150 59 5MB
German Pages 208 [214] Year 1997
Thomas Baier
Werk und Wirkung Varros im Spiegel seiner Zeitgenossen Von Cicero bis Ovid
HERMES Einzelschriften 73
Franz Steiner Verlag Stuttgart
THOMAS BAIER
WERK UNDWIRKUNG VARROS IM SPIEGEL SEINER ZEITGENOSSEN
HERMES ZEITSCHRIFT FÜR KLASSISCHE PHILOLOGIE
EINZELSCHRIFTEN HERAUSGEGEBEN VON
JÜRGEN BLÄNSDORF JOCHEN BLEICKEN WOLFGANG KULLMANN
HEFT 73
FRANZ STEINER VERLAG STUTTGART
1997
THOMAS BAIER
VARROS SEINER
WIRKUNG
UND
WERK
IM
SPIEGEL
ZEITGENOSSEN
VON CICERO BIS OVID
FRANZ STEINER VERLAG STUTTGART
1997
HERMES-EINZELSCHRIFTEN (ISSN 0341– 0064)
Redaktion: Prof. Dr.
Römerberg 1c, D-55270 Essenheim (verantwortlich fürLatinistik) Prof. Dr.JOCHEN BLEICKEN, Humboldtallee 21, D-37073 Göttingen (verantwortlich fürAlte Geschichte) Prof. Dr.WOLFGANG KULLMANN, Bayernstr. 6, D-79100 Freiburg (verantwortlich fürGräzistik) JÜRGEN BLÄNSDORF, Am
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CIP-Einheitsaufnahme DieDeutsche Bibliothek – [Hermes / Einzelschriften] Hermes: Zeitschrift fürklassische Philologie. Einzelschriften.
–Stuttgart: Steiner.
Nebent.: Hermes-Einzelschriften Früher Schriftenreihe. – Reihe Einzelschriften zu:Hermes NE: Hermes-Einzelschriften H.73. Baier, Thomas: WerkundWirkung Varros imSpiegel seiner Zeitgenossen vonCicero bis Ovid. –1997
Baier, Thomas: WerkundWirkung Varros imSpiegel seiner Zeitgenossen von Cicero bis Ovid/ Thomas Baier. –Stuttgart: Steiner, 1997 (Hermes;
H.73)
Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1995 2 07022– 515– ISBN 3–
ISO 9706
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Printed
in Germany
INHALT
9
Vorwort
I.
Einleitung
11
II.
Varro undCicero
15
1. Gespannte Freundschaft η λ ο ι ρ ίο ά λ λ a) Β ιπ α b) Zwischen ‘libera respublica’undTriumvirat c) Wissenschaftliche Kontakte
15
15
18 23
2.
Verhältnis zudenGriechen a) Varro alsVermittler derAltertümer b) Cicero alsVermittler derPhilosophie
28 28 29
3.
Verhältnis zurPhilosophie a) ‘uti’ –frui’ ‘ der virtus’ b) Die Stellung ‘ c) Schulzugehörigkeit d) Philosophie als Trost e) Äußere Zwänge
31
4.
38 40
42 42 42 46 56 57 61 61 65
Wirkung undNachwirkung a) Varro b) Cicero
65
6. Rückblick
III.
35 37
Verhältnis zurReligion a) Varros Gottesbegriff ) ‘expedit esse deos’ α β ) DasWesen derGötter γ ) ‘Natura dux’ ) Vorbilder undZeitbezüge δ b) Ciceros Gottesbegriff
) Kult α β ) DasWesen derGötter
5.
31
Varro undLivius
1. Varro unddasSatirenkapitel Livius 7, 2 a) Die römische satura
65 68 70
71 71 71
6
Inhalt
b)
Literarhistorische Zeugnisse
ausderAntike
73
2.
Rekonstruktion desvarronischen Befundes a) Varros satura-Definition b) Varronisches bei Augustinus c) Varros Schrift Descaenicis originibus d) Varronisches bei Tertullian
76 76 80 82 88
3.
Interpretation
vonLivius 7, 2
92
4. DerParallelbericht beiValerius Maximus 2, 4, 4
97
5. Rückblick
IV.
Varro
100
103
undHoraz
1. Varro unddieAugustus-Epistel
103
2.
104
Rekonstruktion desvarronischen Befundes a) Varros Schrift Depoematis b) Varronisches beiEuanthius c) Varronisches bei Donat
104 106 110
3. Interpretation von Hor. epist. 2, 1, 139ff. undA.P. 202ff. a) Theatergeschichte b) Chronologie
113 113 116
4.
120
Carmen
3, 18
5. Eine ähnliche
Darstellung bei Tibull
60) (2, 1, 51–
122
6. DieLiteratursatiren (1, 4; 1, 10)
124
7. DieSatire 2, 5
127
8. Die Satire 2, 3
128
9. Die Satire 2, 4
129
10. Rückblick
V.
Varros Vorlagen zurTheatergeschichte
1. Komoi undLenäen
130
131
131
Inhalt
2. Rückblick
3.
Parallelen
7
139
bei Fabius Pictor
VI. Varro undVergil
139 147
1. DasProoemium zumersten BuchderGeorgica
147
2. Dieersten beiden Bücher derGeorgica a) Varronisches Gedankengut beiVergil b) Spuren vonVarros antiquarischer Forschung
149 149 152
3. Dasdritte Buch derGeorgica
152
4. Dasvierte BuchderGeorgica
158
5.
160
Varros Einfluß aufdasGesamtwerk
6. Rückblick
164
VII. Varro undOvid
165
1. DieFasti a) Charakter b) Varronisches indenFasti
165 165 166
2.
174 174 179
Vergangenheit a) Varro
bei Varro undOvid
b) Ovid
3. EinReflex dervarronischen Theatergeschichte
182
4. Rückblick
183
VIII. Zusammenfassung
185
1. Varro in seiner Zeit
185
2.
185 185 186 188 188
Varro-Rezeption a) Cicero b) Livius c) Horaz d) Vergil e) Ovid
189
8
Inhalt
3.
Varro
als Historiker
189
Literaturverzeichnis
191
Register
202
VORWORT Arbeit ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner im Sommersemester 1995 beim Gemeinsamen Ausschuß der Philosophischen Fakultäten derAlbert-Ludwigs-Universität Freiburg eingereichten Dissertation. Meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor Dr. Eckard Lefèvre, der die Arbeit angeregt undaufjede erdenkliche Weise gefördert hat, schulde ich größten Dank. Fruchtbare Kritik verdanke ich den Herren Professoren Dr. Wolfgang Kullmann undDr. Paul Gerhard Schmidt, die die Korreferate übernommen haben. Für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der Hermes-Einzelschriften weiß ich mich den Herausgebern zu Dank verpflichtet, insbesondere Herrn Professor Dr. Jürgen Blänsdorf, dessen mannigfache Hilfe mich vor Irrtümern bewahrt hat. Mein Dank gilt ferner Herrn Professor Dr. Burkhart Cardauns für bibliographische undfachlicheHinweise sowie denHerren Professoren Dr.Giovanni D’Anna undDr. Nicholas Horsfall für wertvolle Diskussionen undhilfreichen Rat. Schließlich danke ich meinen Eltern, diemir ein Studium in Unabhängigkeit ermöglicht haben. Ihnen sei dasBuch gewidmet.
Die vorliegende
Freiburg, Dezember 1996
Th. B.
I. EINLEITUNG Nonne videmus quam amplo pulcherrimoque patrimonio haec nostra tempora spoliata sint? Ubi sunt M. Varronis libri, qui vel soli facere possent sapientes, in quibus erat linguae latinae explicatio, rerum humanarum divinarumque cognitio, omnis sapientiae ratio omnisque doctrina?1
Mitdieser fürdie Renaissance topischen ‘Jeremiade’ läßt Leonardo Bruni denDialogpartner Niccolò Niccoli in einer 1401 als Laudatio Florentinae Urbis entstandenen, Pier Paolo Vergerio zugeeigneten Schrift denVerlust eines Großteils von VarrosBüchern beklagen. Manhabe sich vondemGelehrten ausReate Aufschluß über dieeigene Herkunft erhofft. Nicht fehle es derGegenwart an Begabungen, nicht an Lerneifer, aber durch denMangel anBüchern unddie Geringachtung der Bildung stehe dieeigene Zeit demAltertum trotz aller Bemühungen an Gelehrsamkeit immer noch nach. Etwas optimistischer antwortet in demselben Dialog Coluccio Salutati: Wohl schmerze derVerlust weiter Teile derSchriften Varros, es seien indes zahlreiche Schriften anderer Autoren erhalten, die, wennmannicht so anspruchsvoll wäre, die Werke des gelehrten Antiquars ersetzen könnten.2 Er relativiert Niccolis Klage über denbeklagenswerten Bücherverlust, indem er sie auf die allgemein menschliίαzurückführt: quae absunt cupimus; quae adsunt negligimus.3 μ ο ιρ ψ ιμ ε che μ Gleichwohl läßt auch seine Reaktion erkennen, daßmanVarros Werk glaubte gar nicht hoch genug einschätzen zu können. Bereits ein Menschenalter früher wendet sich Petrarca nicht nur in seinen Epistulae familiares4 voller Verehrung an den Gelehrten im Jenseits, sondern setzt ihm in seinen Triumphzügen ein Denkmal, mit demer den Antiquar als terzo gran lume Romano Cicero und Vergil an die Seite stellt.5 Bei aller Übertriebenheit, die heute, aus der Distanz betrachtet, Petrarcas Enthusiasmus kennzeichnet, läßt sich dennoch erahnen, waseinen Menschen an der Schwelle zueiner Epoche, die die Vergangenheit vonneuem zumMaßstab erhebt undumsoschmerzlicher dieGegenwart als politisch zerrüttet undkulturell verarmt empfindet, anVarro fasziniert. Er sieht sich in einer ‘posizione bifronte’,6 pessimistisch blickt er in die Zukunft, sehnsüchtig in die Vergangenheit. Mitder gleichen romantischen, gegenwartsabgewandten Haltung, mit der Varro seine Werke 1 2 3 4 5
6
Leonardo Bruni Aretino, Dialogo a Pier Paolo Vergerio, hrsg. v. Eugenio Garin, in: Prosatori Latini delQuattrocento, I. Coluccio Salutati, Leonardo Bruni Aretino, Francesco Barbaro, To99, hier: 60. rino 1976, 41– Ebd., 66: Perditus estM. Varro? dolendum est,fateor, et moleste ferendum; sed tarnen sunt et Senecae libri, et aliorum permulti, qui nobis, nisi tam delicati essemus, facile M. Varronis locum supplerent. Ebd., 66.
Fam. 26, 6. Quivid’io nostra gente averperduce / Varrone il terzo gran lume Romano, / Che quanto l ‘ miro più, tanto piùluce. (Trionfo della fama 3, 37ff.) Varrone il terzo gran lume Romano gab Della Corte 1954 seiner Varro-Biographie alsTitel undstellte neben denRepublikaner Cicero unddenAugusteer Vergil Varro alsRepräsentanten desÜbergangs. Petrarca, Rerum memorandarum libri I, 19: velut in confinio duorum populorum constitutus 50. ac simul ante retroque prospiciens [...]; vgl. dazuGilson 1961, 42–
I. Einleitung
12
schrieb, nimmt er sie auf, umzu retten, was vomUntergang bedroht ist. Petrarca lebt imBewußtsein einer Kontinuität vomAltertum bis in seine Zeit hinein. Deshalb vertraut er sich und seine Gegenwart der ‘Führung’ Varros an, von dem Cicero sagt, er habe demrömischen Volk erst das Bewußtsein für seine Kulturgeschichte gegeben.7
Auchnördlich derAlpen wirdVarro dieRolle eines ‘Schutzpatrons’ zugedacht. Justus Lipsius macht ihn zumAnwalt der Philologen: In einer 1581 in Antwerpen gedruckten menippeischen Satire mitdemTitel Somnium. Lusus in nostri aevi Criticos läßt er im Römischen Senat die würdigsten lateinischen Dichter sich versammeln undbittere Anklage gegen die modernen Philologen führen, die die antiken Texte mehrkorrumpierten alsemendierten. Alsdieallgemeine Empörung ihren Höhepunkt erreicht, erhebt sich Varro, dessen Autorität die Corona zum Schweigen bringt, undplädiert für Nachsicht undAugenmaß: Studiis adhuc, P. C., certamus, nonsententiis. Vulnera, quae quisque a correctoribus acceperit, commemorat; medicinam, quamacceperit, tacet! Seine ‘defensio’derPhilologenzunft bleibt nicht ohne Wirkung. Die hohe Versammlung kommt zudemErgebnis: Correctores hoc difficillimo rei litterariae tempore utibiles necessariosque esse.8 Selbst Philologe’, betrieb Varro nicht nur sprachwissenschaftliche Untersuchungen, sondern ‘ betätigte sich auch als Herausgeber: Seine Echtheitskritik filterte dieheute erhaltenen 21 Plautus-Komödien ausderMenge des Unechten heraus und rettete sie damit vielleicht vor dem Untergang. Seine ganze Tätigkeit, ob philologisch oder antiquarisch, war auf das Bewahren undErhalten ausgerichtet. Die Abwehr desVergessens warseine Lebensaufgabe.
Dievorliegende Arbeit will zumeinen die Perspektive aufzeigen, aus der Varro die Geschichte desrömischen Volkes betrachtete, zumanderen untersucht sie denEinfluß seiner antiquarischen Forschung auf seine Zeitgenossen, Cicero, Livius, Horaz, Vergil undOvid. Dabei wirdnicht dasZiel verfolgt, varronische Spuren dort nachzuweisen, wo die Schriften des Antiquars nurals ‘Nachschlagewerke’ konsultiert wurden. Vielmehr geht es darum zu zeigen, wo Varro einen geistigen Einfluß ausübte, das ‘intellektuelle Leben’seiner Zeit mitprägte oder umgekehrt aufgrund seiner archaisierenden Bestrebungen bekämpft wurde undzur Auseinandersetzung herausforderte. Varro wareinäußerst vielseitiger Autor –dasOeuvre desvirdoctissimus9 weist über 600 Bücher auf. Jeder seiner Zeitgenossen rezipierte ihn aus einem anderen Blickwinkel: Bei Cicero stehen Politik undPhilosophie im Vordergrund, bei Livius undHoraz, die nacheinander abgehandelt werden, die Geschichte des römischen Theaters und, daran anknüpfend, die Frage nach der Eigenständigkeit der römi-
7 8
9
Cic. Ac. post. 1, 9. J. Lipsius, Twoneo-Latin Menippean Satires, ed. with introd. andnotes by C. Maltheeussen, Leiden 1980, 64 und72. Aug. civ. 4, 1; vgl. auch civ. 6, 2.
I. Einleitung
13
schen Kultur gegenüber der griechischen, Vergil undOvid schließlich nehmen zugaufVarros verklärenden Blick indierömische Vergangenheit.
Be-
II. VARRO UNDCICERO 1. GESPANNTE FREUNDSCHAFT η λ ρ ο ά ι ίο λ λ ιπ α a) Β
Die Lebensläufe derZeitgenossen Varro undCicero berühren sich erstaunlich selten, obwohl beide alsVertreter der ‘alten’Zeit in denWirren der ausgehenden späten Republik ein ähnliches Schicksal durchlitten.1 Beide stammten nicht aus Rom undverkörperten doch römische Werte bis zur Selbstaufgabe. Beide gehörten dem Ritterstand an.Cicero erreichte ‘suoanno’denKonsulat, Varro stand amEnde seines ‘cursus honorum’in derWürde eines Prätors. Beide wurden in den Strudel des Bürgerkriegs hineingerissen, in demsie äußerlich auf seiten des Pompeius, innerlich auf seiten der ‘libera res publica’ standen. Beide spürten mehr oder minder deutlich, daß ihre Partei, die sich die libertas auf die Fahnen geschrieben hatte, in diesem Bürgerkrieg überhaupt keine Vertretung hatte: iam non agitur de libertate: olimpessum data est. Quaeritur utrum Caesar an Pompeius possideat rempublicam [...]. Dominus eligitur [...] potest melior vincere, non potest non peior esse, qui vicerit.2 Diese ebenso ernüchternde wie scharfsichtige Analyse der Bürgerkriegssituation aus derFeder Senecas, geschrieben mitBlick auf Cato (und natürlich sich selbst –warSeneca dochzumUmgang mitdenMächtigen gezwungen), trifft auch auf Ciceros Empfinden zu, wenn er an Atticus seine Lage zwischen allen Stühlen schildert: ego [...] quemfugiam habeo, quem sequar non habeo.3 Nur sehr zögerlich hatte er sich auf Pompeius’ Seite geschlagen, und die Tatsache, daß er den Ausgang der Schlacht von Pharsalos im entfernten Dyrrhachium, abseits vom Hauptgeschehen, erwartete, erlangt symbolhafte Bedeutung. Krankheit hinderte ihn, amKampf teilzunehmen, undseine Briefe aus dieser Zeit zeigen in derTat eineninnerlich gequälten, bedrückten Verfechter der alten Republik, der guten Gewissens keiner Bürgerkriegspartei beitreten konnte.4
1 2 3
4
Kumaniecki 1962, 221. Zur Biographie Varros ist Cichorius 1922 immer noch nicht über1181. holt; daneben Dahlmann 1935, 1172– Sen. epist. 14, 13. In genau diesem Sinne bezeichnet Cicero infam. 9, 6, 3 den Sieg im Bürgerkrieg als extremum malorum omnium. Att. 8, 7, 2; vgl. fam. 4, 9, 2– 3, wo Cicero an Marcellus schreibt, im Falle eines Sieges der Pompejaner wäre es umdie respublica auch nicht besser bestellt: Quod non multo secus fieret, si is rempublicam teneret, quem secuti sumus. [...] Omnia sunt misera in bellis civilibus, quae maiores nostri ne semel quidem, nostra aetas saepe iam sensit, sed miserius nihil quamipsa victoria; quae etiam si ad meliores venit, tamen eos ipsos ferociores impotentioresquereddit, ut, etiam si natura tales nonsint, necessitate esse cogantur. Cic. Att. 9, 10, 2 ist ein beredtes Zeugnis für Ciceros Hin- undHergerissensein im Jahr 49: Nach Pompeius’ Abfahrt aus Brundisium macht sich Cicero plötzlich Vorwürfe, nicht doch aufdessen Seite getreten zusein; er schwankt zwischen Abscheu undVerehrung, er leidet unter seiner Entschlußunfähigkeit; an Pompeius bemängelt er die fehlende ‘dignitas’: Amens mihifuisse a principio videor et meunahaec res torquet quod nonomnibus in rebus labentem
16
II. Varro undCicero
Mit Cicero hielt sich Varro in Dyrrhachium auf.5 Er hatte Pompeius in Spanien gegen Caesar gekämpft –erfolglos und, Caesars, wohl aucheher halbherzig:
als Anhänger des in der Darstellung
M. Varro in ulteriore
Hispania initio cognitis eis rebus quae sunt in Italia gestae diffidens Pompeianis rebus amicissime de Caesare loquebatur: praeoccupatum sese legatione ab Cn. Pompeio teneri obstrictum fide; necessitudinem quidem sibi nihilo minorem cumCaesare intercedere, neque se ignorare, quod esset officium legati qui fiduciariam operam obtineret, quae vires suae, quae voluntas erga Caesarem totius provinciae. Haec omnibus ferebat sermonibus neque se in ullam partem movebat.
Caesars Kommentar ist zwarnicht objektiv undsicher auchinderAbsicht geschrieben, möglichst viele Pompejaner ausdemgegnerischen Lager herauszulösen undzu sich herüberzuziehen.7 DerAutor desBellum civile hat aber Varros Charakter gut
getroffen.
Er zeichnet ihn als einen von Skrupeln undGewissensbissen
Gepeinig-
ten, dessen Hin- undHergerissensein schließlich in Passivität endet. Als homme de
lettres erscheint erinderSkizze seines Gegners im spanischen Krieg als völlig unkriegerisch und dem Strategen Caesar haushoch unterlegen. Seine militärischen Maßnahmen wirken entsprechend linkisch undunentschlossen. Bei denin Spanien stationierten Truppen gelingt es ihmnicht, sich Autorität zuverschaffen. Schwankendzwischen Eidbindung undLoyalität weicht er Entscheidungen aus. Sein Handeln ist aufdasScheitern geradezu angelegt. Die Korrektheit undUnbestechlichkeit, mitdererbeiderKapitulation Caesar Rechnungen undGeld vorlegt unddamit die Verantwortung für das Empfangene in die Hand des Siegers gibt, hat etwas Rührendes –Caesar gibt es nicht ohne einen spöttischen Unterton wieder.8
5 6
7 8
velpotius ruentem Pompeium tamquam unus manipularis secutus sim. Vidi hominem XIIII Kal. Febr. plenum formidinis. Illo ipso die sensi quid ageret. Numquam mihi postea placuit nec umquam aliud in alio peccare destitit. Nihil interim admescribere, nihil nisi fugam cogiτ ικ ο ντ ῖςἐρω tare. Quid quaeris? sicut ἐ ο ῖςalienat immunde, insulse, indecore fit, sic meillius fugae negelegentiaeque deformitas avertit ab amore. Nihil enim dignum faciebat quare eius fugae comitem me adiungerem. Nunc emergit amor, nunc desiderium ferre non possum, nunc mihi nihil libri, nihil litterae, nihil doctrina prodest. Ita dies et noctes tamquam avis illa mareprospecto, evolare cupio. Do,dopoenas temeritatis meae. [...]. Am 6. Juni 49 brach Cicero schließlich doch noch nach Dyrrachium auf. Nach Plut. Cic. 38, 4 hatte Cicero imBürgerkrieg fürdiemeisten, Pompeius eingeschlossen, nurSpott übrig. Vgl. Cic. div. 1, 68 und2, 114. 4. Caes. BC 2, 17, 1– Vgl. Cic.fam. 6, 6, 9, woraus hervorgeht, daßCaesar offenbar auf dieMitarbeit (ehemaliger) politischer Gegner angewiesen war. Nach Dahlmann 1976, 163 liegt in Caesars Tatenbericht „eine gewisse überlegene Ironie des genialen undrasch handelnden Caesar gegenüber demzögernden undbedächtigen Überlegen, Zweifeln zwischen denPflichten, unzeitigen Reden undzuspäten Handeln des alten, gelehrten undvondenForderungen dermaiores beherrschten schwierigen Mannes [...], dersich Gedanken über dasofficium legati, überfides undnecessitudo sowohl Pompeius wie auch Caesar gegenüber macht, unschlüssig nachdenkt undsich dann endlich undzu spät für die verlorene Sache seines großen Freundes Pompeius einsetzt, um dann schnell mit demDiktator Frieden zuschliessen: schwierig, voll überlegender Skrupel.“
1. Gespannte
Freundschaft
17
VonVarros eigener Hand sind keine Zeugnisse aus dieser Zeit erhalten. Seine politische Biographie erscheint wiedieCiceros nicht frei von Selbstzweifeln. Allerdings hatte er sich schon sehr früh Pompeius angeschlossen. Cichorius hat es wahrscheinlich gemacht, daß er bereits im Sertoriuskrieg unter Pompeius’ Kommando stand und ihm auch im Seeräuberkrieg, möglicherweise sogar im dritten Mithridatischen Krieg diente.9 Varro durfte mitFugundRecht ein Vertrauter, familiaris,10 des Pompeius genannt werden. Dieser bat ihn nach seiner Rückkehr vom Sertoriuskrieg umeinen Leitfaden für sein Konsulat, undVarro widmete ihm den γ ικ ό γ ω ς–wohl eine Art Fürstenspiegel’.11 ἰσ α nicht erhaltenen commentarius ε ‘ ’ AmtsanDie Schrift mußin denJahren 71 / 70 v. Chr., nicht lange vor Pompeius tritt, geschrieben sein. Bereits sieben Jahre früher war der reatinische Gelehrte dem Feldherrn als Berater zur Seite getreten, als er ihm die Ephemeris navalis ad Pompeium zugeeignet hatte.12 Trotz Varros langjähriger Bindung an Pompeius hat er sich imBürgerkrieg jedoch innerlich von ihmentfernt undließ sich nach der Entscheidung von Pharsalus schnell von Caesar gewinnen: Er nahm die geachtete Stellung des Bibliothekars in einer einzurichtenden öffentlichen Bibliothek nach alexandrinischem Vorbild an.13 Varro warzuwenig Politiker undzu sehr Gelehrter, umsich vom politischen Geschehen zermürben zulassen, Cicero dagegen zu sehr Staatsmann, ummit denjenigen, die die Republik zerstörten, seinen Frieden schließen zu können. Für Cicero bedeutete das otium’ Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, es be‘ wurde bestenfalls als Notlösung geduldet. Varro indes durfte der Rechtfertigung, fand in den ‘studia antiquitatis’ seine ureigene Bestimmung. Seine Studien huldigtenjedoch nicht dem Gedanken des L’art pour l’art, sie gaben vielmehr altrömischem Empfinden Ausdruck, wiees bis in die Kaiserzeit hinein gültig blieb. Wenn auch die politischen Verhältnisse sich änderten, behielten die altrömischen Werte doch kanonischen Rang. Sie wurden vielleicht unterhöhlt, aber nie offen angegriffenoder abgeschafft. So darf Varro zuRecht alseiner dergeistigen Wegbereiter der augusteischen Epoche gelten. Sein Ausweichen auf Privataltertümer –ein Gebiet, daser denRömern mehr oder weniger neuerschloß, –seine weitgehende Abstinenz vonpolitischer Geschichtsschreibung halfen ihm, in seiner Zeit zurechtzukommen. Was für die Neoteriker die subjektive, dem öffentlichen Leben abgewandte Dich196. 9 Cichorius 1922, 189 und 193– 10 Nach Gell. N.A. 14, 7, 2. 2: Gnaeo Pompeio consulatus primus cum M. Crasso designatus 11 Vgl. Gell. N.A. 14, 7, 1– est. Eum magistratum Pompeius cum initurus foret, quoniam per militiae tempora senatus habendi consulendique, rerum expers urbanarum fuit, M. Varronem familiarem suum rogavit, uticommentarium faceret [...] exquodisceret, quidfacere dicereque deberet, cumsenatum con44; Havas 1976, 25. 1250; Kumaniecki 1974 / 1975, 41– suleret, vgl. Dahlmann 1935, 1249– NachGruen 1974, 43 warPompeius „eager andcareful to school himself in proper senatorial procedure“ undbeauftragte deshalb Varro mitderAbfassung eines geeigneten Handbuchs. 1253; Anderson 1963, 44. 12 Vgl. Dahlmann 1935, 1252– 13 Suet. Div. lul. 44, 2; Lact. inst. 1, 6, 7; Isid. etym. 6, 5, 1; vgl. Petrarca fam. 3, 18: Atque ut reliquos sileam, fuit romane bibliothece cura divis imperatoribus lulio Caesari et Caesari Augusto; tanteque rei prefectus ab altero –pace Demetrii Phalerii dixerim, qui in hac re clarum apudEgiptios nomen habet –nichil inferior, nedicam longe superior, Marcus Varro.
18
II. Varro undCicero
tung bedeutete, waren für Varro seine Forschungen zum Altertum. Cicero stand Varros unpolitischer Haltung halb „bewundernd, halb verständnislos“14gegenüber. Schließlich wurde er nicht müde, in seinen Briefen zu betonen, daß Varro, im Gegensatz zuihm, stets seinen Büchern treu geblieben sei.15 Nach demTode Caesars zeitigte jedoch Varros unpolitische Biographie nicht minder verhängnisvolle Folgen als Ciceros exponierte Stellung. Auch ihn ereilte das Schicksal der Proskription,
undnurmitknapper Notentging er denHäschern desAntonius.16 So ähnlich die Ausgangssituation Ciceros undVarros sein mochte, so unterschiedlich wardochbeider Lebensentwurf. Cicero machte es sich in vielem schwerer als Varro. Er hatte nach Pharsalos tatsächlich niemanden, demer sich anschließenkonnte; ihndrängte es gleichwohl nach politischer Beteiligung amStaat. Varro flüchtete sich dagegen in die Welt derVergangenheit, zu der er ein Verhältnis distanzloser Nähe aufgebaut hatte.17
b) Zwischen
‘libera respublica’undTriumvirat18
Dieersten Erwähnungen Varros inCiceros Briefen finden sich in denJahren 59 bis
57. Cicero,
zunehmend stärker unter politischen Druck geraten, suchte offenbar Anlehnung an Pompeius und glaubte dies am ehesten durch Varro zu erreichen. Varro warzumeinen als Gefolgsmann desPompeius bekannt undgalt Cicero wohl deswegen als idealer ‘Anwalt’, zumanderen hatte derreatinische Gelehrte zu dem ehemaligen Konsul über dengemeinsamen Freund Atticus besonders leicht Zugang. Es ist indes kein einziges Schreiben vonVarros Hand an Cicero erhalten, während von Cicero einige wenige briefliche Mitteilungen an Varro überliefert sind. Diese zeugen wohl von Respekt für denGelehrten, lassen aber nicht auf ein nahes Verhältnis zu ihm schließen.19
14 Dahlmann 1935, 1177. 15 Fam. 9, 1, 2; 9, 2, 2; 9, 6, 4. φ ε τ υ ύ ε ρ α ς , ἐστρα γ ία 16 Appian BC 4, 47: Ο φ ό ςσυγ α ὶ ἱστορ εκ ςτ ο σ ό ιλ νφ ὲἦ νδ ὐ ω ρ ρ ά μ έ ν ο ία ςτ ς εκα ώ λ ὸ ς , κα ρ ῶ ςμοναρχ αὡ ὶ ἴσ τ ςκα ω ῦ ςἐχθ ιὰτα ςδ ὶ ἐστρατηγηκ 104 klagt Antonius an,er habe gegen dasHab undGut Varros η . Cic. Phil. 2, 103– φ ρ ά γ υ ο ρ π gewütet: advolas inM. Varronis, sanctissimi atque integerrimi viri, fundum Casinatem. Vgl. Cic.fam. 11, 10, 5, woBrutus Cicero gegenüber Varros Reichtümer (Varronis thensauros) als sprichwörtlich erwähnt. Vgl. Anderson 1963, 47. 17 Vgl. Timpe 1972, 967 überdenähnlich unmittelbaren Blick aufdieGeschichte durch die älte-
18
19
re Annalistik.
Gemeint ist diecoitio desJahres 60, inderCaesar, Pompeius undCrassus sich in einer privatensocietas verbanden mit demZiel, ne quid ageretur in republica, quod displicuisset ulli e tribus (Suet. Div. Iul. 19, 2). Obwohl dasZusammengehen im Gegensatz zumzweiten Triumvirat des Jahres 43 nicht staatlich anerkannt war, wird im folgenden dennoch von „ Triumvirat“und„ Triumvirn“gesprochen, dasich diese Termini auch in derFachliteratur eingebürgert haben, vgl. jüngst: Bellen 1994, 126. Vgl. Kumaniecki 1962, 243: „Così dunque i duepiùeminenti scrittori della loro epoca, uniti molte volte dalla sorte, trascorsero la vita l’unoaccanto all’altro, senza superare i limiti di re154. 103 und135– ciproco rispetto e stima.“Vgl. auch Della Corte 1970, 89–
1.Gespannte
Freundschaft
19
VomJuli 59 existieren zwei Briefe, in denen Varro jeweils im Zusammenhang mit Pompeius erwähnt wird.20 In seiner Auseinandersetzung mit Clodius war Cicero auf der Suche nach Verbündeten. Pompeius hatte ihm wohl entsprechende Zusicherungen gemacht: Pompeius amat nos carosque habet. [...] Pompeius adfirmat non esse periculum, adiurat; addit etiam se prius occisum iri ab eo [sc. Clodio] quam me violatum iri.21
Varro hatte offenbar die Funktion des Mittlers eingenommen: Varro satis facit nobis, bescheinigt ihmCicero.22 DerStil des Briefs verrät jedoch große Beklemmung und böse Vorahnungen. Fast gegen die eigene Überzeugung spricht sich Cicero selbst Mutzu. Imgleichen Umfeld steht dieErwähnung Varros imzweiten Brief: Clodius inimicus est nobis. Pompeius confirmat eum nihil facturum esse contra me; mihi periculosum est credere, adresistendum me paro; studia spero me summa habiturum omnium ordinum [...]. Varro mihi satis facit. Pompeius loquitur divinitus.23
Auch hier erweist sich Cicero als ungläubig gegenüber Zusicherungen. Man spürt amTon der Briefe, wie sich die Situation zuspitzt. Er schreibt, wahrscheinlich im
59, einen flehenden Hilferuf anAtticus: Nunc mihi consiliis opus est tuis et amore et fide; qua re advola.
August
erunt omnia, si te habebo: multa gente erunt firmiora [...].24
Expedita mihi per Varronem nostrum agi possunt quae te ur-
Ciceros größer werdende Unsicherheit führt gleichzeitig zu leisen Mahnungen an Varro undAtticus. Offenbar erhofft sich Cicero von Varro größeres Engagement undvonAtticus größeren Druck aufVarro. Bereits einen Monat später wirdCicero demFreund gegenüber deutlich:
Cumaliquem apud te laudaro tuorum familiarium, volam illum scire ex te me id fecisse, ut nuper me scis scripsisse ad te de Varronis erga me officio, te ad me rescripsisse earn rem summae tibi voluptati esse. Sed ego mallem ad illum scripsisses mihi illum satis facere, nonquofaceret, sedut faceret; mirabiliter enim moratus est, sicut nosti; ἑ α λ ικ τ ὰκ ὶ οὐδ ν...’. sed nos tenemus praeceptum illud, ὲ ‘τ ὰ ςτ ῶ νκρατούν τ ω ...’.25 ‘ν
Dieletzte Stelle ist deshalb vonInteresse, weil Cicero hier erstmals demFreund Atticus gegenüber Varro kritisiert, freilich nicht ohne einen Seitenhieb auf denAdressaten selbst. Ganz offenbar ist er alles andere als zufrieden mit Varro –was indes nichts über dessen tatsächlichen Einsatz fürCicero besagt, dennbekanntlich warder in Bedrängnis geratene Staatsmann gerade in den Jahren 59 bis 57 selbst guten Freunden gegenüber nicht selten ungehalten undungerecht. DaßVarro tatsächlich in 20 Att. 2, 20 und2, 21. 21 Att. 2, 20, 1– 2. 22 Att. 2, 20, 1. 23 Att. 2, 21, 6.
24 Att. 2, 22, 4. 25 Att. 2, 25, 1.
20
II. Varro undCicero
irgendeiner Weise für Cicero aktiv geworden war, ergibt sich indirekt aus dessen Bemerkung in einem sehr viel späteren Brief vom29. Mai 58 an Atticus: Varroni meiubes agere gratias: faciam.26 Für welchen Dienst Cicero zu danken hatte, wissenwir nicht. Jedenfalls hielt Atticus es für opportun, ihn an die Gebote der Höflichkeit demReatiner gegenüber zu erinnern, vermutlich weil es unklug gewesen wäre, sich dessen Gunst zuverscherzen. Das Tragödien-Zitat aus demoben angeführten Brief27 macht zumindest deutlich, daßCicero Varro in irgendeiner Weise zu α θ ι zu ertragen. ία τ denκρα ο τ ν ῦ ε ςzählte undes für erforderlich hielt, dessen ἀμ ι, wirdkein Zufall sein. ίσ α σ ο ιν DieWahl desZitats, ausgerechnet ausEuripides’Φ Polyneikes ist dort versöhnungsbereit gezeichnet, er leidet schwer unter dem .28 Einige Machtmensch ohne Maß“ Schicksal der Verbannung. Eteokles ist ein „ Verse vor demZitat nennt Polyneikes lokaste gegenüber das erzwungene Exil ein μ έ γ ισ τ ο νκακόν.29Cicero war zwar im September 59 noch in Rom, doch warfen diekommenden Ereignisse ihre Schatten voraus, under maggeahnt haben, welches Los ihmbevorstand. Schließlich hatte auch er sich, wie Polyneikes, gegen einen Machtmenschen ohneMaßzubehaupten. Daserste Zitat entstammt einem Zwiegespräch zwischen Andromache undMenelaos aus Euripides’ Andromache. Sie beφ ρ ο ι ά χ α ν η ορ ε τ ςund μ νἄνακ ε υ δ ῶ schimpft Menelaos und alle Spartaner als ψ κ α κ ῶ ν .30Wollte Cicero den gesamten Zusammenhang auf Varro beziehen, ihn ή ςnennen, daer sich mit denMächtigen arrangiert habe, ihn desweἀ δ ικ ῶ χ ςεὐτυ gengarals einen ψ α ν ε νἄ ῶ υ δ ξbezeichnen, wäre er gewiß weit über das Ziel hinausgeschossen, undder so Beschimpfte wäre das Opfer seines Kleinmuts geworden, derihnimUnglück ja allzu oft überkam.31
Eine Mittlerrolle scheint Cicero Varro auchindenVerhandlungen umseine Rückberufung zugedacht zu haben. Wie in der Vergangenheit zu Pompeius32 sollte er offenbar nun den Weg zu Caesar ebnen: Varronis sermo facit expectationem Caesa3 undwenig später: ris,3 Expectationem nobis non parvam attuleras cum scripseras Varronem tibi pro amicitia confirmasse causam nostram Pompeium certe suscepturum et, simul a Caesare ei litteras quas exspectaret remissae essent, actorem etiam daturum.
26 27 28 29 30
Att. 3, 8, 3. Att. 2, 25, 1. Lesky 1971, 443. Eur. Phoen. 389. 449. Eur. Andr. 447–
32
nemRuf in derNachwelt bei denjenigen, denen Menschliches fremd ist, geschadet haben, sie bleiben dennoch einanrührendes Dokument über dieWirklichkeit derspäten Republik. Ciceros Brief 3, 15, 1 vom 17. August 58 an Atticus läßt vermuten, daßVarro sich mit Erfolg für ihnbei Pompeius eingesetzt hat: quoda Varrone scribis tibi esse confirmatum de voluntate Pompei.
31 Vgl. Kumaniecki, 226: „Bisogna tener presente che molto più tardi, già trovandosi in esilio, Cicerone nutriva risentimenti verso tutti edasseriva, spesso senza nessun fondamento, che i suoi migliori amici l’avevano tradito, che gli avevano dato cattivi consigli, che non l’avevano Ciceros ungeschminkte Briefe, indenen ersich inderTatgehen läßt, mögen seiaiutato ecc.“
33 Att. 3, 15, 3.
1.Gespannte
Freundschaft
21
Varro erscheint also als Verbindungsmann zu denbeiden Großen des Triumvirats. Freilich konnte es auch hier nicht ausbleiben, daß Cicero drängte, ungeduldig wurde; wieder durfte ein ‘Wink mitdemZaunpfahl’, auch an Atticus, nicht fehlen: atque utinam ipse Varro incumbat in causam! quodprofecto cumsua sponte turn te instante faciet.34 Man wird davon ausgehen müssen, daß Varro zweifellos um Ciceros Rückberufung bemüht war. Daßdie Angelegenheit sich dennoch so lange hinzog unddiebereits im August in Aussicht gestellte Zustimmung Caesars so beharrlich auf sich warten ließ, wargewiß nicht seine Schuld.35 Varros Stellung gegenüber denTriumvirn ist nicht leicht zubestimmen. Er hat sich enganPompeius angelehnt, sowohl durch die Teilnahme an dessen Feldzügen als auch publizistisch. Unklar ist seine Haltung zumTriumvirat, das Gegenstand einer –leider restlos verlorenen –Τρ ικ ρ ά α ν ο ςbetitelten Schrift war.36 Schon die Zuweisung zueiner Gattung ist schwierig –handelte es sich umeine Menippeische Satire oder ein politisches Pamphlet?37 Schließlich stellt sich die Frage: War die Schrift füroder gegen denTriumvirat eingestellt? DerTitel ist höchstwahrscheinlich einer gleichnamigen Kampfschrift desAnaximenes gegen die Städte Athen, Theben und Sparta, die sich gegen das makedonische Andrängen verbündet hatten, entlehnt.38 Anaximenes hatte seine Schrift als ein Echo auf Dikaiarchs Τ ρ ιπ ο λ ιτ ικ ό ς betitelt und die darin verfochtene These von der Mischverfassung als der besten Verfassungsform angegriffen.39 Anaximenes’ Pamphlet war also in zweifacher Hinsicht gegen ein „ dreiköpfiges Ungeheuer“gerichtet, einerseits gegen die Verbindung dreier Städte, andererseits gegen eine aufdrei Säulen ruhende Verfassung. Wieverhält es sich mitVarros Τ ρ ρ ικ α ν ά ο ς ? Konnte es sich derGefolgsmann des Pompeius leisten, den Triumvirat offen zu attackieren? Und wenn er es tat, weshalb übernahm er dann kurz darauf (im Jahr 59) die verantwortungsvolle Stellung eines ‘vigintivir’ und wurde mit der Durchführung der Ackergesetze –der vielleicht entscheidenden politischen Maßnahme des Triumvirats –betraut?40 Dahlmann41 nahm zurLösung des Problems an, Pompeius sei im Τ ρ α ν ρ ο ικ ά ςvon der Kritik ausgenommen gewesen –wasallerdings nurschwer vorstellbar ist, zumal ja dann auch derTitel nicht mehr verständlich wäre. Della Corte42 interpretiert den Titel alseine „satira della Romademocratica, che, corrotta e dissoluta, aveva bisogno di un pugno forte che la reggesse.“Ähnlich argumentiert Anderson:43 Varro habe 34 Att. 3, 15, 3.
35 Erst am25. November 58 kannCicero Terentia berichten, daßPompeius undCaesar in seine Rückkehr einwilligten.
36 DerTraktat wirdbei Appian BC 2, 9 erwähnt. 37 Cichorius 1922, 211, hält mitguten Gründen diezweite Möglichkeit fürwahrscheinlicher. 38 Vgl. Astbury 1967, 403– 407. 39 40 41 42 43
Vgl. Desideri 1963, 239. Vgl. Plin. n.h. 7, 176; Varro rust. 1, 2, 10; s. auch Jocelyn, 1982, 173. 180. 1955, 179– 1970, 77. 1963, 45: „ I amconfident that Varro favoured the formation of the Triumvirate. [...] whether it wasa political pamphlet or a satire, a distinction which cannot always easily be drawn in an ageimbued with Lucilian invective, the fact remains that Varro would not have ridiculed the organization which he so eagerly served in 59 an58. As a friend of Pompey, he may have en-
22
II. Varro undCicero
geradezu dieNützlichkeit undbesondere Kraft eines solchen Instruments hervorheρ α ν ο ά ικ ς , dendie Gegner der Verbenwollen. Gleichzeitig habe er denBegriff Τρ bindung der ‘großen Drei’anhängten, aufs Korn genommen. Varro hätte damit die Stoßrichtung seines Vorbildes Anaximenes genau umgekehrt: Auseinem Pamphlet wäre eine Propagandaschrift geworden.44 Aufdiese Weise hätte er vermutlich nicht nurheutige Interpreten, sondern auch seine Zeitgenossen tüchtig in die Irre geführt. Für eine politische Streitschrift ist ein mißverständlicher Titel völlig ungeeignet. Schließlich würde eine antidemokratische unddamit antirepublikanische Schrift zu Varros späterer Haltung imBürgerkrieg schlecht passen. Daßer wenigstens einen Teilnehmer desTriumvirats völlig ablehnte, belegt imübrigen seine gegen Crassus
gerichtete Satire Ἀ ρ ν ω θ π ο π ό λ ις .45 Amwahrscheinlichsten ist es, daßVarro denTriumvirat sehr wohl angegriffen hat, sich dann aber schnell mitderneuen Situation abfand undein politisches Amt übernahm. DieTriumvirn gingen aufihre Gegner zu.Selbst Cicero wurde in dieser Zeit einAmtangetragen46 –er lehnte jedoch ab. Ihm, dem ‘pater patriae’undehemaligen Konsul, verbot dies schon sein Stolz. Varro warin politischen Dingen anpassungsfähiger undauch etwas naiver. DerΤ ρ α ν ο ά ικ ρ ςwird weniger ein politisches Manifest als vielmehr eine moralische Mißbilligung gewesen sein,47 die die Triumvirn in (wahrscheinlich) satirischer Weise angriff. Varro dürfte sich dadurch kaumtiefe Feindschaft zugezogen haben, zumal auchden ‘großen Drei’nicht daran gelegen haben kann, sich dieUnterstützung aller republikanisch gesinnten Kräfte zu verscherzen. Die Triumvirn undspäter Caesar waren auf Anhänger aus demrepubliktreuen Lager angewiesen, wie gerade das Werben um Cicero beweist. Hinzu kommt, daßVarros Arbeiten ja in ihrer Gesamtheit allenfalls indirekt auf die Tagespolitik Bezug nahmen undsich stets mehr in einen moralisch-philosophischen Rahmen einfügten. Varro kames, dies giltjedenfalls für sein erhaltenes Schrifttum, immer aufdasAllgemeingültige hinter demEinzelproblem an. Er ordnete alles dem Gesamtzusammenhang römischen Denkens undrömischer Geschichte unter. Damit waren seine Schriften im Grunde unangreifbar, denn die altrömischen ‘virtutes’ galten als unverrückbare Leitbilder fort, selbst dann, alsder äußere Rahmen, in den sie gehörten, längst nicht mehr gegeben war. Durch seine Beschränkung auf das Moralische warderpolitisch-institutionelle Aspekt fürihn zweitrangig. So ist es si-
44
45
couraged orsupported the alliance with Caesar [...] andtreated the „three-headed monster“favorably in writing. That is, he may have mocked another’s use of the term, or he may have argued for thevalue of such anorganization byassociating it with themarvels of myth.“ So argumentiert auch Desideri 1963, 242: „Come l’operetta di Anassimene satireggiava la Grecia democratica e nemica della potenza macedone, così la satira diVarrone nonè, come si è nel passato creduto, rivolta contro il triumvirato, deicui componenti egli eraamico, bensì una tirata contro la Roma democratica, che, ormai indebolita e infrollita, aveva bisogno di un governo forte.“ Sat. Men. 36 Astbury: nonfit thensauris, nonauro pectus solutum; / non demunt animis curas ac religiones / Persarum montes, nonatria divitis Crassi; vgl. denKommentar von Cèbe,
162. Bd. 2, 155– 46 Cic. Att. 2, 6, 2; 2, 19, 4; 9, 29, 1; prov. 41; Vell. Pat. 2, 45, 2.
47 Vgl. Zucchelli 1976, 617.
1.Gespannte
Freundschaft
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ρ ρ ικ α ά ν ο ςweitercherlich nichts Außergewöhnliches, daßsich Varro nach demΤ hinin Pompeius’Lager befand.
Cicero wird Varro einerseits als Gesinnungsgenossen gesehen haben, andererseits als einen, der im Umgang mitdenMächtigen mehr Flexibilität bewies als er selbst und, wiewohl ebenso ein Verfechter der alten Ordnung, Feindschaften vermied, was ihmeinen gewissen Einfluß sicherte. Letzteres hater ihm vielleicht bisweilen verübelt undals fehlende Standfestigkeit ausgelegt. Cicero hatte sich durch seine unbeugsame republiktreue48 Gesinnung dieses Einflusses begeben. Er führte später sogar die Verbannung auf seine klare politische Stellungnahme zugunsten der ‘res publica’zurück.49 Varro gabsich unpolitischer undvermied es, Anstoß zu erregen. Die Verbindung zwischen Varro undCicero verlief, wie es denAnschein hat, zunächst ausschließlich über Atticus. Obdie beiden sich in denfrühen fünfziger Jahrenüberhaupt schon einmal getroffen haben, weiß mannicht.50
c) Wissenschaftliche
Kontakte
Einzweites Bandzwischen Varro undCicero wardie Wissenschaft. Varro als Autorität im Bereich antiquarischer Forschung besaß offensichtlich eine umfangreiche Bibliothek, diesich auch Cicero zunutze machte. Wiederum ist es Atticus, über den Cicero Zugang zuihmfindet. So schreibt erimMai54 während derArbeit anDe re publica demFreund: Velim domum adte scribas ut mihi tui libri pateant non secus ac si ipse adesses, cumceteri
turn Varronis.51
Kurz darauf, am1. Juli 54, äußert Cicero dieAbsicht, Varro in seinem Dialog über denStaat zuerwähnen. DerFormulierung derStelle nach zu schließen hatte Atticus eine solche Geste angemahnt: Varro, de quo ad me scribis, includetur in aliquem locum, si modo erit locus.52 Wiewenig begeistert Cicero voneinem solchen Ansinnen war, wird im folgenden deutlich, wenn er klarstellt, daß sein Dialog zur Zeit des Scipio Africanus spiele, was die Erwähnung lebender Personen ausschließe. Vielleicht finde sich aber in denProömien dereinzelnen Bücher einPlatz: Itaque cogitabam, quoniam in singulis libris utor prohemiis [...] aliquid efficere ut non sine causa istum appellarem; id quod intellego tibi placere. 48 Es darf freilich
nicht übersehen werden, daßCicero am Beginn seiner Karriere als politischer mitderManiliana unddurch sein Eintreten für Pompeius selbst mit dazu beitrug, die Basis deralten Ordnung zuunterhöhlen. 42: Ego illa ornamenta quibus ille meornabat decere me et convenire iis rebus quas 49 Prov. 41– gesseram nonputabam [...]. Mit ornamenta spielt er ironisch auf sein Exil an. 50 Vgl. Cichorius 1922, 191– 197 über Varros häufige Abwesenheit von Rom im Gefolge des Redner
Pompeius.
51 Att. 4, 14, 1; vgl. auch Att. 4, 16. Im einzelnen sind varronische Passagen schwer zu identifian independant position zieren, vgl. Rawson 1972, 36; im übrigen legte Cicero Wert auf „ , ebd., 37. Zur Beschaffung undVerwendung von Seagainst thegreatest scholar of his day“ kundärliteratur durch Cicero vgl. Marshall 1976, 254. 52 Att. 4, 16, 2; dort auch das folgende Zitat.
24
II. Varro undCicero
Tatsächlich hatCicero diesen Plan jedoch nicht verwirklicht.53 Die Problematik der Widmung eines Werks anVarro taucht abermals imJahr 45 auf. Varro hatte seinerseits, wohl im Jahr 47, angekündigt,54 Cicero eine wichtige Arbeit zuzueignen: η σ ρ ιν φ magnam sane et gravem π ώ ο . Er kamoffenbar nicht voran. Cicero nennt ν σ ihnΚ η α λ λ ιπ ς.55Überhaupt gibt er sich nicht wenig erstaunt, daßVarro von ihm ίδ ο λ ein Buch gewidmet haben will, während dieser, wiewohl ein homo π υ γ ρ φ α ώ τ α τ ο ς ,56 an ihn noch nichts adressiert habe. Nachdem es nunCicero in all seinen bisherigen Arbeiten schon aufgrund derganzen Anlage nicht möglich gewesen war, Varro unterzubringen, ut Varronem nusquam possem intexere,57 entschließt er sich, demGelehrten dieAcademica zuzueignen:
ή μ ν ικ , in qua homines nobiles illi quidem sed nullo modo η κ α Ergo illam Ἀ δ philologi nimis acute loquuntur,
ad Varronem
transferamus.
Wieder lassen die Zwischentöne vermuten, daß Cicero nicht wohl bei der Sache war: die Gesprächspartner sind nullo modo philologi –also genau das Gegenteil , undhöchstwahrscheinlich ist sogar das nimis acute loqui zuVarro in vonVarro – Bezug zu setzen, das heißt, nimis acute für Varros Verhältnisse. Immerhin sagt Cicero in denAcademica ausdrücklich, daßdergelehrte Antiquar in der philosophischen Schriftstellerei –dasist wohl mitacute loqui gemeint –bisher noch überhaupt nicht hervorgetreten sei.58 Am24. Juni schließlich informiert Cicero Atticus über dieneue Planung hinsichtlich derAcademici libri: Commotus tuis litteris, quod ad me de Varrone scripseras, totam Academiam hominibus nobilissimis abstuli, transtuli ad nostrum sodalem [...].59
ab
DerGegensatz nobilissimi homines –noster sodalis könnte pointierter nicht formuliert sein, undAtticus gegenüber glaubte Cicero, kein Blatt vor denMundnehmen zumüssen. Ursprünglich waren die Academica als ein Gespräch zwischen Horten-
53 Auch in denverlorenen Teilen derSchrift nicht, wie ein Schreiben an denBruder Quintus na6, 1). helegt (3, 5– 54 Vgl. Att. 13, 12, 3: Biennium praeteriit. Dort auchdiebeiden folgenden Zitate. 55 Vgl. Leutsch-Schneidewin, Corp. Paroem. Gr. I, p. 757, zitiert nach Shackleton Bailey z. St.: , where (as ν ω τ ν αδ ὲδρώ ίγ σα ι, ὀλ ιῆ ο νπ ω τ ν λ λ ιπ ο „ Κ ά π λ ὰμελετώ ι· ἐ ὶτ ε ῶ λ ο ςτρέχ νπ η α λ λ ιπ ίδ ςshould be substituted.“ the editors say) Κ 56 Att. 13, 18. 57 Att. 13, 12, 3. Dort auch das folgende Zitat. 58 ImWidmungsschreiben derAcademica bautCicero demmöglichen Einwand Varros, er erkenne sich in derSchöpfung Ciceros nicht wieder, mitsehr viel Takt vor, indem er derartige Freiheiten als Eigentümlichkeit desliterarischen Dialogs verteidigt: Feci igitur sermonem inter nos habitum in Cumano, cum esset una Pomponius; tibi dedipartis Antiochinas, quas a te probari intellexisse mihi videbar; mihi sumpsi Philonis. Putofore ut, cumlegeris, mirere nos id locutos esse inter nos, quodnumquam locuti sumus; sed nosti morem dialogorum (fam. 9, 8, 1); vgl. Lefèvre 1987, 113. Die partes Antiochinae dürften in derTat recht genau Varros . Einstellung entsprochen haben, vgl. unten Kap. II, 3, c: „ Schulzugehörigkeit“ 59 Att. 13, 13, 1.
1. Gespannte Freundschaft
25
sius, Catulus und Lucullus angelegt.60 Diese ursprüngliche Rollenverteilung entῆ λ ο ςzubegegnen: schloß er sich nunzuopfern, umVarros ζ
Tu autem mihi pervelim scribas qui intellexeris illum velle; illud vero utique scire ο τ υ π cupio quem intellexeris ab eo ζηλ ε ῖσ θα ι, nisi forte Brutum. Id hercle restabat.61
Wasgenau Varro so erpicht darauf machte,62 eines von Ciceros Werken gewidmet zubekommen, erfahren wir nicht. Wares seine Eitelkeit, als anerkanntester römischer Antiquar vomanerkanntesten Redner gewürdigt zu werden? Oder steckte ein politischer Grund dahinter: wollte Varro durch Cicero als Anhänger der Republik ausgewiesen werden? Das letztgenannte Motiv erblickte möglicherweise Cicero selbst hinter Varros Ansinnen.63 Dafür spricht seine Anspielung auf Brutus, demer gleich mehrere philosophische Schriften gewidmet hatte –Arbeiten, die keineswegs ausschließlich wissenschaftliche Zwecke verfolgten, sondern durchaus als politischer, dasheißt anticaesarischer Aufruf gelesen werden konnten.64 DaßCicero den politischen Hintergrund einer Widmung an Varro sehr wohl bedachte, belegt ein Brief anAtticus vom 11. Juli 45, in demer schreibt: nec tarnen α ἰδ μ α έο ι Τρῶ α ς .65 ῶ ε ςgalten die Vertreter der republikanischen Seite.66 Varro hatte sich sehr Als Τρ schnell von Caesar begnadigen lassen unddie ehrenvolle Stellung eines Bibliothekars angenommen. Der Aufbau einer Bibliothek nach alexandrinischem Muster, zu demes bis zu den Iden des März allerdings nicht mehr kam, war ein Teil von Caesars Programm, dereinen bewußt hellenistischen Akzent setzte.67 Cicero könnte also Vorwürfe vonseiten derCaesargegner gefürchtet haben, wenn er Varro, der sich so sehr hatte von Caesar vereinnahmen lassen, eine Schrift widmete –eine Furcht, dieangesichts Ciceros eigener Situation ‘zwischen allen Stühlen’nicht unbegründet war. Nach derSchlacht vonThapsos zählte Cicero fürdie Caesarianer zu 60 Vgl. Straume-Zimmermann / Gigon 1990, 324 zurEntstehungsgeschichte. Offenbar erschien ihmaber selbst diese Besetzung fürdenStoff eher ungeeignet: Sane in personas non cadebant (Att. 13, 19, 5), denn er trug sich zwischenzeitlich mit demGedanken illos sermones ad Catonem Brutumque zuübertragen (Att. 13, 16, 1). Wie weit er mit diesem Plan gediehen ist, wissen wir nicht; vgl. Lefèvre 1987, 113. 61 Att. 13, 13, 1. 5. 62 Vgl. Att. 13, 12, 3; 13, 13, 1; 13, 19, 3– 63 Nach Lévy 1992, 138 wardieursprüngliche Besetzung derDialogpartner mit Lucullus, Catulus undHortensius erheblich brisanter als die Neufassung, in der Zeitgenossen auftraten, „ parce qu’ils avaient incarné unepolitique, unartdevivre, à l’opposé deceux quitriomphaient avec César.“Dies, über Lucullus, Catulus undHortensius gesagt, ist sicher richtig, trifft aber ebenso aufCicero, Varro undAtticus zu. Die Academica posteriora sind also gegenüber dem Lucullus nicht politisch entschärft. Vgl. auch Strasburger 1990, 39 über denpolitischen Aussagewert derProsopographie in Ciceros Dialogen. Nach Hirzel I, 1895, 520 hat Cicero nur deshalb Zeitgenossen sprechen lassen, umdenAnschluß seiner Generation an die griechische Philosophie zuverdeutlichen. 37 fürdenBrutus gezeigt. 64 Dies hatetwa Rathofer 1986, 24– 65 Att. 13, 24, 1. 66 Shackleton Bailey z. St. 124 weist darauf hin, daßAugustus diesen ‘hellenistischen’ Plan einer 67 Skydsgaard 1968, 122– ‘Zentralbibliothek’bewußt nicht weiterverfolgte, sondern mehrere Bibliotheken einrichtete.
26
II. Varro undCicero
denBesiegten; die Anhänger der ‘res publica’waren ihmgram, daßer noch lebte: qui enim victoria se efferunt quasi victos nos intuentur, qui autem victos nostros moleste ferunt nos dolent vivere.68 Was ihm aber die eine Seite verübelte, mochte ihmdieandere alsSchmeichelei auslegen –Cicero konnte, wie er an anderer Stelle ιλ έ ν δ andeutet, als φ ο ξ ο ςerscheinen.69 Neben diesen politischen Erwägungen machte wohl auch Varros schwieriger Charakter dieWidmung derAcademica für Cicero so heikel. Er hatte Sorge, Varro könnte über dieVerteilung derRollen innerhalb desDialogs unzufrieden sein. Indes schienen Cicero dieAcademica nach seinem eigenen Urteil außerordentlich gut gelungen. Nicht ohne Stolz schreibt er anAtticus: Libri quidem ita exierunt, nisi forte ιλ α me communis φ υ τ ίαdecipit, ut in tali genere ne apud Graecos quidem simile quicquam.70 Er rühmt sich, nicht nur als erster die philosophische Abhandlung in Rom eingeführt, sondern zugleich griechische Vorbilder übertroffen zu haben. Auchhätten dieAcademica unter derUmarbeitung vonzwei in vier Bücher undder Vertauschung derGesprächspartner keineswegs gelitten, sondern, wie er selbst bekennt, sogar gewonnen: [...] e duobus libris contuli in quattuor. Grandiores sunt omnino quamerant illi.71 Über dieAuswahl derGesprächspartner schreibt er an anderer Stelle:
ὴ μ νσύντα ικ η Illam Ἀ κ α δ ξ ινtotam ad Varronem traduximus. Primo fuit Catuli, Luculli, Hortensi; deinde quia π νvidebatur, quod erat hominibus ρ ο ὰτ ὸπρέπ α nota nonilla quidem ἀ ρ ιψ , simul ac veni ad villam, τ ία π α ιδ ε sedin his rebus ἀ υ ία σ eosdem illos sermones ad Catonem Brutumque transtuli. Ecce tuae litterae de Varrone. Nemini visa est aptior Antiochia ratio [...].72 Zwarhatte er einerseits in derZuweisung derjeweiligen Rollen an die Gesprächs-
partner Zugeständnisse gemacht, indem er lebende Personen einführte,73 andererseits bezeichnet er aber denGedanken, Varro als Gesprächsteilnehmer auftreten zu μ α ιο ν .74DerPart desAntiochos sei Varro geradezu lassen, Atticus gegenüber als ἕρ auf denLeib geschrieben: Aptius esse nihil potuit ad id philosophiae genus quo ille
68 Fam. 9, 2, 2. 69 Att. 13, 19, 3; vgl. Shackleton Bailey z.St. 70 Att. 13, 13, 1. Dazu und zum folgenden vgl. Schäublin u.a. 1995, XLIV-LII, wo die Entstehungsgeschichte derAcademica posteriora kurzzusammengefaßt wird. 71 Att. 13, 13, 1; anderselben Stelle: Multo tarnen haec erunt splendidiora, breviora, meliora. 72 Att. 13, 16, 1. 73 Vgl. auch Att. 13, 19, 3: Sie enim constitueram, neminem includere in dialogos eorum qui viverent.
74 Att. 13, 19, 5: Haec Academica, ut scis, cumCatulo, Lucullo, Hortensio contuleram. Sane in μ ιο νadripui. Auchhat α ρ personas noncadebant [...] Itaque utlegi tuas deVarrone, tamquam ἕ sich Cicero nach eigenem Bekunden bei der Ausarbeitung des Varro zugedachten antiocheischen Gedankengebäudes ganzbesonders viel Mühegegeben: Es sei ihm sogar überzeugender geraten als seine eigene causa: non [sum] consecutus ut superior meacausa videatur. Sunt enim vehementer π ιθ α ν ὰAntiochia; quae diligenter a me expressa acumen habent Antiochi, nitorem orationis nostrum, si modo est aliquis in nobis. Dort auch das folgende Zitat. Vgl. Schäublin u.a. 1995, L: Die personelle Reduzierung –in Varro fielen die Rollen von Lucullus undHortensius zusammen –brachte „ eine gewisse Zuspitzung auf die Kontroverse zwischen Antiochos undPhilon“ , repräsentiert durch Varro undCicero, vgl.fam. 9, 8.
1.Gespannte
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maxime mihidelectari videtur. Trotzdem warsich Cicero nicht sicher, ob Varro es genauso sehen werde. Er möchte, so fürchtete er, vielmehr ungehalten sein über denihmzugedachten Teil, undCicero malt Atticus gegenüber eindrucksvoll dessen möglicherweise zuerwartende grantige Reaktion aus:75
Ita mihi saepe occurrit vultus eius querentis fortasse vel hoc, meas partis in his libris copiosius defensas esse quam suas, quod mehercule nonesse intelleges [...].76 Zusammenhang nennt er Varro, einen auf Achill bezogenen Ilias-Vers · τά χ ρ ακ το ή ε zitierend: δ νκ .77Cicero gefällt sich in ε ιν α ὸ ὶἀ ν ν α ςἀ ίτ ιο να ἰτ ιόῳ derartigen Charakterisierungen des offenbar etwas wunderlichen und recht empfindlichen Antiquars. Dies ist sicher nicht nur Koketterie. Varro warwohl wirklich schnell beleidigt, denn allzu oft betont Cicero Atticus gegenüber, daß dieser die Verantwortung fürVarros Reaktion aufdieWidmung aufsich zu nehmen habe: tuo periculo fiet.78 DeranVarro gerichtete Widmungsbrief fürdieAcademica ist von größter Höflichkeit undEhrerbietung gegenüber demGelehrten aus Reate getragen. Noch nie habe er sich miteinem Schreiben so sehr ‘gequält’, bekennt er Atticus: Er habe den Brief nicht einmal Tiro in derbewährten Weise diktiert –aus Sorge, der erprobte Schreiber, der ganze Abschnitte zu behalten und aus dem Gedächtnis niederzuschreiben vermochte, könne aus Routine Ciceros ausgesuchte Formulierungen , sondern Spintharus Silbe fürSilbe vorgesprochen.79 durch gewöhnliche ersetzen – Varro und Cicero hatten gewiß größte Achtung voreinander.80 Sie erkannten sich gegenseitig auf ihrem Feld als Autoritäten an, aber ihr Umgang läßt 81erkennen. un’assoluta mancanza difamiliarità“ „
Im gleichen
75 AusAtt. 13, 19, 5 läßt sich erschließen, daßAtticus 76
zunächst Bedenken geäußert hatte, weil Cicero sich selbst die causa superior zugewiesen habe. Diesen Einwand entkräftet Cicero. Att. 13, 25, 3.
77 Il. 11, 654. 78 Att. 13, 25, 3. Vgl. auch Att. 13, 24, 1: Sed ipsi quam res illa probaretur, magis verebar. Sed quoniam tususcipis, in alteram aurem; 13, 35, 2: si scias quanto periculo tuo! ρ ιο ε 79 Male misit si umquam quicquam tamenitar. Ergo ne Tironi quidem dictavi, qui totas π ὰ χ ςpersequi solet, sed Spintharo syllabatim, Att. 13, 25, 3. Vgl. Shackleton Bailey z.St., deraufdasbekannte Phänomen verweist, daßeinAbschreiber, dermitdenkt, für die Überlieferungeine größere Gefahr darstellt alseiner, dergedankenlos Silbe fürSilbe kopiert. 80 Höflichkeit wahrten Cicero undVarro inderwissenschaftlichen Auseinandersetzung auch dort, wosie zuunterschiedlichen Forschungsergebnissen gelangt waren: Soetwainder Kontroverse umdie Lebenszeit desNaevius, vgl. Cic. Brut. 60, wohl mit Bezug auf Varro Depoetis. Zur 197. Stelle s. Fleck 1993, 196– 81 Kumaniecki 1962, 228. Vgl. dasUrteil vonReid 1885, 49: DieBriefe anVarro verdeutlichten , sie seien „cold, forced andardie „impossibility of anything like friendship between thetwo“ Cicero evidently didnot like him, anddidnot tificial“undTyrrell / Purser, IV, 1918, 1xxii: „ care for hiscompany.“
2. VERHÄLTNIS ZU DENGRIECHEN
a) Varro alsVermittler derAltertümer Cicero würdigt Varros Verdienste um die Altertumsforschung in den ihm gewidmeten Academica, indem er alle Forschungsgebiete des Antiquars in einer Laudatio umgreift:
namnos in nostra urbe peregrinantis errantisque tamquam hospites tui libri quasi domum deduxerunt, ut possemus aliquando qui et ubi essemus agnoscere. tu aetatem patriae, tu descriptiones temporum, tu sacrorum iura, tu sacerdotum, tu domesticam, tu bellicam disciplinam, tu sedum regionum locorum, tu omnium divinarum humanarumque rerum nomina genera officia causas aperuisti; plurimum quidem poetis nostris omninoque Latinis et litteris luminis et verbis attulisti atque ipse varium et elegans omni fere numero poema fecisti, philosophiamque multis locis inchoasti, ad impellendum satis, ad edocendum parum.82
Er durchstreift Varros gesamtes Schaffen vonderFachschriftstellerei bis hin zu den Menippeischen Satiren. Lediglich diePhilosophie habe derPolyhistor nicht wissenschaftlich aufgearbeitet, nicht etwa aus Verachtung für den Gegenstand, sondern weil er geglaubt habe, der anihr Interessierte müsse die griechischen Philosophen imOriginal lesen. Cicero läßt Varro ausführen: Totum igitur illud philosophiae studium mihi quidem ipse sumo et ad vitae constantiam quantum possum et ad delectationem animi, nec ullum arbitror, ut apud Platonem est, maius aut melius a diis datum munus homini; sed meos amicos in quibus est studium in Graeciam mitto id est ad Graecos ire iubeo, ut ex fontibus potius hauriant
[...].83
Varro hatte sich nahezu ausschließlich auf die Erforschung der römischen Altertümerverlegt. Wie die Untersuchung seiner Arbeiten zumrömischen Theater noch zeigen wird,84 reproduzierte er ein ‘idealisches’, aus griechischen Quellen gewonnenes Bild undübersetzte es pietätvoll ins Römische. Wenn Cicero Varro in den Academica vonsich behaupten läßt, er habe, abgesehen vonL. Aelius Stilo, keine Vorgänger, so ist dasnurteilweise richtig:
quae autem nemo adhuc docuerat nec erat unde studiosi scire possent, ea quantum potui (nihil enim magnopere meorum miror) feci ut essent nota nostris; a Graecis enim peti non poterant ac post L. Aelii nostri occasum ne a Latinis quidem.85
Varro leitete genauso wie Cicero die ‘aemulatio’ mit Griechenland, die einschlägigenSchriften derGriechen waren ihmAnregung undVorbild.86 Er warindes stets
82 83 84 85 86
Ac. post. 1, 9. 8. Ac. post. 1, 7– S. unten die Kapitel III, IV undV. Ac. post. 1, 8. Vgl. Serv. Aen. 7, 176 über Varros De gente populi Romani: Varro habe in diesen vier Büchern dargelegt, quid a quaque traxerint gente [Romani] per imitationem. Nach Wendung 1893, 350 hatVarro denGesichtspunkt der imitatio „nach demVorgang von Posidonius [...]
2. Verhältnis zudenGriechen
29
bestrebt, die Eigenständigkeit römischer Leistungen, gemessen am griechischen Original, hervorzuheben.87 Im Gegensatz zu Cicero berücksichtigte er auch die etruskischen Ursprünge Roms undfand wohl auch im Verhältnis zur autochthonen Tradition das Prinzip der ‘imitatio’verwirklicht: ὧ ]τ ῶ νΤυρρηνῶ ὰπ ν ν[τ λ ε ῖσ τ α μ η ε ν σ ά ο ικ ρ α ὸ ὶπ ιμ ςτ ῖο μ α ιμ ὸκάλλ ιο ή να σ ὐ α ω ν τ κ Ῥ ε ξ α ςμετήνεγ νἐ π ὶτ ὴ ν .88Beide, Cicero undVarro, haben ihren Stoff einfühlsam auf röία ν ιτ ε νπ λ ο ία ἰδ mische Verhältnisse übertragen, griechisches Gedankengut gleichsam in die römische Tradition eingefügt.89 Sie stehen damit in der Nachfolge der frühen römischen Dichter und Historiker. Wie diese huldigen sie dem Kunstprinzip des ‘imitari’. Cicero gebührt das Verdienst, die ‘imitatio Graeca’ theoretisch begründet und gewürdigt zu haben. Er hat, im Gegensatz zu Varro, in einigen Proömien eine Art Methodendiskussion geführt, mitderer sein Vorgehen rechtfertigte.90
b) Cicero alsVermittler derPhilosophie Während Cicero in antiquarischen Dingen Varro denVortritt läßt, beansprucht er für sich die Palme als π μ α ρ χ ό ο ςder philosophischen Bildung in Rom. Ohne falsche Bescheidenheit stellt er sich in eine Reihe mitdenfrühen römischen Dichtern, welchediegriechischen Literaturgattungen nachRomgebracht haben. Die Philosophen sollten die Griechen ebenso imitieren wieEnnius, Pacuvius, Caecilius, Terenz.91 In diesem Sinne schreibt er dasProömium vonDefinibus als Verteidigung seiner Tätigkeit undals theoretische Fundierung des Kunstprinzips der ‘imitatio’, der gestaltenden, formenden Aneignung.92 AmBeginn deszweiten Buches vonDe divinatio-
principiell betont undsystematisch, wie es seine Art war, verwerthet.“Tatsächlich hatte Poη σ ιςderRömer gehandelt; vgl. ebd. seidonios, wohl in Anlehnung anPolybios, über die μ ίμ
341.
87 In Ac. post. 1, 18 läßt Cicero 88
89
90 91 92
Atticus seine Freude über Varros Arbeit des Übertragens griechischer Bildung zumAusdruck bringen: ‘Tuvero’inquit ‘perge Varro; valde enimamo nostra atque nostros, meque ista delectant cumLatine dicuntur et isto modo.’ Diod. 5, 40 nach Varro; vgl. Wendling 1893, 339. Eine ähnliche Stelle findet sich bei Sallust 38: Maiores nostri, patres conscripti, neque consili neque audaciae umquam egueCat. 51, 37– re; neque illis superbia obstabat, quominus aliena instituta, si modo proba erant, imitarentur [...] imitari quaminvidere bonis malebant. Dies gilt auch fürVarros Menippeische Satiren, die zwar formal ihrem Namensgeber MenipposvonGadara verpflichtet sind, inhaltlich aber aufdierömische Wirklichkeit Bezug nehmen; vgl. Relihan 1993, 52: „Varro borrows only the form of his works from Menippus, for the concerns of a Roman landowning patriot mustbedifferent from those of a Hellenistic cosmopolitan nihilist.“ Sehr klar hater dieses Kunstprinzip auchin denMenippeen Varros erkannt unddargestellt, indemer denDialogpartner Varro sagen läßt: [...] in illis veteribus nostris, quae Menippum imitati non interpretati [...] multa conspersimus [...], Ac. post. 1, 8. Vgl. Lefèvre 1987, 117. Vgl. auch Ac. post. 1, 10, woer die Leistung derrömischen Tragiker als non verba sed vim [exprimere] bezeichnet. Zur imitatio Graecorum als schöpferischer Vermittlung vgl. Knoche 322. Vgl. Probus zuVerg. ecl. 6, 31, Varro heiße Menippeus 1959, 58; vgl. ders. 1958, 321– nicht nach seinem Meister, derlange vor ihm gelebt habe, sondern nach derGeistesverwandtschaft (a societate ingenii).
30
II. Varro undCicero
ne zählt er sämtliche Bereiche der Fachschriftstellerei auf, die er übertragen unddemrömischen Leser zugänglich gemacht habe:
ins Lateinische
Adreliqua alacri
tendebamus animo sic parati ut, nisi quae causa gravior obstitisset, nullum philosophiae locum esse pateremur qui non Latinis litteris inlustratus
pateret.93
Cicero legte seinen Ehrgeiz darein, alsArcheget derphilosophischen Schriftstellerei inRomzugelten. Dabei verstand er sich freilich nicht nurals Übersetzer, sondern er glaubte, diegriechischen Originale durch Übertragung ins Lateinische zu verbessern.94 Imvollen Bewußtsein dereigenständigen geistigen Leistung ließ er sich seinenPlatz von niemandem, auch vonVarro nicht, streitig machen. Dies hat sicher mitdazubeigetragen, daßinderoft zitierten Laudatio des varronischen Schrifttums in denAcademica die Philosophie ausdrücklich ausgenommen wird, als außerhalb der Domäne des angesehenen Gelehrten liegend.95 Insbesondere wenn sich Cicero gegen diejenigen wendet, qui se Latina scripta dicunt contemnere96 ist vor allem Varro gemeint, derdieThese verfochten hatte, mankönne die griechische Philosophie nur exfontibus schöpfen.97 Philosophie ist Cicero nicht nur Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern Grundlage jeder geistigen Betätigung überhaupt, sie sei, so hält er ihren Gegnern in denTusculanen98 entgegen, cultura animi. Dieses rückhaltlose Bekenntniszur‘sapientia’derGriechen dürfte nicht zuletzt mit Blick auf Varro so eindeutig ausgefallen sein.99 Hatte doch der Archeget der Menippea in Rom –freilich mit gattungsüblicher Überzeichnung –die Reden der Philosophen mit den Wahnvorstellungen Kranker verglichen.100 So zeigt sich bei allem gegenseitigen Respekt des Redners unddes Gelehrten doch auch im Verhältnis zurgriechischen Bildung eine leichte Rivalität, bisweilen sogar Dissens –der freilich mit urbanen Mitteln ausgetragen wurde.
93 Div. 2, 4. Vgl. auch Ac. post. 1, 3: Cicero will philosophiam [...] ortam Latinis litteris illustrare.
veterem illam
a Socrate
94 Vgl. Att. 13, 13, 1; vgl. Harder 1952, 106; vgl. auch die Scipio Africanus in denMund gelegte Äußerung in rep. 2, 30: quod multa intelleges etiam aliunde sumpta meliora apud nos multo esse facta, quam ibi fuissent unde huc translata essent atque ubi primum exstitissent [...]. 95 Vgl. Ac. post. 1, 9. 96 Fin. 1, 4. 97 Ac. post. 1, 8. 13. 98 2, 12– 99 Vgl. Knoche 1959, 71: Dieser Satz sei gegen Varro gerichtet, „und, ich denke, er ist gut ge-
. zielt“
100 Sat. Men. 122 Astbury.
3. VERHÄLTNIS ZUR PHILOSOPHIE a) ‘uti’–‘frui’ poetae.101 In dieser zu einem geflügelten Wort gewordenen Sentenz stellt Horaz zwei τ ηderDichtung, oder mankönnte allgeέ λ mein sagen, geistiger Betätigung, heraus. Diese schließen sich bald aus –so im zitierten Zusammenhang – , bald werden sie gemeinsam erstrebt.102 Das Begriffspaar zieht sich gleichsam leitmotivisch auchdurch Varros Werk. Bereits auseiner frühen Schrift, der Menippeischen Satire Meleagri, ist ein Fragment erhalten, das beide Termini gegenüberstellt: quaero, utrum fructuis andelectationis causa? si fructuis ut vendatis [...].103 Das Bruchstück entstammt höchstwahrscheinlich einem Gespräch über denZweck derJagd, in demerörtert wurde, ob diese mehr der delectatio oder demfructus gelte. DaßVarro beides, Nutzen undVergnügen, für durchaus vereinbarhielt, belegt einFragment ausderSatire Nescis quidvesper serus vehat. Es geht darin umTischgespräche, die nach Auffassung Varros das Nützliche unddas Angenehme verbinden sollen: In convivio legi non omnia debent, sed ea potissimum quae simul sint β ῆet delectent [...].104 In gleicher Weise will Varro sogar im φ ιω ε λ Landbau beide Elemente vereint wissen. Ausseiner Arbeit, so führt er in De re rustica aus, gewinne derBauer dieFrüchte derErde undpersönliche Erfüllung: agricolae ad duas metas dirigere debent, ad utilitatem et voluptatem; utilitas quaerit fructum, voluptas delectationem.105 Hier wird die bäuerliche Arbeit beinahe schon als Selbstzweck dargestellt. Varro nimmt die vergilische Konzeption des ‘labor’ vorweg. Die Arbeit ist demnach nicht erst durch die Ernte gerechtfertigt, sondern trägt bis zueinem gewissen Grad ihren Wert in sich. Varro vermengt dadurch die traditionell getrennten Bereiche. Das convivium, derInbegriff des Vergnügens, hat in seinem Denken Anteil amutile, die schwere bäuerliche Arbeit, die nicht selten vomMißerfolg heimgesucht wird, reicht indenBereich dervoluptas hinein. In ling. 8, 31 entwirft Varro geradezu eine Ästhetik, wenn er Gebrauchsgegenstände wie Kleidung, Wohnung, Tischgerätschaften nicht allein am Grad ihrer Nützlichkeit, ρ έ π ν , letztlich also einem ästhetischen Wert, ο sondern auch amhonestum, demπ mißt.106 Die Verbindung des Nützlichen mit demErfreulichen zieht Varro auch im
Autprodesse volunt aut delectare
101 Hor. A.P. 333. 4. 102 Vgl. Horaz über Homer, epist. 1, 2, 1– 103 Sat. Men. 295 Astbury. ZuDeutungsmöglichkeiten undRekonstruktion derSatire vgl. Cèbe, 1310. Bd. 8, 1306– 104 Sat. Men. 340 Astbury. 105 Rust. 1, 4, 1. ZurBehandlung desAngenehmen unddesNützlichen bei Varro vgl. Pfligers202. dorffer 1971, 198– 200. So soll es die Kleidung etwa nach Varro ermöglichen, ut 106 Vgl. Pfligersdorffer 1971, 199– videamur vestiti esse honeste, ling. 8, 31. Honeste ist hier im Sinne von ansehnlich’, ‘ ebd.: non ‘ehrbar’gebraucht. Varro hateine Brücke vomhonestum zumutile geschlagen; vgl. solum vasa ad victum habilia, sed etiam figura bella atque ab artifice , quod aliud homini, aliud humanitati satis est; quodvis sitienti homini poculum idoneum, humanitati si bellum parum.
32
II. Varro undCicero
ρ ε τ α ὶ Bereich derSprache unddesStils. In ling. 8, 26 verteidigt er die stoischen ἀ ή ν ε ια , Klarheit undKürze, die die utilitas der μ ίαundσαφ γ ο υ , nämlich συντο λ ό Rede ausmachten: Omnis ratio cumdebeat dirigi adutilitatem, adquam turn denique pervenit, si est aperta et brevis [...]. Zur utilitas mußjedoch nach ling. 8, 31 auch noch die elegantia hinzutreten: [...] duplicem [...] esse summam, ad quas metas naturae sitperveniendum in usu, utilitatis et elegantiae [...].
Zumindest einleiser Anklang an das von Varro aufgestellte Gleichgewicht von ‘uti’und ‘frui’ist aus einigen Passagen vonCiceros Cato Maior de senectute herauszuhören. Das Werk ist ebenso wie der Laelius de amicitia im Jahr 44 verfaßt – ein Alterswerk, demFreund Atticus gewidmet unddazubestimmt, die Furcht vor dersenectus zu nehmen.107 Die Titel beider Schriften, diejeweils denHauptredner desDialogs undsein Thema nennen –tatsächlich handelt es sich nicht umDialoge imstrengen Sinne, sondern umVorträge derTitelperson, die nurdurch kurze Ein, rufen die 76 Bücher Logistowürfe desGesprächspartners aufgelockert werden – rici inErinnerung, dieVarro nachdemgleichen Schema überschrieb: Cato de liberis educandis, Marius defortuna, Curio de cultu deorum etc.108 Auch inhaltlich lassen sich Parallelen zumWerk Varros aufweisen. Derältere Cato erscheint aus der Sicht Ciceros gleichsam als Verkörperung derVereinigung von ‘uti’und ‘frui’. Als kultivierter Römer versteht er es, ‘mosmaiorum’undgriechische Bildung, Pflichterfüllung undschöne Künste zuvereinigen. Er wird unter derHand Ciceros zumIdeal des ‘homo humanus’–einem dezidiert römischen Ideal. Dieser Cato verliert sich nicht in geistreichen Spielereien, betreibt Philosophie nicht als rein intellektuelles ιVergnügen, sondern zumallgemeinen Nutzen. Bei ihmist noch zu spüren, daßφ λ φ ο ίαzu seinen Lebzeiten ein Schimpfwort in Rom war.109 Cato ist nicht σ ο φ ιλ ό σ φ ο ο ς , er ist sapiens; nicht einmal Sokrates, demdas stehende Epitheton sapientissimus von Apoll verliehen worden sei, könne weiser als Cato genannt werden: huius enimfacta, illius dicta laudantur.110 Cicero verteidigt im Cato Maior das Alter gegen denVorwurf, es sei trist und entbehre aller Freuden –die Freuden seien vielmehr, so läßt er Cato erörtern, nur andere geworden. Als ein Beispiel führt er die Erfüllung, die er aus demLandbau schöpfe, ins Feld: Venio nunc ad voluptates agricolarum, quibus ego incredibiliter delector.111 DerBegriff voluptas im Zusammenhang mit der Mühe des Landbaus wirkt ähnlich überraschend wie bei Varro. In den Augen des Verfassers einer ίο ς Schrift über res rusticae rückt die bäuerliche Tätigkeit geradezu in die Nähe des β η τ ικ ό ρ ς , adsapientis vitam proxime [sc. voluptates agricolarum] videntur acceθ ε ω dere. Homer wird als Zeuge bemüht: [...] Homerus [...] Laertam lenientem deside-
107 Atticus warzumZeitpunkt der Veröffentlichung 65, Cicero 62 Jahre alt, nach römischem Verständnis galten sie alssenes. 108 Vgl. Flocchini 1987, 6. 109 Vgl. Rosen 1985, 82. 110 Cic. Lael. 9f. Vgl. Flocchini 1987, 9: „Siamo [...] nell’ambito della piú schietta etica romana,chepone al centro deldovere dell’uomogrande nonlaricerca di unaverità scientifica o filosofica cheappare fine a se stessa, mal’azione capace dimigliorare le strutture etiche e sociali della comunità“ . 60, hier: 51; dort auch das folgende Zitat. 111 Cic. Cato 51–
3. Verhältnis zurPhilosophie
33
rium, quod capiebat e filio, colentem agrum et eum stercorantem facit.112 Für Cato liefert derLandbau eine Fülle vonoblectamenta:113 Er ist ein officium für das genus hominum universum, eine delectatio für den Landmann und schließlich ein Stück Verehrung der Götter.114 Cato bildet diese Klimax, wie er sagt, ut [...] in gratiam iam cum voluptate redeamus.115 Dies ist ein Rückbezug auf Kapitel 46, wo Cato vondenTafelfreuden, denvoluptates beim convivium, gehandelt unddiese neu definiert hatte: habeo [...] senectuti magnam gratiam, quae mihi sermonis aviditatem auxit, potionis et cibi sustulit. Nicht, daßer leibliche Genüsse ganz ablehnte –ne omnino bellum indixisse videar voluptati, cuius estfortasse quidam naturalis modus – , sie treten aber zugunsten des Gesprächs weiter zurück. Derjenige Aspekt, den ή φ ιω ε Varro als β ςbezeichnet hatte, wirdzubesonderer Geltung erhoben. Ausder λ Abgeklärtheit desAlters erschließt sich demciceronischen Cato die Verbindung von ‘uti’und‘frui’. DerSchöpfer dieses Catobilds verdankt die Anregung dazu höchstwahrscheinlich Varro. Varros einzige, wennauch nuraus Fragmenten einigermaßen kenntliche Arbeit zur Philosophie, derLiber de philosophia, scheint unter anderem dem Verhältnis zwischen ‘uti’ und ‘frui’, zwischen otium’ und ‘negotium’ nachgegangen zu sein.116 Diese Studie mußnach Ciceros ‘Academica posteriora abgefaßt sein, da die Philosophie dort aus demSpektrum von Varros Forschungen ausdrücklich ausgeklammert wird. Sie ist also in die Zeit nach demSommer 45 zu datieren.117 Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Varro überhaupt erst durch Ciceros Academica dazu angestoßen wurde, die Philosophie ebenso wie die übrigen Lebensbereiche zu systematisieren.118 Immerhin fordert Cicero den Adressaten seiner Schrift auf, doch auch auf demGebiet der Weisheitslehren schriftstellerisch tätig zu werden.119 Im folgenden läßt er ihn dann selbst einen Plan entwerfen, wie ein solches Werk auszusehen hätte: es müßte eine Verteidigung der Alten Akademie sein, die mit viel Scharfsinn etiam contra Stoicos abzugrenzen sei. Dies ist ja auch tatsächlich das Thema des Liber dephilosophia geworden. DaßCicero gerade die Darstellung der Unterschiede zwischen Alter Akademie und Stoa Varro als besonderes Desiderat ansHerz legt, geht höchstwahrscheinlich auf eine Kontroverse beider zurück, von
Cic. Cato 54. Cic. Cato 55. Cic. Cato 56. Vgl. Flocchini 1987, 135, Anm. 9, z.St. 116 Einige Grundgedanken desWerkes lassen sich ausdem19. Buch von Augustinus’ De civitate 16 LanDeirekonstruieren. Zur Frage nach demrechten Lebensideal vgl. vor allem fr. 5,12– genberg: Ex tribus porro illis vitae generibus, otioso, actuoso et quod ex utroque compositum est, hoc tertium sibi piacere adseverant. Haec sensisse atque docuisse Academicos veteres VarFür ein solches Leben ist Varro selbst ro adserit auctore Antiocho, magistro [...] suo [...]. „ , Langenberg 1959, 57. dasschönste Beispiel“ 117 ZurDatierung derAcademica posteriora vgl. Straume-Zimmermann / Gigon, 454 undTyrell / Purser, V, 1915, XIX-XX. Unelecture plus attentive dutexte montre, en effet, quedans l’esprit 118 Vgl. Lévy 1992, 143: „ del’Arpinate il y a une continuité nécessaire entre les travaux passés de Varron et l’oeuvre
112 113 114 115
philosophique qu’il est invité à réaliser, les premiers 119 Cic. Ac. post. 1, 3; dasfolgende 1, 7.
portant
la seconde engerme.“
34
II. Varro undCicero
derAugustinus noch einen Reflex überliefert; Cicero und Varro seien uneins darüber gewesen, ob ihr einstiger gemeinsamer Lehrer Antiochos nunals Stoiker oder eher alsAlter Akademiker zugelten habe: Haec sensisse atque docuisse Academicos veteres Varro adserit, auctore Antiocho, magistro Ciceronis et suo, quem sane Cicero in pluribus fuisse Stoicum quam veterem Academicum vult videri.120 So verdankt sich Varros einzige erhaltene philosophische Schrift möglicherweise der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mitCicero. Was Varros Zugehörigkeit zu einem philosophischen System angeht, erweist er sich in dieser Schrift als ein Schüler des Antiochos,121 doch hat er in dessen Lehre einen epikureischen Zughereingebracht, indem er denprimigenia naturae,122 den äußeren Bedürfnissen, die der Stoiker als ο μ ῖνund damit als ἀδιάφ ’ἡ φ κἐ ὐ ρ α ο bezeichnen würde, eine hervorgehobene Position zuweist. Es fällt auch hier die starke Betonung desAspektes derdelectatio bzw. voluptas auf. Sie erfährt eine im Menschenbild Varros begründete Berechtigung. Das Referat Augustins läßt sich in zwei Hauptteile gliedern, zum einen die doxographische Tafel, in der Varro alle tatsächlich bestehenden und theoretisch denkbaren philosophischen Richtungen nach 288 Schulen differenziert,123 zum zweiten Varros eigenes philosophisches Bekenntnis. Im ersten Teil fand offenbar eine recht ausführliche Auseinandersetzung mit epikureischem Gedankengut statt, nicht ohne verurteilenden Grundton, der aber vielleicht erst durch den Exzerptor Augustinus hineinkam. Varro nennt drei mögliche Beziehungen zwischen virtus undvoluptas: voluptas vel subdita vel praelata vel iuncta virtuti.124 Die Lehre Epikurs, derzufolge die Tugend allein ad consequendam vel conservandam corporis voluptatem diene, in der die virtus also der domina voluptas hörig sei undnur auf die Befriedigung derprima naturae ziele, nennt Augustinus eine horribilis turpitudo.125 Leider fehlt die Auseinandersetzung mit dem stoischen Standpunkt. Im zweiten, ‘persönlichen’Teil desLiber dephilosophia entwickelt Varro sein eigenes Credo. Er nimmt eine vermittelnde Position ein. Virtus undprima naturae stehen gleichberechtigt nebeneinander. DieBegründung dafür liefert Varros Anthropologie: derMensch bestehe ausLeib undSeele, undtrotz desVorranges derletzteren könne keiner derbeiden Teile ohne denanderen existieren: [Varro] quid sit ipse homo quaerendum putat. Sentit quippe in eius natura duo esse quaedam, corpus et animam, et horum quidem duorum melius esse animam longeque praestabilius omnino non dubitat, sed utrum anima sola sit homo [...] an corpus solum sit homo [...] an vero nec anima sola nec solum corpus, sed si-
120 Aug. civ. 19, 3. 121 Vgl. Langenberg 1959, 42. 94 Langenberg = Aug. civ. 19, 2. 122 Fr. 4 Langenberg = Aug. civ. 19, 3; vgl. auch fr. 3, 79– 123 WasfürProbleme es verursacht, verschiedene Lehrmeinungen genau gegeneinander abzugrenzen, reißt Cicero in Ac. post. 1, 7 kurz an; Varro hat darauf ‘geantwortet’, indem er die Systematik von288 differenzierbaren Schulen entwarf. Auchdies deutet darauf hin, daßderLiber dephilosophia tatsächlich eine Reaktion aufCiceros Academica sein könnte. Vgl. auch Coppa 68. 1956, 65– 33 Langenberg. 124 Fr. 2, 21– 125 Vgl. dazu Cic. fin. 2, 37 und2, 69, wo sich Cicero in ähnlichem Sinne äußert. Verwandte Gedanken finden sich bei Sen. dial. 7, 13, 5.
35
3. Verhältnis zurPhilosophie
mulutrumque sit homo, cuius sit pars una sive anima sive corpus, ille autem totus ex utroque constet, ut homo sit [...].126
Ausdieser zweifachen Natur desMenschen ergibt sich, daßer auf geistige körperliche Güter, aufdievirtus unddieprima naturae angewiesen ist: Proinde summum bonum hominis, quo fit beatus, dicit, 7 et animae scilicet2et corporis.1
wie auf
ex utriusque rei bonis constare
b) Die Stellung der ‘virtus’ DieVerquickung von‘utile’und‘delectatio’scheint genuin varronisch zu sein, der römische Gelehrte hat sie wohl nicht von Antiochos übernommen, ansonsten wäre diese Theorie vermutlich auch im fünften Buch vonDefinibus, wo Cicero die antiocheische Güterlehre behandelt, aufgegriffen worden. Vielmehr hat Varro bewußt einen eigenen Weg gewählt.128 Soweit besteht zwischen ihm und Cicero in der Nachfolge des Antiochos noch Einigkeit, daßmandie ἐ μ α τ α ή , die äußeren ε ν ν π ιγ Güter, nicht geringschätzen dürfe.129 Darin unterscheiden sie sich beide vom strengen Stoizismus Zenos, der den äußeren Gütern als ἀ ρ αkeinerlei Wert zuφ ο δ ιά maß. Im Anschluß an das Bekenntnis zurperipatetischen Lehre macht Cicero aber in Definibus ab 5, 77 logische Einwände gegen Antiochos geltend: wenn manaußer demsittlich Guten noch andere Güter bzw. Übel gelten lasse, so falle die Behauptung, derWeise sei glücklich, in sich zusammen. Glücklich sei nämlich dann nurder, deralle Güter, auch die äußeren, besitze undnicht von Übeln heimgesucht werde.130 Damit gebe es nach Antiochos gleichsam zwei Glücksstufen: die vita beata, die allein mit virtus auskomme, und die vita beatissima, zu der noch äußere Güter hinzutreten müßten.131 Es ist nur das logische Problem, das Cicero hierbei interessiert, nicht jedoch die inhaltliche Frage, was die Tugend leiste oder was Wahrheit sei.132 Seine Antwort klingt nach einem Kompromiß: man müsse das Ganze nach seinem größten Teil bewerten, unddies sei die Tugend, vor der alles andere verblasse.133 DerUnterschied zu den Stoikern beruhe auf bloßer Umbenennung der Begriffe. Während die Stoiker behaupteten, es gebe keine äußeren Übel, ρ α fielen, nennten sondern allenfalls Unannehmlichkeiten, die aber unter die ἀ φ ο ιά δ diePeripatetiker dieÜbel beimNamen, lehrten aber, sie zuertragen.134 14 Langenberg. 126 Fr. 4, 2– 21 Langenberg. 127 Fr. 4, 19– 128 Vgl. Görler 1994, 971. 129 Cic. fin. 5, 72; Varro, fr. 4 Langenberg. 96. 130 Cic. fin. 5, 77– 131 Cic. fin. 5, 81: Die virtus alleine ohne äußere Annehmlichkeiten sei adbeatissime vivendum parum [...] adbeate vero satis. Diese Unterscheidung wird ausdrücklich als antiocheisch bezeichnet.
132 Fin. 5, 79: menon quaerere [...], quid virtus efficere possit, sedquid constanter dicatur, quid ipsum a se dissentiat; 5, 83: nonenimquaero quid verum sedquid cuique dicendum sit. 133 Fin. 5, 91: et nonex maxima parte de tota [sc. vita] iudicabis? an dubium est, quin virtus ita maximam partem optineat in rebus humanis, utreliquas obruat? 134 Fin. 5, 94; vgl. 5, 74: Die Stoiker hätten lediglich die peripatetische Lehre umetikettiert (signa commutare; notas mutare).
36
II. Varro undCicero
Varro findet einen anderen Ausweg aus der logischen Zwickmühle, indem er ρ ό η ν σ ις.135 Die virtus sei eine die virtus neudefiniert im Sinne der aristotelischen φ ars agendae vitae, eine Artvon ‘Lebensklugheit’. Diese ars vivendi136 sorge für den richtigen Gebrauch der prima naturae, so daß sie schließlich zu delectatio und
fructus beitrügen: Quapropter eadem virtus, id est ars agendae vitae cum acceperit prima naturae [...] omnia propter se ipsa appetit simulque etiam se ipsam, omnibusque simul et se ipsa utitur, eo fine, ut omnibus delectetur atque perfruatur, magis minusque, ut quaeque inter se maiora atque minora sunt, tarnen omnibus gaudens et quaedam minora, si necessitas postulat, propter maiora vel adipiscenda vel tenenda contemnens.137
Dervirtus kommt eine Steuerfunktion
gegenüber denprima naturae zu, sie ist ihnen qualitativ vorgeordnet, nichts steht über ihr: Omnium autem bonorum vel animi vel corporis nihil sibi virtus omnino praeponit.138 Diese prima naturae können dem Menschen nurdadurch zu bona werden, daß sie richtige Verwendung finden –dafüraber sorgt die virtus:
Haec [sc. virtus] enim bene utitur et se ipsa et ceteris, quae hominem faciunt beatum, bonis. Ubi vero ipsa nonest, quamlibet multa sint bona, non bono eius sunt, cuius sunt, ac per hoc nec eius bona dicenda sunt, cui male utenti utilia esse non possunt. Haec ergo vita hominis, quae virtute et aliis animi et corporis bonis, sine quibus virtus esse nonpotest, fruitur, beata esse dicitur.139
Nun sind dieprima naturae oder primigenia, die ja letztlich die Grundbedürfnisse aller Lebewesen abdecken, schon vor der virtus da, sie sind die Voraussetzung, damit virtus überhaupt erst entsteht, der Stoff, an demdie Kraft der virtus sichtbar wird. Varro spricht von corporis bona, sine quibus virtus esse non potest,140 von prima naturae, quae sine illa [sc. virtute] erant, sed tarnen erant etiam quando eis doctrina adhuc deerat.141 Für die Eudaimonie des Menschen sind virtus undprima naturae gleich wichtig, beide sind laut Varro propter se ipsa petenda. Dennoch ist bei ihm die Position der virtus imVergleich zu dem System Ciceros insofern geschwächt, als sie sich erst im Anschluß anundin Auseinandersetzung mitdenprimanaturae entwickelt, insofern abhängig vonihnen ist: sine quibus virtus esse non potest. Die Sittlichkeit umihrer selbst willen, die autark von äußeren Gütern ist, gibt es bei Varro nicht.142 Die virtus wird damit zwar nicht gerade zurDienerin der domina voluptas, aber sie wird gleichsam als ‘moderatrix voluptatum’ erst durch 22; Ac. post. 1, 18, 135 Zu peripatetischem Gedankengut bei Antiochos vgl. Cic. fin. 5, 7; 5, 21– vgl. Langenberg 1959, 53 mit Anm. 68. 136 Fr. 4, 23 Langenberg. 31 Langenberg. 137 Fr. 4, 24– 32 Langenberg. 138 Fr. 4, 31–
38 Langenberg. 139 Fr. 4, 33– 38 Langenberg. 140 Fr. 4, 37– 26 Langenberg. 141 Fr. 4, 25– 142 Vgl. Görler 1994, 972: Es fehle dasstoische ‘telos’, dasnur die Tugend gelten lasse; ebd. 973: Varros Sicht der ‘vita beata’inAbhängigkeit vonTugend undäußeren Gütern stelle eine Neuerung gegenüber Antiochos dar.
3. Verhältnis zur Philosophie
37
diese sinnvoll. Darin liegt eine Aufwertung der äußeren Güter und damit eine ‘Epikureisierung’ des (ciceronischen) Antiochos. Varro ist im Grunde den von Cicero im fünften Buch von Definibus vorgezeichneten Weg ein Stück weitergegangen. Er hat, indem er die virtus deraristotelischen φ η ρ σ ιςangenähert hat, die ό ν unbefriedigende antiocheische Unterscheidung zwischen vita beata undvita beatissima ausgeräumt.
c) Schulzugehörigkeit Varro undCicero waren beide keine originären Denker und wollten es auch nicht sein. Cicero beabsichtigte, „ diewichtigsten Lehren dergriechischen Schulen in eine klare undansprechende lateinische Form zu kleiden“ .143Er hat sich damit weniger eine philosophische als eine kulturhistorische Aufgabe gestellt. Auch Varro war eher einunphilosophischer Kopf, der bestenfalls ein vorhandenes Gedankengebäude systematisierte, nicht jedoch ein gänzlich neues entwarf. Bezeichnend für seine Haltung ist ein Fragment ausder Menippeischen Satire Eumenides: postremo nemo aegrotus quicquam somniat / tam infandum, quod non aliquis dicat philosophus.144 Dahinter steht das pragmatische, jeder Spitzfindigkeit abgeneigte Denken des mißtrauischen Römers, dessen ethischer Maßstab die Sittenstrenge vergangener Zeiten Anschluß an Antiochos erklärt sich weitgehend aus demphiloist.145 Sein später „ sophischen Programm dieses Mannes. Voraussetzung war Antiochos’ wiedergewonnener Dogmatismus, denn für Varro, den Erneuerer der altrömischen Moral, war ein Skeptizismus in ethischen Fragen unmöglich.“146Neu ist für Varro allerdings die ‘Epikureisierung’ der sogenannten Alten Akademie, das heißt der antiocheischen Philosophie. Nicht weniger pragmatisch verfuhr Cicero in ethischen Fragen. Als Redner, Anwalt undSchriftsteller, in bezug auf die Erkenntnistheorie, mager zwar skeptischer Akademiker im Sinne des ‘in utramque partem disserere’ gewesen sein,147 undals Politiker zumal lernte er die Zweifelhaftigkeit angeblich gültiger Wahrheiten kennen;148 als Mensch, im Bereich des praktischen Handelns, suchte er wie Varro
143 Fuhrmann 1989, 225. Vgl. auch das Proömium vonDefinibus. 144 Sat. Men. 122 Astbury. 145 Wie glaubwürdig dieNachricht bei Gellius 2, 18, 6 ist, Varro habe in seiner Jugend mit dem Kynismus geliebäugelt, sei dahingestellt; vgl. Macr. sat. 1, 42; Tert. apol. 14. 146 Langenberg 1959, 30. Antiochos hatte sich vondemvon Philon von Larissa gelehrten Skeptizismus losgesagt undeine Annäherung an die dogmatische Richtung vollzogen. Deren Vertreter, die Stoiker, sind alsAcademici veteres in derdoxographischen Tafel genannt, fr. 2, 43 10Langenberg denAcademici novi, derskeptischen RichLangenberg. Sie werden in fr. 5, 9– tung, gegenübergestellt, vgl. Langenberg 1959, 53. Die festen Dogmen derAlten Akademie (certa dogmata, fr. 3, 2 Langenberg) zogen Varro an, zumSkeptizismus ging er auf Distanz, fr. 5, 8 Langenberg, vgl. Langenberg 1959, 54. 129. Auf das Gebiet der Grammatik hatte selbst Varro das ‘disputare 147 Vgl. Lefèvre 1987, 128– in utramque partem’ übertragen, indem er in De lingua latina die unterschiedlichen Lehrmeinungen zu Etymologie undAnalogie bzw. Anomalie nach Pro- undContra-Argumenten abwägend beleuchtete, vgl. vonAlbrecht, I, 1992, 478; dazu neuerdings auch Ax 1995, 154. in seinen Grundüber148 Vgl. Langenberg 1959, 30, Anm. 8. Vgl. auch Fuhrmann 1989, 52: „ zeugungen blieb er [sc. Cicero] derphilosophischen Skepsis treu.“
38
II. Varro undCicero
einen vomZweifel möglichst unangefochtenen Standpunkt, selbst wenn dies seinemnüchtern-rationalen Blick entgegenstand.149 Er vertrat in Ethik und Güterlehre150 vonderSache, nicht vonderBegrifflichkeit hereine stoische Ethik.
d) Philosophie als Trost Erst in derZeit des Bürgerkriegs scheinen sich Cicero und Varro auch persönlich etwas nähergekommen zu sein. Spärliche Spuren in den Briefen zeigen, daß sie über die allgemeine politische Lage wohl ihre Meinung ausgetauscht haben.151 Klare Stellungnahmen werden jedoch in denBriefen gemieden.152 Ein Ende 47 oder Anfang 46 an Varro gerichtetes Schreiben schlägt ein Treffen im Tusculanum vor, zu demes aber wohl niekam. Varro warzurAbfassungszeit des Briefs noch in Griechenland,153 möglicherweise in Gesellschaft pompejanischer Senatoren, denen, anders als Cicero undLaelius, dieRückkehr nach Italien noch verboten war.154 Cicero kündigt in diesem Brief denRückzug aus der ‘vita activa’an, er habe sich mit seinen ‘alten Freunden’, den Büchern, versöhnt. Er, der Staatsmann mit Leib und Seele, erhebt denSelbstvorwurf, zutief in die politischen res turbulentissimae eingetaucht zu sein, undlobt Varro, der, im Gegensatz zu ihm selbst, seine geistigen Interessen nie vernachlässigt habe. Die Resignation in Ciceros Worten ist unüberhörbar. Er warzupessimistisch, umzuglauben, es werde für ihn noch einmal eine ehrenvolle Rückkehr in die Politik geben.155 Sein in gratiam redire cum libris ist
149 Zu dieser
inneren Gespaltenheit, demHin- undHergerissensein zwischen Pragmatismus und 1116. Skeptizismus vgl. Görler 1994, 1099– 1101, der bei Cicero drei Standpunkte, einen hohen’, einen 150 Vgl. Görler 1994, 1100– die stoische, die ‘mittleren’undeinen ‘niedrigen’findet, denen er jeweils im Denken Ciceros ‘ alt-akademische unddieepikureische Weltsicht zuweist. Der ‘hohe’ Standpunkt sei derjenige, Es denCicero ‘wünsche’, derdenmenschlichen Bedürfnissen Trost undSicherheit gewähre: „ ist eine tröstliche unddarum willkommene Ansicht, dass sittliche Vollkommenheit allein dauerhaftes Glück demMenschen garantiert; beweisbar ist dasfreilich nicht; die Erfahrung und . derVerstand [...] weisen eher indieandere Richtung“
8. 151 Fam. 9, 1– 152 Dies hatte sicher seinen
153
Grund. Denn die Cäsarianer setzten alles daran, den Gedankenaustausch ihrer Gegner auszuspionieren, vgl. fam. 13, 68; 4, 4, 2. Auch kam es wohl vor, daß Reisende durchsucht wurden, vgl. Att. 10, 31, 4; 11, 2, 4, so daß es tunlich erscheinen konnte, wirklich brisante Informationen mündlich überbringen zu lassen, ja im Zweifelsfall Briefe nurals Tarnung mitzugeben, umvom wahren Grund desBotengangs abzulenken; vgl. Straspar burger 1990, 27. Als ‘Stimmungsbarometer’ sind die Briefe jedoch sehr aufschlußreich: „ leur sincérité même, elles constituent undocument très précieux sur l’état d’esprit deCicéron , Lévy 1992, 134. à unmoment crucial desa vie“ Vgl.fam. 9, 2, 2: Quaeres fortasse cur, cum haec in urbe sint, non absim, quem admodum
tu.
154 Vgl. Shackleton Bailey zufam. 9, 1, 1. 3. Infam. 9, 15, 3 klagt 4; 9, 16, 1– 155 Zum Pessimismus Ciceros vgl. fam. 7, 28; 9, 15, 2– Cicero, für Leute wie ihn gebe es gerade noch im Kielwasser des Staates Platz: sedebamus enim in puppi et clavum tenebamus; nunc autem vix est in sentina locus. sentina ist der Begriff, den Sallust für das Milieu der Catilinarier gebraucht. Inzwischen gilt er unter umgekehrtem Vorzeichen.
3. Verhältnis zurPhilosophie
39
keine Entscheidung aus freien Stücken, sondern die Konsequenz aus der bitteren Erkenntnis derTatsachen. Auch Varro war ein Mann des politischen Lebens, doch die ‘negotia publica’ scheinen ihn nie existentiell berührt zu haben.156 Er fand in seinen Forschungen stets ein ‘receptaculum’, auf das er sich zurückziehen konnte. Anders als Cicero scheint er sich nieunter Rechtfertigungsdruck gefühlt zu haben, im vollen Bewußtsein, daßseine schriftstellerische Tätigkeit für das Gemeinwesen ebenso einträglich sei wie ein öffentliches Amt.157 Cicero lobt die kluge Zurückhaltung, die mit Selbstbewußtsein gelebte ‘vita contemplativa’.
Cum enim te semper magnum hominem duxi, turn quod his tempestatibus es prope solus in portu, fructusque doctrinae percipis eos qui maximi sunt, ut ea consideres eaque tractes quorum et usus et delectatio est omnibus istorum et actis et voluptatibus anteponenda.158 Varro hatte eine eigene Welt umsich herumgebaut, in derer Geborgenheit fand. Er habe, so Cicero, ‘uti’und‘frui’ auf glückliche Weise verbunden. Bis in die Formulierung hinein finden sich bei ihmplötzlich Anlehnungen an den reatinischen Gelehrten. Dies ist sicher nicht nureine Hommage an den Zeitgenossen, sondern es sieht so aus, als obCicero eine vonVarro programmatisch vertretene Haltung die„ sem gleichsam bestätigen“,159ja mehr noch, sie von ihm übernehmen wollte. Er suchte vonnunanselbst in der Schriftstellerei die Verbindung von ‘uti’und ‘frui’. μ έ να,160 haben Cicero Varro γ η Die äußeren politischen Widrigkeiten, die ἀπ ρ ο ο π nahegebracht. Gegenüber derMöglichkeit eines politischen Eingreifens hatte er resigniert.161 Cicero bestimmte seinen Standort imGefüge derMächtigen völlig illusionslos. Seine Briefe anVarro, in denen er sein politisches Wirken im Rückblick bewertet, tragen fast dieZüge eines Nekrologs: secuti enim sumus non spem sed officium, reliquimus autem non officium sed desperationem. Ita verecundiores fuimus quam qui se domo non commoverunt, saniores quam qui amissis opibus domum non reverterunt.162
In einem anderen Brief
klingt die innere Tragik der Konservativen an: Sie konnten nicht nurnicht Cäsarianer, sondern nicht einmal Pompejaner mitÜberzeugung sein. InBezug aufletztere schreibt Cicero anVarro: crudeliter enim otiosis minitabantur, eratque iis et tua invisa voluntas et mea oratio.163 Leider ist kein Antwortschreiben erhalten. Weder fürVarros Gesinnung noch für Ciceros Rede gab es mehr Platz in der Zeit des Bürgerkriegs. Rein äußerlich machte Varro jedoch schneller seinen Frieden mit den neuen Umständen. Cicero mußte erheblich länger als Varro auf
156 Vgl. Garzetti 1976, 98: „[Varrone] fece onestamente il suodovere, manonpiùchequesto.“ 157 Vgl. Sat. Men. 551 Astbury, waseiner Maxime gleichkommt: legendo autem et scribendo vitam procudito.
158 Fam. 9, 6, 4. 159 Pfligersdorffer 1971, 202. μ έ ν ο νquodnonverear. γ η ο ρ π ο π 160 Vgl.fam. 9, 7, 2: Itaque nullum estἀ 161 Vgl. Fuhrmann 1989, 223. 162 Fam. 9, 5, 2. 163 Fam. 9, 6, 3.
40
II. Varro undCicero
Caesars litterae satis liberales164 warten, die ihm die Rückkehr nach Rom gestatteten, under konnte sich nie damit abfinden, ‘von Caesars Gnaden’ zu existieren. Er mochte sich schließlich nicht dieselbe politische Zurückhaltung auferlegen wie Varro. Dennoch warCicero demseelenverwandten unddoch fremden Varro vielleicht niemals so verbunden wiein derschweren Zeit derDiktatur Caesars, als er sich, zu politischer Untätigkeit verbannt, dem Beispiel des Reatiners folgend, philosophischer Schriftstellerei hingab.
e) Äußere
Zwänge
Varro nahm mitgutem Gewissen die ihmvon Caesar angebotene Stelle eines Bibliothekars an. In seinen Forschungen entwarf er ein restauratives Programm, in demdie Welt der ‘maiores’ zum alleingültigen Exempel erhoben wurde. Vor der Tatsache, daßCaesars Umbau der Verfassung die Wirklichkeit des Staates immer weiter vondiesem Ideal entfernte, scheint er dieAugen verschlossen zuhaben. Varro dachte allenfalls in moralischen Kategorien, der institutionelle Standpunkt war ihmfremd. Anders Cicero: Als er sich ab demJahr 46 wieder der Philosophie zuwandte unddenPlan weiter ausführte, eine umfassende lateinische Philosophiegeschichte zu schreiben, wußte er, daßdies kaum mehr Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sein konnte. Zuklar hatte er dentiefen Bruch der alten Verfassung vor Augen.165 Deswegen hatte er sich eine, wie manin seinem Sinne sicher sagen darf, kulturhistorische undliterarische Aufgabe gestellt. Dashieß indes keinesfalls, daß seine späten philosophischen Arbeiten frei von politischen Anspielungen gewesen wären –im Gegenteil: Cicero widmete Caesar trotz intensiven Drängens seiner Umgebung kein einziges Werk.166 –dies war ein unübersehbarer Affront gegen den Diktator. Die Unterredner seiner Dialoge sind größtenteils herausragende Gestalten aus der Geschichte des Freistaats –dies war ein unübersehbares Zeichen für die Anhänger der Republik. Cicero hatte sich also wohl zurückgezogen und den offenen politischen Kampf zeitweilig aufgegeben;
164 Fam. 14, 23. Vgl. Horsfall 1972, 121. 165 DerSenat bestand nurnochderForm halber, undseine bloße Existenz konnte kaum verschleiern, daßdie ‘libera respublica’untergegangen war; vgl. dazufr. 15des Hortensius unddie Erläuterungen vonStraume-Zimmermann / Gigon 1990, 334. Cicero warsich auch durchaus des erniedrigenden Spiels bewußt, dasmanmitihmwiemitanderen Senatoren trieb, wenn er von Senatsbeschlüssen, dieer angeblich mitgetragen haben sollte, erst aus litterae a regibus ultimisadlatae erfuhr, dieihmdankten, daßsie aufseine sententia hindenKönigstitel führen dürften. Cicero berichtet dies mitbitterer Ironie anPaetus (fam. 9, 15, 4), um zu dokumentieren, aufwelch unwürdige Beschlüsse dieSenatsarbeit reduziert warunddaßnicht einmal diese von 2 nennt Cicero den VerfassungsmißdenSenatoren selbst gefaßt wurden. Infam. 7, 30, 1– brauch durch Caesar klar beim Namen, in Deiot. 5ff. rügt er offen denBruch der üblichen Verfahrensform; vgl. dazuFuhrmann 1989, 210. Cicero äußert also auch deutlich Mißfallen, und er geht desöfteren mitseinen Äußerungen bisandieGrenze dessen, wasmaneinem Diktator, der selbst zuGericht saß, sagen konnte; vgl. Strasburger 1990, 34. 166 Diefolgenden Briefe legen Cicero aus unterschiedlichen Gründen nahe, Caesar doch eine Arbeit zuzueignen (Stellen nach Strasburger 1990, 40, Anm. 269): Att. 12, 40, 2; 12, 51, 2; 3; 13, 31, 3; 13, 50, 1; 13, 51, 1. 13, 27, 1; 13, 28, 2–
3. Verhältnis zur Philosophie
41
aber er hatte zukeinem Zeitpunkt seine Gesinnung verraten.167 Die Philosophie bekamfür ihn eine ähnliche Funktion wie für Varro die antiquarischen Studien. Wie Varro in seinen Arbeiten alle Bereiche des römischen Lebens möglichst umfassend abdecken wollte, machte sich Cicero an die grundlegende Behandlung eines ihm gemäßen Gegenstands. Der Hortensius stellte eine Rechtfertigung der universa philosophia dar: Nos autem universae philosophiae vituperatoribus respondimus in Hortensio.168 Die Fragmente dieses verlorenen Protreptikos’ lassen vermuten, daß ‘ die Philosophie sei keine ernstCicero inerster Linie darin denVorwurf abwehrte, hafte Beschäftigung undeines Staatsmannes unwürdig: etenim si quodam in libro vere esta nobis philosophia laudata, profecto eius tractatio optimo atque amplissimo quoque dignissima est.169 Lactanz überliefert einFragment ausdemHortensius, das höchstwahrscheinlich eines derArgumente der obtrectatores philosophiae aufgreift. Darin wird in typisch römischer Weise die utilitas gegen die oblectatio ausgespielt; es heißt, wahrscheinlich ausdemMunde desHortensius, über diePhilosophen: non ergo utilitatem ex philosophia, sed oblectationem petunt. quod quidem Cicero testatus est. profecto, inquit, omnis istorum disputatio quamquam uberrimosfontes virtutis et scientiae continet, tarnen conlata cum eorum actis perfectisque rebus vereor ne non tantum videatur utilitatis adtulisse negotiis hominum quantum oblectationem otiis.170
DieEntgegnung Ciceros ist nicht erhalten; sinngemäß wird er aber dargelegt haben, daßmanaus derPhilosophie oblectatio undutilitas zugleich gewinne, ganz wie er es imBriefwechsel mitVarro vomFrühjahr 46 erörtert. Ein denstudia gewidmetes Leben gewähre delectatio undsalus,171 schreibt erimMai46 an denGelehrten, bei demer diesen Lebensplan verwirklicht sieht.172 DieanVarro gerichteten Briefe desneunten Buches fallen in eine Phase, in der der vom öffentlichen Leben ausgeschlossene Cicero Trost beim Epikureismus sucht, wenngleich er in diese Rolle niemals ganz hineinwächst, sondern seinen Späßen mitdenepikureischen Freunden [...] etwas Gewolltes, Rollenhaftes, Ste„ reotypes“anhaftet.173 Die politische Betätigung bezeichnet er jetzt abwertend als istorum acta imGegensatz zumusus dergeistigen Betätigung, die aus demöffentlichen Leben erwachsende Befriedigung als voluptas gegenüber der edleren oblectatio, die derPhilosophie entspringt.174 Cicero ist nicht weit davon entfernt, die Philosophie als sich selbst genügend zubetrachten unddieihreigene utilitas oder salus ganz unabhängig vomZustand desStaates zudefinieren: 167 Mommsens berüchtigtes Urteil ist gewiß dasungerechteste, wasdiesem Staatsmann seitens derNachwelt widerfahren konnte. 168 Tusc. disp. 2, 4. 169 Cic. Luc. 6, über denHortensius. 6 = fr. 18 Straume-Zimmermann. 170 Lact. inst. 3, 16, 3– 171 Cic.fam. 9, 2, 5. Vgl. zudieser unddenbeiden folgenden Cicerostellen Pfligersdorffer 1971, 202. 201– 172 Vgl. auchfam. 6, 12, 5: [sc. doctrina ac litterae] secundis rebus delectationem modo habere videbantur, nunc vero etiam salutem.
173 Fuhrmann 1989, 216; vgl. auchfam. 9, 16, 7; 9, 17, 2; 9, 20, 1; 9, 23; 9, 26. 174 Cic. fam. 9, 6, 4.
42
II. Varro undCicero modo nobis stet illud, una vivere in studiis nostris, a quibus antea delectationem modo petebamus, nunc vero etiam salutem; nondeesse si quis adhibere volet, non modo ut architectos verum etiam ut fabros ad aedificandam rem publicam et potius libenter accurrere; si nemo utetur opera, tarnen et scribere et legere π ο λ ιτ ε ία ς et, si minus in curia atque in foro, at in litteris et libris, ut doctissimi veteres fecerunt, gnavare rem p. et de moribus ac legibus quaerere.175
Es klingt die Forderung des Stoikers an, derzurBeteiligung amstaatlichen
Leben aufruft, solange dies mit der eigenen Überzeugung vereinbar ist.176 Diese Maxime macht sich Cicero zu eigen. Varro ist ihm darin Vorbild –er habe diesen Lebensplan, wieCicero ihmbescheinigt, besser verwirklicht: Sedhaec tumelius.177
4. VERHÄLTNIS ZUR RELIGION a) Varros Gottesbegriff
) ‘expedit esse deos’ α [Cum vero (sc. Varro) deos eosdem ita coluerit colendosque censuerit, ut in eo ip-
so opere
litterarum dicat] se timere ne pereant, non incursu hostili, sed civium neglegentia, de qua illos velut ruina liberari a se [dicit] et in memoria bonorum per eius modi libros recondi atque servari utiliore cura, quam Metellus de incendio sacra Vestalia et Aeneas de Troiano excidio penates liberasse praedicatur.178
In dieser vermutlich an denBeginn des ersten Buches gehörenden Passage exponiert Varro Anspruch und Ziel seiner Antiquitates rerum divinarum. Mit großem Selbstbewußtsein stellt sich derAntiquar in eine Reihe mitL. Caec. Metellus, der als Pontifex Maximus 241 v. Chr. das Palladium aus dembrennenden Vestatempel gerettet haben soll, wobei er sein Augenlicht verlor,179 undAeneas, dem Gründer RomsundRetter derPenaten. Varro erweist sich alsBewahrer undReformer im eigentlichen Wortsinn; die Sorgfalt, die er den verschollenen Religionsaltertümern angedeihen lasse, sei sogar utilior als diejenige der von ihm zitierten ‘maiores’: Wieder einmal kommt die ‘utilitas’ als leitender Gesichtspunkt zumVorschein. Die 175 Cic. fam. 9, 2, 5. ο λ ιτε 176 Vgl. Chrysipp Devita civili, SVF III 697 Arnim: π ι ήτ ύ νἂ ὸ ε νμ α σ θ α σ ίφ ιτ ὸ νσοφ ῃὥ η ρ ὶΒ ίω σ ῳ ςφ π ν(= Diog. Laert. 7, 121); vgl. auch Sen. ε ιΧρύσιπ ρ ώ τ π ο νπ ςἐ λ ύ κ ω epist. 68, 2; de otio 8, 1; 3, 3: si res publica corruptior sit quam adiuvari possit [...] nonnitetur sapiens insupervacuum. 177 Cic. fam. 9, 2, 5 anVarro. 178 RD 1, 2a Cardauns. Vgl. auch RD 1, 3 Cardauns: pro ingenti beneficio [...] iactat praestare se civibus suis, quia nonsolum commemorat deos, quos coli opporteat a Romanis, verum etiam dicit, quid adquemque pertineat. [...] Ex eo enim poterimus [...] scire, quem cuiusque causa deum invocare atque advocare debeamus, nefaciamus, ut mimi solent, et optemus a Libero aquam, a Lymphis vinum. Nach demReferat Augustins lag derKern derRD also in derge, die im Lauf derZeit offenbar in Vergessenheit Zuständigkeitsgötter“ nauen Zuordnung der„ geraten war. ZumMotiv derneglegentia vgl. Cic. nat. deor. 2, 9; leg. 2, 33. 179 Cic. Scaur. 48; vgl. Latte 1960, 108.
4. Verhältnis zurReligion
43
Ausrichtung am Nutzen für den Staat und für das Gemeinwesen ist typisch römisch, das ungebrochene Selbstvertrauen, mit der eigenen schriftstellerischen Tätigkeit dazu beizutragen, typisch varronisch. Das eigentlich Schlimme am gegenwärtigen Zustand, das selbst incendia und incursus hostiles übertreffe, sei die neglegentia civium, die Tatsache, daßselbst die boni keine Erinnerung mehr an die eigene Religion hätten.180 Es geht Varro also darum, dasBewußtsein für die Religion neuzu schärfen. Religion heißt bei ihm an dieser Stelle jedoch ausschließlich formale Durchführung desKultes, sie ist sozusagen einrein kulturhistorisches Phänomen. DerZweck dieser imFormalen verharrenden Religionsausübung ist einmoralisch-erzieherischer: Der neglegentia civium soll entgegengewirkt werden. Die Furcht vor demZorn derGötter, überhaupt vor göttlicher Intervention fehlt gänzlich.181 Varros Verhältnis zumReligiösen ist völlig aufgeklärt, frei vonjedem Aberglauben, aber auch frei von jedem Glauben überhaupt.182 Übersinnliches, Göttliches im engeren Sinne, findet in den Antiquitates keinen Platz.183 Die 16 Bücher sind nichts als eine Realiensammlung, bestehend aus kultischen und kulturgeschichtlichen Details. So ist es Varros größter Stolz, längst Verschollenes wiedergefunden zuhaben; seine Hauptaufgabe sieht er imperscrutari.184 Bemerkenswert ist dabei, daßderfrömmigkeitsgeschichtliche Aspekt in seinem Werk völlig ausgespart bleibt. Wenn Varro vonMetellus’Rettungstat spricht, setzt er bei diesem die gleiche aufgeklärte Haltung voraus wiebei sich selbst unddiegleiche nutzenorientierte Einstellung, die auch er gegenüber der Religion vertritt: Öffentliche Werke der ‘pietas’ förderten dieMoral, sie erzögen zu Gemeinsinn undVerantwortung. Metellus’und Aeneas’Taten erscheinen also als Aktder Staatsräson, undzwar nicht nur aus der Sicht der Spätgeborenen, sondern aus der der Protagonisten selbst.185 Bereits die Frühzeit, die der sittlich heruntergekommenen Gegenwart als Vorbild entgegengehalten wird, hätte demnach keine echte gläubige ‘religio’ gekannt. Varro zeigt in diesem Punkt ein völlig distanzloses Verhältnis zurVergangenheit seines Volkes – unddies gewiß nicht ausbloßer Naivität. Wennes tatsächlich sein Anliegen war, zu einer Restitution derReligion unddadurch zueiner Reform der Gesellschaft zu gelangen, durfte er diealte Religion, diees wiederherzustellen galt, nicht als unaufge-
180 Vgl. etwa RD 1, 42 Cardauns, woVarro denUmstand beklagt, daßniemand mehr die Blitzgottheit Summanus kenne. Daßer derart obskure Beispiele zumBeleg für denNiedergang der Religion anführt, zeigt, wie er trotz seines ehrenwerten Anliegens dasrechte Maß bisweilen 87) zitierten gramverliert, ganz imStile jener vonHoraz imAugustus-Brief (epist. 2, 1, 86– matici, dieAltertümer ausgraben, die sie selbst kaum mehr verstehen. Vgl. auch RD test. VI Cardauns; ling. 6, 19; ling. 7, 45. 181 Vgl. Cardauns 1973, 95. 182 Vgl. Boissier 1936, 48: „Chez les Romains, ceux qui venaient ausecours dela religion en péril étaient surtout des patriotes zélés, ils ne se piquaient pas d’être des croyants sincères. Var. ronn’hésite pasà reconnaître qu’onraccontait surles dieux desfables absurdes“ 183 Trotz aller Aufgeklärtheit erweist sich Varro alsVerehrer alter Bräuche, vgl. Weinstock 1971, 3: „ Butwhenhe [sc. Varro] turned to the ancestral religion he forgot all he hadlearned from the philosophers.“ 184 RD 1, 12 Cardauns. Vgl. Cardauns 1973, 96. 49: „l’état s’était bâti surlui [sc. le culte] et l’onrisquait, en ébranlant 185 Vgl. Boissier 1936, 48– la base, derenverser l’édifice qu’elle soutenait.“
44
II. Varro undCicero
klärt, unzeitgemäß undweltfremd abtun, sondern er mußte ihr einen Wert geben, derauchdemaufgeklärten Zeitgenossen einleuchtete. In diesem Sinne hatmanes wohl zuverstehen, wenn er im sechsten Buch, De sacris aedibus, die Gewohnheit, die Stadtbebauung durch loca sacra aufzulockern, damit erklärt, ne per continua aedificia incendia prolaberentur et ut esset, quo confugerent plerique cumfamilia sua inpericulis.186 Das Religiöse wird auf rein praktische Erwägungen reduziert. Schlichtweg absurd mutet die Appendix zum siebten Buch, De locis religiosis, an:187 Die Stadtmauer müsse deshalb als heilig angesehen werden, damit die Bürger für sie sogar zu sterben bereit seien. Es drängt sich hier geradezu dasovidische expedit esse deos et ut expedit esse putemus188 auf, wenngleich Varro seine Thesen ohne jede Ironie oder garZynismus vertritt. Er verficht seine ‘religio’ als rein praktisch zu nehmende Lebensregel. Der metaphysische Überbau fehlt. So hatdenn die Vernachlässigung der Religion auch nicht Götterzorn, sondern ‘nur’moralischen Verfall zurFolge.189 Religion ist ihm ein ErfordernisderTradition unddesStaatserhalts.
Als Stifter kultischer Gewohnheiten galt in Rom seit jeher Numa Pompilius. Im siebten Buch vonDe civitate Dei erzählt Augustinus, sich auf Varros Logistoricus Curio berufend, eine Episode ausdemJahr 181 v. Chr.: Ein gewisser Cn. Terentiusstieß beim Pflügen seines Ackers amJaniculus-Hügel unweit der Grabstätte des NumaaufBücher, dieimErdboden verborgen lagen. DerFund stellte sich als eine Sammlung gottesdienstlicher Gebräuche heraus, die von demPriesterkönig selbst zusammengestellt worden war. DerFinder hinterbrachte die Schriften dem Prätor, der bereits nach oberflächlicher Prüfung ihre Brisanz erkannte unddie Angelegenheit andenSenat weiterleitete. DasGremium ließ die Bücher, die religiöse Bräuche erklärten unddamit entzauberten, unverzüglich verbrennen: Ubi cum primores quasdam causas legissent, cur quidque in sacris fuerit institutum, Numae mortuo senatus adsensus est, eosque libros tamquam religiosi patres conscripti, praetor ut combureret, censuerunt.190
Varros Quelle dürfte Cassius Hemina gewesen sein.191 Die Historizität der Episode ist ebenso gewiß wiedie Unechtheit derBücher selbst.192 Livius erwähnt zwar eine Gruppe von Zeitgenossen, die die Authentizität der Numaschriften bezweifelten, aber derFinder Cn.Terentius konnte ihre Bedenken zerstreuen –undoffenbar auch die der nachfolgenden römischen Historiker.193 Der Befund bei Augustinus zeigt, daßVarro davon ausging, Numahabe die Religion als Herrschaftsmittel charakterisiert und seine Erkenntnisse durch Vergraben der Bücher vor der Nachwelt ver186 RD 6, 69 Cardauns; vgl. Cardauns 1973, 87. 187 Überliefert bei Plut. quaest. Rom. 27; vgl. Cardauns 1978, 87. 188 Ars 1, 637. 189 Vgl. Cic. rep. 5, 2 undleg. 2, 83, wodie Religion unter ähnlichem Aspekt gesehen ist. 190 Aug. civ. 7, 34 = Varro Curio de cultu deorum 3 Cardauns. 191 Fr. 37 Peter. Eine leicht abweichende Darstellung geben L. Calpurnius Piso (fr. 11 Peter) und 86. 14; vgl. denBericht bei Plin. n.h. 13, 84– Liv. 40, 29, 3– 192 Vgl. Cardauns 1960, 26. 71. 193 Vgl. Rosen 1985, 70–
4. Verhältnis zurReligion
45
schließen wollen. Auch der Senat von 181 sei sich der korrumpierenden Wirkung bewußt gewesen undhabe deshalb dasAutodafé angeordnet.194 Die Erzählung zeigt abermals, wiedistanzlos Varro eigene Vorstellungen in die Vergangenheit projiziert unddie Religion seit jeher als einen Aspekt der ‘Staatsräson’ betrachtet. Aus der Sicht desersten Jahrhunderts v. Chr. schien eine andere Deutung der Religion völlig ausgeschlossen.195 Das unter dem Gesichtspunkt der ‘utilitas’ sicherlich am meisten beachtete Fragment derAntiquitates nennt in geradezu machiavellistischer Weise die scheinbare Vergöttlichung vonStaatsmännern alsprobates Mittel, umdie ‘cives’zurLoyalitätanzuhalten: utile esse civitatibus [...], ut se viri fortes, etiamsi falsum sit, diis genitos esse credant, ut eo modo animus humanus velut divinae stirpis fiduciam gerens res magnas adgrediendas praesumat audacius, agat vehementius et ob hoc impleat ipsa securitate felicius.196
Horsfall datiert die Antiquitates rerum divinarum sehr schlüssig auf das Jahr 46, kurz vor die Abreise Caesars nach Spanien.197 Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird Caesar als Adressat der Schrift198 gerade diese Passage auf sich bezogen haben, zumal sein Bestreben, für sich göttliche Ehren zu beanspruchen, offensichtlich war.199 Manwird wohl davon ausgehen dürfen, daß der Staatsmann und der Gelehrte sich darin einig waren, „ daß die römische Religion keine Glaubenssache, .200 So gesehen sondern ein nicht fortzudenkender Teil des römischen Staats war“ magin den Antiquitates –gleichsam mit einem ‘Augurenlächeln’ –ein gewisses
5; 194 Vgl. Cardauns 1960, 27; Rosen 1985, 78. Zu Numas Religionspolitik vgl. Liv. 1, 19, 4– Dion. Hal. 2, 61; Plut. Num. 22, 6. 195 Zurhistorisch wahrscheinlichen Begründung fürdieBücherbeseitigung vgl. Rosen 1985, passim. Vgl. unten Anm. 304. 196 RD 1, 20 Cardauns. Vgl. auch RD 1, 21 Cardauns: multa esse vera, quae non modo vulgo scire nonsit utile, sed etiam, tametsi falsa sunt, aliter existimare populum expediat, et ideo
Graecos teletas ac mysteria taciturnitate parietibusque clausisse. 122. Vgl. Lehmann 1986, 95: „ Defait les Varroniens unanimes s’accordent pour la 197 1972, 121– [sc. la date depublication del’ouvrage] situer aulendemain dePharsale et pour relever une 44 avant J.-C. et étonnante convergence entre le programme religieux de César desannées 48– les conceptions théologiques qui imprègnent les Res divinae.“J ocelyn 1982, 204 datiert die He Antiquitates auf nicht später als 58. Sie stünden in keinem Zusammenhang zur Politik. „ , ebd., [sc. Varro] was, it ought to be clear, interested in antiquity merely for its ownsake“ 191. ZudenRDbemerkt Jocelyn: „Such antiquarian information hadnot the slightest utility 103 widerlegt Jocefor statesmen wishing to develop religious policies.“Lehmann 1986, 100– lynüberzeugend. 198 Caesar als Adressat derRD ist gutbezeugt, vgl. Lact. Inst. 1, 6, 7: M. Varro, quo nemo umquamdoctior neapudGraecos quidem vixit, in libris rerum divinarum, quos ad C. Caesarem
pontificem maximum scripsit [...]. Aug. civ. 7, 35: istos Varronis ad Caesarem pontificem scriptos atque editos libros. 199 Vgl. Meyer 1918, 502. 200 Cardauns 1978, 87.
46
II. Varro undCicero
Verständnis fürCaesars Politik liegen.201 Eine Schmeichelei wareine so klar ausgesprochene Entlarvung der göttlichen Aura als bloße Herrschertaktik aber gewiß nicht –undeine solche hatte derGelehrte gegenüber demSieger vonPharsalos auch kaum nötig. Caesar war von sich aus bemüht, möglichst viele, auch ehemalige Gegner, ansich zuziehen.202 Es mageinerseits richtig sein, daß Varro der späteren Herrschervergöttlichung den Boden bereitete: „ En tout d’état de cause, le Réatin entendait légitimer auprès de ses contemporains les ambitions surhumaines des cipréparant ainsi lesconsciences à accepter le principe d’une apothéotoyens d’élite – se des chefs d’État.“203Gleichwohl unternahm er aber auch denVersuch, Caesars Bestrebungen ‘abzumildern’, in denRahmen des Hergebrachten einzuordnen. Das Auftreten desAlleinherrschers Caesar sollte nicht unerhört, hellenistisch, unrömisch erscheinen, es sollte nicht einmal den Rahmen der herkömmlichen Staatsreligion sprengen. Pointiert formuliert, wurde nicht derRegent zumGott erhoben, sondern die Götter wurden zu Regenten erniedrigt.204 Mit anderen Worten: Varro interpretierte Caesars Programm in seinem Sinne.
β ) DasWesen derGötter
ZuVarros
rationalistischer Sehweise paßt auch seine Vorstellung vom Wesen der Götter undihrer Einteilung. Einerseits führt er eine ganze Reihe obskurer undlängst vergessener Götter auf, dieschon Seneca nurals ignobilis turba deorum bezeichnen konnte,205 andererseits gibt es für ihn nur ein einziges göttliches Prinzip, das bald unter demNamen Iupiter, bald unter anderem Namen oder gar als derunbekannte Gott derJuden identifiziert wird.206 Geradezu lukrezisch muten zwei bei Augustinus überlieferte Verse ausdemLogistoricus Curio an: Iuppiter omnipotens, regum rerumque deumque Progenitor genetrixque, deum deus, unus et omnes.207
201 Vgl. Lehmann 1986, 96: Die Widmung an Caesar lege es nahe, „que Varron a mis spontanément son idéologie religieuse au service desrevendications régaliennes et dynastiques de l’imperator romain.“Vgl. auch Cardauns, II, 1976, 148 zuRD 1, 20. 499. 202 Vgl. Carcopino 1968, 498– 203 Lehmann, 1986, 97, vgl. ebd.: „ lesAntiquités divines s’intègrent dans un ample mouvement derénovation cultuelle quiallait donner naissance plus tard, sous Auguste, à toute une littérature d’orientation patriotique et religieuse.“ 204 Nach demZeugnis Augustins hat Varro dies selbst zugegeben: RD 1, 2b Cardauns = Aug. civ. 7, 3: dicit etiam ipse Varro, quod diis quibusdam patribus et deabus matribus, sicut ho468 hat gezeigt, daß viele der varronischen minibus, ignobilitas accidisset. Otto 1909, 449– Wir haben Sondergötter tatsächlich nurfingierte Heroen namhafter Familien sind; ebd., 449: „ vieles lange Zeit für Zeugnisse ältester Begriffsbildung derrömischen und, von hier aus, der Religion überhaupt gläubig hingenommen, was nur der zum Teil lächerlich spitzfindigen Spekulation eines Gelehrten derausgehenden republikanischen Zeit sein Dasein verdankt; und ich bin der Ansicht, dass die Forschung eine immer größere Anzahl der varronischen ‘Sondergötter’anders beurteilen wird.“
205 Fr. 33 und39 Haase. Vgl. Aug. civ. 6, 10. 17 Cardauns; 1, 27 Cardauns; vgl. Serv. Aen. 4, 638; Georg. 1, 5. 206 RD 1, 15– 207 Fr. 2 Cardauns nach Aug. civ. 7, 9, vgl. RD 1, Appendix II Cardauns, wodieVerse nach dem Zeugnis Varros Valerius Soranus zugeschrieben werden. DieQuelle fürdieses gebetsartige Ge-
4. Verhältnis zurReligion
Wie abgehoben diese theologia
naturalis war, zeigt Iupiter-Beiname pater erklärt wird:
47
De lingua
Latina
5, 65, wo der
quod patefacit semen: namtumesse conceptum et, inde cum exit quod oritur.
Der Iupiter pater omnipotens’ des Volksglaubens wird vermittels einer haarsträu‘ Etymologie völlig entpersonalisiert undim Sinne einer stoischen Kosmolobenden gieumgedeutet. Der Göttervater ist nurnoch eine Metapher für das Klima. Derim römischen Denken besondere Status des ‘pater’, wieerim ‘pater familias’etwa zum Ausdruck kommt undauf dendivum pater atque hominum rex übertragen wurde,208 wird mit bemerkenswertem Mangel an Sensibilität unter den Tisch gekehrt. Als Gewährsmann für die völlige Reduzierung des Göttlichen auf die Naturgewalten führt Varro Ennius an: Idem hi dei Caelum et Terra Iupiter et Iuno, quod ut ait Ennius: Istic est is Iupiter quem dico, quem Graeci vocant Aerem, qui ventus est et nubes, imber postea, Atque ex imbre frigus, ventus post fit, aer denuo. Haec propter Iupiter sunt ista quae dico tibi, Qui mortalis, atque urbes beluasque omnis iuvat.209
Ganz ähnlich läßt sich Varro im 15. Buch derAntiquitates vernehmen, wenn er unterBerufung aufPlato210 denGöttern –Iupiter ist hier wieder in seine einzelnen Gestalten aufgeteilt
–verschiedene
Schichten desKosmos zuweist:
Penates esse [...] per quos penitus spiramus et corpus habemus et animi rationes possidemus; eos autem esse Iovem aethera medium, Iunonem imum aera cum terra, summum aetheris cacumen Minervam.211
In pantheistischer
Weise werden alle Götter zu einem einzigen lebensspendenden Prinzip verschmolzen. Auch hier wird wieder ein Gut urrömischer Tradition, die Penaten, in rationalistischer Weise aus seinem angestammten Kontext herausgerissen. So viel Einfühlungsvermögen Varro einerseits derTraditionspflege zuwendet, so nüchtern ist andererseits sein Gottesbegriff. Rein stoisch ist dieim 16.Buch derAntiquitates entwickelte theologia naturalis, die sich nahtlos andaszuvor Gesagte anschließt: [Varro arbitratur] deum [...] esse animam mundi, quem Graeci vocant κ μ ο ό ν , et σ hunc ipsum mundum esse deum; sed sicut hominem sapientem, cumsit ex corpo-
dicht dürfte derstoischen Theologie entstammen, vgl. Cardauns 1958, 19. Die Formel deum deus ist auch fürdasSalierlied bezeugt, vgl. ebd., 18. 208 Vgl. Wlosok 1970, 43: Der Kultname ‘pater’bringe die funktionelle undmagistratisch juri-
stische Auffassung vondenGöttern zumAusdruck. 209 Ling. 5, 65; DieEnnius-Verse scheinen aufdieEtymologie Iupiter < iuvare anzuspielen. 210 Vgl. RD 15, 206 Cardauns: (Dicit enim [sc. Varro]) se ibi multis indiciis collegisse in simu-
lacris aliud significare caelum, aliud terram, aliud exempla rerum, quas Plato appellat ideas; caelum Iovem, terram Iunonem, ideas Minervam (vult intellegi); caelum a quofiat aliquid, ter-
ramdequafiat, exemplum secundum quodfiat. 211 RD 15, 205 Cardauns; vgl. Wlosok 1983, 189.
48
II. Varro undCicero
re et animo, tarnen ab animo dici sapientem, ita mundum deum dici ab animo, cum sit ex animo et corpore [...].212 Gott erscheint als derdieWelt lenkende λ γ ο ό ς . Ananderer Stelle sind die Götter Abstraktionen bestimmter ‘munera’.213 Diese wiederum teilt Varro aufindicerti, Götter, deren Funktion klar erschlossen werden kann, unddi incerti, solche, über deren Funktion nurdubiae opiniones existieren. Eine dritte Gruppe bilden diedipraecipui atque selecti, denen das 16. Buch gewidmetist. Varro bezeichnet damit die Staatsgötter desrömischen Volkes, quibus aedes dedicaverunt eosque pluribus signis ornatos notaverunt.214 Diese Dreiteilung wirkt sehr künstlich und ist inhaltlich eigentlich nicht gerechtfertigt. Strenggenommen unterscheidet Varro nur zwei Kategorien von Göttern, nämlich ‘echte’ Götter und solche, die von Menschen dazu gemacht wurden:215 deos alios esse, qui ab initio certi et sempiterni sunt, alios qui immortales ex hominibus facti sunt. Will manalso Varro eine Abstufung der Götter unterstellen, etwa im Sinne einer hierarchischen Ordnung im Anschluß an die platonische Unterscheidung von θ ε ο ί, δαίμον ε ς , ἥ ρ ω ε ς , wie Bickel angeregt hat,216 so gibt es bei Varro nur zwei Grade der Göttlichkeit, die darüber hinaus für seine Theologie keinerlei Bedeutung haben. Die Dreiteilung in Varros System beruht aufeinem völlig anderen Ordnungsschema: Sie gliedert dieGötter unter heuristischem Aspekt. Dieses Unterscheidungskriterium ist für Varros pragmatische Sicht kennzeichnend; er fragt nach dem Grad der Erklärbarkeit: Götter miteindeutig erkennbarer Funktion, Götter mitschwer zu ermittelnderFunktion, Götter mit unklarer Funktion. Nach ebendiesen gradus explanandi teilt Varro auch seine Etymologie ein, beginnend beim infimus [gradus], quopo-
212 RD 16, 226 Cardauns. 213 Z.B. RD 1, 28; 14, 189 Cardauns. Nach Aug. civ. 6, 9 (=RD 14, 88 Cardauns) zeigt Varro quod sit cuiusque munus et propter quid cuique debeat supplicari. Die Götter haben also gleichsam wieMagistrate „ . Amtsbereiche“ 214 RD 16, 228 Cardauns. Nach demsich anschließenden Fragment 229 sinddiedipraecipui atque selecti folgende: Ianus, Iupiter, Saturn, Genius, Mercurius, Apollo, Mars, Vulcanus, Neptunus, Sol, Orcus, Liber Pater, Tellus, Ceres, Iuno, Luna, Diana, Minerva, Venus, Vesta. Nach Götter, andenen Varro zeigen kann, wie GöttergestalGeerlings 1990, 208 sinddiediselecti „ teninphilosophische Prinzipien umgesetzt werden können. Diedei certi erklären sich aus ihrerFunktion, diedeiselecti werden durch Allegorese gedeutet.“ 215 RD 1, 32 Cardauns: deos alios esse, quiab initio certi et sempiterni sunt, alios qui immortales ex hominibus facti sunt. Erstere interpretierte er im stoischen Sinne bald als mundi ani28 Cardauns; vgl. SVF II, 1066; 1070; mus, bald als Personifikation der Elemente (RD 1, 27– 1076 Arnim), letztere faßt er als vergöttlichte Wohltäter auf, vgl. Taylor 1934, 225. 157 ist Bickels These mit Ent53. Lehmann 1983, 150– 216 Leg. 4, 717 b, vgl. Bickel 1921, 13– schiedenheit entgegengetreten. Sollte Varro überhaupt eine Anlehnung an Platon gesucht haben, dannlag sie ausschließlich im rein formalen Bereich. Sachlich geht dieEinteilung in di certi, di incerti unddipraecipui atque selecti allein auf Varro zurück, sie orientiert sich nicht am Gegenstand, sondern entspringt einem systematischen Bedürfnis, vgl. Lehmann 1983, 147: „ La première remarque quis’impose estquecette classification –defabrication purement varronienne, puisqu’elle n’estpasattestée dans le culte officel –ne correspond en aucune manière à unetripartition dumonde divin dans sonensemble.“
4. Verhältnis zurReligion pulus etiam venit (ling.
49
5, 7), bis hin zumvierten Schritt, ubi est adytum et initia re-
gis (ling. 5, 8).217
MitVarros Bevorzugung der religio naturalis, seiner unpersonalen, rein geistigen Gottesvorstellung ist eine wichtige Aussage zumfrühen Kult zu erklären, nämlich seine Behauptung, in denersten 170 Jahren nach Gründung der Stadt Rom habe es
ausschließlich bilderlose Götterverehrung gegeben.218 Nach Gabba kann Varros These sogar als sehr wahrscheinlich gelten: Die Einführung von simulacra gehe auf etruskische Einflüsse zurück.219 Bei Varro heißt es dazu: antiquos simulacra deorum et insignia ornatusque finxisse, quae cum oculis animadvertissent hi, qui adissent doctrinae mysteria, possent animam mundi ac partes eius, id est deos veros, animo videre.220
Die Verdinglichung undPersonalisierung der Religion wurde also nach Varro zur Veranschaulichung für schlichtere Gemüter eingeführt.221 Auch hier zeigt sich wiederdeutlich, daßdie Götter nichts anderes als eine Art geistigen Prinzips sind. Sie werden, pantheistisch betrachtet, mitdenpartes mundi identifiziert. Die Darstellung derGötter inMenschengestalt erklärt Varro ebenfalls in stoischen Kategorien: [...] qui simulacra specie hominis fecerunt, hoc videri secutos, quod mortalium animus, qui est in corpore humano, simillimus est inmortalis animi [...].
DerMensch als geistbegabtes Wesen sei denGöttern als rein geistigen Prinzipien amähnlichsten undsymbolisiere sozusagen bildlich die anima rationalis: 209. Das hier auf217 Oder ad initia regis, vgl. Schröter 1963, 96; vgl. auch Geerlings 1990, 208– gezeigte Gliederungsprinzip ist gleichsam ein äußeres, dasumderKlarheit willen gewählt ist, sich aber nicht aus demGegenstand ergibt. Ähnliches gilt für denAufbau des Gesamtwerkes derAntiquitates, demeine subtilissima distinctio zugrundeliegt, erläutert bei Augustinus civ. 6, 3: Varro geht sowohl fürdie res humanae als auch für die res divinae jeweils nach denvier Fragen vor, quiagant, ubiagant, quando agant, quid agant. Dazu tritt ein übergreifender Teil, so daßeine quinquepertita distributio (Aug. civ. 6, 3) entsteht. Außen- undBinnenstruktur erweisen Varro als Systematiker, dernach möglichst allgemeinen, an standardisierten unddem Gradmöglicher Erkenntnis orientierten, also nicht demGegenstand untergeordneten Kriterien vorgeht. Nicht ohne Grund beginnt Varro das 15. Buch derRD, dasden„ unsicher bezeugten Gottheiten“gewidmet ist, mitdemEingeständnis, daßzweifelsfreie Erkenntnisse nicht zu erwarten seien: Cumin hoc libello dubias dediis opiniones posuero, reprehendi non debeo. Qui enimputabit iudicari oportere etposse, cum audierit, faciet ipse. Ego citius perduci possum, ut inprimo libro quae dixi in dubitationem revocem, quam in hoc quae perscribam omnia ut ad aliquam dirigam summam, RD 15, 204 Cardauns. Varros Zurückhaltung zeugt freilich auch für seine Redlichkeit als Wissenschaftler. Es spricht hier nicht ein Skeptiker, der die Möglichkeit sicheren Wissens grundsätzlich bestreitet, sondern eher jemand, derderErkenntnis folgt,
218 219 220 221
daßdie einen Wissenschaften sichere Aussagen zulassen, die anderen nicht. Bei Varro stehen dieFakten stets überderTheorie, offene Fragen werden alssolche benannt. RD 1, 18 Cardauns: antiquos Romanos plus annos centum et septuaginta deos sine simulacro coluisse. Vgl. Tert. Apol. 25, 12. 59. 48 und51– Gabba 1984, 866; vgl. auch Colonna 1981, 46– RD 16, 225 Cardauns. Dort auch diebeiden folgenden Zitate. Vgl. RD 1, 13 Cardauns: hi soli [...] videantur animadvertisse quid esset deus, qui crediderunt eumesse animam motuac ratione mundum gubernantem. Eine richtige Vorstellung von den Göttern machen sich demzufolge nurdie, diedieGötter entpersonalisiert alsanima denken.
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II. Varro undCicero tamquam si vasa ponerentur causa notandorum deorum et in Liberi aede oenophorum sisteretur, quod significaret vinum, per id quod continet id quod continetur; ita per simulacrum, quod formam haberet humanam, significari animam rationalem, quod eo velut vase natura ista soleat contineri, cuius naturae deum volunt esse vel deos.
Daßdiese im sechsten Jahrhundert eingeführte ikonische Götterverehrung nur ein Rückschritt sein kann, wird ausRD 1, 18 deutlich, woes mit Bezug auf den früherenZustand heißt: Quod [sc. die bildlose Verehrung] si adhuc [...] mansisset, castius dii observarentur [...]. qui primi simulacra deorum populis posuerunt, eos civitatibus suis et metum dempsisse
et errorem
addidisse.222
Varros Ideal derreinen Religion ist somit diereligio naturalis, dasWissen umsie ist die ratio physica, die ohne Äußerlichkeiten auskommt.223 Der ‘Idealstaat’ Varros brauchte also Religion und Kultus der Römer in ihrer historischen Ausprägung überhaupt nicht, er könnte sich allein aufdieReligion exnaturae formula,224 wie sie Varro höchstwahrscheinlich fürseine Staatsutopie Marcopolis entworfen hatte, stützen.225 Dieideale, ausderZeit Numas stammende Religion beruht auf Offenbarung; Numaselbst pflegte diepythagoreische Praxis derHydromantie, videret imagines deorum [...], a quibus audiret, quid in sacris constituere atque observare deberet. quod genus divinationis [idem Varro dicit] a Persis allatum, quo et ipsum Numam et postea Pythagoram philosophum usum fuisse commemorat. [...] quod [...] aquam egesserit id est exportaverit, [...] unde hydromantian faceret, ideo nympham Egeriam coniugem dicitur habuisse [...] in illa [...] hydromantia [...] et sacra didicit, quae in libris suis pontifices haberent, et eorum causas.226
ut in aqua
Abgesehen vonpythagoreischen Einflüssen, mitdenen Numaüblicherweise in Verbindung gebracht wird,227 steckt hinter dieser Rekonstruktion der Urreligion auch platonisches Gedankengut –nicht so sehr in Bezug auf den Inhalt als vielmehr in Vgl. Plut. Numa 8, 656c. Vgl. Cardauns 1978, 84. Aug. civ. 4, 31 mit Bezug auf Varro (=RD 1, 12 Cardauns). Cèbe, Bd. 8, 1987, 1284. Vgl. auch Norden 1913, 242, Anm. 4; Rawson 1974, 193; Taylor 1949, 77. 226 RD 1, App. IV Cardauns. 227 Vgl. vonFritz 1940. ZurVerbindung mitPlaton s. Burkert 1962. DaßVarro selbst Pythagoreer gewesen sei, wirdauseiner nicht ganz sicher gedeuteten Notiz bei Plin. n.h. 35, 160 bisweilen geschlossen. Danach haterdenWunsch geäußert, in derWeise derPythagoreer bestattet zuwerden. Cardauns 1987, 90, Anm. 32 weist zuRecht darauf hin, die Notiz könne unter Umständen auch sogemeint sein, daßPlinius einfach Varro als Gewährsmann für denBrauch als solchen anführt. Varro dürfte eher ein wissenschaftlich-distanziertes Verhältnis zu denPythagoreern gehabt haben, auch wenn er bisweilen in einem Atemzug mit denAnhängern des samischen Philosophen genannt wird (z.B. Serv. Aen. 10, 175). Aus einer bei Apuleius wiedergegebenen Geschichte (Apol. 42), derzufolge Nigidius Figulus spiritistische Sitzungen durchgeführt hat, wasbei Varro nachzulesen sei, läßt sich wohl kaum auf die Anwesenheit Varros beider genannten Séance schließen. Vielmehr wird derSammler Varro das Kuriosum selbst auszweiter Handberichtet undfürdieNachwelt festgehalten haben.
222 223 224 225
4. Verhältnis zurReligion
51
erkenntnistheoretischer Hinsicht.228 ImRom der frühen Könige bestand die Religion gleichsam in Form einer Idee; sie bedurfte keiner Kultgegenstände. Romulus, NumaundTarquinius besaßen dasWissen umdiese Idee durch Offenbarung.229 Im Lauf derZeit wurde sie mehrundmehr verschüttet undkonnte nur durch schlechte Abbilder, diesimulacra, behelfsmäßig in Erinnerung gehalten werden. Umnundie Religion in derGegenwart nicht gänzlich in Vergessenheit geraten zu lassen, bedarf es derAntiquare wie Varro oder Aelius, die genau die gleiche Funktion haben wie die Philosophen in Platons Politeia undPolitikos: sie müssen der Depravation und ‘Seinsvergessenheit’ dereigenen Zeit nach Kräften entgegentreten undstufenweise möglichst nahe zur Erkenntnis der Wahrheit vordringen. Daß dies nur mit Einschränkungen gelingt, weiß auch Varro. Ebenso wie Sokrates in den platonischen Dialogen niemals zumἀ γ α θ ὸ να ὐ τ όgelangt, sondern miteiner Abbruchformel vor der letzten Erkenntnis innehält,230 ist sich auch Varro dessen bewußt, daß er mit seinen Aussagen jeweils bei einem δ stehen bleibt: Cumin hoc libello ῷ ο κ ο ῦ να ὑ τ dubias de diis opiniones posuero, reprehendi non debeo.231 Die letzten Wahrheiten sind menschlichem Forschen nicht zugänglich –Varro spricht an einer Stelle von Mysterien desWissens (doctrinae mysteria).232
Varros Antiquitates rerum divinarum beleuchten hauptsächlich zwei Aspekte der ‘religio’, zumeinen denderReligion als eines übersinnlichen Phänomens, über das nur begrenzte Aussagen möglich sind und dessen erste Ursprünge als Offenbarungsglaube nicht hinterfragbar sind; Varro nennt diese esoterische Seite religio naturalis; zumanderen denderReligion als eines historischen Phänomens, also die exoterische Seite der Religion, den ‘Volksglauben’. Diese Ausprägung heißt bei ihmreligio civilis, sofern sie in denstaatlichen Bereich hineingreift, religio mythica, sofern sie in den Werken der Dichtung unddes Theaters besungen wird.233 Inner-
228 ZumEinfluß desPlatonismus aufVarros Theologie vgl. Boyancé, REA 57, 1955, zumEin206. fluß Varros auf den Neuplatonismus dens., RHR 147, 1955, 189– 229 Aug. civ. 7, 35 (aus demLogistoricus Curio); vgl. Cardauns 1987, 84. ο ῦ νbis zur ὸν ὶτ νἐμ ο ῦ 230 Z.B. rep. 6, 506 e: Sokrates gelangt im Sonnengleichnis vom δοκ Sonne als ἔ γ ο ν ο γ α κ θ ςἀ ο ῦundbricht denDiskurs dannab. 231 RD 15, 204 Cardauns. 232 RD 16, 225 Cardauns. DerAufstieg zumWissen implatonischen Sinne ist nicht auf dasGebiet der Religion beschränkt. Auch in seinen Sprachforschungen, in der Etymologie, ge8). Der Aufstieg zum braucht Varro die Metapher von derphilosophia ascendens (ling. 5, 7– Wissen vollzieht sich in vier gradus: Infimus quo populus etiam venit [...] Secundus quo
233
grammatica escendit antiqua [...] Tertius [...] quophilosophia ascendens pervenit [...] Quartus, ubi est adytum et initia regis: quosi non perveniam adscientiam, at opinionem aucupabor, quod etiam in salute nostra nonnumquam facit cum aegrotamus medicus. Selbst in einer so sachlichen Wissenschaft wie der Etymologie bleibt die höchste Erkenntnisstufe geheimnisumwoben. Vgl. oben Anm. 217. Die Termini stammen nicht von Varro selbst, sie sind vielmehr derseit demPontifikat des Mucius Scaevola (vgl. Aug. civ. 4, 7) in Rom bekannten theologia tripertita entlehnt. Deren dritte Ausprägung, dasgenus mythicon, erwähnt Varro zwar, behandelt es aber, nach denerhaltenen Fragmenten zu schließen, abwertend, vgl. Lieberg, 1982, 52. Zur religio tripertita bei Varro vgl. Aug. civ. 6, 5 (= RD 1, 7 Cardauns): tria genera theologiae dicit esse, id est rationis quae de diis explicatur, eorumque unummythicon appellari, alterum physicon, tertium ci-
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II. Varro undCicero
halb dieser religio tripertita sinddiebeiden letztgenannten genera auslogischer Sicht kaum zu trennen. Die entsprechende Kritik an der tripertitio hat Augustinus –freilich in destruktiver Absicht, aber gleichwohl zutreffend –scharf formuliert: Das genus mythicon –Augustinus nennt es fabulosum –und das genus civile unterschiedensich beide vomgenus naturale dadurch, daßjedes derbeiden aufVorstellungen, nicht aber aufWahrheit basiere, quia falsum, quia turpe, quia indignum est.234 Die religio naturalis beziehe sich aufGöttliches, dieanderen beiden genera auf Menschliches.235 Einleuchtend folgert also Augustinus: Quanto liberius subtiliusque ista divideres, dicens alios esse deos naturales, alios ab hominibus institutos, sed de institutis aliud habere litteras poetarum, aliud sacerdotum, utrasque tamen ita esse inter se arnicas consortio falsitatis, ut gratae sint utraeque daemonibus, quibus doctrina inimica est veritatis!236
nutzt Augustinus diese indervonVarro übernommenen dreigeteilten Theologie inhärente Schwäche, um den heidnischen Gelehrten in den Dienst seiner Argumentation zustellen odermehrnoch, aufseine Seite zuziehen:
Mitgroßem Geschick
Quis ergo usque adeo tardus sit, ut non intellegat istum hominem [sc. Varronem] civilem theologian tam diligenter exponendo et aperiendo eamque illi fabulosae, indignae atque probrosae, similem demonstrando atque ipsam fabulosam partem esse huius satis evidenter docendo nonnisi illi naturali, quam dicit ad philosophos pertinere, in animis hominum moliri locum, ea subtilitate, ut fabulosam reprehendat, civilem vero reprehendere quidem non audeat, sed prodendo reprehensibilem ostendat, atque ita utraque iudicio recte intellegentium reprobata sola naturalis remaneat eligenda?237 Varro habe es nicht gewagt, diereligio civilis offen anzugreifen, undsie deshalb mit Spitzfindigkeit in ein schiefes Licht gerückt, indem er sie in die Nähe der zweifelhaften religio fabulosa brachte. So sehr Augustinus die Schwächen des Systems aufdeckt, so wenig wird er Varros Intention gerecht. Auschristlicher Sicht, die einen personalen Gott kennt, kritisiert Augustinus:
vile? Latine si usus admitteret, genus, quodprimum posuit, fabulare appellaremus; sedfabuῦ θ ο ςGraece fabula dicitur. losum dicamus; a fabulis enim mythicon dictum est, quoniam μ Secundum autem utnaturale dicatur, iamet consuetudo locutionis admittit. Tertium etiam ipse Latine enuntiavit, quodcivile appellatur. Deinde ait: „Mythicon appellant, quo maxime utZurVerbreitung dertheologia untur poetae; physicon, quophilosophi; civile quopopuli [...].“ tripertita in Griechenland undRomvgl. Lieberg 1982, passim.
234 Aug. civ. 6, 5. 235 Aug. civ. 6, 6: Dicis quippe fabulosos [sc. deos] accomodatos esse adtheatrum, naturales ad mundum, civiles adurbem, cum mundus opus sit divinum, urbes vero et theatra opera sint hominum, nec alii dii rideantur in theatris, quamqui adorantur in templis, nec aliis ludos exhibeatis, quam quibus victimas immolatis. Die Unterscheidung zwischen dichterischer und staatlicher Religion ist damit aufgehoben. 236 Aug. civ. 6, 6; vgl. auch 6, 7: Defabulosae et civilis theologiae similitudine atque concordia mitweiteren Argumenten. 237 Aug. civ. 6, 9.
4. Verhältnis zurReligion
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At enim habent ista physiologicas quasdam, sicut aiunt, id est naturalium rationuminterpretationes. Quasi vero nos in hac disputatione physiologian quaerimus et non theologian, id est rationem non naturae, sed Dei.238
Die Unterscheidung zwischen Gott und Natur ist in Varros Theologie aber nicht vorhanden, aus antiker Sicht sogar überflüssig. Zwischen Varros Zuständigkeitsgöttern und dem personalen christlichen Gott besteht ein fundamentaler Unterschied.239
Die religio civilis reduziert sich bei Varro stellenweise zueinem Mittel der Herrschaftsausübung. Das bereits zitierte Fragment RD 1, 20 Cardauns,240 das die Erhebung desHerrschers zurEhre derAltäre als nützliches Schauspiel zur Disziplinierung derBürger billigt, lehnt sich inhaltlich an die Theorie zumUrsprung der Religion, wie sie von Kritias oder Euripides241 vertreten wurde, an. Sisyphos entwikkelt in demgleichnamigen Dramenfragment folgende Genese des Götterglaubens: Die Menschen hätten sich amAnfang, umUnordnung und Gewalttätigkeit zu begegnen, Gesetze gegeben, die Unrecht bestrafen sollten. Auf diese Weise konnten allerdings nurertappte Übeltäter bestraft werden, heimliche Vergehen blieben ungeahndet. Um diesem Mangel aufzuhelfen, ersann ein schlauer Mann die Gottesfurcht, θ ε ῶ νδέο ς , diedieMenschen amBösen hindern sollte, indem er mitkluger Berechnung dasGöttliche als allwissend undauch das Verborgene sehend darstellte. So habe er durch Verschleierung ein Herrschaftsmittel gefunden. Derhier erstmals bezeugte Gedanke taucht später immer wieder auf, wenn es umdie Politisierung der Religion geht. Polybios sieht in der δ ο ν ίαeinen entscheidenden ε ισ ιδ α ιμ Vorteil desrömischen Gemeinwesens, da sie Unbestechlichkeit garantiere.242 Nach Varro RD 1, 20 Cardauns dienten Mythen dazu, das Volk zu zügeln, während es umgekehrt vonVorteil sein könne, manche Wahrheiten vor demVolk verborgen zu halten. Cardauns243 will Varro deshalb nicht in die Tradition des Kritias (Euripides) 238 Aug. civ. 6, 8. 219. Indem Varro anderreligio mythica trotz aller Vorbehalte fest239 Vgl. Geerlings 1990, 218– hält, zeigt er jenes Traditionsbewußtsein, dasdie römische Kirche in der Beibehaltung von überkommenen Bräuchen undregional unterschiedlicher Volksfrömmigkeit bewahrt hat. Darin, nicht in seinem Gottesbild, ist Varro derwestlichen christlichen Kirche vergleichbar, vgl. Geerlings 1990, 217. 240 S. oben S. 45 mit Anm. 196. 241 Das zur Rede stehende Fragment VS 88 B 25 = TrGF I 43 F 19 Snell aus dem Satyrspiel Sisyphos wirdbald demathenischen Aristokraten Kritias, bald Euripides zugeschrieben. Dihle 42 spricht sich mitNachdruck fürdenletzten aus. 1977, 28– 12; vgl. die Worte des C. Aurelius Cotta in Cic. nat. deor. 1, 118: Quid i qui 242 Pol. 6, 56, 6– dixerunt totam dedis inmortalibus opinionem fictam esse ab hominibus sapientibus rei publicae causa, utquos ratio nonposset eos adofficium religio duceret, nonne omnem religionem funditus sustulerunt? In derRede Pro Sestio 98 berücksichtigt Cicero die Wahrung des Kults an erster Stelle, wenn er zur Bewältigung derKrise an den ‘Bürgersinn’ der Rechtschaffenen mahnt, vgl. Bergemann 1992, 144. Bei derCharakterisierung Scipios weist Polybios darauf ίο ε ςθ άτιν τ ε ςμ ό αverbreitet habe ὡ ξ hin, daßdieser unter Berufung auf seine Träume die δ ά λ . Indiesem Punkt habe er ähnlich gehandelt wie Lyο ς ιβ μ ν ο ε ὰ ςἐπ ςτ ύ ιο α ο ο ία ιν ςπ ςἐπ kurg, der sein Verfassungswerk als von Pythia geoffenbart der Bevölkerung nahebrachte, Pol. 12. 10, 2, 8– 243 Cardauns, II, 1976, 139, zu RD 1, 5.
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II. Varro undCicero
stellen, daletzterer dieGötter nuralsErfindung berechnender Männer betrachtet habe, Varro jedoch sehr wohl angöttliche Wesen glaube. Richtig ist, daß Varro ja die Religion gerade nicht abschaffen wollte. WasVarros Absicht angeht, steht er vielleicht Platon näher, wenn manetwa an die Funktion des Metallmythos244 im Staat denkt undüberhaupt andieWirkmächtigkeit, die Platon demMythos im Negativen wie im Positiven zubilligt. Varro wie Platon scheinen auf eine Art γ ε ν ν α ῖο ν δ ο ψ ε ῦ ς,245 manmöchte fast sagen, ‘pia fraus’, zurückzugreifen. Im zehnten Buch derNomoi246 findet sich diebei Varro ausgebildete Trennung derReligion in Philosophenwissen undVolksglauben bereits durchgeführt.247 Platon bekämpft zunächst dieausseiner Sicht irrige Vorstellung, dieGötter seien nicht vonNatur aus, sondern durch irgendwelche Gesetze. Eine solche Auffassung führe zumVerfall derMoral. Schließlich widerlegt er dieIrrlehre durch einen philosophischen Beweis, der allerdings fürdiebreite Masse zu anspruchsvoll ist. Diese müsse folglich durch die gesetzlich vorgeschriebene Religion zum Götterglauben gezwungen werden. Zwar gebe es Menschen, dietrotz fehlenden Wissens umdie Existenz der Götter gerecht handelten und daher keinen größeren Schaden anrichteten. Gefährlich seien aber diejenigen, die zurAsebie noch zusätzlich in Freude undLeid unbeherrscht seien. Diese könnten die Frommen verlachen, noch mehr Gleichgesinnte auf ihre Seite ziehen undschließlich ihre Mitbürger durch Betrug undHinterlist ausbeuten.248 Religion undStaatskult sind also vorallem für die Unwissenden wichtig. Eben dieses esoterische Argument nimmt Varro wieder auf. Bei ihmkönnen nur diejenigen es sich leisten, diereligio civilis zudurchschauen, diediereligio naturalis verinnerlicht haben.249 Dazupaßt wiederum Varros Theorie vonderbilderlosen Gottesverehrung amAnfang der Stadt Rom, derreinen Religion vor Einführung des Staatskults.250 Als Antiquar nimmt Varro damit dieselbe Funktion ein wie der Philosoph bei Platon, einerseits für die Einsichtigen die Wahrheit aufzudecken, sie aber andererseits auspädagogischen Gründen fürdieVielen zuverschleiern. Platonisch mutet schließlich auch Varros ‘Dichterkritik’ an. Ganz im Sinne der Homerkritik Platons lehnt Varro diefigmenta der Dichter als contra dignitatem et
244 Plat. rep. 3, 415 a-c. DerMythos soll dieZugehörigkeit zudenjeweiligen Ständen begründen unddieVorstellung, eine Durchmischung derStände führe zumUntergang desStaates, suggerieren. Ebenfalls ein nützlicher Betrug liegt bei denMaßnahmen zurEugenik vor, wo durch ein manipuliertes Losverfahren jeweils die Besten einander zugeführt werden sollen, rep. 5, 459 c-460 a, vgl. Döring 1978, 52. 245 ZumBegriff vgl. Plat. rep. 3, 414 b-c undDöring 1978, 51 und55. 246 Leg. 10, 889 e-899 c. 51. 247 Zumfolgenden vgl. Döring 1978, 50– 248 Plat. leg. 10, 908 b-c. ή θ ο υ ς λ ν ίαsei nurπ ο ιμ 249 Vgl. RD 1, 13 Cardauns. Bei Polybios 5, 65 heißt es, die δεισιδα ινeingeführt worden. ρ ά χ 17 Cardauns, aus denen jeweils 250 Vgl. RD 1, 18 Cardauns; vgl. auch die Fragmente RD 1, 14– deutlich wird, daßetwa zwischen demGott derJuden undIupiter kein Unterschied besteht, es aufdenNamen oderdasStandbild, wases bei denJuden beides nicht gibt, also gar nicht ankommt. ZudemaufMucius Scaevola zurückgehenden undvonVarro übernommenen Postulat [expedit] falli in religione civitates, vgl. Aug. civ. 4, 27.
4. Verhältnis zurReligion
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naturam mortalium ficta251 ab. Entsprechend behandelt er von den drei genera theologia tripertita das genus mythicon fast gar nicht.252 In den Dichtungen,
der so
schreibt Varro, sei es üblich,
ut deus alius ex capite, alius ex femore sit, alius ex guttis sanguinis natus; in hoc, ut dii furati sint, ut adulterarint, ut servierint homini; denique in hoc omnia diis attribuuntur, quae non modo in hominem, sed etiam quae in contemptissimum hominem cadere possunt.253
Denaus dem griechischen Mythos übernommenen fabulae über die Götter billigt Varro bestenfalls Unterhaltungswert zu.So seien die Völker schon seit jeher anfälliger fürdieErfindungen derDichter als für die Überlegungen der Philosophen ge254 wesen (magis adpoetas quamadphysicos [inclinati]), denn letztere hätten utilitatis causa, erstere aber delectationis causa geschrieben.255 Indem Varro das genus mythicon oder poetarum ausklammert, entwirft er ein Gegenbild zur griechischen Religion. Die römische Religion –von Anfang an frei vomMythos –ist eine politische Angelegenheit.256 Wasfür denGriechen derMythos, ist für den Römer die Geschichtsschreibung. Steht am Anfang der griechischen Literatur das mythologische Epos, so amAnfang derrömischen das historische. Während dergriechischen Tragödie vornehmlich mythische Themen zugrunde liegen, ist die römische, auch dort, wo sie mythologische Stoffe aus demGriechischen übernimmt, stets historisch oderpolitisch zu interpretieren. Die Römer knüpfen nicht an denfiktionalen Mythos an, sondern ihr Denken ist an der realen Geschichte orientiert. Durch das Festhalten am Hergebrachten, Geschichtlichen entsteht Kontinuität. Die Gegenwart ist an die Vergangenheit als Norm gebunden, sie ist nicht mehrfrei. Anders bei denGriechen: Fürsie ist diejeweilige Gegenwart offen, sie ist keiner historischen Kontinuität, keinem normgebenden ‘mos maiorum’ verpflichtet. Sie bezieht ihrSelbstverständnis ausdemMythos, der injeder Gegenwart neudeutbar ist und im Extremfall ganz abgelehnt werden kann. Ein Lebensentwurf gegen den Mythos ist immer möglich, gegen die Geschichte nie. Das ‘Freisein’ des Griechen gegenüber dem‘Eingebundensein’ des Römers hat Horaz inderunterschiedlichen Lebensgewohnheit eines jeweils typischen Vertreters beider Völker dargestellt. DenGriechen charakterisiert das ludere, das Ausprobieren von immer Neuem, den Römer das Beharren in Bewährtem.257 Diese Eigenart römischen Wesens ist auchinderReligion zu greifen, undVarro hat sie in seinen Antiquitates unbewußt dargestellt. Aus diesem geschichtlich begründeten Selbstverständnis erklärt sich auch der Aufbau der Antiquitates rerum humanarum et di-
11. 251 RD 1, 7 Cardauns; vgl. Tert. nat. 2, 1, 9– 8 Cardauns entwickelt. 252 DasSystem dertheologia tripertita wirdinRD 1, 6– 253 RD 1, 7 Cardauns. 254 RD 1, 19 Cardauns. 255 RD 1, 11 Cardauns. Die gleiche Unterscheidung nach utilitas unddelectatio trifft ling. 5, 9 hinsichtlich poetischer undunpoetischer Wörter; vgl. ling. 8, 27. 256 Vgl. Gabba 1984, 895. 107. 257 Hor. epist. 2, 1, 93–
Varro
in
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II. Varro undCicero
vinarum insgesamt:258 Die res humanae kommen vor den res divinae, denn die staatliche Gemeinschaft existiert vorder Religion, sie ist die notwendige geschichtliche Grundlage fürjede kultische Praxis: propterea se prius de rebus humanis, de divinis autem postea scripsisse [...], quod prius extiterint civitates, deinde ab iis haec instituta sint. [...] Sicut prior est [...] pictor quam tabula picta, prior faber quam aedificium, ita priores sunt civitates quam ea, quae a civitatibus instituta sunt.259
Ebenso wie Varro hatte nach RD 1, App. V Cardauns260 schon Mucius Scaevola Pontifex denVorrang desStaates vor denGöttern betont undderreligio civilis besondere Bedeutung beigemessen. Dasgenus a poetis traditum habe er als nugatoriumabgetan, demalterum genus a philosophis traditum bescheinigte er, non congruere civitatibus, quodhabeat aliqua supervacua, aliqua etiam quae obsit populis nosse. Allein das genus a principibus civitatis traditum wollte er gelten lassen. Es bestimme die sakrale Praxis undmüsse aus Gründen der ‘Staatsräson’ gepflegt werden.261
γ ) ‘Natura dux’
Imhistorischen Teil seiner Theologie
folgt Varro der Maxime, natura enim duxfuit ad vocabula imponenda homini.262 Er glaubt, durch die etymologische Bestimmung der Götternamen die Götter selbst zu erklären, so als seien Namen naturgegeben undlieferten, auf ihre ursprüngliche Form zurückgeführt, Auskunft über dasWesen
258 Varro hatbeide Werke, obwohl sie getrennt herausgegeben wurden, als Einheit begriffen, wie dasimfolgenden zitierte RD 1, 5 Cardauns zeigt. Vgl. auch Horsfall 1972, 120; Della Corte 1970, 98. 259 Gerschel 1958, 69 macht darauf aufmerksam, daßauch in ling. 5, 80ff. die Magistrate vor den Priestern genannt werden undRomulus als Staatsgründer vor Numa, dem Religionsgründer, steht.
260 Bei Aug. civ. 4, 27. 261 In diesem Sinne äußert sich auch Cic. div. 2, 70: retinetur autem et adopinionem vulgi et ad magnas utilitates reipublicae mosreligio disciplina ius augurium collegi auctoritas. Aus der letzten Stelle arbeitet Martin 1990, 470 sehr klar drei wichtige Beobachtungen zumrömischen a) WirklichkeitserfahSelbstverständnis heraus, die uneingeschränkt auch für Varro gelten: „ rung ist für die Römer wesentlich geschichtlich vermittelt. Wirklichkeit wird nicht primär an-
262
geeignet durch philosophische oder theologische Untersuchungen, auch nicht über Mythen, sondern über vergangene Erfahrung, dieausZeugen oderZeugnissen erkennbar ist. b) Die Gewährsmänner, diegenannt werden, bilden eine Reihe [...]. Mankann sich nicht einfach an einembestimmten Punkt in derVergangenheit einnisten undvondorther eine unmittelbare Verbindung zurGegenwart schaffen; sondern mansteht immer amEnde einer Kette, die als ganze zuberücksichtigen ist. Vergangenheit ist eine aufeinanderfolgende, injedem Glied verbindliche Reihe vonExempla. c) Die Gewährsmänner derVergangenheit sind nicht Dichter oder Philosophen oder Propheten, sondern Beamte [...]. Das, was an derVergangenheit verbindlich ist, ist dasoffizielle Handeln derMagistrate, Priester oder deranderen staatlichen Institutionen.“ Zurtheologia tripertita, ihrer Entwicklung undNachwirkung vgl. Lieberg 1973. Eine Bibliographie zuVarros theologischen Schriften findet sich bei Cardauns 1973 und1982. Vgl. Dahlmann 1962, 98 undBoyancé 1976, 143.
4. Verhältnis zurReligion
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der Signifikate selbst. Das 14., De dis certis betitelte Buch ist fast ausschließlich eine Sammlung vonEtymologien, die dieFunktion derGötter erklären sollen.263 Es ist in derForschung unbestritten, daßVarro in De lingua Latina sich methodisch an die Stoa anlehnt.264 Dies gilt aber auch für seine religionsgeschichtlichen Arbeiten.265 Entscheidend ist, daßer seine Erklärungsmodelle letztlich von der Natur herbegründet. So, wie sich die ο ἰκ ε ίω σ ιςder Stoiker mit der Lehre von den naturgemäßen Dingen verbindet266 unddie Normen der Lebensgestaltung aus dem Urtrieb der Natur ableitet,267 folgt nach Varro auch die Namensgebung, ja die gesamte Kulturentstehung einem vonderNatur vorgezeichneten Weg. Diesen zurückzuverfolgen ist Aufgabe des Antiquars.268 Varro selbst ist sich bewußt, daß diese Forschungen letztlich keine Auskunft über das Wesen der Götter geben, sondern viel eher über die Tätigkeit des ‘Nomotheten’ oder impostor,269 der die Götternamen bzw. denfrühen Volksglauben erfand. Selbst in der für die religio civilis docheigentlich wichtigen Frage, woher die Menschen überhaupt erstmals Kenntnis über die Religion erhalten hätten, läßt es Varro bei Numas undurchsichtiger Hydromantie bewenden.270 DerRömer Varro denkt einzig in geschichtlichen Kategorien.271
) Vorbilder undZeitbezüge δ Varro konnte
für seine Theorie von der staatsrechtlichen Relevanz des Götterglau-
bens undder Einteilung in ewige Götter undvergöttlichte Menschen auf hellenistische Vorbilder zurückgreifen. Taylor hat auf ‘euhemeristische Züge’in Varros De
263 Vgl. Cancik 1985 / 1986, passim; zur Methode vgl. den platonischen Dialog Kratylos; Boyancé 1976, 145 meint hinter demGlauben an die Aussagekraft von Begriffen pythagoreische Ursprünge zusehen. 264 Vgl. etwa Dahlmann 1932, passim; Rawson 1985, 126; von Albrecht, I, 1992, 479, Anm. 1. 265 ÜberdieBedeutung dertheologia tripertita im stoischen Denken vgl. Dörrie 1986, 80; Pohlenz 1972, I, 262; II, 135, Boyancé, REA 57, 1957, 58. 266 Pohlenz 1940, 13. 267 Vgl. die Pflichtenlehre bei Cic. off. 1, 11. 268 Über dieEntstehung von Götternamen nach Varros Interpretation gibt RD 14, 189 Cardauns Auskunft: usque adeone [...] maiores nostros insipientes fuisse credendum est, ut haec nescirent munera divina esse, nondeos? Sedquoniam sciebant nemini talia nisi aliquo deo largiente concedi, quorum deorum nomina
non inveniebant, earum rerum nominibus appellarunt
deos,
quas ab eis sentiebant dari, aliqua vocabula indeflectentes, sicut a bello Bellonam nuncupaverunt, nonBellum [...]. Vgl. Cic. nat. deor. 2, 61. 145 über pythagoreische Ein269 Nach ling. 7, 1. Vgl. Michel 1965, 70 undBoyancé 1976, 141– flüsse. φ ία ιλ ο σ ο ςfr. 12a Ross = 10 Rose unddas doxographische Handbuch des ρ ὶφ ε 270 Vgl. Arist. π Aetios 1, 7. 271 Auffällig ist derGegensatz zurposeidonischen religio tripertita, diedieReligion alsdemMenein integrierender Bestandteil des vernunftbegabten schen ‘eingewachsen’ betrachtet, sie sei „ ηtritt derὀρθ ὸ ς κ γ ν ά Wesens“ . DerGedanke desZwangs liegt völlig fern, andie Stelle derἀ γ ο λ ό ς , die ‘recta ratio’, die denMenschen zurReligion führe, vgl. Reinhardt 1921, 400 und 413. 412–
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II. Varro undCicero
gente populi Romani hingewiesen.272 Dies ist, wieimfolgenden gezeigt wird, allerdings nureingeschränkt richtig. Gleiches gilt fürdie früher verfaßten Antiquitates. Varros Trennung der Götter in zwei Klassen ist in ähnlicher Weise bei Hekaρ ά ν ὐ ιο ι undἐπ ε ιο ίγ ι vornimmt taios vonAbdera273 belegt, dereine Aufteilung in ο –letztere sind nach seiner Auffassung vergöttlichte Wohltäter. Hekataios versucht ρ ε ὶὙ π ρ ε eine rationalistische Auflösung des Götterglaubens.274 Seine Schrift Π β ορ έ ω νbeeinflußte wohl Euhemeros von Messene, der in der Ἱε ή φ ρ ὰἀναγρα ebenfalls eine rationale Mythendeutung vorlegt. Euhemeros’ theologische Aussagen sind als dezidierte Götterkritik angelegt.275 Nach ihm sind Iupiter unddie gesamte Götterversammlung hybride. Sie seien ursprünglich selbstgefällige Fürsten gewesen, die sich verehren ließen. Ausdieser Zeit stammten die unterschiedlichen FormenderGötterverehrung –sie seien gleichsam alsReflex aufdieLaunen desjeweiligen Herrschers entstanden. Dernach Euhemeros benannte Euhemerismus wurde zumInbegriff für Götter- undReligionskritik überhaupt. In Rom war Euhemeros durch dieÜbertragung des Ennius bekannt. In einer Linie mitEuhemeros undHekataios steht Leon von Pella.276 Alle drei Historiker geben an, ihr Wissen über die Götter aus ägyptischen Quellen zu beziehen. Leon von Pella wird bei Athenagoὴ η ρ τ αἐπ λ ρ ρ έ ε ισ ο τ υπ ὸ ras277 zitiert imZusammenhang mit der Ἀ ο λ δ ά ν ξ ςτ ὴ νμ ρ ὶτ ῶ νκ π α ε τ . Alexander, so heißt es dort, habe von den Prieν υ ε π νθ ῶ τ ο ἴγ ᾽Α stern in Heliopolis, Memphis undTheben gelernt, daßdie Götter früher Menschen gewesen seien. Dies gelte füralle Götter, auchfürdiejenigen, dieVarro indie Klasse dersempiterni dei eingereiht hatte.278 Varro nimmt also einen längst nicht so radikalen Standpunkt ein wie Euhemeros oder Leon. Seine Zweiteilung der Götter entspricht viel eher dergemäßigten Lehre des Hekataios von Abdera. Auch ist Varros Zielsetzung eine ganz andere als die der hellenistischen Historiker. Während letztere jegliche Religion ablehnten, ist Varros Absicht genau umgekehrt: Religion dient derTraditionspflege. Daßdie im römischen Staat verehrten Götter teilweise ‘nur’Menschen waren, entwertet die Religion überhaupt nicht, im Gegenteil, sie wird dadurch eingegliedert in den ‘mos maiorum’; ihre Ausübung ist ‘pietas’ gegenüber den‘maiores’unddamit eine rein staatliche Angelegenheit. Indem die Religion die Staatsgründer unddiejenigen, die ander ‘Heilsgeschichte’ des Imperium Romanum mitgewirkt haben, zumGegenstand derVerehrung macht, erhebt sie sozusagen denStaat in seiner Gesamtheit auf denAltar. Die Religion der Römer ist,
272 1934, 225. 273 FGrHist 264 274 Fr. 25, 12, 3 ff. 26 (aus derÜbersetzung desEnnius). 275 Vgl. besonders FGrHist 63 F 12– 276 FGrHist 659. β ισ ρ ε ίαπ ὶ Χρ τ ια ρ ν ε ε ῶ ν28 = FGrHist 659 F 2. σ 277 Π 278 Vgl. auch Aug. civ. 8, 5: Alexander Macedo scribit ad matrem sibi a magno antistite sacrorum Aegyptiorum quodam Leone patefacta, ubinonPicus et Faunus etAeneas et Romulus vel etiam Hercules et Aesculapius et Liber Semela natus et Tyndaridae fratres et si quos alios ex mortalibus pro diis habent, sed ipsi etiam maiorum gentium dii, quos Cicero in Tusculanis tacitis nominibus videtur adtingere, luppiter, Iuno, Saturnus, Vulcanus, Vesta et alii plurimi, quos Varro conatur admundi partes vel elementa transferre, homines fuisse produntur.
4. Verhältnis zurReligion
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überspitzt formuliert, ihre überhöhte Geschichte. Der Rationalist Varro und sein aufgeklärtes Zeitalter werden damit gleichzeitig der Pflicht entbunden, etwa an unzeitgemäße Göttermythen zu glauben. Ganz anders als Euhemeros will Varro sein Programm als Rettung undNeudefinition derReligion verstanden wissen.279 Nach Geerlings280 hat Epikur das Schema der theologia tripertita gekannt. Tatsächlich spricht ein Fragment aus dem Brief an Menoikeus281 dafür, daß der Philo-
soph des Kepos zwischen religiösem Brauchtum und Wesen der Götter unterschied. Philodem282 bezeugt, daßEpikur selbst amKult teilgenommen habe. Durch Gottesverehrung erkenne mandie Größe derGötter an. Diese Haltung kommt der varronischen sicher sehr nahe. Ein direkter Einfluß Epikurs ist bei Varro allerdings nicht nachzuweisen.283 Völlig zu Recht hat die Forschung darauf aufmerksam gemacht, daß Varros Theologie in engem Zusammenhang mit Caesars Religionspolitik zu sehen ist. Taylor sieht in Varros De gente die theoretische Fundierung von Caesars Vergöttlichung.284 Dies ist umso wahrscheinlicher, als das Werk wohl mit Horsfall auf die Zeit nach denIden desMärz44 zudatieren ist undaufdas Erscheinen des sidus lulium anspielt.285 Nach Horsfall hat sich Varro in De gente auf die Seite Octavians geschlagen, indem er indirekt dessen Bestrebungen, seinen Stiefvater Caesar zu vergöttlichen, unterstützte. Dafür sprächen unter anderem die Erwähnung der ‘luperci’unddie π γ α λ ε ν ιγ ε σ ία -Theorie, über die mannach der Erscheinung des Caesaris astrum verstärkt spekuliert habe.286 Bereits Caesar selbst hatte zuLebzeiten bei jeder sich bietenden Gelegenheit seine Abstammung aus der ‘gens Iulia’ betont287 –Augustus übernahm dieses Programm. Daß Varro allerdings offen den Caesarkult gefördert hätte, dafür gibt es keine Anzeichen. In den erhaltenen Fragmenten von De gente finden sich nicht einmal vergöttlichte Helden aus dem römi279 Obgleich also Anleihen beidenzitierten griechischen Historikern für Varro aufzuweisen sind, –auchdieTatsache, daßAugustinus Varro undLeon in einem Atemzug zitiert, deutet darauf hin–darf mandennoch nicht vonVarros ‘Euhemerismus’ sprechen, daseine Lehre unter entgegengesetzten Vorzeichen steht. Religion ist für Varro ein Stück Kulturgeschichte, die Mythen undRiten sind eine kulturelle Leistung ansich; sie erheben ein Volk über seinen rohen, unkultivierten Urzustand. Die Herausbildung derReligion ist, mit anderen Worten, ein kultureller Fortschritt desMenschengeschlechts. DieMenschheit bewegt sich nicht voneinem idealen/ goldenen Urzustand in eine depravierte Gegenwart, sondern macht umgekehrt eine Höherentwicklung durch. Dieses Religionsverständnis paßt genau in Varros aszendente Kulturent. stehungstheorie, vgl. unten Kap.VII, 2: „ Vergangenheit bei Varro undOvid“ 280 Geerlings 1990, 211. ὐ ·ο ἵο υ ν ις ῶ σ ςδ ᾽α ινἡγ τ νἐσ ῶ ρα τ ὐ ὰ ὴ ςγ γ ρεἰσίν ἐνα ρ ὰ ο ὲ ε ὶμ νγ 281 Fr. 123 Usener: θ μ ίυ ςνο ὺ ο τ ςοἵο ὐ ινα υ σ τ ο τ ά λ υ ρφ ὰ ὐγ κεἰσίνο ίζ ὐ ,ο υ ο ιν σ ὶνομ ο λ υ τ ο λ ς π ν λ ῶ λ ο λ λ νπ ῶ ,ἀ ν ὰ ῶ ςτ ιρ ᾽ὁτ ὺ ςἀνα νθεο ῶ λ λ ο νπ ῶ ὺ ςτ χὁτο ὐ ὲο ὴ β ςδ ε σ .ἀ ιν σ υ ο ζ δ ό α . ξ ν ο ω ςθ ε τ π ά σ ο ρ ῖςπ 282 Über die Frömmigkeit, ed.Gomperz, 1866, 127. , 1074 b 3– 27, Arist. Metaphysik Λ 283 Weitere Parallelen im Griechischen: Isokr. Busiris 11, 24– 5, vgl. Döring 1978, 50. 226. 284 1934, 225– 125. 285 1972, 124– 286 Horsfall 1972, 125. 287 Vgl. z.B. Suet. Div. Iul. 6, 2.
60
II. Varro undCicero
schen Kulturkreis. Vielleicht ist daran die beklagenswert schlechte Überlieferung schuld, vielleicht wollte aber Varro auch, abgesehen von denin denAntiquitates bereits besprochenen kanonischen ‘Staatsgöttern’, keine weiteren mehr einführen. Liest manin denFragmenten zwischen denZeilen, kann sogar derEindruck entstehen, alswarne ervoreiner Flut vonVergöttlichungen, die doch nur als allzu offensichtliche politische Manöver entlarvt würden. So erzählt Varro zunächst eine ägyptische Geschichte, dieErhebung des Apis zumGott Serapis, die er aber nicht ganz ernst zunehmen scheint. Er gibt denganzen Sachverhalt mitunüberhörbarer Ironie wieder. Er verständigt sich gleichsam augenzwinkernd mit seinem Leser über die wahre Natur dieser Götter:
Et quoniam fere in omnibus
templis, ubi colebantur Isis et Serapis, erat etiam simulacrum, quod digito labiis impresso admonere videretur, ut silentium fieret: hoc significare idem Varro existimat ut homines eos fuisse taceretur.288
WennHorsfalls Datierung stimmt, mußte derLeser dieses Exempel auf die Vorgänge nach Caesars Todbeziehen –er bekam sozusagen in verfremdeter Perspektive Caesars Vergöttlichung mitVarros Deutung vorgeführt. DaCaesar sein Verhältnis zurägyptischen Königin Kleopatra niemals verhehlt hatte, dürfte gerade eine ägyptische Geschichte besonders hellhörig gemacht haben. Varro konnte unter dem Deckmantel ethnologischen Interesses aufdiese Weise eine recht deutliche Botschaft verstecken. Selbst derfragmentarische Zustand desWerks läßt es also nicht zu, dahinter eine ungetrübte Hommage andie ‘gens Iulia’zusehen. Auch die Behandlung der vergöttlichten Trojakämpfer289 geschieht in einem eher abschätzigen Ton. Daß angesichts solcher Stellen die Vergöttlichung Caesars in De gente wohlwollend kommentiert gewesen sein sollte, ist nachgerade unvorstellbar. Varro kannte sehr wohl dieGrenze, wo derNutzen derReligion in Schaden umschlagen konnte, sobald die Gesamtheit des Staates hinter die Einzelperson zurückzutreten drohte, sobalddiebestehende Ordnung durch irrationale Einflüsse gefährdet wurde. So ist es auchbezeichnend, daßerdieBacchanalien als insania bezeichnet290 unddas senatus consultum deBacchanalibus desJahres 186, 291mit dem der Senat der rabiosa turpitudo einEnde setzte,292 ausdrücklich gutheißt. WasdasGemeinwesen gefährdete, mußte ausVarros Religion verbannt werden.
288 Wieseine hellenistischen Vorbilder lokalisiert auch Varro denUrsprung derHerrschervergöttlichung in Ägypten amBeispiel desArgiverkönigs Apis, dernach seinem Tod von denÄgyptern als Serapis verehrt worden sei. Die Erklärung für die Änderung desNamens, wie sie bei Augustinus civ. 18, 5 (= Varro De gente populi Romani 13 Peter) erhalten ist, ist sicher genuinvarronisch. DieVergöttlichung selbst wirdalseinAktder‘Staatsräson’dargestellt. 289 Fr. 17 Peter: Graeci victores deletam Troiam relinquentes et adpropria remeantes diversis et horrendis cladibus dilacerati atque contriti sunt, et tarnen etiam ex eis deorum suorum numerum auxerunt. Eine freundliche Würdigung dergriechischen Götter- undHeroenwelt ist dies sicher nicht.
290 Bei Aug. civ. 6, 9. 19. 291 Bei Liv. 39, 8– 292 Fr. 14 Peter, nach Aug. civ. 18, 13.
4. Verhältnis zur Religion
61
b) Ciceros Gottesbegriff a) Kult Auch Cicero stellt gemäß römischem Herkommen293 das Gemeinwesen in den Mittelpunkt seines Denkens. Selbst Mitglied des Augurenkollegiums,294 bewahrt sich der Staatsmann eine nüchterne Haltung gegenüber der Kunst der Vogelschau und läßt gerade in De divinatione kritische Urteile durchblicken.295 Cicero sieht es wie Varro als politische Klugheit an, religiöses Herkommen zupflegen unddie Größe derGötter, die sich in derWelt offenbare, anzuerkennen.296 Auchertrennt wie Varrozwischen wahrer, ‘aufgeklärter’Religion undsuperstitio:
nec vero [...] superstitione tollenda religio tollitur. nam et maiorum instituta tueri sacris caerimoniisque retinendis sapientis est, et esse praestantem aliquam aeternamque naturam et earn suspiciendam admirandamque hominum generi pulchritudo mundi ordoque rerum caelestium cogit confiteri.297
Hierin ist gleichsam programmatisch Varros Dreiteilung undauch die von ihmvorgenommene Gewichtung enthalten. Die superstitio entspricht der mythischen’ Religion, der die Ernsthaftigkeit abgesprochen wird. Die maiorum instituta, die sacra ‘ unddiecaerimonia sindausStaatsklugheit beizubehalten, sie sind in ihrer Gesamtheit die religio civilis. Der philosophischen Ausprägung am nächsten kommt schließlich dieReverenz andieGottheit durch dieBewunderung dergöttlichen Ordnung. Sie stellt die philosophische Ausprägung der Religion dar und damit ihre höchste Stufe. Nach Cicero ist sie iuncta cumcognitione naturae298 undschon von daher auf einen gebildeten Zirkel beschränkt. Sie hat wie bei Varro esoterischen Charakter. So herrscht im Religionsverständnis Übereinstimmung zwischen Varro undCicero. Obdiese ausdenSchriften beider Autoren kenntliche Einschätzung der Religion die communis opinio der ‘Intellektuellen’ des ersten vorchristlichen Jahrhunderts zurReligion wiedergibt, ist allerdings nicht zuentscheiden.299
293 NachCato Origines
sollten durch dieGeschichtsschreibung nicht einzelne Führer, sondern das ganze Volk gepriesen werden, vgl. Rosen 1985, 83, Suerbaum 1968, 202– 203, undnoch Livius richtet denBlick stets aufdas„ Volksganze“undverurteilt jeden Versuch, denRahmen der libera respublica zusprengen, vgl. Burck 1934, passim.
294 Vgl. Cic. Brut. 1, Phil. 2, 4. 295 Vgl. Cic. De div. 2, 28; 2, 37; 2, 43; 2, 70; 2, 75; 2, 78; 2, 113. Vgl. auch Aug. civ. 4, 30: Cicero augur inridet auguria et inridet homines corvi et corniculae vocibus vitae consilia moderantes.
296 297 298 299
Dies erinnert andenMenoikeus-Brief Epikurs (fr. 123 Usener). Vgl. oben Anm. 281. Cic. div. 2, 148. Cic. div. 2, 149. Jocelyn 1966 / 1967, 91 ist skeptisch, inwieweit Ciceros undVarros Haltung, die derpolybianischen Analyse der römischen Religion entspreche, als repräsentativ gelten kann: „ Certainly wehave nocontradictory analysis from an ancient observer andthe only members of the Roman aristocracy whose private opinions are recorded fit the Polybian picture very nicely. Nevertheless wearequite ignorant of the opinions of the great part of the aristocracy
andScaevola, Cicero andVarro could scarcely bethought average or typical representatives of First of all, the authors on whom wedepend for their class.“Vgl. Liebeschuetz 1979, 33: „
62
II. Varro undCicero
Götter werden in Rom–genau wieStaatsmänner –vorallem unter demAspekt ihrer Leistung fürdie ‘res publica’beurteilt.300 Ihr Zusammenwirken mit demHandeln derMenschen, etwa in Form von Prodigien undAuspizien, verdichtet sich im Begriff des ‘fatum’. So besteht stets eine Spannung zwischen der Geschichtlichkeit und rationalen Erklärbarkeit des römischen Staates und seiner göttlichen Durchwirktheit. Manwirdsie so aufzulösen haben, daßderRömer durch ‘pietas’ sich in Einklang mitdemgöttlichen Wollen stellte. So bestimmt letztlich jeder sein ‘fatum’ selbst. Durch ihre Zustimmung werden dieGötter gleichsam zu ‘Gewährsmännern’ römischer Größe. Sie erheben die römische ‘res publica’ über den nurmenschlichen Bereich. Erste Aufgabe derMenschen ist es, die ‘pax deum’nicht zu verlieren, denUnwillen derGötter nicht zuerregen. DieGötter werden dabei als die „ mächtigere Partei“ , die„Verleiher desFriedens“gedacht, wobei sie „also etwajene Haltung einnehmen, welche dieRömer wiederum ihren Bundesgenossen gegenüber andenTaglegen.“301DieDurchbrechung desNaturgesetzes im Prodigium zeigt eine Störung im Verhältnis zu den Göttern an, die Wiederherstellung verlangt. Die Götter erscheinen indes in derRegel nicht gestalthaft. Der θ ή ςhat in der α ν ε ὸ ςἐπ ιφ ‘res publica’imGrunde keinen Platz.302 Cicero berichtet in Abweichung von dieser Regel im zweiten Buch von De natura deorum203 über zwei Erscheinungen der Dioskuren, 496 v. Chr. amLacus Regillus und168 v. Chr. in der Nähe von Reate. Diezweite Götterepiphanie, diedemP. Vatinius zuteil wurde, kündete vomSieg bei Pydna –Vatinius wurde, alser demSenat Mitteilung machte, ins Gefängnis geworfen underst, als ein Brief von Aemilius Paullus die Nachricht bestätigte, wieder freigelassen: Auf Götterbegegnungen, die Einzelpersonen heraushoben, reagierte derSenat empfindlich; θ ε ο ὶ ἄνδρ ε ςwaren in Romverpönt –sie galten als Gefähr-
ourknowledge of the period, Cicero, Caesar andVarro, were not necessarily typical even of the nobility.“ 300 Vgl. Koch 1960, 101, derals Beispiel Aius Locutius anführt, demman, weil er einmal als ‘Rufer’vor demGallieransturm gewarnt hatte, eine kleine Kapelle an der Nova Via weihte (Liv. 5, 50, 6), obwohl er danach für immer verstummte. Auch in späterer Zeit wurden Sondergottheiten, dienureinmal inErscheinung getreten waren, fürimmer verehrt. So wurde etwa bei Octavians Rückkehr aus Syrien derFortuna Redux ein Altar geweiht (Mon. Ancyr. 11), vgl. Latte, 1988, 39. 301 Koch 1960, 100. ῖς . ν ε α φ ο ὶἀ ε ρ ο ί undθ η ν α 302 Vgl. Latte 1988, 45, Anm. 60 zumUnterschied zwischen θ ὶφ ε ο Die ‘alten’Götter fielen unter dieletzte Kategorie. Dererste Begriff wurde wohl bisweilen mit derGöttlichkeit der Caesaren in Verbindung gebracht. Allerdings empfand mannach wie vor einen Unterschied zwischen den in Not angerufenen Göttern unddem Kaiser. Der Begriff 45. Die Verleihung göttlicher Attribute an ‘Gott’ ließ also Abstufungen zu, vgl. ebd., 44– η ς , γ έ τ ερ ὐ Menschen war im Osten gang und gäbe. 62 nannten die Mytilener Pompeius ε ή ςgefeiert. Die ν α ιφ ὸ ε ςἐπ ρ κ , nach dem Seeräuberkrieg wurde er als θ η τ ή ίσ τ ςundσω τ ῦ ο ντ ὸ ὶ κοιν α ῆκ ν α ιφ νἐπ ὸ η ε ςθ ίτ Athener sahen inCaesar τ ρ ο δ ε ὸ νἀ π ὸἌρ ὶ Ἀφ α ω ε ςκ 87, deraus 342 unddens. 1907, 85– ρ α ῆ , vgl. Wendland 1904, 341– ίο υσω ρ τ ω π ίν ο υβ ἀ ν θ Serv. Aen. 6, 733 (= RD 1, 27 Agahd) auf eine Parallele zwischen Varros philosophisch begründetem Monotheismus undCaesars monarchischen Bestrebungen schließt. Auch Cicero kannte denin römischen Ohren servilen Ton hellenistischer Ehrendekrete (Att. 5, 21), vgl. Wendland 1904, 345. 303 2, 6; vgl. Val. Max. mem. 1, 8, 1 (De miraculis).
4. Verhältnis zurReligion
63
dung des Staates.304 Cicero plädiert mit diesen Beispielen für einen republikanischen Staatskult, demalles Numinose genommen ist. Religion ist demGemeinwesennicht über-, sondern untergeordnet. Seine Äußerungen ausDe republica, denen zufolge die Staatslenker einen ausgewählten Ort im Himmel einnehmen,305 sind ganz im Sinne der vergöttlichten Wohltäter Varros aufzufassen. Romulus, Numa unddieStaatsmänner sindTeil derrömischen Geschichte, die durch deren Vergöttlichung überhöht wird. Göttlichkeit konstituiert sich durch Verdienste um das Gemeinwesen.306
In De legibus 2, 19ff. entwirft Cicero eine der varronischen ähnliche Religionsverfassung.307 Auch in diesen Kapiteln wird die Religion hauptsächlich unter dem Aspekt des genus civile betrachtet. Grundsätzlich unterscheidet auch Cicero zwei Gruppen von Göttern, zumeinen diejenigen, die schon immer als Götter verehrt wurden, divos et eosquicaelestes semper habiti sunt,308 zumanderen erst im Laufe derZeit in denGötterstand erhobene Wohltäter undStaatslenker, quos endo caelo merita locaverunt. Zurletzten Gruppe gehören schließlich auch vergöttlichte Tugenden(propter quae homini datur ascensus in caelum). Ähnlich wie Varro hat Cicero damit äußerlich eine Dreiteilung, innerlich jedoch eine Zweigliederung in dei sempiterni unddeia hominibus facti. WieVarro sieht Cicero in derReligionsverfassung Numas daszuerstrebende Vorbild.309 AufdieFeststellung desAtticus: non multum discrepat ita constitutio religionum a legibus Numae nostrisque moribus,310 entgeg-
netCicero, seine
frühere Schrift
Derepublica
verteidigend:
304 Vgl. Rosen 1985, 80: Dieὁμ ιλ ρ ὸ ίαπ ςθ ό νwardenRömern verdächtig, sie konnte als Beε trug gelten oder als Versuch, aus derOrdnung des demokratischen Gemeinwesens auszubrechen. Auf diesem Hintergrund interpretiert Rosen auch die Büchverbrennung von 181, denn μ ιλ Numa wurde Kontakt zu derQuellnymphe Egeria nachgesagt. Diese ὁ ρ ίαπ ὸ ςθ ε ό νsei denVätern suspekt gewesen. Bei Piso unddenvon ihm abhängigen Historikern ist derBesitzerdesGrundstücks, aufdemdieBücher gefunden wurden, statt desCn.Terentius einL. Petillius. DerGentilname sollte nach Rosen an die Protagonisten derScipionenprozesse erinnern. Piso, derKonsul von 133 undGegner der Gracchen, habe die Geschichte als ein Exempel für seine eigene Zeit undMahnung zurEinordnung konzipiert. 305 Z.B. 1, 64; 2, 17; 6, 13; nat. deor. 3, 49. Die Vergöttlichung desRomulus wird in einem sachte distanzierenden Tonberichtet (rep. 2, 17). Seine Apotheose wird als eine opinio’ hingestellt. Cicero sieht sich genötigt, denüberlieferten Glauben zu verteidigen: quod ‘ ceteri qui dii ex hominibus facti esse dicuntur, minus eruditis hominum saeculis fuerunt, ut fingendi proclivis esset ratio, cum imperiti facile adcredendum inpellerentur, Romuli autem aetatem minus his sescentis annis iaminveteratis litteris atque doctrinis omnique illo antiquo ex inculta hominum vita errore sublato fuisse cernimus, rep. 2, 18. Die Passage ist einerseits eine Verteidigung vordemaufgeklärten Leser, andererseits zeigt sie die Sympathie des Autors für dasÜberlieferte. 306 Koch 1960, 99 führt an,dasAdjektiv divinus, „geradezu eine Lieblingswendung“Ciceros, bezeichne inAnlehnung andiegriechische Vorstellungswelt soviel wie ‘genial’. 307 Vgl. Wendland 1907, 86. Nach Latte 1960, 293 spürt man varronische Vorstellungen im zweiten Buch vonDe legibus. 308 Leg. 2, 19; dort auchdiebeiden folgenden Zitate. 309 Dieetwas altertümelnde Sprache hebt die Würde derAusführungen undmacht die Erinnerung
anNumagleichsam
310 Leg. 2, 23.
hörbar.
64
II. Varro undCicero
Ancenses, quom in illis de re publica libris persuadere videatur Africanus, omnium rerum publicarum nostram veterem illam fuisse optimam non necesse esse optumae rei publicae leges dare consentaneas?
AusderFormulierung wird deutlich, daß Cicero Religion primär als einen Gesetzgebungsakt betrachtet. Genau wiebei Varro ist bei ihm der staatliche Rahmen Voraussetzung fürdie Religionsausübung: die ‘civitas’bestimmt die Religion. Schließlich führt auch Cicero wie Varro Nützlichkeitserwägungen ins Feld, die denrein praktischen Sinn der Religion demonstrieren sollen.311 Die Griechen hätten ebenso wiedie frühen Römer dieTempel mitten in die Städte gebaut, die Götter also unter denMenschen wohnen lassen, utaugerent pietatem in deos.312 Sie hätten den Nutzen derGötterverehrung wohl erkannt: Adfert enim haec opinio religionem utilem civitatibus, si quidem et illud bene dictum est a Pythagora doctissimo viro, turn maxume et pietatem et religionem versari in animis, cum rebus divinis operam daremus, et quod Thales qui sapientissimus in septem fuit, homines existimare oportere, omnia cernerent, deorum esse plena; fore enim omnis castioris, veluti quom in fanis essent maxime
religiosis.
Das ‘expedit esse deos’ ist hinter dieser Auffassung ebenso zu hören wie hinter Varros Argumentation.313 Dazu paßt auch die Haltung Cottas in De natura deorum 3, 5, derdemvon denmaiores überlieferten cultus mehr Gewicht beimißt als jeder oratio autdocti aut indocti. DerRömer hält unbeirrt an dereinmal als gut befundenenTradition fest. Die Angst vorAnfechtung, derWunsch nach Sicherheit undGeborgenheit im Bekannten ist stärker als das philosophisch-theologische Streben nach Gotteserkenntnis. Varro undCicero stehen beide in der Nachfolge des Pontifex Maximus Mucius Scaevola unddessen Maxime: [expedit] falli in religione civiAber füreinen Aristokraten, wenn er nicht gerade Priester war, wog dietates314. „ ser Umstand nachgerade nicht sehr viel, undüberreich war für den Einzelnen der persönliche Gewinn, wenner als Gebildeter denWegfinden konnte zur grandiosen Weltfrömmigkeit der stoischen Philosophie. Im Hinblick auf die Väterreligion und ihre seit so langem schon dauernde Agonie aber heißt das, daßvonCicero [..] [man darf anfügen, ebensowenig wie von Varro] kein Impuls ausgehen konnte, der eine Wiederherstellung desErerbten auf eigenständigem unddas Volksganze tragendem Fundament ermöglicht hätte. Eine Zeit, die den Sonnenglanz des philosophischen Denkens auskostete, konnte eben nichts zustande bringen, das über neben oder gar gegen diese Helligkeit hätte eine eigene Leuchtkraft behaupten müssen.“315Es wohnen zwei Seelen in Ciceros Brust, die des aufgeklärten Gebildeten und die des Staatsmanns. Seine Religion bleibt wie die Varros letztlich ein Kult ohne Überbau, 311 Vgl. Rawson 1975, 154: „Certainly the advantages of popular place in aristocratic Rome.“
superstition were a common-
312 Leg. 2, 26; dort auch das folgende Zitat. 313 So ist es nicht weiter verwunderlich, daßCicero inDe legibus 2, 32– 33 die Vogelschau als die Kunst echter Prophetie verteidigt, in De divinatione 2, 28 aber sehr wohl die politische Berechnung ins Feld führt. Vgl. denKommentar vonPease 1955 / 1958 zuCic. nat. deor. 1, 14. 314 Aug. civ. 4, 27. Vgl. Liebeschuetz 1979, 33 mit Anm. 2. 315 Koch 1960, 199.
5. Wirkung undNachwirkung
65
eine äußere Form ohne Glaubensinhalt. Sie hat nur die Aufgabe, eine althergebrachte Ethik zuerhalten. So fühlen sich Varro undCicero in stoischem Denken bezeichnenderweise zu Hause.316 Auch diese philosophische Lehre verkümmerte am Ende derRepublik undimfrühen Prinzipat immer stärker zu einer reinen Ethik, die fast gänzlich ohne Metaphysik auskam. Daß sie dennoch so wirkmächtig blieb, hängt wohl mitderrömischen Neigung zusammen, das eigene Handeln an der Geschichte undnicht aneiner metaphysischen Normauszurichten.
β ) DasWesen derGötter Es wurde
gezeigt, daßauch derStaatsmann Cicero die Religion hauptsächlich unter demAspekt der ‘Staatsräson’ betrachtet. Zugleich entwickelt auch er, vornehmlich in De natura deorum eine theologia naturalis, die ganz varronischen Mustern verpflichtet ist.317 MitBezug aufEnnius, aufden sich bereits Varro berufen hatte, entwickelt er in 2, 4 das Wesen Iupiters als eine Verkörperung der Naturgewalten. In 2, 65 liefert er einen aufschlußreichen Hinweis aufdieDiskrepanz zwischen der tatsächlichen Gottesvorstellung seiner Zeit und dem Sprachgebrauch: etiam augures nostri cumdicunt ‘lovefulgente tonante’: dicunt enim ‘caelo fulgente et tonante’.
5. WIRKUNG UND NACHWIRKUNG
a) Varro DerPontifex Maximus Caesar hätte dieAntiquitates Varros im Rahmen seiner Religionspolitik sicher gern als in seinem Sinne betrachtet.318 Indes war Varros Programm ein dezidiert römisches, während Caesar wenigstens Versuchungen, sich in der Arthellenistischer Herrscher zu stilisieren, nicht widerstehen konnte.319 Dazu trugen zum einen die für den siegreichen Feldherrn bezeugte Alexanderimitatio bei,320 zumzweiten seine Verbindung mitKleopatra und schließlich dynastiebildende Maßnahmen, wie etwa die Einsetzung eines politischen Erben.321 Durch die Rückorientierung auf die ‘gens Iulia’stellte er die Herrschaft auf eine neue Legitimationsbasis.322 Schließlich reihte er sich bewußt in die Tradition der Könige von Alba ein, indem er bisweilen in deren (vermeintlicher) Tracht auftrat.323 Dieses Verνmit ebendiesen frühesten Köλ ο νἼου ιὰτ ὸ halten rechtfertigte er damit, daßer δ
316 Vgl. Koch 1960, 198; Cic. nat. deor. 3, 95. 317 Vgl. Wlosok 1983, 196. 318 Vgl. Mommsen, Röm. Gesch. 7III, 494; Reitzenstein 1901, 99, Anm. 1. 319 Vgl. Meyer 1918, 503 u.ö.; Meier 1980. 515. 320 Vgl. Meyer 1918, 514– 321 Meyer 1918, 518 interpretiert einen von Helvius Cinna eingebrachten Antrag, demzufolge es Caesar gestattet sein sollte, mehrere Frauen heimzuführen (Suet. Div. Iul. 52, Dio 44, 7, 3), ausdemBestreben zurDynastiebildung heraus. 322 Suet. Div. Iul. 6; vgl. Norden 1901, 257ff. und267ff. Die Aktivierung undPolitisierung derjulischen Familienlegende ist Cäsars 323 Dio 43, 43, 2. „ , Koch 1960, 108. bewußte Tat“
66
II. Varro undCicero
nigen verbunden sei.324 Caesars ‘genius’ wurde in die Schwurformel aufgenommen.325 Er erhielt zahlreiche bisher nie aufeine einzige Person vereinigte Ehren, die zumTeil aus derrömischen Tradition stammten, zumTeil aber auch gänzlich neu waren, so etwa die Tatsache, daßihmim Tempel geopfert wurde undStatuen von ihmAufstellung fanden.326 Nach Cassius Dio327 wurde Caesar sogar als Iupiter Iulus unter die Staatsgötter aufgenommen. Sein Haus glich einem Tempel.328 Indem ersich aufAltrömisches berief, blieb er scheinbar bei Vertrautem; indem er monarchische Rechte wiederbelebte und sich göttliche Attribute zuerkannte, sprengte er denRahmen deralten ‘respublica’. Das spektakulärste Ereignis wardas Lupercalien-Fest des Jahres 44, als Antonius ihmdie Königskrone anbot, er sie jedoch ablehnte.329 Folgt manderDarstellung Appians, könnte mandie Ereignisse dahinge, hend deuten, daßCaesar die Reaktion der Umstehenden ‘testen’330wollte und – μ ή ο υστενάξαν δ τ ο ς–denUnmut bemerkend, miteiner geistreichen Wendung den Rückzug antrat.331 Schließlich beschränkte er sich darauf, den Königstitel nur für die Provinzen, nicht jedoch für Rom und Italien zu führen.332 Diese Maßnahme wurde miteinem Spruch, denL. Cotta ausdenSibyllinischen Büchern ausgegraben haben wollte, begründet, demzufolge die Parther nurdurch einen König unterworfen werden konnten.333 Auch hier bemühte Caesar wieder Altrömisches, um seine Politik zurechtfertigen. Er hatte offenbar die Altertümer als ein Mittel der Politik entdeckt. Aufeben dieses Sibyllinische Orakel geht Cicero in Dedivinatione 2, 110 ein. Die Abhandlung ist im Sommer 44, also nach Caesars Ermordung, geschrieben. Er schiebt jedoch nicht die Sibyllinischen Bücher als zweifelhafte Zeugen beiseite, sondern nimmt ihre Autorität ganzernst undgeht, umdie Forderung nach einem ‘regnum’ abzuwenden, statt dessen von einem Interpretationsfehler aus.334 Dies zeigt, daß selbst die dunkelsten Zeugen aus religiöser Tradition in der späten Republik immer noch eine große Wirkmächtigkeit besaßen. Caesar wußte diese zu nutzen. Neuundfür römisches Herkommen unerhört warsein Bestreben, die PersondesHerrschers schon zuLebzeiten in dieNähe derGötter zurücken. Es ist pa-
324 Vgl. Dio 41, 34, 2; s. auch Varro ling. 5, 144. Caesar
berief sich damit auf eine von derreEr steht als erster nicht mehr publikanischen Tradition gänzlich unabhängige Legitimation. „ , im republikanischen Staate, sondern als Konkurrenz seines Gesamtanspruches neben ihm“
Koch 1960, 105. Dio 44, 6, 1. 467. Appian BC 2, 106; vgl. Wissowa 1971, 445 und466– 44, 6, 4. Cic. Phil. 2, 110. ; zum Zuden Lupercalien vgl. unten Kap. III, 2 c): „Varros Schrift De scaenicis originibus“ Hergang Liv. 116; Dio 44, 11; Appian 2, 109; Plut. Caes. 60; Anton. 12; Cic. Phil. 2, 84ff; 3, 12; 5, 38; 13, 17; 13, 31; 13, 40; Stellen nach Meyer 1918, 521. 330 NachKoch 1960, 106handelte es sich umein überlegtes, kein spontanes Nein. Caesar habe dasKönigtum fürsich vonvornherein ausgeschlossen. Diese Ablehnung habe später zurAufalseiner neuartigen Institution aufanderer Ebene“geführt. richtung desKaisertums „ . Se ρ α ῖσ α ὰΚ λ κε λ ὔ ύ ,ἀ ε ς ιλ σ 331 Er soll auf die Anrede ‘König’ geantwortet haben: ο ι βα ἰμ nonè vero ... . Vgl. auch Suet. Div. lul. 79. 332 Appian BC 2, 110; Plut. Caes. 64. 333 Suet. Div. lul. 79, Dio 44, 15, 3. 334 Meyer 1918, 572, Anm. 1.
325 326 327 328 329
5. Wirkung undNachwirkung
67
radox: Die Aufgeklärtheit am Ende des ersten vorchristlichen Jahrhunderts, das Verschwinden derFurcht vordenGöttern, die Unterordnung der Religion unter die ‘Staatsräson’ verstand Caesar in seinem Sinne einzusetzen. Mitdenalten Göttern, φ α ν ε den θ ο ε ῖς ὶἀ , rechnete manüberhaupt nicht mehr, die neuen Götter, die θ ε ο ὶ φ α η ρ ν ο ί wurden statt dessen immer mehrals Macht empfunden.335 Einerseits wurde die Religion abstrakter, symbolischer, andererseits aber auch handgreiflicher, weil ander Person des Herrschers erfahrbar. Zuguter Letzt war sie nur noch eine Überhöhung der Politik.336 Varros Antiquitates liefern ein gutes Bild über denZustand der Religion in denletzten Jahren der Republik. Caesar verstand es, die Situation fürseine eigenen Zwecke zunutzen, sein Programm warjedoch letztendlich zuhellenistisch, zuanti-römisch undanti-republikanisch, umErfolg zuhaben.337
Ganz anders handelte Octavian. Er warbestrebt, eine dezidiert antiöstliche Religionspolitik zu betreiben; Verehrung und Kult reduzierten sich sehr stark auf Abstraktionen. Diesem Denken entsprach die Neuschöpfung von Begriffsgottheiten wie Concordia, Salus Populi Romani oder die Errichtung eines Altars für die Pax Augusta.338 Auch scheute er davor zurück, demHerrscher als Menschen göttliche Ehren zukommen zu lassen, vielmehr sollte die göttliche Macht in ihm, sein ‘genius’oder ‘numen’, verehrt werden.339 Diealten Formen büßten ihren religiösen Wert ein und „ die neuen politischen Institutionen [wurden] mit einem pseudoreligiösen Schimmer umkleidet“.340 Varros Rolle in diesem Prozeß hat Koch sehr
Im Bilde könnte mandas Verhältnis Varros zu den eingängig zusammengefaßt: „ Augusteern folgendermaßen umschreiben: die ererbte Religion glich in der Spätrepublik einem seit langem verlassenen, verwahrlosten Hause. DakamVarro, betrat es, teils getrieben vonpersönlicher Liebhaberei, teils in demunklaren Bewußtsein, die Zukunft des Vaterlandes bedürfe einer Säuberung des Hauses und einer Neuaufstellung seines Inventars, under führte sie durch, so daßamEnde die Gegenstände vollzählig undgleichsam neu, alle in ihrem Raum undan ihrem Platze, vor denAugen desVolkes standen. Psychologisch laghierin einMoment, dasinhohem Maße einladend wirkte und die Heimkehr leichter gestaltete, als wenn ein Augu-
335 Vgl. Latte 1988, 45, Anm. 60. 336 Diese Tendenz verstärkte sich unter Augustus noch weiter. Vgl. Mon. Ancyr. 11: Der Senat beschließt, alsDankfürdieRückkehr desAugustus derFortuna Redux einen Altar zuweihen. Die ‘Göttin’dient lediglich derÜberhöhung eines äußeren Vorgangs. 337 Bei denLudi Victoriae Caesaris desJahres 45 wurde hinter derStatue der Victoria eine Caesarstatue getragen. Welch ein Schock dieses Maß an Selbstüberhebung desDiktators hinterließ, darüber gibt ein Atticus-Brief (13, 44) beredten Ausdruck: acerba pompa [...] populum vero praeclarum, quodpropter malum vicinum ne Victoriae quidem ploditur. Bereits kurz zuvor hatte manbei einem Fest zuEhren Caesars seine Statue im Zirkus auf dem ‘pulvinar’ niedergelegt. Vgl. Weinstock 1971, 185. Zur Beurteilung Caesars durch seine Zeitgenossen vgl. 89. Christ 1994, 57– 338 Vgl. Latte 1988, 31. 16 undSyme 1939, 472. 339 Vgl. Hor. epist. 2, 1, 15– 340 Vgl. Latte 1988, 34.
68
II. Varro undCicero
steer, vielleicht einer, demdie Liebe dazu nicht eigen gewesen wäre, hätte voraus341 gehen unddasHaus in Ordnung bringen müssen.“
b) Cicero Auch Cicero trug bei aller Ablehnung Caesars dennoch zu einer Überhöhung des Diktators bei, dieihnaußerhalb desrepublikanischen Rahmens stellte. In den soge-
nannten ‘caesarischen’Reden pries er dessen Großzügigkeit, dieihn simillimus deo mache,342 Caesars virtus schmückte er mit dem Epitheton divina.343 An anderer Stelle bescheinigte er mit Blick auf Caesar, homines enim ad deos nulla re propius accedunt quam salutem hominibus dando.344 Cicero versucht, ähnlich wie später Seneca es Nero gegenüber unternehmen sollte,345 denHerrscher durch Präzedenzfälle aufseine ‘dementia’festzulegen –eine ‘dementia’, die nicht vonpreces, sondern von causae abhängen sollte.346 Nach Ciceros Intention war diese Milde also nicht nur Caesars Willkür entzogen, sondern er sollte ihr geradezu unterworfen
werden. Einerseits magCicero gespürt haben, daßderrömische Freistaat ohne herausragende Männer nicht mehr auskam –dasGemeinwesen konnte sich aus sich selbst heraus nicht mehr tragen;347 andererseits sah er natürlich die Gefahr für die ‘libertas’, die aus demErstarken einzelner erwuchs. Diese Spannung, die im livianischen nec vitia nostra nec remedia pati possumus348 treffend ihren Ausdruck findet, bestimmte dasGrundgefühl derausgehenden Republik. Charakteristisch fürdie Betrachtungsweise Ciceros ist dabei dermoralische Ansatz: Die Krise der Republik wird nicht als ein institutionelles Problem gesehen, sondern als ein sittliches. Der Abfall vom ‘mos maiorum’, derNiedergang der ‘virtus’gilt als Ursache für Bürgerkrieg undVersagen derlibera respublica. Daraus ergibt sich, daßein monarchischer Staat nicht per se schon schlecht sein muß, wenn nur der Staatslenker genügend Integrität besitzt.349 Dementsprechend stellt Cicero in De re publica 2, 51 dem
Am unmittelbarsten ist 341 Koch 1960, 202. Vgl. Latte 1960, 293 zur Nachwirkung Varros: „ Varros Wirkung auf die nächste Generation. Er hat für die augusteische Restauration längst vergessene Priesterschaften wie die Arvalen undTitier wiederentdeckt, vermutlich auch Zeremonien wiedie Schließung desIanusbogens.“ 342 Cic. Marc. 8: Animum vincere [...] simillimum deo iudico. 343 Marc. 26. 344 Lig. 38. 345 Vgl. Sen. De dementia unddazuFuhrmann 1963 passim. 346 Cic. Lig. 31. 347 Deshalb sah er sich bereits im Jahr 66 gezwungen, für denOberbefehl desPompeius gegen Mithridates von Pontus einzutreten, obwohl Pompeius dadurch ungebührlich viel Macht erlangte, diederrespublica hätte gefährlich werden können. 348 Liv. praef. 9. Es kommt Cicero349 Büchner 1962, 120 schreibt über das zweite Buch von De re publica: „ Scipio auf die Unterscheidung von rex undtyrannus an, under will denEhrennamen König sofort aberkennen, sobald die Ausübung derHerrschaft mit dem Ideal des Königtums nicht mehr übereinstimmt, er will mit anderen Worten [...] denBegriff des scharf vom König geschiedenen Tyrannen nicht an Form undInstitution, sondern an dasHandeln während
5. Wirkung undNachwirkung
69
Zerrbild des rex, dem tyrannus, den rector et gubernator civitatis entgegen, der als tutor etprocurator reipublicae fungiert. Er ist dadurch charakterisiert, daßer mitRat undTat dieBürgerschaft zuschützen versteht (consilio et opera civitatem tueri potest). Hier argumentiert Cicero streng platonisch: Das consilium ist die kennzeichnende Eigenschaft des Herrschers, im Staat analog zum Aufbau der Seele, in der der animus aufgrund seines consilium das regale imperium über die übrigen Seelenteile ausübt.350 DaßCicero bei derAbfassung vonDe republica als rector des Staates Caesar insAuge gefaßt hätte, ist, schon durch die Datierung des Werks auf dasJahr 54, völlig auszuschließen.351 Es wird aber deutlich, daßpolitische Mitwirkungauchineinem ‘monarchischen’Staat unter besonders günstigen Bedingungen selbst einem Cicero erträglich erscheinen konnte. Eine gewisse Zeitlang, als Caesar durch dieBegnadigung seiner Gegner vonsich reden machte, mager Ansätze zu einer besseren Entwicklung von dessen Herrschaft vermutet haben.352 In diese Zeit fallen die sogenannten ‘caesarischen’ Reden.353 Cicero hatte während des Bürgerkriegs im Senat lange geschwiegen understmals wieder zugunsten des verbannten Marcellus dasWort ergriffen. Die Huldigung anCaesars ‘dementia’ stand dabei einerseits imDienste seiner Argumentation, andererseits verband er damit einen politischen Zweck, nämlich Caesar mit Hilfe eines objektivierten, zu einem nachweisundeinklagbaren Rechtsinstitut erhobenen clementia’-Begriffs in das Gemeinwe‘ die wirksamen Demonstrationen der sen einzubinden.354 Cicero machte sich über Milde freilich keine allzu großen Illusionen. Er wußte, daß ‘dementia’ ein beliebtes Mittel popularer Politik war,355 undlegte schon deshalb sein Mißtrauen gegenüber demUsurpator niemals ab. Cicero war dennoch bemüht, die eher dem griechisch-hellenistischen Bereich entstammende ‘dementia’ römischer Rechtspraxis anzupassen.356 Während Caesar sie also einsetzte, umauf diese Weise nach undnach das geltende Recht auszuhebeln unddurch sein Urteil zuersetzen, sollte sie Cicero als eine Möglichkeit dienen, gerade ein neues System zu schaffen, das demHerrscher Beschränkungen auferderHerrschaft, mithin andeninderTatsich enthüllenden moralischen Zustand desHerrschers knüpfen.“
60. 350 Rep. 1, 59– 351 „models were the great menof old“ , Rawson 1975, 152. Der Gedanke derclementia als Herrschertugend, durch denCicero moderierend aufCaesar einwirken wollte, wird in De re publica noch verworfen, servitus sei injedem Falle abzulehnen, rep. 1, 50: tamenimesse clemens tyrannus quamrex inportunus potest: uthoc populorum intersit utrum comi domino an aspero serviant; quin serviant quidem fieri nonpotest. 352 Insbesondere dieBegnadigung desMarcellus ließ in Cicero Hoffnungen aufkeimen: Vgl. fam. 4, 4, 3. 210. 353 Vgl. Fuhrmann 1989, 207– 354 Vgl. Fuhrmann 1963, 510. 17, bes. 13, wo clemens undpopularis gleichsam zwei Seiten einer Me355 Vgl. Rab. perd. 10– daille sind. In ähnlichem Sinne hat sich offenbar Curio Cicero gegenüber über Caesars Milde geäußert: popularem esse clementiam, Att. 10, 4, 8. 37 und42: Die ‘dementia’ gehört nicht zudenalten Römertugen356 Vgl. Dahlmann 1934, 35– den; sie wurde erstmals von Caesar zur Herrschertugend erhoben; zur clementia’ im politi‘ 107. schen Denken des alten Rom vgl. Haffter 1940, 104–
70
II. Varro undCicero
legte.357 Neufürrömische Ohren mußte derZusammenhang zwischen Caesars Mildeeinerseits undseiner ‘Göttlichkeit’andererseits sein: An die clementia’ der Göt‘ durch die Beterpflegte manin Romnicht zu appellieren.358 Indem Cicero Caesar
Vaterrolle“hineinkomplimentierte,359 hob er ihn tonung seiner clementia’ in eine „ ‘ Mitbürger hinaus, versperrte ihm aber zugleich die Möglichkeit, zwar über seine sich als Gott zu stilisieren, denn clementia’ ist keine Eigenschaft der antiken Göt‘ lehnte Cicero ohne WennundAber ab.360 Die ter. DieSelbstverherrlichung alsGott Sonderstellung, die Caesar für sich beanspruchte und die man ihm, wie selbst Cicero, wennauchresigniert, eingestehen mußte, nicht mehr streitig machen konnte, sollte möglichst begrenzt undin einem römischen Rahmen gehalten werden.
6. RÜCKBLICK Zwischen Varro undCicero bestand zunächst wenig Kontakt, ganz zu schweigen von Vertrautheit. Erst durch die Erfahrung des Bürgerkriegs kamen sich beide näher. Äußerlich Anhänger derPartei des Pompeius, standen sie in ihrem Herzen auf Seiten der ‘libera res publica’. Varro scheint der Rückzug ins Privatleben leichtgefallen zusein, fürCicero warer ein Opfer. AufdemGebiet derPhilosophie kamen sich beide Gelehrte näher. Für Cicero wurde die Philosophie ein ‘receptaculum’, und er ermunterte in denAcademica Varro, seine Forschungen ebenfalls diesem Gegenstand zuwidmen. Dieser ‘antwortete’ mit demLiber dephilosophia, in dem er sich zueiner ‘epikureisierten’ Form derAlten Akademie bekannte und eine Lebensform pries, die alleine ausden‘studia’ihre Berechtigung zog. Cicero versuchte, sich angesichts erzwungener politischer Untätigkeit nach Varros Vorbild mit diesemStandpunkt anzufreunden. ZurPerson Caesars hatten beide ein zwiespältiges Verhältnis. Zwar waren sie vonihmbegnadigt worden undkonnten ihnnicht offen bekämpfen, doch ließen sie in ihren Werken Vorbehalte gegen ihn durchblicken, Varro, indem er Caesars Programm der Herrschervergöttlichung durchschaute und damit entzauberte, Cicero, indem er einerseits versuchte, Caesar durch eine neue clementia’-Konzeption ein‘ Schriften von ihm dizubinden, und sich andererseits in seinen philosophischen stanzierte.
357 Caesar spürte sehr wohl dieGefahr, dieinCiceros Taktik lag. Er wardurchaus bestrebt, seine Gnadenerweise nicht leichtfertig zu erteilen, sondern ließ sie sich jedesmal abtrotzen, vgl. Strasburger 1990, 26. 358 Fuhrmann 1963, 508: Die clementia deorum’ sei „kaum eine autochthon römische Vorstel‘ . lung“ 359 Strasburger 1990, 34. 360 Nach Att. 5, 21, 7; ad Q.fr. 1, 1, 26; 1, 7 waren ihm derartige Auszeichnungen für die eigene Person, als sie ihmangeboten wurden, peinlich. In Phil. 1, 13 geht er mit Antonius’ göttergleichem, selbstherrlichem Gebaren ins Gericht. Vgl. Att. 13, 28, 3; 13, 44, 1, wo göttliche Ehren fürCaesar heftig kritisiert werden.
III. VARRO UNDLIVIUS 1. VARRO UNDDAS SATIRENKAPITEL LIVIUS 7, 2
a) Dierömische satura est1: Mit diesem vielzitierten
Satura quidem tota nostra Ausspruch im zehnten Buch seiner Einweisung indie Beredsamkeit nimmt Quintilian die satura für Rom in Besitz. „ Diesatura freilich gehört unsganz.“ImGegensatz zudenübrigen in Rombekannten Literaturgattungen hat sie kein griechisches Vorbild, sondern entwickelte sich aufitalischem Boden. Sie ist dergeistige Besitz derRömer –so jedenfalls der Befund Quintilians.2 Zustimmung findet dieses antike Urteil in der modernen Forschung, die in der griechischen Literatur tatsächlich kein der römischen Satire entsprechendes Genus aufzuweisen vermag. Dies heißt freilich keinesfalls, daß nicht etwa ‘satirische Elemente’aus anderen griechischen Literaturgattungen in die römische Satire eingeflossen wären, es bestätigt aber, daßQuintilian die Ursprünge der satura zuRecht aufitalischem Boden angesiedelt hat.3 Insofern ist es auch kein Widerspruch, wenn Horaz in derSatire 1, 4 mitEupolis, Cratinus und Aristophanes die Hauptvertreter der griechischen Alten Komödie gleichsam als ‘Vorfahren’ der römischen satura hervortreten läßt. Sind doch die ‘Zank-Agone’4 etwa bei Aristophanes durchaus den‘Sticheleien’ der fescenninischen Posse vergleichbar, unddie plautinische velitatio zeigt, daß Griechen wie Römern in gleicher Weise die Freude an Wortgeplänkel undSpottrede eigen war.5 Die römische satura lebt, jedenfalls in ihrer Frühform, vonderImprovisation, ihrRahmen ist noch weniger festgefügt als derderattischen Komödie6. Kerényi bezeichnet dasHeraustreten aus sich selbst im satirischen Spiel, das Loslösen von denBanden gesellschaftlicher Ordnung als ein ‘menschliches Urbedürfnis’,7dasdieantike Gemeinschaft ihren Mitgliedern mitunter gewährte. FürdieWortgeschichte desBegriffes satura undseine ursprüngliche Bedeutung gilt vielleicht mehr alsfüralles andere Horazens grammatici certant et adhuc sub iudice lis est: Trotz der heillosen Verwirrung lassen sich aber gewisse Grenzen des Begriffs abstecken. Man weiß seit Casaubonus8 wieder, daß die römische satura
1 2
3
4 5 6 7 8
Quint. 10, 1, 93. Rennie 1922, 21 interpretiert denSatz etwas enger: Quintilian habe denRömern nur die Vollendung, diehöchste Stufe dersatura, zubilligen wollen. ehe es ‘attisches Salz’importierVgl. Weinreich 1953, XI: Dasrömische Volk wußte längst, „ te, seinen ‘italischen Essig’ zu nutzen [...] für seinen eigenwüchsigen volkstümlichen Humor.“ Vgl. Radermacher 1967, 20ff. 60, derauf die griechischen Vorläufer derrömischen Satire hinVgl. Hendrickson 1927, 46– weist. Vgl. Kerényi 1933, 138. Vgl. Kerényi 1933, 135. Vgl. Casaubonus, De satira Graecorum poiesi et Romanorum satura, Paris 1605.
72
III. Varro undLivius
nichts mitdemgriechischen Satyrspiel zu tunhat–eine Selbstverständlichkeit, die offenbar bereits amEnde des ersten Jahrhunderts verdunkelt oder ganz in Vergessenheit geraten war. So will etwa Dionys vonHalikarnaß die σ ρ ισ τ α ί bei römiα τ υ schen Triumphzügen nicht als die Erfindung italischer ‘Barbaren’ gelten lassen, sondern erkennt in ihnen griechischen Ursprung.9 Daßer hier über eine volksetymologische Angleichung an das Griechische gestolpert ist, beweist schlagend Horazens Behandlung desSatyrspiels in derArs Poetica,10 in der er die römische satura mit keinem Wort erwähnt. Diese scheint doch vielmehr mit dem ausgelassenen Treiben derLandbevölkerung beibäuerlichen Festen angesprochen zu sein.11 Griechisches Satyrspiel undrömische Satire hängen nachHoraz also nicht zusammen. Im ausgehenden vierten Jahrhundert schließlich ist jede begriffliche Trennung zwischen Satyrspiel undsatura aufgehoben.12 Kerényi13 unternimmt den Versuch, durch Berufung auf eine gemeinsame indogermanische Wurzel „sat“ einen Zusammenhang zwischen demrömischen „satur“und dem griechischen „ ρ “und ο σ ά τ υ ς ρ ο τ ίτ υ “herzustellen. Dabei kommt es ihmzugute, daß sowohl die griechischen „ ς ρ ο ι“als auch die lateinische satura ein gemeinsames Umfeld haben, nämlich „ σ ά τ υ das des Weingottes Dionysos / Liber. Eingang gefunden habe der griechische Brauch in Rom durch die „(h)istriones“über etruskische Umwege. Das Wort (h)ister“führt Kerényi aufdieillyrische Stadt Istros zurück. Dort sei der Ursprung „ der„(h)istriones“zulokalisieren. So bestechend diese Darstellung klingt, nimmt sie doch zu wenig Rücksicht auf die Zeugnisse antiker Grammatiker, die ein solches Verständnis ausschließen. Nach Ullmann14 ist die Ableitung der satura von den griechischen Satyrn seit Verrius, keinesfalls jedoch vor demersten Jahrhundert n. Chr. üblich geworden. Offenbar hatten dieRömer noch zuHorazens Zeit ein sicheres Gefühl für die italischen Wurzeln dersatura undverbanden wohl auch einigermaßen klare Vorstellungen mitdemBegriff. Es fällt auf, daßHoraz zwar satura als Gattungsbegriff gebraucht,15 seine Satiren aber sermones nennt. Lucilius, in dessen Tradition Horaz steht, nennt die seinen ludus ac sermones.16 Nach Ullmann hatte satura noch zu Horazens Zeit den Beigeschmack von „ Gemisch“ ,17 die Herkunft des Begriffs aus der Küche war noch allzu präsent, als daß der Begriff für eine Dichtung im Stile der horazischen sermones getaugt hätte.18 Ein Ausdruck wie ‘pêle-mêle’, ‘Potpourri’, ‘buntes Allerlei’, vonVarro als ein genus farciminis,19 also eine Art von Wurst, definiert, in die eben alles Mögliche hineingestopft,
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
Vgl. ant. 7, 72, 10ff. 250. A.P. 220– A. P. 208ff.
Vgl. van Rooy 1965, 160. Vgl. Kerényi 1933, 129ff., bes. 151. 10. Vgl. Ullmann 1920 (1970), 9– Serm. 2, 1, 1. Vgl. Vahlen 1903, xxvii. Ullmann 1920 (1970), 6. DieFrage, obsatura vorHor. serm. 2, 1 überhaupt als Gattungsbegriff gebraucht wurde, verneinen Hendrickson (Satura –The Genesis) 1911 undPasoli (Convivium) 1964. 19 Bei Diomedes I, 486 Keil.
1. Varro unddasSatirenkapitel Livius 7, 2
73
‘hineingewurstelt’ wurde20, erschien wohl unangemessen –vielleicht auch zu unappetitlich –für ein Dichtwerk, das ja seinem Wesen nach nichts Vermischtes ist, sondern aus einem Guß, in sich abgerundet vorliegt. Auch die übertragenen Bedeutungen vonsatura haben durchweg denBeigeschmack desPlanlosen undUngeordneten. So bezeichnet der Begriff bei Festus21 ein schwammiges Gesetz, das mehrere Dinge in sich begreift, und quasi per saturam sententiam exquirere22 heißt soviel wie„ imTrubel, imallgemeinen Chaos abstimmen“.23
b) Literarhistorische
Zeugnisse
ausderAntike
Will mandemvielschichtigen Genus dersatura undderschillernden Wortgeschichte seines Namens aufdenGrund gehen, so beschränken sich die spärlichen Zeugnisse imwesentlichen aufzwei Quellen, das häufig unddabei kontrovers diskutierte Kapitel 7, 2 des livianischen Geschichtswerks und einen Parallelbericht bei Valerius
Maximus (2, 4, 4). Beide Darstellungen, deren Glaubwürdigkeit nicht selten in Zweifel gezogen wurde,24 sind in eine möglichst knappe Form gebrachte Exzerpte aus Grammatikerschriften. Sie stehen in engster Verbindung mit der römischen Theatergeschichte undhaben in erster Linie eine aitiologische Funktion, indem sie zumeinen das Phänomen des admanum cantare undzumanderen die bevorzugte gesellschaftliche Stellung der Atellanenschauspieler erklären.25 Weder Livius noch Valerius Maximus waren in erster Linie an Literaturgeschichte interessiert, sie schrieben vielmehr politische Historie. Es wurde deshalb in derForschung vielfach hinterfragt, inwieweit ihre Darstellung für die Herausbildung der dramatischen Kunst überhaupt vonBelang sein könne. Dabei spielte die Suche nach der Quelle beider Historiker sowie ihrer Abhängigkeit voneinander eine entscheidende Rolle. Jahn26 berührte dieQuellenfrage einerstes Mal, indem er –mehr aus einem Gefühl heraus als aufgrund strenger Analyse –Varro als Vorlage postulierte. Lag doch nichts näher, als an denGelehrten aus Reate zu denken, wenn es um satura und Theatergeschichte ging. Varro hatte eine Schrift De scaenicis originibus verfaßt, er hatte dasgleiche Thema später in seinen Antiquitates rerum divinarum wiederaufgenommen. Er durfte sicherlich als einer derbesten Kenner der römischen Literaturgeschichte im ersten Jahrhundert v. Chr. gelten und war wohl der meistgelesene Handbuchautor. AusVarros Plautinae quaestiones läßt sich schließen, daßderAntiquar auch denZugang zu Didaskalien besaß undsomit das nötige Quellenmaterial hatte sichten können. Schließlich wardas Gebiet der Satire Varro alles andere als
20 Vgl. die sehr farbige Beschreibung desfarcimen in Varro ling. 5, 111. 21 Fest. 416 / 417 Lindsay. 22 Sall. lug. 29, 5. 23 Vgl. auch Weinreich 1953, XI. Einen kurzen Abriß über antike Belege zumNamen satura gibt 11. Knoche 1982, 5–
24 Zuletzt Petersmann 1986. 25 Vgl. Jahn 1867, 225; s. auch Lefèvre 1983, 31: „Das einzelne Faktum hatte keinen Eigenwert, sondern Beweiswert.“Details stehen nie für sich, sie dienen vielmehr immer einer bestimmten Absicht.
26 Jahn 1867, 225ff.
74
III. Varro undLivius
fremd. AusdemVerzeichnis seiner Schriften bei Hieronymus27 wissen wir, daß er selbst vier Bücher saturae geschrieben hat, die allerdings vollständig verloren sind.28 In zum Teil recht ausführlichen Fragmenten sind dagegen Varros Menippeische Satiren erhalten, mitdenen ermitdemhellenistischen Dichter Menippos von Gadara in dieSchranken trat unddenRömern eine neue Gattung erschloß. Schließlich existierte von Varro ein –leider ebenfalls verlorenes –Handbuch, in dem er ηdes Satirenschreibens gehandelt hatte: De compositione saturarum. über die τέ χ ν Sicher darf manzuRecht davon ausgehen, daßer auch in Depoematis, der Schrift über dieliterarischen Gattungen, derSatire einKapitel gewidmet hatte. Die Satire ist also mit Varros Namen eng verbunden. Livius bewegte sich auf Varros Domäne29 und dürfte schon deshalb kaum darum herumgekommen sein, die Schriften des immerhin berühmtesten Polyhistors seiner Zeit zu Rate zu ziehen. Die Abfassung vonLivius’ siebtem Buch fällt etwa in Varros Todesjahr (27 v. Chr.).30 Gab vielleicht sogar derToddesGelehrten Livius Anlaß, seiner durch einen kleinen Exkurs, in demin komprimierter Form ein Hauptgebiet seines Schaffens wiedergegeben wurde, zugedenken? Bei allen Fragen steht jedenfalls fest, daßLivius 7, 2 keine annalistische Quelle gehabt haben kann, sondern aufeine ausführlichere Grammatikerschrift zurückgehenmuß. ZuLivius Andronicus vermerken die Annalen gerade, daß er der erste gewesen sei, der szenische Aufführungen veranstaltet habe, undnennen das Aufführungsjahr: scenicos [...]s primum fecisse C. [...]alium M. Pompilium M.ediles memoriae historici.31 Jede Erwähnung des literarischen Umfelds, jeder Hinweis auf eine organische Entwicklung, jede literaturgeschichtliche Einordnung fehlt. Jahns Vermutung, Varro müsse hinter demlivianischen Bericht stehen, wurde durch einen Aufsatz Leos mitdemTitel „ Varro unddie Satire“aus demJahr 1889 erhärtet. Gestützt aufVarrozitate beiDiomedes unddenVergleich mitAristophanesscholien weist er Livius 7, 2 als varronisch nach. Als Parallelstellen ebenfalls varronischen Ursprungs führt er Horaz, sermones 1, 4 und2, 1 an. Unter dem Eindruck eines Aufsatzes von Hendrickson32 nahm Leo 15 Jahre später seine Thesen zurQuelle vonLivius 7, 2 zurück.33 Er erkannte Hendricksons Theorie an,daßman es bei demLiviusexzerpt miteinem Konstrukt nach peripatetischem Muster zutun habe. Varro könne nicht derGewährsmann gewesen sein, weil Livius bei der Datierung des Livius Andronicus einer vorvarronischen Chronologie, nämlich der des Accius gefolgt sei. Die gleiche Quelle glaubte er für Horazens Augustus-Epistel
27 Epist. adPaulam,
teilweise erhalten bei Rufinus Apologia 2, 20; zumKatalog der varronischen Schriften vgl. dieerste undimmer noch grundlegende Arbeit von Ritschl 1848 unddie daran anschließenden Aufsätze vonKlotz 1911 undHendrickson (The Provenance of Jerome’s Catalogue of Varro’s works) 1911. 28 Pasoli (Vichiana) 1964, 22 zweifelt dieExistenz dieser Satiren an. 29 Vgl. Weinreich 1916, 387. 30 Vgl. Leo 1904, 64 undWeinreich 1916, 410. 31 Bei Festus 436, 24 Lindsay. 32 Vgl. Hendrickson 1894.
33 Vgl. Leo 1904.
1. Varro unddasSatirenkapitel Livius 7, 2
75
(VV. 139 ff.) zu erkennen. Letzterer habe Varros Forschungsergebnisse zur Chronologie des Livius Andronicus überhaupt nicht gekannt34 –angesichts der Gründlichkeit eines Horaz eine geradezu unglaubliche Annahme! Hatte doch auch Cicero imBrutus, den Tusculanen unddemCato maior mitgrößter Selbstverständlichkeit aufVarros Datierung zurückgegriffen. Die in denbeiden letztgenannten Aufsätzen von Hendrickson (1894) und Leo (1904) vertretenen Thesen waren jedoch bereits zumZeitpunkt ihres Erscheinens Marcus Terentiüberholt durch eine Arbeit vonOrendi mitdemapodiktischen Titel „ usVarro, dieQuelle zuLivius 7, 2“ .35Durch eine sehr feinfühlige Analyse des Liviuskapitels stellt er Parallelen zu Varro heraus. Unabhängig von Orendi kommt Weinreich36 zu einem sehr ähnlichen Ergebnis. Spätestens seit dessen Arbeit wird Varros Urheberschaft auch kaum mehr angezweifelt.37 Geblieben ist jedoch bisweilen das durchaus berechtigte Mißtrauen, das man der historischen Richtigkeit desLiviuskapitels bzw. seiner varronischen Vorlage entgegenbrachte.38 Vorliterarische Formen undÜbergänge von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit wurden im Zusammenhang mit dem Liviuskapitel viel diskutiert.39 Im folgenden soll daher die Frage interessieren, welches Ziel Varro bei seinen Studien verfolgte, inwieweit er, wie vermutet wurde,40 tatsächlich die römische Literaturgeschichte mitder griechischen zuparallelisieren versuchte undwieseine persönliche Färbung in das Liviuskapitel einging bzw. inwieweit Livius sich von seiner Quelle zu lösen vermochte undihr seinen eigenen ‘Stempel’ aufdrückte. Dazu soll zunächst der varronische Befund möglichst genau aus den erhaltenen Fragmenten undZitaten bei späteren Autoren rekonstruiert werden.
34 Leo 1904, 73. 35 Orendi 1891. 36 Weinreich 1916. 37 Vondenneueren Arbeiten hält nurdie4. Aufl. (1982) vonKnoche, Dierömische Satire, S. 5 noch anderBehauptung fest, Livius habe eine vorvarronische Quelle benutzt. . Seit 38 Zur Zuverlässigkeit von Varros Forschungen s. unten Kap. V.: „Varros Vorlagen ...“ Leo ist die Literatur zur ‘dramatischen’ satura stetig angeschwollen. Eine Zusammenstellung aller wichtigen Arbeiten bis 1923 gibt Muller 1923. Pasoli (Vichiana, 1964) enthält eine Bibliographie der bis 1964 erschienenen Literatur. Daneben ist die Besprechung bei Knoche 1982 zuvergleichen. DieThesen Leos undHendricksons blieben nicht unwidersprochen. Dabei verdienen besonders diefolgenden Arbeiten, diefürdenvarronischen Ursprung vonLiv. 7, 2 eintreten, Beachtung: Lejay 1911, Ullmann 1914, Weinreich 1916, Reitzenstein 1918, Muller 1923, Piganiol 1923, Boyancé 1932, Waszink 1948, vanRooy 1952, Hering 1966. Einen guten Überblick zumderzeitigen Forschungsstand bietet derAufsatz von Schmidt 1989. Die aufgelisteten Arbeiten versuchen, anhand des bei Livius bzw. Varro gegebenen Befundes die frührömische Dramen- oder Bühnengeschichte zu rekonstruieren, billigen ihrer Quelle also durchaus, wenn auch in eingeschränktem Maße, historische Genauigkeit zu. 39 Vgl. die Arbeit von Schmidt 1989. 40 Vgl. Waszink 1948, 242.
2. REKONSTRUKTION DES VARRONISCHEN BEFUNDES
a) Varros satura-Definition Waseine satura eigentlich sei, wasderBegriff bedeute, dafür finden sich bei Varro zwei Erklärungen, beide bei Diomedes überliefert, undzwar unmittelbar hintereinander:
[...] [satura] sive a quodam genere farciminis, quod multis rebus refertum saturam dicit Varro vocitatum. est autem hoc positum in secundo libro Plautinarum quaestionum ‘satura est uva passa et polenta et nuclei pini ex mulso consparsi’.41
Dieanderen Deutungsversuche, die Diomedes anbietet, beziehen sich entweder auf die vermeintliche Verwandtschaft mit den griechischen σά ρ τ ο υ ι bzw. auf das bei Festus erwähnte satura-Gesetz bzw. auf die in Vergils Georgica angeführte satura lanx [...] quae referta variis multisque primitiis in sacro apudpriscos dis inferebatur.42 Hier interessieren zunächst die beiden von Varro vertretenen Versionen. Daß es sich tatsächlich umzwei unterschiedliche Zubereitungen handelt undnicht etwa umzwei Teile eines einzigen Rezepts, erscheint aus demZusammenhang der Stelle klar ersichtlich.43 Zunächst eine Begründung aussprachlicher Sicht: Das autem, mit demdiezweite Definition angeschlossen wird, ist zwar insofern nicht aussagekräftig, als es sowohl adversativ als auch imSinne eines ‘enim’oder ‘deinde’gebraucht werden kann,44 ein sicheres Urteil läßt sich aber fällen, wennmandas folgende hoc mitbetrachtet, dasauf die zweite Definition vorausweist, denn im üblichen Sprachgebrauch deutet dieses Demonstrativpronomen immer voraus auf etwas Neues, nicht jedoch zurück auf bereits Gesagtes. Schwerer jedoch wiegt noch das inhaltliche Moment. Es verbietet sich, diese beiden Küchenrezepte miteinander zu vermischen. Imersten Fall ist voneiner Wurst dieRede, die mitmultae res gefüllt ist. In De lingua Latina behandelt Varro –derausgefallenen Namen wegen –die zu seiner Zeit geläufigen Wurstsorten, undmankann sich daraus ungefähr ein Bild von einemfarcimen machen:
Ab eadem
fartura farcimina extis appellata, tenuissimum intestinum fartum [...].45
Es handelt sich also wohl umein mitInnereien
a quo , in eo quod gefülltes Wurstprodukt. Dazu pas-
senkeine gepreßten Trauben mitGraupen undhonigweinbesprengten Pinienkernen. 41 I, 486 Keil. 486 Keil. Diese 42 I, 485–
43
letzten drei satura-Definitionen sind nicht ausdrücklich Varro zugeschrieben. Ebenso: Ullmann 1970, 3; dagegen: Gerhard 1918, 261; van Rooy 1965, 13 glaubt, diepolenta sei Bestandteil für die Füllung desfarcimen, einer Art Geflügelpastete gewesen; Petersmann 1986, 16 läßt offen, obein oder zwei Gerichte gemeint sind. Für Knoche 1982, 9 indes bedeutet farcimen nicht wie sonst Wurst, sondern eine bloße Hülle, die mit allem Möglichen gefüllt sein konnte. 491. Vgl. Leumann / Hofmann / Szantyr 1965, 490–
44 45 Ling. 5, 111.
2. Rekonstruktion desvarronischen Befundes
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Zwei Rezepte, zwei Gerichte, zwei Definitionen also. Vonder Sache her sagen beide Erklärungen dasselbe aus, sie stehen für ein buntes Durcheinander, ein
‘Mischmasch’. Als ‘Sprachgeschichtler’ neigt Varro stets dazu, Definitionen durch Etymologien zubegründen. Es lohnt sich deshalb derVersuch, der ursprünglichen Bedeutung von satura auf die Spur zu kommen. Dazu bietet sich sehr schön eine Stelle in Plautus’Amphitruo (667ff.) an:46 Sosia ruft Amphitruo die Worte zu: Alcumenam ante aedis stare saturam intellego. Mit saturam meint er ganz schlicht „voll mit Essen“ , gesättigt. Amphitruo indes begreift saturam im Sinne von gravidam (681). Er geht also von vornherein offenbar von einer ziemlich rüden Ausdrucksweise des Sosia aus, wie sie fürSklaven in derrömischen Komödie durchaus typisch ist, und insofern ist Amphitruos Mißverständnis leicht zu verstehen. Die Zuhörer sind zu diesem Zeitpunkt allerdings darüber informiert, daß Alcumena von zwei verschiedenen Vätern Kinder erwartet (vgl. 483). Sie also dürften eine Anspielung auf satura als „Gemisch“herausgehört haben. In satura spielt sowohl der Aspekt der Mischung wie der der Fülle hinein, so jedenfalls bezeugt es Plautus, und Varro, der bedeutendste Plautusforscher derAntike, kann davon nicht unbeeinflußt geblieben sein. DerAspekt derFülle bestimmt noch zwei weitere vonDiomedes gegebene satura-Definitionen, nämlich diedersatura lanx undderlexsatura.47 Die Anführung der satura lanx stammt, wie Diomedes selbst mitteilt, aus Vergils Georgica (2, 194 / 394): lancibus etpandis fumantia reddimus exta bzw. lancesque et liba feremus. Im ersten Fall handelt es sich umtierische Opfer, die exta, Eingeweide, werden dargebracht, imzweiten haben wires mitOpferkuchen, liba,48 zutun: zwei verschiedene Dinge also, dieDiomedes in einem Atemzug zitiert. Nach seiner eigenen Darstellung handelt es sich bei derbetreffenden lanx umeine Schale mitErstlingsgaben (referta variis multisque primitiis). Primitiae leiten sich nach van Rooy49 von ‘praemetium’, , ab,es handelt sich also umErnteerzeugnisse, nicht umtiedem„zuerst Gemähten“ rische Opfer. Deshalb ist zumindest das erste Vergilzitat, das exta erwähnt, unpassend. Überhaupt muß man sich fragen, wie Diomedes darauf verfiel, Vergil als Gewährsmann in dersatura-Frage heranzuziehen. Weder satura noch saturos, -a, umkommt bei Vergil andengenannten Stellen vor. Diebeiden Vergilzitate erweisen sich somit als nicht sehr hilfreich. Wo lanx zumersten Mal mit satura in Zusammenhang gebracht wird, obbei Varro (so vanRooy) oder anderswo (so Ullmann), konnte bisher nicht mitGewißheit rekonstruiert werden. Es bleibt noch diebei Festus erwähnte lex satura zuuntersuchen: satura et cibi genus ex variis rebus conditum est et lex multis aliis rebus conferta.50 Hendrickson51 vermutet, daß irgendeine Quelle, unter Umständen Festus selbst, durch den
46 Die Stelle wird genannt bei Kerény 1933, 144 undvanRooy 1965, 4. ρ ο ι, dieja völlig υ τ ά 47 Die offensichtlich auf einer Verwechslung beruhende Herleitung von σ ausdemRahmen fällt, kannhier außer acht gelassen werden. 48 Vgl. Mynors 1990, 151. 8; vgl. auch Keller 1891, 42. 49 Van Rooy 1965, 6– 50 Fest. 416 / 417 Lindsay. 140. 51 Hendrickson (Satura –TheGenesis) 1911, 139–
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III. Varro undLivius
Ausdruck per saturam legem ferre52 irregeleitet, annahm, satura könne auch ein Gesetz sein.53 VanRooy dagegen vermutet, daßin der Umgangssprache satura durchausfürein Sammelgesetz verwandt worden sein kann.54 Betrachtet mandie Worte bei Festus genau, so herrscht kein Zweifel darüber, daß die varronische saturaDefinition hier ihre Spuren hinterlassen hat. Festus spricht von lex [...] conferta, Varro vonfarcimen undrefertum. Primär warsatura also wohl eincibi genus ex variis rebus conditum, ganz imvarronischen Sinne, underst sekundär wurde der Begriff metaphorisch fürein Gesetz verwandt. Ob die lex satura eine umgangssprachliche Bildung ist oder aufdasKonto desFestus geht, mußoffenbleiben. Auf keinen Fall dürfte die Metapher von Varro stammen. Es ist als sicher anzunehmen, daß Varro wußte, wasmiteiner lexper saturam lata wirklich gemeint war, denn im Jahre 98 v. Chr, also zuLebzeiten Varros, wurden solche leges per saturam durch die Lex Caecilia Didia verboten.55 Als Varro 18 Jahre alt war, war der richtige Gebrauch des Begriffs also noch geläufig. Die Nachricht des Festus kann damit als späte Sekundärbildung in demhier behandelten Zusammenhang unberücksichtigt
bleiben.
Für die satura-Definition ergeben sich somit keine neuen Aspekte, außer den schon in der varronischen Definition gefundenen. Es steht demnach fest: satura kommt ursprünglich aus demBereich der Küche. DerBegriff bezeichnet einerseits Fülle, andererseits Mischung.
Was aber bedeutet
satura
in literarischem Kontext?
Darüber gibt Diomedes klar
Auskunft: Satira dicitur carmen apud Romanos nunc quidem maledicum et ad carpenda hominum vitia archaeae comoediae charactere compositum, quale scripserunt Lucilius et Horatius et Persius. et olim carmen, quod ex variis poematibus constabat satira vocabatur, quale scripserunt Pacuvius et Ennius.56
Diomedes trifft eine deutliche Unterscheidung zwischen einer früheren und einer späteren Form dersatura. Bei derfrüheren, als deren Vertreter Ennius undPacuvius genannt werden, handle es sich umein carmen, das aus unterschiedlichen poemata bestehe. Poema ist hier ganz imvarronischen Sinne als lexis enrythmos, id est verba plura modice in quandam coniecta formam57 zu verstehen. Demnach wäre die Satire ein Gemisch aus einzelnen Teilen von unterschiedlicher äußerer Form und
52 Vgl. Lucilius 1, 48 M.; Sall. lug. 29, 5. 53 Ebenso Hammarström 1927, 3ff.; vgl. vanRooy 1965, 14ff., derdieLiteratur bespricht. 54 Ebd., 15. 55 Vgl. Rotondi 1962, 335, zitiert bei vanRooy 1965, 15. 56 I, 485 Keil. 57 Aus: Parmeno 398 Astbury = fr. 96 Funaioli: poema est lexis enrythmos id est verba plura modice in quandam coniecta formam, itaque etiam distichon epigrammation vocant poema. poesis est perpetuum argumentum e rhythmis, ut Ilias Homeri et Annalis Enni. poetice est ars earum rerum. Poema ist alsojedes irgendwie rhythmisch verfaßte sprachliche Gebilde, sei es auch noch so kurz. Poesis dagegen setzt ein perpetuum argumentum voraus, d.h. eine zusammenhängende, fortlaufende, wohl auch in sich geschlossene Handlung; ganz ähnlich wie 347 M. Varro vgl. Lucilius fr. 9, 338–
2. Rekonstruktion desvarronischen Befundes
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buntem Inhalt. Diomedes bedient sich einer varronischen Terminologie, man darf daraus schließen, daß er eine varronisch geprägte Quelle vorliegen hatte –wahrscheinlich Sueton.58 Auch paßt dieser Befund bei Diomedes hervorragend zuVarros Definition dersatura, diedasElement derMischung undderFülle in sich begreift. Interessante Parallelen zurSatirendefinition bei Varro / Diomedes finden sich in ῳ δ ία ς μ , dermitdenAristophanesscholien überρ ὶΚ einem anonymen Traktat Π ε ω liefert ist.59 Anders alsdieübrigen imgleichen Umfeld erhaltenen Traktate zielt dieῳ δ se Schrift gar nicht so sehr auf das ὀνομ ε ῖν , wenn es um die Unterμ α σ τ ὶ κω scheidung der drei Stufen der attischen Komödie geht, sondern das distinktive Merkmal liegt vielmehr im Fehlen des μ ύ θ ο ς , der durchlaufenden Handlungsstruktur. Anfänglich hätten die Dichter derAlten Komödie sich nicht umeine ύπ ό θ ε σ ις ή ςbemüht, sondern sich auf π η θ ἀ λ λ ε ο α ιδ ιὰεὐτράπ ςbeschränkt.60 Erst Phereμ α τ γ ακα ιν ὰ ρ ά undsei zum krates habe Ruhmerlangt durch dieEinführung vonπ ω νgeworden.61 Mit Pherekrates ist nicht nur inhaltlich eine Zäsur ρ τ ε ικ ὸ ύ ε ςμύθ gesetzt (Abwendung vom λ ο ιδ ρ ), sondern auch formal. Einzelne unzusamε ο ῖν ύ θ ο ς . menhängende Scherzverse weichen einem bewußt gestalteten, einheitlichen μ Ihren Höhepunkt findet die Entwicklung in der Mittleren Komödie, von deren Dichtern es heißt: κ α α τ χ ις.62Die Handσ σ έ ὰ θ ε ο ο λ ςὑπ ὶτ ο ῦ ν τ ρ α ιδ ὲπ ά ν τ ε ε ςπ lung rückt in denMittelpunkt. Genau dies ist dasMerkmal, an demVarro die Satire von anderen literarischen Erzeugnissen, etwa derfabula, unterscheidet: Die Satire hatkeinen einheitlichen μ ύ θ ο ςundkeine einheitliche äußere Form. Dies gilt sowohl fürdiefrühe ‘dramatische’satura alsauch–mitEinschränkungen –für dieBuchsatire als auch fürVarros Menippeische Satiren. Diomedes nennt für die Satire des Lucilius und seiner Nachfolger Horaz und Persius als Charakteristikum das carpere hominum vitia. Hier ist peripatetischer Einfluß spürbar. Entscheidend ist aber, daßdie Satire als ein römisches Genus begriffen (carmen apudRomanos) undkeineswegs von der Alten Komödie abgeleitet wird.63 Archaeae comoediae charactere ist nur vergleichend nachgeschoben. Dieser Vergleich kanndurchaus schon inDiomedes’varronischer Vorlage gezogen worden sein, lager doch ganz aufVarros methodischer Linie. Hierbestand die Möglichkeit, einem römischen Genus dieAttribute eines griechischen aufzuprägen, Griechisches für Romzu vereinnahmen. Ein Hauptzug der Alten Komödie war der persönliche Spott, dieZensur ist aber aucheinMerkmal derlucilischen Satire. Varro konstatiert keine Abhängigkeit, sondern zeigt eine Parallele auf. Er sieht die römische Literatur zwar sich eigenständig undunabhängig vonder griechischen entwickelnd, mißt sie aber stets amgriechischen Beispiel, beurteilt sie nach griechischen Maßstäben. Varro hatauch–vielleicht alserster –das Substantiv satura als klar definierten Gattungsbegriff gebraucht. Dies geht aus dem Titel seiner Schrift De compositione saturarum hervor.
58 59 60 61 62 63
Vgl. vanRooy 1965, 145ff.; Weinreich 1953, IX; Schmidt 1989, 134. 10. 10 undKoster, 7– Kaibel, 6– Kaibel, 7, 11ff. undKoster, 7, 9ff. Kaibel, 8, 32ff. undKoster, 8, 30ff. Kaibel, 8, 49ff. undKoster, 9, 44ff. Vgl. van Rooy 1965, 146.
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III. Varro undLivius
Die beiden Arten der Satire, die ‘dramatische’ unddie Buchsatire, liegen vermutlich garnicht so weit auseinander. Neuanderlucilischen Satire waren wohl vor allem diepersönlichen Attacken, die allenthalben hervorgehoben werden. Inhaltlich behielt jedoch auch Lucilius eine bunte Mischung bei.64 Beide Entwicklungsstufen derSatire lassen sich also mühelos der varronischen Definition unterordnen. Auch die von Varro in Rom neu eingeführte Menippeische Satire fällt keineswegs aus demRahmen. Auch sie istja ein carmen, quod ex variis poematibus [constat], eine ‘Mischung’ also, für die das Fehlen eines perpetuum argumentum kennzeichnend ist. Nicht umsonst spielt Cicero elegant mit der varronischen satura-Definition in denAcademica Posteriora, woer vonVarros Menippeen spricht:
et tarnen in illis veteribus
nostris quae Menippum imitati, non interpretati quadam hilaritate conspersimus, multa admixta ex intima philosophia, multa dicta dialectice.65
Conspersimus nimmt gleichsam miteiner freundlichen Verneigung vor demDichter undTheoretiker der Satire dessen nuclei pini ex mulso consparsi wieder auf, und auch derGebrauch vonadmixta ‘schmeckt’etwas nach Kochrezept.
b) Varronisches bei Augustinus Demlivianischen Bericht ähnelnde Nachrichten über den ‘Auslöser’ für die Inszenierung vonBühnenspielen finden sich bei christlichen Schriftstellern. So liest man bei Augustinus: ludi scaenici, spectacula turpitudinum et licentia vanitatum, non hominum vitiis, sed deorum vestrorum iussis Romae instituti sunt.66 Die heidnischen Götter selbst hätten für sich die szenischen Spiele, jenen Ausbund an Schändlichkeit undNutzlosigkeit, gefordert. In demselben Kapitel nennt Augustinus die Begründung für diesen neuen Kult: Diipropter sedandam corporum pestilentiam ludos sibi scaenicos exhiberi iubebant. Nachdieser Darstellung, dieganz im Dienste derKritik an denheidnischen anthropomorphen Göttergestalten steht, sind dieBühnenspiele gleichsam der andie Götter zuentrichtende Preis für die Beendigungeiner Seuche gewesen. Mitbohrender Selbstwiederholung kommt Augustinus imzweiten Buch abermals aufdasselbe Thema zusprechen: eosdem illos ludos, in quibus regnant figmenta poetarum, non per inperitum obsequium sacris deorum suorum intulisse Romanos, sed ipsos deos, ut sibi solemniter ederentur et honori suo consecrarentur, acerbe imperando et quodam modo extorquendo fecisse; quod in primo libro brevi commemoratione perstrinxi [1, 32]. Nam ingravescente pestilentia ludi scaenici auctoritate pontificum Romae primitus instituti sunt.67
Hier hebt Augustinus wiederum den in seinen Augen erpresserischen Befehl der Götter hervor. AlsMittler desgöttlichen Willens werden die Pontifices genannt, so
64 Vgl. ebd., 146: Daserste Buch desLucilius ist sogar metrisch noch uneinheitlich. 65 Cic. Ac. post. 1, 8. 66 Civ. 1, 32. 67 Civ. 2, 8.
2. Rekonstruktion desvarronischen
81
Befundes
jedenfalls ist auctoritate pontificum wohl zuverstehen.68 Zu Beginn des vierten Buches geht Augustinus aufseine imZusammenhang mit der Bühnen- undTheatergeschichte benutzten Quellen ein.69 Zumeinen rekurriert er aufeigene Erfahrung –da, zum her erklärt sich vielleicht seine lebendige, mitunter satirische Darstellung70 – anderen nennt er Varro alsGewährsmann: Haec non ex nostra coniectura probavimus, sed partim ex recenti memoria, quia et ipsi vidimus talia ac talibus numinibus exhiberi, partim ex litteris eorum, qui non tamquam in contumeliam, sed tamquam in honorem deorum suorum ista conscripta posteris reliquerunt, ita ut vir doctissimus apud eos Varro et gravissi-
mae auctoritatis, cum rerum humanarum
atque divinarum dispertitos faceret
li-
bros alios humanis, alios divinis pro sua cuiusque rei dignitate distribuens non saltem in rebus humanis, sed in rebus divinis ludos scaenicos poneret [...]. Quod profecto non auctoritate sua fecit, sed quoniam eos Romae natus divinis rebus invenit.71
et educatus in
Daß sich Augustinus hier nur auf Varros Antiquitates rerum humanarum et divinarum beziehen kann, steht durch denvonihmgewählten Wortlaut außer Frage. Schon die erste zitierte Stelle (1, 32) läßt durch die Unterscheidung von menschlichem undgöttlichem Bereich (ludi [...] non hominum vitiis, sed deorum [...] iussis [...] instituti sunt) vermuten, daßAugustinus dieses Prinzip der vergleichenden Gegenüberstellung von Varro übernommen hat. Überhaupt stellt man anhand einer Auflistung der Varrozitate in De civitate dei72 fest, daß Varros Antiquitates rerum divinarum die wichtigste Quellengrundlage von Augustins Gottesstaat abgaben. Sämtliche Zitate zurheidnischen Theologie entstammen entweder diesem Werk oder aber demLogistoricus über die Götterverehrung (Curio de cultu deorum), wobei letztere Schrift jedoch eher beiläufig erwähnt wird: in eo libro, quem seorsum ab istis [sc. rerum divinarum libris] de cultu deorum scripsit [...].73 Bei aller Kritik, Varro habe, wasdenGöttern eigentlich zurcontumelia gereichen sollte, zuihrer Ehre niedergeschrieben,74 findet Augustinus auch reichlich Lob für seinen Gewährs75 mann: Er nennt ihn vir doctissimus undgravissimae auctoritatis, j a er entschuldigt dessen Verblendung sogar damit, daßer Romae natus et educatus sei, ein O pfer des prägenden sozialen Umfelds’ also. Weitere Varro preisende Passagen ‘ließen sich
68 In derTat läßt die Berufung auf auctoritas hier aufhorchen. Nachdem die Götter ihren Willen doch so eindeutig und unmißverständlich acerbe imperando et quodam modo extorquendo kundgetan haben, ist derBegriff auctoritas für die Pontifices, dieja nur noch als Sprachrohr fungieren, zu hoch gegriffen. An anderer Stelle im Gottesstaat (4, 1) ist Augustinus in der Wortwahl präziser. Offensichtlich hatAugustinus hier seine Quelle zu polemischen Zwecken entstellt unddieGötter gleichsam zuunerbittlichen Befehlshabern gemacht. 69 ZurSchauspielkritik Augustins vgl. dieArbeit vonWeismann 1972. 70 Vgl. Weismann 1972, 202. 71 Aug. civ. 4, 1. 316. 72 Vgl. Cardauns, in: Hagendahl 1967, 265– 73 Aug. civ. 7, 9. 74 Aug. civ. 4, 1. 75 Ebd. 4, 1.
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III. Varro undLivius
anführen.76 Dieser kurze Abriß möge genügen, umdasVerhältnis Augustins zu seinemGewährsmann, jene Mischung aus aufrichtiger, beinahe leidenschaftlicher Bewunderung und religiös motivierter Ablehnung, zu beleuchten. Für Varro bleibt festzuhalten, daßer in seinen Antiquitates rerum divinarum, vermutlich im zehnten Buch, das De ludis scaenicis betitelt ist, den Anlaß für die Einführung der szenischen Spiele in Romin derPestepidemie desJahres 364 v. Chr. sah.77
c) Varros Schrift De scaenicis
originibus
Augustins mehrmaliges Eingehen auf die erwähnte Seuche, sein fast ausschließliches Kreisen umdiesen einen Punkt, zeigt die Bedeutung, die die Ereignisse des Jahres 364 in der varronischen Darstellung gehabt haben müssen. Dabei ist jedoch zuberücksichtigen, daßVarro imzehnten Buch dervonAugustinus benutzten Antiquitates seine frühere Schrift De scaenicis originibus sicher umfassend zitiert hat, vielleicht sogar nur eine Art Epitome dieser Monographie gab.78 Möglicherweise führte ja gerade das dazu, daßsein ausführliches Hauptwerk um so schneller der Vergessenheit anheimfiel. Tatsächlich lassen sich den scaenicae origines nur acht Fragmente sicher zuweisen,79 davon sind fünf so kurz und wenig aufschlußreich, daßsie hier beiseite gelassen werden können. Dieübrigen drei sollen kurzbetrachtet werden. Nonius (298, 9 Lindsay) überliefert für das dritte Buch der scaenicae origines dasFragment ubi compitus erat aliquis (fr. 75 Funaioli). Ganz offensichtlich liegt hier ein Bezug zu denimZusammenhang mitHorazens Literaturbriefen noch zubesprechenden Compitalien vor.80 Daszweite undzugleich längste hier zubehandelnde Fragment überliefert Censorinus inDe die natali 17, 8 (fr. 70 Funaioli) für das erste Buch der scaenicae origines81 Es handelt von der Einführung derLudi Tarentini, eines Festes zu Ehren derGottheiten Saturn undProserpina, das die Römer centesimo quoque anno wiederholen sollten. DerUrsprung der Spiele ist in das Jahr 249 zudatieren. Als der Krieg gegen Karthago fürdie Römer auf des Messers Schneide stand undgareine unglückliche Wendung zu nehmen drohte, wurde ein Teil der Stadtmauer durch Blitzschlag zerstört. DieQuindecimvirn konsultierten dieSibyllinischen Bücher und erteilten die Auskunft, mansolle demDis Pater undder Proserpina schwarze Opfertiere schlachten. Weshalb diese kultische Feier, fürdiezumindest die vorhandene Überlieferung nichts über szenische Darbietungen zuberichten weiß, in die Schrift
76 Z.B. Aug. civ. 6, 2; 6, 6; 7, 5. In civ. 6, 6 findet sich sogar eine fiktive Anrede anVarro, in derAugustinus es bedauert, daßdieser, ein so scharfsinniger Denker, die vitiosissimas po77 78 79 80 81
pulorum opiniones nicht als superstitiones erkannt habe. Vgl. Waszink 1948, 228. 18. Vgl. Cichorius 1888, 417– Vgl. Funaioli 1907, 215ff.; Cichorius 1888, 420ff. zählt elf Fragmente. Horaz undVarro“ S. unten Kap. IV: „ . Derlateinische Text imWortlaut: Cummulta portenta fierent et murus ac turris, quae sunt interportam Collinam etEsquilinam, decaelo tacta essent et ideo libros Sibyllinos XV viri adissent, renuntiarunt, utDiti Patri et Proserpinae ludi Tarentini in Campo Martio fierent tribus noctibus et hostiae furvae immolarentur, utique ludi centesimo quoque annofierent.
2. Rekonstruktion desvarronischen
Befundes
83
vom Ursprung der Bühnenspiele Eingang fand, bleibt dunkel.82 Interessant sind jedoch dieäußeren Umstände, diezurEinführung desBrauchs beitrugen: militärische Mißerfolge undeinböses Vorzeichen, also dieNotwendigkeit, die Gunst der Götter wieder zu erwerben. Dies begründete nicht nureine neue, sondern darüber hinaus eine denRömern ursprünglich fremde Tradition, denn beide Gottheiten, Dis und Proserpina, entstammen demgriechischen Kulturkreis.83 DerBericht wirkt wie eine Dublette zurPestepidemie desJahres 364, als manebenfalls zu fremden, in diesem Falle etruskischen remedia griff, weil die bewährten einheimischen Sühnemittel wirkungslos geblieben waren. Das dritte zuuntersuchende Fragment findet sich bei Charisius (128, 29 Keil) undist wohl ausschließlich aus grammatikalischem Interesse belegt: sub Ruminali ficu (fr. 32 Funaioli) ausdemersten Buch der scaenicae origines. Zu diesem Fragmentbemerkt Cichorius: „ Nunwird aber überall derZusammenhang zwischen der ficus Ruminalis und demLupercal, demuralten Heiligthum der Luperci, betont. Dort feierten dieLuperci alljährlich imFebruar dasFest derLupercalien (Varr. d. l. 1.6, 13) unter allerhand Scherz undKurzweil (ludicrum Liv. 1, 5, 1; sollemne ... ut nudi iuvenes perlusum atque lasciviam currerent ib. 5, 2) [...] Von derartigen Nekkereien, ludi, derLuperci bei derFeier, die zumAndenken an die Auffindung [s.c. derZwillinge Romulus undRemus] „ subRuminali ficu“später stattfand, magVarro in denscaenicae origines gehandelt undin demausgelassenen Treiben und den losen Spottreden wohl sehr richtig die ältesten Vorläufer heimischer Dramatik er84Cichorius befindet sich sicherlich auf der richtigen Spur, wenn er blickt haben.“ die ältesten, im weitesten Sinne dramatischen Aufführungen, vielleicht auch nur szenisch aufbereiteten Kulttänze, mit den Lupercalien in Zusammenhang bringt. Dies wird belegt durch ein Fragment aus demneunten, De ludis circensibus überschriebenen Buch derAntiquitates rerum divinarum Varros: ludios a ludo, id est a lusu [...] sicut et Lupercos ludios appellabant, quod ludendo discurrant85 Ganz offensichtlich erschienen dieDarbietungen andenLupercalien Varro geeignet, sie als Beispiel zur Veranschaulichung der frühen ‘ludi’ heranzuziehen. Der Zusammenhang zwischen ‘ludi’undLupercalien ist damit hergestellt. Die an denLupercalien vollzogenen Riten, wie sie die Quellen, hauptsächlich dieRomulusvita desPlutarch (21, 4ff.), überliefern, geben bis heute ungelöste Rätsel auf.86 Ungeklärt ist auch die Herkunft des Festes. Nach antiken Quellen wurde es entweder vonEuander nach Italien gebracht oder aber von Romulus undRemus
82 Auch Wissowa 1912 vermerkt zu denLudi Tarentini nichts, wasihre Aufnahme in ein De scaenicis originibus betiteltes Werkrechtfertigen könnte.
83 Vgl. Wissowa 1912, 309ff. Varro hat hier, wie auch später noch oft zu beobachten sein wird, . Wo Varro römische Quellen ein griechisches Fest in ein römisches Ambiente „verpflanzt“ fehlten, griff er aufgriechische zurück. 84 Cichorius 1888, 422; vgl. Waszink 1948, 227. 85 RD 9, 80 Cardauns; vgl. auch Val. Max. 2, 2, 9 undAlföldi 1974, 101. Aux Lu86 Dumézil 1966, 69 befindet sich genau in dergleichen Aporie wie schon Plutarch: „ percalia, le rire obligatoire desjeunes gens, le sang frotté surleurs fronts, restent sans explication, faute sans doute deparallèles chez d’autres peuples, faute aussi desavoir exactement quel106: ‘Das 180, bes. 86– le était la divinité de la fête.“Zu denLupercalia vgl. Alföldy 1974, 69– 22. 48; Wiseman 1995, 1– Lupercalienfest’; Ulf 1982; Bremmer 1987, 25–
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III. Varro undLivius
eingeführt. Denarkadischen Ursprung des Festes, also die Vermittlung durch den ausArkadien stammenden Euander, stellt besonders Plutarch heraus. Darf manseinemBericht glauben, handelt es sich bei dieser Version umdie communis opinio. ‘Luperci’wäre dannetymologisch von ‘lykaios’(Ῥ an lykaios’) herzuleiten. Genau 2. Ovid (Fast. 2, 381ff.) indes die gleiche Deutung ergibt sich aus Livius 1, 5, 1– bietet zwei unterschiedliche Erklärungen für den Namen der ‘luperci’. Zumeinen schlägt er dieHerleitung vonder ‘lupa Romana’her: illa (sc. lupa) loco nomen fecit, locus ipse Lupercis (fast. 2, 421), zumanderen nennt er aber auch als Alternative die bereits genannte Etymologie von ‘lykaios’. Ovid bevorzugt offenbar keine derbeiden Lösungen. Die erste, ‘römische’gibt ihmGelegenheit, auf die RomulusGeschichte anzuspielen, die zweite schlägt die Verbindung zum griechischen Mythos.87 DieUnklarheit über dieHerkunft desNamens ‘luperci’ist bis heute geblieben. Preller88, Nilsson89 undOgilvie90 halten die einfachste Erklärung des Namens von ‘lupus’und‘arcere’(Wolfsabwehrer) fürdiewahrscheinlichste. Dumézil91 denkt an eine ähnliche Bildung wie ‘no-ver-ca’. Alföldi92 verwirft beide Deutungen und schlägt mit Blick auf die doppelte Ausprägung des Rituals, zum einen als Fest für eine ‘Wolfsgöttin’ (Luperca), zumanderen für einen Ziegengott (Faun), vor, den Namen ‘luperci’als eine Kombination aus ‘lupus’und‘hircus’zubetrachten.93 Alle drei Erklärungsversuche kommen ohne denRückgriff auf griechische Wurzeln aus. Vomsprachwissenschaftlichen Standpunkt aus dürften sie gleichwertig sein. Welche die richtige ist, läßt sich bestenfalls durch eine inhaltliche, religionsgeschichtliche Interpretation klären, die hier nicht geleistet werden kann. Die verschiedenen Deutungen reflektieren aber die Vielschichtigkeit undKomplexität dieses sehr alten römischen Festes.94 Sicher undüber jeden Zweifel erhaben ist lediglich, daßdie Lupercalien ein in dasHirtenmilieu gehöriges, ländliches Fest waren. Cicero nennt die ‘luperci’in der Redepro Caelio einefera [...] sodalitas etplane pastoricia atque agrestis, eine coitio [...] silvestris undstellt sie demzivilisierten Stadium der Gesellschaft, das er durch humanitas undleges charakterisiert sieht, entgegen.95
87 Vgl. Wissowa 1912, 209ff.: Die Identität der ‘luperci’ wurde sehr früh verwischt. Man dachte sie sich als in Bocksfelle gekleidete Gesellen, dieReinigungsriten vollführten. Unter demEindruck desBocksgewandes nahm mandieIdentifikation mitPanvor –so auch Livius. Ogilvie . a clear case of interpretatio Graeca“ 1965, 52 spricht von„ 88 Preller 1881, 380. 89 Nilsson 1956, 133. 90 Ogilvie 1965, 51. 91 Dumézil 1966, 341. 92 Vgl. Alföldi 1974, 90. 93 Vgl. auch: Schwegler 1853, 51 und161. Ganz ausdieser Reihe fällt eine Deutung von Unger 1881, 65, die aber so gut wie keine Beachtung gefunden hat: Er leitet die ‘luperci’von ‘lues’ . und‘parcere’ab,als „Fäulnisabwehrer“ 94 Vgl. Scholz 1980, 296. 95 Cic. Cael. 26. Vgl. allerdings Gardener 1958, 438 Anm.: „Cicero’s account of the origin of the Luperci is not to be taken seriously; he is merely distorting for his own purposes the
2. Rekonstruktion desvarronischen
Befundes
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Die fürdiese Arbeit interessante Frage ist, welche Erklärung Varro bevorzugte, wieer dieLupercalien einstufte. Varro erwähnt dasFest dreimal in De lingua Latina (5, 85; 6, 13 und 6, 34), einmal im achten Buch der Antiquitates rerum divinarum (Deferiis) undschließlich einmal in De gente populi Romani, jeweils als Sühnekult, alsfebruatio. Über die Herkunft des Festes geben diese Stellen indes wenig Auskunft, insbesondere die ersten beiden Belege aus De lingua Latina sind reine Tautologien. Lediglich derauffällige Sprachgebrauch inDe lingua Latina 6, 34 legt nahe, daßes bei denLupercalien ursprünglich um eine Art Reinigungsritual für die Herden ging: Lupercis nudis lustratur antiquum oppidum Palatinum gregibus humanis cinctum. Ursprünglich standen vermutlich die greges imMittelpunkt, die es zuVarros Zeiten umdenPalatin nicht mehr gab, so daßer, gezwungen, den alten Brauch an die Moderne anzupassen, von „Menschenherden“sprach. Die Nennung desPalatins paßt sowohl zur‘arkadischen Version’desAitions, zudervonEuander begründeten Siedlung Pallanteum, als auch zurLokalisierung des Lupercals amFußedesPalatins. Woran Varro dachte, läßt sich nicht mehrermitteln. Etwas ergiebiger sind dieBelege zur ‘Ruminalis ficus’. DaVarro diese mit den Lupercalien in Zusammenhang bringt, sie jedenfalls in Darstellungen über das Theater erwähnt, lassen sich daraus vielleicht einige Vermutungen über Charakter und Ursprung des Lupercalien-Festes in varronischer Darstellung gewinnen. In ling. 5, 54 schreibt Varro: [...] Germalum a germanis Romulo et Remo, quod ad ficum ruminalem, et ii ibi inventi, quo aqua hiberna Tiberis eos detulerat in alveolo expositos.96 In derDeutung Varros steht also die Auffindung der Zwillinge im Mit9. Die varronitelpunkt. Dies deckt sich in etwa mitdemBefund bei Livius 1, 4, 5– sche Konzeption gewinnt noch etwas klarere Konturen, wenn man eine weitere Stelle, ausDe re rustica, hinzunimmt:
Non negarim, inquam, ideo aput divae Ruminae sacellum a pastoribus satam ficum. ibi enim soient sacrificari lacte pro vino et [pro] lactentibus. Mamma enim nuncdicuntur subrumi agni, rumis [sive ruminare], ut ante dicebant: a rumi etiam lactentes
a lacte.97
Es liegt nahe, daßVarro, als er das schrieb, in erster
Linie an die säugende Wölfin dachte, sie aber als eine Selbstverständlichkeit nicht eigens erwähnte. Aus Arnobius98 wissen wir, daß Varro die ‘lupa Romana’ zur Göttin Luperca erhoben hat: Quod abiectis infantibus pepercit lupa non mitis, Luperca, inquit, dea est appellata Varrone. So spricht eigentlich alles dafür, daß Varro das Fest eng mit dem Mythos von Romulus undRemus verknüpfte. Dies paßt hervorragend zu den er-
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charge against Caelius, probably oneof improper behaviour at the Lupercalia.“In Att. 12, 5, 1 mißbilligt es Cicero, daßsein Neffe den‘luperci’beigetreten sei. DerGermalus ist eine kleine hervortretende Spitze am unteren Teil des palatinischen Hügels, an welcher dervon Tullus Hostilius errichtete Tempel für Romulus undRemus stand. Dort lokalisierte man auch dasLupercal, die Höhle, in derdie Zwillinge von der Wölfin gesäugt 38; vgl. wurden (heute unter der Kirche S. Teodoro); vgl. Castagnoli 1987, 282; Ulf 1982, 36– auch Collart (DeLingua Latina) 1954, 178. Rust. 2, 11, 5. Guirand in seinem Kommentar zur Stelle: Es muß sich umdie ‘Ruminalis ficus’handeln; dagegen, aber unzutreffend: Briquel 1980. Arnobius contr. nat. 4, 3.
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III. Varro undLivius
haltenen Überresten undZeugnissen der Lupercalien, die Varro in seiner Zeit noch selbst kannte. Dawar einmal die zumSinnbild Roms gewordene Bronzestatue der Wölfin, die wohl aus dem zweiten Viertel des fünften Jahrhunderts stammt und schon sehr früh vordemLupercal Aufstellung fand.99 Bereits 296 v. Chr. waren ihr dieZwillinge beigefügt worden.100 Außerdem begann der Lauf der ‘luperci’gerade dort, woRomulus undRemus ausgesetzt worden waren.101 Schließlich läßt Fabius Pictor dieLupercalien zwareinerseits aufEuander zurückgehen, bezeichnet das Lupercal aber andererseits auch als denOrt, an demdie Wölfin die Zwillinge säugte. Es ist für ihn die spelunca Martis.102 Schließlich berichtet Valerius Maximus (vielleicht sogar rekurrierend auf Varro?), die Lupercalien seien ein von Romulus undRemus initiiertes Freudenfest gewesen, weil deravusNumitor ihnen die Gründung einer Stadt auf demPalatin erlaubt habe. Dabei habe man Opfer dargebracht undBöcke geschlachtet. DerAblauf derheiteren Feier sei epularum hilaritate und vino largiore gekennzeichnet gewesen.103 Gerade dieser letzte Bericht des Valerius Maximus paßt genau zuderheiteren Atmosphäre, die in denvarronischen ZeugnissenzumAusdruck kommt.104 DiebeiLivius undPlutarch hervorgehobene Verbindung zuEuander undArkadienfindet sich bei Varro allenfalls einmal leise angedeutet, nämlich ineiner bei Augustinus überlieferten Stelle ausDegente populi Romani. Dort heißt es:
[...] nec idem propter alia arbitratur historicus [Varro] in Arcadia tale nomen adficto Pani Lycaeo et Iovi Lycaeo, nisi propter hanc in lupos hominum mutationem, quod eamnisi vi divina fieri non putarent. lupus enim Graece λ κ ύ ο ςdicitur, unde Lycaei nomen apparet infiexum. Romanos etiam Lupercos ex illorum mysteriorum veluti semine dicit exortos.105
Es handelt sich also umWerwolfsgeschichten,106 mitdenen sich Varro in De gente offensichtlich befaßte. Augustinus berichtet nun,Varro habe in denVerwandlungen von Menschen in Wölfe „gleichsam den Samen“gesehen, aus dem auch die ‘luperci’hervorgegangen seien. Dies ist ein ganz typisches Beispiel für Varros Arbeitsweise, für sein stetes Aufspüren griechischer Parallelen zu Phänomenen der römischen Kulturgeschichte, für seine Neigung, im Zweifelsfalle Griechisches in einen römischen Kontext hineinzukonstruieren, auch wenn es genau besehen gar nicht paßte. Spärlich waren die Kenntnisse über die Lupercalien schon in der Antike, wie aus der Uneinheitlichkeit der Quellen zu schließen ist. Varro behalf sich deshalb mitEntlehnungen aus demGriechischen, wie er es oft zu tun pflegte. In 99 Vgl. Alföldi 1974, 74. 100 Vgl. Alföldi 1974, 101. ῆ ςτο υ μ ὺ ο ςΛ ο ρ μ ιδ υ έ ν ο ρ ῆ ρ ο ςτ ε χ ςπ ρἀ ὰ α ὶγ 101 Dies erwähnt auch Plutarch Rom. 21, 5: κ ι. σ να ιλέγου ῆ νἐκτεθ ο ύ λ μ μ ε νἐντεύθ νῬω ν ,ὅ ε ὸ π ο ύτ υ ο κ ρ ςὁρῶ π έ 102 Bei Dion. Hal. 1, 80; vgl. auch Serv. Aen. 8, 630 undScholz 1980, 307. 103 Val. Max. 2, 2, 9. 104 Vgl. besonders Varro RD9, 80 Cardauns; s. auch Latte 1960, 84ff.: Die Lupercalien seien zu Varros Zeit zueiner Volksbelustigung herabgesunken. 105 Fr. 17 Peter = fr. 189 Funaioli, bei Aug. civ. 18, 17. 206; die arkadischen Werwolfsgeschichten 106 Vgl. Riposati 1978, 64 und Fraccaro 1907, 197– werden erzählt
bei Pausanias 8, 2, 6.
2. Rekonstruktion desvarronischen
Befundes
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Bezug aufdieLupercalien ist die von ihm angedeutete Verknüpfung mit Wolfsverwandlungen unter anthropologischem Gesichtspunkt neuerdings wieder gerechtfertigt worden,107 bei kritischeren Schriftstellern aus der Antike fand sie indes keine Resonanz. Plinius n. h. 8, 81f. tut die Werwolfsgeschichten schlicht als Märchen ab–mirum est quoprocedat Graeca credulitas, bemerkt er imTone des amNachprüfbaren orientierten Naturwissenschaftlers. FürVarro bleibt festzuhalten, daßerdieLupercalien wohl als uraltes römisches Fest darstellt, sie aber mitgriechischem Kulturgut anreichert. Dereigenständige römische Charakter des Rituals bleibt dabei im Vordergrund. Die Bevorzugung der italischen Perspektive erklärt sich aus seinem Bestreben, der römischen Kultur autochthone Wurzeln zugeben. NachWeißenborn / Müller ist dieSage von denTaten an so viele Lokalitäten geknüpft, daßsie als eine italische betrachtet werEuanders „ denmuß“ undihre bekannte Ausformung erst unter demEinfluß in Italien ansässigerGriechen fand.108 Die ‘nationale’Färbung bei Varro wird durch einen vergleichenden Blick auf Livius’Darstellung von derEinführung derLupercalien deutlich. Diese entwickelt sich, ausgehend von einer etymologischen Bestimmung des Namens des palatinischen Hügels folgendermaßen:
Iamturn in Palatio monte Lupercal hoc fuisse ludicrum ferunt, et a Pallanteo, urbe Arcadia, Pallantium, dein Pallatium montem appellatum; ibi Euandrum, qui ex eo genere Arcadum multis ante tempestatibus tenuerit loca, sollemne allatum ex Arcadia instituisse ut nudi iuvenes Lycaeum Pana venerantes per lusum atque lasciviam currerent [...].109
AuchVarro spekuliert über die Herkunft des Namens Palatin in ling. 5, 53,110 un-
mittelbar vor der Behandlung des Germalus. Er bietet mehrere Etymologien an, darunter sogar eine, diemit seiner Heimat Reate verbunden ist.111 Auch die bei Livius gegebene Deutung taucht wieder auf. Varro trifft jedoch keine Entscheidung darüber, welche dierichtige sei, was manwohl als Zeichen dafür werten darf, daß er selbst unsicher war. Sei es, daßLivius einem anderen Gewährsmann als Varro folgte, sei es, daß er selbständig eine der von Varro vorgeschlagenen Varianten auswählte, weil sie ihm am plausibelsten erschien, so bleibt festzuhalten, daß er hinsichtlich desUrsprungs derLupercalien wieVarro voneinem noch aus vorrömischer Zeit stammenden, uralten Fest ausging, aber, anders als Varro, die arkadische
107 Vgl. Burkert 1972, 103.
108 Weißenborn / Müller 1908, 97. FürVarros römische Deutung spricht auch seine Etymologie desNamens ‘Luperca’in RD 15, 221 Cardauns: quodabiectis infantibus pepercit lupa nonmitis, Luperca [...]. Auchdies deutet darauf hin, daßVarro eher nicht-griechische Ursprünge des Festes annahm.
2. Bei demerwähnten ausgelassenen Treiben seien Romulus undRemus von Räubern 109 1, 5, 1– überfallen worden. Während sich Romulus erfolgreich zurWehr gesetzt habe, sei Remus gefangengenommen worden.
110 Nach Collart (DeLingua Latina) 1954, 178 zurStelle, sind Varros Herleitungsvorschläge alle unzutreffend.
111 Vgl. Collart (Sabinisme) 1954, Della Corte 1976 undRiposati 1976 zum ‘Sabinismus’ Varros.
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III. Varro undLivius
Herkunft betonte. Auffällig undim Einklang mit varronischen Zeugnissen ist der Zusammenhang mitlusus undlascivia unddie Einbettung des Festes in die Erzählung von Romulus undRemus. Dies dürfte, jedenfalls im ersten Jahrhundert, Teil einer communis opinio gewesen sein.112
Zusammenfassend lassen sich die folgenden Elemente aus Varros Deutung des Lupercalien-Ritus herausfiltern: Die Lupercalien haben einen heiteren, fröhlichen Kern; die düstere, gespenstische, denToten zugewandte Seite des Festes113 bleibt ausgeklammert. Mittelpunkt ist neben derfebruatio derHerden die Verehrung derWolfsgöttin Luperca, derErnährerin desRomulus undRemus. DasLupercalien-Fest wird in Varros Schriften, die sich mitdenAnfängen des römischen Theaters befassen, erwähnt. Es mußalso eine gewisse Rolle in derEntwicklungsgeschichte des römischen Theaters spielen. Die Lupercalien könnten der Ort sein, an demdie losen Spottreden undScherzlieder derJugend ihre Keimzelle haben.114 Damit sindzwei fürdie stets ‘national’ gefärbte Optik115 Varros entscheidende Prämissen festgelegt: Dasurwüchsige, vorliterarische Fundament römischer Bühnenkunst wurzelt in einem ursprünglich zum Dank für die Auffindung des Romulus gefeierten Fest. Es ist geadelt durch die enge Verknüpfung mitdenStadtgründern, es gehört sozusagen zumrömischen Wesen dazu. Damit sind die ersten Anfänge desrömischen Theaters frei vonjeglichen äußeren Einflüssen, seien sie etruskisch oder griechisch. Was später hinzukommen sollte, mag die Entwicklung zwarentscheidend mitgeprägt haben, es basierte jedoch aufrömischen Grundlagen. Derzweite fürVarro wichtige Punkt ist die frühe Datierung. Zusätzlich gewürdigt durch ihr hohes Alter, soll die römische Bühnenkunst neben der griechischen bestehen können.
d)Varronisches bei Tertullian Eine sehr ausführliche unddeshalb einigermaßen aufschlußreiche Quelle hinsichtlich Varros Theorie vonderetruskischen Herkunft derSchauspieler bietet Tertullian
318 bemerkt zu denLupercalien, die jüngere Annalistik habe ein arkadi112 Scholz 1980, 315– sches Ritual zurnationalen Königsgeschichte umgeschrieben. In diese Richtung gehört sicher auch Varro. Für die Richtigkeit der Beobachtung von Scholz spricht vor allem, daß man Caesar andenLupercalien desJahres 44 v. Chr. die Königskrone anbot. (Vgl. Cic. Phil. 2, 85; Plut. Caes. 61, 3; Plut. Ant. 12, 1; Appian BC 2, 109; Dio 44, 11, 2.) Dies hat ja nur einen Sinn, wenn im 1. Jhd. v. Chr. dieLupercalien tatsächlich als das Fest eines Königs (nämlich desRomulus) verstanden wurden. Interessant ist, daßAugustus, der sich als alter Romulus darstellen wollte, dasLupercal wiedererrichten ließ (Mon. Ancyr. 19). Euander zeigt Aeneas eigens die Grotte im 8. Buch der Aeneis (343), vgl. Norden 1966, 385. 113 Vgl. Alföldi 1974, 97. 114 Dafür spricht möglicherweise auch die Erwähnung desGelächters in der Romulusvita Plutε λ ᾶ νδ ε ά κ ια ῖτ ε ιρ archs (21, 6): γ ὰμ . 89. 115 Vgl. Schmidt 1989, 88–
2. Rekonstruktion desvarronischen
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in seiner Schrift Despectaculis.116 Zunächst zudenQuellen Tertullians: Neben Varro, der namentlich zitiert wird, hat Tertullian auch, so steht seit Reifferscheid117 fest, dieLudicra historia desSueton benutzt. Diese wiederum ist von Varro abhängig. Schwierig zubeantworten ist die Frage, wie Tertullian vorging, ob er Varros Schriften, dieer ohne Zweifel kannte,118 bei der Abfassung von De spectaculis unmittelbar vorsich liegen hatte oder ob er die Forschungen des Reatiners, die er bequemzusammengefaßt undexzerpiert bei Sueton vorfand, nuraus zweiter Hand zitierte. Extant auctores multi quisuper ista re commentarios ediderunt, wie er in 5, 1 bezüglich seiner Quellen schreibt, sagt garnichts über die tatsächlich benutzten Autoren.119 Nicht selten taucht bei Quellenangaben derPlural auf, obwohl nur ein einziger Gewährsmann gemeint ist.120 Undselbst wenn Tertullian Varro neben Sueton auserster Hand zitierte, dürfte multi immer noch als Übertreibung angesehen werden, denn außer denSchriften Varros unddesvonihmabhängigen Sueton haben zu Tertullians Zeit wohl keine commentarii über dieUrsprünge desrömischen Theaters vorgelegen.121
Es wird also im folgenden darum gehen, Varronisches aus denin Frage kommenden Kapiteln 4 bis 13vonTertullians Schrift herauszufiltern. Eine entsprechendeUntersuchung hatbereits Waszink122 sehr gründlich durchgeführt. Auf seine Ergebnisse werden sich diefolgenden Ausführungen hauptsächlich stützen. Varro galt für Tertullian als Repräsentant heidnischer Kultur, heidnischer Religion, heidnischen Denkens. So ist er in seinen apologetischen Schriften bestrebt, auf ihn den Hauptangriff zu richten, in ihmgleichsam den ‘Nerv’seiner Gegner zu treffen. In derSchrift Adnationes 2, 1 bekennt er selbst, daßVarro in seinen Antiquitates rerumdivinarum eine geeignete Zielscheibe biete: idoneum se nobis scopum [...] posuit. Mit Sicherheit kannte also Tertullian Varros Antiquitates genau, undauch die scaenicae origines dürften zuseiner Zeit nochvollständig vorgelegen haben. Tertullians Schrift über die Schauspiele zerfällt in drei Großabschnitte: Einlei13), Herausstreichen des 3), Brandmarkung der Spiele als Götzenkult (4– tung (1– 29). In Kapitel 4, 4 nennt unmoralischen Charakters szenischer Darbietungen (14– Tertullian die Gesichtspunkte, nach denen er den ersten Hauptteil zu gliedern gedenkt: origines, titulos, apparatus, loca, artes. Nöldechen vermeint darin gar eine Anlehnung anein varronisches Gliederungsschema zuerkennen.123 Obdies stimmt, istjedoch durch denfragmentarischen Zustand vonVarros Werkjeder Überprüfung entzogen.
116 Denvarronischen
Ursprung
desfünften Kapitels vonspect. hatKrahner 1853, 409 nachgewie-
sen.
117 1860, 332ff. 118 Vgl. Tert. adnat. 2, 1. 119 Anders Knapp (American Journal of Philology) 1912, 137, Anm. 1. 120 Vgl. Waszink 1948, 226, Anm. 4. 121 Auchdaßderspect. 5, 2 zitierte Timäus einsolches Werk geschrieben hätte, ist nicht überliefert.
122 1948. 123 Vgl. Nöldechen 1893, 735.
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III. Varro undLivius
Erstmals namentlich zitiert wird Varro in De spectaculis 5, 3 mit dembereits behandelten Zitat aus denAntiquitates,124 in dem die ludii etymologisch von ludus hergeleitet undmitdenLuperci in Verbindung gebracht werden. Unmittelbar davor (5, 2 Ende) taucht eine andere geläufige Etymologie für die ludii auf, nämlich die Herleitung vondenLydern, denLydi. Diese Wurzel trägt demUmstand Rechnung, daßdierömischen Berufsschauspieler nicht einheimisch waren, sondern sozusagen ‘gemietet’, herbeigeholt: [...] Romani arcessitos artifices mutuantur, itemque enuntiationem, ut ludi a Lydis vocarentur.125 Auch diese Variante könnte ohne weiteres einer varronischen Schrift entnommen sein. Obgleich Varro selbst die Herleitung vonludus fürrichtig hielt, ist es durchaus wahrscheinlich, daßer mehrere geläufige Ansichten referierte unddie seine an denSchluß stellte. Dies entspricht völlig der ihmeigenen philologischen Gründlichkeit.126 Deshalb finden sich bei Varro-Zitaten anderer Autoren oft die Meinungen von ‘multi auctores’. Diese können aber ohne weiteres alle einzig ausVarro zitiert sein.127 Ohnehin darf manaus einem bei Nonius (851, 21 Lindsay) überlieferten Zitat ausVarros De vita populi Romani densicheren Schluß ziehen, daßVarro dieVerbindung ludii-Lydi kannte, sie aber als eine Artvolksetymologischer Verwechslung oder Verballhornung einstufte.128 Ein gewichtigerer Hinweis für die varronische Abstammung dieser zweiten Etymologie ergibt sich jedoch, wenn manden ganzen Zusammenhang der Stelle betrachtet:
ex Asia transvenas in Etruria consedisse Timaeus refert duce Tyrreno, qui suo cesserat regni contentione. Igitur in Etruria inter ceteros ritus supersti-
Lydos fratri
tionum suarum spectacula quoque religionis nomine instituunt. Inde Romanos arcessitos artifices mutuantur [...].129
Die Erwähnung des Timaeus weist auf Varro hin. Varro undTimaeus sind oft in allernächster Nachbarschaft zitiert,130 undWissowa bemerkt dazu: „ Manwird nicht irren, wenn manannimmt, daßdie meisten bei lateinischen Autoren erhaltenen Ti131Es darf als sicher gelten, maeusfragmente durch Varro hindurchgegangen sind.“ daßdieAbschnitte 5, 2 und5, 3 von De spectaculis, die von der Herbeiholung etruskischer artifices handeln, auf Varro zurückzuführen sind. Gestützt wird diese Annahme durch denähnlichen Befund bei Augustinus. DieUntersuchung Waszinks macht es wahrscheinlich, daßsogar dasganze fünfte Kapitel aus varronischem Gut
124 RD 9, 80 Cardauns, s. oben Anm. 85. 125 Tert. spect. 5, 2. 126 So z.B. ling. 5, 18; 5, 43; 5, 48; 5, 154. 127 Vgl. auch: Orendi 1891, 24. 128 Nonius 851, 21 Lindsay: quod ludis pueri praesules essent GLABRI ac depilis propter aetatem, quos antiqui Romani LYDIOS appellabant, ut est in lib. I Varronis de Vita Populi Romani, ideo Plautus inAulularia [401]: tu istum gallum si sapis, glabriorem mihi reddis quam vulsus lydiust.
129 Ling. 5, 2. 130 So bei Gellius 11, 1, 1; Censorinus 2, 3 und 21, 5; Fundstellen bei Wissowa 1887, 41, Anm. 1. 131 Ebd., 41; vgl. auch Waszink 1948, 227.
2. Rekonstruktion desvarronischen Befundes
91
besteht.132 Daher ist es naheliegend, daßdieetruskischen Elemente in derrömischen Theatergeschichte bereits ausVarros Feder stammen. Auf weitere Varroniana in der Schauspielschrift Tertullians braucht an dieser Stelle nicht eingegangen werden.
Rückblickend läßt sich folgendes Resultat aus dem zusammengetragenen Material gewinnen: 1. AusdenvonVarros Schrift Descaenicis originibus erhaltenen Überresten ergibt sich, daßder Ursprung szenischer Darbietungen im weitesten Sinne bis in die Zeit vordie Gründung Roms unddie imZusammenhang mitRomulus undRemus bezeugten Lupercalien zurückreicht. Dasrömische Theater ist also autochthon undvon würdigem Alter. 2. Eine entscheidende Zäsur stellt diePest des Jahres 364 dar, in deren Verlauf, so erfahren wirausAugustinus, manzurBesänftigung dessich in derSeuche offenbarenden Götterzorns szenische Spiele in Romeinrichtete. 3. Ebendieser historische Vorgang läßt sich durch die Lektüre Tertullians präzisieren. DerKirchenvater nennt auchdieetruskische Heimat derSchauspieler. 4. AusderLektüre desDiomedes schließlich ergibt sich die satura als das römische Genus, welches das für die Alte Komödie typische Brandmarken und Zensieren aufnahm. Auchhier ist, ganz in varronischem Sinne, nicht voneinem griechischen Einfluß, sondern nurvonVergleichbarkeit inBezug aufdas‘maledicere’dieRede. Die Nachrichten, die wir über diese frühe satura besitzen, zeigen, daß es sich dabei nicht umeine frühe Form des Dramas im eigentlichen Sinne, sondern um μ ε ικ τ μ αund ἄτακτα133handelte. Drama und ‘dramatische’ ύ Darbietungen von σ satura sind also bereits in ihrem Ursprung deutlich voneinander abgesetzt. Die ‘dramatische’satura ist nichts wesentlich anderes alsdie spätere Buchsatire des Ennius oder Lucilius, undmankann wohl Weinreich zustimmen, daß die Trennung zwischen beiden nicht allzu schroff war,134 die Übergänge also fließend angenommenwerden müssen.135 Dies ist ganz im Sinne Varros, für den satura soviel bedeutete wie ‘bunte Mischung’, ohne ‘einigendes Band’–gleichgültig ob zumVorführen oder Vorlesen bestimmt.
233. Tertullian geht in diesem Kapitel beispielsweise auch auf 132 Vgl. Waszink 1948, bes. 229– dieebenfalls bei Varro behandelten Consualia (ling. 6, 20) undEcurria (ling. 6, 13) ein. 133 Korzeniewski 1970, IXf. In diesem Sinne schreibt Waszink 1972, 870: „Varro undLivius verstanden unter den‘saturae modis impletae’nichts zurDramatik Gehöriges, sondern nur melodienreiche, vermischte Vorführungen.“
134 Vgl. Weinreich 1953, xix. 135 Die Auffassung Pasolis (Vichiana) 1964, ‘dramatische’ und literarische Satire hätten nichts miteinander zutun, dieNamensgleichheit könne heute nicht mehr erklärt werden, ist wohl abzulehnen.
3. INTERPRETATION VONLIVIUS 7, 2 Auf demHintergrund derErkenntnisse über Varro soll nuneine Interpretation der Darstellung der Frühgeschichte des römischen Dramas bei Livius (7, 2) versucht werden. Livius’ T heater-’oder ‘Satirenkapitel’ hat dieForm eines Exkurses, der einge‘ schoben wurde, umdenrömischen Bühnenspielen ein Aition zu geben. Wie in der Forschungsliteratur einhellig festgestellt wird, ist die Form der Darstellung bei dem Historiker sehr knapp undauf das Wesentliche beschränkt. Offensichtlich begnügt er sich damit, aus einer Grammatikerschrift gerade die Elemente herauszunehmen undaneinanderzureihen, diefür einen abrißartigen Überblick unbedingt nötig sind. Die gedrängte Kürze verrät, daß Livius sich auf einem Gebiet bewegte, das ihm nicht lagunddaser nicht besonders mochte: ImHinblick aufdasTheater seiner Zeit spricht er von einer vix opulentis regnis tolerabilis insania –ein vernichtenderes Urteil hätte aus republikanischem Munde kaum kommen können. Eingeführt wurden die szenischen Spiele als Sühnekult zurBesänftigung der Götter und der Abwendung einer Seuche. Genau dieses Ziel erreichten sie aber nicht –ganz im Gegenteil, es kamnoch viel schlimmer, eine Darbietung mußte in derMitte abgebrochen werden, weil derüber dieUfer tretende Tiber denCircus überschwemmte und dasWeiterspielen verhinderte: quin etiam, cum medios forte ludos circus Tiberi superfuso inrigatus impedisset,
id vero, velut aversis iamdis aspernantibusque placamina irae, terrorem ingentem fecit.136
DieNaturkatastrophe habe also denEindruck erweckt, alshätten sich die Götter abgewandt undwiesen dieSühnemittel, nämlich dieTheaterspiele, zurück. Hier haben wires mit einer geradezu typisch livianischen Stelle zu tun. Der aufgeklärte Augusteer sagt natürlich nicht, die Götter hätten die Flutkatastrophe als unmittelbare Reaktion auf die Spiele geschickt, sondern er fügt ein relativierendes velut hinzu, ‘es sahso ausals ob, erweckte denAnschein’. Damit beugt er demVorwurf des Aberglaubens vor, läßt denLeser aber dennoch spüren, wie sehr er diese Interpretation mag. Sie steht exemplarisch für sein Weltbild, in dem menschlicher Übermut das Abwenden derGötter zurFolge hatunderst die Rückkehr zur ‘pietas’ die Unsterblichen wieder gewogen macht unddamit auch menschliches Handeln wieder zu einemgedeihlichen Ende führt. Aufder Suche nach wirkungsvolleren Sühnemitteln stößt man schließlich auf einen alten Brauch, demzufolge das Einschlagen eines Nagels durch den Diktator eine Seuche beendet hat. Man kehrt also nach einem mißglückten Versuch mit fremden etruskischen Riten wieder zu Bewährtem zurück.137 Es ist sicher auch nicht zufällig, daß Livius die etruskischen Kulte als superstitio (7, 2, 3), dasaltrömische Sühnemittel indes als religio (7, 3, 4) bezeichnet. DieTendenz deslivianischen Berichtes verrät die Haltung eines Autors, demszenische Darbietungen, zumindest diejenigen etruskischen Ursprungs, suspekt sind. 136 Liv. 7, 3, 2. 137 Vgl. Weinreich 1916, 394.
3. Interpretation vonLivius 7, 2
93
Die Einfügung des Exkurses in die Erzählung ist Livius nicht ganz ohne Schwierigkeiten gelungen. Die Erwähnung der Pest der Jahre 364 und363, et hoc et insequenti anno [...] pestilentia fuit [...], amBeginn des Kapitels 7, 2 wirkt wie eine Dublette der bereits im ersten Kapitel desselben Buches erwähnten Epidemie. Livius sah sich gezwungen, die Seuche ein zweites Mal aufzunehmen, um einen Ausgangspunkt fürdieDarlegungen über dasTheater zuhaben. Doch nunzumExkurs selbst: Nachdem der Seuche weder durch menschlichen Rat noch durch göttliche Macht Einhalt geboten werden konnte, führte man, dem Aberglauben anheimgefallen, szenische Spiele ein, eine Neuheit für das römische Volk, dasals bellicosus apostrophiert wird.138 Typisch livianisch wird die Bescheidenheit derAnfänge hervorgehoben: et cumvis morbi nec humanis consiliis nec ope divina levaretur, victis superstitione animis ludi quoque scenici –nova res bellicoso populo, nam circi modo spectaculum fuerat –inter alia caelestis irae placamina instituti dicuntur; ceterum parva quoque, ut ferme principia omnia, et ea ipsa peregrina res fuit.
Die imfolgenden dargestellte Entwicklung gliedert sich in fünf Teile.139 1. Sine carmine ullo, sine imitandorum carminum actu ludiones ex Etruria acciti, ad tibicinis modos saltantes haud indecoros motus more Tusco dabant.
Die aus Etrurien herbeigeholten ludiones tanzen zu den Weisen der Flöte –allerdings ohne Gesang. Die beiden neuen –etruskischen –Elemente sind also Musik undTanz. Dadurch wirddierömische Jugend zurImitation angeregt. 2. Imitari deinde eos iuventus, simul inconditis inter se iocularia fundentes versibus, coepere. nec absoni a voce motus erant. Römisches Eigengut, nicht von denEtruskern übernommen, sind die iocularia, die mansich inconditis versibus entgegenschleudert. Vielleicht denkt Livius bei diesen inconditi versus bereits an denSaturnier, denHoraz horridus nannte unddenauch Cicero nicht besonders schätzte.140 Auf alle Fälle will er ein ungeglättetes, rohes, vorliterarisches Versmaß bezeichnen. Es ist wichtig, darauf zuachten, wieLivius in dieser zweiten Phase die Akzente setzt. Er sagt keineswegs, daß zu diesem Zeitpunkt erstmals –sozusagen exnihilo –Spottverse gesungen wurden, sondern nach seiner Darstellung ist lediglich die Gleichzeitigkeit von iocularia fundere und Tanz neu.141 Wäre doch auch dieAnnahme völlig unglaublich, derTanz der Etrusker oh, „unkultiviert“ . Es , hat wohl stets den Beigeschmack von „roh“ 138 Bellicosus, „kriegerisch“ taucht auch in denberühmten Versen desPorcius Licinus (fr. 1 Diehl) auf, die denBeginn der römischen Literatur datieren: Poenico bello secundo Musapinnato gradu intulit se bellicosam in Romuli gentem feram. Nach meiner Auffassung bezieht sich bellicosam auf Romuli gentem, nicht auf se; vgl. D’Anna 1973 / 1974, 202. 393 undWaszink 1948, 233. 139 Dieselbe Gliederung findet sich u.a. bei Weinreich, 1916, 392– 140 Hor. epist. 2, 1, 157; Cic. Brut. 72 findet künstlerische Mängel an Livius Andronicus, die vermutlich auch auf denGebrauch des Saturniers zurückzuführen sind. Auch Weißenborn / Müller 1924, 106 (zur Stelle) gehen davon aus, daßLivius denSaturnier meint. Das Spiel derJugend muß 364 keine ‘creatio ex nihilo’ gewesen 141 Vgl. Waszink 1948, 235: „ sein.“ Livius erwähne dieVorformen nur deshalb nicht, weil derExkurs möglichst kurz sein solle. Weißenborn / Müller 1924, 95 verkennen den Sinn der Stelle, wenn sie schreiben:
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III. Varro undLivius
neWorte oder Gesang hätte Vorbild undAuslöser für die römischen iocularia sein können.142 Vielmehr erklären die etruskischen Bräuche auschließlich den Tanz, der nur als Begleitung, zur Untermalung, hinzutrat: nec absoni a voce motus erant. Schon ausdiesem Nachsatz wirdklar, daßaufdenBewegungen nicht derHauptakzent liegen kann, es kommt vielmehr aufdievoxan,der sich die motus anzupassen haben.
Das inconditis versibus iocularia fundere ist demnach ein alter römischer Brauch. Es mußsich dabei umderFescennine Vergleichbares gehandelt haben, wie man aus Livius 7, 2, 7 entnehmen kann.143 Livius Andronicus beschränkte sich später ganz auf dasTanzen, also dasetruskische Element, dasursprüngliche cantare überließ er einem Knaben. In der von ihm ausgehenden Tradition wird also der etruskische Einfluß verstärkt unddie von alters her dagewesene römische Basis zur Nebensache. Dasprofessionelle Theater steht damit unter etruskischen Vorzeichen undführt schließlich zudervonLivius als insania bezeichneten Entwicklungsstufe. Folgt mandemlivianischen Bericht genau, soist dieneue Darstellungsform aus zwei Traditionen entstanden, aus der etruskischen, die den Tanz144 nach Rom brachte undaus derrömischen, die seit alters her das Absingen von Spottversen oder Scherzgedichten, kurz: iocularia, kannte. So gedeiht auf demNährboden dieser römischen iocularia durch das Ferment der etruskischen ludiones eine neue Gattung, diedritte Phase inLivius’Genese desrömischen Theaters: 3. Accepta itaque res saepiusque usurpando excitata. Vernaculis artificibus, quia ister Tusco verbo ludio vocabatur, nomen histrionibus inditum; qui non sicut ante, Fescennino versu similem incompositum temere ac rudern alternis iaciebant, sed impletas modis saturas descripto iam ad tibicinem cantu motuque congruenti peragebant.
Dieneue ArtderDarbietung, wiesie vonderrömischen iuventus entwickelt worden war, wird von denRömern gleichsam offiziell in Besitz genommen. Es treten einheimische Tänzer auf (vernaculi artifices), diejedoch gemäß der Herkunft des Genus mit den etruskischen Namen bezeichnet werden. Die etruskischen Elemente werden also von den Römern assimiliert. Man gewinnt außerdem den Eindruck, daßdieAufführungen soweitgehend institutionalisiert werden, daßnicht mehr Laien spielen, sondern Berufsschauspieler, undals solche hatmandie vernaculi arti-
Livius glaubt wohl, daßdieimfolgenden geschilderten Darstellungen erst damals entstanden „ seien, während nach Verg. Georg. 2, 385; Hor. epist. 2, 1, 139ff.; Tibull. 2, 1, 51 solche Scherze, Tänze undheiteren Spiele schon in derältesten Zeit, im Kult derländlichen Gottheitenverbunden amErntefest u.a. stattfanden.“ 34: „ Die Quelle [sc. desLivius] [...] betrachtete [...] die 142 Vgl. Reitzenstein 1918 (1963), 33– Einführung derTanzspiele nicht als denAusgangspunkt, sondern nur als denWendepunkt einer Entwicklung, die sich gar nicht auf die ‘ludi scenici’ in dem römischen Jahresfest beschränkte. Sie mußte notwendig vor derEinführung derTanzspiele denälteren Brauch freier Spottgesänge schildern, daes ihrja darauf ankam, nachzuweisen, daßdiese Gesänge durch das Hinzutreten desTanzes eine entscheidende Änderung erfahren haben.“ 143 quinonsicut ante Fescennino versu similem incompositum temere ac rudem alternis iaciebant [...]. Hier wirddasfrühere Stadium als Kontrast einem entwickelteren entgegengestellt. 144 Nach Schmidt 1989, 91 stellt die etruskische Flöte unddie damit gegebene Verfeinerung der Tanzbewegungen dieeigentliche Neuerung desJahres 364 dar.
3. Interpretation vonLivius 7, 2
95
fices wohl aufzufassen, die Rollen übernehmen.145 Die zweite wichtige Neuerung in dieser dritten Stufe ist die Verschriftlichung (descripto iam [...] cantu), also die Abkehr von der Improvisation. Hier darf man den Übergang von der vorliterarischen zurliterarischen Periode sehen. In diesem Zusammenhang taucht zumersten Mal der Begriff satura auf. Es handelt sich um saturae impletae modis, also „ angefüllt“mitMusik. Derauffällige Gebrauch desVerbs implere erklärt sich gewiß als eine gewollte Anspielung auf Varros Satirendefinition, die ja vom Begriff der Fülle ausging.146 Daßdie saturae von Tanzbewegungen begleitet werden, die dem Text angepaßt sind (motu congruenti), ist gegenüber derzweiten, derImprovisationsphase, nichts Neues.147 Eine wichtige Zäsur in derEntwicklung stellt der vierte Abschnitt dar, er beschreibt denÜbergang von der satura zurfabula, welche letztere durch ein argumentum, d.h. eine fortlaufende Handlungsstruktur charakterisiert ist.
4. Livius post aliquot annis, qui ab saturis ausus est primus argumento fabulam serere, idem scilicet –id quod omnes turn erant –suorum carminum actor, dicitur, cum saepius revocatus vocem obtudisset, venia petita puerum ad canendum ante tibicinem cumstatuisset, canticum egisse aliquanto magis vigente motu, quia nihil vocis usus impediebat. Inde ad manum cantari histrionibus coeptum, diverbiaque tantum ipsorum voci relicta.
Livius entfernte sich also vondensaturae, dieja imGrunde nur aus bunt zusammengewürfelten Versen bestanden, undfügte aus einer fortlaufenden Handlung ein geschlossenes Ganzes; diefabula warentstanden ([...] ab saturis [...] argumento fabulam serere [...])148. In varronischer Terminologie gesprochen, vollzog Livius denSchritt vompoema zurpoesis.149 Einpoema ist in Verse gebrachte Rede, poesis indes setzt einperpetuum argumentum voraus, also eine fortlaufende Handlung. Die satura, so lehrt dieArsGrammatica desDiomedes,150 erfüllt nur die Bedingung des poema. So setzt Livius mitLivius Andronicus nicht denBeginn derverschriftlichten , sondern vielmehr denBeginn der römiLiteratur an –dieser liegt schon früher – schen poesis. Es ist sehr gutmöglich, daßLivius bei seiner indirekt gegebenen Definition derfabula des Livius Andronicus an die varronischen Begriffsbestimmungendachte, aber bewußt imrömischen Kontext griechische Termini vermied. In einer aitiologischen Anekdote berichtet Livius dann von der Trennung von Sänger undSchauspieler. Auchhier liegt wieder einejener kleinen fabellae vor, wie Livius sie immer wieder einstreut mit einem vorsichtig distanzierenden dicitur, das
145 Vgl. Weinreich 1916, 392 ff., derauch in dieser dritten Phase denÜbergang von Dilettanten zuBerufsschauspielern sieht; anders Hering 1966, 421 undReitzenstein 1918 (1963), 239. 146 Ganz ähnlich Cic. leg. 2, 15, 39: quae solebant quondam compleri severitate iucunda Livianis et Naevianis modis. 147 Vgl. Hering 1966, 424. 148 Livius Andronicus schrieb keine saturae mehr, ab saturis heißt wegführend von den saturae, vgl. Hupperth 1961, 56 undPasoli (Vichiana) 1964, 16: „staccandosi dalle ‘saturae’ ; s. auch “ schon 18 undLeo 1904, 64, der dazu bemerkt, Livius Andronicus könne Beare 1940, 17– deshalb keine saturae mehr geschrieben haben, weil er ja sonst nicht mehr als Schöpfer von etwas Neuem hätte eingeführt werden können.
149 Vgl. fr. 96 Funaioli = Sat. Men. 398 Astbury; vgl. oben S. 78 mit Anm. 57. 150 Diomedes I, 485 Keil.
96
III. Varro undLivius
denkritisch gestimmten Leser beschwichtigen soll, ohne die Sympathie des Autors fürdiekleine Erzählung zuverheimlichen. Livius folgt ganz sicher Varro, wenn er Livius Andronicus die Position des ρ ῶ ή τ π ο ςeinräumt.151 Denn nur nach der varronischen Berechnung ist Liviςεύρετ usAndronicus tatsächlich derfrüheste römische Dichter. Nach der Chronologie des Accius wurde Livius Andronicus in dasJahr 198 v. Chr. datiert undhatte nicht den ersten Platz in der Literaturgeschichte, sondern folgte als Zeitgenosse des Ennius auf Plautus undNaevius, wie D’Anna dargelegt hat.152 Damit ist klar, daß Livius Varro oderzumindest eine „ varronisch rechnende“Quelle benutzt hat. Zurfünften undletzten Stufe derlivianischen Darstellung:
5. Postquam lege hac fabularum ab risu ac soluto ioco res avocabatur et ludus in artem paulatim verterat, iuventus histrionibus fabellarum actu relicto ipsa inter se
more antiquo ridicula intexta versibus iactitare coepit; unde exorta quae exodia postea appellata consertaque fabellis potissimum Atellanis sunt; quod genus ludorumab Oscis acceptum tenuit iuventus nec ab histrionibus pollui passa est: eo institutum manet ut actores Atellanarum nec tribu moveantur et stipendia, tamquam expertes artis ludicrae, faciant.
dengegebenen Bedingungen (lege hac) verschwand das scherzhafte Element aus denfabulae – , in diesem Moment zog sich die Jugend von der Bühne zurück undnahmwieder dieimprovisierte FormderScherzlieder auf.More antiquo, in der althergebrachten Weise, warf mansich wieder ridicula intexta versibus zu. Die von Unter
Livius Andronicus entwickelte Bühnenkunst blieb ganz Berufsschauspielern überlassen. Dierömische Jugend pflegte indes einen Brauch weiter, derbereits vor dem Herbeiholen deretruskischen Tänzer imJahr 364 bestanden hatte. Livius denkt dabei vermutlich gar nicht aneine Rückkehr der iuventus zur zweiten Stufe, in der Scherz- undSpottgesänge mitTanz kombiniert waren, sondern die Jugend vollzieht vielmehr eine Rückbesinnung auf das allein den Römern Eigene, das, was schon ‘immer’dawar, –sokann Livius sagen, quod genus ludorum [...] tenuit iuventus nec ab histrionibus pollui passa est. Den verderblichen Einfluß, die „ Verschmutzung“ , welche die etruskischen Fremdlinge (histriones, hier verwendet Livius ganz bewußt die etruskische Bezeichnung) eingeschleppt haben, halten sich die römischen Jugendlichen fern, wie ausdrücklich betont wird. Aus dieser Gewohnheit stammen diesogenannten exodia, die noch zuLivius’Zeiten an die Atellane angehängt wurden –Livius erläutert also einen Brauch, derihmbekannt gewesen sein dürfte. Daran schließt er die Erklärung an, weshalb die Atellanenschauspieler, anders als die gewöhnlichen histriones, gesellschaftlich nicht schlechter gestellt seien, „ .153 Dazu paßt so als hätten sie nichts mitder Schauspielkunst zu tun“ es vorzüglich, daßLivius’Gewährsmann Varro die Lupercalien als Ursprungsort dieses Zweigs derSchauspielkunst nennt, denn bereits die ‘luperci’waren vorneh-
151 Vgl. Waszink 1948, 235. 152 Vgl. D’Anna 1973 / 1974, 202. 153 Berufsmäßige Schauspieler wurden zudenaerariideklassiert; vgl. Aug. civ. 2, 13: cum artem ludicram scaenamque totam inprobro ducerent, genus id hominum non modo honore civium reliquorum carere, sedetiam tribu moveri notatione censoria voluerunt.
4. DerParallelbericht bei Valerius Maximus 2, 4, 4
97
mer Abstammung, gehörte doch der Stadtgründer Romulus selbst dazu.154 Plutπ ὸγ έ ν ο arch155 bezeichnet die ‘luperci’ ausdrücklich als Jünglinge ἀ υ ς , undin der ε α ν ίσ κ ο ι εὐγ ε ν ε ῖςauf.157 So kann Livius, gestützt Caesarvita156 tauchen sie als ν auf Varro, denbesonderen Charakter einer ehrwürdigen römischen Tradition hervorheben undzugleich ein Aition für die Sonderstellung der Atellanenschauspieler geben.
In Livius’Darstellung sind also in Anlehnung an Varro zwei Traditionsstränge zu erkennen: der des offiziellen, von Berufsschauspielern aufgeführten Theaters, der mit Livius Andronicus seinen Anfang nimmt, und der des freien, possenhaften Stegreifspiels, der ‘schon immer’geübt wurde. Auch eine persönliche Stellungnahme des Historikers zu beiden Darbietungsformen läßt sich heraushören; manspürt inderDarstellung stets, wie das verderblicheFremde dengesunden römischen Ursprüngen gegenübergestellt wird. Deshalb hebt Livius auch dieparva principia desTheaters hervor undkontrastiert sie mit der insania seiner Zeit. Hierberührt dieGeisteshaltung desHistorikers dasDenken Varros, derebenfalls die bescheidene Einfachheit früherer Zeiten demPrunk der Gegenwart vorzieht. Die Gegenüberstellung von Vergangenheit undGegenwart unter dem Aspekt des mit steigendem Reichtum gleichzeitig zunehmenden moralischen Verfalls ist eines derhervorstechenden Themen vonVarros Menippeischen Satiren. 4. DER PARALLELBERICHT BEI VALERIUS MAXIMUS 2, 4, 4 Parallel zuLivius 7, 2 mußeine ganz ähnliche Quelle, nämlich Valerius Maximus 2, untersucht werden. Dabei soll zunächst gezeigt werden, daß Valerius Maximusunabhängig von Livius auf die gleiche Quelle wie dieser zurückgreift.158 Die Eigenständigkeit des Valerius Maximus gegenüber seinem Vorgänger Livius ergibt sich schon aus einem Mehr an Information in seinem Referat. So führt Valerius Maximus deneigentlichen Anfang der ‘ludi’, genaugenommen der ‘ludi circenses’, aufdieConsualia zurück. Er verlegt die Anfänge also in die Zeit des Romulus und bringt sie mitdemRaub derSabinerinnen inVerbindung. Außerdem nennt Valerius Maximus dieHerkunft deretruskischen Schauspieler (histriones), indem er denUrsprung ihres Volkes auf die Lyder undKureten zurückführt. Dies sind Details, die
4, 4,
154 155 156 157
Vgl. Ov. fast. 2, 379ff. Plut. Rom. 21, 8.
Plut. Caes. 61, 2. Vgl. Scholz 1980, 303 undUlf 1978, 237ff. 158 DieFrage nachderBeziehung beider Berichte zueinander wurde in derForschung heftig diskutiert. Weinreich 1916, 404, Ullmann 1970, 22 und Kerényi 1933, 143 halten beide Textstellen für voneinander abhängig. Orendi hatjedoch bereits 1891 herausgestellt, daßLivius von Valerius Maximus fürdieTheatergeschichte nicht benutzt wurde, beide lediglich auf die gleiche Vorlage zurückgehen. Ihm folgten u.a. Knapp (American Journal of Philology) 1912, 125; Webb 1912, 179; Waites 1919, 309; Duckworth 1952, 6. Besonders nachhaltig wurde die These derUnabhängigkeit vertreten von Waszink 1948, 237; Cèbe 1961, 31; van Rooy 1952 undzuletzt vonSchmidt 1989, 83.
98
III. Varro undLivius
Livius umderKürze willen ausgespart hatte.159 Doch zu demKapitel im einzelnen: AuchValerius Maximus nimmt dieSeuche des Jahres 364 zumAusgangspunkt für seinen Bericht, legt aber, wiebereits gesagt, Wert darauf, daßes schon vorher circensia spectacula gab:
[...] intoleranda vis ortae pestilentiae civitatem [...] afflixerat [...]. Itaque placandi caelestis numinis gratia compositis carminibus vacuas aures [sc. civitas] praebuit, adid tempus circensi spectaculo contenta, quod primus Romulus, raptis virginibus Sabinis, Consualium nomine celebravit.
Die Eingangspassage zeigt bei unterschiedlicher Gewichtung Übereinstimmung in derDarstellung derPestepidemie unddemVersagen derhumana consilia, was zur Herbeiholung der etruskischen Tänzer führt. Weinreich hat festgestellt,160 und die gesamte spätere Forschung ist ihmdarin gefolgt, daßValerius Maximus die ersten beiden Stufen des Livius vertausche. Nicht etruskischer Einfluß, sondern urrömisches Gut stehe am Anfang. Er schreibt dies Valerius’ „ patriotischer Gesinnungstüchtigkeit“161zu. In der Tat ist es richtig, daß der Bericht des Valerius Maximus sehr viel dicker aufgetragenes römisches Kolorit zeigt, der von der Forschung angenommenen ‘Vertauschungstheorie’ muß aber widersprochen werden. Vielmehr ist schon bei Livius, wie oben gezeigt wurde, die autochthone römische Grundlage des Theaters vorausgesetzt, sie wird nurnicht so plakativ herausgestrichen, sondern bleibt als Selbstverständlichkeit, die nicht unmittelbar zum Exkurs gehört, ausgespart. Bei aller unterschiedlichen Ponderierung liegen also keineswegs materielle Differenzen vor. Auch daßdie Darbietungen vor 364 imZirkus stattfanden(circensi spectaculo, 2, 4, 4), kann manohne viel Phantasie bereits aus Livius schließen. Er berichtet nämlich von einer Überschwemmung des circus (7, 3, 2), womit er es als gegeben voraussetzt, daß dieser der von alters her gebräuchliche Aufführungsort war.Neusind allerdings diebei Valerius Maximus erwähnten Consualia. Diese fehlen bei Livius, denn als Aition derTheaterspiele im engeren Sinne gehören sie nicht zumThema seines Exkurses. Valerius Maximus dagegen schlägt – etwas ungenau –diese wohl eher sportwettkampfähnlichen Darbietungen zurTheatergeschichte dazu. Die Erwähnung der Consualia bei Valerius Maximus bietet einen Hinweis auf seine Quelle: Varro handelt mehrfach vondiesem sehr alten Fest162 undstellt genau wieValerius Maximus denZusammenhang zumRaub derSabinerinnen her: Consualia dicta a Conso, quod turn feriae publicae ei deo et in Circo ab sacerdotibus ludi illi, quibus virgines Sabinae raptae.163
ad aram eius
Daran schließt Valerius Maximus alszweiten Schritt die Scherzlieder an, die die römische Jugend den ehrfürchtigen Kultworten beizufügen pflegte –ein Brauch, der ihmzufolge vor demDébut deretruskischen Tänzer schon bekannt war. Was sich
159 Vgl. Weinreich 1916, 404 undSchmidt 1989, 83. 160 Weinreich 1916, 404. 161 Ebd., 404. 162 Vgl. ling. 6, 20; RD 14, 140 Cardauns; Varro bei Nonius 31, 7 Lindsay; zumletzten Zitat vgl. auch Waszink 1948, 242. 163 Varro ling. 6, 20.
4. DerParallelbericht bei Valerius Maximus 2, 4, 4
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ausderInterpretation desExkurses bei Livius zwingend ergibt, wirddurch Valerius Maximus nachdrücklich belegt; Spottlieder und Scherzverse sind altrömisch und nicht etwaverursacht durch dasHerbeiholen derEtrusker: Verum, ut est mos hominum parvula initia pertinaci studio prosequendi, venerabilibus erga deos verbis iuventus, rudi atque incomposito motu corporum iocabunda, gestus adiecit [...].
Erst ineinem dritten Schritt kommt etruskischer Einfluß insSpiel: eaque res ludium ex Etruria arcessendi causam praebuit, cuius decora pernicitas vetusto ex more Curetum Lydorumque, a quibus Etrusci originem traxerunt, novitate grata Romanorum oculos permulsit. Et quia ludius apud eos hister appellabatur, scaenico nomen histrionis inditum est.
Ebenso wie Livius gibt Valerius Maximus amSchluß eine aitiologische Erklärung für die etruskische Benennung der Schauspieler in Rom. Beachtung verdient der Hinweis aufdieHerkunft derEtrusker undihrer Bräuche: vetusto ex more Curetum Lydorumque, a quibus Etrusci originem traxerunt. Nach Waszink164 liegt hier eine Anspielung aufdenKuretismos vor, der in irgend einer Weise mitdenludii zutun habe. Vielleicht spielt Valerius Maximus tatsächlich undeutlich auf diesen Zusammenhang an. Er erwähnt die Kureten wohl aber hauptsächlich deshalb, um damit etwas Fremdländisches, Exotisches, völlig Unrömisches zu suggerieren. Nicht das beruhigende Gefühl, aufvertrauten undaltbewährten Pfaden zuwandeln, sollte sich dem römischen Leser einstellen, sondern er sollte die Bedrohung des hereinbrechenden Unbekannten undNeuen spüren. Hervortretendes Merkmal deretruskischen Darbietungen ist ihre decora pernicitas, das Verderben, das sich unter demSchein äußerer Gefälligkeit einschleicht unddie Römer als eine willkommene Mode (novitas grata) mit Blindheit schlägt. DieWortwahl desAutors läßt keinen Zweifel, wie er die ‘neue Mode’einschätzt – sie steht inkrassem Gegensatz zudermitviel Wärme undSympathie beschriebenen römischen Entwicklung. Da paßt es vorzüglich, daß er den Etruskern außerdem noch denStempel östlicher Herkunft aufprägen kann, denn die ‘Gefahr aus dem Osten’mußte einem sittenstrengen Römer stets Unbehagen einflößen. Als Urahnen derEtrusker werden die Lyder betrachtet. Dafür ist Timaios Gewährsmann. Dieser berichtet: Lydos ex Asia transvenas in Etruria consedisse [...] duce Tyrrheno qui fratri suo cesserat regni contentione.165
Diese beiTertullian überlieferte Anschauung desTimaios wurde höchstwahrscheinlich bei Varro referiert, wenngleich dieser sie nicht teilte.166
164 Waszink 1948, 239; vgl. auch Schmidt 1989, 91. 165 Bei Tert. spect. 5, 2. 166 Für Varro ist ausdrücklich bezeugt, daß er die Etrusker mit den (griechischen) Pelasgern gleichsetzte: hi (sc. Pelasgi) primi Italiam tenuisse perhibentur. Hyginus dicit Pelasgos esse, qui Tyrrheni sunt. Hoc etiam Varro commemorat, Hygin. fr. 18 Funaioli = Varro fr. 400 Funaioli; vgl. Verg. Aen. 8, 602: qui [sc. Pelasgi] primi finis aliquando habuere Latinos, vgl. 42.; vgl. auch Reitzenstein 1885, 536. Wissowa 1887, 41–
100
III. Varro undLivius
Aufalle Fälle kommt die Überlieferung von der lydischen Herkunft der EtruskerValerius Maximus sehr gelegen, under schiebt sie nur deshalb ein, umdie Etrusker mit demmoralisch eher übel beleumdeten Osten in Verbindung zu bringen, wasdiepro-römische undanti-etruskische Tendenz seines Berichts noch deutlicher herausstreicht. Einziges Ziel derErwähnung derLyder undKureten ist es, Assoziationen zuwecken unddenneueingeführten Brauch von vornherein in ein schiefes Licht zurücken. Nicht auf Information, sondern auf Suggestion zielt Valerius’Bericht.
Dieweitere Darstellung derEreignisse beiValerius entspricht dann im wesentlichen dembereits aus Livius Bekannten. Die Einführung derfabula ist mit der PersondesLivius Andronicus verbunden: Paulatim deinde ludicra ars ad saturarum modos perrepsit, a quibus primus omniumpoeta Livius ad fabularum argumenta spectantium animos transtulit;
es folgt dieTrennung vonSänger undSchauspieler: isque pueri
sui opens actor, cum saepius a populo revocatus vocem et tibicinis concentu, gesticulationem tacitus peregit,
obtudisset, adhibito
undzumSchluß wirddiebesondere Stellung derAtellanenschauspieler erklärt: Atellani autem ab Oscis acciti sunt. Quod genus delectationis Italica severitate temperatum ideoque vacuum nota est; nam neque tribu movetur actor, neque a militariis stipendiis repellitur.
DasKapitel desValerius Maximus setzt sich zusammen ausBausteinen, die die varronische Forschung geliefert hatte. Charakteristisch für Valerius Maximus ist seine Schwarzweiß-Malerei, die Römisches und Fremdes in scharfem Kontrast voneinander absetzt. Diese eigene Note haterdemneutraleren varronischen Material aufgeprägt.
5. RÜCKBLICK DieInterpretation deszweiten Kapitels aus demsiebten Buch des Livius sowie der vergleichende Blick auf Tertullian, Augustinus unddenParallelbericht bei Valerius Maximus (2, 4, 4) haben gezeigt, daßLivius aufvarronisches Material zurückgreift. Er verkürzt dabei stark in einer demExkurs angemessenen Weise. Sein Hauptaugenmerk liegt auf den improvisierten szenischen Darbietungen der römischen Jugend, die sich schließlich zur Atellane entwickelten. Dieses Stegreifspiel schildert Livius mitviel Liebe undSympathie, während er gegen das ‘professionelle’ Drama, dasvon Livius Andronicus seinen Ausgang nahm, eine unverkennbare Abneigung zumAusdruck bringt. Damit zieht Livius zwei Entwicklungsstränge, nämlich die Scherzlieder derrömischen Jugend, die es ‘schon immer’ gab, unddas eigentliche Drama, dassich davon wegentwickelt hat. Diese Trennung beider Formen warwohl bereits in Livius’ Quelle, Varro, vorgegeben. Derrekonstruierte Befund bei Varro legt es nahe, daßer, wahrscheinlich umden Anfängen des römischen Theaters größere Würde zu verleihen, den Ursprung des Stegreifspiels in das Lupercalien-Fest legte undmit Romulus und Re-
5. Rückblick
101
musin Verbindung brachte. Die Keimzelle jener exodia, die an die Atellane angehängt wurden, steht somit in engem Zusammenhang mit der Gründungslegende Roms, ist also dadurch noch zusätzlich geadelt. Dies entspricht Varros Bestreben, römischen Traditionen besonderen Glanz zuverleihen, damit sie neben den griechischen Bestand haben können.
IV. VARRO UNDHORAZ 1. VARRO UND DIE AUGUSTUS-EPISTEL
Im folgenden soll nach ähnlicher Vorgehensweise wie im vorherigen Kapitel der Einfluß Varros aufHoraz untersucht werden. Es bietet sich an, dabei mitHorazens Literaturbriefen zu beginnen, in denen genauso wie in Livius 7, 2 die Geschichte des römischen Theaters zur Sprache kommt. Manhat versucht, in derAugustus155) Berührungspunkte mitderlivianischen Darstellung aufzuspüren.1 Epistel (139– DerGedankengang derHorazstelle sei kurz skizziert. Nachdem sich bei Erntefesten derBrauch derFescennine eingebürgert hat, nehmen Schimpf undSpott, die mala carmina,2 bald überhand, so daß lex, poena undfustis nötig sind, um der Ausgelassenheit Herr zu werden.3 Dann kommt die griechische Literatur herein, und der horridus saturnius, das bäurisch-ungehobelte Versmaß der Römer, verschwindet. Aber dennoch: in longum tamen aevum / manserunt hodieque manent vestigia ruris.4 In diesen Versen kristallisiert sich die Hauptaussage der Partie, die rusticitas hafte denRömern immer noch an. Manvermutete hinter derhorazischen undderlivianischen Darstellung dengleichen Gewährsmann, nämlich Varro.5 Eine genaue Parallelisierung beider Textstellen ist aber schon deshalb ausgeschlossen, weil Livius und Horaz jeweils einen
anderen Zeitraum6 undvorallem ein anderes Thema behandeln. Während dasin das livianische Geschichtswerk eingeschobene Referat erst imPestjahr 364 einsetzt und einen Überblick bis in Livius’eigene Zeit gibt –dieVorgeschichte wird zwar impli, steht bei Horaz eben zit vorausgesetzt, aber ankeiner Stelle eigens ausgeführt – gerade diese im Mittelpunkt. Er gibt aus ironischer Distanz einen Diskurs über die frühesten Formen derTheaterspiele bis zurZwölftafelgesetzgebung. Darüber hinaus liegt beiLivius das Hauptaugenmerk nicht auf dem‘professionellen’ Theater, sondern auf den derjugendlichen Spontaneität entsprungenen improvisierten Darbietungen. Dies ist zunächst die ‘dramatische’satura vordemDébut desLivius Andronicus, später die daraus hervorgegangene Atellane, deren Darsteller eine soziale Sonderstellung genossen. Horaz indes gibt in wenigen Versen einen Rückblick auf altrömische Theaterbräuche, umdann auf das Drama, undzwar speziell die Tragödie überzuleiten. Also nicht die improvisierte, volkstümliche, sondern die hohe Kunst desBühnenspiels interessiert ihn.7
1
ZuVorformen desrömischen Theaters, wie sie bei Horaz undLivius
berührt werden,
im all-
gemeinen vgl. Blänsdorf 1978.
2 3 4 5
6 7
153. 155.
160. 159– 147; Fraenkel 1960, 387, Anm. Vgl. Leo 1889, 69; Orendi 1891, 34; Dahlmann 1953, 146–
4; Brink 1962, 173ff. Vgl. Leo 1904, 71; Weinreich 1916, 357ff.; Reitzenstein 1963, 50; Schmidt 1989, 111. DaßdieEntwicklungsstränge bei Horaz undLivius unterschiedlich sind, zeigt sich auch darin, daßnach Horaz dasrömische Drama vonderFescennine herkommt, Livius dagegen ausdrück-
104
IV. Varro undHoraz
Doch nun zumAugustus-Brief: Horaz setzt sich in den Literaturbriefen des zweiten Epistelbuches mit dem literarischen Geschmack und dem literarischen Schaffen seiner Zeit auseinander. Umsein Anliegen besser zuverstehen, mußman sich vergegenwärtigen, daß im Endstadium der untergehenden Republik aus einem romantischen Zug der Zeit heraus das Bedürfnis herrschte, sich in die Vergangenheit zuversenken. Mitverstärkter Hinwendung zudenUrsprüngen des Gemeinwesens, zurarchaischen Literatur ging der Wunsch nach wissenschaftlicher Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit einher. Sentimentale Rückschau verband sich mit philologischem Interesse.8 Es konnte nicht ausbleiben, daß Horaz bei der Kritik seines Zeitalters aufVarro stieß undsich andemAntiquar rieb, der durch unermüdliches Sammeln undKompilieren zu einem der wichtigsten Hüter des Vergangenen geworden war. Im folgenden sollen zunächst aus denerhaltenen Fragmenten Varros Theorien zuTragödie undKomödie sowie deren Ursprungsgeschichte rekonstruiert werden. Aufdiesem Hintergrund soll danneine Interpretation derin Frage kommenden Passagen bei Horaz, insbesondere desAugustus-Briefes erfolgen. Dabei wird es von Interesse sein, inwieweit Horaz einerseits in offenen Gegensatz zu dem Gelehrten ausReate tritt, andererseits aber ausdessen Forschungen schöpft undihn als Quelle benutzt.9
2. REKONSTRUKTION DES VARRONISCHEN BEFUNDES
a) Varros Schrift Depoematis AusVarros Schrift Depoematis sindunszwei kurze Auszüge bei Diomedes überliefert, die fürdiese Untersuchung vonBelang sind.10 Zunächst zufr. 304 Funaioli, in demderUrsprung derTragödie etymologisch erklärt wird, eine Erklärungsweise, diederSprachforscher Varro ja vorallen anderen bevorzugte: δ ῳet ᾠ ῇdicta est, quoniam olim actoribus tragicis γ tragoedia, ut quidam, a τρ ά γ ο ά ςid est hircus praemium cantus proponebatur, qui Liberalibus die festo Liτρ bero patri ob hoc ipsum immolabatur, quia, ut Varro ait, depascunt vitem.
lich darauf hinweist, daßdie frühen rohen undformlosen Verse derJugend derFescennine nur ähnlich gewesen seien (Liv. 7, 2, 7). Leo 1904, 71 unddaran anschließend Kerényi 1933, 132 versuchen denUnterschied beider Darstellungen u.a. darin zusehen, daßLivius vonstädtischen städtisch“bleibe, während Horaz vonländlichen Festen ausgehe undauch Festen ausgehe und„ dasländliche Milieu nicht mehr verlasse. In Bezug auf Horaz ist Leo sicher uneingeschränkt städtische“Charakter nicht einzuzustimmen, bei Livius scheint mir jedoch derpostulierte „ deutig erkennbar zusein. Vielmehr spielt doch auch die bei ihm erwähnte Atellane meist im rustikalen Leben undhatländliche Themen; vgl. dazuDuckworth 1952, 10. 27. 8 Vgl. Leo 1895, 21– 9 Brink 1962 hat diese Frage untersucht. An seine Ausführungen wird sich dieses Kapitel in weiten Teilen halten.
10 Bei Keil, I, 487, 11 und488, 3 = fr. 304 und305 Funaioli. Varro nurindirekt zitiert, vgl. Goetz 1903, 827ff.
Wahrscheinlich
hat Diomedes
2. Rekonstruktion desvarronischen Befundes
105
Manhabe also dentragischen Schauspielern einen Bock zumPreis ausgesetzt, der andenLiberalia demLiber Pater geopfert wurde. DerBock habe als Schädling des Weinstocks gegolten. In diesem Fragment fallen die Verbindung der Tragödie zu Dionysos / Liber und das damit zusammenhängende Bocksopfer auf. Dies sind eindeutige Reflexe derDramentheorie desEratosthenes vonKyrene. Das Aition des Bocksopfers wird in dessen Erigone erklärt. Deren Grundzüge sind bei Nonnos, Dionysiaka 47, 34ff., undHyginus, Astronomica 2, 4, noch erkennbar.11 DasAition derTragödie lag beim Tanz umdenBock.12 Es handelte sich dabei umSpiele, die, wie manaus demZusammenhang leicht ersieht, einen komischen oder gargrotesken Charakter hatten. Sie galten als Ursprung sowohl der Komödie als auch derTragödie.13 DieRückführung von Komödie undTragödie auf eine gemeinsame Keimzelle ist sicher das bemerkenswerteste Charakteristikum dieser Theorie. Varro hatte, wie aus fr. 304 Funaioli noch andeutungsweise zu erkennen ist, zumindest Teile davon übernommen. Etwas ausführlicher ist das Fragment zu Varros Komödiendefinition (fr. 305 Funaioli):
μ α ιenim appellantur pagi, id est conventicula μ ῶ ν , κῶ π comoedia dicta ἀ ὸτ ῶ νκω rusticorum; itaque iuventus Attica, ut ait Varro, circum vicos ire solita fuerat et quaestus sui causa hoc genus carminis pronuntiabat. aut certe a ludis vicinalibus; nampostea quam ex agris Athenas commigratum est et hi ludi instituti sunt, sicut ῃκ δ α ῇcomoeμ ὶᾠ Romae compitalicii, ad canendum prodibant et ab urbana κ ώ dia dicta est [...].
Manwirdwohl annehmen
dürfen, daßdieganze Stelle varronisch ist, nicht nur der ausdrücklich Varro zugeschriebene Verweis auf die iuventus Attica.14 In diesem Fragment springt sofort die für den Antiquar typische Parallelisierung Griechenland-Rom ins Auge (sicut Romae compitalicii). Die alternativen Ableitungsversu-
11 Vgl. Maas 1883, 59ff.; Meuli 1955, 210ff.; Patzer 1962, 31. Patzer glaubt, die eratosthenische Theorie sei inVarros De scaenicis originibus entwickelt gewesen. Danach habe die Erigone etwa folgende Ursprungserzählung enthalten: „ AlsDionysos bei seinem ersten Zug über dieErde auch Attika besuchte, wardereinzige, derihnfreundlich aufnahm, Ikarios. ZumDank dafür verlieh ihm derGott die Weinrebe undlehrte ihn ihren Anbau und die Bereitung des Weins. Alsjedoch die von Ikarios gesetzten Reiser daserste Grün zeigten, brach ein Ziegenbock indiePflanzung einundverheerte sie. Derdarüber heftig erzürnte Ikarios tötete denFrevler aufderStelle, zogihmdasFell abundfertigte daraus einen Schlauch, dener aufblies, um seine Gefährten darauf tanzen zu lassen [Askoliasmos]. Den später gekelterten Wein füllte er in Schläuche undfuhr ihnaufeinem Ochsenwagen imLande umher, um ihn an die Landleute auszuteilen. Diese sind zuerst von demneuen Getränk hocherfreut, als sie aber seine berauschende Macht in sich spüren, glauben sie sich vergiftet und erschlagen Ikarios. Wieder ernüchtert, erkennen sie ihre Untat undbestatten denGetöteten [...].“Vgl. auch Horsfall 1994, 67: „surviving accounts of theorigins of drama in central Italy are substantially of Varronian origin [...] and[...] behind Varro there stands above all the account of Eratosthenes and the . Eine Sammlung derBruchstücke derErigone mit Kommentierung origins of Greek comedy“ findet sich bei Rosokoki 1995, zu denAitien für das Bocksopfer im Dionysoskult, für As86. koliasmos unddenAnfang derTragödie, vgl. ebd., 85– 12 Vgl. Meuli 1955, 211. 13 Vgl. ebd., 211. 14 Vgl. Brink 1962, 191.
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IV. Varro undHoraz
che, dieDiomedes nennt, könnten ebenfalls ausVarro entnommen sein, derja stets alle geläufigen Varianten anführte. Die Komödie wird eindeutig in ein ländliches μ α ιgenommen, die in Romden Milieu verwiesen. Sie habe ihren Anfang indenκῶ pagi entsprechen und als conventicula rusticorum, bäuerliche Zusammenkünfte, näher bestimmt werden. Ausdiesen beiden Varro-Fragmenten läßt sich zumeinen eine Nähe zureratosthenischen Theorie erkennen, zumanderen zeigt sich, daßVarro denUrsprung des Dramas –dies gilt für Komödie undTragödie –in einem ländlichen Milieu ansiedelt. Varro arbeitet stets mitgriechischen Begriffen –eine Notwendigkeit, die ihm schon durch diegriechischen Benennungen ‘Komödie’ und T ragödie’auferlegt ist – , undzieht dabei auchgriechische Erklärungsmuster heran ‘oderverwendet griechische Aitien, z. B. dieErigone. Sein Thema istjedoch dasrömische Theater, denn er spricht davon, daßderBock an denLiberalia, einem römischen Fest, dem Liber, einem römischen Gott, geopfert wurde –ein römischer Kontext also, dermitgriechischer Begrifflichkeit ausstaffiert ist. Griechische Terminologie wirdaufrömische Phänomene angewandt. Glücklicherweise nennt Diomedes seine Quellen, so daß aus seinem Befund zumindest einiges als eindeutig varronisch erwiesen werden kann. Ausgehend von Diomedes sollen nunnochzwei weitere Grammatiker, Euanthius undDonat, in den Blick genommen werden, bei denen sich varronisches Material zumindest vermuten läßt. Dasbisher für die varronische Art der Forschung Gefundene soll dabei zur Entschlüsselung dieser Grammatikerschriften dienen. Die Hauptaufgabe besteht darin, das, wasbei Euanthius undDonat ausvielen Quellen zusammengeflossen ist, sogutwiemöglich wieder zuscheiden.
b) Varronisches beiEuanthius Schon sehr frühbrachte Leo, allerdings nicht mitBlick auf Horaz, sondern imZusammenhang mitLivius’Abriß derDramengeschichte (Livius 7, 2), einen Euanthiuszugeschriebenen Traktat mit demTitel De comoedia ins Spiel.15 Die Darstellung 7,16 weist in derTat gewisse ÄhndesEuanthius, besonders in denKapiteln II, 4– lichkeiten mitLivius 7, 2 auf. DaLeo –jedenfalls zudiesem Zeitpunkt noch –das Livius-Kapitel fürvarronisch hielt, glaubte er auch bei Euanthius varronisches Gut zufinden. Diese Annahme soll imfolgenden überprüft werden. DerEuanthius-Text erweist sich als ein recht heterogenes Gebilde, in demdie unterschiedlichsten Einflüsse erkennbar sind. Es bedarf also großer Vorsicht und genauen Abwägens bei derBestimmung derQuellen. DerKommentar beginnt mit derBemerkung (I, 1), Tragödie undKomödie hätten ihren Ursprung a rebus divi-
15 Leo 1883. DerEuanthiustraktat ist demTerenzkommentar des Donat voraufgeschickt; Text 200, 31; zurBeurteilung desEuanthius vgl. auch Kroll 1921, 192– abgedruckt bei Wessner, 13– bes. 198; Usener 1868, 493 schreibt: „ Sein (sc. desEuanthius) Hauptverdienst ist, daßer uns sogutes varronisches Material überliefert hat, unddafür wird sich andere Gelegenheit bieten, 439. ihmDank zuzollen.“ ; zurTitelfrage derEuanthius-Schrift vgl. Dziatzko 1870, 438– 22. InderGliederung desTraktats nach Kapiteln folge ich derEintei16 Zitiert nach Wessner, 13– lung Wessners.
2. Rekonstruktion desvarronischen
Befundes
107
In denfolgenden beiden Kapiteln wird dann näher ausgeführt, was gemeint ist. Die Tragödie sei einem Fest fürLiber entsprungen (I, 2) –ganz ähnlich läßt sich , die Komödie der Verehrung des Apollon Ν Varro vernehmen – μ ιο ό ς oder γ υ Ἀ ιε ύ ς–letzteres läßt sich aus Varro nicht belegen. Für den Begriff Tragödie liefert Euanthius fünf unterschiedliche Etymologien, wobei er es offen läßt, welche seiner Ansicht nach diezutreffende ist. Eine davon ist die bei Diomedes18 als varronisch nachgewiesene Version vomOpfer des Bocks, der als Schädling des Weinstocks galt. Woher dieanderen Deutungen stammen, obsie ebenfalls bei Varro aufgelistet waren, läßt sich nicht nachprüfen. Für denBegriff Komödie finden sich zwei Herleitungsmöglichkeiten bei Euanthius, wobei er derbei Diomedes19 demVarro zugeschriebenen durch denZusatz
nis.17
ut opinor20 denVorzug zu geben scheint. Die Keimzellen beider Dramengattungen haben bei Euanthius eindeutig ländlichen Charakter, ihre Entwicklung findet statt nondum coactis in urbem Atheniensibus.21 Mußte manbisher denEindruck gewinnen, daßTragödie undKomödie in religiösem Umfeld, im gleichen ländlichen Milieu ungefähr zeitgleich entstanden sind, also ganz imSinne dereratosthenischen Theorie, derauch Varro anhing, sowirdim vierten Kapitel unvermittelt etwas ganz anderes behauptet: itaque, ut rerum ita etiam temporum reperto ordine, tragoedia prior prolata esse cognoscitur. namut ab incultu ac feris moribus paulatim perventum est ad mansuetudinem urbesque sunt conditae et vita mitior atque otiosa processit, ita res tragicae longe ante comicas inventae.22
Hier wird auf einmal die Tragödie als sehr viel älter (longe ante inventa) als die
Komödie bezeichnet –ein Widerspruch zumvorher Gesagten. Die folgernde Partikel itaque amBeginn des Kapitels schließt an nichts Vorangegangenes an. Woraus diezeitliche Priorität derTragödie folgt, istunklar. Auchbleibt dunkel, was mitder Auffindung des ordo rerum et temporum gemeint sein könnte. Völlig rätselhaft ist der dann angeschlossene Vergleich: Offensichtlich soll die Tragödie mit incultus undferi mores gleichgesetzt werden, während die mansuetudo und die städtische vita mitior et otiosa den Vergleichspunkt zur Komödie abgeben, derjenigen Gatμ α ι) zurückῶ tung, die im Kapitel vorher etymologisch auf die Dorfgemeinden (κ geführt unddie in denBereich des Apollon Ν ιο μ , des Weidegottes, verwiesen ς ό wurde. Indiesem vierten Abschnitt liegt eindeutlicher Bruch in Euanthius’ Ausführungen vor, vielleicht zurückzuführen auf den Einfluß einer anderen Quelle oder aber ein Mißverständnis derVorlage. Offenbar ist auch Diomedes bei der Abfassung seines vielleicht einknappes Menschenalter jüngeren Kommentars mit diesem Passus seines Vorgängers Euanthius schon nicht mehr zurechtgekommen. Im Bestreben, die beiden sich eigentlich ausschließenden Versionen irgendwie zusam-
17 18 19 20 21 22
Wessner, I, 1, p. 13,1ff.. Vgl. Diomedes I, 487, 13 Keil. Diomedes I, 488, 4ff. Keil. Wessner, I, 4, p. 14, 4. Wessner, I, 3, p.13, 15. Wessner, I, 4, p. 14, 10ff.
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IV. Varro undHoraz
23 ab, von δ ῇ ῃκ α menzubringen, leitete er die Komödie ab urbana κ μ ὶ ᾠ ώ „städtischen Dörfern“ , wie mandieses Paradoxon strenggenommen zu übersetzen hat.
Im fünften Abschnitt schließlich24 sind gewisse Einflüsse aus dem peripatetischen Umfeld erkennbar. Von Homer heißt es, qui Iliadem ad instar tragoediae, Odysseam ad instar comoediae fecisse monstratur. Dies klingt sehr nach einer vergröbernden Deutung einer Stelle ausAristoteles’Poetik.25 Imzweiten Teil derAbhandlung desEuanthius werden die drei Stufen der attischen Komödie behandelt. In denersten drei Abschnitten ist zunächst von der Alten Komödie dieRede. Dabei spielen imdritten Abschnitt peripatetische Gedanken hin’ ὀνόμα ein, wenn die Alte Komödie ausschließlich unter demAspekt des ἐ τ ο π ς ῳ δ ε ῖνcharakterisiert wird.26 μ κ ω Imfolgenden vierten Abschnitt, dereigentlich derMittleren Komödie gewidmet sein sollte, ist Euanthius dannunvermittelt beim römischen Drama, genauer, bei der ‘dramatischen’ satura. Dieser bedenkenlose Wechsel zwischen griechischer und römischer Literaturgeschichte könnte auf Varro zurückgehen, der solche Gleichsetzungen sehr mochte. Als dasTreiben außer Kontrolle geriet, so wird in diesem Teil berichtet, brachte mandieSpötter lata lege, gemeint sind dieZwölftafelgesetze, zum Schweigen.27 Anders alsimlivianischen Bericht entstehen diesaturae bei Euanthius erst nach demGesetzesakt, wasvonder zeitlichen Abfolge her eigentlich unlogisch ist, dennüblicherweise wirddieGesetzgebung ja gerade als Reaktion auf die außer Kontrolle geratene satura gewertet. Kaum gemildert wird der Widerspruch durch denHinweis, in dieser post legem entstandenen satura sei man zwar immer noch quamvis duro et velut agresti ioco28 über die Laster der anderen hergefallen, habe aber wegen des gesetzlichen Verbots keine Namen genannt. Ein Vergleich mitden oben angeführten, denAristophanesscholien voraufgeschickten Traktaten über die Komödie29 verrät auch hier deutlich die peripatetische Herkunft dieser Passage. Euanthius stattet folglich die römische satura mit denAttributen der Mittleren Komödie aus, jener Zwischenstufe zwischen namentlicher Verspottung in der Alten undvölligem Verzicht auf Spott in der Neuen Komödie. Die sich daran anschließende Ableitung des Begriffs satura von den griechischen satyri: quae a satyris,
Diomedes I, 488, 10 Keil. 15, 7. Wessner, I, 5, p. 14, 15– Arist. Poet. 24, 1459 b 14ff. 96 unddens. 1880 / ND Darmstadt 1968, 1ff.; Arist. E.N. 4, 14, Vgl. Bernays 1853, 561– 1128 a 20ff. undPoet. 9, 1451 b 11kritisiert anderAlten Komödie, daßihre Wirkung, anders ίαberuhe; vgl. auch die denAristophanesγ ο λ ρ ο ισ alsbei derNeuen Komödie, alleine aufα χ ῳ δ ία ς , bes. Traktat 4, abgedruckt bei Koster, 3ff. μ ω ρ scholien vorangehenden Traktate Π ὶΚ ε α Dieser unterscheidet die drei Stufen derKomödie nur nach demGradderSchandrede: ἡφ η δ ᾽ δ τω ῶ α μ ς (ohne Namensnennung), ἡμ ἰν ιγ ρ ῶ ν ε ς(offen, mit Namensnennung), ἡα α(ohne Verspottung); vgl. auch Leo 1889, 74; ῳ δ ο ῦ σ μ υ ό α δ ὶ ἐν ίο υ σ ςκ υ ο ο ξ λ ςκω ω λ ὅ ςπ zumaristotelischen Einfluß vgl. Kaibel 1898, 9. 27 Wessner, II, 4, p.16, 18; vgl. Hor. epist. 2, 1, 139ff. 28 Wessner, II, 5, p.17, 4f.
23 24 25 26
29 Vgl. oben S. 79.
2. Rekonstruktion desvarronischen
Befundes
109
quos in iocis semper ac petulantiis deos scimus esse, vocitata est,30 ist ebenso sicher unvarronisch wie falsch. Das Kapitel endet mit der Nennung des Lucilius als des Archegeten einer neuen Art von Satire. Das Neue an der lucilischen Satire bestehe darin, so Euanthius, utpoesin indefecisset, id est unius carminis plurimos libros. Was damit gemeint ist, wird ebenfalls wieder klar durch Heranziehen der Ars Grammatica desDiomedes. Dortheißt es nämlich: [...] olim carmen, quod ex variis poematibus constabat satura vocabatur, quale scripserunt Pacuvius et Ennius.31
DasBesondere bei Lucilius ist also, daßer unum carmen, ein einziges zusammenhängendes Gedicht anstelle der unverbundenen varia poemata seiner Vorgänger, verfaßte. Es entspricht dabei derGebrauch vonpoesis bei Euanthius und der von poema bei Diomedes genau der varronischen Terminologie.32 In den Abschnitten sechs undsieben deszweiten Teils handelt Euanthius von derNeuen Komödie und richtet denBlick ausschließlich aufGriechenland. Betrachtet mandiesen zweiten Teil im Zusammenhang, so bespricht Euanthius hier diedrei Stufen dergriechischen Komödie, wobei andie Stelle der Mittleren die römische satura tritt. Diesatura ist nicht, wie etwa bei Horaz33 oder Diomedes,34 in Parallele zurAlten Komödie gesetzt, sondern als Pendant der Mittleren Komödie betrachtet. Auch diese Auffälligkeit bei Euanthius hat in dermit großer Wahrscheinlichkeit etwas später entstandenen Ars Grammatica des Diomedes ihren Niederschlag gefunden. Dort nämlich werden als poetae primi comici Susarion, Mullus undMagnus genannt. Dersecunda aetas indes werden Aristophanes, Eupolis und Cratinus zugeordnet, unddietertia aetas wirdwie üblich durch Menander, Diphilos undPhilemon repräsentiert.35 Damit wardieeigentliche Alte Komödie zur Mittleren (secunda aetas) geworden, undDiomedes konnte dietraditionelle Überlieferung, die römische Satire hänge von der durch Eupolis, Aristophanes undCratinus vertretenen Komödie ab, mit demBefund bei Euanthius (Mittlere Komödie = römische satura) inEinklang bringen. Imdritten Kapitel der Schrift des Euanthius erfolgt ein Vergleich zwischen römischer undgriechischer Komödie, insbesondere zwischen Terenz undMenander. Dieser ist jedoch für diese Arbeit nicht von Interesse. Eine genauere Betrachtung verdient dagegen dasvierte Kapitel, in demimersten Abschnitt verschiedene römische Ausprägungen derfabula kurz erwähnt werden, nämlich togata, praetexta, Atellane, Rhintonica undtabernaria. Der zweite Abschnitt ist abermals einer Unterscheidung vonTragödie undKomödie gewidmet, diesmal aber, wie der Schlußsatz zeigt, mitdeutlichem Blick aufdasrömische Theater: [...] omnis comoedia defictis estargumentis, tragoedia saepe de historia fides petitur.36 Letzteres trifft sicher auf 30 31 32 33 34 35 36
Wessner, II, 5, p.17, 1f. Diomedes I, 485, 31ff. Keil. Vgl. Varro Sat. Men. 398 Astbury = fr. 96 Funaioli. Hor. serm. 1, 4, 1. Diomedes I, 485 Keil: carmen [...] archaeae comoediae charactere. Diomedes I, 488f. Keil. Wessner, III, 2, p. 21, 16ff.
110
IV. Varro undHoraz
die römische Tragödie zu, während die griechische ihren Stoff ja vornehmlich aus demMythos bezieht.37 Der dritte Abschnitt des vierten Kapitels schließlich nennt als Archegeten der fabula inRomLivius Andronicus. Euanthius kannte also die varronische Chronologieoderbenutzte zumindest eine varronisch beeinflußte Quelle, die demLivius Andronicus diePosition desπ ρ ή ῶ τ ο ςzuerkannt hatte.38 DerAbschnitt schließt ςεὑρετ mit dem bereits aus Livius bekannten Hinweis, daß Livius Andronicus zugleich poeta et actor suaru m fabularum gewesen sei. Einsignifikantes Merkmal der Schrift Defabula des Euanthius, soweit sie hier untersucht wurde, ist das ständige Hin- undHerspringen zwischen römischer und griechischer Literaturgeschichte. Dies beweist nicht die Verwendung einer varronischen Schrift, legt sie aber nahe. Die völlige Parallelisierung bis hin zurIneinssetzung entspricht Varros Stil.
Bei Euanthius finden sich nebeneinander Reflexe sowohl der varronischen Theorie vonderEntstehung des‘professionellen’ Dramas als auch der improvisierten ‘dramatischen’ satura. Sein Traktat gibt Varros Theatergeschichte in ihren Hauptzügen wieder. Vieles istjedoch verzerrt unddurch peripatetische Einflüsse in eine neue Perspektive gerückt.
c) Varronisches beiDonat Donats Abhandlung De comoedia ist sehr viel klarer als der ‘bunt gemischte’ Euanthiustext. Donat beschränkt sich auf die Behandlung der Komödie. Seine Darstellung zeigt über weite Passagen auffällige Ähnlichkeiten mitdemaus Diomedes als varronisch identifizierten Material.39 Nach einem einführenden Abschnitt, in dem die Komödie nach Cicero als speculum vitae, speculum consuetudinis und imago veritatis definiert wird, gibt Donat daran anschließend im zweiten Abschnitt eine etymologische Erklärung des μ α ιerinWortes Komödie, die nachdrücklich andievarronische Herleitung von κῶ nert: comoediae autem more antiquo dictae, quia agebantur apud Graecos.
in vicis
huiusmodi carmina initio
Darauf folgt auch sogleich, ebenso wie bei Varro, die Gleichsetzung mitdenCompitalia in Rom: utinItalia Compitaliciis ludicris.40 Aufhorchen läßt der siebte Abschnitt der Abhandlung. Dort heißt es –es ist immer nochvonderKomödie dieRede:
haec autem carmina in pratis mollibus primum agebantur. nec deerant, quibus ad scribendum doctorum provocarentur ingenia; sed et actoribus munera offerebantur,
quo libentius iucundo vocis flexu ad dulcedinem commendationis
37 Bekannte Ausnahme: diePerser desAischylos, dieebenfalls einen historischen Kernhaben. 38 Inderkonkurrierenden Chronologie desAccius leitete Livius Andronicus wohl nicht denBe203. ginn derliterarischen Phase in Romein; vgl. D’Anna 1973 / 1974, 202– 185. 39 Vgl. Brink 1962, 184– 40 Bei Wessner, V, 2, p. 23,1f..
2. Rekonstruktion desvarronischen
Befundes
111
uterentur: caper namque pro dono his dabatur, quia animal vitibus noxium habebatur. a quo enim tragoediae nomen exortum est.41
Diebesten Einfälle derAutoren –so hatmaningenia doctorum zu verstehen –wurdendurch einGeschenk, einen Bock, belohnt. Dieser habe als Schädling des Weinstocks gegolten. Genauso wie bei Varro finden sich also auch bei Donat Anklänge andieeratosthenische Theorie. In derErklärung desWortes Tragödie stimmen Varro undDonat überein. Das Bemerkenswerte aber bei Donat ist, daß er dieses der Tragödie gehörende Aition der Komödie zuordnet. Er vermischt also TragödienundKomödienursprünge. Dies ist wiederum ein Kennzeichen der eratosthenischen Theorie.42 Wiebereits inderAbhandlung desDiomedes tauchen hier die Compitalia als Ursprungsort der Komödie auf. Gleichzeitig wird aber auch das Bocks-Aition, dasnachDiomedes zudenLiberalia gehört, mitdiesem bäuerlichen Fest in Verbindunggebracht. Diesen scheinbaren Widerspruch hatWaszink überzeugend gelöst.43 Er weist die Abhängigkeit einer Passage aus Tertullians De spectaculis, cap. 10, vonVarro nach, in deres heißt: namet alios ludos scaenicos Liberalia proprie vocabant, praeterquam Libero devotos, quae sunt Dionysia penes Graecos, etiam a Libero institutos. Dieses Tertullianzitat ist deshalb wichtig, weil es Aufschluß über den Sprachgebrauch des Wortes Liberalia gibt: es diente zurBezeichnung für alle Feste, die irgendwie mitBacchus zutunhatten. So darf es als sicher gelten, daß Varro auch in dembei Diomedes überlieferten fr. 304 Funaioli mit Liberalibus, diefesto Libero patri genauer die Compitalia meint, die er unter dem Oberbegriff Liberalia subsumiert. Gleichzeitig setzt Varro in dem genannten Passus bei Tertullian, typisch für seine Vorgehensweise, bedenkenlos die griechischen Dionysien, in die das Bocksopfer eigentlich gehört, undeben die römischen Liberalia / Compitalia gleich. So gibt Varro einem griechischen Brauch eine römische Heimat. Er stellt Übereinstimmungen zwischen den Riten an den griechischen Dionysia und den römischen Compitalia fest. Die Gemeinsamkeiten zeigten sich darin, daß an beiden Festen an Wegkreuzungen szenische Darbietungen üblich waren.44 Diese rein äußerliche Nähe magihnzudemkühnen Gedankensprung verleitet haben, auchdas aus dengriechischen Dionysia stammende Bocksopfer, das in derrömischen Religionsgeschichte sonst überhaupt keinen Platz hatte, in die Compitalia zu transferieren. Der einzige nachweisbare Zusammenhang zwischen denCompitalia unddemWeingott besteht darin, daßnach antiken Zeugnissen bei diesem Fest unmäßig viel getrunken wurde.45 Für Varro genügte das, um ein griechisches mit einem römischen Fest zu
41 42 43 44 45
10. Wessner, V, 7, p. 24, 4– 212; Brink 1962, 185. Vgl. Meuli 1955, 210– Vgl. Waszink 1948, 231. Vgl. fr. 305 Funaioli, vgl. oben S. 105. Der Scholiast des Persius leitet denNamen der Compitalia (fälschlich) von compotare ab (Schol.Pers. 4, 28), undselbst dergestrenge Cato billigte denSklaven an diesem Fest eine Extraration Weines zu, vgl. Cato agr. 57: vinum familiae quantum detur: ... in dies heminas ternas, id est amphoram; hoc amplius in Saturnalibus et Compitalibus [...].
112
IV. Varro undHoraz
kontaminieren und den griechischen Gott Dionysos in den Kult Compitalia aufzunehmen. Auch Donat sieht, Varro folgend, in denLiberalia / Compitalia derersten szenischen Aufführungen:
der römischen den Ursprung
qui lusus cum per artifices in honorem Liberi patris agerentur, etiam ipsi comoediarum tragoediarumque scriptores huius dei velut praesens numen colere venerarique coeperunt.46
Donat gibt aber noch weitere Informationen, die sich aus Varro unmittelbar nicht mehr erschließen lassen, die aber auch bei Euanthius belegt sind. Es handelt sich um das Element der Zensur, das in der frühen Komödie offensichtlich eine Rolle spielt. Daß dies zumindest für die attische Komödie gilt, wird deutlich aus demBefund beiEuanthius unddenbereits mehrfach erwähnten, denAristophanesscholien beigefügten Traktaten Π ῳ δ ία ς μ ρ , die die Komödien nur nach dem ὶΚ ω ε ῳ Graddes ὀνομ δ ε ῖνeinteilen. Bei Donat heißt es im sechsten Abschnitt, μ α σ τ ὶ κω genau zwischen denbeiden obenbehandelten Varrobezügen: Athenienses namque Atticam custodientes elegantiam cum vellent male viventes notare, in vicos et compita ex omnibus locis laeti alacresque veniebant ibique cum nominibus singulorum vitia publicabant. [...]47
Auch dies könnte, obwohl nicht ausdrücklich Varro zugeschrieben, dennoch ein Element der varronischen Dramentheorie sein. Die beiden Varrozitate, zwischen denen das male viventes notare zitiert wird, sprechen ebenso dafür wie die ‘Verlegung’dercompita in das Umland Athens. Das Hineinprojizieren des eigenen Erfahrungshorizontes in die griechischen Verhältnisse –analog zur Übernahme griechischer Aitien nach Rom –zeigt, wie die Parallelisierung bis zur Ununterscheidbarkeit getrieben werden kann. Varro mag der Urheber sein.48 Mit letzter Sicherheit beweisen läßt sich dieAutorschaft desAntiquars für dieses Detail freilich nicht, undso mußdiese These immer noch mit einem kleinen Fragezeichen versehenbleiben.49 Zusammenfassend ergeben sich fünf Merkmale, die für Varros Theorie konstitutiv sind:50
a) derbäuerliche Charakter desfrühen Dramas, b) diesehr ähnliche, gleichsam parallele Entstehungsgeschichte inGriechenland und Rom,
16. 46 Wessner, V, 8, p. 24, 13– 47 Ebd., V, 6, p. 23, 19– 24, 2. 48 In derWortwahl desDonat fällt auf, daßer, obgleich es um Attica geht, ein eher ‘römisches Kolorit’ aufträgt. Von notare ist die Rede, dasan die nota censoria erinnert, die vici werden μα erwähnt, dasrömische Pendant zudenκ ι, undvor allem die compita kommen ins Spiel, ῶ die in Varros De scaenicis originibus für denUrsprung des Dramas an den Compitalia eine wichtige Rolle gespielt haben. Vgl. fr. 75 Funaioli: ubi compitus erat aliquis. 49 Auch Brink 1962, 186, derdiese These aufstellt, bezeichnet sie als „doubtful“ . 50 Vgl. Brink 1962, 186.
3. Interpretation vonHor. epist. 2, 1, 139ff. undA.P. 202ff.
113
c) eine Mischung aus bäuerlicher Belustigung und religiösem Einschlag (die enge Verbindung zuDionysos / Liber) in derVorstufe desDramas, d) dasElement derZensur (male viventes notare), e) keine klare Trennung der Ursprungsgeschichte von Komödie und Tragödie (eratosthenische Theorie).
3. INTERPRETATION VON HOR. EPIST. 2, 1, 139ff. UNDA.P. 202ff.
a)Theatergeschichte Züge wie in denVarro-Belegen
lassen sich imAugustus-Brief (139ff.) undin derArsPoetica (202ff.) nachweisen, so daßVarro mitSicherheit als
Genau die gleichen
Gewährsmann dieser Stellen betrachtet werden kann. a) Varro siedelt denUrsprung des Dramas bei denCompitalia, einem bäuerlichen Erntefest, an.Genau dies tutaber auchHoraz, wenner sagt, manhabe sich zu Opfern undSpielen zusammengefunden condita postfrumenta,51 also nach Einbringung desGetreides. Es liegt sehr nahe, daßer auf die Compitalia anspielt. DerTerminfür dieses Fest wurde jährlich je nach Stand derFeldarbeit neubestimmt, auf jeden Fall fandes, wiein einem Scholion zuPersius berichtet wird, finita agricultura,52 also nach Beendigung der Feldarbeit –condita post frumenta –statt.53 DerBezug zudenCompitalia wird ganz besonders deutlich in derArs Poetica, woHoraz über die Rolle derMusik bei frühen szenischen Aufführungen spricht.54 Während Horaz die ganze Passage zuvor (ab Vers 179) über das griechische Drama handelt undtechnische Vorschriften fürdieKomposition unter demübergeordneten Gesichtspunkt der Klarheit’ gibt, ist er bei der Musikabhandlung plötzlich und 210 spricht er vomgenius, denman unvermittelt wieder ‘in Rom; in denVersen 209– anFesttagen besänftigte, indem manschon amTage ungestraft Wein trank. Die dies festi bei Horaz55 sind die Compitalia. Der Kult an den Compitalia bestand nämlich ursprünglich darin, daßandencompita, denWegkreuzungen, an denen verschiedene Grundstücke zusammentrafen, jeder Anlieger seinem Lar opferte. In augusteischer Zeit wurden die compita zu Stätten des Kaiserkults, man opferte den Lares Augusti’ und dem ‘Genius Caesaris’,56 in den Häusern verehrte man den ‘ Genius des Hausherrn.57 Wenn Horaz also von einer Verehrung des Genius spricht, so sind damit die Compitalia gemeint, wie sie Varro an den Anfang des römischen Dramas setzte. Dazu passen auch die Begleitumstände, vino diurno,58
51 52 53 54 55 56 57 58
Epist. 2, 1, 140. Schol. Pers. 4, 28. Vgl. Latte 1960, 91. 216. A.P. 202–
A.P. 210. Vgl. Ov.fast. 5, 145. 173. Vgl. Wissowa 1971, 167– A.P. 209.
114
IV. Varro undHoraz
denn die Compitalia waren, ähnlich wie die Saturnalia, ein ausgelassenes Fest, an demausgiebig gezecht wurde.59 Horaz läßt es sich nunfreilich nicht nehmen, gerade diese derbe, bäurische Sitte des Festes hervorzukehren undVarros Vorlage so eine andere Tendenz aufzuprägen: hodieque manent vestigia ruris, soll der Leser im Hintergrund hören, undHorazgelingt es, seinen Gewährsmann mit einer scherzhaften Wendung in denDienst dereigenen Argumentation zustellen.60
b) Hinter demunvermittelten
Sprung vom griechischen zum römischen Drama61 erkennt manabermals Varro, der ausgiebig griechisch-römische Parallelen konstruierte. Horaz folgt ihmhierin mitAbsicht. Während in denVersen 179 bis 201, solange von der griechischen Tragödie die Rede ist, Klarheit und Ordnung vorherrschen, bricht hier, wie Klingner sehr treffend formuliert, das „ Wirre“und „ Unsittliche“störend ein.62 Kaumbeschleicht denverwunderten Leser der Gedanke anVerfall undUnordnung, dastellt er auch schon fest, daßerja gar nicht mehr in Griechenland, sondern längst in Romist, wenn in Vers 210 plötzlich der urrömische Begriff genius auftaucht. Auch Horaz vermischt also Römisches undGriechisches, aber nicht, umwie Varro die Gleichwertigkeit hervorzuheben, sondern bei ihmerfährt dasRömische gegenüber demGriechischen eine Abwertung. Die gleiche Tendenz gilt auch für die entsprechende Partie in der Augustus176). Hier wird zunächst dierömische Entwicklung geschildert: ErnteEpistel (139– fest, Fescennine, Entartung, Beschränkung, gefolgt von derAbhandlung über die griechische Tragödie, diesich von der einheimischen rusticitas abhebt. Die griechische Kultur verdrängt dierömische Unkultur, will Horaz damit sagen. Derselbstgefälligen Gleichsetzung Griechenland-Rom bei Varro hält er immer wieder die tatsächliche Überlegenheit derGriechen entgegen. Überhaupt teilt Horaz inAugustusEpistel undArsPoetica mehrfach Seitenhiebe gegen diepatriotische Tendenz Varros undder‘Varroniani’aus, dieinderaltrömischen Literatur eine unerreichte, mustergültige Blüte erblicken wollten.63
c) Der dritte
charakteristische Zugdervarronischen Darstellung, die Mischung aus religiösem Einschlag undbäuerlicher Belustigung in der Vorstufe des Dramas, ist vonHoraz ebenfalls übernommen. Daskultische unddasbäuerliche Element durchziehen die gesamte Darstellung. Während aber bei Varro die rusticitas für eine bo-
59 Vgl. oben Anm. 45. 60 Unzweideutig liegt eine Übernahme ausVarro in Hor. epist. 1, 1, 49 vor: dort heißt es vom Schauspieler, er sei circum pagos et circum compita anzutreffen. Wörtlich klingt Varronisches an.Dernurleise darauf anspielende Charakter desZitats läßt vermuten, daßcompita undpagi demLeser aufAnhieb alsAufführungsorte vonszenischen Darbietungen geläufig waren. 216. 61 A.P. 202– 62 Klingner 1950, 377. 324, A.P. 268ff.: Während Horaz im ersten Beispiel die 63 Z.B. epist. 2, 1, 32ff., A.P. 323– Varroniani“verspottet: venimus adsummum fortunae: pinguimus atSelbstbespiegelung der„ que/ psallimus et luctamur Achivis doctius unctis [...], hebt er in den letzten beiden denVorbildcharakter dergriechischen Literatur hervor: Grais ingenium, Grais dedit ore rotundo / Musa loqui [...], vosexemplaria Graeca /nocturna versate manu[...].
3. Interpretation von Hor. epist. 2, 1, 139ff. undA.P. 202ff.
115
denständige, aufrechte Gesinnung, verbunden mit frommer Religiosität –ganz im Sinne desPrinceps Augustus –steht, ist sie fürHoraz ein Synonym fürdenMangel ancultus, mundities undcura.
d)Auchdasvierte Element ausVarros Theorie, dasmale viventes notare, taucht im Augustus-Brief auf, um den Anfängen des römischen Theaters ein rohes, ungeschlachtes Gepräge aufzudrücken. Horaz geht jedoch über Varro hinaus. In seiner Darstellung ist ein Knüppel, fustis, nötig, umdie Ausgelassenheit wieder zu bändigen.64 Wahrscheinlich intendiert Horaz hier eine Anspielung auf ein vermeintliches Verbot vonSchmähreden ausdenZwölftafelgesetzen. Dies ist mit Sicherheit unvarronisch. Ein derartiger Paragraph, auf den Horaz anspielt, existierte überhaupt nicht. Tatsächlich stellten die Zwölftafelgesetze das Absingen von mala carmina unter Strafe, dabei waren aber keineswegs Schmähgedichte, sondern Zaubersprüche gemeint, wie derNaturalis historia des Plinius65 zu entnehmen ist. Die Fehlinterpretation der betreffenden Verordnung, deren sich Horaz (bewußt?) um einer eindrucksvollen Pointe willen bediente, warjedoch bis ins erste Jahrhundert v. Chr. hinein weit verbreitet, wie Zitate bei Cicero,66 der offensichtlich dieselbe Deutung (sicherlich unbewußt!) vertrat, beweisen. Hätte dieser Irrtum nicht denRang einer communis opinio gehabt, wäre derWitz derHorazstelle überhaupt nicht verstanden worden. Derjenige jedoch, der denrichtigen Sinn des Gesetzes ans Tageslicht gebracht hatte, war kein anderer als Varro.67 Es ist damit ausgeschlossen, daß er in diesem Punkt dieQuelle Horazens lieferte. Horaz nutzt diese Partie, umdie Wildheit des siegreichen Rom (ferus victor, 156) dem besiegten, aber kultivierten Griechenland gegenüberzustellen, das die Künste imländlichen Latium einführt. Horaz ist keineswegs daran interessiert, wie Varro eine möglichst vollständige historische Entwicklung desDramas aufzuzeigen, sondern er greift einzelne Punkte aus derLiteraturgeschichte heraus, die seiner Argumentation dienlich sind. Varros Denken undForschen kreist umVergangenes, ist von einer romantisch verklärten Stimmung getragen; Horaz wischt alles Unklare undSentimentale beiseite undrichtet den Blick seines Lesers wieder auf die Gegenwart. e) Schließlich läßt sich auch Varros fünfter Gesichtspunkt, die auf die eratosthenische Theorie zurückgehende Vermischung der Ursprünge von Tragödie und Komödie, bei Horaz finden. So schildert Horaz in derAugustus-Epistel in denVersen 176) zunächst dieUrsprünge desDramas überhaupt, bäuerliüber dasTheater (139– ches Fest undFescennine, undschließt dann eine Sonderbetrachtung von Tragödie
64 65 66 67
155. Epist. 2, 1, 152– N.h. 28,17. Cic. rep. 4, 10, 12 undTusc. disp. 4, 4. Vgl. Münzer 1897, 259 unddarauf aufbauend die Dissertation von Beckmann 1923; s. auch Hupperth 1961, 28, Anm. 4.
116
IV. Varro undHoraz
176) an.69 Beide Gattungen scheinen also aus der 167)68 und Komödie (168– (161– gleichen Urform (Fescennine) entstanden zusein. Dies könnte –bei aller Vorsicht – einReflex derbei Varro erhaltenen eratosthenischen Theorie sein.
b) Chronologie
Als letzte Schwierigkeit imZusammenhang mit den Versen 139 bis 176 des Augustus-Briefs ist dieDatierung desBeginns derrömischen Literatur durch Horaz zu klären. Wasbedeutet post Punica bella inVers 162? Wenn Horaz sich in der ganzen Passage auf Varro bezieht, wäre es unwahrscheinlich, daßer ausgerechnet in Fragen der Chronologie der falschen Datierung des Accius verfiele unddie erste fabula des Livius Andronicus auf das Jahr 198 / 197 v.Chr. legte.70 Varro hatte imersten Buch vonDepoetis Livius Andronicus in das Jahr 240 v. Chr. datiert, unmittelbar nach demersten Punischen Krieg. Dieser Ansatz sollte für dieFolgezeit kanonisch werden. Er löste die alte, offenbar weit verbreitete accianische Chronologie ab.71 Sollte Horaz die aufsehenerregende72 Theorie Varros ignoriert oder sich garin Gegensatz zuihrgestellt haben?73 Eine solche, beinahe plumpe Opposition gegen denAntiquar aus Reate magmaneinem so feinsinnigen undzugleich so gründlich arbeitenden Dichter wie Horaz nicht unterstellen. Welcher Chronologie Horaz folgte, läßt sich unzweideutig bestimmen, allerdings nicht aus denvieldiskutierten Versen 156 bis 167, sondern aus einer früheren Stelle derAugustus-Epistel. In Vers 62 spricht Horaz vonder Gesamtheit derrömischen Dichter vondenAnfängen bis aufseine Zeit, underumschreibt denZeitraum mitdenWorten: ad nostrum tempus Livi scriptoris ab aevo. Damit ist klar, daßer den Beginn derrömischen Literatur beiLivius Andronicus ansetzt, unddamit ist auch klar, daß er dervarronischen Chronologie folgt. Gerade darin lag die kühne Neuerung Varros, daßer dierömische Literatur mitLivius Andronicus beginnen ließ, in unmittelbarem Anschluß andenersten Punischen Krieg.74 Wie passen nundazu die umstrittenen Verse 156 bis 167, wie ist post Punica bella quietus zuverstehen? Völlig zuRecht haben Kießling undHeinze hervorgehoben, daßpost Punica bella quietus in Romin genauer Parallele zudempositis nuga68
Händel 1966, 393 fragt sich, wie Horaz in denVersen 161ff. dazu kam, von derTragödie zu handeln, woerdoch mit derFescennine begonnen hatte, die eher die Keimzelle derKomödie bilde. Dies eben erklärt sich ausdereratosthenischen Theorie.
69 Vgl. Brink 1982, 182ff. 70 Vgl. Leo 1904, 73, der glaubt,
Varros Forschungsergebnisse zur Chronologie des Livius Andronicus seien Horaz nicht bekannt gewesen; auch derKommentar von Kießling / Heinze 1914, 227 (zur Stelle) unterstellt Horaz die accianische Chronologie; ebenso Hendrickson
71
1894, 10.
fr. 55 Funaioli (aus Buch I vonDepoetis). 72 Vgl. Becker 1963, 216, Anm. 19. 73 So schreibt Fraenkel 1957, 389, Anm. 2: „[...] Horace found it convenient to adopt the fantastic chronology of Accius rather than the documentary evidence about which Atticus and Cicero hadlearned from Varro.“ 74 Vgl. D’Anna 1973 / 1974, 213. Varro
3. Interpretation vonHor. epist. 2, 1, 139ff. undA.P. 202ff.
117
ri Graecia bellis / coepit75 steht. Kunst entstehe in der Ruhe nach demKrieg.76 Auch Becker77 stellt den Gegensatz Kriegszeit / Friedenszeit in den Mittelpunkt seiner DiehoheZeit derLiteratur“beginne „nachdemschwersten Krieg in Interpretation: „ . Gleichwohl spricht er sich nicht ausdrücklich für eine derGeschichte desVolkes“ Datierung nach demzweiten Punischen Krieg aus, obgleich dieser ohne Zweifel der schwerste in derGeschichte desrömischen Volkes war. Vielmehr sei die Frage, ob 240 oder 198/ 197 vorChristus gemeint ist, „allem Anschein nach überhaupt falsch gestellt“ .78Es komme allein auf den beschriebenen Kontrast zwischen Krieg und Frieden an. Diese Interpretation ist jedoch insofern unbefriedigend, als man gezwungen ist, Horaz Ungenauigkeiten zuunterstellen. Es ist unwahrscheinlich, daß Horaz, umeinen bloßen „ Kontrast“anzudeuten, ein Ereignis wählt, dasjedermann mit genauen Daten und einem klar rekonstruierbaren historischen Umfeld verband.79 Ein anderer Lösungsversuch liegt bei Knapp vor,80 derpost Punica bella als die Zeit nach allen drei Punischen Kriegen, also nach 146, interpretiert, davon aber Graecia capta strikt absetzt und auf einen früheren Zeitpunkt verlegt, der mit der varronischen Chronologie in Einklang steht. In dieser zeitlichen Auftrennung der Abschnitte folgt ihmHändel.81 Einen sehr überzeugenden Lösungsversuch schließlich bietet Hupperth.82 Er versucht, die Schwierigkeiten aus demWeg zu räumen, indem er anhand einer Untersuchung des Sprachgebrauchs von bella bei Horaz zeigt, daßderPlural nicht unbedingt mehrere Kriege meinen muß, sondern im Sinneeiner Intensivierung oder Steigerung auch füreinen einzigen Krieg stehen könne. . So faßt Hupperth Punica bella seien dann soviel wiedie„ Kämpfe mitdenPuniern“ post Punica bella als „nach demersten Punischen Krieg“auf. Damit besteht kein Widerspruch mehr zur varronischen Chronologie. Auch war die Bedrohung im ersten Punischen Krieg für die Römer sicher so ernst, daß man, wie Kießling, Aufatmen“sprechen Heinze undBecker fordern, für die Zeit danach von einem „ kann. Graecia capta81 bezieht sich nach Hupperth auf die Einnahme Großgriechen. vielleicht auch Siziliens“ lands, „ Diese drei Datierungsversuche sollen im folgenden noch einmal kurz gegeneinander abgewogen werden. Ein kleinliches Aufrechnen historischer Daten kann nicht Horazens Absicht in denLiteraturepisteln gewesen sein, wieBecker undBrink zuRecht feststellen. Andererseits hängen dieVerse 156bis 167, was die zeitliche Einordnung angeht, kei75 Epist. 2, 1, 93f.
76 77 78 79
80 81 82 83
Kießling / Heinze 1914,
227 (zur Stelle).
Vgl. Becker 1963, 216. Ebd., 216; ähnlich: Rudd 1989, 97. Horace talks of periods defined by the vaguBrink 1982, 185 schließt sich enganBecker an: „ . So est chronology.“Er zeige lediglich ein „movement from rustic past to rustic survivals“ . hismain aimis literary critical andnothistorical“ kommt Brink zudemSchluß: „ Knapp (Transactions andProceedings) 1912, 125ff. Vgl. Händel 1966, 390ff. Vgl. Hupperth 1961, 38. Epist. 2, 1, 156.
118
IV. Varro undHoraz
in derLuft. D’Annahatdarauf aufmerksam gemacht, daß die Verse 161 bis 167, die mit der umstrittenen Zeitangabe eingeleitet werden (serus enim Graecis admovit acumina chartis, / et post Punica bella quietus quaerere coepit, / quid Sophocles et Thespis et Aeschylus utile ferrent), bereits eine erste Blüte der römischen Tragödie bezeichnen.84 Horaz denkt dabei wohl an die großen Tragiker des zweiten Jahrhunderts, vor allem Pacuvius undAccius85. Diese steckten natürlich nicht mehrindenrohesten Anfängen, sondern hatten bereits ein hohes künstlerisches Niveau erreicht.86 Horaz weiß dies auch zuwürdigen undhebt dienatürliche neswegs völlig
Begabung dieser römischen Dichter hervor: temptavit quoque rem, si digne vertere posset, et placuit sibi, natura sublimis et acer, namspirat tragicum satis et feliciter audet.87
Doch dannkommt, typisch fürHoraz, daseinschränkende „Aber“ , schon vorbereitet durch daseindeutig negativ konnotierte etplacuit sibi (162),88 das allzusehr den Beigeschmack vonSelbstgefälligkeit hatunddenGlanz derliterarischen Produktion in Rom von vornherein trübt.89 Umso wirkungsvoller legt Horaz nach demLob des römischen ‘ingenium’ den Finger auf die ‘Wunde’ römischer Dichtung: sed Aber törichterweise hält der Römer das turpem putat inscite metuitque lituram: „ Feilen fürschändlich undscheut davor zurück.“Derletzte Vers des Abschnitts bezeichnet denMangel, beinahe das Verhängnis, unter demfast das gesamte literarische Schaffen in Rom stehe: die Oberflächlichkeit in der künstlerischen Ausführung. Genauso wie dasVerschwinden des Saturniers (horridus ille / defluxit numerus Saturnius, 157f.) der Epik wenig genutzt habe, denn die vestigia ruris seien dennoch bestehen geblieben, so habe auch der Einfluß der Lektüre von Thespis, Sophokles und Aeschylus der römischen Tragödie nicht alle Spuren der Roheit nehmen können.90 Welchen Zeitraum betreffen nun die fraglichen Verse? Sie umfassen die gesamte Entwicklung der römischen Tragödie von der ersten Berührung der Römer mit denchartae Graecae bis zurMitte des zweiten Jahrhunderts, als die römische Tragödie einen Höhepunkt erreicht hatte. Der erste, der sein acumen der griechi-
84 Vgl. D’Anna 1973 / 1974, 213. 85 NachderWeltchronik desHieronymus hatte Pacuvius seine AkmeimJahr 154 v. Chr. Damit ist klar (gegen Knapp, s. obenAnm.80), daßHoraz keinesfalls mitpost Punica bella dieZeit 167): nach demdritten Punischen Krieg meinen kann; vgl. auch Brink 1982, 185 (zuVV. 161– anddoes not exclude the great second century post Punica bella bezeichne eine lange Periode „
86 87 88 89
. tragedians“
50. ZurBlüte derrömischen Tragödie imzweiten Jahrhundert vgl. Gell. 17, 21, 46– 166. Epist. 2, 1, 164– 209. Vgl. Brink 1982, 208– Es ist auch typisch, daßin derDarstellung desHoraz die Römer prüfen, quid Sophocles et
utile
Thespis et Aeschylus ferrent (epist. 2, 1, 163), also immer am Nützlichkeitsprinzip orientiert sind, welches nachHoraz in derKunst nichts verloren hat; vgl. dazudie ironischen Verse epist. 2, 1, 103ff. Im Gegensatz dazu steht derspielerische Umgang mit derKunst in Griechenland, epist. 2, 1, 93ff.
90 Vgl. D’Anna 1973 / 1974, 213.
3. Interpretation vonHor. epist. 2, 1, 139ff. undA.P. 202ff.
119
schen Literatur zuwandte, war Livius Andronicus im Jahr 240 vor Christus.91 Er führte griechische Tragödien undKomödien in lateinischer Bearbeitung auf. Zu ihm paßt der Vers serus enim Graecis admovit acumina chartis.92 Admovit deutet sehr schön dieerste Kontaktaufnahme an.Diese geschah aber nicht erst im zweiten Jahrhundert, sondern bereits um240 nach derEinnahme Unteritaliens, also derMagna Graecia –ein gewichtiges Argument, das für die These Hupperths spricht. Auch stimmt es, daßLivius Andronicus serus kam, nämlich ungefähr zweihundert Jahre nach der Blüte der attischen Tragödie undmehr als fünfhundert Jahre nach der Gründung Roms. Dievorliterarische Periode dauerte in der Tat bemerkenswert langeinRom.Horaz umschreibt mitpost Punica bella demnach dieZeit vomEnde des ersten Punischen Krieges bis in dieMitte deszweiten Jahrhunderts.93 Es stellt sich dieFrage, weshalb Horaz eine so schwer zuentschlüsselnde Zeitangabe wählt. Dies hängt möglicherweise mit seinem Bekenntnis zurvarronischen Chronologie zusammen. Die Chronologie des Accius war, wie D’Anna gezeigt hat,94 weit verbreitet unddurfte denRang einer communis opinio beanspruchen. Sie warwohl auch weitgehend richtig, wasdenGroßteil derrömischen Literatur betraf, lediglich bei der Datierung des Livius Andronicus hatte sich Accius getäuscht.95 Diesen Fehler korrigierte nun Varro und setzte das Anfangsdatum der römischen Literatur mit Livius Andronicus in das Jahr 240, post Punicum bellum. Varro ‘ernannte’nicht nureinen neuen Archegeten, sondern er bestimmte auch ein neues, und zwar früheres Anfangsdatum.96 Die Datierung der ersten Theateraufführung unmittelbar nach demersten Punischen Krieg ist nun in der Tat etwas auffällig (vielleicht sogar zuauffällig, umnicht konstruiert zu sein97), undes könnte durchaussein, daßVarro selbst eine ArtZusammenhang zwischen demersten Punischem Krieg unddemBeginn derrömischen Literatur hergestellt hatte. Die Umschreibung post Punica bella für das Jahr 240 v. Chr. könnte also durchaus unmittelbar von Varro stammen, undHoraz hätte dann schon durch seine Formulierung verraten, wessen Schule er in diesem einen Punkt folgt.
91
Horsfall 1993 hatnachgewiesen, daßdieRömer auch schon waren –wasHoraz freilich nicht wahrhaben will.
92 93 94 95 96
Epist. 2, 1, 161. 39. Vgl. Hupperth 1961, 38– D’Anna 1973 / 1974, 198. So etwa Becker 1963, 216, Anm.20, rekurrierend aufHupperth 1961. Eine Anspielung auf denChronologie-Streit magmanvielleicht in Hor. epist. 2, 1, 55 erblikken: ambigitur quotiens, uter utro sitprior. Horaz hatfreilich nichts gegen korrekte Datierungen einzuwenden, stört sich aber daran, daß die Qualität proportional zum Alter bestimmt
vor240 nicht mehr Graecis intacti
wird.
97 Es soll nicht
behauptet werden, Varros Ansatz sei geradezu falsch, die Koinzidenz sowohl eines wichtigen politischen als auch eines wichtigen literarischen Ereignisses fordert aber zucorriger la vemindest zurWachsamkeit auf. Ob derRömer Varro danicht ein klein wenig „ rité“betrieben hat? Vgl. D’Anna 1973 / 1974, 186, Anm. 35.
120
IV. Varro undHoraz
Folglich faßt Horaz in denVersen 161 bis 166 den langen Zeitraum von ungefähr hundert Jahren zusammen. Er schildert dasRom, dasnach demersten miteiner
außeritalischen Macht geführten Krieg unter dembefruchtenden Einfluß des griechischen Vorbildes die Tragödie zu einer Blüte brachte. Dies brauchte seine Zeit. Die Tragödie erreichte ihren Höhepunkt nicht sofort nach ihrer Einführung in Rom, sondern sie durchlief eine gewisse ‘Versuchsphase’: temptavit quoque rem, si digne vertere posset.98. Horaz deutet mitseiner vage klingenden Zeitangabe also eine Entwicklung an.In denGrundlagen seiner chronologischen Berechnung hält er sich an
Varro.
4. CARMEN 3, 18
Es bietet sich an, auf diese Untersuchung eine kurze Betrachtung der horazischen Ode3, 18 folgen zulassen, dieganz ähnlich klingt wie die untersuchten Stellen zur Geschichte des Theaters. Das Gedicht, gestaltet als ein Gebet an Faunus, soll hier nicht eingehend interpretiert werden. Es soll vielmehr genügen, einige auffällige Punkte zubeleuchten, diees wahrscheinlich machen, daßHoraz bei der Abfassung derOdeanElemente ausVarros Theater- undBühnengeschichte dachte. Es wird nicht auf den ersten Blick deutlich, welches Fest Horaz bei seiner Schilderung imAuge hatte. Nach derAnrufung anFaun im ersten Vers würde man erwarten, es handele sich umeine Feier für diesen Waldgott. Ein Opfer für Faun wurde am 13. Februar eines jeden Jahres dargebracht. Dieses kannHoraz aber nicht meinen, denndasvonihmbesungene Fest findet an denNonen des Dezember statt oder auch pleno anno, wie er das Datum an anderer Stelle etwas allgemeiner um-
schreibt. Nach Ablauf eines Jahres also sei derFesttermin gewesen.99 Wili schreibt dazu, Horaz besinge einLokalfest, dasnach Beendigung derWinteraussaat stattgefunden habe.100 Auch Kießling und Heinze101 sprechen sich für ein nicht weiter bekanntes Fest aus, dasderpagus Mandela, zudemHorazens Gutgehörte, feierte. Nunzeigen Teile der Ode3, 18 aber einige auffällige Parallelen zu den oben besprochenen Compitalia. Auchdiese wurden amJahresende gefeiert, condita post 02wie Horaz selbst einmal sagt. Ort des in carmen 3, 18 geschilderten frumenta,1 Festes ist derpagus (3, 18, 12). DerBegriff macht hellhörig; pagi ist die von Varro gewählte Übersetzung für κ ι.103 Sie taucht in seiner Komödiendefinition auf, α μ ῶ imgleichen Fragment, indemauchdieludi compitalicii alsUrsprung derrömischen Komödie benannt werden. Typisch für die Compitalia ist der stark ländliche Charakter, der auch in dieser Odeunverkennbar ist. Nach Wili kommt in diesem GeLand- undLandschaftsgefühl“104desDichters zumAusdruck. dicht das„
98 Epist. 2, 1, 164. 99 Williams 1969, 107, spricht voneinem Fest Faunalia, dasdenSchutz derLämmer vor Wölfenerbitten sollte. Andere Belege fürdieses Fest ließen sich aber nirgendwo finden. 100 Vgl. Wili 1948, 196. 101 Kießling / Heinze 1930, 334. 102 Hor. epist. 2, 1, 140.
103 Fr. 305 Funaioli. 104 Wili 1948, 198.
4. Carmen 3, 18
121
Ähnlich wieHoraz imzweiten Epistelbuch bei der Behandlung römischer Literaturformen undihrer Ursprünge bewußt römisches Kolorit aufträgt in gewolltem Kontrast zumgriechischen Vorbild, ist auch hier ein deutlich italischer Einschlag bemerkbar.105 Cato berichtet von denCompitalia, die Bediensteten seien mit einer Extraration Weines bedacht worden. Wein fehlt auch in dieser Odenicht: larga nec desunt Veneris sodali / vina craterae.106 Die Formulierung larga läßt vermuten, daß bei demhier beschriebenen Fest, ähnlich wie für die Compitalia bezeugt, mit dem edlen Getränk nicht gespart wurde. Dabei denkt Horaz in carmen 3, 18 offenbar an ein Fest, das ähnlich wie die Compitalia gerade von den niederen Schichten, den Knechten oder Sklaven, gefeiert wurde. Dies wirdausVers 15 deutlich, woes vom fossor, derja sonst besonders schwere körperliche Arbeit zuverrichten hat, heißt, er stampfe dreimal freudig auf denihmverhaßten (eben weil so harte Mühe abverlangenden) Boden. DasGedicht hateinen heiteren Grundton, es ist geprägt durch das Aufatmen undInnehalten nach schwerer Arbeit. Selbst die Arbeitstiere erfreuen sich am otium,wieHoraz sicher nicht ganz ohne Ironie bemerkt: festus inpratis vacat otioso / cumbovepagus.107 Die Grundstimmung desGedichts paßt gutzudenCompitalia. Dasdreimalige Aufstampfen, mitdemdas Gedicht endet, ist ein weitverbreiteter, urtümlicher, vielleicht sakraler Brauch.108 Er gehört jedoch auch in das Theater, zudenältesten Darstellungen derludii. Ovidschildert ihninderArs Amatoria: ludiusaequatam terpedepulsat humum.109 Wasschließlich ganz deutlich auf das Theater, undzwar auf das Drama verweist, ist das in Vers 5 erwähnte Bocksopfer. Es erinnert andievonVarro verfochtene eratosthenische Theorie. Dies sindBeobachtungen, die, betrachtet mansie auf demHintergrund der aus Varro bekannten Einzelheiten zum römischen Theater, ein zusammenhängendes Bild ergeben. Möglicherweise benutzte Horaz für seine Zeichnung des ländlichen Festes die Forschungen des Antiquars aus Reate, der neben seiner gründlichen Kenntnis des römischen Theaters auch sehr viel Gespür für idyllische Schilderungenländlicher Szenen, etwainDevita populi Romani oder De re rustica, bewiesen hatte. Anders alsindenLiteraturbriefen liegt incarmen 3, 18 aber keinerlei polemische Tendenz gegen dierusticitas derRömer vor, sondern Horaz freut sich an diesembäuerlichen ‘Gemälde’undamLandleben in seiner Schlichtheit undEinfach-
heit.
. noexternal elements“ ,„ a strong italic note“ 105 Vgl. Fraenkel 1957, 205, Anm. 2: „ 7. 106 C. 3, 18, 6– festus, vacat, otioso 12; vgl. Fraenkel 1957, 206, Anm. 3 zu dieser Stelle: „ 107 C. 3, 18, 11– The stanza emphasize the happiness of leisure onthe holiday.“Williams 1969, 107 schreibt: „ 12) is a perfect description of a village holiday.“ (9– 108 Vgl. Kießling / Heinze 1930, 336. 109 1, 112.
60) 5. EINE ÄHNLICHE DARSTELLUNG BEI TIBULL (2, 1, 51–
In Ergänzung zur horazischen Theatergeschichte sei eine ähnliche Schilderung bei Tibull carmen 2, 1 erwähnt.110 Auch hier geht es wiederum umein ländliches Fest mittanzähnlichen Darbietungen: agricola adsiduo primum satiatus aratro cantavit certo rustica verba pede et satur arenti primum est modulatus avena carmen ut ornatos diceret ante deos agricola et minio subfusus, Bacche, rubenti primus inexperta duxit ab arte choros. huic datus a pleno, memorabile munus, ovili dux pecoris * hircus auxerat hircus oves. rure puer verno primus de flore coronam fecit et antiquis imposuit Laribus.111
Distichon (51f.) ist davon die Rede, daß die Bauern erstmals in festen Rhythmen singen. Erstmals (53f.) wird dazu auch auf einem schlichten, kunstlosen I nstrument’,112wiees sich in derNatur findet, gespielt. Als dritte undletzte Neue‘rung (55f.) wird berichtet, wie ein Bauer mitrotgefärbtem Gesicht einen Chor anführt, eine Kunst, die ihm noch nicht vertraut ist. Im vierten zitierten Distichon schließlich (57f.) ist voneinem Bock alsPreis dieRede, unddieletzten beiden Verse (59f.) handeln voneiner Ehrung fürdieLaren. WieinHorazens Ode3, 18 ist auch hier nicht auf denersten Blick erkennbar, welches Fest gemeint ist. Pöstgens113 vertritt die These, Tibull spiele auf die Ambarvalia an, er wolle jedoch weder eine genaue Schilderung der kultischen Einzelheiten geben noch bestimme er einen exakten Termin.114 Ganz ähnlich löst Bright das Problem:115 Tibull meine zwar die Ambarvalia, lasse aber Unklarheit über die Jahreszeit.116 Putnam vermerkt in seinem Tibullkommentar zu Vers 59,117 Tibull habe in diesen Versen keinbestimmtes Fest imSinn. Tatsächlich erlaubt Tibulls ArtderDarstellung keine eindeutige Zuweisung zu einem bekannten römischen Fest. Ausdrücklich gesagt wird, daß die Bauern die Laren verehrten (60). Hauptfest für die Laren waren die Compitalia. Diese wurden
Im ersten
110 AufdieÄhnlichkeit zurhorazischen Darstellung hatSchmitzer 1993 hingewiesen. 60. 111 C. 2, 1, 51– 112 Avena arens ist nach Schmitzer 1993, 126 eine singuläre Junktur. Das Epitheton spiele auf die niedere künstlerische Qualität dieser frühen Lieder an undstehe im Gegensatz zu dem (pseudo-)vergilischen ille egoquiquondam gracili modulatus avena / carmina, dasaufein Stilideal κ α τ ὰλεπ τ νverweise. ό 113 Pöstgens 1940. 114 Ebd., 49 und52. 115 Bright 1978, 8 und63. 116 Ball 1983, 162 schreibt zumProblem der Jahreszeit: „though Tibullus refers to a winter setting in thecontext of theprayer atthe altar, hedoes notintend forhis audience to imagine the celebration as happening other than in the spring time or summertime.“ 117 Putnam 1973, 159.
5. Eine ähnliche Darstellung bei Tibull (2, 1, 51– 60)
123
aber imDezember oderAnfang Januar gefeiert, was derAngabe verno deflore co-
ronam widerspräche, dem„Kranz aus Frühlingsblumen“ . Letzterer gehört nicht in denDezember. Er paßt besser zu denAmbarvalia am29. Mai. Diese jedoch stehen wiederum mit denLaren in keinerlei Zusammenhang. Auch deutet die Bekränzung desBacchus mitreifen Trauben sowie derÄhrenkranz derCeres118 eher auf die Zeit condita post frumenta. Schließlich hatte Ball völlig zu Recht der Darstellung den Charakter eines Winterfestes zugesprochen –119ein weiteres Argument gegen die Ambarvalia. DieVerwirrung scheint unlösbar. Mit Sicherheit läßt sich aber behaupten, daß Tibull auf die Ursprünge szenischer Aufführungen im weitesten Sinne abzielt. Dies wird deutlich durch die dreimalige Wiederholung vonprimum (51), primus (53), primus (56), die die Erstma-
ligkeit hervorhebt. Inhaltlich sind deutliche Parallelen zu Varro erkennbar: es herrscht eine ländliche Grundstimmung; einLarenfest, seien es die Compitalia oder ein anderes, unbekanntes Fest, liefert denHintergrund. Deräußere Rahmen stimmt also mitVarro überein. Doch auchDetails lassen eine Quelle aus derFeder des Antiquarius vermuten. Obgleich die Darstellung auf ein fröhliches Fest mit komischen Zügen deutet, wird ein Bock, τρ γ ο ά ς , als Preis ausgesetzt. Das Aition, das eher in die Tragödie gehört, erklärt also auch die Ursprünge der anderen, der lustigen Dramengattung, der Komödie. Dahinter könnte die schon oft für Varro postulierte eratosthenische Theorie stehen.120 Bisher nicht näher betrachtet wurde diebei Tibull erwähnte rote Gesichtsmaske. AlsParallele drängen sich dieinHorazens Ars Poetica erwähnten Schauspieler auf, die peruncti faecibus ora121 seien. Aus dieser besonderen Maskierung der ersten Schauspieler leitet Diomedes eine weitere etymologische Erklärung des Wortes Tragödie ab. Er beruft sich dabei ausdrücklich auf die zitierte Horazstelle: alii autem putant a faece, quam Graecorum quidam τρ γ αappellant, tragoediam nominatam ύ ύ per mutationem litterarum v in a versa [...].122 Wie es zurErklärung faex=τρ ξund davon abgeleitet T ragödie’ kam, läßt sich nicht mehr feststellen. Auch ist unklar, ‘ aneine solche Theorie dachte oder ob diese nicht von späteren obHoraz tatsächlich Grammatikern undKommentatoren in dieStelle hineininterpretiert wurde.123 Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen demBefund bei Horaz undTibull ist jedenfalls nicht zuleugnen. DieFormderDarstellung bei Tibull wirkt zwar etwas unkla-
4. 118 Bacche, veni; dulcisque tuis e cornibus uva/ pendeat; et spicis tempora cinge Ceres, 2, 1, 3– 119 Vgl. oben Anm. 116. 120 Vgl. Varro bei Donat De comoedia V, 7, p. 24 Wessner. 121 A.P. 277. 122 Diomedes I, 487 Keil. Genau die gleiche Erklärung bietet Porphyrio zu Hor. A.P. 277, vgl.
(Hg.), Pomponi Porfyrionis Commentum in Horatium Flaccum, Innsbruck 1894, 173. Vgl. auch Brink 1971, 313. 123 Es ist auffällig, daßDiomedes auch noch eine zweite Herleitung des Wortes Tragödie von ύ ξsei einanderes Wort fürWein, unddie Tragödie ρ ύ τ ξbietet, unabhängig vonderersten: τρ sei aufeinem Fest fürLiber, denGott des Weines, entstanden: alii a vino arbitrantur, propteη τ ο ςhodieque vindemia est, quia Liberalibus apud ρ ύ rea quodolim τ ξdictabatur, a quoτρύγ Atticos diefesto Liberi Patris vinum cantoribus pro corollario dabatur [...], I,487f. Keil.
A. Holder
124
IV. Varro undHoraz
rer als bei Horaz; dennoch entsprechen sich die zugrundeliegenden Anschauungen bei beiden Dichtern. ManwirddenSchluß wagen dürfen, daß Varros Aufarbeitung derrömischen Theatergeschichte alskanonisch galt undbereits vonTibull zugrunde gelegt wurde. Anders als Horaz sucht derElegiker aber nicht die Auseinandersetzung mitderantiquarischen Forschung unddemvonihr geprägten Zeitgeist.124
6. DIE LITERATURSATIREN (1, 4; 1, 10) NachderBehandlung derLiteraturbriefe undderOde3, 18 sollen zwei Literatursatiren des Horaz kurz auf varronische Anklänge untersucht werden. In der vierten undderzehnten Satire des ersten Buchs handelt Horaz, ausgehend von einer Aus-
einandersetzung mitdemOeuvre des Lucilius, zumeinen von denstilistischen Anforderungen undzumanderen von der moralischen Rechtfertigung der satura. Den letzten Punkt greift erin demEingangsgedicht deszweiten Buches abermals aufund weitet ihn aus.125 Während Horaz seine Kritik an der mangelnden ars des Lucilius in derSatire 1, 4 nicht ohne Polemik vorträgt, ist seine Beurteilung der Satire 1, 10 ausgewogener. Diese wirkt wie ein modifizierender Nachtrag, eine Klarstellung dessen, wasim ‘Eifer des Gefechts’ zu pointiert formuliert wurde.126 DaßLucilius 4), gesteht er ihmzu, gleichdieStadt „ mitreichlich viel Salz“abgerieben habe (3– wohl behält er sich dasRecht zuKritik vor: nec tarnen hoc tribuens dederim quoque cetera (5). So verteidigt Horaz sein Urteil ausSatire 1, 4, desLucilius Verse flössen zu „schmutzig“dahin, und in Anlehnung an eine Bemerkung des Lucilius über Homer fügt er hinzu, daßmaneinen Dichter in einem Punkt tadeln dürfe, ohne ihn 52).127 Wie konnte sich aber Horaz zu seinem ersten darum ganz zuverwerfen (51– Ausbruch in derSatire 1, 4 hinreißen lassen? Vermutlich gab es einen äußeren Anlaß, ein Kritikerurteil, dasLucilius’Eleganz in denhöchsten Tönen lobte, undHoraz sah sich genötigt, die rechten Maßstäbe wieder herzustellen. Tatsächlich hatte
124 Vgl. auch Reischl 1976, 166ff; vgl. dens. 1976, 143 über die Schilderung des ‘einfachen 8 mit varronischem Kolorit. Schließlich entspricht die aszendente Lebens’bei Tibull 1, 1, 1– 49, diedaswahre ‘goldene Zeitalter’im Leben derLandleute sieht, Kulturtheorie derVerse 37– . dervarronischen Anschauung, vgl. unten Kap. VII, 2: „Vergangenheit bei Varro undOvid“ Varro stellte dasWissen seiner Zeit bereit, indem er dieTeile sammelte undzueinander in Bezug setzte bzw. Zusammenhänge konstruierte. Vieles wird schon vor ihm bekannt gewesen sein, aber erst seine Bestandsaufnahme erlaubte denZugriff darauf. 125 In dieser Satire (2, 1)taucht auch derBegriff satura als Gattungsname auf. 126 Vgl. Fraenkel 1957, 128: „ To come from Satire IV to Satire X is not unlike meeting again, after aninterval of a fewyears, onewhomwehadknown as a very young man. The shape and colour of his face arestill the same, butits lines arenowmore firmly drawn andthere is in it a more determined expression which wehadnotnoticed before.“ 127 Vgl. Lucilius fr. 9, 376ff. Krenkel. Lucilius trifft andergenannten Stelle eine Unterscheidung zwischen poema undpoesis: Daspoema sei nureinkleiner Teil derpoesis. Letztere bezeichne einGesamtwerk. AlsBeispiel nennt er dieIlias unddieAnnalen des Ennius. Er fährt fort: nemoquiculpat Homerum / perpetuo culpat, neque quoddixi ante ‘poesin’; / versum unum culpat, verbum, enthymema, locumve, vgl. Leo 1913, 418. Nonius 691f. Lindsay zitiert direkt im Anschluß an diese Luciliusstelle die fast wörtlich gleichlautende varronische Unterscheidung vonpoema undpoesis (= Sat. Men. 398 Astbury).
6. Die Literatursatiren (1, 4; 1, 10)
125
Varro selbst Lucilius als ein exemplum gracilitatis gepriesen.128 Nicht nur über den Inhalt dieses Urteils dürfte Horaz die Stirn gerunzelt haben, sondern mehr noch über seine ‘Machart’. Es beruht nämlich auf der genauen Anlehnung an die genera ρ ό δ ν dicendi, die ‘Charaktere’ der Griechen, das ἁ , das ἰσχ ν ό νund das μ έ σ ο ν (uber, gracile, mediocre), und Varro ordnet jeder dieser Kategorien genau einen Meister zu:
vera autem et propria huiuscemodi formarum exempla in Latina lingua M. Varro esse dicit ubertatis Pacuvium, gracilitatis Lucilium, mediocritatis Terentium. Diese sklavische Übertragung griechischer Stilbegriffe aufjeweils genau einen römischen Repräsentanten, der dann zumParadebeispiel erhoben wird, mußte Horaz lächerlich erscheinen. Darauf zielt sein Pfeil derKritik in der Satire 1, 4, undso ist es wohl zu erklären, daß er in der Beurteilung des Lucilius ein wenig ‘über die Stränge’schlug. Nicht Lucilius selbst wollte er verwerfen, sondern dessen Kritiker. UmLucilius undseiner ars wirklich gerecht zu werden, nennt er ihn später in derSatire 1, 10 sogar limatior (65), ausgefeilter, als die von griechischer Dichtung unberührten römischen Vorgänger.129 Er ist also nicht nur geistreich und gebildet, comis et urbanus (65),130 sondern auch in der Verskunst hat er die rustikalen Anfänge, aufdie Horaz so gerne deutet, weit hinter sich gelassen. Die Satiren 1, 4 und 1, 10 verteidigen das Recht des describere, des Satirenschreibens überhaupt, nicht in plumper Manier, die um des billigen Lacherfolgs willen selbst vor Freunden nicht Halt macht,131 sondern auf feine und vornehme Art.132 Beide Satiren haben programmatischen Charakter, sie zeigen Horazens Kunstauffassung undmachen seine Vorstellung vomZweck dieses Genos deutlich. Zugleich sind sie bei aller Kritik eine Verneigung vorLucilius. Leo undJahn133 glaubten in denAnfangsversen der Satire 1, 4 eine Anknüpfung anVarro zuerkennen. In diesem Sinne äußert sich auch Fraenkel.134 Vorsichtiger vermerkt Brink, die direkten Belege dafür seien hauchdünn.135 Varro hatte ῳ δ ε ῖνder Alten Komödie denVergleichshöchstwahrscheinlich im ὀ μ μ α σ τ ν ὶ κω ο punkt zurrömischen satura gesehen undeine entsprechende Parallelisierung vorgenommen. Ganz ähnlich läßt sich auchHoraz indenfraglichen Versen vernehmen: Eupolis atque Cratinus Aristophanesque poetae,
128 Varro fr. 322 Funaioli, bei Gellius 6, 14, 6. 129 Pasoli (Convivium) 1964, 449ff. interpretiert die Stelle anders: Mit Graecis intacti carminis auctor sei Lucilius selbst gemeint. Er dichte geschliffener, als man es sonst von einem von griechischem Einfluß unberührten Dichter erwarten dürfe. Dies widerspräche aber strikt den Eingangsversen vonserm. 1, 4, in denen Lucilius ja ausdrücklich in dieAbhängigkeit griechischer Vorbilder gestellt wird. Wahrscheinlicher ist, daßHoraz hier wieder sein rusticitas-Motiv anklingen läßt unddabei diegesamte übrige römische Dichtung imAuge hat, die sich griechischen Einflüssen verschließe. 130 Vgl. Cic. De orat. 2, 25: doctus etperurbanus.
131 132 133 134 135
Serm. 1, 4, 34ff. Serm. 1, 4, 103ff. Vgl. Leo 1889, 69; Jahn 1867, 175. Vgl. Fraenkel 1957, 126. Vgl. Brink 1982, 193.
126
IV. Varro undHoraz atque alii quorum comoedia prisca virorum est, si quis erat dignus describi quod malus ac fur, quod moechus foret aut sicarius aut alioqui famosus, multa cum libertate notabant. hinc omnis pendet Lucilius, hosce secutus mutatis tantum pedibus numerisque; [...].
Horaz nennt als Hauptmerkmal der Alten Komödie das describere, man habe mit großer Freiheit zensiert (5). Die Wortwahl, notare, erinnert an einen Passus des Diomedes, in demvommale viventes notare130 die Rede ist. Es ist gut möglich, daß Diomedes undHoraz die gleiche varronische Vorlage benutzten. Letzte Sicherheit läßt sich freilich nie gewinnen, dazu sind dieBelege zuspärlich. Derrömische Leser sollte bei der Lektüre der horazischen Verse an die nota censoria denken, ein genuin römisches Institut. Gleichwohl steht das notare noch ganz eindeutig in griechischem Zusammenhang, denn erst im folgenden Vers kommt Horaz aufdas römische Pendant zur attischen Alten Komödie zu sprechen. Unmerklich undgeschmeidig fließen Griechisches undRömisches bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander über. Solche Unschärfen, gleichsam Vermischungen, könnten auf eine varronische Vorlage deuten. Die genaue Trennung von Griechischem undRömischem ist bei Varro nie möglich, nicht zuletzt aufgrund seiner Arbeitsweise desKontaminierens undParallelisierens.137 In Vers 6 wirdLucilius dann ausdrücklich in die Nachfolge der Griechen gestellt. AusdemMunde eines Horaz ist dies freilich nicht alsTadel, sondern alshöchstes Lobzuverstehen, hat doch die römische Literatur die Kunstfertigkeit der Griechen ohnehin viel zu lange geschmäht. Hier liegt eine typisch horazische Umkehr dervarronischen Argumentation vor; nicht Konkurrenz zum Griechischen, sondern gerade seine Nachahmung wird Lucilius als Pluspunkt angerechnet. Dies ist eine feine Spitze gegen die herrschende Kunstauffassung, die griechischen Einfluß zugunsten der Autochthonie zurückdrängen möchte. Ein weiterer Punkt verdient Beachtung: Lucilius unterscheide sich vonderAlten Komödie mutatis tantum pedibus numerisque (7), also nur (tantum) in metrischer Hinsicht. Dies ist höchst auffällig, zumal der heutige Leser amehesten damit gerechnet hätte, daß Horaz als Hauptunterscheidungsmerkmal den Umstand nennt, daßdie Alte Komödie szenisch dargeboten wurde, die lucilische Satire jedoch in Buchform vorlag. Diese bemerkenswerte Akzentuierung des Horaz läßt wohl den Schluß zu, daß zwischen der ‘dramatischen’ undder literarischen Form der satura tatsächlich kein tiefgreifender Unterschied bestand, was ja auch aus Varros Gebrauch desWortes hervorgeht. Horaz beschränkt sich auf die Behandlung der lucilischen Satire und läßt die desEnnius undPacuvius beiseite. Er hatdamit einen begrenzteren Satirenbegriff als Varro. Deshalb kann er Lucilius auch als ‘inventor’der satura einführen.138 Dies ist
136 Diomedes I, 485 Keil. 137 Auch Kießling / Heinze 1921, II, 70 (zur Stelle) halten Varro als Gewährsmann für wahrscheinlich.
138 Sat. 1, 10, 48; vgl. auch sat. 2, 1, 63: ausus / primus in hunc operis componere morem.
carmina
7. Die Satire 2, 5
127
nicht notwendigerweise einWiderspruch zu Varro, es verrät aber, daßer einen anderen Blickpunkt gewählt hat als dieser. DerAntiquar tendiert dazu, Literatur nach ihrem Alter undihrer Verwurzelung in römischen Volksbräuchen zubeurteilen. Er ist bestrebt, alles aufseine Anfänge zurückzuführen. DemDichter Horaz ist solches Denken fremd, fürihnzählt diekünstlerische Qualität mehr alsdieTradition.
Es fließt also gewiß
varronisches Gedankengut in dieLiteratursatiren ein, daßHoeinkluges undgeschicktes Compliment nach razdieses aber, wieLeo139 meinte, in „ anVarro, derinLiteraturfragen damals große Autorität genoß, gekleidet antiker Art“ habe, läßt sich gewiß nicht behaupten. Im Gegenteil, der attackierte ‘criticus’ Varro
wirdnicht besonders erfreut gewesen sein.
7. DIE SATIRE 2, 5 Die Selbstbehauptung gegen die archaisierende Ästhetik Varros und der ‘Varroniani’ gehört sozusagen zum T agesgeschäft’ des Venusiners, under macht sieimmer wieder, bald offen, bald‘verhüllt, zumThema. In denoben behandelten Satiren 1, 4 und 1, 10 klärt Horaz sein Verhältnis zu Lucilius undlegt damit auch einBekenntnis zumlabor limae ab, das sein ganzes künstlerisches Schaffen durchziehen wird. In derSatire 2, 1 verteidigt er seine Dichtung gegen so widersprüchliche Vorwürfe wie, sie überschreite einerseits in ihrer Schärfe dengattungsüblichen Rahmen, sei aber andererseits sine nervis, zufade; solche ‘Gesetzgeber’, die ihm vonallen Seiten absurde ‘leges’140indenWeg stellen wollen, können kaum erwarten, besonders ernst genommen zuwerden, sodasFazit des Dichters. Die Satire ist eine sehr ‘persönliche’Gattung,141 indersich derDichter keine Vorschriften gefallen lassen will –Vorschriften wie sie vielleicht aus dem Kreis umVarro erhoben wurden. Immerhin hatte derArcheget derMenippea in Romein (leider verlorenes) Handbuch De compositione saturarum verfaßt, in demer wohl denzumindest aus heutiger Sicht hoffnungslos erscheinenden Versuch unternommen hatte, für ein so proteushaftes Gebilde wie die Satire Kompositionsregeln aufzustellen. Horaz wird es zurKenntnis genommen, sich aber nicht daran gebunden gefühlt haben, zumal er, anders als Varro, keine Menippeen schrieb –miteiner Ausnahme: bereits Boll hat die Satire 2, 5 als in der Nachfolge des Menippos von Gadara stehend erkannt.142 Sie ist ein Gespräch zwischen Odysseus und Teiresias in der Unterwelt undhat, im Gegensatz zu den voraufgehenden Satiren, in denen Horaz ebenfalls andere Personen anseiner Statt sprechen läßt,143 einen mythologischen Rahmen.144 Teiresias empfiehlt Odysseus, sein heruntergekommenes Vermögen durch Erbwie er sich dabey 72), undgibt Anweisungen, „ schleicherei wieder aufzufüllen (23– 139 Leo 1889, 80. 2: ultra / legem tendere opus. 140 Vgl. serm. 2, 1, 1– 141 Vgl. Lefèvre 1993, 86. 142 1913, 144; vgl. auch Weinreich 1916, 413 undLefèvre 1993, 131. 143 Vgl. Wieland 1786, 438. 144 Nekyomantien waren, wie sich heute noch aus denThemen Lukians schließen läßt, gewiß auch bei Menippos vonGadara beliebt. Vondort magHoraz dieAnregung erhalten haben.
128
IV. Varro undHoraz
zubenehmen habe, in Form einer
ordentlichen Kunst-Theorie [...]; einer Theorie, die durch denernsthaften didaktischen TondesVortrags unddenehrwürdigen Charakter des Lehrers zu einem Meisterstück der Ironie wird, undals satirische Composizion einen derersten Plätze unter allen Werken unseres Dichters behauptet.“145 Freilich karikiert Horaz ähnlich wie Varro im mythologischen Gewand zeitgenössische Zustände, doch tuter dies in einer brillanten, ausgefeilten Art, die das genaue Gegenteil des schon durch seine Uneinheitlichkeit notwendigerweise etwas ungeschlacht wirkenden Prosimetrum war, welches derReatiner bevorzugte.146 Indem er ein ‘Handbuch fürdenErbschleicher’ schrieb, legte er zugleich eine ‘ars’des Satireschreibens vor, undzwar nicht in einem abstrakten Lehrwerk, sondern anhand eines lebendigen Beispiels. Dies bedeutete, wenn schon nicht eine theoretische, so docheine praktische Auseinandersetzung mitVarro,147 ein„Meisterstück derIronie“ wieWieland treffend bemerkte.
8. DIE SATIRE 2, 3 DieSatire 2, 3 nannte Weinreich148 eine „bewußte undbeabsichtigte Concurrenzsaρ ω ν ᾶ ιπ τ ςἄφ tire“zu Varros Eumenides. In beiden wird die stoische Maxime ὅ μ α ίν ε τ α ι vorgeführt, nur der Weise sei vernünftig. Varro hatte „Ehrgeiz“ , , „Genußsucht undVöllerei“und „Aberglauben“angeprangert.149 Unter Habgier“ „ die gleichen Hauptlaster, ambitio, argenti amor, luxuria, superstitio gliedert auch Horaz seinen sermo.150 Die Satire 2, 3 also eine Neuauflage von Varros Eumenides? Keineswegs. Horaz behandelt das Thema lockerer, ohne jenen ‘wissenschaftlichen Ernst’, den Varro auch in den Menippeen nicht ganz abzulegen vermochte. „ La Ménippée deVarron paraît plus complexe, plus chargée d’incidents, plus savante quela satire d’Horace. Horace se tient volontairement dans les limites de l’observation morale. Il ramène au développement d’une même idée tous les détails decette longue satire. Il est plus simple, il a plus d’unité, il est plus profond que son davancier. Auxvariations d’unthème connu, il mêle le piquant de la parodie. Autant qu’onpeutjuger d’uneoeuvre entière auregard decourts fragments, la
145 Wieland 1786, 439. ZurGliederung vgl. Kießling / Heinze 1921, 281. 146 Vgl. Lejay 1911, 254: „Horace n’aimait certainement pas le mélange deprose et devers qui caractérise les Ménippées. Varron avait écrit dessatires d’unautre genre [...]. Dans les unes et dans les autres, sonstyle devait présenter cette recherche fatigante à la longue, cette prédilectiondesmots rares ouvieillis, cette marquetterie demots grecs, cette obscurité quenous trouvons dans les fragments desMénippées.“ 147 Vgl. Weinreich 1916, 413; Lefèvre 1993, 131. Eine ähnliche Form der ‘praktischen’ Auseinandersetzung mit Varro sieht Witke 1963 in c. 1, 9, das Varros Sesqueulixes (460ff. Astbury) aufgreife und‘verfeinere’. 148 1916, 414. 149 Nach Woytek 1986, 336; vgl. Lefèvre 1993, 136. 81) undhält sich auch im folgenden 150 Horaz legt die Gliederung Stertinius in denMund (77– 223), lu157), ambitio (158– daran, unter Vertauschung derersten beiden Punkte: avaritia (82– 280) undsuperstitio (281– 295). Die Gliederung ist zitiert nach Lefèvre 1993, 134. xuria (224–
9. Die Satire 2, 4
129
151Die Pointe der horazischen ‘Bearbeitung’ satire d’Horace paraît plus achevée.“ lag aber darin, daß er einen Narren auftreten ließ, der seinerseits die Rede eines Narren wiedergab.152 Indem Horaz seine eigenen Gedanken in dieser doppelten Brechung vortrug, ironisierte er sich selbst. „ Man wird festzustellen haben, daß Horaz mit der Stertinius-Rede sein erstes Satiren-Buch in genialer Weise parodiert :153EinMeisterstück derSelbstironie! hat“
9. DIE SATIRE 2, 4 Auch die ‘Feinschmeckersatire’ 2, 4, in der Horaz denEpikureer Catius mit großer Wichtigkeit einen wissenschaftlichen Vortrag über das Essen halten läßt, hat in gewisser Weise ein ‘varronisches Thema’. Sie läßt Varros Menippeische Satire Π ρ ε ὶ μ ά τ ω νanklingen.154 Darin tritt ebenfalls einer, der sich für einen Philosophen, ἐδ εσ wohl der Schule Epikurs, hält, auf unddoziert. Er erweist sich allerdings als ein maßloser Schlemmer, dervonden ausgesuchtesten Delikatessen und dekadentesten Extravaganzen der römischen Küche schwärmt.155 Keine Übertreibung ist dem Dichter, „ der sich im Fahrwasser des Kynismus“156bewegt, zu stark. Die Satire stellt einen Angriff gegen denVulgärepikureismus dar, wieihnVarro auch an andererStelle schon in aller Deutlichkeit geführt hatte.157 Woytek bemerkt zu der Satire, „ daßdiephilosophisch fundierte undausgerichtete Kritik in diesem Punkte mit dem gesunden Menschenverstand unddennostalgischen Vorstellungen eines römischen Patrioten zusammengeht.“158Genauso wollte Varro interpretiert werden, under hat die Farbe dick genug aufgetragen, umjedem Mißverständnis vorzubeugen. Sehr viel subtiler geht Horaz vor: Catius ist ein wahrer Epikureer, demnichts fremder ist als sinnlose Völlerei. Lächerlich macht er sich dadurch, daßer einen Kult um die Essenszubereitung zelebriert:159 er ißt nicht, umzu leben, sondern er lebt, um zu essen. Fürdaseigentlich Wichtige des Lebens bleibt ihmkein Gedanke mehr, weil schon die Zurüstungen dazu all seine Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Was Catius vertritt, ist nicht falsch, aber die ArtundWeise, in der er seine ‘Forschun132. 151 Lejay 1911, 382; vgl. Lefèvre 1993, 131– 358: „ Mit Einem Worte: er legt 152 So Lefèvre 1993, 134 unter Berufung aufWieland 1786, 357– denganzen Discurs demDamasippus, einem damals in ganz Rom bekannten Narren, in den Mund; undauch diesem nicht aus seinem eigenen Stocke, sondern aus demMunde eines andern Narren, nehmlich desStertinius, eines philosophischen Marktschreyers, demsein Stoischer Bart undMantel, und240 Bücher voll Declamazionen und Argumentazionen über die Lehrsätze dieser Secte eine Art von Recht gaben, den geschwornen Contradictor des ganzen menschlichen Geschlechtes
zumachen.“
153 Lefèvre 1993, 134. 154 Vgl. Lejay 1911, 446. 66. 155 ZurRekonstruktion vgl. Rötter 1969, 65– 156 Hense 1906, 1. 157 Vgl. aus demModius: et hoc interest inter Epicurum et ganeos nostros quibus modulus est vitae culina (Sat. Men. 315 Astbury). 158 Woytek 1986, 327. daßman aus der Essensbereitung 159 Vgl. Lefèvre 1993, 120: Horaz waram meisten zuwider, „ eine Wissenschaft machte.“
130
IV. Varro undHoraz
gen’betreibt, ist demGegenstand unangemessen. Horaz übt also nicht wie Varro
Kritik an besinnungsloser Prasserei –diese ist ohnehin indiskutabel – , sondern er ironisiert einen scheinbar Vernünftigen, der nicht merkt, daß seine ‘Gastrosophie’160ihn zu einem ebenso beschränkten Narren gemacht hat, wie den gedankenlosen Gourmand, demer sich überlegen glaubt. Horazens Satire ist feinsinniger undhintergründiger als die Varros: ein Meisterstück der „Persifflage“,161ließe sich nachWieland urteilen.
10. RÜCKBLICK
ImMittelpunkt deszweiten Epistelbuchs steht Horazens eigene Literaturauffassung, dieergleich einer ‘Sphragis’ unter sein gesamtes dichterisches Werk setzt. Jedoch schon indenSatiren hatte er–wennauch versteckter –die Auseinandersetzung mit derherrschenden Kunstauffassung, mit Varro und den ‘Varroniani’, gesucht. Im Vergleich zuLivius hat Horaz, anders als dieser, nicht das improvisierte Theater, die Atellane, die sich ja letztlich auf Laienniveau bewegte, im Auge, sondern ihn interessiert allein die ‘hohe Literatur’, das ‘professionelle’ Drama; sein Ziel ist es, derars indenAugen derKritik zuihrem Recht zuverhelfen. Die vondenRomantikern so hochgepriesene Urtümlichkeit entlarvt er als Grobschlächtigkeit. Hauptvorwurf gegen dierömische Literatur ist ihre rusticitas. Sehr viel positiver nimmt dagegen Tibull das rusticitas-Motiv auf. Er freut sich ander anheimelnden, ländlichen Atmosphäre, die er in Varros Quelle vorgefunden hat, undüberträgt sie in sein eigenes Gedicht. Mit Varro als Quelle geht Horaz freier umals Tibull. Er hält sich allenfalls in denschlichten Fakten an seine Vorlage, in derBewertung schlägt er völlig eigene Wege ein. Gerade deshalb ist es so schwierig, varronisches Gedankengut aus den Briefen, Satiren undOdenzurekonstruieren. Jeder Vers gehört Horaz selbst; wo er aufVarros Oeuvre zurückgreift, daprägt er seinem Gegenstand eine eigene Tendenz auf. In gewissem Sinne spielt er mitVarro undschafft neue Variationen auf varronische Themen. Die mitunter schwerfällige Art des ‘reatinischen Bauernsohnes’ verschwindet hinter dereleganten Urbanität desAugusteers.162
160 Wieland 1786, 430. 161 Wieland 1786, 415. 162 Vgl. Leo 1912, 25f.: „ Der aber das neue Gesetz in Dichtung undLehre verkündete und mit demalten brach, warHoraz. Unromantisch von Natur undjeder unklaren Neigung widerstrebendschob er denalten Plunder, als sein Wächter Varro zu denVätern versammelt war, mit starker Handbeiseite undverwarf dieganze archaische Poesie vomSalierlied bis Atta [...].“
V. VARROS VORLAGEN ZUR THEATERGESCHICHTE 1. KOMOI UNDLENÄEN
In denbeiden vorangegangenen Kapiteln sollte unter Rückgriff die bestehende Forschungsliteratur, Varronisches bei Livius einerseits und Horaz andererseits aufgezeigt werden. Dabei kames nicht so sehr auf bloße ‘Quellenforschung’ an –der varronische Hintergrund beider bisher besprochenen Passagen wurde in denletzten Jahren von niemandem mehr ernsthaft angezweifelt – , sondern es sollte der spezifisch eigene Umgang zweier Augusteer mitihrer Vorlage vor Augen geführt werden.
Dieunterschiedliche Blickrichtung, die Livius undHoraz einnehmen, jener auf improvisierte Darstellungen, dieser aufdasprofessionelle Theater, ließen vermuten, daßdiedoppelte Sehweise bereits bei Varro vorgeprägt war. Diese Hypothese läßt sich jedoch nur aus Fragmenten, Zitaten oder bloßen Andeutungen bei späteren Grammatikern stützen. Varros Arbeitsweise, seine Orientierung am griechischen Modell zurErklärung römischer Phänomene, wurde gezeigt. Es soll nunim folgenden der Versuch unternommen werden, Varros griechischen Vorbildern aufdieSpur zukommen undzuzeigen, wie er seine griechischen Gewährsmänner ‘imrömischen Gewand’neupräsentierte. Die Lektüre griechischer Quellen zurUrsprungsgeschichte des Dramas fördert in der varronischen Darstellung ähnliche Befunde zutage und legt gleichsam das ‘Rohmaterial’ des römischen Antiquars frei. Aristoteles nennt in seiner Poetik alseine derUrsachen dichterischen Schaffens ε ιμ ῖσ θ α ι, imitari, sei den Menschen von Natur aus eine anthropologische: das μ mitgegeben.1 So ist es leicht verständlich, daßdie ersten Versuche auf demGebiet des Nachahmens sich von selbst, aus demStegreif ergaben. Folgerichtig läßt Ariά τω μ ν ,2 herια χ σ τ εδ ο σ κτ ὐ ῶ να stoteles dasDrama auch ausderImprovisation, ἐ auswachsen. Stegreifspiel undImprovisation sind somit alsBeginn des Dramas gut belegt –eine Theorie, dieja auch sehr nahe liegt. Wie hat man sich jedoch diese vorliterarische Frühform vorzustellen? Hierüber schweigt Aristoteles. Hinweise bietet indes dieÜberlieferung, teils in Form von schriftlichen Zeugnissen, teils von Vasenbildern. Die relevanten Quellen sind bei Pickard-Cambridge3 zusammengestellt undgeordnet. Hier sollen vorallem dieUrsprünge der Komödie interessieren. μ ο , eine Art Umς AmAnfang der Komödie steht, etymologisch betrachtet, der κῶ zug, begleitet von allerhand Scherzen (–es ist vielleicht der Vergleich zu den heutigen Karnevalsumzügen erlaubt). Solche κῶ μ ο ι, die als ‘Prototyp’ der späteren dramatischen Form gelten, konnte Pickard-Cambridge auf Vasenbildern nachweisen.4 Dargestellt sind als Tiere verkleidete Schauspieler.5 Daß solche Tierverklei1 2 3 4
Arist. Poet. 4, 1448 b 5. 24. Arist. Poet. 4, 1448 b 23– Vgl. Pickard-Cambridge 1962. Vgl. ebd., 153f.
132.
V. Varros Vorlagen zurTheatergeschichte
dungen alles andere als ungewöhnlich waren, zeigen die Titel von Aristophanes’ Komödien. Vielleicht dachte Aristoteles nicht zuletzt an solche Darbietungen, als er ρ φ α ίω η ὶτ ντ ορ ῶ νθ ῶ dieFreude amAnblick vonμ νἀτιμω τά τ ω νeine anthropologische Grundgegebenheit nannte.6 Es läßt sich nicht mehr beweisen, daß solche Umzüge von Gesängen begleitet waren, derVergleich mitähnlichen Bräuchen bei anderen Völkern macht es aber wahrscheinlich.7 Dabei waren gewiß auch satirische Attacken aufdieUmstehenden nicht ausgeschlossen. Ein Scholion zu Theokrit gibt eine Vorstellung vom Ablauf eines solchen μ ο κ ῶ .8 Die Situation ist folgende: nach einer Stasis in Syrakus, deren versöhnliς ches Ende mandemWirken derArtemis zuverdanken glaubte, brachte die Landbevölkerung (ἄ ρ γ ο ικ ο ι) dieser Gottheit Geschenke und(Dank-)Gesänge dar. Diesen bäuerlichen Liedern habe manspäter einen festen Platz eingeräumt undsie zur Gewohnheit werden lassen (ἔ ρ π ο ίκ ε ιτ γ ατα ω δ ῖςἀ ν ῶ α α ὶ νκ α κ νἔδω ο ῖςτόπ ή θ ). Die Teilnehmer an dieser Prozession hätten Brot mit sich geführt, in ε ια ν ν υ σ das verschiedene Tiergestalten eingebacken gewesen seien, sowie Saatkörner und Wein in aus Ziegenhaut gefertigten Schläuchen. Den Entgegenkommenden seien Trankopfer gespendet worden. Der ganze Umzug mußmit einer ArtWettstreit, eiγ ώ nemἀ ν , verbunden gewesen sein; denn es wird berichtet, der ‘Sieger’habe das Brot der ‘Besiegten’bekommen undin der Stadt bleiben dürfen. Die ‘Besiegten’ dagegen seien indieumliegenden Dörfer gezogen undhätten π α ιδ ιᾶ τ ο ςκ α ὶγέλω ς μ ε ν αsowie Segenssprüche gesungen. Ein Motiv dafür sei es gewesen, den χ ό ἐ ο ν τ γ Lebensunterhalt zubestreiten: ἀ ε ε ίρ ςἑα τ υ ά . Völlig zurecht weist ς ο ὰ ςτροφ ῖςτ Pickard-Cambridge9 auf eine Parallele bei Diomedes hin, der unter Berufung auf Varro berichtet, die attische Jugend sei quaestus sui causa durch die Dörfer gezogen und habe ihre carmina zum besten gegeben.10 Varro rechtfertigt damit seine (falsche) Etymologie derKomödie, diedenBegriff als vonκῶ μ α ιabgeleitet erklärt: μ α ι entluventus Attica [...] circum vicos ire solita fuerat, wobei die vici den κ ῶ sprechen. Inhaltlich paßt Varros Erklärung freilich sehr gut, denn das dörfliche Mi-
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Ebd., Tafel VII, Abb. 23 (Attische Amphore, Berlin, Nr. 1697). Arist. Poet. 4, 1448 b 12. Vgl. Pickard-Cambridge 1962, 154 und151, Anm. 2. C.T.E. Wendel (Hg.), Scholia in Theocritum vetera, Leipzig 1914, 2 und bei Pickardγ ο ὴ ύ ις σ ο α κ ςλό ςοὗτο α ρ η θ Cambridge 1962, Appendix S. 296: ὁδ ς . ἐ ῖςΣ υ ντα ὲἀ λ θ ή ο υ ς ρ λ έ ν ντ ο ῦπ θ α τ ω ν ν ο ια ό ,ε ἰςὀμ νφ ῶ ιτ λ ο λ νπ λ η ῶ ο α ὶπ ςκ ν έ τ εγενομ ο ώ σ ε τά σ ςπ ρ ο ικ ο ι γ ῆ ς ἱδ .ο ὲἄ ιτ ῆ ςδιαλλαγ π ο ίαγεγονένα τ τ ο εεἰσελθόν ἰτ ιςα ςἔδοξ νἌρτεμ ε ν ω η σ α ν , ἔπ μ ν τ ε ε ιτ ατα > ἀγροίκ ύ ν ν ςἀ ῶ ῖς