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German Pages 283 [284] Year 2016
Arthur Schnitzler Die Toten schweigen
Arthur Schnitzler Werke in historisch-kritischen Ausgaben
Herausgegeben von Konstanze Fliedl
Arthur Schnitzler
Die Toten schweigen Historisch-kritische Ausgabe Herausgegeben von Martin Anton Müller unter Mitarbeit von Ingo Börner, Anna Lindner und Isabella Schwentner
De Gruyter
Diese Ausgabe entstand im Rahmen des vom österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) finanzierten Projektes „Arthur Schnitzler – Kritische Edition (Frühwerk) II“ (P 27138). Für die Abdruckgenehmigungen ist der Cambridge University Library, dem Deutschen Literaturarchiv Marbach und dem Arthur-Schnitzler-Archiv/Freiburg zu danken.
ISBN 978-3-11-047614-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-047932-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-047737-5
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Umschlag U . . . Deckblatt Db . . Entwurfsskizze E . Skizze S . . . . . Handschrift H . .
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2. Drucktext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 2.1 Herausgebereingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
3. Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 4. Anhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 4.1 Stadtplan von Wien (1893) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 4.2 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
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Vorbemerkung
Vorbemerkung Entstehungsgeschichte Die erhaltenen Handschriften zu Schnitzlers Erzählung Die Toten schweigen befinden sich im Nachlass an der Cambridge University Library.1 Der früheste überlieferte Textzeuge (E) ist mit der Jahreszahl „[18]96“ datiert und entwirft ein Handlungsgerüst, das im Lauf des weiteren Entstehungsprozesses unverändert erhalten blieb: Eine verheiratete Frau unternimmt mit ihrem Geliebten eine Kutschenfahrt, die mit einem Unfall und dem Tod des Liebhabers endet; es folgt ihre Flucht nach Hause. In einem Notizbuch, in dem Schnitzler etwa bis zur Jahrhundertwende ein Verzeichnis seiner Stoffideen führte, wird der Ablauf so zusammengefasst: Abschied Wagen Prater Unglücksfall Er todt. Sie fliehend.2 Den Titel Ein Abschied hatte Schnitzler allerdings bereits im Herbst 1895 für eine andere Erzählung gewählt, die im Februarheft 1896 der Neuen Deutschen Rundschau erschienen war und das feige Verhalten eines Mannes am Sterbebett seiner verheirateten Geliebten zum Thema hatte.3 Dass Schnitzler bei der Genese von Die Toten schweigen auf diese Benennung zurückgriff, deutet auf die Komplementarität der beiden Texte: „Begann den ‚andern Abschied‘“, notierte er am 22. 3. 1897 im Tagebuch (Tb II,242). Dieses Datum findet sich auch auf dem ersten Blatt des Manuskripts (H), der ersten ausgearbeiteten Textstufe. Eine Skizze (S), die auf fünf Seiten den Handlungsverlauf entwickelt, lag zu diesem Zeitpunkt offensichtlich schon vor, kann aber nicht datiert werden. Die Entstehung folgt damit den für Schnitzler typischen genetischen Schritten, vom Stoffentwurf über eine Handlungsskizze und eine erste Niederschrift bis zu einer Abschrift, die als Druckvorlage diente.4 Bereits am 23. 3. 1897 erwähnte Schnitzler in einem Brief, dass er „morgen“ eine „Novellette“ fertigstellen wolle.5 Ob das Manuskript zu Die Toten schweigen tatsächlich in nur drei Tagen entstanden ist, lässt sich mangels weiterer Belege nicht klären. Im April 1897 trat Schnitzler einen mehrwöchigen Aufenthalt in Paris an. Nach einer Unterbrechungsphase („Gearbeitet noch nichts“, Tb II,245; 18. 4. 1897) begann er am 2. 5. 1897 mit der Durchsicht: „Nm. den ‚andern Abschied‘ corrigirt“
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Zur Geschichte von Schnitzlers Nachlass vgl. LG-HKA 1. CUL, A 193,2, S. [25]. Neue Deutsche Rundschau, Jg. 7, H. 2 (Februar 1896), S. 115–124. Vgl. LG-HKA und Reinhard Urbach: Vorwort. In: EV I – IX, hier: III. Brief Schnitzlers an Hermann Bahr vom 23. 3. 1897, TMW, AM 23.329 Ba.
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Vorbemerkung
(Tb II,246). Noch im Juni, zurück in Wien, war er mit der Überarbeitung beschäftigt; in einem Brief an Marie Reinhard vom 21. 6. 1897 heißt es: Gestern, Sonntag, Schatz, hab ich dir nicht geschrieben. Es war ein windiger Tag, kalt u regnerisch, ich hatte etwas Kopfschmerzen und hab die eine Novelle (mit dem Unglücksfall bei der Reichsbrücke) wieder durchcorrigirt. Ich kann mich nicht trennen! Denn jedesmal find ich neue Fehler, neues, was ich besser machen könnte u. kann.6 Zwei Wochen später konnte Schnitzler den nun „in letzter Abschrift“ vorliegenden Text durchsehen und beurteilen. Am 8. 7. 1897 schrieb er an Marie Reinhard, die Erzählung habe ihn „angenehm überrascht“: „Ich nene sie ‚Die Todten schweigen.‘–“7 Als endgültigen Titel wählte er also jenen Satz, den die Protagonistin Emma zuletzt unwillkürlich ausspricht (vgl. D 678, D 686) und der ihr Geständnis zur Folge hat: Sie wird, so schließt der Text, ihrem Mann von ihrem ehebrecherischen Verhältnis und vom Tod ihres Liebhabers erzählen. Dieses Ende ist noch in keinem der handschriftlich überlieferten Textzeugen vorgesehen und offenbar Ergebnis einer letzten Überarbeitungsphase; das Manuskript H bricht mit einer trügerischen Ehe-Idylle ab (vgl. H 106f.). Einflüsse auf die Genese dieses letzten Textabschnitts lassen sich nur indirekt erschließen. Unmittelbar nach dem Erscheinen des Erstdrucks hatte die englische Frauenrechtlerin Fanny Hertz (1830–1909) in einem Brief an Schnitzler Einwände gegen den Schluss der Erzählung erhoben: Unwahrscheinlich sei sowohl, dass Emma in dieser Situation einschlafe, als auch, dass ihr Ehemann, der jahrelang nichts bemerkt hat, plötzlich so klarsichtig werde.8 Schnitzlers Gegenbrief ist nicht erhalten, wohl aber Hertz’ nächstes Schreiben, das einen Versuch Schnitzlers nahelegt, den Ausgang der Erzählung ‚klinisch‘ zu plausibilisieren: Emma’s Schlummeranfall bei Tisch ist kein echter, normaler Schlaf, sondern das Ergebniß eines heftigen, hysterischen Nerven-Aufruhrs. Das Bewußtsein ist umnebelt, ohne gänzlich suspendirt zu sein; die Willenskraft ist erschlafft. Da mag es sich wohl zutragen – das sehe ich jetzt ein – daß der Gedanke, der wie ein Anodyn auf das schaale, leicht beschwichtigte Gemüth gewirkt hat, sich hörbar kund giebt. Es war mir entgangen daß der Gatte Arzt sei. Dieser Umstand ist viel-bedeutend. Nun wundert’s mich nicht mehr daß er so rasch zur Einsicht gelangt es müsse seiner Frau etwas begegnet sein, das in ihrem Leben eine tiefe Kluft zwischen gestern und heute eröffnet hat. Nun erkenne ich auch in was für einen Boden die erstaunliche Selbstbeherrschung, die wohl drastische Geduld wurzeln, die ihn in Stand setzen, sogleich nach dem grausigen Momente vor dem Spiegel, Emma hinauf zu schicken um den Jungen in‘s Bett zu bringen, ehe er daran geht sie in‘s Verhör zu nehmen.9
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Br I,328 (21. 6. 1897). Am nächsten Tag schrieb er ihr: „der Rest des Tages ist der 27. Umarbeitung meiner Novellen gewidmet“ (Br I,331). Unveröffentlichter Brief Schnitzlers an Marie Reinhard vom 8. 7. 1897, DLA, A:Schnitzler, NZ85.1.1678. Vgl. den unveröffentlichten Brief Fanny Hertz’ an Schnitzler vom 18. 10. 1897, DLA, A:Schnitzler, NZ85.1.3427. Unveröffentlichter Brief Fanny Hertz’ an Schnitzler vom 10. 11. 1897, DLA, A:Schnitzler, NZ85.1.3427.
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Vorbemerkung
Freilich wird im veröffentlichten Text Emmas Ehemann nicht als Mediziner vorgestellt. Die Darstellung von Emmas Verhalten entspricht aber den Symptomatiken, die Josef Breuer und Sigmund Freud in den Studien über Hysterie (1895) beschreiben.10 Emmas ‚hypnoider‘ Zustand erklärt sich als Reaktion auf das erlittene Trauma; da die Widerstandskräfte ihres Bewusstseins erschlaffen, spricht sie den verräterischen Satz aus. Das Bekenntnis, das der Ehemann fordert, erhält den Charakter einer zu praktizierenden ‚talking cure‘, die Aussicht auf Heilung verspricht: „dass sie diesem Manne […] die ganze Wahrheit sagen wird. [… Es] kommt eine grosse Ruhe über sie, als würde vieles wieder gut“ (D 693–699). Unter diesem Aspekt wäre die Erzählung eine ‚Antwort‘ auf die Hypothesen von Breuer und Freud und in diesem Sinn der erste ‚psychoanalytisch‘ konzipierte Text. Dem medizinisch aufklärenden Antwortbrief an Fanny Hertz hatte Schnitzler seine Erzählung Ein Abschied beigelegt, woraufhin sie ihn zitierte: „Mit Recht bezeichnen Sie ‚Ein Abschied‘ als Seitenstück zu ‚Die Todten schweigen‘“.11 Die schon durch den Arbeitstitel markierte Zusammengehörigkeit von Ein Abschied und Die Toten schweigen12 spielt auch insofern eine Rolle, als Schnitzler seit 1895 plante, einen Sammelband seiner Erzählungen bei S. Fischer herauszugeben (s. Druckgeschichte, S. 7); die Absicht, die Texte gemeinsam zu edieren, blieb zweifellos nicht ohne Einfluss auf deren Konzeption. Der Erstdruck von Die Toten schweigen sollte jedoch in der 1896 von Fernand Ortmans gegründeten internationalen Zeitschrift Cosmopolis13 erfolgen. Die Einladung, einen Beitrag für dieses Periodikum zu verfassen, erhielt Schnitzler wenige Monate vor Beginn der Niederschrift: Am 24. 11. 1896 hatte ihn Ernst Heilborn, der Berliner Redakteur, brieflich um eine „kurze Erzählung (bis etwa 20 unserer Druckseiten)“ gebeten.14 Ein halbes Jahr später, am 10
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Josef Breuer u. Sigmund Freud: Studien über Hysterie. Leipzig, Wien: Deuticke 1895. – Sigmund Freud war von Schnitzler bereits ab den 1880er-Jahren als Übersetzer von Jean-Martin Charcot und Hippolyte Bernheim gewürdigt worden (vgl. Arthur Schnitzler: Medizinische Schriften. Zusammengestellt u. mit einem Vorwort samt Anmerkungen versehen v. Horst Thomé. Wien, Darmstadt: Zsolnay 1988, S. 82, 93, 215, 292 und 298). – In Schnitzlers Tagebuch sind zwei Zusammentreffen mit Josef Breuer festgehalten, beide 1894, als sein Bruder Julius eine Nichte von Breuers Frau heiratete (Tb II,67 und 81; 12. 1. und 7. 7. 1894). – Ein Hinweis auf die Studien findet sich im Tagebuch erst am 6. 2. 1903 (Tb III,14). Brief Hertz’ an Schnitzler, 10. 11. 1897 (s. Anm. 9). Zur Verwandtschaft von Ein Abschied und Die Toten schweigen vgl. zuletzt Achim Aurnhammer: Arthur Schnitzlers intertextuelles Erzählen. Berlin, Boston: De Gruyter 2013, S. 27–30. Die Zeitschrift erschien viersprachig und an den Verlagsorten Amsterdam, Berlin, Genf, London, New York, Paris, St. Petersburg und Wien. Unveröffentlichter Brief Ernst Heilborns an Schnitzler vom 24.11.1896, DLA, A:Schnitzler, NZ85.1.3382. – Schnitzler war durch den Erfolg der 1895 uraufgeführten Liebelei über den deutschsprachigen Raum hinaus bekannt geworden. Außerdem ging es Heilborn wohl auch um eine Art Wiedergutmachung: Er hatte 1894, damals noch bei der Romanwelt tätig, den Abdruck der Novellen Sterben und Blumen ablehnen müssen (unveröffentlichte Briefe Ernst Heilborns an Schnitzler vom 11. 1. und 15. 6. 1894, DLA, A:Schnitzler, NZ85.1.3382). Unmittelbarer Anlass für die Anfrage könnte die positive Besprechung der eben erschienenen französischen Übertragung von Sterben (Mourir, übersetzt von Gaspard Vallette) im zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgelieferten Dezemberheft von Cosmopolis (Émile Faguet: Le livre à Paris. In: Cosmopolis, Jg. 1, Bd. 1, No. 12 (Dezember 1896), S. 792–803, hier: S. 798–803) gewesen sein.
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Vorbemerkung
15. 7. 1897,15 sandte Schnitzler den Text nach einer weiteren Durchsicht an Heilborn. Dieser bedankte sich umgehend für den Beitrag, er sei „stimmungsvoll und fein in der Psychologie“.16 Er kündigte zugleich an, ihn an besonderer Stelle zu platzieren, nämlich im ersten oder letzten Heft eines Quartals. Der Druck wurde in Antiquaschrift in London hergestellt, zu dem von Heilborn zugesagten Korrekturvorgang gibt es keine überlieferten Dokumente. Ohne Gattungsangabe erschien die Erzählung dann Anfang Oktober 1897, also – wie versprochen – im ersten Heft des vierten Quartals.
Handschriftliches Material Sämtliche Textzeugen zur Entstehung von Die Toten schweigen sind an der Cambridge University Library (CUL) in der Mappe A 148 aufbewahrt. Der Umschlag (U) aus graugelbem Kartonpapier misst gefaltet 20 × 25,6 cm und trägt von Schnitzlers Hand mit Bleistift die Aufschrift „Die Todten schweigen“ und die Jahreszahl „1897“. Über den Besitzstempel der CUL wurde von fremder Hand „Schnitzler“ und die Archivsignatur„A 148“ gesetzt. Der Umschlag enthält: A 148: Deckblatt, undat. (= Db) A 148,1: Entwurfsskizze (1 Bl.), dat. „96“ (= E) A 148,2: Skizze (5 Bl.), undat. (= S) 1 Bl., unbeschrieben, mit Bibliotheksstempel A 148,3: Texthandschrift (107 Bl.), dat. „22/3 97.“ (= H) 1 Bl., unbeschrieben, mit Bibliotheksstempel Die Signaturengruppe A 148,3 wurde zusätzlich in einen Kartonumschlag der CUL eingelegt. Beschreibstoff sind die für Schnitzler zu dieser Zeit typischen Schreibblätter mit den Maßen 17 × 21 cm, von denen jeweils vier aus größeren Bogen geschnitten wurden, weshalb sie an einer langen und einer schmalen Kante Schnittspuren aufweisen. Schreibstoff ist Bleistift, mit Ausnahme der Entwurfsskizze E, die mit Tinte abgefasst ist. Auf der Mappe (U) ist die Mappennummer von fremder Hand mit rotem Farbstift vermerkt. Alle Blätter tragen den Besitzstempel der CUL; das erste Blatt von H ist zweimal gestempelt. Auf U, Db, E sowie dem ersten und letzten beschriebenen Blatt von S und H wurde die Signatur mit Bleistift festgehalten. Alle Blätter von S weisen in der Mitte einen Längsbug auf, der eine Textanordnung in zwei Spalten ermöglichte; die letzten beiden Blätter von S haben zusätzlich eine Querfaltung.
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Vgl. den unveröffentlichten Brief Schnitzlers an Marie Reinhard vom 16. 7. 1897, DLA, A: Schnitzler, NZ85.1.1678. Unveröffentlichter Brief Ernst Heilborns an Schnitzler vom 19. 7. 1897, DLA, A:Schnitzler, NZ85.1.3382.
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Vorbemerkung
Zur Handschrift Die Schwierigkeiten bei der Entzifferung von Schnitzlers Handschrift, wie sie bereits in früheren Bänden der HKA beschrieben wurden, gelten auch für die hier edierten handschriftlichen Textzeugen.17 Schnitzlers Handschrift zeigt einen Hang zur Verschleifung; dabei verlieren einzelne Buchstaben ihre distinkten Merkmale. Dies wird in der Transkription durch die Verwendung von grauer Schriftfarbe angezeigt. Grau gesetzte Einheiten sind demnach nicht editorische Ergänzungen, sondern ‚Erschließungen‘ vorhandener, aber nicht distinkter Buchstaben und Graphemfolgen. Die Transkription versteht sich als Lesehilfe für die in Originalgröße reproduzierten Faksimiles.
Zur Umschrift xxx
Aus indistinkten Graphen erschlossene Zeichen oder Zeichenfolgen erscheinen in grauer Schriftfarbe.
xxx
Streichungen werden typographisch wiedergegeben.
xxxxxx
Überschriebene Graphe und Graphenfolgen werden durchgestrichen und vor der sie ersetzenden Variante hochgestellt.
xxx
xxxxx Ergänzungen und Varianten ober- oder unterhalb der Zeile werden in kleinerem Schriftgrad gesetzt. xxx
Durch Lateinschrift hervorgehobene Einheiten werden kursiviert.
?xxx?
Fragliche Entzifferungen werden durch hochgestellte Fragezeichen gekennzeichnet.
[???]
Unentziffertes wird durch Fragezeichen in eckigen Klammern markiert.
[xxx]
Eintragungen fremder Hand werden in eckige Klammern gestellt.
Druckgeschichte Die Publikation des Textes im Oktoberheft 1897 von Cosmopolis zeigte unmittelbare Wirkung. Anton Bettelheim sprach von einem „Meisterstück“,18 Fanny Hertz von einem „Meisterwerk […], würdig in Linie zu treten mit den kürzeren Sachen von Guy de Maupassant“.19 Otto Brahm schrieb Schnitzler über dessen „feine Novelle“: „Die 17 18
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Vgl. z.B. LG-HKA 1–3, St-HKA 5. Vgl. Schnitzlers Tagebucheintrag vom 16. 10. 1897 (Tb II,266). Auch in seiner Rezension der Buchausgabe äußerte sich Bettelheim enthusiastisch (vgl. Anton Bettelheim: Deutsche Bücher. In: Cosmopolis, Jg. 3, Bd. 11, No. 31 (Juli 1898), S. 267–281, hier: S. 272–278). Brief Hertz’ an Schnitzler, 18. 10. 1897 (s. Anm. 8). Fanny Hertz wies auch auf die Beziehung der Protagonistin zu ihrer „Namens-Verwandten“ Emma Bovary hin; diese Parallele ist in der Forschungsliteratur mehrfach behandelt worden, vgl. z.B. Barbara Surowska: Flaubertsche Motive in Schnitzlers
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Vorbemerkung
Toten schweigen, aber die Leser reden und preisen den meisterlichen Erzähler“ (OB-Bw 38; 30. 11. 1897). Schon Ende Oktober veröffentlichte die deutschsprachige New Yorker Staatszeitung einen nicht autorisierten Nachdruck.20 Das Motiv des von seiner Geliebten im Stich gelassenen Liebhabers beschäftigte Schnitzler weiterhin; am 1. 11. 1897, also kurz nach Erscheinen des Erstdrucks, diskutierte er es mit Hugo von Hofmannsthal: „[…] durch Besprechen der Pantomime von s[einer]. Zeit und ‚Todte schweigen‘ kamen wir auf verschiedene Stoffe; darunter eine sonderbare Tragoedie.“ (Tb II,268) Gemeint war eine 189221 noch unbetitelte Pantomime, die 1910 als Der Schleier der Pierrette erschien. Die nun veröffentlichte Erzählung lieferte offenbar den Anstoß, diese Ausformung des Themas in dramatischer Form wieder aufzunehmen, und gehört so zur Entstehungsgeschichte des 1899 vollendeten historisierenden Stücks Der Schleier der Beatrice. In Schnitzlers posthum veröffentlichter Physiologie des Schaffens wird die Erzählung Die Toten schweigen denn auch als Teil der „komplizierten“ Werkgenese des Schauspiels dargestellt.22 Im November 1897 fanden auch die ersten beiden öffentlichen Lesungen der Erzählung statt: Zusammen mit dem Einakter Weihnachtseinkäufe aus dem Anatol-Zyklus (1893) trug sie Schnitzler selbst am 25. 11. 1897 in Prag vor (vgl. Tb II,271); Hermann Bahr nahm sie am 28. 11. 1897 in seine ‚Conférence‘ zu literarischen Neuerscheinungen im Wiener Bösendorfersaal auf. Schnitzler konnte diese Vorlesung nicht besuchen, gab aber vorweg briefliche Anweisungen: „Nur bitte ich dich sehr, nichts zu streichen.“ Er befürchtete, Bahr könnte auf den Gedanken kommen, etwa „die Schilderung der Reichsbrücke […], die ja gewiss zum ‚Verständnis‘ des ganzen nicht nothwendig […], aber für die Stimung so unerlässlich“ sei, zu opfern.23 Bei der in diesem Zusammenhang vorgenommenen Durchsicht des Erstdrucks entdeckte Schnitzler zwei Fehler, die er Bahr zu korrigieren bat: In der Schlusspassage heiße es einmal inhaltswidrig „Wohnzimmer-Tür“ statt „Wohnungsthür“ (vgl. Apparat zu D 589). Vor allem aber sei der Satz „Die Scheiben klirren nur so stark, weil der Sturm –“ wegzulassen: „der Wagen ist nemlich offen, hat keine Scheiben, die aus einer früheren Fassung stehen geblieben sind.“24 (vgl. H 24,5f.; Apparat zu D 129f.) Gegenüber der früheren Textstufe reduziert der Drucktext bestimmte Dialogpassagen, wodurch die Angaben zur räumlichen und topographischen Situation mehr Gewicht erhalten.
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Novelle „Die Toten schweigen“. In: Orbis Litterarum 40 (1985), H. 4, S. 372–379; zuletzt Aurnhammer: Arthur Schnitzlers intertextuelles Erzählen (s. Anm. 12), S. 39–46. Arthur Schnitzler: Die Todten schweigen. In: Sonntagsblatt der New Yorker Staatszeitung, Jg. 49, Nr. 44 (31. 10. 1897), S. 6. Vgl. Eintragungen vom 27. 10., 15. 11. und 28. 12. 1892 (Tb I,391, 393, 398). Arthur Schnitzler: Zur Physiologie des Schaffens. In: Neue Freie Presse, Nr. 24168 (25. 12. 1931), S. 38f.; auch in: AB 380–383. – Dieser werkgenetische Eigenkommentar ist undatiert; er dürfte aber bereits im Jahr 1906 vorgelegen haben (vgl. Tb III,198; 23. 4. 1906). Brief Schnitzlers an Hermann Bahr vom 11. 11. 1897, TMW, AM 60.135 Ba. – In Bahrs Exemplar der Erstausgabe (im Besitz der Universitätsbibliothek Salzburg, Signatur 38.838 I), das für spätere Lesungen des Texts benutzt wurde, sind einige Streichungen eingetragen; eine davon betrifft die Passage über die Reichsbrücke. Brief Schnitzlers an Hermann Bahr vom 18. 11. 1897, TMW, AM 23.326 Ba.
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Vorbemerkung
Die Buchproduktion des geplanten Sammelbandes, der seinen Titel nach der 1897 im Erstdruck erschienenen Erzählung Die Frau des Weisen erhielt, begann bei S. Fischer im Februar 1898 (vgl. FW-HKA 7). Als Vorlage für den Satz von Die Toten schweigen dürfte der Cosmopolis-Druck herangezogen worden sein: Schon dort war die Zahl der ‚Gedankenpunkte‘, die in der Handschrift variiert, in der Regel auf drei (mit folgendem Abstand) vereinheitlicht worden. Die Erstausgabe übernahm diese Vereinheitlichung, unterschied aber zwischen ‚Gedankenpunkten‘ am Satzende (mit anschließendem Leerraum) und im Satzinneren (ohne Leerraum). Für die Buchedition korrigierte Schnitzler die beiden oben genannten inhaltlichen Fehler. Im Mai 1898 kam der Erzählband heraus. Zusätzlich zu dessen Neuauflagen und zu den Abdrucken der Erzählung innerhalb der Gesammelten Werke (1912, 1922) und der Gesammelten Schriften (1928) erschien der Text 1914 in der Sammlung Die griechische Tänzerin und andere Novellen, von der S. Fischer im folgenden Jahrzehnt 65.000 Exemplare drucken ließ.25 Die meisten Rezensenten der ersten Buchausgabe lobten den Text, nur gelegentlich wurden Zweifel an der moralischen Integrität der Protagonistin geäußert.26 Der Schriftsteller Peter Nansen nannte Die Toten schweigen „kurz und gut ein Meisterwerk“.27 Auch der Kulturkritiker Georg Brandes schrieb: Für mich ist die Novelle die zuerst in Cosmopolis stand – ich erinnere mich nicht des Titels – ein Meisterwerk erstaunlich wahr und packend; nur ein (sehr kleiner) Fehler gegen den Schluß, daß die Frau zuletzt alles gesteht. Als ob Frauen je geständen, wenn keine Beweise vorliegen, und wenn sie keinem absolut überlegenen Mann gegenüber stehen! Ein wahres Meisterwerk ist es dennoch.28
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Arthur Schnitzler: Die Toten schweigen. In: Die griechische Tänzerin und andere Novellen. Berlin: S. Fischer 1914, S. 53–84. Die 62.–65. Auflage (= 62.–65. Tausend) erschien 1924. Ein positives Urteil fällten: [O. V.]: Die Frau des Weisen. In: Fremden-Blatt, Nr. 130 (12. 5. 1898), S. 26f.; [O. V.]: Vom Lesetische. In: Neues Wiener Tagblatt, Jg. 32, Nr. 271 (2. 10. 1898), S. 33; Walther W. Blum: Feige Charaktere. In: Zeit und Geist, Jg. 2 (1898), Nr. 11, Sp. 377–380; A. K.: Arthur Schnitzler: Die Frau des Weisen. In: Neue Zürcher Zeitung, Jg. 119, Nr. 215 (5. 8. 1898), Morgenblatt, S. 2; G. S. [= Gustav Schönaich]: Bücher. Arthur Schnitzler. In: Wiener Rundschau, Jg. 4 (1898), Nr. 16, S. 638f.; W. Fred [= Alfred Wechsler]: Von Wiener Dichtern. In: Magazin für Litteratur, Jg. 67 (1898), Nr. 33, Sp. 772–777, hier: Sp. 775f. – Ablehnend äußerten sich: Heinrich Hart: Neues vom Büchertisch. In: Velhagen & Klasings Monatshefte, Jg. 12 (1898), H. 11, S. 602–606, hier: S. 602–604; Kurt Holm: Die Frau des Weisen. Novelletten von Arthur Schnitzler. In: Die Gesellschaft, Jg. 14 (1898), H. 11, S. 781–783. Brief v. 18. 7. 1898. In: Peter Nansen – Arthur Schnitzler: Ein Briefwechsel zweier Geistesverwandter. Hrsg., kommentiert u. mit einem Nachwort versehen v. Karin Bang. Roskilde: CØNK 2003 (Småskrifter fra CØNK 9), S. 10. Brief v. 22. 1. 1899, in: GB-Bw 72. – Ebenso positiv war die folgende Besprechung: Georg Brandes: Arthur Schnitzler. In: Neue Freie Presse, Nr. 13166 (21. 4. 1901), S. 32f., hier: S. 32 (auch in: Georg Brandes: Gestalten und Gedanken. Essays. München: Albert Langen 1903, S. 35–40, hier: S. 37).
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Vorbemerkung
Schnitzler selbst hatte 1911, als er die Erzählung zur Vorbereitung der Gesammelten Werke wieder las, Bedenken wegen des Endes: Ein Gegenstück zum „Abschied“. Vortrefflich geführt bis zum Schluss, der irgendwie Zweifel, nicht nur ästhetischer Natur offen lässt.29 Als Vorlesungstext bewährte sich die Erzählung weiterhin, und zwar so sehr, dass Schnitzler sie 1913 als „recht wirksam, aber schon zu oft öffentlich gelesen“ bezeichnete.30
Drucktext Der Drucktext D folgt dem Erstdruck (ED): Arthur Schnitzler: Die Toten schweigen. In: Cosmopolis. Internationale Revue, Jg. 2, Bd. 8, No. 22 (Oktober 1897), S. 193–211. D bewahrt den originalen Zeilenfall und gibt, mit Ausnahme des Blocksatzes, die typographischen Eigenheiten der Vorlage in vereinheitlichter Form wieder: Die englischen Anführungszeichen sind – außer nach Satzzeichen ohne Oberlänge – mit Viertelspatien vom Text abgesetzt. Abstände finden sich ebenso vor „!“, „?“, „:“ und „;“. Gelegentlich fehlende Spatien vor und nach Gedankenstrichen werden ergänzt.31 Diese Eingriffe werden nicht gesondert verzeichnet; weitere Emendationen sind in der Liste der Herausgebereingriffe (s. S. 265) nachgewiesen. Im Text werden die Seitenwechsel des Erstdrucks wie der Erstausgabe markiert, in den Marginalien die entsprechenden Seitenzahlen angegeben: markiert in D die Stelle eines Seitenwechsels im Erstdruck; markiert in D die Stelle eines Seitenwechsels in der Erstausgabe.
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Arthur Schnitzler: Selbstkritik anlässlich der Korrektur der Gesammelten Werke. Unveröffentlichtes Typoskript (ASA, N I, Mappe 20, Bl. 10). Brief Schnitzlers an Adele Sandrock vom 7. 1. 1913 (Br II,7). – Für folgende Lesungen lassen sich Besprechungen in der regionalen Presse nachweisen: Arthur Schnitzler: Prag, 27. 11. 1897; Wien, 19. 2. 1899. – Hermann Bahr: Wien, 28. 11. 1897; Brünn, 7. 2. 1898; München, 28. 10. 1898; Breslau, 23. 10. 1903; Berlin, 12. 11. 1907; Hamburg, 25. 2. 1908; Frankfurt, 5. 11. 1908; Zürich, 9. 11. 1908. – Hedwig Bleibtreu: Wien, 21. 2. 1899. – Helene Henke: Berlin, 11. 11. 1912. – Miete Möller: Berlin, 18. 10. 1916. – Friedrich Moest: Berlin, 20. 11. 1919. – Max Montor: Hamburg, 14. 1. 1913. – Max Pollandt: München, 27. 6. 1903. – Johannes Riemann: Berlin, 16. 9. 1919. – Katharina Schratt: Wien, 3. 3. 1905. Siehe D 33, D 130, D 242, D 331, D 336, D 340, D 359, D 399, D 422, D 427 (zweimal), D 430, D 614 und D 651.
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Vorbemerkung
Apparat Der kritische Einzelstellenapparat weist im Fußnotenbereich Änderungen in relevanten Drucken zu Lebzeiten aus. Berücksichtigt werden: EA (Erstausgabe): Die Toten schweigen. In: Arthur Schnitzler: Die Frau des Weisen. Novelletten. Berlin: S. Fischer 1898, S. 135–170. GW (Gesammelte Werke): Die Toten schweigen. In: Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke in zwei Abteilungen. [7 Bde.] Berlin: S. Fischer 1912. Erste Abteilung: Erzählende Schriften. 3 Bde. Bd. 1: Novellen, S. 197–219. Mit geringfügigen Ausnahmen satzident mit GW sind: GW1922: Die Toten schweigen. In: Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke in zwei Abteilungen. [9 Bde.] Berlin: S. Fischer 1922. Erste Abteilung: Erzählende Schriften. 4 Bde. Bd. 1: Novellen, S. 197–219. GS (Gesammelte Schriften): Die Toten schweigen. In: Arthur Schnitzler: Gesammelte Schriften. Sterben und andere Novellen. Berlin: S. Fischer 1928, S. 197–219.32 GW1922 und GS wurden mit dem Satz von GW erstellt, weswegen alle mit „GW“ markierten Einträge auch Auskunft über die späteren Drucke geben. Abweichungen zu GW in GW1922 und GS werden im Apparat vermerkt. Einige regelhaft zu fassende Änderungen zwischen den Drucken werden nicht berücksichtigt: EA – durchgehende Großschreibung der Personal- und Possessivpronomina der 2. Person Singular; – Konjugationsformen von „tun“ und „geben“ werden mit „th“ bzw. „ie“ geschrieben („thue“, „giebt“); EA und folgende Drucke – „Ä“ und „Ü“ statt „Ae“ und „Ue“; – Unterscheidung von „ss“ und „ß“ nach der Adelung’schen Regel; – Verben auf „iren“ werden einheitlich mit „ie“ geschrieben; 32
Im Inhaltsverzeichnis von GW, GW1922 und GS ist dem Titel das Jahr der Fertigstellung „(1897)“ nachgestellt. Auf der dem Inhaltsverzeichnis gegenüberliegenden Seite von GS findet sich der Vermerk: „Bisher erschienen als erster Band der Erzählenden Schriften“.
9
Vorbemerkung
– deutsche Anführungszeichen; – Verzicht auf Abstände bei Anführungszeichen; – vor Auslassungspunkten werden Abstände gesetzt. Übernehmen spätere Drucke offensichtliche Druck- und Setzfehler in ED, die im Drucktext D durch Emendation behoben wurden (vgl. Herausgebereingriffe, S. 265), werden diese im Apparat nicht ausgewiesen; dasselbe gilt für neu hinzukommende unzweideutige Satz- oder Druckversehen. Auch die durch Blocksatz entstandenen unterschiedlichen Wortabstände werden nicht verzeichnet.
Kommentar Der Einzelstellenkommentar enthält kulturgeschichtliche sowie biographische Hinweise und bietet Erläuterungen zu den Schauplätzen der Erzählung, zu Austriazismen und veralteten, zum Teil fremdsprachlichen Ausdrücken. Kommentare zu den handschriftlich überlieferten Texten befinden sich im Fußnotenbereich der Transkription; sie dienen nicht zuletzt der Plausibilisierung der Entzifferung. Kommt eine betreffende Stelle nicht nur in den Handschriften, sondern auch im Drucktext vor, wird auf den Kommentar zu D mit entsprechender Zeilenangabe verwiesen.
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U
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Originalmaße 20 × 25,6 cm
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U
[148.]
Die Todten schweigen 1897
[Schnitzler] [A 148]
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mit rotem Farbstift geschrieben.
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Abschied, ein andrer. etc. Die Todten schweigen
[A 148]
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Abschied. Er mit ihr; Wagen, Prater, Reichs brücke, ewig mit dir.– Unglückfall. Er aus dem Wagen geschleudert; bleibt für todt liegen. 5
Später Abend. Kutscher ins nächste Wirtshaus, Arzt, Freiw Rettgesellsch avisiren. Sie Todesangst, flieht, koṈt nach Hause.– Zurechter Zeit, 5 Minuten drauf der Mann.–
[A 148,1]
2–8 2 2f. 6
mit schwarzer Tinte geschrieben. Prater: s. Kommentar, D 68. Reichsbrücke: s. Kommentar, D 104. Freiw Rettgesellsch: s. Kommentar, D 342f. avisiren: aviser: (frz.) benachrichtigen.
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Er wartet an der Ecke der Novarrgasse (Praterstern.) Herbstabend.– Der Wagen steht drübenin der Nähe. – Sie läßt warten.– Endlich kom Wagen, 5
sie; rasch zu ihm; in den Wagen. Hauptallee . . Nein; ich hab Angst in der Hptallee. – Aber! Herbst! . . Also hinüb; ReiWagen vorbei. – [???] die Reichstraße.– Sie fahren
10
Endlich ruhig . . Wie lang noch . . Es ist entsetzlich. ! – Geh fort von ihm. – Nein, ich kaṉ nicht. Ich hab kein ?
Geld?, du auch nicht . . . . !
Auf der Reichsbrück aussteigen. 15
Wie hast dus gemacht? Maṉ
[A 148,2]
in Sitzg des Professorencollegiums 1
2
6 9 14 16
Novarrgasse: Novaragasse: Kleinere Straße im 2. Wiener Gemeindebezirk, unmittelbar vor dem Praterstern in die Praterstraße mündend (s. Erläuterung zu Z. 2). Praterstern: Verkehrsknotenpunkt im 2. Wiener Gemeindebezirk, von dem sieben größere Straßen wegführen, darunter die Praterstraße (s. Kommentar, D 10), die Hauptallee (s. Kommentar, D 79) und die heutige Lassallestraße (s. Kommentar, D 106). In der Mitte des Platzes steht ein Denkmal für Admiral Tegetthoff (s. Kommentar, D 78); an der nordwestlichen Seite befand sich der Nordbahnhof, weswegen auch ein Eisenbahnviadukt (s. Kommentar, D 121) an dem Platz entlangläuft. Hauptallee: s. Kommentar, D 79. Reichstraße: s. Kommentar, D 106. Reichsbrück: s. Kommentar, D 104. Professorencollegiums: s. Kommentar, D 24.
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sie jour.– Das Kind? – Landschaft Reichsbrücke, Donau, trüber Blick ins Dunkel, Flach land . . . . 5
Na, haben Sie sich erholt? zu Kutscher . . Also fahren wir weiter . gegen Kagran – Der Wagen torkelt. Sie unruhig. Zur Nein –
10
Ruhiger; sie umarmen sich. – Plötzlich wieder hin u her; rasend . . offnet den Schlag . . . an ein Meilen stein; ?bei??daṉ? lieg alle da.– Sie bewußtlos; [???] ruft sein
15
Namen . . k Antwort . . Kutscher. Endlich antwortet der Kutscher. Haben Sie Licht? . Ja, gnä Fräulein . . Da liegt er . . . Herrgott . . er blutet aus
1
3f.
7
12
jour: (frz.) Tag, hier: für den Empfang von Besuchen festgesetzter Wochentag (gebräuchlicher: „jour fixe“) oder ein regelmäßiges gesellschaftliches Zusammentreffen, das auch außer Haus stattfinden konnte. Flachland: Nordöstlich der Donau beginnt in Wien topographisch das Marchfeld, eine 900 Quadratkilometer große Ebene. Kagran: drei Kilometer nordöstlich der Donau an der Reichsstraße gelegenes Dorf (ca. 3000 Einwohner im Jahr 1895); seit 1886 an das öffentliche Wiener Verkehrsnetz angeschlossen, wurde es 1905 in den 21. Wiener Gemeindebezirk eingemeindet. Schlag: hier: Kutschentür.
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der Stirn . Alfred! . . Sie schutte ihn . . Ohnmächtig? . . Sie horcht – der Herzschlag? . –?Um? Himelswill Ich bleib da . . lauf Sie . zehn Minute 5
hinein . . telephoni sie [?] [?] die Rettg gesellschaft.– Ja; er geht.– Sie allein.– Dunkel, Stille. Entsetzlich. – Ja – sie weiss – er ist todt . . Was soll sie da machen?– Schmerz?
10
Nein.– Jetzt wer da käme? Was wird sie sagen. . Es k e Arzt sein, ?d? sie keṉt . . sie jedenfalls ?neṉt? – ?sie? ka ja nicht . . Todesangst. – Was hilft wen ich da bleibe? . . . ZLicht! . .
15
Nein – ein Wag trabt vorüber. Sie hält sich still; absichtlich
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athmet auf, wie er vorbei.– Zündholzel au sei Winterrock – zündets an – Todte . . ganz gewiss – Läuft weg – Angst vor ?d? 5
Alleinsein? vor d Todten – ? vor der Entdeckung? Sie weiss es nicht; nun rast sie fort . . Sie läuft in d?ie? Dunkelheit. – Hört rassel – ub d Bruck
10
Da mit ihm? . Tolle Träume . . Ja so ist es weṉ man träumte!– – In der Schwimallee – Rettgs gesellschaft . . ?R? Praterstern – Lichter; hier ist wiede das Leben –
15
sie wundert sich – alles koṈt
2
12
12f.
Zündholzel: Zündhölzel: (öst.) Streichhölzchen. Winterrock: gefütterte Jacke. Schwimallee: Schwimmallee. Wenig gebräuchlicher Name – verbreiteter war „Schwimmschulallee“ – für die heutige Lassallestraße, die vom Praterstern zur Reichsbrücke führt. Vor der Brücke befanden sich auf der linken Seite die städtischen Bäder. Rettgsgesellschaft: s. Kommentar, D 342f.
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ihr unmöglich vor.– Weiter. Wagen. Nein – ? Ja warum nicht? .– Wie soll sie [??]erfahren –? – aber was braucht sie zu erfahren!?– 5
nicht nöthig; sie weiss ja. – Also nach Haus.– Maṉ noch nicht.– ?
Warten? . . Ja was hätt es geholfen
weṉ ich dort geblieb wäre. – – Um Gotteswillen! . . ihr Bild hat er 10
bei sich. – Ja, durchsucht man deṉ seine Taschen? – Nein. Und weṉ auch? – Der Brief, das heutig Rendezvous? . Ihr NaVor namen . . . nichts, das
[A 148,2]
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[A 148,3]
. 22/3 97
[1]
Er war aus dem Wagen ausgestiegen; er hielt es nicht aus, in . ruhig
Er hielt ertrug es nicht, länger in dem 5
Wagen zu sitzen; der an der Ecke stand in der Straße
er stieg aus und ging auf und ab. Es war schon dunkel;. und Die Laternen, der Herbst die wenigen Laternen lichter
braṉten in dieser stillen abseits 10
liegenden Straße braṉten schlecht, vom Winde
und überdies flackerten hin und her, win
da es wieder windig geworden da sichder
8f.
Laternenlichter: s. Kommentar, D 4.
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[2] der Wind sich nicht legen wollte, T
Es hatte aufgehört zu regnen; die
Trottoirs war beinahe trocken; nur 5
die Fahrbahstraße zeigte gl von der Aber die ungepflasterten
feuchten Fahrstraße Die Fahrstraßen feucht, an einzelnen Stellen nass hatten sich kleine Tümpel gebildet. Es ist sonderbar, dachte Franz . . . nur in hundert Schrittene 10
und ich bin auf der Praterstraße – wie man sich hier, hundert Schritt weiter von der [?]Praterstraße in irgen eine ungarischen Kleinstadt fuhversetzt fühlenglauben
4 10 13
Trottoirs: s. Kommentar, D 6. Praterstraße: s. Kommentar, D 10. ungarischen Kleinstadt: s. Kommentar, D 10.
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[3] kann. Immerhin – sicher dürft man wenigstens
hier sein; hieher koṈen um sieben keinen
hier werden wird sie nicht einen 5
ihre gefurchteten Bekannten treffen . . . Er sah auf die Uhr . . . Sieben. Und völlige Nacht. Der Herbst koṈt mit hat Eile . . . . . Und der verdammte Sturm . . . . .
10
Er stellte den Kragen auf und ging rascher auf und ab. Die Laternen klirrten. Noch eine halbe Stunde, sagte er zu sich, dann
7
völlige Nacht: s. Kommentar, D 14.
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Ah –
kaṉ ich gehen. Dann ist’s vorbei. Ich [4] beinah
wollt es wäre so weit.; Mir scheint ich sehne mich gar nicht sie zu sehn. nach ihr. Und wenn sie da ist, werde ich Wie 5
schön wär s jetzt zu hHaus zu sein oder in einem Salon in Gesellschaft . . . . oder im Theater: üÜberhaupt . . Ruh’ . . haben!– übrigens
Heut wird sie kommen . . . Freitag . . also Collegiumsitzung – da . . Er blieb an 10
der Ecke stehn; von da aus hatte er einen Ausblick auf die Straße, von der aus sie wahrscheinlich koṈen würde.
9
Collegiumsitzung: s. Kommentar, D 24.
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[5] weṉ – sie käme.– Ja . . heute koṈt sie, sagtedachte er, während er sein
den Hut festhielt, der wegzuflieg drohte. –
5
. . Freitag . . Collegiumssitzung . . da kaṉ sie fort und kaṉ länger ausbleiben . . . . . . Er hörte das Geklingel der Pferdebahn; jetzt begannen auch die Glock der nahen Nepomukkirche zu läuten. Neben kleines StubMädl
10
v Ein kleines Kind lief an ihm vorbei, u glas
ein Bier krug in der Hand; verschwand im Wirtshaus . . hinter ihm,. Die Fensterscheiben in denr Häusern schepperten. Menschen
7 9
Pferdebahn: s. Kommentar, D 25. Nepomukkirche: s. Kommentar, D 26.
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[6] Jetzt, da eben die Anzahl Geschäfte geschlo waren auch ?in? Jetzt gingen auch mehr Menschen an ihm vorüber;; 5
es war
eine Anzahl der Geschäfte hauptsächlich
Angehorige die Geschäfte, die um sieben eben hatten um diese Zeit
geschlossen wurden, entließen jetzt entließ jetzt ihre Bediensteten entlassen
Alle gingen rasch, ha hatten nicht Muße sich um etwas andres zu küṈern 10
als um den Sturm, der das Gehen erschwerte. Alle schienen in einem
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[7] Kampf begriffen.– NieKeiner beachtete ihn; nur ein paar Ladenmädln blickten zu ihm auf, als sie mit leichter Neugier an, 5
während sie zugleich.– Plötzlich sah er eine bekannte Gestalt rasch herankommen. Er eilte ihr ein paar Schritte entgegen. „Zu Fuss“ – dachte er? . . Ist sie ’s . . seiner
10
wurde
Sie war es; als sie ihn gewahrte, lief geschwind
sie beinah, um rascher bei ihm zu sein schneller
3
Ladenmädln: s. Kommentar, D 32.
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[8] Aber Kind, sagte er . . ohne Wagen? . – Ich hab ihn fort gesch schon beim Carltheater fortgeschickt . . . . Mir ist vorgekoṈen, als ?war? 5
ich schon einmal mit ihm gefahren . . . . . Und – Glaub doch nicht, dass – Ein Herr ging an ihnen vorüber und betrachtete die Dame flüchtig. Der junge Mann fixirt ihn scharf, beinahe drohend; der Herr
10
ging rasch weiter. Die Dame sah ihm nach. Wer war’s fragte sie angstlich. Ich keṉ ihn nicht. Hier gibt es keine Bekaṉten,
3
Carltheater: s. Kommentar, D 39.
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[9] ? bei? sei doch gescheidt.– Aber jetzt koṈ rasch; wir wollen einsteigen . . . Ist das dein Wagen? – 5
Ja. Sie eilten hin; die jung Frau sprang eilends in offnet deselbst den stieg ein.
Schlag und setzte sich in den Wagen. Kutscher . . rief der junge Mann . . Wo ist er denn? fragte die jung Frau. 10
. . . . Der junge Mann schaute rings umher Das ist unglaublich, rief er . . . der Kerl ?ist? nicht zu sehn . .
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[10] Um Gotteswillen . . rief sie leise. . . Wart ein Augenblick, Kind; er ist sicher im Wirtshaus . . . 5
Der junge Mann öffnete die Thür zu dem klein Wirtshauses; an einem Tisch mit ein paar andren Leuten jetzt
er
sass der Kutscher, und stand rasch auf. Gleich gnä Herr, sagte er 10
und trank das Glas Wein aus, das vor ihm stand.
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Was fällt Ihnen deṉ ein . . ?!
[11]
Bitt schön, Euer Gnaden . . . . . i bin schon wieder da . . Rasch – ja? . . . beide 5
Sie waren auf der Straße; der Kutscher schwankte ein wenig Er
und nahm die eilte ein wenig schwankend zu den Pferden. Wohin fahren ?
m?ir denn, Euer Gnaden –
10
Prater . . Lusthaus . . Der jung Mann stieg ein. Die jung Frau
10
Prater: s. Kommentar, D 68. Lusthaus: s. Kommentar, D 68.
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[12]
lehnt
war ganz versteckt, ?ein Gr?beinahe zusaṈ gekauert in dier Ecke. des Wagens. Grüß dich Gott, sagte . . . 5
Also da bin ich – mein Schatz . . und jetzt sag mir Emma – und Er küßte ihr die hHand . . Sie blieb regungslos. – Bist du noch nicht beruhigt fragte er. Willst du mir nicht wenigst
10
guten Abend sagen? – Ich bitt dich . . . laß mich nur ein Moment
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[13] ich bin noch ganz athemlos – – Und weṉ du statt aller dieser viel Worte einfach gesagt hättest: Guten 5
Abend, mein Schatz.– Der Wagen . . Werden wir nicht endlich fahren? . fragte die jung Frau. – Fiaker
In diesem Moment setzte sich der Wagen in Bewegung. – 10
Der junge Mann fasste ihre beide Hände und wollte sie an sich ziehen
7a
Fiaker: s. Kommentar, D 204.
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[14] Ich bitte dich, . . warte . . bis wir aus den belebten Gegenden fort sind. – – Der junge Mann liess ihre Hand fahren 5
und lehnte sich in seine Ecke Beide schwiegen ein Weile Der Wagen war in die Praterstraße eingebogen, fuhr an dem Tehegetth Monum vorbei und nach ein paarwenig
10
Minuten Sekunden flog er die ?
dunkel?
große breite Praterallee hin,.
8f. 11
Tehegetth Monum: s. Kommentar, D 78. Praterallee: s. Kommentar, D 79.
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[15] Jetzt ?um?fühlte sich der junge Man plotzlich ihren
von zwei Armen umschlungen, und eine heiße Stim flüsterte . 5
Guten Abend.– Er schob leise den Schleier zurück, der ihn noch von ihr Lippe trennte und küsste sie dann.– Bin ich endlich wieder bei dir! sagte
10
sie.– Weißt du denn, wie lang wir uns nicht
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[16] gesehen haben? rief er aus. Seit Soṉtag . . sagte sie. Ja . . . und da auch von weitem. 5
Wieso? Du warst ja bei uns . . Nun ja . . . bei Euch . . Ah das geht so nicht fort. Zu Euch koṈ ich überhaupt nie wieder . . das sag ich dir lieber gleich . . .
10
Das ist ja recht nett . . Versteh mich doch . . . . weṉ ich dich weniger lieb hätte – könnt ichs thun .
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so aber so aber nicht . . .
[17]
wirklich
Das versteh ich allerdings nicht. So hör mir zu . . . . Aber was hast du deṉ? – – Es sind zwei Wagen an uns vorb 5
gefahren.
genirt was schadet das denn ?dir
Nun ja – man sieht doch da nicht herein . . Ich sage dir, man sieht herein; ich hab das eine Gesicht in dem letzten Wagen ..
ganz deutlich ausnehmen können – 10
Liebes Kind, die Leute, die heut im Prater spazier fahren, küṈern sich wahrhaftig
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[18] nicht um uns . . Das glaub ich schon – aber zufällig ka man herein schaun . . ich bitt dich, 5
Franz, fahren wir wo anders hin . . . Wie du willst . . Aber schlage vielleich selbst etwas vor. Ja ich habe keine solche Erfahrung . . . Sei doch nicht gereizt. Es kaṉ dir ja
10
..
zufällig was einfallen – Ich werde nach haus fahren. – Kind – du kannst einen wirklich zum
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[19] Wahnsinn treiben!– halt . . ich hab eine Idee . . Er pfiff dem Kutscher; der aber nicht stille zu hören schien. Er riss die Thür auf 5
stand mit einem Fuss
das Fenster auf und beugte sich hinaus. auf dem Trittbret
. . Sie . . So hören Sie doch . . . Bitt schön . . . Sie sollen umkehren . . . . . Und was haue Sie denn so auf die Pferde ein. Wir 10
haben ja keine Eile . . . . hören Sie . . wir fahren . . . in einedie . . . wissen Sie, die Allee,
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[20] die zur Reichsbrücke führt . . Ah, die Reichsstraßen. Ja . . Aber rasen Sie nicht so . 5
es ist ja zu dumm. Bitt schön gnä Herr, der Sturm, der macht die Pferd Rossösser so wild . . Ah jfreilich, der Sturm . . Er schloss die Thur
das Fenster und setzte sich wieder. Der Kutscher wandte die Pferde 10
Der Wagen wandte Sie fuhren zurück. Was geschieht jetzt, weṉ ich fragen darf?
2 3
Reichsbrücke: s. Kommentar, D 104. Reichsstraßen: s. Kommentar, D 106.
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[21] Ich bitte dich, Emma, – die paar Stunden die wir haben, könnten wir wahrhaftig verbringen, ohne uns zu streiten – 5
Wir fahren jetzt in eine Gege.[?]– Sag gan
mir doch lieber, was du die Zeit uber gemacht hast, ob du a mich gedacht hast. Zu viel . . 10
Glaubst du – ? – Warst du in Gesellschaft?
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[22] Ja. Gestern bei meiner Schwester. Warum warst du nicht dort? – Weil
5
Du warst ja geladen?
Weil ichs nicht vertragen kaṉ, anddich mit dir unter
andern unter andern in Gesellander Leuten
schaft zusaṈen zu sein. Nie, nie wieder. – Da werden wir uns halt noch 10
seltener sehn als bisher .
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[23] Nein – mein Kind, weṉ du [???]begreif wirst, was ich dir heut sagen will . . . . . . . Wo sind wir denn? . 5
D
Sie fuhren unter der Eisenbahnbrücke
in die große Reichsallee ein. Kennst du dich da nicht aus?– Das ist die Reic gehts zur großen Donau, wir fahren direct zur Reichsbrücke – hast 10
du jetzt auch noch Angst, dass wir Bekaṉte treffen?
5 6 8
Eisenbahnbrücke: s. Kommentar, D 121. Reichsallee: Reichsstrasse, s. Kommentar, D 106. großen Donau: s. Kommentar, D 123.
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[24] Der Wagen schüttelt entsetzlich.– Ja, jetzt fsind wir auf dem Pflaster. Nein . . so hin und her . . . 5
Es scheint dir so . . die Scheiben klirren nur so stark . . weil der Sturm. Aber er fand selbst, dass der Wagen sie
stärker warf als es notwendig gewesen wäre. Er wollte nichts sagen, um sie 10
nicht noch ängstlicher zu machen . .–
3
Pflaster: s. Kommentar, D 127.
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[25] Ich habe heut viel und ernst mit dir zu reden, Emma. – Da mußt du bald anfangen, denn 5
um neun muss ich zu hHaus sein. – Jetzt, wo Eigentlich sindist ’s doch nur eine Frage, die ich an dich richten muss . . An – Und dein Und deine Antwort zwischen
müßt alles lösen.– klar machen. 10
– Nun? . Ob du mich lieb hast, –Emma. – Sieh . . Und ich finde selbst diese Frage tiefe
überflüssig . . . Alles was ich für dich thue, seit wir uns keṉen . . . .gethan habe . .
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[26] Gott, was ist deṉ das . . Sie schrie auf. Der Wagen war in ein Pferdebahngeleise gerathen und im Herausbiegen 5
machte jetzt, ?um??beim? Herauswend als der Kutsch herauswenden wollte, eine scharfe Biegung, dass er fast zu schtürzen drohte Der Kerl ist verrückt . . . Der Franz riess das Vorderfenster auf und packte den
10
Kutscher beim Mantel. Halten Sie, rief er ihm zu . . Sie sind ja betrunken. Der Kutscher brachte die Pferde mühsam zum Stehen. Aber gnä Herr . . dir was
Ich will dir was sagen, EṈa . . Steigen
3 14 – H 27,2
Pferdebahngeleise: s. Kommentar, D 25. Steigen wir hier aus: s. Kommentar, D 145.
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[27] wir hier aus. Wo sind wir. Schon an der Brücke. Es ist auch g nicht 5
mehr gar so stürmisch. Gehen wir ein Stückchen; der Wagen kaṉ nachfahren . . Man kaṉ da drin auch nicht ordentlich reden. Emma zog den Schleier herunter und stiegfolgte.
10
ihrem Begleiter . .– Kein Nicht stürmisch nennst du das! rief sie aus, als ihr gleich beim Aussteig ein Windstoss entgegenfuhr. Er nahm ihren Arm. Nachfahren rief er
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H 28
[28]
zu
dem Kutscher nach.– Sie spazierten schweigend vorwärts. Über die langsam ansteigende Brücke, vorbei 5
an dem Mautwächter vorbei an dem Maut wächter. So lang esdie lanBrücke allmälig anstieg, sprachen sie nichts; aber je weiter inniger
sie vorwärts kamen, umso heftiger schmiegte EṈa sich an den Arm ihres 10
Geliebten, und als sie beide das Wasser unter sich rauschen hörten, blieben sie eine Weile stehen, noch iṈer ohne zu reden. Tiefes Dunkel war um sie. Der breite Strom zu ihrer
5
Mautwächter: Auf der Reichsbrücke befand sich ein „Verzehrungssteueramt“, das allerdings keine Maut, sondern Zölle auf die Einfuhr von Lebensmitteln in die Stadt einhob.
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H 29
grau und
[29]
rechten und linken lag wie ein grauer un
ohne unbestiṈten Grenzen da . .
Streifen da; und schien dieas wurden Die Eisenbahnbrücken in der Ferne man sa
sie sahen
5
waren unsichtbar; nur die rothen Lichter, die über dem Wasser zu und sich darin spiegelten
schweben schienen;. verwischen ihr her [?]
[?]
An
ließ en. Von dem Ufer, das die beiden
Spaziergänger eben verlassen hatten, ein 10
zitternd
fielen Lichtschein senkten sich Lichtstreifen ins Wasser; die von der wo
das jenseitige anfing, war nicht zu sehen; es schien, als jenseits aber
4
5f.
Eisenbahnbrücken: Von der Reichsbrücke aus befindet sich zwei Kilometer flussaufwärts die Nordbahnbrücke (s. Kommentar, D 165f.), drei Kilometer flussabwärts die Stadlauer Ostbahnbrücke. rothen Lichter: s. Kommentar, D 158.
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[30] verlor sich der Strom undeutlich war es, als verlöre sich der Strom den
in schwarzen Auen . . . Jetzt schien ein fernes Donnern zu tönen; 5
das iṈer näher kam; unwillkürlich sahen sie beide nach der Stelle, ?von?wo die rothen Lichter schimmerten; danein hell erleuchte Bahnzug rollte zwischen eisern
Bogen hin, die plötzlich aus demr 10
Nacht hervorzuwachsen schienen zu
und gleich wieder versainken. schienen
Der Donner verlor sich wieder, es allmalig
wurde still; der SturmWind kam nun in
1a 3 8af.
Strich durch als: vermutlich nicht als Streichung zu verstehen. Auen: s. Kommentar, D 162. eisern Bogen: s. Kommentar, D 165f.
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[31] plotzlichen Stößen; das Rauschen unter ihnen wurde aber blieb gleichmäßig, und.– . . . Nach langem Schweigen, in dem meh in dem sie beide ihre Zärtlichkeit 5
Zärtlichkeit laggelegen als in den vielen sie sich einander näher
Worten, die beide vorher gesprochen, sagte das sie zärtl Emma
sagte Franz zär [?]
Franz.
Wir sollten fort. Freilich, erwiderte EṈa leise. 10
Wir sollten fort, sagte Franz sehr laut [???]lebhafter, ganz fort, mein’ ich . . . wir müssen Es geht ja nicht. – Weil wir feig sind, EṈa; darum gehts nicht. Weil
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[32] wir gerade zur Not Muth genug zum tausend kleinen Lügen haben und nicht genug zu einer kräftigen Wahrheit. – 5
Wie stellst du dir das vor, Franz?– Und mein Kind? – Er würd es dir lassen, ich bin fest überzeugt. Nun ja . . aber . . um Gotteswillen . . . wie . . sag mir nur, wie soll der Anfang sein? . . . . Davon
10
Fliehn laufen bei Nacht und Nebel – wohin wohin . . . Nein, durchaus nicht. Nacht, Nebel und Davonlaufen ist überflüssig. Du hast nichts zu thun als ihm einfach sagen, dass du ihm nicht
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[33] länger bei ihm leben kannst, weil du einem andern gehörst . . bei Sinnen
Bist du toll . . Franz . . ? – 5
Weṉ du willst, erspar ich dir auch das – ich sag es ihm selber . . Das wirst du nicht thun – Franz . . Er sah sie an; versuchte sie anzusehn; aber in der Dunkelheit konnte er nicht ermehr
10
ausnehmen, als dss sie den Kopf erhoben hatt und zu ihm gewendet hatte. Er schwieg eine Weile. Daṉ sagte er ruhig. Erschrick nicht . . . ich werd es nicht thun.– Also, Franz . . ? – Wozu die großartigen Phrasen! . .
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[34] – DasSie näherten sich dem andern Ufer . . hörst du nichts . . sagte sie . . . was ist das . . . . koṈen Leute?– Ein Es koṈt von drüben, sagte er 5
Es sind Wagen, die von da drüb koṈen. Langsam [?] nahert rasselten ihnen aus etwas
dem Dunkel Landgefährte LandkWagen entgegen; die Laternen waren als sie näher kamen in der Nähe es waren 10
kleine Landwagen, die Laternen waren vorne
an der Deichsel befestigt; man konnte nicht sehen, womit sie beladen waren, auch
oder ob Menschen oben mitfuhren.
7
LandkWagen: s. Kommentar, D 198.
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[35] Zugleich hörten sie ein heisres Schreien, Schimpfworte die sie nicht deutlich verstanden. zwei
Zwei
Die Wagen rasselten vorbeian ihnen vorbei, dann 5
hörten sie wieder nichts als dasdendas langsam Tritte der Pferde Geräusch von ihrem eignen Wagen dumpfe Gerausch, ihres Fiakers
das von ihres eignen Wagens, der zwanz Schritte hinter ihnen roll langsam 10
weiter rollte. Sie horten auch, wie ihr Kutscher ein paar unverständlich Schimpf Worte den Leuten nachschrie,
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[36] die wohl auch dem Lan andern gese ?Leiter? des eben begegneten Wagen gelten mochte.– Jetzt senkte 5
sich die Brücke leicht gegen das andre Ufer. Sie sahen, wie die vor ihnen
Straße zwischen Bäumen weiter lief und ins Graue undFinstre weiter lief. Rechts u links von ihnen 10
lagen tief und verschwoṈ in der Tiefe die Auen; es war, als sahen sie in Abgründe hinein . . –
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[37] Wie weit . . . . wie we sagte Franz – und doch sind wir in einer viertel Stunde zurück . . 5
Nach langen Schweigen sagte Franz plotzlich. Also das letzte Mal . . . Wieas fragte Emma besorgt. – Dass wir zusaṈen sind. Ich hab dich zu gern, um diese Existenz zu ertragen.
10
Ich sag dir Adieu.– Sprichst du . . im Ernst? VollkoṈen . . .
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[38] Aber du bist ja ein Kind! Was willst du denn von mir?– Hab ich dir gesagt
je versprochen, dass ich von . . . ihnm selber 5
weggehen will . . . Du weiss ja nicht was du willst.– Lieb Emma, du ahnst wohl selber alles
nicht . . wie traurig das ist. Ja was denn? . . . Ich bin ja Verdirb 10
uns doch Siehst du, dass du es bist, der uns die paar Stunden verdirbt nicht ich. Denk doch, was ich aufs
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[39] Spiel setze – und du behandelst mich so lieblos . . . Ja ja, du hast recht, sagte Franz. Kom, 5
fahren wir zurück. Sie nahm seinen Arm fester. Nein, sagte sie zärtlich . . jetzt will ich nicht. Wer Ich lass’ mich nicht so wegschicken . . Jetzt ist mir wohl . . .
10
Ja, hieraus Kagran hier trifft man keine Bekannten.– Red nicht so, lieber Franz . . . . es wär dir
10
Kagran: drei Kilometer nordöstlich der Donau an der Reichsstraße gelegenes Dorf (ca. 3000 Einwohner im Jahr 1895); seit 1886 an das öffentliche Wiener Verkehrsnetz angeschlossen, wurde es 1905 in den 21. Wiener Gemeindebezirk eingemeindet.
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[40] auch nicht angenehm. So sicher wie auf dieser Straße hab ich mich in meinem Leben nicht mit dir ge 5
fühlt . . Aber eskomm jetzt Du weißt ja gar nicht wie lieb ich dich habe! – –
Sie zog ihn zu sich herab und küsste ihn
lange. Als sich iIhre Lippen trennten, fuhr eben war sich erst, als sie 10
das Traben ihren Wagen neben sich horten, der sie eben erreicht hatte.
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[41] Wollen wir noch ein Stück weiter fahren, fragte Emma lächelnd. Wohin kamen wir da? – 5
Da gehts direct nach Prag, mein Kind. So weit nicht, sagte sie lächelnd – aber die Straße etwas weiter . . weṉ du willst . . He Kutscher . . rief Franz.–
10
Er hörte nichts.– Franz schrie . . AHalten Sie endlich! doch! –
Der Wagen fuhr iṈer weiter. Franz
5
Prag: s. Kommentar, D 225.
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[42] lief ihm nach. ErJetzt sah er dass der Kutscher schlief . . Durch heftiges Anschrein weckte ihn Franz 5
auf. Wir fahren noch ein kleines Stuc weiter . . gegen Kagran zu . . verstehen Sie mich . . . . Ist schon gut, gnä Herr . . . Die Beiden EṈa stieg ein; nach ihr
10
Franz. Der Kutscher hieb wie wüthend mit der Peitsche drein; wie rasend flogen die Pferde über die aufgeweicht
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[43] Straße hin. Aber die junge beiden im Wagen merkten es nicht.; sie hielten sich umarmt, und wenn der Wagen 5
sie hin u her schleuderte, blieben sie fest aneinander gepresst . . . . Ist das nicht auch schön . . . flustert EṈa . . . flustert EṈa ganz nah an seinem Mund . . In diesem Augenblick war ihr plotzli
10
als flöge der ganze Wagen in die Höhe – dann hörte sie ein Schrei, vielleicht den ihre eigne – sie fühlt mit ein Ma
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[44] dass sie allein war, dass sie mit ihrem Arm ins Leere griff . .) sie fühlt sich geworfen, fortgeschleudert, etwas 5
wollte
nach
sich an ihn klamern,
griff ins Leere, undalles drehte sich sie glaubte, dass siees schien ihr, als drehe sie sich mit ungeheur Geschwindigkeit i Kreise herum, so dass 10
sie die Augen schließen mußt – und plötzlich fühlte sie sich liegen . . im
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[45] Dunkeln . . . imallein, und es war ein Augenblick von ungeheuer schwer Stille, als weṉ sie fern von aller 5
Welt und vollig einsam wäre. – Dann hörte sie verschiedenerlei durcheinander; . Hufe, die auf den Gerausch von Pferdehufen, die ganz in ihrer Nähe ain den Boden schlugen,
10
ein leises Wimmern . . . Aber sehen konnte sie nichts . . Jetzt fasste sie
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[46] eine unerho w tolle Angst; sie schrie..; und
aber jetz zu ihren ihre Angst wurd
noch ?t?größer – deṉ sie hörte ihre Schrei 5
nicht. Einen Moment lang dachte Jetzt fiel ihr ein – Sie wußte plotzlic ganz genau, was geschehen war: hatte
Der Wagen war umgeworfen – sie lag auf der Straße – am 10
Ende hatte sie war an irgend etwas gestoßen, wohl an einen
7af.
hatte umgeworfen: s. Kommentar, D 255.
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[47] der Meilensteine, hatte umgeworfen, und sie war heraus gefallen . . stürzt. Um HiṈels 5
willen – weṉ sie verletzt war. Und er . . Er . . Sie rief . . Franz. Sie versuchte sich zu erheben,. Es gelang ihr; sie sass auf dem Boden und als sie mit
10
den Händen ausgriff, fühlte sie
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[48] einen menschlichen Körper . .Und nun koṉte sie auch die Dunkelheit mit ihrem Aug durchdringen 5
Franz lag neben ihr, völlig regungslos. Sie berührt mit der ausgestreckt Hand sein Gesicht;, sie fühlte etwas feuchtes u warmes darüber fließen . .Ihr Athem stockte.
10
Was war da geschehn . . Bewußtlos . . Franz wa bewußtlos . . Verwundet
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[49] Und der Kutscher . wo war er denn. Sie rief nach ihm. Keine Antwort. Noch imer sass sie auf dem Boden. 5
Zu ihrer eig Verwundg vermocht sie sich plötzlich ganz zu erheben. Mir ist nichts geschehn, dachte sie – obwohl sie Schmerzen in allen Gliedern fühlte . . Was thu ich nur
10
was thu ich nur . . Es ist doch nicht
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[50] möglich, dass mir gar nichts geschehn ist u dass er schwer verletzt ist . . . . Jetzt Franz rief 5
sie . . Eine Stimme antwortete neben ihr. ganz ihn ihr Nähe . . Wo sind S deṉ, gnä Fräule .n . . . Warten S . . i zünd nur die Latern’ an. Die sein auch ausglöscht . es is doch
10
nix gschehn . . Verflixte Rösser.
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[51] I bin net Schuld . . die Rösser sein Schuld . . . . In ein Schoderhaufen sind s hinein . . . . . . 5
Emma stand aufrecht da und angstvoll
wartete mit namenloser auf das Licht. Sie wagte es nicht Franz zu berühren, der vor ihr auf dem Boden lag . . . sie dachte: 10
in
we man nichts sieht . . . scheint alles
3
Schoderhaufen: s. Kommentar, D 277.
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[52] furchtbarer . . . . er hat gewiss die Augen offen . . es wird nichts sein. .
5
rückwärts hin vorne vorn
In Ein Lichtschein kam von der andern [???]
hinten
Seite. Der Kutscher Sie sah plötzli den Wagen, der aber nicht aufzu ihr Verwundg nicht am Boden nur
lag, sondern schief gegen 10
die
4a
ein ?St?auStraßengraben zu gestellt war,
rückwärts: (öst.) auch: hinten.
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[53] als wären die Rädler gebrochen Die Pferde standen vollkoṈen still. der
Der Das Licht näherte sich; der Schein 5
kam auf sie ein Schein fiel auf die Straße. sie sah den Schein allmälig über einen Meilenstein, über den Scheiotterhaufen, in den Graben gleiten, über den hinein bis über gleiten – noch ein
10
Moment und er fiel gerade auf das Antlitz Gesicht des jung Mannes, der Franzens,
die Füße Franzen des jung Mannes, schlich eilen. glitt über seinen Körper, beleuchtete
2
Rädler: Vermutlich Schreibirrtum. – „R“ in rotem Farbstift, mit Bleistift überschrieben.
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[54] sein Gesicht, der Kutscher hatte die Laterne wo
u es blieb.blieb dort liegendarauf
auf den Boden gestellt; gerade neben den Kopf des Daliegenden. 5
Emma war es, als hörte ihr Herz zu schlag erblickt
auf, als sie das Gesicht sah. Es war blass; und
die Augen halb offen, doch sah man nur das weiße von ihnen. Von der rechten langsam
Schläfe rieselte Blut über die ein Streifen 10
Blut vonub Wange; der Kragen war roth und verlor sich unter dem Kragen im Halse Der Mund war offen. Die Lippen wIn die Unterlippe waren die Zähne gebissen.
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Emma
[55]
Es ist ja nicht möglich . . . sagte sie vor sich hin . . Der Kutscher war niedergekniet und 5
starrte das Gesicht an. Daṉ packte er mit beiden Händen den Kopf und hob ihn auf Was machen Sie, schrie Emm mit erstickter Stimme. Mir scheint . . da ist ein Gnä Fräulein . .
10
haben S keine Angst . . mir scheint – da ist ein großes Malheur geschehn. Es ist nicht wahr . . sagte Emma . . Es kaṉ nicht wahr sein . . Ist Ihnen was
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[56]
geschehn . .
Fraul Ja . . . man fallt halt gar zu Was Gnä Fräuln . . . ja. – er liess Besiṉgslos 5
den Kopf
wieder
des Todten wieder
Regungslosen in den Schoss EṈas.
langsam sinken . . . Weṉ nur wer
ein Wagen käm . . . Weṉ wir die blöden Bauern eine viertel Stun später daher koṈen wären . . . . . . . machen 10
Was sollen wir deṉ thun . . sagte Emma. Ja Fräulein . . weṉ i wir ?e?gleich zurück mei
fahren konnten – aber so wie der Wagen Zeugl daliegt, kaṉ ichsihn nicht auf
12
Zeugl: (öst.) Zaumzeug, häufig synonym für Fiaker gebraucht.
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[57] die Straßen aufikriegn. – wir müssen warten . . bis wer . . war es als käm sie
Emma kam plötzlich zur Besinng. 5
plötzlich zur Besinng; sie wurde ruhig, so ruhig, dass sie selbst staunte. Sie wußte, was zu thun war. Wie weit ist s bis nach Kagr zu dem nächsten Dorf . . zu den nachsten Häusern . .
10
Das ist niṈer weit, Fräuln . . . da ist ja das Franz Josefs Land . . da ?k?ist man zu Fuss in funf Minuten dort sein.
2 11
aufikriegn: aufi (mundartl.): hinauf. Franz Josefs Land: s. Kommentar, D 325f.
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[58] Gehen Sie hin. Ich bleib da. Holen Sie Leute . . Ja Fräuln . . . ich weiss nicht ich glaub 5
schier, es ist gscheidter, wirich bleib mit Ihnen da – undes kaṉ ja nicht so lang dauern bis wer kommt . . . es ist ja schließlich die Reichsstraße – und . . .–
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Da wirds zu spät . . . da kaṉs ja spät werden . . wir brauchen einen Doctor –
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[59] Ui Jessas, Fräuln, was soll deṉ da . . ein Doctor . . . . . . Das köṉen Sie nicht wissen – und ich auch nicht . . . . Zum Franz Josef In dem Wirts 5
haus . . wird Ja Fräuln, wo find i denn ein Doctor im Franz Josefs Land . . . . von ei
Telephoniren So . . soll den ?eine?dort einer in die Stadt . . ?O? de . Ja Fräul, ich denk mir, die werden 10
dort vielleicht ein Telephon haben. D konnte wer um die Rettungsgesellschaf
7 11
Telephoniren: s. Kommentar, D 342. Rettungsgesellschaf: s. Kommentar, D 342f.
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telephoniren . .
[60]
Ja . . rief das ist das beste . . gehen Sie nur lauf Sie – um HiṈelswill . . Ja . . und Leut bring Sie auch – und . . und . . 5
bitt Sie gehn Sie nur – gehn Sie . . . . . Ja
F Ja, Mit dem Laufen . . Fräuln,
nutzen thuts nichts was thun Sie deṉ noch da . . was . . schaut
Der Kutscher starrte ins Gesicht des 10
Dalieg das blaße Gesicht, das nun auf EṈa’s Schoss ruhte . . . Rettungsge-
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[61] sellschaft . . Doctor . . . . nutzt wird nimer viel nutzen . . Um Gotteswillen . . gehn Sie – 5
Der Kutscher erhob sich und Ich geh schon –
Dass’ nur nicht Angst krieg, Fräuln da in der Finstern . . . Und er ging
eilte rasch über die Straße fort. I kaṉ
nix dafür, mein Seel . . murmelte er 10
vor sich hin . . Emma war allein auf plötzlich mit dunkeln
dem Regungslosen allein auf der Straß
7
Finstern: s. Kommentar, D 352.
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[62] Und was jetzt . . dachte sie . . Sie empfand Es ist doch nicht möglich . . . . . das ging ihr iṈer wieder durch den Kopf . . es ist j 5
nicht möglich . . . Es war ihr plötzlich, als hörte sie neben sich athmen. Sie beugt sich herab . .zu den blaßen Lippen. Nein, von da kam kein Hauch . . . Sie sah die Au Dann Sie betra starrte
10
die Augen an . . . DasDer Blut?strei??auf ? ?der??an? Schläfe ? ?
h Wange schien getrocknet zu sein . . .
Sie starrte die Augen an; die gebrochenen Augen
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[63] und bebte zusaṈen. Ja warum glaub ichs deṉ nicht . . es ist ja gewiss . . das ist . .es ist der ..
Tod . . Und als packte plotzlich, floss ein Schauer überfloss
5
packte sie ein wüthender Schreck – über sie
das Antlitz auf ihrem Schoss . . sie fühlte nur mehr . . Ein Todter: Ich und ein Todter . . Der Todte auf meinem Schoss . . Und mit zitternden Händen 10
rückte sie ihnden Kopf weg, so dass er wieder auf dem Boden zu lieg kam . . . Aber jetzt war ihr, als wäre
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[64]
von allem
sie völlig verlassen worden . . . . Warum hatte sie den Kutscher weggeschickt. Was für ein Unsinn. Wie sollte 5
er helfen . . . Was soll sie denn allein
da thun . . Was soll sie denn da auf der Landstraße mit dem todten Mann alle anfangen. Wenn Leut koṈen . . was soll 10
sie thun, wenn Leute koṈen. Wie duṈ . . Vor Leuten fürchtet sie sich . . Hat sie denn
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[65] was verbrochen . . . SieEin Ungluck ist geschehn – nichts andres – ein großes Unglück . . . ein Mann . . . 5
Man wird sie bedauern . . . . Und doch hat sie Angst ?v?dass Leute Wie lang wird sie hier warten müssen . . Ja . . in diesem . . so Ja . . wer liegt hier . . Franz . . Franz . . nein . . .
10
dass er todt war Und sie sah
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[66] wieder den Todten an . . . Wir sind drei, fiel ihr ein. Ich, Franz und das Licht . . . . Das muss 5
man ja aus der Ferne sehn . . Um Himelswillen – weṉ man mich hier mit ihm . . ja . . ja . . Sie sprang plotzlich auf . . . Das geht ja nicht. Das ist ja unmöglich . . . weṉdas .
10
man darf mich doch nicht hier
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[67] mit Franz . . Aber er ist todt . .. . . . . . Und es war ihr, als sähe sie sie sich jetzt selbst auf der Straß 5
stehn, zu ihren Füßen den Todten und das Licht. Sie kam sich riesig gross vor in der Nacht; siees schien riesig
unnaturlich gross
als würde so ragte sie in die Dunkelheit hinein, . . .als Tödtlich 10
Angst legte umklaṈerte sie Auf was
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[68] wart ich . . dachte sie, und ihr Gedanken jagten . . auf was warte ich? . Auf Menschen . . auf was brauchen mich 5
diese Menschen? . was thu ich hier was werden sie mich fragen, was sag ich Ihnen . . . . . Er ist mein Geliebt . ja . . aber erwer bin ich . . . jedersie werden fragen wer ich bin . . Was sag ich . . Nichts
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Ich sage nichts, weṉ sie komen
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[69] schweigen werd ich . . . . . StiṈen kamen von weitem . . Schon dachte sie? . Aber Sie lauschte angstvoll 5
in Todesangsten . . die StiṈen kamen von der Brücke her; das konnten also
noch nicht die Leute sein, die der Kutscher geholt hatte . . Aber sie bemerken
würd auch das Licht . . Und plotzli sie 10
stieß sie mit dem Fuss die Later um; die verlöschte. Nun stand sie
10
Strich durch stieß: vermutlich nicht als Streichung zu verstehen.
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[70] in schw tiefer Finsternis. Nichts sah sie. Auch ihn sah sie nicht mehr. Nur der weiße
Schotterhaufen glänzte ein wenig . . . . Die 5
StiṈen kamen näher . .– Was? Weṉ Was sollte sie thun? Nur hier nicht entdeckt werden . . um Himelswillen . . sie ist ja verloren, weṉ es ein Mensch erfährt – Aber sie
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wartet ja selbst auf Menschen.
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[71] was fürchtet sie denn, die, die jetzt iṈer näher koṈen . . Aber Sie betet, dass sie auf der and vorübergehn 5
Seite sein mögen . . . . . Sie lauscht. Imer näher die StiṈen . . Ja, drüben . . was reden sie doch? . . es .
sind zwei Frauen oder drei. Sie haben den Wagen bemerkt, 10
sie reden etwas . . . von dem Wagen. sie hört Worte . . Ein Wagen . . was sagen sie sonst? sie kaṉ es nicht verstehen.
. . aber . . sie gehn weiter . sie sind
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[72] vorüber . . Gott sei Dank. Und jetzt, was jetzt? . Was will sie deṉ was fühlt sie denn . . ah . . siewarum 5
ist sie nicht todt wie er . . wie er . . . Er . . Sie denkt, dass er hier neben ihr liegt . . und sie fasst es nicht. Sie möchte todt sein wie er und sie [?]fühlt k?ein?
10
ein Schme Spur von Schmerz, dss
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[73] er todt ist . . . . . sie hat nur Furcht, unertragliche qualvolle Furcht, dass man sie hier bei ihm finden 5
wird . . dass ?an??er? a sie frag wird . . wer sind Sie . dass es herauskoṈ muss . . dass es ihr Maṉ ?her? erfahren muss, dass er . . . Und mitplotzlich
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[74] steht sie hat sie ein paar v
for
eilig Schritte weiter gemacht. gethan – und 5
ist fort . . und steht auf der Land straße allein Und sie schon
staunt, dass sie so lange da gestanden wie angewurzelt . . sie kann ja gehn . sie kan ja flieh . sie 10
kann ja fort . . sie nützt ja
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[75] keinem hier . und sich selbs bringt sie ins Unglück . . . . Und sie geht . . sie läuft . . . 5
(Im Dunkel – wieso fallt sie nicht?) immer schneller . . nur fort von da – ins Dunkel . . zurück . . ins Licht – ins Leben . . Über die Straße läuft sie entlang, hoch
und hält das Kleid, um nicht 10
zu fallen . . U Schon sieht sie Der Wind ist ihr im Rücken,
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[76] es ist, als weṉ er sie vorwärts triebe . . . Und ?W?ie Tau Sie ist Tausend Am Durch ihren Kopf 5
wirbelt zehnfache Angst . . Sie weiss nicht mehr recht, wovor sie flieht . . Es ist ihr als
Sie glaubt, dass sie vor dem bleichen Manne fliehen müsste, der dort, weit hinter ihr liegt . . . Daṉ fällt fallt 10
ihr ein, dass sie ja vor denen lebendig entkoṈen will, die gleich dort sein werden und sie nicht finden
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[77] werden. Was werden sdie denken . . Was werden sie die das ist gleichgiltig Wird man ihr nicht nach? . Aber 5
man kaṉ sie nicht mehr einholen . sie ist ja gleich bei der Brücke . . sie hat einen großen Vorsprung. Und dann ist die Gefahr vorbei. Man kan ja nicht ahnen wer sie ist.
10
Keine Seele ahnt kan ahnen, wer die Frau war, mit der
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[78] der Todte . . die mit dem jung Mann über die Reichsstraß gefahr ist . . Der Kutscher kennt sie nicht – 5
und Franz ist stumm . . . . . sie er hat auch ihr Gesicht er wird sie auch nie erkeṉen, weṉ er sie später einmal sieht – de[?] – Man wird sich auch nicht darum küṈern
10
wer sie war, wen geht es an – – es ist ja kein Verbr und morgen [??] es ist sehr klug – dass sie nich dort geblieben ist . . . . . . es ist auch nicht
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[79] gemein . . Franz selbst hätte ihr Recht gegeben . . sie muss nach Haus . sie hat ein Kind . . sie hat einen 5
Mann . . sie ware ja verloren. Weṉ man sie dort bei ihrem Geliebt gefund hätte . . . . Da ist die Brücke . . . Die Straße scheint heller . . . ja . . schon hört dasie das Wasser wieder
10
rauschen wie früher . . . . da ist sie . . sie ist da – wo sie mit ihm gegang Arm in Arm gegangen.
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H 80
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H 80
[80] wann – wann? . Es liegen Stunden, Sind Stunden seither E Wohl ?ist? ihr, als läge ein Mit ihm. .– Hier 5
vor ein vor wie viel Stunden? . Sind es nicht Tage, Jahre . . . .Ewigkeiten . . Nein
nicht
Nein, es kaṉ noch keine halbe lang
Stunde sein . . Wer weiss . . . vielleich war sie lange bewußtlos . . . viel10
leicht ist es langst Mitternacht . vielleicht ist der Morgen schon nah . . man sucht sie schon sie wird
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H 81
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H 81
[81] daheim schon vermisst (– aber das ist ja nicht möglich . . . Sie läuft über die Brücke . . . . Sie sieht nicht nach 5
rechts und links. ReSie Der Regen Vorn sieht Jetzt bemerkt sie, wie eine Gestalt ihr entgegenkommt. Sie mäßigt ihre Schritte. Sie geht ganz langsam. Eine neue Wer kann
10
das sein?, der ihr entgegenkommt. Es ist einjemand in Uniform . . . Sie geht ganz langsam. Sie darf nicht auffallen.
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H 82
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H 82
[82] Sie fühlt, dass ein Blic glaubt zu merken, dass der Maṉ den Blick fest auf sie gerichtet hält. Weṉ er sie fragt . . ? neben 5
Sie ist bei ihm; sie geh es ist ein Sicher heitswachmann; sie geht an ihm vorüber. Sie hört, Sie merkt, dass er steh hinter ihr stehen geblieb ist. Mit Mühe hält sie sich davo
10
zurück wieder zu laufen; es wäre verdächtig. Sie geht noch imer so langsam
5f.
Sicherheitswachmann: s. Kommentar, D 480.
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H 83
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H 83
[83] wie früher. Sie hört Schritte hinter sich. Aber die Schritte entfernen sich von ihr . . sie Sie
verhallen ganz. Emma athmete 5
auf; die Brücke ist passirt; schon sieht sie von weitem sie hört ein das
Geklingel . . die Pferdebahn der Pferdebahn. – Schon kaṉ sie Es kaṉ noch nicht spät sehr Es kaṉ noch nicht Mitter 10
nacht sein . . . Jetzt ka siegeht sie wieder schneller; sie eilt der Stadt entgegen, deren Lichter sie schon unter
9f.
noch nicht Mitternacht: s. Kommentar, D 486f.
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H 84
[84] der Eisenbahnbrücke am Ausgang der Allee Straße entgegenschiṈer sieht, gedampft
deren Lärm sie schon zu vernehmen 5
glaubt. Noch diese Str einsame Straße . . und daṉ ist die Erlösung da. Jetzt hört sie von f weitem schrille Pfiffe; iṈer iṈer schriller, iṈer näher, ein Wagen saust an ihr vorüber. Un-
10
willkürlich bleibt sie stehn u sieht ihm nach. Es ist dieer Wagen der Rettungsgesellschaft – sie weiss, wohin
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H 85
[85] er fährt – Also Einen Moment lang ist ihr, als müßte sie den Leuten nachrufen . . als müßte sie mit, 5
als müßt sie wieder dahin zurück woher sie gekoṈen – dann einen Moment lang packt si es sie wie ein ungeheurer Schmerz, dass wie eine unendliche Scham – ungeheure
10
Scham, wie sie sie nie empfunden; und sie fühlt, dass sie feig gewesen
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[86] ist wie und sie weiss, dass sie feig und schlecht gewesen ist. Aber wie sie denas WagenRollen und Pfeifen 5
iṈer weiter verklingen hört, komt eine wilde Freude über sie, und wie Gerettete läuft
eine gerettete eilt sie weiter vorwärts . . . eilt
Die Straße ist dunkel Leute komen ihr entgegen; sie hat keine Angst 10
mehr vor ihnen – das schwerste ist überstanden. Der Lärm der Stadt wird deutlich
4
Rollen und Pfeifen: s. Kommentar, D 501.
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[87] immer lichter wird es vor ihr; schon sieht sie die Häuserzeile der Praterstraße, und es ist ihr, 5
als erwarte sie dort eine Flut von Menschen, in der sie verschwinden konnte . . . Wie sie jetzt zu einer Straßenlaterne kommt, hat sie schon die Ruhe, auf ihre Uhr 3/4 Es ist neun Uhr
10
zu sehn. Sie hält sie ans Ohr – sie ist nicht stehn geblieben – Unwillkurlich
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[88]
mit
muss sie denken, wie der Wag ungleicher Gewalt wie ungleich der Zufall ihr und muss sie denken, wie sonderb 5
ungerecht der Zufall sie veheute . . selbst ihre Uhr ging noch . . und Er –
verschont. Was wäre geschehen – weṉ sie jetzt dort unten läge – und er am Leben geblieben wäre . . Er wär nicht geflohen . . Nun ja . er 10
ist e Mann. Sie ist ein Weib – und sie hat ein Kind u ein Gatten,
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[89]
Sie hat recht . . sie es ist ihre Pflicht . . ja Pflicht
. . Sie ist unter der Eisenbahnbrück . . weiter . . weiter . . hier ist die Thegethof säule, und ewo die vielen Straßen 5
sternförmig zusam auseinand Es ?ist d?sind heut nan dem regneris
laufen . . Es ist ziemlich leer – windig Herbstabend wenig Leute da,
aber ihr ist es, als brauste ein machtige das Leben der Stadt machtg um sie; denn sie koṈt aus geradeaus 10
der Dunkelheit, Stille und Tod . . . . . Sie hat Zeit . . . sie weiss dass ihr MannGatte
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[90]
gegen
heut erst vor zehn nach Hause koṈen wird – sie hat sie kaṉ sich auch noch umkleiden . . . Jetzt fällt es ihr 5
ein, ihr Anzg zu betrachten. Mit Schrecken merkt sie, dass er über und über beschmutzt ist. Was wird sie dem Stubenmädch sagen . . Aus dem Wagen gefallen? . Und Und weṉ
10
morgen ?in? Es fahrt ihr durch den Kopf, dass morgen die Geschichte
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H 91
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[91] von dem Unglücksfall in allen Zeitung zu lesen sein wird. von d
Auch dass eine Frau mit im Spielim 5
war, die daṉ Wagen war, die dann nicht mehr zu find war, wird überall zu lesen stehn – eine Unvorsichtigkeit – und all ihre Feigheit war umsonst . . So kaṉ
10
sie nicht nach Hause Aber sie hat den
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[92] Wohnungsschlussel bei sich – sie kaṉ ja selbst aufsperren – sie wird demsich [?]
Stu nicht sehen lassen . . . Sie wi rasch
5
Sie steigt in einen Fiaker, der am Praterstern steht. In die . . . Schon will angeben
sie ihm ihre Adresse sagen, da fällt ihr ein, dass das unklu wäre In die Mariahilferstraße läßt sie 10
sich führen Sie gibt eine ganz Sie wird zuerst in eine ganz andre
9
Mariahilferstraße: von der Inneren Stadt auswärts führende Straße, zum 6., 7., 14. und 15. Gemeindebezirk gehörend.
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H 93
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H 93
[93] Gegend fahren., . . Währingerstraße sa sagt sie . . ruft sie ihm und gibt ihm irgd eine
eine Straße in der Vorstadt ein, die ihr 5
eben einfällt.– Wie sie durch die Paraterstraße fährt, koṈt ein möcht ein Schmerz über d[?]
sie mit gern mit tiefem Leid empfi
möchte sie etwas
an den Todten denken; – aber sie kaṉ koṈt . möchte sie ?e?selbst gern ein Schmerz empfind, aber sie kaṉ es
nicht. Sie fühlt, dass sie nur einen Wunsch 10
Gedanken hat: zu Hause sein . in Sicherhe sein . . . alles andre ist ihr gleichgiltig.
2
Währingerstraße: von der Inneren Stadt nahe der Universität auswärts führende Straße durch den 9. und 18. Gemeindebezirk.
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H 94
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H 94
[94] Im Augenblick da sie sich entschlossen hat, den Todten unten allein auf d zu lassen
Straße zu liegen, hat sie auch mit 5
allem ist alles hat alles in ihr über d verstumen
ersticken müss, was ?ein?sie an ihn um
ge gebunden. in ihr für ihn wklagen u
und jaṈern wollte. Sie fühlte, fühlte jetzt onnte
Sie k
aṉ nichts empfinden als lange
10
Sorge um sich . . . Vielleicht werden Tage koṈen, wo sie klagen verzweifel wird . . vielleicht wird sie daran zu Grund
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H 95
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H 95
[95] gehen – jetzt ist nichts dain ihr . . als die und ruhig . .
Sehnsucht, mit trocknen Augen zu Hause selben
am Tisch mit ihr Gatten u ihrem Kind 5
zu sitzen . . . Sie sahieht durchs Fenster auf die Straße hinaus. SDer Wagen innere uhr
f ahrt durch die Stadt; hier warist die Straße es hell erleuchtet und viele
mehr
es
gab
gibt mehr Menschen auf d war
10
Straßen . . Da konnte sieihr plötzlich, ist
als könnte alles, was sie in den letzten Stunden durchlebt, gar nicht
6af.
innere Stadt: s. Kommentar, D 564.
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H 96
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H 96
[96] wahr sein . . Wie ein böser Traum ihr ien
ihr
ersch eint es alles . . . unfaßbar als wirkliches . . un[?]abänderliches . . der Wagen Seitengasse des Rings 5
Als der
Auf
In
dem
einer Ring gieläßt sie
den Wagen halten; sie stieg aus, stiegeigt aus und ging rasch in einum nahm
Ecke, und stieg dort ein and Wag, dem sie ihre richtige Adresse angabibt – 10
Sie war mud Sie konnte Jetzt Sie konnte Es kamoṈt ihr vor, als war sie jetzt überhaupt nicht mehr fähig
5
Ring: s. Kommentar, D 568.
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H 97
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H 97
[97] einen Gedanken zu fassen „ . . Wo ist Er jetzt“ das schwirr komfährt es ihr durch den Sinn? . Und sSie sah ihnschloss die 5
Augen und sie sah ihn vor sich auf einer Bahre liegen, im Wagen der Rettung Krankenwagen – und ist
plotzlich war ihr, als säße sie neben ihm und führe mit ihm – und sie hörte 10
das schrille Pfeifen . . . Aber empfinden konnte sie auch dabei nichts – Und der Wagen begaṉint zu schwanken und sie hatte Angst, dass sie heraus ge-
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H 98
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H 98
[98] schleudert wurd u wie früher wied damals . .
und sie schrieeit . . undleise auf – da hiealt der Wagen . . Sie fuhr zusaṈen; 5
sie war vor ihrem Hausthor. – Eilig schlüpft sie hinein Sie Rasch stieg sie aus, eilte durch den Flur, war froh, dass der Portier sie nicht bemerkte; die Treppe hinauf, sperrte leise die Thur auf, um nich gehört
10
Vorz
bemerkt zu werden . . Durchs, Vorzimm in ihr AnZiṈer – es war gelungen . . . vernahm sie die StiṈe
wohl hörte sie jetzt das Stubenmadch
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H 99
Handschriften
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H 99
[99] draußen, dieund rief ihr ?den?hinaus . . Sie drehte machte Licht, warf eilig ihre Kleider ab und versperrwahrte sie 5
wohl inm einem Schrank. HintUber Nacht noch wollte sie selbst muss sie trocknen – morgen wollte sie sie selber bürsten u reinigen. Daṉ warf Daṉ wusch sie sich Gesicht
10
und [?]Hände. – Endlich nahm sie einen .
Schlafrock um;. rosa . . es thäte und nahm
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H 100
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H 100
[100] einen Schlafrock um. – Jetzt klingelte es draußen . . Sie hörte das Stubenmädchen an die Thür komen 5
u öffnen. Sie hörte die StiṈe ihres Maṉes. Sie hörte d Er fragte: Ist die gnädig Fr Herr Profess
schon zu Hause. – Nein, sag erwider das StMädchen. – Nein Da trat die gnädig Frau aus ihrem 10
Zimmer Und da; sie hörte, wie er den Stock ain d hinstellte. – Sie fühlte, dass sie jetzt stark sein
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H 101
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H 101
[101] müßte; sonst koṉt noch iṈer all vergeblich gewesen sein. Sie g
ingeht
ing
direct ins Speisezimmer; so dass 5
sie im selben Augenblick hineintrat als ihr Gatte. Sie lächelte als sie ihm sagteh, oh ohne sich daz zu
zwingen mußte . . Er küsste sie auf die Stirn. – heut 10
Es ist spät geworden, sagte er . . . . ich hab gar nicht gedacht, dass du mit dem Nachtmahl auf mich warten
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H 102
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H 102
[102] Etwas entsetzliches war ihr eingefallen. Alles war vergeblich gewesen . . Franz trug ihr Bild bei sich . . in der 5
Brieftasche. Während schon
Der Kleine sitzt bei Tisch; er hat lang warten müssen; ist eingeschlafen. Auf dem BuchTeller leagte 10
das Buch; sein auf dem Buch über UberAuf dem Teller hat er sein Buch liegen, auf dem offnen Buch ruht sein Gesicht. –
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H 103
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H 103
[103] Sie will ihn wecken ;streicht ihm er wacht nicht auf
über die Haare; um ihn zu wecken. Der Papa wa Sie setzt sich neben 5
ihn. SieAuch der Gatte auf der andern Seite, niṈt ein Zeitung liest, . . . . Das Stubenmädchen trägt das Essen auf. . .; die junge Frau theilt vor . . . . Der ?Her?Gatte erzählt von der heutig Sitzg,
10
sehr lang, sehr viel; Emma hört zu, als . thut, als höre sie zu, nickt zuweilen . . . . Aber sie hört nichts . . sie muss iṈer
8
theilt vor: vorteilen: Gerichte portionieren und verteilen.
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H 104
Handschriften
234
Handschriften
H 104
[104] an den Traum denken, den sie heut gehabt . . sie weiss nicht, was er spricht . . . sie hat die Empfind eines 5
unermeßlich es ist ihr zu Muth, wie jem
einem, der furchtbare Gefahren auf
wunderbare Weise entronnen . . . Ich bin
sie fühlt nichts als . . d?ah? Gerettet . . . . . . . . nichts . . als: Ich bin daheim . . . . 10
Und so übermächtig wird dieses Gefuhl des Glücks, dass sie laut zu schluchzen beginnt Und, während ihr Mann weiter plauderte erzahlt von den
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H 105
Handschriften
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H 105
[105] Sitzung, von der Discussion, rückt sie ihr Sessel nahe [?]zu ihrem Jungen, schmiegt ihn niṈt seinen Kopf und 5
drückt ihn an dieihre Brust . . . SieEine Der Vater lächelte . . . . So solltest du dich photographiren las Er empfindet tief, dass ers glücklich nur ein Glück gibt: im Kreise der Familie . .
10
unsaglich Müdigkeit überkom sie – sie kan sich nicht beherrschen. sie fühlt dss der SchluṈer
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H 106
Handschriften
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H 106
[106] über sie koṈt . . Sie schliess die Augen . . . Der Gatte merkt es endlich ds 5
sie ihm nicht mehr zuhört . . Er sieht, wie sie mit dem Jungen ihm gegenubersitzt . . wie beide Frau u Kind [??]
beide schluṈern, – Mit Rührung
EṈa Er lächelte; er ist gerührt . . . 10
er er denkt . . . Glück . . . .
239
H 107
Handschriften
240
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H 107
[107] blickt er sie an . . . Plötzlich zucktfährt sie zusaṈen und schlägt die Augen auf. Sie hat 5
geträumt . . viel geträumt – entsetzliche Dinge hat sie geträumt . . Hier ist das Glück, . . . denkt er . . Plötzlich fährt sie zusaṈen . . und schlägt die Augen auf. Sie starrt
10
ihrem Gatten ins Gesicht, der sie noch iṈer anlächelt . . Du hast geschlumert ,
Schat mein Kind, sagt er . . . Und sie [A 148,3]
241
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242
Handschriften
2. Drucktext
243
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244
zxDIE TOTEN SCHWEIGEN.
1
zEr ertrug es nicht länger, ruhig im Wagen zu sitzen; er stieg aus und ging auf und ab. Es war schon dunkel; die wenigen Laternenlichter in dieser stillen, abseits liegenden Strasse flackerten, vom Winde bewegt, hin und her. Es hatte aufgehört zu regnen; die Trottoirs waren beinahe trocken; aber die ungepflasterten Fahrstrassen waren noch feucht, und an einzelnen Stellen hatten sich kleine Tümpel gebildet. Es ist sonderbar, dachte Franz, wie man sich hier, hundert Schritte weit von der Praterstrasse, in irgend eine ungarische Kleinstadt versetzt glauben kann. Immerhin — sicher dürfte man hier wenigstens sein; hier wird sie keinen ihrer gefürchteten Bekannten treffen. Er sah auf die Uhr... Sieben — und schon völlige Nacht. Der Herbst ist diesmal früh da. Und der verdammte Sturm. Er stellte den Kragen in die Höhe und ging zrascher auf und ab. Die Laternenfenster klirrten. Noch eine halbe Stunde, sagte er zu sich, dann kann ich gehen. Ah — ich wollte beinahe, es wäre so weit. Er blieb an der Ecke stehen; hier hatte er einen Ausblick auf beide Strassen, von denen aus sie kommen könnte. Ja, heute wird sie kommen, dachte er, während er seinen Hut festhielt, der wegzufliegen drohte. — Freitag — Sitzung des Professorenkollegiums — da wagt sie sich fort und kann sogar länger ausbleiben... Er hörte das Geklingel der Pferdebahn; jetzt begann auch die Glocke von der nahen Nepomukkirche zu läuten. Die Strasse wurde belebter, es kamen mehr Menschen an ihm vorüber: meist, wie ihm schien, Bedienstete aus den Geschäften, die um Sieben geschlossen wurden. Alle xgingen rasch und waren mit dem Sturm, der das Gehen er-
2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30
1 2 8 9f. 13 17
18 19 27 29
DIE TOTEN SCHWEIGEN.] Die Toten schweigen. EA DIE TOTEN SCHWEIGEN GW Er] Er EA GW gebildet.] gebildet. / Absatz eingefügt EA GW Schritte weit] Schritt EA GW treffen.] treffen. / Absatz eingefügt EA GW Noch] „Noch EA GW Stunde,] Stunde,“ EA GW dann] „dann EA GW weit.] weit.“ EA GW belebter, es] belebter. Es GW Sieben] sieben EA GW
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ED [193] – EA [135]
EA 137
EA 138
ED 194
Drucktext
schwerte, in einer Art von Kampf begriffen. Niemand beachtete ihn; nur ein paar Ladenmädel blickten mit leichter Neugier zu ihm auf. — Plötzlich sah er eine bekannte Gestalt rasch herankommen. Er eilte ihr entgegen. Ohne Wagen? dachte er. Ist sie’s? Sie war es; als sie seiner gewahr wurde, beschleunigte sie ihre Schritte. z“ Du kommst zu Fuss?” sagte er. “ Ich hab den Wagen schon beim Karltheater fortgeschickt. Ich glaube, ich bin schon einmal mit demselben Kutscher gefahren.” Ein Herr ging an ihnen vorüber und betrachtete die Dame flüchtig. Der junge Mann fixirte ihn scharf, beinahe drohend; der Herr ging rasch weiter. Die Dame sah ihm nach. “ Wer war’s?” fragte sie ängstlich. “ Ich kenne ihn nicht. Hier gibt es keine Bekannten, sei ganz ruhig. — Aber jetzt komm rasch; wir wollen einsteigen.” “ Ist das dein Wagen?” “ Ja.” — “ Ein offener?” “ Vor einer Stunde war es noch so schön.” Sie eilten hin; die junge Frau stieg ein. “ Kutscher,” rief der junge Mann. “ Wo ist er denn?” fragte die junge Frau. Franz schaute rings umher. “ Das ist unglaublich,” rief er, “ der Kerl ist nicht zu sehen.” “ Um Gotteswillen!” rief sie leise. “ Wart’ einen Augenblick, Kind; er ist sicher da.” Der junge Mann öffnete die Tür zu dem kleinen Wirtshause; an einem Tisch mit ein paar zanderen Leuten sass der Kutscher; jetzt stand er rasch auf. “ Gleich, gnä’ Herr,” sagte er und trank stehend sein Glas Wein aus. “ Was fällt Ihnen denn ein?” “ Bitt’ schön, Euer Gnaden; i bin schon wieder da.” Er eilte ein wenig schwankend zu den Pferden. “ Wohin fahr’n mir denn, Euer Gnaden?” “ Prater — Lusthaus.”
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32 39 49 52 59 65 67
ihn] ihn EA GW hab] hab’ EA GW Ja.” —] Ja.“ GW ein.] ein. / Absatz eingefügt EA GW Tür] Thür EA Bitt’] Bitt EA GW mir] mer EA GW
246
EA 139
EA 140
Drucktext
xDer junge Mann stieg ein. Die junge Frau lehnte ganz versteckt, beinahe zusammengekauert, in der Ecke unter dem aufgestellten Dach. Franz fasste ihre beiden Hände. Sie blieb regungslos. — “ Willst du mir nicht wenigstens guten Abend sagen?” “ Ich bitt’ dich; lass mich nur einen Moment, ich bin noch ganz atemlos.” Der junge Mann lehnte sich in seine Ecke. Beide schwiegen eine Weile. Der Wagen war in die Praterstrasse eingebogen, fuhr an dem Tegethoff-Monument vorüber, und nach wenigen Sekunden flog er die breite dunkle Praterallee hin. Jetzt umschlang Emma plötzlich mit beiden Armen den Geliebten. Er schob leise den Schleier zurück, der ihn noch von ihren Lippen trennte, und küsste sie. z“ Bin ich endlich wieder bei dir!” sagte sie. “ Weisst du denn, wie lang wir uns nicht gesehen haben?” rief er aus. “ Seit Sonntag.” “ Ja, und da auch nur von weitem.” “ Wieso? Du warst ja bei uns.” “ Nun ja... bei Euch. Ah, das geht so nicht fort. Zu Euch komm’ ich überhaupt nie wieder. Aber was hast du denn?” “ Es ist ein Wagen an uns vorbeigefahren.” “ Liebes Kind, die Leute, die heute im Prater spaziren fahren, kümmern sich wahrhaftig nicht um uns.” “ Das glaub’ ich schon. Aber zufällig kann einer hereinschaun.” “ Es ist unmöglich jemanden zu erkennen.” “ Ich bitt dich, fahren wir wo anders hin.” “ Wie du willst.” Er rief dem Kutscher, der aber nicht zu hören schien. Da beugte er sich vor und berührte ihn mit der Hand. Der Kutscher wandte sich um. “ Sie sollen umkehren. Und warum hauen Sie denn so auf die Pferde ein? Wir haben ja keine Eile, hören Sie! Wir fahren in die... wissen Sie, die Allee, die zur Reichsbrücke führt.” z“ Auf die Reichsstrassen?”
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74 79 83 89
96 103
bitt’] bitt EA GW breite] breite, EA GW endlich wieder] endlich EA GW bei Euch] bei euch GW Zu Euch] Zu euch GW unmöglich] unmöglich, EA GW ja] ja gar EA GW
247
ED 195
EA 141
EA 142
Drucktext
“ Ja, aber rasen Sie nicht so, das hat ja gar keinen Sinn.” x“ Bitt’ schön, gnä’ Herr, der Sturm, der macht die Rösser so wild.” “ Ah freilich, der Sturm.” Franz setzte sich wieder. Der Kutscher wandte die Pferde. Sie fuhren zurück. “ Warum hab’ ich dich gestern nicht gesehen?” fragte sie. “ Wie hätt’ ich denn können?” “ Ich dachte, du warst auch bei meiner Schwester geladen.” “ Ach so.” “ Warum warst du nicht dort?” “ Weil ich es nicht vertragen kann, mit dir unter anderen Leuten zusammen zu sein. Nein, nie wieder.” Sie zuckte die Achseln. “ Wo sind wir denn?” fragte sie dann. Sie fuhren unter der Eisenbahnbrücke in die Reichsstrasse ein. “ Da geht’s zur grossen Donau,” sagte Franz, “ wir sind auf dem Weg zur Reichsbrücke. Hier gibt es keine Bekannten!” setzte er spöttisch hinzu. z“ Der Wagen schüttelt entsetzlich.” “ Ja, jetzt sind wir wieder auf Pflaster.” “ Warum fährt er so im Zickzack?” “ Es scheint dir so. Die Scheiben klirren nur so stark, weil der Sturm —” Aber er fand selbst, dass der Wagen sie heftiger als nötig hin und her warf. Er wollte nichts davon sagen, um sie nicht noch ängstlicher zu machen. “ Ich habe heute viel und ernst mit dir zu reden, Emma.” “ Da musst du bald anfangen, denn um Neun muss ich zu Hause sein.” “ In zwei Worten kann alles entschieden sein.” “ Gott, was ist denn das?...” schrie sie auf. Der Wagen war in ein Pferdebahngeleise geraten und machte jetzt, als der Kutscher herauswenden wollte, eine so scharfe Biegung, dass er fast zu stürzen drohte. Franz packte den Kutscher beim Mantel. “ Halten Sie,” rief er ihm zu. “ Sie sind ja betrunken.” Der Kutscher brachte die Pferde mühsam zum Stehen. “ Aber gnä’ Herr...” “ Komm, Emma, steigen wir hier aus.”
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108 112 129f. 135 138
Bitt’] Bitt EA GW hab’] habe GW Die Scheiben klirren nur so stark, weil der Sturm —] fehlt EA GW Neun] neun EA GW das?...”] das?“ . . . EA GW
248
ED 196
EA 143
Drucktext
“ Wo sind wir?” x“ Schon an der Brücke. Es ist auch jetzt nicht mehr gar so stürmisch. Gehen wir ein Stückchen. zMan kann während des Fahrens nicht ordentlich reden.” Emma zog den Schleier herunter und folgte. “ Nicht stürmisch, nennst du das?” rief sie aus, als ihr gleich beim Aussteigen ein Windstoss entgegenfuhr. Er nahm ihren Arm. “ Nachfahren,” rief er dem Kutscher zu. Sie spazirten vorwärts. So lang die Brücke allmählich anstieg, sprachen sie nichts; und als sie beide das Wasser unter sich rauschen hörten, blieben sie eine Weile stehen. Tiefes Dunkel war um sie. Der breite Strom dehnte sich grau und in unbestimmten Grenzen hin, in der Ferne sahen sie rote Lichter, die über dem Wasser zu schweben schienen und sich darin spiegelten. Von dem Ufer her, das die Beiden eben verlassen hatten, senkten sich zitternde Lichtstreifen ins Wasser; jenseits war es, als verlöre sich der Strom in die schwarzen Auen. Jetzt schien ein fernes Donnern zu ertönen, das immer näher kam; unwillkürlich sahen sie beide nach der Stelle, wo die roten Lichter schimmerten; Bahnzüge mit hellen Fenstern rollten zwischen eisernen Bogen hin, die plötzlich aus der Nacht hervorzuwachsen und gleich wieder zu versinken schienen. Der Donner verlor sich allmählich, zes wurde still; nur der Wind kam in plötzlichen Stössen. Nach langem Schweigen sagte Franz: “ Wir sollten fort.” “ Freilich,” erwiderte Emma leise. “ Wir sollten fort,” sagte Franz lebhaft, “ ganz fort, mein’ ich.”... “ Es geht ja nicht.” “ Weil wir feig sind, Emma; darum geht es nicht.” “ Und mein Kind?” “ Er würde es dir lassen, ich bin fest überzeugt.” “ Und wie?” fragte sie leise... “ Davonlaufen bei Nacht und Nebel?” “ Nein, durchaus nicht. Du hast nichts zu tun als ihm einfach zu sagen, dass du nicht länger bei ihm leben kannst, weil du einem andern gehörst.”
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stürmisch,] stürmisch GW Nachfahren,”] Nachfahren“, GW zu.] zu. / Absatz eingefügt EA GW Beiden] beiden EA GW fernes] ferneres EA GW Freilich,”] Freilich“, GW fort ] fort EA GW ich.”...] ich . . .“ GW Kind? ] Kind? EA GW
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“ Bist du bei Sinnen, Franz?” “ Wenn du willst, erspar’ ich dir auch das, — ich sag’ es ihm selber.” x“ Das wirst du nicht tun, Franz.” Er versuchte, sie anzusehen; aber in der Dunkelheit konnte er nicht mehr bemerken, als dass sie den Kopf erhoben und zu ihm gewandt hatte. zEr schwieg eine Weile. Dann sagte er ruhig: “ Hab’ keine Angst, ich werd’ es nicht tun.” Sie näherten sich dem andern Ufer. “ Hörst du nichts?” sagte sie. “ Was ist das?” “ Es kommt von drüben,” sagte er. Langsam rasselte es aus dem Dunkel hervor; ein kleines rotes Licht schwebte ihnen entgegen; bald sahen sie, dass es von einer kleinen Laterne kam, die an der vorderen Deichsel eines Landwagens befestigt war; aber sie konnten nicht sehen, ob der Wagen beladen war und ob Menschen mitfuhren. Gleich dahinter kamen noch zwei gleiche Wagen. Auf dem letzten konnten sie einen Mann in Bauerntracht gewahren, der eben seine Pfeife anzündete. Die Wagen fuhren vorbei. Dann hörten sie wieder nichts als das dumpfe Geräusch des Fiakers, der zwanzig Schritte hinter ihnen langsam weiter rollte. Jetzt senkte sich die Brücke leicht gegen das andere Ufer. Sie sahen, wie die Strasse vor ihnen zwischen Bäumen ins Finstere weiter lief. Rechts und links von ihnen lagen in der Tiefe die Auen; sie sahen wie in Abgründe hinein. Nach langem Schweigen sagte Franz plötzlich: “ Also das letzte Mal... ” z“ Was?” fragte Emma in besorgtem Ton. “ — Dass wir zusammen sind. Bleib’ bei ihm. Ich sag’ dir Adieu.” “ Sprichst du im Ernst?” “ Vollkommen.” “ Siehst du, dass du es bist, der uns immer die paar Stunden verdirbt, die wir haben; nicht ich!” “ Ja, ja, du hast Recht,” sagte Franz. “ Komm, fahren wir zurück.” Sie nahm seinen Arm fester. “ Nein,” sagte sie zärtlich, “ jetzt will ich nicht. Ich lass’ mich nicht so fortschicken.”
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werd’] werde GW andern] anderen GW drüben,”] drüben“, GW letzte Mal] letztemal GW du] Du EA du GW Recht,”] Recht“, GW
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Sie zog ihn zu sich herab und küsste ihn lang. “ Wohin kämen wir,” fragte sie dann, “ wenn wir hier immer weiter führen?” x“ Da geht’s direkt nach Prag, mein Kind.” “ So weit nicht,” sagte sie lächelnd, “ aber noch ein bischen weiter da hinaus, wenn du willst.” Sie wies ins Dunkle. “ He, Kutscher!” rief Franz. Der hörte nichts. Franz schrie: “ Halten Sie doch!” Der Wagen fuhr immer weiter. Franz lief ihm nach. Jetzt sah er, dass der Kutscher schlief. Durch heftiges Anschreien weckte ihn Franz auf. z“ Wir fahren noch ein kleines Stück weiter — die gerade Strasse — verstehen Sie mich?” “ Is’ schon gut, gnä’ Herr...” Emma stieg ein; nach ihr Franz. Der Kutscher hieb mit der Peitsche drein; wie rasend flogen die Pferde über die aufgeweichte Strasse hin. Aber die Beiden im Wagen hielten einander fest umarmt, während der Wagen sie hin und herwarf. “ Ist das nicht auch ganz schön,” flüsterte Emma ganz nahe an seinem Munde. In diesem Augenblick war ihr, als flöge der Wagen plötzlich in die Höhe — sie fühlte sich fortgeschleudert, wollte sich an etwas klammern, griff ins Leere: es schien ihr, als drehe sie sich mit rasender Geschwindigkeit im Kreise herum, so dass sie die Augen schliessen musste — und plötzlich fühlte sie sich auf dem Boden liegen, und eine ungeheure schwere Stille brach herein, als wenn sie fern von aller Welt und völlig einsam wäre. Dann hörte sie verschiedenes durcheinander: Geräusch von Pferdehufen, die ganz in ihrer Nähe auf den Boden schlugen, ein leises Wimmern; aber sehen konnte sie nichts. Jetzt fasste sie eine tolle Angst; sie schrie; ihre Angst ward noch grösser, denn sie hörte ihr Schreien nicht. Sie wusste plötzlich ganz zgenau, was geschehen war: der Wagen war an irgend etwas gestossen, wol an einen der Meilensteine, hatte umgeworfen, und sie war herausgestürzt. Wo ist er? war ihr nächster Gedanke. Und
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bischen] bißchen GW Beiden] beiden EA GW hin und herwarf] hin゠ und herwarf EA hin- und herwarf GW schön,”] schön“, GW Munde.] Munde. / Absatz eingefügt EA GW Leere:] Leere; GW wol] wohl EA GW war] waren GW er?] e r ? EA GW Und sie] Sie EA GW
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sie rief seinen Namen. Sie hörte sich rufen, ganz leise zwar, aber sie hörte sich. Es kam keine Antwort. Sie versuchte, sich zu erheben. Es gelang ihr soweit, dass sie auf den Boden zu sitzen kam, und als sie mit den Händen ausgriff, fühlte sie einen menschlichen Körper neben sich. Und nun konnte sie auch die Dunkelheit mit ihrem Auge durchdringen. Franz lag neben ihr, völlig regungslos. Sie berührte mit der xausgestreckten Hand sein Gesicht; sie fühlte etwas Feuchtes und Warmes darüber fliessen. Ihr Atem stockte. Blut...? Was war da geschehen? Franz war verwundet und bewusstlos. Und der Kutscher — wo war er denn? Sie rief nach ihm. Keine Antwort. Noch immer sass sie auf dem Boden. Mir ist nichts geschehen, dachte sie, obwol sie Schmerzen in allen Gliedern fühlte. Was tu’ ich nur, was tu’ ich nur... es ist doch nicht möglich, dass mir garnichts geschehen ist. “ Franz!” rief sie. Eine Stimme antwortete ganz in der Nähe: “ Wo sind S’ denn, gnä’ Fräul’n, wo ist der gnä’ Herr? Es ist doch nix g’schehn! Warten zS’, Fräulein, — i zünd’ nur die Latern’ an, dass wir was sehn; i weiss net, was die Krampen heut hab’n. I bin net Schuld, meiner Seel’... in ein’ Schoderhaufen sein s’ hinein, die verflixten Rösser.” Emma hatte sich, trotzdem ihr alle Glieder weh taten, vollkommen aufgerichtet, und dass dem Kutscher nichts geschehen war, machte sie ein wenig ruhiger. Sie hörte, wie der Mann die Laternenklappe öffnete und Streichhölzchen anrieb. Angstvoll wartete sie auf das Licht. Sie wagte es nicht, Franz noch einmal zu berühren, der vor ihr auf dem Boden lag; sie dachte: wenn man nichts sieht, scheint alles furchtbarer; er hat gewiss die Augen offen... es wird nichts sein. Ein Lichtschimmer kam von der Seite. Sie sah plötzlich den Wagen, der aber zu ihrer Verwunderung nicht auf dem Boden lag, sondern nur schief gegen den Strassengraben zu gestellt war, als wäre ein Rad gebrochen. Die Pferde standen vollkommen still. Das Licht näherte sich; sie sah den Schein allmählich über einen Meilenstein, über den Schotterhaufen in den Graben gleiten; dann kroch er auf die Füsse Franzens, glitt über seinen Körper, beleuchtete sein Gesicht und blieb darauf ruhen. zDer Kutscher hatte die Laterne auf den Boden
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Sie] Und sie EA GW obwol] obwohl EA GW garnichts] gar nichts EA GW g’schehn!] g’schehn? EA GW I] Ich GW Seel’...] Seel’ . . . . EA offen...] offen . . . . GW
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gestellt; gerade neben den Kopf des Liegenden. Emma liess sich auf die Knie nieder, und es war ihr, als hörte ihr Herz zu schlagen auf, wie sie das Gesicht erblickte. Es war blass; die Augen halb offen, sodass sie nur das Weisse von ihnen sah. Von der rechten Schläfe rieselte langsam ein Streifen Blut über die Wange und verlor sich unter dem Kragen am Halse. In die Unterlippe waren die Zähne gebissen. “ Es ist ja nicht möglich!” sagte Emma vor sich hin. xAuch der Kutscher war niedergekniet und starrte das Gesicht an. Dann packte er mit beiden Händen den Kopf und hob ihn in die Höhe. “ Was machen Sie?” schrie Emma mit erstickter Stimme; und erschrak vor diesem Kopf, der sich selbständig aufzurichten schien. “ Gnä’ Fräul’n, mir scheint, da ist ein grosses Malheur geschehn.” “ Es ist nicht wahr,” sagte Emma. “ Es kann nicht sein. Ist denn Ihnen ’was geschehen? Und mir...” Der Kutscher liess den Kopf des Regungslosen wieder langsam sinken; — in den Schoss Emmas, die zitterte. “ Wenn nur wer käm’... wenn nur zdie Bauersleut’ eine Viertelstund’ später daher’kommen wären...” “ Was sollen wir denn machen?” sagte Emma mit bebenden Lippen. “ Ja, Fräul’n, wenn der Wag’n net ’brochen wär’... aber so wie er jetzt zug’richt ist... Wir müssen halt warten, bis wer kommt.” Er redete noch weiter, ohne dass Emma seine Worte auffasste; aber während dem war es ihr, als käme sie zur Besinnung, und sie wusste, was zu tun war. “ Wie weit ist’s bis zu den nächsten Häusern?” fragte sie. “ Das ist nimmer weit, Fräul’n, da ist ja gleich das Franz Josefsland... Wir müssten die Häuser sehen, wenn’s licht wär’, in fünf Minuten müsst’ man dort sein.” “ Gehen Sie hin. Ich bleibe da, holen Sie Leute.”
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sodass] so daß EA GW Stimme;] Stimme, EA GW geschehn] gescheh’n EA GW wahr,”] wahr“, GW ’was] was EA GW Fräul’n,] Fräul’n GW Wag’n] Wagen EA GW ’brochen] brochen GW so] so, EA GW müsst’] müßte EA GW
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“ Ja, Fräul’n, ich glaub’ schier, es ist g’scheiter, ich bleib’ mit Ihnen da — es kann ja nicht so lang dauern, bis wer kommt, es ist ja schliesslich die Reichsstrasse, und —” “ Da wird’s zu spät, da kann’s zu spät werden. Wir brauchen einen Doktor.” zDer Kutscher sah auf das Gesicht des Regungslosen, dann schaute er kopfschüttelnd Emma an. “ Das können Sie nicht wissen,” — rief Emma, “ und ich auch nicht.” “ Ja, Fräul’n... aber wo find’ i denn ein’ Doktor im Franz Josefsland?” “ So soll von dort jemand in die Stadt und —” “ Fräul’n, wissen’s was! Ich denk mir, die werden dort vielxleicht ein Telephon haben. Da könnten wir um die Rettungsgesellschaft telephoniren.” “ Ja, das ist das Beste! Gehen Sie nur, laufen Sie, um Himmelswillen! Und Leute bringen Sie mit... Und... und... bitt’ Sie, gehen Sie nur, was tun Sie denn noch da?” Der Kutscher schaute in das blasse Gesicht, das nun auf Emma’s Schoss ruhte. “ Rettungsgesellschaft, Doktor, wird nimmer viel nützen.” “ Gehen Sie! Um Gotteswillen! Gehen Sie!” “ Ich geh’ schon — dass S’ nur nicht Angst kriegen, Fräul’n, da in der Finstern.” Und er eilte rasch über die Strasse fort. “ I kann nix dafür, meiner Seel’, ” murmelte er vor sich hin. “ Ist auch eine Idee, mitten in der Nacht auf die Reichsstrassen...” zEmma war mit dem Regungslosen allein auf der dunklen Strasse. Was jetzt? dachte sie. Es ist doch nicht möglich... das ging ihr immer wieder durch den Kopf... es ist ja nicht möglich. — Es war ihr plötzlich, als hörte sie neben sich atmen. Sie beugte sich herab zu den blassen Lippen. Nein, von da kam kein Hauch. Das Blut an Schläfe und Wangen schien getrocknet zu sein. Sie starrte die Augen an; die gebrochenen Augen, und bebte zusammen. Ja warum glaube ich es denn nicht — es ist ja gewiss... das ist der Tod! Und es durchschauerte sie. Sie fühlte nur mehr: ein Toter. Ich und ein
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bleib’] bleib GW wissen,”] wissen“, GW Ich] I EA GW Und... und...] Und . . . EA GW Emma’s] Emmas EA GW Ich] I EA GW Seel’, ”] Seel“, EA GW Was jetzt?] „Was jetzt?“ EA GW
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Toter, der Tote auf meinem Schoss. Und mit zitternden Händen rückte sie den Kopf weg, so dass er wieder auf den Boden zu liegen kam. Und jetzt erst kam ein Gefühl entsetzlicher Verlassenheit über sie. Warum hatte sie den Kutscher weggeschickt? Was für ein Unsinn! Was soll sie denn da auf der Landstrasse mit dem toten Manne allein anfangen? Wenn Leute kommen... Ja was soll sie denn tun, wenn Leute kommen? wie lang wird sie hier warten müssen? Und sie sah wieder den Toten an. Ich bin nicht allein mit ihm, fiel ihr ein. Das Licht ist ja da. Und es kam ihr vor, als wäre dieses zLicht etwas Liebes und Freundliches, dem sie danken müsste. Es war mehr Leben in dieser kleinen Flamme als in der ganzen weiten Nacht um sie; ja es war ihr fast, als sei ihr dieses Licht ein Schutz gegen den blassen fürchterlichen Mann, der neben ihr auf dem Boden lag... Und sie sah in das Licht, xso lang, bis ihr die Augen flimmerten, bis es zu tanzen begann. Und plötzlich hatte sie das Gefühl, als wenn sie erwachte. Sie sprang auf. Das geht ja nicht, das ist ja unmöglich, man darf mich doch nicht hier mit ihm finden... Es war ihr, als sähe sie sich jetzt selbst auf der Strasse stehen, zu ihren Füssen den Toten und das Licht; und sie sah sich, als ragte sie in sonderbarer Grösse in die Dunkelheit hinein. Worauf wart’ ich, dachte sie, und ihre Gedanken jagten... worauf wart’ ich? Auf die Leute? — Was brauchen mich denn die? die Leute werden kommen und fragen... und ich... was tu’ ich denn hier? Alle werden fragen, wer ich bin. Was soll ich ihnen antworten? Nichts. Kein Wort werd’ ich reden, wenn sie kommen, schweigen werd’ ich. Kein Wort... sie können mich ja nicht zwingen. Stimmen kamen von weitem. zSchon? dachte sie. Sie lauschte angstvoll. Die Stimmen kamen von der Brücke her. Das konnten also nicht die Leute sein, die der Kutscher geholt hatte. Aber wer immer sie waren — jedenfalls werden sie das Licht bemerken —, und das durfte nicht sein, denn dann war sie entdeckt.
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Ja] Ja, EA GW wie] Wie EA GW Flamme] Flamme, GW ja] ja, EA GW Licht,] Licht EA GW auf.] auf! EA GW worauf] Worauf EA GW die? die] die? Die EA GW bemerken —,] bemerken — EA GW sein, denn] sein, GW
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Und sie stiess mit dem Fuss die Laterne um. Die verlöschte. Nun stand sie in tiefer Finsternis. Nichts sah sie. Auch ihn sah sie nicht mehr. Nur der weisse Schotterhaufen glänzte ein wenig. Die Stimmen kamen näher. Sie begann am ganzen Körper zu zittern. Nur hier nicht entdeckt werden. Um Himmelswillen, das ist ja das einzige Wichtige, nur auf das und auf gar nichts anderes kommt es an — sie ist ja verloren, wenn ein Mensch erfährt, dass sie die Geliebte von... Sie faltet die Hände krampfhaft. Sie betet, dass die Leute auf der anderen Seite der Strasse vorüber gehen mögen, ohne sie zu bemerken. Sie lauscht. Ja von drüben... Was reden sie doch?... es sind zwei Frauen oder drei. Sie haben den Wagen bemerkt, denn sie reden etwas davon, sie kann Worte unterscheiden. Ein Wagen... umgefallen... was sagen sie sonst? Sie kann es nicht verstehen, sie gehen weiter... sie sind vorüber... zGott sei Dank! Und jetzt, was jetzt? Oh, warum ist sie nicht tot, wie er? Er ist zu beneiden, für ihn ist alles vorüber... für ihn gibt es keine Gefahr mehr und keine Furcht. Sie aber zittert vor vielem. Sie fürchtet, dass man sie hier finden, dass man sie fragen xwird: wer sind Sie?... Dass sie mit auf die Polizei muss, dass alle Menschen es erfahren werden, dass ihr Mann — dass ihr Kind —. Und sie begreift nicht, dass sie so lange schon dagestanden ist, wie angewurzelt... Sie kann ja fort, sie nützt ja keinem hier, und sich selbst bringt sie ins Unglück. Und sie macht einen Schritt... Vorsichtig... sie muss durch den Strassengraben... hinüber... einen Schritt hinauf — oh er ist so seicht! — und noch zwei Schritte, bis sie in der Mitte der Strasse ist... und dann steht sie einen Augenblick still, sieht vor sich hin und kann den grauen Weg ins Dunkle hinein verfolgen. Dort — dort ist die Stadt. Sie kann nichts von ihr sehen... aber die Richtung ist ihr klar. Noch einmal wendet sie sich um. Es ist ja gar nicht so dunkel. Sie kann den Wagen ganz gut sehn; auch die Pferde... und wenn sie sich sehr anstrengt, merkt sie auch etwas wie die Umrisse eines menschlichen Körpers, der auf dem Boden liegt. Sie zreisst die Augen weit auf, es ist ihr, als hielte sie etwas hier zurück... und sie meint, er ist es,
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es] Es EA GW verstehen, sie] verstehen. Sie EA GW tot,] tot EA GW Kind —.] Kind — EA GW ist,] ist EA GW oh] oh, GW Pferde...] Pferde . . GW zurück... und sie meint, er] zurück . . . der Tote GW
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der sie hier behalten will, und sie fühlt seine Macht... Aber gewaltsam macht sie sich frei, und jetzt merkt sie: der Boden ist zu feucht; sie steht auf der glitschigen Strasse, und der nasse Staub hat sie nicht fortgelassen. Nun aber geht sie... geht rascher... läuft... und fort von da... zurück... in das Licht, in den Lärm, zu den Menschen! Die Strasse läuft sie entlang, hält das Kleid hoch, um nicht zu fallen. Der Wind ist ihr im Rücken, es ist, als wenn er sie vorwärts triebe. Sie weiss nicht mehr recht, wovor sie flieht. Es ist ihr, als ob sie vor dem bleichen Manne fliehen müsste, der dort, weit hinter ihr, neben dem Strassengraben liegt... dann fällt ihr ein, dass sie ja den Lebendigen entkommen will, die gleich dort sein und sie suchen werden. Was werden die denken? Wird man ihr nicht nach? Aber man kann sie nicht mehr einholen, sie ist ja gleich bei der Brücke, sie hat einen grossen Vorsprung, und dann ist die Gefahr vorbei. Man kann ja nicht ahnen, wer sie ist, keine Seele kann ahnen, wer die Frau war, die mit jenem Mann über die Reichsstrasse gefahren ist. Der Kutscher kennt sie nicht, zer wird sie auch nicht erkennen, wenn er sie später einmal sieht. Man wird sich auch nicht darum kümmern, wer sie war. Wen geht es an? — Es ist sehr klug, dass sie xnicht dort geblieben ist, es ist auch nicht gemein. Franz selbst hätte ihr Recht gegeben. Sie muss ja nach Haus, sie hat ein Kind, sie hat einen Mann, sie wäre ja verloren, wenn man sie dort bei ihrem toten Geliebten gefunden hätte. Da ist die Brücke, die Strasse scheint heller... ja, schon hört sie das Wasser rauschen wie früher; sie ist da, wo sie mit ihm Arm in Arm gegangen — wann — wann? vor wieviel Stunden? Es kann noch nicht lang sein. Nicht lang? Vielleicht doch! Vielleicht war sie lange bewusstlos, vielleicht ist es längst Mitternacht, vielleicht ist der Morgen schon nahe, und sie wird daheim schon vermisst. Nein, nein, das ist ja nicht möglich, sie fühlt, dass sie gar nicht bewusstlos war; sie erinnert sich jetzt genauer als im ersten Augenblick, wie sie aus dem Wagen gestürzt und gleich über alles im Klaren gewesen war. Sie läuft über die Brücke und hört ihre Schritte hallen. Sie sieht nicht nach rechts und links. Jetzt bemerkt sie, wie eine Gestalt ihr entgegenkommt. Sie mässigt ihre Schritte. Wer kann das
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sein, der ihr entgegenkommt? Es ist jemand in Uniform. Sie geht zganz langsam. Sie darf nicht auffallen. Sie glaubt zu merken, dass der Mann den Blick fest auf sie gerichtet hält. Wenn er sie fragt? Sie ist neben ihm, erkennt die Uniform; es ist ein Sicherheitswachmann; sie geht an ihm vorüber. Sie hört, dass er hinter ihr stehen geblieben ist. Mit Mühe hält sie sich davon zurück, wieder zu laufen; es wäre verdächtig. Sie geht noch immer so langsam wie früher. Sie hört Schritte hinter sich. Aber die Schritte entfernen sich von ihr. Sie verhallen ganz. Sie atmet auf; die Brücke ist passirt; sie hört das Geklingel der Pferdeeisenbahn. Es kann noch lang nicht Mitternacht sein. Jetzt geht sie wieder schneller; sie eilt der Stadt entgegen, deren Lichter sie schon unter dem Eisenbahnviadukt am Ausgang der Strasse entgegenschimmern sieht, deren gedämpften Lärm sie schon zu vernehmen glaubt. Noch diese einsame Strasse, und dann ist die Erlösung da. Jetzt hört sie von weitem schrille Pfiffe, immer schriller, immer näher; ein Wagen saust an ihr vorüber. Unwillkürlich bleibt sie stehen und sieht ihm nach. Es ist der Wagen der Rettungsgesellschaft. Sie weiss, wohin er fährt. Wie schnell! denkt sie... Es ist wie Zauberei. Einen Moment lang ist ihr, als müsste sie den Leuten nachrufen, als müsste sie mit, als müsste xsie wieder dahin zurück, woher sie gekommen — zeinen Moment lang packt sie eine ungeheure Scham, wie sie sie nie empfunden; und sie weiss, dass sie feig und schlecht gewesen ist. Aber wie sie das Rollen und Pfeifen immer ferner verklingen hört, kommt eine wilde Freude über sie, und wie eine Gerettete eilt sie vorwärts. Leute kommen ihr entgegen; sie hat keine Angst mehr vor ihnen — das Schwerste ist überstanden. Der Lärm der Stadt wird deutlich, immer lichter wird es vor ihr; schon sieht sie die Häuserzeile der Praterstrasse, und es ist ihr, als werde sie dort von einer Flut von Menschen erwartet, in der sie spurlos verschwinden darf. Wie sie jetzt zu einer Strassenlaterne kommt, hat sie schon die Ruhe, auf ihre Uhr zu sehen. Es ist zehn Minuten vor Neun. Sie hält die Uhr ans Ohr — sie ist nicht stehen geblieben. Und sie denkt: ich bin lebendig, gesund... sogar meine Uhr geht... und er... er... tot... Schicksal... Es ist ihr, als wäre ihr alles verziehen... als wäre nie irgend eine Schuld auf ihrer Seite gewesen. Es hat sich erwiesen, ja es hat sich erwiesen. Sie hört, wie sie diese Worte laut spricht. Und wenn es das Schicksal anders bestimmt hätte? — Und wenn sie jetzt
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dort im Graben läge und er am Leben geblieben zwäre? Er wäre nicht geflohen, nein... er nicht. Nun ja, er ist ein Mann. Sie ist ein Weib — und sie hat ein Kind und einen Gatten. — Sie hat Recht gehabt, — es ist ihre Pflicht — ja ihre Pflicht. Sie weiss ganz gut, dass sie nicht aus Pflichtgefühl so gehandelt... Aber sie hat doch das Rechte getan. Unwillkürlich... wie... gute Menschen immer. Jetzt wäre sie schon entdeckt. Jetzt würden die Aerzte sie fragen. Und Ihr Mann, gnädige Frau? Oh Gott!... Und die Zeitungen morgen — und die Familie — sie wäre für alle Zeit vernichtet gewesen und hätte ihn doch nicht zum Leben erwecken können. Ja, das war die Hauptsache; für nichts hätte sie sich zu Grunde gerichtet. — Sie ist unter der Eisenbahnbrücke. — Weiter... weiter... Hier ist die Tegethoffsäule, wo die vielen Strassen ineinander laufen. Es sind heute, an dem regnerischen, windigen Herbstabend wenig Leute mehr im Freien, aber ihr ist es, als brause das Leben der Stadt mächtig um sie; denn woher sie kommt, dort war die fürchterlichste Stille. Sie hat Zeit. Sie weiss, dass ihr Mann heute erst gegen Zehn nach Hause kommen wird — sie xkann sich sogar noch umkleiden. Jetzt fällt es ihr ein, ihr Kleid zu zbetrachten. Mit Schrecken merkt sie, dass es über und über beschmutzt ist. Was wird sie dem Stubenmädchen sagen? Es fährt ihr durch den Kopf, dass morgen die Geschichte von dem Unglücksfall in allen Zeitungen zu lesen sein wird. Auch von einer Frau, die mit im Wagen war, und die dann nicht mehr zu finden war, wird überall zu lesen stehen, und bei diesem Gedanken bebt sie von neuem — eine Unvorsichtigkeit, und alle ihre Feigheit war umsonst. Aber sie hat den Wohnungschlüssel bei sich; sie kann ja selbst aufsperren; — sie wird sich nicht hören lassen. Sie steigt rasch in einen Fiaker. Schon will sie ihm ihre Adresse angeben, da fällt ihr ein, dass das vielleicht unklug wäre, und sie ruft ihm irgend einen Strassennamen zu, der ihr eben einfällt. Wie sie durch die Praterstrasse fährt, möchte sie gern irgend was empfinden, aber sie kann es nicht; sie fühlt, dass sie nur einen Wunsch hat: zu Hause, in Sicherheit sein. Alles andere ist ihr gleich-
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Unwillkürlich...] Unwillkürlich . . . . EA wie...] wie . . . . EA Oh] O GW weiter...] weiter . . GW Zehn] zehn EA GW eine] e i n e EA GW was] etwas GW fühlt] fühlte EA gleichgiltig] gleichgültig GW
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ED 207 EA 163
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giltig. Im Augenblick, da sie sich entschlossen hat, den Toten allein auf der Strasse liegen zu lassen, hat alles in ihr verstummen müssen, was um ihn klagen und jammern wollte. Sie kann jetzt nichts mehr empfinden als Sorge um sich. Sie ist ja nicht herzlos... oh nein!... zsie weiss ganz gewiss, es werden Tage kommen, wo sie verzweifeln wird; vielleicht wird sie daran zu Grunde gehen; aber jetzt ist nichts in ihr als die Sehnsucht, mit trockenen Augen und ruhig zu Hause am selben Tisch mit ihrem Gatten und ihrem Kinde zu sitzen. Sie sieht durchs Fenster hinaus. Der Wagen fährt durch die innere Stadt; hier ist es hell erleuchtet, und ziemlich viele Menschen eilen vorbei. Da ist ihr plötzlich, als könne alles, was sie in den letzten Stunden durchlebt, gar nicht wahr sein. Wie ein böser Traum erscheint es ihr... unfassbar als Wirkliches, Unabänderliches. In einer Seitengasse des Ringes lässt sie den Wagen halten, steigt aus, biegt rasch um die Ecke und nimmt dort einen andern Wagen, dem sie ihre richtige Adresse angibt. Es kommt ihr vor, als wäre sie jetzt überhaupt nicht mehr fähig, einen Gedanken zu fassen. Wo ist er jetzt, fährt es ihr durch den Sinn. Sie schliesst die Augen, und sie sieht ihn vor sich auf einer Bahre liegen, im Krankenwagen — und plötzlich ist ihr, als sitze sie neben ihm und führe mit xihm. Und der Wagen beginnt zu schwanken, und sie hat Angst, dass sie herausgeschleudert werde, wie damals — und sie schreit leise auf. Da hält der Wagen. Sie fährt zuzsammen; sie ist vor ihrem Hausthor. — Rasch steigt sie aus, eilt durch den Flur; mit leisen Schritten, sodass der Portier hinter seinem Fenster gar nicht aufschaut, die Treppen hinauf, sperrt leise die Tür auf, um nicht gehört zu werden... durchs Vorzimmer in ihr Zimmer — es ist gelungen! Sie macht Licht, wirft eilig ihre Kleider ab und verbirgt sie wol im Schrank. Ueber Nacht sollen sie trocknen — morgen will sie sie selber bürsten und reinigen. Dann wäscht sie sich Gesicht und Hände und nimmt einen Schlafrock um.
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oh] o GW ihr] ihr, GW des Ringes] des Ring EA nach dem Ring GW er ] er EA GW führe] fahre EA GW schreit leise] schreit EA GW Hausthor] Haustor GW Flur;] Flur, EA GW sodass] so daß EA GW Tür] Thür EA wol] wohl EA GW
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Jetzt klingelt es draussen. Sie hört das Stubenmädchen an die Wohnzimmer-Tür kommen und öffnen. Sie hört die Stimme ihres Mannes; sie hört, wie er den Stock hinstellt. Sie fühlt, dass sie jetzt stark sein müsse, sonst kann noch immer alles vergeblich gewesen sein. Sie eilt in’s Speisezimmer, so dass sie im selben Augenblick hineintritt wie ihr Gatte. “ Ah, du bist schon zu Haus?” sagt er. “ Gewiss,” antwortet sie; “ schon lang.” “ Man hat dich offenbar nicht kommen gesehn.” Sie lächelt, ohne sich dazu zwingen zu müssen. Es macht sie nur sehr müde, dass sie auch lächeln muss. Er küsst sie auf die Stirn. Der Kleine sitzt schon bei Tisch; er hat lang zwarten müssen; ist eingeschlafen. Auf dem Teller hat er sein Buch liegen; auf dem offenen Buch ruht sein Gesicht. Sie setzt sich neben ihn, der Gatte ihr gegenüber, nimmt eine Zeitung und wirft einen flüchtigen Blick hinein. Dann legt er sie weg und sagt: “ Die anderen sitzen noch zusammen und beraten weiter.” “ Worüber?” fragt sie. Und er beginnt zu erzählen, von der heutigen Sitzung, sehr lang, sehr viel. Emma tut, als höre sie zu, nickt zuweilen. Aber sie hört nichts, sie weiss nicht, was er spricht, es ist ihr zu Mute, wie einem, der furchtbaren Gefahren auf wunderbare Weise entronnen... sie fühlt nichts als: Ich bin gerettet, ich bin daheim. Und während ihr Mann immer weiter erzählt, rückt sie ihren Sessel näher zu ihrem Jungen, nimmt seinen Kopf und drückt ihn an ihre Brust. Eine unsägliche Müdigkeit überkommt sie — sie kann sich nicht beherrschen, sie fühlt, xdass der Schlummer über sie kommt; sie schliesst die Augen. Plötzlich fährt ihr eine Möglichkeit durch den Sinn, an die sie seit dem Augenblick, da sie sich aus dem Graben erhoben hat, nicht mehr gedacht. Wenn er nicht tot wäre! Wenn er... Ah nein, zes war kein Zweifel möglich... Diese Augen... dieser Mund — und dann... kein Hauch von seinen Lippen. — Aber es gibt ja den Scheintod. Es gibt Fälle, wo sich geübte
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Wohnzimmer-Tür] Wohnungsthür EA Wohnungstür GW in’s] ins EA GW hineintritt] eintritt GW Gatte.] Gatte. / Absatz eingefügt EA GW sagt] sagte GW sie;] sie, EA GW müssen;] müssen, EA GW liegen;] liegen, EA GW nicht ] nicht EA GW Ah] Ach GW
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Blicke irren. Und sie hat gewiss keinen geübten Blick. Wenn er lebt, wenn er schon wieder zu Bewusstsein gekommen ist, wenn er sich plötzlich mitten in der Nacht auf der Landstrasse allein gefunden... wenn er nach ihr ruft... ihren Namen... wenn er am Ende meint, sie sei verletzt... wenn er den Aerzten sagt, hier war eine Frau, sie muss weiter weggeschleudert worden sein. Und... und... ja was dann? Man wird sie suchen. Der Kutscher wird zurückkommen vom Franz Josefsland mit Leuten... er wird erzählen... die Frau war ja da, wie ich fortgegangen bin — und Franz wird ahnen. Franz wird wissen... er kennt sie ja so gut... er wird wissen, dass sie davongelaufen ist, und ein grässlicher Zorn wird ihn erfassen, und er wird ihren Namen nennen, um sich zu rächen. Denn er ist ja verloren... und es wird ihn so tief erschüttern, dass sie ihn in seiner letzten Stunde allein gelassen, dass er rücksichtslos sagen wird: Es war Frau Emma, meine Geliebte... feig und dumm zugleich, denn nicht wahr, meine Herren Aerzte, Sie hätten sie zgewiss nicht um ihren Namen gefragt, wenn man Sie um Discretion ersucht hätte. Sie hätten sie ruhig gehen lassen, und ich auch, oh ja — nur hätte sie dableiben müssen, bis Sie gekommen sind. Aber da sie so schlecht gewesen ist, sag’ ich Ihnen, wer sie ist... es ist... Ah! “ Was hast du?” sagt der Professor sehr ernst, indem er aufsteht. “ Was... wie?... Was ist?” “ Ja, was ist dir denn?” “ Nichts.” Sie drückt den Jungen fester an sich. Der Professor sieht sie lang an. “ Weisst du, dass du begonnen hast einzuschlummern und —” “ Und?” “ Dann hast du plötzlich aufgeschrieen.” x“ ...So?” “ Wie man im Traum schreit, wenn man Albdrücken hat. Hast du geträumt?”
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meint] fürchtet GW sie] sie EA GW ja] ja, EA GW er ] er EA GW Discretion] Diskretion EA GW oh] o GW drückt] drückte GW hast] hast, EA GW aufgeschrieen] aufgeschrien GW ...So] . . . So EA GW Albdrücken] Alpdrücken EA GW1922 GS
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“ Ich weiss nicht. Ich weiss gar nichts.” Und sich selbst gegenüber im Wandspiegel sieht sie ein Gesicht, das lächelt, grausam, und mit verzerrten Zügen. Sie weiss, dass es ihr eigenes ist und doch schauert sie davor... Und sie merkt, dass es starr wird, sie kann den Mund nicht bewegen, sie weiss es: dieses Lächeln wird, solange zsie lebt, um ihre Lippen spielen. Und sie versucht zu schreien. Da fühlt sie, wie sich zwei Hände auf ihre Schultern legen, und sie sieht, wie sich zwischen ihr eignes Gesicht und das im Spiegel das Antlitz ihres Gatten drängt; seine Augen, fragend und drohend, senken sich in die ihren. Sie weiss: übersteht sie diese letzte Prüfung nicht, so ist alles verloren. Und sie fühlt, wie sie wieder stark wird, sie hat ihre Züge, ihre Glieder in der Gewalt; sie kann in diesem Augenblick mit ihnen anfangen, was sie will; aber sie muss ihn benützen, sonst ist es vorbei. Und sie greift mit ihren beiden Händen nach denen ihres Gatten, die noch auf ihren Schultern liegen, zieht ihn zu sich; sieht ihn heiter und zärtlich an. Und während sie die Lippen ihres Mannes auf ihrer Stirne fühlt, denkt sie: freilich... ein böser Traum. Er wird es niemandem sagen, wird sich nicht rächen, nie... er ist tot... er ist ganz gewiss tot... und die Toten schweigen. “ Warum sagst du das?” hört sie plötzlich die Stimme ihres Mannes. Sie erschrickt tief. “ Was hab’ ich denn gesagt?” Und es ist ihr, als habe sie plötzlich alles ganz laut erzählt... als habe sie die ganze Geschichte dieses Abends hier bei Tisch ihrem Gatten mitgeteilt... und noch einmal fragt sie, während zsie vor seinem entsetzten Blick zusammenbricht: “ Was hab’ ich denn gesagt?” “ Die Toten schweigen,” wiederholt ihr Mann sehr langsam. “ Ja...” sagt sie, “ ja...” Und in seinen Augen liest sie, dass sie ihm nichts mehr verbergen kann, und lange sehn die beiden einander an. “ Bring’
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ist] ist, EA GW schauert sie] schaudert ihr GW solange] so lange EA GW eignes] eigenes EA GW vorbei. Und] vorbei, und GW Stirne] Stirn GW nicht] nie EA GW hört] hörte EA GW Tisch ihrem Gatten] Tisch EA GW schweigen,”] schweigen“, GW sehn] seh’n EA GW
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den Buben zu Bett,” sagt er dann zu ihr; “ ich glaube, du hast mir noch etwas zu erzählen...” “ Ja,” sagt sie. xUnd sie weiss, dass sie diesem Manne, den sie durch Jahre betrogen hat, im nächsten Augenblick die ganze Wahrheit sagen wird. Und, während sie mit ihrem Jungen langsam durch die Tür schreitet, immer die Augen ihres Gatten auf sich gerichtet fühlend, kommt eine grosse Ruhe über sie, als würde vieles wieder gut. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arthur Schnitzler.
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sagt] sagte EA GW Ja,”] Ja“, GW sagt] sagte EA GW Und,] Und EA GW Tür] Thür EA gut. . . . . . . . . . . . . . . . . . .] Zeile mit Punkten ausgeschlossen EA GW gut. . . GW1922 GS Arthur Schnitzler.] Zeile mit Punkten EA fehlt GW
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2.1 Herausgebereingriffe Die Vorlage für den edierten Text D ist der Zeitschriftendruck ED, dessen typographische und orthographische Eigenheiten bewahrt werden (vgl. Vorbemerkung, S. 8). Eingegriffen wurde bei offenkundigen Druck- und Satzfehlern. Auslassungspunkte wurden in ED, den Gepflogenheiten im Englischen entsprechend, zu drei eng gesetzten Punkten ohne vorangehendes Leerzeichen vereinheitlicht; fünf Abweichungen davon wurden berichtigt. Nicht emendiert wurden die beiden inhaltlichen Fehler (D 129f., D 589; vgl. Vorbemerkung, S. 6) und die Schreibung von „Tegetthoff“ (D 78, D 531) mit einfachem „t“ . In folgenden Fällen wurde gegenüber der Textgestalt von ED eingegriffen:
173 178 210 225 234 259 346 353 633 676f. 694
ich.”...] ich.” . . . leise... ] leise. . . . letzte Mal... ] letzte Mal. . . “ Da] ‘Da Herr...] Herr. . . . gelang] gelangte bitt’ Sie] bitt’ sie Seel’, ”] Seel’” wissen...] wissen.. niemandem] niemanden Wahrheit] Warheit
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3. Kommentar Die Positionsangaben beziehen sich auf die Zeilennummerierung des Drucktextes D (S. 245–264).
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Laternenlichter: Bis 1898 waren für die Straßenbeleuchtung Wiens Gaslampen im Gebrauch, deren Lichtstärke gerade einmal 0,044 Lux betrug. 6
Trottoirs: Trottoir: (frz.) Geh-, Bürgersteig. 10
Praterstrasse: Verbindungsstraße von der Innenstadt durch den 2. Wiener Gemeindebezirk zum Prater. Im Haus Praterstraße 16 (damals: Jägerzeile) wurde Schnitzler geboren. ungarische Kleinstadt: Die ab 1867 gegebene Niederlassungsfreiheit begünstigte die Binnenmigration in der k. u. k. Monarchie. Im 2. Wiener Gemeindebezirk mit traditionell starkem jüdischen Anteil an der Wohnbevölkerung siedelten sich viele Zuwanderer aus ärmeren Gegenden der östlichen Reichshälfte an. 14
völlige Nacht: Vor der Einführung der Sommerzeit (1916) trat in Wien um 19 Uhr völlige Dunkelheit etwa Mitte Oktober ein. 24
Professorenkollegiums: Zur Entstehungszeit des Textes war das Professorenkollegium das leitende Gremium einer Fakultät. 25
Pferdebahn: auch „Pferdeeisenbahn“ und „-tramway“: schienengebundene, von Pferden gezogene Straßenbahn. Die erste Wiener Pferdebahn wurde 1865 eröffnet, die Elektrifizierung der Strecken erfolgte zwischen 1897 und 1902. 26
Nepomukkirche: Johann-Nepomuk-Kirche: 1841–1846 nach Plänen von Carl Rösner (1804–1869) im Stil des Frühhistorismus auf der Jägerzeile (Praterstraße Ñ 10) erbaut.
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Ladenmädel: Verkäuferinnen oder Lehrmädchen. 39
Karltheater: Carltheater: nach dem Direktor Carl Carl (eigtl. Carl Ferdinand Bernbrunn, 1789–1854) benanntes, nach Plänen von Eduard van der Nüll (1812–1868) und August Sicard von Sicardsburg (1813–1868) in der Jägerzeile (Praterstraße Ñ 10) errichtetes und 1847 eröffnetes Theater. 68
Prater: weitläufiges Augebiet an der Donau im 2. Wiener Gemeindebezirk; beliebtes Freizeitareal der Gesellschaft des Fin de Siècle. Lusthaus: bei Adel und Bürgertum beliebtes Restaurant am Ende der Hauptallee des Praters (Ñ 79). 78
Tegethoff-Monument: Tegetthoff-Monument: im Jahr 1886 errichtetes, 20 Meter hohes Denkmal für Admiral Wilhelm von Tegetthoff (1827–1871). Carl Kundmann (1838–1919) schuf damit einen Blickfang für den Verkehrsknotenpunkt Praterstern (vgl. Kommentar zu S 1,2). Dort kreuzen sich Praterstraße (Ñ 10), Hauptallee (Praterallee Ñ 79) und Reichsstraße (Ñ 106). 79
Praterallee: Hauptallee: zur Entstehungszeit noch 4,8 Kilometer lange gerade Kastanienallee vom Praterstern zum Lusthaus (Ñ 68). 104
Reichsbrücke: Die 1876 eröffnete, nordöstlich des Pratersterns gelegene „Kronprinz Rudolfsbrücke“ führte über die Donau und ein neu geschaffenes Überschwemmungsgebiet, war 1020 Meter lang und verfügte über 1,90 Meter breite Gehwege auf beiden Seiten der Fahrbahn. Der schon beim Bau verwendete Name „Reichsbrücke“ war durchwegs geläufig und wurde 1919 offiziell. 106
Reichsstrassen: Bezeichnung für die großen Verkehrsstraßen der Monarchie. Hier gemeint ist die Kronprinz-Rudolf-Straße (heute: Lassallestraße), die in Verlängerung der Praterstraße (Ñ 10) den Praterstern (s. Kommentar zu S 1,2) mit der einen Kilometer entfernten Reichsbrücke (Ñ 104) verband. Jenseits der Donau wurde sie zur „Kagraner Reichsstraße“ (heute: Wagramer Straße). Links vom Praterstern lagen die Gleise und Bahnsteige des Nordbahnhofs, rechts befanden sich neu gebaute Zinshäuser. Die Kronprinz-Rudolf-Straße wurde von der Straßenbahn (Ñ 25) durchfahren, deren Endstation bis 1898 in einer Seitenstraße vor der Brücke lag. Die Schienen gehörten zu der am 27. 1. 1897 – und damit zur Entstehungszeit des Textes – eröffneten ersten elektrifizierten Strecke Wiens.
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Eisenbahnbrücke: Von dem nördlich des Pratersterns gelegenen Nordbahnhof verliefen Schienen auf einem Viadukt (vgl. D 488f.) über die Anfänge der Reichsstraße (Ñ 106) und der Hauptallee (Ñ 79). 123
zur grossen Donau: das Hauptbett der Donau; „kleine Donau“ wurde ein Seitenarm genannt. 127
wieder auf Pflaster: Die Hauptallee (Ñ 79) war wegen der Benutzung für Freizeitfahrten und -ritte nicht gepflastert; erst ab 1910 wurde mit dem Teeren begonnen. 145
steigen wir hier aus: Auf Brücken war Fiakerkutschern (Ñ 204) das Ein- und Aussteigenlassen verboten. 158
rote Lichter: Rote Laternen markierten an Brücken die Durchfahrtsöffnungen für Schiffe. 162
Auen: Bis 1885 war die Donau im Stadtgebiet über weite Strecken reguliert worden, was auch zum Neubau mehrerer Brücken (Ñ H 29,4; Ñ 104; vgl. Kommentar zu Ñ 165f.) geführt hatte. Damit wurden die von der Reichsbrücke aus flussabwärts gelegenen Aulandschaften vor allem auf dem rechten Donauufer zurückgedrängt. 165f.
Bahnzüge [...] eisernen Bogen: Die 1874 eröffnete Nordbahnbrücke befindet sich flussaufwärts in zwei Kilometer Entfernung von der Reichsbrücke (Ñ 104). Ihre Seiten werden von jeweils fünf bis zu zwölf Meter hohen Bögen aus Stahl gebildet. 198
Landwagens: Als Landwagen bezeichnete man ein von Pferden gezogenes Gefährt mit offener Ladefläche. 204
Fiakers: Ein Fiaker ist eine zweispännige Lohnkutsche, die für bestimmte Strecken, aber auch auf Zeit gemietet werden kann. 225
Prag: Die Reichsstraße (Ñ 106) ist – entgegen der Andeutung dieser Textpassage – nicht auf das 250 Kilometer entfernte Prag ausgerichtet; die üblichen Verkehrswege in die böhmische Hauptstadt verliefen westlicher. Jedoch konnte man über die Reichsstraße nach Lundenburg (heute: Břeclav, Tschechische Republik) gelangen, von wo aus eine Verbindung nach Prag bestand. 269
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hatte umgeworfen: veraltete Bildung des intransitiven Vorgangspassivs mit „haben“. 276
Krampen: (öst.) (alters)schwaches Pferd. 277
Schoderhaufen: (mundartl.) Schotterhaufen. 325f.
Franz Josefsland: Beliebtes Ausflugsziel rund um das Gasthaus „Zum Franz-JosefLand“, etwa ein Kilometer nordöstlich der Reichsbrücke (Ñ 104) gelegen, an einem an die Kagraner Reichsstraße (s. Kommentar zu Ñ 106) reichenden Donauseitenarm. 342
Telephon: Der Ausbau des Wiener Telefonnetzes betraf zur Entstehungszeit des Textes die inneren Wohnbezirke; das Gasthaus (Ñ 325f.) selbst wurde erst 1904 angeschlossen. 342f.
Rettungsgesellschaft: Die private Wiener Freiwillige Rettungsgesellschaft wurde 1881 gegründet. Ihr Stützpunkt lag zunächst am Stubenring 1 (1. Wiener Gemeindebezirk), ab dem 18. 6. 1897 – und damit zur Entstehungszeit des Textes – in der Radetzkystraße 1 (3. Wiener Gemeindebezirk). 352
Finstern: (mundartl.) Finsternis. 480
Sicherheitswachmann: Die Sicherheitswache diente in Wien zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung; sie war 1869 im Unterschied zur „Militär-Polizei-Wache“ als Zivileinrichtung eingeführt worden. Erkennungszeichen waren ein grüner Waffenrock und ein schwarz lackierter Blechhelm. 486
Pferdeeisenbahn: Ñ 25. 486f.
noch lang nicht Mitternacht: Gegen 23 Uhr endete die Betriebszeit der Straßenbahnen. 488f.
Eisenbahnviadukt: Ñ 121.
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Rollen und Pfeifen: Die Sanitätsambulanzwagen waren nach Einbruch der Dunkelheit an roten Laternen erkennbar. Sie besaßen zu dieser Zeit bereits Vollgummi- oder Pneumatikräder. Das beschriebene Rollgeräusch dürfte von der in der Signalpfeife eingebrachten Kugel herrühren (vgl. den Bericht über einen Rettungseinsatz in der Arbeiter-Zeitung vom 25. 12. 1896, S. 5: „Das dumpf-rollende Pfeifsignal ertönt fast unausgesetzt“). 564
innere Stadt: 1. Wiener Gemeindebezirk, Zentrum Wiens. 568
Ringes: Ringstraße: Nach der 1857 von Kaiser Franz Josef I. angeordneten Schleifung der Befestigungsmauern und Basteien um das Wiener Stadtzentrum errichtete Prachtstraße.
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Anhang
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4. Anhang
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4.2 Siglenverzeichnis Ausgaben EA ED GS GW
GW1922
Die Toten schweigen. In: Arthur Schnitzler: Die Frau des Weisen. Novelletten. Berlin: S. Fischer 1898, S. 135–170. Die Toten schweigen. In: Cosmopolis. Internationale Revue, Jg. 2, Bd. 8, No. 22 (Oktober 1897), S. 193–211. Die Toten schweigen. In: Arthur Schnitzler: Gesammelte Schriften. Sterben und andere Novellen. Berlin: S. Fischer 1928, S. 197–219. Die Toten schweigen. In: Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke in zwei Abteilungen. [7 Bde.] Berlin: S. Fischer 1912. Erste Abteilung: Erzählende Schriften. 3 Bde. Bd. 1, S. 197–219. Die Toten schweigen. In: Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke in zwei Abteilungen. [9 Bde.] Berlin: S. Fischer 1922. Erste Abteilung: Erzählende Schriften. 4 Bde. Bd. 1, S. 197–219.
Edierte Texte D Db E H S U
Drucktext (Grundlage: ED) Deckblatt (CUL, A 148) Entwurfsskizze (CUL, A 148,1) Texthandschrift (CUL, A 148,3) Skizze (CUL, A 148,2) Umschlag (CUL, A 148)
Zitierte Literatur AB Br I Br II
EV
Arthur Schnitzler: Aphorismen und Betrachtungen. Hrsg. v. Robert O. Weiss. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1967 (Gesammelte Werke). Arthur Schnitzler: Briefe 1875–1912. Hrsg. v. Therese Nickl u. Heinrich Schnitzler. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1981. Arthur Schnitzler: Briefe 1913–1931. Hrsg. v. Peter Michael Braunwarth, Richard Miklin, Susanne Pertlik und Heinrich Schnitzler. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1984. Arthur Schnitzler: Entworfenes und Verworfenes. Aus dem Nachlaß. Hrsg. v. Reinhard Urbach. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1977 (Gesammelte Werke).
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Anhang
FW-HKA
GB-Bw LG-HKA OB-Bw St-HKA
Tb I
Tb II
Tb III
Siglenverzeichnis
Arthur Schnitzler: Die Frau des Weisen. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. Konstanze Fliedl u. Evelyne Polt-Heinzl. Unter Mitarbeit v. Anna Lindner, Martin Anton Müller und Isabella Schwentner. Berlin, Boston: De Gruyter 2016 (Werke in historisch-kritischen Ausgaben). Georg Brandes und Arthur Schnitzler. Ein Briefwechsel. Hrsg. v. Kurt Bergel. Bern: Francke 1956. Arthur Schnitzler: Lieutenant Gustl. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. Konstanze Fliedl. Berlin, New York: De Gruyter 2011. Der Briefwechsel Arthur Schnitzler – Otto Brahm. Hrsg. v. Oskar Seidlin. Tübingen: Niemeyer 1975 (Deutsche Texte 35). Arthur Schnitzler: Sterben. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. Gerhard Hubmann. Berlin, Boston: De Gruyter 2012 (Werke in historischkritischen Ausgaben). Arthur Schnitzler: Tagebuch 1879–1892. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik u. Reinhard Urbach hrsg. v. der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Obmann: Werner Welzig. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1987. Arthur Schnitzler: Tagebuch 1893–1902. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Konstanze Fliedl, Susanne Pertlik u. Reinhard Urbach hrsg. v. der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Obmann: Werner Welzig. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1989. Arthur Schnitzler: Tagebuch 1903–1908. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik u. Reinhard Urbach hrsg. v. der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Obmann: Werner Welzig. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1991.
Institutionen ASA CUL DLA TMW
Arthur-Schnitzler-Archiv, Freiburg i. Br. Cambridge University Library Deutsches Literaturarchiv, Marbach a. N. Theatermuseum, Wien
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