exotic special effects.«107

Wenngleich Cristi Puius filmisches Werk eher internationale (Nouvelle Vague und Italienischer Neorealismus) denn rumänische Einflüsse aufweist108, können sein »cinematic minimalism and his persistent use of long shots and lateral framing«109 mit den filmtechnischen Mitteln der Filme Pintilies verglichen werden. Auch das Interesse für die ersten, metaphyischen Fragen ist den beiden

105 Teodorescu; Munteanu: »›Lăzărescu, come forth!‹: Christian Puiu and the Miracle of Romanian Cinema«, S. 63-64. 106 Neben Cristi Puiu wären hier vor allem zu nennen: Corneliu Porumboiu, A FOST SAUN-A FOST / 12:08 EAST OF BUCHAREST (RO 2006); Cristian Mungiu, 4 LUNI, 3 SĂPTĂMÂNI ȘI 2 ZILE / 4 MONTHS, 3 WEEKS, 2 DAYS (RO 2007), Cristian Nemescu, NESFÂRŞIT / CALIFORNIA DREAMIN’ (RO 2007), Radu Muntean, HÎRTIA VA FI ALBASTRÃ / DAS PAPIER WIRD BLAU SEIN

(RO 2006).

107 Teodorescu; Munteanu: »›Lăzărescu, come forth!‹: Christian Puiu and the Miracle of Romanian Cinema«, S. 65, Fußnote 6. 108 Cristi Puiu bezeichnete die Verwendung des Begriffs einer rumänischen Neuen Welle zynisch als ein simples »piggybacking of the Nouvelle Vague, conceived for the use of Western media.« Insofern als die so bezeichneten Filme oftmals im Rahmen von internationalen Filmfestivals uraufgeführt wurden und die Anerkennung in manchen Fällen ausschließlich von einem internationalen und nicht von einem rumänischen Publikum kam, ist Puius Kritik bedenkenswert. Vgl. Pop: »The Grammar of the New Romanian Cinema«, S. 21 und S. 23. 109 Teodorescu; Munteanu: »›Lăzărescu, come forth!‹: Christian Puiu and the Miracle of Romanian Cinema«, S. 60.

Kollektives Trauma | 219

Regisseuren gemein. Was Puiu in einem Interview mit Teodorescu und Monetanu sagt, könnte man auch über die Filme Pintilies behaupten: »What I want to talk about in my films, is our ineluctable and difficult advancement towards death, a journey periodically lightened up by the spark of comic revelry... It is not my responsibility to expose and fight evil (this is the church´s role). As an artist, I am endlessly fascinated by the extraordinary multiplicity of the monstruous, the great comic contrasts. I am purely obsessed with the monster´s unique artistry. I do not fight it, I simply describe it.«110

Das poetologische Interesse, das in dieser Aussage Puius anklingt, verweist auf eines der vier wichtigsten Merkmale der neuen rumänischen Filmemacher nach Doru Pop: 1. Es handelt sich um ein zutiefst autor-zentriertes Kino. 2. Die Filme befassen sich inhaltlich mit dem Nexus nationale Identität, Erinnerung und den Auswirkungen historischer Ereignisse auf den/ die Einzelne/ n. 3. Es ist ein Kino der politischen Auseinandersetzung und der ästhetischen Erneuerung. 4. Die Enstehung des neuen rumänischen Kinos ist intrinisch verbunden mit der Festivalkultur der europäischen Filmindustrie.111 Mit Bezug auf Thomas Elsässers Behauptung, dass europäische Filmfestivals als symbolische Räume fungieren, in denen europäische Identität entwickelt wird,112 argumentiert Pop, dass die ›Neue neue Welle‹ vor allem als ›europäische‹ Welle verstanden werden müsse, insofern sie vor die Materialisierung des Wunsches sei, »Europa neu zu erfinden«113. Wiederholung und Rekonstruktion RECONSTITUIREA / RECONSTRUCTION beginnt mit einer proleptischen Serie von Wiederholungen ein und derselben Szene, die gegen Ende des Films noch einmal zu sehen ist. Zu diesem Zeitpunkt ist der Zuschauerin und dem Zuschauer die Bedeutung dieser Szene als Schlüsselszene des Films noch nicht bewusst. Wir sehen Take 2, 3, 4 und 5 der Szene, als der Protagonist Vuica (George Mihăiță114) mit dem Gesicht voran einen kleinen Hügel herunter in den Schlamm stürzt. Wie er sich mühsam aufrappelt, ungläubig das Blut auf seinen Händen anschaut, den 110 Ebd., S. 61. (Übersetzung ins Englische, J.T. und A.M.) 111 Vgl. Pop: »The Grammar of the New Romanian Cinema«, S. 26-27. 112 Vgl. Elsässer: European Cinema: Face to Face with Hollywood. 113 Vgl. Pop: »The Grammar of the New Romanian Cinema«, S. 25 und S. 27. 114 George Mihăiță gilt als rumänische Filmikone. Der Film- und Theaterschauspieler hat in über 70 Filmen mitgespielt, ist der Begründer des FESTCO Festivals of Romanian Comedy und war Chefredakteur mehrerer rumänischer Jugendmagazine.

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Kopf hebt und seinem Gegenüber außerhalb des Frames zuruft: »Warum hast du mich geschlagen? Warum?« Nach der vierten Wiederholung sehen wir Take 5 einer anderen auf diese folgenden Szene: nach einem Perspektivwechsel filmt die Kamera Vuica nun von hinten, wir sehen ihn den Hügel erklimmen und wir sehen die Filmcrew, die wir aus Vuicas Sichtwinkel und geblendet durch das Aufnahmelicht nicht deutlich erkennen können. Die Kamera hält auf den Schemen von Vuicas Freund, Ripu (Vladimir Găitan), der ihn geschlagen hat und der schließlich an seinem Tod schuldig sein wird. Der Prolog von RECONSTITUIREA / RECONSTRUCTION lädt ein, über die scheinbare Unmittelbarkeit des filmischen Bildes nachzudenken und über die Gewalt, die die Wiederholung der Szenen auch den Protagonisten antut. Pintilie zeigt hier eindrücklich (und selbst auch ohne Rücksicht auf seine Protagonisten), wie sich Kamerateam und Schauspieler an der Echtheit des Filmbildes, an der Authentizität der Emotion abarbeiten, wie sehr die Unmittelbarkeit, die visuelle Nähe eine Illusion und vor allem eine Konstruktion ist. Eine Konstruktion, die immer auf dem Versuch der Rekonstruktion eines Ideals von Realität fusst. Der Titel wird eingeblendet, RECONSTITUIREA / RECONSTRUCTION, und wir verstehen, Film ist immer (nur) eine Rekonstruktion. Das formale Motiv der Wiederholung, das in Pintilies Film zum Prinzip der Narration erhoben wird (erzählt wird eine Wiederholung), spielt auch bei Puiu eine wesentliche Rolle. Der Protagonist seines Filmes MORTEA DOMNULUI LĂZĂRESCU / THE DEATH OF MR. LAZARESCU, Dante Lăzărescu (Ioan Fiscuteanu) passiert auf seinem Dornenpfad vier verschiedene Krankenhäuser, in denen sich mit unterschiedlichen Protagonistinnen und Protagonisten immer ähnliche Szenen abspielen. Der alte Mann wird beschimpft, nicht ernst genommen und nur mangelhaft untersucht. Indem der Film von Cristi Puiu sich einer Dokumentarfilmästhetik bedient und den Eindruck der Unmittelbarkeit und Spontaneität der dargestellten Ereignisse im Sinne des ›cinéma vérité‹ vermitteln will,115 liegt es zunächst nicht nahe, von der Rekonstruktion einer Geschichte oder eines konkreten Falles zu sprechen. Den dem Film seinen Titel gebenden Tod Lăzărescus sehen wir nicht in MORTEA DOMNULUI LĂZĂRESCU / THE DEATH OF MR. LAZARESCU. Was wir zu sehen bekommen, ist vielmehr die Rekonstruktion der Ereignisse, die zum Tod Lazarescus geführt haben werden. 115 Wie Jim Hoberman ausführt, erinnert ihn Puius Film an die Film des Dokumentaristen Frederick Wisemans: »THE DEATH OF MR. LAZARESCU is highly scripted but shot like a documentary. As filmmaking, it’s a tour de force, with Puiu successfully simulating – or rather, orchestrating – the institutional texture of a Frederick Wiseman vérité.« Vgl. Hoberman: Film after Film: Or, What Became of 21st-Century Cinema?, S. 232.

Kollektives Trauma | 221

Abbildungen 47, 48: Dreiheit

Quelle: Screenshots RECONSTRUCTION (RO 1969), THE DEATH OF MR. LAZARESCU (RO 2005)

So unterschiedlich die beiden in DF 9 Reconstruction of Mr. Lazarescu in Dialog tretenden Filme hinsichtlich ihrer filmischen Ästhetik sind, möchte ich dennoch auf eine formale Ähnlichkeit hinweisen, die mir interessant scheint. In beiden Filmen wird mit Einstellungen gearbeitet, die einer dreiteiligen Logik gehorchen. In RECONSTITUIREA / RECONSTRUCTION sehen wir im Vordergrund des Bildes den Hinterkopf und die Kappe des Polizisten, im Hintergrund sitzen Ripu und Vuica an einem runden Tisch, der die Kreisförmigkeit der Kappe spiegelt. Der Polizist verkörpert eine staatliche Autorität, die den beiden gelangweilten jungen Männern, die wie Schuljungen an dem Tisch sitzen, Vorhaltungen macht. In MORTEA DOMNULUI LĂZĂRESCU / THE DEATH OF MR. LAZARESCU sehen wir die Sanitäterin Moara in ihrer auffälligen Uniform mit den Nachbarn Lăzărescus in seiner Küche stehen. Im Vordergrund stehen die beiden rauchenden Frauen, während der Mann im Hintergrund, den Kopf auf die linke Hand gestützt, ebenfalls leicht gelangweilt, seine Frau anblickt. Diese ins Mondäne gewendete Dreifaltigkeit scheint mir nicht nur als intertextuelle Anspielung auf Pintilies Film interessant, sondern sie verweist auch auf eine motivische Kontinuität im rumänischen Kino, die die Filme der ›Neuen neuen Welle‹ aufgreifen. Doru Pop betont, dass gerade diese Referenz an eine osteuropäische Ikonen-Tradition und die Umkehrung der orthodoxen Bildkonstruktion die Besonderheit des rumänischen Kinos ausmachen.116 Hierarchien des (Post-)Sozialismus Die Strukturierung des Kollektivs (der Gesellschaft) nach Grundsätzen patriarchalischer Autorität ist eine der deutlichsten Kontinuitäten in den beiden Filmen des 116 Vgl. Pop: »The Grammar of the New Romanian Cinema«, S. 37.

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DF 9 Reconstruction of Mr. Lazarescu. Die vorwiegend männlichen Ärzte und sonstigen Vertreter des Gesundheitssystems in MORTEA DOMNULUI LĂZĂRESCU / THE DEATH OF MR. LAZARESCU gefallen sich in monarchisch autoritärer Pose, die keinen Widerspruch duldet. Der alte Mann und Patient ebenso wie die Sanitäterin und mitfühlende Frau (Luminița Gheorgiu) sind eindeutig Untergebene in diesem Regime. Das ›Personal‹ von RECONSTITUIREA / RECONSTRUCTION besteht fast ausschließlich aus Männern mit spezifischen (amtlichen) Funktionen und einem namenlosen Mädchen (Ileana Popovici). Dieses dient aber nicht, wie es übrigens in vielen Filmen der Nouvelle Vague der Fall ist117, der Dekoration, sondern rebelliert auf bemerkenswerte und eigenständige Weise gegen die männerdominierte Szenerie. Aus sicherer Entfernung beobachtet das Mädchen das Geschehen und kommentiert es immer wieder durch leises, spöttisches Gekicher. Die Versuche der Männer, das Mädchen zu vetreiben, zielen ins Leere. Immer wieder nähert sie sich der Gruppe, lässt sich aber nicht wirklich auf Gespräche mit den Akteuren der Rekonstruktion ein. Eine kurze Romanze mit Ripu endet ebenso plötzlich wie sie begann nach einem kurzen und brutalen Stelldichein am Flußufer, wo Ripu das Mädchen verführt. Nach dem Sex bittet das Mädchen Ripu, ihr das Armband zu überlassen, das ihm seine Mutter als Glücksbringer geschenkt hat. Nachdem er ihr das Armband gibt, wirft sie es in den Fluß und macht sich über Ripu lustig: »So gefällst du mir besser!« In dieser Sequenz wird deutlich, dass die Geschlechterbeziehungen im Wandel begriffen sind. Die Frauen entsprechen nicht mehr dem stereotypischen Bild, das die Männer von ihnen haben und eignen sich nicht mehr als Projektionsfläche. Die Zeichen männlicher Autorität und Dominanz zeigen sich in DF 9 Reconstruction of Mr. Lazarescu in Bildern und Details männlicher Körper sowie in narrativen Sequenzen. Eine Sequenz von RECONSTITUIREA / RECONSTRUCTION beginnt etwa mit der etwa 10 cm langen frisch verheilten Narbe auf dem glatzigen Kopf eines Mannes, der den Kopf auf die Arme gelegt hat und auf dem Bauch in der Sonne liegt. Es ist Sommer. Wir sehen im Wind schwingende Türen eines Badehauses, schnatternde Enten, das Mädchen schwimmt in einem Teich, wir befinden uns in einem rumänischen Dorf. Der Wirt eines kleinen Fischerlokals, es ist der Mann mit der Narbe auf dem Kopf, wartet auf das Eintreffen der Filmcrew. In unmittelbarer Nähe ertönt (immer wieder durch den Film hinweg) das Gejohle 117 Vgl. hierzu das äußerst erhellende Buch von Geneviève Sellier, die in umfassenden Analysen der Autorenästhetik der Regisseure der Nouvelle Vague zeigen konnte, dass dem ästhetischen Aufbruch, der mit diesen Filmen einherging, ein konservatives Geschlechterbild zugrunde liegt, das zu beunruhigen nicht notwendigerweise Anliegen der Filmemacher der Nouvelle Vague war. Geneviève Sellier: La Nouvelle Vague. Un cinéma au masculin singulier. Paris: CNRS Editions 2005.

Kollektives Trauma | 223

einer Menschenmenge118: das Fußballstadium, in dem heute ein wichtiges Spiel der Nationalmannschaft stattfindet. Die Züge, die immer wieder an der dörflichen Idylle vorüberfahren und die man in unmittelbarer Nähe hört, bilden ebenso eine der geräuschlichen Kulissen des Fischerlokals. Als das Auto mit der Filmcrew, dem Prokurator (George Constantin), dem Polizeibeamten Dumitrescu (Ernest Maftei), dem Lehrer und Intellektuellen Paveliu (Emil Botta119) und den beiden Straftätern Vuica und Ripu ankommt und alle aussteigen, lässt sich die Hupe aufgrund eines technischen Defekts nicht ausschalten. In der Hektik der Ankunft versucht der Fahrer unter den autoritären Anweisungen des Prokurators erfolglos den Schaden zu beheben. Als sich Vuica mit einem guten Ratschlag einmischen will, weist ihn der Prokurator barsch zurück: »Was willst du, bist du denn plötzlich ein Mechaniker?« Schulterzuckend zieht sich Vuica zu Ripu zurück. In MORTEA DOMNULUI LĂZĂRESCU / THE DEATH OF MR. LAZARESCU gibt es eine ähnliche Szene, als die Sanitäterin Mioara die Ärzte des dritten Krankenhauses, dem Filaret Krankenhaus, in dem Lăzărescu Aufnahme sucht, darauf hinweist, dass Lăzărescu aufgrund einer Hirnblutung sofort operiert werden müsse. »Was ist denn mit Ihnen los? Wer stellt die Diagnose? Der Arzt oder die Krankenschwester?«, fragt der Chefarzt hämisch und verliert in der Folge durch weitere Zurechtweisungen der Sanitäterin wertvolle Zeit. Der egozentrische Chefarzt steht in DF 9 Reconstruction of Mr. Lazarescu einem behäbigen Prokurator gegenüber, der die Furcht der beiden jungen Männer vor dem Urteil selbstgefällig genießt. Von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet (wie eine Arzt) bestimmt der Prokurator darüber, ob und wann gegessen wird und wann die Dreharbeiten aufgenommen werden können. In einer von ihm einberufenen Pause nimmt er mit einem weißen Tuch über dem Kopf ein Sonnenbad am Fluß. Solchermaßen verhüllt evoziert der Anblick des mumifizierten Prokurators den unsterblichen Körper des Königs120 und verkörpert somit eine vor-moderne, unanfechtbare Autorität. Diese Autorität wird durch die Präsenz der Sanitäterin Mioara in MORTEA DOMNULUI LĂZĂRESCU / THE DEATH OF MR. 118 Später wird sich zeigen, dass auch diese vorwiegend aus Männern besteht. 119 Emil Botta war selbst ein Intellektueller und Lyriker, der neben Mircea Eliade, Emil Cioran und Nicolae Steinhardt der existentialistische geprägten Grupul Criterion angehörte. 120 Ernst Kantorowicz hat in seiner wichtigen Studie The King´s Two Bodies gezeigt, dass die mittelalterliche Auffassung zweier Körper des Königs, eines sterblichen und eines unsterblichen Körpers, der aufklärerischen Unterscheidung zwischen der öffentlichen Funktion und der Person, die die Funktion innehat, vorausgeht. Diese Unterscheidung liegt der Idee des modernen Staates zugrunde. Vgl. Ernst H. Kantorowicz: The King´s Two Bodies: A Study in Mediaeval Political Theology. Princeton: Princeton University Press 1997.

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LAZARESCU und des Mädchens sowie des mitfühlenden Lehrer und Intellektuellen Paveliu in RECONSTITUIREA / RECONSTRUCTION konterkariert. Abbildungen 49, 50: Körper des Königs

Quelle: Screenshots RECONSTRUCTION (RO 1969), THE DEATH OF MR. LAZARESCU (RO 2005)

Während die Ohmacht der Sanitäterin vor dem System ihre Menschlichkeit gerade betont flieht der Lehrer Paveliu von Vuica und Ripu in einen stumpfen Rausch, der ihn letztendlich für das Geschehen völlig unempfindlich macht. Den Tod Vuicas wird er stumpf glotzend aus dem wegfahrenden Auto zur Kenntnis nehmen. Das Mädchen hingegen behält sich zwar ihre anfängliche Autonomie, indem sie letztendlich nicht Teil der Männergruppe wird. Allerdings erscheint sie bis zuletzt auch ausgeschlossen aus dem System. Beide Filme stellen Hierarchien aus, die auf dem Zynismus und der Leere (patriarchalischer) Macht beruhen, die eine zwischenmenschliche Kommunikation auf Augenhöhe verunmöglichen und letztendlich zum Tod eines Menschen führen. Auslöschung der Protagonisten / des Kinos Die Filmcrew in RECONSTITUIREA / RECONSTRUCTION, angeleitet durch den Deutschen Vlad (Nikolaus Wolcz), schickt sich also an, den Dreh vorzubereiten. Vuica und Ripu sollen die Schlägerei vor der Kamera wiederholen, die ein Woche vorher zur Kopfverletzung (des Wirten) und zu ihrer Verhaftung führte. Während Vlad den Film einlegt und den Drehort vorbereitet, unterhalten sich der Prokurator und der Lehrer Paveliu. Paveliu redet eindringlich auf den Prokurator ein und bittet ihn, Vuica und Ripu noch vor dem Dreh zu verraten, dass sie eigentlich frei sind. Die Dreharbeiten gestalten sich als schwierig, Vuica und Ripu sehen keinen Sinn

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darin, die Schlägerei der letzten Woche zu wiederholen. Durch die Renitenz und die Ratlosigkeit der beiden Hauptakteure sowie verschiedene andere Unterbrechungen werden die Dreharbeiten immer wieder gestört und in die Länge gezogen. Die Stimmung wird immer angespannter, der Ton wird schärfer und auch auf der Tonebene kündigt sich bedrohlich das böse Ende an. Die Rufe der Menge aus dem Fußballstadium klingt im Laufe der Erzählung immer stärker nach dem Gejohle in der Arena, in der Vuica und Ripu einander auf Leben und Tod bekämpfen. Nachdem am Ende des Filmes mehrere Szenen wiederholt wurden (die Schlägerei mit dem Wirten, der Streit zwischen Vuica und Ripu) kommt es im Showdown zur Nachstellung der letzten Szene am Flussufer, als Ripu Vuica niederschlug. Immer wieder wehrt sich Ripu gegen die Anweisungen des Regisseurs und des Prokurators, er will Vuica nicht (noch einmal) schlagen. Vuica hingegen hat am Schauspielen Spaß und stellt sich überaus geschickt an. Auch scheinen ihm die Wiederholungen viel weniger auszumachen als Ripu. In der letzten Szene provoziert er Ripu, indem er ihn mit seiner Affäre mit dem jungen Mädchen aufzieht, die den Dreh immer wieder aus einiger Distanz beobachtet und über die absurden Streitereien lacht. Als schließlich bei einer der letzten Wiederholungen der Schlägerei eine Lampe explodiert, erschrickt Ripu und schlägt versehentlich richtig zu. Vuica fällt so unglücklich, dass er sich den Kopf an einem Baumstumpf anschlägt und kurze Zeit später an einer Gehirnblutung stirbt. Bevor er stirbt, wird die Szene allerdings noch einmal wiederholt, da der Regisseur die Szene irrtümlich nicht gefilmt hat. Nachdem der Dreh vorüber ist und sich die Filmcrew samt Prokurator, Lehrer und Polizeibeamten zurückziehen, haben auch die Massen das Fußballstadium verlassen und ziehen beim Wirten ein bzw. befinden sich auf dem Nachhauseweg. Beim Versuch Vuicas, sich einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen, stürzt er schießlich. Als Ripu sieht, dass Vuica tödlich verletzt ist, bricht er in Wehklagen aus. Vuica lacht über Ripu und stirbt. Einer der Passanten bleibt bei den beiden stehen und sagt zu Ripu: »Warum hast du das getan? Warum hast du deinen Freund getötet?« – worauf Ripu aufsteht, den Alten niederschlägt und eine Massenschlägerei auslöst. Die Rekonstruktion eines traumatischen Ereignisses wird selbst zur traumatisierenden Rekonstruktion. Bzw. zeigt der Versuch der Rekonstruktion gleichzeitig die Unmöglichkeit einer Rekonstruktion von Geschehnissen. In MORTEA DOMNULUI LĂZĂRESCU / THE DEATH OF MR. LAZARESCU haben wir es sowohl in Form der immer wieder vorgenommenen Diagnosestellung mit einer Rekonstruktion der Krankheiten, der Pathologien, der Mängel des Protagonisten zu tun wie mit einer letalen Dekonstruktion des Menschen Lăzărescu, schließlich des anonymen Patienten. Am Ende bleibt Lăzărescu seiner Kleider entledigt, kahl rasiert, nackt, und völlig alleine im Wartesaal zurück. Dass er die

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Operation, in die er bewusst nicht einwilligen konnte, überleben wird, ist mehr als fraglich wie überhaupt in Frage steht, ob es noch zu einer Operation kommen wird. Trotz des außer Frage stehenden internationalen Erfolges von Puius Film sowie des Erfolges des weiter oben beschriebenen rumänischen Filmwunders, bemerkt Jim Hoberman, dass MORTEA DOMNULUI LĂZĂRESCU / THE DEATH OF MR. LAZARESCU in Rumänien kein großes Publikum hatte: »The Death of Mr. Lazarescu is in some way also about the death of Romania´s revived cinema. Although the most popular Romanian language film shown in Romania in 2005, its total audience was 30.000 people.«121

Auch die kurze Tauwetterperiode des rumäischen Kinos und Pintilies Film bleiben als singuläre Ereignisse der sozialistischen Ära im kollektiven Gedächtnis verankert und markieren wohl eher den Untergang des rumänischen Kinos als seinen Aufstieg. Gerade in der Figur Pintilies steht dieser Perspektive des Bruchs aber insofern eine Perspektive der Kontinuität gegenüber, als er »miraculously managed to bridge the gap between the short-lived Thaw and the post-revolutionary period, re-integrating into the domestic film industry after a forced artistic exile of almost twenty years.«122

Pintilie steht so wie kein anderer Regisseur des rumänischen Films, und symbolisch wohl auch für andere osteuropäische Kinematographien, für die Nostalgie des postsozialistischen Kinos für jene in den 1960er Jahren vorherrschende Aufbruchstimmung, die das politische Tauwetter für kurze Zeit ermöglichte.

121 Hoberman: Film after Film: Or, What Became of 21st-Century Cinema?, S. 233, Fußnote 2. 122 Nasta: Contemporary Romanian Cinema: The History of an Unexpected Miracle, S. 85.

7

Genre, Ironie und Nostalgie

Im vierten und letzten Kapitel der Filmanalysen werden unter dem Titel Genre, Ironie und Nostalgie zwei Genrefilme und zwei für das Fernsehen produzierte Musiknummern untersucht, mit denen die von Anikó Imre skizzierte Bewegung vom Rezeptionsmodus der Ironie (im Sozialismus) zum Rezeptionsmodus der Nostalgie (Postsozialismus) nachgezeichnet werden soll. Ging es Imre in ihrer Definition der »ironic overidentification«1 jedoch um einen intrinsisch mit televisuellen Ästhetiken verbundenen Rezeptionsmodus, möchte ich anhand des Vergleichs eines tschechoslowakischen (1964) und eines polnischen Kinofilms (2009) zeigen, wie aus der »ironischen Überidentifikation« mit dem Genre des Westerns eine »nostalgische Aneignung« des Genres des Film noir wird (DF 10). Mit einer polnischen (1967) und einer tschechoslowakischen Musiknummer (1968) habe ich über das Bild des Künstlerrebellen bzw. der intellektuellen Künstlerin nachgedacht und untersucht, inwiefern ironisch bzw. nostalgisch motivierte Bildpolitiken die Anrufung des Fernsehpublikums prägen (DF 11).

7.1 DOUBLE FEATURE 10 – LEMONADE REVERSE Ezra Goodman: »Bruder Erneuerer! Hip Hip Arizona. Hip Hip Arizona. Oder hab ich mich vielleicht geirrt und Sie sind gar nicht ein Mitglied der Erneuerung Arizons?« Limonaden-Joe: »Hm. Ich bin nicht so gern in einem Verein.« Ezra Goodman: »Oh, Verzeihung.« Winnifred Goodman: »Sie sind ein reitender Ritter der Gerechtigkeit! Werden Sie doch Mitglied!« LIMONADOVÝ JOE ANEB KOŃSKÁ OPERA / DER LIMONADEN-JOE ODER EINE PFERDE-OPER (1964) »Denken Sie nicht, dass wir alles verloren haben, außer unser Leben?«, fragt der Dichter. Sabina: »Ich glaube zu wissen, was Sie meinen, aber ich sehe das nicht so

1

Imre: »Why should we study socialist commercials?«, S. 67.

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schwarz. Wir müssen trotz alem leben. Und Sie müssen als Dichter existieren. (…) Sie dürfen nicht untätig bleiben.« Dichter: »Ich weiß, was Sie mir vorsichtig klar machen wollen. Aber lohnt es sich nicht, in der Hoffnung zu leben, dass das alles irgendwann vorüber geht?« Sabina: »Und wenn nicht? Und wenn Ihr durch ein Wunder im Aufstand gerettetes Leben einfach vorbeigeht?« REWERS / THE REVERSE (2008)

Ähnlich wie DF 9 Reconstruction of Mr. Lazarescu besteht auch DF 10 Lemonade Reverse aus zwei Filmen, die sich auf den ersten Blick nicht für einen Vergleich eignen. Handelte es sich bei DF 9 Reconstruction of Mr. Lazarescu allerdings immerhin um zwei Spielfilme, die beide das Spannungsverhältnis von Fiktionalität und Dokumentarismus ausloteten, evozieren die beiden Filme von DF 10 Lemonade Reverse semantische Räume zweier völlig verschiedener Genres. Dennoch scheint mir ein Vergleich der Filme hinsichtlich der Frage fruchtbar, wie sie im ironischen oder im nostalgischen Rückgriff auf ein je spezifisches Genre die jeweiligen Genrekonventionen sprengen und filmische Räume schaffen, die geradezu utopisch anmuten. Zwischenhelden und queere Genres Wenn man über das Western-Genre nachdenkt, ergeben sich zwei Problematiken. Erstens bezüglich der Frage nach der Möglichkeit oder der Unmöglichkeit von Genres2, zweitens hinsichtlich der ursprünglichen Verquickung des Western mit der nordamerikanischen Geschichte. Auf die komplexen interkulturellen Auffächerungen des Western-Genres, auf Transformationen des europäischen Westerns zwischen Italo-Western und Eastern haben Thomas Klein, Ivo Ritzer und Peter W. Schulze in den von ihnen herausgegebenen Einzelanalysen in Crossing Frontiers. Intercultural Perspectives on the Western deutlich hingewiesen. Gleich im ersten in dem Buch abgedruckten Aufsatz von Edward Buscombe hebt dieser die Bedeutung der ›Grenze‹ als Metanarrativ amerikanischer Geschichte hervor, das in Konzepten wie dem Clash zwischen Zivilisation und Wildernis, Gesetz und Gesetzlosgkeit und in Konzepten von heldenhafter Männlichkeit visualisiert wird.3 Ganz allgemein trifft auf das Western Genre die Beobachtung zu, dass es 2

Vgl. André Bazin: »Evolution du Western« Cahiers du Cinéma, Nr. 9, (1955), S. 2226; Rick Altman: »A Semantic/ Syntactic Approach to Film Genre«, Cinema Journal, Nr. 3, Vol. 23, (1984), S. 6-18. Abrufbar auf http://www.jstor.org/stable/12250 93?seq=1#page_scan_tab_contents, [letzte Sichtung am 18.03.2020].

3

Edward Buscombe: »Is the Western about American History?«, in: Thomas Klein, Ivo Ritzer, Peter W. Schulze (Hg.): Crossing Frontiers. Intercultural Perspectives on the

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trotz seiner bisweilen reaktionären, stark auf dichotomische Schematisierungen abzielenden Erzählstrukturen wie kaum ein anderes Genre auch immer wieder auf das Verdrängte (der Geschichte, der Geschlechterinszenierungen) hinweist und mitunter gerade da die Grauzonen des Scheiterns an gesellschaftlichen Normen thematisiert, wo es klare Verhältnisse schaffen wollte. Gerade auch Klassiker des Genres, führt Edward Buscombe unter Rückbezug auf John Fords THE SEARCHERS (1956) aus, könnten auf diese Weise »gegengelesen« werden: »Some landmark films may be analysed in a more sophisticated manner, acknowledging perhaps their failure to confront full-on the politically reactionary nature of the genre, but finding ways in which they may nervertheless redeem themselves by undercurrents which run counter to the perceived ideological thrust.«4

Auf die Möglichkeit einer alternativen Geschichte des Westerns verweisend, die »far from castigating it for its perceived ideological shortcomings, would pay attention to subtexts which can be in contradiction with the overt politics of a film«5, zitiert Buscombe feministische und queere Lektüren von Westerns (z.B. Pam Cook) sowie Beispiele des Genres (z.B. Ang Lees BROKEBACK MOUNTAIN, US 2005), die die Vorurteile und Stereotypen des Genres an sich unterlaufen.6 Sergey Lavrentiev hat 2009 in seinem Buch Red Westerns die Rezeptionsgeschichte des Westerns in der UdSSR und im postkommunistischen Russland beschrieben. Wiewohl US-Westerns als höchst reaktionäres, kolonialistisches Genre rezipiert wurden und von den 50er weit bis in die 80er Jahre hinein lediglich fünf (sic!) US-amerikanische Western im sowjetischen Filmvertrieb gezeigt wurden, waren die Sowjets große Westernfans.7 Bereits in den 20er Jahren waren Westerns breit und enthusiastisch rezipiert worden und erst der 2. Weltkrieg und das Erstarken des kommunistischen Regimes unterbrach diese Entwicklung. Die russische Premiere von John Sturges THE MAGNIFICENT SEVEN im Jahr 1962 war dennoch ein gesellschaftliches und populärkulturelles Großereignis. Der Film wurde nicht nur in Kinos gezeigt, sondern auch auf Sportplätzen. Konfrontiert mit dem Western. Marburger Schriften zur Medienforschung 22, Marburg: Schüren 2012, S. 1324, hier: S. 13. 4

Ebd., S. 14.

5

Ebd., S. 15.

6

Vgl. Pam Cook: »Women«, in Buscombe, Edward: The BFI Companion to Western. Pallgrave: London 1988, S. 240-243. Zitiert nach: Buscombe: »Is the Western about American History?«, S. 16.

7

Sergey Lavrentiev: »Red Westerns«, in: Klein, Ritzer, Schulze (Hg.): Crossing Frontiers. Intercultural Perspectives on the Western, S. 110.

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bahnbrechenden Erfolg der Westerns entschieden die Parteileader, dass sowjetische Filmemacher und Filmemacherinnen ab sofort selbst rote Western realisieren sollten, allerdings sollten gleichzeitig auch ideologische Korrekturen und inhaltliche »Verbesserungen« vorgenommen werden.8 Daraufhin wurden Dutzdende rote Western9 produziert, die allerdings aufgrund der Vorbehalte gegenüber dem kapitalistischen Genre nicht als Western, sondern als ›Helden- und Abenteuerfilme‹ bezeichnet wurden. Die Geschichte der Red Westerns beschreibt Lavrentiev als eine die auf tragische Weise die Geschichte der russisch-sowjetischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts und der sowjetischen Zensurbestimmungen reflektiert.10 Den Beginn des Red Western Genres verortet Lavrentiev 192411, als Lev Kuleshov zusammen mit seinen Filmschulstudierenden, den künftigen Legenden des Sowjetischen Kinos, den ersten Sowjetischen Film produzierte. Bei NEOBYCHAINYE PRIKLYUCHENIYA MISTERA VESTA V STRANE BOLSHEVIKOV / THE EXTRAORDINARY ADVENTURES OF MR. WEST IN THE LAND OF THE BOLSHEVIKS (UdSSR 1924) handelt es sich allerdings nicht um einen Western im eigentlichen Sinne. Kuleshov, Bewunderer und großer Fan früher hollywood’scher Filmästhetik montierte für diesen späteren sowjetischen Klassiker lediglich Western-hafte Episoden, in denen er die amerikanischen Klischeevorstellungen vom Bolschewismus durch die Karrikatur eines ›Yankees‹ vorführte und persiflierte. Nastasza Korczaroskwa hat in einer Analyse dreier polnischer Western12 aus den 1960er und 1970er Jahren gezeigt, dass die in propagandistischer Absicht 8

Vgl. Lavrentiev: »Red Westerns«, S. 110.

9

Zum Beispiel: SMELYE LYUDI / BRAVE PEOPLE (UdSSR 1950, Konstantin Yudin), NIKTO NE KHOTEL UMIRAT (RUSS.) / NIEKAS NENOREJO MIRTI (LITH.) / NO ONE WANTED TO DIE (UdSSR 1966, Vytautas Žalakevičius), NEULOVIMYE MSTITELI / ELUSIVE AVENGERS (UdSSR VIMYKH

1967, Edmon Keosayan), NOVYE PRIKLYUCHENIYA NEULO-

/ NEW ADVENTURES OF ELUSIVE AVENGERS (UdSSR 1968, Edmon Keosa-

yan), BELOE SOLNTSE PUSTYNI / WHITE SUN OF THE DESERT (UdSSR 1969, Vladimir Motyl), SVOY SREDI CHUZHIKH, CHUZHOY SREDI SVOIKH / RELATIVE AMONG STRANGERS, STRANGER AMONG RELATIVES (UdSSR 1974, Nikita Mikhalkov). 10 Vgl. Lavrentiev: »Red Westerns«, S. 111. 11 Im selben Jahr entstand ein weiterer Meilenstein des Red Western, der beim Publikum großen Anklang fand: KRASNYE DIAVOLITA / LITTLE RED DEVILS von dem georgischen Filmemacher Ivan Perestiany. Vgl. ebd., S. 112. f. 12 Bei den vier Filmen handelt es sich um RANCZO TEXAS / THE TEXAS RANCH (PL 1959) von Wadim Berestowski, der als erster polnischer Western bezeichnet wird. Um PRAWO I PIĘŚĆ / THE LAW AND THE FIST (PL 1964) von dem Dokumentarfilmer-Duo Jerzy Hoffman und Eward Skórzewski, die in den 1950er Jahren durch ihre Dokumentarfilme »Schwarze Serie« bekannt geworden waren. Und um WILCZE ECHA / THE

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produzierten Genrefilme mitunter ebenso gut als Konterlektüren ihrer ideologischen Inhalte herhalten.13 Dazu zitiert sie David Bordwell und Kristin Thompson: » [T]he typical Western hero stands between the two thematic poles. At home in the wilderness but naturally inclined toward justice and kindness, the cowboy is often posed between savagery and civilization. [...] The in-between position of the hero affects common Western plots. He may start out on the side of the lawless, or he may simply stand apart from the conflict. [...] Eventually, the hero decides to join the forces of order, helping them to fight hired gunmen, bandits, or whatever the film presents as a threat to stability and progress.«14

Sich auf Bordwell und Thompson beziehend, die die »Zwischenposition« des Westernhelden als ein charakteristisches Genremerkmal deuten, zeigt Korczarowska wie die Helden der drei polnischen Western, die inszeniert sind als Einzelgänger zwischen zwei Welten, letztendlich eben nicht notwendigerweise »überlaufen« in die Welt der legitimierenden Ordnung. Auf die erzählerischen und filmischen Konventionen des nordamerikanischen Westerngenres rekurrierend, sträuben sich die Propaganda-Western »polnischer Prägung«15 gegen das Glattbügeln zu ideologisch eindeutigen Erzählungen. Dazu schreibt Korczarowska: »[D]espite of the fact that ›the gun‹ belonged to the Party (which financed, controlled and censored all film production), we can find many counterculture elements within particular films. [...] Many of the central characters in the Polish Western films represent the in-between position mentioned above. Interestingly enough, they are only temporally tempted to ECHOES OF THE WOLVES (PL 1968) von Aleksander Ścibor-Rylski, dem als Drehbuchautor ein großer Teil des Erfolges der Polnischen Filmschule zukommt. 13 Vgl. Natasza Korczarowksa: »Who Carries the Gun? Culture and Counterculture Elements in Polish Westerns«, in: Klein, Ritzer, Schulze (Hg.): Crossing Frontiers. Intercultural Perspectives on the Western, S. 96-110, hier: S. 108. 14 Bordwell; Thompson: Film Art: An Introduction, S. 328, zitiert nach: Korczarowksa: »Who Carries the Gun? Culture and Counterculture Elements in Polish Westerns«, S. 108. (Hervorhebung, N.K.) 15 Mit dem Ziel, die Repräsentanten der sog. »Polnischen Filmschule« (z.B. Andrzej Wajda, Wojciech Has, Jerzy Kawalerowicz, Andrzej Munk u.a.) zu schwächen und im Kontext der zu Beginn der 1960er Jahre erschwerten Zensurbedingungen verfolgte die kommunistische Parteispitze mit Ferdynand Gomułka eine staatliche (Film-)Politik, die ideologische Inhalte in Form von populären Formaten und Genres vermitteln wollte. Genre-Kino wurde so zum bevorzugten Instrument »ideologischer Unterhaltung«. Vgl. Korczarowksa: »Who Carries the Gun? Culture and Counterculture Elements in Polish Westerns«, S. 98.

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fit into the system, and eventually they stay out of the world of ideologically approved order.«16

Diese Zwischenposition eignet auch dem Helden von LIMONADOVÝ JOE ANEB KOŃSKÁ OPERA / DER LIMONADEN-JOE ODER EINE PFERDE-OPER (ČSSR 1964, Oldřich Lipský). Verkörpert er als Vertreter des Kolaloka-Universums ähnlich wie Lev Kuleshovs Mr. West ganz eindeutig den Kapitalismus und die Marktwirtschaft fehlt ihm dennoch ein Antagonist, der eindeutig dem Kommunismus zugeordnet werden könnte. Der Antagonist des Limonaden-Joes, Hogofogo, ist ein in ganz Arizona bekannter und gefürchteter Ganove, der sich vor allem für Frauen, Waffen und Whisky erwärmen kann. Mit diesen Eigenschaften überzeugt Hogofogo kaum als Kommunist. Die Differenz zwischen den beiden Figuren lässt sich also weniger auf ideologischer Ebene überprüfen, als auf der Ebene ihrer Männlichkeit. Anstelle eines wortkargen, verwegenen, vom Leben geprüften und entsprechend heruntergekommenen Cowboyhelden, wird uns mit dem LimonadenJoe ein queerer Protagonist präsentiert, das zwischen Heldentum und Clownerie schwankt. Auch der Enthusiasmus, den er bei den Frauen auslöst, scheint ihn eher zu überfordern als zu freuen. Dass sich im Finale des Filmes darüber hinaus herausstellt, dass der Limonaden-Joe und der Ganove miteinander verwandt sind, verweist auf eine kritische Haltung gegenüber jeglicher Ideologie (auch der Geschlechterideologie17). Die generalisierende und ironische Pointe – wir sind doch alle gleich – nimmt der Parodie des Kapitalismus ihre Schärfe und öffnet den Blick für die mögliche Gegenlektüren der Westernparodie. Vom Western zum Eastern, von der Ironie zur Nostalgie Eine Remediatisierung im Sinne einer Western-Hommage oder -Parodie vollzieht der 1964 in der Tschechoslowakei produzierte ›Eastern‹ LIMONADOVÝ JOE ANEB KOŃSKÁ OPERA / DER LIMONADEN-JOE ODER EINE PFERDE-OPER. Ein Vierteljahrhundert später hat der Limonaden-Joe übrigens selbst noch einmal als Folie für eine sowjetische Parodie (der Parodie) gedient.18 In ihrem Film CHELOVEK S BULVARA KAPUTSINOV / MAN FROM CAPUCINE BOULEVARD (UdSSR 1987) erzählt Alla Surikova die Geschichte, wie das Kino in den Wilden Westen kam. Die 16 Korczarowksa: »Who Carries the Gun? Culture and Counterculture Elements in Polish Westerns«, S. 108. (Herv. Original) 17 Insofern als die dem Western in spezifischer Weise eignende Genealogie der Männlichkeit unterbrochen wird und Blutsverwandtschaft als Garant der heteronormativen Gemeinschaft destabilisiert wird. 18 Vgl. Lavrentiev: »Red Westerns«, S. 119.

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Komödie, die zahlreiche Zitate aus dem Limonaden-Joe vorweist, aber genretechnisch weniger wie ein Western, sondern eher wie eine TV-Show funktioniert, war ein großer Publikumserfolg. Auch LIMONADOVÝ JOE ANEB KOŃSKÁ OPERA / DER LIMONADEN-JOE ODER EINE PFERDE-OPER kann man nicht ohne weiteres einem Genre zuordnen. Als Western-Parodie ausgewiesen 19, verfügt der Film von Oldřich Lipský auch über Charakteristika einer musikalischen Komödie oder einer Zirkusnummer. Über weite Slapstick-Strecken mutet er wie ein Stummfilm oder eine frühe Westernkomödie im Stil der Marx Brothers an, beispielsweise GO WEST / DIE MARX BROTHERS IM WILDEN WESTEN (US 1940, Edward Buzzell).20 Die Kalauer wiederum und die von Registern des Werbesprechs beeinflusste Sprache erinnern an Texte von Eisler und Brecht und spielen auch mit Aspekten der Verfremdung.21 Vor allem hinsichtlich der Frage, welcher Teil des Personals des Limonaden-Joes zu den ›Guten‹ und welcher zu den ›Bösen‹ zu zählen wäre, bleibt der Film ambivalent. Die Protagonisten und die Antagonisten, die (vermeintlich) Integren und die (vermeintlich) Korrupten, die Vetreter des Gesetzes und jene, die es brechen, die Kapitalisten und die Frömmler, die Alkoholiker und die Abstinenzler,22 Männer und Frauen, sind letztlich nicht nur alle gleich, sondern auch noch alle miteinander verwandt. Mit seinem ersten Spielfilm MUŽ Z PRVNÍHO STOLETÍ / DER MANN AUS DEM 1. JAHRHUNDERT hatte Oldřich Lipský bereits am Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele in Cannes 1962 teilgenommen.23 Es handelte sich um eine 19 Auf dem DVD-Cover heißt es entsprechend: »Eine Western-Parodie in Vari-Color«. Auf der Online-Datenbank des tschechoslowakischen Films werden folgende Genrebezeichnungen

genannt:

»Komödie,

Musical,

Western,

Abenteuer«,

http://www.csfd.cz/film/5991-limonadovy-joe-aneb-konska-opera/prehled/,

vgl. [letzte

Sichtung am 18.03.2020] 20 Peter Hames verweist auch auf eine Nähe zu B-Westerns von bspw. William S. Hart und Tom Mix und zu jodelnden Cowboys wie Gene Autry. Vgl. Hames: Czech and Slovak Cinema. Theme and Tradition, S. 50. 21 Die deutsche Synchronversion der DEFA liegt in einer Bearbeitung des Kabaretts »Die Stachelschweine« (mit Wolfgang Gruner, Edith Hancke und Günther Pfitzmann) vor, was diesen Eindruck wohl noch verstärkt. 22 Entsprechend der Genrekonventionen des Westerns handelt es sich bei den bezeichneten Figuren ausschließlich um Männer. Die beiden Frauen, die im LIMONADOVÝ JOE ANEB KOŃSKÁ OPERA / DER LIMONADEN-JOE ODER EINE PFERDE-OPER auftreten, be-

finden sich außerhalb dieser Beschreibungskategorien. 23 Vgl. den Wikipedia-Eintrag über ›Oldřich Lipský‹, https://de.wikipedia.org/wiki/Old% C5%99ich_Lipsk%C3%BD, [letzte Sichtung am 18.08.2020].

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satirische Zeitreisekomödie, die auf Motiven aus Wladmimir W. Majakowskis Stück Die Wanze beruht. Mit LIMONADOVÝ JOE ANEB KOŃSKÁ OPERA / DER LIMONADEN-JOE ODER EINE PFERDE-OPER bezieht sich Lipský erneut auf eine literarische Vorlage, diesmal auf den gleichnamigen Westerncomic von Jiří Brdečka, der in den 1940er Jahren in Zeitschriften veröffentlich wurde.24 Der Vorspann des Films, den ich im Folgenden beschreiben werde, ruft zweierlei auf: zum einen den Stummfilm mit seinen flackernden Bildern, zum anderen verschiedene Westerntraditionen, von der frühen Westernkomödie bis zum Italowestern. Eine Stimme aus dem Off begrüßt uns in Stetson City, ein Textinsert nennt uns die Jahreszahl 1885. »Dieser Film ist den rauhen Helden des Wilden Westens gewidmet, die das Unrecht hassten und das Recht schützten, ganz gleich ob mit Recht oder zu Unrecht.« Die männlichen Bürger von Stetson City prügeln sich wie jeden Tag im Trigger Whisky Saloon, die kurzen Trinkpausen sind dem Genuß des gleichnamigen Getränks gewidmet und jeden Abend tritt auch die speziell vom Saloonbesitzer heiß verehrte Tornado-Lou auf, die ihrerseits von einem Mann träumt, der »so gut aussieht, wie er schießen kann«. Besorgt um die Seelen der arizonischen Mitbürger treten Ezra Goodman und seine Tochter Winnifred auf, um den Männern von Stetson City den Verzicht auf Alkohol und ein abstinentes Leben schmackhaft zu machen. Obwohl viele der anwesenden Männer von Winnifreds jugendlicher Schönheit (klarer Kontrast zur verruchten Saloon-Attraktion, Tornado Lou) angezogen sind, stößt die Goodman´sche Mission auf nur mäßigen Erfolg. Ehe man sich´s versieht, hat sich schon ein Übeltäter auf die junge Winnifred gestürzt und möchte sie zwingen, ein Glas Trigger Whisky mit ihm zu trinken. Das ist der Moment des Auftritts des ›edlen Ritters‹ mit nicht nur sprichwörtlich weißer Weste, Limonaden Joe, dessen Anliegen, die Abstinenz der Bürger von Stetson City zu fördern (in Wahrheit aber der flächendeckende Vertrieb der Kolalokalimonade) ihn Vater und Tochter Goodman gleich sympathisch macht. Nachdem er in kürzester Zeit den Bösewicht entblößt, die Ehre von Winnifred wiederhergestellt, die Herzen letzterer und auch von Tornado Lou gebrochen und ein eloquentes Plädoyer für die gesundheitlichen Vorteile der Kolaloka Limonade gehalten hat, verlässt er den Saloon, nicht ohne den Vater Winnifreds mit der Aufgabe zu betrauen, einen Kolaloka Saloon zu eröffnen, in dem kein Alkohol serviert und nur Kolalokalimonade ausgeschenkt wird.

24 Vgl. Hames: Czech and Slovak Cinema. Theme and Tradition, S. 49.

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Abbildung 51: Limonaden-Joe in weiß

Quelle: Screenshot DER LIMONADEN-JOE (ČSSR 1964)

Der stets ganz in weiß gekleidete heldenhafte Limonaden-Joe, dargestellt durch den Schauspieler und Sänger Karel Fiala, der (ironischerweise) bis 1968 aktives Parteimitglied war, wird sich als kühl kalkulierender Geschäftsmann (und Kapitalist) herausstellen, dessen Heldenhaftigkeit immer eingesetzt wird, wenn er sich davon Profit verspricht. So ist ihm die leidenschaftliche selbstlose Liebe, die ihm Femme fatale Tornado Lou entgegen bringt unverständlich und er zieht ihr die einfältige Bauernschläue der selbst auf ihren Vorteil bedachten Winnifred vor, die herausfindet, dass er weniger der Retter der Geächteten ist, als vielmehr der Generalvertreter der Firma Kolaloka & Sohn. Ein Geschäftsmann, der 1.000 Dollar netto verdient und außerdem Anspruch auf eine Verkaufsprämie von 10% Brutto hat. Wenn sie seine Frau werden soll, verhandelt Winnifred wenig naiv, möchte sie 3% davon. Dem Glück steht aber noch einiges im Wege. Zum Beispiel der per Steckbrief gesuchte Bösewicht Hogofogo, dargestellt von Miloš Kopecký, der sich dem Saloonbesitzer als sein Bruder zu erkennen gibt (der Beweis für die Verwandtschaft ist das kreisrunde schwarze Mal am Unterarm) und der dem Limonaden Joe an den Kragen will, erstens um das Geschäft seines Bruders zu retten und zweitens, weil er seinerseits ein Auge auf unschuldige Schönheit Winnifred geworfen hat. Tornado Lou hingegen verzeiht ihrem Angebeten die Schmähung ihrer Liebe und die Bevorzugung von Winnifred nicht und schmiedet Rachepläne. In einem grotesken Showdown in Fatamorgana Valley tötet Hogofogo seinen Bruder, den Saloonbesitzer sowie Tornado Lou und schließlich auch den Limonaden Joe. Als Deus ex Machina taucht der Großunternehmer Mr. Kolaloka auf, der sich als Vater nicht nur des Limonaden Joe, sondern der ganzen Truppe herausstellt. Das schwarze Mal auf dem Arm tragen nämlich auch der Limonaden Joe selbst

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und Tornado Lou. Nachdem alle durch einen Schluck aus der Kolaloka Flasche wieder zum Leben erwachen, wird kurzerhand beschlossen, dass man in Zukunft ein gemeinsames Getränk vetreiben wird: Whiskey-Loca, das Getränk für Antialkoholiker und für Trinker gleichermaßen: »WhisKOLA. Die alkoholfreie, die alkoholische Limonade. Für Alkoholiker und Abstinenzler. Mach mal Pause, pack den Tiger in die Brause.« Während LIMONADOVÝ JOE ANEB KOŃSKÁ OPERA / DER LIMONADEN-JOE ODER EINE PFERDE-OPER als scheinbar unpolitischer Film bereits zu seiner Uraufführung in der Tschechoslowakei und in der DDR sehr erfolgreich war, genießt der Film heute fast schon ikonischen Status.25 Die ironische Grundstimmung des Filmes, der das gesamte filmtechnische Vokabular des Westerns sowie der musikalischen Komödie bedient, gründet darauf, dass er Westerngenre und Kapitalismus parodiert. In der Pointe der Story, liegt allerdings eine eigene Ironie, durch die sich der Film von seiner parodistischen Geste wieder entfernt. Linda Hutcheon hat Ironie als das Aufeinandertreffen zweier Bedeutungen beschrieben, von denen die eine ›ausgesprochen‹ wird und die andere ›unausgesprochen‹ bleibt: »Irony is not something in an object that you either ›get‹ or fail to ›get‹: irony ›happens‹ for you (or, better, you make it ›happen‹) when two meanings, one said and the other unsaid, come together, usually with a certain critical edge.«26

Die ›ausgesprochene‹ Bedeutung des Limonaden-Joes ist die system-konforme Parodie des Kapitalismus durch die subversive Umeignung eines kapitalistischen Genres (des Westerns) und einer kapitalistischen Figur (des Vertreters der Kolaloka-Limonade). Die ›unausgesprochene‹ Bedeutung wird meines Erachtens durch zwei Aspekte evoziert: auf formaler Ebene gibt sich der Film durch die zahlreichen Referenzen aus der amerikanischen und europäischen Film- und Westerngeschichte als Hommage zu erkennen, die von der Anerkennung dieser Geschichte getragen ist. Auf inhaltlicher Ebene sind wir mit einer Reihe von Figuren konfrontiert, die durchgehend ambivalent bleiben und die den parodistischen Gestus des Films immer wieder selbst parodieren bzw. unterlaufen. War es also möglich, LIMONADOVÝ JOE ANEB KOŃSKÁ OPERA / DER LIMONADEN-JOE ODER EINE PFERDE-OPER zur Zeit seines Erscheinens als unpolitische Genre-Parodie zu genießen, bietet der Film in seiner doppelt ironischen Wendung auch das Potential einer regimekritischen Lesart. Dass der Film heute immer wieder Bestandteil von Retrospektiven ist und sich nachhaltiger Beliebtheit erfreut, hängt eng mit der ironischen Rezeption des Films während des Sozialismus zusammen. Diese Re25 Hames: Czech and Slovak Cinema. Theme and Tradition, S. 49. 26 Hutcheon: »Irony, Nostalgia, and the Postmodern«.

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zeption wird nostalgisch erinnert und ermöglicht, ebenso wie die damalige Ironie, als »element of response« eine Ermächtigung gegenüber der eigenen Geschichte. Indem sie der binären Struktur der Ironie (das Gesagte und das Ungesagte) eine binäre Struktur der Nostalgie gegenüber stellt (Vergangenheit und Gegenwart), begreift Linda Hutcheon Ironie und Nostalgie als komplementäre Wahrnehmungsmodi: »Likewise, nostalgia is not something you ›perceive‹ in an object; it is what you ›feel‹ when two different temporal moments, past and present, come together for you and, often, carry considerable emotional weight. In both cases, it is the element of response – of active participation, both intellectual and affective – that makes for the power.«27

Inwiefern die nostalgische Aneignung des Film noir Genres in Borys Lankoszs Film REWERS / THE REVERSE ebenfalls als »element of response« lesbar wird, zeige ich im Folgenden. Fatale Umkehrung und produktive Aneignung. Film noir und Postsozialismus Ähnlich wie LIMONADOVÝ JOE ANEB KOŃSKÁ OPERA / DER LIMONADEN-JOE ODER EINE PFERDE-OPER bedient sich auch REWERS / THE REVERSE (PL 2008, BORYS LANKOSZ) eines Genres, das zunächst persifliert wird um in einem zweiten Schritt, den filmischen Text zu öffnen und Counterlektüren der Genrekonventionen sowie historiographischer Konventionen zu ermöglichen. Geschichte wird in REWERS / THE REVERSE zum Objekt der Verhandlung, und wie ich im Folgenden zeigen werde, der produktiven Aneignung. Die Kamera lenkt zunächst ihren Fokus auf die Linse des kinematographischen Projektors, in dem sie ihren eigenen Blick erkennt, schwenkt alsdann in den Zuschauerraum, um auf einer jungen Frau zu verweilen und zeigt uns schließlich in einem Following shot und aus leicht schräger Froschperspektive die Bilder auf der Leinwand. In der ersten Sequenz des polnischen Filmes REWERS / THE REVERSE (auf Deutsch ›die Kehrseite‹) von Borys Lankosz liegt ein dreiteiliges Versprechen: Erstens, zu zeigen, was hinter den Bildern liegt. Zweitens werden wir sehen, welche Wahrheit sich hinter den propagandistischen Archivbildern des Sozialismus verbirgt. Drittens werden wir die Absichten und das geheime Begehren der Zuschauer – und ganz speziell der Zuschauerinnen erkennen. Diese Geste einer Umkehrung des Kamerablickes impliziert, dass das Objekt Subjekt wird; was

27 Hutcheon: »Irony, Nostalgia, and the Postmodern«. (Kursiv L.H., Fett N.K.)

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wir sehen, wird was ›uns‹ sieht. »Die Orte, die wir sahen, sehen uns an«28 heißt es in dem Gedicht von Ilse Aichinger Stadtmitte in ihrem Buch Kurzschlüsse. Die österreichiche Schriftstellerin, die sich in vieler ihrer Arbeiten mit dem Kino beschäftigt hat29, könnte damit auf eine dynamisch-fragmentierte Erinnerung anspielen, die im Kinobild aufgehoben ist. Zurück in den Zuschauerraum, wo gerade ein Dutzend Zuschauerinnen und Zuschauer einen Propagandafilm sehen, der ein sportliches Ereignis dokumentiert, in dem die sozialistische Idee der kollektiven Sportausübung anklingt. In der nächsten Szene sehen wir wieder durch Archivbilder, die in die Diegese eingenäht sind und die Funktion eines Establishing Shot einnehmen, dass wir uns in Warschau befinden und zwar mitten im Kalten Krieg, 1952. Die Kamera schwenkt auf das Publikum und fokussiert eine junge Frau, die hinter ihren großen Brillen schüchtern wirkt. Ob sie sich für die ideologischen Aspekte des Propagandafilms ereifern kann, ist zu diesem Zeitpunkt noch ungewiss. Abbildung 52: Female Gaze

Quelle: Screenshot THE REVERSE (PL 2008)

Sie scheint jedoch – und dies wird durch eine subtile Änderung der Tonspur von intra-diegetischer zu extradiegetischer Musik angedeutet, an der Betrachtung der nackten männlichen Oberkörper Vergnügen zu finden: Während die sportlichstrammen Sozialisten zu einer fröhlich-harmlosen Orchestermusik aufmarschieren, erhalten sie durch die Jazzmusik (die zu dieser Zeit in Polen allerhöchstens 28 Ilse Aichinger: Kurzschlüsse. Wien: Edition Korrespondenzen 2001, S. 11. 29 Beispielsweise in dem autobiographischen Text Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben, in dem sie entlang der Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts die Geschichte ihrer Familie erzählt. Vgl. Ilse Aichinger: Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2001.

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auf dem Schwarzmarkt erhältlich war und die als subkulturelles Symbol des Kapitalismus den Feind des Sozialismus darstellt), die die innere Wahrnehmungswelt der Protagonistin darstellt, etwas Laszives und werden zum Objekt einer Begierde. Hier wird eine weitere Umkehrung inszeniert: jene nämlich des ›male gaze‹ wie ihn zuerst Laura Mulvey in den Studioproduktionen des Hollywoods der 1950er Jahre analysiert hatte. In REWERS / THE REVERSE wird die weibliche Protagonistin zur Trägerin des Blicks, während der männliche Körper auf dem Archivbild (und später auch der männliche Protagonist) zum Fetisch gerät. Die Rückkehr in die sozialistische Vergangenheit, zu der REWERS / THE REVERSE einlädt, ist eine Rückkehr in eine Vergangenheit, die sich jenseits der Aufzeichnungen der offiziellen Geschichtsschreibung befindet. »Wszystko ma drugą stronę«, auf Deutsch »Alles hat eine zweite Seite« heißt es im Untertitel des Films und diese andere Seite, die Counter-History, jene ›Story‹, die nicht im Blockbuster der Historiographie erzählt wird, soll Thema des Films sein. Soweit so üblich. Es scheint mir aber die filmische Form zu sein, die Lankosz für diese Geschichte gewählt hat, die überaus unüblich ist. Warum rekurriert ein polnischer Regisseur, geboren in den 1970er Jahren, um eine Geschichte zu erzählen, die in den 1950er Jahren passiert ist, auf das Genre des Film Noir, ein Genre, das wie kein anderes die existentielle Erschütterung und Verunsicherung einer vom Krieg traumatisierten Gesellschaft thematisiert? Ein Genre, das nachgerade als amerikanisches Genre bezeichnet werden kann, wenngleich seine Protagonisten und Protagonistinnen vorwiegend europäischen Ursprungs waren. Ein Genre, das außerdem die Anfänge des Kalten Krieges begleitet hat und oftmals narrativen Raum für antisozialistische Fantasien bot.30 Dieses Genre, das in REWERS / THE REVERSE ohne den Film gänzlich zu beherrschen eher wie eine Anspielung, ein Zitat, ein ›private joke‹ präsent ist, entkontextualisiert und entstellt die Bilder des Films (die profilmischen Bilder und die diegetisch verwendeten Archivbilder) auf eine Weise, die höchst produktiv ist und zu einer Neuevaluierung der historischen Handlungsfähigkeiten einlädt. Wie schon die klassische Plotstruktur des Film noir folgt auch REWERS / THE REVERSE der Logik einer Rahmenerzählung. Während der Gegenwart ein geringer Teil des Filmes zukommt (in Farbe), handelt der Großteil der Handlung in der Vergangenheit (in Schwarzweiß). Die Protagonistin Sabina, verkörpert von Agata Buzek, blickt aus dieser Gegenwart als alte Frau auf ihre Vergangenheit zurück und erinnert sich an jene signifikanten Ereignisse in ihrem Leben, die zur Ermordung eines Mannes und zur Geburt eines Sohnes führten. In der Gegenwart holt Sabina Letzteren, der nun in den USA lebt, mit seinem ›Boyfriend‹ auf dem 30 Beispielsweise I MARRIED A COMMUNIST (US 1949) von Robert Stevenson oder I WAS A COMMUNIST FOR THE FBI

(US 1951) von Gordon Douglas.

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Warschauer Flughafen ab. In der Vergangenheit begegnet sie seinem Vater. Im Warschau der 1950er Jahre arbeitet Sabina als Lektorin der Abteilung Lyrik in einem Warschauer Verlag und lebt mit ihrer Mutter (Krystyna Janda) und ihrer Großmutter (Anna Polony) in einer bürgerlichen Wohnung. Ihre Apotheke musste die Mutter schließen, weswegen sie dennoch nicht verbittert scheint. Wiewohl die drei Frauen eindeutig als Repräsentantinnen der Warschauer Intelligentsia gelesen werden können, kann eine regimekritische Haltung lediglich erraten werden. Die junge Sabina ist im stalinistischen Warschau zusammen mit ihrer Mutter und Großmutter vor allem damit beschäftigt, einen passenden Kandidaten für die Ehe zu finden. Während der Großteil der Kandidaten nach der ersten Runde (Kaffee und Kuchen im Hause Jankowska) bereits ausscheiden müssen, kommt der Märchenprinz (der weder ein Prinz ist, noch aus dem Märchen kommt) in einer dunklen Nacht des Weges daher. Sabina befindet sich gerade auf dem Nachhauseweg und wird von zwei Männern überfallen, die Bronisław (Marcin Dorociński), ohne lange zu fackeln, in die Flucht schlägt. Tochter, Mutter und Großmutter sind hingerissen vom geheimnisvollen Bronisław, der ein bisschen aussieht wie Humphrey Bogart. Da sprichwörtlich nicht alles Gold ist, was glänzt, stellt sich auch der ideale Mann letztlich als Agent der stalinistischen Geheimpolizei heraus. Eingeladen zum Kaffee in der Wohnung der drei Frauen wird er Sabina zuerst um ihre Hand bitten, sie alsdann auf dem Wohnzimmertisch vergewaltigen, um sie schließlich, da sie zwar in die Hochzeit, nicht aber in den Vorschlag einwilligt, den Abteilungsleiter der Lyrik-Abteilung zu bespitzeln, erpressen. Aus unerklärlichen Gründen kennt Bronisław nämlich das Familiengeheimnis und weiß auch, wo Sabina die illegal aufbewahrte Dollarmünze versteckt. Sabina, zunächst noch ganz das Gegenteil (oder eben die Kehrseite) der ›Femme fatale‹, reagiert radikal: sie verfällt in Panik und vergiftet Bronisław. Mit der Hilfe ihrer Mutter und ihrer Großmutter entledigt sie sich der Leiche (indem sie sie im Atelier des Bruders in der Badewanne auflöst) und versteckt die Gebeine des Geheimagenten unter dem Gerüst des Kulturpalastes, Inbegriff der Architektur des Realsozialismus (und Geschenk der Russen), der 1952 gerade in Warschau gebaut wird. Feminismus und Populärkultur statt Dissidententum In einer frühen Szene im Film vertraut Krystyna Janda als Mutter ihrer Tochter an, dass sie über den Besitz der »verbotenen« ausländischen Münze höchst besorgt sei. Indem er Krystyna Janda für die Rolle Agatas Mutter castete, die wie keine andere polnische Schauspielerin und als Fetischschauspielerin von Andrzej Wajda für eine Autorenästhetik der 1960er und 1970er Jahre steht, setzt Borys Lankosz ein interessantes Zeichen. In der Rolle der so lakonischen wie pragmatischen

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Apothekerin, die ganz im Gegensatz zu den emblematischen Rollen in CZŁOWIEK Z MARMURU (PL 1977) und CZŁOWIEK Z ŻELAZA (PL 1981)31 weder offen regime-

kritisch, noch überhaupt in irgendeiner Form politisch wirkt, setzt Janda jenen ungehörten und ungesehenen Frauen (und Menschen im Allgemeinen) ein Denkmal, die weder durch politischen Aktivismus in die Geschichte eingingen, noch als passive Mitläuferinnen und Mitläufer eines totalitären Systems gelten dürfen. Dem in Westeuropa so umfassend rezipierten männlichen Dissidenten und dem Diskurs eines vom westeuropäischen Film geprägten Autorenfilms setzt Lankosz den Genrefilm und eine weibliche Trias entgegen. Dies wird besonders in der Szene deutlich, wo Sabina den von ihr verehrten Dichter und Intellektuellen Marcel Łodzicki zu Kaffee und Kuchen einlädt. Als Teilnehmer am Warschauer Aufstand 1944 und als offener Systemgegner steht Łodzicki unter Druck. Möchte er sein Werk veröffentlicht sehen, sind gewisse (inhaltliche) Zugeständnisse nötig, von deren Sinnhaftigkeit ihn Sabina zu überzeugen versucht. Im Dialog klingen zwei historische Positionen an: 1. Jene des Dissidenten, des Intellektuellen, der sich nicht zu Kompromissen hinreißen lassen will und seiner Integrität verpflichtet bleibt. So sehr Sabina dieser Integrität Respekt und Bewunderung zollt, so sehr zeigt sie sich selbst ihrer Gegenwart (dem Leben, wie sie sagt) verpflichtet, indem sie vorsichtig an seinen Pragmatismus appelliert und ihm nahe legt, den Kompromiss zu suchen. Höchst ironisch erweist sich bei Borys Lankosz die schüchterne Verlagslektorin als zivilcouragierte Heldin im Kampf gegen die sozialistische Maschinerie, während der ihr moralisch überlegene Dichter es vorzieht, in die innere Emigration zu ziehen und damit in einer Lähmung zu verharren, die jede (regimekritische) Handlung a priori verunmöglicht.32 31 In Andrzej Wajdas politisch vielleicht wichtigsten beiden Filmen, mit denen Krystyna Janda als Schauspielerin erstmals auf sich aufmerksam machte, verkörperte Janda einen Frauentyp, der eine ganze Generation von Polinnen und Polen nachhaltig geprägt hat. Mit ihrer nervösen Neugier und mit ihrer Schlagfertigkeit und einer Arroganz, die auf der Vorannahme ihrer moralischen Integrität beruht, beeindruckt die Figur der »Agnieszka« – übrigens inspiriert durch die Schriftstellerin und Songtexterin Agnieszka Osiecka – auch heute noch durch ihre Modernität und die Absenz typischer Sexualisierungen. Vgl. Heinrich Kirschbaum: »1977: DER MANN AUS MARMOR / CZŁOWIEK Z MARMURU. Andrzej Wajda«, in: Christian

Kampköter; Peter Klimczak; Christer Peter-

sen (Hg.): Klassiker des polnischen Films. Marburg: Schüren 2015, S. 141-150. 32 Zur Rekonstruktion (oder Dekonstruktion) des westlichen Mythos des Dissidenten vgl. Slavoj Žižek: Did Somebody Say Totalitarianism? Five Interventions in the (Mis-)Use of a Notion. London/ New York: Verso 2 2011. In einer Analyse der kulturellen und politischen Persona des russischen Komponisten, Dmitri Dmitirjewitsch Schostakowitschs, der 1957 aufgrund des politischen Drucks Mitglied der kommunistischen

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In einer anderen Szene nach dem Mord an Bronisław sehen wir, wie die Bewohnerinnen und Bewohner Warschaus via Auto-Megafon über den Tod Stalins informiert werden. Lankosz verwendet hier Archivaufnahmen einer Schweigeminute in Warschau, in die er Bilder von Agata Buzek und Krystyna Janda montiert, die, als sie die Nachricht vernehmen, in einem Hauseingang verschwinden und in hysterischerleichtertes Lachen ausbrechen, das die Geburtswehen bei Sabina auslöst. Der Einsatz der Archivbilder hebt an dieser Stelle keineswegs auf eine Authentifizierung der Vergangenheit ab, sondern erlaubt Lankosz durch die Insertion anderer Bilder, die ursprüngliche Botschaft der propagandistischen Archivbilder zu modifizieren. Auf diese Weise werden die Archivbilder subvertiert, die Vergangenheit (und hier der konkrete Moment der öffentlichen Trauer über Stalins Tod) wird neu erzählt. Die Bilder erlauben den Bezug auf eine Vergangenheit, die in vielerlei Hinsicht traumatisierend, jedoch nicht ungebrochen totalitär und unterdrückerisch wahrgenommen wurde. Nostalgische Aneignung In den Konzeptualisierungen und Ausformulierungen der postkommunistischen Nostalgie von Maria Todorova und Zsuzsa Gille, der »Nostalgie für die Zukunft« wie sie Svetlana Boym mit ihrer Figur der »reflektiven Nostalgie« fassen will, treten immer wieder zwei grundsätzliche Überlegungen zutage. Dass Nostalgie nämlich als Referenzrahmen gefasst werden muss, der für das Verständnis des Kalten Krieges produktiv gemacht werden kann und dass die Sehnsucht der Nostalgie jenem utopischen Potential der unrealisierten Träume und Visionen der Vergangenheit mehr gilt als der Vergangenheit selbst.

Partei wurde und der im Westen als ›closet dissident‹ galt, zeigt Žižek, dass die das Prinzip des ›closet dissident‹ das Funktionieren der gesamten kommunistischen Nomenklatura sozusagen garantierte. In gewohnt provokativer Weise schreibt Žižek auf den Seiten 124-125: »Unfortunately, the notion of a ›closet dissident‹ is an oxymoron: the very essence of a dissident act is that it is public; like the proverbial child von Andersen’s ›The Emperor’s New Clothes‹, it says openly, to the big Other, what others only privately whisper about. So it is Shostakovich’s very inner distance towards the ›official‹ Socialist reading of his symphonies that makes him a prototypical Soviet composer – the distance is constitutive of ideology, while authors who fully (over)identified with the official ideology, like Alexander Medvedkin, the Soviet filmmaker portrayed in Chris Marker’s documentary THE LAST BOLSHEVIK, run into trouble. Every Party functionary, right up to Stalin himself, was in a way a ›closet dissident‹, talking privately about themes prohibited in public.« (Hervoherbung, N.K.)

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»Nostalgia is not always about the past, it can be retrospective but also prospective. Fantasies of the past determined by need of the present have a direct impact on realisties of the future.«33

Diese utopische Nostalgie, die die Vergangenheit als dynamische Einheit begreift, liegt den Bildern von REWERS / THE REVERSE meines Erachtens ebenso zugrunde wie der Entscheidung des Regisseurs, ein Filmgenre zu wählen, das das klassische Kinozeitalter evoziert. In ihrem Buch zitiert Boym eine russische Redewedung, nach der die Vergangenheit noch unvorhersehbarer geworden sei als die Zukunft. Diese unvorhersehbare Vergangenheit rufen die Bilder von REWERS / THE REVERSE immer wieder auf und an. Genre-Entortungen Die ausführlich beschriebenen Einstiegssequenzen der beiden Filme verfolgen widersprüchliche Strategien. Sie rufen mit einer deutlich am Western bzw. am Film Noir orientierten Mise-en-scène den semantischen Raum des jeweiligen Genres auf, um es durch den Auftritt des Protagonisten bzw. der Protagonistin zu unterlaufen. Im Saloon ist ein Konflikt zwischen Winnifred und einem der brutalen Säufer ausgebrochen, der sie zwingen will, ein Glas Whisky zu trinken, als die Stimme des Limonaden-Joe aus dem Off zu hören ist: »Und für mich ein Glas Kolaloka Limonade.« In der nächsten Einstellung in LIMONADOVÝ JOE ANEB KOŃSKÁ OPERA / DER LIMONADEN-JOE ODER EINE PFERDE-OPER sehen wir ihn in einem klassischen Western-Frame. Die Erscheinung des weiß gekleideten Limonaden-Joe, der im Salooneingang steht, erhellt den dunklen und sepia gefärbten Raum.34 Die in dieser Sequenz durch die filmtechnischen Mittel evozierte Erwartungshaltung des Publikums wird durch das Benehmen des Limonaden-Joes gestört. Nicht nur bestellt er an der Bar Limonade, er hält auch einen Vortrag über die Vorteile des Verzichts auf Alkohol und er scheint lieber Limonade zu trinken, als sich für eine der beiden im Sallon anwesenden Frauen zu entscheiden. Die Inszenierung des Auftritts von Sabina in REWERS / THE REVERSE verläuft ähnlich. Mit dem Einsatz der Jazz-Musik und der plötzlich veränderten (sexualisierten) Perspektive auf die Männerkörper des Propagandafilmes, ruft der Film das Genre des Film noir auf. Statt eine Femme fatale präsentiert uns REWERS / THE REVERSE jedoch zunächst einmal eine hoch geschlossene, schüchterne und neurotisch 33 Boym: The Future of Nostalgia, S. XVI. 34 Vgl. die Analyse der Bedeutung der Schwelle (Tür und Leinwand) in THE SEARCHERS (US 1956, John Ford) von Thomas Elsässer und Malte Hagener. Thomas Elsässer, Malte Hagener: Filmtheorie. Zur Einführung. Hamburg: Junius 2007.

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wirkende junge Frau, deren instimste Wünsche ihr deutlich ins Gesicht geschrieben sind. Abbildungen 52, 53: (Anti-)Genre-(Anti-)Helden

Quelle: Screenshots DER LIMONADEN-JOE (ČSSR 1964), THE REVERSE (PL 2008)

Auch die Antagonisten in den beiden Filmen halten nicht das, was sie versprechen. Der Bösewicht Hogofogo, der in einer stark an den Italowestern erinnernden Sequenz (Nah- und Detailaufnahmen, schnelle Schnitte zwischen den Gesichtern, bis hin zur italienischen Einstellung, in der nur doch die Augen einer Person die Leinwand füllen) eingeführt wird, ist im Grunde weniger ein Cowboy als ein Zauberer, der sein Gegenüber weniger mit dem Einsatz von Waffengewalt als mit zirkushaften Tricks zu bluffen versucht. Sabinas Verehrer Bronisław, der in seiner Haltung und Kostümierung die Starpersona Marlowe/ Bogart35 evoziert, stellt sich als schmieriger und gewissenloser Geheimagent heraus, der Sabina zunächst in die Irre führt, um sie schießlich zu erpressen. Das DF 10 Lemonade Reverse konstruiert filmische Räume, die in einem ersten Schritt innerhalb von Genretraditionen verortet werden, um in einem zweiten Schritt mittels spezifischer narrativer und filmtechnischer Erzählstrategien wieder aus ihrem Genrekontext entortet zu werden. DF 10 Lemonade Reverse schlägt einen Perspektivenwechsel vor, der nicht nur die Grenzen der Genres auslotet, sondern auch die Szenerien des (Post-)Sozialismus in neuem Licht erscheinen lassen.

35 Humphrey Bogart hat mit seiner Philip Marlow-Verkörperung in THE BIG SLEEP (US 1947, Howard Hawk), die Figur des Privatdetektivs Marlow als hartgesottener ›tough guy‹ mit sentimentaler Schlagseite geprägt. Vgl. Alain Silver; James Ursini; Paul Duncan (Hg.): Film Noir. Köln: Taschen 2013, S. 157.

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7.2 DOUBLE FEATURE 11 – DANK EUCH DIE WELT »Danke für die Hölle und für das Paradies, ich kenne beide. Dank Euch.« DIKY VÁM / DANK EUCH »Aber wohlgesinnte Menschen gibt es viele und ich glaube fest daran, dass die Welt nicht untergehen wird, dank ihnen.« DZIWNY JEST TEN ŚWIAT / DIE WELT IST SELTSAM

Stars des (Post-)Sozialismus Das letzte filmische Paar im DF 11 Dank Euch die Welt ist dem Vergleich zweier osteuropäischer Ikonen der Populärkultur gewidmet, der tschechoslowakischen Chanson-Sängerin und Schauspielerin Hana Hegerová, die 20 Jahre lang mit einem Aufführungsverbot belegt war. Und dem polnischen Popsänger und Komponisten, Czesław Niemien. Mit dem Vergleich zweier vom tschechoslowakischen und vom polnischen Fernsehen produzierten Musikclips soll auch die aktuelle Verbreitung und Diskussion dieser Clips über das Internet (vornehmlich Youtube) in den Blick kommen und die Frage beantwortet werden, inwiefern darin ein nostalgischer Zugriff postsozialistischer Medien auf sozialistisches Fernsehen zu erkennen ist. Anikó Imre beschreibt mit Blick auf das Fernsehpublikum der 1960er und 1970er Jahre, dass sie sich in einem Verhältnis der ironischen Überidentifikation mit dem Fernsehprogramm befänden, während Fernsehnutzerinnen und –nutzer ab den 1990er Jahren eben jene Programme, die sie in ihrer Kindheit durch die Augen der Eltern ironisch rezipiert haben, nun nostalgisch rezipieren. Im DF 11 Dank Euch die Welt treten Hana Hegerová und Czesław Niemen in einen unwahrscheinlichen Dialog. Einen Dialog, der zwischen den beiden symbolischen Figuren der historischen Zeit des Prager Frühlings, höchstwahrscheinlich niemals stattgefunden hat. Hana Hegerová machte ihre ersten Schritte auf der Theaterbühne im Umfeld der Laterna Magika Akteure und des Semafor Theaters von Jiří Suchý und Jiří Šlitr. Peter Hames hat gezeigt, dass sowohl die von Alfréd Radok36 für die

36 Alfréd Radok (1914-1976) war als Theater- und Filmregisseur tätig. Mit seinem experimentellen, expressionistischen Film DALEKÁ CESTA / DISTANT JOURNEY (ČSSR 1949) zeichnete er sich für den ersten und für lange Jahre den einzigen Film in der Tschechoslowakei verantwortlich, der die Verfolgung der Juden durch die Nationalsosialisten zum Thema hatte. Auch sein Einfluss auf die filmische Ästhetik der 1960er Jahre ist heute noch kaum ausreichend evaluiert. Vgl. Hames: The Czechoslovak New Wave; Hames: Czech and Slovaq Cinema: Theme and Tradition.

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Weltausstellung in Brüssel (1958) entwickelte Laterna Magica Show37 als auch das sich auf das Komikerduo der 1920er Jahre, Jan Werich und Jiří Voskovec, berufende Prager Semafor Theater die Entwicklung der ›Nová Vlna‹ in der Tschechoslowakei gewissermaßen vorgespurt haben.38 Die Musik von Jiří Suchý und Jiří Šlitr griff einerseits den surrealistischen und dadaistischen Einfluss von Werich und Voskovec aus der Zwischenkriegszeit auf und verband dieses kulturelle Erbe mit Entwicklungen der englischsprachigen Popmusik der 1960er Jahre. Der tschechische Film wiederum zollte dem Semafor Theater in diversen Musikfilmen Tribut. Peter Hames nennt KDYBY TISÍC KLARINETŮ / IF A THOUSAND CLARINETS (ČSSR 1964) von Ján Roháč und Vladimír Svitáček als Beispiel für eine solche Hommage und beschreibt den Film folgendermaßen: »Basically, it was a string of musical numbers, but it had all the enthusiasm and the verve that characterised some of the best Hollywood musicals of the 1940s. It was linked to a pacifist theme that examined reactions to the mysterious transformation of Army weapons into muscial instruments.«39

In KDYBY TISÍC KLARINETŮ / IF A THOUSAND CLARINETS (ČSSR, 1964) traten neben Jiří Suchý, Jiří Šlitr, Hana Brejchová, Jiří Menzel und Hana Hegerová auch noch die Sänger Karel Gott und Waldemar Matuška und die Sängerin Eva Pilarová auf. Obwohl Hana Hegerová selbst nicht als Autorin oder Komponistin in Erscheinung trat, kam sie als Schauspielerin und vor allem als Interpretin sehr gut beim Publikum an und war in den 1970er Jahren mit tschechischen Coverversionen von Chansons von Jacques Brel, Leo Ferré, Charles Aznavour (aus dem Tschechischen übersetzt durch den Drehbuchautor und Dramaturgen Pavel Kopta) sehr erfolgreich. Auf Auftritte an tschechoslowakischen Bühnen folgten Gastspiele in fünfzehn Ländern, unter anderen Frankreich, Deutschland, Österreich und der 37 Der Erfolg der Weltausstellung von 1958 konnte bei der Expo 67 in Montreal wiederholt werden. Peter Hames zitiert Miloš Forman, der Laterna Magica wie folgt beschreibt: »Laterna Magica used multiple projections, cinemascope, a ›live‹ stage, and stereophonic music; so it was really kind of a cybernetic machine one had to keep one´s eye on all the time.« Über Radok sagt Forman: Er war »such a genius that at a time when we were forced to talk about nothing, he discovered how to do it so it was enjoyable.« Miloš Forman in Antonín J. Liehm: The Miloš Forman Stories. New York: International Arts and Sciences Press 1975, S. 28, zitiert nach Hames: The Czechoslovak New Wave, S. 26. 38 Vgl. ebd. 39 Vgl. ebd.

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Schweiz. Hegerová sang in ihrer Muttersprache Slowakisch und auf Tschechisch, aber auch auf Französisch, Englisch, Ungarisch, Deutsch und Jiddisch. 1968 kam das vorläufige Ende dieser internationalen Karriere. Mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes und dem Ende des Prager Frühlings folgten für Hegerová Auftrittsverbote im In- und Ausland sowie eine halbjährige Inhaftierung.40 Später war sie bis 1989 im Prager Theater Na Zabradli (dt. ›am Geländer‹) tätig. Heute ist Hana Hegerová 85 Jahre alt: ihren 72. Geburtstag 2003 hat sie mit einem Auftritt im Prager Nationaltheater gefeiert, das innerhalb von einer Stunde ausverkauft war. Czesław Niemen (1939-2004) kann man als einen der bekanntesten und originellsten Vertreter der polnischen Popmusik bezeichnen, wobei sein Können sich nicht allein auf Popmusik beschränkte und er auch als Komponist zeitgenössischer klassischer Musik mit Enflüssen aus dem Bereich des Jazz und der Experimentalmusik in die Musikgeschichte einging. Niemen verbindet in seinen unkonventionellen psychedelischen Kompositionen Religiosität, Patriotismus und den Sound der Beat Generation. Als Leadsänger der Band Niebiesko-Czarni (auf Deutsch ›Blau-Schwarz‹) trat er in Polen, Ungarn, Yugoslawien und in Frankreich, in der Konzerthalle Olympia in Paris, auf. Im Januar 1964 stand Niemen mit seiner Band als Vorprogramm zu einem Konzert von Marlene Dietrich auf der Bühne, die in der Folge einen Song von ihm aufnahm.41 Nachdem die Band Niebiesko-Czarni sich aufgelöst hatte, gründete Niemen die Band Akwarele. Für das erste Album von Akwarele und den gleichnamigen Song Dziwny jest ten świat (auf Deutsch: ›Seltsam ist diese Welt‹) erhielt Niemen mehrere Preise auf dem renommierten polnischen Opoler Musikfestival.42 Der hier besprochene Song, der einer der größten Hits im Polen der 1960er Jahre war und als Protestsong des Jahres 1968 gilt, steht am Beginn seiner Karriere.

40 Vgl. den Wikipedia-Eintrag über ›Hana Hegerová‹, https://de.wikipedia.org/wiki/Hana _Hegerov%C3%A1, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 41 Der Song heißt im Original »Czy mnie jeszcze pamiętasz?« (Auf Deutsch ›Erinnerst du dich noch an mich?‹) In der deutschen Version, die Marlene Dietrich sang, hieß der Song: »Mutter, hast du mir vergeben?« 42 Vgl. Maciej Sienkiewicz, ›Czesław Niemen‹, (Juli 2010). Abrufbar auf http://culture.pl/pl/tworca/czeslaw-niemen, [letzte Sichtung am 18.03.2020].

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Schuss: Appell der Einzelnen Eine Frau, gehüllt in einen schwarzen Mantel und mit Mütze – wir sehen sie in einer Medium Close Up Aufnahme mit leichter Aufsicht – bewegt sich geisterhaft (auf einem fahrbaren Untersatz) durch das winterliche Prag.43 Sie singt die tschechische Version eines Chansons von Gilbert Bécaud mit dem Titel »Ich danke euch!«44 Abbildungen 54, 55: Hana Hegerová vs. Czesław Niemen

Quelle: Screenshots MEIN DANK (ČSSR 1968), SELTSAM IST DIE WELT (TVP 2 1967)

43 Der Youtube-User CS klipy hat den Musikclip am 2. März 2014 unter dem Titel »1968 Hana

Hegerová



Můj

dík«

veröffentlicht.

Vgl.

https://www.youtube

.com/watch?v=VrosUjyx8bQ, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 44 Text des Chansons »Mein Dank« auf Deutsch: »Ein Wissenschaftler kann den Nobelpreis gewinnen, aber welchen Rang kann man Menschen wie euch verleihen? Dafür, dass der verirrte Fußgänger den Weg zu uns gefunden hat. Dafür, dass sie die alte Kirche nicht zerstört haben. Dank euch, nur dank euch, dafür Dank, mein Dank. Dafür, dass du Pappeln pflanzt, obwohl du eigentlich schon zu alt dafür bist. Für das Lachen, das aus der Schule dringt, wenn der Lehrer sich geirrt hat. Für den Blues in Tennessee und für die gestrige Sause. Für das Schiff, das aus dem Hafen von Odessa ausfährt, wer weiß wohin. Ich danke euch, nur dank Euch, ich danke euch, mein Dank. Danke für den privaten Unterschlupf, danke für dein Lachen und deine Stimme. Danke für alle Minuten, die uns die Zeit streut. Danke für das Schwalbennest. Danke auch für die Glücksspiele. Danke für den aufrichtigen Blick in die Augen, ich verzweifle nicht, nur dank euch, ich danke euch allen, mein Dank. Danke Chaplin und Picasso, danke Pasternak. Danke auch dafür, wie ich bin, danke für den Regen aus der Wolke. Danke, dass mir das Wasser in den Kragen gelaufen ist, danke für nicht nur einen Kratzer. Danke für das Paradies und die Hölle, ich kenne sie beide, nur dank euch, ich danke euch, mein Dank!« (Übersetzung aus dem Tschech., N.K.)

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Durch die Kontrastmontage sehen wir die Adressatinnen und Adressaten des von Hegerová pathetisch deklamierten Dankes. Es sind Frauen und Männer, Kinder und Jugendliche, es sind Menschen in und aus Prag. Die Fußgänger und Fußgängerinnen, die in der Totale, im Medium Close-Up und im Close-Up in leichter Untersicht photographiert sind, scheinen dem Dank der Sängerin nichts zu entgegnen zu haben, sie werden vielmehr scheinbar unfreiwillige Zeugen und Zeuginnen eines Spektakels, das sie, wenn sie es nicht gerade missbilligen, so doch völlig ratlos macht. Am Ende des 2,09 minütigen Clips sehen wir Bilder von einstürzenden Häusern und Strommasten. Das erschüttert Hana Hegerová aber nicht, die weiter singend ihren Dank verkündet und durch die Kontrastmontage wie ein Phönix wirkt, der aus der Asche steigt. Bei MŮJ DÍK / MEIN DANK handelt es sich um einen von fünf Clips eines Filmrezitals mit dem Titel CO NIKDY NEPOCHOPÍM – WAS ICH NIE VERSTEHEN WERDE (ČSSR 1968) produziert von den Barrandov Filmstudios in der Regie und Drehbuch von Ján Roháč, Kameraführung von Miroslav Ondříček, dem späteren Kameramann Miloš Formans, und künstlerische Gestaltung von Ester Krumbachová45. Für die Übersetzungen der Chansontexte zeichnen sich Pavel Kopta, Petr Rada und der bereits genannte Jiří Suchý verantwortlich. Uraufgeführt wurde das Rezital im tschechoslowakischen Fernsehen im Jänner 1969. Diese fünf Chansons, die im Vorspann als ›Volkslieder‹ bzw. ›Lieder über das Glück des Volkes‹ bezeichnet werden, haben durchweg nichts Folkloristisches. Vielmehr handelt es sich um Übersetzungen von Chansons von Gilbert Bécaud und Jacques Brel, um Liebeslieder und um Chansons, scheinbar gänzlich ohne politischen Inhalt. Dennoch dürfte die Bezeichnung ›Lieder über das Glück des Volkes‹ nicht zufällig erfolgt sein. Zwischen den Musikclips rezitiert Hana Hegerová, weiß gekleidet und in einer Art Gewächshaus sitzend, von den Liedtexten inspirierte kurze Gedichte und Texte, in denen es um zwischenmenschlichen Beziehungen und um allgemeinmenschliche Fragen geht. Die Texte fallen durch ihre Metaphorik und ihren kaum verhaltenen Pathos auf. Während Hegerová die Chansons im Freien (winterliche Landschaften) bzw. in einer Kirche singt, spricht sie die Texte im Haus. So karg die Einrichtung des Wintergartens ist, in dem sich Hegerová 45 Ester Krumbachová war als Mitarbeiterin (Mise-en-scène, Drehbuch, Kostüme) in die Realisation einer Reihe der erfolgreichsten Filme der ›Nová Vlna‹ eingebunden. U.a.: MUŽ Z PRVNÍHO STOLETÍ / DER MANN AUS DEM 1. JAHRHUNDERT (ČSSR 1962, Oldřich Lipský), DÉMANTY NOCI / DIAMANTE DER NACHT (ČSSR 1964, Jan Němec), O SLAVNOSTI A HOSTECH / VOM FEST UND DEN GÄSTEN (ČSSR 1966, Jan Němec), AT’ ŽIJE REPUBLIKA / ES LEBE DIE REPUBLIK (ČSSR 1965, Karel Kachyňa), SEDMIKRÁSKY

/ TAUSENDSCHÖNCHEN (ČSSR 1966, Věra Chytilová), VŠICHNI DOBŘÍ

RODÁCI / ALLE GUTEN LANDSMÄNNER

(ČSSR 1968, Vojtech Jasný).

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aufhält, so sehr sticht doch das bürgerliche Interieur (das Porzellan, die Schuhe Hegerovás mit auffällliger Brosche) hervor. Folgende fünf Lieder gehören zum Recital CO NIKDY NEPOCHOPÍM – WAS ICH NIE VERSTEHEN WERDE: Lásko prokletá (Ne me quitte pas, Jacques Brel/ Pavel Kopta), Cesta (Pavel Kopta), Lásko má (La chanson des vieux amants, Jacques Brel/ Pavel Kopta), Blázen a ditě (Jiří Suchý), Kázání v kapli Betlémské (Petr Hapka/ Petr Rada), Díky Vám (Merci beaucoup, Gilbert Bécaud/ Pierre Delanoë/ Pavel Kopta)46. Für das letzte Chanson erst wechselt Hegerová von der ländlichen Kulisse in die Stadt. Bei der ersten Sichtung des Musikclips MŮJ DÍK / MEIN DANK, die gleichsam am Beginn dieses Dissertationsprojektes steht, las ich den filmischen Text (inkl. des Liedtextes) im Zeichen einer stellenweise in Sarkasmus übergehenden Ironie. Hat Sergej Eisenstein die Kontrastmontage zunächst zur Herstellung von Affekt und zur Wachrüttelung des Publikums genutzt, nutzt Roháč sie ironisch. Die pathetische Anrufung »Ich danke euch« von Hegerová gilt dem kleinen Mann und der kleinen Frau, dem Proletariat. Sie gilt jenen Menschen, die nicht »wie ein Wissenschaftler«, so heißt es im Liedtext, »den Nobelpreis erlangen können« und die dennoch Großes leisten: »einem Verirrten den Weg zu weisen«, nämlich, oder »einen Unterschlupf und Nähe anbieten«, »einen aufrichtigen Blick in die Augen«. Der Kontrast zwischen der deklamatorischen Anrufung der 1968 bereits berühmten Sängerin (als Individuum) und der gleichgültig starrenden, scheinbar willenlos durch den Straßenverkehr kanalisierten Menschenmenge (als Masse) ist greifbar. Was will dieser Kontrast? Wenn er sich tatsächlich als Ironie auflösen lässt, könnte er eine Kritik verbergen: »Mit Menschen wie euch ist keine Revo-

46 Der Text der von Gilbert Bécaud geschriebenen Originalversion des Chansons lautet ähnlich. Die nicht ins Tschechische übersetzten Passagen hebe ich hervor: »Pour Monsieur le savant, savant, qui a le prix Nobel, pour les autres qui dans cent ans nous rendront éternels, pour l'avion qui dans le brouillard retrouve son terrain, pour la joie de dire le soir »à demain!«: merci bien, merci beaucoup, oh oui. Pour ceux qui très tôt le matin s'en vont de leur banlieue, et pour toi qui plantes un sapin bien que tu sois très vieux, pour le noir qui chante à Saint-Louis, pour le rouge à Moscou, pour le riz du petit Hindou qui a faim: merci bien, merci beaucoup, oh oui. Pour Chaplin et pour Picasso, pour Molière et Shakespeare, pour les intelligents, les sots, les meilleurs et les pires, pour le diable et pour le bon Dieu qui s'entendent si bien, pour tes dents et pour tes cheveux, et pour rien: merci bien, merci beaucoup, oh oui. Pour les secondes et pour les heures que nous jette le temps, pour l'enfant qui rit ou qui pleure, mais qui est bon enfant, pour la fille qui va donner son premier cri d'amour, pour le fils qui prend le chemin qui retourne: merci bien, merci beaucoup, merci beaucoup.«

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lution möglich!«47 Vielleicht steckt auch eine Warnung dahinter, ein Appell: »Werdet doch zu diesen Menschen, denen ich danken wollen könnte, für die ich durch Himmel und Hölle gehe.« In diesem Fall agiert die beliebte slowakische Intellektuelle gewissermaßen als personifizierte Stimme des Gewissens. In dieser Kritik ist natürlich auch eine gewisse Asymmetrie bzw. Hierarchie angelegt: auf der einen Seite die Grande Dame des tschechoslowakischen Chansons, die Intellektuelle, auf der anderen Seite das dumpfe Volk. Gleichzeitig gehört sie nicht zu den (zumeist) männlichen Akteuren der kulturpolitischen Szene, sie ist vielmehr Projektionsfläche einer bestimmten osteuropäischen intellektuellen Elite, Aushängeschild und Sprachrohr paneuropäischer, prowestlicher Fantasien, einer gemeinsamen gegen den eigentlichen Osten (und in Verlängerung des Orient) abgegrenzten Kultur. Zu ihrem Repertoire gehören Chansons eines westlichen kulturhumanistischen Erbes von Jacques Brel und Jacques Prévert sowie Bertolt Brecht und Kurt Weill. Ebenso unschuldig, beinahe einfältig gibt sich auf den ersten Blick der Song von Czesław Niemen, der eine Ballade auf eine bessere Welt ist, in der nicht Hass und Verachtung regiert, sondern in der die Menschen einander unterstützen. Eine Fernsehaufzeichnung aus dem Polnischen Fernsehen TVP 2 von 1967.48 Der Moderator kündigt aus dem Off die nächste Nummer an: »Seltsam ist die Welt. Musik: Czesław Niemen, Text: Czesław Niemen, Gesang: Czesław Niemen.« Wir sehen kleine Mädchen in folkloristischer Tracht mit Blumensträußen von der Bühne weglaufen.49 Niemen bezieht vor einer reflektorischen runden Platte und hinter einem Standmikrofon Stellung, links davon sieht man das Orchester, ein paar Musiker hat Niemen selbst mitgebracht, sie sind vor dem Orchester positioniert und heben sich von der folkloristischen Inszenierung des Fernsehformates insgesamt ab. Ganz in weiß, in eine Art Tracht gekleidet, lässt Niemen mit Pilzkopf seine (vom Playback kommende) charakteristische Stimme ertönen. »Seltsam ist die Welt«, singt er und der Auftritt mutet prophetisch an, »in der es noch immer viel Böses gibt.«50 In der Musik klingen bluesige Noten an, man denkt an 47 Vor diesem Hintergrund scheint die Ironie der Geschichte doppelt grausam, fand die Revolution doch nur wenige Zeit später unter beträchtlichem Blutzoll statt. 48 Der Youtube-User Mindowe veröffentlichte den Clip am 27. März 2014 unter dem Titel »Czesław Niemen – Dziwny jest ten świat (Sopot 1967)« und schreibt dazu, dass Niemen für den Song am 20.12.1968 die erste Goldene Schallplatte in der polnischen Popgeschichte erhielt. Der Clip wurde 2 410 202 Mal angeklickt. Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=3aRz0IVMuW8, [letzte Sichtung am 18.03.2020]. 49 Aus der Aufnahme geht nicht hervor, ob sie zur vorangehenden Nummer gehören. 50 Text auf Deutsch: »Seltsam ist die Welt, in der es noch immer viel Böses gibt. Und seltsam ist auch, dass sei so vielen Jahren der Mensch den Menschen verachtet. Seltsam

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eine Coverversion von Tom Jones, »This is a man´s world«, oder von Roy Orbison oder Bob Dylan. Tatsächlich handelt es sich um ein Original. Die Live-Aufnahme des Auftritts von Niemen, der im Konstrast zu seiner pathetisch-brechenden Stimme (und zum Unterschied von Hegerová) beinahe unbeteiligt wirkt und kaum ins Publikum sieht, wird wie im Clip MŮJ DÍK / MEIN DANK mit Aufnahmen von Passantinnen und Passanten auf der Straße montiert und auch hier scheint die Montage den Liedinhalt als einen Appell an den kleinen Mann und die kleine Frau von der Straße auszulegen, die einerseits die »wohlgesinnten« Menschen verkörpern, in die Niemen all seine Hoffnung gesetzt hat, aber andererseits möglicherweise auch gerade die Vetreter und Vertreterinnen jener Welt darstellen, die von Hass und Verachtung geprägt ist. Während beim Barrandov-Clip die Bilder aber direkt mit dem Ton und dem Textinhalt korrespondieren, was teilweise komische Effekte zeitigt – wenn Hegerová für den aufrichtigen Blick in die Augen dankt und ihrem Dank die Aufnahme des gelangweilten Blicks eines jungen Mädchens gegenübergestellt wird, ist die Montage bei DZIWNY JEST TEN ŚWIAT / SELTSAM IST DIE WELT weniger ausgefeilt. Nicht jeder Schnitt ist als Reaction Shot lesbar. Gegenschuss: Schweigen der Massen? Der stärkste Kontrast zwischen den beiden Musikclips besteht in der Auswahl der Menschen, die in den beiden Musikclips gezeigt werden. Während es sich bei Hegerová um ältere Menschen handelt, die in der Mittagspause in der Kantine oder in relativ statischen Situationen wie auf der Straßenbahnhaltestelle gezeigt werden, sind die Menschen bei Niemen in Bewegung. Es handelt sich um junge, im Stil der 70er Jahre modisch gekleidete, fröhlich lachende Menschen. Viele von ihnen essen Eis und blicken direkt in die Kamera. Was bei Hegerová ironisch oder gar sarkastisch anmutet, ist bei Niemen hoffnungsvoll. Der Clip spricht die junge Generation an, was auch erklären mag, dass sich der Song zu einem sehr erfolgreichen Protestsong der Generation 1968 entwickelt hat.

ist die Welt, die Welt der menschlichen Angelegenheiten. Manchmal schäme ich mich, es zuzugeben, aber es geschieht doch immer noch, dass jemand mit bösen Worten tötet wie mit einem Messer. Dennoch: es gibt gute Menschen und ich glaube fest daran, dass die Welt niemals untergeht, dank ihnen. Nein, nein, nein, nein! Die Zeit ist gekommen und es ist höchste Zeit, den Hass in sich zu zerstören.« (Übersetzung aus dem Poln., N.K.)

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Abbildungen 56, 57: Menschen auf der Straße in der Tschechoslowakei und in Polen

Quelle: Screenshots MEIN DANK (ČSSR 1968), SELTSAM IST DIE WELT (TVP 2 1967)

Unter dem Titel »Czesław Niemen: Dziwny jest ten świat. Best Full Version«51 kursiert ein weiterer Clip auf Youtube. Der Clip dauert 3,30 min und ist damit rund 20 Seunden längert als der Clip mit der Fernsehaufzeichnung des Songs. 3,07 min des Clips entsprechen der Länge der Aufnahme der Fernsehsendung, die in den Clip montiert wurde. An den Anfang und das Ende des Clips sehen wir Photos von Niemen montiert, die ihn in verschiedenen Posen etwas älter und bereits auf dem Zenith seiner Karriere zeigen. Interessanterweise befinden sich im Teil des Live-Auftritts an der Stelle der Konstrastmontage andere Bilder als im ersten Clip. Es handelt sich zwar ebenfalls um Bilder von Passantinnen und Passanten, Fußgängerinnen und Fußgängern in einer urbanen Szenerie, allerdings sind die Bilder jenen im Clip Hegerovás ähnlicher, da es sich vorwiegend um ernste Gesichter und um ältere Menschen handelt. An das Ende des Clips wurden Aufnahmen von Soldaten montiert, die wie bei Hegerová die zusammenstürzenden, einbrechenden Häuser auf eine aus dem Ruder laufende Welt zu verweisen scheinen und die zur Revolution aufrufen. Leider ist der chronologische Zusammenhang zwischen den beiden Aufnahmen unbekannt. Ob das zweite Video beispielsweise, wie ich vermuten würde, erst nach der Niederschlagung des Prager Frühlings produziert wurde, ist nicht abschließend verifizierbar. Das DF 11 Dank Euch die Welt evoziert zwiespältige Bilder der Revolution und des Prager Frühlings. Vermitteln die beiden Musikclips die Aufbruchstimmung der späten 1960er Jahre und unterstreichen sie die Rolle des ›Volkes‹, so 51 Der Youtube-User Witek Kłodnicki veröffentlichte den Musikclip am 14. Oktober 2008 unter dem Titel »Czesław Niemen – Dziwny jest ten świat (Full Best Version)« mit der Bemerkung »Zeitloser Song, zeitlose Worte«. Der Youtube-Clip erhielt 848 533 Klicks. Vgl.

https://www.youtube.com/watch?v=Gizg-rKtMmw,

18.03.2020].

[letzte

Sichtung

am

254 | Widerständige Nostalgie

bleiben sie doch ambivalent bezüglich der Charakterisierung der Akteurinnen und Akteure der Revolution. DF 11 Dank Euch die Welt ruft auch jene Bilder auf den Plan, die der tschechische Filmemacher Jan Němec in einem einzigartigen zeithistorischen Dokument und bemerkenswerten Dokumentarfilm festgehalten hat, in ORATORIO FOR PRAGUE (US 1968). Die ursprüngliche Absicht des Filmemachers, einen Film über den Aufbruch der tschechoslowakischen Gesellschaft und die positiven politischen Entwicklungen (»the renaissance of socialism« heißt es im Film) zu machen, endete mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in Prag und mit der gewaltvollen Niederschlagung des Prager Frühlings. Der Schriftsteller, Übersetzer und Verleger Josef Škvorecký schildert seinen Eindruck des Films, den er erstmals in Paris sah, folgendermaßen: Tanks smashed into the idyllic counterpoints. Next to the dancing Smrkovský, lay a boy shot by a machine-gun. Next to a priest raising a chalice stood two boys with a bloodied flag. Next to Dubček waving to the crowds, a Soviet political officer waved his revolver at the crowds from a tank turret. One of the cameramen who had made the film was, at that time, lying in a hospital with his jaw shot off.52 Die Bilder der Sowjetpanzer und des Krieges vermischen sich mit den Aufnahmen der Szenerien der jungen Hippies, die › Love not War‹ skandieren. Es scheint so, als würden DZIWNY JEST TEN ŚWIAT / SELTSAM IST DIESE WELT und MŮJ DÍK / MEIN DANK diese Bedrohung vorwegnehmen und kommentieren. Abbildungen 58, 59: Bedrohungen

Quelle: Screenshots MEIN DANK (ČSSR 1968), SELTSAM IST DIE WELT (TVP 2 1967)

52 Josef Škvorecký: All the Bright Young Men and Women: A Personal History of the Czech Cinema. Toronto: Peter Martin Associates 1971, S. 137, zitiert nach: Hames: The Czechoslovak New Wave, S. 183. (Jozef Smrkovský war während des Prager Frühlings der Parlamentspräsident der Tschechoslowakei und stand zusammen mit Alexander Dubček für eine Reform des Sozialismus.)

Genre, Ironie und Nostalgie | 255

Dass Czesław Niemens Song auch als Retro-Signifier53 eines zumindest osteuropäischen kollektiven Gedächtnisses herhalten kann, scheint ein Youtube-Clip zu bestätigen, bei dem es sich um den Mitschnitt einer Sendung der ukrainischen Version der global erfolgreichen Casting Show The Voice handelt. In GOLOS KRAINY / THE VOICE OF UKRAINE überzeugt eine Kandidatin, deren Video 3.106.636 Klicks erhalten hat, die Jury mit ihrer Interpretation des polnischen Protestsongs Dziwny jest ten świat.54 Nachdem der Clip online ging, entspann sich in den Kommentaren der Userinnen und User eine in polnischer Sprache verfasste, leidenschaftliche Diskussion über die polnische-ukrainischen Beziehungen und die Geschichte der beiden Länder.

53 Vgl. Carpentier-Reifová; Gillarová; Hladík: »The Way We Applauded. How Popular Culture Stimulates Collective Memory of the Socialist Past in Czechoslovakia – The Case of the Television Serial Vypravej and its Viewers.«, S. 207 f. 54 Der Youtube-User Голос країни veröffentlichte den Clip am 2. März 2014 unter dem Titel »Osmik Shiroyan 'Dziwny jest ten swiat' - Country Voice - Blind Choice - Season 4« Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=ypwNDejFLks, [letzte Sichtung am 18.03.2020].

8

Conclusio – Transnationale Vergleiche

Kap. 4 Narrative der Heterosexualität war der Analyse von vier Double Features gewidmet, die sich allesamt mit Narrativen der Heterosexualität und der Frage befassten, wie geopolitische Veränderungen im osteuropäischen Raum zu einem Queering dieser Narrative führen. Das osteuropäischen Autorenkino vor 1989, das in osteuropäischen Filmgeschichten stärker als im Westen Politikum ist (der Auteur als Dissident), wurde einerseits kritisch beleuchtet, um im Vergleich mit Filmen der postsozialistischen Generation (DF 1, DF 2, DF 3) oder durch die Juxtaposition mit zeitgenössischen populären Filmproduktionen (DF 4) als Referenz befragt zu werden. Während sich, wie ich zeigen konnte, junge Autorinnen und Autoren wie Vladimír Morávek und Iwona Siekierzyńska ironisch-sympathisierend von den vermeintlichen Vorbildern (Miloš Forman, Krzysztof Kieślowski) distanzieren, erlaubte mir die Gegenüberstellung von Szabó und Albert, die Frage der Klassendifferenzen zwischen den Figuren aufzugreifen, die in beiden Filmen lediglich latent präsent war. In der Analyse eines neueren Films von Jan Švankmajer zeigte sich wiederum, dass der Animationsfilm von Zdeněk Smetana mit seinen intertextuellen Bezügen auf das tschechische Volksmärchen gewissermaßen als ›Ultima Thule‹ lesbar wird, als Sehnsuchtsort für Švankmajers Filmmärchen, der einen queeren Weg aus dem heteronormativen Reproduktionszwang weist. In Kap. 5 Fernsehen, Feminismus und nationale Identität standen Fernsehproduktionen aus der sozialistischen Tschechoslowakei und der BRD ebenso im Fokus der Analyse wie Fernsehdokumentarfilme bzw. eine Dokusoap aus dem heutigen Tschechien. Interessierte mich in DF 5 wie die fiktionalen Fernsehserien von Rainer Werner Fassbinder und Jaroslav Dietl Geschlechterverhältnisse vor dem Hintergrund zweier unterschiedlicher Ideologien inszenierten, untersuchte ich in DF 6, in welchem Verhältnis historische und aktuelle televisuelle Dokumentarfilmformate zueinander stehen, die sich mit dem Nexus Ehepaar und nationale Identität befassen. Während die Dokusoap (NA VŽDY SVOJÍ ANEB A ŽILI ST’ASTNĚ AŽ DO... / AUF EWIG DEIN ODER SIE LEBTEN GLÜCKLICH BIS...) mit der Adressierung

258 | Widerständige Nostalgie

von Regierungsweisen des Selbst in Konflikt mit der von der Filmemacherin Erika Hníková betriebenen Autorinnenpolitik steht, verunsichern die Langzeitdokumentationen MANŽELSKÉ ETUDY / EHE-ETÜDEN von Helena Třeštíková gerade den auktoriellen Gestus des Dokumentarfilms. Kap. 6 Kollektives Trauma und Competing Memories war Filmen gewidmet, die individuelle und kollektive nationale Traumata zum Thema haben. Die Konjunkturen spezifischer Narrative in Erinnerungsfilmen (wie jenes des ›kleinen Mannes‹) gerieten dabei ebenso in den Blick, wie die blinden Flecken divergenter, miteinander konkurrierender Erinnerungsdiskurse. Stand bei DF 9 mit der Rekonstruktion der Kontinuität rumänischer Filmgeschichte eine Versöhnung mit der totalitären Geschichte der Filmzensur und eine Wiederbelebung des totgesagten rumänischen Kinos im Vordergrund, hob DF 8 auf eine Kritik an den blinden Flecken der tschechischen Erzählung des Zweiten Weltkriegs ab. DF 7 befragte die Gegenwart (RYSA / THE SCRATCH) nach den Geistern der Vergangenheit (UCHO / THE EAR) und untersuchte anhand der experimentellen Anordnung ›Ehe‹ den engen Zusammenhang zwischen Geschlechterpolitik und Nationalismus. In Kap. 7 Genre, Ironie und Nostalgie habe ich mich mit ironischen und nostalgischen Rezeptionsangeboten zweier Genrefilme sowie zweier Musiknummern befasst. Es ging einerseites darum zu zeigen, wie Ironie und Nostalgie in der Forschungsliteratur als historische Rezeptionsmodi begriffen werden, die nicht als individuelle Emotionen für sich stehen, sondern als kollektive Reaktionen auf den jeweiligen politischen Kontext verstanden werden müssen. Andererseits konnte ich zeigen, wie die Filme und die Musiknummern Ironie und Nostalgie durch das Aufgreifen spezifischer Genres als primäre Stilmittel einsetzen. Während DF 10 durch der Parodie der beiden historischen Genres die Erzählung der Gegenwart meta-kommentiert (LIMONADOVÝ JOE ANEB KOŃSKÁ OPERA / DER LIMONADENJOE ODER EINE PFERDE-OPER) oder die kanonische Erzählung der Vergangenheit destabilisiert (REWERS / THE REVERSE), schreibt sich die indexikalische Präsenz des Stars in DF 11 durch das filmtechnische Mittel der Kontrastmontage retrospektiv (MŮJ DÍK / MEIN DANK) oder projektiv (DZIWNY JEST TEN ŚWIAT / SELTSAM IST DIESE WELT) in historische Ereignisse ein.

Conclusio – Transnationale Vergleiche | 259

(Trans-)Nationale und transtextuelle Vergleiche Ella Shohat und Robert Stam setzen in ihrer Reflexion über transnationale Vergleiche die Denkfigur der ›reciprocal transtextuality‹ als Mittel ein, dichotome Kategorien wie Original und Kopie, die Machtasymmetrien im Diskurs des Vergleichens produzieren, zu dekonstruieren.1 »Our stress [...] is on the interactive and recombinant dialogism evoked by terms like revoicing, reaccentuation, indigenization, and mediation.« 2

Die von mir vorgeschlagene und angewendete Methode des (trans-)nationalen Vergleichens, das Double Feature, scheint mir auf produktive Weise in der Lage zu sein, diesen von Shohat und Stam geforderten Dialogismus zu vergleichender Kulturen3 zu gewährleisten. Die vier ›Logiken‹ dieses Dialogs, das Revoicing, die Reaccentuation, Indigenization und Mediation werden von den Double Features unterschiedlich aufgegriffen und bedient.4

1

Vgl. Shohat; Stam: »Transnationalizing Comparison: The Uses and Abuses of Cross-

2

Ebd., S. 473. (Hervorherbung, N.K.)

Cultural Analogy.«, S. 473. 3

Mit ihrem Konzept des transnationalen Vergleichs visieren Shohat und Stam freilich den Vergleich von Kulturen bzw. Nationen und nicht von Filmen oder TV-Produktionen. Insofern, als Filme aber Teil der Appadurai´schen Mediascapes und maßgeblich für die globale Zirkulation von (kulturellen) Bildern sind, scheinen sie mir als Objekte dieser Methode legitimierbar.

4

So produktiv sie auf den ersten Blick scheint, so problematisch erweist sich die hier erfolgte Kategorisierung der Double Features gemäß der vier Logiken der Transtextualität: Abgesehen von der Mehrdeutigkeit der vier Begriffe, die nicht klar voneinander unterschieden werden können (der Begriff Mediation sticht bspw. semantisch aus der Gruppe hervor), finden die transtextuellen Bezüge zwischen den Filmen und TV-Produktionen meistens auf mehr als einer Ebene statt. Auch erfolgen nicht alle Vergleiche in den Double Features aus transnationaler Perspektive. Transtextuelle Bezüge aber lediglich anhand von transnationalen Objekten zu untersuchen, scheint mir zu eng gegriffen. Wenn ich diese Kategorisierung dennoch vorgenommen habe, dann aus zweierlei Gründen: Zum einen scheint mir die Enthierarchisierung der verglichenen Objekte interessant, zum anderen verhindern die die Prozessualität der Austauschverhältnisse reflektierenden Begriffe ein Denken in essentialistischen Rastern und linearen Dichotomien wie fremd/einheimisch, außen/innen und Sender/Empfänger.

260 | Widerständige Nostalgie

Revoicing DF 4, DF 7 und DF 9 stehen im Zeichen des Revoicing, insofern der jeweils neuere Film einen Aspekt des älteren Films aufgreift und diesem ›seine Stimme verleiht‹. In DF 4 Vater, Zottelschreck und Nimmersatt taucht die subversive Ästhetik des Volksmärchens in einem surrealistischen, animierten Realfilm auf. In DF 7 Ohr Riss wird die Gegenwart eines polnischen Ehepaares vom Geist der Vergangenheit eines tschechoslowakischen Ehepaares heimgesucht. Die Stimmen, die das ›Ohr‹ des sozialistischen Geheimdienstes aufzeichnete, erschüttern die Gegenwart von Joanna und Jan, als sie in Form eines Fernsehinterviews, in dem Jan beschuldigt wird, dem Geheimdienst angehört zu haben, im privaten Raum des Paares zu hören sind. In DF 9 Reconstruction of Mr. Lazarescu spiegelt der Todeskampf von Dante Remus Lăzărescu das Sterben von Vuica, dem Protagonisten der Rekonstruktion. Werden die Protagonisten beider Filme zum Schweigen gebracht, so bedeutet doch der (intertextuelle) Widerhall des Todes Vuicas im filmischen Universums Lăzărescus ein Revoicing des Filmes von Lucian Pintilie. Reaccentuation Im Verhältnis einer Reakzentuierung stehen DF 2, DF 3, DF 6 und DF 8. Im direkten Bezug auf den jeweils älteren Film und im Aufgreifen narrativer und/oder formaler Aspekte reakzentuieren die jeweils neueren Filme Eigenheiten oder Merkmale der älteren Filme. DF 2 Langeweile einer Blondine und DF 3 Amateur Hühner distanzieren sich mit ihren Hommagen an die Autorenfilmästhetik gleichzeitig von dieser. DF 6 Auf ewig Ehe-Etüden zeigt, wie sich Geschlechterverhältnisse im Rahmen der kulturellen Institution der Ehe entlang ideologischer Veränderungen wandeln. Die transtextuellen Bezüge in DF 8 Wir müssen zusammenhalten auf dem Korso scheinen über die Logik einer Reakzentuierung hinauszuweisen. Vielmehr scheint mir hier das Verhältnis der Bezüge ein stark dynamisches und ambivalentes zu sein. ›Gegen‹ das Aufgreifen und Reakzentuieren des Narrativs des ›kleinen Mannes‹ kommen auch Aspekte des Revoicing und der Indigenization darin zum Zug. Zum einen steht die Aneignung des HolocaustGenres im Zeichen einer Indigenization; zum anderen räumt DF 8 Wir müssen zusammenhalten auf dem Korso der zum Schweigen gebrachten Stimme von Frau Lautmannová (und damit der Erzählung des schuldigen ›kleinen Mannes‹) sozusagen einen Resonanzraum ein (Revoicing).

Conclusio – Transnationale Vergleiche | 261

Indigenization Im Fall von DF 10 und DF 11 fasse ich das Verhältnis der reziproken transtextuellen Bezüge als eines, das im Zeichen einer Aneignung eines Genres (Indigenization) steht. DF 10 Lemonade Reverse rekurriert auf Genretraditionen (Western und Film Noir), die sich die beiden Filme jeweils zu eigen und zu Nutze machen, um Gegenerzählungen zu inszenieren, die die narrativen Konventionen der Genres unterlaufenden. In DF 11 Dank euch die Welt reihen sich die beiden Musiknummern, von denen eine eine Coverversion ist (Hegerová) und die andere wie eine Coverversion klingt (Niemen), in eine westliche Geschichte der Populärkultur ein, die der tschechische und der polnische Liedtext gleichsam destabilisiert. In der Aneignung der Popsongs liegt jeweils eine spezifische politische Ermächtigung. Mediation Mit dem am wenigsten greifbaren, da allgemeinen Begriff der ›Vermittlung‹, die als Grundvoraussetzung der Transtextualität meines Erachtens sowohl dem Revoicing und der Reaccentuation als auch der Indigenization zugrunde liegt, fasse ich solche transtextuellen Bezüge, die a priori indirekt sind und erst durch die Vermittlung zwischen zwei Entitäten sichtbar werden. In einem Verhältnis der Vermittlung stehen also aus meiner Sicht DF 1 und DF 5. Beide Double Features stellen einmal Filme und einmal TV-Produktionen zum Vergleich, die sich aufgrund ihrer unterschiedlichen geopolitischen Kontextualisierungen nicht unbedingt für einen Vergleich zu eignen scheinen. Gerade die Unterschiedlichkeit der im Double Feature konfrontierten Objekte ermöglicht jedoch erstaunliche Perspektiven auf das jeweilige filmische Material. DF 1 Süße Emma Nordrand erlaubt beispielsweise durch die Gegenüberstellung des österreichischen und des ungarischen Spielfilms, über die blinden Flecken der filmischen Erzählungen und die Art und Weise nachzudenken, wie Klassendifferenzen bei Albert und Szabó (nicht) reflektiert werden. DF 5 Acht Stunden Frau hinter dem Ladentisch übersetzt die Figur der Arbeiterin im Kommunismus in die Figur des Arbeiters im Kapitalismus und fördert zutage, wie scheinbar konservative Erzählpolitiken subversive Erzählpolitiken und umgekehrt konterkarieren. The future of Nostalgia – die Nostalgie der Zukunft ›Nostalgie‹ kommt in diesem Buch in verschiedenen Kontexten und mit unterschiedlichen medialen Implikationen vor. Bin ich zunächst dem Vorwurf eines konservativ-nostalgischen Blicks auf den Sozialismus in osteuropäischen Film-

262 | Widerständige Nostalgie

produktionen der letzten zehn Jahre gefolgt, habe ich gezeigt, wie Historikerinnen, Philosophinnen und Filmwissenschaftlerinnen diesen negativ konnotierten Begriff der Nostalgie aufgreifen, um ihn a) positiv gewendet als Markierung eines spezifischen gegenwärtigen Umgangs mit der kommunistischen Vergangenheit zu beschreiben (Todorova, Gille), um ihn b) als analytisches Raster für das Verständnis des Kalten Krieges produktiv zu machen (Imre) oder um ihn c) als Denkfigur zu fassen, die der Hypermedialität der Gegenwart einen intellektuell-affektiven Modus des Widerstandes entgegensetzt (Boym). Ist diese Post-communist Nostalgia jedoch keineswegs Merkmal sämtlicher hier behandelter filmischer Ästhetiken und Bildpolitiken, so liegt sie doch dem Zugriff auf das Material zugrunde, den ich mit dem kuratorischen Begriff des Double Features zu fassen versucht habe. Nostalgie ist für das Double Feature zweifach virulent: Erstens handelt es sich beim Double Feature in kuratorischer Hinsicht um eine nostalgische Praxis, die Filme nicht nur als singuläre Ereignisse auffasst, sondern als die konstitutiven dialogischen Elemente des Referenzrahmens ›Filmgeschichte‹. In DF 1, DF 4, DF 5 und DF 7 wurden beispielsweise ›Filmpaare‹ gebildet, deren konfrontativer Charakter weniger in einer direkten Bezugnahme eines Films auf den anderen lag, sondern in ihrer Anordnung als Double Feature und durch die überraschenden ›Points of Contact‹, die die Filmlektüren und -analysen der einzelnen Filme jeweils erweiterten. Zweitens weisen die Double Features je spezifische Nostalgien auf, die auf der filmimmanenten Ebene von Genre, Mise-en-scène, Narration oder im Kontext intertextueller Bezüge zu verorten sind. DF 2, DF 3, DF 6, DF 8 und DF 9 zeichnen sich beispielsweise durch ihre (mehr oder weniger) direkten intertextuellen Bezugnahmen aus und verfolgen insofern eine Politik der (kritischen) Hommage (eines Auteurs). DF 10 und DF 11 sind der parodistischen Aneigung spezifischer Genres verbunden, die einerseits als Reverenz an eine universelle Geschichte von Film und Populärkultur, andererseits aber auch als politisches Instrument zur Umdeutung von Geschichte lesbar wurden.

Schlusswort

Ich beeile mich, [die] Spuren festzuhalten. Die vertrauten Gesichter. Ich frage nicht nach dem Sozialismus, ich frage nach Liebe, Eifersucht, Kindheit und Alter. Nach Musik, Tanz und Frisuren. Nach Tausenden Einzelheiten des verschwundenen Lebens.1 Swetlana Alexijewitsch

Bettina Henzler und Winfried Pauleit bemerken im Vorwort zu ihrem Buch Vom Kino lernen. Internationale Perspektiven der Filmvermittlung mit dem Verweis auf eine frühen Text Siegfried Karacauers, dass das Kino seit seinen Anfängen oftmals Schaulust mit biographischen Formationen koppelte.2 In seinem Essay Die Photographie3 verglich Kracauer eine Fotografie seiner Großmutter mit jener einer Filmdiva und reflektierte die beiden Frauen als Figuren, »an denen sich das Ich ebenso herausbildet wie das Wir.«4 Henzler und Pauleit schreiben: »Als Verkörperung eines Gegenübers und als Teil eines kollektiven Gedächtnisses spielen demnach beide in der Persönlichkeitsbildung eine bedeutende Rolle.«5 Am Beginn meines Dissertationsprojektes und der Auseinandersetzung mit osteuropäischen Film- und Fernsehkulturen steht auch bei mir etwas, was man in der so schnörkellosen wie transparenten englischsprachigen Wissenschaftssprache ein ›personal investment‹ nennt. Die allerersten Erfahrungen mit Nostalgie

1

Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2015, S. 13.

2

Vgl. Bettina Henzler; Winfried Pauleit; Christine Rüffert; Karl-Heinz Schmid; Alfred Tews (Hg.): Vom Kino lernen. Internationale Perspektiven der Filmvermittlung. Berlin: Bertz + Fischer 2010, S. 7.

3

Siegfried Kracauer: »Die Photographie« (1927), in: ders.: Ornament der Masse. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1963, S. 21-39.

4

Henzler et al. (Hg.): Vom Kino lernen, S. 7.

5

Ebd.

264 | Widerständige Nostalgie

stammen aus meiner Kindheit und von den alljährlichen Besuchen der nordböhmischen Kleinstadt, in der meine Mutter geboren ist. Dieses parallele Universum, das man lediglich durch stundenlanges Warten am tschechoslowakisch-österreichischen Grenzübergang erreichte und in dem eine Geheimsprache gesprochen wurde, die von allen Menschen, die ich zu Hause kannte, nur meine Mutter beherrschte, schien ein verwunschener Ort, nach dem sich zu sehnen, geradezu abwegig schien. Das Verschwinden dieses Ortes mit der Aufösung des Kommunismus, hat mich für den engen Zusammenhang von Geschichte, den Bildern der Erinnerung und den filmischen Bildern sensibilisiert. Diese Bilder bilden nicht einfach eine unveränderliche, immer gleichbleibende Realität ab, sie sind Ergebnis und Effekt historischer Umstände, politischer Konstellationen und medialer Implikationen. Der Impuls, mich mit osteuropäischer Film- und Fernsehkultur zu befassen, hängt daher intrinsisch mit dem Wunsch zusammen, in den filmischen Bildern von damals und von heute auf die Suche zu gehen und die »Tausenden Einzelheiten«6 zu entdecken und über die verschwundenen Räume zu verfügen7. Meine Dissertation konnte und wollte von Beginn an eines nicht sein: eine Geschichte des osteuropäischen Films und Fernsehens. Widerständige Nostalgie ist gleichsam als Reaktion auf und Reflektion von osteuropäische(n) Film- und Fernsehgeschichten lesbar. Diese Reflektion zielte konkret auf dreierlei ab: Erstens beabsichtigte ich, den Begriff der postkommunistischen Nostalgie in seinen vielfältigen Bedeutungskontexten zu beschreiben und als Raster für die Analyse der hier behandelten Filme zu verwenden. Die methodische Fruchtbarmachung des Double Features als Analysekategorie des Vergleichs begründete ich einerseits durch die Verwandtschaft des Double Features als Praxis der Filmvermittlung mit der Nostalgie des Cinéphilie-Diskurses. Andererseits hob das Double Feature als methodisches Instrument auf eine Reflexion des Vergleichens als grundlegende komparatistische Strategie ab. Erfolgte der transnationale Zugriff auf den Korpus der Film- und Fernsehproduktionen in der besten Absicht, Filmkanons nationaler Kinematographien kritisch zu beleuchten und geopolitische Grenzen, die auch die Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts stark beeinflusst haben, zu sprengen, zeigte sich in der Bearbeitung der Double Features ein konkretes methodisches Problem: Der transnationale Vergleich, der in den einzelnen Filmananalysen sowie in der Gesamtstruktur angestrebt wurde, konnte in einigen Double Features erst in einem zweiten Schritt (in den Perspektivierungen mit den anderen Double Features) erfolgen. Es handelt sich dabei um jene Double 6

Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus.

7

Vgl. Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse: Essays. Frankfurt am Main: Suhr-

Frankfurt am Main: Suhrkamp 2015, S. 13. kamp 61994, S. 49.

Schlusswort | 265

Features, die Filme- oder TV-Produktionen aus nur einem Land gegenüberstellten. Schien mir der Vergleich dieser (Fernseh-)Filme jedoch aus einer historischen Perspektive, die nach den intertextuellen Referenzen und den intermedialen Aspekten einer nationalen Filmgeschichte oder Fernsehkultur fragte, relevant, so brachte er dennoch Unruhe in das Forschungsdesign. Auch hoffe ich, dass ich Christine Noll Brinckmanns Anspruch gerecht werden konnte, die von mir verglichenen Filme »gegenseitig zum Leuchten zu bringen, statt sie miteinander stumpf werden zu lassen.«8 Tatsächlich scheinen mir gerade jene Double Features, die sehr unterschiedliche (Fernseh-)Filme miteinander vergleichen, am überzeugendsten. Für eine europäische komparatistische Film- und Medienwissenschaft der Zukunft scheint es mir maßgeblich, den transnationalen Vergleich weiter und ans Äußerste zu treiben. Film- und Fernsehproduktionen aus dem Kalten Krieg mit solchen zu vergleichen, die vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden oder sogar zum frühen Film zu zählen sind, muss als kritische Methode der Filmund Fernsehgeschichtsschreibung berücksichtigt und als politisches Instrument im Kampf gegen Nationalismen und politische Ideologien verstanden werden. Auch eine Ausweitung des Vergleichens von Filmen und TV-Produktionen und anderen medialen Formaten (von Internetclips zu Ausstellungsinstallationen) ist vor dem Hintergrund einer inter- und transdisziplinären Film- und Medienwissenschaft wünschenswert.

8

Christine Noll Brinckmann in einem E-Mail-Interview mit Christine Rüffert. Vgl. Rüffert: »›Writing a Text that Will be Read with the Body‹. Kuratieren als somatischer Akt«, S. 130.

Danksagung

Dieses Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Februar 2017 an der philologisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien verteidigt habe. Mein herzlichster Dank gilt heute wie bei der Einreichung Wolfgang MüllerFunk und Alexandra Schneider für die Betreuung der Arbeit. Thomas Weber danke ich für die kurzfristige Bereitschaft zur Zweitbegutachtung und für den produktiv-kritischen Input. Dem österreichischen Austauschdient danke ich für die Bewilligung eines zwölfmonatigen Marietta Blau Stipendiums an der Universiteit van Amsterdam. Für unzählige Anregungen, Diskussionen und Kommentare danke ich der Amsterdam School of Cultural Analysis ASCA sowie der Bauhaus-Universität Weimar, hier vor allem Mireille Rosello, Jules Sturm, Tina M. Bastajian, Nadia Dresscher, Irene Villaescusa-Illán, Alejandra Espinosa, Christiane Lewe, Christin Sirtl, Lisa Conrad, Ulrike Hanstein, Kateřina Krtilová, Silke Martin, Hedwig Wagner, Julia Bee, Rebekka Ladewig, Claudia Tittel, Olga Moskatova, Michael Cuntz, Nicolas Oxen und Gabriele Schabacher. Für erste Anregungen und Spurenlegungen danke ich dem Initiativkolleg Sinne - Technik - Inszenierung: Medien und Wahrnehmung der Universität Wien und hier namentlich Klemens Gruber, Andrea B. Braidt, Andrea Seier, Monika Meister, Barbara Eichinger, Daniela Pillgrab und Peter Grabher. Für ihre aufmerksamen Lektüren einzelner Kapitel meiner Dissertation und ihr konstruktives Feedback danke ich Daniela Finzi und Gerald Lind. Für ihre Hilfe und Unterstützung bei der Überarbeitung des Manuskriptes für die Buchausgabe danke ich sehr herzlich Marion Biet.

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284 | Widerständige Nostalgie

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Literatur | 285

Wikipedia-Eintrag ›Jadwika Jankowska-Cieślak‹: https://de.wikipedia.org/wiki/ Jadwiga_Jankowska-Cie%C5%9Blak Wikipedia-Eintrag ›Oldřich Lispký‹: https://de.wikipedia.org/wiki/Old%C5%99 ich_Lipsk%C3%BD Wikipedia-Eintrag ›Vergleich‹: de.wikipedia.org/wiki/Vergleich_(Recht) Webportal Culture.pl, Eintrag zu ›Czesław Niemen‹, Autor: Maciej Sienkiewicz, (Juli 2010): http://culture.pl/pl/tworca/czeslaw-niemen Webportal Culture.pl, Eintrag zu ›Scratch – Michał Rosa‹, Autor: Konrad J. Zarębski, (Oktober 2008): http://culture.pl/en/work/scratch-michal-rosa Webseite der Doc Alliance Films über Helena Třeštíková: https://dafilms.com/director/167-helena-trestikova Youtube-Clip ›Jiřina Švorcová‹: https://www.youtube.com/watch?v=AKkJ1Csg f_A Youtube-Clip ›1968 Hana Hegerová - Můj dík‹: https://www.youtube.com/wat ch?v=VrosUjyx8bQ Youtube-Clip ›Czesław Niemen – Dziwny jest ten świat (Sopot 1967)‹: https://www.youtube.com/watch?v=3aRz0IVMuW8 Youtube-Clip ›Czesław Niemen – Dziwny jest ten świat (Full Best Version)‹: https://www.youtube.com/watch?v=Gizg-rKtMmw Youtube-Clip ›The voice of Ukraine – Dziwny jest ten świat‹: https://www.youtube.com/watch?v=ypwNDejFLks

Filme und TV-Serien

4 LUNI, 3 SĂPTĂMÂNI ȘI 2 ZILE / 4 MONTHS, 3 WEEKS, 2 DAYS (RO 2007, Cristian Mungiu) À BOUT DE SOUFFLE / AUßER ATEM (F 1960, Jean-Luc Godard) ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG (WDR 1972/73, Rainer Werner Fassbinder) A FOST SAU N-A FOST/ 12:08 EAST OF BUCHAREST (RO 2006, Corneliu Porumboiu) A HISTORY OF VIOLENCE (US 2005, David Cronenberg) AMATOR / CAMERA BUFF (PL 1979, Krzysztof Kieślowski) AŤ ŽIJE REPUBLIKA / ES LEBE DIE REPUBLIK (ČSSR 1965, Karel Kachyňa) BÁJEČNÁ LÉTA POD PSA / WUNDERBARE JAHRE UNTER DEM HUND (ČR 1997, Petr Nikolaev) BARWY OCHRONNE / CAMOUFLAGE (PL 1977, Krzysztof Zanussi) BELOE SOLNTSE PUSTYNI / WHITE SUN OF THE DESERT (UdSSR 1969, Vladimir Motyl) BROKEBACK MOUNTAIN (US 2005, Ang Lee) CHELOVEK S BULVARA KAPUTSINOV / MAN FROM CAPUCINE BOULEVARD (UdSSR 1987, Alla Surikova) CISZA / SILENCE (PL 2001, Michał Rosa) CO NIKDY NEPOCHOPÍM – WAS ICH NIE VERSTEHEN WERDE (ČSSR 1968, Ján Roháč) CORONATION STREET (ITV, STV, UTV 1960, ca. 8.000 Folgen) CZŁOWIEK Z MARMURU (PL 1977, Andrzej Wajda) CZŁOWIEK Z ŻELAZA (PL 1981, Andrzej Wajda) DALEKÁ CESTA / DISTANT JOURNEY (ČSSR 1949, Alfréd Radok) DALLAS (CBS 1978-1991, 14 Staffeln) DAS LEBEN DER ANDEREN (D 2006, Florian Henckel von Donnersmarck) DĚDICTVÍ ANEB KURVAHOŠIGUTNTAG / DAS ERBE ODER FUCKOFFJUNGSGUTNTAG (ČR 1992, Věra Chytilová)

288 | Widerständige Nostalgie

DÉMANTY NOCI / DIAMANTEN DER NACHT (ČSSR 1964, Jan Němec) DER BOCKERER (A 1981, Franz Antl) DIE FIRMA HESSELBACH (ARD 1960/1961, 1. Staffel), DIE FAMILIE HESSELBACH (ARD 1961, 2. Staffel), HERR HESSELBACH UND ... (ARD 1966/1967, 3. Staffel) DYNASTY (ABC 1981-1989, 218 Folgen) EASTERN PROMISES (US 2007, David Cronenberg) ÉDES EMMA, DRÁGA BÖBE – VÁZLATOK, AKTOK / SWEET EMMA, DEAR BÖBE SKETCHES, NUDES (H 1992, István Szabó) EGYMÁSRA NÉZVE / EIN ANDERER BLICK (H 1982, Károly Makk, János Xantus) FARBA / PAINT (PL 1997, Michał Rosa) GOOD-BYE, LENIN! (D 2003, Wolfgang Becker) GORĄCY CZWARTEK / HOT THURSDAY (PL 1993, Michał Rosa) GO WEST / DIE MARX BROTHERS IM WILDEN WESTEN (US 1940, Edward Buzzell) HEAVEN (D/ I/ F/ US/ GB 2002, Tom Tykwer). HÎRTIA VA FI ALBASTRÃ / DAS PAPIER WIRD BLAU SEIN (RO 2006, Radu Muntean) I MARRIED A COMMUNIST (US 1949, Robert Stevenson) I WAS A COMMUNIST FOR THE FBI (US 1951, Gordon Douglas) JAK BYĆ KOCHANĄ / DIE KUNST GELIEBT ZU WERDEN (PL 1963, Jerzy Has) JESZCZE TYLKO TEN LAS / JUST BEYOND THIS FOREST (PL 1991, Jan Łomnicki) KATKA (ČR 2009, Helena Třeštíková) KATYŃ (PL 2007, Andrzej Wajda) KDYBY TISÍC KLARINETŮ / IF A THOUSAND CLARINETS (ČSSR 1964, Ján Roháč) KOČÁR DO VÍDNĔ / WAGEN NACH WIEN (ČSSR 1966, Karel Kachyňa) KOLYA (ČR 1996, Jan Svěrák) KRASNYE DIAVOLITA / LITTLE RED DEVILS (GE 1924, Iwan Perestiany) LA FLEUR DU MAL (F 2003, Claude Chabrol) LA NOSTALGIE DE LA RECONSTITUTION / THE NOSTALGIA OF RECONSTRUCTION (RO 2009, Armand Richelet-Kleinberg und Radu Dinulescu) LASKY JEDNE PLAVOVLASKY / DIE LIEBEN EINER BLONDINE (ČSSR 1965, Miloš Forman) LIMONADOVÝ JOE ANEB KONSKA OPERA / DER LIMONADEN-JOE ODER EINE PFERDE-OPER (ČSSR 1964, Oldřich Lipský) MANŽELSKÉ ETUDY / MARRIAGE STORIES (ČT 1987, Helena Třeštíková) MANŽELSKÉ ETUDY PO 20 LETECH / MARRIAGE STORIES 20 YEARS LATER (ČT 2007, Helena Třeštíková) MARCELA (ČR 2006, Helena Třeštíková) MEPHISTO (H 1981, István Szabó) MERCI POUR LE CHOCOLAT (F 2000, Claude Chabrol)

Filme und TV-Serien | 289

MIRAKEL / THE MIRACLE (ČSSR 1974, Helena Třeštíková) MOJE PIECZONE KURCZAKI / MY ROAST CHICKEN (PL 2002, Iwona Siekierzyńska) MORTEA DOMNULUI LAZARESCU / THE DEATH OF MR. LAZARESCU (RO 2000, Cristi Puiu) MUŽ Z PRVNÍHO STOLETÍ / DER MANN AUS DEM 1. JAHRHUNDERT (ČSSR 1962, Oldřich Lipský) NADĚJE / HOFFNUNG (ČSSR 1964, Karel Kachyňa) NA VŽDY SVOJÍ ANEB A ŽYLI STASTNĚ AŽ DO... / AUF EWIG DEIN ODER SIE LEBTEN GLÜCKLICH BIS... (ČT 2, Erika Hníková) NEOBYCHAINYE PRIKLYUCHENIYA MISTERA VESTA V STRANE BOLSHEVIKOV / THE EXTRAORDINARY ADVENTURES OF MR. WEST IN THE LAND OF THE BOLSHEVIKS (UdSSR 1924, Lev Kuleshov) NESFÂRŞIT / CALIFORNIA DREAMIN’ (RO 2007, Cristian Nemescu) NESVATBOV / MATCHMAKING MAYOR (ČR 2010, Erika Hníková) NEULOVIMYE MSTITELI / ELUSIVE AVENGERS (UdSSR 1967, Edmon Keosayan) NIKTO NE KHOTEL UMIRAT (RUSS.) / NIEKAS NENOREJO MIRTI (LITH.) / NO ONE WANTED TO DIE (UdSSR 1966, Vytautas Žalakevičius) NOC NEVĚSTY / NIGHT OF THE BRIDE (ČSSR 1967, Karel Kachyňa) NORDRAND (Ö 1999, Barbara Albert) NOVYE PRIKLYUCHENIYA NEULOVIMYKH / NEW ADVENTURES OF ELUSIVE AVENGERS (UdSSR 1968, Edmon Keosayan) NUDA V BRNĔ / SEX IN BRNO (ČR 2003, Vladimír Morávek) O SLAVNOSTI A HOSTECH / VOM FEST UND DEN GÄSTEN (ČSSR 1966, Jan Němec) OBČANSKÝ PRŮKAZ / IDENTITY CARD (ČR 2010, Ondřej Trojan) OBCHOD NA KORZE / THE SHOP ON MAIN STREET (ČSSR 1965, Jan Kadár, Elmar Klos) ORATORIO FOR PRAGUE (US 1968, Jan Němec) OSTŘE SLEDOVANÉ VLAKY / CLOSELY WATCHED TRAINS (ČSSR 1966, Jiří Menzel) OTÉSANEK / GREEDY GUTS (ČR 2001, Jan Švankmajer) PĂDUREA SPÂNZURAȚILOR / THE FORREST OF THE HANGED (RO 1965, Liviu Ciulei) PELÍŠKY (ČR 1999, Jan Hřebejk) POGRZEB KARTOFLA / BURIAL OF A POTATO (PL 1990, Jan Jakub Kolski) PRAWO I PIĘŚĆ / THE LAW AND THE FIST (PL 1964, Jerzy Hoffman und Eward Skórzewski) PUPENDO (ČR 2003, Jan Hřebejk) RANCZO TEXAS / THE TEXAS RANCH (PL 1959, Wadim Berestowski) RĂSCOALA / THE REVOLT (RO 1966, Mircea Mureşan)

290 | Widerständige Nostalgie

RECONSTITUIREA / RECONSTRUCTION (RO 1969, Lucian Pintilie) REDL EZREDES / OBERST REDL (H 1985, István Szabó) RENÉ (ČR 2008, Helena Třeštíková) REWERS / THE REVERSE (PL 2008, Borys Lankosz) RYSA / THE SCRATCH (PL 2008, Michał Rosa) ŠAŠEK A KRÁLOVNA / DER NARR UND DIE KÖNIGIN (ČR 1987, Věra Chytilov ) SEJDEME SE V EUROCAMPU / I GUESS WE´LL MEET AT THE EUROCAMP (ČR 2006, Erika Hníková) SIX FEET UNDER (HBO 2001-2005, 5 Staffeln) SMELYE LYUDI / BRAVE PEOPLE (UdSSR 1950, Konstantin Yudin) SMĚŠNÝ PÁN / FUNNY OLD MAN (ČSSR 1969, Karel Kachyňa) SOUKROMÝ VESMÍR / PRIVATE UNIVERSE (ČR 2012, Helena Třeštíková) SPALOVAČ MRTVOL / DER LEICHENVERBRENNER (ČSSR 1968, Juraj Herz) SZERELEMESFILM / LOVEFILM AKA A FILM ABOUT LOVE (H 1973, István Szabó) SVOY SREDI CHUZHIKH, CHUZHOY SREDI SVOIKH / RELATIVE AMONG STRANGERS, STRANGER AMONG RELATIVES (UdSSR 1974, Nikita Mikhalkov) THE ACT OF SEEING WITH ONE’S OWN EYES (US 1971, Stan Brakhage) THE ANGEL LEVINE (US 1970, Ján Kadár) THE BIG SLEEP (US 1947, Howard Hawk) THE BUTLER (US 2013, Lee Daniels) THE GREAT DICTATOR (US 1940, Charlie Chaplin) THE MAGNIFICENT SEVEN (US 1960, John Sturges) TRZEBA ZABIĆ TĘ MIŁOŚĆ / DIESE LIEBE MUSS MAN TÖTEN (PL 1972, Janusz Morgenstern) TÜZÖLTÓ UTCA 25 / 25 FIREMAN´S STREET (H 1973, István Szabó) UCHO / THE EAR (ČSSR 1970, Karel Kachyňa) UNSERE NACHBARN HEUTE ABEND: FAMILIE SCHÖLERMANN (NWDR 1954-1960, 111 Folgen) VIEHJUD LEVI (D/CH/Ö 1999, Didi Danquart) VŠEHOCHLUP / SHAGGYHAIR (ČSSR 1978, Zdeněk Smetana) VŠICHNI DOBŘÍ RODÁCI / ALLE GUTEN LANDSMÄNNER (ČSSR 1968, Vojtech Jasný) WILCZE ECHA / THE ECHOES OF THE WOLVES (PL 1968, Aleksander ŚciborRylski) WHITE HOUSE DOWN (US 2013, Roland Emmerich) WHO´S AFRAID OF VIRGINIA WOOLF (US 1966, Mike Nichols) ZAMILOVANÉ MASO / MEAT LOVE (ČR 1989, Jan Švankmajer) ZAPOMENUTÉ SVĚTLO / FORGOTTEN LIGHT (ČSSR 1996, Vladimír Michálek) ŽENA ZA PULTEM / DIE FRAU HINTER DEM LADENTISCH (ČST 1977/78, Jaroslav Dietl)

Filme und TV-Serien | 291

ŽENY PRO MĚNY / THE BEAUTY EXCHANGE (ČR 2003, Erika Hníková) ZKÁZA KRÁSOU / DOOMED BEAUTY (ČR 2016, Helena Třeštíková, Jakub Hejna) Z LÁSKY / AUS LIEBE (ČSSR 1987, Helena Třeštíková)

Kulturwissenschaft Gabriele Dietze

Sexueller Exzeptionalismus Überlegenheitsnarrative in Migrationsabwehr und Rechtspopulismus 2019, 222 S., kart., Dispersionsbindung, 32 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4708-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4708-6

Gabriele Dietze, Julia Roth (eds.)

Right-Wing Populism and Gender European Perspectives and Beyond April 2020, 286 p., pb., ill. 35,00 € (DE), 978-3-8376-4980-2 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4980-6

Stephan Günzel

Raum Eine kulturwissenschaftliche Einführung März 2020, 192 S., kart. 20,00 € (DE), 978-3-8376-5217-8 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5217-2

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Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan

Postkoloniale Theorie Eine kritische Einführung Februar 2020, 384 S., kart. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5218-5 E-Book: 22,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5218-9

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 9, 1/2020) April 2020, 180 S., kart. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4936-9 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4936-3

Birgit Althans, Kathrin Audehm (Hg.)

Kultur und Bildung – kulturelle Bildung? Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2019 2019, 144 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4463-0 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4463-4

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