Werke in historisch-kritischen Ausgaben. Frau Bertha Garlan: Historisch-kritische Ausgabe 9783110366433, 9783110362954

Schnitzler’s novella Frau Bertha Garlan is a subtle story of a failed attempt at female emancipation. This 5th volume in

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German Pages 312 Year 2015

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Table of contents :
Vorbemerkung
1. Handschriften
Umschlag
Entwurfsskizz
Figurenliste FI
Skizze S1
Skizze S2
Skizze S3
Skizze S4
Skizze S5
Skizze S6
Skizze S7
Notiz N1
Notiz N2
Notiz N3
Notiz N4
Notiz N5
Notiz N6
Notiz N7
Notiz N8
Notiz N9
Notiz N10
Notiz N11
Notiz N12
Notiz N13
Notiz N14
Notiz N15
Notiz N16
Notiz N17
2. Drucktext
2.1 Herausgebereingriff
3. Kommentar
4. Anhang
4.1 Briefe Franziska Lawners an Schnitzler 1899–1900
4.2 Schnitzler über Franziska Lawner 1899–1900
4.3 Konkordanz der Textzeuge
4.4 Siglenverzeichni
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Werke in historisch-kritischen Ausgaben. Frau Bertha Garlan: Historisch-kritische Ausgabe
 9783110366433, 9783110362954

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Arthur Schnitzler Frau Bertha Garlan

Arthur Schnitzler Werke in historisch-kritischen Ausgaben

Herausgegeben von Konstanze Fliedl

Arthur Schnitzler

Frau Bertha Garlan Historisch-kritische Ausgabe Herausgegeben von Gerhard Hubmann und Isabella Schwentner unter Mitarbeit von Anna Lindner und Martin Anton Müller

De Gruyter

Diese Ausgabe entstand im Rahmen des vom österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) finanzierten Projektes „Arthur Schnitzler – Kritische Edition (Frühwerk)“ (P 22195). Für die Abdruckgenehmigungen ist der Cambridge University Library, dem Deutschen Literaturarchiv Marbach und dem Arthur-Schnitzler-Archiv/Freiburg zu danken.

ISBN 978-3-11-036295-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-036643-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039239-5

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book has been applied for at the Library of Congress.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

1. Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Umschlag . . . . Entwurfsskizze E Figurenliste Fl . . Skizze S1 . . . . . Skizze S2 . . . . . Skizze S3 . . . . . Skizze S4 . . . . . Skizze S5 . . . . . Skizze S6 . . . . . Skizze S7 . . . . . Notiz N1 . . . . . Notiz N2 . . . . . Notiz N3 . . . . . Notiz N4 . . . . . Notiz N5 . . . . . Notiz N6 . . . . . Notiz N7 . . . . . Notiz N8 . . . . . Notiz N9 . . . . . Notiz N10 . . . . . Notiz N11 . . . . . Notiz N12 . . . . . Notiz N13 . . . . . Notiz N14 . . . . . Notiz N15 . . . . . Notiz N16 . . . . . Notiz N17 . . . . .

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2. Drucktext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

133

2.1 Herausgebereingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

258

3. Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261

V

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Inhalt

4. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

279

4.1 Briefe Franziska Lawners an Schnitzler 1899–1900 . . . . . . . . .

281

4.2 Schnitzler über Franziska Lawner 1899–1900 . . . . . . . . . . . .

299

4.3 Konkordanz der Textzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

301

4.4 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

302

VI

Vorbemerkung

Vorbemerkung Entstehungsgeschichte Am ersten Tag des Jahres 1900 begann Arthur Schnitzler an einer Novelle mit dem vorläufigen Titel „Jugendliebe“ zu arbeiten (vgl. Tb II,319), die genau ein Jahr später in S. Fischers Neuer Deutscher Rundschau als Frau Bertha Garlan veröffentlicht wurde. Über den Entstehungsprozess gibt das Tagebuch bis zur Fertigstellung im April keine weitere Auskunft; wohl aber berichtete Schnitzler davon gelegentlich in Briefen an Freunde und Schriftstellerkollegen. So schrieb er etwa an Richard BeerHofmann: „Was ich mache? – eine Novelle schreiben, an der ich zeitweilig Freude habe“ (17. 2. 1900; RBH-Bw 141). Aus einem weiteren Brief geht hervor, dass der Arbeitstitel inzwischen fallen gelassen worden war: „Heut sowohl als gestern bin ich nahezu 6 Stunden spazieren gegangen. Weniger lang schrieb ich an der Novelle, für die ich keinen Namen habe.“ (2. 3. 1900; RBH-Bw 144) Der Schreibprozess verlief offenbar langsamer als erwartet – in einem Brief an Otto Brahm erwähnte Schnitzler, dass sich die „Novelle, an der ich seit Beginn dieses Jahres schreibe, längelt und schlängelt“ (17. 3. 1900; OB-Bw 84) –, wurde für ihn im Rückblick aber das Beispiel einer seither vermissten Arbeitskonsequenz: „Die letzte Continuität hab ich in ‚Bertha Garlan‘ entwickelt, die ich in 3½ Monaten, in beinah täglichem, ziemlich ruhigem Arbeiten leidlich anständig fertig gebracht habe.“ (11. 6. 1904; Tb III,74) In einem Brief an Hugo von Hofmannsthal vom 23. 3. 1900 deutete Schnitzler den Inhalt der „langen Novelle“ an, „die wohl (stofflich) so eine Art Seitenstück zur Femme de 30 ans wird, eine veuve de trente ans“ (HvH-Bw 136).1 Die Fertigstellung ist schließlich in einer Tagebuchnotiz vom 16. 4. 1900 festgehalten. Dieser Eintrag legt den vielbesprochenen biographischen Hintergrund der Novelle frei: „Ostermontag.– Brief von Fännchen nach langer Zeit – sie wird nach Wien übersiedeln, ganz entsprechend dem Brief in der Novelle. Diese Novelle (begonnen 1/1) schloss ich heute Nachm. ab.–“ (Tb II,327) Textmotivik und Schreibimpuls gehen auf die Wiederbegegnung Schnitzlers mit seiner ‚Jugendliebe‘2 Franziska Reich, verehelichter Lawner (1862–1930), im Mai

1

2

Honoré de Balzacs Roman La femme de trente ans (1842), dt. Die Frau von dreißig Jahren (1845), findet sich auf Schnitzlers Lektüreliste (LL 111) und wird auch schon früh im Tagebuch erwähnt (31. 3. 1885; Tb I,177). Wie Bertha Garlan geht die Protagonistin Julie de Chastillonest die Ehe mit einem ungeliebten Mann ein, der den Vornamen „Victor“ trägt. Aus der Kinderfreundschaft mit „Fanny“ wurde 1878 eine schwärmerische Beziehung der Sechzehnjährigen, die sich zu Beginn der 1880er Jahre langsam verlor (vgl. JiW 82, 181, passim).

1

Vorbemerkung

1899 zurück. Einige Wochen nach ihrem Tod notierte Schnitzler: „Parte von Fanny Reich, die am 25. August gestorben ist. Ich hatte sie viele Jahrzehnte nicht mehr gesehn. Es ist über 30 Jahre her, dass Bertha Garlan erlebt wurde.–“ (9. 9. 1930; Tb IX,365) Die Schnitzler-Forschung hat vornehmlich anhand der Tagebuch-Notizen die biographisch-literarischen Parallelen intensiv diskutiert.3 Schnitzler selbst hat diesen Zusammenhang in einem undatierten Rückblick zur Werkgenese festgehalten: Berta Garlan. 1899. Wiederbegegnung mit Fännchen im Sommer. Geschrieben an der ‚Jugendliebe‘ vom 1. 1. 1900 bis 1[6]. 4. Sonst keine Silbe darüber im Tagebuch. Beendet zufällig am Tage, als ein Brief von F. einlangt, sie übersiedle nach Wien.4 Franziska Lawners Briefe an Schnitzler, die dem Zusammentreffen vorausgingen bzw. folgten,5 werden im Anhang dieses Bandes erstmals veröffentlicht (S. 281–298); zusätzlich werden Schnitzlers Tagebucheintragungen zur „Wiederbegegnung“ abgedruckt (S. 299f.). Damit sind alle auffindbaren biographischen Zeugnisse zum Sujet der Novelle dokumentiert. Sie können tatsächlich als ‚Quellen‘ der literarischen Arbeit gelten: Themen und stilistische Eigenheiten von Lawners Briefen finden sich in verschiedenen Textstufen wieder. Allerdings zeigt der Entstehungsprozess dabei auch die Tendenz zur diskreten Zurücknahme biographischer Details. Wie häufig bei Schnitzler, lässt die Textgenese den lebensgeschichtlichen Anlass hinter sich zurück: Während etwa in Skizze S1 1,14 noch eine „Stickerei“ als Geburtstagsgeschenk erwähnt wird – Franziska Lawner hatte Schnitzler tatsächlich eine Handarbeit geschickt6 –, ist davon später nicht mehr die Rede. Auch der Verweis auf das Restaurant Riedhof, wo am Tag der Wiederbegegnung gespeist wurde7, ist lediglich in Skizze S2 6,10f. enthalten („Sie gehn zu ?Sach? nein – irgendwo anders hin – Riedhof“). Ein zweiter, von der Forschung immer wieder kommentierter Faktor von eminentem Einfluss auf die Genese von Frau Bertha Garlan war Schnitzlers Lektüre von Sigmund Freuds im Herbst 1899 erschienener Traumdeutung. Bereits Schnitzlers erster psychoanalytischer Interpret, Theodor Reik, stellte Berthas Traum in der Eisenbahn als exakte literarische Entsprechung zu Freuds Theorien über die Traumarbeit dar.8 Im Tagebuch erwähnte Schnitzler die Schrift am 26. 3. 1900 (Tb II,325), also wenige

3

4

5 6 7 8

Vgl. dazu die Darstellung von Renate Wagner, auf die sich viele weitere Studien stützen: Frauen um Arthur Schnitzler. Wien, München: Jugend und Volk 1980, S. 13–21. Unveröffentlichtes Typoskript, ASA, M III, Mappe 177, Bl. 56. Den Zeitpunkt der Wiederbegegnung erinnerte Schnitzler ungenau („Sommer“ statt Mai). DLA, A:Schnitzler, Mappen 1111 und 1112. Vgl. Karte [3] vom 13. 5. 1899 (S. 283) und Schnitzlers Tagebucheintrag vom 15. 5. 1899 (S. 299). Vgl. Schnitzlers Tagebucheintrag vom 22. 5. 1899 (S. 299) und Brief [6] vom 27. 5. 1899 (S. 285). Theodor Reik: Arthur Schnitzler als Psycholog. Minden: Bruns 1913, S. 223–235.

2

Vorbemerkung

Wochen vor der Fertigstellung der Novelle; die Aufzeichnungen eigener Träume9, die nun vermehrt einsetzten, enthalten an einer Stelle auch den Hinweis auf einen Schauplatz des Textes: „Dann im Volksgarten (meine Novelle!)“ (5. 4. 1900; Tb II,326). Noch Jahre später, nach einer Relektüre früher Erzähltexte, kam Schnitzler im Zusammenhang mit Frau Bertha Garlan auf diese erhöhte Traumaktivität zurück: „ich erinnre mich, daß ich, als ich Freuds Traumdeutung las (1900), auffallend viel und lebhaft träumte und selbst im Traum deutete.–“ (23. 3. 1912; Tb IV,313; vgl. S. 14) Bereits zwei Tage nach der Fertigstellung am 16. April begann Schnitzler die „Nov[elle]. zu dictiren“ (18. 4. 1900; Tb II,327), was darauf hindeutet, dass es ein Schreiberexemplar gegeben haben muss, das – ebenso wie Schnitzlers eigenhändiges Manuskript (vgl. S. 4) – nicht erhalten ist. Dieses Exemplar dürfte auch in der Tagebuchnotiz vom 25. 5. 1900 gemeint sein: „Nachm. Durchsicht von Bertha Garlan.–“ (Tb II,330) Schnitzler fand den Text offenbar gelungen10 und übermittelte ihn an die Schriftstellerkollegen Felix Salten und Gustav Schwarzkopf11, worüber er auch Hugo von Hofmannsthal berichtete: „Meine große Novelle hab ich der N. Dtsch. Rundschau gegeben; sie ist nicht übel ausgefallen; bisher kennen sie Salten u Schwarzkopf, die beide sehr zufrieden scheinen.“ (17. 7. 1900; HvH-Bw 141) Ohne den Text noch in Händen zu haben, sagte Schnitzlers Verleger Samuel Fischer den Abdruck im Januar-Heft des Folgejahres in der Neuen Deutschen Rundschau zu.12 Er erhielt das Manuskript der Novelle am 5. 7. 190013; nach der Lektüre zeigte er sich beeindruckt und beglückwünschte Schnitzler am 26. 9. 1900 „zu der Kunst des Erzählens, die Sie in diesem Werke zu hoher Vollendung gebracht haben“ (Fischer-Bw 64). Lediglich die Benennung „Bertha Garlan“14 verstand er als „Verlegenheitstitel“ und kritisierte sie als insofern unzutreffend, „weil im Vordergrunde der Handlung eigentlich zwei Frauen stehen“ (Fischer-Bw 65). Mit diesem Brief

9

10 11

12 13

14

Vgl. dazu: Peter Michael Braunwarth u. Leo A. Lensing: Arthur Schnitzler. Träume. Das Traumtagebuch 1875–1931. Göttingen: Wallstein 2012. „Meine Novelle ist fertig. Nicht schlecht.“ (19. 6. 1900; RBH-Bw 145) Vgl. dazu den Brief an Gustav Schwarzkopf vom 9. 7. 1900: „Meine Novelle haben Sie wohl durch die Grünwald erhalten. Bitte behalten Sie sie vorläufig ruhig in Ihrem Hause (die Novelle!!). Falls Sie mir was darüber sagen wollen, mündlich.“ (Br I,386) – Ida Grünwald (1873–1908) war Sekretärin von Schnitzler, Richard Beer-Hofmann und Hugo von Hofmannsthal. Vgl. den unveröffentlichten Brief S. Fischers an Schnitzler vom 25. 6. 1900, CUL, B 121a. Vgl. das Postscriptum im unveröffentlichten Brief S. Fischers an Schnitzler vom 5. 7. 1900, CUL, B 121a: „Soeben trifft Ihr Mscpt. (ohne Titel) bei mir ein“. Den vollständigen Titel „Frau Bertha Garlan“, der wohl von Gustave Flauberts Madame Bovary (Erstausgabe 1857, dt. 1858) inspiriert ist, trägt erst der Zeitschriftendruck. Bis zu diesem Zeitpunkt ist in den brieflichen Zeugnissen und noch in der Vorankündigung des Abdrucks auf der ersten Seite des Dezember-Hefts der Neuen Deutschen Rundschau lediglich von „Bertha Garlan“ die Rede. – Auf Madame Bovary – Schnitzler hatte den Roman mit achtzehn Jahren gelesen (vgl. den Eintrag vom 14. 5. 1880; Tb I,51) – als literarische „Vorlage“ verweisen viele Rezensenten der Novelle, vgl. z.B. Alfred Gold: Arthur Schnitzler: Frau Bertha Garlan. In: Die Zeit, Nr. 344 (4. 5. 1901), S. 78; [Joseph Victor Widmann?]: Kunst und Litteratur. Frau Bertha Garlan. In: Sonntagsblatt des Bund, Nr. 18 (5. 5. 1901), S. 141f.; [o. V.]: Le Roman Allemand en 1901. In: La Revue (ancienne Revue des Revues), Nr. 4 (1. 11. 1901), S. 308–314, hier: S. 313.

3

Vorbemerkung

schickte der Verleger das Manuskript an Schnitzler zurück. In den darauffolgenden Wochen fand offenbar noch eine Überarbeitung des Textes statt; dem Wunsch nach einer Titeländerung kam Schnitzler indes nicht nach. Am 30. 10. 1900 bestätigte Fischer den Erhalt einer redigierten Fassung: „Ich freue mich sehr, dass Sie noch tüchtige Striche gemacht haben; im Anfang scheinen mir diese Striche besonders notwendig gewesen zu sein.“15

Handschriftliches Material Wie von der Novelle Sterben (vgl. St-HKA 3) ist auch von Frau Bertha Garlan eine Handschrift des gesamten Textes nicht erhalten. Am 28. 5. 1908 vermerkte Schnitzler im Tagebuch: „Dr. Stefan Zweig kennen gelernt; […] Seine Autographenund Mscrpt.-sammlung. Er ersucht mich um Mscrpte. und zeigt sich sehr geärgert, dass ich gerade in der letzten Zeit die Mscrpt. von Sterben und Garlan verbrannt“ (Tb III,336). Darüber hinaus findet sich weder im Nachlass noch im S. Fischer-Verlagsarchiv am Deutschen Literaturarchiv in Marbach/N. (DLA) eine Druckvorlage fremder Hand. Mehrere Skizzen und Notizen hob Schnitzler hingegen auf; sie befinden sich seit 1938 in der Cambridge University Library (CUL). Allerdings ist auch bei den Entwürfen von einer lückenhaften Überlieferung auszugehen. Textträger ist bräunliches Papier im Format von ungefähr 17 × 21 cm, bei dem jeweils zwei benachbarte Kanten Schneidespuren tragen. Es wurden also Bogen mit den Maßen 34 × 42 cm mittels zweifacher Faltung zu jeweils vier Blättern zugeschnitten. Die einseitig beschriebenen Blätter weisen vielfach einen Längsbug auf, der wohl eine zweispaltige Textanordnung erleichtern sollte. Schreibstoff ist Bleistift; nur die Entwurfsskizze wurde mit schwarzer Tinte festgehalten. Alle Blätter mit Ausnahme von S6 9, N7 und N15 tragen den Besitzstempel von CUL. A 153: Umschlag A 153,6: Entwurfsskizze (= E), 1 Bl., undat. A 153,7: Figurenliste (= Fl), Skizzen (= S1–S7) und Notizen (= N1–N17), 54 Bl., undat. Die insgesamt 55 Blätter sind in der Mappe A 153 (= Umschlag) gesammelt, die in gefaltetem Zustand 20,2 × 26,1 cm misst. Diese Mappe enthält außerdem – in erster Linie handschriftliche – Entstehungsstufen zu der Erzählung Der blinde Geronimo und sein Bruder (erschienen 1900/01 in Fortsetzungen in der Wochenschrift Die Zeit) und zu drei der fünf Erzählungen, die 1907 unter dem Titel Dämmerseelen veröffentlicht wurden. Schnitzler vermerkte auf der Mappe mit „Weissagung. – Einfall“, „Neues Lied – Einfall“ und „Thamayer – Mscrpt“ nicht nur jene Materialien, die zum Zeitpunkt der Zusammenstellung auffindbar waren, sondern auch die Lücken: „Leisenbohg – fehlt völlig“, „Die Fremde – fehlt“.

15

Unveröffentlichter Brief S. Fischers an Schnitzler vom 30. 10. 1900, CUL, B 121a.

4

Vorbemerkung

Keines der Blätter zu Frau Bertha Garlan trägt ein Datum. Es ist aber davon auszugehen, dass die Entwürfe erst nach dem Wiedersehen Schnitzlers mit Franziska Lawner im Mai 1899 entstanden sind. Ob sie vor der oder parallel zur Niederschrift des gesamten Textes (vom 1. 1. bis zum 16. 4. 1900, vgl. Tb II,319 und 327) aufgezeichnet wurden, lässt sich nicht klären.

Ordnung der Handschriften Die 55 Blätter der Signatur A 153,6 und 7 sind nicht nummeriert und nur teilweise geordnet. Im Konvolut nehmen die Entwurfsskizze (E) und die Figurenliste (Fl) eine Sonderstellung ein und können einem frühen Schreibstadium zugeordnet werden. E, der einzige Textzeuge in Tinte, umreißt in neun Zeilen die Grundidee der Handlung, wobei aus der angedeuteten „Doppelgeschichte“ (E 9) erst in späteren Textstufen eine „Gegenüberstellung zweier Frauenschicksale“16 entwickelt wird. In der Figurenliste Fl finden sich, wie auch in den frühen Skizzen, noch die Namen „Ruppius“ und „Knöpfelmann“, die danach in „Rupius“ und „Klingemann“ geändert werden. Das Konvolut enthält ferner seitenübergreifende Skizzen (S1–S7) mit ausgeführten Handlungssequenzen und Notizen (N1–N17) auf einzelnen Blättern. Der Zusammenhang mehrseitiger Texte wie S6 oder S7 lässt sich dabei etwa aufgrund der Weiterführung begonnener Sätze (z.B. S6: „dss er eine andre“ [7,18] – „Geliebte hat“ [8,1]) wiederherstellen. Wo eine solche eindeutige Reihenfolge nicht auszumachen war, wurde die Lage der Blätter innerhalb der Mappe übernommen. Eine verlässliche entstehungsgeschichtliche Reihenfolge der einzelnen Skizzen und Notizen lässt sich nicht rekonstruieren. Aufgrund der Entwicklung der Figurennamen ist allerdings anzunehmen, dass die Notizen, insgesamt siebzehn Blätter, zumindest teilweise parallel zu den Skizzen bzw. nach S1–S4 aufgezeichnet wurden; sie werden geschlossen nach S1–S7 wiedergegeben. Ihres bruchstückhaften Charakters wegen ist auch hier eine textgenetische Reihung nicht möglich; zudem finden sich Notizen zu verschiedenen Teilen der Novelle häufig auf einem Blatt. Daher folgt ihre Wiedergabe der Lage der Blätter innerhalb des Konvoluts;17 zur Anordnung vgl. die untenstehende Tabelle mit Umfangsangabe und den betreffenden Figurennamen.

16

17

Arthur Schnitzler: Selbstkritik anlässlich der Korrektur der Gesammelten Werke. Unveröffentlichtes Typoskript (ASA, N I, Mappe 20, Bl. 6). Da es offensichtlich im Lauf der Jahre zu Umordnungen des Materials gekommen ist, wurde die Reihenfolge mit der um 1960 vorgenommenen Mikroverfilmung des Nachlasses in CUL verglichen, s. die Konkordanz im Anhang (S. 301).

5

Vorbemerkung

Tab. 1: Figurennamen in den Skizzen und Notizen Sigle

Anzahl der Blätter

Figurennamen

S1

2 12 2 3 2 9 6

Herr M.; Frau Ruppius

S2 S3 S4 S5 S6 S7 N1 N2 N3 N4 N5 N6 N7 N8 N9 N10 N11 N12 N13 N14 N15 N16 N17

1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1

Frau Ruppius; Violinvirtuose ?St?; Herr Ruppius; Bertha August Knöpfelmann Frln. Ritter; Kling; ?Relling?, Hr. Ruppius; Frau R, Fr Malhmann Emil; Klingemann; Elly Klingemann; Frau R. Rupius; Klingemann; Frau Rupius; Bertha; Em Emil; Berth; ?Docto? Friedrich Emil Frau R.; Herr R. Rupius; Emil Lind; Klingemann Frau Rupius Frau R.; Herr R.; Klingemann; Emil Frau Rupius Klingeman Rupius – Emil; Frau Rupius Doctor Fran?z?; Frau R; Kl Rup.; Ann Bertha; Frau Rupius Bertha; Frau R. Frau R.; Rupius; Frau Bertha Rupius; Bertha; Frau Rupius

Die Skizzen enthalten zum Teil stichwortartige Inhaltsangaben, zum Teil erzählende Sequenzen, vereinzelt auch metanarrative Hinweise, etwa die Einfügung „Hier die gena[uen] Erineru[ngen] Conservatorium“ (S2 4,8f.). S1 und S2 geben dabei jeweils den gesamten Handlungsbogen wieder. Als Handlungsort nennt S1 – allerdings mit Fragezeichen – das niederösterreichische Krems (S1 1,1); die später namenlos bleibende Provinzstadt wurde auch noch von einem zeitgenössischen Rezensenten entsprechend identifiziert18. Die Figur des gelähmten Herrn „Ruppius“ wird in S2 erstmals eingeführt (S2 10,13). S3 entspricht dem ersten Kapitel der Novelle, wobei der auftretende Junggeselle immer noch „August Knöpfelmann“ heißt (S3 2,3). In den folgenden beiden Skizzen wird die Figur in „Kling“ (S4 1,15) bzw. „Klingemann“ (S5 2,2) umbenannt. Sie gelten dem Handlungsverlauf bis zur Vorbereitung des Wiedersehens mit dem Jugendgeliebten, der nunmehr den Figurennamen „Emil“ trägt (S5 1,12). Das Wiedersehen mit ihm wird in S6 skizziert. S7 führt das Ende der Affäre und den Tod der Frau Rupius zusammen. Die Strukturierung nach Wochentagen – „Montag“ (S7 1,1), „Dinstag“ (S7 4,1), „Mittwoch“ (S7 4,12) und „Donnerst[ag]“ (S7 5,4) – entspricht der Zeitstruktur des Drucktextes, wobei dort die Tagesangaben nicht mehr

18

Vgl. Th. v. S. [d. i. Theodor von Sosnosky]: Bücher- und Zeitschriftenschau. In: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 50 (28. 2. 1902), Beilage.

6

Vorbemerkung

explizit gemacht werden, sondern nur noch erschlossen werden können (vgl. D 3428). Die textgenetische Verzahnung der Notizen mit den Skizzen wird an mehreren Stellen deutlich. S4 enthält zum letzten Mal die Schreibung „Ruppius“, die in allen Notizen, die den Namen nicht lediglich abkürzen, durch „Rupius“ ersetzt ist. Daneben findet sich in der rechten Spalte von S6 4 ein Text, der die Notiz N5 erweitert und daher als spätere Hinzufügung gelten kann. Auch andere Notizen liefern Ausgestaltungen der Skizzen, so wird Klingemanns „Heiratsantrag“ (S5 2,5) in N8 in verschiedenen Alternativen entworfen. Ein Teil der Notizen kann einer wortwörtlich korrespondierenden Stelle im Drucktext zugewiesen werden, etwa Rupius’ Aussage „Ich hätt es als m eignes aufgezogen! . .“ (N13 2f.) zu D 4285f.; andererseits erscheinen zentrale Themen, die in den Skizzen und Notizen mehrfach wiederkehren, wie Berthas Überlegungen zur sexuellen Abstinenz von Herrn Rupius (vgl. S4 2,11–13; N3 8f.; N9 4f.; N16 5–8), in einer für Schnitzler typischen Diskretion in der Veröffentlichung nur noch implizit.

Zur Handschrift Die Schwierigkeiten, die bei der Entzifferung der Handschriften zu Frau Bertha Garlan auftreten, sind dieselben wie die in den bisherigen Bänden der Werke in historisch-kritischen Ausgaben19 beschriebenen. Schnitzlers Schrift verschleift nicht nur Wortendungen, auch die einzelnen Buchstaben verlieren ihre distinkten Merkmale, die sie von anderen, im Kurrentschriftsystem ähnlichen Graphemen unterscheiden, so etwa die Großbuchstaben „K“ und „R“ in der Einheit „Keine Reue“:

Abb. 1: Ausschnitt aus N5 Sp. 1,2: „Keine Reue“

Abb. 2: Mustergültige Kurrentbuchstaben „K“ und „R“

Die Verwendung von schwarzer bzw. grauer Schriftfarbe in der Transkription veranschaulicht die Differenz zwischen distinkten und indistinkten, gleichwohl erkennbar intendierten Graphen oder Graphenfolgen. Bei grau gesetzten Einheiten handelt es sich also nicht um editorische Ergänzungen, sondern um Auflösungen indistinkter graphischer Spuren unterschiedlicher Ausprägung. Im Vergleich mit dem Faksimile lässt sich die ‚Erschließung‘ der betreffenden Schriftzeichen überprüfen. Einen Sonderfall bilden Wörter, die mit einem langen „s“ abgeschlossen werden. Dem Kurrentschriftsystem gemäß muss am Wortende ein rundes Schluss-„s“ stehen. Da Schnitzlers Handschrift dieser Regel generell entspricht, wird für die Beispiele in Abbildung 3 und 4, bei denen jeweils ein Schaft-„s“ die Substantive „Kreis“ bzw. „Gewissensbiss“ beschließt, angenommen, dass mit dem langen „s“ die

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Vgl. LG-HKA 2f., A-HKA 9f., St-HKA 5, L-HKA 6f.

7

Vorbemerkung

eigentliche, syntaktisch erwartbare Wortendung angedeutet ist. Die Transkription bietet denn auch die erweiterte Wortendung in grau an: Statt „im Kreis“ bzw. „Gewissenbiss“ steht „im Kreise“ bzw. „Gewissensbisse“.

Abb. 3: Ausschnitt aus S5 2,7: „im Kreise“

Abb. 4: Ausschnitt aus S5 2,9: „Gewissensbisse –“

Zur Umschrift xxx

Durch Lateinschrift hervorgehobene Einheiten werden kursiviert.

xxx

Aus indistinkten Graphen erschlossene Grapheme oder Graphemfolgen erscheinen in grauer Schriftfarbe.

xxx

Streichungen werden typographisch wiedergegeben.

xxxxxx

Überschriebene Graphe und Graphenfolgen werden durchgestrichen und vor der sie ersetzenden Variante hochgestellt.

xxx

xxxxx Ergänzungen und Varianten ober- oder unterhalb der Zeile werden in kleinerem Schriftgrad gesetzt. ?xxx?

Fragliche Entzifferungen werden durch hochgestellte Fragezeichen gekennzeichnet.

[???]

Unentziffertes wird durch Fragezeichen in eckigen Klammern markiert.

[xxx]

Eintragungen fremder Hand werden in eckige Klammern gestellt.

Druckgeschichte – Drucktext Nach Erhalt des überarbeiteten Manuskripts im Oktober 1900 (s. Entstehungsgeschichte S. 4) konnte der S. Fischer Verlag mit der Einrichtung des Satzes beginnen. Man verfolgte dieselbe Herstellungs- und Veröffentlichungsstrategie wie sechs Jahre zuvor bei der Novelle Sterben (vgl. St-HKA 10). Der Erstdruck von Frau Bertha Garlan erschien in drei Teilen in den ersten drei Heften von Fischers Neuer Deutscher Rundschau von 1901. Der Satz des Zeitschriftendrucks wurde umgehend mit geänderten Zeilen- und Seitenumbrüchen für die selbständige Buchausgabe wiederverwendet,20 20

Vgl. Peter de Mendelssohn: S. Fischer und sein Verlag. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1970, S. 122.

8

Vorbemerkung

die bereits im April desselben Jahres erschien21 und von der Fischer sofort „zwei Auflagen à 1150 Exemplare“22 drucken ließ. Bereits Ende Mai desselben Jahres besorgte S. Fischer die 3. Auflage.23 Weitere Auflagen erschienen 1904 (4. Aufl.), 1906 (5. Aufl.) und zwei separate im Jahr 1908 (6. und 7. Aufl.). Mit der Aufnahme in die Gesammelten Werke von 1912 wurde die Schreibweise des Titels zu Frau Berta Garlan geändert. Im gleichen Jahr wurde die Novelle als neunter Band in der „Vierten Reihe“ (d. i. dem vierten Jahrgang) von Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane publiziert.24 1922 kam es zu einer Neuauflage der Gesammelten Werke, der letzte Druck des Textes zu Lebzeiten Schnitzlers ist im Band Frau Berta Garlan und andere Novellen der Gesammelten Schriften von 1928 enthalten.25

Erstdruck ED S. Fischer teilte Schnitzler bezüglich des Zeitschriftendrucks von Frau Bertha Garlan (ED) am 30. 10. 1900 mit: „Es wird nicht gehen, dass wir Ihnen die Correcturen auf einmal schicken, die Druckerei, die die Neue deutsche Rundschau druckt, kann so viel Schrift auf 3 Monate im Voraus nicht festlegen, denn Ihre Erzählung wird durch 3 Hefte gehen.“26 Schnitzler konnte den Text somit offenbar nur in Abschnitten durchsehen. Unkorrigiert blieb daher die uneinheitliche Textgestaltung, die auch vermuten lässt, dass mehrere Setzer an der Herstellung des Zeitschriftensatzes beteiligt waren. Die Orthographie der drei Teile von ED entspricht in manchen Merkmalen Schnitzlers Schreibgewohnheiten im Jahr 1900, in anderen nicht. So bestehen in ED Unregelmäßigkeiten bei der Schreibung des Verbalisierungssuffixes „-ieren“, das Schnitzler in dieser Zeit überwiegend als „-iren“ schrieb. Bis zu D 1555 („probieren“) finden sich im Druck alle betreffenden Verben außer „spazieren“ mit „-iren“. Danach werden beide Schreibungen ohne erkennbare Präferenz gesetzt, was auch das Verb „spazieren“ betrifft (vgl. „spazirt“ in D 2944). Das Suffix „-nis“ ist in den Handschrif-

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Im April-Heft der Neuen Deutschen Rundschau wurde das Buch als eine der „Novitäten“ des S. Fischer Verlags angezeigt (vgl. Neue Deutsche Rundschau, Nr. 4 (1901), [Umschlaginnenseite]). Das Wöchentliche Verzeichnis der erschienenen und der vorbereiteten Neuigkeiten des deutschen Buchhandels vom 25. 4. 1901 (Jg. 60, Nr. 17, S. 435) verzeichnete das Buch als „erschienen“. Unveröffentlichter Brief S. Fischers an Schnitzler vom 30. 10. 1900, CUL, B 121a. Vgl. den unveröffentlichten Brief S. Fischers an Schnitzler vom 20. 5. 1901, CUL, B 121b: „Die neue Auflage von ‚Bertha Garlan‘ wird Anfang nächster Woche fertig.“ Diese billige Ausgabe erreichte bis Mitte der 1920er Jahre eine Auflagenzahl von 87.000 (vgl. de Mendelssohn: S. Fischer und sein Verlag, siehe Anm. 20, S. 526). Otto P. Schinnerer verzeichnet im Systematischen Verzeichnis der Werke von Arthur Schnitzler einen Abdruck der Novelle in der „New Yorker Staatszeitung, Mai 1901“ (In: Jahrbuch deutscher Bibliophilen und Literaturfreunde, Jg. 18/19 (1933), S. 94–121, hier: S. 102); Richard H. Allen übernimmt diese Angabe in: An Annotated Arthur Schnitzler Bibliography. Editions and Criticism in German, French, and English 1879–1965. Chapel Hill: The University of North Carolina Press [1966] (University of North Carolina Studies in the Germanic Languages and Literatures, 56), S. 25. Am angegebenen Ort findet sich ein solcher Nachdruck allerdings nicht. Unveröffentlichter Brief S. Fischers an Schnitzler vom 30. 10. 1900, CUL, B 121a.

9

Vorbemerkung

ten mit „s“ realisiert, in ED ohne Ausnahme mit „ß“; desgleichen ersetzt ED die bei Schnitzler übliche lateinische Form „Doctor“ immer durch „Doktor“.27 Schnitzler scheint beim Korrekturdurchgang gar nicht erst versucht zu haben, seine Schreibung durchzusetzen. Dass diese selbst uneinheitlich war, belegen die Entwürfe zu Frau Bertha Garlan, die noch vor der II. Orthographischen Konferenz von 1901 entstanden: Auf S2 1 stehen beispielsweise unmittelbar untereinander „Klavierlektionen“ und „Klavierlectionen“, auf S3 1 stößt man auf die Schreibung „Clavierlection“:

Abb. 5: Ausschnitt aus S2 1,8f.: „Klavierlektionen – auch Klavierlectionen“

Abb. 6: Ausschnitt aus S3 1,19a: „Clavierlection“

Erstausgabe EA und Auflage 2 bis 7 Die enge druckgeschichtliche Verwandtschaft des Erstdrucks in der Neuen Deutschen Rundschau und der ersten Buchausgabe zeigt sich, abgesehen von derselben Frakturtype, anhand übereinstimmender Setzfehler. Beispielsweise sind von den 20 Fliegenköpfen (d. s. kopfüber gesetzte Buchstaben) in ED sieben an gleicher Stelle in EA erhalten.28 Der frühe Erscheinungstermin verlangte Eile,29 sodass offenbar keine sorgfältige Satzkorrektur erfolgen konnte; andernfalls hätte ein hinzugekommener Setzfehler wie „wre,üach ndie“ für „wieder zurück“ (vgl. Apparat zu D 1036) auffallen müssen. Dieser Fehler findet sich auch noch in der zweiten Auflage, die im selben Herstellungsdurchgang gedruckt wurde. Fischer, der vom Publikumserfolg der Novelle überzeugt war, teilte Schnitzler am 28. 12. 1900 mit, dass er beabsichtige, vom Satz der Buchausgabe Druckplatten anfertigen zu lassen, „so dass ein Neudruck eventl. schnell und ohne neue Correcturendurchsicht hergestellt werden kann“.30 Diese Platten dürften bis zur siebenten Auflage verwendet worden sein, wobei punktuelle Korrekturen und Revisionen vorgenommen werden konnten. Der genannte auffällige Setzfehler wurde beispielsweise ab der dritten Auflage (1901) korrigiert (vgl. S. 62 der 1. bis 7. Aufl.). Die überzählige Präposition der Phrase „in in ihr“ auf Seite 199 – ein Fehler, der aus dem

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28 29

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Das Substantiv „Konzert“ schrieb Schnitzler stets in der Form „Concert“, in ED kommen drei unterschiedliche Schreibungen vor: „Concert“, „Conzert“ und „-konzert“ (vgl. etwa D 1044, 457 und 730), allerdings mit klarer Präferenz für „Concert“. Vgl. Herausgebereingriffe und Apparat zu D 1290, 1524, 1997, 2239, 2243, 2517 und 3257. Fischer schrieb am 14. 12. 1900 an Schnitzler, „der Druck der Buchausgabe der ‚Garlan‘ [solle] gleichen Schritt mit der Veröffentlichung in der Rundschau halten“ (Unveröffentlichter Brief, CUL, B 121a). Unveröffentlichter Brief S. Fischers an Schnitzler vom 28. 12. 1900, CUL, B 121a.

10

Vorbemerkung

Zeitschriftensatz stammt (vgl. Herausgebereingriff zu D 3374) – ist wiederum ab der fünften Auflage (1906) entfernt. Ansonsten unterscheiden sich die Auflagen 1 bis 7 in erster Linie durch neu gesetzte Titelblätter und andere paratextuelle Elemente wie den Herstellervermerk auf Seite 25631 oder Verlagswerbungen.

Werkausgaben Ähnliches wie für die Auflagen 1 bis 7 der selbständigen Buchausgabe gilt für die Textgestalt der Gesammelten Werke von 1912 (GW) und deren Neuausgabe von 1922 (GW1922). Diese Drucke in Antiqua-Schrift32 unterscheiden sich nur geringfügig und wurden offensichtlich mit Hilfe derselben Platten oder Matrizen hergestellt. GW1922 ist satzidentisch mit den Gesammelten Schriften von 1928.33 Von GW weicht GW1922 an insgesamt vierzehn Stellen ab. Dabei handelt es sich um orthographische Varianten („Veilchenbouquet“ f „Veilchenbukett“, vgl. Apparat zu D 2662) sowie um Verbesserungen von Druckfehlern (vgl. etwa Apparat zu D 202, 801, 1539, 2149). Die Textrevisionen von ED über EA zu GW/GW1922 sind zahlreich, aber geringfügig und betreffen zum größten Teil Eingriffe in die Orthographie inklusive Interpunktion. Ziel war eine einheitlichere Textgestalt sowohl für EA als auch für GW: Beispielsweise findet man in ED die Schreibung „Hotel“ sowie die französische Form „Hôtel“; für EA wurde, mit einer Ausnahme (vgl. D 2567), zu „Hôtel“ vereinheitlicht, für GW wiederum zu „Hotel“. Ähnliches gilt für das schon erwähnte Verbalisierungssuffix „-iren“ bzw. „-ieren“: Während in ED beide Formen vorkommen und EA noch stärker auf „-iren“ setzt (vgl. D 1555, 2306, 3518, 3747), normalisiert GW auf „-ieren“. Die Ergebnisse der II. Orthographischen Konferenz von 1901 trennen die Textgestalt von ED und EA auf der einen Seite und GW auf der anderen. Lexikalische Änderungen sind nur wenige festzustellen: So wurde etwa „nach Hause“ an einer Stelle durch „heimwärts“ (ab EA; vgl. Apparat zu D 325) oder „Halbschlummer“ durch „Schlummer“ (ab GW; vgl. Apparat zu D 3448) ersetzt. In syntaktischer Hinsicht stößt man ab der Textgestalt von GW auf einige Umstellungen („fing […] zu plaudern an“ f „fing […] an zu plaudern“, vgl. Apparat zu D 778); elliptische Verbalkonstruktionen, die in ED und EA gehäuft vorkommen, werden zunehmend

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Auflage 1 und 2: „Buchdruckerei Roitzsch vorm. Otto Noack & Co.“; Auflage 3: „Druck von A. Seydel & Cie., G. m. b. H., Berlin SW“; Auflagen 4 bis 7: „Rosenthal & Co., Berlin SO., Rungestraße 20.“ Schnitzler wurde von S. Fischer in die Wahl der Schrift für die Gesammelten Werke von 1912 eingebunden: „[…] wir werden nun also mit dem Satz der erzählenden Schriften beginnen. Ich schicke Ihnen morgen eine Satzprobe in deutscher und Antiqua-Schrift. Wir werden uns mit dem Satz beeilen müssen, um rechtzeitig fertig zu werden, denn ich lege doch Gewicht darauf, dass die erste Abteilung der erzählenden Schriften im Mai erscheint.“ (Unveröffentlichter Brief S. Fischers an Schnitzler vom 23. 2. 1912, CUL, B 121c) Schnitzler antwortete am 1. 3. 1912: „Wir wollen also Ihrem Vorschlag gemäss die Antiqua-Schrift wählen.“ (Unveröffentlichter Brief Schnitzlers an S. Fischer, CUL, B 121g) Frau Berta Garlan. In: Arthur Schnitzler: Gesammelte Schriften. Frau Berta Garlan und andere Novellen. Berlin: S. Fischer 1928, S. 9–181. Auf der dem Inhaltsverzeichnis gegenüberliegenden Seite wurde zu dieser Ausgabe vermerkt: „Bisher erschienen als zweiter Band der Erzählenden Schriften“.

11

Vorbemerkung

durch finite Hilfsverbformen ergänzt (z.B. „vorgestellt“ f „vorgestellt hatte“, vgl. Apparat zu D 69). In den in die Narration eingeschalteten Briefen werden in GW/GW1922 Personalund Possessivpronomina der 2. Person groß geschrieben. Vier Pronomina weichen von dieser Regel durch Kleinschreibung ab (vgl. Apparat zu D 1537, 1538, 1541 und 3246). Da diese in den Briefen Emils an Bertha enthalten sind, erzeugt das einen Effekt der Figurencharakterisierung: Es scheint so, als korrespondiere er unaufmerksamer als sie.

Druckgenese Makrostrukturell unterscheidet sich die Textgestalt der zu Lebzeiten erschienenen Drucke hinsichtlich der Einteilung der Erzählabschnitte. Die Anzahl der nur optisch abgegrenzten, nicht nummerierten Kapitel verringert sich von 12 auf 11 und schließlich auf 10: Tab. 2: Kapitelstruktur der Druckfassungen

Die Kapitel sind unterschiedlich lang; nach der Zeilenzählung von D umfassen sie rund 200 bis 750 Zeilen. Zwei Kapitel sind markant kürzer bzw. länger: das siebente von ED mit 113 Zeilen sowie das vierte von GW mit 1067 Zeilen. Im zweiten Fall ist aufgrund der signifikanten Überlänge am ehesten von einem Irrtum auszugehen: Wie bereits an der Novelle Sterben ersichtlich (vgl. St-HKA 9 und 13), wurde für die Gesammelten Werke von 1912 mit den Kapiteleinteilungen der Prosatexte zum Teil nachlässig verfahren. Im ersten Fall könnte die Fortsetzungsstruktur des Zeitschriftendrucks dafür verantwortlich sein, dass das sechste Kapitel in zwei Teile zerfiel – in EA entspricht der sechste Abschnitt den Abschnitten 6 und 7 von ED. Eine weitere Abweichung betrifft das Schlusskapitel: In ED beginnt es mit D 4140 („Bevor sie fortging…“), ab EA mit D 4088 („Am nächsten Morgen…“). Die Varianten bei der Kapiteleinteilung akzentuieren den novellistischen Charakter von Frau Bertha Garlan unterschiedlich. In EA findet der gemeinsame Gang durchs Museum im zentralen Kapitel statt, nämlich im sechsten von elf. Damit wäre der Museumsbesuch gegenüber der Liebesnacht (in EA in Kapitel 7) als novellistischer Höhepunkt formal hervorgehoben. Eine klare Gliederung zeigt auch die 12-teilige Textgestalt von ED, für die sich eine Einteilung in drei Blöcke zu je vier Kapiteln anbietet. Für EA ist dieser dreiteilige Aufbau ebenso problemlos nachzuweisen, nur besteht hier der mittlere Teil aus drei statt aus vier Kapiteln. Die Textgestalt

12

Vorbemerkung

ab GW mit dem überlangen vierten Abschnitt (vgl. D 1221–2287) widersetzt sich hingegen dieser Gliederung.34 Schnitzler nannte Frau Bertha Garlan in der Entstehungsphase immer eine „Novelle“. Während der Erstdruck in der Neuen Deutschen Rundschau keine Genrebezeichnung trägt, führen die Inhaltsverzeichnisse auf den Heftumschlägen den Zusatz „Roman“ ein. Diesen Gattungsbegriff setzen die Auflagen 1 bis 3 der Buchausgabe (alle 1901) auf das Titelblatt. Schnitzler selbst scheint diese Bezeichnung übernommen zu haben;35 dagegen kritisierten zeitgenössische Rezensenten die für einen Roman zu schmale Handlung und schlugen teilweise auch explizit „Novelle“ als geeigneteren Terminus vor.36 Möglicherweise unter dem Einfluss dieser Urteile kehrte Schnitzler dazu zurück.37 Auch der Verlag wies nun Frau Bertha Garlan von der 4. bis zur 7. Auflage auf dem Titelblatt als „Novelle“ aus und nahm den Text in die „Novellen“-Bände der Gesammelten Werke und der Gesammelten Schriften auf. Selbst im Rahmen von Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane wird Frau Berta Garlan auf dem Titelblatt als „Novelle“ bezeichnet. Über den Korrekturaufwand, den Schnitzler für die Drucke von Frau Bertha Garlan betrieb, sind keine Selbstaussagen überliefert. Fischer teilte ihm am 28. 12. 1900 mit: „Von ‚Bertha Garlan‘ werden Ihnen gleich umbrochene Correcturbogen aus dem Satz der ,Rundschau‘ von der Buchdruckerei in Roitzsch zugehen“, entlastete Schnitzler aber mit dem Nachsatz, dass die „Revisionsbogen […] bei uns gelesen werden“ können.38 Mit einiger Sicherheit nahm Schnitzler auch die Neuauflagen nicht zum Anlass weiterer Korrekturen. Die am 2. 2. 1907 im Tagebuch vermerkte Lektüre dürfte kaum mit der Herstellung der Auflagen 6 und 7 im Jahr 1908 in Verbindung stehen: „Nm. ‚Bertha Garlan‘ ausgelesen (nach undenklichen Zeiten eine Sache von mir; der Anfang enttäuschte mich; der Schluss ist gut.)“ (Tb III,252) 34

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Für die Reclam-Ausgabe von 2006 griff die Herausgeberin Konstanze Fliedl auf EA zurück und setzte einen bisher nicht überlieferten, aber plausiblen Schnitt am Seitenwechsel von ED 195/196 (vgl. D 1976f.), wodurch die Kapitelanzahl wie in ED auf 12 erhöht wurde. In dieser Texteinteilung fällt „der herbeigesehnte Moment des Wiedersehens […] genau in die Textachse“, da Emils Gruß („Guten Morgen, Bertha“ [D 2287]) und das Wiedererkennen („Es ist seine Stimme“ [D 2288]) den Übergang vom sechsten zum siebenten Abschnitt bilden. Vgl. Arthur Schnitzler: Frau Berta Garlan. Hrsg. v. Konstanze Fliedl. Stuttgart: Reclam 2006 (RUB 18427), S. 91 und das Nachwort, S. 181–214, hier S. 189. Vgl. Schnitzlers Brief an Georg Brandes vom 25. 4. 1901: „Einen kleinen Roman, den ich vorigen Winter schrieb, haben Sie wohl schon erhalten.“ (GB-Bw 84) Vgl. Alfred Gold: Arthur Schnitzler: Frau Bertha Garlan. In: Die Zeit, Nr. 344 (4. 5. 1901), S. 78; St–g [d. i. Julius Sternberg]: Literarische Notizen. „Frau Bertha Garlan“. In: Neue Freie Presse, Nr. 13180 (5. 5. 1901), S. 33; Max Foges: Moderne Erzähler. In: Neues Wiener Journal, Nr. 2716 (18. 5. 1901), S. 1–3, hier S. 2; Heinrich Hart: Neues vom Büchertisch. In: Velhagen & Klasings Monatshefte, Nr. 5 (1901), S. 574–577, hier: 575f.; Arthur Eloesser: Neue Bücher. In: Neue Deutsche Rundschau, Nr. 6 (1901), S. 652–662, hier: S. 656f.; Th. v. Liska [d. i. Hugo Klein]: „Frau Bertha Garlan“ In: Neues Pester Journal, Nr. 153 (6. 6. 1901), S. 9f.; Th. v. S. [d. i. Theodor von Sosnosky]: Bücher- und Zeitschriftenschau. In: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 50 (28. 2. 1902), Beilage. Vgl. den Brief an Otto Brahm vom 16. 2. 1902 über die Arbeit an Der Weg ins Freie (EA 1908): „Es wird ein wirklicher Roman, nicht eine lange Novelle wie die […] Garlan.“ (OB-Bw 116) Unveröffentlichter Brief S. Fischers an Schnitzler vom 28. 12. 1900, CUL, B 121a. Ob die genannten „Revisionsbogen“ die gesamte Novelle enthielten oder nur Teile davon, wie es Fischer im Brief vom 30. 10. 1900 angekündigt hatte (s. S. 9), ist ungeklärt.

13

Vorbemerkung

Für die erste Ausgabe der Gesammelten Werke sah Schnitzler die erzählende Prosa ab 16. 3. 1912 (vgl. Tb IV,311) relativ rasch durch,39 denn S. Fischer trieb zur Eile: „[…] mit dem Satz der ‚Gesammelten Werke‘ haben wir begonnen; die Korrekturen werden Ihnen schon im Laufe der nächsten Woche zugehen. Wenn Sie keine Zeit und Lust haben, Korrekturen zu lesen, so können Sie sich die Mühe ersparen, da die Korrekturen jedenfalls bei uns gelesen werden. Der Druck muss ein bisschen beschleunigt werden, damit wir rechtzeitig mit den ersten drei Bänden fertig werden.“40 Am 29. 3. 1912 schrieb Schnitzler im Tagebuch von bereits „besorgter Correctur der ersten 2 Bände G. W.“ (Tb IV,315), ohne die Novelle eigens zu erwähnen. Allerdings belegt der Tagebucheintrag vom 23. 3. 1912 die Lektüre von Frau Bertha Garlan im Zusammenhang mit den Gesammelten Werken; Schnitzler spricht darin zwei Charakteristika seiner frühen Novellen an, zum einen die „Intensität in der Darstellung rein seelischer Erlebnisse“, zum andern den „Blick für die Beziehungen zwischen gleich geschlechtigen Menschen (also nicht erotischen) z.B. Bertha Garlan – Anna Rupius“ (Tb IV,313). In der unveröffentlichten „Selbstkritik anlässlich der Korrektur der Gesammelten Werke“ führte er seine Lektüreeindrücke weiter aus und zeigte sich von der Qualität von Frau Bertha Garlan überzeugt: „Eine Novelle von hohem Rang trotz einzelner Längen und stilistischer Schwerfälligkeiten. Die Gegenüberstellung zweier Frauenschicksale ohne jede Absichtlichkeit, die Beziehung zwischen Anna und Bertha von erlesener Feinheit, ihre Begegnung auf dem Bahnhof unvergesslich. Die unvordringliche Lebendigkeit der Nebenfiguren besonders zu loben. Die Atmosphäre der kleinen Stadt, alles Klimatische und Meteorologische eindringlich. Es wäre möglich, dass der Schluss als etwas zu lehrhaft oder gar moralisierend empfunden werden könnte.“41

Drucktext D Der im vorliegenden Band edierte Drucktext D basiert auf dem Erstdruck der Novelle in der Neuen Deutschen Rundschau. ED (Erstdruck): Frau Bertha Garlan. Von Arthur Schnitzler. In: Neue Deutsche Rundschau (Freie Bühne), Jg. 12, H. 1 (Januar 1901), S. 41–64; H. 2 (Februar 1901), S. 181–206; H. 3 (März 1901), S. 237–272. Die Fortsetzungen in Heft 2 und 3 sind durch die Paratexte „(Fortsetzung folgt.)“, „(1. Fortsetzung.)“, „(Schluß folgt.)“ und „(Schluß.)“ angekündigt bzw. eingeleitet. Diese werden im Fließtext von D nicht übernommen. Die Einschnitte im Text, welche durch die Fortsetzungsstruktur entstanden sind, werden als gewöhnliche Abschnittsgrenzen mit Asterisken dargestellt und durch Marginalien ausgewiesen.

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Das überlange vierte Kapitel in GW, aber auch einzelne verderbte Stellen wie „Aber das sie hat immer für eine Romanphrase gehalten“ (GW 142; vgl. D 3348f.) blieben dabei unberührt. Unveröffentlichter Brief S. Fischers an Schnitzler vom 7. 3. 1912, CUL, B 121c. Arthur Schnitzler: Selbstkritik anlässlich der Korrektur der Gesammelten Werke, siehe Anm. 16.

14

Vorbemerkung

Eigenheiten des Fraktursatzes von ED, wie etwa die Ligatur von „tz“, die Verwendung des gleichen Großbuchstabens für „I“ und „J“ oder der punktuelle Einsatz von Antiqua-Lettern (z.B. für Ziffern oder für „é“, „è“, „ô“), werden in D nicht dargestellt. Die Antiqua-Schrift hat in ED aber auch hervorhebende Funktion, in D werden solche Stellen kursiv gesetzt; die wenigen in ED mittels Sperrung hervorgehobenen Stellen werden auch in D gesperrt wiedergegeben. Die Zeilenumbrüche von D sind mit denen von ED identisch. Die Seitenwechsel von ED wie EA werden in D markiert, die entsprechenden Seitenzahlen als Marginalien angegeben. ⎡

markiert in D die Stelle eines Seitenwechsels im Erstdruck



markiert in D die Stelle eines Seitenwechsels in der Erstausgabe

Sämtliche Emendationen gegenüber ED werden in der Liste der „Herausgebereingriffe“ nachgewiesen.

Apparat Der lemmatisierte Einzelstellenapparat im Fußnotenbereich verzeichnet die Abweichungen von D in der Erstausgabe, im Text der Gesammelten Werke von 1912 und in deren Neuausgabe von 1922. EA (Erstausgabe): Arthur Schnitzler: Frau Bertha Garlan. Roman. Berlin: S. Fischer 1901. GW (Gesammelte Werke): Frau Berta Garlan. In: Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke in zwei Abteilungen. [7 Bde.] Berlin: S. Fischer 1912. Erste Abteilung: Erzählende Schriften. 3 Bde. Bd. 2: Novellen, S. 9–181.42 GW1922: Frau Berta Garlan. In: Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke in zwei Abteilungen. [9 Bde.] Berlin: S. Fischer 1922. Erste Abteilung: Erzählende Schriften. 4 Bde. Bd. 2: Novellen, S. 9–181. Die Druckgestalt von GW und GW1922 ist nahezu identisch; sämtliche Abweichungen von D, die in GW und GW1922 gleich lauten, werden nur mit der Sigle GW versehen. In den fünf Fällen, in denen GW1922 von GW abweicht und dabei ED wiederherstellt, werden diese im Apparat verzeichnet, um einen direkten Vergleich mit GW zu ermöglichen (D 202, 801, 1539, 2149, 4306).

42

Im Inhaltsverzeichnis von GW und GW1922 ist dem Titel das Entstehungsjahr der Novelle „(1900)“ nachgestellt.

15

Vorbemerkung

Einige regelhaft zu fassende Abweichungen zwischen den Drucken bleiben im Apparat unberücksichtigt: –

Ab GW wird die Schreibung „Bertha“ in „Berta“ geändert, wie auch „th“ in allen anderen Wörtern gemäß den Ergebnissen der II. Orthographischen Konferenz von 1901 zu „t“ abgeändert wurde (die einzige Ausnahme bildet die beibehaltene „Kärnthnerstraße“, vgl. D 2567).



Ab GW ist die Vereinheitlichung der Schreibung von Verben auf „-ieren“ durchgeführt.



Die in ED und EA gesetzten Umlaut-Digraphe „Ae“ und „Ue“ sind ab GW als Umlaut-Großbuchstaben „Ä“ und „Ü“ realisiert.



Hervorgehoben wird im Fraktursatz von ED und EA durch Antiqua-Schrift und in wenigen Fällen durch Sperrung, im Antiqua-Satz von GW/GW1922 ausschließlich durch Sperrung.



Ab GW sind die doppelten Trennungs- und Bindestriche von ED und EA („ “) durch einfache („-“) ersetzt.



Während in ED und EA Zitate oder Eigennamen (z.B. Werktitel) innerhalb direkter Rede durch doppelte Anführungszeichen („“) gekennzeichnet sind, werden ab GW einfache (‚‘) gesetzt.



In GW/GW1922 steht in der Regel ein auf direkte Rede folgendes Komma innerhalb der Anführungszeichen (,“), Ausnahmen in: D 1185, 2928, 2932, 2966 und 3685.



Während in ED sowohl die Schreibung „Hotel“ als auch „Hôtel“ vorkommt, verwendet EA – mit einer Ausnahme (vgl. D 2567) – die französische Schreibung „Hôtel“, in GW heißt es durchwegs „Hotel“.



Personal- und Possessivpronomina der 2. Person Singular und Plural sind in ED und EA in der Regel groß, ab GW klein geschrieben. Das betrifft auch Fälle wie „den Deinen“ (D 2687) oder „Deinetwillen“ (D 670). Ausnahmen bilden die direkt wiedergegebenen Briefe und Briefpassagen in GW, in denen die Anredepronomina wie in den frühen Drucken groß geschrieben sind. Die Höflichkeitsformen sind in allen berücksichtigten Drucken groß geschrieben. Abweichungen von diesen Regeln werden verzeichnet (vgl. Apparat zu D 1537, 1538, 1541, 3246).



In ED ist der Text in 12 nicht nummerierte Abschnitte eingeteilt. Sie sind durch drei zentriert gesetzte Sternchen getrennt, ausgenommen jene zwei Einschnitte, die sich aus der dreiteiligen Fortsetzungsstruktur des Zeitschriftendrucks ergeben (vgl. D 1220/1221 und 2537/2538). In EA ist die Ab-

16

Vorbemerkung

schnittstrennung wie in ED markiert, in GW hingegen lediglich durch eine Leerzeile. Die erste Zeile eines neuen Abschnitts in ED und EA ist – wie bei beginnenden Absätzen – eingezogen; in GW setzt ein Abschnitt mit einer über zwei Zeilen reichenden Initiale ein. Der Text wird in ED, EA und GW verschieden eingeteilt (s. Tab. 2, S. 12); getilgte bzw. an anderen Stellen gezogene Abschnittsgrenzen werden im Apparat verzeichnet (vgl. Apparat zu D 1535/ 1536, 4087/4088 bzw. 4139/4140). –

Der edierte Drucktext D imitiert das Format von ED, ohne dass die in den verschiedenen Drucken vom Setzer verantworteten Abstände und Leerräume in den Apparat aufgenommen werden. Das betrifft die Abstände nach Punktfolgen ebenso wie die Darstellung der fiktionalen Briefe. In ED, EA und GW/GW1922 beschränken sich die Unterschiede auf die Abstände zwischen den Anrede- bzw. Grußformeln und dem Haupttext der Briefe.

Kommentar Der Einzelstellenkommentar enthält kulturgeschichtliche und biographische Hinweise und bietet Erläuterungen zu den Schauplätzen der Erzählung, zu Austriazismen und veralteten, zum Teil fremdsprachlichen Ausdrücken; darüber hinaus geht er auf intertextuelle und -mediale Bezüge ein. Kommentare zu den handschriftlich überlieferten Texten befinden sich im Fußnotenbereich der Transkription; sie dienen nicht zuletzt der Plausibilisierung der Entzifferung. Kommt eine betreffende Stelle auch im Drucktext vor, wird auf den Kommentar zu D mit entsprechender Zeilenangabe verwiesen.

17

Vorbemerkung

18

Handschriften

Handschriften

1. Handschriften

19

Umschlag

Handschriften

Originalmaße 20,2 × 26,1 cm

20

Handschriften

Umschlag

153.

Dämmerseelen. Leisenbohg – fehlt völlig – Weissagung. – Einfall. Neues Lied – Einfall

5

Die Fremde – fehlt. – Thamayer – Mscrpt – –

Bertha Garlan, Skizzen. –

Geronimo, Skizzen.

10

[Schnitzler] [A 153]

1

153.: mit rotem Farbstift geschrieben.

21

E

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E

1 Junge Wittwe, kommt aus B; Sehnsucht, Abenteuer: der Jugendgeliebte. Erlebt es, ko¢t nach hause, muss es erzählen. Ko¢t sich sonderbar vor, kämpft lang, berichtet es

5

endlich einer Freundin, der das gar nicht imponirt, weil sie längst ein Verhaltnis mit wem (Commis des Mannes?) hat. – Event. Doppelgeschichte: Er, für den’s gar nicht ist u. s. . .

10

[A 153,6]

2

1: mit Bleistift geschrieben. B: möglicherweise Abkürzung für Bielitz (Schlesien, heute Bielsko-Biała), deutsche Sprachinsel

8

in Schlesien mit 16.600 Einwohnern (1900); Wohnort von Franziska Lawner. Commis: (frz.) Handlungsgehilfe, kleiner Angestellter.

1

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Fl

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Fl

Garlan Herr Victor Scharwung erg R[???]ottinger. Eisenstadt.

Seine Frau Albertine

Emm Irene.– HausgehilfinMi[???]

[???]

Der kleine Neffe TheodoRichard Die Nichte Emmy.–

5

Sparkassebeamter –

Herr Anton Ruppius

SchriftJournalist ?alt?[???]

Bernhard Gisela Elise Ruppius Landun Die alt Jungfer Wurz?mayer? – Bernhar Knöpfelmann. August Friedri Sparkasse Praesi

10

3a

6a

Eisenstadt: Die etwa 40 km von Wien entfernte Stadt gehörte zum deutschsprachigen Teil Westungarns und hatte 1900 rund 7.400 Einwohner sowie eine aktive jüdische Gemeinde. Seit 19. Dezember 1897 war sie an das ungarische Eisenbahnnetz angeschlossen. Ein Aufenthalt Schnitzlers in Eisenstadt lässt sich nicht nachweisen. Sparkassebeamter: Die auf Geldverleih und Spareinlagen beschränkten Sparkassen waren stark lokal ausgerichtete Kreditunternehmen.

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Sie in Krems(?) spazierengehn, am Friedhof kann nicht meh weinen.– Kleiner Sohn.– Frühling – Erinerung an den Jjunge G[?]eliebten. Er war Violinschül nun ist er ein berühmter Künstler – 10 Jahre nicht geseh 5

freilich auch die letzten zehn Jahre – nur von weitem Zeitung gelesen.– Wie lebt er! wie lebt sie!– – Die Leute; Besuch bei Herrn M. u ?bei? Verwandten, der Neffe, der 19jährige – aber widerlich.– Uberhaup was für Leute!– [?]

10

Sie fährt einmal nach Wien, sie erfährt, wo er wohnt – aber sie geht nicht hin. Sonderbarer Tag.– Sie ist noch hübsch!– Zurück

Noch kleiner und jämmerlicher.–

Stickerei ihm – zu Geburtst 15

Er antwortet ihr reizend – Sie ko¢t nach Wien – zu ihm – Nein, nicht bei Dir – sie gehn in Ch. separee – Er schien ihr praeoccuppirt – aber was macht das!– Endlich mit ihm ins Hotel, sie dachte zu ihm – [A 153,7]

20

1

17 18

Krems: Kleinstadt, 60 km nordwestlich von Wien mit 21.000 Einwohnern (1900). – Am 29. 5. 1899, also noch vor Beginn der Arbeit an Frau Bertha Garlan, vermerkte Schnitzler im Tagebuch einen Radausflug nach Krems (Tb II,307), am 31. 5. und 1. 6. 1900, kurz nach Abschluss der Novelle, war er ein weiteres Mal dort (Tb II,330). Friedhof: In Krems befindet sich bis heute seitlich der Pfarrkirche ein katholischer Friedhof. Ein jüdischer Friedhof lag inmitten der Weinberge am Turnerberg. Ch. separee: Chambre séparée: Pseudoentlehnung aus dem Französischen für einen abgetrennten Raum in Restaurants, der diskretes und ungestörtes Zusammensein erlaubt. praeoccuppirt: (frz.) préoccupé: mit etwas beschäftigt, in Gedanken anderswo.

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Am nächsten Tag – Absgeschrieben – bei ?mir? – Fortreise – Verdach dss nicht – aber nein, sie reist traurig ab – aber dann kom sie sich großart vor – Jugendgel, großer Mann – sie muss es jemand erzählen – wem? Schwägerin?– Nein! 5

Der Frau Ruppius, der Frau des Arztes, die fährt alle 14Tg nach Wien – sie wird es verstehn – u doch sich wunder früh vor 10 Ja

Und da£ erfährt sie, die Schwäger hat mit dem Apothekergehilfen Sie schreibt ihm – er antwortet nicht. 10

Er wollte kommen – sieer ko¢t nicht – Aber sie hegt ihn treu im Herzen –

1

Absgeschrieben: s. Kommentar, D 1233.

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Sie geht mit ihrem 5j. Sohn aus dem Thüore des Friedhofs. – Wundert sich. Sie hat nicht mehr geweint. Freilich – 3 Jahre, lange Zeit, Sonderbares einfaches Leben . . Er [?] 5

Er war ein Geschäftsmann – nicht mehr jung; überdies hatte sie ihn nie geliebt . . . Er war ein entfernter Verwandter Wie ihre Eltern starben, hatte er sie geheiratet, sie mußt no dankbar sein; Klavierlektionen – Und hier gibt sie auch Klavierlectionen,

10

hauptsächlich Verwandten; ja, eine geachtete Stellung Heute um 12 – zu ihrer Schwägerin; jetzt unterrichtet sie die Nichte; den Neffen nicht mehr – uberdies ist er frech, allerdings sieht er jemandem ähnlich

15

aber – offenb nur weil er eb auch 19 Jahre alt war – Frau Ruppius begegnet ih auf der Straß, fesche Frau . . Was machen Sie?

(Schwägerin über ?die Rupp?

Sie fährt ofters nach Wien; sie hat Verwandte [?] 17

fesche: (öst.) fesch: attraktiv, gutaussehend.

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in Wien – Sie sollten einmal mit mir fahren, während . . mei Verwandten besuche – kommen Sie – Wie lang schon nicht in Wien – 7 Jahre! Sie konnte wieder einmal hin . . Die Bekannten ?von? [???]

5

Einer freilich – aber der! ab der! Wie versch?ied? hatte sich ihr Leben gestaltet. Und es stand doch einmal fest, dss sie das Leben mit ihm zusammen verbringen müßte – Und er blühend – sie abgeschlossen.

10

Nun gehen die Tage hin; sie geht spazieren; ihr Schwag ihr Schwager macht sie nervös, ein alter Junggeselle der mit seiner Kochin und mit der Tabak-Trafik ein Verh. hat – Der Schwager sagt: Diese Reisen von Frau Ruppius – also

15

das ist was besondres: man sieht sie manchm mit Männer –

13

Tabak-Trafik: s. Kommentar, D 246.

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Aber das ka£ sie sich nicht vorstellen – überhaupt, sie ka£ sich nichts vorstellen – Und doch alle diese Dinge gibts man erlebt sie – was mag Er erleben . . Nun denkt sie an ihn – und hat ihn doch sehr lang nic 5

gesehn – Da steht in der Zeitung – der Violinvirtuose ?St? ist von sein Reise durch Amerika zurückgekehrt – – nie hat das solch Wirkung gemacht als diesm Sie hat Briefe von ihm – Sie liest sie wieder.

10

– Eine Sehnsucht – Soll sie heiraten?– Dies alten Jung gesellen – 50 Jahre – nein nein – gewiss – er ?i? noch sehr schön – sie kennt seine Bilder, in illustr Zeitung hat sie sie gesehen Ob er ?au? noch an sie denkt –

15

Wenn sie nach Wien ging – ihm zufällig begegnet – Es stand fest – sie fährt nach Wien – sie will Eink

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machen – man bekomt hier ja nichts! – 3 Stunden sinds im ganzen … Sie fährt mit dem Frühzug nach Wien – kann Abends wied zurück, – Frau Ruppius gibt ihr einen Schneider an – ja zu dem geht sie.–

5

– Ankunft – Verwirr. Einsamkeit – Sehnsuch nachhause – Zu ihrer Cousine – kühl – kau zehn Worte, sie hätte wein können –,

(Hier die gena

Ringsherum Eri£eru Rendezvous Conservatorium)

[???] Jahr Sie geht Abends fNachmitt wieder fort – Unsinn Nein, es ist scho schon zu haus – 8 Tag probir

10

Un Abends kann sie nicht schlafen – u schrei ihm – Eine sehr liebenswürdig Antwort komm Komst du nicht mal nach Wien – es wäre sehr nett. Sie fiebert die ganze Zeit – Er! Er! – der Jugend

15

geliebte – Alles mogliche ?tolle? – We£ er sie heiraten

8b

Conservatorium: s. Kommentar, D 91.

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würde – Was fur ein Kleid – Sie hatte nur Angst, dss Frau R. am selben Tag Sie sagt ihr nichts;– sie bekomt das Kleid von der Schneiderin ?u? sie schreibt ihm. (zehn Mal.) Ich komme an dem und dem 5

Tag. wo wollen wir uns treffen?– Nein! wer weiß w er vorschlagen wollte . . Sie wird selbst schreiben: Im Museum . . um eilf Uhr . . Sie wird in der Nacht vorher in Wien schlafen . . um ausgeruht zu sein – Sie steigt im Hotel in d Vorstadt ab;– es war ihr genant vo

10

eleganten Kellnern – Sie küsst ihren Buben – Sie fahrt nach Wien – Abends – Allein Essen – so traurig Nicht schlafen; früh, Schneiderin ?u? Museum Er war es – Sehr hübsch – In seinen Augen leuchtet etwas ?au? das rasch verschwand – Bilder? – Was hast du ?gemac?

15

Sprechen gemütlich d?u? – ? – Also sag – war?um? ?sag also? den ganz Nachmitt Zeit – Nein – also Abends bei der Elisabethbrücke.– SieEr wartensteig in d Wagen – wie 9

eilf: veraltet für „elf“. Vorstadt: Die seit 1850 eingegliederten kleinbürgerlichen inneren Vorstädte (Bezirke 3 bis 9)

17

bildeten in der stark sozial geprägten Topographie Wiens eine Art Pufferzone zwischen der Innenstadt und den proletarischen Wohngegenden der Peripherie (Bezirke 10 bis 19), die erst 1882 eingemeindet wurden. genant: (frz.) gênant: peinlich, unangenehm. Elisabethbrücke: s. Kommentar, D 1030.

7

39

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schämt er sich ihrer?– Freilich, ihre neue Toilette, sie sieh sehr provinzial aus.– Was soll sie Nachmitt – Wo ist diesen ganzen langen Nachmittag thun?– Sie schlaft nach er Sein Leben?

Tisch; sie liest einen Roman – Um 8!– Um 8, 5

Elisabethbrücke.– SieWohin gehn wir?– Er [?]Ich denk w gehn irgendwohin, wo wir recht allein sein können – Sie plötzlich tugendhaft. Sie wollte wirk lich in ein oeffentlich Restaurant – ?Ja? wie d willst sagt er lächelnd.– Endlich: Vernünftig ware

10

schon wir gingen . . na ko¢ nur – Sie gehn zu ?Sach? nein – irgendwo anders hin – Riedhof – Er küsst sie heiss. Sie verliert fast d Besinung; und sei klaren grauen Aug leuchteten . . Sie ist ?w? trunken In den Wagen. Wohin –? Sie dachte eigentlich

15

dass er sie zu sich fuhren würde. Nein. Wo

2 10

11

provinzial: (frz.) provincial: veraltet für „kleinstädtisch“, „provinziell“. ?Sach?: Das 1876 eröffnete Hotel Sacher hinter der Wiener Oper, gegründet von Eduard Sacher (1843–1892), wurde unter seiner Witwe Anna Maria (1859–1930) zum Treffpunkt der besseren Gesellschaft. Riedhof: Von Johann Benedickter (1851/52?–1931) geführtes Restaurant mit Eingängen in der Schlösselgasse 14 und der Wickenburggasse 15 im 8. Wiener Gemeindebezirk. – Der Innenhof des „Vorstadt-Sacher“ bestand aus einem zweistöckigen Hof mit Laubengängen, sogenannten Pawlatschen. Schnitzler war regelmäßiger Gast, u.a. mit Franziska Lawner nach dem Treffen in der Secession am 22. 5. 1899 (vgl. Tb II,306).

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Wohnst du de£ da? Nein – aber es ist klüger . weißt du bei mir – kurz u gut – Es fiel ihr ein, dss er schon öfters hier gewesen sein mußte, mit andern; aber sie sprach’s nich aus.–

5

Um Mitternacht führt er sie die Treppe hinunt . . . Sie war w im Taum und wußt aber nicht ob sie glücklich gewesen war.– Also ich führe dich jetzt nach haus

10

{

Es fällt ihr ein dss sie eigentlich geglaubt hatte sie würde in seinen Armen erwachen – (später) Ich möchte dich einmal Violi spiel hören – seit Schlußprüfung – weißt du – seither hab ich dich n gehört . . . . – K Kannst zu meinem Concert herkomen

15

Nein! für mich allein! Also morgen . . früh schon . . wann – gut wann du willst Er muss sie doch lieb haben –

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Er führt sie nach hause.– Nacht – Tiefe. Wein getrunken Die kleine Stadt so fern.– Der Sohn – [?] Schuldig fühlt sie sich gar nicht . . Ob sie das auch gethan hätte, wenn 5

ihr Mann noch gelebt hätte. Jetzt fallen ih Wo ein: Liebesrausch . . Taumel. Nein – diese kühlen grauen Augen, das Lächeln, das hatte er früher nicht gehabt, gar nicht Einschlafen –

10

Aufwachen – nicht als wen sie was besondres er lebt. Sie hatte sich vorgestellt – Vormittag mit ih spazier gehn – Um – fünf Uhr – Nach hause – Karte: d

15

liebes Kind – sei mir nicht bös – wir kon uns he nicht sehn – Umstände – u. s w Kein Wort d Zärtlichkeit – als wäre das gestern

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nichts gewesen! Und es war so viel! Nun hat sie ihn plötzlich verloren! Sie liebt ih wahnsinig – ? – Was soll sie thun – Zu ihm? Nein nein – aber s 5

weiss schon, was sie thun wird – ihn verfolgen Ah! – ja! das wird sie! – Nein, wie denn, er wurd sie sehen – Ihm schreiben!– Ja – das noch einmal sehn!– Sie bleib noch ein Tag da!– Sie schreibt ihm kühl.

10

Rendezvous für morgen früh.– . U ?zu? gleich – Nein, ich hab morgen absolut nicht Zeit, nic in der Stimung (Gallerie!) Nun; fort . . fort . . . Sie reist noch Abends ab.–

15

Sie ko¢t an; ihr Bub – es ist ihr auch lieber Abends ankommen

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Am nächst morgen macht m Scherze – als wa es was ganz selbstverständliches – Und wenn s gesagt hätte: Ich war die Geliebte des – ?Ja s? war es. Und es kam ihr sehr großartig vor / es 5

ko¢t ihr gar nicht großartig vor . . . Nun geht das alte Leben weiter – ?Bedurfnis? Friedhof; ein bischen Reue? nein, gar keine.– Nun wühlt das in ihr . . Man behandelt sie w

10

eine anstand Frau – ach we£ man wußt aber wem soll sie’s erzählen – Zu Frau Ruppius. Begin des Gesprachs FrHerr

Ruppius gelähmt – Gespräch . . Man muss

sich bescheiden . . Meine Frau hat einen todtengelahm Sie 15

Ma£; ein todte Mann – Sie geht . . etwas wie Reue – Sie begegnet Frau Ruppius – Nun wie hab sie sich in Wien

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unterhalten. Sie erzählt nichts! Als hatte sie Angst verrath zu werden – ?nur? sie!– Nun erzählt sie plötzlich – ganz orkanartig 5

Sie – neulich hab ich ein Abenteuer in Wien gehabt – So . . Vorsichtig sein . . Niemand was erzählen. Ihr Mann weiss ja – Ja – solang ich fort bin – we£ ich da bin glaubt er nichts. – Uberhaupt die Männer . .

10

Nun? – Ihre Schwägerin .. Nein! Das ist nicht möglich – Also mit dem Commis – Nein, lieb Frau, Sie sind gar nichts besondres. Der Neffe, jung und hübsch .. Bist ja meine

15

Tante . . Da£ schreibt sie ihm – Nun – wie gehts dir? – Sie hofft einen glühenden Liebesbrief – ja, [?]so wie sie sich sehnt – De£ sie sehnt sich i¢erfort

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(sie schreibt ih gleich

alles in ihr ist wie aufgeruttelt – Es komt ein Brief Mein Lieb, sehr lieb von dir dass du mich nich vergessen hast – Willst du nicht bald ein 5

wiederko¢en. Uberhaupt war das ja ?nett? we£ du so alle 4 Wochen auf 1 Tag kämst Grüß dich Gott! – Sie hatte wie einen bitter Geschmack . . Sie legt es zu den andern Briefen. Sie woll

10

keinen mehr. – zu Frau R. . . . . . . Was denn? – Schwer krank – Sie will sie sprechen . . ja, wie ist das denn möglich . . . . Blutvergift

15

Herr Rup . . War hast du das gemacht! Ich hatt es aufge wie mein eigen Kind. Gedanke Bertha! – Sie hat sich vergiftet

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S3 1

Spaziergang.– Herunter[?]schreiten vom Hügel. Ausruhn. Nur mehr Spaziergäng!– Gedanken auf der Bank:

5

An den Mann.– Nie geliebt – und doch, es war Glück gewesen.– Was hätte sie Wie gethan – Eltern rasch gestorben; zwei Brüder, einer

10

Amerik, ein andrer heiratet wohnt in einer klein Stadt.– Der Mann hatte ihr schon lang den Hof gemacht: “Er ?war?konn einWeil

15

sein Bruder in jener Stadt

die Tochter des frühern Bürgermeist geheiratet – konnte er dort ein Geschäft in Compagnie; übernehmen; MatratzenBuchhan f[?]Buchhändler

. . BWeinhändler im kl Stil –

Rente von wenig hundert – Clavierlection – – | — 18

in Compagnie: als Teilhaber.

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S3 2

Sie selbst gibt Lectionen.– UAußerdem noch in [?]2 Familien .. bei Fr – – Jetzt komt Herr August Knöpfelmann vorbei . . Begleitet sie nach hHause;.– Er war k alt als vierz aber so verwittert. Er hattewar Notar.

5

Man wußte dss er zwei Verhältnisse hatte; eins mit sein Kochin oder Wirthschafterin, eins mit der Tabaktrafik; zugleich machte er den Hof der kl Nichte – und ihr. Man erzahlt au dss er unanstan Bilder in sei Zi¢ hatte

10

Uberdies war er ein Freigeist (kindisches Gespräch über den todten Mann.) ?glück?

7

Wirthschafterin: s. Kommentar, D 245.

57

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S4 1

Sie geht von Hause weg – Spaziergang.– Viele Leute trifft den Buben – Behaglichkeit des Lebens.– 5

Sittlichkeit Hier die alte Jungfer Sch[?]Frln Ritter, die so glücklich u zufried lebt.– – Die Familie des Schwagers –

10

GPlot

Schwager macht Witze über

?Relling?

Wien!–

mit dem Kinder-

Es ko¢t ihr vor, als fänden

mädchen . .

die Leut es selbstverständlich – – 15

Traurig Kling Mit der Zeitung: Er hat einen Orden – Plötzlich wie eine Erlösung: Ich werd ihm gratuliren –

20

Ja – wo . . er wird [?] vielleicht antworten – Noch heut gleich – sie schreibt noch heut’

59

hat ein Kind

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sie ist ganz beseligt – Nächste Tage – Erwartung.– Schon am 3. Tag . Antwort! Ko¢e schreib mir doch.– 5

Ja – wo – sie denkt lang nach – endlich: ko¢e – noch vor der Probe – damit Frau R.

Frau R – einweihen wollen, letzter

nicht mitgeht – ?etc? –

Versuch, der mislingt.

– Zeit bis sie fahren soll: 10

EiAm

Abend vorher:

F

Hr. Ruppius der in Verzweif ist – wesweg? worauf sie freiwillig verzichtet.– –

15

Dann Was soll sie sagen?–

wird ihr Cousine sagen:

Ja: Lüge: Cousine hat

sie möchte heiraten –

mir geschrieben –

?wenn?

Im Kreise der Familie

sie heiratet?!!?

ab ?er? selbs

Aus gestoßen würde sie sein! – ?Und? – sie 20

wird ihn eb einmal sehen, viell anders –

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5

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S4 3

Sein Brief: Ko¢ doch einmal.– Sie – der Frau R. sagen?– Geht zu ihr – Die ist wie ein Grab, 5

sehr verschlossen, auch düstrer – eigent[?]lich

irrrrrrorrrrrrp

ist’s ihr so ganz recht! – – Rasch Lection

10

Der Neffe sehr zärtlich – Sagt der Schwägerin (plötzlich:)

irrrrorrrrp

Heirat.

Cousine drängt so – U. s. w – So fahr doch . . .

Fr

Verbinden mit den Toiletten –



15

Auf der Reise:

Malhmann [???]äter.

Schreibt gleich . . . . (Ruhm Hoffnungen.) – Soll sie schreiben: Ich ko¢e . . Am Ende: zu mir – Also Museum! – –

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5

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S5 1

Bei der CSchwägerin.– Mit Selbstverstdl. lügt sie: Nach Wien – Neffe küsst sie. 5

Gleichgiltig, auch wenn Schwager drauf ko¢t. Großer Muth! – – ?V.? – Abd zu uns? . . Schreibt nach Tisch:

10

?I?Der

ganze Plan ward in

ihr reif: – NMein

lieber Emil . . . . Ich will

dir was Es fügt sich gut . . üb

Samstag.

– Ich werde morgen . . im 15

Museum sein – bei den Niederländern . . – um ..11 . . – Also . . . sie ?wi fa? – sie wird am Abd vorh fahren – um aus geschlafen zu sein.– 15f.

Niederländern: s. Kommentar, D 1801.

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S5 2

– Sonderbarer Spaziergang Abd – Klingemann schließt sich ihr an. Ah! – Dieses Leben bin ich ?satt?. 5

Geordnet. (Heiratsantrag) Frech! unverschämt Abd im Kreise der Familie.– Alles so geordnet – sie hat Gewissensbisse – möcht nicht

10

ko¢en! Alle Gefahren – sie wagt es nicht zu denken!– – Elly, vor der sie sich schamt. Sie geht auf galante Abenteuer –

15

Sonderbarer Ernst, als ließ sie sie fallen.

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S6 1

Wiesoarum nicht früher.– W SNicht

möglich?– War ja nie hier–?–

Du sagst doch dass du so oft kom Du schreibst es wenigstens – 5

Sie war auf einer Lüge ertappt. – Oh nein – Er lächelt nur u macht keinen Gebrauch.– Was? ?Im?

10

übrig vielleicht gerade

die rechte Zeit.– – Sie: Ich so viel von mir – Du nichts von dir.– Auf dein Reisen! Er erzählt irgend was von Amer [?] ist eine Stadt wie die andre – [???]

15

– Das, was du meinst, erst recht.– – Ich möchte dich spielen hören Es wird sich Gelegenheit geben – Im Concert – Ja, wann – heut 8 Tage – ist’s –

20

?In?

Wein.– Zärtlichkeit –

Hätte sie das wirklich alles

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früher haben können –?– Wahrend eines sehr heißen Kusses spürt sie: Das ist gege mein Programm; – ?sie?u . . . sie wehr 5

sich – aber es geht nicht. – Sie trinkt . . ein bischen absicht lich – als wollt sie vor sich sich selbst eine Ausred haben – –

10

Er: Trink nicht so viel – als wollt er ihr die Ausred nehmen – Sie duselt in der Ecke – Sie merkt, dss er zahlt . . . .

15

Wie lang da gewesen? – Was jetzt . . Ah . . er fahrt sie ins Hotel Wo wohnst du?– Sie enttäuscht . . Soll es sch zu Ende sein. [?] 13

duselt: duseln: (mundartl.) schlafen, benommen sein, schwindlig sein.

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S6 3

Hast du dem Kutscher die Adresse gesagt –? Nein – – [???]?Nach? 5

hause . . Das ist ja nicht ..

seine Gasse – mit

Er öffnet dem Schlüssel . . . in ein Zimer – E?ck? Pianino . . vor d ?nächst? Portièr . . Wohnst du hier . . 10

Nein . . weißt du . . ?Haus?meiste – Violine k da – ab Clavier – Sie spielt ein paar Takte, er umschlingt sie heiss – (sie denkt unwillk [?]

15

Klingemann –) – Auf d Heimweg – Wagen . . Wie ?s? bleibt . . .

Morgen – bei dir! – Ja, mein Liebster!– Wann? . Funf Uhr – 20

Also . . Hotel – Der Portier der sehr ?undurchdr? zu ih[?]

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S6 4

– Nächster mMorgen. Was ist geschehn – ? – Was besondres? . . . Sie isie

5

hist

..

Wacht auf, Wohlgefuhl . . Ah . sie

edie gelGelieb

ruft sich alles in s Gedacht zurück

ist sein . . sie ist die ?einz?

Wunderschön . . Reue, ab auch ni

Geliebt – sie hat das hoch

ein bisch . . nein . . stolz .. als w

ird Gluck genossen – sie fuhl

sie plotzl – Unter d Leute

Reue – ? ke Spur – irgend [?] Stolz

Lieg bleiben – Ja richtig; in die Kirche!–

wie we£ man plotzlich mit

ja ganz verlogen. – . Sie steht auf –

reden kann – Sie mocht 10

– In d[??] Kirch Im Licht de Tag

singen – Sie möchte ih Blum schicken – Um

lacherlich d Eifersucht.– Sie

?funf?

hört . . Das Solo . . – Unter d

bei ihm – Ah . . wie k[?] das

Leuten herrlich – fuhlt sich – als wa

Leben schön werden! – –

sie früher ausgeschlossen gewesen.

Kunst: Ja, sie will seine 15

– Nein, sie flieht, wies aus ist –

Freundin, Beratherin werden.

zu hause Brief u Blum –

Spazier ein wenig . . . Wie er haben allen denen gegenüber zu Haus!– wie wird sie jetzt ihre Schwager behandeln!– 20

5

Spaziergang . . Um 11 absage!– Blumen.–

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S6 5

Sie weiss: nicht hier bleiben.– Zug leider erst 7 Uhr.– Doch ruhiger .. 2. weiss sie – er liebtwill sie nicht sehen . . . . . sie [?] .. 5

?flucht?

[?] Es fällt ihr ein: we£

einer einmal an’s Ziel gekomen (zu widres Wort) – verlassen . . . . . Aber von verlassen ist nicht die Rede, 10

nein, er schreibt ?weiter?: Auf Wiederseh b nachst Mal – Kann auch Lüge sein – zum erst Mal das gräßliche Wort. Nur nichts denken =

15

A[?]Nur

an concret: Nach haus –

Sie wird also um ?6?17 daheim sein – um 10 ?ihn?den Bub seh – freut sie sich? Nein. – Morge alle andern sehen . . freut

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S6 6

sie sich? – nein – – Sie traut sich nicht auf d Straße – Sie möchte zur Cousine . . ja – 5

mit jemandem reden – ab was ihr sagen? – – Unter all dem tönt: Warum? Sie versucht an alles zu denken [?] Was hat ihn verletzt?– Freilich –

10

sie ist keine geübt Liebhaberin u einen Augenblick bereut sie dass sie sich nicht besser vor bereitet, nicht ?and? gehört!– – Oder auch: er ist nun einm

15

so? . er ist ja ein Künstler . . . vielleicht war es so schön, dss nicht . . . . (Noch ein Gedanke: Er ist . . einfach müd; ?er hat?

20

viel gelebt?)

79

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S6 7

Plotzlich schießt die Eifersucht hervor, u wie bei allen Gedanken ist es so, als war auch der i¢er dagewesen, 5

unerhörtes Gewühl in ihr! Mit einer andern! Hin zu ihm! Ja! Hin! Hin! Und schon fährt sie hin!– wie toll – aber wieder fort!

10

was i¢er geschieht – sie kann nur verlier – Nach Haus – Ruhe im Waggon .. Nac hause . . Singt sie das Rausch

15

ein . . Jetzt ist nur noch d Erinn an das schöne – und dss sie imer ko¢en kann . . Sie verzeiht ihm auch schon, dss er eine andre

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Geliebte hat . . . . man ka ihn nich auf einmal einnehmen Schlu¢er – .

5

Nicht hat sich verändert! So sond

Eintritt ins Haus, sie komt

bar, dss hier alles ?ist?

sich großartig vor . . ?war auch?

wie . .

ein unerhörtes Abenteuer, königlich – auch stolz u zu frieden dss sie nicht bei ih[?] ware . . . . 10

NächstUnruh

Schlaf –

Ein kl[???], wo wird s[??] sie ?finden?– Ja, ist Frau R. noch da? . Zuerst zur Schwägerin. – 15

Schwag Witze! . Nach Tisch Brief, ?gesc? zerrissen – endlich da ?bist?

sie ?fand?

ehrlich – aufricht – schamlos! – – 20

jetzt komt sie sich ?großartig? vor

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findet das Bild irrsinig – zu R . .Frau R . . . .

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Montag.– FriBub

erzahlt ihr wie gut ers

bei der Tante gehabt.– Sie wollte ihm sagen: Deine Mutt 5

Geliebte – – – Zu Rupius nicht; sie mocht vorher was hören.– Hin –

Schwager macht Witze!! Na! –

Schwäger . . Er u die Geschichte,

nette Geschichte – 10

?das?

sie sollte weg; Rup hat all

Wenn sie ihm sagte – ? – Der Neffe: Wenn sie ihm sagte:

beklagt! – sie bleibt!

Gefühl: Stolz! – Trifft Klingema£ – als ware sie auch in d 15

Gilde aufgeno¢en – ungesund – – Nach Tisch schreibt sie –

Sie schreibt sogar: du hast al

fühlt, dass alles ?eigent?

in mir aufgewuhlt!

ein schamloser Brief 20

in dem sie sich hergibt 15

Gilde: Zusammenschluss von Personen, Interessensgruppe; hier ironisch für: ausgewählter Kreis.

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5

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ganz, vollkom. – Jetzt ?zu?besser als früher. Zu Frau Rupius – sie begegnet ihr . . . Ich woll zu ihr. 5

Ich wollt zu Ihnen . . . Ich fahr nach Wien . . . ich hab morg früh zu thun – Ich hab mi dazu entschlossen . . . es geht nun einmal nicht anders –

10

Mein Ma£ Ich habe einen Gelieb Ich w. in Wien bei mein Geliebten. Ab glaub Sie – ?Reue?, nein [??]

15

nicht; meh

?vor?

Das seelische ist d Hauptsach. d and!

– Ja üb all d anstän Frauen – Wie Sch?w?. Hören Sie doch auf . . Ihre Schwg Klingemann –

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Das wühlt sie ganz auf; . – Was soll sie thun? . . Auf diesen Brief muss eine Ant wort kommen! – ?E?Vielle 5

komt er selbst! – Abend bei Schwägerin – Alles ko¢t ihr so sonderbar vor. Nein, das ist nicht wah. Sie will den Namen

10

Klingema aussprechen. Der Neffe neben ihr; sie fuhlt sein Fuß u fuhlt sich wohl! . Ist sie untreu?.– Sie möchte die Bilder bei Klingem sehen . .

15

sie beneidet die Frauen zim . .

91

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Dinstag. Vergeht in gewohnlic Thätigkeit Weise . . Sie mocht schon d Antwort haben . . . Stunden 5

Zu dem Rupius . . Ich habe eine Ahnung . . sie ko¢t nicht zurück . . . . . . . . . Sie hat mic so gekusst . . Was fur Ding gehen vor . .!–

10

Frau R. ko¢t; seh blass u müd.– Mittwoch. Am nächst Tag Bertha hört, dass sie so schw krank

15

sei . . Sie wird nic vorgelassen. R. w ?ein? wahnsinniger . . . . . Alles wird ?unsicher?

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We£ er gar nicht antwo was soll sie thun?? – Aber ?wird? sie . .Sie liebt ih Donnerst. Brief v Em 5

Der Gräßlich . . . Ah, es ist aus . . Dazu ist sie zu gut . . Und sie fuhlt, dss s ihn liebt. Frau R. im Sterben . . S

10

sturzt hin; d Doctor – schlim Sache . . . . Sie is todt . . Ja . . . S Hr R: Sie will m Ih reden – . . .

15

Hr R. . Aber . . ab . . w hat sie’s gethan . . . . wa[?] hat sie gethan . . . Ich hätt es

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aufgez wie ein eigen Kind Wa gehn mich d Leut an . . alle diese Ding sind so neb sachlich . . Lebendi sein ist alles!. 5

hätt sie taus. Liebhaber gehabt: – Sie geht n Hause . . Die Fr R. ist todt . . Sie ?sieht? das im Zusa¢hg – in ungeheur Ver wirrg . . LiebSie fuhlt drin

10

dass das w die Leut nenLie nen eben ungeh abscheulich ist . . . da SieW

wird sie thun? . . w?as? er! .

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N1

Das wichtige – ? – ?Ja richt.? dass Herr – Emil ein Concert gibt? – – An dem Tag wo Berth 5

in der Stadt, geschieh ein Unglücksfall, Frau?Docto? [?] Friedrich stirbt.

[A153,7]

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N2

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N2

Nicht mehr auf dem Boden Aber Tag drauf.– Andre Briefe!– Erinerung – Eltern – Man, Arzt 5

ein anony Liebesbrief v Conserv – – ?hier? Siin

seine! . Der erste –

dem er ihr geschrieben –

– da£ der letzte – 10

Wie wars zu Ende gegangen?– Unbegreiflich?– Warum? warum? Nachso

allmälig – auch sie hatte

aufgehört ihn zu lieb – ___

Alle! – aber wen? – 15

Ja – sie weiss schon! Emil –

101

r de s da e g!– d u il a r tr e m e n E G s in tB r ß de E ö e r d g bt ie e i s el tte G a h ie et? d d o n S ar ee w g Ich eso i dw n U

5

N3

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N3

Ofters diese Brief – – Der Frau R. erzählen – Einsam – entsetzlich einsam – – Diese sehr verstimmt – Nja, das ist 5

schon so – Wie ein Grab. Warum?– – Herr R. Ich liebe mei Frau – wissen Sie was das heißt: er ist so unglück weil ih[?] versagt ist – Aber sie? .

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N4

Lesen von Briefen.– In der Zeitung. Orden: das bringt sie drauf – Die kleine Stadt unendlich oed.– – Bei Rupius einmal.– Er hat nichts: Sie weiss nun ganz besti¢t: sie will wieder im Arm ein Ma£s lieg!–

5

Wer weiss! . . Was ist damit riskirt – Sie schreibt – einfach ohne Adresse – Emil Lind. – Gratulir dir zu: – Sie [???]wird ?was?ihm schreiben – vielleicht fugt es sich dss sie ihn sehen ka£, we£ ersie wied in die Stadt fährt –

10

– Ihre Spaziergänge . . Einmal mit Rupius . . .ganz ernsth . . Klingemann und der Neffe verschwinden ganz für sie. –

7

Emil Lind: Den namensgleichen österreichischen Schauspieler und Regisseur (1872–1948) erwähnt Schnitzler nur einmal in seinem Tagebuch, im Eintrag vom 25. 6. 1907 (Tb III,285).

105

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N5

Wohlgefühl – Keine Reue – Stolz., mitreden können.– 5

10

Liegen bleiben –

Am Tag von seinem

Nein, Kirche.

Concert – stirbt

Lacherlich d Eifersuch

Frau Rupius

im Licht des Tags

SWie

Worte . . Taumel

hört, dss er spielt –

Liebesrausch . .

aber ganz ein fremder!

Sein Lächeln – Spaziergang.– Kirche.– verborgen – Stimme der Sängerin

107

sie im ?Traum? 5

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5

N6

Ankunft.–

Nächst Morgen Frau R. sehr kran

Montag.– Frau R. bleibt, erzählt Herr R. –

schli¢e Sache – Bauchfellentzund

?unter?

Dritter [?]

all d L Schwager Witze! Was has

du in Wien gemacht!–

Brief von Emil

We£ sie’s wüßten!–

– Zu Fr R –

Frau R Stolz.– Erzählt es Frau R. –

das Stubenmäd – Lachhaft

– Ich muss Ihnen was erzählen!–

– Ich ?hab? das schon

5

Nun, was ist de£ ?dran? – ? Ihre Schwagerin Klingemann!– 10

15

Wagt nicht sie zu fragen Und Sie? Sie ka£ sich’s nicht vorstellen

Sie konnt sich kein Rechensch

Sie möchte Herrn R nicht treffen –

geb, sie fuhlt nur ?dringl?

– Schamlose Briefe, als wenn sie ihn

dss alles was die Leut Lieb nen

reizen wollte –

?eben

– Mit dem Neffen, als wär sie

Gefahr u voll Lügen . .

untreu –

Wie schon [??] . .

?Zum?

10

sehr? abscheulich . ?w?, weil

Friedhof –

Ko¢t sich wie eine Canaille vor u freut sich – Nächste Tag nichts –

20

?H?Frau

R ?heißt? sie holen.

Sie wollte schon heut ko¢en! – Nichts! – Sie ko¢t – sehr blass – 2

18

Canaille: (frz.) Schuft, schlechte Person.

109

Bauchfellentzund: Eine Bauchfellentzündung war eine zumeist tödlich verlaufende Entzündung der Bauchdecke, oft Folge eines nicht sachgemäß durchgeführten Schwangerschaftsabbruchs.

N7

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N7

Sofortige Abreise.– – Auf dem Weg neu erwach Stolz: er ist eben so . . . viel leicht das Concert . . Er liebt mi 5

ja . . das war Liebe . . das [???] gest in se Arme – ja er lieb mich – – Schreibt ihm gleich ein Ganz vergessen – sie ?geht hin?!–

(Schneiderin)

glühend Brief – (Montg –) ja wie ist [?]das? .–

erst in 3 Tag 10

Mit Frau Rupius die ja richtig!– Ins Haus. Ich bleibe . . . Frau R . . . ja . . ich habe Geliebten –

15

Nun? Das hab die meist Frauen.– Denk Sie – gar nicht wenig ich bin stolz – ich bin wohl schlech [?] – ? Denk Sie – ich sollt

20

mich schämen unter diesen – aber im Gegentheil!–

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N8

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N8

dem

auf den

Sie geht ?a?mit FBuben Friedhof, verträumt.– Trifft Klingeman.– Immer einsamer. Cynische Bemerkungen.– 5

Dieses Luder. Sagen Sie, wollen Sie mich nicht heiraten. Das Weib jag ich hinaus. Sie gefallen mir.– Warum verachten Sie mich?– Ein zerrüttetes Leben. – Bin nur zu feig.–

10

Oder Kl. . Wissen Sie dss ich Ihnen schon den ganz Tag nachrenne?– Ich bin verrückt . . . ich ka£ nicht schlafen.– Ah glauben Sie nicht – Absichtlich am Grabe . . Ja, gerad

15

da . . . Er freit hier um sie. Todt ist todt!– Gebeine . . Skelet. –

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N9

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MuseumRupius

N9

– verzweifelnd . .

weiht sie ein . . Es geht etwas

(er hat sich schon zwei mal hinaufschieb las vor auf d Friedhof.)

Sie wird mich verlassen – (Sie [???]kom auf d Idee: Er ist so ungluck 5

weg dem, worauf ich verzichte . . . . . . Sie ist . . . .

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N10

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N10

Gelegenheit: Er beko¢t einen Orden – Er antwortet – dass du mir grad zu der Dumheit gratulirst . .

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N11

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N11

Wesentliches!– Wie schön war ihr platon. Verhältnis zu Emil gewesen! Wie schön war das Verhältnis von Frau 5

Rupius und ihrem Mann! gewesen – Dagegen wie widerwärtig diese andern Dinge! – Kunst des Emil

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N12

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Handschriften

N12

Rückreise: SieDoctor

Fran?z? gestorben.–

[?]Geständnis

an Frau R:

Diese ärgerlich Nun ja – 5

besondres?– Ihre Schwägerin mit Kl – Woher ichs weiss Dieser Goldmensch hat’s mir selbst gesagt – als ich ihn einmal verhöhnte – und

10

Mein Schwager! . Er ahnts nicht? Er weiss es meine liebe! Er hat das ?nur?

benützt, um für sich vollkomen

Freiheit zu haben.

7

Goldmensch: saloppe Bezeichnung für jemanden, der reich ist oder dem Reichtum nachjagt; seltener in der Bedeutung „ein Mensch mit gutem Charakter“; hier in ironischer Umkehrung.

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N13

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N13

Rup. Warum hat sie das gethan? Warum?– Ich hätt es als m eignes aufgezogen! . . – Frau RAnn will ?auf Land?.

5

(Anschlagsäulen)

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N14

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N14

Bertha möchte gerne Freundin der Frau Rupius sein – – B. ka£ sichs auch nachher nicht vorstellen, dss Frau 5

R. – Verhältnisse hat

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N15

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N15

– Das Ende einer ungeheuren Zerrüttung desr Bertha: Aus die fruhere Ruhe: die graßlich Enttäuschg Das ist nichts für die ihrsie . . . – Dan das Schicksal der Frau R.,

5

die sich umbringt, wie sie in der Hoffnung ist . . . . . (Die Section ergibt es?) (Oder sie stirbt an einer FAbortion?) Wie sie hört, was alles in der kl. Stadt geschehen . . .

10

– Der [?]Neffe Stubenmädl.–

7 8

Section: Obduktion. Abortion: Schwangerschaftsabbruch.

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N16

Frau R. – Ich reise morgen – Schneiderin – – Frau B. ist ?Art Trost? für den Rupius, der sich denkt sie lebe auch als Wittwe. – 5

Frau Bertha: Warum ist R. so unglücklich – weil er das nicht haben ka£, worauf sie freiwillig verzichtet

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N17

Abschluss: Rupius beschimpft Bertha statt seiner Frau . . – Frau Rupius in andern Um5

ständen . – bringt sich um. – Berthas Krankenlager. Sie sagt ihrem Mann: Ich habe nur dich geliebt! . Warum nicht mach?

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Frau Bertha Garlan.

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ED [41]

Von Arthur Schnitzler.

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– 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31

⎣Langsam

schritt sie den Hügel hinab; nicht über die breite Fahrstraße, die in Windungen zur Stadt hinunterlief, sondern über den schmalen Weg zwischen den Weingeländen. Ihr kleiner Bub, den sie an der Hand hielt, ging immer einen Schritt voraus, denn für Beide war nicht Platz genug. Die späte Nachmittagssonne strahlte ihr entgegen und hatte noch so viel Kraft, daß Bertha ihren dunklen Strohhut ein wenig tiefer in die Stirn drücken und den Blick senken mußte. Auf den Hängen, an die die kleine Stadt sich lehnte, flimmerte es wie ein goldener Nebel, die Dächer unten glänzten und der Fluß, der dort, außerhalb der Stadt zwischen den Auen hervorkam, zog leuchtend ins Land. Die Luft war ganz regungslos und die Kühle des Abends schien noch fern. Bertha blieb einen Augenblick stehen und sah um sich. Sie war ganz allein mit ihrem Buben, und eine merkwürdige Stille war um sie. Auch ⎣oben auf dem Friedhof hatte sie heute Niemanden begegnet, nicht einmal die alte Frau, die sonst die Blumen begoß, den Gräberschmuck in gutem Stand erhielt, und mit der sie manchmal plauderte. Es kam Bertha vor, als wäre sie schon recht lang vom Hause fort und hätte schon lang mit Niemandem gesprochen. Jetzt schlug es von einem Kirchthurme sechs Uhr. So war noch kaum eine Stunde verflossen, seit sie ihre Wohnung verlassen, und noch kürzere Zeit, daß sie auf der Straße mit der schönen Frau Rupius geplaudert. Und selbst die wenigen Minuten, die verstrichen waren, seit sie am Grabe ihres Mannes ge standen, schienen ihr schon weit zu liegen. – „Mama!“ hörte sie plötzlich ihren Buben rufen. Er hatte sich von ihrer Hand losgemacht und war vorausgelaufen. „Mama, ich kann schneller gehen als Du!“ „So warte doch, Fritz!“ rief Bertha. „Du wirst die Mama doch nicht allein lassen.“ Sie folgte ihm und nahm ihn wieder bei der Hand. „Gehen wir schon nach Hause?“ fragte der Kleine. „Ja, Fritz, wir wollen uns zum offenen Fenster setzen, solang, bis es ganz dunkel wird.“ 1 2 2a 2b 6 10 11 12 15 18 19 30

Frau Bertha Garlan.] Frau Bertha Garlan EA FRAU BERTA GARLAN GW Von Arthur Schnitzler] Roman EA fehlt GW von EA Arthur Schnitzler EA Beide] beide GW glänzten] glänzten, EA GW Stadt] Stadt, EA GW regungslos] regungslos, EA GW Niemanden] niemanden GW Niemandem] niemandem GW Kirchthurme] Kirchturme EA solang] so lang GW

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⎣Bald waren sie am Fuß des Hügels angelangt und spazierten nun unter den schattigen Kastanien neben der staubweißen Reichsstraße, dem Städtchen zu. Auch hier trafen sie nur wenige Menschen. Auf der Fahrstraße kamen ihnen ein paar Lastwagen entgegen, die Kutscher trotteten daneben, die Peitsche in der Hand, zwei Radfahrer kamen aus der Stadt und fuhren landeinwärts, Staubwolken hinter sich lassend. Unwillkürlich blieb Bertha stehen, sah den Beiden nach, bis sie beinahe ganz verschwunden waren. Indeß war der Kleine auf eine Bank geklettert. „Schau, Mama, was für eine Kunst ich kann!“ rief er aus und machte sich bereit, herunterzuspringen. ⎡Die Mutter faßte ihn bei den Armen und hob ihn sorgsam herab. Dann setzte sie sich. „Bist Du müd?“ fragte der Kleine. „Ja,“ sagte sie und wunderte sich selbst, daß es so war. Denn jetzt erst fühlte sie, daß die schwüle Luft sie bis zur Schläfrigkeit ermattet hatte. Sie erinnerte sich übrigens nicht, jemals Mitte Mai so warme Tage erlebt zu haben. Von der Bank aus, auf der sie saß, konnte sie den Weg zurück ver folgen, den sie gekommen war, wie er zwischen den Weingeländen in der Sonne ⎣hinauflief, bis zu der hell glänzenden Friedhofmauer. Es war ein Spazier gang, den sie zwei oder drei Mal in der Woche zu machen pflegte. Schon lange hatte dieser Weg für sie nichts Anderes zu bedeuten. Wenn sie dort oben auf dem gepflegten Kies, zwischen den Kreuzen und Steinen umherwandelte, und am Grab ihres Mannes ein stilles Gebet verrichtete oder auch ein paar Feldblumen hinlegte, die sie auf dem Hinweg selbst gepflückt, empfand sie kaum mehr die leiseste schmerzliche Bewegung. Freilich waren nun drei Jahre hingegangen, seit sie ihn begraben, ebenso viele als sie mit ihm zusammen verlebt hatte. – Ihre Augen schlossen sich. Sie gedachte ihrer Ankunft in der Stadt, wenige Tage nach ihrer Hochzeit, die noch in Wien stattgefunden. Sie hatten eine kleine Reise gemacht, wie sie sich eben ein Mann in geringen Verhält nissen gestatten konnte, der eine Frau ganz ohne Mitgift geheiratet. Sie waren mit dem Schiff von Wien aus stromaufwärts gefahren und hatten in einem kleinen Ort in der Wachau, ganz nahe ihrem künftigen Bestimmungsort, ein paar Tage zugebracht. Bertha erinnerte sich noch deutlich des kleinen Gasthofs, in dem sie gewohnt, des Gärtchens am Fluß, wo sie nach Sonnenuntergang zu sitzen pflegten, an diese ruhigen und ⎣etwas langweiligen Abende, die so völlig anders waren, als sie sich, ein ganz junges Mädchen, die Abende einer jungen Ehe vorgestellt. Freilich, sie hatte sich bescheiden müssen.

33 38 39 51 52 69

Kastanien] Kastanien, EA GW Beiden] beiden GW Indeß] Indes GW zwei oder drei Mal] zwei- oder dreimal GW Anderes] anderes GW vorgestellt] vorgestellt hatte GW

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Sie war sechsundzwanzig Jahre alt und stand ganz allein, als Victor Mathias Garlan um sie anhielt. Ihre Eltern waren eben gestorben. Der eine ihrer Brüder war schon lang vorher nach Amerika gegangen, um dort als Kaufmann sein Glück zu versuchen, der jüngere war beim Theater, hatte eine Schauspielerin zur Frau genommen und spielte auf deutschen Bühnen dritten Rangs Komödie. Zu ihren Verwandten stand sie kaum in Beziehung, nur im Haus einer Cousine, die einen Advokaten geheiratet, verkehrte sie zuweilen. Aber auch diese Freundschaft war mit jedem Jahr kühler geworden, da die junge Frau mit einer Art Inbrunst sich ausschließlich ihrem Mann und ihren Kindern widmete und wenig Interesse mehr für die unverheiratete Freundin übrig hatte. Herr Garlan war ein entfernter Verwandter von Berthas verstorbener Mutter; er hatte in früheren Jahren viel im Hause verkehrt und dem jungen Mädchen in etwas unbeholfener Weise den Hof gemacht. Damals hatte Bertha keinen Grund, ihn zu ⎣ermuthigen, das Leben und das Glück zeigte sich ihr in anderen Gestalten. Sie war jung und hübsch, die Verhältnisse im Hause ihrer Eltern waren behaglich, wenn auch nicht reich und ihr lag die Hoffnung näher, als eine große Klaviervirtuosin, vielleicht als Gattin eines Künstlers, in der Welt umherzuziehen, denn im Frieden der Familie eine bescheidene Existenz zu führen. Aber diese Hoffnung verblaßte bald, da ihr Vater eines Tags in einer Aufwallung seiner bürgerlichen Anschauungen ihr den weiteren Besuch des Konservatoriums nicht mehr gestattete, wodurch sowohl ihre Aussichten auf eine Künstlerlaufbahn, als ihre Beziehungen zu dem jungen Violinspieler, der seit ⎡her so berühmt geworden war, ein Ende nahmen. Dann verflossen ein paar Jahre in einer sonderbaren Dumpfheit; anfangs mochte sie wohl etwas wie Enttäuschung oder gar Schmerz empfunden haben, aber das hatte gewiß nicht lange gedauert. Später waren Bewerber gekommen, ein junger Arzt und ein Kaufmann, die sie beide nicht hatte nehmen wollen, den Arzt, weil er zu häßlich, den Kaufmann, weil er in einer Provinzstadt ansässig war. Die Eltern redeten ihr auch nicht lebhaft zu. Aber als Bertha sechsundzwanzig alt wurde und der Vater durch einen Bankerott sein kleines Vermögen ⎣verlor, mußte sie ver spätete Vorwürfe hören wegen aller möglichen Dinge, die sie selbst zu ver gessen anfing: wegen ihrer früheren künstlerischen Pläne, wegen jener längst vergangenen aussichtslosen Geschichte mit dem Violinspieler, wegen ihrer ab lehnenden Haltung gegen den häßlichen Arzt und den Kaufmann aus der Provinz. Zu dieser Zeit war Victor Mathias Garlan nicht mehr in Wien ansässig, die Versicherungsgesellschaft, in der er seit seinem zwanzigsten Jahr als Beamter thätig war, hatte ihn vor zwei Jahren auf seinen eigenen Wunsch als Leiter einer neugegründeten Filiale nach der kleinen Stadt an der Donau versetzt, wo sein verheirateter Bruder als Weinhändler lebte. Als er 86 88 97 106 107

reich] reich, EA GW umherzuziehen,] umherzuziehen GW wollen,] wollen; EA GW ansässig,] ansässig; EA GW Jahren] Jahren, EA GW Wunsch] Wunsch, EA GW

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damals in Berthas Hause Abschied genommen, hatte er in einem längeren Ge spräch, das auf Bertha einen gewissen Eindruck übte, erwähnt, daß er besonders deshalb um seine Versetzung nach der kleinen Stadt angesucht, weil er sich alt werden fühlte, nicht mehr zu heirathen gedächte und doch gern eine Art Heim bei Leuten hätte, die ihm naheständen. Die Eltern hatten damals über seine Auffassung, die etwas hypochondrisch schien, gescherzt; denn Garlan war kaum vierzig Jahre alt. Bertha aber fand sie sehr vernünftig, denn ihr war Garlan nie eigentlich ⎣ jung vorgekommen. Im Lauf der nächsten Jahre kam Victor Mathias Garlan öfters geschäftlich nach Wien und versäumte niemals, die Familie aufzusuchen. Dann pflegte Bertha nach dem Nachtmahl Klavier vorzuspielen, und er hörte ihr mit einer gewissen Andacht zu, sprach wohl auch von seinem kleinen Neffen und von seiner kleinen Nichte, die beide sehr musikalisch wären und der er oft von Fräulein Bertha erzählte als der vorzüglichsten Klavierspielerin, die er je gehört. Es schien sonderbar und die Mutter konnte gelegentlich ihre Bemerkungen darüber nicht unterdrücken, daß Herr Garlan seit seiner schüchternen Werbung in früherer Zeit auch nicht mehr die leiseste Anspielung auf Vergangenes oder gar auf eine mögliche Zukunft gewagt hatte, und zu den anderen Vorwürfen, die Bertha zu hören bekam, gesellte sich nun auch der, daß sie Herrn Garlan mit zu großer Gleichgiltigkeit, ja mit Kälte begegnete. Bertha schüttelte nur den Kopf, denn sie selbst dachte auch damals noch nicht daran, den etwas unbeholfenen Mann, der vor der Zeit alterte, zu heirathen. Nach dem plötzlichen Tod der Mutter, welcher erfolgte, während der Vater schon durch viele Monate krank war, erschien Herr Garlan wieder in Wien und theilte mit, daß er einen vierwöchentlichen Ur⎣laub genommen, den einzigen, um den er jemals angesucht. Bertha merkte wohl, daß er nur gekommen war, um ihr in dieser schweren Zeit beizustehen. Und als nun auch der Vater eine Woche nach dem Begräbniß der Mutter starb, erwies sich Garlan als treuer Freund und zudem von einer Energie, die sie ihm nie zugetraut hatte. Er veranlaßte seine Schwägerin, auf einige Wochen nach Wien zu kommen, um der Verwaisten in der ersten Zeit beizustehen und sie ein wenig zu zerstreuen, und er ordnete die geschäftlichen Angelegenheiten geschickt und schnell. Er war von einer Herzlichkeit, die Bertha in diesen schlimmen Tagen sehr wohl that, und als er sie nach Ablauf seines Urlaubs fragte, ob sie seine Frau werden wollte, nahm sie seinen Antrag mit dem Gefühl der tiefsten Dank barkeit an. Sie wußte wohl, daß sie sonst genöthigt gewesen wäre, sich nach ⎡wenigen Monaten vielleicht durch Lektionen ihr Brot selbst zu verdienen, über dies hatte sie Garlan so schätzen gelernt und sich so sehr an ihn gewöhnt, daß 113 123 128 131 133 134 136 140 144

heirathen] heiraten EA sonderbar] sonderbar, GW Gleichgiltigkeit] Gleichgültigkeit GW heirathen] heiraten EA theilte] teilte EA vierwöchentlichen] vierwöchigen EA GW angesucht] angesucht hatte GW Begräbniß] Begräbnis GW zerstreuen,] zerstreuen; EA GW genöthigt] genötigt EA

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sie ihm in der Stunde, da er sie in die Kirche zur Trauung führte und im Wagen zum ersten Mal fragte, ob sie ihn lieb hätte, ein aufrichtiges Ja zur Antwort geben konnte. Schon in den ersten Tagen merkte sie freilich ⎣selbst, daß sie keine Liebe für ihn fühlte. Seine Zärtlichkeit ließ sie sich eben gefallen, anfangs mit einem gewissen Staunen der Enttäuschung, später mit Gleichgiltigkeit, und erst als sie sich Mutter fühlte, mit dem guten Willen, sie zu erwidern. An das stille Wesen in der kleinen Stadt hatte sie sich rasch gewöhnt, um so leichter als sie auch in Wien zurückgezogen gelebt. In der Familie ihres Mannes fühlte sie sich recht wohl, der Schwager schien ihr ganz liebenswürdig und lustig, wenn auch mitunter derb; seine Frau war gutmüthig und zuweilen etwas traurig. Der Neffe – zur Zeit, als Bertha in die Stadt kam, zählte er dreizehn Jahre – war hübsch und keck, die Nichte ein sehr stilles Kind von neun Jahren, mit großen, erstaunten Augen, war Bertha von allem Anfang an am herzlich sten zugethan. Als Bertha ihren Buben bekam, wurde er von den Kindern als willkommenes Spielzeug begrüßt, und in den nächsten zwei Jahren fühlte sie sich vollkommen glücklich. Ja, sie glaubte zuweilen, daß ihr Schicksal sich gar nicht günstiger hätte gestalten können. Der Lärm, die Unruhe der großen Stadt erschienen ihr in der Erinnerung wie etwas Unangenehmes, beinahe Ge fährliches, und als sie einmal mit ihrem Mann hineingefahren war, um einige ⎣Einkäufe zu machen und der Zufall es fügte, daß es ein ärgerlicher, schmutziger Regentag war, schwur sie sich zu, niemals wieder diese langweilige und über flüssige Reise von drei Stunden zu unternehmen. Ihr Mann starb plötzlich, an einem Frühlingsmorgen, drei Jahre, nach dem er sie geheirathet. Ihre Bestürzung war groß. Sie fühlte, daß sie diese Möglichkeit überhaupt nie im Auge gehabt hatte. Sie blieb in recht beschränkten Verhältnissen zurück. Aber bald wurde von der Schwägerin eine liebenswürdige Art gefunden, die Wittwe zu unterstützen, ohne daß es wie ein Almosen aus gesehen hätte. Man bat sie, die Kinder im Klavierspiel weiter auszubilden und verschaffte ihr auch in einigen anderen Häusern der Stadt Lektionen. Es war ein stilles Uebereinkommen, daß man immer so that, als wenn sie diese Lektionen nur übernommen, um sich ein wenig zu zerstreuen, und daß man sie dafür bezahlte, weil man sich ja ihre Zeit und Mühe unmöglich schenken lassen konnte. Was sie nun auf diese Weise verdiente, genügte vollkommen, um ihre Einnahmen in einer für ihre Lebensweise ausreichenden Art zu er gänzen. So war sie denn, nachdem erst der Schmerz und dann die Traurig keit über das Hinscheiden ihres Mannes überwunden war, ⎣wieder ganz zufrieden 148 152 154 155 156 157 159 171 174

ersten Mal] erstenmal GW Gleichgiltigkeit] Gleichgültigkeit GW leichter] leichter, EA GW gelebt] gelebt hatte GW wohl,] wohl; EA GW gutmüthig] gutmütig EA keck,] keck; EA GW geheirathet] geheiratet EA Wittwe] Witwe EA GW

und] und, GW

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und heiter. Ihr bisheriges Leben war nicht so verflossen, daß sie jetzt irgend etwas zu entbehren glaubte. In ihren Gedanken an die Zukunft beschäftigte sie kaum je Anderes als das allmälige Heranwachsen ihres Kleinen, und nur selten flog ihr die Möglichkeit einer neuen Heirat durch den Sinn, immer ganz flüchtig, da sich noch Niemand gezeigt, an den sie in dieser Hinsicht ernstlich denken mochte. Regungen von jugendlichen Wünschen, die ihr zuweilen in wachen Morgenstunden kamen, verflogen immer wieder im gleichmäßigen Lauf der Tage. Erst seit Beginn dieses Frühlings fühlte sie sich weniger behaglich als bisher; sie schlief nicht mehr so ruhig und traumlos als früher, sie hatte zu weilen eine Empfindung der Langeweile, die sie nie gekannt, und das sonder barste war eine plötzliche Ermattung, die sie manchmal bei helllichtem Tage überkam, in der sie das Kreisen des Blutes in ihrem ganzen Körper zu ver spüren meinte, und die sie an eine ganz frühe Epoche ihrer Mädchenzeit erinnerte. ⎡Anfangs war ihr das Gefühl in aller seiner Bekanntheit doch so fremd, daß ihr war, als hätte ihr einmal eine ihrer Freundinnen davon erzählt. Erst als es sich häufiger wiederholte, besann sie sich, daß sie selbst es schon früher erlebt hatte. ⎣Sie schauerte zusammen und es war ihr, als erwachte sie aus einem Schlaf. Sie öffnete die Augen. Die Luft schien ihr wie in einer schwirrenden Bewegung. Die Straße lag bereits zur Hälfte im Schatten, die Friedhofmauer oben auf dem Hügel glänzte nicht mehr; Bertha bewegte ihren Kopf einigemal rasch hin und her, wie um sich ganz zu erwecken. Ihr schien, als wäre ein ganzer Tag, eine ganze Nacht verflossen, seit sie sich hierher auf die Bank ge setzt. Wie ging das nur zu, daß ihr die Zeit so auseinander rann? Sie sah um sich. Wo war denn ihr Bub? Da hinter ihr spielte er mit den Kindern des Doktor Friedrich, das Kindermädchen kniete neben ihnen auf dem Boden und half ihnen aus Sand eine Burg bauen. Die Allee war nun belebter als früher. Bertha kannte beinah alle Leute, jeden Tag sah sie dieselben. Da sie aber die meisten selten sprach, zogen sie wie Schatten an ihr vorbei; hier kam der Sattler Peter Nowak mit seiner Frau, auf seinem kleinen Landwagen fuhr Doktor Rellinger vorbei und grüßte sie, hier kamen die beiden Töchter des Hausbesitzers Wendelein und dort radelte der Lieutenant Baier mit seiner Braut langsam die Straße ins Land hinaus. Dann schien wieder alle Be wegung auf kurze Zeit vorbei, und Bertha hörte ⎣nichts als das Lachen der Kinder hinter sich. Jetzt sah sie wieder Jemanden von der Stadt her langsam 186 188 193f. 194 196 200 202 205f. 206 213 214 217

Anderes] anderes GW allmälige] allmähliche EA GW Niemand] niemand GW sonderbarste] Sonderbarste EA GW helllichtem] hellichtem GW erinnerte.] erinnerte EA zusammen] zusammen, GW Die] Sie GW Die GW1922 gesetzt] gesetzt hatte GW auseinander rann] auseinanderrann GW hier] dann GW Wendelein] Wendelein, EA GW Lieutenant] Leutnant EA GW Jetzt] Jetz EA Jemanden] jemanden GW

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herankommen, den sie schon von weitem erkannte. Es war Herr Klingemann, der sie in der letzten Zeit öfter als früher anzureden pflegte. Vor zwölf oder fünfzehn Jahren war er aus Wien in die kleine Stadt übersiedelt; es hieß, daß er früher Arzt gewesen und seine Praxis wegen irgend eines Kunstfehlers oder eines noch böseren Versehens hatte aufgeben müssen. Andere behaupteten, daß er es überhaupt nie bis zum Doktor gebracht und schließlich als alter Student das Studiren aufgegeben. Er selbst gab sich als Philosophen aus, den das Leben in der Großstadt, nachdem er es bis zum Ueberdruß genossen, angewidert und der deshalb in die kleine Stadt gezogen war, wo er mit den Resten seines Vermögens anständig leben konnte. Er war jetzt kaum älter als fünfundvierzig, hatte noch seine guten Tage, sah aber meistens recht verwittert und unangenehm aus. Schon von weitem lächelte er der jungen Wittwe zu, beeilte seine Schritte aber nicht und blieb endlich mit einem spöttischen Kopf nicken, das sein Gruß gegenüber Jedermann war, vor ihr stehen. „Guten Abend, schöne Frau,“ sagte er. ⎣Sie erwiderte seinen Gruß. Es war heute einer jener Tage, wo er wieder auf Jugend und Eleganz Anspruch zu machen schien. Er war in einen dunkelgrauen Gehrock wie eingeschnürt und hatte auf dem Kopf einen schmal krempigen braunen Strohhut mit schwarzem Band; dazu trug er eine ganz kleine rothe Kravatte, die etwas schief saß. Nachdem er eine Weile geschwiegen und seinen leicht angegrauten blonden Schnurrbart hinauf und hinunter gezogen hatte, sagte er: „Sie kommen wohl von dort oben, gnädige Frau?“ Er wies mit der einen Hand, ohne seinen Kopf oder nur seine Augen zu wenden, ge wissermaßen verächtlich über seine Schulter nach rückwärts in die Gegend des Friedhofs. Herr Klingemann galt in der ganzen Stadt als ein Mann, dem nichts heilig war; und Bertha mußte, als er so vor ihr stand, an allerlei denken, was man von ihm erzählte. Es war bekannt, daß er ein Verhältniß mit seiner Köchin hatte, die er übrigens „Wirthschafterin“ nannte, zugleich ein anderes mit einer Tabaktrafikantin, welche ihn mit einem Hauptmann des hier stationirten Regiments betrog, was er Bertha mit stolzer Trauer erzählt hatte; außerdem gab es einige heirathsfähige Mädchen in der Stadt, die für ⎡ihn ein gewisses Interesse hegten. Spielte man darauf an, so pflegte er höhnische ⎣ Bemerkungen über das Institut der Ehe im allgemeinen zu machen, was ihm zwar von Manchem übel vermerkt wurde, im Ganzen aber doch den Respekt vor ihm erhöhte. 220 221 229 231 235f. 236 237 244 245 248 251

übersiedelt] übergesiedelt EA GW irgend eines] irgendeines GW Wittwe] Witwe EA GW Jedermann] jedermann GW schmalkrempigen] schmalkrempigen, EA GW Band;] Band, GW Kravatte] Krawatte GW Verhältniß] Verhältnis GW Wirthschafterin] Wirtschafterin EA heirathsfähige] heiratsfähige EA Manchem] manchem GW Ganzen] ganzen GW

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„Ich habe einen kleinen Spaziergang gemacht,“ sagte Bertha. „Allein?“ „O nein, mit dem Buben.“ „Richtig, da ist er ja! Grüß’ Dich Gott, kleiner Sterblicher.“ Er sah, während er das sagte, über den Kleinen hinweg. „Darf man sich auf einen Augenblick zu Ihnen setzen, Frau Bertha?“ Er sprach ihren Namen spöttisch aus, und setzte sich, ohne ihre Antwort abzuwarten. „Ich habe Sie heute Vor mittag Klavier spielen gehört,“ fuhr er fort. „Wissen Sie, was ich für einen Eindruck habe? Daß Ihnen die Musik Alles ersetzen muß.“ Er wiederholte: „Alles“ und sah sie dabei an, daß sie roth wurde. Dann fuhr er fort: „Wie schade, daß ich so selten Gelegenheit habe, Sie zu hören! Wenn ich nicht zufällig an Ihrem offenen Fenster vorbeigehe, während Sie spielen –“ Bertha merkte, daß er immer näher an sie herangerückt war und mit seinem Arm den ihren berührte. Sie rückte unwillkürlich weg. Plötzlich ⎣fühlte sie sich von rückwärts umschlungen, ihren Kopf über die Lehne der Bank zurück gebeugt, eine Hand über ihre Augen gehalten. Einen Moment lang hatte sie die Empfindung, als fühlte sie die Hand Klingemanns über den Augenlidern und rief: „Aber sind Sie denn verrückt!“ Die lachende Stimme eines Knaben hinter ihr erwiderte: „Nein, wie komisch das ist, wenn Du „Sie“ sagst, Tante Bertha!“ „So laß’ mich doch wenigstens die Augen aufmachen, Richard!“ sagte Bertha und versuchte, die Hände von ihren Augen zu entfernen; dann wandte sie sich um und fragte: „Kommst Du vom Hause?“ „Ja, Tante, da hab’ ich Dir auch die Zeitung mitgebracht.“ Bertha nahm ihm das Blatt aus der Hand und begann darin zu lesen. Indeß stand Klingemann auf und wandte sich zu Richard. „Haben Sie schon Ihre Auf gaben gemacht?“ fragte er ihn. „Wir haben überhaupt keine Aufgaben mehr, Herr Klingemann, denn im Juli haben wir Matura.“ „Also wirklich, das nächste Jahr sind Sie schon Student?“ „Das nächste Jahr? Im Herbst!“ Dabei schwippte er mit den Fingern über die Zeitung der Tante. „Was willst Du denn, ungezogener Bursch?“ ⎣„Du, Tante, wirst Du mich in Wien besuchen?“ „Ja, könnt mir einfallen! Ich werd’ froh sein, wenn ich Dich los bin.“ „Da kommt Herr Rupius,“ sagte Richard. 255 256 259 261 262 271 273 276 277 287

O] Oh GW Grüß’] Grüß GW aus,] aus GW Alles] alles GW roth] rot EA Du] Du mir EA du zu mir GW „Sie“] ‚Sie‘ GW laß’] laß EA GW hab’] hab GW Indeß] Indes GW könnt] könnt’ EA werd’] werd GW

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Bertha ließ das Blatt sinken. Sie sah in die Richtung, welche Richards Blick wies. In der Allee von der Stadt her kam in einem Rollstuhl, den ein Dienstmädchen vor sich herschob, ein Mann herangefahren; er hatte den Kopf unbedeckt, der weiche Hut lag auf seinem Schooß, von dem ein Plaid bis über seine Füße herabfiel. Die Stirn war hoch, die Haare schlicht und blond, an der Stirngrenze ergraut, die Augen eigenthümlich groß. Als er an der Bank vorüberfuhr, neigte er nur leicht den Kopf, ohne zu lächeln. Bertha wußte, daß er sicher hätte anhalten lassen, wenn sie allein gewesen wäre; er sah auch nur sie an, als er vorbeifuhr und sein Gruß schien nur ihr zu gelten. Ihr war, als hätten seine Augen noch nie so ernst geblickt als heut. Das machte sie sehr traurig, denn sie hatte ein tiefes Mitleid mit dem gelähmten Mann. ⎡Als er vorüber war, sagte Klingemann: „Armer Teufel! Und das Weibchen ist wohl wieder einmal in Wien?“ ⎣„Nein,“ sagte Bertha beinah erzürnt, „ich hab’ sie vor einer Stunde ge sprochen.“ Klingemann schwieg, denn er fühlte, daß weitere Bemerkungen über die geheimnißvollen Reisen der Frau Rupius sich mit seinem eigenen Ruf als freidenkender Mensch nicht vertragen hätten. „Wird er wirklich nie wieder gehen können?“ fragte Richard. „Nie,“ sagte Bertha. Sie wußte es, weil es ihr Herr Rupius selbst ein mal gesagt hatte, als sie ihn besuchte, während seine Frau in Wien war. Er kam ihr in diesem Augenblick besonders elend vor, denn gerade als Herr Rupius an ihnen vorbeigerollt wurde, war sie beim Lesen der Zeitung auf den Namen von Einem gestoßen, den sie für einen Glücklichen hielt. Unwillkürlich las sie noch einmal. „Unser berühmter Landsmann Emil Lindbach ist von seiner Kunstreise durch Spanien und Frankreich, die ihm große Triumphe brachte, vor wenigen Tagen wieder nach Wien zurückgekehrt. In Madrid hatte der ausgezeichnete Künstler die Ehre, vor der Königin zu spielen. Am 24. dieses wird Herr Lindbach bei dem Wohlthätigkeitskonzert zu Gunsten der durch die letzte Ueberschwemmung so schwer geschädigten Einwohner von Vorarlberg mit wirken, für die sich ⎣trotz der vorgerückten Saison lebhaftes Interesse im Publikum kundgiebt.“ Emil Lindbach. Es kostete ihr eine gewisse Mühe, sich vorzustellen, daß es derselbe war, den sie – wann? – vor zwölf Jahren geliebt hatte. Vor zwölf Jahren. Sie fühlte, wie es ihr heiß in die Stirne stieg. Es war ihr, als müsse sie sich ihres allmähligen Aelterwerdens schämen.

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Schooß] Schoß GW eigenthümlich] eigentümlich EA vorbeifuhr] vorbeifuhr, EA GW hab’] hab GW geheimnißvollen] geheimnisvollen GW Einem] einem GW zu Gunsten] zugunsten GW die] das EA GW kundgiebt] kundgibt GW müsse] müßte EA GW allmähligen] allmählichen EA GW

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Die Sonne war ganz hinunter. Bertha nahm den Knaben bei der Hand, empfahl sich von den anderen und ging langsam nach Hause. Das Haus, in dessen erstem Stock sie wohnte, lag in einer neuen Straße; von ihren Fenstern hatte sie den Blick auf die Hügel und ihr gegenüber lagen unbebaute Plätze. Bertha übergab ihren Kleinen dem Mädchen, setzte sich ans Fenster, nahm die Zeitung zur Hand und las weiter. Es war ihre Gewohnheit geblieben, zuerst die Kunstnachrichten durchzuschauen; die stammte noch aus ihrer frühesten Kinder zeit, als sie mit ihrem Bruder, dem jetzigen Schauspieler, auf die vierte Gallerie ins Burgtheater zu gehen pflegte. Dieses Interesse wuchs natürlich, als sie das Konservatorium besuchte; sie kannte damals die Namen der kleinsten Schauspieler, Sänger, Pianisten, und als später der häufige Theaterbesuch, der Unterricht im Konservato⎣rium und ihre eigenen künstlerischen Bestrebungen ein Ende nahmen, blieb doch eine Art von Antheilnahme an dieser fröhlichen Welt in ihr zurück, die etwas vom Heimweh an sich hatte. Schon in der letzten Zeit ihres Wiener Aufenthalts hatten ja alle diese Dinge kaum mehr etwas für sie zu bedeuten, wie wenig erst, seit sie in der kleinen Stadt wohnte, wo gelegentliche Dilettantenkonzerte das Höchste waren, was an künstlerischen Genüssen geboten wurde. Im ersten Jahre ihres Hierseins hatte sie bei einem solchen Abend im Gasthof „zum rothen Apfel“ mitgewirkt, das heißt, sie hatte mit einer anderen jungen Dame der Stadt zwei Märsche von Schubert vier händig gespielt. Ihre Aufregung war damals so groß gewesen, daß sie sich verschwor, je wieder öffentlich aufzutreten, und recht froh war, ihre Karrière aufgegeben zu haben. Dazu mußte man ganz anders angelegt sein, so etwa wie Emil Lindbach. – Ja, der war dazu geboren! Das hatte sie erkannt in dem Augenblick, da sie ihn das erste Mal bei einer Schülerproduktion aufs Podium treten gesehen, an der Art, wie er sich unbefangen das Haar zurück gestrichen, die Leute unten mit spöttischer Ueberlegenheit angesehen und sich gleich für den ersten Beifall mit einer Ruhe bedankt, als wär’ er das ⎣längst ⎡gewohnt. Sonderbar! wenn sie an Emil Lindbach dachte, sah sie ihn noch immer so jünglingshaft, ja knabenhaft vor sich, als er zu der Zeit aussah, da sie einander gekannt und geliebt. Und doch hatte sie vor ganz Kurzem, als sie mit Schwager und Schwägerin einmal abends im Kaffeehaus war, in einem illustrirten Blatt eine Photographie von ihm gesehen, auf der er sehr ver ändert aussah. Er trug die Haare nicht mehr lang, der schwarze Schnurr bart schien mit dem Eisen nach abwärts gedreht, er hatte einen auffallend hohen

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nach Hause] heimwärts EA GW Hügel] Hügel, EA GW Gallerie] Galerie GW Antheilnahme] Anteilnahme EA rothen] roten EA Karrière] Karriere GW erste Mal] erstemal GW bedankt] bedankt hatte GW wär’] wär GW und geliebt] und hatte geliebt EA und geliebt hatten GW

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Kurzem] kurzem GW

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Kragen und eine nach der Mode geschlungene Kravatte. Die Schwägerin hatte gefunden, er sehe aus wie ein polnischer Graf. Bertha nahm die Zeitung wieder vor und wollte weiterlesen, aber es war schon zu dunkel. Sie stand auf, rief nach dem Mädchen. Die Lampe wurde hereingebracht, der Tisch gedeckt. Bertha aß mit dem Kleinen zur Nacht, während das Fenster offen stehen blieb. Sie empfand heute für ihr Kind eine noch größere Zärtlichkeit als sonst, auch dachte sie an die Zeit zurück, in der ihr Mann noch gelebt, und allerlei Erinnerungen flogen ihr durch den Sinn. Während sie Fritz zu Bette brachte, weilte ihr Blick recht lang auf dem Porträt ihres verstorbenen Mannes, das in ⎣einem dunkelbraunen, ovalen Holzrahmen über ihrem Bette hing. Er hatte sich in ganzer Figur aufnehmen lassen, im Frack, mit weißer Kravatte, den Cylinder in der Hand, zum Gedächtniß an den Hochzeitstag. Bertha wußte in diesem Augenblick ganz bestimmt, daß Herr Klingemann beim Anblick dieses Porträts spöttisch gelächelt hätte. Später setzte sie sich ans Klavier, wie sie es nicht selten vor dem Schlafen gehen zu thun pflegte, nicht eben aus Begeisterung für die Musik, sondern um nicht gar zu früh zu Bett zu gehen. Sie spielte dann meistens die wenigen Sachen, die sie noch auswendig kannte, Mazurken von Chopin, irgend einen Satz aus einer Beethoven’schen Sonate, die Kreisleriana, zuweilen phantasirte sie auch, brachte es aber nie über eine Folge von Akkorden, und zwar waren es immer dieselben. Heute fing sie gleich damit an, ihre Akkorde zu greifen, etwas leiser als sonst, dann versuchte sie Modulationen und als sie einen letzten Dreiklang recht lang durch das Pedal nachklingen ließ – die Hände hatte sie schon in den Schoß gelegt – empfand sie gelinde Freude über die Töne, welche sie gleichsam umschwebten. Jetzt fiel ihr die Bemerkung Klinge manns ein: „Die Musik ersetzt Ihnen Alles“. Wahrhaftig, er hatte nicht ⎣ ganz Unrecht gehabt. Die Musik mußte ihr mindestens viel ersetzen. Aber Alles –? Oh nein. Was war das? Schritte gegenüber . . . . Nun, das war nichts Merk würdiges. – Aber regelmäßige, langsame Schritte, als wenn jemand auf und abginge. Sie stand auf und trat zum Fenster. Es war ganz dunkel und sie konnte den Mann, der da drüben spazierte, nicht gleich erkennen, aber sie wußte: es war Klingemann. Was für ein Einfall? Sollte er ihr eine Fenster promenade machen? 359 365 369 370 376 377 380 384 385 387 388f. 389

Kravatte] Krawatte GW gelebt] gelebt hatte GW Kravatte] Krawatte GW Cylinder] Zylinder GW Gedächtniß] Gedächtnis GW irgend einen] irgendeinen GW Beethoven’schen] Beethovenschen GW Modulationen] Modulationen, EA GW Alles“.] alles.“ GW Unrecht] unrecht GW Alles –?] alles? – GW gegenüber . . . .] gegenüber . . . GW auf und abginge] auf und ab ginge GW dunkel] dunkel, EA GW

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„Guten Abend, Frau Bertha,“ sagte er von drüben, und sie sah, wie er im Dunkel den Hut lüftete. Sie antwortete, beinah befangen: „Guten Abend“. „Sie haben sehr schön gespielt, gnädige Frau.“ Sie erwiderte nichts als ein leises So?, das er vielleicht gar nicht hörte. Er blieb eine Sekunde stehen, dann sagte er: „Gute Nacht, schlafen Sie wohl, Frau Bertha.“ Er sagte das Wort „schlafen“ mit einer Betonung, die nahezu unverschämt war. Sie dachte: nun geht er nach Hause zu seiner Köchin. Dann fiel ihr plötzlich etwas ein, was sie schon sehr lang wußte, woran sie aber, seit sie es erfahren, nicht mehr gedacht: in seinem Zimmer sollte ein Bild hängen, das stets ⎣von einem kleinen Vorhang überdeckt war und das eine ⎡lascive Scene vorstellte. Wer hatte ihr das nur erzählt? – Ach ja, Frau Rupius, im vorigen Herbst einmal während eines Spazierganges an der Donau, und die hatte es wieder von jemand Andern erfahren – von wem nur? Was für ein widerwärtiger Mensch! Bertha kam sich ein bißchen verworfen vor, daß sie an ihn und an alle diese Dinge dachte. Sie blieb noch am Fenster stehen. Ihr war, als hätte sie einen schweren Tag hinter sich. Sie dachte nach, was ihr denn eigentlich begegnet sei und sie wunderte sich, daß es schließlich doch nur ein Tag gewesen wie viele hundert vor ihm und viele, viele, die noch kommen würden.

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* * Man stand vom Tische auf. Es war eines jener kleinen Sonntags diners gewesen, das der Weinhändler Garlan gelegentlich seinen Bekannten zu geben pflegte. Der Herr des Hauses näherte sich seiner Schwägerin, und faßte sie um die Taille, was zu seinen Nachmittagsgewohnheiten gehörte. Sie wußte schon, was er wollte. Wenn er Leute eingeladen hatte, mußte Bertha nach dem Essen ⎣Klavier spielen, manchmal auch vierhändig mit Richard. Das leitete in angenehmer Weise zum Kartenspielen über oder klang auch an muthig hinein. Sie setzte sich an das Instrument. Indeß wurde die Thür zum Herrenzimmer aufgethan, Garlan, Doktor Friedrich und Herr Martin setzten sich an einen kleinen, grünen Tisch und begannen zu spielen. Die Gattinnen der drei Herren blieben im Speisezimmer und Frau Martin zündete sich eine Zigarette an, setzte sich auf den Divan und schlug die Beine über einander. Sie trug Sonntags immer Ballschuhe und schwarze Seidenstrümpfe.

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Abend“.] Abend.“ EA GW So?] „So?“ GW lascive Scene] laszive Szene GW Andern] Anderm EA anderm GW sei] sei, EA GW gewesen] gewesen war GW Schwägerin,] Schwägerin EA GW anmuthig] anmutig EA Indeß] Indes GW aufgethan,] aufgethan; EA aufgetan; GW Speisezimmer] Speisezimmer, EA GW

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Frau Doktor Friedrich sah wie gebannt auf die Füße der Frau Martin. Richard war den Herren gefolgt, er interessirte sich schon fürs Tarockspiel. Elly stützte ihren Ellbogen auf die Klavierdecke und wartete, bis Bertha zu spielen begänne. Die Frau des Hauses ging aus und ein, sie hatte immer in der Küche Aufträge zu geben und klapperte mit dem Schlüsselbund, den sie in der Hand hielt. Als sie jetzt hereinkam, machte ihr Frau Doktor Friedrich mit den Augen ein Zeichen, das bedeuten sollte: Schauen Sie doch an, wie Frau Martin dasitzt! Alles das sah Bertha heute, sozusagen deutlicher, als oftmals vorher, so etwa wie man Dinge ⎣sieht, wenn man Fieber hat. Noch immer hatte sie keine Taste berührt. Da wandte sich der Schwager zu ihr und sah sie mit einem Blick an, der sie an ihre Pflicht erinnern sollte. Sie begann zu spielen, einen Marsch von Schubert, mit sehr starkem Anschlag. Der Schwager drehte sich wieder nach ihr um und sagte: „Leiser.“ „Das bleibt eine Spezialität dieses Hauses,“ sagte Doktor Friedrich, „Tarock mit Musikbegleitung.“ „Sozusagen Lieder ohne Worte,“ setzte Herr Martin hinzu. Die Anderen lachten. Garlan wandte sich wieder nach Bertha um, denn sie hatte plötzlich aufgehört zu spielen. „Ich habe ein bischen Kopfweh,“ sagte sie, wie wenn sie sich entschuldigen müßte, es war ihr aber gleich darauf, als hätte sie sich etwas vergeben und sie setzte hinzu: „Ich habe keine Lust.“ Alle sahen auf sie, denn Jeder fühlte, daß etwas nicht ganz Gewöhn liches geschehen sei. Frau Garlan sagte: „Willst Du Dich nicht zu uns setzen, Bertha?“ Elly hatte eine dunkle Empfindung ihrer Tante gegenüber zärtlich sein zu müssen, und hing sich in ihren Arm. So standen die Beiden nebeneinander, ans Klavier gelehnt. ⎡ „Gehen Sie heute Abend auch in den „rothen Apfel“?“ fragte Frau ⎣ Martin die Hausfrau. „Nein, ich glaube nicht.“ „Ah!“ rief Herr Garlan herein, „da wir heut’ Nachmittag auf unser Conzert verzichten mußten, wollen wir doch abends – Sie spielen aus, Herr Doktor.“ „Militärconzert?“ fragte Frau Doktor Friedrich.

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heute,] heute EA GW Anderen] anderen GW bischen] bißchen GW vergeben] vergeben, GW Jeder] jeder GW Empfindung] Empfindung, GW Beiden] beiden GW „rothen Apfel“] „roten Apfel“ EA ‚Roten Apfel‘ GW heut’] heut GW Conzert] Konzert EA GW Militärconzert] Militärkonzert GW

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Die Frau des Hauses war aufgestanden und fragte ihren Gatten: „Ist es Dein Ernst, daß wir am Abend in den „rothen Apfel“ gehen?“ „Gewiß.“ „So, so,“ sagte die Frau mit einer gewissen Betroffenheit und ging gleich wieder in die Küche, um neue Dispositionen zu treffen. „Richard,“ sagte Garlan zu seinem Sohn, „Du könntest rasch hinüber laufen, dem Wirth sagen, er möge uns einen Tisch im Garten reserviren lassen.“ Richard eilte hinaus und stieß in der Thür mit seiner Mutter zusammen, die eben hereinkam und wie erschöpft auf den Divan niedersank. „Sie glauben nicht,“ sagte sie zu Frau Doktor Friedrich, „wie schwer es ist, der Brigitta die einfachsten Dinge zu erklären.“ Frau Martin hatte sich neben ihren Mann gesetzt, während sie zugleich einen Blick auf Bertha ⎣warf, die noch immer stumm mit Elly am Klavier stand. Sie strich ihrem Gatten durch’s Haar, legte ihre Hand auf seine Knie und schien ein Bedürfniß zu haben, den Leuten zu zeigen, wie glücklich sie wäre. Plötzlich sagte Elly zu ihrer Tante: „Ich will Dir was sagen, Tante, wir wollen ein bißchen in den Garten hinunter, im Freien wird das Kopfweh schon vergehen.“ Sie gingen die Treppe hinab, in den Hof, in dessen Mitte man eine kleine Wiese angelegt hatte. Rückwärts schloß ihn eine Mauer ab, an der einiges Gesträuch und zwei junge Bäume standen, die vorläufig noch durch Stöcke gestützt werden mußten. Ueber die Mauer hinweg sah man nur den blauen Himmel; an stürmischen Tagen hörte man hier das Rauschen des nahen Flusses. Mit der Lehne gegen die Mauer standen zwei Gartenstühle aus Stroh und vor ihnen ein kleines Tischchen; auf diese Stühle setzten sich Bertha und Elly, ohne daß Elly den Arm der Tante losließ. „Willst Du mir nicht sagen, Tante –“ „Was denn, Elly?“ „Schau, ich bin ja jetzt schon groß, erzähl’ mir doch von ihm.“ Bertha schrak leise zusammen, denn ihr war ⎣mit einem Mal, als bezöge sich diese Frage nicht auf ihren verstorbenen Mann, sondern auf irgend einen Andern. Und plötzlich sah sie das Bild Emil Lindbachs vor sich, so wie sie es in der illustrirten Zeitung gesehen; aber gleich war die Erscheinung und der leise Schreck vorbei und sie empfand eine Art Rührung über die schüchterne Frage des jungen Mädchens, das glaubte, sie traure noch immer um ihren 461 463 466 468 473 474 475 489 490 491 493

„rothen Apfel“] „roten Apfel“ EA ‚Roten Apfel‘ GW So, so] Soso GW Wirth] Wirt EA den Divan] dem Divan GW durch’s] durchs GW Knie] Kniee EA Bedürfniß] Bedürfnis GW sagte] sprach GW einem Mal] einemmal GW irgend einen] irgendeinen GW Andern] andern GW vorbei] vorbei, EA GW

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verstorbenen Mann und es würde sie trösten, wenn sie über ihn reden könnte. In diesem Augenblick ertönte Richards Stimme an einem Fenster, das in den Hof hinunter schaute: „Darf ich auch zu Euch hinunter, oder habt Ihr Geheimnisse?“ Jetzt fiel Bertha zum ersten Mal eine Aehnlichkeit auf, die er mit Emil Lindbach hatte. Sie dachte aber, es wäre vielleicht nur das Jugendliche seines Wesens und die etwas langen Haare, die an ihn gemahnten. Er war jetzt beinah so alt, als Emil damals gewesen. „Der Tisch ist reservirt,“ sagte er, indem er in den Hof trat. „Kommst Du mit uns, Tante Bertha?“ Er setzte sich auf die Lehne des Stuhls, auf ⎡dem sie saß, streichelte ihr die Wange, indem er in seiner frischen und doch etwas zärtelnden Art sagte: „Komm mit, mir zulieb, schöne Tante.“ ⎣Bertha schloß unwillkürlich die Augen. Ein Wohlbehagen überkam sie, wie wenn Kinderhände, wie wenn die kleinen Finger ihres eigenen Buben ihr die Wange streichelten. Bald aber fühlte sie, daß sich irgend eine andere Erinnerung beigesellte. Sie mußte an einen Spaziergang denken, mit Emil im Stadtpark, abends nach dem Konservatorium. Damals hatte er mit ihr auf einer Bank ausgeruht und zärtlich ihre Wangen berührt. War das nur einmal geschehen? Nein – viel öfter, freilich, zehn, zwanzig Mal waren sie auf jener Bank gesessen und er hatte ihr die Wange gestreichelt. Wie sonderbar, daß ihr das jetzt wieder einfiel! An diese Spaziergänge hätte sie gewiß nie wieder gedacht, wenn nicht Richard zufällig – Aber wie lange ließ sie sich das noch gefallen? „Richard!“ rief sie aus und öffnete die Augen. Da sah sie ihn so lächeln, daß sie meinte, Richard müßte ihre Erinnerungen errathen haben. Das war natürlich ganz unmöglich, denn man wußte ja hier kaum, daß sie den Violinvirtuosen Emil Lindbach kannte. Im übrigen, kannte sie selbst ihn denn heute noch? Der, an den sie jetzt dachte, war ja ein ganz Anderer, das war der hübsche Junge, den sie als ganz junges Mädchen geliebt. So schweiften ihre Gedanken ⎣immer weiter, in die Vergangenheit zurück und es schien ihr ganz unmöglich, wieder in die Gegenwart zurückzukehren und mit den beiden Kindern zu plaudern. Sie sagte ihnen Adieu und ging. Ueber den Straßen lag eine schwere Nachmittagssonne. Die Läden waren gesperrt, die Wege beinahe menschenleer. An den Tischchen vor dem Kaffeehaus auf dem Marktplatz saßen ein paar Offiziere. Bertha sah nach den 495 499 506 509 510 513 514 519 522 523 524

Mann] Mann, EA GW ersten Mal] erstenmal GW Komm] Komm’ GW irgend eine] irgendeine GW Emil] Emil, GW zwanzig Mal] zwanzigmal GW gesessen] gesessen, GW errathen] erraten EA Anderer] anderer GW geliebt] geliebt hatte GW zurück] zurück, GW

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Fenstern des ersten Stockwerks, in welchem das Ehepaar Rupius wohnte. Sie war schon lange nicht bei ihnen gewesen, sie wußte ganz genau, seit wann, seit dem zweiten Weihnachtsfeiertag. Damals hatte sie Herrn Rupius allein zu Hause getroffen und damals hatte er ihr erzählt, sein Leiden wäre unheilbar. Sie wußte nun auch, warum sie seitdem nicht bei ihm gewesen: ohne sich’s einzugestehen, hatte sie eine Art Angst davor gehabt, diese Wohnung zu be treten, die sie damals in heftiger Bewegung verlassen. Heute war es ihr aber, als müßte sie hinauf; es schien ihr, als wenn im Lauf der letzten Tage sich irgend ein Band zwischen ihr und dem Kranken geknüpft, und als wenn selbst der Blick, mit dem er sie gestern auf dem Spaziergang still betrachtet, etwas zu bedeuten gehabt hätte. ⎣Als sie ins Zimmer eintrat, mußten ihre Augen sich erst an das Halb dunkel gewöhnen; die Rouleaux waren herabgelassen und nur durch die obere Spalte fiel ein Sonnenstrahl gerade vor den weißen Ofen hin. An dem Tisch in der Mitte des Zimmers saß in einem Lehnstuhl Herr Rupius; vor ihm lagen aufgeschichtete Blätter, von denen er eben eines wegthat, um das nächste zu betrachten. Bertha sah, daß es Stiche waren. „Ich danke Ihnen,“ sagte er, „daß Sie mich wieder einmal besuchen.“ Er streckte ihr die Hand entgegen. „Sie sehen, womit ich da eben beschäftigt bin? Nun, es ist eine Sammlung von Stichen nach alten Niederländern. Glauben Sie mir, gnädige Frau, es ist ein großes Vergnügen, alte Stiche zu betrachten.“ „O freilich.“ „Sehen Sie, es sind sechs Bände, oder vielmehr sechs Mappen, jede zu zwanzig Blättern; ich werde wohl den ganzen Sommer brauchen, um sie wirk lich zu kennen.“ Bertha stand an seiner Seite und blickte auf den Stich, der eben vor ⎡ihm lag und der eine Jahrmarktsscene von Teniers darstellte. „Den ganzen Sommer,“ sagte sie zerstreut. ⎣Rupius wandte sich zu ihr. „Jawohl,“ sagte er mit leicht zusammen gepreßten Zähnen, als gälte es, einen Standpunkt vertheidigen, „was i c h eben heiße, ein Bild kennen. Darunter verstehe ich, ein Bild im Innern sozusagen nachzeichnen können, Linie für Linie. Dies hier ist ein Teniers, das Original hängt im Haag. Warum reisen Sie nicht nach dem Haag, gnädige Frau, wo so schöne Teniers zu sehen sind und mancherlei Anderes?“ Bertha lächelte. „Wie kann ich daran denken, solche Reisen zu machen?“

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wann,] wann: EA GW getroffen] getroffen, GW irgend ein] irgendein GW Rouleaux] Rouleaus GW1922 herabgelassen] herabgelassen, EA GW O] Oh GW Jahrmarktsscene] Jahrmarktsszene GW Standpunkt] Standpunkt zu GW i c h ] ich EA GW Anderes] anderes GW

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„Nun freilich,“ sagte Herr Rupius. „Der Haag ist sehr schön, ich war dort vor vierzehn Jahren; damals war ich achtundzwanzig, heut’ bin ich zwei undvierzig oder auch vierundachtzig. – Er legte wieder ein Blatt zur Seite. „Das hier ist ein Ostade, „der Pfeifenraucher“. Nun ja, man sieht wohl, daß er eine Pfeife raucht. Original in Wien.“ „Ich glaube, an dieses Bild erinnere ich mich.“ „Wollen Sie sich nicht mir gegenübersetzen, gnädige Frau, oder hier an meine Seite, wenn Sie die Bilder mit mir ansehen wollen? Das hier ist ein Falkenborg – wundervoll, nicht wahr? Nur ganz im Vordergrund scheint es so nichtig, so begrenzt; ja, nichts als ein Bauer, der mit einer ⎣Bäuerin tanzt, und da eine Alte, die sich darüber ärgert, und hier ein Haus, und aus der Thüre tritt Einer mit einem Eimer Wasser. Ja, das ist freilich nichts, aber da hinten, sehen Sie, da ist die ganze Welt, blaue Berge, grüne Städte, der Himmel drüber mit Wolken und nebstbei ein Tournier – haha! – es gehört wohl nicht dazu in gewissem Sinn, aber in einem anderen Sinn gehört es eben doch dazu. Denn Hintergründe sind überall und darum ist es sehr richtig, daß hier gleich hinter dem Bauernhaus die Welt anfängt mit ihren Tournieren und ihren Bergen und Flüssen und Festungen und Weingärten und Wäldern.“ Er zeigte mit einem kleinen, elfenbeinernen Papiermesser auf die einzelnen Partieen des Bildes, von denen er eben sprach. „Gefällt’s Ihnen? Es hängt auch in der Wiener Galerie. Sie müßten es kennen.“ „Es ist ja schon sechs Jahre, daß ich nicht mehr in Wien lebe und auch viele Jahre vorher war ich nicht mehr im Museum.“ „So? Ich bin oft dort herumgegangen, auch vor diesem Bild bin ich gestanden. Ja, g e g a n g e n bin ich, früher einmal.“ Er sah sie beinah lachend an, und sie konnte vor Befangenheit nicht antworten. Dann sprach er unver mittelt weiter: „Ich glaube, ⎣ich langweile Sie mit den Bildern. Warten Sie, meine Frau kommt gleich nach Hause. Sie wissen doch, daß sie jetzt nach Tisch immer zwei Stunden herumläuft? Sie fürchtet, zu stark zu werden.“ „Ihre Frau sieht so schlank und jung aus wie . . . . . . Nun, ich finde, seit ich hier bin, hat sie sich gar nicht verändert.“ Bertha war es, als wenn das Antlitz von Rupius ganz starr würde. Dann sagte er plötzlich in harm losem Tone, der zu seinem Gesichtsausdruck gar nicht stimmte: „Das ruhige Leben in so einer kleinen Stadt, ja das erhält jung. Es war eine kluge Idee von mir und von ihr, denn es war eine gemeinschaftliche Idee von uns Beiden, uns hierher zurückzuziehen. Wer weiß, in Wien wäre es schon ganz zu Ende.“

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heut’] heut GW Falkenborg] Falckenborgh GW1922 Einer] einer GW überall] überall, EA GW Partieen] Partien GW lebe] lebe, EA GW wie . . . . . .] wie . . . GW Beiden] beiden GW

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Bertha konnte nicht errathen, wie er dieses „zu Ende“ meinte, ob er es auf sein Leben, auf die Jugend seiner Frau oder sonst irgendwas bezog. Jeden falls bedauerte sie, daß sie heute gekommen war; sie hatte ein Gefühl von Be schämung, so gesund zu sein. „Hab’ ich Ihnen gesagt,“ fuhr Rupius fort, „daß ich diese Mappen von Anna bekommen habe? Ein Gelegenheitskauf, denn das Werk ist für ge ⎡wöhnlich sehr theuer. Ein Buchhändler hat es annoncirt, und Anna tele graphirte gleich an ihren ⎣Bruder, er möge es für uns besorgen. Sie wissen ja, daß wir viele Verwandte in Wien haben, sowohl ich als Anna. Sie fährt auch zuweilen hinein, sie besuchen. Demnächst erhalten wir einen Gegenbesuch. Ich wäre schon so erfreut, sie bei mir zu sehen, besonders Annas Bruder und Schwägerin; ich bin ihnen so viel Dank schuldig. Wenn Anna in Wien ist, speist sie bei ihnen, schläft sie bei ihnen – nun, Sie wissen ja, gnädige Frau.“ Er sprach rasch und dabei mit einem kühlen, geschäftsmäßigen Tonfall; es klang, als wenn er sich vorgenommen, diese Dinge Jedem zu erzählen, der heute ins Zimmer träte. Es war das erste Mal, daß er überhaupt mit Bertha über die Reisen seiner Frau sprach. „Morgen will sie wieder fahren,“ sagte er. „Ich glaube, es handelt sich diesmal um die Sommertoilette.“ „Ich finde das sehr klug von Ihrer Frau,“ sagte Bertha, froh eine An knüpfung gefunden zu haben. „Und nebstbei ist es billiger,“ setzte Rupius hinzu. „Ich versichere Sie, selbst wenn Sie die Reise dazurechnen. Warum machen Sie’s nicht auch so wie meine Frau?“ „Wie das, Herr Rupius?“ ⎣„Nun, in Hinsicht auf Ihre Kleider und Hüte! Auch Sie sind jung und hübsch.“ „O Gott, für wen soll ich mich schön anziehen?“ „Für wen? Für wen zieht sich denn meine Frau so hübsch an?“ Die Thüre öffnete sich und Frau Rupius trat ein, in einem hellen Früh jahrskleid, einen rothen Sonnenschirm in der Hand und einen weißen Strohhut mit rothem Band auf dem dunklen, hoch frisirten Haar. Um ihren Mund war das freundliche Lächeln wie immer, und mit heiterer Ruhe begrüßte sie Bertha. „Lassen Sie sich wieder einmal in unserm Hause sehen?“ Das Dienstmädchen war hinter ihr eingetreten, Anna gab ihr Schirm und Hut. „Interessiren Sie sich auch für Bilder, Frau Garlan?“ Sie trat näher hinter ihren Mann, strich ihm mit der Hand sanft über Stirn und Haar.

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errathen] erraten EA theuer] teuer EA hat] hatte EA GW schon so] schon EA GW ihnen so] ihnen EA GW Jedem] jedem GW erste Mal] erstemal GW froh] froh, GW sich] sich, EA GW

annoncirt] annociert GW

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„Ich sprach eben Frau Garlan meine Verwunderung aus,“ sagte Rupius, „daß sie niemals nach Wien fährt.“ „Wahrhaftig,“ warf Frau Rupius ein, „warum thun Sie es nicht? Sie haben gewiß auch noch Bekannte dort. Fahren Sie einmal mit mir hinein, zum Beispiel morgen. Ja, morgen.“ Rupius blickte, während seine Frau so sprach, ⎣vor sich hin, als wagte er nicht, sie anzusehen. „Frau Rupius, Sie sind wirklich sehr lieb,“ sagte Bertha, und es war ihr, als wenn ein ganzer Strom von Freude durch ihr Wesen ränne. Sie wunderte sich auch, daß sie nun so lange gar nicht an die Möglichkeit einer solchen Reise gedacht, die doch so leicht zu bewerkstelligen war und die ihr in diesem Augenblick wie ein Heilmittel gegen die sonderbare Mißstimmung erschien, unter der sie seit einigen Tagen litt. „Nun, sind Sie einverstanden, Frau Garlan?“ „Ich weiß wirklich nicht – Zeit hätt’ ich wohl, morgen hab’ ich nur die eine Lektion bei meiner Schwägerin, die wird es ja nicht so genau nehmen; aber ob ich Sie nicht störe?“ Ein leichter Schatten flog über die Stirne von Frau Rupius. „Stören, was fällt Ihnen denn ein? Ich bin recht froh, die paar Stunden der Hin und Rückfahrt in angenehmer Gesellschaft zu verbringen. Und in Wien – o, sicher werden wir auch in Wien gemeinschaftliche Wege haben.“ ⎡„Ihr Herr Gemahl,“ sagte Bertha und erröthete wie ein Mädchen, das vom ersten Ball spricht, „hat mir erzählt . . . hat mir gerathen. . . .“ ⎣„Er hat Ihnen sicher von meiner Schneiderin vorgeschwärmt,“ sagte Frau Rupius lachend. Rupius saß noch immer regungslos da und sah Keine von den Beiden an. „Ja, ich möchte Sie wirklich bitten, Frau Rupius. Wenn ich Sie ansehe, bekomm’ ich Lust, mich auch wieder einmal so hübsch anzuziehen.“ „Das ist leicht zu machen,“ sagte Frau Rupius. „Ich bringe Sie zu meiner Schneiderin und so habe ich gleich die angenehme Hoffnung, auch meine nächsten Fahrten nicht allein machen zu müssen. Ich bin auch um Deinetwillen froh,“ sagte sie zu ihrem Mann, indem sie seine Hand berührte, die auf dem Tisch lag, „und um Ihretwillen,“ wandte sie sich an Bertha, „Sie werden sehen, wie Ihnen das wohlthun wird. In Straßen herumlaufen, ohne daß Einen Jemand kennt, das ist wunderbar. Ich brauch’ es von Zeit zu Zeit. Ganz erfrischt komm’ ich immer zurück, und –“ sie sah dabei ihren Mann von der Seite mit einem Blick voll Angst und Zärtlichkeit an, „bin dann hier so glücklich, als man nur sein kann, glücklicher als alle andern Frauen der Welt, glaub’ ich.“ Sie näherte sich ihrem Mann und küßte ihn auf die Schläfe. 659 661 662 665 669 674

o] oh GW erröthete] errötete EA gerathen. . . .] geraten. . . . EA geraten . . . GW Keine von den Beiden] keine von den beiden GW Schneiderin] Schneiderin, EA GW Einen Jemand] einen jemand GW

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Bertha hörte, wie sie leise dazu sagte: „Liebster.“ Er aber ⎣sah noch immer vor sich hin, als scheute er sich, dem Blick seiner Frau zu begegnen. Beide schwiegen und schienen in sich versunken, als wäre Bertha gar nicht da. Bertha fühlte dunkel, daß in der Beziehung zwischen diesen beiden Menschen irgend etwas Geheimnißvolles walte, das ganz zu verstehen sie nicht klug oder nicht erfahren oder nicht gut genug war. Minutenlang blieb es still, und Bertha wurde so befangen, daß sie gern fortgegangen wäre; aber es war ja nothwendig, über die morgige Reise Näheres zu vereinbaren. Anna war es, die zu reden begann. „So wollen wir also dabei bleiben, daß wir uns zum Frühzug auf dem Bahnhof treffen – ja? Und ich will es so einrichten, daß wir mit dem Abendzug um sieben wieder nach Hause fahren; in acht Stunden läßt sich ja viel besorgen.“ „Gewiß,“ sagte Bertha, „wenn Sie sich nur meinetwegen nicht im ge ringsten stören.“ Anna unterbrach sie beinahe ärgerlich. „Ich sagte Ihnen ja schon, wie froh ich bin, daß Sie mit mir fahren, umsomehr, als mir keine Frau in der Stadt so sympathisch ist als Sie.“ „Ja,“ sagte Herr Rupius, „das kann ich bestätigen. Sie wissen ja, daß meine Frau beinah nirgends hier verkehrt, – und da Sie nun so lange ⎣nicht bei uns waren, hatt’ ich schon Angst, sie verliert nun auch Sie.“ „Wie können Sie das nur denken! aber Herr Rupius! Und Sie, Frau Rupius, Sie haben doch nicht geglaubt –“ Bertha fühlte eine überströmende Liebe für Beide in diesem Augenblick. Sie war so gerührt, daß sie Thränen in der eigenen Stimme aufsteigen spürte. Frau Rupius lächelte seltsam und überlegen. „Ich habe gar nichts ge glaubt, überhaupt denk’ ich über gewisse Dinge nicht weiter nach. Mein Be dürfniß nach Verkehr ist ja nicht groß, aber Sie, Frau Bertha, hab’ ich wirklich lieb.“ Sie reichte ihr die Hand. Bertha warf einen Blick auf Rupius; ihr war es, als müßte sie nun auf seinem Gesicht einen Ausdruck der Befriedigung gewahren, aber zu ihrer Verwunderung schaute er mit einem beinah entsetzten Blick in die Ecke des Zimmers. Das Stubenmädchen kam mit dem Kaffee. Das Weitere über die Ein theilung des morgigen Tags wurde besprochen und endlich ein ziemlich genauer ⎡Stundenplan festgestellt, den Bertha in ihrem kleinen Notizbuch eintrug, worüber Frau Rupius ein wenig lächelte.

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Geheimnißvolles] Geheimnisvolles GW nothwendig] notwendig EA Näheres] näheres GW umsomehr] um so mehr GW geglaubt –“] geglaubt“ – GW Beide] beide GW Bedürfniß] Bedürfnis GW Weitere] weitere GW Eintheilung] Einteilung EA

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Als Bertha wieder auf die Straße kam, hatte ⎣sich der Himmel bewölkt, und die steigende Schwüle deutete auf ein nahes Gewitter. Noch bevor sie zu Hause angelangt war, fielen die ersten großen Tropfen, und sie gerieth in einige Besorgniß, als sie, oben angelangt, das Dienstmädchen und ihren Kleinen nicht daheim fand; aber als sie sich zum Fenster stellte, um es zu schließen, sah sie Beide laufend daherkommen. Der erste Donnerschlag ertönte, und sie fuhr zusammen; gleich darauf leuchtete ein Blitz. Das Gewitter war kurz, aber ungewöhnlich heftig. Bertha saß im Schlaf zimmer auf ihrem Bett, hielt ihren Buben auf dem Schooß und erzählte ihm eine Geschichte, damit er keine Angst hätte; dabei war ihr zumuth, als bestände ein gewisser Zusammenhang zwischen dem, was sie heut und gestern erlebt und dem Ungewitter. Nach einer halben Stunde war Alles vorüber. Bertha öffnete das Fenster, die Luft war abgekühlt, der dämmernde Himmel klar und fern. Bertha athmete auf; sie war wie durchdrungen von einem Gefühl des Friedens und der Hoffnung. Es war Zeit, sich für das Gartenkonzert bereit zu machen. Als sie hin kam, fand sie die Gesellschaft schon an einem großen Tisch unter einem Baum versammelt. Bertha hatte die Absicht, ihrer Schwägerin ⎣ gleich zu sagen, daß sie morgen nach Wien fahren wollte, aber eine Scheu, als wäre diese Reise etwas Verbotenes, hielt sie davor zurück. Herr Klingemann ging mit seiner Wirthschafterin an ihrem Tisch vorüber. Die Wirthschafterin war ein nicht mehr junges, sehr üppiges Weib, größer als Klingemann, und sah im Gehen immer aus, als wenn sie schliefe. Klingemann grüßte mit übertriebener Höflichkeit, die Herren dankten kaum, die Frauen thaten, als wenn sie den Gruß nicht bemerkten. Nur Bertha nickte leicht und sah den Beiden nach. Richard, der neben seiner Tante saß, flüsterte ihr zu: „Das ist seine Geliebte – ja, ganz bestimmt, ich weiß es.“ Man aß und trank und plauderte; zuweilen kamen Bekannte von anderen Tischen, setzten sich auf eine Weile dazu und gingen wieder an ihre Plätze. Die Musik rauschte um Bertha, ohne irgend einen Eindruck auf sie zu machen; sie war ununterbrochen mit dem Gedanken beschäftigt, wie sie ihren Plan mit theilen sollte. Plötzlich, während die Musik sehr laut spielte, sagte Bertha zu Richard: „Du, morgen hast Du keine Stunde, ich fahre nach Wien.“ 717 718 720 721 723 724 726 728 734 734 f. 735 739 744

gerieth] geriet EA Besorgniß] Besorgnis GW Beide] beide GW gleich darauf] zugleich GW Schooß] Schoß GW zumuth] zumut EA zumute GW Alles] alles GW athmete] atmete EA davor] davon EA GW seiner Wirthschafterin] seiner Wirtschafterin EA Die Wirthschafterin] Die Wirtschafterin EA Beiden] beiden GW irgend einen] irgendeinen GW

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„Nach Wien?“ sagte Richard, und er rief es hinüber zu seiner Mutter: „Du, die Tante fährt morgen nach Wien.“ ⎣„Wer fährt nach Wien?“ fragte Garlan, der am entferntesten saß. „Ich,“ sagte Bertha. „Ei, ei,“ sagte Garlan und drohte scherzhaft mit dem Finger. So war es also abgethan. Bertha freute sich darüber. Richard machte Späße über die Leute, die im Garten saßen, auch über den dicken Kapellmeister, der während des Dirigirens immer hüpfte, dann über einen Trompeter, der dicke Backen bekam und zu weinen schien, wenn er blies. Bertha mußte sehr viel lachen. Man scherzte über ihre gute Laune, und Doktor Friedrich bemerkte, sie fahre sicher zu einem Rendez vous nach Wien. „Das möcht’ ich mir aber verbieten!“ rief Richard so zornig, daß die Heiterkeit eine allgemeine wurde. Nur Elly blieb ernst und sah ihre Tante ganz erstaunt an. *

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* * ⎡Bertha sah durch das offene Coupéfenster in die Landschaft hinaus, Frau Rupius las in einem Buch, das sie sehr bald nach der Abfahrt des Zugs aus der kleinen Reisetasche herausgenommen; es hatte beinah den Anschein, als wollte sie ein längeres Ge⎣spräch mit Bertha vermeiden, und diese war ein wenig gekränkt. Sie hatte schon lang den Wunsch gehegt, die Freundin der Frau Rupius zu sein, aber seit gestern war es wie eine Sehnsucht geworden, die sie an die Schwärmerei von Kinderfreundschaften zurückdenken ließ. So war sie anfangs ganz unglücklich gewesen und hatte ein Gefühl von Verlassenheit gehabt, aber bald begannen die wechselnden Bilder vor dem Fenster sie angenehm zu zerstreuen. Während sie auf die Geleise schaute, die ihr entgegenzulaufen schienen, auf die Hecken und Telegraphenstangen, die an ihr vorbeischwebten und sprangen, erinnerte sie sich der paar kurzen Reisen ins Salzkammergut, die sie als Kind mit den Eltern gemacht, und an das namenlose Vergnügen, wenn sie damals am Waggonfenster sitzen konnte. Dann blickte sie ins Weite, freute sich am Leuchten des Flusses, an den gefälligen Windungen der Hügel und Wiesen, am Blau des Himmels und an den weißen Wolken. Nach einiger Zeit legte Anna wieder ihr Buch weg, fing mit Bertha zu plaudern an und lächelte ihr zu wie einem Kind. „Wer uns das vorausgesagt hätte“, sagte Frau Rupius. „Daß wir zusammen nach Wien –?“ ⎣„Nein, nein; daß wir Beide unser Leben dort“ – sie wies mit einer

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758 762 766 768f. 773 774 778 782

Rendez vous] Rendezvous GW Coupéfenster] Kupeefenster GW lang] lange GW So war sie] Sie war so GW sprangen] -sprangen GW gemacht] gemacht hatte GW zu plaudern an] an zu plaudern GW Beide] beide GW

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leichten Bewegung des Kopfes in die Gegend, aus der sie kamen – „wie soll ich sagen? verbringen oder beschließen werden.“ „Freilich, freilich“, sagte Bertha. Sie hatte noch nicht daran gedacht, daß das eigentlich sonderbar wäre. „Nun, Sie wußten es doch von dem Augenblick an, da Sie heiratheten, aber ich –“ Frau Rupius sah vor sich hin. Bertha fragte: „Sie sind also erst in die kleine Stadt gezogen, als . . als –“ Sie unterbrach sich verlegen. „Ja, Sie wissen’s doch.“ Dabei schaute sie Bertha voll ins Gesicht, als wenn sie ihr diese Frage verwiese. Aber dann setzte sie, mild lächelnd fort, als wäre das, woran sie dachte, gar nicht so traurig: „Ja, ich habe nicht ge ahnt, daß ich je Wien verlassen würde; mein Mann hatte seine Stellung als Beamter im Ministerium, er hätte es gewiß noch längere Zeit bleiben können trotz seines Leidens, aber er wollte eben fort.“ „Er dachte wohl, die gute Luft, die Stille –“ begann Bertha, und spürte gleich, daß sie nichts sehr Kluges sagte. ⎣Aber Anna antwortete ganz freundlich; „Nicht das, weder Ruhe, noch Klima kann da helfen; aber er dachte, es wäre in jeder Hinsicht besser für uns Beide. Er hatte auch Recht, was sollten wir noch in der großen Stadt?“ Bertha fühlte, daß Anna ihr nicht Alles sagte; sie hätte sie bitten mögen, ihr doch ihr ganzes Herz aufzuschließen, aber eine solche Bitte mit den rechten Worten auszusprechen, dazu wußte sie sich nicht geschickt genug. Und als hätte Frau Rupius errathen, daß Bertha gern mehr erfahren wollte, ging sie rasch auf etwas Anderes über, fragte sie nach ihrem Schwager, nach den musikalischen Talenten ihrer Schüler, nach ihrer Unterrichtsmethode; dann nahm sie wieder ihren Roman und ließ Bertha allein. Einmal sah sie von dem Buch auf und fragte: „Haben Sie sich denn nichts zum Lesen mitgenommen?“ „O ja,“ antwortete Bertha. Es fiel ihr plötzlich ein, daß sie die Zeitung mit hatte; sie nahm sie und blätterte eifrig auf. Man näherte sich Wien. Frau Rupius klappte ihr Buch zusammen und that es in die Reise tasche. Sie sah Bertha mit einer gewissen Zärtlichkeit an, wie ein Kind, das ⎡man nun bald in ein ungewisses Schicksal entlassen muß. „Noch eine Viertel ⎣ stunde“, sagte sie, „dann sind wir – nun hätt’ ich beinah gesagt: zu Hause.“

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heiratheten] heirateten EA als . .] als . . . GW lächelnd] lächelnd, EA GW es gewiß noch längere Zeit bleiben] sie gewiß noch längere Zeit behalten GW Bertha,] Berta GW freundlich;] freundlich: EA GW Beide] beide GW Recht] recht GW wir] wie GW wir GW1922 Alles] alles GW errathen] erraten EA Anderes] anderes GW O] Oh GW

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Die Stadt lag vor ihnen. Jenseits des Flusses ragten Schlöte in die Höhe, langgestreckte, gelb angestrichene Häuser reihten sich aneinander, Thürme stiegen auf. Ueber Allem lag die milde Maisonne. Bertha klopfte das Herz. Sie hatte das Gefühl, wie wenn man nach langen Jahren in eine ersehnte Heimath zurückkehrt, die sich seitdem wahr scheinlich sehr verändert hat, wo allerlei Geheimnisse und Ueberraschungen warten. In dem Augenblick, da der Zug in die Halle fuhr, kam sie sich bei nahe muthig vor. Die Frauen nahmen einen Wagen und fuhren in die Stadt. Als sie den Ring passirten, beugte sich Bertha plötzlich aus dem Fenster; sie sah einem jungen Mann nach, dessen Gestalt und Gang sie an Emil Lindbach erinnerte. Sie wünschte, der junge Mann möchte sich umwenden, aber sie verlor ihn aus dem Aug, ohne daß es geschehen wäre. Vor einem Hause auf dem Kohlmarkt hielt der Wagen; die beiden Frauen stiegen aus und begaben sich in den dritten Stock, wo sich das Atelier der Schneiderin befand. Während Frau Rupius probirte, ließ sich Bertha Stoffe vorlegen und traf ⎣eine Wahl, die Mamsell nahm ihre Maaße, und es wurde bestimmt, daß Bertha heute über acht Tage sich zur Probe einfinden sollte. Frau Rupius kam aus dem Nebenzimmer und empfahl den Auftrag ihrer Freundin besonderer Sorgfalt. Bertha schien es, als werde sie von Allen mit etwas spöttischen, beinah mitleidigen Blicken betrachtet, und im großen Wand spiegel gewahrte sie plötzlich, daß sie recht geschmacklos angezogen war. Was war ihr aber nur eingefallen, sich für den heutigen Tag in den provinziellen Sonntagsstaat zu werfen, statt eines ihrer einfachen, glatten Kleider zu tragen wie sonst? Sie wurde roth vor Beschämung. Sie hatte eine schwarz weiß gestreifte Toilette aus Foulard, die in ihrem Schnitt um drei Jahre zurück war, und einen übertrieben nach vorn aufgebogenen, hellen mit Rosen aufge putzten Hut, der ihre zierliche Gestalt drückte und beinah lächerlich machte. Und als hätte es noch einer Bestätigung durch ein tröstendes Wort bedurft, sagte ihr Frau Rupius im Hinuntergehen: „Sie sehen doch sehr hübsch aus.“ Sie standen im Thorweg. „Was nun?“ fragte Frau Rupius. „Was haben Sie vor?“ „Wollen Sie mich denn . . . ich meine . . .“ ⎣Bertha war ganz er schrocken, sie kam sich wie ausgesetzt vor. 818 819 821 823 824 829 833 836 841 843 849

Thürme] Türme EA Allem] allem GW Heimath] Heimat EA da] als GW muthig] mutig EA Aug] Auge GW ihre Maaße] ihre Maße EA ihr Maß GW Allen] allen GW roth] rot EA übertrieben nach vorn aufgebogenen,] übertriebenen, nach vorn aufgebogenen GW hellen] hellen, EA GW meine . . .] meine . . EA

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Frau Rupius sah sie mit freundlichem Mitleid an. „Ich denke“, sagte sie, „daß Sie nun Ihre Kousine besuchen werden, nicht wahr? Und ich nehme an, daß man Sie dort zum Essen behält?“ „Natürlich wird mich Agathe zu Tisch einladen.“ „Ich werd’ Sie bis hin führen, wenn es Ihnen Recht ist, dann geh’ ich zu meinem Bruder, und wenn’s mir möglich ist, hol’ ich Sie um drei Uhr nachmittags ab.“ Sie gingen zusammen durch die belebtesten Straßen der inneren Stadt und betrachteten die Auslagen. Der Lärm hatte anfangs etwas Verwirrendes für Bertha, dann wirkte er eher angenehm auf sie. Sie sah die Leute an, die vorübergingen, und der Anblick der eleganten Herren und hübsch angezogenen Damen machte ihr großes Vergnügen. Die Leute schienen überhaupt Alle neue Kleider anzuhaben, und ihr schien, als sähen Alle hier viel glücklicher aus als daheim. Jetzt blieb sie vor der Auslage eines Kunsthändlers stehen und ihr Auge fiel gleich auf ein bekanntes Bild; es war dasjenige Emil Lindbachs ⎡aus der illustrirten Zeitung. Bertha war so erfreut, als hätte sie einen Be ⎣ kannten getroffen. „Den kenn’ ich“, sagte sie zu Frau Rupius. „Wen?“ „Den hier.“ Sie wies mit dem Finger auf die Photographie. „Denken Sie, mit dem bin ich zugleich ins Konservatorium gegangen.“ „So?“ fragte Frau Rupius. Bertha sah sie an und merkte, daß sie dem Bild gar keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte, sondern über irgend etwas nach dachte. Bertha war aber froh darüber, denn es schien ihr, als hätte in ihrer Stimme zu viel Wärme gelegen. Zugleich regte sich ein ganz leichter Stolz in ihr, daß der Mann, dessen Bild hier in der Auslage hing, als ganz junger Mensch in sie verliebt gewesen und sie geküßt hatte. Mit einem Gefühl innerer Zufriedenheit ging sie weiter. Nach kurzer Zeit war sie in der Riemerstraße vor dem Haus ihrer Kousine. „Also es bleibt dabei,“ sagte sie, „nicht wahr, daß Sie mich um drei abholen?“ „Ja“, entgegnete Frau Rupius, „das heißt, – nun, wenn ich mich ein wenig verspäten sollte, halten Sie sich meinetwegen keineswegs länger bei Ihrer Kousine auf, als Ihnen angenehm ist; es bleibt jedenfalls dabei: um sieben Uhr abends auf dem ⎣Bahnhof. Auf Wiedersehen.“ Sie gab Bertha die Hand und ging rasch. Bertha sah ihr befremdet nach. Sie kam sich wieder so ver lassen vor wie in der Eisenbahn, da Frau Rupius ihren Roman gelesen hatte.

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Kousine] Cousine EA GW werd’] werde EA GW Recht] recht EA GW machte] bereitete GW Alle] alle GW schien] war EA GW Alle hier] hier alle GW stehen] stehen, GW gewesen] gewesen war GW Kousine] Cousine EA GW Ihrer] ihrer EA Kousine] Cousine EA GW

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Dann ging sie die zwei Treppen hinauf. Sie hatte die Kousine von ihrem Kommen nicht benachrichtigt und bekam eine leise Angst, daß sie unge legen sein könnte. Seit vielen Jahren hatte sie Agathe nicht mehr gesehen, und die Korrespondenz zwischen ihnen war recht sparsam geführt worden. Agathe empfing sie nicht anders, als wären sie gestern zum letzten Mal beisammen gewesen, ohne Verwunderung und ohne Herzlichkeit. Um Berthas Lippen war schon das Lächeln gewesen, wie man es hat, wenn man Jemandem eine Ueberraschung zu bereiten glaubt; sie unterdrückte es gleich. „Du bist ja ein recht seltener Gast,“ sagte Agathe, „und läßt gar nichts von Dir hören.“ „Aber Agathe, Du bist mir ja noch einen Brief schuldig, seit drei Monaten.“ „So?“ fragte Agathe. „Nun, mich mußt Du entschuldigen, Du kannst Dir denken, was Einem drei Kinder zu thun geben. Hab’ ich Dir geschrieben, daß Georg schon in die Schule geht?“ Agathe ⎣führte ihre Cousine in die Kinderstube, wo Georg und die zwei kleinen Mädchen von der Bonne eben ihr Mittagessen vorgetheilt erhielten. Bertha stellte einige Fragen an sie, aber die Kinder waren sehr scheu, und das kleinste Mädchen begann sogar zu weinen. Endlich sagte Agathe zu Georg: „Bitte doch Tante Bertha, daß sie das nächste Mal Fritz mitbringt.“ Bertha fiel es auf, wie alt ihre Cousine in den letzten Jahren geworden. Wahrhaftig, wenn sie sich zu den Kindern beugte, sah sie beinah aus wie eine alte Frau, und Bertha wußte, daß sie selbst nur um ein Jahr jünger war als Agathe. Als sie wieder ins Speisezimmer zurückkehrten, war alles erschöpft, was sie sich zu sagen hatten, und als Agathe Bertha zu Tische einlud, schien sie es nur gesagt zu haben, um überhaupt etwas zu reden. Bertha nahm trotz dem an, und die Cousine ging in die Küche, um einige Aufträge zu ertheilen. Bertha sah sich im Zimmer um, das sparsam und geschmacklos eingerichtet war. Es war recht dunkel, da die Gasse sehr eng war. Bertha nahm ein Album vor, das auf dem Tisch lag; darin fand sie beinahe lauter bekannte Gesichter: ⎡gleich im Anfange die Eltern Agathens, die längst tot waren, dann die Bilder ihrer eigenen Eltern und die ihrer für sie ⎣fast verschollenen Brüder, Bilder gemeinschaftlicher Jugendbekannter, von denen sie beinah nichts mehr wußte, und endlich ein Bild, an dessen Vorhandensein sie schon ganz vergessen hatte: sie und Agathe gemeinschaftlich als ganz junge Mädchen. Damals hatten sie

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Kousine] Cousine EA GW letzten Mal] letztenmal GW Jemandem] jemandem GW Einem] einem GW nächste Mal] nächstemal GW sich zu sagen] einander zu erzählen EA GW ertheilen] erteilen EA Bild, an] Bild, GW

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Tische] Tisch GW

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einander sehr ähnlich gesehen, und waren sehr befreundet gewesen, Bertha er innerte sich mancher intimen Mädchengespräche, die sie damals geführt. – Und dieses bildhübsche Ding mit den aufgesteckten Zöpfen war jetzt beinah eine alte Frau. Und sie selbst? Warum hielt sie sich denn noch immer für eine junge? Erschien sie nicht vielleicht Anderen so wie Agathe ihr? Sie nahm sich vor, nachmittags auf die Blicke zu achten, mit welchen sie von Vorübergehenden betrachtet würde. Es wäre schrecklich, wenn sie auch schon so alt aussähe wie ihre Cousine! Nein, es war ganz lächerlich das zu glauben! Ihr Neffe fiel ihr ein, der sie immer die „schöne Tante“ nannte, – die Fensterpromenade Klingemanns von gestern Abend, – ja, sogar die Erinnerung an die Liebens würdigkeiten ihres Schwagers beruhigte sie. Und als sie in den Spiegel sah, der ihr gegenüber hing, blickten ihr zwei helle Augen aus einem frischen und faltenlosen Gesicht entgegen, und es war ihr Gesicht und ihre Augen. ⎣Als Agathe wieder hereinkam, begann Bertha von den fernen Jugend jahren zu sprechen, aber es schien, als hätte Agathe ihre früheren Beziehungen geradezu vergessen, als hätten die Ehe, die Mutterschaft, die Sorgen des All tags mit der Jugend auch die Erinnerung daran ausgelöscht. Wie jetzt Bertha von einem Studentenkränzchen zu reden begann, das sie zusammen besucht, von jungen Leuten, die Agathen den Hof gemacht, von einem gewissen anonymen Blumenstrauß, den Agathe einmal geschickt bekommen, lächelte sie anfangs wie abwesend, dann sah sie Bertha an und sagte: „Daß Du Dich noch an alle die Dummheiten erinnerst.“ Der Gatte Agathens kam aus der Kanzlei nach Hause. Er war recht grau geworden. Im ersten Augenblick schien er Bertha nicht zu erkennen, dann verwechselte er sie mit einer anderen Dame und entschuldigte sich mit seinem schlechten Personengedächtniß. Bei Tisch spielte er den Gewandten, er fragte in einer gewissen überlegenen Art nach den Zuständen der kleinen Stadt und meinte scherzend, ob Bertha nicht wieder zu heirathen gedächte. An diesen Neckereien betheiligte sich auch Agathe, während sie zugleich ihren Gatten, der dem Gespräch eine frivole Wendung zu geben suchte, gelegentlich durch ⎣Blicke zurechtwies. Bertha fühlte sich unbehaglich. Später machte Agathens Gatte eine Anspielung, aus der hervorging, daß seine Frau wieder Mutterfreuden entgegensah. Aber während Bertha sonst für Frauen in solchen Umständen ein Gefühl der Sympathie hatte, war sie hier fast unangenehm berührt. Auch lag in der Art, wie der Gatte davon sprach, keine Spur von Liebe, sondern eher ein gewisser alberner Stolz erfüllter Pflicht. Er sprach so davon, als wenn es eine besondere Liebenswürdigkeit von ihm wäre, daß er sich bei all

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gesehen,] gesehen GW geführt] geführt hatten GW Anderen] anderen GW lächerlich] lächerlich, GW bekommen] bekommen hatte GW Personengedächtniß] Personengedächtnis GW heirathen] heiraten EA betheiligte] beteiligte EA

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seiner Beschäftigung und trotzdem Agathe nicht mehr schön war, dazu verstand, bei ihr zu schlafen. Bertha hatte das Gefühl, hier in eine unreinliche Ge schichte eingeweiht zu werden, die sie nichts anging. Sie war froh, als der Gatte gleich nach eingenommener Mahlzeit ging, – es war seine Gewohnheit, „sein einziges Laster“, wie er lächelnd sagte, nach Tisch eine Stunde im Kaffee haus Billard zu spielen. Bertha blieb mit Agathe allein. „Ja,“ sagte Agathe, „nun steht mir das wieder einmal bevor.“ Und nun begann sie in einer geschäftsmäßigen, kühlen Art von ihren früheren Ent bindungen zu reden, mit einer Aufrichtigkeit und Schamlosigkeit, die Bertha ⎡umsomehr auffiel, als sie einander doch so fremd geworden waren. Aber ⎣ während Agathe weitersprach, fuhr Bertha plötzlich der Gedanke durch den Sinn, wie schön es sein müßte, von einem Mann, den man liebt, ein Kind zu be kommen. Sie hörte nicht mehr auf die widerwärtigen Reden ihrer Cousine, sie dachte nur mehr an die unendliche Sehnsucht, die sie selbst manchmal in ganz jungen Jahren überkommen, Mutter zu werden, und sie erinnerte sich eines Augenblicks, da diese Sehnsucht tiefer war als jemals früher oder später. Es war an einem Abend gewesen, wo Emil Lindbach sie vom Konservatorium aus nach Hause begleitet, ihre Hand in der seinen. Sie wußte noch, daß es ihr damals zu schwindeln begonnen und daß sie in jenem einzigen Momente verstanden, was die Phrase besagen wollte, die sie zuweilen in Romanen ge lesen: „er hätte aus ihr machen können, was er wollte“. Jetzt merkte sie, daß es im Zimmer ganz still geworden und daß Agathe in der Ecke des Divans lehnte und zu schlafen schien. Auf der Wanduhr war es drei. Wie unangenehm, daß Frau Rupius noch nicht da war! Bertha trat zum Fenster und blickte auf die Straße. Dann wandte sie sich nach Agathe um, die die Augen wieder geöffnet hatte. ⎣Bertha versuchte rasch ein neues Gespräch zu beginnen und erzählte von der Toilette, die sie Vormittags bestellt, aber Agathe war zu schläfrig, sie antwortete gar nicht mehr. Bertha wollte nicht lästig fallen und nahm Abschied. Sie beschloß auf der Straße Frau Rupius zu erwarten. Agathe schien sehr froh, während Bertha sich zum Fort gehen ankleidete, wurde herzlicher, als sie die ganze Zeit über gewesen, und sagte an der Thür, als wäre eine Erleuchtung über sie gekommen: „Wie die Zeit vergeht. Ich hoffe, Du läßt Dich bald wieder anschauen.“ Als Bertha vor dem Hausthor stand, wußte sie, daß sie vergeblich auf Frau Rupius wartete. Gewiß war es von Anfang an deren Absicht gewesen,

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Kaffeehaus] Kaffehaus GW umsomehr] um so mehr GW tiefer] tiefer gewesen GW Abend gewesen] Abend GW wo] da EA GW begleitet] begleitete GW begonnen] begonnen, GW verstanden] verstanden hatte GW Vormittags] vormittags EA GW vergeht.] vergeht! GW

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den Nachmittag ohne Bertha zu verbringen, es brauchte ja weiter nichts Böses dabei zu sein, und war auch sicher nichts Böses dabei. Es kränkte Bertha nur, daß Anna so wenig Vertrauen zu ihr hatte. Bertha spazierte planlos weiter; es lagen noch mehr als drei Stunden vor ihr, ehe sie auf den Bahnhof sollte. Zuerst ging sie wieder in der innern Stadt spazieren. Es war wirklich angenehm, so ganz unbeobachtet, als Fremde unter den Leuten herumzugehen. Lange hatte sie dieses Vergnügen nicht ⎣mehr gekostet. Von einigen Herren wurde sie mit Interesse betrachtet, ja manchmal blieb Einer stehen und sah ihr nach. Es that ihr leid, daß sie so unvortheilhaft angezogen war und sie freute sich, bald das schöne Kleid aus dem Atelier der Wiener Schneiderin zu be kommen. Sie hätte gewünscht, von irgend Jemandem verfolgt zu werden. Plötzlich fuhr ihr durch den Sinn: wenn sie Emil Lindbach begegnete, ob er sie erkennen würde? Welche Frage! Aber solche Zufälle giebt es nicht – nein, sie war ganz sicher, sie konnte tagelang in Wien herumgehen, nie würde sie ihm begegnen. Wie lange hatte sie ihn nicht gesehen? Sieben – acht Jahre . . . . Ja, zwei Jahre vor ihrer Verheirathung hatte sie ihn das letzte Mal gesehen. Sie war mit ihren Eltern an einem warmen Sommerabend im Prater im Schweizerhaus gewesen, mit einem Freund war er vorüberge gangen und ein paar Minuten an ihrem Tisch stehen geblieben. Ah, nun be sann sie sich auch darauf, daß damals der junge Arzt an ihrem Tisch gesessen war, der sich um sie bewarb. Was Emil damals gesprochen, wußte sie nicht mehr, doch erinnerte sie sich, daß er die ganze Zeit, während er vor ihr ge standen, seinen Hut in der Hand gehalten, was ihr unsagbar gefiel. Ob er ⎣das heute auch thäte, wenn sie ihm begegnete? Wo mochte er jetzt wohnen? Zu jener Zeit hatte er ein Zimmer auf der Wieden gehabt, nah von der Paulanerkirche . . . . ja, er hatte ihr das Fenster gezeigt, als sie einmal vor ⎡übergingen, und bei dieser Gelegenheit eine Bemerkung gewagt – des Wort lauts entsann sie sich nicht mehr, aber der Sinn war bestimmt der gewesen, daß sie einmal mit ihm in diesem Zimmer zusammen sein sollte. Sie hatte ihn damals sehr streng zurechtgewiesen, ja, sie hatte erwidert, wenn er so von ihr dächte, wäre Alles aus, und er sprach wirklich nie wieder davon. Ob sie das Fenster wiedererkannte? Ob sie es fände? Wahrhaftig, ob sie hier spazieren ging oder dort, das war doch einerlei. Sie ging rasch, als ob sie plötzlich ein Ziel gefunden, der Wieden zu. Sie staunte, wie sich hier Alles 1000 1003 1004 1006 1008 1011 1011f. 1015 1021 1024 1026 1029

innern] inneren GW Einer] einer GW unvortheilhaft] unvorteilhaft EA war] war, EA GW Jemandem] jemandem GW giebt] gibt GW Jahre . . . .] Jahre . . . EA GW Verheirathung] Verheiratung EA letzte Mal] letztemal GW sich auch] sich GW damals] auch EA GW Paulanerkirche . . . .] Paulanerkirche . . . EA GW sie einmal] sie EA GW Alles] alles GW aus, und] aus. Und EA GW Alles] alles GW

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verändert hatte. Wie sie von der Elisabethbrücke aus hinunterschaute, sah sie Mauern, die aus dem Wienbett aufstiegen, halbfertige Geleise, kleine Waggons in Bewegung und beschäftigte Arbeiter. Bald hatte sie die Paulanerkirche er reicht, auf demselben Weg, den sie in früherer Zeit so oft gegangen. Aber nun hielt sie inne; sie konnte sich durchaus nicht mehr besinnen, wo Emil ge wohnt, ob sie rechts, ob sie links gehen müßte. ⎣Sonderbar, wie gänzlich ihr das entfallen war. Sie ging langsam wieder zurück, bis zum Konservatorium. Dort blieb sie stehen. Oben waren die Fenster, von denen aus sie so oft die Kuppel der Karlskirche betrachtet, und sehnsüchtig das Ende der Stunde er wartet, um mit Emil zusammenzutreffen. Wie lieb hatte sie ihn doch gehabt, und wie sonderbar war es, daß es so ganz aufhören konnte. Sie ging nun hier herum als Wittwe, war es schon jahrelang, hatte daheim ein Kind, das heranwuchs, – und wenn sie gestorben wäre, Emil hätt’ es gar nicht erfahren, oder vielleicht erst Jahre später. Ihr Auge fiel auf ein großes Plakat, das auf das Eingangsthor geheftet war. Das Concert war angekündigt, in dem auch er mitwirken würde, und hier stand sein Name unter vielen anderen großen, von denen sie manche seit lang mit stiller Scheu bewundert: „Brahms’ Violin concert, vorgetragen von dem königlich bairischen Kammervirtuosen Emil Lind bach.“ – Bairischer Kammervirtuose, das hatte sie gar nicht gewußt. Es war ihr, als könnte der, dessen Name hier auf sie herableuchtete, im nächsten Moment aus der Einfahrt heraustreten, den Violinkasten in der Hand, die Cigarette zwischen den Lippen. So nah war das Alles plötzlich und schien ⎣noch näher, als mit einem Mal von oben die langgezogenen Striche einer Violine zu ihr heruntertönten, wie sie sie damals so oft gehört. Sie wollte zu diesem Concert nach Wien hereinfahren – ja, und wenn sie auch eine Nacht im Hôtel ver bringen müßte! Und sie würde sich weit vorne hinsetzen und ihn ganz in der Nähe sehen. Ob er sie auch sehen und sie erkennen würde? Sie stand noch immer vor dem gelben Plakat, ganz versunken, bis sie sich von ein paar jungen Leuten, die aus der Einfahrt herauskamen, angestarrt fühlte und nun auch wußte, daß sie die ganze Zeit gelächelt hatte wie in einem schönen Traum. 1034f. gewohnt] gewohnt hatte GW gänzlich] gä zlich EA 1035 müßte] müsse GW wieder zurück,] wre,üach ndie EA 1036 war.] war! GW Konservatorium.] Konservatorium, EA 1037 stehen] stehe EA 1038f. erwartet] erwartet hatte GW 1040 konnte.] konnte! GW 1041 Wittwe] Witwe EA GW 1044 Concert] Konzert GW 1046 Brahms’] Brahms EA 1046f. Violinconcert] Violinkonzert GW 1047 bairischen] bayrischen GW 1048 Bairischer] Bayrischer GW Zigarette GW 1050 Cigarette] Cigarrette EA 1051 Alles] alles GW langgezogenen] langezogenen EA 1052 einem Mal] einemmal GW 1053 Concert] Konzert GW

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Sie setzte ihren Weg fort. Auch die Gegend um den Stadtpark hatte sich ver ändert, und als sie die Stellen suchte, wo sie damals mit ihm herumgegangen war, fand sie sie ganz zerstört: Bäume waren ausgeholzt, Planken verwehrten den Weg, der Boden war aufgerissen, und vergeblich suchte sie die Bank zu finden, wo sie mit Emil verliebte Worte gewechselt, an deren Ton sie sich so gut und an deren eigentlichen Inhalt sie sich gar nicht mehr erinnerte. Sie gelangte nun in den gut erhaltenen wohlgepflegten Theil des Parks, der voll Menschen war. Aber sie hatte die Empfindung, daß manche Leute sie betrachteten und einige Damen über ⎣sie lachten, und sie kam sich wieder sehr kleinstädtisch vor, ärgerte sich über ihre eigene Verlegenheit und dachte an die Zeit, da sie als hübsches junges Mädchen unbefangen und stolz durch solche Alleen gegangen war. Sie kam sich jetzt so herabgesunken, so bedauernswert vor. Der Einfall, im großen Musikvereinssaal in der ersten Reihe zu sitzen, erschien ihr verwegen, beinah unausführbar. Es war ihr jetzt auch sehr unwahrscheinlich, ⎡daß Emil Lindbach sie noch erkennen würde, ja es schien ihr fast unmöglich, daß er sich noch ihrer Existenz erinnern könnte. Was hatte er seitdem Alles erlebt! Wieviele Frauen und Mädchen mochten ihn wohl geliebt haben, und in ganz anderer Art als sie. Und während sie weiterging, nun durch weniger belebte Alleen endlich wieder hinaus auf die Ringstraße, sah sie den Geliebten ihrer Jugend in allerlei Abenteuern vor sich, in die wirre Erinnerungen aus gelesenen Romanen und unklare Vorstellungen von seinen Kunstreisen im Aus lande seltsam hineinspielten. Sie dachte sich ihn in Venedig, in einer Gondel mit einer russischen Fürstin, dann wieder sah sie ihn am Hofe des bairischen Königs, wo Herzoginnen seinem Spiel lauschten und sich in ihn verliebten, dann erschien er ihr im Boudoir einer ⎣Opernsängerin, dann auf einem Maskenball in Spanien, von verführerischen Masken umschwärmt. Und in je weitere Fernen er unnahbar und beneidenswerth entschwebte, umso ärmlicher erschien sie sich selbst, und sie begriff es mit einem Mal nicht mehr, wie leicht sie damals ihre eigenen Hoffnungen, ihre künstlerische Zukunft und den Geliebten aufgegeben, um ein sonnenloses Dasein zu führen und in der Menge zu verschwinden. Es war wie ein Schauer, der sie erfaßte, als sie sich darauf besann, daß sie nichts Anderes war als die Wittwe eines unansehnlichen Menschen, die in einer kleinen Stadt lebte, sich mit Klavierlektionen fortbrachte und langsam das Alter heran kommen sah. Niemals hatte sie auch nur einen Strahl von dem Glanz auf ihrem Weg gefunden, in dem der seine dahinlief, solang er lebte. Und mit dem gleichen Schauer dachte sie daran, wie sie sich immer an ihrem Schicksal hatte genügen lassen, wie sie ohne Hoffnung, ja ohne Sehnsucht in einer Dumpfheit, 1066 1069 1075 1076 1077 1082 1086 1087 1091

erhaltenen] erhaltenen, EA GW über] üher EA Alles] alles GW Wieviele] Wie viele GW weiterging] weiter ging GW bairischen] bayrischen GW beneidenswerth] beneidenswert EA umso] um so EA GW einem Mal] einemmal GW Anderes] anderes GW Wittwe] Witwe EA GW

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die ihr in diesem Augenblick unerklärlich schien, ihr ganzes Dasein hingebracht. Sie war zur Aspernbrücke gekommen, ohne nur auf den Weg zu achten. Hier wollte sie die Straße übersetzen, aber sie mußte warten, da eine große Anzahl von Wagen vorüberfuhr. In den meisten ⎣saßen Herren, von denen viele Feldstecher trugen; sie wußte: die kamen aus dem Prater, vom Rennen. Jetzt kam eine elegante Equipage, darinnen ein Herr mit einer jungen Frau in weißer Frühjahrstoilette saß; gleich darauf ein Wagen mit zwei auffallend gekleideten Damen. Bertha sah ihnen lang nach; eine wandte sich um, und zwar nach einem Wagen, der gleich hinten nachfuhr und in dem ein junger, sehr hübscher Mann in einem langen, grauen Ueberzieher lehnte. Bertha empfand etwas sehr Schmerzliches, Unruhe und Aerger zugleich; sie hätte die Dame sein wollen, welcher der junge Mann nachfuhr, sie hätte schön, jung, unabhängig, ach Gott, sie hätte irgend ein Weib sein wollen, das thun kann, was es will und sich nach Männern umwenden, die ihm gefallen. Und in diesem Augen blick wußte sie ganz bestimmt, daß Frau Rupius jetzt mit Jemandem zusammen war, den sie lieb hatte. Freilich, warum sollte sie’s nicht sein? Sie war ja, wenigstens so lang sie in Wien lebte, frei, Herrin ihrer Zeit und dabei war sie sehr hübsch, und ein duftiges violettes Kleid hatte sie an und um ihren Mund war ein Lächeln, das man gewiß nur haben kann, wenn man glücklich ist – und zu Hause ist sie nicht glücklich. Und mit einem Male sah Bertha Herrn Rupius ⎣vor sich, wie er daheim in seinem Zimmer saß und Stiche betrachtete. – Aber heut’ thut er es sicher nicht, nein, heute zittert er zu Hause um seine Frau, in einer ungeheuren Angst, daß man sie ihm dort, in der großen Stadt wegnimmt, daß sie nie wieder zurückkommt und daß er ganz allein bleibt mit seinem Jammer. Und Bertha hatte plötzlich ein Mitleid für ihn wie nie zu vor. Ja, sie wäre am liebsten bei ihm gewesen, um ihn zu trösten und ihn zu beruhigen. Sie fühlte, wie Jemand ihren Arm berührte. Sie zuckte zusammen und sah auf. Ein junger Mann stand neben ihr und schaute sie frech an. Sie ⎡starrte ihm noch ganz zerstreut ins Aug, da sagte er: „Na,“ und lachte. Bertha erschrak und lief beinahe, rasch einem Wagen zuvorkommend, über die Straße. Sie schämte sich ihres Wunsches von früher, die Dame im Wagen zu sein. Es schien ihr, als wäre die Unverschämtheit jenes Menschen die Strafe dafür. Nein, nein, sie ist eine anständige Frau, alles Freche ist ihr im Grund ihrer Seele zuwider – nein, sie könnte in Wien gar nicht mehr leben, wo

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schien] erschien GW nach;] nach: GW irgend ein] irgendein GW Jemandem] jemandem GW so lang] solang GW Zeit] Zeit, – EA GW duftiges] duftiges, GW an] an, EA GW einem Male] einemmal GW betrachtete. –] betrachtete. GW zurückkommt] zurückkommt, GW Aug] Aug’ GW lachte.] lachte EA

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man solchen Dingen ausgesetzt ist! Eine Sehnsucht nach dem Frieden ihres kleinen Hauses überkommt sie und sie freut sich auf das Wiedersehen mit ihrem Kleinen wie auf etwas unerhört Schönes. ⎣– Wie spät ist es denn? Um Himmelswillen, dreiviertel sieben! Sie muß einen Wagen nehmen; darauf kommt es ja nicht mehr an. Den Wagen heut’ morgen hat ja Frau Rupius bezahlt, also kostet sie der, den sie jetzt nehmen wird, sozusagen nur die Hälfte. Sie setzt sich in einen offenen Fiaker, sie lehnt in der Ecke, beinah gerade so vornehm, wie sie von jener Dame in dem weißen Kleid gesehen. Die Leute schaun sie an. Sie weiß, daß sie jetzt hübsch und jung aussieht, und dabei fühlt sie sich so sicher, es kann ihr nichts geschehen. Das rasche Dahinsausen auf den Gummirädern bereitet ihr ein unsägliches Vergnügen. Wie hübsch wird es sein, wenn sie das nächste Mal in dem neuen Kleid und mit dem kleinen Strohhut, der sie so jung macht, wieder im Wagen durch die Stadt fährt. Sie freut sich, daß Frau Rupius am Eingang des Bahnhofs steht und sie ankommen sieht, doch sie verräth nichts von ihrem Stolz, sondern thut, als wenn es ganz selbstverständlich wäre, im Fiaker beim Bahnhof vorzufahren. „Wir haben noch zehn Minuten Zeit,“ sagt Frau Rupius. „Sind Sie mir sehr böse, daß ich Sie habe warten lassen? Denken Sie, bei meinem Bruder war heute große Kinderjause und die Kleinen ⎣wollten mich absolut nicht fortlassen. Zu spät fiel mir ein, daß ich Sie eigentlich holen lassen könnte; die Kinder hätten Ihnen viel Spaß gemacht, und ich habe meinem Bruder schon gesagt, daß ich nächstesmal Sie und Ihren Buben hinaufbringe.“ Bertha schämte sich sehr. Wie Unrecht hatte sie dieser Frau wieder gethan! Sie konnte ihr nur die Hand drücken und sagen: „Ich danke Ihnen, Sie sind sehr lieb.“ Sie traten auf den Perron und stiegen in ein Coupé, das ganz leer war. Frau Rupius hatte ein Päckchen mit Kirschen in der Hand und aß langsam eine nach der anderen, die Kerne warf sie zum Fenster hinaus. Als der Zug sich in Bewegung setzte, lehnte sie sich zurück und schloß die Augen. Bertha sah zum Fenster hinaus; sie fühlte sich recht müde von dem vielen Herumgehen, ein leichtes Unbehagen stieg in ihr auf, sie hätte diesen Tag anders verbringen können, ruhiger, vergnügter. Die kühle Aufnahme und das langweilige Mittag essen bei ihrer Cousine fiel ihr ein. Es war doch recht traurig, daß sie gar keine Bekannten mehr in Wien hatte, wie eine Fremde war sie in dieser Stadt

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überkommt sie] überkommt sie, EA GW Kleinen] Buben GW gerade so] geradeso GW nächste Mal] nächstemal GW Bahnhofs] Bahnhofes GW verräth] verrät EA Kinderjause] Kinderjause, GW Unrecht] unrecht GW Coupé] Kupee GW Augen.] Augen, GW hatte, wie] hatte. Wie EA GW

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herumgeirrt, in der sie sechsundzwanzig Jahre gelebt hatte. Warum? Und warum hatte sie heute früh den Wagen nicht ⎣halten lassen, als sie jene Gestalt gesehen, die Aehnlichkeit mit Emil Lindbach zu haben schien? Freilich sie hätte nicht nachlaufen können, nicht nachrufen, – aber wenn er es wirklich gewesen wäre, wenn er sie erkannt, wenn er sich gefreut hätte, sie wiederzusehen? Und sie wären miteinander herumspaziert und hätten einander von der langen Zeit erzählt, die sie durchlebt, ohne von einander zu wissen, und sie wären mit ein ander in ein vornehmes Restaurant gegangen, zu Mittag speisen, und Einige hätten ihn natürlich gekannt, und sie hörte ganz genau, wie sich die Leute da rüber unterhielten, wer „sie“ eigentlich wäre. Sie sah auch schön aus, das neue Kleid war schon fertig, und die Kellner bedienten sie mit großer Höflichkeit, besonders ein kleiner Junge, der den Wein brachte, – aber das war eigentlich ⎡ihr Neffe, der selbstverständlich hier Kellnerjunge geworden war, statt zu studiren. Plötzlich traten in den Saal Herr und Frau Doktor Martin, sie hielten sich so innig umschlungen, als wenn sie ganz allein wären, da stand Emil auf, nahm den Geigenbogen, der neben ihm lag und hob ihn gebieterisch, worauf der Kellner das Ehepaar Martin zur Thür hinausjagte. Darüber mußte Bertha lachen, viel zu laut, denn sie hatte schon ganz verlernt, wie man sich in einem vornehmen ⎣Restaurant benimmt. Aber es ist ja gar nicht vornehm, es ist ein fach die Gaststube „zum rothen Apfel,“ und die Militärkapelle spielt irgendwo, ohne daß man sie sieht. Das ist nämlich eine Kunst des Herrn Rupius, daß Militärkapellen spielen können, ohne daß man sie sieht. Jetzt aber kommt gleich ihre Nummer dran. Hier ist das Klavier, – aber sie hat ja gewiß das Klavier spielen längst verlernt, sie wird lieber entfliehen, damit man sie nicht zwingt. Und gleich ist sie auf dem Bahnhof, Frau Rupius erwartet sie schon und sagt: Es ist höchste Zeit, – und sie giebt ihr ein großes Buch in die Hand, das ist nämlich die Fahrkarte. Doch Frau Rupius fährt gar nicht weg, sie setzt sich auf eine Bank, ißt Kirschen und spuckt die Kerne auf den Stationschef, der sich darüber sehr freut. Bertha steigt ins Coupé, – Gott sei Dank, daß Klingemann schon da ist! – er winkt ihr mit gekniffenen Augen zu und sagt: Wissen Sie, was das für ein Leichenzug ist? Und Bertha sieht, daß auf dem anderen Geleise ein Leichenwagen steht. Sie erinnert sich nun, daß der Haupt mann gestorben ist, mit dem die Tabaktrafikantin den Herrn Klingemann be trogen hat, – natürlich: darum war heute das Concert im „rothen Apfel“. Plötzlich bläst ihr Herr Klingemann auf die Augen, lacht, daß es ⎣dröhnt, 1167 1172 1172f. 1173 1179 1181 1185 1191 1194 1197 1199

hatte] hatt EA von einander] voneinander GW mit einander] miteinander GW Einige] einige GW sich] einander EA GW lag] lag, GW zum] Zum GW giebt] gibt GW Coupé] Kupee GW Geleise] Gleise EA GW Concert] Konzert GW rothen] Roten GW

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Bertha schlägt die Augen auf – da saust eben ein Zug am Fenster vorbei. Sie schüttelt sich – was für wirre Träume! Und fing es nicht sehr schön an? Sie versucht, sich zu besinnen. Ja, Emil spielte eine Rolle . . . . aber sie weiß nicht mehr, welche. Die Dämmerung bricht langsam herein. Der Zug fährt die Donau entlang. Frau Rupius schläft und lächelt, vielleicht auch stellt sie sich nur schlafend; der leise Verdacht in Bertha kommt von Neuem, und ein Neid gegen das Unbekannte, Geheimnißvolle, das Frau Rupius erlebt, steigt in ihr auf. Sie möchte auch etwas erleben. Sie wünscht, daß jetzt irgend Jemand neben ihr säße, seinen Arm an den ihren gedrängt, – sie möchte wieder dasselbe empfinden wie damals, als sie mit Emil am Wienufer stand, und ihr die Sinne beinah vergehen wollten und sie sich nach einem Kinde sehnte . . . . Ah, warum ist sie so allein, so arm, so im Dunkeln? Sie möchte den Ge liebten ihrer Jugend anflehen: Küß’ mich nur noch einmal wie damals, ich möchte glücklich sein! Es ist dunkel, Bertha sieht in die Nacht hinaus. Noch heute, bevor sie schlafen geht, wird sie die kleine Tasche vom Boden holen, in der die Briefe ihrer Eltern und Emils aufbewahrt sind. Sie sehnt ⎣sich, daheim zu sein. Es ist ihr, als sei eine Frage in ihrer Seele aufge wacht, auf die zu Hause die Antwort wartet. *

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* * ⎡Als Bertha am späten Abend in ihr Zimmer trat, kam ihr der Einfall, noch jetzt allein auf den Boden hinaufzugehen und die Tasche herunterzuholen, beinahe abenteuerlich vor. Sie fürchtete, daß man im Hause ihre nächtliche Wanderung bemerken und sie für verrückt halten möchte. Sie konnte es ja morgen ohne Aufsehen, in größter Bequemlichkeit thun, und so schlief sie mit der Empfindung eines Kindes ein, dem für den folgenden Tag ein Ausflug aufs Land versprochen ist. Am nächsten Vormittag hatte sie mancherlei zu thun; häusliche Be schäftigungen und die Klavierlektionen nahmen den Vormittag in Anspruch. Ihrer Schwägerin mußte sie von ihrer Wiener Reise berichten. Sie erzählte, daß sie mit ihrer Cousine nachmittags spazieren gegangen wäre und stellte die Sache so dar, als hätte sie auf Ersuchen der Cousine der Frau Rupius abgeschrieben.

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sich – was] sich. – Was GW Rolle . . . .] Rolle . . . EA GW Neuem] neuem GW Geheimnißvolle] Geheimnisvolle EA GW Jemand] jemand GW wollten] wollten, EA GW sehnte . . . .] sehnte . . . EA GW Küß’] Küß EA GW nächtliche] nächtige EA GW wäre] wäre, GW

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ED [181]: (1. Fortsetzung.)

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Erst nachmittags ging sie auf den Dachboden ⎣und holte die verstaubte Reisetasche herunter, die neben einem Koffer und zwei Kisten lag – Alles zu sammen von einem alten, rothgeblümten, zerschlissenen Kaffeetuch überdeckt. Bertha wußte, daß sie sie das letzte Mal aufgeschlossen, um Briefschaften auf zubewahren, die ihre Eltern hinterlassen. Als sie die Tasche in ihrem Zimmer öffnete, erblickte sie auch vor Allem eine Anzahl von Briefen ihrer Brüder und andere mit unbekannten Schriftzügen; dann fand sie ein wohlgesichtetes Päckchen, die spärlichen Briefe ihrer Eltern an sie enthaltend; zwei Haus haltungsbücher ihrer Mutter, ein kleines Heft aus ihrer eigenen Schulzeit, wo sie Stundenpläne und Aufgaben eingezeichnet, dann einige Damenspenden von den Bällen, die sie als junges Mädchen besucht, und endlich, in blaues Seiden papier gewickelt, das an einigen Stellen eingerissen war, Emils Briefe. Nun wußte sie sich auch auf den Tag zu besinnen, da sie diese das letzte Mal in der Hand gehabt, ohne sie zu lesen; das war, als ihr Vater schon krank gelegen und sie tagelang gar nicht aus dem Haus gekommen war. Sie legte das Päckchen beiseite. Sie wollte zuerst alles Andere sehen, was hier noch aufbewahrt und worauf sie sehr neugierig war. Ganz lose lag eine Anzahl von ⎣Briefen auf dem Grund der Tasche, einige im Couvert, andere ohne Hülle; sie blickte wahl los den einen und den anderen an. Es waren Briefe von alten Freundinnen, ein paar von ihrer Cousine, und hier einer von dem Arzte, der sich seinerzeit um sie beworben; er enthielt die Bitte um den ersten Walzer auf dem Mediciner kränzchen. Und hier – was war das? Ja, das war der anonyme Brief, den ihr Einer ins Conservatorium geschickt. Sie nahm ihn zur Hand: „Mein Fräulein! Ich hatte gestern wieder das Glück, Sie auf Ihrem täglichen Weg zu bewundern, ich weiß nicht, ob auch ich das Glück hatte, von Ihnen bemerkt ⎡zu werden.“ Nein, dieses Glück hatte er nicht gehabt. Dann kamen noch drei Seiten, auf denen sie angeschwärmt wurde; kein Wunsch, kein kühnes Wort. Auch hatte sie nie wieder von dem Schreiber etwas gehört. Und hier ein Brief, mit zwei Initialen unterschrieben: M. G. – Das war dieser Unver schämte gewesen, der sie auf der Straße angesprochen und ihr in diesem Brief An träge gestellt hatte – ja, welche denn nur? Ah, hier war die Stelle, die ihr damals das Blut in den Kopf getrieben: „Seit ich Sie gesehen, seit Sie Ihren strengen und doch so verheißenden Blick auf mich gerichtet hielten, hab’ ich nur 1235 1236 1237 1238 1239 1242 1246 1249 1251 1254f. 1255 1256 1261

Alles] alles GW rothgeblümten] rotgeblümten EA letzte Mal] letztemal GW hinterlassen] hinterlassen hatte GW Allem] allem GW wo] darin GW letzte Mal] letztemal GW Andere] andere GW Couvert] Kuvert GW Medicinerkränzchen] Medizinerkränzchen GW was war] was war denn GW Einer] einer GW Conservatorium] Konservatorium GW von dem Schreiber etwas] etwas von dem Schreiber GW

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mehr einen ⎣Traum, eine Sehnsucht: diese Augen küssen zu dürfen!“ – Sie hatte natürlich nicht geantwortet; es war die Zeit gewesen, in welcher sie Emil liebte. Ja, sie hatte sogar daran gedacht, ihm diesen Brief zu zeigen, aber die Angst vor seiner Eifersucht hielt sie zurück. Nie hatte Emil von M. G. etwas erfahren. – Und das weiche Band, das ihr jetzt in die Hand gerieth –? Eine Schleife . . . Aber sie wußte nicht, woran sie die erinnern sollte. Und hier wieder ein kleines Tanzalbum, wo die Namen ihrer Tänzer eingetragen waren. Sie versuchte, sich der Personen zu erinnern, aber vergeblich. Und dabei war ja gerade auf diesem Ball Einer gewesen, der ihr so glühende Worte gesagt, wie nie ein Anderer. Es war ihr, als tauchte der plötzlich wie ein Sieger auf unter den vielen Schatten, die sie umschwebten. Ja, das war schon zu der Zeit gewesen, da Emil und sie einander seltener sahen. Wie sonderbar war das . . . oder hatte sie es nur geträumt? Dieser Glühende drückte sie während des Tanzes an sich, – und sie wehrte sich gar nicht, und fühlte seine Lippen auf ihrem Haar, und es war unglaublich schön . . . Ja, und weiter? – Sie hatte ihn nie wieder gesehen. Es war ihr plötzlich, als hätte sie in jener Zeit doch Vieles und Seltsames erlebt, und ⎣wie in ein Staunen versank sie, daß alle diese Erinnerungen so lang in der alten Reisetasche und in ihrer Seele geschlafen hatten . . . Doch nein! Manchmal hatte sie an alle diese Dinge gedacht: an Leute, die ihr den Hof gemacht, an den anonymen Brief, an den glühenden Tänzer, an die Spaziergänge mit Emil, – aber als wenn es weiter nichts Besonderes, als wenn es eben die Vergangenheit wäre, die Jugend, die jedem Mädchen beschieden ist und aus der sie in das stille Frauenleben ein geht. Heute aber schien ihr, als wären diese Erinnerungen zugleich uneingelöste Versprechungen, als lägen in jenen fernen Erlebnissen verkümmerte Schicksale, ja als wäre irgend ein Betrug an ihr verübt worden, seit lang, von dem Tage an, da sie geheiratet, bis zum heutigen Tag, und als wäre sie zu spät darauf gekommen, stünde nun da und könnte nichts mehr thun. Doch wie war denn das? . . . An alle diese Nichtigkeiten dachte sie, und hier neben ihr lag noch immer, in Seidenpapier eingewickelt, der Schatz, um dessentwillen sie ja in der alten Tasche herumgekramt, die Briefe des Einzigen, den sie geliebt, die Briefe aus der Zeit, da sie glücklich gewesen. Wie viele mochten sie heute darum beneiden, daß gerade Dieser sie einmal geliebt, – anders, besser, ⎣keuscher sie als alle Anderen nach ihr. Und sie fühlte sich am Tiefsten betrogen, daß 1271 1275 1276 1279f. 1282 1283 1290 1292 1293f. 1297 1299 1300

Hand] Hände GW Einer] einer GW gesagt,] gesagt hatte GW Anderer] anderer GW während des] währenddes EA wieder gesehen] wiedergesehen GW Vieles] vieles GW Erinnerungen] Erinner ngen EA irgend ein] irgendein GW daraufgekommen] darauf gekommen GW Einzigen] einzigen GW geliebt] geliebt hatte GW Dieser] dieser GW Anderen] anderen GW Tiefsten] tiefsten GW daß] weil GW u

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sie, die seine Frau hätte sein können, wenn . . . wenn . . . Ihre Gedanken stockten. Rasch, wie um sich von Zweifel, ja von Angst zu befreien, riß sie das Seidenpapier herab und griff nach den Briefen. Und sie las, las einen nach dem anderen. Die kurzen und die langen, die kleinen Zettel mit den flüchtigen Worten: „Morgen Abend sieben Uhr, mein Schatz!“ oder: „Liebste, nur einen Kuß, bevor ich schlafen gehe!“ und die seitenlangen, von der Reise aus geschrieben, wenn er im Sommer mit seinen Kollegen Fußwanderungen machte, oder andere, in denen er ihr abends seinen Eindruck von einem Concert, gleich nach dem Nachhausekommen, mitzutheilen sich gedrängt fühlte; dann die ⎡endlosen, wo er Zukunftspläne entwickelte: wie sie zusammen durch Spanien und Amerika reisen wollten, berühmt und glücklich . . . las sie alle, alle, einen nach dem anderen, wie von einem unauslöschlichen Durst gepeinigt – las sie vom ersten, mit welchem er ein paar Notenhefte begleitet, bis zum letzten, der zweieinhalb Jahre später datirt war und nichts enthielt als einen Gruß aus Salzburg – und als sie zu Ende war, ließ sie die Hände sinken und ⎣starrte auf die herumliegenden Blätter. Warum war dies der letzte Brief? Wie hatte es geendet? Wie hatte es enden können? Wie war es möglich, daß diese große Liebe schwinden konnte? Es war nie zu einem Bruch, nie zu einer Aus einandersetzung gekommen, und irgend einmal war es aus gewesen. Wann . . . sie wußte es nicht. Denn damals, als jene Karte aus Salzburg kam, hatte sie ihn noch geliebt, im Herbst hatte sie ihn noch gesehen, – ja im nächsten Winter darauf schien Alles noch einmal aufzublühen. Sie erinnerte sich ge wisser Spaziergänge auf knirschendem Schnee, Arm in Arm, bei der Karlskirche; – wann aber war es das letzte Mal gewesen? Sie hatten ja niemals Ab schied von einander genommen . . . Sie verstand es nicht. Wie hatte sie so leicht auf ein Glück verzichten können, das zu halten doch in ihrer Macht ge wesen wäre? Wie hatte sie aufgehört, ihn zu lieben? Hatte die dumpfe All täglichkeit, die zu Hause auf ihr gelastet, von dem Augenblick an, da sie das Conservatorium verlassen, wie ihren Ehrgeiz so auch ihr Fühlen eingeschläfert? Hatten die unzufriedenen Bemerkungen ihrer Eltern über den aussichtslosen Verkehr mit dem blutjungen Violinspieler so ernüchternd auf sie gewirkt? Und jetzt fiel ihr ein, daß er auch noch später ⎣einmal einen Besuch bei ihnen ab gestattet, nachdem sie ihn monatelang nicht gesehen, und im Vorzimmer hatte er sie geküßt. Ja, das war das letzte Mal gewesen. Und nun besann sie sich auch, wie sie damals gespürt, daß seine Beziehungen zu den Frauen andere

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Concert] Konzert GW glücklich . . .] glücklich . . GW Wann . . .] Wann? . . EA Wann? . . . GW Alles] alles GW letzte Mal] letztemal GW von einander] voneinander GW Conservatorium] Konservatorium GW im Vorzimmer hatte er sie geküßt] sie im Vorzimmer geküßt hatte GW letzte Mal] letztemal GW

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geworden sein, daß er Dinge erlebt haben mußte, von denen sie nichts wissen durfte, – aber sie hatte darüber keinen Schmerz empfunden. Und sie fragte sich: wie wäre Alles geworden, wenn sie damals kein so tugendhaftes Mädchen ge wesen, wenn sie das Leben so leicht genommen hätte wie Andere? Eine Kollegin fiel ihr ein, mit der sie den Verkehr aufgegeben, weil sie ein Verhältniß mit einem Schauspielschüler gehabt hatte. Und sie erinnerte sich wieder jenes kühnen Wortes von Emil, als er mit ihr an seinem Fenster vorüberging, und jener Sehnsucht, während sie am Wienufer standen. Unbegreiflich erschien ihr, daß jenes Wort damals nicht lebhafter in ihr nachgewirkt, daß jene Sehnsucht nur einmal und auf so kurze Zeit in ihr erwacht war. Und mit einer Art von rathlosem Staunen dachte sie an die Zeit jener unbeirrten Jungfräulichkeit, und mit plötzlichem peinvollem Schamgefühl, das ihr das Blut in die Schläfen jagte, an die kühle Bereitwilligkeit, mit der sie sich einem Manne hinge geben, den sie nie geliebt. Und das Bewußtsein, daß das ganze Glück, das sie als Frau genossen, darin enthalten war, in den Armen dieses Ungeliebten zu liegen, durchschauerte sie das erste Mal in seinem ganzen Jammer. Das also war für sie das Leben gewesen, das ersehnte, geheimnißvolle Glück? . . . Und ein dumpfer Unwille begann in ihr zu wühlen, der sich gegen alle möglichen Dinge und Menschen wandte, gegen Todte und Lebendige. Sie zürnte ihrem ver storbenen Mann, ihren hingeschiedenen Eltern, ärgerte sich über die Leute, unter denen sie hier lebte und unter deren Augen sie sich nichts hätte erlauben dürfen, sie kränkte sich über Frau Rupius, die nicht so freundlich gegen sie war, daß sie an ihr einen Halt hätte finden können, sie haßte Klingemann, weil er häß lich und widerwärtig war und sie doch begehrte, und endlich wallte es heftig in ihr auf gegen den Geliebten ihrer Jugend, weil er nicht frecher gewesen, weil er ihr das letzte Glück vorenthalten und ihr nichts zurückgelassen als Erinner ⎡ungen voll Duft, aber voll Qual. Da saß sie nun in ihrem einsamen Zimmer, unter den vergilbten Denkzeichen einer nutzlos und freudlos verbrachten Jugend, hart an der Grenze einer Zeit, wo es keine Hoffnungen und keine Wünsche mehr giebt – unter den Händen ⎣war ihr das Dasein zerronnen, und sie war durstig und arm. 1339 1340 1341 1345 1346 1347 1348 1350 1351 1352 1353 1355 1357 1362 1365 1366

Alles] alles GW Andere] andere GW Verhältniß] Verhältnis EA GW nachgewirkt] nachgewirkt hatte GW war. Und mit] war. Mit GW rathlosem] ratlosem EA plötzlichem] plötzlichem, EA GW geliebt] geliebt hatte GW dieses] jenes GW erste Mal] erstemal GW geheimnißvolle] geheimnisvolle EA GW Todte] Tote EA GW dürfen,] dürfen; EA GW zurückgelassen] zurückgelassen hatte GW wo] da GW giebt] gibt GW

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Sie packte die Briefe und alles Uebrige zusammen, warf sie zerknüllt in die Tasche, versperrte diese und trat ans Fenster. – Der Abend war nah. Eine weiche Luft kam von den Weingeländen zu ihr gezogen; vor ihren Augen flimmerte es von ungeweinten Thränen der Erbitterung, nicht des Schmerzes. Was sollte sie nun thun? Sie, die Tage, Nächte, Monate, Jahre ohne Erwartung, ohne Angst sich in der Zukunft hatte dehnen sehen, schauerte vor der Leere des Abends, der vor ihr lag. Es war die Stunde, um die sie sonst von ihrem Spaziergang heimzu kehren pflegte; heute hatte sie das Kindermädchen mit ihrem Buben fort geschickt, sie sehnte sich nicht einmal nach ihm, ja für einen Augenblick fiel selbst auf dieses Kind wie ein Strahl von dem Zorn, den sie gegen die ganze Menschheit und ihr Schicksal fühlte, und in ihrer ungeheuren Unzufriedenheit wurde sie von Neid gepackt auf viele Leute, die ihr sonst gar nicht beneidens werth erschienen waren. Sie beneidete Frau Doktor Martin um die Zärtlich keit ihres Gatten; die Tabaktrafikantin, die von Herrn Klingemann und von dem Hauptmann geliebt wurde; ihre Schwägerin, weil sie schon alt, ⎣Elly, weil sie noch jung war; sie beneidete das Dienstmädchen, das drüben auf einem Holzbalken mit einem Soldaten saß und das sie lachen hörte. Sie hielt es zuhause nicht länger aus, nahm Strohhut und Schirm und eilte auf die Straße. Da wurde ihr etwas wohler. In ihrem Zimmer hatte sie sich unglücklich ge fühlt, jetzt war sie nur mehr verdrießlich. In der Hauptstraße begegneten ihr Herr und Frau Mahlmann, deren Kindern sie Klavierunterricht gab. Die Frau wußte schon, daß Bertha gestern bei einer Schneiderin in Wien ein Kleid bestellt, und dieser Umstand wurde jetzt von ihr mit großer Wichtigkeit behandelt. Später traf Bertha ihren Schwager, der ihr aus der Kastanienallee entgegenkam und ihr sagte: „Du warst ja gestern in Wien, was hast Du denn dort gemacht? Hast Du ein Abenteuer gehabt?“ „Wie?“ fragte Bertha und sah ihn ganz erschrocken an, als wäre sie ertappt worden. „Nein? nicht? Du warst ja mit Frau Rupius, gewiß sind Euch alle Herren nachgelaufen.“ „Was fällt Dir denn ein, Schwager? Frau Rupius benimmt sich tadel los; sie ist eine der feinsten Damen, die ich kenne.“ ⎣„Ja, ja, ich sage nichts gegen Frau Rupius und sage nichts gegen Dich.“ Sie sah ihm ins Gesicht; in seinen Augen war ein Glanz wie manch mal, wenn er ein bißchen zuviel getrunken hatte. Sie mußte daran denken, daß irgendwer einmal prophezeiht hatte, Herrn Garlan würde der Schlag treffen.

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fortgeschickt,] fortgeschickt, – EA GW beneidenswerth] beneidenswert EA einem Holzbalken] einemHolzbalken EA zuhause] zu Hause GW bestellt] bestellt hatte GW zuviel] zu viel GW prophezeiht] prophezeit GW

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„Ich muß auch nächstens einmal wieder in die Stadt,“ sagte er, „ja; bin seit dem Aschermittwoch nicht mehr drin gewesen, will wieder einmal einige von meinen Kunden besuchen. Ihr könnt mich nächstens einmal mitnehmen, Frau Rupius und Du.“ „Mit Vergnügen,“ sagte Bertha. „Ich muß nächstens doch wieder hin ein, um zu probiren.“ Garlan lachte. „Ja, da kannst Du mich mitnehmen, wenn Du probirst.“ Er ging näher neben ihr als nothwendig. Es war seine Art, sich immer an sie heranzudrängen und auch seine Späße war sie gewohnt; aber heute war ⎡ihr alles das besonders zuwider. Es ärgerte sie sehr, daß gerade dieser Mensch stets in einer so verdächtigenden Weise über Frau Rupius sprach. „Setzen wir uns,“ sagte Herr Garlan, „wenn es Dir Recht ist.“ Sie ruhten beide auf einer Bank aus, Garlan nahm die Zeitung aus der Tasche. ⎣„Ah,“ sagte Bertha unwillkürlich. „Willst Du sie haben?“ fragte Garlan. „Hat sie Deine Frau schon gelesen?“ „Ach was,“ sagte Garlan wegwerfend. „Willst Du sie haben?“ „Wenn Du sie entbehren kannst.“ „Für Dich mit Vergnügen. Wir können sie ja auch zusammen lesen.“ Er rückte näher an Bertha heran und blätterte auf. Herr und Frau Martin kamen Arm in Arm und blieben stehen. „Nun, schon wieder zurück von der großen Reise?“ fragte Herr Martin. „Ach ja, Sie waren in Wien,“ sagte Frau Martin, indem sie sich an ihren Gatten schmiegte. „Und mit Frau Rupius?“ fügte sie bei, als wenn das eine Verschärfung bedeutete. Jetzt mußte Bertha wieder von ihrer neuen Toilette berichten. Sie that es schon ein bißchen mechanisch, aber sie fühlte doch, daß sie seit langer Zeit nicht so interessant gewesen war wie heute. Klingemann kam vorüber, grüßte mit spöttischer Höflichkeit und wandte sich nach Bertha mit einem Blick um, in welchem sein Bedauern ausgedrückt schien, daß sie mit solchen Leuten verkehren müßte. ⎣Es war Bertha, als hätte sie heute die Gabe, in den Blicken der Menschen zu lesen. Es begann zu dunkeln. Man machte sich gemeinschaftlich auf den Rück weg. Bertha wurde plötzlich besorgt, weil sie ihren Buben nicht getroffen hatte. Sie ging vorn mit Frau Martin. Diese lenkte das Gespräch auf Frau Rupius. Sie wollte durchaus herausbekommen, ob Bertha nicht irgend etwas bemerkt hätte. „Aber was denn, Frau Martin? Ich habe Frau Rupius zu ihrem Bruder begleitet und sie von dort wieder abgeholt.“ „Und sind Sie überzeugt, daß Frau Rupius die ganze Zeit bei ihrem Bruder war?“ 1413 1414 1417 1436

nothwendig] notwendig EA heranzudrängen] heranzudrängen, EA GW Recht] recht GW müßte] müßet EA müßten GW

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„Ich weiß wirklich nicht, was man Frau Rupius zumuthet! Wo sollte sie denn gewesen sein?“ „Nun,“ sagte Frau Martin, „Sie sind wirklich naiv – oder stellen Sie sich nur so? Vergessen Sie denn ganz . . . .“ Und jetzt flüsterte sie Frau Bertha eine Bemerkung zu, über die diese ganz roth wurde. Nie hatte sie von einer Frau einen solchen Ausdruck vernommen. Sie war entrüstet. „Frau Martin,“ sagte sie, „auch ich bin noch keine alte Frau, und Sie sehen, daß man sehr gut so leben kann.“ ⎣Frau Martin wurde etwas verlegen. „Nun ja, nun ja,“ sagte sie, „Sie müssen eben denken, daß ich ein bißchen verwöhnt bin.“ Bertha fürchtete, daß ihr Frau Martin noch nähere Aufschlüsse geben könnte, und war sehr froh, daß man eben an die Straßenecke gekommen war, wo sie sich verabschieden durfte. „Bertha!“ rief ihr ihr Schwager nach, „Deine Zeitung!“ Bertha wandte sich rasch um und nahm das Blatt. Dann eilte sie nach Hause. Ihr Bub erwartete sie schon am Fenster. Sie ging rasch hinauf. Sie umarmte und küßte ihn, als hätte sie ihn wochenlang nicht gesehen. Sie fühlte, daß sie ganz in der Liebe zu ihrem Kind aufging, was sie zugleich mit Stolz erfüllte. Sie ließ sich von ihm erzählen, wie er den Nachmittag verbracht, wo er gewesen, mit wem er gespielt, theilte ihm sein Nachtmahl vor, entkleidete ihn, brachte ihn ⎡zu Bett und war zufrieden mit sich. Wie an einen Fieberanfall dachte sie an ihren Zustand vom heutigen Nachmittag, da sie in alten Briefen gewühlt, ihr Schicksal verflucht und sogar die Tabaktrafikantin beneidet hatte. Sie aß mit gutem Appetit und legte sich früh zu Bett. Bevor sie aber einschlief, wollte sie noch Zeitung lesen; sie streckte sich aus, knüllte den weichen Polster ⎣zusammen, damit ihr Kopf höher läge, und brachte das Blatt der Kerze so nah als möglich. Sie durchflog wie gewöhnlich zuerst die Theater und Kunst nachrichten. Aber auch die „Kleinen Anzeigen“ hatten seit dem Wiener Aus flug neues Interesse für sie bekommen, sowie der Lokalbericht. Schon be gannen ihr die Lider zu sinken, als sie mit einem Mal unter den Personal nachrichten den Namen Emil Lindbach entdeckte. Sie öffnete die Augen weit, setzte sich im Bett auf und las: „Der königlich bairische Kammervirtuose Emil Lindbach, über dessen große Erfolge am spanischen Hofe wir kürzlich zu be richten in der Lage waren, ist von der Königin von Spanien durch die Ver leihung des Erlöser Ordens ausgezeichnet worden.“ Ein Lächeln ging über ihr Gesicht. Sie freute sich. Emil Lindbach hatte den Erlöser Orden bekommen . . . ja, . . . derselbe, dessen Briefe sie heute

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zumuthet] zumutet EA roth] rot EA noch] noch die GW einem Mal] einemmal GW bairische] bayrische GW Erlöser Ordens] Erlöserordens GW Erlöser Orden] Erlöserorden GW ja, . . .] ja . . . GW

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gelesen, . . . derselbe, der sie geküßt, – derselbe, der ihr einmal geschrieben, er würde nie eine Andere anbeten als sie . . . ja, Emil – der einzige Mensch von allen auf der Erde, der sie eigentlich noch etwas anging – außer ihrem Buben natürlich. Es war ihr, als stände diese Notiz nur für sie in der Zeitung, ja als hätte Emil dieses Mittel gewählt, um sich ⎣mit ihr zu verständigen. Ob nicht doch er es war, den sie gestern von weitem, von rückwärts gesehen? Sie kam sich mit einmal ihm so nah vor, sie lächelte noch immer und flüsterte vor sich hin: „Herr Emil Lindbach, königlich bairischer Kammervirtuose . . . . ich gratulire Ihnen . . . .“ Ihre Lippen blieben halb offen. Eine Idee war ihr plötzlich gekommen. Sie stand rasch auf, nahm ihren Schlafrock um, ging mit dem Licht vom Nachtkästchen ins Nebenzimmer, setzte sich an den Tisch und schrieb folgende Zeilen mühelos, als stände irgendwer neben ihr, der ihr diktirte : „Lieber Emil!

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Eben lese ich in der Zeitung, daß Du von der Königin von Spanien durch die Verleihung des Erlöser Ordens ausgezeichnet wurdest. Ich weiß nicht, ob Du Dich noch meiner erinnerst“ – sie lächelte, als sie diese Worte nieder schrieb – „aber ich will doch diese Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne Dir zu Deinen vielen Erfolgen zu gratuliren, von denen ich mit Vergnügen so oft lese. Ich lebe in der kleinen Stadt, wo mich das Schicksal hin ver schlagen hat, sehr zufrieden; es geht mir ganz gut. Du ⎣würdest durch ein paar Antwortzeilen sehr glücklich machen Deine alte Freundin Bertha. P. S. Viele Grüße auch von meinem kleinen Fritz (fünf Jahre).“

Sie war zu Ende. Einen Augenblick fragte sie sich, ob sie erwähnen sollte, daß sie Witwe wäre; aber das, wenn er es nicht wußte, ging ja mit Deutlichkeit aus ihrem Brief hervor. Sie überlas ihn noch einmal und nickte befriedigt. Sie schrieb die Adresse. „Herrn Emil Lindbach, kgl. bair. Kammer Virtuosen, Besitzer des Erlöser Ordens . . . .“ Sollte sie das schreiben? Er hatte gewiß noch viele andere. „Wien . . .“ Aber wo wohnte er denn jetzt? Doch das war gleichgiltig bei einem so berühmten Namen. Und dann, diese

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Andere] andere GW einmal] einemmale GW bairischer Kammervirtuose . . . .] bayrischer Kammervirtuose . . . GW Ihnen . . . .] Ihnen . . . GW Emil!] Emil!“ GW Erlöser Ordens] Erlöserordens GW zufrieden; es] zufrieden;es GW P. S.] PS. GW bair.] bayr. GW gleichgiltig] gleichgültig GW

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Ungenauigkeit in der Adressirung zeigte auch, daß sie selbst der ganzen Sache ⎡nicht gar so viel Werth beilegte; kam der Brief an, nun, umso besser. Es war auch eine Art, das Schicksal zu versuchen . . . . ja – wie sollte sie aber mit Bestimmtheit wissen, ob der Brief angekommen war? Die Antwort konnte doch auch ausbleiben, wenn . . . . Nein, nein, gewiß nicht! Er wird ihr doch danken. – So, nun zu ⎣Bett. Sie hielt den Brief in der Hand. Nein, sie konnte sich jetzt nicht schlafen legen, sie war wieder ganz wach; und überdies, wenn sie den Brief erst morgen Früh aufgäbe, so konnte er erst mit dem Mittags zug fort und Emil erhielt ihn übermorgen. Das war endlos lang. Eben hatte sie zu ihm gesprochen und erst in sechsunddreißig Stunden soll er es hören . . . ? Wenn sie jetzt noch zur Post . . . . nein, auf den Bahnhof ginge? Dann könnte er den Brief morgen um zehn Uhr haben. Er schläft ja gewiß sehr lang, man wird ihm den Brief mit dem Frühstück ins Zimmer bringen, schon morgen Früh . . . . Ja, so muß es geschehen! Sie kleidete sich rasch wieder an. Sie eilte über die Treppen hinunter – es war noch nicht spät, – rasch durch die Hauptstraße zum Bahnhof, den Brief in den gelben Kasten, und wieder zurück. Als sie in ihrem Zimmer stand, neben dem aufgewühlten Bett, und sie die Zeitung auf dem Boden liegen, die Kerze flackern sah, schien es ihr, als kehrte sie von einem seltsamen Abenteuer zurück; sie blieb noch lang auf dem Bettrand sitzen, durch’s Fenster in die helle Sternennacht schauend, und war ganz erfüllt von unbestimmten, freundlichen Erwartungen. –

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Ich kann Dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich über Deinen Brief ge freut habe. Denkst Du denn wirklich noch an mich? Wie komisch, daß gerade ein Orden der Anlaß für mich sein muß, wieder einmal was von Dir zu hören! Na, immerhin, so hat wenigstens auch ein Orden einmal einen Sinn gehabt. Also danke herzlich für die Gratulation. Im übrigen, kommst Du

1516 umso] um so GW 1517 versuchen . . . .] versuchen . . . EA GW 1519 wenn . . . .] wenn . . . GW 1522 Früh] früh GW hatte] hat GW 1523 fort] fort, GW und] nd EA 1524 gesprochen] gesprochen, GW 1525 Post . . . .] Post . . . EA GW früh . . . GW 1528 Früh . . . .] früh . . EA 1533 lang] lange GW 1534 durch’s] durchs GW 1535/1536 Abschnittstrennung fehlt GW 1537 Dir] dir GW 1538 Du] du GW für mich GW1922 1539 für mich] für GW 1541 Du] du GW

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* * ⎣„Meine liebe Bertha!

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nicht einmal nach Wien? Es ist doch nicht gar so weit. Ich möcht’ mich riesig freuen, Dich einmal zu sehen. Also komm bald! Von Herzen Dein alter

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Emil.“

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Bertha saß beim Frühstück, ihr Bub neben ihr, plaudernd, ohne daß sie auf ihn hörte, und dieser Brief lag vor ihr auf dem Tisch. Es war wie ein Wunder. Vorgestern nachts hatte sie den ihren auf die Post gegeben und heute früh war dieser schon da. Er hatte keinen Tag, nein keine Stunde ver gehen lassen! Und so herzlich hatte er ihr geschrieben, als wären sie gestern von einander gegangen. Sie sah zum Fenster hinaus. Was für ein herr licher Morgen! Draußen sangen die Vögel, und von den Hügeln kam der Duft des Früh⎣sommers herangeweht. Bertha las den Brief wieder und wieder. Dann nahm sie ihren Buben, hob ihn in die Höhe und küßte ihn ab. Sie war glücklich wie seit lang nicht. Während sie sich ankleidete, überlegte sie. Heute war Donnerstag, Montag sollte sie wieder nach Wien, probieren; das wären vier lange Tage; gerade so lang wie von dem Tag an, da sie bei ihrem Schwager zu Mittag speiste, bis heute – und was da Alles dazwischen lag! Nein, sie mußte Emil früher sehen. Sie könnte ja schon morgen hinein fahren und ein paar Tage in der Stadt bleiben. Was aber sollte sie hier den Leuten sagen? . . . Ah, sie wird schon eine Ausrede finden! – Das Wichtigere ist, in welcher Weise sie ihm antworten und wo sie ihn wiedersehen sollte . . . Sie kann ihm nicht schreiben: Ich komme und bitte Dich mir zu sagen, wo ⎡ich Dich sehen kann . . . . Am Ende antwortet er ihr: Komm zu mir . . . . nein, nein, nein! Das Beste ist, sie stellt ihn einer Thatsache gegenüber. Sie wird ihm schreiben: Ich komme an dem und dem Tag nach Wien und bin da und dort zu finden . . . O, wenn sie nur Jemand hätte, mit dem sie über alles das reden könnte . . . . Sie dachte an Frau Rupius – sie hatte eine wahre Sehnsucht, ihr das mitzu⎣theilen. Zugleich hatte sie die Empfindung, als käme sie dadurch dieser Frau näher und könnte ihre Achtung gewinnen. Sie fühlte, daß sie viel mehr geworden, seit dieser Brief an sie gelangt war. Jetzt merkte sie auch, daß sie sich sehr gefürchtet hatte; Emil konnte ja ein ganz

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einmal zu sehen] wieder zu sehen EA wiederzusehen GW gegeben] gegeben, GW Er] Emil EA GW nein] nein, GW ihren] den GW glücklich] glücklich, GW probieren] probiren EA Alles] alles GW könnte] konnte GW Dich] dich, GW kann . . . .] kann . . . GW mir . . . .] mir . . . GW Beste] beste GW O] Oh GW Jemand] jemand GW könnte . . . .] könnte . . . EA GW mitzutheilen] mitzuteilen EA

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komm] komm’ GW

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Anderer geworden sein, eingebildet, unnatürlich, verwöhnt – wie eben berühmte Männer manchmal sein sollen. Aber von all dem war ja keine Spur; es war die gleiche starklinige, rasche Schrift, der gleiche warme Ton, wie in jenen Briefen von früher. Und was er seither auch erlebt haben mochte – nun, hatte sie nicht auch Vieles erlebt und war jetzt nicht Alles wie ausgelöscht? – Vor dem Fortgehen las sie Emils Brief noch einmal. Er wurde immer lebendiger, sie hörte den Tonfall der Worte, und jenes abschließende „Komm bald“ rief nach ihr, wie in zärtlicher Sehnsucht. Sie steckte den Brief in ihr Mieder und erinnerte sich, daß sie dasselbe als junges Mädchen öfters mit seinen kleinen Zetteln gethan und daß sie die leise Berührung mit einem an genehmen Schauer erfüllt hatte. Sie ging zuerst zu Mahlmanns, wo sie die Zwillinge unterrichtete. Sehr häufig thaten ihr die Fingerübungen, die sie da anhören mußte, geradezu ⎣weh, und sie schlug die Kleinen ärgerlich auf die Hände, wenn sie danebengriffen. Heute war sie ohne jede Strenge. Als Frau Mahlmann ins Zimmer trat, dick und freundlich wie immer, und sich erkundigte, ob Bertha zufrieden sei, lobte Bertha die Kleinen, und wie in einer plötzlichen Erleuchtung setzte sie hinzu: „Nun werd’ ich ihnen ein paar Tage frei geben können.“ „Frei? Wieso denn, liebe Frau Garlan?“ „Ja, Frau Mahlmann, es wird mir nichts Anderes übrig bleiben. Denken Sie, wie ich neulich in Wien war, hat mich meine Cousine so dringend aufgefordert, doch einmal ein paar Tage bei ihr zu wohnen.“ „Freilich, freilich,“ sagte Frau Mahlmann. Bertha wurde immer muthiger und log weiter mit einer Art von Ver gnügen über ihre eigene Frechheit. „Ich wollte es mir eigentlich auf den Juni lassen. Aber da kommt heute ein Brief von ihr, ihr Mann verreist, sie ist so allein und gerade jetzt“ – sie fühlte den Brief knistern, hatte eine unbeschreib liche Lust, ihn hervorzuziehen, unterließ es aber doch – „und ich denke, daß ich vielleicht die Gelegenheit benütze . . . .“ „No freilich,“ sagte Frau Mahlmann und faßte ⎣Bertha bei beiden Händen, „wenn ich eine Cousine in Wien hätt’, ich möcht alle vierzehn Tag’ acht Tag’ bei ihr wohnen.“ Bertha strahlte. Ihr war, als räumte eine unsichtbare Hand die Hinder nisse aus dem Weg; Alles ging so leicht. Nun ja, wem war sie schließlich Rechenschaft schuldig? Plötzlich aber durchzuckte sie die Befürchtung, ob ihr 1572 1574 1575 1576 1581 1589 1591 1595 1600 1602 1605

Anderer] anderer GW gleiche] gleiche, GW mochte] ochte EA Vieles erlebt] vieles erlebt, GW Alles] alles GW gethan] gethan, EA getan, GW frei geben] freigeben GW Anderes] anderes GW muthiger] mutiger EA benütze . . . .] benütze . . . GW möcht] möcht’ GW Alles] alles GW m

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Schwager wirklich auch nach Wien wollte. Alles verwirrte sich wieder, Ge fahren tauchten auf, und selbst unter dem gutmüthigen Lächeln der Frau Mahl mann lauerte der Verdacht . . . . Ah, sie mußte unbedingt Frau Rupius ins Vertrauen ziehen! Gleich nach der Lektion nahm sie den Weg zu ihr. Erst als sie Frau Rupius in einer weißen Morgentoilette auf dem Sopha sitzen fand und den erstaunten Blick bemerkte, der sie empfing, fiel Bertha das Sonderbare ihres frühen Besuches auf, und sie sagte mit erkünstelter Heiterkeit: „Guten Morgen! Früh komm’ ich heut, nicht wahr?“ ⎡Frau Rupius blieb ernst, sie hatte nicht das Lächeln wie sonst. „Ich freue mich sehr, Sie zu sehen. Die Stunde gilt mir gleich.“ Dann sah sie sie fragend an und Bertha wußte nicht, was sie sagen sollte; dabei ärgerte sie sich über die kindische Be⎣fangenheit, die sie dieser Frau gegenüber nicht los werden konnte. „Ich wollte Sie fragen,“ sagte sie endlich, „wie Ihnen unser Ausflug bekommen.“ „Ganz gut,“ sagte Frau Rupius etwas hart. Aber mit einmal ver änderten sich ihre Züge und sie setzte mit übergroßer Freundlichkeit hinzu: „Eigentlich wär’ es an mir gewesen, Sie zu fragen. Ich bin ja diese Aus flüge gewohnt.“ Sie schaute durchs Fenster, während sie das sagte, und Bertha folgte unwillkürlich ihren Blicken, die auf die andere Seite des Marktplatzes wanderten, zu einem offenen Fenster mit Blumenstöcken. Es war ganz still, die Ruhe eines Sommertags über einer schlafenden Stadt. Bertha hätte sich am liebsten neben Frau Rupius gesetzt, sich von ihr auf die Stirne küssen und segnen lassen; aber zugleich hatte sie Mitleid mit ihr. Alles das war ihr selbst räthselhaft. Wozu war sie nun eigentlich hierher gekommen? Was sollte sie ihr denn sagen? „Ich werde morgen nach Wien fahren, meinen Jugendge liebten wiedersehen“ . . . ? Was ging das alles Frau Rupius an? Interessirte sie es denn auch nur im mindesten? Sie saß da, wie von irgend etwas Un durchdringlichem umgeben, man konnte nicht zu ihr. – S i e konnte nicht zu ihr, das war es. Gewiß gab es ein Wort, mit dem man ⎣sich den Zugang zu ihr eröffnen konnte, nur daß Bertha es nicht kannte. „Was macht denn Ihr Kleiner?“ fragte Frau Rupius, ohne den Blick von den Blumenstöcken zu wenden. „Es geht ihm gut wie immer; er ist sehr brav. Es ist ein unendlich gutes Kind.“ Sie legte eine absichtliche Zärtlichkeit in dieses Wort, als wäre Frau Rupius vielleicht dadurch zu gewinnen. „Ja, ja,“ sagte diese, und im Ton lag etwa: es ist schon gut, darum hab’ ich Sie nicht gefragt. Dann setzte sie hinzu: „Haben Sie ein verläß

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gutmüthigen] gutmütigen EA Verdacht . . . .] Verdacht . . . GW Sopha] Sofa GW Morgen!] Morgen. EA an] an, GW bekommen] bekommen ist EA GW Züge] Züge, GW räthselhaft] rätselhaft EA

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liches Kindermädchen?“ Bertha war einigermaßen erstaunt über diese Frage und erwiderte: „Mein Mädchen hat ja noch vielerlei Anderes zu thun, aber ich kann mich nicht über sie beklagen; sie kocht auch sehr gut.“ Nach einem kurzen Schweigen sagte Frau Rupius ganz trocken: „So einen Buben zu haben, das muß ein großes Glück sein.“ „Es ist ja mein einziges,“ sagte Bertha überlaut. Es war eine Antwort, die sie schon oft gegeben, aber heute wußte sie, daß sie nicht ganz aufrichtig war. Sie fühlte das Blatt Papier ihre Haut berühren und beinah erschreckt sah sie ein, daß sie es auch ⎣als Glück empfand, diesen Brief erhalten zu haben. Zugleich fiel ihr ein, daß die Frau, die ihr gegenübersaß, kein Kind, und auch nicht die Aussicht hatte, eines zu bekommen, und so hätte Bertha gern wieder zurückgenommen, was sie gesagt. Ja, sie war nah daran, nach einem Wort der Einschränkung zu suchen, aber als könnte Frau Rupius in ihre Seele schauen und keine Lüge dürfte vor ihr bestehen, sagte sie gleich: „Ihr einziges Glück? Sagen Sie: ein großes, das ist auch nicht wenig. Ich beneide Sie manchmal darum, obzwar ich eigentlich glaube, daß schon das Leben an und für sich Ihnen Freude macht.“ „Ich lebe ja so einsam, so . . . .“ Anna lächelte. „Nun ja, ich habe es nicht so gemeint; ich meine: daß die Sonne scheint, daß wir jetzt so schönes Wetter haben, das macht Sie auch froh.“ „O ja, sehr!“ erwiderte Bertha mit Beflissenheit. „Ich bin in meiner Laune überhaupt von der Witterung abhängig. Wie das Gewitter vor ein paar ⎡Tagen war, da bin ich vollkommen niedergedrückt gewesen, und dann, als es vorbei war –“ Frau Rupius unterbrach sie. „Das ist ja bei jedem Menschen so.“ ⎣Bertha wurde kleinlaut; sie fühlte es: für diese Frau war sie nicht klug genug, sie konnte immer nur so hin und her reden wie die anderen Frauen in der kleinen Stadt. Es war ihr, als hätte Frau Rupius jetzt eine Prüfung mit ihr veranstaltet, die sie nicht bestanden hatte, und mit einem Mal bekam sie eine große Angst vor dem Wiedersehen mit Emil. Wie würde sie sich dem gegenüber anstellen? Wie war sie in diesem sechsjährigen engen Leben ver schüchtert und hilflos geworden! Frau Rupius stand auf. Der weiße Morgenrock wallte um sie, sie sah größer und schöner aus als sonst, und Bertha mußte an eine Schauspielerin denken, die sie vor sehr langer Zeit auf der Bühne gesehen und die ganz ähnlich ausgeschaut. Sie dachte: Wär’ ich doch wie sie, dann wäre mir nicht

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Anderes] anderes GW berühren] berühren, GW Kind,] Kind GW so . . . .] so . . . GW

und] nud EA

Einzug fehlt EA

kleinen] kleine EA einem Mal] einemmal GW ausgeschaut] ausgeschaut hatte GW

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bang! und zugleich fiel ihr ein, daß diese wunderschöne Frau mit einem kranken Mann verheiratet war. – Ob die Leute nicht doch Recht hatten? Aber von hier aus konnte sie wieder nicht weiter; auf welche Weise die Leute Recht haben sollten, konnte sie sich nicht vorstellen. Und in diesem Augenblick kam eine Ahnung über sie von der Schwere des Schicksals, das über diese Frau verhängt war, ob sie es nun trüge oder sich dagegen wehrte. Doch als hätte Anna ⎣wieder in den Gedanken Berthas gelesen und duldete nicht, daß sie in dieser Weise sich in ihr Vertrauen einschliche, löste sich plötzlich der unheimliche Ernst ihres Gesichts und sie sagte harmlos: „Denken Sie, daß mein Mann jetzt noch schläft. Er hat die Gewohnheit angenommen, bis tief in die Nacht hinein wach zu bleiben, zu lesen und Stiche anzuschauen, und dann schläft er bis zum hellen Mittag. Im übrigen, das ist ganz Gewohnheitssache; als ich noch in Wien lebte, war ich eine unglaubliche Langschläferin.“ Und nun begann sie von ihren Mädchenjahren zu plaudern, heiter und mit einer Zu traulichkeit, wie sie Bertha nie früher an ihr bemerkt. Sie erzählte von ihrem Vater, der Offizier im Generalstab gewesen, von ihrer Mutter, die als ganz junge Frau gestorben war, von dem kleinen Haus mit Garten, in dem sie als Kind gespielt. Jetzt erst erfuhr Bertha, daß Frau Rupius ihren Mann schon als Knaben kennen gelernt, daß er mit den Seinen im angrenzenden Haus gewohnt und daß sie sich schon als Kinder verlobt hatten. Es war für Bertha, als wenn die ganze Jugend dieser Frau wie sonnenbestrahlt auftauchte, eine Jugend voll Glück und voll Hoffnung, und es schien ihr, als hätte auch die Stimme der Frau Rupius einen frischeren Klang, ⎣da sie nun von den Reisen erzählte, die sie in früherer Zeit mit ihrem Manne unternommen. Bertha ließ sie nur immer weiter reden und scheute sich, sie anzurufen, als wäre sie eine Mondsüchtige, die über Dachfirste wandelt. Aber während Frau Rupius von einer vergangenen Zeit sprach, als deren besondere Schönheit immer die Seligkeit des Geliebtwerdens durchschimmerte, begann es in Berthas Seele mitzubeben, von der Hoffnung eigenen Glücks, das sie noch nicht erlebt. Und während Frau Rupius von Fußwanderungen erzählte, – durch die Schweiz und Tirol – die sie einmal mit ihrem Gatten unternommen, sah Bertha sich selbst an der Seite Emils auf gleichen Wegen wandeln, und eine so ungeheure Sehnsucht erfüllte sie, daß sie am liebsten gleich aufgestanden, nach Wien gefahren wäre, ihn suchen, in seine Arme stürzen, endlich einmal die Wonnen erleben, die ihr bisher versagt geblieben waren. Ihre Gedanken irrten so weit, daß sie nicht bemerkte, wie Frau Rupius längst wieder schwieg, auf dem Sopha saß und mit starren Augen zu den Blumenstöcken des Hauses gegenüber sah. Die große Stille weckte Bertha auf;

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Recht] recht GW Recht] recht GW Gesichts] Gesichts, GW gespielt] gespielt hatte GW weiter reden] weiterreden GW Sopha] Sofa GW

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⎡das

ganze Zimmer schien ihr wie erfüllt von etwas Geheimnißvollem, in dem Vergangenes und Zukünftiges sonderbar in ⎣einander spielten. Sie fühlte einen unbegreiflichen Zusammenhang zwischen sich und dieser Frau. Sie stand auf, reichte ihr die Hand und als wäre es ganz selbstverständlich, küßten sich die beiden Frauen zum Abschied, wie alte Freundinnen. Bei der Thüre sagte Bertha: „Ich fahre morgen wieder nach Wien auf einige Tage.“ Sie lächelte dabei wie eine Braut. Von Frau Rupius ging sie zu ihrer Schwägerin. Ihr Neffe saß schon am Klavier und phantasirte sehr wild auf den Tasten; er that, als bemerkte er ihr Eintreten nicht und ging in Fingerübungen über, die er mit gemacht steifer Gelenkhaltung spielte. „Wir werden heute vierhändig spielen“, sagte Bertha und suchte den Band mit den Schubert’schen Märschen hervor. Sie hörte sich selbst gar nicht zu und merkte kaum, wie ihr Neffe beim Pedalgreifen ihren Fuß berührte. Indeß kam Elly herein und küßte die Tante. „Ja richtig,“ sagte der Neffe, „das hab’ ich ganz vergessen.“ Und, immer weiter spielend, näherte er seinen Mund der Wange Berthas. Die Schwägerin trat ein, mit dem Schlüsselbund klappernd und tiefe Schwermuth in dem blassen, verschwommenen Gesicht. „Ich habe die Brigitte entlassen,“ sagte sie tonlos. „Es war nicht mehr auszuhalten.“ ⎣„Soll ich Dir ein Mädchen aus Wien versorgen?“ sagte Bertha mit einer Leichtigkeit, über die sie selbst staunte. Und nun erzählte sie die Lüge von der Einladung der Cousine ein zweites Mal, mit noch größerer Sicherheit und bereits ein wenig ausgeschmückt. Die innere Freude, die sie selbst während ihrer Erzählung verspürte, steigerte zugleich ihren Muth. Selbst die Möglich keit, daß ihr Schwager sich ihr anschließen könnte, schreckte sie nicht mehr. Auch fühlte sie, daß sie durch die Art, in der er sich ihr zu nähern pflegte, im Vortheil ihm gegenüber war. „Wie lang denkst Du denn in der Stadt zu bleiben“ fragte die Schwägerin. „Zwei, drei Tage, länger gewiß nicht. Und weißt Du, Montag hätt’ ich jedenfalls hinein müssen – zur Schneiderin.“ Richard klimperte auf dem Piano, aber Elly stand, mit beiden Armen auf das Klavier gestützt, und sah ihre Tante mit beinahe angstvollen Blicken an. Bertha rief unwillkürlich aus: „Was hast Du denn?“ Elly fragte: „Warum denn?“ 1719 1720 1722 1728 1731 1733 1734 1743 1746 1747

Geheimnißvollem] Geheimnisvollem EA GW in einander] ineinander GW Hand] Hand, EA GW und] und, EA GW nicht] nicht, GW Schubert’schen] Schubertschen GW Indeß] Indes GW Ja] Ja, GW weiter spielend] weiterspielend GW Muth] Mut EA Vortheil] Vorteil EA bleiben] bleiben? GW

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Bertha sagte: „Du siehst mich so komisch an, als wenn Du – ja, als wenn’s Dir nicht recht ⎣wäre, daß Du zwei Tage keine Klavierstunde hast.“ „Nein,“ erwiderte Elly und lächelte, „das ist es nicht. Aber . . . nein, ich kann’s nicht sagen.“ „Was denn?“ fragte Bertha. „Nein, bitte, ich kann’s wirklich nicht sagen.“ Sie umhalste die Tante wie flehend. „Elly,“ sagte die Mutter, „ich dulde nicht, daß Du Geheimnisse hast.“ Sie setzte sich nieder, als wenn sie aufs Tiefste gekränkt und sehr ermüdet wäre. „Nun, Elly,“ sagte Bertha, von einer unbestimmten Angst erfüllt, „wenn ich Dich schon bitte . . .“ „Aber Du darfst mich nicht auslachen, Tante.“ „Gewiß nicht.“ „Siehst Du, Tante, schon das letzte Mal, wie Du fort warst, hab’ ich mich so gefürchtet, – ich weiß ja, es ist dumm . . . . wegen . . . wegen der vielen Wagen in den Straßen . . .“ ⎡Bertha athmete wie erleichtert auf und streichelte die Wangen Ellys. „Ich werde schon Acht geben, Du kannst ganz ruhig sein.“ Die Mutter schüttelte den Kopf. „Ich fürchte,“ sagte sie, „Elly wird sehr überspannt.“ Bevor Bertha sich entfernte, wurde noch ver⎣abredet, daß sie zum Abend essen kommen sollte und daß sie ihren Kleinen während der Dauer ihrer Ab wesenheit zu den Verwandten ins Haus geben sollte. Nach Tisch setzte sich Bertha an den Schreibtisch, las den Brief Emils noch einige Mal und entwarf ihre Antwort. „Mein lieber Emil!

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Es ist sehr liebenswürdig von Dir, mir so bald zu antworten. Ich war ganz glücklich“ – Sie strich „ganz glücklich“ wieder aus, und setzte dafür „sehr erfreut, als ich Deine lieben Zeilen erhielt. Wievieles hat sich verändert, seit wir uns nicht gesehen haben! Du bist seitdem ein berühmter Virtuose ge worden, was für mich niemals einem Zweifel unterlag“ – Sie hielt inne und strich den ganzen Satz wieder aus. „Auch ich theile Deinen Wunsch, mich bald wiederzusehen“ . . . nein, das war ja ein Unsinn! Also: „Auch mir wäre es riesig angenehm, wenn ich Dich wieder einmal sprechen könnte.“

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Tiefste] tiefste GW letzte Mal] letztemal GW dumm . . . .] dumm . . . GW athmete] atmete EA Acht geben] achtgeben GW einige Mal] einigemal GW Sie] sie EA GW aus,] aus GW Wievieles] Wie vieles GW theile] teile EA

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– Jetzt fiel ihr etwas Vortreffliches ein und sie schrieb mit vielem Vergnügen: „Es ist eigentlich sonderbar, daß wir uns so lange nicht begegnet sind, da ich gar nicht selten nach Wien komme, so zum Beispiel Ende dieser Woche.“ . . . Jetzt ließ sie die Feder sinken ⎣und dachte nach. Sie war entschlossen, morgen Nachmittag nach Wien zu fahren, in einem Hôtel abzusteigen und dort zu schlafen, um am nächsten Tag ganz frisch zu sein und schon ein paar Stunden Wiener Luft geathmet zu haben, ehe sie mit ihm zusammentraf. Nun galt es noch, den Ort festzustellen. Der war leicht gefunden. „Deinem freundlichen Wunsche gemäß theile ich Dir mit, daß ich Samstag Vormittag um elf Uhr“ . . . nein, das war nicht das Rechte! Es war so geschäftsmäßig und doch wieder zu bereitwillig. Sie schrieb: „Willst Du Deine alte Freundin schon bei dieser Gelegenheit wiedersehen, so bemühe Dich am Samstag Vor mittag elf Uhr ins kunsthistorische Museum zu den Niederländern.“ Sie kam sich ziemlich großartig vor, als sie das niederschrieb, und alles Verdächtige schien damit weggewischt. Sie überlas ihr Concept. Es erschien ihr etwas trocken, aber schließlich enthielt es das Nothwendigste, und sie hatte sich nichts vergeben; alles Andere würde sich im Museum finden, bei den Niederländern. Sie schrieb den Entwurf ins Reine, unterzeichnete, couvertirte und eilte auf die sonnige Straße hinunter, um den Brief in den nächsten Kasten zu werfen. Wieder zuhause, warf sie ihr Kleid ab, nahm einen Schlafrock um, setzte sich ⎣auf den Divan und blätterte in einem Roman von Gerstäcker, den sie schon zehnmal gelesen. Aber sie vermochte kein Wort zu fassen. Anfangs versuchte sie, die Gedanken, die sie bedrängten, von sich abzuweisen, aber es half nichts. Sie schämte sich vor sich selbst, aber immer wieder träumte sie sich in Emils Armen. Warum denn nur? Daran hatte sie doch noch gar nicht gedacht! Nein . . . daran wird sie auch nie denken . . . sie ist keine solche Frau . . . . Nein, sie kann nicht die Geliebte von Jemandem werden – und nun gar diesmal . . . . Ja, vielleicht, wenn sie noch einmal nach Wien kommt und wieder und wieder . . . . nun ja, viel später – vielleicht. Und im übrigen: er wird es ja auch gar nicht wagen, davon zu reden, es nur anzudeuten . . . Aber es half nichts, sie konnte nichts Anderes mehr denken. Immer zudring

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ein] ein, EA GW geathmet] geatmet EA theile] teile EA Vormittag] vormittag GW Rechte] rechte GW Concept] Konzept GW Nothwendigste] Notwendigste EA Andere] andere GW couvertirte] kuvertierte GW zuhause] zu Hause GW Divan] Diwan GW Frau . . . .] Frau. . . . EA Frau . . . GW Jemandem] jemandem GW diesmal . . . .] diesmal . . . GW wieder . . . .] wieder . . . GW Anderes] anderes GW

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licher kamen ihre Träume und endlich gab sie den Kampf auf, lehnte träg in ⎡der Ecke des Divans, ließ das heruntergeglittene Buch auf dem Boden liegen und schloß die Augen. Als sie sich nach einer Stunde wieder erhob, schien ihr eine ganze Nacht vergangen zu sein, insbesondere der Besuch bei Frau Rupius lag weit zurück. Wieder wunderte sie sich über diese Regellosigkeit der Stunden; wahrhaftig, sie waren länger und kürzer, ⎣wie es ihnen beliebte. Sie kleidete sich an, um mit Fritz spazieren zu gehen. Sie war in der müd gleichgiltigen Stimmung, wie sie nach ungewohntem Nachmittagsschlaf zu kommen pflegt, in der man kaum die Fähigkeit hat, sich ganz auf sich selbst zu besinnen, in der Einem das Ge wöhnliche seltsam, aber wie auf jemand Anderen bezogen, vorkommt. Sie empfand es zum ersten Mal als sonderbar, daß der Bub, den sie jetzt in sein Gewand steckte, ihr eigenes Kind war, das sie von Einem empfangen, der längst begraben war, und das sie unter Schmerzen geboren. Irgend etwas in ihr sagte ihr, daß sie heut wieder einmal auf den Friedhof gehen müßte. Sie hatte aber nicht die Empfindung, als hätte sie ein Unrecht gutzumachen, sondern als müßte sie Jemanden, dem sie sich ohne triftigen Grund entfremdet, höf licherweise wieder einmal besuchen. Sie wählte den Weg durch die Kastanien allee. Hier drückte die Hitze heute besonders schwer. Erst als sie in die Sonne trat, wehte ein leichter Hauch, und vom Friedhof her schien das Laub der Bäume durch leichtes Neigen sie zu begrüßen. Als sie mit dem Buben durch die Friedhofthür eintrat, kam es ihr kühl, ja erfrischend entgegen. In einer milden, beinah süßen Müdigkeit spazierte sie durch die große ⎣Mittelallee, ließ den Buben voranlaufen und kümmerte sich nicht, wie er hinter einem Grabstein ihrem Blick auf Sekunden entschwand, was sie sonst nie leiden mochte. Vor dem Grabe ihres Mannes blieb sie stehen, schaute aber nicht auf das Blumen beet herunter, wie es sonst ihre Art war, sondern an dem Marmor vorbei, weg über die Mauer, in den blauen Himmel. Sie fühlte keine Thräne im Auge, keine Rührung, kein Grauen; sie dachte eigentlich nicht daran, daß sie über Tote hingeschritten war und daß hier unter ihr Einer in Staub zerfiel, der sie einmal in den Armen gehalten hatte. Plötzlich hörte sie Schritte hinter sich auf dem Kies, eilige, wie sie sie sonst an diesem Ort nicht zu hören gewohnt war, – beinah verletzt wandte sie sich um. Klingemann stand vor ihr, hielt seinen Strohhut, der durch ein Band an einem Rockknopf befestigt war, grüßend in der Hand und neigte sich tief vor Bertha.

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Träume] Träume, EA GW Divans] Diwans GW gleichgiltigen] gleichgültigen GW Einem] einem GW Anderen] anderen GW ersten Mal] erstenmal GW Einem] einem GW Jemanden] jemanden GW war] war, EA GW Einer] einer GW

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„Nein, was für ein sonderbarer Zufall,“ sagte diese. „Das eben nicht, gnädige Frau; ich sah Sie von der Straße aus, an Ihrer Art zu gehen hab’ ich Sie erkannt.“ Er sprach sehr laut und Bertha sagte fast unwillkürlich: „Sst!“ Auf Klingemanns ⎣Antlitz erschien sofort ein höhnisches Lächeln und er sagte zwischen den Zähnen: „Er wacht nicht auf.“ Bertha war über diese Bemerkung so entrüstet, daß sie gar nicht nach einer Antwort suchte, sondern sich wegwandte, nach Fritz rief und sich entfernen wollte. Aber Klingemann faßte ihre Hand und flüsterte, indem er zu Boden sah: „Bleiben Sie.“ Bertha machte die Augen weit auf; sie begriff das nicht. Plötzlich blickte Klingemann wieder vom Boden auf und bohrte seine Augen in die Berthas. Dann sagte er: „Ich liebe Sie nämlich!“ Bertha stieß einen leisen Schrei aus. Klingemann ließ ihre Hand los und setzte in ganz leichtem Gesprächston hinzu: „Das kommt Ihnen wohl etwas ver wunderlich vor?“ „Es ist unerhört, es ist unerhört!“ Sie wollte wieder gehen und rief „Fritz!“ Klingemann sprach, jetzt in bittendem Ton: „Bleiben Sie! Wenn Sie mich jetzt allein lassen, Bertha . . . . .“ ⎡Bertha hatte ihre Besinnung wiedergefunden. Sie sagte heftig: „Nennen Sie mich nicht Bertha! Wer hat Ihnen dazu das Recht gegeben? Ich habe keine Lust, weiter mit Ihnen zu reden . . . Und gar hier,“ setzte sie hinzu mit einem Blick nach ⎣unten, der den Toten gleichsam um Entschuldigung bat. Indeß war Fritz auch herzu gekommen. Klingemann schien sehr enttäuscht. „Gnädige Frau,“ sagte er und folgte Bertha, die, den Kleinen an der Hand führend, sich langsam entfernte, „ich fühle mein Unrecht, ich hätte anders an fangen und erst am Schlusse einer wohlgesetzten Rede das sagen sollen, wodurch ich Sie nun erschreckt zu haben scheine.“ Bertha sah ihn nicht an, sondern sagte, als wenn sie zu sich selbst spräche: „Ich hätte es nicht für möglich gehalten; ich dachte, ein gebildeter Mensch . . . .“ Sie waren an der Friedhofsthür. Klingemann sah noch einmal zurück, und in seinem Blick lag das Bedauern, daß er seine Scene am Grabe nicht hatte zu Ende spielen können; aber, immer an der Seite Berthas, den Hut in der Hand und das Band, an dem er befestigt war, um den Finger drehend, sprach er weiter: „Ich kann nun nichts Anderes thun, als wiederholen, daß ich Sie liebe, daß Sie mich in meinen Träumen verfolgen – mit einem Wort: Sie müssen mein werden.“ Wieder blieb Bertha wie entsetzt stehen. „Sie werden diese Bemerkung vielleicht frech finden, aber nehmen wir die Dinge, wie sie sind: ⎣Sie . . .“ er machte eine lange Pause – „sind allein, ich nicht minder –“ 1858 1860 1871 1872 1877 1883 1885 1888

laut] laut, GW Lächeln] Lächeln, GW Ton] Tone GW Bertha . . . . .] Berta . . . GW Indeß] Indes GW herzu gekommen] herzugekommen GW Mensch . . . .] Mensch . . . EA GW Scene] Szene GW Anderes] anderes GW

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Bertha starrte Klingemann ins Gesicht. „Ich weiß, woran Sie denken,“ sagte Klingemann. „Alles das hat nichts zu bedeuten, Alles das ist im Augenblick aus, wo Sie es befehlen. Eine dunkle Ahnung sagt mir, daß wir Zwei sehr gut für einander passen, ja wenn mich nicht Alles trügt, dürfte das Blut in Ihren Adern, gnädige Frau, nicht weniger heiß fließen, als . . .“ Der Blick, der ihn jetzt aus Berthas Auge traf, war so erfüllt von Zorn und Ekel, daß Klingemann den Satz nicht voll enden konnte. Er begann daher einen andern. „Ach, was ist das eigentlich für ein Leben, das ich jetzt führe! Es ist eben schon sehr lange Zeit verflossen, seit ich von einer edlen Frau, wie Sie es sind, geliebt worden. Ich verstehe ja Ihr Zögern oder vielmehr Ihre Ablehnung. Zum Teufel noch einmal, es gehört schon ein bischen Courage dazu, sich mit einem so verlotterten Kerl, wie ich einer bin . . . Obzwar es vielleicht nicht einmal so arg ist – Ah, wenn ich eine menschliche Seele, eine gütige, weibliche Seele“ – er betonte „Seele“ – „fände . . . Ja, gnädige Frau, mir war es so wenig an der Wiege gesungen als Ihnen, daß ich in ⎣einem solchen Nest verkümmern und versauern werde. Sie dürfen’s mir nicht übel nehmen, wenn ich . . . wenn ich –“ Die Worte begannen ihm zu versagen, seit er nahezu die Wahrheit sprach. Bertha sah ihn an. Er kam ihr jetzt ein bischen lächerlich, beinahe bedauernswerth und recht alt vor, und sie wunderte sich, daß dieser Mann noch den Muth hatte, nicht etwa um sie anzuhalten – nein, sogar einfach um ihre Gunst zu werben. Und doch, zu ihrem eigenen Staunen und zu ihrer Beschämung, über strömte es sie, auch aus diesen ungebührlichen Worten eines Menschen, der ihr lächerlich erschien, wie mit einer Welle von Verlangen; denn wie diese Worte schon verklungen waren, hörte sie sie im Geiste wieder – aber wie aus dem Mund eines Andern, der in Wien ihrer harrte; – und sie empfand, daß sie diesen nicht widerstehen könnte. Klingemann redete noch immer weiter, er sprach davon, daß sein Dasein ein verfehltes, aber der Rettung würdiges wäre; die Frauen hätten ihn auf dem Gewissen, und eine Frau müßte ihn wieder empor ziehen. Schon als Student war er mit Einer durchgegangen, und damit fing ⎡das Elend an. Er redete von seinen ungebändigten Sinnen, und Bertha mußte lächeln; dabei schämte ⎣sie sich der Sachverständigkeit, die ihr selbst in diesem Lächeln zu liegen schien. Beim Hausthor sagte Klingemann: „Ich

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Alles] alles GW Zwei] zwei GW für einander] füreinander GW Alles] alles GW bischen] bißchen GW übel nehmen] übelnehmen GW bischen] bißchen GW beinahe] beinah GW bedauernswerth] bedauernswert EA Muth] Mut EA Andern] anderen GW diesen] diesem EA GW Einer] einer GW

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werde heute Abend vor Ihrem Fenster auf und abgehen. Werden Sie Klavier spielen?“ „Ich weiß nicht.“ „Ich werd’ es als Zeichen nehmen.“ Damit ging er. Am Abend saß sie wie so oft am Tisch von Schwager und Schwägerin, zwischen Richard und Elly. Man sprach von ihrer bevorstehenden Reise nach Wien, als handelte es sich thatsächlich um nichts Anderes als um den Besuch bei der Cousine, um das Probiren bei der Schneiderin und um einige Be sorgungen, welche sie für den Haushalt der Schwägerin zu übernehmen ver sprochen. Gegen Ende des Nachtmahls, während der Schwager seine Pfeife rauchte, Richard ihm aus der Zeitung vorlas, die Mutter strickte und Elly, ganz nah neben Bertha gerückt, ihren Kinderkopf an ihre Brust lehnte, erschien sich Bertha wie eine abgefeimte Lügnerin. Hier saß sie, die Wittwe eines braven Manns, im Familienkreise, der sich ihrer so treu angenommen, an der Seite eines jungen Mädchens, das wie zu einer älteren Freundin zu ihr auf blickte, sie, bisher ⎣selbst eine brave Frau, die ihr Leben anständig und in Arbeit hingebracht, nur für ihren kleinen Sohn gelebt, – und war sie jetzt nicht im Begriff, alles das hinzuwerfen, diese trefflichen Leute zu belügen und sich in ein Abenteuer zu stürzen, dessen Ende sie nicht absehen konnte? Denn was war in den letzten Tagen aus ihr geworden, von welchen Träumen war sie verfolgt, wie schien ihr ganzes Dasein nur mehr dem einen Augenblick ent gegen zu streben, da sie wieder in den Armen eines Mannes liegen durfte? Wenn sie nur daran dachte, überlief sie der unsagbare Schauer, unter dem sie sich willenlos, wie einer fremden Macht verfallen, vorkam. Und während die Worte, die Richard las, eintönig an ihr Ohr schlugen und ihre Finger mit den Locken Ellys spielten, lehnte sie sich ein letztes Mal auf, schwor sich zu, daß sie standhaft sein, daß sie nichts Anderes wollte, als Emil wiedersehen, und daß sie, wie alle braven Frauen, die sie kannte, wie ihre längst verstorbene Mutter, wie ihre Cousine in Wien, wie Frau Mahlmann, wie Frau Martin, wie ihre Schwägerin und wie . . . ja, wie gewiß auch Frau Rupius nur dem angehören wollte, der sie zu seiner Gattin machte. Wie sie aber daran dachte, durchfuhr es sie wie ein Blitz: wenn er selbst . . . wenn ⎣Emil . . . Aber sie hatte Angst vor diesem Gedanken, sie wies ihn von sich. Nicht mit so kühnen Träumen durfte sie zu diesem Rendezvous fahren. Er, der große Künstler, und sie, eine arme Wittwe mit einem Kind . . . Nein, nein! – Sie wird ihn noch einmal wiedersehen . . . ja, im Museum, bei den Nieder

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auf und abgehen] auf und ab gehen GW Anderes] anderes GW nah] ah EA Wittwe] Witwe EA GW Manns] Mannes GW gelebt] gelebt hatte GW entgegen zu streben] entgegenzustreben GW Anderes] anderes GW Wittwe] Witwe EA GW n

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ländern . . . einmal und zugleich das letzte Mal, und sie wird es ihm auch sagen, daß sie nichts Anderes wollte, als ihn noch einmal sehen. Mit einer lächelnden Genugthuung stellt sie sich sein etwas enttäuschtes Gesicht vor, und sie legt, wie zur Vorübung, ihr Gesicht in ernste Falten und weiß schon die Worte, die sie ihm sagen wird: O nein, Emil, wenn Du das glaubst . . . Aber sie darf diese Worte nicht in allzu hartem Tone sagen, damit er nicht wie damals . . . vor zwölf Jahren! . . . schon nach dem ersten Versuch ein hält; er soll sie ein zweites, er soll sie ein drittes Mal – ach Gott, er soll sie eben so lange bitten, bis sie nachgiebt . . . Denn sie fühlt es: hier, in mitten aller dieser guten, anständigen, tugendhaften Leute, zu denen sie dann freilich nicht mehr zählen wird, – sie wird nachgeben, sobald er es verlangt. Sie fährt nur nach Wien, um seine Geliebte zu werden und nachher, wenn’s sein muß, zu sterben. ⎡ Am andern Nachmittag reiste Bertha ab. Es war sehr heiß, die ⎣ Sonne brannte auf die ledernen Sitze, Bertha hatte das Fenster geöffnet und den gelben Vorhang vorgezogen, der aber immer im Luftzug hin und herflatterte. Sie war allein. Aber sie dachte kaum an den Ort, an den sie fuhr, an den Menschen, den sie wiedersehen wollte, an das, was ihr bevor stehen mochte, – sondern nur an die seltsamen Worte, die sie eben, eine Stunde vor ihrer Abreise vernommen. Sie hätte sie gern vergessen, wenigstens für die nächsten Tage. Warum hatte sie nur diese paar Stunden zwischen Mittagessen und Abfahrt nicht zu Hause bleiben können? Welche Unruhe trieb sie, an dem glühend heißen Nachmittag aus ihrem Zimmer auf die Straße, auf den Markt, und hieß sie an der Wohnung Rupius’ vorbeigehen? Da saß er auf dem Balkon, die Augen auf das strahlend weiße Pflaster gerichtet, und über die Kniee, wie immer, den grauen Plaid gebreitet, dessen Enden zwischen den Gitter stäben des Balcons herabhingen; vor ihm das kleine Tischchen mit der Flasche Wasser und dem Glas. Als er Bertha gewahrte, richteten seine Augen sich auf sie, als bäte er sie um etwas, und sie merkte, wie er sie durch eine leichte Kopfbewegung zu sich rief. Warum folgte sie ihm? ⎣Warum nahm sie es nicht einfach als Gruß, dankte und ging ihres Wegs? Wie sie aber, seinem Wink gehorchend, dem Hausthor sich zuwandte, sah sie, wie ein Lächeln des Danks über seine Lippen glitt, und das gleiche fand sie noch auf seinem Antlitz, als sie durch das kühle, dunkel gehaltene Zimmer zu ihm auf den Balkon trat, seine entgegengestreckte Hand nahm und sich an die andere Seite des Tischchens ihm gegenüber setzte. „Wie geht’s Ihnen?“ fragte sie. Er erwiderte anfangs nichts, dann merkte sie an Bewegungen in seinem Gesicht, daß er reden wollte, aber es war, als könnte er kein Wort heraus 1964 1965 1972 1977 1990 1997

letzte Mal] letztemal GW Anderes] anderes GW nachgiebt] nachgibt GW andern] anderen GW Balcons] Balkons GW zu] z EA

es:] es, EA GW

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bringen; endlich stieß er hervor, die ersten Worte überlaut: „Sie will mich . . .“ dann, als sei er selbst von dem beinahe schreienden Ton erschrocken, ganz leise: „verlassen. Meine Frau will mich verlassen.“ Bertha sah unwillkürlich um sich. Rupius hob die Hände wie beruhigend. „Sie hört uns nicht. Sie ist in ihrem Zimmer; sie schläft.“ Bertha wurde verlegen, sie stammelte: „Woher wissen Sie . . . ? Das ist ja nicht möglich!“ „Fortreisen will sie – fortreisen, auf einige ⎣Zeit, wie sie sagt . . . auf einige Zeit . . . verstehen Sie mich?“ „Nun ja, wahrscheinlich zu ihrem Bruder.“ „Auf immer will sie fort . . . auf immer! Natürlich wird sie mir nicht sagen: Leb’ wohl, Du wirst mich nie wiedersehen! Daher sagt sie: Ich möchte ein wenig reisen, ich brauche Erholung, ich will auf einige Wochen an einen See, möchte schwimmen, brauche Luftveränderung! Sie sagt mir natürlich nicht: Ich ertrag’ es nicht länger, ich bin jung und blühend und gesund, und Du bist lahm und wirst bald sterben und mich graut vor Deiner Krankheit und vor dem Ekelhaften, das noch kommen wird, eh es zu Ende ist. Darum sagt sie mir: Ich will nur auf einige Wochen fort, dann komm’ ich wieder zurück, dann bleib’ ich bei Dir.“ Berthas schmerzliche Bewegtheit ging in ihrer Verlegenheit auf; sie konnte nichts erwidern, als: „Sie irren sich bestimmt.“ Rupius zog den Plaid, der herabgleiten wollte, hastig über die Kniee; ihn schien zu frösteln. Während er weiter sprach, zog er den Plaid immer höher hinauf und hielt ihn endlich mit beiden Händen vor die Brust gepreßt. „Ich hab’ es kommen sehen, jahrelang hab’ ich diesen Moment kommen ⎣sehen. ⎡Und denken Sie, was das für eine Existenz ist: einem solchen Moment ent gegensehen und wehrlos sein und schweigen müssen! Warum sehen Sie mich so an?“ „O nein,“ sagte Bertha und blickte auf den Marktplatz hinab. „Nun, ich bitte Sie um Entschuldigung, daß ich davon spreche. Ich hatte nicht die Absicht; aber als ich Sie vorbeigehen sah – nun, ich dank’ Ihnen sehr, daß Sie mich anhören.“ „Aber bitte,“ sagte Bertha und streckte ihm unwillkürlich die Hand ent gegen. Da er sie nicht bemerkte, ließ sie sie auf dem Tisch liegen. „Nun ist es vorbei,“ sagte Rupius. „Jetzt kommt die Einsamkeit und alles Furchtbare.“ „Aber hat Ihre Frau . . . sie liebt Sie doch! . . . Ich bin ganz über zeugt, Sie machen sich unnöthige Sorgen. Und wär’ es nicht das Einfachste, Herr Rupius, Sie bäten Ihre Frau, daß sie auf diese Reise verzichte?“

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sterben] sterben, GW wollte,] wollte EA Kniee] Knie GW weiter sprach] weitersprach GW unnöthige] unnötige EA

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„Bitten . . . ?“ sagte Rupius fast hoheitsvoll. „Hab’ ich überhaupt das Recht dazu? Diese ganzen sechs oder sieben Jahre waren nur eine Gnade, die sie mir erwiesen. Ueberlegen Sie gefälligst. In diesen ganzen sieben Jahren ist kein Wort der Klage ⎣über ihre Lippen gekommen, daß sie ihre Jugend ver loren hat.“ „Sie hat Sie lieb,“ sagte Bertha mit Entschiedenheit, „und darauf kommt es an.“ Rupius sah sie lange an. „Ich weiß, was Sie sagen wollen und sich zu sagen nicht getrauen. Aber Ihr Mann, gnädige Frau, liegt tief im Grab, schläft nicht Nacht für Nacht an Ihrer Seite.“ Er schaute auf mit einem Blick, der wie eine Verwünschung zum Himmel fuhr. Die Zeit rückte vor; Bertha dachte an ihren Zug. „Wann soll denn Ihre Frau reisen?“ „Darüber ist noch nicht gesprochen worden. – Aber ich halte Sie wohl auf?“ „Nein, gewiß nicht, Herr Rupius, nur . . . Hat es Ihnen Anna nicht gesagt? Ich fahre nämlich heute nach Wien.“ Sie wurde glühend roth. Er sah sie wieder lange an. Es schien ihr, als wüßte er Alles. „Wann kommen Sie wieder?“ fragte er trocken. „In zwei bis drei Tagen.“ Sie hätte ihm gern gesagt, daß er sich irrte, daß sie nicht zu einem Menschen reiste, den sie liebte, daß alle diese Dinge, um die er sich kränkte, etwas Schmutziges und Niedriges wären, worauf es den Frauen eigentlich ⎣ gar nicht ankäme, – aber es war ihr nicht gegeben, dafür die rechten Worte zu finden. „Wenn Sie in zwei bis drei Tagen wiederkommen, finden Sie meine Frau wohl noch hier. Also adieu und unterhalten Sie sich gut.“ Sie hatte gefühlt, wie sein Blick ihr folgte, während sie durch das dunkel verhängte Zimmer und über den Marktplatz ging. Und auch jetzt, im Coupé, fühlte sie diesen Blick und immer noch hörte sie jene Worte klingen, in denen ihr das Bewußtsein eines ungeheuern Unglücks zu liegen schien, das sie bisher gar nicht verstanden. Das Peinvolle dieser Erinnerung schien stärker als die Erwartung alles Freudigen, das ihr bevorstehen mochte, und je näher sie der großen Stadt kam, umso schwerer wurde ihr um’s Herz. Während sie an den einsamen Abend dachte, der heute vor ihr lag, war ihr, als führe sie in die Fremde, ins Ungewisse, ohne Hoffnung. Der Brief, den sie noch immer im Mieder trug, hatte seinen Zauber verloren, er war nichts als ein knisterndes Stück beschriebenes Papier, dessen Ecken einzureißen begannen. Sie versuchte sich das Aussehen Emils vorzustellen. Gesichter, die eine leichte Aehnlichkeit ⎡mit dem seinen hatten, tauchten auf, manchmal glaubte sie schon das rechte zu halten, doch ⎣verschwamm es gleich. Sie begann zu zweifeln, ob sie recht ge 2060 2070 2071 2073 2075

Alles] alles GW Coupé] Kupee GW Blick] Blick, GW schien] erschien GW umso] um so GW um’s] ums GW

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than, schon heute zu reisen. Warum hatte sie nicht wenigstens bis Montag gewartet? So aber mußte sie sich’s eingestehen: sie fuhr nach Wien, zu einem Rendez vous mit einem jungen Mann, den sie seit zehn Jahren nicht mehr ge sprochen und der vielleicht eine ganz Andere erwartete, als die ihm morgen entgegenkam. Ja, das war es, was sie unruhig machte; jetzt wußte sie’s. Dieser Brief, der ihrer zarten Haut schon ein bißchen weh that, war an die zwanzigjährige Bertha gerichtet, denn Emil konnte ja nicht wissen, wie sie jetzt aussah. Und wenn sie auch selbst sich sagen mußte, daß ihr Antlitz die Linien ihrer Mädchenjahre und daß ihre Gestalt, nur in größerer Fülle, die Umrisse ihrer Jugend bewahrt hatte, würde er nicht trotz alledem sehen, was ein Jahr zehnt an ihr verändert, wohl auch zerstört hatte, ohne daß sie selbst es ge merkt? Klosterneuburg. Viele helle Stimmen, das Geräusch von rasch laufenden Schritten drang an ihr Ohr. Sie sah hinaus. Eine Menge von Schuljungen drängte heran, stieg mit Lachen und Geschrei in die Waggons. Jetzt mußte Bertha daran denken, wie ihre Brüder als Kinder von Landparthieen nach Hause gekommen waren, und plötzlich stand ihr das ⎣blaugemalte Zimmer vor Augen, in dem die Buben damals geschlafen hatten. Es lief wie ein Schauer über sie, als ihr bewußt ward, wie alles Vergangene in die Winde gestreut war, wie die Menschen, denen sie das Dasein verdankt, gestorben, die, mit denen sie jahrelang unter einem Dach gewohnt, verschollen, wie Beziehungen gelöst waren, die für die Dauer gegründet schienen. Wie unverläßlich, wie sterblich war Alles! Und er . . . er hatte ihr geschrieben, als wenn in diesen zehn Jahren sich nichts verändert hätte, als wenn dazwischen nicht Begräbnisse, Geburten, Schmerzen, Krankheiten, Sorgen und – für ihn wenigstens – soviel Glück und Ruhm gelegen wäre. Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf. Wie eine Verwirrung über soviel Unbegreifliches kam es über sie. Und selbst das Sausen des Zugs, der sie da mittrug zu Erlebnissen, die sie nicht kannte, schien ihr ein Gesang von merkwürdiger Traurigkeit. Sie dachte an die Zeit zurück, die noch gar nicht ferne war, die kaum Tage hinter ihr lag, in der sie ruhig und zufrieden gewesen und ihr Dasein ohne Wünsche, ohne Bedauern und ohne Staunen hingenommen. Wie war das nur Alles über sie gekommen? Sie faßte es nicht. Immer schneller schien der Zug seinem Ziele ⎣zuzueilen. Schon stieg der Dunst der großen Stadt wie aus der Tiefe empor. Das Herz begann ihr zu klopfen. Es war ihr, als werde sie erwartet, von irgend etwas Unbestimmtem, das sie nicht hätte nennen können, von irgend etwas Hundertarmigem, das

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Rendez vous] Rendezvous GW Andere] andere GW ihrer] hrer EA Landparthieen] Landpartieen EA Landpartien GW Alles] alles GW Jahren] Jahren, EA GW Zugs] Zuges GW Bedauern] Bedauer EA Alles] alles GW

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bereit war, sie zu umfassen; jedes Haus, an dem sie vorüberfuhr, wußte, daß sie kam, die Abendsonne auf den Dächern glänzte ihr entgegen, und als der Zug jetzt in die Halle einfuhr, fühlte sie sich mit einem Mal geborgen. Jetzt erst empfand sie, daß sie in Wien, in ihrem Wien war, in der Stadt ihrer Jugend, ihrer Träume, in der Heimat! Hatte sie denn bisher gar nicht daran gedacht? Sie kam nicht vom Hause, – nein, jetzt war sie zuhause angelangt. Der Lärm auf dem Bahnhof erfüllte sie mit Wohlbehagen, das Gewühl der Wagen und Menschen freute sie, alles Traurige war von ihr abgefallen. – Hier stand sie, sie, Bertha Garlan, jung und hübsch, an einem warmen Mai abend in Wien, am Franz Josefs Bahnhof, frei, Niemandem Rechenschaft schuldig, und morgen Früh wird sie den Einzigen wiedersehen, den sie je ge liebt, – den Geliebten, der sie gerufen hat. In einem kleinen Hôtel nahe dem Bahnhof stieg sie ab. Sie hatte sich ⎡vorgenommen, eines von den weniger eleganten zu wählen, einerseits aus Spar ⎣ samkeit, dann aus einer gewissen Scheu vor eleganten Kellnern und Portiers. Sie bekam ein Zimmer im dritten Stock angewiesen, mit einem Fenster auf die Gasse, das Stubenmädchen schloß es, als die Fremde eintrat, brachte frisches Wasser, der Hausknecht stellte ihren Koffer neben den Ofen und der Kellner legte ihr den Meldzettel vor, den Bertha sogleich und sicher mit dem Stolz des guten Gewissens ausfüllte. Ein Gefühl von äußerer Freiheit, das sie lang nicht gekannt, umfing sie; nichts von den täglichen kleinen Sorgen des Haushaltes, keine Verpflichtung, mit Verwandten und Bekannten zu reden; heute Abend hätte sie thun können, was sie wollte. Als sie umgekleidet war, öffnete sie das Fenster. Sie hatte schon die Kerzen anzünden müssen, aber draußen war es noch nicht ganz dunkel. Sie stützte die Ellbogen aufs Fensterbrett und blickte hinunter. Wieder er innerte sie sich ihrer Kinderzeit, da sie oft abends zum Fenster hinuntergeschaut, manchmal mit einem ihrer Brüder, der den Arm um ihre Schultern geschlungen hatte. Sie dachte jetzt auch ihrer Eltern, mit so lebhafter Rührung, daß ihr die Thränen nahe waren. Unten brannten schon die Laternen. Nun mußte sie doch irgend etwas unternehmen. ⎣Morgen um diese Zeit, fiel ihr ein . . . Sie konnte sich’s nicht vorstellen. In diesem Augenblick fuhr eben ein Fiaker unten vorbei, in dem ein Herr mit einer Dame saß. Wenn es nach ihrem Wunsch ginge, so müßten sie morgen zusammen aufs Land fahren – ja, das wäre das Schönste. Irgendwo draußen in einem stillen Gartenrestaurant, auf dem Tisch ein Windlicht, und er mit ihr Hand in Hand, wie ein junges ver

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einem Mal] einemmal GW zuhause] zu Hause GW sie, sie,] sie, EA Niemandem] niemandem GW Früh] früh GW eleganten] vornehmen, EA vornehmen GW Ofen] Ofen, EA GW anzünden müssen] anzündenmüssen EA Unten] Unter GW Unten GW1922

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liebtes Paar, und dann wieder zurück, – und dann . . . . Nein, sie wollte lieber nicht weiter denken! Wo mag er jetzt sein? Ist er jetzt allein? Oder spricht er jetzt eben mit Jemandem? Und mit wem? Mit einem Mann – mit einer Frau? Mit einem Mädchen? Im übrigen, was geht sie das an? Vorläufig geht sie das gar nichts an. So wenig es ihn kümmert, daß Herr Klingemann ihr gestern ein Liebesgeständniß gemacht, daß ihr Neffe, der freche Bub, sie zuweilen küßt, und daß sie für Herrn Rupius eine große Verehrung hat. Morgen wird sie ihn schon fragen – ja. Ueber all diese Dinge muß sie Gewißheit haben, ehe sie . . . . . nun, ehe sie mit ihm Abends aufs Land fährt. Fort also – aber wohin? An der Thüre blieb sie unschlüssig stehen. Sie konnte nichts anderes ⎣thun, als ein bißchen spazieren gehen und dann nachtmahlen . . . . aber wo? – Eine Dame allein. . . . Nein, sie wird hier auf ihrem Zimmer speisen, und früh zu Bette gehen, um morgen gut aus geschlafen, frisch, jung und hübsch zu sein. Sie sperrte ab und begab sich auf die Straße. Sie wandte sich der innern Stadt zu. Sie ging sehr rasch, denn es war ihr unangenehm, abends allein zu gehen. Bald war sie auf dem Ring und ging an der Universität vorbei bis zum Rathhaus. Aber das ziellose Herumlaufen machte ihr gar kein Vergnügen. Sie empfand Langweile und Hunger, setzte sich in einen Pferdebahnwagen und fuhr zurück. Sie hatte keine rechte Lust, ihr Zimmer aufzusuchen. Schon von der Straße aus hatte sie ge sehen, daß der Speisesaal des Hôtels kaum erleuchtet und offenbar leer war. Dort speiste sie zu Nacht, wurde gleich müde und schläfrig, ging mit Mühe die drei Treppen auf ihr Zimmer hinauf, und während sie sich, auf dem Bett sitzend, die Schuhe aufschnürte, hörte sie es von einem nahen Kirchthurm zehn Uhr schlagen. Als sie in der Frühe erwachte, eilte sie vor Allem zum Fenster und zog die Rouleaux auf, mit einer großen Sehnsucht, das Licht des Tages und die Stadt zu sehen. Es war ein sonniger Morgen ⎣und die Luft so frisch, als ⎡wäre sie, wie aus tausend Quellen, von den Wäldern und Hügeln in die Gassen der Stadt herabgeflossen. Auf Bertha wirkte die Schönheit des Morgens wie ein gutes Zeichen; sie wunderte sich über die sonderbare, dumpfe Art, in der sie den gestrigen Abend verbracht, – als hätte sie gar nicht recht ge wußt, warum sie nach Wien gekommen. Sie fühlte, was sie so froh stimmte: die Gewißheit, nicht mehr durch den Schlaf einer ganzen Nacht von der er 2158 2161 2163 2164 2168 2169 2171 2173 2182 2183 2184

Jemandem] jemandem GW Liebesgeständniß] Liebesgeständnis EA GW hat] hegt GW Abends] abends GW allein . . . .] allein. . . . GW speisen,] speisen EA GW Straße.] Straße. / Absatz eingefügt EA GW Rathhaus] Rathaus EA Allem] allem GW Rouleaux] Rouleaus GW1922 frisch,] frisch GW

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gemacht] gemacht hat GW

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sehnten Stunde getrennt zu sein. Mit einem Mal verstand sie gar nicht mehr, daß sie neulich schon in Wien gewesen, ohne nur den Versuch zu wagen, Emil zu sehen. Ja, endlich wunderte sie sich, daß sie diese Möglichkeit wochen , monate , vielleicht jahrelang grundlos hinausgeschoben. Daß sie in dieser ganzen Zeit kaum an ihn gedacht, fiel ihr anfangs nicht ein, aber als ihr das zu Bewußtsein kam, staunte sie darüber am meisten. Nun waren nur mehr vier Stunden zu überstehen, und dann sah sie ihn wieder. Sie legte sich nochmals ins Bett, lag zuerst mit offenen Augen da und flüsterte vor sich hin, als wollte sie sich an dem Wort berauschen: Komm’ bald! Sie hörte ihn selbst das Wort sprechen, nicht mehr fern, – nein, so als ⎣wenn er mit ihr im gleichen Raume wäre, seine Lippen hauchten es an den ihren: Komm’ bald! sagte er, aber es hieß: Sei mein! sei mein! Und sie öffnete ihre Arme, als müßte sie sich vorbereiten, wie man einen Geliebten ans Herz drückt, und sie sagte: Ich liebe Dich! und hauchte einen Kuß in die Luft. Endlich erhob sie sich und kleidete sich an. Sie hatte diesmal ein ein faches graues Kleid in englischem Schnitt mitgenommen, das ihr nach allge meinem Ausspruch sehr gut stand, und war mit sich ganz zufrieden, als sie ihre Toilette beendigt hatte. Sie sah wohl nicht aus wie eine vornehme Dame aus Wien, aber doch auch nicht wie eine vornehme Dame aus der Provinz; am ehesten, schien ihr, wie eine Gouvernante in einem gräflichen oder fürstlichen Hause. Ja, in der That, sie hatte etwas Fräuleinhaftes; Niemand hätte sie für eine Frau, für die Mutter eines fünfjährigen Knaben gehalten. Freilich, dachte sie mit einem leichten Seufzer, sie hatte immer eher gelebt wie ein junges Mädchen. Aber darum war ihr heut auch zu Muth wie einer Braut. Neun Uhr. Noch zwei lange Stunden. Was sollte sie bis dahin thun? Sie ließ sich Kaffee bringen, setzte sich an den Tisch, schlürfte langsam die Tasse ⎣aus. Es hatte keinen Sinn, länger zu Haus zu bleiben. Lieber gleich hinaus ins Freie. Sie spazierte eine Weile in den Gassen der Vorstadt herum und empfand das Streichen der Luft um ihre Wangen wie ein besonderes Vergnügen. Was mochte jetzt ihr Bub machen? Wahrscheinlich spielte Elly mit ihm. Bertha schlug den Weg nach dem Volksgarten ein; sie freute sich darauf, in den Alleen spazieren zu gehen, in denen sie vor vielen Jahren als Kind gespielt. Durch das Thor gegenüber dem Burgtheater betrat sie den Garten. Um diese frühe Stunde war er spärlich besucht. Kinder spielten auf dem Kies, auf den Bänken saßen Bonnen und Kindermädchen, ganz kleine Mädchen liefen über die Stufen des Theseus Tempels und unter seinen Säulengängen herum. In den schattigen Alleen ergingen sich meist ältere Leute; junge Männer, die aus

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einem Mal] einemmal GW gedacht] gedacht hatte GW Komm’] Komm GW Komm’] Komm GW Niemand] niemand GW Freilich,] Fr eilich EA Freilich GW zu Muth] zu Mut EA zumut GW

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großen Heften zu studiren schienen, Damen, die in Büchern lasen, hatten unter kühlen Bäumen Platz genommen. Bertha setzte sich auf eine Bank und sah zwei kleinen Mädchen zu, die über eine Schnur sprangen, wie sie es als Kind – ihr schien es, ganz an der gleichen Stelle – so oft gethan. Sanfter Wind strich durch das Laub, von Weitem hörte sie das Rufen und Lachen von Kindern, die Fangen spielten; ⎣das kam immer näher: jetzt liefen sie alle an ihr vorbei. Ein junger Herr in einem langen Gehrock ging langsam an ihr vorüber und wandte sich am Ende der Allee noch einmal nach ihr um, was sie angenehm ⎡berührte. Dann kam ein sehr junges Paar vorbei, sie mit einer Notenrolle in der Hand, nett, aber etwas auffallend angezogen, er glattrasirt, mit lichtem Sommeranzug und Cylinder. Bertha erschien sich sehr erfahren, da sie in ihm einen angehenden Schauspieler, in ihr eine Musikschülerin mit Sicherheit zu erkennen glaubte. Es war sehr behaglich, hier zu sitzen, nichts zu thun zu haben, allein zu sein und die Menschen so an sich vorbei gehen, laufen, spielen zu lassen. Ja, das wäre schön, in Wien leben und machen zu können, was man will. Nun, wer weiß, wie sich Alles fügen, was die nächste Stunde bringen, wie heute Abend der Ausblick ins Dasein vor ihr liegen wird. Was zwingt sie denn eigentlich, in der entsetzlichen, kleinen Stadt zu leben? So wie sie sich dort durch Lektionen ihr Einkommen verbessert, so könnte sie’s doch auch hier thun. Ja, warum nicht? Hier werden die Lektionen auch besser bezahlt, und . . . Ah, was für ein Einfall! . . . Wenn er ihr zu Hilfe käme, wenn er, der berühmte Musiker, sie empfähle? Von ihm brauchte es doch ⎣ gewiß nur ein Wort. Wenn sie mit ihm darüber spräche? Und wäre es nicht auch sehr vortheilhaft im Hinblick auf ihren Buben? In wenig Jahren muß er auf ein Gymnasium, und die sind hier doch gewiß besser als daheim. Nein, es ist gar nicht möglich, daß sie ihr ganzes Leben in der kleinen Stadt verbringt, – in absehbarer Zeit muß sie nach Wien! Ja, auch wenn sie sich hier einschränken muß, und – und . . . Vergeblich versucht sie die kühnen Gedanken zurückzu drängen, die nun herangestürmt kommen . . . Wenn sie Emil gefällt, wenn er sie wieder . . . wenn er sie noch immer liebt . . . wenn er sie zur Frau begehrt –? Wenn sie nur ein wenig klug ist, wenn sie sich nichts vergiebt, wenn sie es versteht, ihn zu fesseln. – Sie schämt sich ein wenig ihrer Schlau heit . . . aber ist es denn so schlimm, daß sie daran denkt, da sie ihn ja liebt?

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Weitem] weitem GW näher:] näher; GW und] u d EA Cylinder] Zylinder GW vorbei gehen] vorbeigehen GW und] nd EA machen zu] machen EA GW Alles] alles GW heute] heut GW vortheilhaft] vorteilhaft EA liebt . . .] liebt . . . . EA GW vergiebt] vergibt GW fesseln.] fesseln EA GW denkt,] denkt; EA GW u

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Da sie nie einen Andern geliebt hat, als ihn? Und giebt ihr nicht der ganze Ton seines Briefs ein Recht daran zu denken? Und wie ihr jetzt einfällt, daß sie ihm, dem diese Hoffnungen zustreben, in einigen Minuten gegenüber treten soll, flimmert es ihr vor den Augen. Sie steht auf, sie schwankt beinah. Dort am Ausgang des Gartens gegen den Burgplatz sieht sie das junge Paar ver schwinden, das früher an ihr ⎣vorüber gegangen ist; sie nimmt den gleichen Weg. Drüben sieht sie die Kuppel des Museums ragen und glänzen. Sie will langsam gehen, um nicht allzu erregt oder gar athemlos zu erscheinen, wenn er sie erblickt. Noch einmal durchschießt es sie wie eine Furcht: – wenn er nicht kommt? Aber wie es immer sei: sie wird diesmal Wien nicht verlassen, ohne ihn gesehen zu haben. Ob es nicht sogar besser wäre, wenn er heute nicht hinkäme? Sie ist jetzt so verwirrt . . . wenn sie irgend etwas Dummes, Ungeschicktes sagte . . . ? Vom nächsten Augenblick hängt so viel ab – ihre ganze Zukunft vielleicht . . . Das Museum liegt vor ihr. Nun über die Stufen, durch den Eingang, und sie steht in der großen, kühlen Vor halle, sieht die mächtige Treppe vor sich, und dort, wo sie sich nach rechts und links scheidet, das ungeheure Marmorstandbild des Theseus, der den Minotauros erschlägt. Langsam steigt sie hinauf, blickt um sich, wird ruhiger. Die Pracht ringsum nimmt sie gefangen. Sie schaut in die Höhe, zu den Galerieen, die im Innern der Kuppel mit goldenen Geländern laufen, – sie hält inne. Hier eine Thür, darüber in goldenen Lettern: Niederländische Schule. Jetzt zuckt ein Stich durch ihr Herz. Die Flucht der Säle liegt vor ihr. Sie sieht da und dort Leute ⎣vor den Bildern stehen. Sie tritt in den ersten Saal, be trachtet das erste Bild, das gleich am Eingang hängt, mit Aufmerksamkeit. Die Mappe des Herrn Rupius fällt ihr ein. Und jetzt hört sie die Worte: „Guten Morgen, Bertha.“

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* * ⎡Es ist seine Stimme. Sie wendet sich um. Er steht vor ihr, jung, schlank, vornehm, etwas blaß, mit einem Lächeln, das nicht ganz ohne Spott scheint, und nickt ihr zu, indem er zugleich ihre Hand nimmt und eine Weile in der seinen behält. Er ist’s, und es ist gerade, als wenn sie einander gestern das letzte Mal gesprochen hätten. „Grüß Dich Gott, Emil,“ sagt sie, und Beide schauen einander an. In seinem Blick ist mancherlei: Vergnügen, Liebens würdigkeit und irgend etwas Prüfendes. All das fühlt sie sehr genau, während sie ihn mit Augen anschaut, in denen nichts ist als lauteres Glück. „Also wie geht’s Dir denn?“ fragt er. „Gut.“

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Andern] andern GW giebt] gibt GW Recht] Recht, GW gegenüber treten] gegenübertreten GW vorüber gegangen] vorübergegangen GW athemlos] atemlos EA letzte Mal] letztemal GW Beide] beide GW

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„Komisch frag’ ich eigentlich, nach acht oder neun Jahren. Es ist Dir wahrscheinlich sehr verschieden ergangen.“ „Das ist schon wahr: Du weißt ja, daß mein ⎣Mann vor drei Jahren gestorben ist.“ Sie fühlt sich verpflichtet, ein betrübtes Gesicht zu machen. „Ja, das weiß ich; auch daß Du einen Buben hast, weiß ich. Wer hat’s mir denn nur erzählt?“ „Wer?“ „Na, es wird mir schon einfallen. Aber daß Du Dich für Bilder interessierst, ist mir neu.“ Sie lächelt. „Es war auch wirklich nicht wegen der Bilder allein. Aber für gar so dumm darfst Du mich nicht halten. Ich interessier’ mich schon für Bilder.“ „Ja, ich auch. Wenn ich die Wahrheit sagen soll: lieber als alles Andere möcht’ ich doch ein Maler sein.“ „Du könntest doch mit dem ganz zufrieden sein, was Du erreicht hast.“ „Na, das ist nicht so mit einem Wort zu erledigen. Es ist mir ja ganz angenehm, daß ich schön Violin spielen kann, aber was bleibt davon übrig? Ich meine, wenn ich einmal tot bin, – höchstens mein Name auf kurze Zeit. Das –“ seine Augen wiesen auf das Bild, vor dem sie standen – „das ist doch was Anderes.“ „Du bist schrecklich ehrgeizig.“ Er sah sie an, aber ohne sich um sie zu ⎣kümmern. „Ehrgeiz? Na, so einfach ist das nicht. – Aber lassen wir das. Sonderbare Idee, theoretische Gespräche über Kunst zu führen, wenn man sich hundert Jahre lang nicht ge sehen hat! Also red’ doch was, Bertha! Was machst Du denn immer? Wie lebst Du denn? Und was ist Dir eigentlich eingefallen, mir zu dem dummen Orden zu gratuliren?“ Sie lächelte wieder. „Ich hab’ Dir wieder einmal schreiben wollen. Und hauptsächlich: ich hab’ wieder einmal was von Dir hören wollen. Wirklich sehr lieb, daß Du mir gleich geantwortet.“ „Gar nicht lieb, mein Kind. Ich hab’ mich so gefreut, wie plötzlich Dein Brief – ich habe Deine Schrift sofort erkannt. Du hast nämlich noch immer die Schulmädelschrift, wie . . . na, sagen wir: einst, obwohl ich solche Worte nicht gut leiden kann.“ „Warum denn?“ fragte sie etwas erstaunt. Er schaute sie an, dann sagte er rasch: „Also wie lebst Du? Du mußt Dich doch für gewöhnlich sehr langweilen.“ „Dazu hab’ ich nicht viel Zeit,“ erwidert sie ernst, „ich gebe nämlich Lektionen.“ 2306 2308 2311 2317 2327 2330

interessierst] interessirst EA interessier’] interessir’ EA Andere] andere GW Anderes] anderes GW geantwortet] geantwortet hast GW wie . . .] wie . . GW

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„Oh!“ sagt er mit einem Ton so unverhält⎣nißmäßigen Bedauerns, daß sie sich veranlaßt fühlte, rasch hinzuzusetzen: „Oh, nicht grad, weil ich’s dringend brauche, – immerhin es kommt ⎡mir schon zustatten, denn . . . .“ Sie fühlt, daß sie am besten thut, ganz aufrichtig mit ihm zu sein: „Von dem Wenigen, was ich hab’, könnt’ ich kaum leben.“ „Worin unterrichtest Du denn eigentlich?“ „Worin? Hab’ ich Dir nicht gesagt, daß ich Klavierlektionen gebe?“ „Klavier? So? Ja richtig . . . Du warst sehr talentirt. Wenn Du damals nicht ausgetreten wärst . . . . Siehst Du, eine von den großen Pianistinnen wärst Du ja nicht geworden, aber für gewisse Dinge hast Du eine ganz ausgesprochene Begabung gehabt. Zum Beispiel, Chopin und die kleinen Sachen von Schumann hast Du sehr hübsch gespielt.“ „Du erinnerst Dich noch?“ „Im übrigen, Du hast doch den besseren Theil erwählt.“ „Wieso?“ „Nun, wenn man nicht das Ganze beherrscht, so ist es schon besser, man nimmt einen Mann und kriegt Kinder.“ ⎣„Ich hab’ nur eins.“ Er lachte. „Erzähl’ mir was von dem einen. Und überhaupt von Deiner ganzen Existenz.“ Sie nahmen in einem kleinen Saal vor den Rem brandts auf dem Divan Platz. „Was soll ich Dir von mir erzählen? Das ist gar nicht interessant. Erzähl’ mir Du lieber von Dir.“ Sie sah ihn mit Bewunderung an. „Dir ist es ja großartig gegangen, Du bist ja so berühmt.“ Er zuckte ganz leicht, wie unzufrieden, mit der Unterlippe. „Nun ja,“ sagte sie unbeirrt, „erst neulich hab’ ich Dein Bild in einer illustrirten Zeitung gesehen.“ „Ja, ja,“ sagte er ungeduldig. „Ich hab’s aber immer gewußt,“ setzte sie fort. „Erinnerst Du Dich noch, wie Du damals bei der Schlußprüfung das Mendelssohn Concert gespielt hast, da haben’s schon Alle gesagt.“ „Ich bitte Dich, mein liebes Kind, wir werden uns doch nicht gegenseitig Complimente machen! Was war Dein verstorbener Mann eigentlich für ein Mensch?“ „Ein braver, ja ein edler Mensch.“

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unverhältnißmäßigen] unverhältnismäßigen GW denn . . . .] denn . . EA GW Wenigen] wenigen GW den besseren Theil] das bessere Teil EA GW Mendelssohn Concert] Mendelssohn-Konzert GW Alle] alle GW Complimente] Komplimente GW

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„Weißt Du übrigens, daß ich Deinem Vater etwa acht Tage vor seinem Tod begegnet bin?“ ⎣„So?“ „Das weißt Du nicht?“ „Er hat bestimmt nichts davon erzählt.“ „Wir sind vielleicht eine Viertelstunde auf der Straße mit einander ge standen. Ich kam damals gerade von meiner ersten Concertreise zurück.“ „Kein Wort hat er mir erzählt – aber kein Wort!“ Sie sagte es beinahe zornig, als hätte ihr Vater damals etwas verabsäumt, was ihr künftiges Leben hätte anders gestalten können. „Aber warum bist Du damals nicht zu uns gekommen? Wie kommt das überhaupt, daß Du plötzlich ausbliebst, schon lang vorher?“ „Plötzlich? Allmählich.“ Er sah sie lang an, und diesmal glitten seine Augen über ihren ganzen Körper herab, sodaß sie unwillkürlich ihre Füße unter’s Kleid und die Arme näher an ihren Leib zog, wie um sich zu ver theidigen. „Also wie kam das eigentlich mit Deiner Heirath?“ Sie erzählte die ganze Geschichte, Emil hörte ihr scheinbar aufmerksam zu, doch während sie noch weitersprach und sitzen blieb, stand er auf und sah durch’s ⎡Fenster ins Freie. Als sie mit einer Bemerkung über die Gutherzigkeit ihrer Verwandten geendet, ⎣sagte er: „Wollen wir uns jetzt nicht, da wir nun einmal da sind, ein paar Bilder anschauen?“ Sie gingen langsam durch die Säle, da und dort vor einem Bild verweilend, Bertha sagte manchmal: „Schön, wunderschön!“ Er nickte dann nur mit dem Kopf. Es schien ihr, als wenn er ganz vergäße, daß er mit ihr hier sei. Sie empfand eine leichte Eifersucht auf das Interesse, das ihm die Gemälde einflößten. Plötzlich fand sie sich vor einem der Bilder, das sie aus der Mappe des Herrn Rupius kannte. Während Emil vorüber wollte, blieb sie stehen und begrüßte das Bild wie einen alten Bekannten. „Wunderschön! Emil!“ rief sie. „Nicht wahr, schön ist das? Ueberhaupt hab’ ich die Bilder von Falckenborgh sehr gern.“ Er blickte sie etwas befremdet an. Sie wurde verlegen und versuchte weiter zu reden: . . . . . „weil so ungeheuer viel, – weil die ganze Welt . . . .“ Sie fühlte, daß sie unehrlich war, ja, daß sie Jemanden bestähle, der sich nicht wehren konnte, und setzte daher, wie reuig, hinzu: „Nämlich ein Herr bei uns in der Stadt hat ein

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Tod] Tode GW mit einander] miteinander GW Concertreise] Konzertreise GW sodaß] so daß GW unter’s] unters GW Heirath] Heirat EA weitersprach] weiter sprach GW verweilend,] verweilend. GW reden: . . . . .] reden: . . . . EA GW Jemanden] jemanden GW

durch’s] durchs GW

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Album, oder vielmehr eine Mappe mit Stichen, und daher kenn’ ich dieses Bild. Ein gewisser Rupius; er ist schwer krank, denk’ Dir, ganz ge⎣lähmt.“ Sie erschien sich verpflichtet, Emil das alles mitzutheilen, denn ihr war, als fragten seine Augen ununterbrochen. Jetzt sagte er lächelnd: „Das wäre auch ein Kapitel. Es giebt ja bei Euch gewiß auch Herren,“ er setzte leiser hinzu, als schämte er sich ein wenig des unzarten Scherzes, „die nicht gelähmt sind.“ Ihr war es, als müßte sie den armen Herrn Rupius in Schutz nehmen, und sie sagte: „Er ist ein sehr unglücklicher Mensch.“ Sie erinnerte sich, wie sie gestern bei ihm auf dem Balkon gesessen, und großes Mitleid ergriff sie. Aber Emil, der seinem eigenen Gedankengang folgte, sagte: „Ja, das möcht’ ich eigentlich gern wissen, was Du erlebt hast.“ „Du weißt’s ja.“ „Ich meine, seit dem Tod Deines Mannes.“ Sie verstand jetzt, was er meinte, und war ein wenig verletzt. „Ich lebe nur für meinen Buben,“ sagte sie bestimmt. „Ich lasse mir nicht den Hof machen. Ich bin sehr anständig.“ Er mußte über die komisch ernste Art lachen, in der sie dieses Geständniß ihrer Tugend ablegte. Sie fühlte auch gleich, daß sie das hätte anders aus drücken sollen, und so lachte sie mit. ⎣„Wie lange bleibst Du denn in Wien?“ fragte Emil. „Bis morgen oder übermorgen.“ „So kurz? Und wo wohnst Du denn eigentlich?“ „Bei meiner Cousine,“ erwiderte sie. Irgend etwas hielt sie davon ab, zu erwähnen, daß sie in einem Hôtel abgestiegen wäre. Aber sie ärgerte sich gleich über diese dumme Lüge und wollte sich verbessern. Doch Emil sagte rasch: „Du wirst wohl für mich auch ein wenig Zeit übrig haben, hoff ’ ich.“ „O ja.“ „Also da könnten wir ja gleich etwas besprechen.“ Er sah auf die Uhr. „Oh!“ „Mußt Du fort?“ fragte sie. „Ja, ich sollte eigentlich schon um zwölf . . .“ Ein heftiges Unbehagen überfiel sie, daß sie so bald wieder allein sein sollte, und sie sagte: „Ich habe Zeit, soviel Du willst. Natürlich darf es nicht zu spät sein.“ „Ist Deine Cousine so streng?“ ⎡„Aber –“ sagte sie, „diesmal wohn’ ich ja gar nicht bei ihr.“ Er sah sie verwundert an. ⎣Sie wurde roth. „Nur sonst . . . ich meine, manchmal . . . weißt Du, sie hat so viel Familie . . .“

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giebt] gibt GW Geständniß] Geständnis GW roth] rot EA manchmal . . .] manchmal . . EA GW Familie . . .] Familie . . EA GW

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„Also Du wohnst im Hôtel,“ sagte er etwas ungeduldig. „Nun, da bist Du ja Niemandem Rechenschaft schuldig, und wir können den Abend ganz gemüthlich miteinander verbringen.“ „Aber sehr gern. Ich möchte keineswegs zu spät . . . . auch im Hôtel möcht’ ich nicht zu spät . . . .“ „Aber nein, wir werden einfach nachtmahlen und um zehn kannst Du schon lange im Bett liegen.“ Sie schritten langsam die große Stiege hinab. „Also wenn’s Dir recht ist,“ sagte Emil, „treffen wir uns um sieben Uhr.“ Sie wollte erwidern: „So spät?“, doch sie unterdrückte es, da sie ihres Vorsatzes gedachte, sich nichts zu vergeben. „Ja, um sieben.“ „Und zwar . . . wo? . . . . Im Freien, denk’ ich? Da können wir dann noch immer hin, wohin es uns beliebt, da liegt sozusagen das Leben vor uns . . . ja.“ Er schien ihr jetzt auffallend zerstreut. Sie gingen durch die Vorhalle. Am Ausgang blieben sie stehen. „Um sieben also – bei der Elisabethbrücke.“ „Ja, schön; um sieben bei der Elisabethbrücke.“ Vor ihnen lag im Mittagssonnenglanz der ⎣Platz mit dem Maria Theresien Denkmal. Es war warm, aber ein sehr heftiger Wind hatte sich erhoben. Es kam Bertha vor, als wenn Emil sie prüfend betrachtete. Zu gleich schien er ihr kühl und fremd, ein ganz Anderer als drin vor den Bildern. Jetzt sprach er: „Nun wollen wir uns adieu sagen.“ Sie fühlte sich wie unglücklich, daß er sie verlassen wollte. „Willst Du mich nicht . . . oder kann ich Dich nicht ein Stück begleiten?“ „Ach nein,“ sagte er. „Außerdem stürmt es so. Nebeneinander gehen und den Hut halten müssen, daß er nicht davonfliegt, ist ein mäßiges Vergnügen. Ueberhaupt redet sich’s nicht gut auf der Straße, und dann muß ich mich auch so beeilen . . . aber darf ich Dich vielleicht zu einem Wagen bringen?“ „Nein, nein, ich gehe zu Fuß.“ „Kann man auch thun. Also grüß’ Dich Gott und auf Wiedersehen heute Abend.“ Er reichte ihr die Hand und eilte rasch über den Platz davon. Sie sah ihm lang nach; er hatte den Hut abgenommen und hielt ihn in der Hand, während der Wind in seinen Haaren wühlte. Er ging über den Ring, dann durch’s Burgthor und verschwand ihren Blicken. Unwillkürlich war sie ihm sehr langsam nach gegangen. Warum war er plötzlich so kühl geworden? Warum hatte er sich so rasch entfernt? Warum 2449 2450 2451 2452 2465f. 2468 2469 2472 2481

Niemandem] niemandem GW gemüthlich] gemütlich EA spät . . . .] spät . . EA GW spät . . . .] spät . . EA GW Maria Theresien Denkmal] Maria Theresien Denkmal EA Maria Theresien-Denkmal GW Anderer] anderer GW adieu] Adieu GW Nebeneinander gehen] Nebeneinandergehen GW durch’s] durchs GW

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wollte er nicht von ihr begleitet sein? Schämte er sich ihrer? Sie schaute an sich herunter, ob sie nicht doch vielleicht provinzmäßig und lächerlich ange zogen sei. O nein! Und überdies hatte sie an der Art, wie die Leute sie ansahen, bemerken können, daß sie nicht lächerlich, sondern sehr hübsch aussah. Also warum dieser plötzliche Abschied? Sie besann sich der Zeit von früher, und es kam ihr vor, als hätte er damals auch diese sonderbare Weise gehabt, ganz unvermuthet ein Gespräch abzubrechen, indem er plötzlich wie entrückt war und sich in seinem ganzen Wesen eine Ungeduld aussprach, die er nicht meistern konnte. Ja, gewiß, das war damals auch so gewesen. Vielleicht minder auf fallend als jetzt. Sie erinnerte sich auch, daß sie damals zuweilen über seine Launenhaftigkeit gescherzt und seine „Künstlernatur“ dafür verantwortlich gemacht ⎡hatte. Und seitdem war er ein größerer Künstler und gewiß noch zerstreuter und unberechenbarer geworden. Die Mittagsglocken tönten von vielen Thürmen, der Wind wurde immer heftiger, Staub flog ihr in die Augen. Sie hatte eine ganze Ewigkeit vor sich, mit der sie nichts anzufangen wußte. Warum wollte ⎣er sie denn erst um sieben sehen? Unbewußt hatte sie darauf gerechnet, er würde den ganzen Tag mit ihr verbringen. Was hatte er denn zu thun? Mußte er sich vielleicht für sein Concert vorbereiten? Und sie stellte sich ihn vor, die Violine in der Hand, an einen Schrank, oder ans Piano gelehnt, so wie er ihr vor vielen Jahren bei ihr zuhause vorgespielt. Ja, das wäre schön, jetzt auch dabei sein zu können, in seinem Zimmer sitzen, auf dem Sopha, während er spielte, oder gar ihn auf dem Klavier zu begleiten. Wäre sie wohl zu ihm gekommen, wenn er sie gebeten? Warum hat er es nicht gethan? Nein, das konnte er doch nicht in der ersten Stunde des Wiedersehens . . . . Aber abends – wird er sie heute Abend bitten? Und wird sie ihm folgen? Und wenn sie ihm folgt, wird sie ihm irgend etwas Anderes verweigern können, um das er sie bitten wird? Er hat ja eine Art, Alles so harmlos auszudrücken. Wie er nur über diese ganzen zehn Jahre weggekommen ist! – Hat er nicht mit ihr gesprochen, als hätten sie einander in der Zwischenzeit täglich gesehen? „Guten Morgen, Bertha. Wie geht’s Dir denn?“ Ungefähr wie man fragt, wenn man am Abend vorher „Gute Nacht!“ und „Auf Wiedersehen!“ gesagt hat. Und was hat er seither Alles ⎣erlebt! – Und wer weiß, wer heut Nachmittag auf dem Divan sitzt in seinem Zimmer, während er am Klavier lehnt und spielt . . . . Ah nein! daran will sie nicht denken. Wenn sie es wirklich ausdenkt, muß sie da nicht einfach wieder nach Hause reisen?

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unvermuthet] unvermutet EA Concert] Konzert GW zuhause] zu Hause GW Sopha] Sofa GW1922 oder gar] oder GW Anderes] anderes GW Alles] alles GW Alles] alles GW und] nd EA u

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Sie ging am Gitter des Volksgartens vorüber und konnte die Allee sehen, in der sie vor einer Stunde gesessen und durch die jetzt Wolken von Staub fegten. Also das, wonach sie sich so sehr gesehnt, war vorüber, – sie hatte ihn wiedergesehen. War es so schön gewesen, wie sie sich erwartet? Hatte sie irgend etwas Besonderes gefühlt, während er an ihrer Seite gegangen, sein Arm den ihren gestreift? – Nein. Hat sie sein Abschied verstimmt? – Vielleicht. Möchte sie wieder fort, ohne ihn wiederzusehen? – Um Gottes willen, nein! Es durchfährt sie wie ein Schreck bei diesem Gedanken. Ist denn ihr Leben nicht seit einigen Tagen wie erfüllt von ihm? Und haben die ganzen Jahre, die hinter ihr lagen, überhaupt einen andern Sinn gehabt, als sie wieder zur rechten Zeit ihm entgegen zu führen? – Ah, wenn sie nur etwas mehr Erfahrung hätte, wenn sie etwas lebensklüger wäre! Sie möchte die Fähigkeit haben, sich selbst einen be⎣stimmten Weg vorzuzeichnen. Sie fragt sich, was das Vernünftigere wäre: zurückhaltend oder hingebend zu sein. Sie möchte wissen, was sie heute Abend thun darf, thun soll, womit sie ihn sicher gewinnen könne. Sie fühlt, daß sie ihn durch Alles erringen, daß sie ihn auch durch Alles verlieren kann. Aber sie weiß auch, daß ihr alles Nachsinnen nichts hilft und daß sie thun wird, was er will. *

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* * ⎡Sie ist vor der Votivkirche, wo die vielen Straßen sich kreuzen. Hier bläst der Wind ganz unerträglich. Es wird Zeit zum Mittagessen. Aber sie will heute nicht in ihr kleines Hotel zurück. Sie wendet sich gegen die innere Stadt. Es fällt ihr plötzlich ein, daß sie ihrer Cousine begegnen könnte, aber das ist ihr ganz gleichgiltig. Oder wenn gar ihr Schwager ihr nachgefahren wäre? Auch dieser Gedanke stört sie nicht im Geringsten. Sie hat ein Gefühl des Verfügungsrechts über ihre Person und ihre Zeit, wie nie zuvor. Sie schlendert gemächlich durch die Straßen, vergnügt sich damit, die Auslagen zu betrachten. Auf dem Stephansplatze hat sie den Einfall, auf eine Weile in die Kirche zu treten. In dem dämmrigen, kühlen Riesenraum überkommt sie ein tiefes Wohlgefühl. Sie ist niemals fromm gewesen, doch in Gotteshäuser tritt sie nie ⎣ohne Andacht, und ohne ihre Gebete in eine bestimmte Form zu kleiden, hat sie doch stets irgend eine Art gesucht, ihre Wünsche zum Himmel empor zu senden. Sie wandelt in der Kirche zuerst umher wie eine Fremde, die einen schönen Bau besichtigt. Vor einem kleinen Altar in einer Seiten kapelle setzt sie sich auf eine Bank. Der Tag ihrer Trauung fiel ihr ein, und sie sah sich mit ihrem ver storbenen Mann vor dem Priester stehen, – aber das war so unendlich weit

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2524 Hatte] Hat EA GW 2534 könne] könnte GW auch durch Alles] auch durch alles GW 2535 ihn durch Alles] ihn durch alles GW 2537/2538 Abschnittstrennung fehlt EA GW 2542 gleichgiltig] gleichgültig GW 2543 Geringsten] geringsten GW 2544 Verfügungsrechts] Verfügungsrechtes GW

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und berührte ihre Seele so wenig, als wenn sie an ganz fremde Menschen dächte. Doch plötzlich, wie ein Bild in einer Zauberlaterne sich ändert, sah sie statt ihres Mannes Emil an ihrer Seite, und so gänzlich ohne Mithilfe ihres ⎡Willens schien dieses Bild dazustehen, daß es ihr wie eine Ahnung, ja wie eine vom Himmel gesandte Vorhersage scheinen wollte. Unwillkürlich faltete sie die Hände und sagte leise: „Laß’ es so werden.“ Und als käme ihrem Wunsche dadurch noch bessere Kraft, blieb sie auf der Bank eine Weile sitzen und ver suchte, das Bild festzuhalten. Nach einigen Minuten trat sie wieder auf die Straße, wo das volle Licht und der Lärm sie als etwas so Neues, so lang nicht Erlebtes anmuthete, als hätte sie ganze Stunden in der Kirche ⎣verbracht. Sie fühlte sich ruhig und wie von Hoffnungen umschwebt. In einem vornehmen Hotelrestaurant in der Kärnthnerstraße speiste sie zu Mittag. Sie war gar nicht befangen und fand es recht kindisch, daß sie nicht lieber in einem Gasthof ersten Ranges abgestiegen war. Wieder zuhause in ihrem Zimmer angelangt, kleidete sie sich aus; sie war durch die ungewohnt reichliche Mahlzeit und den genossenen Wein in einen solchen Zustand von Mattigkeit gerathen, daß sie sich auf dem Divan ausstreckte und einschlief. Erst um fünf Uhr erwachte sie. Sie hatte keine rechte Lust, sich zu erheben. Sonst um diese Stunde . . . . Was thäte sie jetzt wohl, wenn sie nicht nach Wien gereist wäre? Wenn er ihr nicht geantwortet – wenn sie ihm nicht ge schrieben? Wenn er keinen Orden bekommen? Wenn sie nie sein Bild in einer illustrirten Zeitung gesehen? Wenn nichts sein Dasein ihr ins Gedächt niß zurückgerufen hätte? Wenn er ein kleiner, unbekannter Geiger in irgend einem Vorstadt Orchester geworden wäre? Was für sonderbare Gedanken! Liebt sie ihn denn, weil er berühmt ist? Was bedeutet ihr das Alles? Ja, interessirt sie sich denn überhaupt für sein Violinspiel? . . . Wär’ es ihr nicht lieber, wenn er nicht berühmt ⎣und bewundert wäre? – Gewiß, da würde sie sich ihm viel näher, viel verwandter fühlen, da hätte sie nicht diese Unsicherheit ihm gegenüber, und auch er wäre anders zu ihr. – Er ist ja auch jetzt sehr liebenswürdig, und doch . . . jetzt kommt es ihr zu Bewußtsein . . . irgend etwas ist heute zwischen ihnen gewesen und hat sie getrennt. Ja, und das ist nichts Anderes, als daß er ein Mensch ist, den die ganze Welt kennt, und sie nichts als eine kleine dumme Frau aus der Provinz. Und sie sieht ihn plötzlich vor sich, wie er im Saal vor den Rembrandts gestanden und zum Fenster hinaus geschaut, während sie erzählt hat; wie er ihr kaum Adieu gesagt, und wie er von ihr fortgegangen, ja geradezu geflohen war. Aber hatte sie denn selbst irgend etwas empfunden wie für Jemanden, den man liebt? Ist sie glücklich gewesen, während 2561 2564 2565 2569 2577f. 2580 2581 2587 2592

Laß’] Laß EA GW Neues, so] Neues, EA GW anmuthete] anmutete EA zuhause] zu Hause GW Gedächtniß] Gedächtnis GW Alles] alles GW Wär’] Wär GW Anderes] anderes GW Jemanden] jemanden GW

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er zu ihr sprach? Hat sie sich gesehnt, ihn zu küssen, während er neben ihr stand? . . . Nichts von alledem. Und jetzt – freut sie sich auf den Abend, der kommt? Freut sie sich, ihn in zwei Stunden wiederzusehen? Und wenn sie sich durch einen Wunsch hinversetzen könnte, wohin sie will, wäre sie jetzt vielleicht nicht lieber daheim, bei ihrem Buben, ginge mit ihm zwischen den Weingeländen spazieren ohne Angst, ohne Aufregung, mit gutem ⎣Gewissen, als brave Mutter, als anständige Frau, statt hier in dem ungemüthlichen Hotel zimmer auf einem schlechten Divan zu liegen und unruhig und doch ohne Sehnsucht die nächsten Stunden erwarten? Sie denkt an die Zeit, die noch so nahe ist, da sie sich um nichts gekümmert, als um ihren Buben, um die Wirtschaft und um ihre Lektionen – ist sie da nicht zufrieden, beinahe glücklich gewesen? . . . Sie schaut um sich. Das kahle Hotelzimmer mit den häßlich blau und weiß gemalten Wänden, den Staub und Schmutzflecken oben an der Decke, dem Schrank mit der halboffenen Thüre ist ihr sehr widerwärtig. Nein, das ist nichts für sie! Auch an das Mittagessen in dem vornehmen Hotel denkt sie jetzt mit Unbehagen zurück, ebenso an ihr Umherlaufen in der Stadt, an ihr Müdewerden, an den Wind und den Staub; es ist ihr, als ob sie herumvagabundirt wäre. Und jetzt fällt ihr noch etwas ein: wenn sich zu Hause ⎡irgend was ereignet! – Ihr Kleiner kann Fieber bekommen, man telegraphirt nach Wien an ihre Cousine, oder man kommt gar sie suchen, und man findet sie nicht, und es stellt sich heraus, daß sie gelogen hat, wie irgend eine schlechte Person, die eben Ursache dazu hat . . . . Entsetzlich! wie steht sie da! Vor ihrer Schwägerin, vor dem Schwager, vor Elly, ⎣vor ihrem erwachsenen Neffen, . . . vor der ganzen Stadt, die es ja gleich erfahren wird, . . . vor Herrn Rupius! – Nein, wahrhaftig, sie ist nicht geschaffen für solche Dinge! Wie kindisch, wie ungeschickt hat sie es doch angefangen, sodaß es nur des kleinsten Zufalls braucht, um sie zu verrathen. Ja, hatte sie sich denn das Alles gar nicht überlegt? War sie nur von der Idee besessen gewesen, ihn wiederzusehen und hatte sie dafür Alles aufs Spiel gesetzt . . . . ihren guten Ruf, ja ihre ganze Zukunft?! – Denn wer weiß, ob nicht die Familie sich von ihr lossagt und sie ihre Lektionen verliert, wenn Alles herauskommt? . . . . Alles . . . . Aber was kommt denn heraus? Was ist denn geschehen? Was hat sie sich vorzuwerfen? – Und mit dem beglückenden Gefühl reinen Gewissens darf sie sich antworten: Nichts. Und sie kann ja noch heute . . . gleich jetzt mit dem Sieben Uhr Zug Wien verlassen, um zehn wieder daheim sein in ihrer Woh nung, in ihrem traulichen Zimmer, bei ihrem geliebten Buben . . . Ja, das kann sie; allerdings ist ihr Bub nicht zu Haus, . . . aber sie könnte ihn holen lassen . . . Nein, sie wird es nicht thun, sie wird nicht zurückfahren, . . . nein,

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Stunden] Stunden zu EA sodaß] so daß GW verrathen] verraten EA Alles] alles GW gar nicht] garnicht EA wiederzusehen] wiederzusehen, GW Alles] alles GW wenn Alles] wenn alles GW Alles . . . .] Alles . . . EA GW

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dazu liegt kein Anlaß vor – morgen früh ist’s auch noch nicht zu spät. Sie wird ⎣eben heute Abend von Emil Abschied nehmen, . . . ja, sie wird ihm gleich mittheilen, daß sie morgen früh wieder nach Hause fährt, daß sie über haupt nur gekommen ist, ihm einmal die Hand zu drücken . . . ja, so ist es am besten. Oh, er kann sie auch bis zu ihrem Hotel begleiten, ach Gott, auch mit ihr nachtmahlen, in einem Gartenrestaurant, . . . . und sie wird von ihm gehen, wie sie gekommen . . . . Und überdies, aus seinem Benehmen wird sie ersehen, wie er sich eigentlich zu ihr stellt; sie wird sehr zurückhaltend sein, sogar kühl, und es wird ihr sehr leicht ankommen, denn sie fühlt sich voll kommen ruhig. Es ist ihr, als wären alle Wünsche wieder eingeschlafen, und sie fühlt es wie ihre Bestimmung, eine anständige Frau zu bleiben. Sie hat als junges Mädchen den Versuchungen widerstanden, ihrem Gatten ist sie treu gewesen, ihre ganze Wittwenzeit war bisher ohne Anfechtungen verlaufen, . . . nun, kurz und gut, wenn er sie zu seiner Frau nehmen will, wird sie sehr froh darüber sein, aber jeden kühneren Antrag wird sie mit derselben Strenge ab weisen wie . . . wie . . . vor zwölf Jahren, als er ihr hinter der Paulaner kirche sein Fenster gezeigt. Sie steht auf, sie dehnt sich, reckt die Hände, ⎣ geht zum Fenster. Der Himmel ist trübe geworden, vom Gebirg her ziehen Wolken, aber der Sturm hat sich gelegt. Sie macht sich zum Fortgehen bereit.

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* * Kaum war Bertha ein paar Schritte vom Hotel entfernt, begann es zu regnen. Unter dem aufgespannten Schirm kam sie sich gegen unerwünschte Begegnungen geschützt vor. In der Luft verbreitete sich ein angenehmer Geruch, als sänke mit dem Regen ein Duft der nahen Wälder über die Stadt. Bertha überließ sich ganz dem Vergnügen des Spazierengehens, selbst das Ziel ihres Wegs schwebte ihr nur wie im Nebel vor. Sie war von der Fülle wechselnder Empfindungen endlich so müde geworden, daß sie gar nichts mehr empfand. Sie war ohne Angst, ohne Hoffnung, ohne Vorsatz. Sie ging wieder an den Gärten vorbei über den Ring und freute sich des feuchten Fliederdufts. Heute ⎡Vormittag hatte sie gar nicht bemerkt, daß Alles in violetten Blüthen prangte. Ein Einfall brachte ein Lächeln auf ihre Lippen: sie trat in eine Blumen handlung und kaufte ein kleines Veilchenbouquet. Während sie die Veilchen an den Mund führte, kam eine große Zärtlichkeit über sie; sie dachte: jetzt um

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. . . ja,] . . . GW mittheilen] mitteilen EA drücken . . .] drücken . . EA GW Wittwenzeit] Witwenzeit EA GW wie . . . wie . . .] wie . . . . wie . . . . EA GW gezeigt] gezeigt hat GW unerwünschte] unerwüschte EA Wegs] Weges GW Alles] alles GW Blüthen] Blüten EA Veilchenbouquet] Veilchenbukett GW1922

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sieben geht der Zug ⎣nach Hause ab, und sie freute sich, als hätte sie Jemanden überlistet. Sie ging langsam quer über die Brücke und erinnerte sich, wie sie sie vor wenigen Tagen überschritten, um in die Gegend seiner früheren Wohnung zu kommen und jenes Fenster wiederzusehen. Hier ist das Menschengewühl groß, zwei Ströme, der eine von der Vorstadt in die Stadt, von der Stadt in die Vorstadt der andere, fluthen durcheinander, Wagen aller Art fahren vorbei, Klingeln, Pfeifen, Rufen der Kutscher ertönt, Bertha versucht stehen zu bleiben, wird aber vorwärts geschoben. Plötzlich hört sie ganz nah neben sich einen Pfiff. Ein Wagen hält, ein Kopf beugt sich zum Fenster heraus . . . . e r ist es. Er winkt sie mit den Augen herbei; einige Leute werden sofort auf merksam und haben große Lust zu hören, was der junge Mann der Dame, die an seinen Wagen herantritt, zu sagen hat. Er spricht ganz leise: „Willst Du einsteigen?“ „Einsteigen . . . ?“ „Nun ja, es regnet doch.“ „Ich möcht’ eigentlich lieber zu Fuß gehen.“ „Wie Du willst.“ Emil steigt rasch aus, bezahlt den Kutscher und Bertha merkt mit einigem Schreck, daß etwa ein halbes Dutzend Menschen ringsum sehr ⎣ gespannt sind, wie sich diese merkwürdigen Vorgänge weiter entwickeln werden. Emil sagt zu Bertha: „Komm.“ Rasch übersetzen Beide die Straße und entgehen so dem ganzen Gewühl. Jetzt spazieren sie langsam längs des Wienbetts in einer wenig belebten Straße weiter. „Du hast ja nicht einmal einen Schirm, Emil!“ „Willst Du mich nicht unter den Deinen nehmen? Wart’, so geht das nicht.“ Er nimmt ihr den Schirm aus der Hand, hält ihn über sie Beide und schiebt seinen Arm unter den ihren. Jetzt fühlt sie, es ist s e i n Arm, und freut sich sehr. „Mit dem Land ist’s leider nichts,“ sagt er. „Schade.“ „Also was hast Du den ganzen Tag gemacht?“ Sie erzählt ihm von dem vornehmen Restaurant, in dem sie gespeist. „Ja, warum hab’ ich denn das nicht gewußt? Ich dachte, Du bist bei Deiner Cousine zu Mittag; wir hätten ja so gut zusammen frühstücken können!“ „Du hast ja so viel zu thun gehabt,“ sagt sie, und ist ein wenig stolz, daß sie diesen leichten Ton des Spottes findet. „Nun ja, nachmittags allerdings; eine halbe Oper hab’ ich mir an hören müssen.“

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Jemanden] jemanden GW fluthen] fluten EA ganz nah] ganz GW e r ] er GW Kutscher] Kutscher, EA GW Beide] beide GW Beide] beide GW gespeist] gespeist hat GW

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⎣„Wieso denn?“ „Es war ein junger Komponist bei mir, – übrigens ein sehr talentirter Mensch.“ Sie ist sehr froh; also in dieser Weise verbringt er seine Nachmittage. Er blieb stehen, und ohne ihren Arm auszulassen, blickte er ihr ins Ge sicht. „Weißt Du, daß Du eigentlich viel hübscher geworden bist? Ja, in allem Ernst! Aber jetzt erzähl’ mir einmal aufrichtig, wie Du auf die Idee gekommen bist, mir zu schreiben.“ „Ich hab’ Dir’s ja gesagt.“ „Hast Du denn in der ganzen Zeit an mich gedacht?“ „Sehr viel.“ ⎡„Auch während Du verheirathet warst?“ „Gewiß, ich habe immer an Dich gedacht. Und Du?“ „Oft, sehr oft.“ „Aber . . .“ „Nun, was?“ „Du bist eben ein Mann.“ „Ja, – aber was meinst Du damit?“ „Du hast gewiß Viele lieb gehabt.“ „Lieb gehabt . . . lieb gehabt . . . O ja, auch.“ „Aber ich,“ sagte sie lebhaft, als bräche die ⎣Wahrheit übermächtig aus ihr hervor, „ich habe Niemanden geliebt als Dich.“ Er nahm ihre Hand und führte sie an seine Lippen. Dann sagte er: „Das lassen wir doch lieber dahingestellt.“ „Ich hab’ Dir auch Veilchen mitgebracht.“ Er lächelte. „Sollen die mir’s beweisen? Du hast das so gesagt, als hättest Du nichts Anderes gethan, seit wir uns nicht gesehen, als Veilchen für mich gepflückt oder wenigstens gekauft. Uebrigens, danke schön. Warum hast Du denn nicht in den Wagen einsteigen wollen?“ „Ja, das Spazierengehen ist doch so hübsch.“ „Aber auf die Dauer . . . Wir nachtmahlen doch miteinander?“ „Ja, recht gern. – Hier ist zum Beispiel ein Gasthaus,“ setzte sie eilig hinzu. Sie gingen jetzt durch stillere Gassen. Es dämmerte. Er lachte. „Ah nein, das wollen wir uns doch ein bißchen gemüthlicher einrichten.“ Sie schaute zu Boden. Dann sagte sie: „Wir müssen uns doch nicht an einen Tisch zu fremden Leuten setzen.“ ⎣„Gewiß nicht. Wir werden sogar irgendwohin gehen, wo gar keine andern sind.“ „Was fällt Dir ein!“ sagte sie. „Das thu’ ich nicht.“

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verheirathet] verheiratet EA Viele] viele GW Niemanden] niemanden GW Anderes] anderes GW Ja,] Ja GW

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Er zuckte die Achseln. „Ganz wie Du willst. Hast Du schon Appetit?“ „Nein, gar nicht.“ Sie schwiegen Beide. Dann sagte er: „Werd’ ich nicht einmal Deinen Buben kennen lernen?“ „Gewiß,“ entgegnete sie erfreut. „Wann Du willst.“ Sie begann von ihm zu erzählen und kam dann auf ihre Familie zu sprechen. Emil warf zu weilen eine Frage dazwischen und bald wußte er Alles, was in der kleinen Stadt vorging, bis zu den Bemühungen Klingemanns, von denen Bertha lachend, aber mit einer gewissen Befriedigung berichtete. Die Laternen brannten, auf dem feuchten Pflaster spiegelte das Licht. „Liebes Kind, wir können ja nicht die ganze Nacht auf der Straße herumlaufen,“ sagte Emil plötzlich. „Ja . . . ich kann doch nicht mit Dir . . in ein Restaurant . . . Denke nur, wenn ich zufällig meine Cousine treffe oder sonstwen.“ ⎣„Sei unbesorgt, es wird uns Niemand sehen.“ Rasch trat er in einen Thorweg und schloß den Schirm. „Was willst Du denn?“ Sie sah in einen großen Garten. Nahe den Mauern, von denen aus schützende Segelleinwand gespannt war, saßen Leute an gedeckten Tischen. „Da, meinst Du?“ „Nein. Komm nur.“ Gleich rechts vom Thor befand sich eine kleine Thür, die angelehnt war. „Hier herein.“ Sie befanden sich in einem schmalen, beleuchteten Gang, an dessen beiden ⎡Seiten je eine Reihe von Thüren lief. Ein Kellner grüßte, schritt voraus, an allen Thüren vorbei, die letzte öffnete er, ließ die Gäste eintreten und schloß hinter ihnen wieder zu. In der Mitte des kleinen Zimmers stand ein Tischchen mit drei Gedecken, an der Wand ein blau sammtenes Sopha, gegenüber hing ein goldgerahmter, ovaler Spiegel, vor welchem Bertha ihren Hut abnahm und auf dessen Glas sie die Namen „Irma“ und „Rudi“ eingekritzt sah. Zugleich sah sie im Spiegel, daß Emil hinter sie trat. Er legte seine Hände an ihre Wangen, beugte ihren Kopf nach rückwärts zu sich und küßte sie auf die Lippen. Dann wandte er sich ⎣ab, ohne zu reden, und klingelte. Ein sehr junger Kellner trat sofort ein, als wenn er vor der Thüre gewartet. Nachdem er seinen Auf trag entgegengenommen hatte, ging er, und Emil setzte sich. „Nun, Bertha?“ Sie wandte sich ihm zu, er faßte leicht ihre Hand und ließ sie auch noch nicht los, als Bertha schon in der Sophaecke neben ihm Platz genommen. Unwill kürlich berührte sie mit ihrer andern Hand seine Haare. Ein älterer Kellner trat ein, und Emil stellte das Menu zusammen.

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Beide] beide GW Alles] alles GW Dir . .] dir GW Niemand] niemand GW blau sammtenes] blau samtenes EA Nachdem er] Nachdem der GW Sophaecke] Sofaecke GW

blau-samtenes GW

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Sopha] Sofa GW

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Bertha war mit Allem einverstanden. Als der Kellner verschwunden war, sagte Emil: „Muß man da nicht fragen: warum erst heut?“ „Wie meinst Du das?“ „Warum hast Du mir nicht längst geschrieben?“ „Ja . . . hättest Du früher Deinen Orden bekommen!“ Er hielt ihre Hand in der seinen und küßte sie. „Du kommst ja so oft nach Wien.“ „O nein.“ Er sah auf. „Du hast mir doch sowas Aehnliches geschrieben?“ Sie erinnerte sich jetzt und wurde roth. „Nun ja, . . . manchmal . . . Erst am Montag bin ich da gewesen.“ ⎣Der Kellner brachte Sardinen und Caviar und ging. „Nun,“ sagte Emil, „es ist wahrscheinlich gerade die rechte Zeit.“ „Inwiefern?“ „Daß wir einander wieder begegnet sind.“ „O, ich hab’ mich oft nach Dir gesehnt.“ Er schien nachzusinnen. Dann sagte er: „Und daß es damals so war und nicht anders, ist vielleicht auch gut. Gerade deswegen ist die Erinnerung so wunderschön.“ „Ja, wunderschön.“ Sie schwiegen beide. Dann sagte sie: „Erinnerst Du Dich . . .“ Und nun begann sie von der fernen Zeit zu reden, von den Spaziergängen im Stadtpark, und von seinem ersten Auftreten im Konservatorium. Er nickte zu alldem, hielt seinen Arm auf der Lehne des Sopha und berührte leicht die Haare, die sich ihr im Nacken kräuselten. Zuweilen warf er ein Wort da zwischen. Auch er erinnerte sich; er wußte sogar noch von einem Ausflug, an einem Sonntag Vormittag in die Praterauen, den sie selbst vergessen hatte. „Und weißt Du noch,“ sagte Bertha, „wie wir ⎣uns . . .“ sie zögerte, es auszusprechen, „einmal beinah verlobt haben?“ „Ja,“ sagte er. „Und wer weiß . . .“ Er wollte vielleicht sagen: es wäre das Beste für mich gewesen, wenn ich Dich geheirathet hätte – aber er sagte es nicht. Emil bestellte Champagner. „Es ist noch nicht lang,“ sagte Bertha, „daß ich das letzte Mal Cham pagner getrunken; vor einem halben Jahr, als der fünfzigste Geburtstag meines Schwagers gefeiert wurde.“ Sie dachte an die Gesellschaften bei ihrem Schwager, und es schien ihr wunderbar, wie weit das Alles war: die ganze kleine Stadt

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Allem] allem GW sowas] so was GW roth] rot EA Caviar] Kaviar GW Sopha] Sofas GW1922 geheirathet] geheiratet EA letzte Mal] letztemal GW Alles] alles GW

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⎡und

Alle, die dort lebten. Der junge Kellner brachte den Eiskübel mit dem Wein. In diesem Augenblick fiel es Bertha ein, daß Emil gewiß hier schon manchmal mit anderen Frauen gewesen war. Aber es war ihr ziemlich gleichgiltig. Sie stießen mit den Gläsern an und tranken. Emil umschlang Bertha und küßte sie. Dieser Kuß erinnerte sie an etwas . . . Woran denn nur? . . . An die Küsse von einst, da sie ein junges Mädchen war? . . . An die Küsse ihres Mannes? . . . Nein . . . Und plötzlich fiel es ihr ein: geradeso hatte ihr kleiner Neffe sie neulich geküßt. ⎣Der Kellner brachte Obst und Backwerk. Emil legte für Bertha einige Datteln und Trauben auf den Teller. „Warum sprichst Du nichts?“ fragte Bertha. „Warum läßt Du immer nur mich reden? Und Du könntest doch soviel erzählen!“ „Ich . . ?“ Er schlürfte langsam den Wein. „Nun ja, von Deinen Reisen.“ „Ach Gott, es ist eine Stadt wie die andere. Du darfst ja nicht ver gessen, daß ich nur selten zu meinem Vergnügen reise.“ „Ja, natürlich.“ Sie hatte die ganze Zeit nicht daran gedacht, daß es der berühmte Geigenvirtuose Emil Lindbach war, mit dem sie hier saß, und sie fühlte sich verpflichtet zu sagen: „Nächstens spielst Du ja hier. Ich möchte Dich gern wieder hören.“ Er erwiderte trocken: „Niemand auf der Welt wird Dich daran hindern.“ Es ging ihr durch den Sinn, daß es ihr eigentlich viel lieber wäre, ihn nicht im Concert, sondern für sich allein zu hören. Fast hätte sie’s aus gesprochen, da fiel ihr aber ein, daß das nichts Anderes hieße, als: ich will zu Dir. – Und wer weiß, vielleicht ist sie sehr bald bei ihm. – Ihr ⎣wird so leicht, wie immer, wenn sie etwas Wein getrunken hat . . . Doch nein, es ist anders als sonst; – nicht der sanfte Rausch, in dem sie nur ein wenig heiter wird, es ist besser, schöner. Und nicht die paar Tropfen Wein machen das, das macht die Berührung dieser lieben Hand, die ihr über Stirn und Haare streicht. Er hat sich neben sie gesetzt und zieht ihren Kopf an seine Schultern. So möchte sie einmal schlummern . . . ja, wahrhaftig, nichts Anderes möchte sie. . . . Jetzt hört sie ihn flüstern: „Schatz . . .“ Sie zittert leise. Warum erst heute? Hätte sie das nicht Alles früher haben können? Was hatte das überhaupt für einen Sinn, so zu leben wie sie? . . . Das, was sie jetzt that, war doch nichts Böses . . . Und wie süß war es, den Athem eines jungen Mannes über den Augenlidern zu fühlen. . . . Nein, nein –

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Alle] alle GW In] Jn GW gleichgiltig] gleichgültig GW Mannes? . . .] Mannes? . . . . EA GW Concert] Konzert GW Anderes] anderes GW Anderes] anderes GW sie. . . .] sie . . . . GW Alles] alles GW Athem] Atem EA

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nicht eines jungen Mannes . . . eines Geliebten. . . . Sie hatte die Augen geschlossen. Sie versuchte gar nicht, sie wieder zu öffnen, wollte gar nicht wissen, wo sie war, mit wem sie war. . . . Wer ist’s denn nur? . . Richard? . . . Nein . . . schläft sie denn ein? . . . Sie ist hier mit Emil . . . Mit wem? . . . . Wer ist denn dieser Emil? . . . Wie schwer das ist, sich darüber klar zu werden! . . . ⎣Dieser Hauch über ihren Lidern, ist der Athem ihres Jugendgeliebten – und zugleich der eines berühmten Künstlers, der nächstens ein Concert giebt . . . und zugleich eines Menschen, den sie viele tausend Tage nicht gesehen hat . . . und zugleich der eines Herrn, mit dem sie allein im Restaurant sitzt und der jetzt mit ihr machen kann, was er will. . . . Sie fühlt seinen Kuß auf den Augen. . . . Wie zärtlich er ist . . . und wie schön. . . . Wie sieht er denn nur aus? . . . . Sie braucht nur die Augen zu öffnen, und sähe ihn ganz genau. . . . Aber sie will ihn lieber sich vorstellen, ohne ihn zu sehen. . . . Nein, wie komisch – das ist ja gar nicht sein Gesicht! . . . Das ist ja das des jungen Kellners, der eben hinausgegangen . . . Wie sieht denn nur Emil aus? . . . So –? . . . Nein, nein, das ist ja Richard . . . . . ⎡Aber fort . . fort . . . Ist sie denn so gemein, daß sie an lauter andere Männer denkt, während sie . . . mit ihm. . . . Wenn sie nur die Augen öffnen könnte! . . . Ah! – Sie bewegt sich heftig, sodaß sie Emil beinahe fort stößt, – jetzt reißt sie die Augen weit auf. Emil sieht sie lächelnd an und fragt: „Hast Du mich lieb?“ Sie zieht ihn an sich und küßt ihn selbst, zum ⎣ersten Male heut küßt sie ihn selbst, und zugleich fühlt sie, daß sie jetzt etwas thut, was einem Vor satz von heut Morgen widerspricht . . . Was wollte sie nur? – Sich nichts vergeben, sich versagen . . . Ja, gewiß war irgend ein Moment, in dem sie das wollte, aber warum? Sie hat ihn ja lieb, und der Augenblick ist da, den sie seit Tagen erwartet, – nein, seit Jahren! – Noch immer ruhen ihre Lippen auf einander. . . . Ah, sie möchte in seinen Armen . . . sie möchte ganz die Seine sein! – Er soll nichts mehr reden . . . er soll sie mit sich nehmen . . . . er wird es fühlen, daß ihn keine andere so lieben kann wie sie . . . . . Emil steht auf, geht in dem kleinen Zimmer ein paar Mal hin und her. Sie setzt das Glas wieder an den Mund. Emil sagt leise: „Nicht mehr, Bertha.“ Ja, er hat Recht, – was thut sie denn? will sie sich denn be

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nur? . .] nur? . . . GW Athem] Atem EA Concert] Konzert GW giebt] gibt GW Richard . . . . .] Richard . . . . EA Richard . . . GW sodaß] so daß GW Morgen] morgen GW irgend ein] irgendein GW auf einander] aufeinander GW paar Mal] paarmal GW Recht] recht GW

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rauschen? Braucht es das? Sie ist ja Niemandem Rechenschaft schuldig, sie ist frei, sie ist jung, sie will auch endlich einmal glücklich sein! „Wollen wir nicht gehen?“ sagt Emil. Bertha nickt. Er hilft ihr beim Anlegen der Jacke, sie steht beim Spiegel und steckt die Nadel durch den Hut. Sie gehen. Vor der Thür steht der junge Kellner ⎣und grüßt. Ein Wagen hält vor dem Thor, Bertha steigt ein; sie hört nicht, was Emil dem Kutscher sagt. Emil setzt sich zu ihr. Beide schweigen, eng an einander gedrängt. Der Wagen rollt fort, lang, lang – Wo mag denn Emil nur wohnen? Vielleicht auch läßt er den Kutscher absichtlich einen Umweg machen, weil er weiß, wie angenehm es ist, so zusammen durch die Nacht zu fahren – Der Wagen hält. Emil steigt aus. „Gieb mir Deinen Schirm“, sagt er. Sie reicht ihn aus dem Wagen, er spannt ihn auf. Sie steigt aus; sie stehen Beide unter dem Schirm, auf den der Regen niederprasselt. – Ist das die Gasse, in der er wohnt? – Das Thor öffnet sich; sie treten in den Flur, Emil nimmt dem Portier die Kerze aus der Hand. Eine schöne, breite Stiege. Im ersten Stock schließt Emil eine Thür auf. Sie treten ein, durch einen Vorraum, in einen Salon. Emil entzündet mit der Kerze, die er in der Hand hält, zwei andere auf dem Tisch, dann tritt er zu Bertha, führt sie, die noch an der Thür wie wartend stand, weiter herein, nimmt ihr die Nadel aus dem Hut und legt den Hut auf den Tisch. Im unbestimmten Licht der zwei schwach brennenden Kerzen sieht Bertha nur, daß an der Wand ein paar kolorirte Bilder hängen, – die Porträts ⎣der Majestäten, wie ihr scheint, – daß an der einen Wand ein breiter Divan mit einem persischen Teppich steht und nah dem Fenster ein kleines Pianino mit einer Anzahl eingerahmter Photographieen auf dem Deckel. – Darüber hängt ein Bild, das sie aber nicht zu erkennen vermag. Dort drüben fallen rothe Portièren herab zu Seiten einer Thür, die halb offen steht, – irgend etwas Weißes leuchtet durch die breite Spalte herein. Sie kann die Frage nicht länger zurückhalten: „Wohnst Du hier?“ „Wie Du siehst.“ Sie blickt vor sich hin. Auf dem Tische steht eine Karaffe mit Liqueur und zwei Gläschen, ein kleiner Aufsatz mit Obst und Backwerk. „Ist das Dein Studierzimmer?“ Ihre Augen suchen unwillkürlich nach einem Pult, wie es Geigenspieler brauchen. Er führt sie, den Arm um ihre Taille, vor das Pianino; dort setzt er sich hin, zieht sie auf seine Kniee. ⎡„Ich will’s Dir nur lieber gestehen,“ sagt er dann einfach und beinahe trocken,

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Niemandem] niemandem GW an einander] aneinander GW fahren] fahren. EA GW Gieb] Gib GW Beide] beide GW Photographieen] Photographien GW rothe] rote EA Portièren] Portieren GW Liqueur] Likör GW Kniee] Knie GW

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„ich wohne eigentlich nicht hier. Nur unseretwegen . . . hab’ ich . . . für einige Zeit . . . ich hab’ es für vernünftig gehalten . . . Wien ist nämlich eine Kleinstadt, und ich wollte Dich nicht nachts in meine Wohnung bringen.“ ⎣Sie sieht es ein, und doch ist es ihr nicht ganz recht. Sie blickt auf. Jetzt kann sie die Contouren des Bilds über dem Pianino wahrnehmen: es ist eine nackte Frauengestalt. Bertha hat eine merkwürdige Lust, das Bild ganz genau zu sehen. „Was ist das?“ fragt sie. „Kein Kunstwerk,“ antwortet Emil. Er brennt ein Zündhölzchen an und leuchtet damit in die Höhe. Sie merkt, daß es ein ganz miserables Bild ist, aber es ist ihr zugleich, als sähe das gemalte Weib mit lachenden, frechen Augen auf sie herab, und sie ist froh, wie das Zündhölzchen verlischt. „Du könntest mir jetzt eigentlich,“ sagt Emil, „auf dem Klavier etwas vorspielen.“ Sie wundert sich, daß er so kühl ist. Weiß er denn nicht, daß sie bei ihm ist . . . ? . . . Aber fühlt denn sie selbst etwas Besonderes? . . . Nein . . . eine sonderbare Traurigkeit scheint hier aus allen Ecken zu quellen . . . Warum hat er sie nicht lieber in seine Wohnung genommen? . . . Was mag das für ein Haus sein? . . . Sie bedauert jetzt, daß sie nicht mehr Wein ge trunken . . . Sie möchte nicht so nüchtern sein . . . „Nun, willst Du mir nicht vorspielen?“ sagt Emil. „Denke, wie lang ich Dich nicht gehört habe.“ ⎣Sie setzt sich und greift einen Accord. „Ich hab’ ja Alles verlernt.“ „Versuch’s nur.“ Sie spielt ganz leise das Albumblatt von Schumann, und sie erinnert sich, wie sie vor wenig Tagen daheim spät abends phantasirt hat und Klingemann vor dem Fenster auf und ab spazirt ist; auch an das Gerücht von dem lasciven Bild in seinem Zimmer muß sie denken. Und un willkürlich blickt sie wieder zu der nackten Frau über dem Pianino auf, die jetzt ins Leere schaut. Emil hat sich einen Stuhl neben den ihren gerückt. Er zieht sie an sich und küßt sie, während ihre Finger immer weiter spielen und endlich ruhig auf den Tasten liegen bleiben. Bertha hört, wie der Regen an die Fensterscheiben schlägt, und ein Gefühl von Zuhause Sein kommt über sie. Jetzt war ihr, als wenn Emil sie in die Höhe trüge; ohne sie aus den Armen zu lassen, war er aufgestanden und führte sie langsam. Sie fühlte, wie ihr rechter Arm an der Portière streifte . . . die Augen hielt sie geschlossen.

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Contouren] Konturen GW Bilds] Bildes GW ist . . . ? . . .] ist . . ? . . EA GW genommen? . . .] genommen? . . EA GW sein? . . .] sein? . . EA GW getrunken] getrunken hat GW sein . . .] sein . . GW Accord] Akkord GW Alles] alles GW lasciven] lasziven GW Zuhause Sein] Zuhausesein GW war] ist GW führte] führt GW fühlte] fühlt GW Portière] Portiere GW streifte] streift GW hielt] hält GW

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. . . Ueber ihren Haaren fühlte sie Emils kühlen Athem . . . *

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* * ⎣Als sie auf die Straße traten, hatte der Regen aufgehört, aber in der Luft war eine wunderbare Milde und Feuchtigkeit. Die meisten Laternen waren schon ausgelöscht, erst dort an der Straßenecke brannte wieder eine. Da auch der Himmel noch mit Wolken bedeckt war, so lag eine tiefe Dunkelheit auf dem Weg. Emil hatte Bertha den Arm gereicht, sie gingen schweigend. Eine Thurmuhr schlug: eins. Bertha wunderte sich. Sie hatte den Morgen nahe geglaubt; aber sie freute sich nun, in der weichen, stillen Luft, an seinen Arm gelehnt, stumm durch die Nacht zu wandeln, denn sie liebte ihn sehr. Sie traten auf einen freien Platz; vor ihnen lag die Karlskirche. Emil rief einen Kutscher an, der, auf dem Trittbrett seines offenen Wagens sitzend, eingeschlafen war. „Es ist so schön,“ sagte Emil, „wir können noch ein bißchen spazieren fahren, eh ich Dich in Dein Hotel bringe – ja?“ Der Wagen setzte sich in Bewegung. Emil hatte den Hut abgenommen, ⎡sie legte ihn auf ihren Schooß; auch das that ihr wohl. Sie betrachtete Emil von der Seite, seine Augen schienen ins Weite zu schauen. „Woran denkst Du?“ „Ich . . ? Um die Wahrheit zu sagen, denk’ ich ⎣an eine Melodie aus der Oper, die mir dieser Mensch Nachmittag vorgespielt hat. Aber es wird eine andere daraus.“ „An Melodieen denkst Du jetzt . . . ?“ sagte Bertha lächelnd, aber mit einem leichten Vorwurf. – Wieder ein Schweigen. Der Wagen fuhr langsam über die menschen leere Ringstraße, vorbei an Oper, Museum, Volksgarten. „Emil?“ „Was willst Du, mein Schatz?“ „Wann werd’ ich Dich endlich wieder spielen hören?“ „Ich spiele ja dieser Tage in einem Concert.“ Er sagte es, als wenn es ein Spaß wäre. „Nein, Emil, – Du, für mich allein. Das wirst Du doch einmal thun . . ja? Ich bitte Dich.“ „Ja, ja.“ „Es läge mir soviel dran. Ich möchte, daß Du weißt: es ist Niemand da als ich, die Dich hört.“ „Nun ja. Aber lassen wir das doch jetzt.“ Er sagte es so bestimmt, als nähme er irgend etwas vor ihr in Schutz. Sie verstand nicht, weshalb ihm

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fühlte] fühlt GW Athem] Atem EA war, so] war, GW Schooß] Schoß GW Melodieen] Melodien GW Concert] Konzert GW dran] daran EA GW Niemand] niemand GW

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das, worum sie ihn gebeten, unangenehm sein könnte, und fuhr fort: „Es bleibt doch dabei: morgen Nachmittag um fünf bei Dir?“ ⎣„Ja. Ich bin neugierig, ob es Dir bei mir gefallen wird.“ „O gewiß. Sicher ist es bei Dir schöner als da, wo wir waren. Und bleiben wir Abend zusammen? – Weißt Du, ich meine nur, ob ich nicht für meine Cousine . . . . .“ „Aber lieber Schatz, machen wir doch lieber kein Programm.“ Dabei legte er den Arm um ihren Nacken, als wollte er ihr so die Zärtlichkeit geben, die nicht im Ton seiner Worte lag. „Emil.“ „Nun?“ „Morgen wollen wir die Kreutzersonate zusammen spielen – das Andante wenigstens.“ „Aber liebes Kind, lassen wir doch endlich die Musik. Ich glaub’ schon, daß Du Dich riesig dafür interessirst.“ Er sagte es wieder in jener unbestimmten Art, von der sie nicht wußte, ob sie spöttisch oder ehrlich gemeint war; aber sie wagte nicht zu fragen. Dabei sehnte sie sich in diesem Augenblick so sehr, ihn Violine spielen zu hören, daß es beinahe wie ein Schmerz war. „Ah, da sind wir ja in Deiner Nähe!“ rief Emil. Und als ob er ganz vergessen hätte, daß er noch eine Spazierfahrt mit ihr machen ⎣wollte, rief er dem Kutscher die Adresse des Hôtels zu. „Emil –“ „Nun, Liebste?“ „Hast Du mich noch lieb?“ Statt jeder Antwort drückte er sie an sich und küßte sie auf die Lippen. „Sag’ mir, Emil –“ „Was denn?“ „Aber Du hast ja nicht gern, wenn man Dich viel fragt . . .“ „Frag’ nur mein Kind.“ „Was wirst Du . . . was pflegst Du denn Vormittag zu thun?“ ⎡„Oh, das ist höchst verschieden. Morgen zum Beispiel, spiel’ ich in der Lerchenfelder Kirche ein Violin Solo in einer Messe von Haydn.“ „Wirklich? Da kann ich Dich ja schon morgen Früh hören?“ „Wenn’s Dir Spaß macht. Aber es ist wirklich nicht der Müh’ werth . . . Das heißt, die Messe ist natürlich sehr schön.“ „Wie kommst Du eigentlich dazu, in der Lerchenfelder Kirche zu spielen?“ „Es ist . . . eine Gefälligkeit von mir.“ ⎣„Für wen?“ 2995 3000 3019 3020 3021 3022 3023

wir] wir den EA GW Emil.] Emil! EA GW nur] nur, EA GW Vormittag] Vormittags GW Oh] O GW Violin Solo] Violinsolo GW Früh] früh EA GW

thun?“] thun? EA

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„Für . . . nun, für Haydn selbstverständlich.“ In Bertha zuckte irgend etwas schmerzlich zusammen. In diesem Augen blick fühlte sie, daß es mit dieser Mitwirkung in der Lerchenfelder Kirche eine besondere Bewandtniß haben müßte. Vielleicht sang irgend Eine mit, die . . . Ja, was wußte sie schließlich? . . . Aber sie wird hingehen, ganz bestimmt . . . sie kann ihn keiner Andern lassen! – Er gehört ihr, ihr allein . . . er hat es ihr auch gesagt . . . und sie wird verstehen, ihn festzuhalten . . . Sie hat ja so unendlich viel Zärtlichkeit . . . sie hat ja alle aufgespart für ihn allein . . . sie wird ihn ganz damit umhüllen . . . er wird sich nach keiner Andern mehr sehnen . . . Sie wird nach Wien übersiedeln, jeden Tag bei ihm sein, immer bei ihm sein. „Emil –“ „Was hast Du denn, Schatz?“ Er wandte sich zu ihr, sah sie wie be sorgt an. „Hast Du mich lieb? – O Gott, da sind wir schon!“ „So?“ fragte Emil verwundert. „Ja – dort, siehst Du – dort wohne ich. Also bitte, Emil, sag’ mir noch einmal –“ ⎣„Ja, morgen um fünf, mein Schatz, Ich freu’ mich sehr.“ „Nein, nicht . . . Ob Du –“ Der Wagen hielt, Emil wartete an Berthas Seite, bis der Portier auf sperren kam, dann küßte er ihr ganz förmlich die Hand, sagte „Auf Wiedersehen, gnädige Frau“ und fuhr davon. In dieser Nacht schlief sie fest und tief. Das Licht des Morgens war um sie, als sie erwachte. Der gestrige Abend fiel ihr ein, und sie war sehr froh, daß irgend etwas, das sie sich so schwer, beinah düster vorgestellt hatte, als etwas ganz Leichtes und Heitres hinter ihr lag. Und dann war sie stolz in der Erinnerung an ihre Küsse, die gar nichts von der Schüchternheit eines ersten Abenteuers an sich gehabt hatten. Von Reue verspürte sie nicht das Geringste, obwohl ihr einfiel, daß es üblich ist, nach Dingen, wie sie sie erlebt, Reue zu empfinden. Auch Worte, wie: Sünde, Liebesverhältniß fuhren ihr durch den Kopf, ohne verweilen zu können, da ihnen aller Sinn zu fehlen schien. Sie glaubte sicher zu sein, daß sie Emils Zärtlichkeit ganz wie eine liebeserfahrene Frau erwidert, und war sehr glücklich, daß Alles, was bei andern Frauen aus der Erfahrung trunkner Nächte, bei ihr nur aus der Tiefe ⎣ihrer Empfindungen gekommen war. Es schien

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Für . . .] Für . . . . EA GW Bewandtniß] Bewandtnis GW irgend Eine] irgendeine GW Andern] andern GW Andern] andern GW Heitres] Heiteres GW Worte,] Worte GW Liebesverhältniß] Liebesverhältnis GW liebeserfahrene] liebesgewohnte EA GW erwidert] erwidert hatte GW Alles] alles GW

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ihr, als hätte sie gestern Abend eine Gabe an sich entdeckt, von der sie selbst bisher nichts geahnt, und ganz leise regte sich das Bedauern, sie früher nicht ausgenützt zu haben. Sie erinnerte sich einer Frage Emils nach ihrer Ver gangenheit, durch die sie nicht so verletzt war, als sie es hätte sein müssen, und jetzt in der Erinnerung kam ihr das gleiche Lächeln auf die Lippen, mit dem sie ihm die Wahrheit geschworen, an die er nicht hatte glauben wollen. Dann dachte sie an das nächste Wiedersehen mit ihm, stellte sich vor, wie er sie empfangen und durch die Zimmer geleiten würde. Der Einfall kam ihr, ⎡daß sie sich ganz so benehmen wollte, als wäre noch gar nichts geschehen. Nicht einmal in ihren Augen dürfte er die Erinnerung an den gestrigen Abend lesen; er sollte sie ganz von Neuem erobern, um sie werben müssen, – nicht allein mit Worten, nein, auch mit seiner Musik . . . . Ja, . . . wollte sie ihn nicht schon heute Vormittag hören? . . Natürlich! – in der Kirche . . . Und sie besann sich der plötzlichen Eifersucht, die sie gestern Abend erfaßt hatte . . . Ja, warum nur? . . . Das kam ihr jetzt so komisch vor, – Eifersucht auf eine Sängerin, die vielleicht in der Messe mitsang, oder auf eine ⎣andere Unbe kannte. Aber hingehen wollte sie jedenfalls. – Ah, wie schön wird das sein, im Dämmer der Kirche stehen, ungesehen von ihm, ihn nicht sehend, und nur sein Spiel zu hören, das vom Chor herunter schwebt. Und es ist ihr, als freue sie sich einer neuen Zärtlichkeit entgegen, die ihr von ihm werden soll, ohne daß er es ahnt. Langsam steht sie auf, kleidet sich an. Ein leiser Gedanke an zuhause schwebt in ihr auf, aber er ist ganz ohne Kraft. Es macht ihr sogar Mühe, ihn zu denken. Auch darüber fühlt sie keine Reue, auch darauf ist sie eher stolz. Sie fühlt sich ganz als Emil’s Geschöpf, Alles, was vor ihm da war, scheint ausgelöscht. Wenn er von ihr verlangen möchte: Lebe ein Jahr, lebe diesen Sommer mit mir, dann aber mußt Du sterben, – sie würde es thun. Die aufgelösten Haare fallen ihr über die Schultern. Erinnerungen kommen ihr, die sie beinahe taumeln machen . . . O Gott, warum alles das so spät, so spät? – Aber noch ist eine lange Zeit vor ihr, – noch fünf, noch zehn Jahre kann sie schön bleiben. . . o, auch noch länger für ihn, wenn sie zu sammen bleiben, denn er würde ja mit ihr zusammen altern. Und wieder fliegt ihr jene Hoffnung ⎣durch den Sinn: wenn er sie zu seiner Frau machte, wenn sie zusammen wohnten, zusammen reisten, zusammen schliefen, Nacht für Nacht? – Aber jetzt beginnt sie sich ein wenig zu schämen. Warum denn immer und immer diese Gedanken? Zusammen leben heißt doch auch Anderes

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sie selbst] sie GW Neuem] neuem GW Kirche] Kirche zu EA GW herunter schwebt] herunterschwebt GW Emil’s] Emils GW Alles] alles GW Lebe] lebe EA GW bleiben. . .] bleiben . . . GW o] oh GW Anderes] anderes GW

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– gemeinschaftliche Sorgen haben, über alle Dinge mit einander reden können? Ja, seine Freundin will sie sein vor Allem! Und das, vor Allem das will sie ihm heute sagen. Heute muß er endlich erzählen, über sich erzählen, sein ganzes Leben vor ihr ausbreiten, von dem Augenblick, da sie sich vor zwölf Jahren getrennt, bis . . . und mit Staunen muß sie weiter denken: – bis gestern Früh . . . . Gestern Früh hat sie ihn zum ersten Mal wiedergesehen, und in diesem einen Tag ist sie so völlig sein geworden, daß sie nichts mehr Anderes denken kann als ihn, daß sie kaum mehr eine Mutter ist, . . . . nein, nichts als seine Geliebte. Sie trat in den hellen Sommertag hinaus. Es fiel ihr auf, daß ihr mehr Menschen begegneten als sonst, daß die meisten Geschäfte geschlossen waren. – Richtig, Sonntag! Sie hatte gar nicht daran gedacht. Nun machte sie auch das froh. Bald begegnete ihr ein sehr schlanker Herr, der den Ueber zieher offen trug und an dessen Seite ein junges ⎣Mädchen mit sehr dunklen, lachenden Augen. Bertha mußte denken: ein Paar wie dieses sind wohl auch wir . . . Und sie stellte es sich schön vor, nicht nur im Dunkel der Nacht, sondern auch so wie diese Beiden auf heller Straße, Arm in Arm, mit lachenden, glücklichen Augen umher zu wandeln. Manchmal, wenn ein Herr ihr im Vor beigehen ins Gesicht sah, war ihr, als verstünde sie wie etwas Neues die Sprache der Blicke. Einer, der sie mit einem gewissen Ernst betrachtete, schien zu sagen: Na, Du bist auch geradeso wie die Andern! Dann kamen zwei junge Leute, die zu reden aufhörten, als sie sie sahen. Ihr war, als wüßten die ganz gewiß, was heut nachts geschehen war. Wieder ein Anderer schien große Eile zu haben, sah sie flüchtig von der Seite an und seine Augen sagten: Was ⎡gehst Du da so großartig herum wie eine brave Frau? Gestern Abend bist Du mit einem von uns im Bett gelegen. Dieses „Einer von uns“ hörte sie innerlich ganz deutlich, und sie mußte das erste Mal in ihrem Leben bei allen Männern, die vorübergingen, denken, daß sie Männer, bei allen Frauen, daß sie Frauen waren, daß sie einander begehrten und daß sie einander fanden, wenn sie wollten. Und sie hatte das Gefühl, als ob sie noch gestern um ⎣diese Zeit eine Ausgeschlossene gewesen wäre, vor der alle Anderen Geheimnisse hatten, während sie jetzt mit zu ihnen gehörte und mitreden durfte. Sie versuchte sich auf die erste Zeit nach ihrer Hochzeit zu besinnen, und sie erinnerte sich, daß sie nichts empfunden hatte, als einige Enttäuschung und Beschämung. Ganz 3101 3102 3106 3107 3115 3117 3121 3123 3127 3131 3132

mit einander] miteinander GW Allem!] allem! GW das, vor Allem] das, vor allem GW Früh . . . .] früh . . . . EA GW Gestern Früh] Gestern früh EA GW ersten Mal] erstenmal GW Anderes] anderes GW Augen] Augen ging EA GW Beiden] beiden GW Andern] andern GW Anderer] anderer GW erste Mal] erstemal GW Anderen] anderen GW versuchte] versuchte, GW

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dunkel tauchte etwas in ihr auf, wovon sie nicht wußte, ob sie es einmal gelesen oder gehört, nämlich der Satz: Es ist ja doch immer dasselbe. Und sie kam sich viel klüger vor als die oder der, der das gesagt oder geschrieben. Jetzt merkte sie, daß sie den gleichen Weg ging wie gestern. Ihr Auge fiel auf eine Plakatsäule mit der Ankündigung des Concertes, bei dem auch Emil mitwirken sollte. Mit Behagen blieb sie davor stehen. Ein Herr stand neben ihr. Sie lächelte und dachte: Wenn er wüßte, daß jetzt meine Augen gerade auf dem Namen desjenigen Menschen ruhen, der gestern Nacht mein Geliebter war . . . . Sie war plötzlich sehr stolz. Was sie gethan hatte, dünkte sie etwas Besondres. Sie konnte sich kaum vorstellen, daß andere Frauen den gleichen Muth besäßen. Sie ging wieder durch den Volksgarten, in dem heute mehr Menschen waren als gestern. Wieder sah sie Kinder, die spielten, Gouvernanten und Kinder⎣mädchen, die plauderten, lasen, strickten. Ein sehr alter Herr fiel ihr auf, der sich auf eine Bank in der Sonne gesetzt hatte, sie ansah, den Kopf schüttelte und sie mit harten und unerbittlichen Augen verfolgte. Sie war sehr unangenehm berührt und hatte ein dunkles Gefühl von Unrecht gegen über diesem alten Herrn. Als sie aber unwillkürlich wieder zurücksah, bemerkte sie, wie er auf den sonnenbeleuchteten Sand schaute und noch immer den Kopf schüttelte. Sie wußte jetzt, daß das mit seinem Alter zusammenhing und sie fragte sich, ob auch Emil einmal ein so uralter Herr sein würde, der sich in die Sonne setzt und den Kopf schüttelt. Und mit einem Mal sah sie sich neben ihm einhergehen, in der Kastanienallee daheim, aber sie war noch jung wie jetzt und er fuhr im Rollstuhl. Sie bebte leise. Wenn Herr Rupius es wüßte . . . . Nein, – nie und nimmer würde er das von ihr glauben! Hätte er das von ihr vorausgesetzt, so hätte er sie nicht zu sich auf den Balcon gerufen und ihr erzählt, daß seine Frau ihn verlassen wollte . . . . . Sie staunte in diesem Augenblick über das, was ihr wie eine große Fülle ihres Lebens vorkam. Sie hatte den Eindruck, innerhalb so verwickelter Verhältnisse zu existiren, wie keine andere Frau. Und auch diese Empfindung ⎣trug zu ihrem Stolz bei. Während sie an einer Gruppe von Kindern vorbeiging, von denen vier ganz gleich gekleidet waren, dachte sie, wie sonderbar es wäre, daß sie keinen Moment an mögliche Folgen ihres gestrigen Abenteuers gedacht. Aber ein Zusammenhang zwischen dem, was gestern geschehen, zwischen diesen wilden Umarmungen in einem fremden Bett – und einem Wesen, das einmal zu ihr „Mutter“ sagen sollte, schien außerhalb jeder Möglichkeit zu liegen. Sie verließ den Garten und nahm den Weg zur Lerchenfelderstraße. Ob er jetzt daran dachte, daß sie auf dem Weg zu ihm wäre? Ob sie sein erster Gedanke heute Früh gewesen? Und es schien ihr nun, daß sie sich früher

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Es] es EA GW Concertes] Konzertes GW Besondres] Besonderes GW zusammenhing] zusammenhing, EA GW Balcon] Balkon GW wollte . . . . .] wollte. . . . . GW Früh] früh EA GW

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den Morgen nach einer Liebesnacht ganz anders vorgestellt . . . ja, als ein gemeinsames Erwachen, Brust an Brust, Mund an Munde. Soldaten kamen ihr entgegen, Officiere schritten zur Seite auf dem Trottoir, einer streifte sie und sagte höflich: „Bitte, entschuldigen!“ Es war ⎡ein sehr hübscher Mensch und er kümmerte sich weiter nicht um sie, was sie ein wenig ärgerte. Und unwillkürlich dachte sie: Ob der auch eine Geliebte hat? Und plötzlich wußte sie, daß er sicher heute Nacht ⎣mit ihr zusammen war und auch nur sie allein liebt und sich so wenig um andere Frauen kümmerte als Emil. Sie war vor der Kirche. Orgelklang drang bis auf die Straße. Eine Equipage stand da, mit einem Lakaien auf dem Bock. Wie kam die da her? Es war Bertha mit einmal ganz klar, daß dieser Wagen in einer bestimmten Beziehung zu Emil stehen müßte, und sie nahm sich vor, vor Schluß der Messe die Kirche zu verlassen, um zu sehen, wer hier einstiege. Sie trat in die menschenerfüllte Kirche. Sie schritt zwischen den Bankreihen nach vorwärts, bis zum Hochaltar, an dem der Priester stand. Die Orgeltöne verklangen, das Streichorchester setzte ein. Sie wandte den Kopf nach der Richtung des Chors. Es war doch sonderbar, daß Emil hier in der Lerchenfelderkirche, sozusagen incognito, das Solo in einer Haydn’schen Messe spielen sollte . . . Sie betrachtete die weiblichen Gestalten in den vorderen Bänken. Sie bemerkte zwei – drei – vier junge Frauen und mehrere alte Damen; zwei saßen in der vordersten Reihe, die eine war sehr vornehm in schwarze Seide gekleidet, die andere schien ihre Kammerfrau zu sein. Bertha dachte, daß die Equipage jedenfalls dieser vor nehmen alten Dame gehörte, ⎣was sie sehr beruhigte. Sie ging wieder nach rückwärts und hielt überall, halb unbewußt, nach schönen Frauen Umschau. Es gab noch einige leidlich hübsche, alle schienen ihr in Andacht versunken, und sie schämte sich, daß sie allein hier ohne jeden heiligen Gedanken umherwandelte. Jetzt merkte sie, daß das Violin Solo schon begonnen hatte. Er spielte jetzt, er, er! . . . Und in diesem Augenblick hörte sie ihn seit mehr als zehn Jahren zum ersten Mal, und es schien ihr, als wär’ es der gleiche süße Ton von damals, so wie man Menschenstimmen erkennt, die man jahrelang nicht ver nommen. Der Sopran setzte ein. Wenn sie die Sängerin nur sehen könnte! Es war eine helle, frische, nicht sehr geschulte Stimme, und Bertha fühlte etwas wie einen persönlichen Zusammenhang zwischen dem Geigenspiel und dem Gesang. Daß Emil das Mädchen kannte, welches jetzt sang, war natürlich . . . . aber verbarg sich da nicht noch irgend etwas Anderes? . . . Der Gesang verstummte, die Geige klang weiter, und nun sprach sie zu ihr allein, als wollte sie sie 3173 3175 3177 3178 3180 3190 3199 3201 3204 3206

vorgestellt] vorgestellt hatte GW Officiere] Offiziere GW Mensch] Mensch, EA GW Ob] ob EA GW kümmerte] kümmert GW incognito] inkognito GW Haydn’schen] Haydnschen GW Violin Solo] Violinsolo GW ersten Mal] erstenmal GW Stimme,] Stimme EA natürlich . . . .] natürlich . . EA GW

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beruhigen. Das Orchester fiel ein, das Geigensolo schwebte über den anderen Instrumenten und schien nur den einen Wunsch zu haben, sich mit ihr zu ver ständigen. Es sagte: Ich weiß, daß Du da bist und ich spiele nur für ⎣Dich! . . . Die Orgel setzte ein, aber noch behielt das Geigensolo die Führung. Bertha war so ergriffen, daß sie Thränen im Auge hatte. Endlich war das Solo zu Ende, wie verschlungen von dem Schwall der Instrumente und tauchte nicht wieder auf. Bertha hörte kaum zu, aber die Musik umklang sie mit wunder barem Trost. Manchmal glaubte sie, die Geige Emils im Orchester mitspielen zu hören, und da war es ganz sonderbar, beinah märchenhaft, daß sie da unten an einer Säule stand und er oben im Chor an einem Pulte saß, und sie hatten einander heut Nacht in den Armen gehalten, und alle die Hunderte hier in der Kirche wußten nichts davon . . . Sie mußte ihn gleich sehen – ja! Sie wollte unten an der Stiege warten . . . sie wollte nichts zu ihm sprechen, – nein, aber sehen wollte sie ihn, und auch die Andern, die kamen, – auch die Sängerin, auf die sie eifersüchtig gewesen war. Aber das war nun ganz vorüber; sie wußte es, daß er sie nicht belügen konnte. – Die Musik war verstummt, Bertha fühlte sich vorwärts geschoben, dem Ausgang zu, sie wollte die Stiege finden, aber sie wurde von ihr entfernt. Doch es war gut so . . . Nein, das durfte sie nicht, sich hinstellen, ihn erwarten – – was würde er denken? Es wäre ihm gewiß nicht Recht! ⎣Nein, sie wollte mit den Andern verschwinden ⎡und ihm abends sagen, daß sie ihn gehört. Sie hatte nun geradezu Angst davor, von ihm bemerkt zu werden. Sie stand am Ausgang, schritt die Stufen hinab und kam gerade an der Equipage vorbei, als die alte Dame mit ihrer Kammerfrau einstieg. Sie mußte lächeln, als sie sich erinnerte, in welche Be sorgniß sie der Anblick dieses Wagens versetzt, und es schien ihr, als müßten mit diesem Verdacht auch alle andern zerflattern. Es war ihr, als hätte sie ein merkwürdiges Abenteuer hinter sich und stünde am Anfang eines ganz neuen Daseins. Zum ersten Mal schien es ihr einen Sinn zu haben, alles Andere war eingebildet gewesen und wurde zu nichts gegenüber dem Glück, das durch ihre Pulse strömte, während sie von der Kirche durch die Straßen der Vorstadt langsam nach Hause schlenderte. Erst wie sie schon nah dem Hotel war, merkte sie, daß sie den ganzen Weg wie im Traum zurückgelegt und konnte sich kaum erinnern, welchen Weg sie gegangen und ob sie Leuten begegnet war oder nicht. Als sie den Schlüssel zu ihrem Zimmer nahm, übergab ihr der Portier ein Billet und einen Strauß von Veilchen und Flieder . . . O, warum hatte

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bist] bist, EA GW saß,] saß GW davon . . .] davon . . EA GW Andern] anderen GW so . . .] so . . EA GW Recht] recht EA GW Andern] andern GW Besorgniß] Besorgnis GW versetzt] versetzt hatte GW ersten Mal] erstenmal GW haben,] haben; EA GW Billet] Billett GW O] Oh GW

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Andere] andere GW

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sie nicht auch daran gedacht, ihm Blumen zu schicken? ⎣– Aber was hatte er ihr zu schreiben? Sie öffnete den Brief mit einer leisen Furcht und las :

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„Liebste! Ich muß Dir noch einmal für den schönen Abend danken. Heute können wir uns leider nicht sehen. Sei mir nicht bös, meine liebe Bertha, und vergiß nicht, mich rechtzeitig zu verständigen, wenn Du das nächste Mal nach Wien kommst. Ich bin ganz der Deine Emil.“ Sie ging, sie lief die Treppen hinauf in ihr Zimmer . . . Warum konnte er sie heute nicht sehen? Warum gab er nicht wenigstens die Ursache an? – Nun ja, was wußte sie schließlich von seinen Verpflichtungen aller Art, künst lerischer, gesellschaftlicher Natur? . . . Es wäre gewiß zu weitläufig gewesen und hätte wie nach einer Ausrede ausgesehen, wenn er seine Verhinderung ausführlich entschuldigt. Aber trotzdem . . . . Und warum schrieb er denn: „Wenn Du das nächste Mal nach Wien kommst? . . .“ Hatte sie ihm nicht gesagt, daß sie noch einige Tage dabliebe? Das hatte er vergessen – gewiß. Und gleich setzte sie sich hin und schrieb: „Mein liebster Emil! Ich bedaure sehr, daß Du mir heute absagen mußtest, aber glücklicherweise ⎣reise ich noch nicht ab. Bitte sehr, Liebster, schreib mir doch gleich, wann Du morgen oder übermorgen für mich Zeit hast. Mit tausend Küssen Deine Bertha.“ P. S. Es ist höchst ungewiß, wann ich wieder nach Wien komme und ich möchte keinesfalls fortreisen, ohne Dich noch einmal zu sehen.“ Sie überlas den Brief. Dann schrieb sie noch dazu: „Ich muß Dich noch einmal sehen!“ Sie eilte auf die Straße, übergab den Brief einem Dienstmann und schärfte ihm ein, ja nicht ohne Antwort wiederzukommen. Dann ging sie wieder hinauf und stellte sich zum Fenster. Sie wollte nichts denken, sie wollte nur auf die Straße hinuntersehen. Sie heftete ihre Aufmerksamkeit gewaltsam auf die Vorübergehenden, und ein Spiel aus ihrer Kinderzeit kam ihr wieder in den Sinn, wo sie und ihre Brüder vom Fenster aus sich darüber unterhielten, welchem Bekannten der oder jener Vorübergehende ähnlich sähe. Solche Aehnlich keiten zu entdecken, war für sie jetzt mit Schwierigkeit verbunden, weil ihr Zimmer im dritten Stock gelegen war, aber anderseits erleichterte die Entfernung die Willkürlichkeit der Deutung. Zuerst kam eine Frau, die der Cousine ⎣Agathe ähnlich sah, später erschien Jemand, der an ihren Clavierlehrer aus dem Conservatorium erinnerte, Arm in Arm mit Einer, die so aussah, wie die Köchin

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Dir] dir GW Sei mir] Sei GW nach] ach EA komme] komme, EA GW ein, ja] ein, GW später erschien Jemand] später jemand GW Clavierlehrer] Klavierlehrer GW Conservatorium] Konservatorium GW Einer] einer GW n

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⎡ihrer

Schwägerin. Ein junger Bursch sah ihrem Bruder, dem Schauspieler ähnlich, gleich hinter ihm, und zwar in Hauptmannsuniform, kam ihr ver storbener Vater des Wegs, der blieb eine Weile vor dem Hotel stehen, blickte auf, gerade als wenn er sie suchte, und verschwand dann im Thor. Sie erschrak einen Augenblick so, als wenn es wirklich ihr Vater wäre, der als Gespenst aus dem Grab gekommen. Dann lachte sie absichtlich laut, und versuchte, das Spiel fortzusetzen, aber es gelang nicht mehr. Sie blickte nur nach dem Dienst mann aus. Endlich beschloß sie, nur um die Zeit hinzubringen, ihr Mittagmahl einzunehmen. Nachdem sie es bestellt, trat sie wieder ans Fenster. Aber nun blickte sie nicht mehr in die Richtung, aus welcher der Dienstmann kommen mußte, sondern folgte den Omnibus und Pferdebahnwagen, die alle menschen überfüllt den Vororten zufuhren. Jetzt sah sie wieder den Hauptmann von früher, wie er eben auf eine Tramway aufsprang, eine Virginia im Mund. Er sah ihrem verstorbenen Vater gar nicht mehr ähnlich. Sie hörte ein Geräusch hinter sich: der Kellner ⎣war eingetreten. Bertha aß wenig und trank den Wein sehr rasch. Sie wurde schläfrig und lehnte sich in die Ecke des Divans. Die Gedanken verschwammen ihr, in ihren Ohren tönte es, wie Nach klänge von der Orgel, die sie in der Kirche vernommen hatte. Sie schloß die Augen, und mit einem Mal, wie hervorgezaubert, sah sie das Zimmer von gestern, und hinter den roten Vorhängen leuchtete das weiße Bett. Sie selbst saß wieder vor dem Pianino, aber ein Anderer hielt sie umfaßt, ihr Neffe Richard. Sie riß gewaltsam die Augen auf, erschien sich über alle Maaßen verworfen, und eine jähe Furcht überkam sie, als hätte sie für diese traumhaften Vorstellungen eine Sühne zu erwarten. Wieder ging sie zum Fenster. Eine Ewigkeit schien ihr verflossen, seit sie den Dienstmann ausgeschickt. Sie überlas noch einmal den Brief Emils. Ihr Blick haftete auf den letzten Worten: „Ich bin ganz der Deine“, und sie sprach sie aus, laut, mit Zärtlichkeit, und dachte ähnlicher Worte von heute Nacht. Sie erfand sich einen Brief, der jetzt gleich da sein und der lauten mußte: „Meine liebste Bertha! Gott sei Dank, daß Du morgen noch da bist! Ich erwarte Dich bestimmt um drei bei mir“, oder: „Wir wollen morgen den ganzen Tag miteinander ⎣verbringen“ oder gar: „Ich habe meine Verabredung rückgängig gemacht, wir sehen uns noch heute. Komme gleich zu mir, ich erwarte Dich mit Sehnsucht!“ Nun wie es immer sei, wenn auch nicht heute, bevor sie Wien verläßt, wird sie ihn wiedersehen. Es ist ja gar nicht anders denkbar. Wozu also diese entsetzliche Aufregung, als wenn Alles vorüber wäre? Warum nur bleibt die Antwort so lange aus? . . . Er hat jedenfalls außer Haus gegessen –

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Schauspieler] Schauspieler, EA GW gekommen] gekommen war GW absichtlich] absichtlich, EA GW Virginia] Virginier EA Divans] Diwans GW es,] es GW Anderer] anderer GW Maaßen] Maßen GW noch heute] heute noch GW Alles] alles GW

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natürlich, er führt ja keine Wirtschaft! So kann er frühestens um drei wieder daheim sein . . . . Aber wenn er vor Abend nicht nach Hause kommt? . . . Der Dienstmann hat zwar den Auftrag, jedenfalls zu warten – auch bis in die Nacht hinein. . . aber was soll sie thun? Sie kann doch hier nicht die ganze Zeit am Fenster stehen und ausblicken? Die Stunden sind ja endlos! Sie könnte weinen vor Ungeduld, vor Verzweiflung! . . . . Sie geht im Zimmer auf und ab, dann steht sie wieder eine Weile am Fenster, dann setzt sie sich nieder, für kurze Zeit nimmt sie ihren Roman zur Hand, den sie in der Reisetasche mitgeführt, auch zu schlummern versucht sie, – aber es gelingt ihr nicht. Endlich wird es vier: bald drei Stunden sind vergangen, seit sie wartet. Da klopft es an die Thür, der ⎣Dienstmann tritt ein und übergiebt ihr einen Brief. Sie reißt das Couvert auf und, mit einer unwillkürlichen Bewegung, um dem fremden Menschen den Ausdruck ihrer Mienen zu verbergen, wendet sie sich zum Fenster. Sie liest: „Meine liebe Bertha! Du bist sehr freundlich, daß Du mir noch die ⎡Auswahl zwischen den nächsten Tagen freistellst, aber, wie übrigens auch in meinem ersten Brief schon angedeutet war: ich kann leider über die nächsten Tage absolut nicht verfügen. Daß ich es mindestens so bedaure wie Du, kannst Du mir glauben. Nochmals tausend Dank und tausend Grüße, und auf ein schönes Wiedersehn das nächste Mal. Vergiß mich nicht ganz. Dein Emil.“ Als sie diesen Brief gelesen, war sie ganz ruhig, bezahlte dem Dienst mann, was er forderte, und fand, daß es für ihre Verhältnisse gar nicht wenig sei. Dann setzte sie sich an den Tisch und versuchte nachzudenken. Sie wußte sofort, daß sie nicht länger hier bleiben könnte und bedauerte nur, daß nicht gleich ein Zug nach Hause ging. Auf dem Tisch stand die halbgeleerte Flasche Wein und Brotkrumen waren neben dem Teller verstreut, auf dem Bett lag ihre Frühjahrsjacke, daneben die Blumen, die er ihr noch heute morgens ge schickt. Was sollte das Alles be⎣deuten? War es zu Ende? . . . . Undeutlich, aber so, als müßt’ es zu dem, was sie eben erlebt, eine Beziehung haben, fällt ihr ein Satz ein, den sie einmal gelesen, von Männern, die nichts Anderes wollen, als „ihr Ziel erreichen“. . . Aber sie hat das immer für eine Roman phrase gehalten. Im übrigen, das ist doch kein Abschiedsbrief, den sie da in der Hand hält? . . . Ist es auch wirklich keiner? Können diese freundlichen Worte nicht auch Lüge sein? . . . Auch Lüge – das ist es! . . . Zum ersten Mal drängt sich das entschiedene Wort in ihre Gedanken: . . . Lüge. . . .

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hinein. . .] hinein . . . GW übergiebt] übergibt GW Couvert] Kuvert GW Wiedersehn] Wiedersehen GW Wein und] Wein, EA GW Alles] alles GW Anderes] anderes GW sie hat das] das sie hat GW das hat sie GW1922 ersten Mal] erstenmal GW Lüge. . . .] Lüge . . . GW

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Denn es ist gewiß, schon heut Nacht, als er sie nach Hause brachte, war sein Entschluß gefaßt, sie nicht wiederzusehen, und die Verabredung wegen des heutigen Tags, sein Wunsch, sie heute bei sich zu sehen, war Lüge. . . . Sie ruft sich den gestrigen Abend ins Gedächtniß zurück, und sie fragt sich, wodurch sie ihn verstimmt, enttäuscht haben konnte? . . . Es war doch Alles so schön und er schien so glücklich, geradeso glücklich als sie. . . . . Sollte das auch Lüge gewesen sein? . . . Was konnte sie wissen? . . . Vielleicht hatte sie ihn doch verstimmt, verletzt, ohne es zu ahnen . . . . Sie ist ja nichts als eine brave Frau gewesen ihr Leben lang. . . wer weiß, was für eine ⎣Ungeschicklichkeit oder Dummheit sie begangen. . . ob sie nicht in irgend einem Moment, wo sie hingebend, zärtlich, beseligt und beseligend zu sein glaubte, lächerlich und abstoßend gewesen ist? . . . Was weiß sie denn von allen diesen Dingen? . . . . Und mit einem Mal fühlt sie beinah etwas wie Reue, daß sie sich in dieses Abenteuer so unvorbereitet eingelassen, daß sie bis gestern so keusch und brav gewesen ist, daß sie nicht andere Liebhaber vor ihm gehabt hat. . . . Jetzt besinnt sie sich auch, wie er ihre schüchternen Fragen und Bitten abgewehrt, die sein Violinspiel betrafen, als wollte er sie diesen Kreis nicht betreten lassen. So war er ihr gerade in dem, was ihm tiefster Lebens inhalt war, fremd, mit Absicht fremd geblieben; sie wußte mit einem Mal, daß sie nichts mit ihm gemeinsam gehabt als das Vergnügen einer Nacht, und daß der heutige Morgen sie Beide so fern von einander gefunden, als alle die Jahre, die hinter ihnen lagen. . . . Und nun glüht die Eifersucht wieder in ihr auf. . . Aber ihr ist, als wäre sie immer, als wäre überhaupt Alles immer in ihr dagewesen. . . Liebe und Mißtrauen und Hoffnung und Reue und Sehnsucht und Eifersucht. . . und zum ersten Mal in ihrem Leben ist sie so bis ins Innerste aufgewühlt, daß sie die Menschen ⎣begreift, die sich aus Verzweiflung zum Fenster hinunterstürzen. . . . Und sie sieht ein, daß sie es nicht ertragen, daß nur die Gewißheit ihr helfen kann. . . sie muß hin zu ihm,

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Lüge. . . .] Lüge . . . . GW Gedächtniß] Gedächtnis GW Alles] alles GW schön] schön, EA GW sie. . . . .] sie . . . . GW ahnen . . . .] ahnen . . . GW lang. . .] lang . . . GW begangen. . .] begangen . . . GW Dingen? . . . .] Dingen? . . . EA GW hat. . . .] hat . . . . GW Beide] beide GW von einander] voneinander GW lagen. . . .] lagen . . . . GW in] in in EA auf. . .] auf . . . GW Alles] alles GW dagewesen. . .] dagewesen . . . GW Eifersucht. . .] Eifersucht . . . GW ersten Mal] erstenmal GW hinunterstürzen. . . .] hinunterstürzen . . . . GW kann. . .] kann . . . GW

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ihn fragen. . . . aber so fragen, wie man Einem ein Messer an die Brust setzt. . . Sie eilt davon, auf die Straßen, die beinahe leer sind, als wäre ganz ⎡Wien aufs Land gewandert. . . Wird sie ihn nur daheim finden? . . . Wird er nicht vielleicht ahnen, daß sie auf den Einfall kommen kann, ihn aufzusuchen, ihn zur Rede zu stellen, und wird er nicht dieser Möglichkeit aus dem Weg gegangen sein? . . . Sie schämt sich, daß sie auch daran denken muß . . . . . Und wenn er zuhause ist, wird er allein sein? . . . Und wenn er nicht allein ist, wird man sie vorlassen? Und wenn sie ihn selbst in den Armen einer Anderen fände, was dürfte sie sagen? . . . . Hat er ihr etwas versprochen? Hat er ihr Treue geschworen? Hat sie sie auch nur von ihm verlangt? Durfte sie sich einbilden, daß er hier in Wien gewartet, bis sie ihm zu seinem spanischen Orden gratulirt? . . . Ja, durfte er ihr nicht sagen: Du hast Dich mir an den Hals geworfen und hast nichts Besseres gewünscht, als daß ich Dich nehme, wie Du bist. . . Und wenn sie sich selbst fragte – hatte er ⎣nicht Recht? . . . Ist sie nicht hierher gekommen, um seine Geliebte zu werden – nur darum. . . ohne jede Rücksicht auf früher, ohne jede Sicherheit für später. . . . ja nur darum! Alle anderen Wünsche und Hoffnungen hatten ihre Begierde nur flüchtig umschwebt, und sie war nichts Besseres werth als das, was ihr geschehen . . . Und, wenn sie ehrlich gegen sich selbst ist, muß sie sich auch sagen: von Allem, was sie erlebt, ist das noch immer das Beste gewesen. . . . Sie ist an einer Ecke stehen geblieben, es ist ganz still um sie, die Sommerluft über ihr wird dunstig und schwül. Sie nimmt den Weg zurück ins Hôtel. Sie ist sehr müde, und ein neuer Gedanke zuckt in ihr auf: ob er ihr nicht nur deshalb abgeschrieben hat, weil auch er müde ist. . . . Sie kommt sich sehr erfahren vor, wie ihr das einfällt . . . Und noch Eins geht ihr durch den Sinn . . . Er kann auch eine Andere nicht auf andere Art lieben als sie . . . Und plötzlich fragt sie sich, ob denn die heutige Nacht ihr einziges

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fragen. . . .] fragen. . . EA fragen . . . GW Einem] einem GW setzt. . .] setzt . . . GW gewandert. . .] gewandert . . . GW zuhause] zu Hause GW Anderen] anderen GW gewartet] gewartet hat GW bist. . .] bist . . . GW Recht] recht GW darum. . .] darum . . . GW später. . . .] später . . . GW werth] wert EA Allem] allem GW erlebt] erlebt hat GW gewesen. . . .] gewesen . . . GW ist. . . .] ist. . . . . EA GW Eins] eins GW Andere] andere GW

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Erlebniß bleiben – ob sie selbst keinem Andern mehr angehören wird als ihm? Und sie freut sich dieses Zweifels, als nähme sie mit ihm an seinem mitleidigen Blick und an seinen spöttischen Lippen eine Art von Rache. ⎣Nun ist sie wieder oben im dritten Stock des Hôtel in dem ungemüth lichen Zimmer. Noch immer sind die Reste des Mittagessens nicht abgeräumt, noch immer liegen Jacke und Blumen auf dem Bett. Sie nimmt die Blumen in die Hand, führt sie an die Lippen, als wollte sie sie küssen. Plötzlich aber, als bräche ihr ganzer Zorn wieder hervor, schleudert sie sie heftig auf die Erde. Dann wirft sie sich aufs Bett, die Hände über’m Gesicht. Als sie eine Weile so gelegen war, wurde sie sehr ruhig, immer ruhiger. Es war vielleicht ganz gut, daß sie noch heute nach Hause fahren konnte. Sie dachte an ihren Buben, wie er in seinem Bettchen zu liegen und mit dem ganzen Gesicht zu lachen pflegte, wenn die Mutter sich über das Gitter beugte. Sie sehnte sich nach ihm. Sie sehnte sich auch ein wenig nach Elly und nach Frau Rupius. Ja richtig – die wollte ja von ihrem Manne fortgehen . . . . Was da dahinter stecken mochte? . . . Eine Liebesgeschichte? . . . Aber sonderbar, jetzt konnte sie sich das noch weniger vorstellen, als früher. Es wird spät, es ist Zeit, sich zur Abreise bereit zu machen . . . So ist sie also schon Sonntag Abend wieder zuhause. Sie sitzt im Coupé, auf ihrem Schooß liegen ⎣die Blumen, die sie wieder vom Boden aufgehoben . . . . Ja, nun fährt sie nach Hause, verläßt die Stadt, wo sie . . . etwas erlebt hat – so nennt man es doch wohl? . . . . Und Worte schwirren ihr durch den Sinn, die sie in solchem Zusammenhang gelesen oder gehört hat . . . . Worte wie: Seligkeit . . Liebesrausch . . . Taumel . . . und ein leiser Stolz regt sich, daß sie das erfahren, was diese Worte bedeuten. Und noch ein anderer Gedanke kommt ihr, der sie seltsam ⎡beruhigt: Wenn er auch – vielleicht – jetzt ein Verhältniß mit einer anderen Frau hat . . . . d e r hat sie ihn genommen . . . nicht für lang freilich, aber doch so vollkommen, wie man einer Frau einen Mann nur nehmen kann. Sie wurde immer ruhiger, beinahe heiter. Das war ja klar, daß sie, Bertha, die unerfahrene Frau, sich nicht mit einem Ansturm völlig in den Besitz des Geliebten setzen konnte . . . . Aber ob es ein anderes Mal nicht gelänge? . . . Sie freute sich sehr, daß sie nicht ihrem Entschluß gefolgt war, gleich zu ihm zu laufen, ja sie faßte sogar die 3410 3411 3412 3413 3413f. 3418 3427 3428 3429 3432 3434 3436

Erlebniß] Erlebnis GW Andern] anderen GW mit ihm] damit GW und an] und GW Hôtel] Hôtels EA Hotels GW ungemüthlichen] ungemütlichen EA über’m] überm GW ist] wird GW zuhause] zu Hause sein GW Coupé] Kupee GW Schooß] Schoß GW Und Worte] Worte EA GW erfahren] erfahren hat GW Verhältniß] Verhältnis GW

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Absicht, ihm einen so kühlen Brief zu schreiben, daß er in einen gelinden Aerger geraten müßte, sie wollte kokett, verschlagen sein . . . Aber sie mußte ihn wieder haben, das wußte sie . . . bald ⎣und womöglich für immer! . . . Und so gingen ihre Träume weiter, während der Zug sie nach Hause führte . . . immer kühner, je tiefer das Sausen der Räder sie in den Halbschlummer sang . . . Die kleine Stadt lag in tiefem Schlaf, als sie ankam. – Zuhause gab sie dem Dienstmädchen den Auftrag, ihren Kleinen in aller Früh von ihrer Schwägerin abzuholen. Dann kleidete sie sich langsam aus. Ihre Augen fielen auf das Bild ihres verstorbenen Gemahls über ihrem Bett. Sie fragte sich, ob es weiter da hängen dürfe. Als sie jetzt daran dachte, daß es Frauen giebt, welche von ihrem Geliebten kommen und dann an der Seite ihres Gatten schlafen können, schauderte sie . . . Nie hätte sie so etwas zu Lebzeiten ihres Gatten gethan! . . . Und hätte sie’s doch gethan, sie wäre nie wieder nach Haus zurückgekehrt. *

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* * Am nächsten Morgen weckte sie ihr Bub. Er war auf ihr Bett gesprungen und hatte ihr leise auf die Augenlider gehaucht. Bertha setzte sich auf, umarmte und küßte den Kleinen, der nun gleich zu erzählen begann, wie gut es ihm bei Onkel und Tante ergangen, wie Elly mit ihm gespielt und wie Richard ⎣einmal mit ihm gerauft, ohne ihn besiegen zu können. Und gestern hatte er Klavier spielen gelernt und konnte es schon bald so gut wie Mama. Bertha hörte ihm nur immer zu. Sie dachte: wenn Emil jetzt das süße Geplauder hören könnte! und überlegte, ob sie das nächste Mal nicht den Kleinen nach Wien zu Emil mitnehmen könnte, wodurch diesem Besuch gleich alles Verdächtige genommen würde. Sie dachte nur an das Schöne, das sie in Wien erlebt, und von den Absagebriefen war ihr kaum Anderes im Sinn geblieben als die Worte, die sich auf ein Wiedersehen bezogen. Sie stand beinahe in vergnügter Stimmung auf, und während sie sich ankleidete, fühlte sie eine ganz neue Zärtlichkeit für ihren eigenen Leib, der ihr noch von den Küssen des Geliebten zu duften schien. Noch am frühen Vormittag ging sie zu ihren Verwandten. Als sie am Hause der Rupius vorbeiging, besann sie sich einen Augenblick, ob sie nicht gleich hinaufgehen sollte. Aber sie hatte eine unbestimmte Angst, gleich wieder in die erregte Stimmung des Hauses hineingezogen zu werden, und verschob den Besuch auf Nachmittag. Im Hause des Schwagers kam ihr Elly zuerst entgegen und empfing sie so stürmisch, als wenn sie von einer langen Reise ⎣wiederkehrte. Der Schwager, eben im Fortgehen, drohte Bertha scherzhaft mit dem Finger

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Halbschlummer] Schlummer GW lag] lag schon GW in tiefem] in GW Zuhause] Zu Hause GW sie] Berta GW giebt] gibt GW gethan! . . .] gethan! . . EA getan! . . GW Haus] Hause GW gerauft] gerauft hatte GW Anderes] anderes GW vorbeiging] vorbeikam GW

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und sagte: „Na, gut unterhalten?“ Bertha fühlte, wie sie dunkelroth wurde. „Ja,“ setzte er fort, „das sind schöne Geschichten, die man von Dir hört.“ Er merkte aber nicht ihre Verlegenheit und grüßte Bertha noch von der Thür aus mit einem Blick, der deutlich sagte: Vor mir giebt es keine Geheimnisse! „Papa macht immer solche Witze“, sagte Elly, „das gefällt mir gar nicht von ihm.“ ⎡Bertha wußte, daß ihr Schwager nur ins Blaue geredet, wie es seine Art war, und wenn sie s e l b s t ihm die Wahrheit sagte, würde er sie gar nicht glauben. Die Schwägerin trat ein, und Bertha mußte von ihrem Wiener Aufenthalt erzählen. Zu ihrem eigenen Erstaunen gelang es ihr sehr gut, Wahres und Erfundenes geschickt zu verbinden. Mit ihrer Cousine war sie im Volksgarten und in der Bildergallerie gewesen, Sonntag hatte sie eine Messe in der Stephanskirche gehört, auf der Straße hatte sie einen Lehrer aus dem Konser vatorium getroffen, und schließlich erfand sie sogar ein komisches Ehepaar, das einmal bei der Cousine zu Abend gegessen. Je mehr sie ins Lügen kam, umso größer wurde ihre Lust, ⎣auch von Emil zu erzählen und mitzutheilen, daß sie den berühmten Violinvirtuosen Lindbach, der im Conservatorium ihr Kollege gewesen, auf der Straße getroffen und gesprochen. Aber eine unbestimmte Furcht, nicht rechtzeitig innehalten zu können, hielt sie davon zurück. Frau Albertine Garlan saß in schwerer Müdigkeit auf dem Sopha und nickte mit dem Kopf, und Elly stand wie gewöhnlich am Klavier, den Kopf auf die Hände gestützt und schaute die Tante mit großen Augen an. Von der Schwägerin ging Bertha zu Mahlmanns und gab den Zwillingen die Klavierlektionen; die Fingerübungen und Scalen, die sie zu hören bekam, waren ihr anfangs uner träglich, endlich hörte sie nicht mehr zu und ließ ihre Gedanken ins Freie schweifen. Die vergnügte Stimmung des Morgens war verflogen, Wien erschien ihr unendlich fern, eine sonderbare Unruhe überkam sie, und plötzlich überfiel sie die Angst, daß Emil gleich nach seinem Concert abreisen könnte. Das wäre ja entsetzlich! Mit einem Mal war er fort, ohne daß sie ihn noch einmal ge sehen – und wer weiß, wann er wiederkäme! Ob sie es nicht jedenfalls so einrichten sollte, am Tag des Concertes in Wien zu sein. Sie mußte sich gestehen: ihn spielen zu hören, sehnte sie sich gar nicht, ⎣– ja, es kam ihr vor, 3479 3482 3486 3490 3493 3494 3495 3496 3498 3500 3502 3506 3507 3509

dunkelroth] dunkelrot EA Vor] vor EA GW giebt] gibt GW s e l b s t ] selbst EA GW Bildergallerie] Bildergalerie EA GW umso] um so GW mitzutheilen] mitzuteilen EA Conservatorium] Konservatorium GW gesprochen] gesprochen hätte GW Sopha] Sofa GW gestützt] gestützt, GW Scalen] Skalen GW Concert] Konzert GW einem Mal] einemmal GW war] wäre GW Concertes] Konzerts GW sein.] sein? GW

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als wär’ es ihr ganz lieb, wenn er gar kein Violinvirtuos, wenn er überhaupt kein Künstler, wenn er ein einfacher Mensch wäre, – Buchhalter oder was immer! Wenn sie ihn nur für sich, für sich allein haben könnte! . . . . Indeß spielten die Zwillinge ihre Scalen herunter; es war doch ein schreckliches Los, dasitzen müssen und diesen talentlosen Fratzen Klavierlektionen geben müssen. Warum war sie nur heute Früh so gut gelaunt gewesen? . . . . . Ah, die schönen Tage in Wien! Ganz abgesehen von Emil – diese vollkommene Freiheit, dieses Herumflanieren in den Straßen, dieses Spazierengehen im Volksgarten . . . . allerdings, Geld hatte sie während dieser Zeit mehr aus gegeben, als ihr erlaubt war, das brachten zwei Dutzend Lektionen bei den Mahlmannischen Zwillingen nicht herein . . . . Und jetzt hieß es wieder zurück zu den Verwandten, Stunde geben, und eigentlich wäre es sogar nothwendig, sich noch nach neuen Lektionen umzuschauen, denn in diesem Jahr wollte die Rechnung gar nicht stimmen! . . . . Ah, was für ein Leben! Auf der Straße begegnete Bertha der Frau Martin. Frau Martin fragte Bertha, wie sie sich in Wien unterhalten, mit einem Blick der deutlich ⎣aus drückte: so gut wie ich mit meinem Mann unterhältst Du Dich ja doch nicht! Bertha hatte eine unsägliche Lust, dieser Person ins Gesicht zu schreien: Mir ist es viel besser gegangen, als Du ahnst. Ich bin in einem schönen, weichen Bett gelegen, mit einem entzückenden, jungen Mann, der tausendmal liebens würdiger ist als Dein Herr Gemahl! Und ich versteh’ das Alles gerade so gut wie Du! Du hast nur einen Gatten, ich hab’ aber einen Geliebten, Geliebten, Geliebten! . . . . Doch sie sagte natürlich nichts von alledem, sondern erzählte, daß sie mit ihrer Cousine und deren Kindern im Volksgarten spazieren gegangen sei. Es begegneten ihr noch andere Frauen, mit denen sie oberflächlich bekannt ⎡war. Diesen gegenüber fühlte sie sich ganz anders als früher; freier, über legener: sie war die einzige in der Stadt, die etwas erlebt, und es that ihr beinah leid, daß Niemand etwas davon wußte, denn wenn man sie auch öffentlich verachtet, im Innern hätten sie alle diese Frauen unsäglich beneidet. Und wenn sie nun gar gewußt hätten, wer . . . . Obzwar, in diesem Nest kannten sicher Viele nicht einmal seinen Namen. – Wenn es doch irgend 3513 3514 3515 3516 3518 3519 3521 3522 3525 3526 3531 3537f. 3538 3539 3542

Indeß] Indes GW Scalen] Skalen GW dasitzen müssen] dasitzen EA GW Früh] früh EA GW Herumflanieren] Herumflaniren EA allerdings] Allerdings GW wieder] wieder: GW geben,] geben EA nothwendig] notwendig EA Frau Martin fragte] Diese fragte GW unterhalten] unterhalten habe GW Blick] Blick, GW Alles] alles GW überlegener] über legener EA erlebt] erlebt hatte GW Niemand] niemand GW Viele] viele GW

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Jemanden auf der Welt gäbe, mit dem sie sich aussprechen könnte! . . . Frau ⎣Rupius, ja Frau Rupius . . . . Aber die geht ja fort, auf Reisen! . . . . Eigentlich ist ihr das auch gleichgültig. Sie möchte nur wissen, wie das endlich mit Emil werden wird, sie möchte wissen, was es eigentlich war . . . . das ist die fürchterliche Unruhe in ihr . . . . Hat sie denn nun ein „Liebes verhältniß“ mit ihm? . . . . Ah, warum ist sie nicht doch noch einmal zu ihm gegangen? . . . . Aber sie konnte ja nicht! . . . . Dieser Brief . . . . er wollte sie ja nicht sehen! . . . Aber Blumen hatte er ihr doch geschickt . . . Nun ist sie wieder bei den Verwandten. Richard will ihr entgegen, sie in seiner scherzhaften Manier umarmen, sie stößt ihn weg; frecher Bub, denkt sie sich, ich weiß schon, wie er das meint, wenn er es auch selbst nicht weiß; ich verstehe diese Dinge, ich hab’ einen Geliebten in Wien! . . . . Die Stunde nimmt ihren Gang; am Schluß spielen Elly und Richard vierhändig die Fest ouverture von Beethoven, was eine Ueberraschung zum Geburtstag des Vaters werden soll. Bertha dachte nur an Emil. Sie war nahe daran verrückt zu werden über dieses elende Geklimper. . . . . Nein, es war nicht möglich, so weiter zu existiren, in keiner Hinsicht! . . . . Sie ist auch noch ⎣so jung . . . . Ja, das ist es, besonders das . . . . sie wird so nicht weiter leben können . . . . und das geht doch nicht, daß sie irgend einen anderen . . . . Wie kann sie nur an so etwas denken! . . . . Sie ist doch eine ganz schlechte Person! – Wer weiß, ob es nicht das war, was Emil mit seiner großen Erfahrung an ihr herausgespürt hat – und warum er sie nicht mehr sehen will . . . . Ach, die Frauen sind doch am besten dran, die alles leicht nehmen, die es fertig bringen, gleich nachdem sie einer sitzen gelassen – . . . . Aber was sind denn das wieder für Ideen! Hat er sie denn „sitzen lassen“? . . . . In drei, vier Tagen ist sie wieder in Wien, bei ihm, in seinen Armen! . . . . Und drei Jahre hat sie so leben können? . . . . Drei? . . . . – Sechs Jahre – Ihr ganzes Leben! . . . . Wenn er das nur wüßte, wenn er das nur glaubte! Die Schwägerin tritt ein; sie fordert Bertha auf, heute Abend bei ihnen zu nachtmalen . . . . Ja, das ist die einzige Zerstreuung: einmal an einem anderen Tisch als dem häuslichen eine Mahlzeit einnehmen! – Wenn es doch einen Menschen hier gäbe, mit dem man reden könnte! . . . Und Frau Rupius 3543 3546 3547f. 3550 3554 3555f. 3558 3559 3561 3562 3563 3568 3573

Jemanden] jemanden GW wissen,] wissen EA Liebesverhältniß] Liebesverhältnis EA GW sehen! . . .] sehen! . . . . GW1922 Wien! . . . .] Wien! . . . GW Festouverture] Festouvertüre GW daran] daran, GW dieses elende Geklimper. . . . .] diesem elenden Geklimper . . . . GW weiter leben] weiterleben GW irgend einen] irgendeinen GW so etwas] so was GW lassen“?] lassen?“ EA nachtmalen . . . .] nachtmahlen . . . . EA nachtmahlen. . . . GW

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reist ab, verläßt ihren Mann . . . . Ob ⎣nicht doch eine Liebesgeschichte da mitspielt? . . . . Die Stunde ist zu Ende, Bertha empfiehlt sich. Auch ihrer Schwägerin gegenüber hat sie das Gefühl der Ueberlegenheit, beinah des Mit leids. Ja, das weiß sie, nicht für ein ganzes Leben, wie diese Frau es führt, möchte sie jene eine Stunde hergeben. Dabei, so denkt sie, während sie wieder nach Hause spaziert, ist sie garnicht recht zum Bewußtsein ihres Glücks gekommen, das war ja alles so rasch vorbei. Und dann dieses Zimmer, diese ganze Wohnung, dieses schreckliche Bild . . . . Nein, nein, es war eigentlich Alles eher häßlich. Wirklich schön war doch nur, wie er sie nachher im Wagen nach Haus begleitet und ihr Kopf an seiner Brust geruht hat . . . . Ah, er hatte sie schon lieb – freilich nicht so wie sie ihn, aber war das auch möglich? Was für ein Leben lag schon hinter ihm! – Sie dachte jetzt daran ohne Eifersucht, eher mit einem leichten Bedauern für ihn, der soviel in ⎡seinem Gedächtniß mitzutragen hatte. Denn daß er das Leben nicht leicht nahm, sah man ihm an . . . . Ein heitrer Mensch war er nicht . . . . Alle die Stunden, die sie mit ihm verbracht, waren in ihrer Erinnerung wie von einer unbegreiflichen Wehmuth umflossen. Wenn sie nur alles von ihm wüßte! Er ⎣hatte ihr so wenig, . . . . nichts, nichts hatte er von sich erzählt! . . . . Aber wie sollte er das auch am ersten Tag? Ah, wenn er sie nur wirklich kennte! Wenn sie nur nicht so schüchtern, so unfähig wäre sich auszudrücken . . . Sie muß ihm noch einmal schreiben, eh sie ihn wiedersieht . . . . Ja, noch heute wird sie das thun. Der Brief, den sie ihm gestern geschickt, wie war der dumm! Er konnte auf den wahrhaftig nicht anders antworten, als er gethan. Sie durfte weder herausfordernd schreiben, noch demüthig . . . . nein, sie war ja doch seine Geliebte! Sie, die hier über die Straßen ging, von all diesen Leuten, die ihr begegneten, wie ihresgleichen angesehen, . . . . sie war die Geliebte dieses herrlichen Menschen, den sie seit ihrer Jugend angebetet. Und wie rückhaltlos, wie ohne Ziererei hatte sie sich ihm hingegeben, – keine von allen Frauen, die sie kannte, hätte das gethan! . . . . Ah, und sie thäte noch mehr! Oh ja! sie würde auch bei ihm leben, ohne seine Frau zu sein, und es wäre ihr sehr gleichgiltig, was die Leute sagten . . . . sie wäre sogar stolz darauf! Und später würde er sie ja doch heiraten . . . . ganz gewiß. Sie war auch eine so vortreffliche Hausfrau . . . . Und wie wohl mußte ihm 3581 3584 3585 3587 3589 3590 3592 3593 3597 3599 3600 3601 3605 3606

garnicht] gar nicht GW Alles] alles GW hat . . . .] hat . . . . . EA hat . . . GW lag schon] lag GW Gedächtniß] Gedächtnis EA GW an . . . .] an . . . EA GW heitrer] heiterer GW Wehmuth] Wehmut EA erzählt! . . . .] erzählt! . . . EA GW geschickt] geschickt hat GW demüthig . . . .] demütig . . . EA GW Sie,] Sie GW über] durch GW diesen] den GW angesehen, . . . .] angesehen, . . . GW Oh] O EA GW gleichgiltig] gleichgültig GW

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das thun, nach den ungeordneten ⎣Wanderjahren in einem wohlbestellten Haus wesen zu leben, ein braves Weib an seiner Seite, das nie einen Anderen ge liebt als ihn. Sie war wieder zuhause und richtete sich noch, bevor das Mittagessen aufgetragen wurde, alles zum Schreiben her. Sie aß in fieberhafter Ungeduld, sie nahm sich kaum Zeit, ihrem Buben vorzutheilen und vorzuschneiden, dann ließ sie ihn durch das Dienstmädchen auskleiden und zum Nachmittagsschlaf ins Bett legen, was sie sonst immer selbst that, setzte sich zum Schreibtisch, und die Worte flossen ihr mühelos aus der Feder als sei der ganze Brief in ihrem Kopf längst fertig gewesen. „Mein Emil, mein Geliebter, mein Alles!

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Seit ich wieder zurück bin, hab’ ich eine unbezwingbare Lust, Dir zu schreiben und möchte Dir nur immer und immer sagen, wie glücklich, wie un endlich glücklich Du mich gemacht hast. Ich war Dir im Anfang böse, daß Du mir für den Sonntag abgeschrieben hast, auch das muß ich Dir gestehen, weil ich das Bedürfniß habe, Dir Alles zu sagen, was in mir vorgeht. Leider konnte ich dies nicht, solang ich mit Dir zusammen war; es ist mir nicht ge geben, aber jetzt finde ich die Worte und Du ⎣mußt es schon ertragen, daß ich Dich mit meinem Geschreibsel langweile. Liebster, Einziger – ja, das bist Du, wenn Du auch, wie es scheint, nicht so ganz davon überzeugt warst, wie Du es sein solltest. Ich bitte Dich, glaub’ es mir. Schau, ich hab’ ja nichts Anderes als diese Worte, um es Dir zu sagen. Emil, ich habe nie, nie jemanden Andern geliebt als Dich – und werde nie einen Andern lieben! Mach’ mit mir, was Du willst, nichts bindet mich an die kleine Stadt, in der ich jetzt lebe, – ja, vielmehr es ist mir öfter schrecklich, hier existiren zu müssen. Ich will nach Wien ziehen, um in Deiner Nähe zu sein. O, habe keine Angst, ich werde Dich nicht stören! Ich bin ja nicht allein, habe mein Kind, welches ich a b g ö t t i s c h liebe. Ich werde mich einschränken, und schließlich, warum soll es mir nicht gelingen, geradeso wie hier, auch in einer großen Stadt wie Wien, ja vielleicht noch eher, Lectionen zu finden, durch die ich meine Tage aufbessern kann. Doch ist dies Nebensache, da es ja längst meine Absicht war, ⎡schon wegen meines angebeteten Kindes, wenn es größer wird, nach Wien zu

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den] soviel GW Anderen] anderen GW geliebt] geliebt hat GW zuhause] zu Hause GW vorzutheilen] vorzuteilen EA Feder] Feder, GW Alles] alles GW Bedürfniß] Bedürfnis EA GW Alles] alles GW Worte] Worte, GW Anderes] anderes GW jemanden Andern] jemanden andern GW einen Andern] einen andern GW Lectionen] Lektionen GW Tage] Lage EA GW

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übersiedeln. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie dumm hier die Menschen sind! Und ich kann überhaupt Niemanden mehr ansehen, seit ich wieder das ⎣Glück hatte, mit Dir beisammen zu sein. Gieb mir einen Rath, mein Liebster! Doch Du brauchst Dich nicht zu bemühen, mir einen ausführlichen Brief zu schreiben, ich komme jedenfalls noch diese Woche nach Wien, ich müßte es jedenfalls wegen einiger dringenden Besorgungen, und Du kannst mir dann Alles sagen, wie Du Dir’s denkst und wie Du’s am besten hältst. Du mußt mir nur ver sprechen, daß Du mich dann, wenn ich in Wien lebe, manchmal besuchen wirst; wenn es Dir unangenehm ist, braucht es ja Niemand zu wissen. Aber Du kannst mir glauben, daß jeder Tag, an dem ich Dich sehen darf, ein Festtag für mich sein wird, und daß es auf der ganzen Welt kein Wesen giebt, das Dich treuer und so bis in den Tod liebt wie ich. Lebe wohl mein Geliebter! Deine Bertha.“

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Sie wagte nicht, den Brief zu überlesen, sie verließ gleich das Haus, um ihn selbst zum Bahnhof zu bringen. Dort sah sie Frau Rupius, einige Schritte vor ihr, von einem Dienstmädchen begleitet, das eine kleine Hand tasche trug. Was sollte das bedeuten? Sie erreichte Frau Rupius in dem Augenblick, da sie in den Wartesaal trat. Das Dienstmädchen legte die Tasche auf den großen Tisch ⎣in der Mitte, küßte ihrer Herrin die Hand und ging. „Frau Rupius!“ rief Bertha wie fragend aus. Frau Rupius reichte ihr freundlich die Hand. „Ich hörte, daß Sie schon wieder zurück sind. Nun, wie ist es Ihnen gegangen?“ „Gut, o sehr gut, aber –“. „Sie sehen mich ja ganz erschrocken an; nein, Frau Bertha, ich komme wieder zurück – schon morgen. Aus der langen Reise wird nichts, ich habe mich . . . . zu etwas Anderem entschließen müssen.“ „Zu etwas Anderem?“ „Nun ja, zum Bleiben. Morgen bin ich wieder da. Nun, wie ist es Ihnen gegangen?“ „Ich sagte schon: sehr gut.“ „Ja richtig, Sie sagten es schon. Aber Sie wollen ja diesen Brief auf geben, nicht wahr?“ Jetzt erst bemerkte Bertha, daß sie den Brief an Emil noch in der Hand hielt. Sie betrachtete ihn mit so entzückten Augen, daß Frau Rupius lächelte. 3642 3643 3646 3649 3651 3653 3667 3668

Niemanden] niemanden GW Gieb] Gib GW Alles] alles GW Niemand] niemand GW giebt] gibt GW wohl] wohl, GW Anderem] anderem GW müssen.“] müssen. EA Anderem] anderem GW

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„Soll ich ihn vielleicht mitnehmen? Er soll doch wohl nach Wien.“ „Ja“, sagte Bertha, und als wäre sie glücklich, es endlich aussprechen zu können, setzte sie entschlossen hinzu: „an ihn.“ ⎣Frau Rupius nickte wie zufrieden mit dem Kopf, sah Bertha aber garnicht an und antwortete nichts. „Wie froh ich bin“, sagte Bertha, „daß ich Ihnen noch begegnet bin. Sie sind ja die Einzige hier, zu der ich Vertrauen habe, Sie sind ja die Einzige, die so etwas verstehen kann.“ „Ach nein“, sagte Frau Rupius wie im Traume vor sich hin. „Ich beneide Sie so, daß Sie heute schon in ein paar Stunden Wien wiedersehen. Wie glücklich sind Sie!“ Frau Rupius hatte sich auf einen der Lederfauteuils am Tisch gesetzt, das Kinn auf eine Hand gestützt, blickte zu Bertha auf und sagte: „Mir scheint doch eher, daß Sie es sind.“ ⎡„Nein, ich muß doch hier bleiben.“ „Warum?“ fragte Frau Rupius. „Sie sind ja frei. Aber werfen Sie den Brief doch jetzt in den Kasten, sonst seh’ ich die Adresse und weiß dann mehr, als Sie mir sagen wollen.“ „Nicht deswegen, aber – ich möchte, daß der Brief noch mit diesem Zug. . . .“ Sie eilte rasch in die Vorhalle, warf den Brief ein, war gleich wieder bei Anna, die in derselben ruhigen Haltung dasaß, und fuhr zu reden fort: „Ihnen könnte ich ⎣nämlich Alles sagen, ja vielmehr, ich wollte schon, be vor ich hineinfuhr . . . . aber denken Sie, wie sonderbar, da hab’ ich mich nicht getraut.“ „Damals war wohl auch noch nichts zu erzählen“, sagte Frau Rupius, ohne Bertha anzusehen. Bertha staunte. Wie klug war diese Frau! Wie durchschaute sie die Menschen! „Nein, damals war noch nichts zu erzählen“, wiederholte sie, in dem sie Frau Rupius mit einer Art von Verehrung ansah. „Denken Sie nur, es ist wohl unglaublich, was ich Ihnen jetzt sagen werde, aber ich käme mir wie eine Lügnerin vor, wenn ich’s verschwiege.“ „Nun?“ Bertha hatte sich auf einen Sessel neben Frau Rupius gesetzt und sprach leiser, da die Thüre zur Vorhalle offenstand. „Ich wollte Ihnen nämlich sagen, Anna, daß mir garnicht so ist, als wenn ich etwas Böses gethan hätte, nicht einmal etwas unerlaubtes.“ „Das wär’ auch nicht sehr klug.“

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garnicht] gar nicht GW Sie] S i e GW Alles] alles GW erzählen“,] erzählen,“ EA verschwiege.“] verschwiege. EA GW garnicht] gar nicht GW unerlaubtes] Unerlaubtes EA GW

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„Ja, Sie haben schon Recht . . . ich meinte auch noch mehr: es ist mir, als wenn ich etwas ganz Gutes, als wenn ich etwas Besonderes gethan hätte. Ja, Frau Rupius, es ist nun einmal so, ich bin stolz seitdem!“ ⎣„Nun, dazu liegt wohl auch kein Grund vor“, sagte Frau Rupius, in dem sie Berthas Hand, die auf dem Tisch lag, wie in Gedanken streichelte. „Das weiß ich ja, aber doch bin ich so stolz und komme mir ganz anders vor, als alle Frauen, die ich kenne. Sehen Sie, wenn Sie wüßten . . . wenn Sie ihn kennten – es ist eine so seltsame Geschichte! Sie dürfen nämlich nicht glauben, daß das eine Bekanntschaft ist, die ich kürzlich gemacht habe – ganz im Gegentheil, Sie müssen wissen, ich bin in ihn verliebt, seit ich ein ganz junges Mädel war, zwölf Jahre ist das schon her, und lange Zeit hatten wir uns garnicht gesehen, und jetzt – ist es nicht wunderbar? – jetzt ist er mein . . . mein . . . mein . . . Geliebter!“ Endlich hatte sie’s gesagt, ihr ganzes Gesicht strahlte. Frau Rupius sah sie mit einem Blick an, in dem etwas Spott und sehr viel Freundlichkeit lag. Sie sagte: „Ich freue mich, daß Sie glücklich sind.“ „Sie sind ja so gut! Aber sehen Sie, es ist doch andererseits wieder schrecklich, daß wir so fern von einander sind; er lebt in Wien, ich hier, – ich glaube, ich werde das garnicht aushalten. Ich hab’ auch nicht mehr das Gefühl, wie wenn ich hierher gehörte, insbesondere zu meinen Verwandten. Wenn ⎣die es wüßten . . . . nein, wenn die es wüßten –! Sie würden es übrigens garnicht glauben. Eine Frau wie meine Schwägerin zum Beispiel, – nun, ich bin überzeugt, die denkt garnicht daran, daß sowas überhaupt mög lich ist.“ „Aber Sie sind wirklich sehr naiv“, sagte Frau Rupius plötzlich, beinahe aufgebracht. Sie lauschte. „Mir war, als hörte ich den Zug schon pfeifen.“ Sie stand auf, ging zu der großen Glasthür, die auf den Perron führt, und sah hinaus. Der Portier kam und ersuchte um die Fahrkarten, die er markieren wollte. Zugleich sagte er: „Der Zug nach Wien hat 20 Minuten Verspätung.“ ⎡Bertha war aufgestanden und zu Frau Rupius getreten. „Warum haben Sie gemeint, daß ich naiv bin?“ fragte sie schüchtern. „Aber Sie kennen ja die Menschen gar nicht“, erwiderte Frau Rupius wie ärgerlich. „Sie haben ja gar keine Ahnung, unter was für Leuten Sie existieren. Ich versichere Sie, Sie brauchen garnicht stolz zu sein.“ „Ich weiß ja, daß es sehr dumm von mir ist.“ „Ihre Schwägerin – das ist köstlich – Ihre Schwägerin –!“

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Recht] recht GW vor“,] vor,“ EA Gegentheil] Gegenteil EA garnicht] gar nicht GW von einander] voneinander GW wüßten –!] wüßten! – EA GW garnicht] gar nicht GW sowas] so was GW existieren] existiren EA garnicht] gar nicht GW

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„Was meinen Sie denn?“ ⎣„Ich meine, daß Ihre Schwägerin auch einen Geliebten gehabt hat.“ „Aber wie kommen Sie auf diese Idee!“ „Nun, sie ist nicht die Einzige in dieser Stadt.“ „Ja, es giebt gewiß Frauen, die . . . . aber Albertine –“ „Und wissen Sie, wer es war? Das ist sehr amüsant! Herr Klinge mann!“ „Nein, das ist nicht möglich!“ „Allerdings ist es schon lange her; etwa zehn Jahre oder elf.“ „Aber zu der Zeit waren Sie ja selbst noch nicht hier, Frau Rupius.“ „O, ich hab’ es aus der besten Quelle – Herr Klingemann selbst hat’s mir erzählt.“ „Herr Klingemann selbst? – Ist es denn möglich, daß ein Mensch so gemein – “ „Das ist sogar ganz gewiß.“ Sie setzte sich nieder, auf einen Sessel neben der Thür, Bertha blieb neben ihr stehen und hörte ihr staunend zu. „Ja, Herr Klingemann . . . . er hat mir nämlich die Ehre erwiesen, gleich als ich in die Stadt kam, mir sehr lebhaft den Hof zu machen, auf Tod und Leben, wie man so sagt. Sie wissen ja selbst, was für ein widerwärtiger Kerl er ist. Ich hab’ ihn ⎣ausgelacht, das hat ihn wahrscheinlich sehr gereizt, und offenbar hat er geglaubt, mich durch die Erzählungen von seinen Eroberungen von seiner Unwiderstehlichkeit zu überzeugen.“ „Aber vielleicht hat er Ihnen Dinge erzählt, die nicht wahr sind.“ „Manches wohl, aber diese Geschichte ist zufällig wahr . . . . Ah, was sind die Männer für ein Gesindel!“ Sie sprach es mit dem Ausdruck tiefsten Hasses. Bertha war ganz erschrocken. Nie hatte sie es für möglich gehalten, daß Frau Rupius solche Worte sprechen könnte. „Ja, warum sollen Sie nicht wissen, unter was für Menschen Sie existiren?“ „Nein, das hätt’ ich nie für möglich gehalten! Wenn das mein Schwager wüßte –!“ „Wenn er es wüßte? Er weiß es so gut wie Sie, wie ich.“ „Wie?! Nein, nein!“ „Er hat sie ja erwischt – verstehen Sie mich! . . . Herrn Klingemann und Albertine! Sodaß beim besten Willen kein Zweifel möglich war!“ „Ja, um Gotteswillen, was hat er denn da gethan?“ „Nun, Sie sehen ja, er hat sie nicht hinausgeworfen.“ ⎣„Nun ja, die Kinder . . . . freilich!“ „Ach was, die Kinder! Aus Bequemlichkeit hat er ihr verziehen – und

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denn?“] denn? EA giebt] gibt GW die . . . .] die . . . GW gemein – “] gemein–“ GW Erzählungen von seinen] Erzählung seiner EA GW existiren?“] existiren? EA Wie?!] Wie!? GW Sodaß] So daß GW

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hauptsächlich, weil er dann selber thun konnte, was er wollte. Sie sehen ja, wie er sie behandelt. Sie ist doch nichts viel Besseres als sein Dienstmädchen; Sie sehen ja, wie gedrückt und elend sie immer herumschleicht. Er hat es da hin gebracht, daß sie sich von dem Moment an immer wie eine Begnadigte vorkommen mußte, und ich glaube, sie hat sogar eine ewige Angst, daß er die Bestrafung einmal nachholen könnte. Aber das ist eine dumme Angst, er würde sich um keinen Preis um eine andere Wirthschafterin umsehen . . . Ah, ⎡meine liebe Frau Bertha, wir sind ja gewiß keine Engel, wie Sie nun aus eigener Erfahrung wissen, aber die Männer sind infam, solang . . .“ Es war, als zögerte sie, den Satz zu enden, „solang sie Männer sind.“ Bertha war wie vernichtet. Weniger, wegen der Dinge, die ihr Frau Rupius erzählte, als wegen der Art, in der sie es gethan. Sie schien eine ganz Andere geworden zu sein, und Bertha war es ganz weh ums Herz. – Die Perronthür wurde geöffnet, man hörte das leise, ununterbrochene Klingeln des Telegraphen. ⎣Frau Rupius stand langsam auf, ihr Gesicht nahm einen milden Ausdruck an, sie reichte Bertha die Hand und sagte: „Verzeihen Sie mir, ich war nur ein bischen ärgerlich. Es kann ja auch sehr schön sein, es giebt sicher auch anständige Menschen . . . o gewiß, es kann sehr schön sein!“ Sie blickte auf die Geleise hinaus, als folgte sie den eisernen Linien ins Weite. Dann sagte sie wieder ganz mit der sanften, wohltönenden Stimme, die Bertha so sehr an ihr liebte: „Morgen Abend bin ich wieder zu Hause . . . Ja, richtig, mein Necessaire.“ Sie eilte zum Tisch und nahm ihre Tasche. „Das wär’ nämlich furchtbar gewesen, ohne meine zehn Flaschen kann ich nicht reisen! Also leben Sie wohl! Und vergessen Sie doch nicht, daß das Alles seit zehn Jahren vorbei ist.“ Der Zug fuhr ein, sie eilte rasch zu einem Coupé, stieg ein und nickte Bertha noch vom Fenster aus freundlich zu. Bertha versuchte, ebenso heiter zu erwidern, aber sie fühlte, daß das Händewinken, mit dem sie der Scheiden den nachgrüßte, steif und gekünstelt war. Langsam ging sie wieder nach Hause. Vergeblich suchte sie sich zu über reden, daß sie all das gar nichts anging, weder das längstvergangene Ver⎣hält niß ihrer Schwägerin noch die Niedrigkeit ihres Schwagers, noch die Gemein heit Klingemanns, noch die sonderbaren Launen dieser unbegreiflichen Frau Rupius. Sie konnte sich’s nicht erklären; aber es war ihr, als hätte alles das, was sie gehört, auch irgend eine geheimnißvolle Beziehung zu ihrem Abenteuer. Plötz 3794 3795 3796 3800 3804 3805 3811 3813 3818f. 3819 3822

Wirthschafterin] Wirtschafterin EA gewiß] gewiß EA Es] es EA GW Andere] andere GW bischen] bißchen GW giebt] gibt GW Menschen . . .] Menschen . . EA GW Alles] alles GW Coupé] Kupee GW Verhältniß] Verhältnis EA GW Schwägerin] Schwägerin, EA GW geheimnißvolle] geheimnisvolle EA GW

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lich waren die nagenden Zweifel wieder da . . . . Warum hatte er sie nicht noch einmal sehen wollen? Nicht am Tage drauf, nicht zwei, nicht drei Tage später? Warum? – Er hatte sein Ziel erreicht, das war ihm genug . . . . Wie hatte sie ihm nur diesen tollen, schamlosen Brief schreiben können? Und eine Angst tauchte in ihr auf . . . . Wenn er ihn am Ende einer andern Frau zeigte . . . mit ihr zusammen sich darüber lustig machte . . . . Nein, was fiel ihr denn nur ein! An so etwas nur zu denken! . . . Es war ja möglich, daß er den Brief nicht beantwortete, in den Papierkorb warf, – aber sonst nichts . . . nein . . . Im übrigen, nur Geduld, in zwei, drei Tagen ist Alles entschieden. Sie wußte nicht recht, was, aber sie fühlte, daß diese uner trägliche Verirrung in ihr nicht mehr lange dauern konnte. Irgendwie mußte sie sich lösen. Am späten Nachmittag machte sie wieder einmal mit ihrem Buben einen Gang in den Weingeländen, ⎣aber sie betrat den Friedhof nicht. Dann wandelte sie langsam hinunter und spazierte unter den Kastanien. Sie plauderte mit Fritz, fragte ihn über allerlei aus, ließ sich Geschichten von ihm erzählen, unter richtete ihn über Manches, wie sie es oft zu thun pflegte, versuchte ihm zu er klären, wie weit die Sonne von der Erde entfernt sei, wie aus den Wolken der Regen komme und wie die Trauben wachsen, aus denen der Wein gemacht wird. Sie ärgerte sich nicht, wie sonst manchmal, wenn der Bub nicht recht aufmerkte, weil sie ganz gut fühlte, daß sie nur sprach, um sich selbst zu zer streuen. Dann wandelte sie den Hügel hinab und unter den Kastanien wieder der Stadt zu. Bald sah sie Klingemann kommen, aber es machte nicht den geringsten Eindruck auf sie; er sprach sie mit erzwungener Höflichkeit an, hielt ⎡immer den Strohhut in der Hand und affectirte einen großen, beinahe düstern Ernst. Er schien sehr gealtert, auch merkte sie, daß seine Kleidung eigentlich gar nicht elegant, sondern vernachlässigt sei. Sie mußte sich ihn plötzlich in einer zärtlichen Umarmung mit ihrer Schwägerin vorstellen und war sehr an gewidert. Später setzte sie sich auf eine Bank und sah zu, wie Fritz mit andern Kindern spielte immer mit gespannter Auf⎣merksamkeit, um nicht an Anderes denken zu müssen. Am Abend war sie bei den Verwandten. Sie hatte die Empfindung, als hätte sie Alles längst geahnt; denn wie wäre ihr sonst die Art der Beziehungen zwischen Schwager und Schwägerin nicht früher aufgefallen. Der Schwager

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nicht noch] nicht GW auf . . . .] auf . . . EA GW machte . . . .] machte . . . EA machte . . ! GW Alles] alles GW Verirrung] Verwirrung GW mehr lange] lange mehr GW Manches] manches GW affectirte] affektierte GW sondern] sondern geradezu EA GW spielte] spielte, EA GW Anderes] anderes GW Alles] alles GW

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machte wieder seine Scherze über Berthas Reise nach Wien, er fragte, wann sie wieder hineinfahren und ob man nicht bald von ihrer Verlobung hören würde. Bertha ging auf die Scherze ein und erzählte, daß sich mindestens ein Dutzend um ihre Hand bewürben, darunter ein Minister; aber sie fühlte, daß nur ihre Lippen sprächen und lächelten, während ihre Seele ernst und schweigend blieb. Richard saß neben ihr und berührte zufällig mit seinem Knie das ihre, und als er ihr ein Glas Wein einschenkte und sie abwehrend seine Hand ergriff, fühlte sie eine wohlige Wärme an ihrem Arme bis in die Schulter gleiten. Sie war darüber zufrieden. Es schien ihr, sie beginge jetzt eine Untreue. Und das war ganz recht: Sie wollte, Emil wüßte, daß ihre Sinne wach wären, daß sie geradeso war, wie andere Weiber, und daß sie sich von dem jungen Neffen geradeso umarmen lassen konnte, wie von ihm . . . Ah ja, wüßte er es nur! Das hätte sie ⎣ihm schreiben sollen! Nicht den demüthig lüsternen Brief . . . Aber auch unter dem Wellengang dieser Gedanken blieb der Grund ihrer Seele ernst, und selbst ein Gefühl von Verlassenheit kam über sie, weil sie wußte, daß niemand ahnen konnte, was in ihr vorging. Als sie dann allein durch die leeren Straßen nach Hause ging, begegnete sie einem Offizier, den sie vom Sehen kannte, mit einer hübschen Frauensperson, die sie noch nie gesehen. Sie dachte: offenbar eine aus Wien. Denn es war ihr bekannt, daß die Offiziere manchmal derartige Besuche erhielten. Sie hatte ein Gefühl des Neides gegen diese Frau, sie wünschte, daß auch sie jetzt von einem hübschen, jungen Offizier nach Hause begleitet werden könnte . . . Warum auch nicht? . . . Alle sind schließlich so . . und sie ist jetzt auch keine anständige Frau mehr! Emil glaubt es ja auch nicht, und es ist Alles so egal! Sie kommt nach Hause, entkleidet sich, legt sich zu Bett. Aber es ist zu schwül. Sie steht noch einmal auf, geht zum Fenster, öffnet es; draußen ist es ganz dunkel. Vielleicht sieht sie jetzt Jemand am Fenster stehen, sieht ihre Haut durchs Dunkel leuchten . . . . Ja, wenn sie nur Einer so sähe, es ⎣wäre ihr ganz recht! . . . . Dann legt sie sich wieder ins Bett . . . . Ach ja, sie ist nicht besser als die Andern! Und es ist auch gar nicht nothwendig, daß sie’s ist . . . . Die Gedanken verschwimmen ihr . . . . Ja, und er ist d’ran schuld, er hat sie dazu gemacht, er hat sie einmal genommen wie Eine von der

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sprächen] sprachen GW sie beginge] als beginge sie GW Sie] sie EA GW geradeso] gerade so EA GW demüthig] demütig EA und selbst] und GW so . .] so . . . GW Alles] alles GW Jemand] jemand GW Einer] einer GW Andern] anderen GW nothwendig] notwendig EA d’ran] dran GW Eine] eine GW

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Straße – und dann fort mit Dir! . . . Ah, pfui, pfui – sind die Männer infam! – Und doch . . . es war schön . . . . . . Sie schläft. – *

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* * Am nächsten Morgen fiel ein langsamer, warmer Regen. So konnte Bertha ihre ungeheure Ungeduld leichter ertragen, als wenn die Sonne herunter brannte. Es war ihr, als hätte sich während des Schlafes Manches in ihr geglättet. In der grauen Milde dieses Morgens erschien Alles so einfach und ⎡durchaus nicht merkwürdig. Morgen wird der Brief da sein, den sie erwartet, und heute ist ein Tag wie hundert andere. Sie gab ihre Lektionen. Mit ihrem Neffen war sie heute sehr streng und klopfte ihm auf die Finger, als er gar zu schlecht spielte. Er war ein fauler Schüler, nichts weiter. Nachmittag kam sie auf eine Idee, die ihr selbst ⎣höchst lobenswürdig vor kam. Schon lange hatte sie sich vorgenommen, ihren Buben lesen zu lehren, heute sollte der Anfang gemacht werden, und sie plagte sich richtig eine gute Stunde damit, ihm einige Buchstaben beizubringen. Es regnete noch immer; schade, daß man nicht spazieren gehen konnte! Der Nachmittag wird lang, sehr lang werden. Sie sollte doch endlich zu Rupius gehen. Es ist häßlich, daß sie noch nicht bei ihm war, seit sie zurück ist. Es ist wohl möglich, daß er sich ein wenig vor ihr schämt, weil er neulich so große Worte gebraucht, und nun bleibt Anna doch bei ihm. Sie verließ das Haus. Trotz des Regens ging sie vorerst hinaus ins Freie. So ruhig wie heute war sie lange nicht gewesen, sie freute sich dieses Tages ohne Aufregung, ohne Angst, ohne Erwartung. Könnte es doch immer so sein! Es war wunderbar, mit welcher Gleichgiltigkeit sie an Emil dachte. Am liebsten hätte sie gar nichts mehr von ihm hören und diese Ruhe für alle Zeit bewahren wollen . . Ja, so war es schön und gut. In der kleinen Stadt leben, die paar Lektionen geben, die doch keine große Anstrengung verursachten, den Buben aufziehen, ihn lesen, schreiben, rechnen lehren! – War denn das, ⎣was sie in den letzten Tagen erlebt, so viel Kummer, – ja so viel Demütigung wert? . . . Nein, sie war zu solchen Dingen nicht geschaffen. Es war ihr, als klänge ihr der Lärm der großen Stadt, der sie das letzte Mal nicht gestört, jetzt erst in den Ohren; und sie freute sich der schönen Stille, die sie hier umgab. So erschien ihr die tiefe Ermattung, darein ihre Seele nach den un gewohnten Erregungen versunken war, wie eine endgiltige Beruhigung . . . Und doch, schon nach kurzer Zeit, als sie sich der Stadt wieder zuwandte, schwand

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schön . . . . . .] schön . . . . . GW Manches] manches GW Alles] alles GW gebraucht,] gebraucht hat; – GW Gleichgiltigkeit] Gleichgültigkeit GW Kummer, – ja] Kummer, – GW letzte Mal] letztemal GW endgiltige] endgültige GW

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diese innere Ruhe allmählich, und unbestimmte Ahnungen von neuen Aufregungen und Leiden erwachten. Der Anblick eines jungen Paars, das an ihr vorüber ging, eng aneinander gepreßt, unter aufgespanntem Regenschirm, jagte die Sehn sucht nach Emil in ihr auf; sie wehrte sich nicht dagegen, denn sie wußte schon: in ihr war Alles so umgewühlt, daß jeder Hauch Anderes und meist das Unvermutete an die Oberfläche ihrer Seele brachte. Es dämmerte, als Bertha zu Herrn Rupius ins Zimmer trat. Er saß am Tisch, eine Mappe mit Bildern vor sich. Die Hängelampe war angezündet. Er sah auf und erwiderte ihren Gruß. Dann sagte er: „Sie sind ja schon seit vorgestern ⎣Abend wieder zurück.“ Es klang wie ein Vorwurf und Bertha fühlte sich schuldig. „Nun, setzen Sie sich“, fuhr er fort, „und erzählen Sie mir, was Sie in der Stadt erlebt haben.“ „Erlebt hab’ ich nichts. Im Museum bin ich gewesen, hab’ auch manche von Ihren Bildern wieder erkannt.“ Rupius antwortete nichts. „Ihre Frau kommt noch heute Abend zurück?“ „Ich glaube nicht.“ Er schwieg; dann sagte er mit absichtlicher Trocken heit: „Ich muß Sie um Entschuldigung bitten, daß ich Ihnen neulich Dinge gesagt, die Sie ja unmöglich interessiren können. Im übrigen glaub’ ich nicht, daß meine Frau heute wiederkommen wird.“ „Aber . . . Sie sagte mir ja selbst . . . .“ „Ja, auch mir. Sie wollte mir einfach den Abschied ersparen, vielmehr die Komödie des Abschieds. Damit mein’ ich gar nicht etwas Verlogenes, sondern nur die Dinge, die das Abschiednehmen zu begleiten pflegen: gerührte ⎡Worte, Thränen . . . Nun, genug davon. Werden Sie mir zuweilen Gesell schaft leisten? Ich werde nämlich ziemlich allein sein, wenn meine Frau nicht mehr bei mir ist.“ Der Ton, in dem er das Alles sagte, stimmte in ⎣seiner Schärfe so wenig zu dem Inhalt seiner Rede, daß Bertha vergeblich nach einer Erwiderung suchte. Aber Rupius sprach gleich weiter: „Nun, und außer dem Museum, was haben Sie noch gesehen?“ Bertha begann mit großer Geschäftigkeit allerlei von ihrer Wiener Reise zu erzählen, auch von einem Jugendfreund berichtete sie, den sie nach langer Zeit wieder getroffen, und zwar, wie sonderbar! gerade vor dem Falckenborgischen Bild. Während sie so von Emil sprach, ohne seinen Namen zu nennen, wuchs ihre Sehnsucht ins Ungemessene, und sie dachte daran, ihm heute noch einmal zu schreiben. 3925 3925f. 3926 3928 3933 3937 3944 3950 3951 3956

Paars] Paares GW vorüber ging] vorüberging GW aneinander gepreßt] aneinandergepreßt GW Alles] alles GW Anderes] anderes GW Vorwurf] Vorwurf, EA GW wieder erkannt] wiedererkannt GW Aber . . .] Aber . . . EA Aber . . . . GW Alles] alles GW seiner] der GW Falckenborgischen] Falckenborghischen GW1922

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Da sah sie, wie Rupius die Augen starr auf die Thüre geheftet hielt. Seine Frau war eingetreten, kam lächelnd auf ihn zu, sagte: „Da bin ich wieder“, küßte ihn auf die Stirn und reichte Bertha ihre Hand zum Gruß. „Guten Abend, Frau Rupius“, sagte Bertha, höchst erfreut. Herr Rupius sprach kein Wort, doch sein Antlitz schien in heftiger Bewegung. Frau Rupius, die noch den Hut nicht abgelegt hatte, wandte sich einen Augenblick ab, da bemerkte Bertha, wie Rupius sein Gesicht auf beide Hände stützte und in sich hinein zu schluchzen begann. Bertha ging. Sie war froh, daß Frau Rupius ⎣wiedergekommen war, es schien ihr wie eine gute Vorbedeutung. Morgen Früh schon konnte der Brief da sein, der vielleicht ihr Schicksal entschied. Mit ihrer Ruhe war es wieder ganz vorbei; doch war ihr Wesen von einer anderen Sehnsucht erfüllt als früher. Sie wollte ihn nur da haben, in ihrer Nähe, sie hätte ihn nur sehen, an seiner Seite gehen wollen. Am Abend, nachdem sie ihren Buben zu Bett gebracht, blieb sie noch lang allein im Speisezimmer; sie spielte auch ein paar Akkorde auf dem Klavier, dann trat sie ans Fenster und sah ins Dunkle hinaus. Der Regen hatte aufgehört, die Erde trank die Feuchtigkeit ein, noch hingen die Wolken schwer über dem Land. Berthas ganzes Wesen wurde Sehnsucht, Alles in ihr rief nach i h m , ihre Augen suchten ihn aus der Dunkel heit hervorzuschauen, ihre Lippen hauchten einen Kuß in die Luft, als könnte er die seinen erreichen, und unbewußt, als müßten ihre Wünsche in die Höhe, fort von allem Andern, was sie umgab, flüsterte sie, indem sie zum Himmel aufschaute: „Gieb mir ihn wieder!“ . . Nie war sie so sein gewesen als in diesem Augenblick. Ihr war, als liebte sie ihn jetzt zum ersten Male. Nichts von Allem war beigemischt, was sonst ihr Gefühl trübte, keine Angst, ⎣keine Sorge, kein Zweifel, Alles in ihr war die reinste Zärtlichkeit, und als jetzt ein leichter Wind herangeweht kam und ihre Stirnhaare bewegte, war ihr, als käme der Hauch von ihm. Am nächsten Morgen kam kein Brief. Bertha war ein wenig enttäuscht, aber nicht beunruhigt. Bald erschien Elly, die plötzlich eine große Lust be kommen hatte, mit dem Buben zu spielen. Das Dienstmädchen brachte vom Markt die Nachricht, daß man von Rupius aus sehr eilig zum Arzt geschickt hätte, doch wußte sie nicht, ob Herr oder Frau Rupius erkrankt sei. Bertha beschloß, noch vor Tisch selbst anzufragen. Sie gab ihre Lection bei Mahl manns sehr zerstreut und nervös, dann ging sie zu Rupius. Das Dienst mädchen sagte ihr, die gnädige Frau wäre erkrankt und läge zu Bett, es sei nichts Gefährliches, aber Doktor Friedrich habe Besuche streng verboten. Bertha

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Früh] früh EA GW Alles] alles GW Andern] andern GW Gieb] Gib GW Allem] allem GW Alles] alles GW Lection] Lektion GW

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erschrak. Sie hätte gern Herrn Rupius gesprochen, aber sie wollte nicht zu dringlich sein. Nachmittags versuchte sie, den Unterricht ihres Buben fortzusetzen, aber ⎡es wollte ihr nicht gelingen. Wieder war ihr, als würden durch die Erkrankung Annas ihre eigenen Hoffnungen beeinflußt; wenn Anna gesund wäre, müßte auch der Brief schon da ⎣sein. Sie wußte, daß das ganz unsinnig war, aber sie konnte sich nicht dagegen wehren. Nach fünf Uhr begab sie sich wieder zu Rupius. Das Mädchen ließ sie ein. Herr Rupius wollte sie selbst sprechen. Er saß in seinem Sessel am Tische. „Nun?“ fragte Bertha. „Eben ist der Doktor drin; wenn Sie ein paar Minuten warten wollen . . .“ Bertha getraute sich nicht zu fragen. Beide schwiegen. Nach ein paar Sekunden trat Doktor Friedrich heraus. „Nun, es läßt sich noch nicht mit Be stimmtheit sagen“, sagte er langsam, und setzte mit einem plötzlichen Entschluß hinzu: „Entschuldigen Sie, gnädige Frau, es ist durchaus nothwendig, daß ich mit Herrn Rupius allein rede.“ Rupius zuckte zusammen. Bertha sagte mechanisch: „So will ich nicht stören“ und entfernte sich. Aber in ihrer Erregung war es ihr unmöglich, nach Hause zu gehen, und sie nahm den Weg zwischen den Rebengeländen dem Friedhofe zu. Sie fühlte, daß irgend etwas Geheimnißvolles in jenem Hause vorging. Es kam ihr der Gedanke, ob Anna nicht einen Selbstmordversuch gemacht haben könnte. Wenn sie nur nicht stirbt, dachte sie. Und zugleich war der Gedanke da: wenn nur ein lieber Brief ⎣von Emil kommt! Sie schien sich von lauter Gefahren umgeben. Sie betrat den Friedhof. Es war heute ein schöner, warmer Sommertag und die Blüten und Blumen dufteten neu nach dem gestrigen Regen. Bertha ging den gewohnten Weg bis zum Grab ihres Mannes. Aber sie fühlte, daß sie hier garnichts zu suchen hatte. Es war ihr beinah peinlich, die Worte auf dem Grabstein zu lesen, die ihr nicht das Geringste mehr bedeuteten: Victor Mathias Garlan, gestorben am 6. Juni 1895. Jetzt schien ihr irgend ein Spaziergang mit Emil vor zehn Jahren näher zu liegen als die Jahre, die sie an der Seite ihres Mannes verbracht. Das war über haupt garnichts mehr . . . sie hätte garnicht daran geglaubt, wenn Fritz nicht auf der Welt gewesen wäre . . . . Plötzlich fuhr ihr durch den Sinn: Fritz ist garnicht sein Sohn . . . am Ende ist er Emils Sohn . . . Sind solche Dinge nicht am Ende möglich? . . . Und es war ihr in diesem Augenblick, 4009 4010 4011 4016 4021 4023 4025 4026 4028 4030 4031

nicht] nichts GW langsam,] langsam GW nothwendig] notwendig EA Geheimnißvolles] Geheimnisvolles EA GW Sommertag] Sommertag, GW garnichts] gar nichts GW Victor] Viktor GW irgend ein] irgendein GW garnichts] gar nichts GW garnicht] gar nicht GW garnicht] gar nicht GW nicht am Ende] nicht GW

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als könnte sie die Lehre vom heiligen Geist verstehen . . . Dann erschrak sie selbst über das Unsinnige ihrer Gedanken. Sie blickte auf den breiten Weg, der von dem Thor des Kirchhofs geradlinig bis zur gegenüber liegenden Mauer zog, und mit einem Mal wußte sie ganz bestimmt, daß man in wenigen Tagen den Sarg mit der Leiche ⎣der Frau Rupius diesen Weg tragen würde. Sie wollte diesen Gedanken verscheuchen, aber er war in völliger Bildhaftigkeit da, der Leichenwagen stand vor dem Thor; dort, dieses Grab, das zwei Männer eben aufschaufelten, war für Frau Rupius bestimmt; und Herr Rupius wartete am offenen Grab. Er saß in seinem Rollstuhl, den Plaid auf den Knieen, und starrte dem Sarg entgegen, den die schwarzen Männer langsam heran tragen . . . . Das war mehr als eine Ahnung, das war ein Wissen . . . . Aber woher kam ihr das? – Jetzt hörte sie Leute hinter sich reden; zwei Frauen kamen an ihr vorüber, die eine war die Wittwe eines Oberstleutnants, der vor Kurzem gestorben war, die andere die Tochter; Beide grüßten sie und schritten langsam weiter. Bertha dachte, daß diese beiden Frauen sie für eine treue Wittwe halten würden, die noch immer ihren Gatten beweinte; sie kam sich wie eine Lügnerin vor und entfernte sich eilig. Vielleicht war irgend eine Nachricht da, am Ende ein Telegramm von Emil – das wäre ja nichts Be sonderes . . . sie stünden einander doch nah genug . . . Ob Frau Rupius noch daran denkt, was Bertha ihr auf dem Bahnhof gesagt, ob sie vielleicht ⎡im Fieber davon redet . . . Uebrigens ist das ja so gleichgültig. Wichtig ist ⎣nur, daß Emil schreibt und daß Frau Rupius gesund wird . . . Sie muß noch einmal hin, sie muß Herrn Rupius sprechen, er wird ihr schon sagen, was der Arzt von ihm wollte . . . Und sie eilt zwischen den Rebengeländen den Hügel hinab, nach Hause . . . . Nichts ist gekommen, kein Brief, kein Telegramm . . . Fritz ist mit dem Mädchen ausgegangen. Ah, wie allein ist sie! Sie eilt wieder zu Rupius, das Mädchen öffnet ihr. Es geht sehr schlecht, Herr Rupius ist nicht zu sprechen . . . . „Was fehlt ihr denn? Wissen Sie nicht, was der Doktor gesagt hat?“ „Eine Entzündung, hat der Doktor g’sagt.“ „Was für eine Entzündung?“ „Oder hat er gar g’sagt, eine Blutvergiftung. Es wird gleich eine Wärterin vom Spital kommen.“ 4033 4034 4035 4039 4040 4041f. 4044 4045 4047 4048 4049f. 4050 4051

Weg,] Weg EA geradlinig] gradlinig GW einem Mal] einemmal GW bestimmt;] bestimmt, GW Knieen] Knien GW herantragen] herantrugen GW Wittwe] Witwe EA GW Kurzem] kurzem GW Beide] beide GW Wittwe] Witwe EA GW irgend eine] irgendeine GW Besonderes] merkwürdiges GW stünden] standen EA GW gesagt] gesagt hat GW

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Bertha ging. Auf dem Platz vor dem Kaffeehaus saßen einige Leute, an einem Tisch ganz vorn Offiziere, wie gewöhnlich um diese Zeit. Die wissen nicht, was da oben vorgeht, dachte Bertha, sonst könnten sie nicht da sitzen und lachen . . . . Blutvergiftung – ja, was hatte das zu bedeuten? . . . Gewiß: es war ein Selbstmordversuch! . . . Aber warum? . . . Weil sie nicht fort reisen durfte – ⎣oder wollte? – Aber sie wird nicht sterben – nein, sie darf nicht sterben! Um die Zeit hinzubringen, besucht Bertha ihre Verwandten. Nur die Schwägerin ist zuhause, sie weiß schon von der Erkrankung der Frau Rupius, aber das berührt sie nicht sehr, und sie spricht bald von anderen Dingen. Bertha erträgt es nicht und entfernt sich. Am Abend versucht sie, ihrem Buben Geschichten zu erzählen, dann liest sie die Zeitung, wo sie unter Anderem auch wieder eine Ankündigung des Concerts unter Mitwirkung Emils findet. Es kommt ihr ganz sonderbar vor, daß das Concert noch immer bevorsteht und nicht schon längst vorüber ist. Sie kann nicht schlafen gehen, ohne noch einmal bei Rupius angefragt zu haben. Sie trifft die Wärterin im Vorzimmer. Es ist diejenige, die Doktor Friedrich immer zu seinen Privatpatienten schickt. Sie hat ein heiteres Antlitz und tröstliche Augen. „Unser Doktor wird die Frau Rupius schon herausreißen,“ sagt sie. Und obzwar Bertha weiß, daß diese Wärterin immer Bemerkungen solcher Art macht, fühlt sie sich doch beruhigter. Sie geht nach Hause, legt sich zu Bett und schlummert ruhig ein. ⎣Am nächsten Morgen wacht sie spät auf. Sie ist ausgeschlafen und frisch. Auf dem Nachtkästchen liegt ein Brief. Jetzt erst besinnt sie sich: Frau Rupius ist schwer krank, und das ist ein Brief von Emil. Sie greift so eilig nach ihm, daß der kleine Leuchter heftig schwankt, reißt das Couvert herunter und liest: „Meine liebe Bertha! Vielen Dank für Deinen schönen Brief. Er hat mich sehr gefreut. Aber Deine Idee, für immer nach Wien zu kommen, mußt Du Dir doch noch sehr wohl überlegen. Die Verhältnisse hier liegen ganz anders, als Du Dir vorzustellen scheinst. Es ist selbst für den einheimischen, gut accreditirten Musiker mit der größten Mühe verbunden, halbwegs anständig bezahlte Lectionen zu bekommen, für Dich wäre es – wenigstens im Beginn – fast ein Ding der Unmöglichkeit. Zuhause hast Du Deine gesicherte Existenz, Deinen Kreis von Ver wandten und Freunden, Dein Heim, und schließlich, es ist der Ort, an dem Du mit Deinem Gatten gelebt hast, wo Dein Kind auf die Welt gekommen ist, und

4073 zuhause] zu Hause GW 4077 Anderem] anderem GW 4078 Concerts] Konzerts GW 4079 Concert] Konzert GW 4087/4088 Abschnittstrennung eingefügt EA GW 4091 Couvert] Kuvert GW 4095 accreditirten] akkreditierten GW 4096 Lectionen] Lektionen GW 4098 Zuhause] Zu Hause GW

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dort ist Dein Platz. Alles das aufzugeben, um Dich in den aufreibenden Concurrenzkampf der Großstadt zu stürzen, hieße sehr thöricht handeln. Ich rede absichtlich nichts von der Rolle, welche Deine Sympathie für mich (Du ⎡ weißt, ich erwidre sie von ganzem Herzen) in Deinen Erwägungen zu spielen ⎣ scheint, aber das würde die ganze Frage auf ein anderes Gebiet hinüberspielen und das soll nicht geschehen. Ich nehme kein Opfer von Dir an, unter keiner Bedingung. Daß ich Dich gern und zwar bald wieder sehen möchte, braucht wohl keiner Versicherung, denn ich wünsche nichts sehnlicher, als wieder eine solche Stunde mit Dir zu verleben wie die, welche Du mir neulich geschenkt hast (und für die ich Dir sehr dankbar bin). Richte Dir’s doch so ein, mein Kind, daß Du etwa alle vier bis sechs Wochen auf einen Tag und eine Nacht nach Wien kommen kannst. Wir wollen noch öfter recht glücklich sein, hoff ’ ich. In den nächsten Tagen kann ich Dich zu meinem Bedauern nicht sehen, auch verreise ich gleich nach meinem Concert, ich muß in London spielen (Season), von dort fahre ich nach Schottland. Also auf ein frohes Wiedersehen im Herbst. Ich grüße Dich und küsse die süße Stelle hinter Deinem Ohr, die ich am meisten liebe. Dein Emil.“ Als Bertha diesen Brief zu Ende gelesen, saß sie noch eine Weile auf recht im Bett. Es ging wie ein Schauer durch ihren Leib. Sie war nicht ⎣überrascht, sie wußte, daß sie keinen anderen Brief erwartet hatte. Sie schüttelte sich . . . Alle vier bis sechs Wochen . . . vortrefflich! – Ja, für einen Tag und für eine Nacht . . . . Pfui, Pfui! . . . Und was für eine Angst er hatte, daß sie nach Wien käme . . . Und nun gar zum Schluß diese Bemerkung, als hätte er es darauf abgesehen, sozusagen noch aus der Ferne ihre Sinne zu reizen, weil ja das seine einzige Art war, mit ihr zu verkehren . . . . Ah, pfui, pfui! . . . was für eine . . . war sie gewesen! – Es ekelt sie – ekelt sie! . . . . Sie springt aus dem Bett, kleidet sich an. . . . Nun ja, was weiter? . . . Es war aus, aus, aus! Er hatte keine Zeit für sie – gar keine Zeit! . . . Vom Herbst an alle sechs Wochen eine Nacht. . . . Ja, sofort, mein Herr, ich gehe auf Ihren ehrenvollen Antrag mit Vergnügen ein – ich wünsche mir ja nichts Bessres! Ich werde weiter hier versauern, Lectionen geben, verblöden in diesem Nest. . . Sie werden weiter Geige spielen, den Weibern den Kopf verdrehen, reisen, reich und berühmt und glücklich sein – und alle vier bis sechs Wochen darf ich auf eine Nacht in irgend einem schäbigen Zimmer,

4102 4105 4107 4114 4128 4131 4132 4133 4135

Concurrenzkampf] Konkurrenzkampf GW hinüberspielen] hinüber spielen EA hinüberspielen, GW wieder sehen] wiedersehen GW Concert] Konzert GW an. . . .] an . . . . EA GW auf] aus EA Bessres] Beßres EA GW Lectionen] Lektionen GW Nest. . .] Nest . . . EA GW irgend einem] irgendeinem GW

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wo Sie Ihre Frauenzimmer von der Straße hinführen, in einem Bett, wo so und so Viele vor mir gelegen ⎣sind . . . . pfui, pfui, pfui! . . . Rasch fertig gemacht – zu Frau Rupius. . . Anna ist krank, schwerkrank – was geht mich alles Andere an? *

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* * Bevor sie fortging, herzte sie ihren Buben, und die Stelle aus dem Brief fiel ihr ein: hier, wo Dein Kind zur Welt gekommen ist, bist Du zuhause . . . Ja, so war es auch, aber er hatte es nicht gesagt, weil es wahr ist, sondern nur, um nicht in die Gefahr zu kommen, sie öfter sehen zu müssen als alle sechs Wochen einmal. Fort, fort! . . . Warum zitterte sie denn gar nicht für Frau Rupius? . . . Ah, sie wußte schon, es war ihr ja gestern Abend besser gegangen. – Wo war nur der Brief? . . . . Sie hatte ihn wieder ganz mechanisch ins Mieder gesteckt. Die Offiziere saßen vor dem Kaffeehaus und frühstückten, ganz bestaubt waren sie, sie kamen schon von der Feldübung zurück. Einer sah Bertha nach, ein ganz junger, er mußte erst vor Kurzem eingerückt sein . . . . Bitte sehr, ⎡ich bin ganz zu Ihrer Verfügung, in Wien bin ich nur alle vier bis sechs Wochen beschäftigt . . . bitte, sagen Sie nur, wann Sie es wünschen . . . Die Balkonthür war offen, über dem Ge⎣länder hing die rothsammtene Clavierdecke. Nun, offenbar, Alles war wieder in Ordnung, – würde sonst die Decke auf dem Balkon hängen? . . . Freilich, also vorwärts, hinauf ohne Angst! . . . Das Mädchen öffnet. Bertha braucht sie nichts zu fragen, in ihren aufgerissenen Augen ist der Ausdruck von entsetztem Staunen, wie ihn nur die Nähe eines grauenvollen Sterbens hervorbringt. Bertha tritt ein, zuerst in den Salon, die Thür zum Schlafzimmer ist flügelweit geöffnet. Von der Wand fortgerückt, in der Mitte des Zimmers steht das Bett, frei von allen Seiten. Am Fußende sitzt die Wärterin, sehr müde, mit auf die Brust gesunkenem Kopf, zu Häupten in seinem Rollsessel Herr Rupius. Das Zimmer ist so dunkel, daß Bertha erst, wie sie ganz nah tritt, das Gesicht von Anna deutlich sehen kann. Sie scheint zu schlafen. Bertha tritt näher. Sie hört den Athem Annas, er ist gleichmäßig, aber unbegreiflich rasch, nie hat sie

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4137 Viele] viele GW sind . . . .] sind, . . . . GW 4139 Andere] andere GW 4139/4140 Abschnittstrennung fehlt EA GW 4141 zuhause] zu Hause GW 4142 hatte] hat GW 4145 Rupius? . . .] Rupius? . . . . EA 4146 Abend] abend GW 4149 frühstückten,] frühstückten; EA GW 4151 Kurzem] kurzem GW 4154 rothsammtene] rotsamtene EA GW Alles] alles GW 4155 Clavierdecke] Klavierdecke GW 4167 Athem] Atem EA

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ein menschliches Wesen so athmen gehört. Jetzt fühlt Bertha die Blicke der beiden Andern auf sich gerichtet. Nur einen Augenblick wundert sie sich, daß man sie so ohne weiteres hereingelassen, dann begreift sie, daß jetzt alle Vor sichtsmaßregeln ⎣überflüssig geworden sind; diese Sache ist entschieden. Noch zwei Augen richteten sich plötzlich auf Bertha. Frau Rupius selbst hatte die ihren aufgeschlagen und betrachtete die Freundin mit Aufmerksamkeit. Die Wärterin machte Bertha Platz und ging ins Nebenzimmer. Bertha setzte sich und rückte näher heran. Sie sah, wie Anna ihr eine Hand langsam ent gegenhielt und ergriff sie. „Liebe Frau Rupius“, sagte sie. „Nicht wahr, es geht Ihnen jetzt schon viel besser.“ Sie fühlte, daß sie wieder etwas Unge schicktes sagte, aber sie fand sich darein. Es war nun einmal ihr Los dieser Frau gegenüber, noch in der letzten Stunde. Anna lächelte; sie sah so blaß und jung aus wie ein Mädchen. „Ich danke Ihnen, liebe Bertha“, sprach sie. „Aber liebe, liebe Anna, wofür denn?“ Sie hatte die größte Mühe, ihre Thränen zurückzuhalten. Zugleich aber war sie sehr neugierig zu erfahren, was denn eigentlich geschehen war. Ein langes Schweigen entstand. Anna schloß die Augen wieder und schien zu schlafen, Herr Rupius saß regungslos da; Bertha sah bald auf die Kranke, bald auf ihn. Sie dachte: Jedenfalls ⎣muß ich warten. Was Emil sagen würde, wenn s i e plötzlich tot wäre? Ah, das thäte ihm doch ein wenig leid, wenn er so denken müßte: die ich vor ein paar Tagen in meinen Armen hielt, jetzt verwest sie. Er würde sogar weinen. Ja in diesem Fall würde er weinen . . . ein so elender Egoist er sonst ist . . . . . Ah, wohin flogen denn wieder ihre Gedanken? Hielt sie nicht immer noch die Hand der Freundin in der ihren? O, wenn sie sie retten könnte! . . . Wer war nun übler dran! Diese, die da sterben mußte, oder sie, die man so schmählich betrogen hatte? War denn das nothwendig, wegen einer Nacht? . . . . Ah, das klang noch viel zu schön! . . . wegen einer Stunde – sie so zu erniedrigen, sie zu ruiniren – war das nicht gewissenlos, frech? . . . Wie haßte sie ihn! wie haßte sie ihn! . . . . Wenn er nur in seinem nächsten Concert stecken bliebe, daß ihn alle Leute auslachten und er sich schämen müßte und in allen Zeitungen stände: Herr Emil Lindbach ist fertig, vollkommen fertig. Und alle seine Geliebten würden sagen: Ah, fällt mir gar nicht ein! ein Geigenspieler, der stecken 4168 4169 4175f. 4183 4188 4189 4190 4191 4193 4195 4196 4198

athmen] atmen EA Andern] andern GW entgegenhielt] entgegenhielt, GW erfahren,] erfahren EA s i e ] i c h GW er so] er GW Ja] Ja, GW ist . . . . .] ist . . . . EA GW O] Oh GW könnte! . . .] könnte! . . EA GW nothwendig] notwendig EA Nacht? . . . .] Nacht? . . EA GW schön! . . .] schön! . . EA ihn! . . . .] ihn! . . . EA GW Concert] Konzert GW

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bleibt . . . ! . . . Ja, dann würde er sich wohl ihrer erinnern, der Einzigen, die ihn seit ihrer Kindheit, die ihn wahrhaft geliebt . . . . und die er nun so ⎡niederträchtig behandelte! . . . . Dann müßte er doch zurück und sie um Ver ⎣ zeihung bitten, – und sie würde ihm sagen: Siehst Du, Emil, siehst Du, Emil . . . . denn etwas Gescheiteres fiele ihr natürlich nicht ein . . . . . Da denkt sie nun schon wieder an ihn, immer an ihn – und hier stirbt Eine, und sie sitzt am Bett, und dieser Schweigende dort ist ihr Gatte . . . . . . So still ist es, nur von der Straße her, über den Balkon, durch die offene Thür wie hereingetragen, verwirrtes Geräusch – Menschenstimmen, Räderrollen, das Glockensignal eines Radfahrers, ein Säbel, der über’s Pflaster scheppert, da zwischen Gezwitscher von Vögeln – aber all das ist so fern, gehört so gar nicht dazu . . . Anna wird unruhig, sie wirft den Kopf hin und her – oft, rasch, immer rascher . . . . Eine Stimme hinter Bertha sagt leise: „Jetzt fängt’s an.“ Bertha wandte sich um. Es war die Wärterin mit dem heiteren Gesicht; aber Bertha sah jetzt, daß dieser Ausdruck gar keine Heiterkeit bedeutete, sondern nur den erstarrten Versuch, nie einen Schmerz merken zu lassen, und sie fand dieses Gesicht unbeschreiblich furchtbar . . . Wie hatte sie gesagt? . . . . Jetzt fängt es an . . . . ja wie ein Concert oder eine Theatervorstellung . . . . . Und sie erinnerte sich daran, daß ⎣einmal auch an ihrem Bett dieselben Worte gesprochen wurden, damals als ihre Wehen begannen . . . . . Anna öffnete plötzlich die Augen, sehr weit, sehr groß; heftete sie auf ihren Mann und sagte ganz vernehmlich, indem sie sich vergeblich aufzurichten trachtete: „Nur Dich, nur Dich . . . . glaub’ mir, nur Dich hab’ ich . . . . .“ Das letzte Wort war nicht zu verstehen, aber Bertha errieth es. „Ich weiß“, sagte Rupius. Dann beugte er sich herab und küßte die Sterbende auf die Stirn. Anna schlang die Arme um ihn, seine Lippen weilten lange auf ihren Augen. Die Wärterin war wieder hinausgegangen. Plötzlich stieß Anna ihren Mann von sich, sie kannte ihn nicht mehr, ihr Bewußtsein war dahin. Bertha stand sehr erschrocken auf, blieb aber am Bette stehen. Herr Rupius sagte zu Bertha: „Gehen Sie jetzt.“ Sie zögerte. „Gehen Sie,“ sagte er noch einmal und streng. Bertha sah ein, daß sie gehen mußte. Auf den Zehenspitzen entfernte sie sich aus dem Zimmer, als könnte das Geräusch von Schritten Anna noch stören. Als sie ins Vorzimmer kam, sah sie eben Doktor Friedrich, der den Ueberzieher 4202 4203 4204 4206 4207 4208 4211 4215 4219 4220 4227

Einzigen] einzigen GW geliebt . . . .] geliebt . . . EA geliebt hat . . . GW behandelte! . . . .] behandelte! . . . EA GW Emil . . . .] Emil . . . EA GW Eine] eine GW ihr Gatte] der Gatte EA GW über’s] übers GW rascher . . . .] rascher . . . EA GW gesagt? . . . .] gesagt? . . . EA GW ja] ja, EA GW Concert] Konzert GW weiß“,] weiß,“ EA

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ablegte und während dieser Zeit mit einem jungen Arzt, dem Secundarius des Spitals sprach. Er bemerkte Bertha nicht und ⎣sie hörte ihn Folgendes sagen: „In jedem andern Falle hätt’ ich die Anzeige erstattet, aber da die Sache so ausgeht . . . . Ueberdies wär’ es ein entsetzlicher Skandal, und der arme Rupius litte am meisten darunter.“ Jetzt sah er Bertha. „Guten Tag, Frau Garlan.“ „Ja, Herr Doktor, was ist denn eigentlich?“ Doktor Friedrich sah den Secundararzt mit einem raschen Blick an; dann erwiderte er: „Blutvergiftung. Sie wissen ja, gnädige Frau, manchmal schneidet man sich in den Finger und stirbt daran; die Verletzung ist nicht immer zu entdecken. Es ist ein großes Unglück . . . ja, ja.“ Er ging ins Zimmer, der Assistent folgte ihm. Bertha war wie betäubt, als sie auf die Straße trat. Was für eine Bedeutung hatten die Worte, die sie gehört? – Anzeige? – Skandal? Ja, hatte am Ende Rupius selbst seine Frau umgebracht? . . . Nein, was für ein Unsinn! – Aber irgend etwas war an Anna verübt worden, ganz gewiß . . . . und es mußte irgendwie mit der Reise nach Wien zusammenhängen: denn in der Nacht nachher war sie erkrankt . . . . Und die Worte der Sterbenden fielen ihr ein: Nur Dich, nur Dich hab’ ich geliebt! . . . Hatte das nicht geklungen wie eine Bitte um ⎣Verzeihung . . . Nur Dich geliebt – aber einen Andern . . . ⎡Gewiß, sie hatte einen Liebhaber in der Stadt . . . . nun ja, aber was weiter? . . . . Ja, sie hatte fortreisen wollen und es doch nicht gethan . . . . Wie hatte sie nur damals auf dem Bahnhof gesagt . . . . Ich habe mich zu etwas Anderm entschlossen . . . . Ja, gewiß, sie hatte von dem Liebhaber in Wien Abschied genommen und sich hier – vergiftet? . . . Aber warum denn, wenn sie nur ihren Gatten liebte? . . . . Und das war keine Lüge! Gewiß nicht! Bertha konnte es nicht verstehen . . . . Warum war sie denn nur fortgegangen? . . . Was sollte sie denn jetzt thun? . . . . Sie hatte zu nichts Ruhe. Sie konnte weder nach Hause, noch zu ihren Verwandten, sie mußte wieder zurück . . . . Ob Anna auch hätte sterben müssen, wenn heut’ ein anderer Brief von Emil gekommen wäre? . . . . Wahrhaftig, sie verlor den Verstand . . Das waren ja Dinge, die gar nicht zusammenhingen – und doch . . . . warum konnte sie sie nicht voneinander trennen? – Wieder eilte sie die Stiege hinauf. Es war noch keine Viertelstunde, daß sie das Haus verlassen. Die Thür zur Wohnung stand offen, die Wärterin 4237 4238 4243 4251 4252 4253 4255 4256 4257 4258 4259

Secundarius] Sekundarius GW Spitals] Spitals, EA GW nicht] nicht, GW Folgendes] folgendes GW Secundararzt] Sekundararzt GW gewiß . . . .] gewiß . . . GW irgendwie] irgend wie EA erkrankt . . . .] erkrankt . . . GW Andern] andern GW Stadt . . . .] Stadt . . . GW weiter? . . . .] weiter? . . . GW gethan . . . .] getan . . . GW gesagt . . . .] gesagt . . . GW Anderm] anderem GW entschlossen . . . .] entschlossen . . . GW

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war ⎣im Vorzimmer. „Schon vorbei“, sagte sie. Bertha ging weiter. Herr Rupius saß ganz allein am Tisch, die Thür zum Sterbezimmer war geschlossen. Er ließ Bertha ganz nah an sich herankommen, ergriff ihre Hand, die sich ihm entgegenstreckte, dann sagte er: „Warum nur hat sie’s gethan? hat sie d a s gethan?“ Bertha schwieg. Rupius sprach weiter. „Es war nicht nothwendig – heiliger Himmel es war nicht nothwendig! Was gehen mich die anderen Menschen an – nicht wahr?“ Bertha nickte. „Auf das Lebendigsein kommt es an – das ist es. Warum hat sie das gethan?“ Es klang wie ein verhaltenes Jammern, obzwar er ganz ruhig zu reden schien. Bertha weinte. „Nein, es war nicht nothwendig! Ich hätt’ es aufgezogen, aufgezogen wie mein eigen Kind.“ Bertha blickte jäh auf. Mit einem Mal verstand sie Alles und eine furchtbare Angst durchlief ihr ganzes Wesen. Sie dachte an sich selbst. Wenn auch sie in dieser einen Nacht . . . in dieser einen Stunde . . ? ! Ihre Angst war so groß, daß sie glaubte, die Sinne müßten ihr vergehen. Was ihr bis her kaum als Möglichkeit vorgeschwebt, stand ⎣plötzlich wie eine unbestreitbare Gewißheit vor ihr. – Es konnte garnicht anders sein, der Tod Annas war eine Vorbedeutung, ein Fingerzeig Gottes. Und zugleich tauchte die Erinnerung in ihr auf, an jenen Spaziergang an der Wien vor zwölf Jahren, da Emil sie geküßt und sie das erstemal heiße Sehnsucht nach einem Kind empfunden. Warum hatte sie keine empfunden, als sie neulich in seinen Armen lag? . . . Ja, nun wußte sie: sie hatte nichts anderes wollen als die Lust eines Augen blicks, sie war nicht besser gewesen als Eine von der Straße, und es wäre nur eine gerechte Strafe des Himmels, wenn auch sie an ihrer Schande so zu Grunde ginge wie die Arme, die da drin lag. „Ich möchte sie noch einmal sehen,“ sagte sie. Rupius wies auf die Thüre. Bertha öffnete sie, näherte sich langsam dem Bett, auf dem die Tote ruhte, betrachtete sie lange und küßte sie auf beide Augen. Da überkam sie eine Ruhe ohnegleichen. Sie wäre am liebsten stundenlang bei der Leiche geblieben, in deren Nähe ihre eigenen Enttäuschungen und Leiden alle Wichtigkeit verloren. Sie kniete am Bette nieder und faltete die Hände, doch ohne zu beten. 4278 4279 4285 4286 4287 4292 4297 4298 4300 4306

nothwendig] notwendig EA Himmel] Himmel, GW nothwendig] notwendig EA nothwendig] notwendig EA eigen] eigenes EA GW einem Mal] einemmal GW Alles] Alles, EA alles, GW garnicht] gar nicht GW anderes] Anderes EA Eine] eine GW zu Grunde] zugrunde GW Wichtigkeit] Wichtigkeit, GW Wichtigkeit GW1922

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⎡Plötzlich

flimmerte es ihr vor den Augen, ⎣eine wohlbekannte plötzliche Schwäche kam über sie, ein Schwindel, der sich gleich verlor. Zuerst bebte sie leise, dann aber athmete sie tief und wie erlöst auf, denn mit dem Herein brechen dieser Ermattung fühlte sie ja auch, daß in diesem Augenblick nicht nur ihre Befürchtungen von früher, sondern der ganze Wahn dieser wirren Tage, die letzten Schauer einer verlangenden Weiblichkeit, Alles, was sie für Liebe gehalten, in nichts zu verströmen begannen. Und an diesem Totenbette knieend, wußte sie, daß sie nicht von Denen war, die, mit leichtem Sinn be schenkt, die Freuden des Lebens ohne Zagen trinken dürfen. Mit Ekel dachte sie an die eine Stunde der Lust, die ihr vergönnt gewesen, und wie eine un geheure Lüge erschienen ihr die schamlosen Wonnen, die sie damals gekostet, gegenüber der Unschuld jenes sehnsüchtigen Kusses, dessen Erinnerung ihr ganzes Dasein verschönt hatte. Klar hingebreitet in wundervoller Reinheit erschienen ihr jetzt die Beziehungen, die zwischen dem Gelähmten da draußen und dieser Frau bestanden hatten, die an ihrem Betruge sterben mußte. Und während sie die blasse Stirn der Toten betrachtete, mußte sie an den Unbekannten denken, für den sie hatte sterben müssen und der straflos und wohl auch reuelos draußen in der großen ⎣Stadt herumgehen und weiterleben durfte, wie ein Anderer auch . . . nein, wie tausend und tausend Andere, die neulich ihr Kleid gestreift und sie begehrlich angestarrt hatten. Und sie ahnte das ungeheure Un recht in der Welt, daß die Sehnsucht nach Wonne ebenso in die Frau gelegt ward, als in den Mann; und daß es bei den Frauen Sünde wird und Sühne fordert, wenn die Sehnsucht nach Wonne nicht zugleich die Sehnsucht nach dem Kinde ist. Sie erhob sich, warf einen letzten Blick des Abschieds auf die geliebte Freundin und verließ das Sterbegemach. Herr Rupius saß im Nebenzimmer geradeso wie sie ihn verlassen. Ein tiefes Verlangen überkam sie, ihm Worte des Trostes zu sagen. Es war ihr einen Augenblick, als hätte ihr eigenes Schicksal nur den einen Sinn gehabt, sie das Elend dieses Mannes ganz ver stehen zu machen. Sie hätte gewünscht, ihm das sagen zu können, aber sie fühlte, daß er zu Denen gehörte, die mit ihrem Schmerz allein sein wollen. So setzte sie sich schweigend ihm gegenüber. –

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athmete] atmete EA Alles] alles GW knieend] kniend GW Denen] denen GW Anderer] anderer GW Andere] andere GW geradeso] geradeso, GW ihr eigenes] ihre eignes EA Denen] denen GW

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Herausgebereingriffe

Drucktext

2.1 Herausgebereingriffe Die Vorlage für den edierten Text D ist der Zeitschriftendruck ED, dessen uneinheitliche – und von der heutigen Schreibung in vielen Details abweichende – orthographische Textgestalt unberührt bleibt. Mittlerweile ungewohnte sprachliche Besonderheiten, die durch mehrmaliges Vorkommen gesichert sind, wurden nicht angetastet. Dazu zählen die fehlenden Kommata am Ende eines Gliedsatzes, wenn danach ein „und“ folgt;1 die Behandlung von „Hôtel“ als Fremdwort, dem im Genitiv kein „s“ angehängt wird,2 sowie ausbleibende Präpositionen beim Tageszeitadverbial.3 Eingegriffen wurde dort, wo es sich um offenkundige Druck- oder Setzfehler handelt, etwa bei falsch gesetzten Buchstaben oder Spatien.4 Die Interpunktion wurde nur an einigen wenigen Stellen abgeändert, insbesondere wurden fehlende Satzend- und Anführungszeichen eingefügt. In fünf Fällen, in denen EA durch die Interpunktion eine Klärung vornimmt, wurde diese übernommen.5 Bei lexikalischen oder syntaktischen Fehlern wurde nur dann eingegriffen, wenn der Irrtum offensichtlich ist.6 Soweit in EA oder GW Lösungen zu finden sind, wurden diese herangezogen. In folgenden Fällen wurde gegenüber der Textgestalt von ED eingegriffen:

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Beispielsweise D 1109f., 1181 (GW), 2620f. (GW), 3114, 3153 (EA, GW), 3341 (in Klammern stehen jene späteren Drucke, die den Beistrich ergänzen). In EA und GW wurde das geändert: „des Hôtels“ (EA 202) bzw. „des Hotels“ (GW 145). Vgl. D 2973, D 2995, D 3020. Vgl. D 236: „daz “, D 308: „wäheend“ oder D 2188: „nich trecht“. Vgl. D 871, 977, 1070, 3101 und 4210. Vgl. die Emendationen in D 414, 757, 824 oder 853. u

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dazu] daz Ihrem] ihrem schwieg,] schwieg während] wäheend Hand,] Hand das] daß Frau] „Frau Ausdruck] Ausdr ck Kaffee] Kaffe Notizbuch] Notizb ch bemerkte] bemerke verlegen.] verlegen „O] „ O Reisetasche.] Reisetasche . u

236 264 303 308 324 414 640 708 711 713 757 790 810 812f.

258

Drucktext

vor] war wahr] war Rupius.] Rupius, Ihrer] ihrer gewesen,] gewesen Konservatorium.] Konservatorium, langgezogenen] langezogenen über] üher unbefangen] unbefangen, hatte] hatt Erinnerungen] Erinner ngen sie . . . ja] sie . . . ja und] nd Kleinen] kleinen überhaupt von] überhaupt kommen] kömmen Augen] Auge zu] z nicht] icht nicht recht] nich trecht Mädchen] Mädche und] u d und] nd Wiedersehen!“] Wiedersehen! und] nd . . . ja] . . . ja oft] oft. Kniee.] Kniee, trocken,] trocken. Regen] Rege thun?“] thun? können?] können?. hatten] hatte Frauen] Fra en nach] ach kommst? . . .“] kommst? . . . “ Virginia] Viriginia in] in in seinem] sei em war . . . . das] war . . . . das Geklimper . . . . . Nein] Geklimper. . . . . Nein lassen“?] lassen?“ Leben! . . . . Wenn] Leben! . . . . Wenn durch das Dienstmädchen] durch Dienstmädchen hältst] hälst müssen.“] müssen. verschwiege.“] verschwiege. denn?“] denn? existiren?“] existiren? seinem] seiner Aber . . . Sie] Aber . . . Sie Erwiderung] Erwider ng beunruhigt] be nruhigt auf] aus Ihre] ihre u

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824 853 871 882 977 1036 1052 1069 1070 1167 1290 1485 1524 1588 1666 1776 1991 1997 2140 2188 2215 2239 2243 2515 2517 2632 2785 2919 2920 2950 3020 3101 3131 3144 3257 3292 3374 3411 3546 3559 3568 3571 3615 3647 3667 3707 3750 3777 3862 3944 3952 3989 4131 4136

Herausgebereingriffe

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Herausgebereingriffe

Bitte] Bitte, nur] n r nächsten] ächsten hereingetragen,] hereingetragen n

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4151 4198 4210

Drucktext

260

Kommentar

3. Kommentar Die Positionsangaben beziehen sich auf die Zeilennummerierung des Drucktextes D (S. 135–257). 15

hatte sie […] begegnet: Die veraltete transitive Verwendung von „begegnen“ mit dem Hilfsverb „haben“ kommt bei Schnitzler mehrfach vor (vgl. L-HKA 1147). 33

Reichsstraße: Fernstraße in der österreichischen Reichshälfte Österreich-Ungarns. Im Gegensatz zu von den Gemeinden bzw. den einzelnen Kronländern unterhaltenen Gemeinde- bzw. Landstraßen wurden Reichsstraßen vom Staat betreut. 64

Wachau: zwischen den Städten Melk und Krems gelegene Wein- und Obstbauregion an der Donau. Aufgrund der landschaftlichen Schönheit wurde die Wachau Ende des 19. Jahrhunderts zum Fremdenverkehrsziel, seit 1888 wird sie touristisch mit dem Schiff angefahren. ganz nahe ihrem künftigen Bestimmungsort: Wird in f S1 1 Krems erwähnt, bleibt die „kleine[] Stadt an der Donau“ (D 108) im veröffentlichten Text ungenannt. Trotzdem finden sich Hinweise (die Eisenbahnstrecke entlang der Donau f 1205f., das dort stationierte Regiment f 247), die auf Krems als Handlungsort deuten. 76

Advokaten: (lat.) advocatus: Rechtsanwalt. 91

Konservatoriums: Das Conservatorium der Gesellschaft für Musikfreunde (gegr. 1817/19) war um 1890 in der Lothringerstraße 11, zwischen Stadtpark (f 511) und Karlskirche (f 1038), angesiedelt und galt mit seinen über 1000 Studierenden als die führende musikalische und dramatische Ausbildungsstätte Österreich-Ungarns. 100

Bankerott: veraltet für „Bankrott“. 108

nach der kleinen Stadt an der Donau: f 64.

261

Kommentar

115

hypochondrisch: übertrieben krankheitsängstlich. 154

Wesen: hier: Leben, Dasein. 168

schwur sie sich zu: veraltetes Präteritum von „zuschwören“. 168f.

langweilige und überflüssige Reise von drei Stunden: Die angegebene Fahrzeit kann als Indiz für den Handlungsort Krems (f 64) gewertet werden: Je nach Eisenbahnverbindung dauerte die Fahrt von Krems nach Wien zwischen knapp über zwei und knapp über drei Stunden. 212

Sattler: Handwerker, der Sättel, ledernes Reit- und Kutschenzubehör und andere Lederwaren herstellt.

Landwagen: Von Pferden gezogener Wagen mit Tragfläche, der auch für Krankentransporte verwendet wurde. 214

Lieutenant: (frz.) Stellvertreter; militärischer Dienstgrad, niederster Offiziersrang. Schnitzler benützte die französische Schreibung auch in seiner 1900 erschienenen Novelle Lieutenant Gustl. 221

Kunstfehlers: Berufsfehler eines Arztes. Im österreichischen Strafgesetz war eine schwere Körperverletzung oder fahrlässige Tötung Voraussetzung für eine Strafverfolgung. Vorgesehen waren Geldstrafen und ein Berufsverbot bis zur Absolvierung einer Nachschulung; in schweren Fällen konnten auch Gefängnisstrafen ausgesprochen werden. 224

gab sich als Philosophen aus: Philosoph, hier: jemand, der sich nicht an moralische und gesellschaftliche Normen gebunden fühlt. Vgl. „Freigeist“ f S3 2,11. 235

Gehrock: Jacke mit in der Taille angesetzten, übereinanderliegenden Schößen, Umlegekragen und Revers, zumeist offen getragen. 241

rückwärts: (öst.) auch: hinten.

262

Kommentar

245

Wirthschafterin: Haushälterin. 246

Tabaktrafikantin: (öst.) Besitzerin oder Angestellte eines Tabakladens. 246f.

des hier stationirten Regiments: In geografischer Nähe zu dem in f 64 lokalisierten Wohnort im Umfeld der Wachau findet sich ausschließlich Krems als Garnisonsstadt, hier war das k. u. k. Niederösterreichische Infanterie-Regiment Nr. 84 stationiert. 250

Institut der Ehe: die Ehe als rechtliche und gesellschaftliche Einrichtung. 281

Matura: (öst.) Abitur. 283

schwippte: schwippen: eine schnellende, wippende Bewegung machen. 292

Plaid: (engl.) dicke wollene, meist karierte, Reisedecke. Sie konnte mit Riemen zusammengeschnallt und an einem Griff getragen werden. 315

Am 24. dieses: formell für „am 24. dieses Monats“, hier also: am 24. Mai. 316f.

Wohlthätigkeitskonzert […] Vorarlberg: Die häufigen verheerenden Hochwasser des Rheins (etwa 1888 und 1890) führten ab 1890 zur gemeinsam mit der Schweiz unternommenen Regulierung des Flussbetts an der westlichsten Grenze der Monarchie. Eine Nähe der Formulierung besteht zu der Ankündigung einer Veranstaltung, die am 14. 8. 1897 in Ischl abgehalten wurde. In Anwesenheit des Kaisers und mit den populären Schauspielgrößen Alexander Girardi und Katharina Schratt gab man ein „Wohltätigkeits-Concert“ „zu Gunsten der Armen von Ischl, der durch das Hochwasser Betroffenen und der ‚Charitas‘“. Schnitzler war wegen des anhaltenden Regens bereits am 24. 7. 1897 aus Ischl abgereist und kehrte erst am 19. 8. zurück (vgl. Tb II,255 und 257). 318

trotz der vorgerückten Saison: Die Spielzeit der Theater- und Konzerthäuser begann im September und endete Ende Juni / Anfang Juli. 325

empfahl sich: sich empfehlen: veraltet für „sich verabschieden“.

263

Kommentar

331f.

die vierte Gallerie ins Burgtheater: Auf der vierten Galerie befanden sich die billigsten Theaterplätze. Gemeint ist vermutlich noch das 1888 geschlossene alte Burgtheater am Michaelerplatz, das durch einen Neubau (f 2224) ersetzt worden war. 340

Dilettantenkonzerte: Konzert von nicht-professionellen Musikern. 343

zwei Märsche von Schubert: Franz Schubert (1797–1828) komponierte 21 Märsche. 344f.

sich verschwor: sich verschwören, hier: einen Schwur leisten, etwas nicht zu tun. 358

Eisen: eigentlich: Brenneisen, ein über einer Flamme erhitztes oder elektrisch beheiztes, scherenförmiges Instrument zum Kräuseln der Haare. 376

Mazurken von Chopin: Mazurka: ein langsamer Tanz im Dreivierteltakt. – Frédéric Chopin (1810–1849) popularisierte sie mit 58 Kompositionen von gehobenem technischem Anspruch. 377

Beethoven’schen Sonate: Ludwig van Beethoven (1770–1827) komponierte 32 Klaviersonaten, die größtenteils als besonders schwer zu spielen gelten.

Kreisleriana: Klavierzyklus (op. 16; 1838) von Robert Schumann (1810–1856), benannt nach dem fiktiven Kapellmeister Johannes Kreisler, dem literarischen Alter Ego des Schriftstellers E.T.A. Hoffmann (1776–1822). Ihr Spiel erfordert technisch fortgeschrittenes Können. 380

Modulationen: Modulation: Überleitung von einer Tonart zu einer anderen. 391f.

Fensterpromenade: Bei dieser traditionellen und am Ende des 19. Jahrhunderts allmählich antiquierten Form der Kontaktaufnahme spaziert der Verehrer vor dem Fenster auf und ab, um die Angebetete auf sich aufmerksam zu machen. 421

Herrenzimmer: Ursprünglich Männern vorbehaltener Raum, in dem nach dem Essen getrunken, Konversation und Spiel gepflegt und Pfeife und Zigarre geraucht wurde. Die Verbreitung des Zigarettenrauchens unter Frauen hatte maßgeblichen Anteil an der um 1900 stattfindenden Aufhebung dieser räumlichen Geschlechtertrennung. 264

Kommentar

423f.

Frau Martin zündete sich eine Zigarette an: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Zigarettenrauchen im urbanen Raum unter bürgerlichen Frauen gesellschaftsfähig geworden. 424

Divan: Polsterbank, niedriges Liegesofa (nach arabischem Vorbild). 424f.

schlug die Beine übereinander: Benimmbücher rieten Frauen aus Schicklichkeitsgründen vom Übereinanderschlagen der Beine ab. 427

Tarockspiel: weit verbreitetes Kartenspiel. 428

Klavierdecke: Abdeckung zum Schutz des Klaviers vor Beschädigung, Feuchtigkeit und Sonneneinstrahlung. 442

Lieder ohne Worte: Anspielung auf die gleichnamigen Klavierstücke von Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847), die im 19. Jahrhundert unter Amateurpianisten beliebt waren. 446

sich etwas vergeben: seinem Ansehen, seiner Würde durch ein bestimmtes Tun Schaden zufügen. 511

Stadtpark: 1862 eröffneter öffentlicher Park im englischen Stil. An der Grenze von 1. und 3. Wiener Gemeindebezirk, beiderseits des Wienflusses gelegen, erfuhr er im Zuge der Wienbett-Regulierung (f 1031) eine große Umgestaltung. 542

Rouleaux: (frz.) rouleau: Rollvorhang aus Gewebe, der von einer oben am Fenster angebrachten Walze nach unten gezogen wird, hier im frz. Plural. 546

Stiche: hier als Sammelbegriff, der neben dem traditionellen Kupferstich neuere Techniken der Kunstreproduktion (Lithographie, Kupferätzung, Photographie, Photogravure, Heliogravure, Pigmentdruck) umfasst. 549

Sammlung von Stichen nach alten Niederländern: Der Verlag Franz Hanfstaengl in München produzierte zu großen Gemäldesammlungen Bildmappen, darunter auch für das Mauritshuis (f 563) und die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien (f 586). 265

Kommentar

Die Reproduktionen wurden in mehreren Formaten angeboten und konnten auch einzeln bezogen werden. Wenngleich sich Rupius’ Sammlung („sechs Mappen, jede zu zwanzig Blättern“, D 553f.) zahlenmäßig mit den 120 Reproduktionen zur kaiserlichen Gemäldegalerie in Wien deckt, finden sich weder darunter noch im übrigen Verlagsprogramm Hanfstaengls Reproduktionen der angesprochenen Bilder. Ein Teil der Valckenborchs (f 574) ist in der von Josef Löwy 1892 „nach Art der Galeriewerke Hanfstaengls“ herausgegeben zweibändigen Publikation zur Wiener kaiserlichen Gemäldegalerie zu finden. 557

Jahrmarktsscene von Teniers: Gemeint ist David Teniers der Jüngere (1610–1690), von dem das Mauritshuis in Den Haag (f 563) zwei Bilder besaß, jedoch mit anderen Motiven. Das Kunsthistorische Museum (f 1801) in Wien besitzt die Darstellung einer Bauernkirmes (1647). 563

im Haag: (dt.) Der Haag: veraltet für „Den Haag“. Hier steht das Mauritshuis mit der Königlichen Gemäldegalerie, die eine große Sammlung flämischer und holländischer Meister aus dem 17. Jahrhundert beherbergt. 569f.

Ostade, „der Pfeifenraucher“ […] Wien: Das Ölbild Der Raucher (1667) von Adriaen van Ostade (1610–1685) zeigt einen Pfeifenraucher in Profilansicht. Schon um 1900 dürfte es sich im Privatbesitz der Familie Rothschild in Wien befunden haben, lässt sich aber erst mit der Beschlagnahmung der Sammlung für das zu errichtende Linzer „Führermuseum“ 1939 nachweisen. 1946 restituiert, ist es heute wieder in Privatbesitz. Eine zeitgenössische Reproduktion lässt sich nicht ermitteln, hingegen eine Variante des Motivs aus der Dulwich Picture Gallery, England, die im Verlagsprogramm Hanfstaengls (f 549) aufgelegt wurde. 574

Falkenborg: In D 2402 wird der Künstler „Falckenborgh“, in D 3956 „Falckenborg“ geschrieben, eine Uneinheitlichkeit, die erst in GW 1922 behoben wurde. Beim beschriebenen Bild könnte es sich um ein Pasticcio aus verschiedenen Ölgemälden von Lucas I. van Valckenborch (nach 1535–1597; seltener in der Schreibung „Falckenborgh“) im Besitz des Kunsthistorischen Museums (f 1801) handeln: Frühlingslandschaft (Mai) (1587) zeigt ein Turnier, Herbstlandschaft (September) (1585) eine aus der Türe tretende Frau mit Krügen, Bauernschenke (1590/97) eine wütende Bäuerin. Im Vordergrund der Herbstlandschaft (Oktober) (1585) sind zwei Figuren zu sehen, die händehaltend einen Hügel besteigen und deren Position einer Menuettstellung ähnelt. 586

Wiener Galerie: In Folge (f 1801; f 2399) als das Kunsthistorische Museum identifiziert, das 1891 eröffnet wurde. Ein Besuch Berthas war nur kurz vor ihrem Wegzug aus Wien möglich (zum Handlungszeitraum vgl. Kommentar zu f 4025). Zuvor 266

Kommentar

wurde die kaiserliche Gemäldesammlung im Schloss Belvedere im 3. Wiener Gemeindebezirk präsentiert. 594

stark: hier: füllig, dick. 609f.

telegraphirte: telegraphieren: Fernübermittlung von Nachrichten durch Signale. 621

Sommertoilette: (frz.) toilette, auch: Kleidung. 762

Coupéfenster: (frz.) coupé: Eisenbahnabteil. 772

Telegraphenstangen: Stützen für entlang der Eisenbahn laufende Telegraphenleitungen (f 3802). 773

Salzkammergut: vor allem wegen ihrer vielen Seen vielbesuchte Fremdenverkehrsregion, die Teile Oberösterreichs, Salzburgs und der Steiermark umfasst; seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als ‚Sommerfrische‘ beliebt. 817–819

Jenseits des Flusses […] Thürme stiegen auf: Von der Franz-Josefs-Bahn (f 2129) aus eröffnet sich kurz vor der Einfahrt nach Wien der Blick auf Floridsdorf, den am linken Donauufer liegenden 21. Wiener Gemeindebezirk, wo viele Industriebetriebe angesiedelt waren. 826

Ring: Prachtstraße, die nach der 1857 von Kaiser Franz Josef I. angeordneten Schleifung der Befestigungsmauern und Basteien um das Wiener Stadtzentrum errichtet wurde. Entlang der Ringstraße wurden in den 1860er- bis 1880er-Jahren Repräsentationsbauten wie Parlament, Museen (f 1801), Universität und Rathaus (f 2173), Burgtheater (f 2224), Votivkirche (f 2538) und Oper (f 2978) errichtet. Auch öffentliche Parkanlagen wie der Stadtpark (f 511) und der Volksgarten (f 2222) liegen an der Ringstraße. 830

Kohlmarkt: vornehme Einkaufsstraße in der Wiener Innenstadt, in unmittelbarer Nähe der Hofburg. 833

Mamsell: (frz.) mademoiselle: Fräulein; Bezeichnung für Frauen im Dienstgewerbe, oft mit Zusatz der Tätigkeit: Ladenmamsell, Schneidermamsell, Wirtschaftsmamsell.

267

Kommentar

840

Sonntagsstaat: Sonntagskleidung. 842

Foulard: (frz.) hier: feiner, bedruckter Seidenstoff. 858

inneren Stadt: Innere Stadt: 1. Wiener Gemeindebezirk, Zentrum Wiens. 877

Riemerstraße: eigentlich: Riemergasse, im 1. Wiener Gemeindebezirk. 902

Bonne: (frz.): Hausmädchen. Im Deutschen wurde die Bezeichnung vor allem für Kindermädchen gebraucht, im engeren Sinn für ein französisch sprechendes Kinderfräulein. 921

an dessen […] vergessen hatte: vergessen an: veraltete Konstruktion von „vergessen“. 940

Studentenkränzchen: Kränzchen: Ball, Feier. 1013

Prater: weitläufiges Augebiet an der Donau im 2. Wiener Gemeindebezirk im Nordosten Wiens; beliebtes Freizeitareal der Gesellschaft des Fin de Siècle. Schnitzler notierte in seinem Tagebuch wie in seiner Autobiographie häufig Spaziergänge und -fahrten in den Prater. Schweizerhaus: beliebte Gaststätte mit Garten im Prater. 1020

auf der Wieden: Die Wieden ist der 4. Wiener Gemeindebezirk, südlich der inneren Stadt (f 858). 1021

Paulanerkirche: Pfarrkirche zu den heiligen Schutzengeln; 1627–1651 vom Orden des heiligen Franz von Paola errichtet, daher im Volksmund Paulanerkirche genannt. 1030

Elisabethbrücke: verband die Bezirke Innere Stadt (f 858) und Wieden (f 1020) über den Wienfluss; im April 1897 im Zuge der Regulierung des Wienbetts (f 1031) gesperrt und anschließend abgetragen. Zum Zeitpunkt der Handlung im Mai 1898 (f 4025) existierte eine Behelfsbrücke.

268

Kommentar

1031

Wienbett: Der Wienfluss wurde zwischen 1895 und 1899 im Wiener Stadtgebiet in einem tiefen Bett reguliert. Entlang des Flusses wurde gleichzeitig eine Linie der Wiener Stadtbahn errichtet. Flussbett und Gleise wurden teilweise überwölbt, u.a. am Ort der früheren Elisabethbrücke (f 1030). 1038

Kuppel der Karlskirche: Die Karlskirche im Bezirk Wieden (f 1020), 1723–1737 nach den Plänen Johann Bernhard Fischer von Erlachs (1656–1723) errichtet, gilt als bedeutendster Barockbau Wiens. Ihr Erscheinungsbild wird von der 72 Meter hohen Kuppel geprägt, die dem Petersdom in Rom nachempfunden ist. 1046f.

Brahms’ Violinconcert: Konzert von Johannes Brahms (1833–1897) in D-Dur (op. 77; 1879). 1047

königlich bairischen Kammervirtuosen: Dieser Ehrentitel existierte nicht; offizielle Titel hießen zudem „bayerisch“. In Wien hingegen wurde 1891 dem Violinisten und Komponisten Marcello Rossi (1862–1897) der Titel eines k. k. Kammervirtuosen verliehen, weswegen es sich um eine ähnliche Fiktivierung handelt wie beim ‚spanischen‘ Erlöser-Orden (f 1481). 1072

großen Musikvereinssaal: wegen seiner guten Akustik berühmter Saal im 1867–1869 nach Plänen von Theophil Hansen (1813–1891) erbauten Haus der Gesellschaft der Musikfreunde. 1078

Ringstraße: f 826. 1084

Boudoir: (frz.) Ankleidezimmer einer Dame, in dem auch in intimem Rahmen Gäste empfangen wurden. 1098

Aspernbrücke: Brücke über den Donaukanal; verbindet die Ringstraße (f 826) im Nordosten mit der zum Prater (f 1013) führenden Praterstraße. 1101

aus dem Prater, vom Rennen: Im Prater (f 1013) gibt es eine Trab- und eine Galopprennbahn. 1102

Equipage: (frz.) Pferdekutsche mit den dazugehörigen Bediensteten.

269

Kommentar

1106

Ueberzieher: Herrenmantel. 1138

offenen Fiaker: zweispännige Lohnkutsche mit zurückgeschlagenem Verdeck. 1141

es kann ihr nichts geschehen: angelehnt an die vielzitierte Aussage des Steinklopferhanns in dem Drama Die Kreuzelschreiber (1872) von Ludwig Anzengruber (1839–1889): „Es kann dir nix g’schehn!“ 1157

Perron: (frz.) Bahnsteig, Plattform. 1205f.

Der Zug fährt die Donau entlang: Die Franz-Josefs-Bahn (f 2129) verläuft zwischen Wien und Tulln, wo sie die Donau überquert, entlang des rechten Ufers. 1211

Wienufer: Vor der Regulierung des Flussbetts (f 1031) war das Ufer des Wienflusses mit Weiden und Akazien bepflanzt. 1233

abgeschrieben: abschreiben, hier: schriftlich absagen. 1243

Damenspenden: kleine Geschenke, die Besucherinnen eines Balls überreicht wurden. 1254f.

Medicinerkränzchen: f 940. 1273

Tanzalbum: üblicherweise ein Liederbuch; hier wohl als Bezeichnung für die Tanzkarte, auf der auf Bällen die Reihenfolge der Tänzer eingetragen wurde. Tanzkarten wurden oft als Damenspenden (f 1243) aufwändig gestaltet. 1480

Königin von Spanien: Seit dem Tod ihres Gatten Alfons XII. (1857–1885) war Maria Christina von Österreich (1858–1929) bis zur Volljährigkeit ihres Sohnes 1902 Regentin von Spanien. 1481

Erlöser Ordens: 1833 von König Otto I. von Griechenland (1815–1867) gestiftet, wurde für besondere Leistungen in Handel, Wissenschaft oder Kunst verliehen. Ein spanischer Erlöser-Orden existierte nicht, es handelt sich um eine ähnliche Fiktivierung wie beim „königlich bairischen Kammervirtuosen“ (f 1047).

270

Kommentar

1611

Sopha: alte Schreibweise für „Sofa“. 1696

Generalstab: Kreis von besonders ausgebildeten Offizieren zur Unterstützung der obersten militärischen Führung. 1801

kunsthistorische Museum: 1891 eröffnetes Museum an der Ringstraße (f 826), nach Plänen von Gottfried Semper (1803–1879) und Carl von Hasenauer (1833–1894) im Stil der Neorenaissance errichtet. Es versammelte verschiedene kaiserliche Sammlungen, darunter die Gemäldegalerie (f 586). zu den Niederländern: Die Gemälde niederländischer Meister befanden sich in den Sälen XI–XV und den Kabinetten XII–XVIII des Kunsthistorischen Museums. 1809

Roman von Gerstäcker: Friedrich Gerstäcker (1816–1872) war ein populärer Autor von Abenteuerromanen. Schnitzlers Leseliste führt drei seiner Werke auf: Das sonderbare Duell. Berlin 1869; Die beiden Sträflinge. Australischer Roman. Leipzig 1856; Kreuz und Quer. Erzählungen. Leipzig 1869 (vgl. LL 75). 1940

abgefeimte: abgefeimt: gerissen, listig, verschlagen. 2095

Klosterneuburg: unmittelbar nördlich von Wien am rechten Donauufer gelegene Stadt, Station der Franz-Josefs-Bahn (f 2129). 2129

Franz Josefs Bahnhof: damals: Kaiser-Franz-Josefs-Bahnhof, im 9. Wiener Gemeindebezirk. Kopfbahnhof der gleichnamigen Bahnstrecke, die Wien ab 1870 mit Eger (heute Cheb, Tschechische Republik) verband. Seit 1872 führte eine Nebenlinie nach Krems (f 64). 2138

Meldzettel: in einem Beherbergungsbetrieb auszufüllendes Gästeblatt. 2173

Universität: Hauptgebäude der Universität Wien an der Ringstraße (f 826), 1873–1884 nach Plänen von Heinrich von Ferstel (1828–1883) im Stil der Neorenaissance errichtet. Rathhaus: 1872–1883 von Friedrich von Schmidt (1825–1891) in neugotischem Stil an der Ringstraße (f 826) erbaut.

271

Kommentar

2175

Pferdebahnwagen: auch „Pferdetramway“; schienengebundener, von Pferden gezogener Vorläufer der Straßenbahn. Die erste Wiener Pferdebahn wurde 1865 eröffnet, die Elektrifizierung der Strecken erfolgte zwischen 1896/97 und 1902. 2207

Kleid in englischem Schnitt: einfach geschnittenes Kleid von schlichter Eleganz. 2222

Volksgarten: seit 1823 öffentliche Parkanlage im 1. Wiener Gemeindebezirk; 1862 und 1884 nach Plänen des Hofgärtners Franz Antoine (1815–1886) vergrößert, liegt der Volksgarten an der Ringstraße (f 826) zwischen Burgtheater (f 2224) und Burgplatz (f 2266). 2224

Burgtheater: 1876–1888 nach den Plänen von Gottfried Semper und Carl von Hasenauer im Stil der Neorenaissance als „k.k. Hofburgtheater“ an der Ringstraße (f 826) errichtet. 2227

Theseus Tempels: 1819–1823 im Volksgarten (f 2222) als Nachbildung des Athener Theseions von Peter von Nobile (1774–1854) erbaut; ursprünglicher Aufstellungsort der Skulptur Theseus besiegt den Kentauren von Antonio Canova (vgl. Kommentar zu f 2278f.). 2266

Burgplatz: zwischen Volksgarten (f 2222) und Hofburg. Nach der Errichtung der Reiterstandbilder von Erzherzog Karl und Prinz Eugen (1860/65) begann sich die heute offizielle Bezeichnung „Heldenplatz“ durchzusetzen. 2268

Kuppel des Museums: Eine zentrale Kuppel prägt sowohl das Kunsthistorische (f 1801) als auch das gegenüberliegende Naturhistorische Museum. 2278f.

Marmorstandbild […] erschlägt: Theseus und der Minotaurus (1782) von Antonio Canova (1757–1822) befand sich seit den 1820-er Jahren nicht mehr in Wien, sondern in London, wo es heute im Victoria and Albert Museum ausgestellt ist. Im Kunsthistorischen Museum (f 1801) befindet sich seit der Eröffnung 1891 Canovas Marmorgruppe Theseus besiegt den Kentauren (1805–1819) auf dem ersten Treppenabsatz des Hauptaufgangs. 2282

Niederländische Schule: f 1801.

272

Kommentar

2348f.

die kleinen Sachen von Schumann: Gemeint sein könnten Robert Schumanns Klavierzyklen Kinderszenen (op. 15; 1838) oder Album für die Jugend (op. 68; 1848). 2351

Du hast doch den besseren Theil erwählt: Redewendung nach Lukas 10,42. 2357f.

in einem kleinen Saal vor den Rembrandts: Die Gemälde von Rembrandt Harmenszoon van Rijn (1606–1669) befanden sich im Kabinett XIII des Kunsthistorischen Museums (f 1801). 2367

Mendelssohn Concert: Violinkonzert in e-Moll (op. 64; 1844) von Felix Mendelssohn Bartholdy. 2402

Falckenborgh: f 574. 2465f.

der Platz mit dem Maria Theresien Denkmal: Maria-Theresien-Platz, zwischen Kunsthistorischem (f 1801) und Naturhistorischem Museum, mit einem 1888 errichteten Denkmal der Kaiserin Maria Theresia (1717–1780). 2481

Burgthor: In den Jahren 1821–1824 von Peter von Nobile errichtete Toranlage, die den äußeren Burgplatz (f 2266) und die Ringstraße (f 826) trennt. 2518

ausdenkt: ausdenken, hier: durchdenken, zu Ende denken. 2538

Votivkirche: 1856–1879 zum Gedenken an ein vereiteltes Attentat auf Kaiser Franz Josef I. nach den Plänen Heinrich von Ferstels in neogotischem Stil errichtet. Von zwei an der Ringstraße (f 826) beginnenden Ausfallstraßen flankiert, liegt sie auf halber Strecke zwischen dem Kunsthistorischen Museum (f 1801) und dem KaiserFranz-Josefs-Bahnhof (f 2129). 2546f.

Stephansplatze […] Kirche zu treten: Auf dem Stephansplatz im Zentrum Wiens befindet sich der gotische Stephansdom, das Wahrzeichen der Stadt.

273

Kommentar

2557

Zauberlaterne: auch „Laterna magica“; einfacher Projektionsapparat. Durch Verwendung von zwei nebeneinander gestellten Apparaten ließen sich die beliebten Nebelbilder erzeugen, bei denen sich durch Überblendung Figuren ineinander auflösten. 2567

Kärnthnerstraße: im 1. Wiener Gemeindebezirk, vom Stephansplatz (f 2546f.) zur Ringstraße (f 826) führend. 2639

es wird ihr sehr leicht ankommen: veraltet für: „es wird ihr sehr leicht fallen“. 2769

eingekritzt: einkritzen: veraltet für „einritzen“. 2900

Portier: (öst.) auch: Hausmeister. 2911

Portièren: (frz.) porte: Tür; Gardinen oder Vorhänge an türlosen Eingängen, üblicherweise aus schweren Stoffen wie Samt, Brokat oder Plüsch. 2942

Albumblatt von Schumann: Albumblätter sind meist kurze Kompositionen für Klavier. Hier könnte eines der Klavierstücke aus Robert Schumanns Albumblättern (op. 124; 1832–1845) oder den Bunten Blättern (op. 99; 1836–1849) gemeint sein. 2978

Oper: 1861–1869 nach Plänen von Eduard van der Nüll (1812–1868) und August Sicard von Sicardsburg (1813–1868) an der Ringstraße (f 826) im Stil der Neorenaissance errichtet. 3002

Kreutzersonate […] das Andante: Beethovens Sonate in A-Dur für Geige und Klavier (op. 47; 1803), dem Violinisten Rodolphe Kreutzer (1766–1831) gewidmet. Das „Andante con variazioni“ ist der zweite Satz. Möglicherweise eine Anspielung auf Leo Tolstois gleichnamige, 1890 auf Deutsch erschienene Novelle. 3022

Lerchenfelder Kirche: Vermutlich ist die Altlerchenfelder Pfarrkirche zu den Sieben Zufluchten an der Lerchenfelder Straße (f 3170) im 7. Wiener Gemeindebezirk gemeint, die anstelle einer älteren Kirche ab 1848 von mehreren Architekten in romantisierend-historistischem Stil erbaut und 1861 geweiht wurde. Unwahrscheinlich ist hingegen ein Bezug auf die Mitte des 18. Jahrhunderts erbaute Neulerchenfelder Pfarrkirche an der Neulerchenfelder Straße im 16. Wiener Gemeindebezirk.

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Kommentar

Messe von Haydn: Joseph Haydn (1732–1809) komponierte vierzehn, sein Bruder Michael (1737–1806) vierzig Messen. 3170

Lerchenfelderstraße: zwischen 7. und 8. Wiener Gemeindebezirk, benannt nach dem ehemals dort befindlichen Waldgebiet Lerchenfeld. 3176

Trottoir: (frz.) Geh-, Bürgersteig. 3182

Lakaien: (frz.) laquais: livrierter Diener. Bock: Kutschbock, erhöhter Sitz des Kutschers. 3194

Kammerfrau: persönliche Bediente einer Dame. 3238

Pulse: zeittypische Pluralform für den Pulsschlag. 3243

Billet: (frz.) Briefkarte, kurzes Schreiben. 3268

Dienstmann: Dienstleister, der zeitlich befristete Tätigkeiten wie Botengänge, Trägerdienste, Besorgungen u.ä. ausführte. Dienstmänner hatten fixe Standplätze an öffentlichen Orten, wo sie auf Aufträge warteten. 3290

Omnibus- und Pferdebahnwagen: Omnibuswagen: Großkutsche für zahlende Fahrgäste. Pferdebahnwagen: f 2175. 3292

Tramway: f 2175. Virginia: lange, dünne Zigarre mit Mundstück. 3317

er führt ja keine Wirtschaft: Gemeint ist hier, dass weder Ehefrau noch Hausangestellte die Mahlzeiten zubereiten. 3490

Bildergallerie: f 1801. 3491

Stephanskirche: f 2546f.

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Kommentar

3502

Scalen: (ital.) scala: Tonleiter. 3515

Fratzen: (öst.) Fratz: unartiges Kind. 3555f.

Festouverture von Beethoven: Ouvertüre in C-Dur (op. 124; 1822), auch bekannt unter dem Titel Die Weihe des Hauses. 3688

Lederfauteuils: (frz.) Fauteuil: Lehnsessel, gepolstertes Sitzmöbel mit Armlehnen. 3741

Portier: hier: Bahnbeamter, der Fahrscheine am Einlass des Bahnsteigs kontrolliert. 3741f.

Fahrkarten, die er markieren wollte: Fahrkarten wurden mit einer Kontrollzange gelocht und damit entwertet. 3796

infam: (lat.) ehrlos, verrucht, schändlich. 3802

Klingeln des Telegraphen: Elektromechanisch ausgelöste Läutsignale dienten im Eisenbahnwesen zur Informationsübertragung, etwa um das Eintreffen eines Zuges anzukündigen. 3809

Necessaire: von (frz.) nécessaire: notwendig; Behältnis zur Aufbewahrung oft benötigter kleinteiliger Dinge, wie Toiletteartikel, Nähzeug, Schreibsachen. 3847

affectirte: affektieren: künsteln. 3956

Falckenborgischen: f 574. 4025

6. Juni 1895: Durch die Grabinschrift, die Monatsangabe Mai (vgl. D 46) und Berthas dreijährige Witwenschaft (vgl. D 56–58) lässt sich als Handlungszeit Mai 1898 erschließen. 4064

Wärterin: hier: Krankenpflegerin.

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Kommentar

4095

accreditirten: akkreditiert: beglaubigt, anerkannt. 4114

Season: von Mai bis Juli dauernde zehnwöchige Sitzungsperiode des englischen Parlaments, während derer sich die „High Society“ in London aufhielt. 4164

zu Häupten: hier: veraltet für „am Kopfende“. 4237f.

Secundarius des Spitals: Assistenzarzt.

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Briefe Franziska Lawners 1899–1900

4.1 Briefe Franziska Lawners an Schnitzler 1899–1900 Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach bewahrt 56 Korrespondenzstücke von Schnitzlers Jugendliebe Franziska Reich, verheiratete Lawner, auf. 16 davon, 14 Briefe und zwei Briefkarten,1 fallen in den für die Entstehung von Frau Bertha Garlan relevanten Zeitraum von März 1899 bis Oktober 1900. Sie werden vollständig und unter Wahrung des Zeilenfalls und der Orthographie wiedergegeben. Seitenwechsel sind mit „⎡“ gekennzeichnet. Mit * markiert sind jene Objekte, auf deren erster Seite Schnitzler die Datierung wiederholte. [1] Karte, 29. 3. 1899*

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Sehr geehrter, lieber Herr Doctor! Soeben lese ich von Ihrer Ehren Prämie und freue mich riesig darüber; gestatten Sie mir Ihnen zu diesem neuen und Ihren früheren großen Erfolgen meine innigsten Glückwünsche zu übermitteln. ⎡Wer weiß, ob Sie sich meiner noch erinnern, ich denke oft an unsere glückliche Jugendzeit und besonders daran, als Sie mich fragten, ob ich glaube, daß aus Ihnen noch einmal was wird! Ich hatte Recht als ich Ihnen bejahend prophezeite und grüße Sie, als Ihre Sie verehrende Fanny ReichLawner Bielitz 29/3 99.

[1] 3f.

[am linken Rand:]

Beglücken Sie mich mit Ihrem Bilde und ein paar l. Worten! 1

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Ehren-Prämie: Vgl. dazu die Meldung zur „Bauernfeld-Prämienstiftung“ in der Neuen Freien Presse, Nr. 12427 (28. März 1899), S. 6, die die Verleihung der Ehrengabe von 1000 Gulden unter anderen an den „Schriftsteller Arthur S c h n i t z l e r für seine Novellen und dramatischen Arbeiten“ mitteilt. Bielitz: s. Anm. zu E,2, S. 23.

DLA, A:Schnitzler, Mappe 1111 ([1]–[13]) und 1112 ([14]–[16]).

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[2] 6. 4. 1899

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Mein lieber Arthur! Eine so aufrichtige und innige Freude, wie du mir durch Zusendung deines schönen Bildes und deiner lieben Zeilen bereitet hast, habe ich schon seit langer Zeit nicht empfunden. Ich danke dir von ganzem Herzen dafür und werde dir sobald es mir nur möglich sein wird, mein Bild schicken Möchtest du auch ein Bild von meinem Herbert, er sieht mir ganz ähnlich, ist aber sehr zart? Du bist wirklich ein schöner Mann geworden, warst übrigens i¢er ein hübscher Junge! ⎡Dir geht es ja gewiß ausgezeichnet, bist du schon verheiratet, hast du Familie? Alles, Alles interessirt mich, was dich betrifft! Schreibe mir, liebster Arthur über dich und recht viel, du machst mir damit die größte Freude, die mir überhaupt zu Theil werden kann! Wenn ich mich nicht so unendlich nach Wien sehnen möchte, so wäre ich ja hier ganz glücklich, aber Bielitz ist so ein kleines Nest man hat faktisch hier gar nichts. Seit dem Tode meines armen Mannes ertheile ich ClavierUnterricht, bin so ziemlich ⎡beliebt, natürlich mehr bei den Herrn, denn die lieben Frauen gönnen einem Menschen ja nichts! Ich brauche Niemanden stehe auf meinen eigenen Füßen, habe auch Vermögen, was bei den Bielitzern eine Haupt-

[2] 14

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Herbert: Franziska Lawners Sohn aus erster Ehe, Herbert Lawner (14. 4. 1894 – 19. 1. 1952). Mannes: Simon Lawner (1844–1896), Versicherungsvertreter. Die Ehe war am 18. 6. 1888 in Wien geschlossen worden.

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rolle spielt, bin durch meine solide Aufführung sehr geachtet und meine Lieblingsbeschäftigung ist noch i¢er die Musik! Ich singe Schumann, Schubert, Franz, Händel und die „kleine Wittwe“ von Aletter, du siehst, ich bin noch so ziemlich die alte ⎡i¢er gut gelaunte Fanny! Unlängst habe ich bei einer Akademie zu wolthätigem Zweck mitgewirkt, es waren 500 Menschen im Saal und ich gefiel zu meinem Erstaunen außerordentlich; ich war glücklich in dem Bewußtsein für arme Kinder ein gutes Werk gethan zu haben. Ich will nächstens einmal nach Wien ko¢en, und wenn es dir recht ist, so werde ich dich davon verständigen, bis dahin hoffe ich aber noch öfter von dir zu hören und grüße dich innigst, als deine alte glückliche Fanny Bielitz, 6/4 99. [3] Karte, 13. 5. 1899* Mein lieber Arthur!

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Franz: Robert Franz (1815–1892),

deutscher Komponist und Dirigent; von ihm stammen zahlreiche Lieder zu Klavierbegleitung. 52f. „kleine Wittwe“ von Aletter : Ich bin eine Witwe, humoristisches Couplet (1898) von Otto Reutter (1870–1930), Musik von Wilhelm Aletter (1867– 1934), über eine zweimal verwitwete Frau auf der Suche nach dem dritten Mann. 56f. Akademie zu wolthätigem Zweck: hier: Benefizveranstaltung.

Zu deinem bevorstehenden Geburtstage sende ich dir meine innigsten Glückwünsche und zu gleicher Zeit eine kleine Handarbeit, die ich als Dank für dein liebes Bild von mir entgegen zu nehmen, bitte. Mein Brief scheint dir leider nicht zugestellt worden zu sein, denn sonst hättest du mich ⎡gewiß schon mit einigen

[3] 4

Geburtstage: Schnitzler und Lawner wurden am selben Tag, dem 15. 5. 1862, geboren.

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Zeilen erfreut. Zu Pfingsten werde ich wahrscheinlich in Wien sein und werde mich unendlich freuen, mit dir von alten, schönen Zeiten plaudern zu können; bis dahin grüßt dich innigst deine aufrichtige Freundin Fanny. Bielitz, 13/5 99. [4] 21. 5. 1899

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Mein lieber Arthur! Es thut mir sehr leid, daß ich dich bis heute noch nicht gesehn habe, denn aufrichtig gesagt, freue ich mich schon unendlich darauf, dich wiederzusehn. Ich kann morgen nicht zu dir kommen, weil ich Nachmittag in die Oper gehe; wenn du Zeit hast, so erwarte mich morgen um 10 Uhr in der „Secession“, wir werden uns dann verabreden, wo ⎡wir wieder zusa¢en ko¢en; ich werde einige Tage hier bleiben und kann dir noch nicht besti¢en an welchem Tage ich hier bleibe. wegfahre. Dich innigst grüßend deine treue Fanny. Wien, 21/5 99.

16f.

21. 5. 1899. [4] 11

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Oper: Die Vorstellung der Operette Die Fledermaus von Johann Strauss (Sohn) in der k.k. Hofoper war für 13 Uhr angesetzt. Secession: Ausstellungsgebäude der gleichnamigen Wiener Vereinigung bildender Künstler, 1897/98 nach Plänen von Joseph Maria Olbrich am Rande des Karlsplatzes errichtet.

[5] 1

[5] 26. 5. 1899*

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Pfingsten: Pfingstsonntag war der

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Besten Dank, lieber Arthur für die Sitze, gestern war es prachtvoll in der Oper; sei so freundlich und erwarte mich nach dem Burgtheater

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26. 5. 1899: Schnitzlers handschriftliche Datierung „26/5 99“ korrigiert das offenbar – neben der irrigen Ortsangabe „Bielitz“ – falsche Datum „27/5 99“ in Franziska Lawners Brief. Sitze: hier: (Sitzplatz-)Karten. Oper: Am 25. 5. wurde in der k.k. Hofoper Rigoletto von Giuseppe Verdi gegeben. Burgtheater: Am 26. 5. 1899 wurde dort Fuhrmann Henschel von Gerhart Hauptmann aufgeführt.

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beim Volksgartenthor; morgen bin ich zum letzten mal mit dir beisa¢en und will noch mit dir sprechen. Tausend Grüße Fanny. Bielitz 27/5 99. [am linken Rand:] Heute werde ich zu Hause nachtmalen. [6] 27. 5. 1899* Mein süßer Arthur!

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Damit ich das Glück genieße, daß du längere Zeit neben mir sitzest, so bitte ich dich diesen Sitz von mir anzunehmen; wenn du nicht mit mir sprechen willst, so mußt du es nicht thun, ich entbinde dich der Pflicht mich in der Oper zu kennen; nachher gehen wir in den Riedhof, wenn du nämlich willst. Heute sind wir zum letzten Mal beisa¢en und so sehr es mich schmerzt, von dir Abschied zu nehmen, so beglückt es mich einige Stunden mit dir selig beisa¢en sein zu können. In wonniger Aufregung deine dich anbetende Fanny den 27/5 99. Zerreiße sofort diese Zeilen. Bitte! 7

[7] 31. 5. 1899* Mein lieber Arthur!

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Volksgartenthor: s. Kommentar zu D 2222, S. 272.

[6]

Trotzdem ich mich seit einigen Tagen tief unglücklich fühle, kann ich es doch nicht unterlassen, dir für alle mir erwiesenen 285

11

Oper: Am 27. 5. 1899 wurde in der

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k.k. Hofoper Hänsel und Gretel von Engelbert Humperdinck und das Ballett Coppelia von Léo Delibes gegeben. Riedhof: s. Anm. zu S2 6,11, S. 41.

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Aufmerksamkeiten innigst zu danken. Ich schaue immerfort dein liebes Bild an und frage, was ich denn eigentlich gethan habe, daß du mich überhaupt nicht mehr sehen wolltest, und mir so rasch und gerne den Abschied gegeben hast. Ich verlange ja keine Liebe ⎡von dir, aber deine Freundschaft möchte ich haben, du hast mir gesagt, daß ich dir sympathisch bin, thue mir also den Gefallen und beglücke mich manchesmal mit deinen Zeilen, auf die mir versprochenen Bücher warte ich mit Sehnsucht. Seit ich aus Wien zurückgekehrt bin, ist mir Bielitz ekelhaft und wenn ich könnte würde ich heute nach Wien zurück gehen. Ich habe in Wien gesehn, daß du dich meiner schämst, ich begreife es ja vollko¢en, weil ich doch eigentlich gar nichts ⎡bin, aber ein Herz habe ich doch, das läßt sich einmal nicht wegläugnen, und als ich dich wiedersah brach die langverhaltene Liebe wieder hervor und das hast du mir so übel geno¢en. Wenn du nichts von mir wissen willst, so thue dir keinen Zwang an, lieber Arthur, sag’ es mir rund heraus, ich hab’ dich viel zu lieb, um dich zu quälen. Heute ist auch noch mein Herbert an heftigem Fieber erkrankt kannst dir also denken, wie mir zu Muth ist! Fanny. Bielitz 31/5 99. 286

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[8] 3. 6. 1899*

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Tausend Dank, mein goldener Arthur für deine herrlichen Bücher; du hast mich wieder für lange, lange glücklich gemacht; wie wunderbar ist „der grüne Kakadu“, ich habe mich köstlich dabei unterhalten; bei der Stelle, wo die Séverine zum Rollin sagt, „den habe ich auch gleich geheiratet, bin ich vor Lachen vom Sopha heruntergefallen. ⎡Auch „die Gefährtin“ gefällt mir sehr gut! Ich freue mich schon unendlich auf die andern Sachen und werde mir alle Bücher in Prachtbund mit Goldschnitt binden lassen! Sei mir nicht böse, wenn ich manchmal einen Unsinn schreibe, du kennst mich ja von früher her, ich weiß ja nur das Eine, daß ich dich anbete, daß keine Minute im Tag vergeht, wo ich nicht an dich denke, an die wenigen, aber unvergeßli⎡chen Stunden, die ich in Wien mit dir verbracht. Wie herzig warst du damals, als du das Glas zuerst auf meinen süßen Herbert erhobst; ich hätte dich am liebsten aufgegessen. Du bist überhaupt so ein guter, putziger Mensch, wie es keinen zweiten mehr auf Erden giebt. Ich bin überhaupt glücklich dir schreiben zu dürfen, und fürchte nur, daß ich dir zu dumm bin und dich mit meinen Briefen lang-

[8] 7f.

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„der grüne Kakadu“: Schnitzlers „Groteske in einem Akt“ war, zusammen mit Die Gefährtin und Paracelsus, am 1. 3. 1899 am Burgtheater uraufgeführt worden; die drei Einakter waren noch im Frühjahr bei S. Fischer in Buchform erschienen. – Zitiert wird folgende Stelle: ROLLIN: Ah, Séverine, Sie haben noch nie einen Mann kennen gelernt, der Ihnen nicht gefallen hätte. SEVERINE: Oh, doch; den hab’ ich auch gleich geheiratet. (DW I,539) „die Gefährtin“: s. Anm. zu Z. 7f.

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weile! Wäre ich des Gegenteil’s sicher, ⎡so würde ich mir schon gar nichts mehr wünschen! Dein süßes Bild schaue ich unzälige Male im Tag an, und jedesmal, wenn ich es gesehn habe, bin ich wie neu belebt! Ein Wort, geliebter Arthur, ob ich dir schreiben darf und ob es dich interessirt, zu wissen, wie es uns geht, wirst du mir senden? Tausend Grüße von deiner dich verehrenden, überglücklichen Fanny. Bielitz, 3/6 99. [am linken Rand:]

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Hast du seit jener Zeit die Fanny Mütter gesehn? [9] 17. 6. 1899* Mein lieber Arthur!

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Tag für Tag erwarte ich von dir ein paar liebe Zeilen und sie kommen nicht, wenn ich mich auch zu Tode sehne. Alle deine Bücher habe ich gelesen und bin entzückt von deinem Talent und der wunderbaren natürlichen Sprache, aber ich muß dir gestehn, daß mich der Inhalt aller deiner Werke,– aus dem unendlich traurige Erfahrungen und trübe Sti¢ungen hindurch wehen,– furchtbar unglücklich macht; neulich als ich das „Märchen“ gelesen hatte, war ⎡ich so unglücklich, daß ich mich längere Zeit nicht beruhigen konnte; dazu heißt die Hauptperson noch „Fanny“ und ich bildete mir ein, daß die Grund-

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Fanny Mütter: 1858–1919, Cousine Franziska Lawners mütterlicherseits, Gesangslehrerin. Über ihre Rolle in Schnitzlers Jugendfreundschaft mit Franziska Reich heißt es in der Autobiographie: „Sie war es, die bei den nicht seltenen Mißverständnissen und Eifersüchteleien zwischen Fännchen und mir die sanfte Vermittlerin und sogar die gefällige Liebesbotin abgab, wobei es nicht fehlen konnte, daß sie selbst manchmal für Fännchen ein Gegenstand der Eifersucht wurde. Nicht ganz ohne Grund.“ (JiW 109)

[9] 17

„Märchen“: Das Märchen, Schauspiel in drei Aufzügen, war 1894 bei E. Pierson erschienen.

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Idee dieses Schauspiel’s aus meinem Leben sei! Irre ich, oder ist es so? Die Novellen sind entzückend, immer und immer lese ich sie wieder; am besten gefielen mir „Blumen“ und „die Toten schweigen.“ „Das Vermächtnis“ ist rührend schön! Ich werde Alles noch einige Male lesen, da ich doch das Glück habe den lieben Menschen, der das Alles geschrieben hat, zu kennen. ⎡Schau, Arthur du bist ein edler, guter Mensch und du weißt, daß ich Niemanden auf Erden habe, außer meinen geliebten Herbert, mit dem ich aber leider noch nicht reden kann. Ich halte es hier nicht mehr aus seit ich in Wien war, ich fühle wie eckelhaft hier die Menschen sind; ich habe reiche Verwandte hier, doch sind das Leute ohne Herz und Gemüt, auch ohne jede Bildung, die denken nur an sich und wissen nicht, wie verlassen und einsam ich mich fühle, sie fragen gar nicht darnach! Erweise mir den Freundschaftsdienst und beantworte mir folgende Frage, vielmehr bitte ich dich um deinen Rat! ⎡Nachdem ich in Wien erzogen bin und es mich mit allen Fasern meines Leben’s dorthin zurück zieht und ich dort gerade so gut leben kann wie hier, so möchte ich am 1. Juli meine Wohnung hier kündigen und könnte am 15. /August nach Wien übersiedeln. Hier gebe ich Clavierstunden, und möchte in Wien dasselbe thun, 289

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Novellen: Der Novellenband Die Frau

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des Weisen war 1898 bei S. Fischer erschienen und enthält u.a. Blumen und Die Toten schweigen. „Das Vermächtnis“: Schauspiel in drei Akten, am 8. 10. 1898 in Berlin uraufgeführt, 1899 bei S. Fischer erschienen.

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nur handelt es sich darum ob ich welche beko¢en würde; ungefähr 800 fl habe ich jährlich an Zinsen und da in Wien die Stunden besser gezalt werden als hier, so glaube ich, daß ich mir 6 bis 800 fl ganz leicht verdienen könnte! ⎡Ich würde mir eine kleine Wohnung nehmen und nachdem ich das Leben in Wien kenne so möchte ich’s mir so einrichten, daß ich mit dem, was ich habe, ausko¢e. Du hast keine Idee, wie glücklich mich der Gedanke macht, in Wien sein zu können und doch darf ich nicht leichtsinnig sein, denn ich habe ein Kind! Hier kann ich leben, und kann vielleicht noch etwas ersparen, weil Alles bedeutend billiger ist, als in Wien, aber ist denn das ein Leben? Das ist ein Vegetiren! ⎡Also mein lieber, guter Arthur sei aufrichtig mir gegenüber, sage mir was ich thun soll, ob ich es wagen darf oder nicht; ich habe unendliches Vertrauen zu dir, denn ich weiß, daß du ein Mensch mit Geist Herz und Gemüt bist. Thu’ dir keinen Zwang an, sag’ mir, was du denkst und was du mir räthst! Ich sehe deinen lieben Zeilen sehnsuchtsvoll entgegen und bin mit den besten Grüßen deine dich verehrende Freundin Fanny Bielitz, 17/6 99.

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800 fl: fl: Abkürzung für „Gulden“; in Österreich-Ungarn 1892 durch die Kronenwährung abgelöst, aber bis 1900 als Zahlungsmittel zugelassen. Um 1900 betrug die Miete für eine 3-Zimmer-Wohnung in einem bürgerlichen Wiener Bezirk zwischen 600 und 1000 Gulden jährlich, das Honorar für eine Klavierlektion etwa einen Gulden.

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Leider Gottes! Bielitz, 23/6 99 Mein lieber Arthur! Besten Dank für deine lieben Zeilen, und wenn du mir nur recht oft und viel schreibst, so kann es i¢er mit dem Bleistift geschehn, sie gehören ja doch nur mir und mir machen deine lieben Worte in jeder Form Freude. Daß ich nicht die „Märchen-Fanny“ bin, hat mir eine Zentner-Last vom Herzen geno¢en, übrigens war meine Angst ganz unnötig, denn du weißt am besten, wie ich war und bin! Mein Gewissen ist rein und wenn ich in dich verliebt bin, so kann mir das Niemand verargen, das ist einfach ein ⎡Malheur für mich! Daß du mich betreffs meiner Idee nach Wien zu reisen zur Vorsicht mahnst, ist sehr klug von dir, und ich sehe daraus, daß du mir – und – – – dir gut bist! Nach reiflicher Überlegung bin ich zu dem Entschlusse gelangt, hier fort zu vegetiren, und wenn du mir nur öfter schreibst, wie es dir geht, was du machst, in wen du momentan verliebt bist, was du dichtest überhaupt Alles, Alles, was dich betrifft, so bin ich glücklich, und werde wieder kämpfen um meinen süßen Herbert und mich zu erhalten. ⎡Mein süßer Arthur, wenn ich am ersten Juli den Haupttreffer der Creditlose mache, dann kann ich doch wol nach Wien ko¢en, und du wirst

[10] 42f.

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ersten Juli […] Creditlose: Sogenannte Lotterieanleihen waren eine spezielle Form börsengehandelter Wertpapiere. Statt ausbezahlt zu werden, wurden die Zinsen, teilweise oder ganz, einbehalten; der Gewinn wurde durch Verlosung ausgeschüttet. – Am 1. 7. 1899 fand die „33. Verlosung der 4 %igen Bankvaluta-Pfandbriefe der k.k. priv. allg. Oesterr. Boden-CreditAnstalt“ statt.

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mich öfter besuchen, nicht wahr? Mein Gott im Hi¢el, kann ich denn noch einmal so glücklich sein? An Fanny Mütter habe ich mich zuerst gewendet, sie findet meine Idee wahnsinnig! Reflektirst du noch auf ein Bild von mir, da du mich in natura gesehn hast? Willst du auch eines von Bubi? Heute zu Mittag [am linken Rand:]

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Was soll ich dir kaufen, wenn ich den Haupttreffer mache? Doch kein Bild aus der secessionistischen Ausstellung? ⎡hat er Clavier geübt, da rief ich ihn zum Essen und fragte ihn, ob er Künstler werden wolle, er sagte: nein, ich will dasselbe werden was der Schnitzler ist.“ Darauf ich „was ist der Schnitzler? „Ein Dichter“ antwortete der putzige Kerl! Er ist manchesmal zum Aufessen, schade, daß ich ihn nicht gut erziehen kann, da ich doch selbst ungezogen bin! Ist das Gut, wohin du fährst in Slavonien und soll ich dir manchmal schreiben, bitte, antworte mir möglichst bald, mein theurer Arthur und sei recht innig gegrüßt von Herbert und deiner verrückten Fanny. [11] 5. 11. 1899 Lieber Arthur!

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Also ist es richtig wahr, daß du mich aus tiefster Seele verachtest und von mir nichts wissen willst? Und warum, weil ich dich liebte? Ich bin darüber furchtbar unglücklich und doch denke

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Bild […] Ausstellung: Bei der vierten Ausstellung der Secession (vgl. Anm. zu Brief [4], Z. 14) von 17. 3. bis 31. 5. 1899 waren Werke von rund 80 Künstlern ausgestellt, darunter Gustav Klimts Nuda Veritas und Schubert. Slavonien: Region im Osten Kroatiens. Tatsächlich hielt sich Schnitzler vom 23. bis zum 27. 6. 1899 im slawonischen Ort Beliˇsce ´ auf (vgl. Tb II,309).

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ich immer an die paar seligen Stunden, wo ich mit dir beisa¢en war! Ich möchte so gerne wissen, wie es dir geht, ob deine Stimmung eine bessere ist? ⎡und wie du dich fühlst. Gehst du oft in’s Theater, schreibst du etwas Neues? Bitte, thu’ mir doch den Gefallen und erfreue mich mit einigen l. Zeilen, ich bin ja so allein, habe keine Seele mit der ich ein Wort reden kann; wenn ich meinen süßen Herbert nicht hätte, möchte ich nicht leben wollen! So vegetire ich fort! Ich dachte immer, daß du mich [am linken Rand]

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Siehst du Fanny Mütter! Herbst besuchen würdest und du, mein Lieber, bist, wie mir scheint froh, wenn du nichts von mir hörst. Irre ich mich, oder ist es so? Tausend innige Grüße von meinem geliebten Herbert und deiner treuen Fanny. Leider Gottes Bielitz, 5/11 99. ⎡im

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[12] 7. 12. 1899 Lieber Arthur!

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Um dich nicht zu ärgern, und das Correspondiren mit mir nicht gar zu unleidlich zu machen, habe ich dir einen ganzen Monat nicht geschrieben, trotzdem ich oft an dich gedacht habe und sehr neugierig war zu hören, wie es dir geht. Wie weit bist du mit deinem 293

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neuen Stück, ich möchte es schon so gerne lesen! Gehst du oft in’s Theater, neulich war ich mit meinen Gedanken ⎡im Burgtheater, bei deiner „Liebelei“ die Medelsky muß ja reizend darin sein, die hat so ein herziges Gesichtel! Ach Gott, wie gerne möchte ich nach Wien ko¢en, aber zu wem soll ich ko¢en, ich hab’ ja keinen Menschen, der sich meiner annimmt. Ich fühle mich jetzt hier schauderhaft, die Menschen sind mir alle so ecklig, wenn ich sie unterhalte d.h. spiele und singe, dann haben sie mich gern, aber ein ver[am linken Rand:]

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Ist es dir vielleicht lieber, wenn ich dich mit meinen Briefen verschone so genire dich nicht, und sage es mir nur offen! ⎡nünftiges Wort kann man hier mit Niemandem reden; es war eine unverzeihliche Idee von mir in Bielitz zu bleiben; man kann in Wien ebenso angenehm leben, nur hat man es mit lieben, fei[12] nen Menschen zu thun und dann 12 neuen Stück: wohl das Schauspiel Der Schleier der Beatrice. Schnitzler hatte diese schauspielerischen und musikadie Arbeit daran im September 1899 lischen Genüsse! abgeschlossen (vgl. Tb II,312). Die Meine einzige Freude ist noch mein Buchausgabe erschien 1901 bei S. Fisüßer Bub, er kann schon ein scher. bischen lesen, es ist zu komisch, 16 „Liebelei“: Schauspiel in drei Akten, wie er Alles buchstabirt, er am 9. 10. 1895 im Burgtheater uraufgeführt, 1896 bei S. Fischer erschienen. hat einen sehr guten Kopf (von 17 Medelsky : Lotte (eigentlich: Karoline) mir nicht!) Medelsky (1880–1960) spielte ab 1898 Sei mir nicht böse, wenn ich mich am Burgtheater immer wieder die Rolle nach dem Befinden deiner der Christine in Liebelei. ⎡werten Frau Mama erkundige, 50 Mama: Louise Schnitzler, geb. Markund wie es deinen l. Geschwistern breiter (1840–1911). 52 Gisella: Schnitzlers Schwester Gisela geht! Beko¢t Gisella Familie? Hajek (1867–1953). Ich möchte es ihr von Herzen 56 Malwine Körbel: Auf dem Bielitzer wünschen! Friedhof befindet sich der Grabstein Eine sehr schöne Frau aus Bielitz (ohne Lebensdaten) einer Malvine /Malwine Körbel/ hat mir Körbl. 294

Anhang

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Briefe Franziska Lawners 1899–1900

von der Tüchtigkeit des Dr Hajek erzält! Mein Goldener, mach’ mir wenigstens die Freude und schreibe mir bald und recht viel, ich kann dir nicht sagen wie glücklich du mich damit machst! Tausend Grüße von Herbert und deiner alten Fanny Bielitz 7/12 99. [am linken Rand]

Was soll ich lesen? Und was spielen? [13] 31. 12. 1899 Mein lieber Arthur!

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Du hast mich wieder keiner Antwort gewürdigt und einige Wochen verstreichen lassen, ohne mir eine Zeile zu schreiben; glaubst du ich bin dir böse, ich kränke mich nur darüber, weil ich mir denke, wie dir gar nichts an mir liegt! Schau Arthur, warum bist du nicht zu mir geko¢en, wie du die „Eine Stunde“ für das theure Leben gebraucht hast, ich hätte sie dir verschafft. Wie schön ist dieses Feuilleton! ⎡Du bist ja ein Engel, wie beneide ich dich darum, daß du so schreiben kannst! Gönne mir doch auch ein paar Zeilen von deiner geistreichen Hand – kann man nicht gut sagen, also aus deinem geistreichen Kopf und von deiner lieben Hand! 1900! Prosit! Werde recht glücklich in diesem Jahre, ich wünsche dir Alles, was dein Herz begehrt; vor Allem möchte ich gerne wieder

57f.

Dr Hajek: Der Laryngologe Markus Hajek (1861–1941) war seit 1886 mit Schnitzlers Schwester Gisela verheiratet.

[13] 12

„Eine Stunde“: Um eine Stunde war am 24. 12. 1899 in der Weihnachtsbeilage der Neuen Freien Presse erschienen. Schnitzler war mit der Erzählung, in der ein junger Mann den Engel des Todes um eine weitere Stunde Lebenszeit für seine sterbende Frau bittet, nicht zufrieden: „Verstimmend der Abdruck meiner schwächlichen Arbeit in der N. Fr. Pr. (dem großen Publikum gefällts) –“ (25. 12. 1899; Tb II,318).

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Briefe Franziska Lawners 1899–1900

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[am linken Rand:] 30

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Bin ich nicht verrückt? Schreibe mir, daß du mich nicht leiden kannst! ⎡dein heiteres Lachen hören, wie ich es einstens so oft und so gerne gehört habe. Ach Arthur hast du denn eine Idee, wie gerne ich nach Wien möchte, ich glaube vor Sehnsucht zu sterben. Wann werde ich dich wieder sehn? Sei doch nicht so grausam, und schreibe mir wenigstens etwas! Tausend Grüße von Herbert und deiner dich verehrenden Fanny Götterstadt! Bielitz! 31/12 1899. [am linken Rand:]

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Heute Nachts um 12 Uhr trinke ich auf dein Wohl ein Glas – ich weiß noch nicht, was! ⎡Goldener Arthur, schicke mir dein neues Stück „Schleier der Beatrice“ und dein altes Tagebuch, ich schwöre dir, daß ich es keiner Menschenseele zeigen werde, nur für mich! [14] 15. 4. 1900*

5

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15

Mein lieber, guter Arthur! Schon längere Zeit habe ich dir nicht geschrieben, weil ich stets fürchtete, dich zu langweilen und dennoch denke ich täglich an dich und sogar von meinen Träumen bleibst du nicht verschont. Wie geht es dir, liebster Arthur, schreibst du etwas Neues, wie oft lese ich deinen Namen in der Presse, und wie traurig macht es mich, daß ich dein liebes Gesicht nicht sehen kann. ⎡Ich habe die Absicht Ende August nach Wien zu übersiedeln, denn ich halte es hier nicht mehr

49f.

„Schleier der Beatrice“: vgl. Anm. zu Brief [12], Z. 12.

[14] 13

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Presse: wohl die Wiener Tageszeitung Neue Freie Presse (vgl. Anm. zu Brief [13], Z. 12).

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Briefe Franziska Lawners 1899–1900

aus, ich sterbe fast vor Sehnsucht und hier fühle ich mich furchtbar allein und verlassen. Meine einzige Freude ist mein Junge, der sehr hübsch, lieb und klug wird, er war gestern 6 Jahre alt und liest schon ohne Fehler, auch rechnen kann er sehr gut. Sag’ mir, liebster Arthur wirst du in Wien zu mir ko¢en, ach wie glücklich wäre ich, wenn du mich manchmal besuchen woll⎡test, wenn wir 4händig spielen würden und ich nur wüßte, ob du mich noch ein bischen lieb hast. Thue mir den Gefallen und schreibe darüber; ein Wort von dir genügt meinen Übersiedlungsplan zu vereiteln oder mir einen Hoffnungsstrahl auf ein angenehmeres Dasein zu bieten. Ich will, um nicht allein wohnen zu müssen, mit meinem jüngsten, ledigen Bruder Fritz eine Wohnung nehmen; er ist Beamter des „Wiener Bankvereines“ und ein lieber guter Junge! Ich glaube, wir würden uns sehr gut vertragen. ⎡Fritz müßte mir auch helfen meinen Herbert strenge zu erziehn; wenn man etwas gel?ern?t hat, ist man ja nicht verloren; und dann habe ich ja auch Vermögen, also gar so schli¢ wird es doch nicht sein! Bitte, liebster Arthur, erfreue mich recht bald mit ein paar Zeilen, beantworte mir die meinigen und sei recht innig Fritz: Friedrich Reich, geb. 28. 9. 1872 43 gegrüßt von Herbert und in Wien. deiner dich verehrenden 44f. „Wiener Bankvereines“: 1869 geFanny. gründet, um 1900 eine der größten Bielitz 15/4 1900. Banken Österreich-Ungarns.

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Briefe Franziska Lawners 1899–1900

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[15] 14. 5. 1900

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Mein lieber Arthur! Zu deinem Geburtstage empfange meine besten Wünsche; ich erlaube mir, dir eine kleine Handarbeit! zu senden, und bitte um dein Urtheil darüber; Herbert gratulirt dem lieben Onkel Arthur herzlichst und schickt ebenso, wie Mama viele, viele Grüße! Deine treue Fanny Bielitz 14/5 00. [16] 5. 9. 1900 [Kuvert:]

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Wolgeboren Herrn Dr Arthur Schnitzler Wien IX – Frank-Gasse 1 ⎡Lieber Arthur! Heute sollte ich nach Wien übersiedeln und gestern habe ich mich mit einem lieben, schönen jungen sehr musikalischen k. k. Staats-Beamten verlobt; ich werde allgemein um ihn beneidet, und kann mein Glück selbst noch kaum fassen. Ich kann nicht umhin dir davon Mitteilung zu machen und bin mit den besten Grüßen deine überglückliche Fanny Bielitz 5/9 1900 Bleichstrasse 16.

[16] 6

IX – Frank-Gasse 1: Schnitzlers

Wohnadresse im 9. Wiener Gemeindebezirk von 1893 bis 1903. 11f. k. k. Staats-Beamten: nicht identifiziert. Der im März 1901 von Franziska Lawner geehelichte Hersch Leser / Heinrich Lawner (1865–1942) stammte aus der Familie des ersten Ehemannes und war Beamter, dürfte aber nicht mit dem hier Angesprochenen ident sein: In einem Brief vom 5. 11. 1900 wird nicht nur von der erfolgten Übersiedlung nach Wien, sondern auch von der mittlerweile stattgefundenen Entlobung berichtet. 23 Bleichstrasse: zentral gelegene Straße, heute Partyzantów.

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Schnitzler über Franziska Lawner 1899–1900

4.2 Schnitzler über Franziska Lawner 1899–1900 Die Briefe Arthur Schnitzlers an Franziska Lawner aus dem für die Entstehung von Frau Bertha Garlan relevanten Zeitraum 1899–1900 sind nicht erhalten, sodass sein Tagebuch die einzige weitere biographische Quelle bildet. Alle Erwähnungen von Franziska Lawner, die in die betreffende Periode fallen, werden im Folgenden wiedergegeben.

1899 (Tb II,306f.) 15/5 37. Geburtstag.– Brief von Fännchen, mit Handarbeit […].– 22/5 Pfingstmontag – in der Secession; traf dort, wie verabredet, Fännchen, die seit 4 Jahren verwittwet, in Bielitz lebt; war von ihrem jüdeln und plappern unangenehm berührt. Abds. mit ihr Riedhof; sie sehr zärtlich – „so wird ein Wunsch erfüllt“. 23/5 Nm. Fännchen bei mir, mit Sohn Herbert. 24/5 Bei Fanny Mütter Nachm.– Gesang, Schülerinnen ([…]). Abd. holte ich Fännchen vom Volksth. ab – mit ihr H. Victoria – anfangs ging sie mir auf die Nerven, dann siegte der Trieb!– 27/5 Fännchen abgeschrieben 2/6 […] Von Fännchen ein ganz netter Brief.–

22/5

23/5 24/5

Secession: s. Anm. zu Lawners Brief [4], Z. 14 (S. 284). Bielitz: s. Anm. zu E,2 (S. 23). Riedhof: s. Anm. zu S2 6,11 (S. 41). Herbert: s. Anm. zu Lawners Brief [2], Z. 14 (S. 282). Fanny Mütter: s. Anm. zu Lawners Brief [8], Z. 65 (S. 288). Volksth.: Am 24. 5. wurde im Volkstheater die Komödie Zaza von Pierre Berton und Charles Simon gegeben.

H. Victoria: Das Hotel Victoria befand sich in der Favoritenstraße 11 im 4. Wiener Gemeindebezirk.

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Schnitzler über Franziska Lawner 1899–1900

Anhang

1900 (Tb II,327 und 339) 16/4 Ostermontag.– Brief von Fännchen nach langer Zeit – sie wird nach Wien übersiedeln, ganz entsprechend dem Brief in der Novelle. Diese Novelle (begonnen 1/1) schloss ich heute Nachm. ab.– 19/10 […] Neulich schrieb mir Fännchen, dass sie sich mit einem „k. k. Staatsbeamten“ verlobt.

19/10

verlobt: s. Anm. zu Lawners Brief [16], Z. 11f. (S. 298).

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Anhang

Konkordanz der Textzeugen

4.3 Konkordanz der Textzeugen Gegenüberstellung der überlieferten Reihung der handschriftlichen Textzeugen in CUL (Mikroverfilmung um 1960; Stand Oktober 2010) und der für die HKA vorgenommenen Umordnung. CUL (2010)

HKA



1

U

1

2

E

47

49

F

2–3

4–5

S1 1–2

4–15

6–17

S2 1–12

16–17

18–19

S3 16–17

40–42

42–44

S4 1–3

37–38

39–40

S5 1–2

44–46

46–48

32–35

34–37

30–31

32–33

24–26

26–28

28

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27

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3

N1

18–20

20–22

N2–N4

22–23

24–25

N5–N6

29

31

N7

36

38

N8

39

41

N9

43

45

N10

48–54

50–56

N11–N17

irrorrp irrorrp

CUL (ca. 1960)

301

S6 1–3 S6 4–7 S6 8–9 S7 1–3 S6 4 S6 5 S6 6

Siglenverzeichnis

Anhang

4.4 Siglenverzeichnis Ausgaben ED

EA GW

GW1922

Frau Bertha Garlan. Von Arthur Schnitzler. In: Neue Deutsche Rundschau (Freie Bühne), Jg. 12, H. 1 (Januar 1901), S. 41–64; H. 2 (Februar 1901), S. 181–206; H. 3 (März 1901), S. 237–272. Frau Bertha Garlan. Roman. Berlin: S. Fischer 1901. Frau Berta Garlan. In: Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke in zwei Abteilungen. [7 Bde.] Berlin: S. Fischer 1912. Erste Abteilung: Erzählende Schriften. 3 Bde. Bd. 2: Novellen, S. 9–181. Frau Berta Garlan. In: Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke in zwei Abteilungen. [9 Bde.] Berlin: S. Fischer 1922. Erste Abteilung: Erzählende Schriften. 4 Bde. Bd. 2: Novellen, S. 9–181.

Edierte Texte D

Drucktext (Grundlage: ED)

E

Skizze (CUL, A 153,6)

Fl

Figurenliste (CUL, A 153,7)

N1… N17

Notizen (CUL, A 153,7)

S1… S7

Skizzen (CUL, A 153,7)

Zitierte Literatur A-HKA

Arthur Schnitzler: Anatol. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. Evelyne Polt-Heinzl u. Isabella Schwentner. Unter Mitarbeit v. Gerhard Hubmann. Berlin, Boston: De Gruyter 2012 (Arthur Schnitzler. Werke in historisch-kritischen Ausgaben). Br I Arthur Schnitzler: Briefe 1875–1912. Hrsg. v. Therese Nickl u. Heinrich Schnitzler. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1981. DW I Arthur Schnitzler: Die Dramatischen Werke. Erster Band. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1962. Fischer-Bw Samuel Fischer u. Hedwig Fischer: Briefwechsel mit Autoren. Hrsg. v. Dierk Rodewald u. Corinna Fiedler. Mit einer Einführung v. Bernhard Zeller. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1989.

302

Anhang

Siglenverzeichnis

GB-Bw

Georg Brandes und Arthur Schnitzler. Ein Briefwechsel. Hrsg. v. Kurt Bergel. Bern: Francke 1956. Hugo von Hofmannsthal u. Arthur Schnitzler: Briefwechsel. Hrsg. v. Therese Nickl u. Heinrich Schnitzler. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1964. Arthur Schnitzler: Jugend in Wien. Eine Autobiographie. Hrsg. v. Therese Nickl u. Heinrich Schnitzler. Wien, München, Zürich: Molden 1968. Arthur Schnitzler: Liebelei. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. Peter Michael Braunwarth, Gerhard Hubmann u. Isabella Schwentner. Berlin, Boston: De Gruyter 2014 (Arthur Schnitzler. Werke in historisch-kritischen Ausgaben). Arthur Schnitzler: Lieutenant Gustl. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. Konstanze Fliedl. Berlin, New York: De Gruyter 2011. Achim Aurnhammer (Hrsg.): Arthur Schnitzlers Lektüren. Leseliste und virtuelle Bibliothek. Würzburg: Ergon 2013. Der Briefwechsel Arthur Schnitzler – Otto Brahm. Hrsg. v. Oskar Seidlin. Tübingen: Niemeyer 1975 (Deutsche Texte 35). Arthur Schnitzler u. Richard Beer-Hofmann: Briefwechsel 1891–1931. Hrsg. v. Konstanze Fliedl. Wien, Zürich: Europa-Verlag 1992. Arthur Schnitzler: Sterben. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. Gerhard Hubmann. Berlin, Boston: De Gruyter 2012 (Arthur Schnitzler. Werke in historisch-kritischen Ausgaben). Arthur Schnitzler: Tagebuch 1879–1892. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik u. Reinhard Urbach hrsg. v. der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Obmann: Werner Welzig. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1987. Arthur Schnitzler: Tagebuch 1893–1902. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Konstanze Fliedl, Susanne Pertlik u. Reinhard Urbach hrsg. v. der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Obmann: Werner Welzig. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1989. Arthur Schnitzler: Tagebuch 1903–1908. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik u. Reinhard Urbach hrsg. v. der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Obmann: Werner Welzig. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1991. Arthur Schnitzler: Tagebuch 1909–1912. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Richard Miklin, Maria Neyses, Susanne Pertlik, Walter Ruprechter u. Reinhard Urbach hrsg. v. der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Obmann: Werner Welzig. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1981.

HvH-Bw JiW L-HKA

LG-HKA LL OB-Bw RBH-Bw St-HKA

Tb I

Tb II

Tb III

Tb IV

303

Siglenverzeichnis

Tb IX

Anhang

Arthur Schnitzler: Tagebuch 1927–1930. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik u. Reinhard Urbach hrsg. v. der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Obmann: Werner Welzig. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1997.

Institutionen ASA CUL DLA

Arthur-Schnitzler-Archiv, Freiburg i. Br. Cambridge University Library Deutsches Literaturarchiv, Marbach a. N.

304