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German Pages 350 [352] Year 2017
Tobias Töpfer
Wem gehört der öffentliche Raum? Aufwertungs- und Verdrängungsprozesse im Zuge von Innenstadterneuerung in São Paulo
Geographie
Megacities and Global Change Megastädte und globaler Wandel
Franz Steiner Verlag
Band 21
Tobias Töpfer Wem gehört der öffentliche Raum?
megacities and global change megastädte und globaler wandel herausgegeben von Frauke Kraas, Martin Coy, Peter Herrle und Volker Kreibich Band 21
Tobias Töpfer
Wem gehört der öffentliche Raum? Aufwertungs- und Verdrängungsprozesse im Zuge von Innenstadterneuerung in São Paulo
Franz Steiner Verlag
Diese Publikation wurde mit finanzieller Unterstützung aus den Fördermitteln des Vizerektorats für Forschung der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und mit Mitteln der Fakultät für Geo- und Atmosphärenwissenschaften der Universität Innsbruck sowie des Instituts für Geographie der Universität Innsbruck gedruckt.
Umschlagabbildung: Nebeneinander von formellem und informellem, ambulantem Straßenhandel in der Fußgängerzone Rua General Carneiro im Zentrum São Paulos, 2008 © Tobias Töpfer
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Druck: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11773-9 (Print) ISBN 978-3-515-11774-6 (E-Book)
Danke / ObrigaDO! Eine Dissertation ist bekanntlich eine individuelle Qualifizierungsarbeit – einerseits. Andererseits habe ich ihre Entstehung und Fertigstellung vielen zu verdanken, die in der unterschiedlichsten Weise zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben. Ohne deren Mithilfe wäre alles nichts bzw. diese Arbeit nicht zustande gekommen. In chronologischer Reihenfolge seien diejenigen genannt, die Zeit und Nerven geopfert und mir dabei geduldig und verlässlich mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben. Von den frühen Anfängen mit der Konzipierung der Forschungsidee bis zur Korrektur und Kommentierung der vorliegenden Arbeit war Martin Coy als Doktorvater ein unermüdlicher Begleiter auf dem zurückliegenden Forschungsweg. Herzlichen Dank für viele spannende Gespräche, hilfreiche Anregungen, kritische Fragen und die erforderliche Geduld! In São Paulo gilt mein Dank vielen Weggefährten, ohne deren Mithilfe die Ergebnisse der Feldforschungen nicht hätten zutage gefördert werden können. Durante as pesquisas de campo em São Paulo tive a colaboração de muita gente. Suas contribuições foram cruciais para a realização deste trabalho. Hervé Théry e Neli Aparecida de Melo se dedicaram com muito empenho na co-orientação em São Paulo. Agradeço muito pelas dicas, recomendações e ideias! Agradeço também a minha anfitriã Maria Teresa Paliologo de Britto e sua família que me recebeu de braços abertos e me deu um significativo apoio durante os trabalhos em São Paulo. Muito obrigado pela hospitalidade nota 10! Qualitative Feldforschung lebt in ganz entscheidendem Maße von der Bereitschaft von Menschen, sich langen, bohrenden und mitunter recht akademischen Interviews und Gesprächen auszusetzen. Dankenswerterweise war dieses Bereitschaft in São Paulo fast grenzenlos. Os entrevistados e interlocutores desempenharam um papel importante e decisivo durante as pesquisas de campo. Obrigado pelo tempo, pela paciência e por todas as informações preciosas. Vocês contribuíram muito com a minha pesquisa! Der Schreibprozess dieser Arbeit wurde von vielen guten Freund_innen und Kolleg_innen begleitet und unterstützt. Frank, Gela, Katha, Peter und Verena haben meine Arbeit mit ihrem Korrekturlesen nicht nur orthographisch, sondern auch inhaltlich entscheidend verbessert. Francisco, Roberto und Guilherme haben mir immer wieder bei der akustischen Entzifferung schwieriger portugiesischer Interviewpassagen geholfen. Melanie war maßgeblich bei der Erstellung der Grundkarten beteiligt und Fernando, Robert und Kati haben die Arbeit schlussendlich souverän in Form gebracht. Euch allen ein großes Dankeschön! Einen ganz entscheidenden Anteil am Zustandekommen dieser Arbeit haben auf verschiedenen Ebenen alle aktuellen und ehemaligen AGEFler_innen. Als Mitglieder der Arbeitsgruppe Entwicklungs- und Nachhaltigkeitsforschung habt Ihr immer wieder wertvolle Impulse und Denkanstöße gegeben und mir in der Endphase den Rücken freigehalten und Aufgaben abgenommen, damit ich mich auf die Fertigstellung der Dissertation konzentrieren konnte. Vielen Dank Euch!
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Danke / Obrigado
Andere haben zwar nichts unmittelbar zu dieser Dissertation beigetragen. Mittelbar aber umso mehr, als dass sie dafür gesorgt haben, dass mir auf dem langen Weg das Leben jenseits des Forschens und Schreibens nicht abhandenkam! Liebe Freundinnen und Freunde in Innsbruck, Hamburg, Siegen, Tübingen und an all den anderen Orten, vielen Dank für viele gute und inspirierende Abwechslungen und damit die Möglichkeit, die Akkus immer wieder aufzuladen! Zum Schluss gilt ein großer Dank meinen Eltern, die mich auch auf dieser Etappe meines (wissenschaftlichen) Lebens von Anfang bis Ende in vielfältiger, nur schwer zu artikulierender und vielleicht gerade deshalb umso wichtigeren Art und Weise begleitet haben. Ein herzliches Dankeschön an Euch!
ZuSAMMENFASSuNG Metropolen weltweit unterliegen einem wechselseitigen Konkurrenzdruck um als Standorte für die Wirtschaft attraktiv zu bleiben. um sich behaupten zu können, bedarf es Alleinstellungsmerkmalen. Ein solches Merkmal kann das Zentrum einer Metropole darstellen. Vormals wenig beachtet, rücken Innenstädte so seit einiger Zeit wieder in das Blickfeld der Stadtplaner und -politiker. Dies gilt für Metropolen des Globalen Nordens, seit jüngerer Zeit aber auch für solche im Globalen Süden. Auch in Brasilien mit seinem hohen Verstädterungsgrad wird der Fokus wieder stärker auf die Innenstädte gelegt, nachdem diese über einige Jahrzehnte zugunsten neuer Zentrumsfragmente weniger beachtet wurden. Mit Maßnahmen der Innenstadterneuerung soll die Attraktivität dieser zentralen Räume gesteigert werden. Angesichts der in brasilianischen Städten zu beobachtenden sozioökonomischen Disparitäten, sind die Konsequenzen dieser Entwicklung für bestimmte Bevölkerungsschichten unterschiedlich. Die Maßnahmen fokussieren oft auf bauliche Maßnahmen wie Gebäudesanierungen ebenso aber auch auf den öffentlichen Raum. Dieser bietet der öffentlichen Hand unmittelbar die Möglichkeit initiativ zu werden. Auch hierbei kann es sich um physische Instandsetzungsmaßnahmen beispielsweise von Plätzen handeln. Eine große Rolle spielen aber auch institutionelle Neuerungen die den Zugang und die Nutzung der öffentlichen Räume betreffen. In São Paulo sind in jüngerer Vergangenheit verschiedene Erneuerungsmaßnahmen im öffentlichen Raum erfolgt. Dabei steht dessen Aufwertung im Vordergrund. Ziel der Interventionen war es, Bewohner – primär der Mittelschicht – wieder für den öffentlichen Raum des Zentrums zu interessieren. Dafür wurden sowohl bauliche Maßnahmen umgesetzt, als auch Regelungen für die Nutzung erlassen. Diese gehen oft indirekt oder direkt zu Lasten benachteiligter Zentrumsnutzer wie Obdachlose, (informelle) Straßenhändler und Recyclingmaterialsammler. Neben der Stadtverwaltung gibt es eine Vielzahl von Organisationen, die sich mit Fragen der Innenstadterneuerung und/oder des öffentlichen Raums implizit oder explizit auseinandersetzen. Zum einem gibt es die, den unternehmen und der Mittelschicht im Zentrum nahestehen und sich hauptsächlich für die Aufwertung engagieren. Zum anderen gibt es aber auch solche, die sich für die benachteiligten Bevölkerungsgruppen und für die Möglichkeit ihres Verbleibs im Zentrum einsetzen sowie soziale Bewegungen der Betroffenen selbst, die versuchen den Verdrängungsprozessen Widerstand entgegen zu setzen. In der Arbeit wird gezeigt, dass die Versuche, öffentliche Räume für gewisse – meist sozioökonomisch schlechter gestellte – Akteure zu negieren, sowohl für die unmittelbar betroffenen Akteure zu teilweise massiven Benachteiligungen führen können, als auch für den Fortbestand des liberalen Selbstverständnisses darüber, was öffentlicher Raum bedeutet, eine Gefahr darstellen können. Gleichzeitig bietet dieses umfassende Selbstverständnis und die Rückbesinnung darauf wiederum die Chance, die tatsächlichen Nutzungen und Aneignungen neuerlich daran zu orientieren und damit die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit öffentlichen Raums zu verringern.
SuMMARy To whom does public space belong? Upgrading and displacement processes in the course of downtown renewal in São Paulo Metropolises around the world are subject to mutual competitive pressure to remain their attractiveness for the economy. In order to hold one’s ground, unique selling propositions are needed. The center of a metropolis may be considered such a feature. Downtown areas previously received little attention, but for some time urban planners and -politicians are paying increased attention to this topic again. This applies to cities of the Global North, but recently it also becomes relevant for those in the Global South. In Brazil, with its high degree of urbanization, the focus lies once again on the inner cities, after having received less attention over several decades in favor of new center-fragments. Measures of downtown renewal should raise the attractiveness of these central areas. Given the socio-economic disparities observed in Brazilian cities, the implications of these trends for determined population groups are different. The measures often focus on structural interventions such as building renovations, but also on the public space. It directly provides the public authorities the ability to take the initiative. Again, physical rehabilitation measures of places, for example, may be part of these initiatives. However, concerning the access and use of public spaces, institutional innovations play an important role as well. In the recent past and mainly for upgrading purposes, various renovation measures have been carried out in São Paulo’s public space. The aim of those interventions was to re-establish resident’s – primarily the middle class’ – interest in the public space of the city center. For this purpose structural measures were implemented, as well as forms of use regulated. These often indirectly or directly provoke problems for disadvantaged users such as homeless, (informal) street traders and recycling material collectors. In addition to the city government, there are a number of organizations which implicitly or explicitly deal with questions concerning inner-city urban renewal and public space. On the one hand, there are businesses and the middle class organizations, mostly committed to upgrading. On the other hand, there are those working for disadvantaged groups and their possibilities to stay in the center. Furthermore, social movements of people affected by the displacement processes try to resist negative change. This work shows that the efforts to negate public spaces for certain – mostly socio-economically worse off – actors can partially lead to massive disadvantages for both the actors concerned as well as for the existence of liberal self-understanding of what public space means. At the same time, this comprehensive self-understanding of public space offers the chance to orient the actual forms of use and appropriation, which could help to reduce the discrepancy between expectations and reality in public space.
INHALT Danke / ObrigaDO! ..................................................................................................................... 5 ZuSAMMENFASSuNG ................................................................................................................... 7 SuMMARy ....................................................................................................................................... 8 INHALT ............................................................................................................................................. 9 ABBILDuNGSVERZEICHNIS...................................................................................................... 11 TABELLENVERZEICHNIS ........................................................................................................... 13 ABKüRZuNGEN ........................................................................................................................... 14 1 1.1 1.2 1.3 1.4
EINLEITuNG ................................................................................................................... 17 Räumliche Fokussierung der Fallstudie ............................................................................ 18 Grundannahmen, Zielsetzungen und Fragestellungen ...................................................... 21 Maßstäbe und Methoden der empirischen untersuchung ................................................. 23 Aufbau der Arbeit .............................................................................................................. 24
2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.4.1 2.2.4.2
THEORETISCHES FuNDAMENT ................................................................................ 27 Innenstadterneuerung und ihre auslösenden Momente ..................................................... 27 (Innen)städtischer Wandel und seine Konnotationen ........................................................ 27 Innenstädtischer Wandel und Zentrumsverlagerungen – was war zuerst? ........................ 29 Neoliberalisierung und Globalisierung als Motive für Innenstadtinterventionen ............. 31 Interventionen in der Innenstadt – die Hydra der Begriffe ............................................... 35 Interventionen in der Innenstadt – ein überblick .............................................................. 43 Der öffentliche Raum ........................................................................................................ 50 Zugänglichkeit................................................................................................................... 59 Nutzung ............................................................................................................................ 63 Aneignung ........................................................................................................................ 67 Sicherheit und öffentlicher Raum...................................................................................... 72 Kriminalisierung von Armut ............................................................................................. 77 Exklusion und Inklusion.................................................................................................... 81
3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.2 3.3 3.4
RAHMENBEDINGuNGEN IN BRASILIEN ................................................................. 85 Stadtentwicklungstendenzen in Brasilien.......................................................................... 85 Von der Stadt zur Metropole und zurück – urbanisierung in Brasilien ............................ 85 Disparitäten, Segregation und Fragmentierung – Intraurbane Entwicklungen in brasilien ........................................................................................................................ 89 Stadtplanung und Stadtpolitik in Brasilien........................................................................ 95 Innenstadtentwicklung in Brasilien ................................................................................ 107 Innenstadterneuerungsmaßnahmen in brasilianischen Metropolen .................................111
4 4.1 4.2 4.3 4.3.1 4.3.2
FALLSTuDIE SãO PAuLO .......................................................................................... 137 Vom Suchen und Finden – das methodische Vorgehen ................................................... 137 São Paulo und seine gesamtstädtische Entwicklung ...................................................... 146 Das Zentrum .................................................................................................................... 157 Das Zentrum ist das Zentrum ist das Zentrum – der Versuch einer Eingrenzung ........... 157 Die Entstehung des Zentrums ........................................................................................ 164
10 4.3.3
inhalt
4.6.3
Von reichen und armen Zentren oder: Die Zentren der Minderheit und das Zentrum der Mehrheit ................................................................................................................... 168 Das Zentrum São Paulos in der Gegenwart .................................................................... 173 Interventionen in der Innenstadt von São Paulo.............................................................. 180 Hilfe zur Fremdhilfe – Anreize für private (Immobilien)Investitionen .......................... 181 Wohnen ist zentral – die Schaffung von Wohnraum für wechselnde Zielgruppen ........ 189 Direkte Eingriffe im Zentrum durch öffentliche Erneuerungsmaßnahmen ................... 193 Öffentlicher Raum in São Paulo...................................................................................... 206 Schlaglichter auf den öffentlichen Raum São Paulos in der Vergangenheit ................... 207 Öffentlicher Raum, das ist … – Aussagen von Stakeholdern in São Paulo .................... 214 Praça da Sé und Praça da República – zwei zentrale Plätze und ihre Reformen 2006 / 2007 ....................................................................................................................... 222 Institutionelle Regelungen als Mittel der Revitalisierung öffentlicher Räume ............... 229 Privatwirtschaftliche und private Initiativen zur Belebung öffentlicher Räume ............ 239 Organisationen im Paulistaner Prozess der Innenstadterneuerung.................................. 256 Die „Revitalisierer“ – NGOs im Einsatz für die Innenstadterneuerung.......................... 257 Die Associação Viva o Centro ........................................................................................ 257 Ações Locais – die Nachbarschaftsvereinigungen im Zentrum ...................................... 262 Conselho Comunitário de Segurança Centro – ein Beirat für „Recht (?) und Ordnung“ ......................................................................................................................... 263 Fórum do Centro de São Paulo – ein zivilgesellschaftlicher Zusammenschluss für das Zentrum? ......................................................................................................................... 266 Promotoria Comunitária do Centro – Mediator zur Lösung von Problemen im Zentrum ................................................................................................... 269 Die „Resozialisierer“ – Organisationen im Einsatz für Benachteiligte in der Innenstadt ................................................................................................................................. 273 Das Fórum Centro Vivo .................................................................................................. 274 Movimento Nacional da População de Rua – Selbstermächtigung der Schwächsten? ......................................................................................................................................... 278 Rede Rua – Sprachrohr für die Obdachlosen .................................................................. 283 Ouvidoria Comunitária da População de Rua – systematische Dokumentation von übergriffen auf Obdachlose ............................................................................................ 286 Centro Gaspar Garcia de Direitos Humanos – eine NGO für Benachteiligte im Zentrum ...................................................................................................................... 289 SINPESP – Gewerkschaftliche Vertretung der autorisierten Straßenhändler_innen ...... 294 CooperGlicério – Recyclingmaterialsammler_innen und Anwälte des umweltschutzes ........................................................................................................ 297 Zwischenfazit zu den Organisationen im Zentrum ......................................................... 300
5 5.1 5.2 5.3
FAZIT .............................................................................................................................. 306 Innenstadterneuerung im öffentlichen Raum – von wem und für wen? ......................... 306 Innenstadterneuerungen und Innenstadtpolitiken – theoretische Einordnungen............. 313 Blick über São Paulo hinaus und Anschlussmöglichkeiten ............................................ 320
4.3.4 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.5.5 4.6 4.6.1 4.6.1.1 4.6.1.2 4.6.1.3 4.6.1.4 4.6.1.5 4.6.2 4.6.2.1 4.6.2.2 4.6.2.3 4.6.2.4 4.6.2.5 4.6.2.6 4.6.2.7
GLOSSAR ..................................................................................................................................... 325 LITERATuR .................................................................................................................................. 327 anhang ...................................................................................................................................... 346 1 Roteiro de entrevista (Interviewleitfaden)....................................................................... 346 2 Interviews & Gespräche zur Dissertation........................................................................ 349
inhalt
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ABBILDuNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16: Abb. 17: Abb. 18: Abb. 19: Abb. 20: Abb. 21: Abb. 22: Abb. 23: Abb. 24: Abb. 25:
Abb. 26:
Abb. 27: Abb. 28: Abb. 29: Abb. 30:
Konzeptioneller Aufbau der Arbeit (eigener Entwurf und Zeichnung) .......................... 21 Mindmap: unternehmen Stadt im Neoliberalismus ....................................................... 32 Stadtplanungsparadigmen............................................................................................... 33 Typologie der Begriffe zu Interventionen in (Innen)Städten ........................................ 39 Phasen der Innenstadterneuerung und entsprechende Maßnahmen ............................... 47 Dimensionen öffentlicher und privater Räume............................................................... 52 Einflussfaktoren auf die Zugänglichkeit öffentlicher Räume ......................................... 60 Nutzung öffentlicher Räume........................................................................................... 64 Aneignung öffentlicher Räume und damit verbundene Herausforderungen .................. 68 Öffentlicher Raum zwischen Freiheit und Sicherheit..................................................... 73 Öffentlicher Raum und Dimensionen von Sicherheit..................................................... 74 Öffentlicher Raum und Kriminalisierung von abweichendem Handeln und Armut ...... 80 Exklusion und Inklusion ................................................................................................. 84 Städtische und ländliche Bevölkerung und Wachstum der städtischen Bevölkerung zur Gesamtbevölkerung in Brasilien von 1940 bis 2010 (Quellen: IBGE 2011a, o. S.; IBGE 2007, o. S.; teilweise eigene Berechnungen.) ........................................... 121 Metropolitanregion São Paulo (Entwurf: Töpfer; Zeichnung: Pungg und Töpfer) ...... 121 Bevölkerungsentwicklung im Munizip São Paulo (eigener Entwurf und Zeichnung) ............................................................................................................................. 122 Munizip São Paulo mit Zonen/Regionen und Subpräfekturen (Entwurf: Töpfer; Zeichnung: Pungg und Töpfer)..................................................................................... 162 Munizip São Paulo mit Distrikten (Entwurf: Töpfer; Zeichnung: Pungg und Töpfer) ................................................................................................................................ 163 Erweitertes Zentrum (Centro Expandido) (Entwurf: Töpfer; Zeichnung: Pungg und Töpfer) .......................................................................................................................... 122 Das Zentrum São Paulos – die Distrikte Sé und República (Entwurf: Töpfer; Zeichnung: Pungg und Töpfer) ............................................................................................. 123 Rua Barão de Itapetininga, Distrikt República. (Foto: Glória, 2011) ........................... 124 Bevölkerungsentwicklung nach Daten der Zensus 1950, 1960, 1970, 1980, 1991, 2000 und 2010. (Daten: IBGE o. J. a) .......................................................................... 124 Bevölkerungsdichte pro Hektar 1980–2010 nach Daten der Zensus 1980, 1991, 2000 und 2010 und Bevölkerungsdichte pro Hektar Wohnbaufläche 2010. (Daten: IBGE o. J. a; SECRETARIA MuNICIPAL DE FINANÇAS o. J.) ............................. 125 Dominierende Bodennutzung im Zentrum und im Zentrumsnahen Bereich São Paulos (Quelle: SECRETARIA MuNICIPAL DE FINANÇAS o. J.; eigene übersetzung)......................................................................................................................... 126 Formelle Beschäftigungen nach Wirtschaftssektoren in Prozent für das Munizip São Paulo, die Subpräfektur Sé, deren Distrikte und die beiden ebenfalls im Zentrumsnahen Bereich befindlichen Distrikte Brás und Pari für 2010 (Daten: MTE o. J. b) ........................................................................................................................... 127 Formelle Beschäftigungen (ohne öffentlichen Dienst) nach Mindestlohn-Einkommensklassen in Prozent für das Munizip São Paulo, die Subpräfektur Sé, deren Distrikte und die beiden ebenfalls im Zentrumsnahen Bereich befindlichen Distrikte Brás und Pari für 2006 und 2011 (Daten: MTE o. J. c) ....................................... 128 Praça da Sé von Norden: ursprünglicher Platz mit Palmen im Westen vor der Kathedrale, Erweiterung im Zuge des Metrô-Baus östlich vor dem Palácio da Justiça. (Foto: Töpfer, 2011)...................................................................................................... 129 Praça da Sé, Kathedrale von hinten (Foto: Nuno, 2011) .............................................. 129 Praça da República (Fotos: oben: Nuno, 2011; unten: Kalina, 2011) .......................... 129 Nächtliches Lager von Obdachlosen im Zentrum (Foto: Gerson, 2011)...................... 130
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inhalt
Abb. 31: Rua General Carneiro 2009 und 2011, werktags, jeweils zur Mittagszeit. Auf dem linken Foto ist die ganze Fußgängerzone neben den autorisierten Straßenhändler_ innen-Ständen am rechten Bildrand mit informellen Händler_innen gesäumt. Mit Inkrafttreten der Operação Delegada sind nur mehr die autorisierten Straßenhändler_innen präsent. Am linken Bildrand ist ein überwachungsstand der PM zu sehen. (Fotos: Töpfer, 2009 und 2011) ............................................................................ 130 Abb. 32: Caminhada Noturna. Treffpunkt der Caminhadas Noturnas vor dem Teatro Municipal, 2011 und Erläuterungen im Rahmen einer Caminhada Noturna von Carlos Beutel am Largo do Arouche, 2009 (Fotos: Töpfer, 2011 und 2009)........................... 131 Abb. 33: Veranstaltung im Rahmen der Reihe „Piano na Praça“ auf der Praça Dom José Gaspar, Distrikt República (Foto: Töpfer, 2009) .......................................................... 131 Abb. 34: Veranstaltung im Rahmen der Reihe „No Centro da Arte“ am Praça do Patriarca, Distrikt Sé (Foto: Töpfer, 2010) ................................................................................... 131 Abb. 35: Veranstaltung am Largo São Bento, Distrikt Sé, im Rahmen der „Ocupação Cultural“ (Foto: Töpfer, 2009) .............................................................................................. 132 Abb. 36: Praça Antonio Prado, Distrikt Sé, mit dem Pavillon der Konzerte im Rahmen der Reihe „Pauliceia Sonora“ (rechts) (Foto: Töpfer, 2008) .............................................. 132 Abb. 37: Wohnanlage Rua Nova Barão (Condomínio Empreendimento Nova Barão) (Fotos: links: Kalina, 2011; rechts: Töpfer, 2011) .................................................................... 132 Abb. 38: Polizeistreife an der Straßenecke Rua Direita/ Rua 15 de Novembro, Distrikt Sé (Foto: Glória, 2011) ...................................................................................................... 133 Abb. 39: Obdachlose vor dem ehemaligen Kaufhaus Mappin an der Straßenecke Rua Barão de Itapetininga / Rua Conselheiro Crispiniano (Foto: Kalina, 2011) ........................... 133 Abb. 40: Rampas antimendigos (Anti-Bettler-Klötze) unter einer Fußgängerbrücke an einer Bushaltestelle an der Avenida Prestes Maia, Distrikt República) (Foto: Töpfer, 2011). ............................................................................................................................ 133 Abb. 41: Kundgebung des MNPR am Nationalen Tag des Kampfes der Obdachlosen auf der Praça da Sé, 2010 und 2011 nach dem gemeinsamen Zeltlager im Vale do Anhangabaú. (Fotos: Töpfer, 2010 und 2011) ........................................................................ 134 Abb. 42: Ausschnitt einer Titelseite der Zeitung „O Trecheiro“ [Juli 2011, XX (199)] ............. 134 Abb. 43: Außenmöblierung mehrerer Restaurants am Largo do Café, Distrikt Sé (Foto: Töpfer, 2011) ....................................................................................................................... 134 Abb. 44: Mobile Stände autorisierter Straßenhändler_innen in der Rua Dom José de Barros, Distrikt República (Foto: Töpfer, 2010) ....................................................................... 135 Abb. 45: Autorisierter Straßenhändler vor dem Teatro Municipal an der Straßenecke Rua Barão de Itapetininga / Rua Conselheiro Crispiniano (Foto: Glória, 2011) ................. 135 Abb. 46: Sortier-Areal der Recycling-Genossenschaft CooperGlicério unter einem Viadukt der Hochstraße Avenida Radial Leste-Oeste (Foto: Töpfer, 2011) ............................... 136 Abb. 47: Organisationen, die sich i. w. S. im und für das Zentrum engagieren, im Spannungsverhältnis zwischen Revitalização und Reabilitação sowie tauschwertorientiertem und gebrauchswertorientiertem öffentlichem Raum .................................................... 301 Abb. 48: Akteursgruppen (Auswahl) und Konflikte im Zusammenhang mit Innenstadterneuerung und Nutzung des öffentlichen Raums in São Paulo ........................................... 309
inhalt
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TABELLENVERZEICHNIS Tab. 1: Tab. 2: Tab. 3: Tab. 4: Tab. 5: Tab. 6: Tab. 7: Tab. 8:
Städtisches und allgemeines Bevölkerungswachstum in Brasilien zwischen 1950 und 1980 nach Großregionen ......................................................................................... 87 Maßstabsebenen und Raumzuschnitte in São Paulo..................................................... 164 Zentrale Erneuerungsprogramme für das Zentrum São Paulos zwischen 1993 und 2012 (eigene Zusammenstellung u. a. aus Nobre 2009, Kara José 2010 und Teixeira eT al. 2005) ......................................................................................................... 194 Definitionen von öffentlichem Raum und deren Nennungen durch interviewte Stakeholder (Quelle: Zusammenstellung anhand von eigenen Erhebungen 2009–2011; nach sTaeheli & MiTchell (2007) und schMidT (2011)) .............................................. 212 Wichtigkeit von öffentlichem Raum und deren Nennungen durch interviewte Stakeholder (Quelle: Zusammenstellung anhand von eigenen Erhebungen 2009–2011; nach sTaeheli & MiTchell (2007) und schMidT (2011)) .............................................. 218 übersicht über die Kulturveranstaltungen im Zentrum (eigene Erhebungen und Zusammenstellung) .......................................................................................................... 249 Zusammenfassende Darstellung der an Innenstadtrevitalisierung interessierten Organisationen im Zentrum São Paulos (eigene Erhebungen und Zusammenstellung) .............................................................................................................................. 272 Zusammenfassende Darstellung der an einer sozial verträglichen Innenstadtentwicklung interessierten Organisationen im Zentrum São Paulos (eigene Erhebungen und Zusammenstellung)......................................................................................... 296
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Abkürzungen
ABKüRZuNGEN ACH AL AVC BID BID CCBB CDHu
Aliança pelo Centro Histórico; Allianz für das historische Zentrum Ação Local; Lokale Aktion Associação Viva o Centro; Verein „Es lebe das Zentrum“ Business Improvement District Banco Interamericano de Desenvolvimento; Interamerikanische Entwicklungsbank Centro Cultural do Banco do Brasil; Kulturzentrum der Banco do Brasil Companhia de Desenvolvimento Habitacional e urbano; Entwicklungsgesellschaft für Wohnungs- und Städtebau (des Bundesstaats São Paulo) CEF Caixa Econômica Federal; Bundessparkasse CGG Centro Gaspar Garcia dos Direitos Humanos (Menschenrechts-NGO in São Paulo) CMP Central dos Movimentos Populares; Vereinigung der Volksbewegungen COMPRESP Conselho Municipal de Preservação do Patrimônio Histórico, Cultural e Ambiental da Cidade de São Paulo; Munizipaler Beirat des Schutzes des historischen, kulturellen und umwelterbes CONSEG Conselho Comunitário de Segurança; Gemeinschaftliche Beiräte für (öffentliche) Sicherheit CPA Comissão Permanente de Ambulante; Permanente Kommission der ambulanten händler DEM Democratas (Konservative brasilianische Partei) DOPS Departamento de Ordem Política e Social; Abteilung für politische und soziale Ordnung (Staatliches Organ während der Militärdiktatur, dessen Aufgabe die Kontrolle und die unterdrückung oppositioneller politischer und sozialer Bewegungen war) DPH Departamento do Patrimônio Histórico; Abteilung für das historische Erbe im städtischen Kulturamt EMuRB Empresa Municipal de urbanização; Städtisches unternehmen zur Stadtentwicklung FCSP Fórum do Centro de São Paulo (Zusammenschluss verschiedener Akteure im Zentrum São Paulos) FCV Fórum Centro Vivo; Forum „Lebendiges Zentrum“ CCBB Centro Cultural do Banco do Brasil; Paulistaner Kulturzentrum der Banco do Brasil CGG NGO Centro Gaspar Garcia de Direitos Humanos; Menschenrechtszentrum Gaspar garcia GCM Guarda Civil Metropolitana; munizipale Stadtpolizei oder -wache IBAMA Instituto Brasileiro do Meio Ambiente e dos Recursos Naturais Renováveis; Brasilianisches Institut für umwelt und erneuerbare natürliche Ressourcen (nationale umweltschutzbehörde) IPHAN Instituto do Patrimônio Histórico e Artístico Nacional; Institut des nationalen historischen und künstlerischen Erbes (Nationale Denkmalschutzbehörde) IPTu Imposto Predial e Territorial urbano; Städtische Gebäude- und Grundsteuer ISS Imposto sobre serviços; Steuer auf Dienstleistungen MEPSRSP Movimento Estadual da População em Situação de Rua de São Paulo; Bundesstaatliche Bewegung der Obdachlosen von São Paulo MSP Main Street Program MNPR Movimento Nacional da População de Rua; Nationale Obdachlosenbewegung NGO non-governmental organization; Nichtregierungsorganisation NRO Nichtregierungsorganisation PAC Programa de Atuação em Cortiços; Programm der Betätigung in Cortiços PAR Programa de Arrendamento Residencial; Programm der Wohnungsvermietung PCC Primeiro Comando da Capital (Brasilienweit tätige kriminelle Vereinigung mit Hauptsitz in São Paulo)
Abkürzungen PJC PJCC PM PP PPP PSDB PT PTB PuC SESC SINPESP SMC SMADS SMDu SMSu TCM uPP uMM-SP uSP ZEIS
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Promotoria (de Justiça) Comunitária; Gemeinwesen orientierte Staatsanwaltschaft bzw. Stadteilanwaltschaft, für verschieden Stadtteile São Paulos eingerichtet Promotoria (de Justiça) Comunitária do Centro; Gemeinwesenorientierte Staatsanwaltschaft des Zentrums bzw. Stadteilanwaltschaft Polícia Militar; reguläre Polizei in Brasilien, nach Bundesstaaten organisiert Partido Progressista (Liberale brasilianische Partei) Public-Private-Partnership; öffentlich-private Partnerschaft Partido da Social Democracia Brasileira (Mitte-[Links] orientierte brasilianische Partei) Partido dos Trabalhadores (Sozialdemokratische brasilianische Partei) Partido Trabalhista Brasileiro (Konservative brasilianische Partei) Pontifícia universidade Católica de São Paulo; Katholische universität São Paulo Serviço Social do Comércio; Sozialer Dienst des Handels (Kultur-, Sozial-, Bildungs- und Freizeiteinrichtung der Vereinigung der brasilianischen Handelsunternehmen für deren Mitarbeiter und die Gesellschaft im Allgemeinen) Sindicato dos Permissionários do Estado São Paulo; Gewerkschaft der autorisierten Straßenhändler im Bundesstaat São Paulo Secretaria Municipal de Cultura; Städtisches Kulturamt Secretaria Municipal de Assistência e Desenvolvimento Social; Sozialamt Secretaria Municipal de Desenvolvimento urbano; Amt für Stadtentwicklung Secretaria Municipal de Segurança urbana; Amt für städtische Sicherheit Town Centre Managements unidade de Polícia Pacificadora; Befriedende Polizeieinheit união dos Movimentos de Moradia, São Paulo; Zusammenschluss der sozialen Bewegungen für Wohnraum, São Paulo universidade de São Paulo; universität von São Paulo Zona Especial de Interesse Social; Sonderzone von sozialem Interesse (als eine Zone der munizipalen Zonierung)
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EINLEITuNG
Städte sind seit diesem Jahrtausend noch einmal verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, nachdem mittlerweile über die Hälfte der Weltbevölkerung in ihnen lebt. Die Verstädterung in Ländern des Globalen Nordens ist alles andere als neu, in Städten des Globalen Südens ist dieses Phänomen durch das überschreiten der 50 %-Schwelle und den weiterhin rasant vonstattengehenden Verstädterungsprozess aber verstärkt in den Brennpunkt gerückt. Megaurbanisierung, Hyperurbanisierung, Megalopolis und urbane Bevölkerungsexplosion sind einige der Begriffe, die in diesem Zusammenhang oft gebraucht werden, nicht zuletzt, um die vermeintliche Dramatik der Veränderungen zum Ausdruck zu bringen. Es ist aber bei den gegenwärtigen Entwicklungen zu berücksichtigen, dass sich diese in den Städten des Globalen Südens keineswegs einheitlich vollziehen. Vor allem viele Länder Südamerikas wie beispielsweise Argentinien, Venezuela und uruguay zeichnen sich bereits seit einigen Jahrzehnten durch ähnlich hohe – und teilweise sogar höhere – Verstädterungsgrade wie die Länder des Globalen Nordens aus. Die Herausforderungen, resultierend aus den rasanten Verstädterungstendenzen der vergangenen Jahrzehnte, sind in den Städten Südamerikas zwar bei weitem noch nicht gelöst, und Fragen nach der angemessenen Wohnraumversorgung, der erforderlichen Infrastrukturausstattung und der den Verkehrskollaps verhindernden Verkehrsinfrastruktur sind weiterhin virulent. Dennoch kann in vielen, vor allem größeren Städten und Metropolen in Südamerika auch die Beschäftigung mit Themen beobachtet werden, die während der rapiden Wachstumsentwicklung keinen Platz auf den städtischen Agenden gefunden haben. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang beispielsweise die Beschäftigung mit Problemen im Bereich des umweltschutzes, die Versuche einer stärker partizipativen Stadtentwicklung und nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten der vernachlässigten Innenstädte. Aufwertungen von Stadtzentren, Instandsetzungen historischer Stadtkerne und Waterfront-Projekte werden in den vergangenen drei Jahrzehnten in vielen Städten Südamerikas realisiert. Damit wird versucht, der jeweiligen Innenstadt wieder zu einer Bedeutung zu verhelfen, die sie in den Jahrzehnten zuvor aus verschiedenen Gründen oftmals als ein Stadtviertel unter vielen verloren hatte. In Südamerika ist die Innenstadterneuerung in der Regel ähnlich wie in den Industrieländern auf Erhalt und Inwertsetzung der (historischen) Innenstädte und Stadtkerne ausgerichtet. Mitunter wird dabei auch auf Konzepte aus den Ländern des Nordens, zum Beispiel dem der Nachhaltigen Stadtentwicklung, zurückgegriffen. Die unterschiedlichen Verstädterungsdynamiken in Südamerika einerseits und in Europa sowie Nordamerika andererseits lassen es jedoch fraglich erscheinen, ob diese Konzepte unverändert auf Städte im Globalen Süden übertragen werden können. Vor allem die Innenstädte von Metropolen in diesen Ländern sind sehr viel größeren sozialen Risiken ausgesetzt. Innerstädtische Bereiche bieten gerade auch für die benachteiligten Bevölkerungsgruppen Vorteile wie bessere Beschäftigungs-
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1 Einleitung
möglichkeiten, geringere Transportkosten und umfangreichere Infrastruktur. Sozialräumliche Polarisierung verschärft sich so in den Zentrumsbereichen, und Orte der Inklusion und Orte der Exklusion bilden ein kleinräumiges Mosaik der Fragmentierung. Sich verschärfende Interessenkonflikte, Kriminalisierung von marginalisierten Bevölkerungsgruppen sowie alltägliche Gewalt, unsicherheit und Angst tragen ferner zu einer komplexen Ausgangslage bei. Neben diesen internen Faktoren sind externe Einflüsse von Bedeutung, die allgemeinen Globalisierungstendenzen geschuldet sind. Vor allem Metropolen befinden sich weltweit in einer Standortkonkurrenz um die Ansiedlung von unternehmen und das Einwerben von Investitionen. unter anderem mit der zunehmenden Tendenz, die jeweilige Stadt unternehmerisch als Marke zu etablieren, wird versucht, sich in diesem Metropolenwettbewerb gegen Konkurrenten zu behaupten oder durchzusetzen. Vor diesem Hintergrund kann die Rückbesinnung auf das Zentrum – grob verallgemeinert – in zwei Formen zum Ausdruck kommen: Oft handelt es sich um Aufwertungs- und Verschönerungsmaßnahmen, seltener aber auch um solche mit dem Versuch sozialer Inklusion. Im ersteren Fall geht es um Bestrebungen der Attraktivitätssteigerung von Innenstädten durch Restaurierung historischer Gebäude, des Aufbaus touristischer Infrastruktur, der Schaffung von Anreizen für die Wiederansiedlung von Mitgliedern der Mittelschicht und der Stärkung wirtschaftlicher Interessen. Insgesamt werden dadurch soziale Polarisierung, Fragmentierung sowie Gentrifizierung in der Regel verstärkt. Im zweiten Fall wird versucht, die breite Palette an heterogenen, oft auch benachteiligten Gruppen, die im Zentrum aktiv sind, einzubinden, so dass die oben skizzierten Maßnahmen um solche der Errichtung von Wohnraum für die Mitglieder der unterschicht und/oder der Eingliederungen informeller Ökonomien ergänzt werden. Allerdings ist auch hier kritisch zu hinterfragen, inwieweit Erneuerungsmaßnahmen den heterogenen Bedingungen der Zentrumsbereiche tatsächlich Rechnung tragen und sozial ausgewogen erfolgen oder doch vorrangig den Interessen der privilegierten Bevölkerungsgruppen dienen. unabhängig von der inhaltlichen Ausrichtung der jeweiligen innenstädtischen Programme sind diese aufgrund der starken Stellung privater Grund- und Immobilieneigentümer in den Städten Südamerikas oft auf den öffentlichen Raum der Stadtzentren fokussiert. Eingriffe können dabei sowohl durch physisch-bauliche Interventionen als auch durch Änderungen gesetzlicher Rahmenbedingungen etwaige Nutzungen betreffend erfolgen. 1.1
RÄuMLICHE FOKuSSIERuNG DER FALLSTuDIE
In Brasilien begann die Rückbesinnung auf die metropolitanen Innenstädte schon in den 1980er Jahren und damit im kontinentalen Vergleich relativ früh. Der Rückgang des Bevölkerungswachstums in den Metropolen bedingte in Teilen eine Verschiebung der allgemeinen Aufmerksamkeit von der Stadterweiterung auf die Innenentwicklung. Vor diesem Hintergrund können brasilianische Metropolen in Südamerika als Pioniere der Innenstadterneuerung gesehen werden. Dabei orien-
1.1 Räumliche Fokussierung der Fallstudie
19
tierten sich die Maßnahmen der Erneuerung in Brasilien – wie auch im südamerikanischen Raum als Ganzem – meist an einem Aufwertungs- und Verschönerungsgedanken und fokussierten oft unmittelbar auf den öffentlichen Raum. Hier sind direkte öffentliche Interventionen in der ansonsten marktwirtschaftlich dominierten Stadtentwicklung am leichtesten umsetzbar und ermöglichen Aufwertungen beispielsweise für Einzelhandelsanrainer, Gastronomen und allgemein den Immobiliensektor. Diese Aufwertungen können in Folge private Investitionen beispielsweise in die Bausubstanz nach sich ziehen. Die Interessen benachteiligter Bevölkerungsgruppen im Zentrum, die hier einen überlebensraum gefunden haben, bleiben dabei oftmals unberücksichtigt. Dabei spielt gerade für diese der öffentliche Raum eine zentrale Rolle in ihren jeweiligen Strategien zur Sicherung des Lebensunterhalts. Der öffentliche Raum stellt also in den Zentren brasilianischer Metropolen eine aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachtende Kategorie dar, dem viele Funktionen und Nutzungen zugeschrieben werden können. Diese möglichen Zuschreibungen sind aber keineswegs statisch, sondern verändern sich im Laufe der Zeit in Abhängigkeit von den Rahmenbedingungen einerseits und den jeweiligen konkreten Nutzungen und Aneignungen andererseits. Kontextuelle Gegebenheiten sowie aktive Nutzungen interagieren dabei miteinander und beeinflussen sich gegenseitig. Neben weiteren Faktoren tragen auch Innenstadterneuerungsmaßnahmen im weiteren Sinn zu Änderungen der Zuschreibungen bei. Mögliche Maßnahmen sind sowohl bauliche Eingriffe in den öffentlichen Raum auf Plätzen, in Parks und Straßen als auch Veränderungen administrativer und rechtlicher Voraussetzungen und deren Implementierungen genauso wie gesamtstädtische Entwicklungen mit entsprechenden Auswirkungen auf öffentliche Räume. Konkrete Aneignungen und Nutzungen der innenstädtischen öffentlichen Räume durch Bewohner_innen und Besucher_innen können den Rahmenbedingungen folgen, diese konterkarieren und ihnen entgegenstehen oder zu deren Veränderungen beitragen. Dies geschieht in Aushandlungsprozessen, die vor allem bei sich entgegenstehenden Ansichten und Nutzungen konfliktgeladen sein können. Dazu beitragen können ferner zunehmende Privatisierungen, die den verfügbaren öffentlichen Raum räumlich einengen und/oder funktional einschränken. Die überlappungen von Rahmenbedingungen und Nutzungen öffentlicher Räume einerseits und die überschneidungen bestimmter Aneignungen mit anderen Nutzungen andererseits sowie die daraus mitunter jeweils hervorgerufenen Konflikte sind vor allem in den innenstädtischen Bereichen der Metropolen mannigfaltig. In den metropolitanen Zentren Brasiliens werden außerdem die meisten Programme und Projekte zur Innenstadterneuerung entworfen und – wenn auch in geringerem Maße – realisiert. In São Paulo sind sowohl das Nutzungsspektrum öffentlicher Räume als auch das Spektrum der Innenstadterneuerungsmaßnahmen besonders weit gespreizt. Im Fall der Erneuerungsmaßnahmen hängt dies damit zusammen, dass sich seit Beginn diesbezüglicher Aktivitäten mit vergleichsweise hoher Regelmäßigkeit Stadtregierungen abgewechselten, die in diesem Bereich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen vorgenommen haben. Dabei reichen die Maßnahmen von jenen, die der Revalorisierung und sogenannten Revitalisierung dienen, bis hin zu solchen, die sich mit Inklusionsversuchen und integrativen An-
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1 Einleitung
sätzen beschäftigen. Die vielfältigen Nutzungen öffentlicher Räume in São Paulo sind zum einen auf interne Faktoren wie die funktionelle Vielfalt im Zentrum zurückzuführen und zum anderen auf den Bedeutungsüberschuss, den das Zentrum weiterhin für die Gesamtstadt und die Metropolitanregion als Ganze in unterschiedlichen Bereichen hat. Diese Ausgangslage bildet die Basis für die Auswahl São Paulos und dessen Zentrum als lokalen untersuchungsfokus dieser Arbeit. In São Paulo wird seit den 1980er Jahren versucht, als negativ empfundene Entwicklungen im Zentrum mit Erneuerungsmaßnahmen zu begegnen und so gegenzusteuern. Dabei spielen die jeweiligen Stadtregierungen wichtige Rollen als Protagonisten. Neben diesen gibt es in São Paulo auch eine Vielzahl weiterer kollektiver Akteure, die sich von teilweise unterschiedlichen Ausgangspunkten und folglich mit möglicherweise voneinander abweichenden Zielvorstellungen mit Themen der Innenstadterneuerung beschäftigen. Auf staatlicher Ebene ist, neben den jeweiligen Stadtregierungen, vor allem der Bundesstaat São Paulo zu nennen, der sich im Zentrum São Paulos mit der umwandlung brachgefallener öffentlicher Gebäude in Kultureinrichtungen hervortut. Außer den staatlichen gibt es auch nichtstaatliche Akteure, die sich dem Thema Innenstadterneuerung widmen. Seit Anfang der 1990er Jahren bemüht sich die unternehmensnahe Nichtregierungsorganisation Associação Viva o Centro (Verein „Es lebe das Zentrum“) um ein Wiedererstarken des Zentrums vor allem als ökonomisch bedeutsamer Standort. Ações Locais (Lokale Aktionen) sind Zusammenschlüsse von vor allem aus der Mittelschicht stammenden Anwohner_innen und Geschäftstreibenden überschaubarer Nachbarschaften im Zentrum, die sich für Verbesserungen in ihrem unmittelbaren umfeld einsetzen. Viele soziale Bewegungen – von denen jede für sich zentrumsrelevante Fragen aus dem Blickwinkel der Schwerpunktsetzung ihrer jeweiligen Arbeit aufgreift – sind im Fórum Centro Vivo (Forum Lebendiges Zentrum) zusammengeschlossen, das sich für die Belange der benachteiligten Bevölkerungsgruppen in der Innenstadt einsetzt. Die sozialen Bewegungen und ähnliche Vereinigungen im Zentrum werden unter anderem von Wohnungssuchenden, Bewohner_innen von cortiços (innenstädtische Slums) und favelas (innenstädtische Hüttenviertel), von catadores de material reciclável (Recyclingmaterialsammler_ innen), pessoas em situação de rua (Obdachlosen) und camelôs (Straßenverkäufer_innen) gebildet. Vor allem die Angehörigen der drei letztgenannten Bewegungen sowie die nicht organisierten Akteure, die ebenfalls diesen genannten Gruppen zugeordnet werden können, haben mit jeweils unterschiedlich gelagerten Schwerpunktsetzungen ein unmittelbares Interesse am öffentlichen Raum in der Innenstadt São Paulos. Dieser Raum ist für sie zumindest in Teilen ein existenzieller überlebensraum, der entsprechend angeeignet wird. Dem gegenüber stehen andere Nutzer_innengruppen, die, den öffentlichen Raum betreffend, andere und mit den zuvor genannten Nutzungen konfligierende Präferenzen verfolgen. Dazu zählen der Mittelschicht angehörende Bewohner_innen und Angestellte ebenso wie Tourist_ innen und Einzelhändler_innen. Je nach inhaltlicher Ausrichtung der Erneuerungsmaßnahmen werden entweder tendenziell die Interessen der letztgenannten Akteursgruppen berücksichtigt und die benachteiligten Gruppen implizit oder explizit
1.2 Grundannahmen, Zielsetzungen und Fragestellungen
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exkludiert, oder aber es werden Versuche unternommen, die Inklusion möglichst vieler Nutzer_innengruppen zu gewährleisten. 1.2
GRuNDANNAHMEN, ZIELSETZuNGEN uND FRAGESTELLuNGEN
Innenstadterneuerungen und Innenstadtpolitiken sowie die ihnen zugrunde liegenden Voraussetzungen einerseits und die durch diese geschaffenen Rahmenbedingungen andererseits sind der eine Ausgangspunkt der Arbeit; Nutzungen und Aneignungen öffentlicher Räume durch diverse Akteure vor dem Hintergrund der sozioökonomischen Disparitäten stellen den zweiten Ausgangspunkt dar; beide Aspekte zusammen – die Innenstadterneuerungen und die Nutzungen öffentlicher Räume – und die aus den vielfältigen möglichen Konstellationen resultierenden Konflikte bilden den dritten Ausgangspunkt (Abb. 1). Von folgenden Grundannahmen wird dabei ausgegangen: • Innenstädte – auch in Metropolen im Globalen Süden – werden wiederentdeckt, nicht zuletzt wegen ihrer zunehmenden Bedeutung in der globalen Städtekonkurrenz.
Abb. 1: Konzeptioneller Aufbau der Arbeit (eigener Entwurf und Zeichnung)
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1 Einleitung
Innenstadterneuerungsmaßnahmen haben oft zum Ziel, die Stellung der Metropole als Ganze im weltweiten Städtewettbewerb zu verbessern. Erneuerungsmaßnahmen dienen ferner dazu, vorausgegangene, unerwünschte Entwicklungen in Innenstädten rückgängig zu machen. In Städten mit einem vergleichsweise hohen Stellenwert des privaten Grundeigentums fokussieren Erneuerungsmaßnahmen vor allem auf den öffentlichen Raum in Innenstädten. Der öffentliche Raum in Städten des Globalen Südens erfüllt neben seinen vermeintlich „klassischen“ Funktionen auch solche der überlebenssicherung benachteiligter Bevölkerungsgruppen. Innenstadterneuerungsmaßnahmen und -politiken kommen nicht allen Akteuren in den betreffenden Gebieten gleichermaßen zu Gute. In Abhängigkeit des jeweiligen Vorhabens werden hauptsächlich sozial und ökonomisch schwächere Bevölkerungsgruppen benachteiligt.
Vor dem Hintergrund dieser Annahmen verfolgt diese Arbeit die folgenden Zielsetzungen: • Identifizierung und Vergleich der innenstädtischen Erneuerungsmaßnahmen unterschiedlicher Dimensionen gemäß ihrer strukturellen, funktionalen und sozialräumlichen Auswirkungen. • Bestimmung und Kategorisierung der unterschiedlichen Akteure, die Einfluss auf die umsetzung von Erneuerungsmaßnahmen nehmen, und Analyse ihrer Handlungsspielräume. • Darstellung der Veränderungen von Nutzungen und Aneignungen öffentlicher Räume durch Akteure im Zuge von Erneuerungsmaßnahmen. • Analyse der Konsequenzen von Innenstadterneuerungen im und -politiken für den öffentlichen Raum für verschiedene Akteure, die diesen nutzen, sowie Ableitung der durch die Maßnahmen und divergierende Interessen entstehenden Konflikte zwischen den involvierten Akteuren. Diese Zielsetzungen werden in der vorliegenden Arbeit mit Hilfe der folgenden Forschungsfragen behandelt: • Welche Antriebskräfte und Voraussetzungen liegen der Innenstadterneuerung zugrunde? • Welche Innenstadterneuerungsmaßnahmen und -politiken werden in São Paulo ergriffen und wie lassen sich diese systematisieren? • Welche Akteure verfolgen bei den Innenstadterneuerungsmaßnahmen welche Interessen und wie lassen sich die Akteure entsprechend kategorisieren? • Welche Funktionen werden öffentlichem Raum heute in Zentren von Metropolen in Ländern des Südens – hier im Fall von São Paulo – zugeschrieben? • Welche Auswirkungen und Konsequenzen haben die jeweiligen Maßnahmen auf den öffentlichen Raum im Zentrum São Paulos? • Wie verändern die Maßnahmen und Politiken die jeweiligen Zugangs- und Nutzungsmöglichkeiten sowie Aneignungen durch die Akteure im öffentlichen Raum?
1.3 Maßstäbe und Methoden der empirischen untersuchung
•
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Wie werden die Interessen der Akteure im öffentlichen Raum mit den jeweiligen Maßnahmen entweder berücksichtigt oder vernachlässigt und welche Konflikte resultieren daraus?
Zentrales Forschungsinteresse ist die Frage nach den Nutzungsveränderungen für die benachteiligten Akteure im öffentlichen Raum im Zuge von Innenstadterneuerungen und Innenstadtpolitiken und die daraus mit anderen Akteuren entstehenden Konflikte. 1.3
MASSSTÄBE uND METHODEN DER EMPIRISCHEN uNTERSuCHuNG
um der Komplexität des Themas gerecht zu werden, werden zur Kontextualisierung und zur Beantwortung der Fragestellungen mehrere Maßstabsebenen berücksichtigt. Zur allgemeinen Einordnung ist es wichtig, zunächst nach der funktionalen Bedeutung und der demografischen Veränderung der Innenstadt im gesamtstädtischen Kontext São Paulos zu fragen, um so die Akteurskonstellation und die Voraussetzungen der Innenstadterneuerungen verstehen zu können. Der Blick auf die Zentrumsdistrikte Sé und República und die angrenzenden, die Subprefeitura Sé bildenden Distrikte dient anschließend der Analyse und dem Vergleich der verschiedenen, vor allem diese Stadtteile betreffenden Programme und Politiken der Innenstadterneuerung und ihrer Auswirkungen auf die unterschiedlichen Akteursgruppen. Auf einer dritten Maßstabsebene sollen schließlich ausgewählte innenstädtische Plätze (Praça da Sé und Praça da República) als öffentliche Räume den untersuchungsrahmen bilden. Auf den beiden letztgenannten Ebenen sollen Fragen nach der konkreten Zugänglichkeit Nutzung und Aneignung durch verschiedene Akteure beantwortet werden. Aufgrund der Vielfältigkeit der beteiligten und betroffenen Akteure ist es erforderlich, einen überblick über diese (kollektiven) Akteure zu erlangen, um in einem nächsten Schritt diese den verschiedenen Themen entsprechend und auf den unterschiedlichen Maßstabsebenen in die Erhebung und Analyse mit einzubeziehen. Dabei wird – jeweils in Abhängigkeit der konkreten Fragestellung – eine möglichst breite Akteurspalette in Betracht gezogen, um das entsprechende Thema aus verschiedenen Blickwinkeln beurteilen zu können. Die Bandbreite der in der untersuchung zu berücksichtigenden Akteure und Maßstäbe spiegelt sich auch in der zugrundeliegenden Methodik wider. Es wurde auf ein exploratives Forschungsdesign zurückgegriffen, dass eine wenig einschränkende Erfassung von Innenstadterneuerungsmaßnahmen im weitesten Sinne, ihrer Konsequenzen u. a. im öffentlichen Raum und der betroffenen Akteure und ihrer Stakeholder ermöglicht. In den empirischen Feldstudien in São Paulo kamen vor allem verschiedene qualitative Methoden zur Anwendung. Der methodische Ansatz basiert auf dem Konzept der methodischen Triangulation. Diese erlaubt die Kombination unterschiedlicher Methoden. Dadurch wird ermöglicht, Defizite einer einzelnen Methode durch den Einsatz weiterer auszugleichen und eine multiperspektivi-
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1 Einleitung
sche Analyse des Forschungsgegenstands zu erhalten. um die oben genannten Ziele zu erreichen und zur Beantwortung der Fragestellungen wurden folgende Methoden während mehrerer, längerfristiger Feldforschungsaufenthalte vor Ort angewandt: • Offene und verdeckte, teilnehmende und nicht teilnehmende Beobachtungen, zum einen im öffentlichen Raum in der Innenstadt von São Paulo und zum anderen in Sitzungen, Treffen und ähnlichem unterschiedlicher Gruppierungen zu Innenstadt betreffenden Themen • Problemzentrierte Leitfadeninterviews mit Angehörigen der Stadtverwaltung und der Stadtplanung, Vertreter_innen von Nichtregierungsorganisationen (NROs) und Beteiligten in sozialen Bewegungen • Fotointerviews mit im Zentrum aktiven Stadtbewohner_innen auf Basis von durch sie selbst im Vorfeld aufgenommenen Fotos des Zentrums • Recherche und Analyse von unterlagen, die sich mit Fragen der Innenstadterneuerung und -politiken beschäftigen, zum Beispiel Programme, Projekte, Gesetze und Verordnungen 1.4
AuFBAu DER ARBEIT
Im anschließenden, den Hauptteil einleitenden Kapitel wird das theoretische Fundament gelegt, auf dem die weiteren Darstellungen aufbauen. Dieses ist wiederum in zwei unterkapitel gegliedert, die die Aufteilung der Fragestellungen – zum einen zu Themen der Innenstadterneuerung und zum anderen zu Inhalten den öffentlichen Raum und seine Nutzung betreffend – widerspiegeln. Zur konzeptionellen Einbettung des ersten Themenblocks werden im ersten unterkapitel theoretische Ansätze dargestellt, die sich mit Auslösern der vermeintlichen Notwendigkeit der Innenstadterneuerung befassen. Dazu zählen sowohl innere Faktoren wie der städtische Wandel und eine zunehmende Fragmentierung als auch äußere Triebkräfte wie die Globalisierung, die durch diese beförderte globale Städtekonkurrenz und der daraus oft als zwingend erachtete Städtewettbewerb. Nachfolgend wird dargestellt, wie unter dem Vorzeichen einer neoliberalen Stadtentwicklung Innenstadterneuerungen gestaltet sein können. Im zweiten unterkapitel geht es dann um die Darstellung, was unter dem vielschichtigen Begriff des öffentlichen Raums verstanden werden kann. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Aspekten, die auf die Zugänglichkeit, Nutzung und Aneignung rekurrieren. Ferner ist es wichtig, die Konzepte hinter den Begriffen „Nutzung“ und „Aneignung“ herauszuarbeiten und voneinander abzugrenzen. Außerdem werden im Folgenden sicherheitspolitische Aspekte, die angesichts der möglichen Innenstadtpolitiken besondere Beachtung verdienen, diskutiert. Dabei spielen dann auch vor allem vor dem Hintergrund einer stark sozioökonomisch gespaltenen Gesellschaft wie im Fall Brasiliens Gesichtspunkte wie die Kriminalisierung der von Armut Betroffenen und die Polarität von Inklusion und Exklusion eine wichtige Rolle. Das folgende, dritte Kapitel widmet sich auf zwei Ebenen Brasilien als Ganzem. Die vier unterkapitel dienen jeweils zur überregionalen Einordnung dessen,
1.4 Aufbau der Arbeit
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was am Fallbeispiel São Paulo im weiteren Verlauf dargestellt wird. Zum einen werden allgemeine Stadtentwicklungstendenzen und anschließend die brasilienweit geltenden gesetzlichen Rahmenbedingungen, die sich unmittelbar auf Fragen der Stadtentwicklung – und damit auch auf den Bereich der Innenstadt – beziehen, dargestellt. Dabei geht es unter anderem um das Estatuto da Cidade (Stadtstatut), das die gesetzliche Ausarbeitung der beiden in der brasilianischen Verfassung verankerten Artikel, die sich explizit mit der Stadtentwicklung befassen, beinhaltet. Das Estatuto da Cidade gibt den Kommunen vielfältige Werkzeuge an die Hand, die, in kommunale Gesetze überführt, die jeweilige Stadtentwicklung maßgeblich beeinflussen können. Allerdings besteht oft eine Diskrepanz zwischen der eher langfristigen Planung und den kurzfristigeren Stadtpolitiken, die ebenfalls erörtert wird. Zum anderen werden hier auch – nach einer Darstellung der Entwicklung brasilianischer Innenstädte allgemein – überblicksartig Innenstadterneuerungsmaßnahmen anderer brasilianischer Metropolen vorgestellt. Im Anschluss widmet sich das vierte Kapitel der Fallstudie São Paulo. Im ersten unterkapitel werden die Methoden vorgestellt und begründet, die im Zuge der Feldarbeiten in São Paulo zu Anwendung kamen. Anschließend werden gesamtstädtische Rahmenbedingungen und Entwicklungen dargestellt, die für ein Verständnis dessen, was in der Innenstadt passiert, von Bedeutung sind. Darauf aufbauend wird in einem weiteren unterkapitel die Stellung der Innenstadt São Paulos im gesamtstädtischen Kontext dargestellt. Nachdem zunächst die Innenstadtgenese beleuchtet wird, geht es unter anderem darum, die ursachen und Auswirkungen der Zentrumsverlagerungen in São Paulo für das Stadtzentrum zu analysieren. Neben diesen wird die Situation des Zentrums im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eruiert, die die Basis für die jüngeren Erneuerungsmaßnahmen bildet. In den folgenden unterkapiteln werden die empirischen Ergebnisse der Feldstudien vorgestellt. Die Innenstadterneuerungsmaßnahmen werden beschrieben und systematisiert in indirekte und direkte Maßnahmen sowie in solche, die sich dem Thema Wohnen widmen. Danach rückt der öffentliche Raum im Zentrum São Paulos in den Fokus des Interesses. Historische Betrachtungen als Rahmung der aktuellen Feldforschungsergebnisse leiten dieses unterkapitel ein. Danach wird analysiert, wie im lokalen Kontext durch diverse Akteure öffentlicher Raum konzeptionalisiert wird und inwieweit hier Abweichungen und/oder Kongruenzen zu anderen dargestellten Definitionen bestehen. Ferner werden die Veränderungen im öffentlichen Raum im Zuge von Innenstadterneuerungsmaßnahmen sowie von Innenstadtpolitiken dargestellt. Dabei geht es sowohl um baulich-physische Eingriffe, um institutionelle Regelungen und private und privatwirtschaftliche Maßnahmen zur Aufwertung des öffentlichen Raums. Die jeweiligen Maßnahmen werden bezüglich der Veränderungen bei der Zugänglichkeit, den Nutzungsmöglichkeiten und Aneignungen öffentlicher Räume im Zentrum beurteilt. Im abschließenden unterkapitel werden die Interessenlagen der beteiligten und/oder betroffenen Stakeholder (Vereine, soziale Bewegungen, NGOs u. a.) wiedergegeben, die Maßnahmen mit Blick auf die Berücksichtigung bzw. Vernachlässigung von Belangen der unterschiedlichen, durch die Stakeholder repräsentierten Akteure analysiert und daraus gegebenenfalls resul-
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1 Einleitung
tierende Konflikte problematisiert. Schließlich werden die Organisationen bezüglich ihrer prinzipiellen Intentionen die Innenstadterneuerung und den öffentlichen Raum betreffend kategorisiert. Der Schlussteil dient der zusammenfassenden Darstellung der Forschungsergebnisse. Die Ausgangsfragen werden dabei noch einmal grundsätzlich aufgegriffen. Die Ergebnisse werden in Relation mit den theoretischen Konzepten gesetzt und in übergeordnete maßstäbliche Zusammenhänge gestellt. Die jeweiligen Synthesen werden bewertet und anhand dessen die entsprechenden Schlussfolgerungen gezogen. Außerdem wird der bei der Bearbeitung des Themas identifizierte weitergehende Forschungsbedarf dargestellt.
2 2.1
THEORETISCHES FuNDAMENT
INNENSTADTERNEuERuNG uND IHRE AuSLÖSENDEN MOMENTE
In Städten ist der jeweilige Zentrumsbereich nicht ein Stadtviertel unter vielen, sondern ein Raum, der durch besondere Bedeutungen gekennzeichnet ist. Die Innenstadt kann der historische „Anker“ sein, sie kann wichtig sein zur Bildung und Aufrechterhaltung einer jeweils spezifischen städtischen Identität, und sie beheimatet oft zentrale Funktionen für die Gesamtstadt. Sie ist der Ort, an dem verschiedene Formen von urbanität ihren Ausdruck finden. Städtisches Wachstum und städtische Wandlungsprozesse haben jedoch auch in den Innenstädten ihre Spuren hinterlassen und sie sowohl in ihrer Physiognomie als auch sozial, ökonomisch und kulturell verändert. In Abhängigkeit des jeweils möglichen Blickwinkels werden diese Veränderungen unterschiedlich konnotiert, wobei negative Zuschreibungen dominieren. Diese negativen Einschätzungen von Wandlungsprozessen und den daraus resultierenden Phänomenen1 lassen es anschließend plausibel erscheinen, den damit einhergehenden Strukturveränderungen durch gezielte Interventionen zu begegnen. 2.1.1
(Innen)städtischer Wandel und seine Konnotationen
Begriffe wie Stadtverfall, Degradation, blight oder decay, die zur Beschreibung des (innen)städtischen Wandels Anwendung finden, sind – v. a. je nach sprachlich-regionalem Forschungskontext – recht heterogen und deswegen nicht (immer) analog zueinander anwendbar (lichTeNberger 1990, S. 14). Im Folgenden soll vor dem Hintergrund der regionalen Ausrichtung der Arbeit neben der deutsch- und englischsprachigen Terminologie v. a. die lateinamerikanische/brasilianische Erwähnung finden. lichTeNberger (1990, s. 14 ff.) als eine der prominentesten deutschsprachigen Vertreter_innen des Themas, spricht von Stadtverfall. Dabei findet der Begriff bei ihr einerseits räumlich sowohl für die Gesamtstadt als auch für die Innenstadt Anwendung, und andererseits thematisch für bauliche Veränderungen sowie soziale Prozesse. Ein weiteres Begriffspaar ist Degradation (KräTKe 1995, S. 182) bzw. 1
Hierunter kann eine Vielzahl von Prozessen subsummiert werden, die zu nicht intendierten Phänomenen führen können. Darunter fallen z. B. die Veränderung von Gebäudenutzungen und der Zuwachs von Gebäudeleerständen, ein geändertes Nutzungsverhalten und neue Akteurskonstellationen im öffentlichen Raum, die Zunahme des Individualverkehrs, die Steigerung informeller Tätigkeiten sowie Funktionsveränderungen im Allgemeinen. um die oft mit diesen Wandlungsprozessen einhergehende, negative Bedeutungszuweisung nicht unbegründet zu übernehmen, werden diese Beispiele soweit wie möglich neutral dargestellt. Die Zusammenfassung der Beispiele wird aus eben diesem Grund allgemein als Wandel oder Veränderung bezeichnet.
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2 Theoretisches Fundament
Degradierung (Kraas 2010, S. 188). Degradation ist bei KräTKe v. a. als eine baulich-physiognomische Verschlechterung zu verstehen, während er für die sozioökonomischen Prozesse den Begriff der Abwertung benutzt. Kraas benennt unter dem Begriff der Degradierung eine breite Palette von innenstädtischen physiognomischen, sozialen und funktionalen Prozessen v. a. vor dem Hintergrund der Metropolen und Megastädte in Ländern des Globalen Südens. Aus der englischsprachigen Literatur wird v. a. der Begriff urban blight rezipiert (lichTeNberger 1990, S. 15; FassMaNN 2009, S. 172, Villaça 1998, S. 344), der dem ursprünglichen Wortsinn nach so viel wie Pilzbefall bedeutet, was auf die Gefahr der Ansteckung, also der räumlichen Ausbreitung des Phänomens verweist (FassMaNN 2009, S. 173). Der Begriff urban blight findet außer für die baulichen Strukturen auch auf soziale, ökologische und funktionale Phänomene Anwendung. Weitere Begriffe, die ähnlich oder synonym Verwendung finden, sind der laut lichTeNberger unscharfe Begriff urban decay für „soziale, ökonomische und städtebauliche Verfalls- und Krisensymptome“ (lichTeNberger 1990, S. 15) und urban decline, der v. a. auf die Abwanderung von Bevölkerung und Arbeitsplätzen abzielt. Die portugiesischsprachige/brasilianische Literatur zum Thema bedient sich v. a. zweier Begriffe: deterioração und decadência (Villaça 1998, S. 270; MaricaTo 2001, S. 134; Vargas & casTilho 2009, S. 3). Der Begriff der deterioração kann mit Verderben, Verschlechterung und / oder Verfall übersetzt werden, der der decadência mit Abstieg, Verfall, Niedergang oder eben Dekadenz. Ein weiterer bereits bekannter Begriff findet auch in diesem regionalen Kontext Anwendung: degradação, was auch mit Abbau und Verfall übersetzt werden kann (Vargas & casTilho 2009, S. 3). Villaça deutet explizit die beiden erst genannten Begriffe als Versuche, soziale Prozesse zu naturalisieren. Dabei bezieht er sich u. a. auf die ursprüngliche Bedeutung von deterioração, die für „... Verrotten, bedingt durch das Altern, von lebendigen Körpern, tierisch oder pflanzlich“2 (Villaça 1998, S. 345, eigene übersetzung), steht. Der Wandel der Innenstadt wird danach als normaler, rücksichtsloser Prozess in Folge der Alterung des Zentrums dargestellt. Diese Auslegung ist auch auf den Begriff decadência übertragbar. FassMaNN beschreibt diesen vermeintlichen Alterungsprozess: „Städtische Strukturen werden abgenützt und altern. Gebäude werden abbruchreif, funktionsuntüchtig oder bleiben als Brachflächen zurück. Neben den technischen Alterungsprozessen der baulichen Struktur einer Stadt stellt sich auch ein soziales Altern ein. Das soziale Altern der physischen Struktur besteht darin, dass diese nicht mehr den Bedürfnissen der Gegenwartsgesellschaft entspricht und daher, relativ betrachtet, alt geworden ist“ (FassMaNN 2009, S. 172).
Auch dem angloamerikanischen Begriff urban blight ist die Tendenz einer naturalisierenden Beschreibung des innenstädtischen Wandels inhärent (lichTeNberger 1990, S. 16; Villaça 1998, S. 344 f.). Neben der impliziten Naturalisierung des innenstädtischen Wandels beinhalten die Terminologie und die dahinter stehenden Prozesse für Villaça ferner auch die Verallgemeinerung partikularer Interessen. Die Beschreibung des Wandels ist überwiegend mit negativen Begriffen, die eine Verschlechterung der Situation nahele2
„... apodrecimento, por velhice, de corpos vivos, animais ou vegetais.“
2.1 Innenstadterneuerung und ihre auslösenden Momente
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gen, verbunden. Vor dem Hintergrund einer stark stratifizierten Gesellschaft wie der brasilianischen erachtet Villaça diese Sicht der Dinge als aus dem Blickwinkel der Oberschicht und ihrer Interessen mit Bezug auf „ihr“ Zentrum geprägt. Mit Hilfe der Presse und anderer Medien werden diese Vorstellungen zu allgemeinen Ansichten, derer sich in Folge auch Spezialisten und Intellektuelle bedienen (Villaça 1998, S. 344). Dies bedingt oft die unhinterfragte Verwendung von negativ belegten Begriffen unabhängig vom jeweiligen Kontext. 2.1.2
Innenstädtischer Wandel und Zentrumsverlagerungen – was war zuerst?
Die Beschreibung von innenstädtischem Wandel als ein quasi natürlicher Prozess ist nicht unumstritten. Insbesondere bei der Suche nach den auslösenden Momenten dieser Veränderungen und der oft mit diesen einhergehenden Verlagerungen von Zentrumsfunktionen ist dies von zentraler Bedeutung. Die Verlagerungen bzw. Herausbildungen neuer Zentrumsfragmente sind v. a. in Nord- und Südamerika zu beobachten. Schon in den 1930er Jahren nennt colby für Nordamerika ein Bündel von Faktoren, die Verlagerungen aus dem kernstädtischen Bereich begünstigen können. Dabei kommen sowohl solche zur Sprache, die ihre Gründe in der Innenstadt selbst haben, als auch solche, die eher in den neuen Erweiterungsbereichen zu suchen sind (corrêa 2003, S. 45). Wichtige Voraussetzung dieser räumlichen Verlagerung zu Beginn der Entwicklung war die Entstehung eines flexibleren (öffentlichen) (Personen)Nahverkehrs mittels Omnibussen, PKWs und LKWs sowie die Verfügbarkeit und flexible Nutzungsmöglichkeit von Erweiterungsflächen. Vor dieser Entwicklung war es den besser gestellten Schichten nicht möglich, ohne größere Entbehrungen die zentralen Stadtgebiete zugunsten von weiter entfernt liegenden aufzugeben. Folglich wurde das Stadtzentrum, wie Villaça (1998, S. 345) am Beispiel Brasiliens ausführt, selbst erneuert. Mit der Steigerung der (individuellen) Mobilität, die zu Beginn der Entwicklung v. a. der Oberschicht vorbehalten war, bot sich für diese die Möglichkeit, ihren Wohnsitz nach außerhalb des Zentrums zu verlegen. Wurden dazu in den brasilianischen Großstädten und Metropolen zunächst benachbarte Stadtgebiete ausgewählt, kam es im weiteren Verlauf zu einer Zunahme der Entfernung der Oberschicht-Wohnorte zum traditionellen Zentrum. Basierend auf dieser Verlagerung vollziehen auch Funktionen, die das Zentrum prägen wie beispielsweise der Einzelhandel für den gehobenen Bedarf, diesen Ortswechsel mit (Villaça 1998, S. 247 ff.; souza, 2003, S. 65). Diese Verlagerung der Konsummöglichkeiten – zunächst in neue Einzelhandelslagen, später dann auch in Shoppingcenter – ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass trotz der gestiegenen Mobilität versucht wird, den damit verbundene Zeitaufwand so gering wie möglich zu halten. Die Abwanderung gehobener Dienstleistungen und der damit verbundenen Arbeitsplätze erfolgt mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung. Mit der „Aufgabe“ des Zentrums durch die Eliten kommt es in einem überwiegend durch Marktgesetze gesteuerten Immobiliensektor zu einem Wertverlust der Gebäude im Zentrum aufgrund geringerer Nachfrage. Investitionen in die Instandhaltung sind damit weniger lukrativ und werden zunehmend unterlassen. In Folge dessen kommt es zu einer
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2 Theoretisches Fundament
Verschlechterung der Bausubstanz. Gleichzeitig hat der Immobiliensektor ein großes Interesse, die gestiegene Nachfrage an der Baubestandsfront zu befriedigen (Villaça 1998, S. 282; vgl. MaricaTo 2001, S. 134; carlos 2007, S. 88). Villaça betont, dass es angesichts des geschilderten Prozesses eben nicht die vermeintlich natürliche Verschlechterung der Bausubstanz sei, die zu der Aufgabe des Zentrums durch die Eliten führe, sondern es sich genau umgekehrt verhalte (Villaça 1998, S. 282). Weitere mögliche Folgen, die aus diesem Prozess resultieren, sind ein fortschreitender Funktionsverlust (bspw. der öffentlichen Verwaltung), sinkende Steuereinnahmen und ein damit verbundener Rückgang der Betätigung der öffentlichen Hand in den Bereichen Sauberkeit und öffentliche Sicherheit. Ferner konstatieren Vargas & casTilho als grundlegendes Phänomen: „Allgemein erfolgt die Bezugnahme auf degradierte Räume dann, wenn sich, neben den physischen Strukturen, der Nachhall derselben Situation in den sozialen Gruppen abzeichnet“3 (Vargas & casTilho 2009, S. 4, eigene übersetzung). Im Einzelnen ginge es um das Nachrücken von Aktivitäten geringerer Rentabilität und von informellen bis hin zu illegalen Tätigkeiten, die von Bewohner_innen und Nutzer_innen mit geringer bis keiner Kaufkraft ausgeführt würden. Mit dem Aufbau dieses Dualismus zwischen besser gestellten und benachteiligten Gruppen kann es in letzter Konsequenz zur Entstehung zweier voneinander getrennter Innenstädte kommen: „Die Tendenz ist jetzt, dass es zwei ,Haupt’zentren gibt, was offensichtlich eine unvereinbarkeit darstellt. Es kann nur ein ,Haupt’zentrum geben. Es fällt also der dominierenden Klasse anheim, auszuwählen, welches dieser Zentren das Zentrum der Stadt ist“4 (Villaça 1998, S. 282 f., eigene übersetzung, Hervorhebung im Original).
Diese Deutungshoheit der besser gestellten Gruppen resultiert Villaça zufolge aus der Möglichkeit, mittels der Presse als Sprachrohr entsprechende Diskurse zu dominieren. Er formuliert allerdings auch eine andere mögliche Betrachtungsweise: „Dasjenige, was man ideologisch als ,Dekadenz‘ des Zentrums bezeichnet, ist lediglich dessen übernahme durch die benachteiligten Schichten, eben dessen übernahme durch die Mehrheit der Gesellschaft. unter dieser Voraussetzung, dass das Zentrum wirklich das der Mehrheit ist, ist es Zentrum der Stadt“5 (Villaça 1998, S. 283, eigene übersetzung, Hervorhebung im Original).
Die Auslegung dessen, was (innen)städtischer Wandel bedeutet, ist vielfältig und nicht eindeutig. Meist wird dieser mit einer Verschlechterung eines vormals vermeintlich besseren Zustands gleichgesetzt. Diese Verschlechterung kann je nach Autor_in unterschiedliche Bereiche betreffen. Oft spielt der bauliche Verfall eine wichtige Rolle, meist wird aber auch ein sozioökonomischer Wandel von besser gestellten hin zu benachteiligten Gruppen mit dem Prozess assoziiert. Letztge3 4 5
„Em geral, a referência aos espaços degradados acontece quando, além das estruturas físicas, verifica-se a reverberação da mesma situação nos grupos sociais.“ „A tendência agora é de haver dois centros ,principais‘, o que, obviamente, é uma incongruência. ,Principal‘ só pode ser um. Cabe então à classe dominante escolher qual deles é o centro da cidade.“ „Aquilo a que se chama ideologicamente de ,decadência‘ do centro é tão-somente sua tomada pelas camadas populares, justamente sua tomada pela maioria da população. Nessas condições, sendo o centro realmente da maioria, ele é centro da cídade.“
2.1 Innenstadterneuerung und ihre auslösenden Momente
31
nannte Assoziation wird v. a. in Ländern des Globalen Südens mit einem schon seit längerem erreichten hohen urbanisierungsgrad wie bspw. in Südamerika als ein bedeutsames Charakteristikum des Wandlungsprozesses angesehen. Ferner wird deutlich, dass der Wandel der Innenstädte kein isoliertes Phänomen darstellt, sondern unmittelbar mit der übrigen Stadtentwicklung verknüpft ist. Die Möglichkeit zu und die Realisierung von Zentrumsverlagerungen sind in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung. Inwieweit jedoch die Zentrumsverlagerungen auslösendes Moment für den innenstädtischen Wandel sind, oder ob es sich umgekehrt verhält, ist umstritten. In Städten, die in ihrem Entwicklungsprozess traditionell stark marktorientiert geprägt sind wie in Amerika, verstärkt die Gewinnerwartung des Immobiliensektors die Entwicklungstendenzen zusätzlich. Allgemein sind die Darstellungen von Veränderungen stark normativ geprägt, wobei die negativen Konnotationen, die oft mit den Interessenlagen der urbanen Eliten zusammenfallen und entsprechend von diesen aufgegriffen werden, im Vordergrund stehen. Dazu zählen beispielsweise die Vernachlässigung der Bausubstanz, die zu einem Wertverfall der Immobilien führen kann, die Verkehrsüberlastung, die den Zugang zum Zentrum erschwert oder der informelle Straßenhandel und die dadurch verursachte Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Trotz dieser vermeintlichen Verschlechterungen in den traditionellen Stadtzentren und der parallelen Möglichkeit in neue Zentren auszuweichen, bleibt das ursprüngliche Zentrum bedeutsam oder gewinnt mit zeitlicher Verzögerung wieder an Bedeutung. Wenn von der von Villaça postulierten Definitionshoheit der dominierenden Schichten Gebrauch gemacht worden sein sollte, dann meist zu Gunsten des originären Zentrums. Dieses bestehende oder neu aufkeimende Interesse an dem Zentrum, verbunden mit Versuchen, als negativ betrachtete Entwicklungen rückgängig zu machen, resultiert aus den angerissenen stadtimmanenten Motiven einflussreicher Akteure, aber auch aus von außen der Stadt aufoktroyierten, global wirksamen Beweggründen. 2.1.3
Neoliberalisierung und Globalisierung als Motive für innenstadtinterventionen
Mögliche Gründe, die für Eingriffe im Zentrum zu dessen bewusster Veränderung sprechen können, sind die dort vorhandene technische und soziale Infrastruktur, der soziodemographische Wandel und damit einhergehende veränderte (Wohn)Ansprüche an das Zentrum (auch in Verbindung mit der Reduzierung der Pendlerbewegungen), die Bedeutung für die Stadtgeschichte sowie die Vielfältigkeit und damit verbundene Einzigartigkeit (Vargas & casTilho 2009, S. 6). Die genannten Gründe resultieren zunächst aus dem jeweiligen individuellen urbanen Kontext. Allerdings reichen diese internen Motive zur Erklärung von Innenstadtveränderung nicht (mehr) aus. Weitere Gründe sind in übergeordneten, globalen Rahmenbedingungen wie dem dominierenden Paradigma des Neoliberalismus und dem Prozess der Globalisierung zu suchen.
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2 Theoretisches Fundament
Abb. 2: Mindmap: Unternehmen Stadt im Neoliberalismus
Weltweit sind in den Stadtpolitiken Strategien zu erkennen, die in ihrer Art an das Handeln von unternehmen erinnern (vgl. Abb. 2). Die lokale Regierung widmet sich nicht mehr in erster Linie dem Verwalten, sondern in zunehmendem Maße dem unternehmerischen Handeln. Dabei geht es um die Schaffung und Aufrechterhaltung eines guten Klimas zur unternehmensansiedlung, die Attraktivitätssteigerung, private Kapitalakkumulation durch die Förderung harter und weicher Standortfaktoren und auch die Einwerbung öffentlicher Gelder von nationalen und transnationalen Stellen (heeg & rosol 2007, S. 492 ff.). Es gilt auch auf Seiten der Stadt die erforderliche Flexibilität und Deregulierung unter Beweis zu stellen, um möglichst zeitnah auf sich verändernde Standort-Nachfragen von global agierenden unternehmen reagieren zu können und ein für diese attraktives Angebot zu schaffen. Andere Städte sind in diesem Prozess Mitbewerber bzw. Konkurrenten, denen gegenüber es gilt, sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen (harVey 1987, S. 112 f.). um diese Ziele zu erreichen, wird zunehmend auf strategische Stadtplanung und entwicklung6 gesetzt (borsdorF & coy 2009, S. 343; Vargas & casTilho 2009, S. 37; VaiNer 2011, S. 75 f.; vgl. Abb. 3). Die Stadt ist gleichzeitig Produkt, unternehmen und Heimatland, wie VaiNer ausführt (2011, S. 75 ff.) Er bezieht sich dabei auf Texte der „Sprachführer der stra6
Der strategischen Planung ähnlich ist die an der entsprechenden Nachfrage orientierte, marktgesteuerte Planung. Dieser steht die traditionelle Stadtplanung gegenüber, die eher angebotsorientiert ist und auf allgemeine städtische Anforderungen und Bedürfnisse – basierend auf entsprechenden Erhebungen – abzielt (Vargas & casTilho 2009, S. 32). Ihr wiederum ähnlich ist die Stadtentwicklungsplanung, die umfassende Ziele der Entwicklung verfolgt (bodeNschaTz 2008, S. 22).
2.1 Innenstadterneuerung und ihre auslösenden Momente
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Abb. 3: Stadtplanungsparadigmen
tegischen Stadtplanung“ (VaiNer 2011, S. 77), wie die katalanischen/spanischen Wissenschaftler und Berater Jordi Borja, Manuel Castells und Manuel de Forn, deren Ideen und Ansätze in die Entwicklungsplanung einer steigenden Zahl brasilianischer und lateinamerikanischer Städte Eingang finden (VaiNer 2011, S. 77). Die Stadt ist eine Ware, die durch Attribute ausgezeichnet ist, die für transnationale unternehmen von Interesse sind: z. B. Kongresszentren, Messen, Industrieparks, Büroinfrastruktur als physische Eigenschaften einerseits, ein attraktives und / oder sicheres bzw. – allgemeiner – ein positiv konnotiertes Stadtimage als immaterielles Kennzeichen andererseits. Neben potenziellen Investoren werden dabei als Zielgruppe v. a. zahlungskräftige Besucher_innen und Nutzer_innen angesprochen. Diese Produkte schafft die Stadt als unternehmen selbst. Wichtig ist bei den entsprechenden Planungen, dass die Stadt möglichst realistisch, wettbewerbsfähig und beweglich agieren kann. Diese marktorientierte bzw. geleitete Steuerung städtischer Entwicklung führt zu zunehmendem Einfluss privater Akteure zu Lasten von politischen Akteuren. „[…] die Analogie Stadt-unternehmen setzt einerseits die Entpolitisierung der Stadt voraus und legt anderseits gleichzeitig diese nahe, wobei die Stadt in einen ‚Ort der territorialen Einschreibungen von Managementformen anstelle der Stütze politischer Identität‘ (dreyFuss & MarchaNd, 1995: 73) transformiert wird“7 (VaiNer 2011, S. 90, eigene übersetzung). um dieses Management zu gewährleisten, bedarf es einer geschlossen agierenden, einigen Stadt. Opposition und Widerstand sind dem angestrebten Management abträglich. Diese Eintracht soll erreicht werden, indem einerseits Konsens über das allgemeine Bewusstsein der Krise der Stadt gefordert wird, angesichts derer von eigenen Belangen abzusehen sei, und andererseits lokaler Patriotismus und kollektiver Stolz über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Stadt propagiert wird. Die neoliberalen Prinzipien wie Deregulierung und Flexibilisierung betreffen aber nicht nur unternehmen oder Städte, sondern auch viele Einzelne. Sich vertiefende Arbeitsteilung, weitgehende Auslagerung von Aufgaben und zunehmende Ablösung von „Normal“-Arbeitsverhältnissen sind v. a. im wissensorientierten und kreativen Dienstleistungssektor zu beobachten. Zumindest in den uSA und Europa steigt in Städten der Anteil von Beschäftigung in der Kreativwirtschaft, in der Originalität, Kreativität, unkonventionelle Ideen und ästhetische Gestaltung von Pro7
„... a analogia cidade-empresa supõe, ao mesmo tempo que propõe, a despolitização da cidade, transformada em ,lugar de inscrição territorial de formas de gestão, e não mais suporte de identidade política‘ (dreyFuss & MarchaNd, 1995: 73).“
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2 Theoretisches Fundament
dukten gefragt sind. um erfolgreich agieren zu können, bedürfen die Kreativarbeitenden der Verbindung zu wettbewerbsfähigen Branchen. An den städtischen Raum stellen sie spezifische Anforderungen (z. B. nach Dienstleistungs-, Kultur- und Arbeitsangeboten), die u. a. helfen, gewisse unsicherheiten ihrer Tätigkeiten zu kompensieren (braKe 2011, S. 72 ff.). Angesichts der Vielzahl von Akteuren und ihrer unterschiedlichen Interessen kommt es aber auch innerhalb des „unternehmens“ Stadt und trotz des Credos zu Konsens und lokalem Patriotismus zur Verfolgung von gruppenindividuellen Zielen. Die daraus resultierende Stadtentwicklung nennt saNTos „korporative urbanisierung“ („urbanização corporativa“; saNTos 2005, S. 120). Dabei zielt er nicht nur auf die Tatsache ab, dass Städte günstige Bedingungen zur unternehmensansiedlung schaffen, sondern auch darauf, dass geschlossene, sich um ihre jeweils exklusiven Interessen versammelnde Gruppen ihre Anliegen versuchen durchzusetzen. „Die derzeitige Stadt eignet sich für die Neuschaffung dieser Art von Segmentierung durch das Auftauchen von mehr oder weniger organisierten Gruppen, die auf diffuse Art und Weise oder mit Hilfe von mehr oder weniger aggressiven und mehr oder weniger ausgestatteten Lobbys mit Diskursen, Marketing, dauerhaften Partnerschaften oder Gelegenheitszusammenschlüssen, Strategien und Taktiken für die überlegenheit ihrer sektoralen Forderungen kämpfen“8 (saNTos 2005, S. 120; eigene übersetzung).
Zu diesen Interessenzusammenschlüssen zählt saNTos ohne unterschied u. a. Berufsgruppen, Bürgerinitiativen auf Stadtteilniveau, Eigentümervereinigungen und auch ethnische Gruppen sowie die neue Mittelschicht. Angesichts einer an marktwirtschaftlichen Kriterien orientierten Stadtentwicklung und des in diesem Zusammenhang an Bedeutung gewinnenden Konsums sieht saNTos den Bürger und öffentlichen Menschen hinter den Nutzer und Konsumenten zurücktreten. Dieser Bedeutungsverschiebung entsprechend ist die Forderung nach Rechten der Suche nach Privilegien gewichen (saNTos 2005, S. 120 f.). Bei der Produktion und Vermarktung der wettbewerbsfähigen Stadt für so unterschiedliche Akteure ebenso wie bei der Förderung des Lokalpatriotismus kommt der Innenstadt – v. a. von Großstädten und Metropolen – eine besondere Bedeutung zu. Sie bietet Vorteile, wenn es darum geht, Alleinstellungsmerkmale zu stärken, die Bekanntheit einer Stadt zu steigern (heeg & rosol 2007, S. 492, 494) und das jeweilige Stadtimage zu vermarkten (Kraas 2010, S. 188 f.). Das Zentrum verwandelt sich in eine Ware, die von Investor_innen, kaufkräftigen Bewohner_innen und Tourist_innen konsumiert werden kann (Vargas & casTilho 2009, S. 44). Entsprechende Maßnahmen in Innenstädten, die diesen Zielen dienen sollen, sind vielfältig. Aufwertung von Gebäuden, Ansiedlung von Bürokomplexen und Errichtung von Prestigeobjekten bspw. für kulturelle Anlässe (Kraas 2010, S. 189) können ebenso dazu zählen wie die Verbesserung der Qualität öffentlicher Plätze oder die Erhöhung der Originalität der Infrastruktur (borJa 1997 in: VaiNer 2011; S. 95). 8
„A cidade atual presta-se à recriação desse tipo de segmentação, com a emergência de grupos mais ou menos organizados, lutando de maneira difusa ou com o apoio de lobbies mais ou menos agressivos e mais ou menos aparelhados, através de discursos, marketing, alianças duráveis ou colusões ocasionais, estratégias e tácticas pela prevalência de suas reivindicações setoriais.”
2.1 Innenstadterneuerung und ihre auslösenden Momente
35
Weitere Versuche der Attraktivitätssteigerung sind die Durchführung von kulturellen und sportlichen Großveranstaltungen (Weltausstellungen, Foren der Kulturen, Weltmeisterschaften, Olympiaden) und die Realisierung von Großprojekten wie bspw. Waterfront-Projekte. Angesichts des dargestellten Konsensbedürfnisses als Voraussetzung für ein erfolgreiches städtisches Management ist es ferner auch von Bedeutung, das von diesem eingeforderten Konsens mitunter abweichende Verhalten und Agieren u. a. im öffentlichen Raum zu kontrollieren und ggf. zu sanktionieren (heeg & rosol 2007, S. 494 f.). Eine zu weitgehende Nivellierung und unterdrückung unterschiedlicher Ansichten und Haltungen ist aber wiederum zu Gunsten von Kreativarbeitenden zu vermeiden. Ein vielfältiges, offen zugängliches Angebot, eine kleinräumige Nutzungsmischung, einfache Mobilität, öffentlich nutzbare Orte und allgemein ein urbanes Milieu schaffen „,Optionsräume‘“ und „Gelegenheits-Strukturen“ (braKe 2011, S. 74, 76), für die Innenstädte wichtige Voraussetzungen bieten können. Eine Vielzahl von Motiven führt zu Interventionen in Innenstädten. Originär intraurbane Gründe, ausgelöst durch den (innen)städtischen Wandel, spielen dabei ebenso eine Rolle wie externe, der Globalisierung und der Neoliberalisierung geschuldete Auslöser. Dabei stellt die dargestellte Vielfalt einerseits eine Herausforderung vor dem Hintergrund dar, dass nicht alle erwähnten Interessen zu befriedigen sind. Andererseits bilden diese Motive einen Pool, in dem viele Rechtfertigungen für Eingriffe im Stadtzentrum zur Verfügung stehen. 2.1.4
Interventionen in der Innenstadt – die Hydra der Begriffe
Bei der Benennung der Prozesse und Veränderungen, die zum Wandel der Innenstadt beigetragen haben, besteht eine recht heterogene Begriffsvielfalt (s. Kapitel 2.1.1). Nicht minder vielfältig werden die Eingriffe und Maßnahmen benannt, die zu einer bewussten Veränderung der Innenstädte beitragen sollen. Analog zu den negativ konnotierten Begriffen für den nicht-intentionalen Wandel sind die Begriffe für die intendierten Prozesse, die dem Wandel begegnen sollen, tendenziell positiv belegt. Allerdings gibt es aufgrund der vielfältigen und teilweise entgegengesetzten Interessenslagen – von denen im vorangegangenen unterkapitel v. a. diejenigen zur Sprache kamen, die im Zusammenhang mit dem „unternehmen“ Stadt von Bedeutung sind – auch Auseinandersetzungen mit dem Thema, bei denen entweder Begriffe Verwendung finden, die diese Eingriffe und ihre Folgen kritisch benennen, oder bei denen vermeintlich positiv besetzte Begriffe einer sorgfältigen Analyse bzgl. ihrer (zusätzlichen) Bedeutungen unterzogen werden. Neben dieser interessengeleiteten Begriffsaufspaltung kommt auch hier die (fremd)sprachliche Differenzierung hinzu, die nicht zuletzt wiederum von unterschiedlichen Stadtpolitiksystemen geprägt ist. Auch wenn die im Anschluss behandelten Begriffe überwiegend heute Verwendung finden, sind zusätzlich auch Aspekte der historischen Entwicklung der jeweiligen Begriffe und damit auch mögliche Bedeutungsverschiebungen zu berücksichtigen.
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2 Theoretisches Fundament
Im deutschsprachigen Raum gibt es drei immer wiederkehrende Begriffe, die Interventionen im städtischen Raum beschreiben: Stadtsanierung, Stadtumbau und Stadterneuerung. Dabei unterscheiden sie sich v. a. hinsichtlich ihres Ausmaßes, diese Interventionen betreffend. Allerdings sind ihre Verwendungen und Definitionen nicht einheitlich. häusserMaNN eT al. (2008, S. 112 ff.) sehen Stadtsanierung als einen übergeordneter Begriff an, der Substanz- und Funktionssanierung umfasst. Hierunter subsummieren sie zum einen den Stadtumbau, der auf einen funktionalen Wandel hinausläuft und z. B. den Austausch einer unrentablen Nutzung gegen eine rentablere beinhaltet, und zum anderen die Stadterneuerung, die der Bausubstanzsanierung entspricht und die Funktionen unverändert belässt. In diesem Sinne werden auch die Bestrebungen der 1970er/80er Jahre zur sanften bzw. behutsamen Stadterneuerung im deutschsprachigen Raum verstanden, bei denen die strukturenschonende Erneuerung des Altbaubestands bei Beibehaltung der Sozialstruktur im Mittelpunkt stehen (lichTeNberger 1990, S. 33; holM 2010, S. 13). auf der von häusserMaNN eT al. (2008, S. 113 ff.) als übergeordnet betrachteten Ebene der Stadtsanierung werden drei Ziele formuliert: Anpassung der Stadtstruktur an neue funktionale Anforderungen (bspw. geänderte Verkehrs- und Nutzungsinteressen), Anpassung der physischen Bausubstanz an veränderte Anforderungen und die Sozialstruktursanierung, die das Aufbrechen eines homogenen Milieus aus Armut und Marginalität anstrebt. Letztere soll der „sozialpolitische[n] Befriedung“ und der „strukturelle[n] Harmonisierung“ (holM 2010, S. 48) durch den intendierten, an der ,sozialen Mischung‘ der Gesamtstadt orientierten Wandel von Nachbarschaften, in denen mehrheitlich sozioökonomisch Benachteiligte leben, dienen. anders als häusserMaNN eT al. verstehen borsdorF & beNder (2010, S. 216 ff.) Stadtsanierung lediglich als die umsetzung baulicher Maßnahmen zum Erhalt und zur Verbesserung der Gebäude und der Infrastruktur und Stadterneuerung als den breiteren Begriff, der auch soziale und wirtschaftliche Strukturen und Funktionen berücksichtigt. Dies entspricht auch dem Verständnis von Stadterneuerung in der deutschen Gesetzgebung (häusserMaNN eT al. 2008, S. 113). Ein ähnliches Verständnis von Sanierung kommt bei Kraas (2010, s. 188 f.) mit Blick auf Megastädte im Globalen Süden zum Ausdruck, die darunter die Aufwertung von Bausubstanz, den Erhalt des historischen Erbes und den Denkmalschutz versteht, mit dem Ziel, Zentrumsfunktionen wieder zurück zu gewinnen. Einen analogen Zusammenhang zwischen expliziten Sanierungsmaßnahmen (Erneuerung innerstädtischer Altbauquartiere) und impliziten Folgen (Aufwertungs- und Verdrängungsprozesse) stellt holM (2010, S. 12) her, während Stadterneuerung seinem Verständnis nach ebenfalls breiter zu verstehen ist und „meist auf die Attraktivierung der Innenstadtbereiche und die aktive unterstützung sozialer Aufwertung“ (holM 2010, S. 41) abzielt. Eingriffe in die baulich-physische Substanz lassen sich noch einmal in Flächen- und Objektsanierung untergliedern. Bei ersterer geht es um großflächige Eingriffe, die durch den Abriss alter Bausubstanz und die Neubebauung unter Inkaufnahme der Veränderung der sozialen Strukturen gekennzeichnet sind, während unter Objektsanierung oder auch erhaltender Sanierung die alten Bau- und Sozialstrukturen bei der umsetzung Berücksichtigung finden sollen (borsdorF & beNder 2010, S. 218). Im uS-amerikanischen Kontext gibt es für die
2.1 Innenstadterneuerung und ihre auslösenden Momente
37
Eingriffe mittels baulicher Maßnahmen den Begriff rehabilitation, beschrieben als die „Hintanstellung der Slumbildung durch rechtzeitige Teilerneuerung und Renovierung bestehender Strukturen“ (lichTeNberger 1990, S. 27), sowie den Terminus urban renewal, der dem der Flächensanierung9 nahe kommt (Vargas & casTilho 2009, S. 8 f.). In dieser Arbeit wird der zuletzt dargelegten Terminologie und ihren Begriffsbedeutungen gefolgt, wonach Stadterneuerung als der umfassendere Ausdruck verstanden wird und Stadtsanierung hauptsächlich physische Eingriffe in die Stadtstruktur meint. Die drei von häusserMaNN eT al. dargestellten Ziele (s. o.) der Stadtsanierung können dabei auf die Stadterneuerung analog Anwendung finden. Aufgrund der regionalen Ausrichtung dieser Arbeit sind zusätzlich auch die angloamerikanischen und v. a. die portugiesischen/brasilianischen Begriffe von besonderer Relevanz. Anders als in der deutschsprachigen Literatur sind die Termini, die zur Beschreibung von Eingriffen in (Innen)Städten Anwendung finden, in angloamerikanischen, aber auch in portugiesischen und brasilianischen Publikationen oft durch das Präfix re- geprägt. Diese Vorsilbe „verweist auf eine Rückwärtsbewegung, zurück [...], auf etwas, das das schon [einmal] Existierende in einer neuen Form wiederholt“10 (VascoNcellos & Mello 2009, S. 53, eigene übersetzung). Je nachdem, was wieder an Bedeutung gewinnen soll und abhängig von dessen Wahrnehmung, kann der Begriff verheißungsvoll und faszinierend (vgl. braKe 2011, S. 70) sein. Er weckt so aber auch Erwartungen, deren Erfüllung mit nicht unerheblichen Herausforderungen verbunden sein kann. Außerdem ist auch der umgekehrte Fall denkbar, Begriffe mit diesem Präfix als bedrohlich und gefährlich wahrzunehmen, da die Rückwärtsbewegung in diesem Fall mit Risiken in Verbindung gebracht wird. VascoNcellos & Mello (2009, S. 56 ff.) skizzieren die Begriffsentwicklung im 20. Jahrhundert anhand von in Brasilien rezipierten, meist breit angelegten Denkmalschutz-Chartas (cartas patrimoniais). In der carTa de lisboa sobre a reabiliTação urbaNa iNTegrada (Charta von Lissabon zur integrierten Stadtsanierung) von 1995 werden einige in der brasilianischen Literatur verwendete Begriffe definiert. Der Begriff der renovação beinhaltet demnach in degradierten Gebieten den Abriss der vorhandenen Strukturen und deren Ersatz durch zeitgenössische Architektur und kommt damit dem englischsprachigen Begriff des renewal nahe. unter reabilitação versteht man der Charta gemäß die Re-Qualifizierung der Stadt durch die Aufwertung sozialer, wirtschaftlicher und funktionaler Potenziale einschließlich der Verbesserungen der physischen Struktur unter Beibehaltung der Identität und der jeweiligen Charakteristika (VascoNcellos & Mello 2009, S. 59 f.). In vergleichbarer Weise beschreibt MaricaTo (2001, S. 125 f.) die Begriffe 9
10
Urban renewal wörtlich übersetzt würde Stadterneuerung bedeuten. Damit würden aber hinsichtlich der inhaltlichen Bedeutung zwei verschiedene Prozesse der Interventionen miteinander vermischt. um diese Verwirrungen nach Möglichkeit zu vermeiden, wird hier sowohl bei den englisch- wie auch den portugiesischsprachigen Begriffen auf eine unmittelbare übersetzung verzichtet. Lediglich in den Fällen, in denen Begriffe in unterschiedlichen Sprachen für dieselben Prozesse Anwendung finden, wird darauf entsprechend hingewiesen. ... „indica um movimento de volta, para trás [...], alguma coisa que repete o já existente com uma nova forma.“
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2 Theoretisches Fundament
renovação und reabilitação. Renovação – etwas breiter verstanden – umfasst demnach das Ersetzen von alten, abgewerteten Gebäuden durch neue, größere Gebäude, den Nutzungswandel hin zu dynamischen Branchen der Wirtschaft und die Verdrängung der Wohnbevölkerung aufgrund der Wertsteigerung der Immobilien. Reabilitação beinhaltet dagegen Maßnahmen, die die gebaute umwelt zu verbessern und zu schützen versuchen; vorhandene Nutzungen bleiben bestehen und es ist keine EntCharakterisierung des Stadtgefüges intendiert. Ein weiterer Begriff der Carta de Lisboa ist der der revitalização. Auch er umfasst die Belebung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens und ist damit dem Begriff der reabilitação nicht unähnlich. Anders als im Falle der reabilitação wird bei revitalização aber kein ausdrücklicher Wert auf die Erhaltung der Identität und der jeweiligen Charakteristika des betreffenden Ortes gelegt. In diesem Fall gibt es Parallelen zum Begriff der renovação, da per Definition in beiden Fällen auch grundlegende Veränderungen in physiognomischer, funktionaler und / oder sozialer Hinsicht erfolgen können. Entsprechend pointiert formuliert carlos eine Beschreibung von revitalização: Es handele sich um einen „,processo autofágico‘“ („selbstzerstörerischer Prozess“) (carlos 2007, S. 89), der der Aufwertung des städtischen Bodens, der Vertiefung der Segregation, dem Verlust der Identität und der Verdrängung von „,população inadequada‘“ („unangemessene Bevölkerung“) diene. Wenn auch weniger polemisch in der Wortwahl, aber in der Sache ähnlich ambivalent betrachtet Kraas Revitalisierung im Kontext von Megastädten im Globalen Süden mit Blick auf die möglichen Maßnahmen (und Folgen), wie z. B. „tiefgreifende Modernisierung des Innenstadtzentrums, Aufwertung von Gebäuden für hochrangige Dienstleistungen, gezielte Förderung der Ansiedlung von Bürokomplexen oder großen Prestigeobjekten [...] oder auch [...] die Entfernung von Straßenhandel und Garküchen. Allerdings stellt sich gerade in den Entwicklungsländern die Frage nach der sozialen Ausgewogenund Angemessenheit, denn die vielerorts entstehenden sogenannten Waterfront-Projekte, Kultur- und Kongresszentren, Geschäfts- und Restaurant-Meilen orientieren sich an der Nachfrage der kaufkräftigen Bessergestellten und können zu inselartigen Stadtfragmenten werden, die die übrige Bevölkerung ausschließen“ (Kraas 2010, S. 189 f.).
Ein anderer Terminus, den VascoNcellos & Mello (2009, S. 60 f.) anführen, ist regeneração, der einen Prozess benennt, der die Sanierung des Stadtgefüges umfasst, ohne dieses zu zerstören, implizit aber auch eine wirtschaftliche Sanierung – unter Einbeziehung der entsprechenden Akteure in Planung und umsetzung – anstrebt. Es bestehen somit zum einen Parallelen zum Begriff der reabilitação, andererseits gibt es aber auch unterschiede dergestalt, dass (erstmals explizit) nichtstaatliche Akteure Eingang in die Beschreibung finden. Bei Vargas & casTilho (2009, S. 5) findet ein weiterer Begriff, der der recuperação, Verwendung. Auch dieser ist breit gefasst und entsprechende Maßnahmen haben als Ziele, das Stadtimage zu verbessern, die Nutzung der Gebäudesubstanz zu fördern und damit zur Aufwertung des gebauten Eigentums beizutragen, die vorhandene Infrastruktur bestmöglich zu nutzen, den Handel zu beleben und so neue Arbeitsplätze zu schaffen und Aktionen durchzuführen, um Investitionsanreize zu schaffen. Während im Begriff der regeneração das neoliberale Paradigma durch die Benennung zu involvierender Akteure mitschwingt, kommt es bei der Beschreibung von recuperação in der Zielformulierung zum Ausdruck.
39
2.1 Innenstadterneuerung und ihre auslösenden Momente
Stadterneuerung
Stadtsanierung
erhaltende (eh) und umwandelnde (uw) - Bausanierung (BaS) - Fuktionssanierung (FuS) - Sozialstruktursanierung (SoStS)
erhaltende (eh) und umwandelnde (uw) Bausanierung (BaS)
revitalização eh & uw BaS eh & uw FuS eh & uw SoStS
≈
Flächensanierung uw BaS
eh BaS
regeneração eh BaS eh & uw FuS eh & uw SoStS
≈
recuperação
urban rehabilitation
eh BaS eh FuS eh & uw SoStS
eh BaS [eh FuS] [eh & uw SoStS]
reabilitação eh BaS eh FuS eh SoStS
Objektsanierung
[...] eh ≈
≈ urban renewal/ renovação urb. uw BaS [eh & uw FuS] [eh & uw SoStS]
: mögliche implizite Folgen : tendenziell untergeordente Ziele/Folgen : ähnlich
Eigene Darstellung u. a. nach: KRAAS 2010; HOLM 2010; LICHTENBERGER 1990; VACONCELLOS & MELLO 2009.
Abb. 4: Typologie der Begriffe zu Interventionen in (Innen)Städten
Die dargestellte Nomenklatur zu Eingriffen in (Innen)Städten zeigt die Bandbreite, wie diese v. a. in deutschsprachigen und luso-brasilianischen wissenschaftlichen Publikationen definiert und beschrieben werden. Sie unterscheiden sich in vielfacher Hinsicht. Dennoch ist es möglich, durch die Beschreibung der jeweiligen Definitionen mit zusammenfassenden Attributen eine Typologie der Begriffe vorzunehmen (vgl. Abb. 4). Diese Attribute können jeweils erhaltende und / oder umwandelnde Bau-, Funktions- und Sozialstruktursanierung (im Sinne der Schaffung einer „sozialen Mischung“) sein. Stadterneuerung als ein möglicher übergreifender Begriff umfasst dabei alle sechs möglichen Ausprägungen von Eingriffen und Zielen, während Stadtsanierung v. a. erhaltende und / oder umwandelnde Bausanierung beinhaltet. Diese lässt sich hinsichtlich der deutschsprachigen Begriffe noch einmal in Flächensanierung, also umwandelnde Bausanierung und Objektsanierung für erhaltende Bausanierung untergliedern. In der angloamerikanischen Nomenklatur lässt sich Stadtsanierung noch einmal unterteilen in urban renewal, eine weitgehende, umwandelnde Bausanierung mit möglichen Konsequenzen auch für die Funktionen und die Sozialstruktur und in urban rehabilitation, die erhaltende Bausanierung – ebenfalls mit denkbaren impliziten Folgen für die Funktionen und sozialen Strukturen. Der luso-brasilianische Begriff der renovação urbana entspricht weitgehend dem des urban renewal. Weniger leicht ist die Ordnung der anderen Begriffe reabilitação, revitalização, regeneração und recuperação. Wenn auch vereinfachend, so
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2 Theoretisches Fundament
lassen sich die beiden ersten Begriffe am ehesten als gegenüberliegende Pole darstellen, wobei revitalização die am weitest gehenden Eingriffe und Ziele auf allen drei Ebenen umfasst, während reabilitação hauptsächlich die erhaltenden Maßnahmen der drei Ebenen beinhaltet. Die beiden anderen Begriffe lassen sich zwischen diesen beiden Polen einordnen. unabhängig von diesen in wissenschaftlichen Publikationen Verwendung findenden Begriffen weicht deren Verwendung und Verständnis im angewandten Bereich der Stadtplanung und entwicklung und dort wiederum je nach involvierten / betroffenen Akteuren mitunter ab (vgl. Exkurs Revitalização, Requalificação & Co.). Außerdem spielen neben den reinen Definitionen der verwendeten Begriffe auch die expliziten und impliziten Ziele, die tatsächlich damit verbundenen Maßnahmen, die dabei Beteiligten und davon Betroffenen und die intendierten und nicht-intendierten Folgen eine wichtige Rolle. Exkurs: Revitalização, Requalificação & Co. – Alter Wein in neuen Schläuchen? – Die Begriffe in der Praxis Die teilweise vermeintlich objektiv und sachlich wirkenden Begriffe, mit denen gewollte Eingriffe in Innenstädten beschrieben werden, sind – wie oft im Falle von Termini, die sowohl in den Wissenschaften als auch im Alltag und der Praxis Verwendung finden – wechselseitig beeinflusst und gefärbt. Mit der Zeit lässt sich nicht mehr beurteilen, welche Beeinflussung für die Definition stärker war – ob vonseiten der Wissenschaft oder der Praxis – und häufig wechselt dies auch zwischen beiden Polen. Ferner kann die allgemeine Verwendung eines Begriffs im Alltag weitere Konnotationen hervorbringen, die für die jeweiligen Nutzer_innen wichtig sind und mit Hilfe derer ein Begriff erst in seiner ganzen Breite beschrieben werden kann, die bei fachwissenschaftlich engeren Betrachtungen nicht unbedingt Beachtung findet. Vor dem geographischen und planerischen Hintergrund verweist Souza auf die Relevanz, nicht nur professionelle Planer_innen in diese Debatte der Definitionen mit einzubeziehen, sondern alle Raumproduzenten („produtores de espaço“) (souza 2011, S. 148). Im stadtgeographischen und -planerischen Bereich verweist er beispielsweise explizit auf die dort tätigen sozialen Bewegungen. Deren Beschreibungen und Erklärungen sollte dabei auf Augenhöhe begegnet werden. Auf diese Weise ist es schließlich möglich zu eruieren, inwieweit Begriffe „[…] Objekte eines ideologischen Disputs und jenseits des technischen Terminus (oder diesem vorausgehend) Wörter des Alltags und Komponenten des Macht- und Gegenmachtdiskurses sind“11 (souza 2011, S. 151; eigene übersetzung). Angesichts dessen sollen im Folgenden die Aussagen der im Verlauf der Forschungen zu dieser Arbeit Interviewten zu den entsprechenden Begriffen dargestellt und eingeordnet werden. In den Interviews mit verschiedenen Stakeholdern im Zentrum São Paulos wurde zwar nicht explizit gefragt, was sie jeweils unter den 11
„[…] objeto de disputa ideológica e que são, além de (ou antes) de termos técnicos, palavras do cotidiano e componentes de discursos de poder e contrapoder.”
2.1 Innenstadterneuerung und ihre auslösenden Momente
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Begriffen verstehen, dennoch kam dies im Verlauf der Interviews häufig zur Sprache12. Lediglich Luis Ramos, Leiter des technischen Beraterstabs für Stadtplanung im munizipalen Amt für Stadtentwicklung und in dieser Funktion auch Teil der Stadtregierung von Kassab beantwortete die Frage, was unter Stadtentwicklung verstanden wird, ausdrücklich13: „Der Begriff Revitalisierung birgt eine kleine Kontroverse in sich, wenn man sich der Transformation des Stadtgebietes nähert. Das Wort „revitalizar“ [wiederbeleben] wird oft mit dem Ziel verbunden, „neues Leben zu bringen“ und seine Verwendung ist somit in verschiedenen Situationen nicht angemessen. Das Zentrum von São Paulo ist ein gutes Beispiel in dieser Richtung, mit all seiner Dynamik, der installierten Infrastruktur und der Vielfalt an Dienstleistungen, die es bietet. In diesem Fall ist der Begriff „requalificação“ [Requalifizierung] oder das Verb „requalificar“ [qualifizieren] besser, die im Wesentlichen versuchen, einem öffentlichen Raum, der bereits über Leben verfügt, Qualität zu bringen. Ein Beispiel, wo der Begriff „revitalização“ [Wiederbelebung] verwendet werden kann, wäre im Bereich der aufgegebenen Fabrikhallen im Distrikt Mooca. Die Operação urbana Vila Carioca/Mooca beabsichtigt, dort wieder einen Strom von Menschen und Dienstleistungen in Gang zu setzen. So würde ein Ort, der absolut ungenutzt und doch strategisch ist, eine andere Dimension erhalten, die im Einklang mit seiner Bedeutung steht.“14 In ähnlicher Weise äußerte sich Marco Antônio Ramos de Almeida, leitender Direktor der Associação Viva o Centro (AVC), der mit der Vermeidung des Begriffs der impliziten Aussage, einem Raum Leben zu geben, der eigentlich über Vitalität verfügt, entgehen möchte. Ausdrücke, die stattdessen von der AVC verwendet werden, sind requalificação, revalorização und recuperação15. Der Pro12 13 14
15
Dabei wurde mehrheitlich der Begriff „revitalização“ beleuchtet und diskutiert, was auf dessen oftmalige Verwendung meinerseits in den Interviews zu erklären ist. Diese Tatsache war dem umstand geschuldet, dass ich trotz mehrfacher Anfrage keinen persönlichen Interviewtermin bekam; stattdessen beantwortete mir Luis Ramos die ursprünglich lediglich als Orientierung über den Inhalt des Interviews gedachten Fragen schriftlich. (Schriftliches) Interview mit Luis Ramos, Leiter des technischen Beraterstabs für Stadtplanung im munizipalen Amt für Stadtentwicklung, am 13.09.2010 in São Paulo: „O termo revitalização traz junto de si uma pequena polêmica, quando se aborda uma transformação de área urbana. A palavra revitalizar é associada muitas vezes ao objetivo de se „trazer uma nova vida“ não sendo adequado utilizá-lo em várias situações. O Centro de São Paulo é um ótimo exemplo nesse sentido, como toda a sua dinâmica, infraestrutura instalada e a diversidade de serviços que oferece. Nesse caso, é melhor o termo requalificação ou o verbo requalificar que, em sua essência, busca trazer qualidade a um espaço público, que já possui vida. um exemplo onde o termo revitalização pode ser empregado seria na área de galpões abandonados no distrito da Mooca. A Operação urbana Mooca-Vila Carioca pretende restabelecer um fluxo de pessoas e serviços no local. Assim, um lugar absolutamente ocioso e estratégico da cidade ganharia uma outra dimensão, compatível com sua importância.“ Interview mit Marco Antônio Ramos de Almeida, leitender Direktor der Associação Viva o Centro (AVC), am 03.08.2010 in São Paulo. – Diese Änderung der verwendeten Begriffe ist nicht neu. So wird schon in der Zeitschrift uRBS, herausgegeben von der AVC 1997 auf die Problematik des Begriffs „revitalização“ hingewiesen, und es werden Alternativen genannt. Die gebräuchlichste Alternative ist dabei der Ausdruck „requalificação“ (vgl. Kara José 2007, S. 99 f. & 114).
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2 Theoretisches Fundament
blematik mit und der Kritik an dem Begriff revitalização, „ der als implizite Vorannahme die Idee in sich trägt, dass der Raum ‚tot‘, ‚ohne Leben‘ ist – eine Idee, der die Bewohner der armen Viertel, die sich um den CBD gruppieren, nicht zuzustimmen pflegen…“16 (souza 2011, S. 151; eigene übersetzung) – wurde also bereits frühzeitig mit dem Ersatz des Begriffs begegnet. Andere Akteure gehen bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Begriff der revitalização nicht auf die Problematik der unmittelbaren sprachlichen Konnotationen ein, sondern beschreiben, was sich nach ihrem Dafürhalten inhaltlich hinter den Maßnahmen verbirgt. Dabei werden in Abhängigkeit der jeweiligen Stakeholder mehrheitlich kritische Aspekte benannt. Vertreter von NGOs (Associação Rede Rua [ARR]; Centro Gaspar Garcia de Direitos Humanos [CGG] und sozialen Bewegungen (Movimento Nacional da População de Rua [MNPR]) u. a. beleuchten dabei ein breites Spektrum von Gesichtspunkten. Sie rücken v. a. die Bewohner_innen im Zentrum in den Fokus ihrer Analyse. Wichtig sei, die dort Lebenden mit einzubeziehen, was allerdings selten geschehe, da die Eingriffe in die Struktur der Innenstadt hauptsächlich als eine Ingenieurleistung betrachtet würde und soziale Fragen nur selten behandelt würden. Wenn soziale Probleme angegangen würden, dann v. a. in Form der Vertreibung der Armen im Zentrum. Alderon Costa redet in diesem Zusammenhang vom Ausschluss der Armen, mit denen negative Assoziationen wie Müll, Abschreckung von Touristen und anderes unangenehme verbunden werde. Im Zuge der revitalização werde nicht der Situation der Armen ein Ende bereitet, sondern den Armen in dieser Situation. Er fasst dieses Vorgehen unter der Bezeichnung „revitalização desumanizada“ („entmenschlichte Wiederbelebung“) zusammen17. Ähnlich äußern sich Anderson Lopes Miranda als Vertreter einer sozialen Bewegung der Obdachlosen, (der pointiert formuliert, dass die revitalização für den Kapitalismus und diejenigen erfolge, die Geld haben und nicht für die Armen18), José Gomes, Präsident von SINPESP, der gewerkschaftlichen Vertretung der lizensierten Straßenhändler_innen in Bezug auf die Straßenhändler_innen19 und Sérgio da Silva Bispo, Präsident einer Kooperative von Recyclingmaterialsammler_innen mit Blick auf die catadores (Recyclingmaterialsammler_innen)20. Luiz Tokuzi Kohara vom Menschenrechtszentrum CGG nennt die Maßnahmen vor diesem Hintergrund higienização (Säuberung)21. In diesem Fall lassen sich Parallelen zu dem 16 17 18 19 20 21
„[…] que traz como pressuposto implícito a ideia de que o espaço se acha ‚morto‘, ‚sem vida‘ – ideia como a qual os moradores de bairros pobres situados no entorno do CBD não costumam concordar...” Interview mit Alderon Pereira Costa, Gründer und Leiter der Associação Rede Rua [ARR], am 20.07.2010 in São Paulo. Interview mit Anderson Lopes Miranda, Koordinator der Nationalen Bewegung der Obdachlosen, am 14.08.2010 in São Paulo. Interview mit José Gomes, Präsident der SINPESP (Sindicato dos Permissionários do Estado São Paulo) am 21.09.2011 in São Paulo. Interview mit Sérgio da Silva Bispo, Präsident der Kooperative Cooperglicério am 02.08.2010 in São Paulo. Interview mit Luiz Tokuzi Kohara, Koordinator des Centro Gaspar Garcia de Direitos Humanos, am 21.09.2010 in São Paulo.
2.1 Innenstadterneuerung und ihre auslösenden Momente
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Begriff der revitalização, wie ihn Carlos und Kraas definieren (vgl. Kap. 2.1.4), ziehen. Zusätzlich beschäftigen sich die Stakeholder auch mit (weiteren) Zielen und Maßnahmen, die mit den entsprechenden Projekten und Programmen in der Innenstadt verbunden sein können. Neben der bereits genannten Verdrängung von Armen aus dem Zentrum wird die Bedeutung der Zufahrtsmöglichkeit für Kraftfahrzeuge (kritisch) erwähnt, die einen Beitrag zur revitalização leisten können soll. Es wird ferner die Frage gestellt, was letztendlich revitalisiert werden soll, angesichts bspw. einer hohen Beschäftigungsdichte im Zentrum, deren weitere Erhöhung mit Blick auf die zu erwartenden Pendler_innenströme kontraproduktiv wäre, weswegen vor diesem Hintergrund auch von einer unnachhaltigen Revitalisierung gesprochen werden könnte. Mit Blick auf die Vorsilbe Re, also auf das, was unter umständen wiederbelebt werden sollte, erwähnt Kohara mit Skepsis die Idee einiger, das Zentrum in einen Zustand wie vor der vermeintlichen Degradierung zu versetzen und an das Zentrum „von damals“ anzuknüpfen. Revitalisierung, so sein Fazit, diene letztendlich v. a. dazu, das Interesse des Immobilienmarktes und der Wirtschaft an diesem Raum zu wecken. Im zuletzt genannten Zusammenhang sprechen Anderson Kazuo Nakano und Natasha Mincoff Menegon vom Instituto Pólis auch von revalorização (Aufwertung)22. Außer von Marco Antônio Ramos de Almeida werden die von ihm genannten alternativen Begriffe aber von den übrigen Stakeholdern kaum verwendet. Es wird deutlich, dass die Begriffe an sich – mit Ausnahme des Begriffs revitalização für diejenigen, die ihn gerne positiv konnotiert sehen würden und deswegen nach Alternativen gesucht haben – eine untergeordnete Rolle spielen und stattdessen die sich dahinter (mutmaßlich) verbergenden Inhalte eine große Bedeutung haben. Der Begriff an sich verliert angesichts dessen an Bedeutung und aufgrund einer begrifflichen unschärfe im Alltag, werden zur Beschreibung gleicher Phänomene mitunter verschiedene Begriffe verwendet. umgekehrt ist das, was sich hinter den Begriffen verbirgt, von besonderer Bedeutung. Nur die Verwendung anderer Begriffe, die u. u. weniger belastet erscheinen, führt vor diesem Hintergrund nicht zu unbedingt zu einer höheren Akzeptanz dessen, was sich jeweils dahinter verbirgt. Pointiert formuliert lässt sich sagen, dass im Fall von Stakeholdern, die sich professionell mit dem Thema Innenstadterneuerung beschäftigen, die Begriffshülle nicht über den Begriffsinhalt hinweg täuschen wird. (Exkurs Ende) 2.1.5
Interventionen in der Innenstadt – ein überblick
Eingriffe in Innenstädte sind nicht nur begrifflich schwer zu fassen, sondern sie sind auch sehr heterogen hinsichtlich ihrer Ziele, der durchgeführten Maßnahmen, der involvierten Akteure und ihrer Konsequenzen. Alle vier Gesichtspunkte unterscheiden sich wiederum mal mehr und mal weniger im regionalen, internationalen 22
Interview mit Anderson Kazuo Nakano, Natasha Mincoff Menegon, Mitarbeiter der Stadtplanungsabteilung beim Instituto Pólis, am 02.09.2009 in São Paulo.
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2 Theoretisches Fundament
und / oder transkontinentalen Vergleich. Ferner gilt es, diese Aspekte auch hinsichtlich der Veränderungen im zeitlichen Verlauf zu betrachten. Das Phänomen der (Innen)Stadterneuerung ist kein neues, sondern spielte auch in der Vergangenheit immer wieder eine Rolle. Während die frühen Maßnahmen nur in Europa umgesetzt wurden, haben spätere umgestaltungen in europäischen Städten mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung auch in südamerikanischen Städten Einfluss auf die Stadtentwicklung entfaltet. Im 17. und 18. Jahrhundert kam es mit der Errichtung der Residenzschlösser in den bis dahin frühbürgerlich geprägten Städten Mitteleuropas durch absolutistische Landesfürsten zu grundlegenden baulichen und sozialen Veränderungen, die durch die barocke Stadtentwicklung geprägt waren. Die räumlich-bauliche Gestaltung wurde auf das Schloss hin ausgerichtet und die ursprünglich ansässige bürgerliche Bevölkerung zu Gunsten von Adeligen und Beamten verdrängt (lichTeNberger 1990, S. 22 f.). Weitere tiefgreifende Interventionen in den Stadtzentren erfolgten ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in den Gründerjahren in Mittel- und Großstädten. Dabei wurden u. a. breite Straßenzüge angelegt und kleinteilige Baustrukturen durch neue, großzügigere ersetzt. Die in den ehemaligen Gebäuden beheimateten sozioökonomisch benachteiligten Gruppen mussten besser Situierten weichen. Meist zitiertes Beispiel und Vorbild vieler weiterer so gestalteter Interventionen ist wahrscheinlich Paris zur Zeit des Präfekten und Stadtplaners Georges-Eugène Haussmann zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (u. a. lichTeNberger 1990, S. 23 f.; VascoNcellos & Mello 2009, S. 56 f.; vgl. Exkurs: Haussmanns Interventionen in Paris). Auch in Lateinamerika gibt es Beispiele, die sich mit ihrer Stadterneuerung an den Haussmann’schen Maßnahmen orientieren. In Rio de Janeiro setzte der damalige Bürgermeister Pereira Passos zu Beginn des 20. Jahrhunderts entsprechende Erneuerungsmaßnahmen um und in Buenos Aires wurde mit dem Bau der Avenida de Mayo Ende des 19. Jahrhunderts eine Phase der Straßenerweiterungen eingeleitet (VascoNcellos & Mello 2009, S. 57; scarlaTo 2003, S. 427; WilhelMy & rohMeder 1963, S. 337). Exkurs: Haussmanns Interventionen in Paris und ihre Konsequenzen Georges-Eugène Haussmann war von 1853 bis 1870 Bürgermeister von Paris. Seine Amtszeit überschnitt sich mit der von Napoleon III, der ihn auf diesen Posten berufen hatte. Schon Napoleon hatte sich mit der umgestaltung und Modernisierung Paris‘ beschäftigt. Seine Entwürfe drehten sich vor dem Hintergrund von Choleraepidemien in der ersten Hälfte und um die Mitte des 19. Jahrhunderts um die Idee eines gesunden Paris‘ mit grundsätzlich ausreichender Tageslichtbeleuchtung und Durchlüftung in den Gebäuden. Diesem Ansinnen sollte u. a. der Bau breiter Boulevards dienen. Gesundheitliche und hygienische Gründe für die umgestaltung spielten also von Anfang an eine Rolle. Daneben waren aber auch repräsentative überlegungen von Bedeutung. Allgemein basierten die überlegungen – und anschließend auch deren umsetzungen – auf einer Betrachtung der Stadt als Ganzes; anstelle kleinräumiger Pläne stand der Versuch städtischer Gesamtplanung im Vordergrund. Napoleon III als urheber der Idee übertrug die Ausführung an Haussmann. In seiner Amtszeit veränderte sich das Stadtbild Paris‘ erheblich. Die Maß-
2.1 Innenstadterneuerung und ihre auslösenden Momente
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nahmen sahen als bekannteste Intervention drei hierarchisch gegliederte Netze aus breiten Straßenachsen vor. Darüber hinaus wurden aber auch viele weitere, teilweise nicht minder bedeutende Eingriffe vorgenommen. So wurden viele der neuen Straßenachsen mit für die damalige Zeit modernen Gaslaternen beleuchtet. Außerdem wurde das Wasser- und Kanalisationsnetz als wichtige hygienische Maßnahme erheblich ausgebaut. Ebenfalls u. a. aus gesundheitlichen Gründen wurden an verschiedenen Orten in der Stadt Parks angelegt. Im Hochbau wurde sich neben dem Bau repräsentativer Gebäude an den Fluchtpunkten der neuen Boulevards v. a. dem Miethausbau für die Mittelschicht entlang der neu entstandenen Boulevards gewidmet. Trotz dieser vielfältigen Interventionen sind die Straßenbauten und die mit ihnen verbundenen Konsequenzen die die Rezeption des Wirkens Haussmanns bestimmenden Maßnahmen. Aufgrund der bis zu Beginn der Errichtung der Boulevards dichten Baustruktur bedurfte es der mit Entschädigungen der betroffenen Eigentümer_innen einhergehenden Enteignungen und des Abrisses einer Vielzahl von Bauten in ganz Paris. Anders als die Entschädigungsleistungen für die Grundeigentümer gab es für Bewohner_innen der unterschicht in den betroffenen Stadtteilen keine Ausgleichsleistungen, so dass vielen von ihnen nur die – von Haussmann billigend in Kauf genommene – Möglichkeit der Abwanderung in periphere Lagen am Stadtrand blieb. Diese Verdrängung der unterschicht und der Abriss ihrer Viertel erfüllte so auch die Funktion der Reduzierung von Aufstandsherden und Barrikadenvierteln. Die neuen Boulevards dienten außerdem als Aufmarschplätze zur unterdrückung sozialer unruhen und erschwerten umgekehrt den Bau von Barrikaden, wie im Revolutionsjahr 1848 in weiten Teilen von Paris geschehen. Zentrale Funktion war dennoch die Verbesserung der Waren- und Personenzirkulation zwischen wichtigen Orten wie bspw. den Bahnhöfen und zwischen diesen und dem Zentrum. Ferner gewann durch die Verbreiterung der Straßen das öffentliche Leben an Bedeutung als eine Komponente, die Stadt ausmacht. Es war so gesehen eine extrovertierte Form der Stadtentwicklung, die allerdings mitnichten nur goutiert wurde, sondern von den Bewohner_innen mit dem Verlust einer nostalgischen Vergangenheit gleichgesetzt und als Zerstörung ihrer Nachbarschaften verstanden wurde. Die Angehörigen der Mittelschicht hatten dabei meist die Möglichkeit, in relativer Nähe ihrer ursprünglichen Wohnorte neu entstandene Miethäuser zu beziehen. Wegen der hohen Mietpreise verringerte sich aber das Wohnangebote für die unterschicht im Zentrum erheblich, was zu einem allgemeinen Rückgang der Bevölkerungsdichte führte. Arbeiterfamilien mussten entweder eine unterkunft in zentrumsnahen, meist überbelegten und prekären Wohneinheiten suchen oder an die Peripherie migrieren, was sie aus ihrem gewohnten umfeld riss und gleichzeitig den Weg zu den Arbeitsstätten erheblich verlängerte. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Maßnahmen zu großen Teilen der Mittelschicht zugutekamen, wohingegen Angehörige der unterschicht zu den Benachteiligten zählten. Räumlich führten die innerstädtischen Migrationsbewegungen zu einer sozioökonomischen Segregation zwischen den unterschiedlichen Schichten in verschiedene Stadtgebiete (VoN MüNchhauseN 2007, S. 141 ff. & 157 ff.; harVey 2003, S. 107 ff. & 125 ff.; schüle 1997, S. 27 ff.; berghahN 2010, S. 71 ff.). (Exkurs Ende)
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2 Theoretisches Fundament
Nach dem Zweiten Weltkrieg gewinnt das Thema Innenstadterneuerung wieder an Bedeutung. Vargas & casTilho (2009, S. 5 ff.) gliedern die Innenstadterneuerung zwischen Mitte des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts in drei Phasen (vgl. Abb. 5). Nach dem zweiten Weltkrieg ist in Europa der Wiederaufbau bzw. Neuaufbau der (Innen)Städte zentrale Aufgabe (vgl. durTh & guTschoW 1993; VoN beyMe 1987). In den uSA beabsichtigt man durch entsprechende Maßnahmen dem Trend der Suburbanisierung zu begegnen. Allgemein ist die Phase der 1950er und 1960er Jahre – v. a. in den uSA – durch einen Vorrang für Neues geprägt, der sich in großflächigem Abriss mit anschließender Neuplanung und -bebauung vorwiegend durch private Immobilienfirmen manifestiert. Dort entstehen Büro- und Wohntürme, letztere v. a. für zahlungskräftige Bewohner. In Europa ist die Entwicklung etwas differenzierter. Ausgehend von Einflüssen der „Internationalen Kongresse Moderner Architektur“ (CIAM – Congrès International d’Architecture Moderne), die einmal den öffentlichen Raum (1947) und einmal die Innenstadt (1951) als bedeutend für den interpersonellen Kontakt thematisierten, spielt neben Neubauten auch der Erhalt von identitätsstiftenden, historischen Bauten eine Rolle. Aus dieser Zeit resultieren auch die ersten innenstädtischen Fußgängerzonen. In den uSA versuchte man über die Einrichtung von ersten Shoppingcentern die Attraktivität der Innenstädte zu steigern, nachdem isolierte, monofunktionale Gebäude der städtischen Vitalität weniger zuträglich waren. Die außer den Bürogebäuden errichteten, hochpreisigen Wohnhochhäuser führten zur Verdrängung der vormals auf den abgerissenen Arealen lebenden Bewohner_innen geringerer Einkommen (Vargas & casTilho 2009, S. 7 ff.). In diesem Zeitraum kommt Innenstadterneuerungen in Lateinamerika (noch) keine Bedeutung zu. Vielmehr kommt es in dieser Zeit zu ersten Zentrumsverlagerungen in Gebiete jenseits der bestehenden Innenstädte (für São Paulo: Villaça 1998, S. 265, für Mexiko: gaebe 2004, S. 261). In den 1970er und 1980er Jahren des 20. Jahrhunderts lag dann ein deutlicherer Fokus auf dem Schutz und Erhalt historischer Gebäude in den Innenstädten. Neben anderen Initiativen führten solche der uNESCO weltweit zu einer verstärkten Hinwendung zum Schutzgedanken im umgang mit den Stadtzentren. Seit 1978 weist das Welterbekomitee der uNESCO neben anderen Kulturerbestätten auch historische Städte als solche aus, wie bspw. in Brasilien 1980 die Stadt Ouro Preto in Minas Gerais, 1982 das historische Zentrum von Olinda in Pernambuco und 1985 die Altstadt von Salvador da Bahia (uNesco Wolrd heriTage ceNTre o. J.). Das historische Erbe wird als ein identitätsstiftendes Moment erkannt, das der Innenstadterneuerung dienlich sein kann. In Lateinamerika kam es in dieser Zeit zur Gründung verschiedener Denkmalschutzinstitutionen. Eingriffe in die innenstädtische Baustruktur blieben in diesem Raum aber auf isoliert ablaufende Renovierungen von Gebäuden begrenzt. Parallel dazu gewinnt ab dieser Zeit die Kultur als weiterer Bestandteil von Erneuerungsmaßnahmen an Bedeutung. Neben die baulich-physiognomische Erneuerung trat nun somit vermehrt auch eine breitere funktionale Erweiterung in den Zentrumsbereichen. Maßnahmen in diesem Bereich betrafen die Förderung des Einzelhandels, sei es in Form weiterer Shoppingcenter (oft in den uSA, aber auch in Europa – vgl. für Deutschland: heiNeberg & Mayr 1986; heiNeberg & Mayr 1996) oder in Einzelhandelslagen in Gebäuden mit
2.1 Innenstadterneuerung und ihre auslösenden Momente
47
Phasen der Innenstadterneuerung und entsprechende Maßnahmen
Weltweite Entw.
• Überwiegend bauliche Interventionen • Neubau • Erhalt identitätsstiftender historischer Bauten • Anlage von Fußgängerzonen
USA
Lateinamerika
• Abriss und • Großflächiger Neubau durch private Immobilienunternehmen • Shopping center in Innenstädten
• Beginn von Zentrumsverlagerungen
• Schutz und Erhalt historischer Gebäude in Innenstädten als identitätsstiftendes Moment • Funktionale Erweiterung des Erneuerungsgedanken, z. B. Kultureinrichtungen und Förderung des Einzelhandels
• Förderung von Einzelhandelsstandorten • Verbesserung des ÖPNV • Bewusste Gestaltung des öffentlichen Raums
Weltweite Entwicklung
3. seit 1990er Jahre
2. 1970er - 80er Jahre
1. 1950er - 60er Jahre
Europa
• Shopping center in Innenstädten • Downtown Malls • PPP in Main Street Programs (MSP) • PPP in Business Improvement Districts (BID)
• Punktuelle Renovierungen von historischen Gebäuden • Beginn der Zentrumsverlegungen
• Innenstadt als Komponente der gesamtstädtischen Attraktivitätssteigerung (Alleinstellungsmerkmal für Stadt als Ganze) • City Marketing für Investitionen und Beschäftigung • Städtebauliche Großprojekte (Hafen-, Bahn- und Industriebrachen-Revitalisierungen) • Interessen von Mittelschicht dominieren über ansässige, teilweise sozioökonomisch benachteiligte Bewohner_innen
• Zentrumsumbau zu Repräsentationszwecken • PPP in Business Improvement Districts (BID) • PPP in Town Centre Managements (TCM) (GB) • Shopping center in Innenstädten
• Fortsetzung der zweiten Phase • Diverse PPPs
• Funktionsausweitung im Zentrum • Geschichtlich begründete Unterschutzstellung von Gebäuden • Diskrepanz zwischen den Begünstigten und Benachteiligten von Erneuerungsmaßnahmen Eigene Darstellung nach: VARGAS & CASTILHOS 2009 u. a.
Abb. 5: Phasen der Innenstadterneuerung und entsprechende Maßnahmen
Mischnutzung und Downtown Malls (schNeider-sliWa 1996, S. 100 ff.). Die beiden zuletzt genannten Maßnahmen sollten außer durch die Einkaufsmöglichkeiten auch durch ihre Architektur und die weiteren Nutzungsmöglichkeiten attraktivitätssteigernd wirken. In Europa kamen – neben den Interventionen zu Gunsten des Einzelhandels – weitere Maßnahmen wie die Verbesserung des öffentlichen Personennahverkehrs, die Gestaltung der öffentlichen Räume und der Schutz der städtischen umwelt hinzu. Hauptsächlich in den uSA begannen sich in dieser Zeit neue Allianzen des Innenstadtmanagements zu bilden. Neben der Stadtverwaltung traten nun auch weitere Akteure wie unternehmen und Bürger_innen selbst zur Gestaltung und Verwaltung in Erscheinung. Mit Blick auf den Schutz des historischen Erbes einerseits und die Förderung des Einzelhandels andererseits fand das Main Street Program (MSP) auf Initiative des National Trust for Historic Preservation in vielen Städten landesweit Anwendung. Dabei ging es darum, den Haupt(geschäfts)straßen angesichts von Konkurrenz durch Shoppingcenter und des beobachteten Niedergangs wieder Bedeutung zu verleihen. Breiter in der Aufgabenstellung sind die damals neu aufkommenden Business Improvement Districts (BID), die mit Hilfe der ihnen zugedachten Abgaben der Anlieger vielfältige Interventionen von der Regulierung des öffentlichen Raums über die Durchführung von Veranstaltungen bis hin zur strategischen Planung im Interesse der Anlieger durchführen (Vargas & casTilho 2009, S. 16 ff.; vgl. sTiller 2008).
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2 Theoretisches Fundament
Spätestens seit den 1990er Jahren wird die Innenstadt zu einer immer wichtigeren Komponente zur Attraktivitätssteigerung der Gesamtstadt. Vor dem Hintergrund der gängigen Doktrin neoliberaler Stadtentwicklung soll das Produkt Innenstadt innerhalb des City Marketings eine entscheidende Rolle spielen, um Investitionen anzulocken, die wiederum bestenfalls für ein Beschäftigungswachstum sorgen sollen (Vargas & casTilho 2009, S. 32). „Wenn man die viel diskutierten Modellstädte des Stadtumbaus in Europa betrachtet, so fällt zuallererst auf, dass dort vor allem das Zentrum der Stadt umgebaut wird. Es ist das Zentrum, das die moderne Stadtregion nach innen wie außen repräsentiert. Die Bilder des Zentrums gehören zu den Lockmitteln des internationalen Stadttourismus und dienen als werbende Botschafter der Städtekonkurrenz. Nur das Zentrum kann diese Rolle übernehmen. Es ist einzigartig und symbolisiert das Besondere der jeweiligen Stadt, ihre Geschichte, ihre baulichen Höhepunkte, ihre wichtigsten Institutionen. Lange Zeit haben viele gedacht, das Zentrum verliere an Bedeutung und Hierarchien verschwinden. Das war aber ein Irrtum. Denn ein attraktives Zentrum kann die besten Standorte für den Dienstleistungssektor bieten, und nur ein attraktives Zentrum kann die hochmobilen urbanen Mittelschichten langfristig an eine Stadt binden. Ein erneuertes Zentrum ist die beste Werbung für die weitere Stadtregion, die eigentliche wirtschaftsräumliche Einheit einer immer stärker globalisierten Ökonomie“ (bodeNschaTz 2008 S. 14).
Die Maßnahmen, die diesem Ziel dienen sollen, sind vielfältig. Die bereits in der vorangegangenen Periode erkennbaren Tendenzen erfahren eine Verstärkung. Neben die bereits bekannten Organisationsformen des MSP und der BID treten weitere hinzu, die ebenso wie die beiden genannten vermehrt auch in Europa Verbreitung finden. Hauptsächlich in Großbritannien entstehen Town Centre Managements (TCM), die meist als Public-Private-Partnerships zwischen der städtischen Verwaltung sowie dem Handel und unternehmen entstehen und sich mit einer breiten Palette an innenstädtischen Themen wie öffentliche Sicherheit, Verbesserung der Baustruktur und Förderung des Einzelhandels beschäftigen (Vargas & casTilho 2009, S. 34; vgl. PüTz 2008; kritisch: TöPFer eT al. 2007). In Europa entstehen nun auch vermehrt Shoppingcenter nach amerikanischem Vorbild in innenstädtischen Lagen (vgl. für Deutschland: PoPP 2004; kritisch: bruNe eT al. 2006). Ferner wird auch weiterhin der Kultur (uN-HABITAT 2008, S. 195; kritisch: araNTes 2011, S. 31 ff.) und dem historischen baulichen Erbe als zentrale Elemente der Innenstadterneuerung eine wichtige Bedeutung beigemessen. Eine so zu schaffende singuläre Stadtphysiognomie „can be marketed to promote economic development and tourism“ (uN-HABITAT 2008, S. 195). Außerdem trüge ein historisches Ambiente in Verbindung mit entsprechenden Erlebnisangeboten für die Mittelschicht auch zur einer Attraktivitätssteigerung für diese bei (bodeNschaTz 2008, S. 16). Allerdings ist die moderne Bauweise westlicher Provenienz oft ein wichtiger Orientierungspunkt für Interventionen, dem Vorrang vor dem Erhalt historischer Bausubstanz eingeräumt wird, die dann letztendlich Neubauprojekten zum Opfer fallen kann (uN-HABITAT 2008, S. 194). Neben dem Erhalt historischer Bausubstanz und einer Ausweitung kultureller Angebote werden in dieser Phase ergänzend städtebauliche Großprojekte in innenstädtischer oder innenstadtnaher Lage bedeutsam. Auch sie werden als wichtiges Element der Erholung der Städte als Ganzes erachtet. Verstärkt finden dabei brachgefallene Areale wie Hafen- und Bahnanlagen sowie Industriebrachen Berücksichtigung und werden durch Instandsetzung und funktionale umge-
2.1 Innenstadterneuerung und ihre auslösenden Momente
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staltung in das Zentrum integriert. Oft handelt es sich um Eingriffe im Bereich von Fluss- und Meerufern, bspw. Hafenflächenkonversionen (vgl. allgemein schuberT 2001; für Europa und Lateinamerika: KoKoT eT al. 2008; für uSA: Pries 2008). Diese Interventionen stehen nicht selten in Verbindung mit bevorstehenden kulturellen oder sportlichen Großereignissen wie Olympischen Spielen, Weltausstellungen oder (Fußball)Weltmeisterschaften. Herausragendes, „paradigmatisches“ (Vargas & casTilho 2009, S. 37) Beispiel ist dabei Barcelona (Projekte Moll de la Fusta, Diagonal Mar), aber auch andere Städte wie London (Canary Wharf), Berlin (Potsdamer Platz), Hamburg (Hafencity) oder Boston (South Boston Waterfront) haben mittlerweile solche Großprojekte realisiert (heeg 2009, S. 77 ff.; Vargas & casTilho 2009, S. 38 ff.). Auch in Lateinamerika sind solche groß dimensionierten Vorhaben realisiert worden, erwähnt werden kann bspw. Buenos Aires (Puerto Madero) und Belém (Estação das Docas) (PüTz & rehNer 2007, S. 36 ff.; oesselMaNN 2008, S. 125 ff.; Vargas & casTilho 2009, S. 42 f.). Abgesehen von solchen Großprojekten ist in Lateinamerika in der aktuellen Phase allgemein ein steigendes Interesse an den Innenstädten zu beobachten, und vormals ausgelagerte Funktionen kehren teilweise wieder in zentrale Lagen zurück. Dies gilt ebenso für Brasilien, wo seit den 1990er Jahren eine stärkere Beachtung der Zentren u. a. durch die Durchführung von (punktuellen) Projekten zu beobachten ist (MaricaTo 2001, S. 143). Besonderes Augenmerk liegt allgemein auf den historischen Zentren und deren aus der geschichtlichen Bedeutung abgeleiteten unterschutzstellung23. Allgemein betont auch bodeNschaTz den Wert des Historischen: „Von Bedeutung sind weiter die Bauten, die die öffentlichen Räume prägen. Viele historische Gebäude werden erhalten, umgenutzt und neu inszeniert. Die Erlebbarkeit von baulicher Geschichte ist eines der wertvollsten Vorteile der Innenstadt und ein Alleinstellungsmerkmal – innerhalb der Stadtregion wie im Wettbewerb der Stadtregionen“ (bodeNschaTz 2008, S. 18).
Zur Erreichung der genannten Ziele und zu ihrer Realisierung kommen in immer stärkerem Maße Kooperationen zwischen einer Vielzahl von Akteuren zum Tragen. Stadtverwaltungen, unternehmen und der Handel sowie der Immobiliensektor arbeiten in unterschiedlichen Intensitäten und Konstellationen möglichst flexibel zusammen. Oft unberücksichtigt bei Zielformulierungen und umsetzungen der Maßnahmen bleiben die ansässigen, tendenziell einkommensschwächeren Bürger_innen, wohingegen die Maßnahmen oft an den Interessen einer hochbeweglichen Mittelschicht orientiert sind. Das Stadtimage, die Ästhetik und die Physiognomie dominieren über die Bedürfnisse der unmittelbar betroffenen Einwohner_innen (Vargas & casTilho 2009, S. 44, carlos 2007, S. 88 f.). Die Diskrepanz zwischen den Interessen der Betroffenen und den von Erneuerungsmaßnahmen Begünstigten ist v. a. in Städten des Globalen Südens beträchtlich. Die sozioökonomischen Disparitäten der Akteure stellen eine große Herausforderung dar. bodeNschaTz erachtet die Rückkehr der Mittelschicht in die Zentren als wichtig, gibt aber auch zu bedenken, dass die Schwächeren nicht aus den Augen verloren werden dürfen und „sie soweit wie möglich mit[zu]nehmen“ (bodeNschaTz 2008, S. 17) sind. Entspre23
Vargas & casTilho (2009, S. 36) bezeichnen dies als preservacionismo und meinen damit Schutz-Praktiken, die lediglich auf der Geschichte gründen.
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2 Theoretisches Fundament
chende Flankierungen sind allerdings oft widersprüchlich, gegensätzlich und fragwürdig. Besondere Bedeutung kommt bei Erneuerungsmaßnahmen dem öffentlichen Raum zu. Hier hat die öffentliche Hand unmittelbare Gestaltungsmöglichkeiten. Seine Instandsetzung und -haltung ist ferner oft eine Voraussetzung für weitere Maßnahmen gemeinsam mit privaten Investoren. Er ist außerdem der Ort, an dem „urbanität entsteht“. Andererseits ist der öffentliche Raum vor allem auch in Ländern des Globalen Südens oft überlebensraum für stark benachteiligte und am Rande der jeweiligen urbanen Gesellschaft stehende Menschen. Interventionen in diesen Räumen können so für diese Bevölkerungsgruppe unmittelbar erhebliche negative Konsequenzen mit sich bringen. So wird deutlich, dass der öffentliche Raum innerhalb der Erneuerungsthematik in Innenstädten eine besondere Kategorie darstellt. 2.2
DER ÖFFENTLICHE RAuM
Der öffentliche Raum ist derjenige, der bei Innenstadterneuerungsmaßnahmen als erster in den Fokus von möglichen Maßnahmen der Veränderung gerät. Stadtverwaltungen und regierungen sind – trotz aller Tendenzen zur Neoliberalisierung und damit zur Privatisierung von Stadtentwicklungsmaßnahmen – oft Initiatoren von Programmen der Innenstadterneuerung und der öffentliche Raum ist der, in dem sie unmittelbare Eingriffsmöglichkeiten haben. Der öffentliche Raum spielt folglich eine zentrale Rolle in der Thematik der Innenstadtinterventionen. Er bedarf vor diesem Hintergrund der detaillierten Betrachtung. Ähnlich wie bei anderen sozialwissenschaftlichen Begriffe auch existiert für den öffentlichen Raum nicht die eine Definition. Was zunächst ganz eindeutig erscheinen mag nach dem Motto: „Na, das sind Plätze, Parks und Straßen!“, macht bei genauerem Hinsehen und intradisziplinär betrachtet sowie in Abhängigkeit unterschiedlicher Fachrichtungen, die sich mit diesem Forschungsobjekt befassen, eine Vielzahl von Definitionen und unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen sichtbar (vgl. TöPFer 2011, S. 92). häusserMaNN eT al. (2008, S. 301; vgl. auch siebel 2007, S. 77 ff.) legen bezugnehmend auf den Soziologen Hans-Paul bahrdT die Polarität zwischen öffentlichen und privaten Räumen zugrunde. In vorkapitalistischer Zeit standen sich die private und die öffentliche Sphäre noch dichotom gegenüber. V. a. in der griechischen Antike – die oft als Hauptreferenz den öffentlichen Raum betreffend herangezogen wird – sind die beiden Bereiche klar voneinander getrennt (schroer 2007, S. 46 ff.). Mit der Zunahme marktwirtschaftlicher Verflechtungen löst sich der Bereich der Wirtschaft aus der privaten Sphäre und wird zunehmend Teil der öffentlichen (serPa 2007, S. 17; vgl. haberMas 1990, S. 54 ff., areNdT 2008 S. 47 ff.). Dabei ist von Bedeutung, dass in der Antike der öffentliche Raum vor allem anderen als Raum des Politischen betrachtet wurde und er erst im Laufe der wirtschaftlichen und damit gesellschaftlichen Veränderungen mit weiteren Attributen versehen wurde.
2.2 Der öffentliche Raum
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„Die Gesellschaft ist die Form des Zusammenlebens, in der die Abhängigkeit des Menschen von seinesgleichen um des Lebens selbst willen und nichts sonst zu öffentlicher Bedeutung gelangt, und wo infolgedessen Tätigkeiten, die lediglich der Erhaltung des Lebens dienen, in der Öffentlichkeit nicht nur erscheinen, sondern die Physiognomie des öffentlichen Raumes bestimmen dürfen“ (areNdT 2008, S. 59).
Aktivitäten, die der Lebenserhaltung dienen, sind vielfältig und bilden eine breite Palette. Dazu zählen unmittelbar diesem Zweck dienende Tätigkeiten wie das in jüngerer Zeit (wieder) an Bedeutung gewinnende urban gardening (auch) auf öffentlichen Flächen, die Handelsfunktion und die reproduktiven Freizeit- und Erholungsnutzung. Die zunehmende Verschneidung von (ehemals) öffentlichem und privatem Raum führt heute zu einem Kontinuum zwischen den beiden Polen. Eine simplifizierende Definition öffentlicher Räume als solche, die nicht privat sind, erscheint vor diesem Hintergrund wenig hilfreich und erübrigt sich somit (goMes 2006, S. 159). Als Polarität betrachtet ermöglicht die Differenzierung zwischen öffentlich und privat jedoch die genauere Einordnung konkreter Räume. Dabei spielen die Dimensionen, von denen aus die Polarität betrachtet werden kann, eine wichtige Rolle. häusserMaNN eT al. (2008, S. 301) führen vier solcher Dimensionen an, anhand derer sie diese Polarität beschreiben: funktional, juristisch, sozial und symbolisch. Zusätzlich können die Dimensionen dabei helfen, weitere Charakterisierungen zu systematisieren (vgl. Abb. 6). Die funktionale Dimension thematisiert auf der einen Seite die Aggregation von Politik und Markt im (bereits weiter gefassten) öffentlichen Raum und lokalisiert auf der anderen Seite Produktion und Reproduktion im privaten Raum. Der öffentliche Raum ist Teil der Öffentlichkeit, die nach Ansicht des Philosophen Jürgen haberMas ein Netzwerk politischer Kommunikation, des Austauschs von überzeugungen und des kommunikativen Handelns darstellt (haberMas 1992, S. 436). Im Werk der Philosophin Hannah areNdT wird ebenfalls die funktionale Dimension angesprochen. Ausgehend von der griechischen Antike bemerkt sie, dass der Ort der Arbeit der private Raum ist, während der Ort des politischen Austauschs sowie des Handels im öffentlichen Raum liegt (areNdT 2008, S. 190 f.). Die Agora als Ort der Versammlung von Bürgern zur politischen Beschäftigung mit öffentlichen Sachverhalten24 erfüllt dabei zusätzlich die Funktion des allgemein zugänglichen Marktes. Die Möglichkeit zur politischen Artikulation bleibt aber zentrale Determinante des öffentlichen Raums. Versuche der unterdrückung dieser politischen Kommunikation würden „in einen Markt im Sinne der Basare der orientalischen Despotenreiche“ (areNdT 2008, S. 190) münden. „Despotenreiche“ kann hier als Synonym für unterschiedliche Formen von Diktaturen und autokratischen 24
Diese politische Funktion öffentlicher Räume wurde zuletzt in den vergangenen Jahren wieder durch vielfältige (Protest)Aktionen unter Beweis gestellt (vgl. hierzu mehrere Kapitel in WeTzel 2012). Zu den großen Ereignissen, die international Aufsehen erregt haben, gehören u. a. die Veranstaltungen der Occupy-Bewegung(en), die Massenproteste des sog. „Arabischen Frühlings“ und auch die thematisch breit gefächerten Proteste in Brasilien während des Confederations Cup im Juni 2013 (vgl. hierzu le MoNde diPloMaTique brasil 2013) und die proeuropäischen Proteste auf dem Majdan (Platz der unabhängigkeit) der ukrainischen Hauptstadt Kiew Ende 2013.
52
2 Theoretisches Fundament
Dimensionen öffentlicher und privater Räume Pr i v a Ra u m
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i c h er R a um
Dimensionen: Produktion & Reproduktion
funktional
Privatrecht Privateigentum
juristisch Halböffentliche Räume • juristisches Nutzungsregime versus faktische Verwendung Hausordnung • (Bsp.: Shoppingcenter)
Bekanntsein Nähe gesellschaftliche/soziale Kontrolle Homogenität Sicherheit unter seinesgleichen Geschlossenheit
sozial (Interaktion von Individuen) Territorialisierungen Kollektiver Raum Homogenisierung
symbolisch (architektonische und städtebauliche Gestaltung)
Politik & Markt • Politische Kommunikation & kommunikatives Handeln oder politische Beschäftigung mit öffentlichen Sachverhalten • Handel & Warenaustausch weitere Fuktionen • Produktion • Kontemplation • Freizeit und Unterhaltung • Repräsentation des Staates und/oder anderer Akteure • Verkehr & Transport Öffentliches Recht gehört allen Niemandsland ungehinderter Zugang
Anonymität Distanziertheit Indifferenz spezialisierte Austausche Zusammenleben Soziale Mischung - Heterogenität Freiheit unter seinesanderen Offenheit
(exklusive) Gestaltung zweckgerichtete gestalterische Eingriffe Instandhaltung und Pflege
Eigene Darstellung u. a. nach: HÄUßERMANN ET AL. 2008; HABERMAS 1992; ARENDT 2008; GESTRING ET AL. 2005; SENNETT 2008; ABERNAZ 2004.
Abb. 6: Dimensionen öffentlicher und privater Räume
Systemen verstanden werden. Ihnen ist gemein, dass oppositionelle politische Äußerungen im öffentlichen Raum nicht toleriert werden und mit Gefahren, die bis hin zur Bedrohung von Leib und Leben reichen können, für die jeweiligen Personen oder Gruppen verbunden sind. In Demokratien ist dagegen eine vergleichsweise freie politische Meinungsäußerung in der Öffentlichkeit möglich. Trotz der normativen Affirmation beider Autor_innen der Bedeutung des Politischen im Öffentlichen konstatiert haberMas zwei sich entgegenlaufende Tendenzen der öffentlichen Sphäre. serPa fasst diese mit Bezug auf haberMas wie folgt zusammen: „[Die öffentliche Sphäre] dringt in immer umfassendere Bereiche der Gesellschaft vor und im gleichen Moment verliert sie ihre politische Funktion in dem Sinne, dass die öffentlich gewordenen Tatsachen nicht der Kontrolle eines kritischen Publikums unterzogen werden“25 (serPa 2007, S. 17, eigene übersetzung; vgl. haberMas 1990, S. 225 ff.). Der öffentliche Raum hat also neben der politischen und der ihm schon länger zugeschriebenen Handelsfunktion weitere Funktionen hinzugewonnen. Dazu zählen beispielsweise Produktionsfunktionen, kontemplative Funktio25
„[A esfera pública] penetra setores cada vez mais extensos da sociedade e, ao mesmo tempo, vai perdendonsua função política, no sentido de submeter os fatos tornados públicos ao controle de um público crítico.”
2.2 Der öffentliche Raum
53
nen und Vergnügungs- und unterhaltungsfunktionen. Aber auch Repräsentationsfunktionen werden dem öffentlichen Raum zugeschrieben. Dabei kann es sich sowohl um die Repräsentationsbedürfnisse des Staates handeln, als auch um die anderer Gruppen von Akteuren, die vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Belange an einem für sie günstigen, „repräsentativen“ Stadtbild – zu dem der öffentliche Raum mit seiner Gestaltung und Nutzung einen ganz wesentlichen Beitrag liefert – Interesse haben. Für beide Repräsentationsfunktionen bietet sich der öffentliche Raum an, da er verglichen mit anderen städtischen Räumen relativ stabil und unveränderlich ist (alberNaz 2004, S. 44). Eine weitere Funktion ist die des Verkehrs und Transports. Beides ist auf Straßen, anderen Verkehrswegen und Plätzen von Bedeutung und dient der überwindung räumlicher Distanzen von Menschen und Waren. Verkehr und Transport umfassen alle Verkehrsteilnehmer_innen – Fußgänger_innen, Radfahrer_innen und Kraftfahrzeugführer_innen –, private wie auch öffentliche Verkehrsmittel und die Beförderung sowohl von Menschen als auch von Dingen (vgl. Frehse 2009). Eine weitere Dimension des öffentlichen Raums ist gemäß häusserMaNN eT al. (2008, S. 301) die juristische Dimension. Hier wird die Frage des in den beiden Räumen jeweils gültigen Rechts erörtert. goMes merkt dazu kritisch an, dass diese Dimension mit Blick auf den öffentlichen Raum nicht unproblematisch ist: „... den öffentlichen Raum als ein juristisch bestimmtes Gebiet anzunehmen, d. h. Gesetzestexte, die die Existenz dieser Räume regeln, zu bemühen, bedeutet eine umkehrung. Mit anderen Worten, wir gehen vom Gesetz aus, das die Existenz regelt, um ein Objekt zu definieren, bei dem es möglich ist, sich vorzustellen, dass dieses dem Gesetz vorausgegangen ist, ...“26 (goMes 2006, S. 159 f., eigene übersetzung).
Diese überlegung ist beachtenswert und sollte v. a. dazu dienen, Simplifizierungen von Erklärungsversuchen öffentlicher Räume zu vermeiden. Dennoch bietet auch die juristische Dimension Anknüpfungspunkte, die für eine genauere Annäherung an öffentliche Räume hilfreich sein können. Einen solchen Anknüpfungspunkt stellt die oft mit dem öffentlichen Raum in Verbindung gebrachte Bedingung des ungehinderten und freien Zugangs dar, unabhängig davon, um wen es sich handelt (haberMas 1990, S. 54 u. 156; loFlaNd 2007, S. 8 f.; breNdgeNs 2005, S. 1089). Dabei bleibt aber zu berücksichtigen, dass dies kein allein ausreichendes Kriterium eines öffentlichen Raums ist. Auch Räume, die dieses Charakteristikum nicht aufweisen, wie bspw. öffentliche Krankenhäuser, Schulen oder Verwaltungsgebäude, werden dennoch als öffentliche Orte angesehen (goMes 2006, S. 160). Eine weitere zentrale Kategorie der juristischen Dimension sind die Besitzverhältnisse. Häufig ist in diesem Zusammenhang – positiv konnotiert – davon die Rede, dass der öffentliche Raum allen gehöre (Frehse 2009, S. 151). Diese Sichtweise ist eng mit dem Charakteristikum der allgemeinen Zugänglichkeit verknüpft (vgl. Kap. 2.2.1). umgekehrt wird der öffentliche Raum – negativ belegt – auch als Niemandsland („terra 26
„... tomar o espaço público como uma área juridicamente determinada, ou seja, apelar para o texto legal que regulamenta a existência desses espaços, significa inverter os procedimentos. Em outros termos, partimos da lei que regulamenta uma existência para definir o objeto, quando é possível imaginar que este precede a lei ...”
54
2 Theoretisches Fundament
de ninguém“ (goMes 2006, S. 185)) oder, anders ausgedrückt, als der Raum bezeichnet, der zwischen dem privaten Raum übrig bleibt. Beide Extreme sind aber allenfalls im weitesten Sinne juristisch zu verstehen. Im juristisch engeren Sinne ist der öffentliche Raum derjenige, in dem öffentliches Recht gilt, während der Privatraum dem privaten Recht unterliegt. Hinsichtlich dieser Zweiteilung ist festzustellen, dass es sich hierbei um eine deutliche Trennung handelt, d. h., dass alle Räume entweder dem einen oder dem anderen Recht zuzuordnen sind. Halböffentliche Räume sind in diesem Zusammenhang also solche, die einen privaten Eigentümer haben, generell aber den Zugang ermöglichen. „Typisch für solche Räume ist ein Auseinanderklaffen zwischen dem juristischen Nutzungsregime einerseits und der faktischen Verwendung andererseits“ (Fuchs 2005, S. 33). Hierunter fallen z. B. Geschäfte, Shoppingcenter und malls. Diesem Auseinanderklaffen entsprechend, gehören hierzu auch die unterschiedlichen Regelungen der Nutzungsbedingungen der jeweiligen Räume (siebel eT al. 2003, S. 4; gesTriNg eT al. 2005, S. 225 u. a.). In dem Maße, wie sich die beschriebenen halböffentlichen Räume ausdehnen, gewinnen Hausordnungen an Bedeutung, die neben dem allgemeinen Zugang auch weitere, in dem jeweiligen Raum erlaubte und verbotene Handlungen regeln. Dabei weichen diese Regelungen zum einen von denen ab, die in rechtlich öffentlichen Räumen gelten, unterscheiden sich zum anderen aber auch untereinander von rechtlich ähnlichen Räumen. So entsteht ein breitgefächertes Spektrum an individuellen Nutzungsbedingungen in immer mehr Räumen. Es kommt zu Annäherungen zwischen den Regelungen für öffentlich-rechtliche und privatrechtliche Räume dergestalt, dass sich im Bereich der Sicherheits- und Ordnungsgesetze die öffentlichen Regelungen durch Verschärfungen denen in privatrechtlich organisierten Räumen geltenden Regulierungen annähern (häusserMaNN eT al. 2008, S. 302 f.). Die soziale Dimension beinhaltet die Art und Weise, wie Individuen im öffentlichen Raum miteinander interagieren. Diese Interaktion ist in hohem Maße durch Anonymität – und damit unabhängigkeit von gesellschaftlichen Zwängen – im städtischen öffentlichen Raum bestimmt. Begegnungen erfolgen meist unter Fremden und es werden sehr spezialisierte Austausche vorgenommen (häusserMaNN eT al. 2008, S. 301). „Im öffentlichen Raum dominiert der Simmel’sche Großstädter, der sich durch Distanziertheit, Gleichgültigkeit und Intellektualität die Zumutungen des Großstadtlebens vom Leib hält“ (gesTriNg eT al. 2005, S. 224). Diese Anonymität und Distanziertheit ermöglichen es, Austausche zwischen Menschen, die sich fremd sind, zu gewährleisten, ohne dass der Zwang zur Intimität gegeben ist (seNNeTT 2008, S. 584 ff.). Auf Basis dessen kann eine soziale Mischung erfolgen. Öffentliche Räume dienen demnach als Orte des Zusammenlebens und des Austauschs und damit des zivilisatorischen und kulturellen Lernens (hueT 2001, S. 151; vgl. goMes 2006, S. 163). Anonymität und Indifferenz im öffentlichen Raum einerseits und das Zusammenleben andererseits bedingen sich dabei gegenseitig, ermöglicht doch erst die Distanz besonders fokussierte Kommunikation zwischen einander Fremden. Im Idealfall dient der „öffentliche Raum [...] als Verbindungselement der Menschen untereinander“ (sMaNioTTo da cosTa 2001, S. 121), wobei es nicht zur vollständigen Integration kommt, sondern die sozialen Beziehungen immer nur einen bestimmten Ausschnitt der jeweiligen Personen umfassen (siebel 2007, S. 77).
2.2 Der öffentliche Raum
55
Diese Möglichkeit des Austauschs führt aber gleichzeitig zu Konflikten und Spannungen: „Der Fremde ist im doppelten Sinn verunsichernd: Als der unbekannte kann man sein Verhalten nicht kontrollieren. Begegnungen mit Fremden sind Situationen, die verunsichern, weil keiner über genügend Informationen verfügt, um die Situation kontrollieren zu können. [...] Der Fremde als der Andersartige ist ein bevorzugtes Objekt von Projektionen. [...] Der öffentliche Raum der Stadt […] verunsichert […] nicht nur durch den Verlust der Kontrolle über die äußere Situation, sondern auch, weil man dort die innere Kontrolle verlieren könnte“ (siebel 2007, S. 92).
Die innere Kontrolle wird durch die Begegnungen und die dadurch gegebenenfalls zu Tage tretenden eigenen Wünsche und Anregungen auf die Probe gestellt. Einerseits bedingt durch die umgehung der Verunsicherungen und Kontrollverluste und andererseits durch Tendenzen zu einem immer stärkeren Individualismus zu Lasten der Gemeinschaft, wird der öffentliche Raum immer seltener zwischen verschiedenen gruppen geteilt, sondern vielmehr von diesen unterteilt. „Dementsprechend ist der Zugang nicht mehr allgemein, sondern begrenzt und symbolisch kontrolliert. Es fehlt die Interaktion zwischen diesen Territorien, die in der Art und Weise wahrgenommen (und genutzt) werden, dass das „Andere“ in einem Raum, der allen zugänglich ist, neutralisiert wird“27 (serPa 2007, S. 36). goMes spricht angesichts dieser Unterteilung des öffentlichen Raums von kollektivem Raum, der andere Qualitäten als der öffentliche besitzt. Kollektiver Raum zeichnet sich dadurch aus, dass er auf einem Kollektiv/einer Gemeinschaft gründet, das/die sich durch eine gemeinsame Identität definiert. Kollektive Räume sind dementsprechend eine Summe von voneinander fragmentierten Orten, die durch die jeweiligen Gruppen und ihre Identitäten charakterisiert sind (goMes 2006, S. 165 f.; alberNaz 2004, S. 45 f.; souza 2008, S. 80). Das ursprüngliche „Spannungsverhältnis zwischen physischer Nähe und sozialer Distanz“ (schäFers 2006, S. 155) im öffentlichen Raum wird so zu einem gewissen Grad aufgehoben. Die symbolische Dimension bezieht sich bei siebel eT al. (2003, S. 4) auf die städtebauliche und architektonische Gestaltung öffentlicher Räume, durch die Offenheit bzw. Geschlossenheit und Zugänglichkeit zum Ausdruck gebracht werden kann. Es hängt nicht zuletzt von der physischen Gestaltung des öffentlichen Raumes ab, ob er als Rest-Raum („espaço residual“ (hueT 2001, S. 147)) betrachtet wird – und dann als solcher bei der Gestaltung entsprechend unberücksichtigt bleibt, als der Raum also, der zwischen den privaten Räumen übrig bleibt, die wiederum von oft überbewerteten architektonischen Objekten dominiert sind. Die andere mögliche Betrachtung ist die, dass der physische öffentliche Raum zentrales Element der Organisation des städtischen Netzes ist, der u. a. Zirkulation, Aufenthalt und Freizeit der Bevölkerung ermöglicht (alberNaz 2004, S. 43). unabhängig von diesen beiden möglichen Bedeutungszuweisungen sind die physische Gestaltung des öffentlichen Raums, seine Konfiguration und die Anordnung von Gegen27
„Conseqüentemente, a acessibilidade não é mais generalizada, mas limitada e controlada simbolicamente. Falta interação entre esses territórios, percebidos (e utilizados) como uma maneira de neutralizar o ‘outro’ em um espaço que é acessível a todos.“
56
2 Theoretisches Fundament
ständen darin Ergebnisse sozialer Prozesse einerseits und zugleich Einflussfaktoren für soziale Praktiken andererseits. „Es gibt keine Determinierung der Form über den Inhalt, die räumlichen Formen erklären nicht vollständig die Art des Seins der Gesellschaft [...]; aber genauso wenig könnte man glauben, dass das Gegenteil geschieht, das heißt, dass der Raum ein einfacher Reflex der Gesellschaft ist [...]. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der geographische Raum gleichzeitig [a)] das Gebiet ist, in dem die sozialen Praktiken ausgeübt werden, [b)]die nötige Bedingung darstellt, damit [die Praktiken] bestehen, und [c)]den Rahmen bildet, der die Praktiken umgrenzt und ihnen Sinn verleiht“28 (goMes 2006, S. 172, eigene übersetzung).
Ein Aspekt räumlicher Gestaltung, bei dem die Wechselwirkungen zwischen sozialen Praktiken und dem physischen Raum zum Tragen kommen, sind die zunehmenden Versuche, das (subjektive) Sicherheitsempfinden zu erhöhen und anderseits (vermeintliche) Gefahrenquellen zu minimieren. Dazu zählen bauliche Interventionen wie bspw. die Entfernung bzw. Vermeidung von nicht einsehbaren Flächen ebenso wie die steigende Kontrolle öffentlicher Räume durch Videoüberwachung. Von Einfluss können aber auch exklusive Gestaltungen mit besonderen Materialien oder außergewöhnlichen Bepflanzungen sein, die auf bestimmte Nutzer_innengruppen im Sinne des Wortes exklusiv, also ausschließend, wirken (häusserMaNN eT al. 2008, S. 304; vgl. Exkurs: Rolezinhos in brasilianischen Shoppingcentern ). Neben der ursprünglichen Gestaltung spielen auch die Pflege und die Instandhaltung des öffentlichen Raums eine wichtige Rolle zur Erreichung und Aufrechterhaltung der intentionalen Ziele der zuvor durchgeführten, gestalterischen Eingriffe (alberNaz 2004, S. 43). Exkurs: Rolezinhos in brasilianischen Shoppingcentern Shoppingcenter erfüllen in Brasilien weit mehr Funktionen als „nur“ als „Kathedralen der Warenwelt“ („catedral das mercadorias“) zu fungieren, wie es im untertitel eines buches von Padilha (2006) zu diesem sozialen Phänomen heißt. Sie bieten neben Konsummöglichkeiten auch Freizeitaktivitäten wie Kinocenter oder Theater und eröffnen mit ihrem gastronomischen Angebot auch Möglichkeiten sich mit Freunden zu treffen. V. a. in brasilianischen Städten spielen diese zusätzlichen Angebote angesichts eines ungenügenden Angebots an öffentlichem Raum und der vermeintlich allgegenwärtigen Gefahren für diejenigen mit der erforderlichen Kaufkraft eine wichtige Rolle. „um welche Gefahr handelt es sich, vor der sich die Leute geschützt fühlen bei der Wahrnehmung von im Shoppingcenter angebotenen Freizeitmöglichkeiten? Wahrscheinlich um die Gefahr, die den sozialen ungleichheiten entstammt, durch die die Dynamiken des realen Lebens geprägt sind, [und] 28
„Não há uma determinação da forma sobre o conteúdo, as formas espaciais não explicam completamente a maneira de ser da sociedade [...]; mas tampouco se poderia acreditar que ocorre o inverso, ou seja, o espaço não é um simples reflexo da sociedade [...]. De forma resumida, o espaço geográfico é, simultaneamente, o terreno onde as práticas sociais se exercem, a condição necessária para que elas existam e o quadro que as delimita e lhes dá sentido.”
2.2 Der öffentliche Raum
57
um die ‚der Welt da draußen‘, zu der das Shoppingcenter nicht gehören kann, ohne seine größten Anreize zu verlieren“29 (Padilha 2006, S. 182; eigene übersetzung). In jüngster Zeit kann allerdings mit den sog. rolezinhos ein Phänomen beobachtet werden, das in Teilen als das Einbrechen der „Welt da draußen“ in die Shoppingcenter gedeutet werden kann. über soziale Netzwerke verabreden sich seit Anfang Dezember 2013 in verschiedenen brasilianischen Metropolen immer wieder Jugendliche aus peripheren Stadtteilen zu Flashmobs mit bis zu mehreren Tausend Teilnehmer_innen in Shoppingcentern (u. a. Taz.de 2014). Rolezinho ist das Diminutiv von rolé, das umgangssprachlich so viel wie Bummel, Spaziergang oder umherschweifen bedeutet. Diese Selbstbezeichnung lässt nicht unmittelbar explizit politische Motive hinter den Aktionen vermuten. und so heißt es zu den Hintergründen in den Medien: über die Motive der Jugendlichen, sich in Massen in großen Einkaufsmalls zu verabreden, wurde in Brasilien bereits viel spekuliert. Die einen sehen in diesen Flashmobs eine revolutionäre Geste, für die anderen sind sie Ausdruck der Konsumwünsche einer neuen aufstrebenden Mittelschicht“ (iPs deuTschlaNd 2014). In welchem Maße (ver)störend diese rolezinhos wahrgenommen werden, lässt sich aus den Reaktionen darauf ablesen. Zum einen gab es innerhalb und um die entsprechenden Shoppingcenter teilweise massive Polizeieinsätze, bei denen auch Gummischrot und Tränengas zum Einsatz kam (NZZ 2014). Zum anderen gab es schon mehrere einstweilige Verfügungen gegen diese Flashmobs, bei denen sich u. a. auf Sicherheitsbedenken bezogen wurden und die gleichzeitig die Verhängung hoher Strafen bei Nichtbeachtung vorsehen (G1 2014; sTuTTgarTer zeiTuNg.de 2014). Viele der mit Aufrufen zu rolezinhos konfrontierten Malls blieben an den entsprechenden Tagen geschlossen. Spätestens diese Reaktionen machten die Massenversammlung zu einem politisch aufgeladenen Thema. Kritiker sehen in diesem Vorgehen eine Diskriminierung von Teilen der Bevölkerung. um die geschützte Welt der Shoppingcenter aufrechtzuerhalten bedürfe es der „[…] Exklusion all derjenigen, von denen vermeintlich irgendeine Bedrohung ausgeht, das heißt von denen, die die Realität der Welt da draußen – die soziale ungleichheit – in diese Phantasieinseln bringen“30 (Padilha 2014, zit. in carTa Maior 2014). Entsprechend interpretiert Padilha die Flashmobs als „ […] Versuch, die unsichtbaren Barrieren zu durchlöchern, denen diese armen Jugendlichen in unserer Klassengesellschaft begegnen“31 (Padilha 2014, zit. in carTa Maior 2014). Anders als im Fall dieser interpretativen Deutungen der Intentionen sieht die Motivlage bei zwei ähnlich gelagerten, allerdings seinerzeit einmaligen „Besetzungen“ von Shoppingcentern aus. 2012 demonstrierten Mitglieder der Schwarzen29
30 31
„Que perigo seria este do qual as pessoas se veem protegidas ao desfrutar dos lazeres oferecidos pelos shopping centers? Provavelmente, o perigo que brota das desigualdades sociais estampadas na dinâmica da vida real, do ‘mundo de fora’ ao qual o shopping center não pode pertencer sob pena de perder seus maiores atrativos.” „[...] exclusão de todos aqueles que supostamente significam alguma ameaça, ou seja, que tragam a realidade do lado de fora – a desigualdade social – para essa ilha de fantasia.” „[...] tentativa de furar a barreira de invisibilidade a que esses jovens pobres estão sujeitos na nossa sociedade de classes.”
58
2 Theoretisches Fundament
Bewegung gegen Diskriminierung und Rassismus im Shopping Patio Higienópolis im gleichnamigen hochpreisigen Wohnviertel in São Paulo. „Das Heer derer, die niemals geschlafen haben, trat ein, weder um zu konsumieren noch um zu plündern, sondern um einen Eindruck zu hinterlassen, um seine Haare zu zeigen, seine Kleidung, die Musik, als Gruppe, laut sprechend, mit erhobenen Haupt […]“ wie es der Aktivist Douglas Belchior (carTa caPiTal 2014) rückblickend formuliert. Die erste dezidiert politisch motivierte Besetzung dieser Art ereignete sich bereits im Jahr 2000 in dem Shoppingcenter Rio Sul in Rio de Janeiro und wurde von Mitgliedern der sozialen Bewegung MTST (Movimento dos Trabalhadores Sem-Teto; Bewegung der Arbeiter ohne Obdach) durchgeführt, um sich auf diese Weise Sichtbarkeit zu verschaffen (o globo 2014; vgl. Dokumentarfilm von seixas 2008) Nach den ersten Konfrontationen im Zusammenhang mit den rolezinhos gibt es mittlerweile Aushandlungsprozesse zwischen den Organisator_innen und der Betreibern der Shoppingcenter über den Ablauf möglicher weiterer Flashmobs, die hauptsächlich hinsichtlich der Anzahl der Teilnehmer_innen begrenzt werden sollen (G1 2014). Der Präsident der Brasilianischen Vereinigung der Shoppingcenter (Associação Brasileira de Shopping Center – Abrasce), Luiz Fernando Veiga, benennt einen für ihn zentralen Punkt, warum es wichtig ist, rolezinhos nicht grundsätzlich zu verbieten: „Das Shoppingcenter diskriminiert nicht, akzeptiert alle, denn alle sind Konsumenten. Wir haben mit diesen Jugendlichen für die Zukunft vereinbart, dass wir versuchen werden, das, was ein solches Aufsehen erregt hat, eher in eine kulturelle Aktivität zu überführen und wir wollen dann diese auch unterstützen“32 (G1 2014, eigene übersetzung). Das Beispiel verdeutlicht das Verschwimmen der Grenzen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten. Vor dem Hintergrund der juristischen Dimension ein privater Raum, bietet die physische Dimension mit einem relativ geschlossenen Raum die Möglichkeit zwischen draußen und drinnen zu unterscheiden. um die Funktion des Marktes zu erfüllen bedarf es aber eines Publikums, was das Shoppingcenter zu einem halböffentlichen Raum werden lassen muss. Meist ist dieser in sozial stark geschichteten Gesellschaften wie der brasilianischen auch bezüglich der sozialen Dimension nur semiöffentlich, da den vermeintlich freien Zugang „in der Regel“ nur die von den Betreibern erwünschten Konsument_innen in Anspruch nehmen, und zwar zum Zweck des Waren- und Freizeitkonsums. Abweichendes Verhalten – sei es z. B. implizit oder explizit politisch – von in diesen Räumen unerwarteten Personengruppen führt bei den erwartbaren Nutzer_innen zu starker Verunsicherung – und macht diesen Raum so temporär zu einem öffentlichen Raum im weiteren Sinn. (Exkurs Ende) Die physische Gestaltung des Raums kann die vorgenannten Dimensionen im Spannungsfeld zwischen öffentlichem und privatem Raum in die eine oder die andere Richtung verstärken. Darüber hinaus beeinflussen sich auch die anderen drei Dimensionen immer gegenseitig. Gleiches gilt für die Polarität von privatem und 32
„O shopping center não discrimina, aceita todos, porque todos são consumidores. (...) Combinamos com esses jovens que, daqui para frente, tentaremos fazer com que tudo isso, que criou tanta celeuma, passe a ser apenas mais uma atividade cultural, e nós estamos a fim de apoiá-la.”
2.2 Der öffentliche Raum
59
öffentlichem Raum, die den Ausgangspunkt für die Bestimmung der Dimensionen bildet, ohne dass beide Räume im heutigen Alltag (noch) einer so strengen Trennung unterliegen. Sowohl diese Polarität als auch die mit Hilfe der Beschreibung der Dimensionen getätigten Definitionen öffentlichen Raums stellen somit (meist) idealtypische Zustände dar. Dass die Definitionen dennoch ihre Berechtigung haben, zeigt sich daran, dass sie sehr häufig Parallelen auch mit nicht wissenschaftlichen, alltäglichen Charakterisierungen von öffentlichem Raum aufweisen. Der öffentliche Raum ist im Alltag mit vielen der genannten Eigenschaften normativ aufgeladen. Die Ideale und die Berufung darauf können benachteiligten Gruppen einerseits dazu dienen, entsprechende Forderungen an Beteiligungsmöglichkeiten im öffentlichen Raum zu erheben (Glasze 2001, S. 163; Mitchell 2003, S. 133) und andererseits ermöglichen zu versuchen, diese Ansprüche in der Praxis umzusetzen (Mitchell 2003, S. 4). Zentral sind dabei oftmals die allgemeine Zugänglichkeit und die große Bandbreite an Nutzungsmöglichkeiten. Eng mit beidem verbunden ist dabei die Frage der Aneignungsmöglichkeiten und -formen. 2.2.1
Zugänglichkeit
Eines der weitverbreitetsten Charakteristika öffentlicher Räume ist die immer wieder erwähnte allgemeine Zugänglichkeit, die diese Räume auszeichnet (u. a. goMes 2006, S. 160; alberNaz 2004, S. 43; vgl. Kap. 2.2). „Die bürgerliche Öffentlichkeit steht und fällt mit dem Prinzip des allgemeinen Zugangs. Eine Öffentlichkeit, von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen wären, ist nicht etwa nur unvollständig, sie ist vielmehr gar keine Öffentlichkeit“ (haberMas 1990, S. 156)
Allerdings entspricht diese, wie viele andere der skizzierten Eigenschaften öffentlicher Räume, einem in der Realität nur mit Einschränkungen anzutreffendem Idealzustand und auch Habermas relativiert in Folge seine Aussage dergestalt, dass er Öffentlichkeit als dann gewährleistet bezeichnet, wenn die Zulassungsvoraussetzungen („Privatautonomie, die den gebildeten und besitzenden Mann ausmachen“ (Habermas 1990, S. 157)) erfüllt sind. Dabei geht es also nicht nur um öffentliche Räume in Gebäuden wie Schulen und Behörden, die nur begrenzt zugänglich sind. Ebenso wenig muss es um de jure öffentliche oder nicht-öffentliche Räume gehen. Denn die Zugänglichkeit wird nicht nur von unmittelbar physischen Gegebenheiten und expliziten Regelungen bestimmt, sondern auch von symbolischen Aspekten und Codes beeinflusst (serPa 2007, S. 16), die nicht unmittelbar Zugänglichkeit oder Ausgeschlossenheit signalisieren (vgl. Abb. 7). Zum einen kann es sich dabei um den symbolischen Gehalt von physischer Raumgestaltung handeln, die direkt keine Zugangsbeschränkungen darstellen, wie es z. B. durch Mauern, Zäune u. ä. geschieht, indirekt aber dennoch Ausschluss vermitteln können. „Marmor, verspiegelte Glasflächen, goldfarbene Einfassungen, Palmen und andere elitäre Zeichen wirken als stumme, aber wirksame soziale Filter: Den einen signalisieren sie Zugehörigkeit, den anderen das Gegenteil“ (häusserMaNN eT al. 2008, S. 304). umgekehrt ist dasselbe denkbar: Öffentliche Räume, die sich durch fehlende Instandhaltung und schlichte Gestaltung auszeichnen, wirken auf die einen Nutzer_innen un-
60
2 Theoretisches Fundament
Einflussfaktoren auf die Zugänglichkeit öffentlicher Räume
... Überwachungsmaßnahmen
... direkten − Zäune, Mauern etc. − und indirekten − exklusive Gestaltung als sozialer Filter −
Zugangsbeschränkungen
• disziplinierende/ausschließende Kontrolle (Polizei, Kameras etc.) • normalisierende Kontrolle (Förderung erwünschten Verhaltens) • kontrollierbare Umwelt (in Verbindung mit der Raumgestaltung)
Zugäng öffentl.
lichkeit Räume
... sozialen, kulturellen und ökonomischen Hintergrund der
jeweiligen Person, z. B. intrapersonelle Gründe (bspw. Beeinträchtigungen) und externe Gründe (bspw. gesetzliche Regelungen)
... der Distanz zu dem jeweiligen
Raum und den damit verbundenen und den entsprechenden Durchführungskosten
... Grad des Fremdseins
in Abhängigkeit von ... ... Territorialisierungen durch anwesende Gruppen, Homogenisierungen des öffentlichen Raums und Erweiterungen der privaten Sphäre
(insiders vs. outsiders) im Zusammenhang mit nicht legitimierter Präsenz und auferlegter Nicht-Zugänglichkeit durch die MainstreamÖffentlichkeit
Eigene Darstellung u. a. nach: HABERMAS 1990; HÄUßERMANN ET AL. 2008; SERPA 2007; VAIOU & KALANDIDES 2009.
Abb. 7: Einflussfaktoren auf die Zugänglichkeit öffentlicher Räume
attraktiv, während sie für andere anziehend sein können. Die beiden Beispiele machen deutlich, dass Gestaltungen nicht auf alle sich im öffentlichen Raum aufhaltenden Menschen in gleicher Weise wirken. Entsprechend ist es von Bedeutung, bzgl. der Zugänglichkeit auch zwischen unterschiedlichen Gruppen zu unterscheiden. Diese zeichnen sich nach innen jeweils durch ihre verbindende Identität aus, während nach außen gegenüber anderen Gruppen die Andersartigkeit zentrales Element ist. Die Gruppen mit ihren jeweiligen Identitäten haben ihrerseits die Möglichkeit öffentlichen Raum zu prägen und damit eine Homogenisierung dieser Räume und schlussendlich eine Territorialisierung zu bewirken (serPa 2007, S. 20). Die sich so herausbildenden Territorien sind „durchdrungen“ („impregnada“ (serPa 2007, S. 20)) von der jeweiligen Identität, es kann sich also eine territoriale Identität oder auch eine Grenze der Andersartigkeit herausbilden, was wiederum Auswirkungen auf die Zugänglichkeit hat. „Folglich gibt es keine verallgemeinerte Zugänglichkeit mehr, sondern eine limitierte und symbolisch kontrollierte. Es fehlt die Interaktion zwischen diesen Territorien, die so wahrgenommen (und genutzt) werden, dass das ‚Andere‘ in einem Raum, der allen zugänglich ist, neutralisiert wird. Die Nutzer des Raums tragen so zu einer Erweiterung der privaten Sphäre im öffentlichen Raum bei und machen eine wechselseitige Entfremdung privater Territorien offensichtlich, welche jedoch einer kompletten Sichtbarkeit ausgesetzt sind“33 (serPa 2007, S. 36; eigene übersetzung). 33
“Conseqüentemente, a acessibilidade não é mais generalizada, mas limitada e controlada simbolicamente. Falta interação entre esses territórios, percebidos (e utilizados) como uma maneira de neutralizar o ‘outro’ em um espaço que é acessível a todos. Os usuários do espaço
2.2 Der öffentliche Raum
61
Neben baulich-symbolischen Einschränkungen und solchen durch territoriale Identitäten verändert sich die Zugänglichkeit auch durch zunehmende präventive überwachungsmaßnahmen. sieVers (in häusserMaNN eT al. 2008, S. 308 ff.) unterscheidet zwischen „disziplinierende[n] und ausschließende[n] Kontrollen“, „normalisierende[n] Kontrollen“ und „kontrollierbare[r] umwelt“. Die erstere Form der Kontrolle, die am bedeutendsten für die Zugänglichkeit ist, beinhaltet Maßnahmen von Polizei, privaten und kommunalen Sicherheitsdiensten, aber auch die überwachung mittels Kameras. Auf diese Weise lassen sich unerwünschte Personen und Gruppen von Personen von innerstädtischen öffentlichen Räumen fernhalten, wohingegen die Maßnahmen das Sicherheitsempfinden andere Personen und Gruppen von Personen erhöhen kann und somit die Zugänglichkeit für sie verbessert wird (vgl. Kap. 2.2.4). Auf eine weitere Komponente die Zugänglichkeit betreffend weist harVey hin, wenn er die Aufmerksamkeit auf die „‚Friktion von Distanz‘“ lenkt: „Distanz ist sowohl eine Barriere wie auch eine Verteidigung gegenüber menschlicher Interaktion. Sie zwingt allen Systemen von Produktion und Reproduktion Durchführungskosten (transaction costs) auf“ (harVey 1987, S. 115). Auch wenn sich harVey mit diesem Aspekt räumlicher Gestaltung und seiner Konsequenzen auf das gesamtstädtische System bezieht, spielt die Frage der Distanz und Erreichbarkeit im Zusammenhang mit der Zugänglichkeit öffentlicher Räume eine wichtige Rolle. Bei allen dargestellten Einschränkungen bezüglich der Zugänglichkeit kommen unterschiedliche Betroffenheiten von verschiedenen Bevölkerungsgruppen zur Sprache. Die Zugänglichkeit oder unzugänglichkeit kann dabei von mannigfaltigen Faktoren abhängen und soziale, kulturelle oder ökonomische Gründe haben. Das Alter sowie Behinderungen und Beeinträchtigungen, aber auch das Geschlecht, die sexuelle Orientierung und die ethnische Zugehörigkeit sind mögliche Faktoren, die den Zugang von Menschen limitieren können. Die Einschränkungen werden dabei durch unterschiedliche ursachen ausgelöst. In den ersten beiden Fällen ist es v. a. die physische Gestaltung, die zu Problemen führen kann. Fehlende Rampen verunmöglichen den Zugang für eigenständige Rollstuhlfahrer_innen, lange Treppen stellen für ältere Menschen Hindernisse dar ebenso wie für Eltern mit Kinderwagen. Vielfältiger sind die Hintergründe möglicher Limitationen bei den drei zuletzt genannten Faktoren. Diese lassen sich aus der Perspektive der Betroffenen in zwei Gruppen aufteilen: externe Einflüsse und interne Beweggründe. Externe Einflüsse sind z. B. gesetzliche Regelungen, die mehr oder weniger explizit einen Ausschluss vorsehen. Der Grad der unmissverständlichkeit des gesetzlichen Ausschlusses ist dabei eng gekoppelt mit dem der demokratischen und liberalen Ausrichtung des jeweiligen politischen Systems34. Je offener ein politisches System ist,
34
contribuem assim para a amplificação da esfera privada no espaço publico, fazendo emergir uma sorte de estranhamento mutuo de territórios privados, expostos, no entanto, a uma visibilidade completa.” Im Juni 2013 wurde in Russland ein Gesetz beschlossen, dass homosexuelle Propaganda in der Öffentlichkeit gegenüber Minderjährigen unter Strafe stellt. Dieses Gesetz wirkt sich neben der Berichterstattung in sämtlichen Medien auch auf den physischen öffentlichen Raum aus, da beispielsweise das Händchenhalten und das Küssen gleichgeschlechtlicher Paare in der Öffent-
62
2 Theoretisches Fundament
desto schwieriger werden gesetzliche Bestimmungen, die den Ausschluss explizit benennen. Stattdessen werden eher vage Formulierungen gewählt und die jeweilige Anwendung ist von der Interpretation abhängig35 (vgl. Kap. 2.2.4.1). Neben externen Faktoren spielen auch interne Beweggründe eine Rolle, wenn es darum geht öffentlichem Raum fern zu bleiben. Dabei sind Normen, die in öffentlichen Räumen gelten, bedeutsam. Diejenigen, die sich diese Normen nicht zu eigen machen wollen oder können, meiden dann diesen mit Codes aufgeladenen Raum oder setzen sich anderenfalls einer mehr oder weniger ausdrücklichen Normübertretung aus (Vaiou & KalaNdides 2009, S. 12 ff.). Im 19. Jahrhundert war es beispielsweise verpönt, wenn sich Frauen allein im öffentlichen Raum aufhielten. Sie galten dann oft als „filles publiques36“ (siebel 2007, S. 82) – sic! – , im Französischen eine Bezeichnung für Prostituierte. um diesem Ruf nicht zu entsprechen, mieden Frauen folglich den Aufenthalt im öffentlichen Raum. Die Zugänglichkeit hängt ferner auch von der ökonomischen Eigenständigkeit ab, worauf u. a. auch haberMas mit seiner Einschränkung des allgemeinen Zugangs (s. o.) verwiesen hat. umgekehrt heißt das, dass sozio-ökonomisch Benachteiligte einen teilweise limitierten Zugang haben, der entweder – wie oben dargestellt – durch Vorgaben von außen oder durch inhärente Motive der betroffenen Personen gesteuert sein kann. Zu den sozio-(ökonomisch) Benachteiligten und damit zu potenziell Ausgeschlossenen zählen heute beispielsweise Bettler_innen, Obdachlose, (jugendliche, meist männliche) Migranten und Drogenabhängige (siebel & WehrheiM 2003, S. 4). Das Argument, dass Fremde als abstrakte Subjekte im öffentlichen Raum keinen Begrenzungen unterliegen und in einen hochspezialisierten Austausch mit anderen Fremden treten können, greift hier zu kurz. Fremde_r ist in diesem Fall nicht gleich Fremde_r. Vaiou & KalaNdides führen einen gedanken von ahMed weiter, wenn sie folgende unterscheidung treffen: „[...] strangers are not those, who are not known in (everyday) public spaces, but those who are ‘painfully familiar‘ and already recognized as not belonging, as being out of place. Here, relations of power are involved, in the context of which some strangers are marked as stranger than others, thereby establishing and reinforcing boundaries between ‘insiders’ and those recognized as out of place or ‘outsiders’, as well as (de)legitimate forms of presence, mobility or movement through/within the public.” (Vaiou & KalaNdides 2009, S. 17).
Diese Art von explizit oder implizit aufoktroyierter Nicht-Zugänglichkeit ist meist typisch für innenstädtische Orte, deren öffentliche Räume gesamtstädtische Bedeutung haben. In sozio-ökonomisch peripheren städtischen Räumen lässt sich hinge-
35
36
lichkeit mit Strafen belegt werden können, wenn die Möglichkeit besteht, dass Minderjährige dies zur Kenntnis nehmen (sueddeuTsche.de 2013; zeiToNliNe 2013). In Österreich ist der Aufenthalt von Bettler_innen im öffentlichen Raum beispielsweise reglementiert. Allgemein ist Betteln nicht strafbar; auf Länderebene wird es aber vielmals zur Verwaltungsübertretung erklärt und entsprechend geahndet. Dabei wird in den entsprechenden Landesgesetzen auf aggressives und aufdringliches und / oder auf organisiertes und gewerbliches Betteln Bezug genommen. Alle vier Formen werden allerdings oft nicht weiter konkretisiert, so dass es bei der Vollstreckung zu weiten und damit rigoroseren Auslegungen kommen kann (vgl. für Wien und Niederösterreich: WeichselbauM 2011). Wörtlich übersetzt bedeutet dies bezeichnenderweise „öffentliche Mädchen“.
2.2 Der öffentliche Raum
63
gen eine die Zugänglichkeit betreffende Selbstlimitation beobachten. Als sog. Nogo-Areas bezeichnete Räume weisen ein so hohes (subjektives) Gefährdungspotenzial auf, dass sie von der „Mainstream-Öffentlichkeit“ (PrischiNg 2008, S. 23) gemieden werden.37 Eng mit der Dimension der Zugänglichkeit ist die der Nutzung verbunden. Wenn die Zugänglichkeit nicht gewährleistet ist, ist offensichtlich auch keine Nutzung möglich. umgekehrt ist aber auch denkbar, dass Nutzungen öffentlicher Räume die Zugänglichkeit einschränken. 2.2.2
Nutzung
Nutzungen, die unmittelbar mit dem öffentlichen Raum verbunden werden, sind die bereits angesprochene Funktion als Forum für politische Meinungsäußerung und die des Marktes. Auch wenn es sich bei beiden Nutzungen um lange tradierte Nutzungen handelt, sind sie doch mitnichten für breite Bevölkerungskreise immer selbstverständlich (gewesen). Das Recht auf Versammlungen im öffentlichen Raum ist angesichts dessen gar nicht „uralt“, sondern vergleichsweise jung, nie auf Dauer unumstritten und immer wieder eine Sache der Aushandlung (MiTchell 2003, S. 14). Nutzungen im öffentlichen Raum unterliegen also allgemein einem permanenten Wandel, Aushandlungsprozessen und Machtverhältnissen (vgl. Abb. 8). Der öffentliche Raum als der der Öffentlichkeit und der politischen Meinungsäußerung hat auch heute noch Bestand. Er fungiert auch weiterhin als ein „Medium der Kommunikation“ (glasze 2001, S. 163), wenn auch nicht exklusiv, sondern ergänzt um die diversen weiteren Medien. Informationsquellen wie Zeitungen, Radio und Fernsehen sind oft in Privat- oder Staatsbesitz und so an Profit orientiert oder staatlich gelenkt. In beiden Fällen ist der ungehinderte Zugang untergeordneter, widerständiger Gruppen zu diesen Kommunikationskanälen nicht ohne weiteres gewährleistet. Angesichts dessen spielt der öffentliche Raum – teilweise ergänzt um die Möglichkeiten im Internet und durch Web 2.0, sofern die Zugänglichkeit z. B. durch autoritäre Regime nicht eingeschränkt oder unterbunden wird (vgl. (teilweise kritisch dazu) haberMas 2008, S. 138 ff.) – eine wichtige Rolle als Arena zur oppositionellen Meinungsäußerung und zu deren Wahrnehmung (MiTchell 2003, S. 149). In der jüngeren Vergangenheit gibt es viele Beispiele für politische Meinungsbekundungen, bei denen der öffentliche Raum die zentrale Plattform von Protesten – teilweise unter Inkaufnahme mehr oder weniger großer Gefährdungen für Leib und Leben der Teilnehmenden (in Abhängigkeit des jeweiligen politischen Systems) – 37
Die Darstellung der Selbstlimitation ist nicht unumstritten. PrischiNg (2008, S. 23) spricht von der „Exklusion der Öffentlichkeit“ und betrachtet diese als durch die No-go-Areas ausgesperrt. Dies entspricht auch der Argumentation im Alltag, wie MiTchell an einem Fall der university of California in Berkeley kritisch ausführt: „[The univesity] wanted it to be a park in which inappropriate persons – ‘the criminal element‘, as the university put it – were removed to make room for students and middle-class residents who, the university argued, had been excluded as People’s Park became a haven for ‘small-time drug dealers, street people, and the homeless.’” (MiTchell 2003, S. 120).
64
2 Theoretisches Fundament
Nutzung öffentlicher Räume Politische Meinungsäußerung
Nicht-konforme Nutzungen
Medium der Kommunikation auch oppositionelle Meinungsäußerungen möglich
Spontane Aktionen Außergewöhnliche Reaktionen Deviante Nutzungen Nutzungen für Überlebensökonomie
meist temporär und räumlich begrenzt Gebrauchswert-orientiert
Nutzung öffentlicher Räume
Wirtschaftliche Markt- und Handelsaktivitäten Verbindungselement zwischen kommerziellen Dienstleistungen Teil der Geldökonomie
meist permanent und omnipräsent Tauschwert-orientiert
Kulturelle und religiöse Nutzung
Freizeit- und Erholungsnutzung
Verkehrsnutzung
tw. Vereinnahmung für kommerzielle Zwecke und das Stadtmarketing in Form sorgfältig orchestrierter Gemeinschaftsevents (espectacularização - Spektakelisierung)
einerseits mit Emanzipationspotenzial, andererseits mit Vermarktungsinteressen, bspw. CSD-Paraden
motorisierter und nicht-motorisierter Individual- und Kollektivverkehr Warentransport inkl. des ruhenden Verkehrs
Vielfältige Nutzungsinteressen
Nutzungskonflikte
Unterschiedliche Nutzer_innen-Gruppen
Eigene Darstellung u. a. nach: MITCHELL 2003; GLASZE 2001; PRISCHING 2008; SERPA 2007; FREY 2004; CARLOS 2007.
Abb. 8: Nutzung öffentlicher Räume
war: Der Aufstand auf dem Tian’anmen-Platz (Platz des himmlischen Friedens) in Peking 1989 gehört ebenso dazu wie die als sog. „Montagsdemonstrationen“ bezeichneten Proteste in der ehemaligen DDR im selben Jahr und die Proteste im Rahmen der WTO- und G8-Konferenzen um die Jahrtausendwende. Jüngeren Datums sind die Demonstrationen, die den sog. „Arabischen Frühling“ in Nordafrika und im Nahen Osten ausgelöst haben oder die Kundgebungen während des Confederations Cup im Juni 2013 in Brasilien38. Seit den 2000er Jahren spielen zur Mobilisierung die seinerzeit relativ neuen Medien wie das Internet und in Folge das Web 2.0 eine wichtige Rolle, aber auch bei den jüngsten Protesten hat sich bewahrheitet, was MiTchell bereits 2003 formulierte: „The vision of the electronic future as a public space […] has proven, despite the importance of electronic communications for organizing, to be more a dream of control than liberatory democracy. This is so simply because public democracy requires public visibility, and public visibility requires material public spaces.” (MiTchell 2003, S. 147 f.).
Der dargestellten, dezidiert politischen Nutzung steht die wirtschaftliche Nutzung, die in der Marktfunktion zum Ausdruck kommt, gegenüber. Erstere Nutzung umfasst zeitlich eher begrenzte Ereignisse, die räumlich – ausgehend vom gesamtstädtischen Raum – kleinräumig verortet werden können. Die wirtschaftliche Nutzung dagegen durchdringt heute den gesamtstädtischen öffentlichen Raum in raum-zeitlicher Hinsicht vollständig. Ergänzend zum klassischen Markt dient der öffentliche 38
Noch stehen aufgrund der kurzen verstrichenen Zeitspanne profunde wissenschaftliche Analysen der heterogenen und komplexen Proteste im Juni 2013 in Brasilien aus. Erste Publikationen, die eine Einschätzung der Proteste und der Bedeutung der sozialen Netzwerke versuchen, gibt es bereits und sie geben angesichts einer andauernden, wenn auch abgeschwächten Proteststimmung einen vorläufigen überblick über die Ereignisse (z. B. FerNaNdes & roseNo 2013).
2.2 Der öffentliche Raum
65
Raum in großem Maße der „Geldökonomie“ (PrischiNg 2008, S. 25). In Innenstädten (und darüber hinaus) fungiert er als Verbindungsglied zwischen Einzelhandelsund anderen kommerziellen Standorten. Dies führt dazu, dass sich der öffentliche Raum und die privat organisierten Shoppingmalls und center in gewisser Weise angleichen. Vielfalt und Abwechslung übernehmen dabei die Malls von den Innenstädten, wohingegen sich umgekehrt Innenstädte um ein attraktives Ambiente ohne Schmutz und andere Belästigungen bemühen (siebel 2007, S. 89). Diese Angleichung kann so weit gehen, dass auch innenstädtische öffentliche Räume de facto „Öffnungszeiten“ besitzen, die eng an die de jure Betriebszeiten der angrenzenden Geschäfte gekoppelt sind (PrischiNg 2008, S. 25). Das führt zu einer geringen Nutzung beispielsweise von Innenstädten in der Zeit nach den allgemeinen Geschäftszeiten. Dies kann der einseitigen primären Nutzung als Einzelhandelsstandort geschuldet sein. Ergänzende primäre Nutzungen wie die Wohnfunktion, die zu einer zeitlich verschobenen Nutzung des öffentlichen Raums beiträgt, oder sekundäre Nutzungen, die sich in Folge von primären Nutzungen etablieren, können dieser Tendenz entgegenwirken (Jacobs 1993, S. 101 ff.). Die Kommerzialisierung betrifft aber nicht nur die alltägliche Geschäftstätigkeit, sondern auch traditionelle kulturelle und / oder religiöse Veranstaltungen und Feste, die immer mehr – auch vor dem Hintergrund des Städtetourismus – zu „festas-mercadoria“39 werden und so zu einer „espectacularização“ (Spektakelisierung) (beide: serPa 2007, S. 114) des öffentlichen Raums beitragen. Dabei wird der öffentliche Raum immer stärker zur Bühne und die Nutzungen des öffentlichen Raums folgen impliziten Regieanweisungen und werden so zu einem „carefully orchestrated corporate spectacle“ (crilley 1993, S. 147 zit. in MiTchell 2003, S. 141). Frey sieht aber in tendenziell neueren Events im öffentlichen Raum, wie Love-Parades oder Christopher Street Day-Paraden auch die Möglichkeit, Lebenseinstellungen eine Plattform zu geben und durch die Veranstaltungen zur Anerkennung dieser Lebensweise beizutragen. „Insofern ist die temporäre Aneignung von öffentlichen Räumen auch eine Chance für das demokratische Gemeinwesen“ (Frey 2004, S. 232). Dennoch sind auch diese Veranstaltungsformate nicht davor gefeit, aus Gründen der interurbanen Konkurrenz für das Stadtmarketing – in den beiden genannten Beispielen als Exempel zur Darstellung einer toleranten, weltoffenen Stadt – vereinnahmt zu werden. Die kulturellen Nutzungen öffentlicher Räume im weitesten Sinne leisten auch einen Beitrag zum Stadtbild oder zu dem von Teilen der Stadt. Der öffentliche Raum trägt so zusätzlich entscheidend zur Repräsentation der Stadt bei, der in Zeiten der urbanen Vermarktung eine wichtige Bedeutung zukommt (vgl. Kap. 2.1.3.). carlos (2007, s. 88) schlussfolgert, dass der (öffentliche) Raum in den geschilderten Fällen v. a. als Tauschwert Bedeutung besitzt und dies sowohl für das Wachstum der (städtischen) Wirtschaft als auch für die Reproduktion der politischen Macht (vgl. Kap.2.2.3). Neben der politischen, Ökonomie unterstützenden und kulturellen Nutzung öffentlicher Räume gibt es aber noch eine Vielzahl anderer, die teilweise mit ersteren 39
Mit diesem Begriff bezeichnet sePra Feste, die eine starke Kommerzialisierung erfahren und so dem kulturellen Massenkonsum dienen, der nicht zuletzt auch eine touristische Nachfrage befriedigt.
66
2 Theoretisches Fundament
im Zusammenhang stehen aber auch unabhängig davon sind. Zu nennen ist zum einen die Verkehrsnutzung und zum anderen die Freizeit- und Erholungsnutzung. Die Verkehrsnutzung, die heute hinsichtlich seiner Raumdominanz zum überwiegenden Teil durch den motorisierten Individualverkehr bestimmt wird, wird dennoch oft gar nicht mehr als Nutzung des öffentlichen Raums wahrgenommen. Zum Ende des 19. Jahrhunderts fielen die Autos auf Plätzen dagegen noch auf: „[...] in Mittelalter und Renaissance [bestand] noch eine lebhafte praktische Verwertung der Stadtplätze für öffentliches Leben [...] und im Zusammenhang damit auch eine übereinstimmung zwischen diesen und den anliegenden öffentlichen Gebäuden, während sie heute höchstens noch als Wagenstandplätze dienen [...]“ (siTTe 1922, S. 18).
Heute sind zwar innenstädtische Plätze mitunter wieder autofrei, aber andere Verkehrsflächen sind dennoch oft vom Autoverkehr dominiert. Die oft noch sehr strikte Nutzungstrennung und die weitgehende Fokussierung des öffentlichen Straßenraums auf den Verkehr rührt noch aus der Charta von Athen von 1933 (le corbusier 1962) her, die die strenge unterteilung der Funktionen vorsieht und die als einzige zulässige Nutzung für den Straßenraum die des Verkehrs betrachtet (Frehse 2009, S. 159). Die Dominanz der kommerziellen und der Verkehrs-Funktion öffentlicher Räume führt zu einer Normierung des Verhaltens der Menschen und damit der Nutzungen. „[...] die Art und Weise der Nutzung neigt dazu, sich immer stärker dem Markt unterzuordnen [und] die Orte der Stadt beschränken sich auf überwachte, normierte, privatisierte oder semi-privatisierte Orte [...], was oftmalige Transformationen in den Nutzungsmöglichkeiten der Metropole erforderlich machen“40 (carlos 2007, S. 88). Spontane Aktionen und außergewöhnliche Reaktionen werden erschwert und verdrängt (serPa 2007, S. 38). Zusätzlich gibt es auch gesellschaftliche Zwänge, die mit bestimmten Attributen versehenen Menschen im öffentlichen Raum nur ein begrenztes Nutzungsspektrum zubilligen. Vaiou & KalaNdides beschreiben dies für Frauen im öffentlichen Raum Athens Mitte der 1980er Jahre: „It seems that they could have free access only insofar as they pursued the itineraries of the everyday, those which neither overtly trespassed established boundaries nor contested accepted representations (shopping, doing household-related errands, looking after children, going to work, crossing space hastily).” (Vaiou & KalaNdides 2009, S. 14).
Aber dennoch verschwinden nicht-konforme Nutzungen nicht aus dem öffentlichen Raum. und immer verschiedenartigere Nutzungsinteressen unterschiedlicher Gruppen erschweren eine konsensuale Raumnutzung. Es stehen sich so im öffentlichen Raum zum einen die unterschiedlichen Gruppen mit ihren divergierenden Nutzungsinteressen gegenüber. Zum anderen spielt der öffentliche Raum eine wichtige Rolle als Bestandteil des städtischen Tauschwerts – intraurban für die Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen und politischen Systems und interurban im Städtewettbewerb – und steht damit im Widerspruch zu demselben Raum, dieses Mal als ebenfalls bedeutsamer Gebrauchswert für die städtische Bevölkerung mit ihren In40
„[...] os modos de uso tendem a subordinar, cada vez mais, ao mercado [e] os lugares da cidade se restringem a lugares vigiado, normatizados, privatizados, ou semi-privatizados [...] o que impõe transformações freqüentes nas possibilidades do uso da metrópole.”
2.2 Der öffentliche Raum
67
teressen und Bedürfnissen verstanden (carlos 2007, S. 88; MiTchell 2003, S. 19). Die unterschiedlichen Nutzungsinteressen von Akteuren führen zu verschiedenen, oft konfligierenden oder sich überlagernden Aneignungen öffentlicher Räume. 2.2.3
Aneignung
Der Begriff der Aneignung wurde in den 1950er Jahren in der Psychologie und hier v. a. in der Entwicklungspsychologie eingeführt. Er geht innerhalb dieses Faches hauptsächlich auf den sowjetischen Psychologen leoNTJeW zurück, der „die Entwicklung des Menschen als tätige Auseinandersetzung mit seiner umwelt und als Aneignung der gegenständlichen und symbolischen Kultur [versteht]“ (deiNeT 2009, o. S.). „Aneignung meint sehr allgemein das Erschließen, ‚Begreifen‘, Verändern, umfunktionieren und umwandeln der räumlichen und sozialen umwelt. Aneignung impliziert das aktive Handeln des Subjekts, seine Auseinandersetzung mit der räumliche und sozialen umwelt“ (deiNeT & reuTliNger 2005, S. 295).41
Im engeren Sinne geht es darum, wie Kinder und Jugendliche die soziale und physische umwelt und die in ihr enthaltenen menschlichen Merkmale begreifen und sich zu Eigen zu machen. Bei der umwelt kann es sich sowohl bspw. um ein Werkzeug handeln, dessen menschlich induzierte Bedeutung und Benutzung sich den Heranwachsenden durch Aneignung aktiv erschließen muss, als auch um den (städtischen) Raum, der ebenfalls primär von Menschen gemacht ist und dessen Sinn erst verstanden und dessen Nutzung praktiziert werden muss (deiNeT 2009, o. S.). Im weiteren Sinne geht es im Rahmen einer marxistischen Gesellschaftstheorie darum, dass sich im industriellen Produktionsprozess der Mensch in immer stärkerem Maße von dem herzustellenden Produkt entfremdet, da er keinen überblick über den gesamten Produktionsprozess und damit das Produkt hat. Darüber hinaus entfremdet sich der Mensch auch von seinen Mitmenschen bspw. durch sozioökonomische ungleichheiten und ebenso von der umwelt, die – obwohl als vom Mensch geschaffen begriffen – limitierenden Einfluss auf dessen Entwicklung ausübt. um diese Entfremdung zu überwinden, bedarf es der nachträglichen Aneignung der entfremdeten umwelt. Es handelt sich dabei nicht um Anpassung an diese, denn „[...] [e]in Mensch kann sich im Gegenteil auch dahin entwickeln, daß er den Rahmen seiner begrenzten näheren umgebung verlässt, dass er sich ihr nicht anpaßt, weil er durch sie daran gehindert wird, den Reichtum echter menschlicher Züge und Fähigkeiten voll zu entfalten“ (leoNTJeW 1977, S. 286). Aneignung bedeutet den tätigen und eigenständigen umgang mit Gegenständen und Räumen, um eigenen Bedürfnissen und Interessen gerecht zu werden – wobei es sich sowohl um individuelle als 41
unmittelbar auf den Raum bezogen und etwas lyrischer, inhaltlich aber ähnlich formuliert es choMbarT de lauWe: „Die Aneignung des Raums ist das Resultat der Möglichkeit sich im Raum frei zu bewegen, sich entspannen, ihn besitzen zu können, etwas empfinden, bewundern, träumen, etwas kennenlernen, etwas den eigenen Wünschen, Ansprüchen, Erwartungen und konkreten Vorstellungen gemäßes tun und hervorbringen zu können“ (choMbarT de lauWe 1977, S. 6).
68
2 Theoretisches Fundament
auch um solche einer Gruppe handeln kann (deiNeT & reuTliNger 2005, S. 297 f.). Die Aneignung von Räumen ist dabei nur in Beziehung zu anderen Menschen, also im gesellschaftlichen Rahmen, möglich (choMbarT de lauWe 1977, S. 3). Ferner erfolgt die Aneignung immer kontextgebunden und in Wechselwirkung mit den historischen Gegebenheiten und gesellschaftlichen Zuständen. Drei gegenwärtige soziale Entwicklungen können in diesem Zusammenhang angeführt werden: die „Entgrenzung von Arbeit und Leben“, also die Auflösung von sozialen Strukturen ohne deren unmittelbare Ersetzung durch neue soziale Gefüge, die „,Verarbeitlichung‘ des Alltags“, verbunden mit „neuen Grenzziehungen der alltäglichen Lebensführung in sozialer, zeitlicher und räumlicher Hinsicht“ und die „gesellschaftliche Spaltung“ in Beschäftigte und permanent Arbeitslose (deiNeT & reuTliNger 2005, S. 299, 301 & 305). Diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beeinflussen auch die jeweiligen Potenziale zur Raumaneignung. Die sozioökonomischen Disparitäten führen zu unterschiedlichen Möglichkeiten der Raumaneignung (vgl. Abb. 9). Frey (2004, S. 224) sieht mit Rückgriff auf bourdieu diese Möglichkeiten durch die Verfügbarkeit von Kapitalarten und deren Volumen bestimmt (vgl. bourdieu 1991). „Bourdieu unterscheidet das ökonomische Kapital im Sinne von ökonomischen Ressourcen wie Geld oder Grundbesitz, das kulturelle Kapital im Sinne von Bildung und Wissen, soziales Kapital im Sinne eines Netzes an sozialen Beziehungen und das symbolische Kapital im Sinne der symbolischen Repräsentanz der genannten drei Kapitalarten. Selbstverständlich hat nicht jede/r gleiche Zugangschancen und Verfügungsmacht über diese Ressourcen“ (Frey 2004, S. 224).
Aneignung öffentlicher Räume und damit verbundene Herausforderungen Eigenständiger Umgang mit dem ... Aktives Handeln im ... Tätige Auseinandersetzung mit dem ...
Gesellschaftliche Rahmenbedingungen • Entgrenzung v. Arbeit u. Leben - Auflösung sozialer Beziehungen • Verarbeitlichung des Alltags • Gesellschaftliche Spaltung - Erhöhung sozioökon. Disparitäten
... öffentlichen Raum als räumliche und soziale Umwelt
Aneignung von Raum Nutzung, Besetzung, Erschließung, Umwandlung
vs.
Herrschaft über Raum Dominanz über Produktion und Organisation aus Machtposition heraus
Aneignung von Raum weitgehend ungehindertes Handeln
vs.
Enteignung von Raum Fremdsein und Nicht-Zugehörigkeit durch Raumgestaltung, soziale Codes
Aneignung von öffentlichem Raum als Ort des Zusammentreffens, der Kommunikation, des Dialogs - Gebrauchswert (Tendenz: )
vs.
Kommerzielle Aneignung Ökonomisierung des öffentlichen Raums Ökonomisches Kapital erforderlich - Tauschwert (Tendenz:)
Privatisierende Aneignung Exklusive Aneignung durch Gruppen Homogenisierung und Vordringen territorialer Identitäten
Reduzierte Öffentlichkeit in Räumen Bemessung der Öffentlichkeit an der Zugänglichkeit Dritter in homogene Räume anstelle anhand der sozialen Mischung
Eigene Darstellung u. a. nach: DEINET & REUTLINGER 2005; DEINET 2009; HARVEY 1987; FREY 2004; GOMES 2006; SIEBEL 2007.
Abb. 9: Aneignung öffentlicher Räume und damit verbundene Herausforderungen
2.2 Der öffentliche Raum
69
Der umstand verschiedener, der Raumaneignung zu Grunde liegender Interessen und Motivationen einerseits und unterschiedlicher Machtpositionen in Abhängigkeit der zur Verfügung stehenden Kapitalien andererseits lässt mehrere Aneignungen in einem Raum zu konfligierenden Vorhaben werden (choMbarT de lauWe 1977, S. 3). Je nach der Machtposition unterscheiden sowohl choMbarT de lauWe (1977, S. 3) als auch harVey (1987, S. 116) zwischen Aneignung von Raum und Herrschaft über Raum. Im ersten Fall geht es darum, „wie Raum von Individuen, Klassen oder anderen gesellschaftlichen Gruppen genutzt und besetzt wird.“ Demgegenüber drückt der zweite Fall aus „wie Individuen oder mächtige Gruppen die Organisation und Produktion von Raum dominieren, [...]“ (harVey 1987, S. 116). Zusätzlich schlägt choMbarT de lauWe vor, dem Prozess der Aneignung den der Enteignung entgegenzustellen, denn „es existieren vielfältige ‚Mittel‘, die geeignet sind, den Subjekten – Individuen oder Gruppen – den Eindruck zu vermitteln, dass der Raum, in welchem sie sich bewegen, keineswegs ihnen gehört“ (choMbarT de lauWe 1977, S. 5). Neben der gesellschaftlichen Stellung und der Kapitalverfügbarkeit ist es also auch der gestaltete, physische Raum, der Aneignung begünstigt oder erschwert: „Die Aneignung des gebauten Raums ist zugleich eine ästhetische Aneignung. Farben und Farbmuster, durch die sich das Subjekt mehr oder minder angezogen fühlt. Formen, die als mehr oder minder angenehm und harmonisch empfunden werden, ihre assoziative Verknüpfung mit Geräuschen und Gerüchen, das Spiel von Lichtern und perspektivische Eindrücke – all das kann Freude, das Gefühl des Besitzes und des Reichtums hervorrufen, ebenso wie ein ungünstiges Zusammenwirken dieser Momente den Eindruck des Fremd-Seins bewirken kann“ (choMbarT de lauWe 1977, S. 3).
Ein anderer Komplex externer Faktoren, die die Aneignung von öffentlichem Raum einschränken können, sind – ähnlich wie im Fall der Zugänglichkeit (vgl. Kap. 2.2.1) – soziale Codes und gesetzliche Regelungen. Soziale Codes können zu Ausschluss von Individuen oder Gruppen führen. Denjenigen, die nicht in gesellschaftliche Normen passen, wird das Recht auf Aneignung abgesprochen. Verschiedene Kriterien können in Abhängigkeit der jeweiligen Gesellschaft dazu beitragen, nicht zur Norm zu gehören, z. B. das Geschlecht, die soziale Schicht, das Alter oder die Ethnizität (Vaiou & KalaNdides 2009, S. 12). Aneignung ist immer dann möglich, solange ein möglichst ungehindertes Handeln möglich ist. Gesetzliche Verbote, Verordnungen und Normen sowie direkte Kontrollen limitieren folglich die Aneignungsmöglichkeiten im öffentlichen Raum (Frey 2004, S. 230). Die konkreten Gestaltungen von und die Regelungen im öffentlichen Raum sind heute oft Ausdruck der Ökonomisierung des (innenstädtischen) Raumes angesichts einer unternehmerisch ausgerichteten Stadtpolitik. Die Möglichkeiten der Aneignung beschränken sich immer mehr auf kommerzielle Aspekte und die vielfältigen weiteren Aneignungen öffentlicher Räume als Orte des Zusammentreffens, der Kommunikation und des Dialogs werden zunehmend negiert. Dieser Gebrauchswert des öffentlichen Raums wird zugunsten des Tauschwerts zunehmend zurückgedrängt (carlos 2013). harVey macht in diesem Zusammen darauf aufmerksam, dass der Gebrauchswert allgemein – und damit auch der des öffentlichen Raumes – v. a. für Bevölkerungsschichten geringer Einkommen von großer Bedeu-
70
2 Theoretisches Fundament
tung für das tägliche überleben ist und entsprechend die Möglichkeit der Raumaneignung i. w. S. einen wichtigen Aspekt dabei darstellt. Für diese Bevölkerungsgruppe ermöglicht nur eine kontinuierliche Aneignung die Sicherung dieses Raumausschnitts zugunsten ihrer Bedürfnisbefriedigung. Der Bedeutungsgewinn des öffentlichen Raums als Tauschwert für das strategische Stadtmarketing erschwert diese Aneignungsmöglichkeiten. Der Tauschwert stellt für wohlhabendere Bevölkerungsschichten einen Vorteil dar, da sie aufgrund ihrer (Kapitalien)Ausstattung u. a. mit Zahlungsmitteln in der Lage sind, sich die primär durch ihren Tauschwert ausgezeichneten Räume anzueignen (harVey 1987, S. 117 f.). Deutlich wird dies z. B. anhand der in Innenstädten vorhandenen und auch neu hinzukommenden Kultureinrichtungen, wie serPa darlegt: „In Wahrheit sind die Angehörigen der kultivierten Mittelklasse die bevorzugten ‚Kunden‘ der soziokulturellen Einrichtungen, die durch sie und für sie konzipiert wurden. Die Mittelschicht ist gleichzeitig Gestalter, Verwalter und Nutzer der städtischen öffentlichen Räume und definiert und garantiert durch die soziale und räumliche Aneignung so ihre Identität und ihre Macht“42 (serPa 2007, S. 115; eigene übersetzung).
Die Aneignung von Räumen durch Gruppen – unabhängig welcher Art – birgt das Risiko in sich, diesen Räumen dadurch eine Exklusivität gegenüber Dritten zu verleihen – sei diese intendiert oder nicht. Diese Ausschließlichkeit steht vor allem zur oft postulierten normativen Offenheit öffentlicher Räume im Widerspruch. An Orten, die vor dem Hintergrund ihrer Definition eine gesellschaftliche Heterogenität aufweisen sollten, kommt es so zu einer Homogenisierung durch spezielle Gruppen. goMes spricht in diesem Zusammenhang von „privatisierender Aneignung“ und dem „Vordringen territorialer Identitäten“ (goMes 2006, S. 176 ff. & S. 180 ff.; vgl. auch TöPFer 2011, S. 95 ff.). unter „privatisierender Aneignung“ versteht goMes verschiedene Möglichkeiten, wie Akteure gemäß ihren Interessen in den öffentlichen Raum eingreifen und ihn besetzen können. Diese sowohl physischen als auch symbolischen Eingriffe und Besetzungen tragen – zumindest implizit – dazu bei, private Absichten dieser Akteure durchzusetzen. Ein Beispiel (nicht nur) aus dem brasilianischen Kontext, das er anführt, sind informelle wirtschaftliche Tätigkeiten, wie der (ambulante) Straßenhandel oder selbsternannte Parkplatzwächter.43 Ähnlich verhält es sich mit dem „Vordringen territorialer Identitäten“ (goMes 2006, S. 180 ff.). Sie entstehen an Orten, an denen Gruppen die von ihnen festgelegten 42
43
„Na verdade, são as classes médias cultivadas os ‘clientes’ privilegiados dos equipamentos socioculturais, concebidos por elas e para elas, que são, ao mesmo tempo, os criadores, os gestores e os usuários dos espaços públicos urbano, definindo e garantindo, através da apropriação social e espacial, sua identidade e seu poder.“ Bezeichnenderweise nennt goMes als Beispiele für die „privatisierende Aneignung“ nur Beispiele der kommerziellen überlebensökonomien, nicht jedoch der aus der formellen Wirtschaft. Dabei sind Außenbestuhlungen von gastronomischen Betrieben oder Verkaufsstände vor Geschäftslokalen (s. u.) eine mindestens ebenso häufig anzutreffende Form der „privatisierenden Aneignung“. Es wird hier also implizit eine unterscheidung zwischen kommerziellen Nutzungen vorgenommen, von denen die der überlebensökonomien der Kritik privatisierender Aneignung und der damit verbundenen limitierenden Faktoren unterliegen, während die Nutzungen der regulären Dienstleistungsökonomien nicht problematisiert werden, obwohl ihre Konsequenzen für den öffentlichen Raum ähnlich sind (vgl. TöPFer 2011, S. 97).
2.2 Der öffentliche Raum
71
Regeln (die zunächst nur für Gruppenmitglieder galten) im Laufe der Zeit auf alle diesen Raum frequentierende Personen übertragen. Diese Regeln werden somit als allgemeingültig betrachtet, ohne dass die jeweiligen Gruppen über die dafür erforderliche Legitimität verfügen würden. Die entsprechenden Orte sind Sinnbild städtischer Fragmentierung im öffentlichen Raum. Ein Beispiel sind die evangelikalen Prediger. goMes kritisiert diese Formen der Homogenisierung und Privatisierung, da dadurch der allgemeine Zugang und die Nutzung im generellen Interesse – zwei zentrale Faktoren öffentlichen Raums – eingeschränkt werden. siebel erwähnt ein weiteres wichtiges Beispiel für die privatisierende Aneignung (nicht nur aus dem europäischen Zusammenhang), ebenfalls aus dem Bereich der Wirtschaft, allerdings aus dem formellen Sektor: die Stuhl-Tisch-Garnituren oder Verkaufsstände, die die Geschäftsflächen von Cafés, Restaurants und Einzelhandelsgeschäften in den öffentlichen Raum hinein erweitern und diesen so privatisieren (siebel 2007, S. 82). MiTchell weist allerdings darauf hin, dass diese Form der Privatisierung sowie weitergehende Formen wie Business Improvement Districts oder Shoppingmalls anders als Privatisierungen durch sozioökonomisch Benachteiligte über Kritik oft erhaben sind: „The irony, of course, is that this privatization of public space is lauded by all levels of government […] at the same time that the privatization of public space by homeless people (their use of public space for what we consider to be private activities) is excoriated by urban planners, politicians, and social critics alike.” (MiTchell 2003, S. 142).
unabhängig von der Bewertung der verschiedenen homogenisierenden Aneignungen weist siebel auf die dadurch veränderte Bedeutung von Öffentlichkeit in diesen Räumen hin: „Die Öffentlichkeit von Räumen bemisst sich dann an der Zugänglichkeit homogener Räume für Fremde, nicht an der Abwesenheit von Homogenität, also dem Grad der Mischung von Funktionen und sozialen Gruppen an jedem Ort. [...] Für den Einzelnen erschöpft sich die Zugänglichkeit in der prinzipiellen Möglichkeit, sich frei durch fremde Orte wie China Town bewegen zu können, [...]“ (siebel 2007, S. 88).
Die oft sehr breite und idealistische Definition von Öffentlichkeit und damit von öffentlichen Räumen wird also eingeschränkt, nicht aber ohne die Bedeutung der möglichen Zugänglichkeit zu betonen. Allerdings ist Nutzungshomogenität in innenstädtischen öffentlichen Räumen mit ihren vielfältigen Funktionen durchaus problematisch. Der angstfreie Zugang kann in diesem Fall nur eines von mehreren Kriterien zur Bestimmung des Grads der Öffentlichkeit darstellen. Ein weiteres Kriterium ist die Möglichkeit des Öffentlich-Machens von Anliegen bestimmter Gruppen. Dafür können auch mit anderen Nutzungen konfligierende Aneignungen eine Möglichkeit sein. Die Einnahme von Raum, sei es bspw. durch (ältere) Arbeitslose und Straßenhändler (die durch die Aneignung ggf. nur implizit auf Bedürfnisse hinweisen) oder Demonstranten (die durch die symbolische Aneignung verbal und damit explizit auf ihre Forderungen hinweisen) (vgl. KasTNer 2012), sind solche Möglichkeiten des Ver-Öffentlichens von Anliegen (MiTchell 2003, S. 35 & S. 129; goMes 2006, S. 166 f.). Die zuletzt genannten Aneignungen gestalten sich allerdings nicht nur aufgrund limitierender Kapitalienausstattungen und
72
2 Theoretisches Fundament
einschränkender Gesetze als schwierig, sondern auch vor dem Hintergrund eines gestiegenen Sicherheitsbedürfnisses angesichts einer (subjektiv) erhöhten unsicherheitswahrnehmung. Ein vermeintlich von der Norm abweichendes Verhalten wird als verunsichernd wahrgenommen und oft mit unmittelbarer Gefährdung gleichgesetzt. um dem Sicherheitsbedürfnis zu entsprechen, spielt die überwachung des öffentlichen Raums mittels Kameras und Sicherheitskräften eine immer größere Rolle, die Raumaneignungen jenseits des Mainstreams limitieren. 2.2.4
Sicherheit und öffentlicher Raum
Die Charakteristika des öffentlichen Raums sind vielfältig und umfassen viele Themenbereiche (vgl. Kap. 2.2). In den Definitionen der zitierten Literatur spielt allerdings das Thema Sicherheit keine herausragende Rolle. Dies ist angesichts der Tatsache, dass mit Sicherheit tendenziell eher die private Sphäre des Haushalts oder der Familie assoziiert wird, nachvollziehbar. Die zunehmende Auflösung der Dichotomie zwischen beiden Sphären ist aber mit ein Grund dafür, dass das Thema Sicherheit seit geraumer Zeit auch im öffentlichen Raum an Bedeutung gewinnt. Städtischer und damit auch öffentlicher Raum war auch in der Vergangenheit kein Raum, der frei von unsicherheiten war (vgl. souza 2012, S. 35 f.). und so stehen die den öffentlichen Raum charakterisierenden zentralen Freiheiten des Zugangs und der Nutzung einerseits und die Sicherheit anderseits immer schon in einem wechselseitigen Spannungsverhältnis zueinander. „Die Zugänglichkeit des öffentlichen Raums der Stadt für jedermann [beispielsweise] beruht auf einer prekären Balance zwischen Anonymität und sozialer Kontrolle, zwischen Sicherheit und Verunsicherung, zwischen Vertrautem und Fremdem, zwischen Gleichheit und Differenz“ (siebel & WehrheiM 2003, S. 6). Die Anonymität ist ein anderes Beispiel, dass die Ambivalenz zum Ausdruck bringt: Einerseits ermöglicht sie, Freiheit gegenüber der dörflichen Kontrolle zu haben, andererseits bildet sie auch die Basis für ein mögliches Gefühl der Isolation oder für das Ausgesetzt-Sein gegenüber Bedrohungen (siebel & WehrheiM 2003, S. 7). Ein allgemein gültiges Optimum zwischen den beiden Polen Freiheit und Sicherheit kann es nicht geben (vgl. Abb. 10). Das Verhältnis zwischen beiden ist vielmehr von vielen Parametern abhängig, wie z. B. von der jeweiligen Konzeption von öffentlichem Raum, der jeweiligen Nutzer_innengruppe oder dem geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext. In Abhängigkeit davon wird auch in wissenschaftlichen Texten einmal stärker auf die Bedeutung der Freiheit und ein anderes Mal mehr auf die Sicherheit rekurriert. MiTchell stellt zunächst unter Rückgriff auf Vidler eine verbreitete Konzeption öffentlichen Raums dar, die freie Interaktion, Möglichkeiten des Zusammentreffens mit anderen und den Austausch und die Kommunikation betont, bevor er fortfährt: „The sort of City he [Vidler] promotes must necessarily retain some tolerance for risk and danger. It must take for granted that at least some level of ‘fear’ will always be present in urban life. There is no way around that, as unattractive as such a vision had become even before September 11“ (MiTchell 2003, S. 5; vgl. glasauer 2005, S. 216).
73
2.2 Der öffentliche Raum Öffentlicher Raum zwischen Freiheit und Sicherheit
Verunsicherung
Fre ih
ei t
Soziale Kontrolle
Fremdes & Neues
versu
Sicherheit
Altes & Bekanntes
Risikotoleranz
Sic h
Differenz
erh
ei t
s
Gleichheit
. . . im ö ffe nt lic h e n R a um
S p a n n un g s ve rh ä lt n is . . .
Anonymität
Kontrolle
Abb. 10: Öffentlicher Raum zwischen Freiheit und Sicherheit
Während hier zu Gunsten der Freiheit ein gewisses Maß an unsicherheit und Angst als Bedingungen angeführt wird, die nötig ist, um diese zu gewährleisten, setzt siebel einen umgekehrten Akzent: „Furcht ist auch ein Mechanismus der Exklusion aus städtischen Räumen. Sicherheit für Leib, Leben und Eigentum ist eine Bedingung sine qua non für öffentlichen Raum. Deshalb setzt Öffentlichkeit eines Raums funktionierende Kontrollen voraus, ohne diese ist er gar nicht denkbar“ (siebel 2007, S. 84).
Die grundlegende Diskrepanz wird heute von weiteren Diskursen zum Thema Sicherheit überlagert. Allgemein scheint das Gefühl der unsicherheit gestiegen. bauMaN beschäftigt sich in seinem Buch „Die Krise der Politik. Fluch und Chance einer neuen Öffentlichkeit“ ausführlich mit den Themen Sicherheit und unsicherheit. unter Sicherheit versteht er dabei den Dreiklang aus Sicherheit („security“) bezogen auf materiellen und immateriellen Besitz, das Gefühl der Gewissheit („certainty“) bezogen u. a. auf Entscheidungen und das Gefühl des Schutzes („safety“) vor Gefahren für Leib und Leben. Die Erfüllung dieser drei Ebenen von Sicherheit erachtet er als grundlegend für das Selbstvertrauen und die Selbstsicherheit, die wiederum wichtig für ein rationales Handeln sind (bauMaN 2000, S. 30 f.). Aber: „Das völlige Fehlen oder die Knappheit eines der drei Bestandteile hat jeweils sehr ähnliche Folgen: Schwinden der Selbstsicherheit, Verlust an Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und in die Absichten anderer Leute, wachsendes unvermögen, Angst, Verschlossenheit, die Neigung zu Krittelei, Schuldzuweisungen und Aggression. All diese Tendenzen sind Symptome eines nagenden existentiellen Mißtrauens“ (bauMaN 2000, S. 31).
Die drei Elemente der Sicherheit werden bauMaN zufolge heute immer öfter in Frage gestellt und unterliegen unterschiedlichen Angriffen. Dabei ist längst nicht immer klar, von wo diese Angriffe kommen und wer die „Angreifer“ sind. Die Ängstigungen und ihre ursachen lassen sich oft nur schwer greifen und führen zu einem Gefühl der Ohnmacht und zur Vereinzelung (bauMaN 2000, S. 19 ff.). um diese Gefühle zu überwinden oder ihnen zumindest zu begegnen, sind Orientierungen hilfreich, die dazu beitragen, die Gründe der unsicherheiten zu erkennen und
74
2 Theoretisches Fundament
Maßnahmen, die bestenfalls zu der überwindung der unsicherheiten beitragen, zu ergreifen. V. a. im öffentlichen Raum mit seinen ohnehin latent vorhandenen und diffusen Verunsicherungen bewirken die zusätzlichen allgemeinen unsicherheiten einen Anstieg der wahrgenommenen Bedrohungen und Gefahren. Das unbekannte und die Fremden – deren Kennenlernen als ein Potenzial öffentlicher Räume gesehen werden kann (vgl. Kap. 2.2) – werden im Kontext der unsicherheit oft als Auslöser der Bedrohung ausgemacht (siebel & WehrheiM 2003; S. 6; vgl. Abb. 11). Eine Reihe weiterer Gründe können angeführt werden, die zur Verunsicherung im öffentlichen Raum (mitteleuropäischer Städte, aber auch darüber hinaus) beitragen. Die Verbindung dieser Gründe mit dem öffentlichen Raum reicht dabei von unmittelbar bis mittelbar: • Vermeintliche Migrant_innen im öffentlichen Raum erhöhen die Sichtbarkeit von „Fremden“, gleiches gilt für die Zurschaustellung individueller Lebensstile, die dem erwarteten, normkonformen Auftreten entgegenstehen; • Vandalismus als gewalttätige Zerstörung oder Beschädigung von Gegenständen im öffentlichen Raum kann zu einer erhöhten Bedrohungswahrnehmung beitragen; • der demographische Wandel führt zu einer allgemeinen Alterung der Bevölkerung, die sich mit zunehmendem Alter tendenziell unsicherer fühlt; • die Privatisierung von Medien und private Medien können (vor dem Hintergrund einer der werbenden Wirtschaft verpflichteten und angesichts dessen auf hohe Einschaltquoten abzielenden Programmgestaltung) zu einer Häufung von Berichten über urbane Gewalt und Kriminalität beitragen und erhöhen so das subjektive unsicherheitsempfinden; Öffentlicher Raum und Dimensionen von Sicherheit Security
Insecurity
Sicherheit bezogen auf materiellen u. immateriellen Besitz und Absicherung
Unsicherheit
Certainty Gewissheit, z. B. bezogen auf Entscheidungen
Uncertainty Ungewissheit
Unsafety
Safety Schutz vor Gefahren für Leib und Leben
(Gefühl von) Schutzlosigkeit v. a. in Städten im Globalen Süden: Phobopolis
wenn Security, Certainty u./o. Safety nicht gegeben: Unsicherheit, schwindende Selbstsicherheit, steigendes Misstrauen Gründe oft schwer greifbar; Gefühl der Ohnmacht und Orientierungslosigkeit Identifizierung vermeintlicher Auslöser: z. B. das Fremde, ggf. Bedrohliche, die/der Unbekannte im öffentlichen Raum Bsp. für Bedrohliches v. a. in Städten im Globalen Süden: Überlebensstrategien erforderlich diverse informelle Tätigkeiten - (auch) im öffentlichen Raum Organisierte kriminelle Tätigkeiten Kriminalität und Gewalt
führt bei anderen gesellschaftlichen Gruppen zu „Lösungsversuche“: Verdrängung von (evtl.) Bedrohungen aus dem öffentlichen Raum Video- und Polizeikontrollen und private Überwachungen Kriminalisierung abweichenden Verhaltens (weitgehend ohne Berücksichtigung struktureller Ursachen)
: Allgemeiner Zusammenhang zwischen öffentlichem Raum, Unsicherheiten und Lösungsversuchen : Zusammenhang zwischen öffentlichem Raum, Unsicherheiten und Lösungsversuchen am Bsp. von Städten im Globalen Süden Eigene Darstellung u. a. nach: MITCHELL 2003; SIEBEL 2007; BAUMAN 2000; SIEBEL & WEHRHEIM 2003.
Abb. 11: Öffentlicher Raum und Dimensionen von Sicherheit
2.2 Der öffentliche Raum
•
75
der Wandel und die Liberalisierung des Arbeitsmarkts sowie die Reduktion der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen tragen zu der von bauMaN dargestellten allgemeinen Verunsicherung bei, und die nur schwer zu fassende Sorge vor dem sozialen Abstieg wird einerseits im öffentlichen Raum durch die Anwesenheit von als davon betroffen Eingeschätzten wie Bettler_innen und Obdachlosen beunruhigend greifbar und kann andererseits durch die konkretere Angst vor Kriminalität substituiert werden (siebel & WehrheiM 2003, S. 10).
Viele der dargestellten Gründe eines gesteigerten unsicherheitsgefühls gelten auch für Städte im Globalen Süden. Allerdings sind in vielen dieser Städte die geschilderten unsicherheiten für große Teile der Bevölkerung noch schwerwiegender. Sind in den Städten des Globalen (mitteleuropäischen) Nordens das Gefühl der ungewissheit und das (teilweise subjektive) Empfinden der Schutzlosigkeit vorrangig, so ist in Städten des Globalen Südens einerseits die Schutzlosigkeit eine häufigere Realität und die unsicherheit der (materiellen) Lebensabsicherung aufgrund geringerer oder keiner sozialstaatlichen Leistungen beispielsweise bei Arbeitslosigkeit und Krankheit eine zusätzliche Komponente der allgemeinen unsicherheit. Diese vielen Menschen fehlende, grundsätzliche Sicherheit des Lebensunterhalts macht Strategien erforderlich, die dennoch ein (über)Leben ermöglichen und so eine minimale Sicherheit gewähren. Dazu zählen vielfältige Tätigkeiten im informellen Sektor wie z. B. als Straßenhändler_innen, Garküchenbetreiber_innen, Haushaltshilfen, Tagelöhner_innen z. B. im Bausektor und Recyclingmaterialsammler_innen44. Allerdings wird die Absorptionsfähigkeit des informellen Sektors für den Teil, der dem formellen Sektor zuarbeitet, in neueren Arbeiten in Frage gestellt. Grund dafür ist die zunehmende Konkurrenz für die lokalen Zulieferer durch die Internationalisierung der Lieferketten (Kraas & MerTiNs 2014, S. 4). Eine weitere Möglichkeit der Absicherung des Lebensunterhalts stellen (deshalb auch) illegale und kriminelle Strategien wie der Drogenhandel dar. Darüber hinaus spielt aber auch die „gewöhnliche“ (gewalttätige) Kriminalität (Diebstahl und Raub) in Städten des Globalen Südens eine größere Rolle (souza 2012, S. 40; souza 2008, S. 38 ff.). Das unsicherheitsempfinden kann so weit gehen, dass es nach souza gerechtfertigt erscheinen kann, eine solche Stadt als „Phobopolis“ zu bezeichnen. „Eine Phobopolis ist eine Stadt, in der weite Teile seiner Bewohner vermutlich an chronischem Stress [...] leiden aufgrund der Gewalt, der Angst vor Gewalt und des Gefühls der unsicherheit“45 (souza 2008, S. 40). „In anderen Worten ist eine ‚Phobopolis‘ eine Stadt, in der Gewalt ein weit verbreitetes Problem geworden ist und Angst ein omnipräsentes Gefühl darstellt“ (souza 2012, S. 36). 44
45
Informelle Tätigkeiten zur Existenzsicherung gewinnen auch in Städten im Globalen Norden zunehmend an Bedeutung (vgl. für New york deVliN 2011; für Berlin KräTKe 2004). Allerdings ist ihr umfang immer noch deutlich geringer als im Globalen Süden (KNox eT al. 2008, S. 331 f.). „uma fobópole e uma cidade em que grande parte de seus habitantes, presumivelmente, padece de estresse crônico [...] por causa da violência, do medo da violência e da sensação de insegurança.“
76
2 Theoretisches Fundament
Die beschriebenen Gefahren und unsicherheiten erhöhen das (im öffentlichen Raum ohnehin vorhandene) Gefühl der Schutzlosigkeit in teilweise beträchtlichem Ausmaß. Entsprechend wird von Seiten der Stadtregierungen und -verwaltungen versucht, Maßnahmen zu ergreifen, die diesem Gefühl entgegenwirken. Ein wichtiger Bestandteil dabei ist allgemein die zunehmende Kontrolle öffentlicher, v. a. innenstädtischer Räume. Informelle soziale Kontrolle46 von Passant_innen, Anwohner_innen und Anrainer_innen, für die u. a. Jacobs (1993, S. 32 ff.) plädiert, wird immer stärker durch eine institutionalisierte Kontrolle in Form der Zunahme von Polizeipatrouillen, des Einsatzes privater und / oder kommunaler Sicherheitsdienste und technischer überwachungsanlagen wie Videokameras ergänzt oder abgelöst (siebel & WehrheiM 2003, S. 7; KaMMerer 2008, S. 32). V. a. die Videoüberwachung wird vielerorts ausgeweitet und meist mit dem Ziel der Kriminalitätsbekämpfung begründet. Inwieweit sie letztendlich tatsächlich einen Beitrag der Reduktion liefert, ist zumindest aufgrund der methodischen Probleme bei der Erhebung ambivalent. umfangreiche Studien kamen aber zu dem Schluss, dass die Verhinderung von Kriminalität gegen Leib und Leben – und damit die Form, mit der die Maßnahmen oft gerechtfertigt werden – nicht erreicht wird (beliNa 2010, S. 119 f.). Allerdings können die Kontrollen auch helfen, minder schweren Formen der Schutzlosigkeit und der Verunsicherung zu begegnen. So können Videoüberwachungen – auch wenn dies zu ihrer Begründung selten explizit zum Ausdruck gebracht wird – außerdem dazu beitragen, dass Fremde und unbekannte – oder, direkter gesagt, unerwünschte Personengruppen – verdrängt werden (glasze 2011, S. 892). umgekehrt vermitteln überwachungsmaßnahmen für Passant_innen eine relative Sicherheit, die zusammen mit anderen Maßnahmen wie z. B. Sauberkeit v. a. in innenstädtischen Einzelhandelslagen wichtige Standortfaktoren sind, um mit Shoppingcentern und -malls konkurrieren zu können. Business Improvement Districts (BID) bieten die Möglichkeit, diese Maßnahmen möglichst unabhängig von der Stadtverwaltung realisieren zu können (glasze eT al. 2005, S. 14). Das Management der BID kann eigenständig Dienstleistungen, z. B. die Sicherheit und Sauberkeit betreffend, einkaufen. Sicherheit, ursprünglich im öffentlichen Raum einmal eine ausschließlich staatliche Aufgabe, wird so (aber auch außerhalb von BIDs durch PPP-Projekte zwischen öffentlicher Hand und privaten Anbietern) zu einer teilweise privaten Angelegenheit und zu einer Ware. Die Kaufkraft sowie Angebot und Nachfrage bestimmen dann teilweise über Sicherheit und unsicherheit. Orte, an denen aufgrund mangelnder Partikularinteressen die Nachfrage nach Sicherheit fehlt oder die nötige Kaufkraft nicht vorhanden ist, sind von der Bereitstellung öffentlicher Sicherheit abhängig (vgl. heeg & rosol 2007, S. 500; Fiedler 2004, S. 73). Die Zunahme der überwachung und ihrer Privatisierung birgt zwei Konsequenzen in sich. Zum einen muss sie leistbar sein oder, anders ausgedrückt, die Akteure, die sie nachfragen, müssen über Kapital zu ihrer Bezahlung verfügen. 46
Schäfers erachtet den landläufigen Begriff der sozialen Kontrolle als zu negativ; stattdessen plädiert er für den der wechselseitigen Aufmerksamkeit: „Wechselseitige Aufmerksamkeit, aus der, wenn nötig, Anteilnahme oder Schutz werden kann, ist ein unverzichtbarer Tatbestand städtischen und auch nachbarschaftlichen Zusammenlebens und ein Grundelement des Zusammenseins im öffentlichen Raum“ (schäFers 2006, S. 156).
2.2 Der öffentliche Raum
77
Zum anderen bedienen private Sicherheitsdienstleister_innen die Interessen ihrer Kund_innen, die nicht unbedingt mit denen anderer, von den Maßnahmen betroffener Personengruppen kongruent sein müssen. Zunehmende Kontroll- und überwachungsmaßnahmen führen zu geänderten Aneignungsmöglichkeiten öffentlicher Räume, die ein öffentliches Leben für die Breite der Gesellschaft erheblich beeinträchtigen können. „Alle diese Einrichtungen [des Schutzes und der Kontrolle] [...] tragen zu einem Widerspruch bei, in dem Maße, wie die Anlagen der Kontrolle und überwachung, die eigentlich dazu dienen sollten, ein befriedigendes Niveau an Lebensqualität zu gewährleisten, dazu beitragen werden, die umsetzung dieser Intention zumindest teilweise zu sabotieren, indem sie die Privatheit begrenzen – und letzten Endes eine Bedrohung der Freiheit und der Spontaneität bei der Ausübung der Autonomie darstellen“47 (souza 2008 S. 85 f.; eigene übersetzung).
Die überwachungs- und Kontrollmaßnahmen und die aus ihnen resultierenden Konsequenzen lassen sich also nicht einheitlich bewerten, im Gegenteil: Je nach agierendem oder betroffenem Akteur stellen sich die Auswirkungen unterschiedlich dar und es stellt sich immer die Frage, für wen Sicherheit versucht wird zu gewährleisten – und zu wessen Lasten. Ein und dieselbe Maßnahme kann dabei ganz unterschiedliche Folgen haben. V. a. sozioökonomisch Benachteiligte im öffentlichen Raum sind diejenigen, die die negativen Auswirkungen der Maßnahmen im Namen der Sicherheit zu spüren bekommen. 2.2.4.1
Kriminalisierung von Armut
Der Städtewettbewerb zwischen Städten (vgl. Kap. 2.1.3) findet innerstädtisch in der Standortkonkurrenz seine Entsprechung. Dabei geht es um wirtschaftlich attraktive Einzelhandelsstandorte – nicht selten im Wettbewerb mit Shoppingcentern und malls –, ebenso wie allgemein um die Sicherung und wenn möglich Erhöhung der städtischen Grundrente (Bodenrente) (beliNa 2007, S. 227; beliNa 2011, S. 115). Angesichts oft unternehmerisch fokussierter Stadtregierungen, ist es diesen ein Anliegen, diesen Interessen nach Möglichkeit gerecht zu werden, um so eine gute Positionierung der jeweiligen Stadt in der Städtekonkurrenz zu gewährleisten. Sämtliche städtischen Phänomene – seien sie räumlich oder sozial – werden angesichts dessen zu Standortfaktoren, die sich entweder negativ oder positiv auf das Ziel der Attraktivitätssteigerung auswirken können. Sozioökonomisch Benachteiligte oder Arme im öffentlichen Raum werden angesichts dessen eher als ein ökonomischer Standortnachteil und soziale Bedrohung wahrgenommen (beliNa 2007, S. 227; souza 2012, S. 39, MiTchell 2003, S. 9 ff.). Grund dafür ist oft das deviante, also abweichende Verhalten und Auftreten der von Benachteiligung betroffenen Menschen. Sie widersetzen sich damit Not-gedrungen vermeintlich allgemei47
„Todo esse aparato [de proteção e controle] [...] cria uma contradição, na medida em que os dispositivos de controle e de monitoramento, que deveriam supostamente servir para garantir um nível satisfatório de qualidade de vida, colaborarão por sabotar a concretização dessa intenção, ao menos parcialmente, ao restringirem a privacidade – e, no limite, ao se constituírem em uma ameaça à liberdade e à espontaneidade, ao exercício da autonomia.“
78
2 Theoretisches Fundament
nen gesellschaftlichen Normen. Dennoch wird dadurch noch nicht unmittelbar gegen rechtliche Verordnungen oder Gesetze verstoßen. Dies ist erst dann der Fall, wenn die Abweichungen von der Norm durch Gesetzesinitiativen zu Rechtsverstößen gemacht werden, es also zu einer Kriminalisierung der vorher nur von der allgemeinen Norm abweichenden Handlung kommt (zum konstruktivistischen Kriminalitäts- (und Raum-) Begriff vgl. glasze eT al. 2005). Was kriminell ist, definiert das Strafrecht im weiteren Sinn, das sind alle Gesetze, die gewisses Verhalten verbieten und Strafandrohungen beinhalten. und diese Gesetze gehen von der individuellen Verantwortung der_des Einzelnen aus. Dies ist wichtig, denn „[...] [d]ie ideologische Leistung der Rechtsform besteht darin, dass angesichts der formalen Gleichheit vor dem Gesetz von sozial hergestellten Unterschieden abstrahiert wird, deren andauernde Reproduktion damit rechtmäßig ist“ (beliNa, 2011, S. 117). Das heißt, dass unabhängig vom sozioökonomischen Status jeder vor dem Gesetz gleich ist. So ist beispielsweise der Diebstahl von Lebensmitteln sowohl Reichen als auch Armen untersagt und steht unter Strafe. Inwieweit die sozioökonomischen ungleichheiten, die Arme zur nicht legalen Versorgung mit Lebensmitteln nötigen, dabei eine Rolle spielen, bleibt dabei ausgeblendet. Damit werden auch die den sozioökonomischen ungleichheiten zugrunde liegenden Strukturen und Prozesse nicht hinterfragt. Stattdessen wird versucht, die sichtbaren ungleichheiten im Stadtraum – also v. a. die Armen – so zu behandeln, dass sie die städtische Ökonomie möglichst wenig stören. beliNa beschreibt eine solche Möglichkeit, die die ökonomisch gewinnbringenden und gleichzeitig raumordnenden Konsum- und Produktionsprozesse und die städtischen Disparitäten „in Einklang“ bringen: Das Verhältnis zwischen den dominanten Prozessen und den ungleichheiten wird mittels des Rückgriffs auf Kriminalisierungen organisiert. Das heißt, es werden der Kriminalitätsdiskurs und / oder das Strafrecht herangezogen, um die Disparitäten und die sichtbaren, aber unerwünschten Ausprägungen zu kontrollieren. Mit anderen Worten: Potenzielle Verbrechen bzw. Vergehen, die auf entsprechenden Strafgesetzen basieren, rechtfertigen Interventionen, denen eigentlich andere Motivationen (z. B. Attraktivitätssteigerung von Stadträumen) zugrunde liegen. Kriminalisierungen sind (juristische) Diskurse und Praktiken, die angewandt werden, um zu regieren, und Gesetze und Verordnungen sind angesichts dessen Mittel, die strategisch als Machtmittel eingesetzt werden können und der konkreten umsetzung der Kriminalisierungen dienen (beliNa 2011, S. 118). Aus geographischer Sicht lässt sich der Ansatz dahingehend erweitern, dass der Raum mit berücksichtigt wird, wenn es um das Regieren von Disparitäten geht, die sich örtlich manifestieren. „Der Zweck der Kriminalisierung von Raumausschnitten [...] besteht in der Legitimierung für in der Praxis einfach zu handhabende und billige Kontrollmaßnahmen, die sich auf die Verhaltensweisen an bestimmten Orten richten. Sie erlaubt ein Risikomanagement, das von individuellen Intentionen und sozialen Verhältnissen gleichermaßen abstrahiert und sich ausschließlich ‚an der Oberfläche‘ abspielt“ (beliNa 2006, S. 133).
beliNa bezeichnet diese Regierungsführung in Anlehnung an siMoN als „governing through crime through space“ (2011, S. 119).
2.2 Der öffentliche Raum
79
„Governing through crime through space kann als Strategie verstanden und untersucht werden, mittels derer die polit-ökonomisch produzierten sozial-räumlichen Disparitäten in den Städten qua Kriminalisierung und mit Rückgriff auf das staatliche Gewaltmonopol regiert werden“ (beliNa 2011, S. 127).
Ist es erst einmal gelungen, vom ursprünglich zugrunde liegenden sozialen Problem auf den Raum als kriminelles Konstrukt zu abstrahieren, werden für die nötigen Kontrollen wieder Personen, die sich in dem jeweiligen Raum aufhalten, fokussiert – ohne dass ihre Motive und das wirkliche Gefährdungspotenzial noch von Bedeutung sind. Oft spielt dabei das Individuum und sein konkretes Verhalten keine Kontrollen veranlassende Rolle, sondern die „kriminelle“ Gruppe, dem es zugeordnet wird, gibt den Ausschlag für die entsprechende Kontrollmaßnahme. Die kriminalisierte Gruppe wird produziert, indem die Gefährlichkeit eines Kriminellen wegen ähnlicher Merkmale oder Verhaltensweisen auf andere Individuen transferiert wird. Anschließend ist es dann für die Gefährdungseinschätzung und Kontrollwürdigkeit eines Mitglieds der kriminalisierten Gruppe unerheblich, ob es sich tatsächlich strafrechtlich auffällig verhalten hat (beliNa 2005, S. 142). Die Kriminalisierung von Raumausschnitten in Städten erfolgt primär für Teile der Stadt, wobei z. B. solche mit hohem Migrant_innenanteil oder solche mit geringerem sozioökonomischen Status als Beispiele dienen können. In innenstädtischen Lagen ist eine Kriminalisierung von Raumausschnitten tendenziell schwieriger und auf kleinflächige Gebiete begrenzt. Stattdessen spielt hier die Kontrolle und überwachung kriminalisierter Gruppen eine wichtige Rolle (für Mexiko Stadt vgl. becKer & Müller 2011; vgl. Abb. 12). Basierend auf den beschriebenen Kriminalisierungen gibt es verschiedene Maßnahmen, diese Politiken durchzusetzen. Dazu zählen städtebauliche Präventionen, Video- und polizeiliche überwachungen sowie Platzverweise und Betretungsverbote. Die städtebauliche Prävention setzt bei der Veränderung und der Vermeidung devianten und / oder kriminalisierten Verhaltens durch die Gestaltung von Raum an. Entsprechende Studien und Konzepte dazu stammen schon aus den 1970er Jahren v. a. aus dem angloamerikanischen Raum. Zum einen handelt es sich dabei um eine Studie mit dem Titel Crime Prevention through Environmental Design. Darin wird empfohlen, die informelle soziale Kontrolle durch bauliche Maßnahmen zu erleichtern, die bessere Einsehbarkeit und hellere Beleuchtung ermöglicht sowie umgekehrt grundsätzlich die Schaffung von Angsträumen vermeidet. Zum anderen gibt es das Konzept des Defensible Space, bei dem es mit Hilfe baulicher und symbolischer Grenzen um eine klare räumliche Trennung zwischen öffentlichen, halböffentlichen und privaten Räumen geht. Auch wenn in der sozialwissenschaftlichen Forschung diese umweltdeterministischen und von sozialen Hintergründen abstrahierenden Ansätze kritisiert werden48, so werden sie dennoch 48
V. a. in Ländern des Globalen Südens kommt es häufig zu massiven Trennungen von privaten und öffentlichen Räumen durch hohe Mauern, Zäune und elektrische Sicherungsmaßnahmen. Der Stadtplaner boNduKi stellt die dadurch vermeintlich gewonnene Sicherheit in Frage, indem er zum einen auf überfälle auch auf durch diese Maßnahmen abgeschottete gated communities verweist und zum anderen bemerkt, dass der öffentliche Raum mit seinen Straßen, Plätzen und Parks zwischen den Mauern wüst fällt und somit ebenfalls unsicherer wird (boNduKi 2010, o. S.).
80
2 Theoretisches Fundament
Konsequenzen und Folgen
Kriminalisierung
Auslöser und Hintergründe
Öffentlicher Raum und Kriminalisierung von abweichendem Handeln und Armut Innerstädtische Standortkonkurrenz
Vom Mainstream abweichendes Verhalten
Wettbewerb der Einzelhandelsstandorte
Störung der öffentlichen Ordnung
Alles und jede_r ist Standortfaktor i. w. S.
Einschränkungen in der Aufenthaltsqualität
Standortvorteile
Standortnachteile und Beeinträchtigungen
Sauberheit Sicherheit hohe Aufenthaltsqualität u. a.
Fremdes/Unbekanntes im öffentlichen Raum vermeintlich Bedrohliches Soziökonomisch Benachteiligte Arme
Einstufung von unerwünschten und devianten Verhaltensweisen und Handlungen als Normverstoß Erlass von Gesetzen/Verordnungen die diese Handlungen als rechtswidrig erklären Kriminalisierung dieser Handlungen (und der damit in Verbindung gebrachten Akteure) Durchsetzung mittels städtebaulicher Präventionen (Kriminalität verhindernde Gestaltung und räumliche Trennungen)
Durchsetzung mittels Video- und Polizeikontrolle und Einsatz privater Sicherheitsdienste
Durchsetzung mittels Platzverweisen für unerwünschte/ kriminalisierte Personen
Durchsetzung mittels Betretungsverboten für unerwünschte/ kriminalisierte Personen
Verdrängung der unerwünschten Handlungen und der Akteure aus dem betreffenden öffentlichen Raum Verbesserung des Standorts für die kommerzielle Nutzung der Aufenthaltsqualität für die gewünschte Klientel Eigene Darstellung u. a. nach: BELINA 2007; BELINA 2011; GLASZE 2011.
Abb. 12: Öffentlicher Raum und Kriminalisierung von abweichendem Handeln und Armut
im Städtebau auch in jüngerer Vergangenheit berücksichtigt (glasze eT al. 2005, S. 15; glasze 2011, S. 892; beliNa 2007, S. 229). Die Videoüberwachung wird allgemein mit der Bekämpfung der Kriminalität begründet, dient aber auch als Ordnungsinstrument, das abweichendes, nicht normkonformes Verhalten verhindern helfen soll (beliNa 2011, S. 120, vgl. Kap. 2.2.4). Die polizeiliche überwachung erfüllt zweierlei Aufgaben. Zum einen soll sie – ähnlich wie die Videoüberwachung – durch ihre Anwesenheit ebenfalls helfen, normabweichendes Verhalten und kriminalisierte Raumaneignungen zu verhindern. Zum anderen hat die Polizei aber auch die Möglichkeit des unmittelbaren Eingreifens sowohl zur Strafverfolgung bereits begangener Kriminalität als auch zur Vermeidung von möglichen kriminellen Handlungen. Ein mittlerweile (u. a. in Deutschland) übliches Mittel dazu stellen Platzverweise dar, die zur Anwendung kommen, wenn (vermeintliche) Gefahren abgewehrt werden sollen. Langfristiger und nicht auf konkrete Gefahrensituationen begrenzt wirken Betretungsverbote, die zwischen drei und zwölf Monate gegen Personen ausgesprochen werden können, von denen angenommen wird, dass sie im Anwesenheitsfalle in einem bestimmten Raum strafbare Handlungen verüben könnten. In Großbritannien bedarf es für die zweite erwähnte Maßnahme nicht einmal des „umwegs“ über das Strafrecht im engeren Sinn. Die Anti Social Behaviour Orders ermöglichen Aufenthaltsverbote schon bei Verstößen gegen die „öffentliche Ordnung“ (beliNa 2011, S. 121 f.). Ergänzend zu diesen zumindest rechtlich geregelten Möglichkeiten der Wegweisung und Aufenthaltsverbote gibt es auch solche, die (zumindest in Deutschland) ohne gesetzli-
2.2 Der öffentliche Raum
81
che Grundlage erfolgen, wie das sog. „Verbringungsgewahrsam“ (beliNa 2011, S. 122). Dabei werden Personen, die an einem innenstädtischen Ort von der Polizei als störend empfunden werden, durch diese an den Stadtrand verbracht. Die Kriminalisierung von meist sozioökonomisch benachteiligten Gruppen im öffentlichen Raum oder von Raumausschnitten selbst stellt eine Möglichkeit der Exklusion von Menschen aus dem öffentlichen Raum dar. Daneben gibt es auch eine Reihe weiterer exkludierender Faktoren. Trotz dieser aktuell beobachtbaren Tendenz der Verdrängung bietet der öffentliche Raum aber auch die Möglichkeit der Inklusion bzw. stellt einen wichtigen Faktor dafür dar. 2.2.4.2
Exklusion und Inklusion
Die Exklusion von Bevölkerungsteilen ist im Globalen Norden in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts zu einem Thema der Wissenschaft geworden. Veränderungen der Erwerbsarbeit weg von der Industrie- hin zur (teilweise prekären) Dienstleistungsarbeit sowie das allgemeine Ende der zuvor (zumindest postulierten) Vollbeschäftigung einerseits und Eingriffen in die Sozialsysteme der einzelnen Länder im Zuge von Sparmaßnahmen andererseits haben dazu geführt, dass (immer größere) Teile der Bevölkerung von Arbeitslosigkeit und geringeren Sozialleistungen betroffen sind (Willisch 2008, S. 66). Der Begriff „Exklusion“ wurde im Globalen Norden im sozialwissenschaftlichen Bereich zu Beginn der 1990er Jahre zunächst in Frankreich eingeführt; in den uSA ist hingegen der Terminus der underclass der gebräuchlichere (Willisch 2008, S. 66; KoWaricK 2009, S. 28 f.). Der Begriff der Exklusion ist aber nicht auf ökonomische Faktoren begrenzt. Der in diesem Zusammenhang bedeutsame Ausschluss aus der Erwerbsarbeit, die ein konstitutives Element der westlichen Gesellschaft darstellt, oder deren Prekarisierung ist nur eine wichtige Dimension. Die Erwerbslosigkeit zusammen mit der Reduzierung sozialer Leistungen und Einschränkung sozialer Rechte bedeutet erhebliche Einschnitte für die Betroffenen, die sich in neuer materieller Armut manifestieren kann. Eine weitere Dimension der Exklusion stellt der Verlust gesellschaftlicher und sozialer Teilhabemöglichkeiten dar, die de jure zwar bestehen, de facto aber nicht realisiert werden, bspw. die Inanspruchnahme von Fortbildungsmaßnahmen oder die Geltendmachung von Leistungsansprüchen. Zusätzlich erschwerend kommt im Zusammenhang mit den beiden erst genannten Dimensionen oft eine Verschlechterung der sozialen Beziehungen hinzu, die folglich keine Hilfestellungen mehr bieten, sondern umgekehrt bei Abnahme zu geringerem Selbstwertgefühl beitragen können. Ausgelöst durch die materielle Bedürftigkeit kann es außerdem zu einem erzwungenen Verzicht auf kulturelle Angebote kommen, was zu einer kulturellen Ausgrenzung führt (häusserMaNN & KroNauer 2005, S. 598 ff.). Der ursprünglich im sozialen Wohlfahrtsstaat westeuropäischer Prägung unternommene Versuch, mit sozialstaatlichen Maßnahmen allen Mitgliedern einer Gesellschaft gleiche Chancen einzuräumen und so einen Beitrag zur Inklusion in die Gesellschaft zu leisten, wurde in jüngerer Vergangenheit aufgrund (vermeintlicher) wirtschaftlicher Zwänge und politischer Vorgaben immer mehr aufgegeben.
82
2 Theoretisches Fundament
In Ländern des Globalen Südens ist das Thema der Exklusion hingegen kein neues Phänomen. V. a. in der wissenschaftlichen Diskussion Lateinamerikas ist das Thema unter Begriffen wie Marginalität, „exkludierender Kapitalismus“ und ungleichheit seit den 1960er Jahren thematisiert worden. Vor dem Hintergrund des Entwicklungsdiskurses wurde das Thema Marginalität allerdings nicht als etwas Abgekoppeltes, sondern als etwas dem hegemonialen Produktionsprozess Inhärentes betrachtet. Darin unterscheidet sich die Marginalität und Segregation von Teilen der Bevölkerung damals von der Exklusion heute. Exklusion bedeutet jetzt die soziale und ökonomische Abtrennung und damit die Bildung einer eigenen isolierten Sphäre (KoWaricK 2009, S. 68 ff.; WaNderley 2001, S. 25). Neben dieser zeitlichen Veränderung der Thematik im selben räumlichen Kontext gibt es außerdem auch unterschiede bezüglich der Ausgangslage des Phänomens zwischen Globalem Süden und Norden. Während die Exklusion im Norden nach einer Phase weitgehender Inklusion aller Gesellschaftsmitglieder ein bis dahin eher unbekanntes Phänomen und so einen Bruch mit dem vorangegangenen Zustand darstellte, bedeutet Exklusion – wie sPosaTi (1998, S. 6) am Beispiel Brasiliens schildert – im Süden einen Dauerzustand angesichts eines maximal rudimentär entwickelten Sozialstaats – dessen Leistungen überdies weniger als Recht, sondern vielmehr als Gefälligkeit der Eliten angesehen werden (WaNderley 2001, S. 24). Hinzu kommt, dass Exklusion als hierarchisierendes Ausschlusskriterium für die Selbstdefinition der jeweiligen Eliten herangezogen wird. „Dies [beides] bedeutet, dass Exklusion in Brasilien einen virtuellen Verlust eines vormals nie erreichten Zustands bedeutet und nicht ein tatsächlicher Verlust ist, der in der Lage wäre die Gesellschaft zu sensibilisieren“49 (sPosaTi 1998, S. 6). Stattdessen ist eher das Gegenteil der Fall: Die in der Gesellschaft integrierten Mitglieder fürchten die Gefahren bezüglich des eigenen Status, die von Eingliederungsversuchen der Ausgeschlossenen ausgehen könnten (WaNderley 2001, S. 25; KoWaricK 2009, S. 94). Vor diesem Hintergrund erfährt der Exklusionsbegriff eine Erweiterung. Die sozioökonomische Prekarisierung, der Rückgang der Sozialbeziehungen und der Verlust der Teilhabe an sozialen Rechten behalten als Ausprägungen von Exklusion ihre Gültigkeit. Hierbei handelt es sich aus dem Blickwinkel der Inkludierten um passive Exklusionsdimensionen. KoWaricK ergänzt diese Kriterien um den Ausschluss von bürgerlichen Rechten. In diesem Zusammenhang führt er die aktive Diskriminierung durch die Inkludierten ein: „Jetzt beginne ich zum Kern des Begriffs der Exklusion vorzustoßen, indem diese in Beziehung gesetzt wird zum Prozess der Stigmatisierung und Diskriminierung, zu Abscheu oder Zurückweisung, letzten Endes zur Negierung von Rechten [...]. [...] seit den 1990er Jahren, mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit und der unterbeschäftigung, der Favelaisierung und der eigentlichen Kriminalität, formte sich ein Bündel von Diskursen und Praktiken, das eine Art Gleichsetzung der Situation der Armut mit dem des straffälligen Verhaltens bewirkte“50 (KoWaricK 2009, S. 90 u. 91; eigene übersetzung). 49 50
„Isto significa que no Brasil a exclusão representa uma perda virtual de uma condição nunca antes atingida e não uma perda real capaz de sensibilizar a sociedade.“ „Agora começo a penetrar no âmago do conceito de exclusão, ao relacioná-lo com o processo de estigmatização e discriminação, repulsa ou rejeição, em última instância, da negação de di-
2.2 Der öffentliche Raum
83
Exklusion bedeutet demnach nicht „nur“ Isolation, Abkapselung oder Verbannung, sondern auch die Negierung des „Rechts, Rechte zu haben“51. Diese Betrachtung erleichtert darüber hinaus eine aktive Ausgrenzung derer, die als „Fleischwerdung der Gefährlichkeit“52 (beide: KoWaricK 2009, S. 92) angesehen werden. WaNderley definiert vor dem Hintergrund des Geschilderten Exkludierte als Personen die politisch stören, sozial bedrohlich und wirtschaftlich überflüssig sind (vgl. Abb. 13). Oft als solche eingestuft werden z. B. Bettler_innen, Obdachlose und Straßenkinder (WaNderley 2001, S. 25; sPosaTi 1998, S. 5). Den von Exklusion Betroffenen bleibt in Folge oft nur der öffentliche Raum als Aufenthalts- und überlebensraum. Aber auch hier sind sie von Verdrängung oder Nicht-Zulassung betroffen. Schon die als idealtypisch verklärte griechische Agora bot keinen Platz für Frauen, Sklaven und Fremde (MiTchell 2003, S. 132) und bis heute gibt es normkonforme und entsprechend inkludierte Benutzer_innen im öffentlichen Raum, was umgekehrt auf normabweichende Benutzer_innen hinweist, die tendenziell von Ausschluss aus dem öffentlichen Raum betroffen sind. Je stärker Exkludierte auf den öffentlichen Raum angewiesen sind, desto energischer werden sie weiteren Ausschlusskriterien ausgesetzt. Ohnehin bereits von vielen Rechten de facto ausgeschlossen, sind Obdachlose in dieser Hinsicht die am stärksten betroffenen. „[...] since citizenship in modern democracy (at least ideologically) rests on a foundation of voluntary association, and since homeless people are involuntary public, homeless people cannot be, by definition, legitimate citizens. In consequence, homeless people have proven threatening to the exercise of rights since they seem to threaten to expose the existence of the ‘legitimate’ – that is, voluntary – public as a contradiction if not a fraud: voluntariness is impossible if some are necessarily excluded from the option of joining in or not“ (MiTchell 2003, S. 135).
Ausgegrenzte, outsider, die neben sozialer, wirtschaftlicher und rechtlicher Ausgrenzung zusätzlich aus öffentlichen Räumen ausgeschlossen werden, sind folglich auch von räumlicher Exklusion – als eine weitere Exklusionsdimension – betroffen. Der öffentliche Raum stellt aber für Menschen, die darauf angewiesen sind, gleichzeitig überlebensraum und Raum der Repräsentation im Sinne Lefebvres (vgl. schroer 2007, S. 39, harVey 1987, S. 113 f.) dar. Der öffentliche Raum ist essenziell als Plattform, auf der Ausgeschlossene die Möglichkeit haben, sich einerseits doch – trotz oft gegenteiliger Ansichten – als legitimer Teil der Öffentlichkeit zu präsentieren und andererseits ihre Forderungen und Ansprüche geltend zu machen. Dabei begünstigt die auf normativen Idealen wie der allgemeinen Zugänglichkeit und Nutzung basierende Definition von öffentlichem Raum dieses Anliegen. „By calling on the rhetoric of inclusion and interaction that the public sphere and public space are meant to represent, excluded groups have been able to argue for their rights as part of the active public – to make a claim for a right to the city.”(MiTchell 2003, S. 133). MiTchell (2003, s. 21 ff.) betont allgemein die Bedeutung von ins-
51 52
reitos [...]. [...] a partir dos anos 1990, com o aumento do desemprego e subemprego, da favelização e da própria criminalidade, estruturouse um conjunto de discursos e práticas que operou uma assemelhação da situação de pauperismo com o comportamento delinquente.” „direito de ter direitos“ „encarnação da periculosidade“
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2 Theoretisches Fundament
Exklusion und Inklusion
Exkludierte angesehen als • politisch störend • sozial bedrohlich • wirtschaftlich überflüssig
Diskurse
• Stigmatisierung (bspw. diskursive Gleichsetzung von Armut mit straffälligem Verhalten) • Diskriminierung (Abscheu, Zurückweisung) • Kriminalisierung von unerwünschtem Verhalten im Allgemeinen und von Überlebensstrategien im Speziellen • Verdrängung aus öffentlichen Räumen
... als Raum der Überlebenssicherung ... als Raum der Repräsentation ... als Bühne zur Sichtbarmachung von Forderungen und Ansprüchen
... um inkludierende Elemente in der weitverbreiteten Ansicht, was öffentlichen Raum ausmacht, z. B. freie Zugänglichkeit und allgemeine Nutzung
institutionalisierte Rechte / Gesetze, die Inklusion Rechte
Aktive Ausgrenzung
allgemein: Abkapselung, Isolation, Abtrennung • ökonomisch: Ausschluss aus der Erwerbsarbeit oder prekäre Beschäftigung • sozial: Verlust gesellschaftlicher Teilhabemöglichkeit • psychisch: Abnahme des Selbstwertgefühls durch Verschlechterung sozialer Beziehungen • kulturell: erzwungener Verzicht auf Kultur-Angebote • rechtlich: de facto Aberkennung von bürgerlichen Rechten
Öffentlicher Raum
Ansätze der Inklusion im öffentlichen Raum
Beurteilung
Dimensionen
Exklusion
begünstigen, als Ausgangs- und Bezugspunkt für die Einforderung von Verbesserungsmaßnahmen und den Anspruch auf soziale Politiken. Eigene Darstellung u. a. nach: WILLISCH 2008; KOWARICK 2009; WANDERLEY 2001; MITCHELL 2003.
Abb. 13: Exklusion und Inklusion
titutionalisierten Rechten und Gesetzen als Hilfsmittel zur Durchsetzung von Verbesserungsmaßnahmen für Benachteiligte und Ausgeschlossene in Rechtsstaaten. Rechte sind vielschichtig und können sowohl Mittel der Machtorganisation, der Machtbekämpfung also auch der Machtzuerkennung sein, so dass sie ein erhebliches Konfliktpotenzial in sich bergen. Ferner stellen gegenwärtige Diskussionen verstärkt die benachteiligenden Rechte, die tendenziell Partikularinteressen dienen, in den Mittelpunkt (vgl. Kap. 2.2.4.1), ohne ebenfalls existierende Rechte zu behandeln, die die Inklusion unterstützen können. Werden diese begünstigenden Rechte herangezogen, stellen sie machtvolle Instrumente dar, an denen sich staatliche Instanzen und andere dominante Akteure in ihrem Vorgehen messen lassen müssen. Diese Rechte können an Inklusion interessierten Akteuren als Basis dienen, um soziale Politiken in Gang zu setzen. Dabei geht es sowohl um Politiken der umverteilung als auch um solche, die unterdrückung und Vorherrschaft entgegentreten. „Frameworks of rights, in other words, are crucial to the development of a social justice that moves beyond distribution and begins to recognize the struggle against oppression and in favor of autonomy. “ (MiTchell 2003, S. 32). um auf die entsprechenden Ansprüche und Anliegen – unter Bezugnahme auf die entsprechenden Rechte – aufmerksam zu machen, spielt der öffentliche Raum eine zentrale Rolle. Er bietet denen, die sich für die Anliegen einsetzen und den von Exklusion Betroffenen eine Bühne, um sich und ihre Anliegen sichtbar zu machen und so einen ersten Schritt in Richtung Inklusion zu setzen (vgl. Abb. 13).
3 3.1
RAHMENBEDINGuNGEN IN BRASILIEN STADTENTWICKLuNGSTENDENZEN IN BRASILIEN
Brasilien ist – im Vergleich mit anderen Ländern des Globalen Südens v. a. in Asien und Afrika – schon relativ lange ein verstädtertes Land, wenn der Zeitpunkt der überschreitung des Land-Stadt-Verhältnisses der Bevölkerung zugunsten der Stadtbevölkerung herangezogen wird. Der Verstädterungsgrad lag erstmals zur Mitte der 1960er Jahre bei über 50 % der Bevölkerung und damit ca. 40 Jahre vor dem Erreichen dieses Schwellenwerts für die Weltbevölkerung im Jahr 2007. Im Jahr 2010 beträgt der Wert 84,4 %1 (IBGE 2011a, o. S.), so dass Brasilien heute als sehr stark verstädtert bezeichnet werden kann. umgekehrt liegt die Verstädterungsrate zwischen 2000 und 2010 bei vergleichsweise niedrigen 1,55 % pro Jahr, was als Indikator für die „‚Reife‘“ (coy & TöPFer 2012) des brasilianischen Verstädterungsprozesses gewertet werden kann. urbane Lebensräume bilden vor diesem Hintergrund für den überwiegenden Teil der Bevölkerung den Lebensmittelpunkt. Dabei bedeutet städtische Realität für verschiedene Gruppen – primär in Abhängigkeit der sozioökonomischen Situation – unterschiedliches, da die Städte und Metropolen von einer vielschichtigen Heterogenität geprägt sind. 3.1.1
Von der Stadt zur Metropole und zurück – urbanisierung in Brasilien
Der Verstädterungsprozess machte innerhalb des 20. Jahrhunderts aus einem ländlich geprägten Brasilien ein urbanes. Noch um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert lag der Verstädterungsgrad bei etwa 10 % (scarlaTo 2003, S. 425; saNTos 2005, S. 22) und lediglich fünf Städte hatten um 100 000 Einwohner und weitere fünf um 50 000 (saNTos 2005, S. 23). Bis auf drei (Manaus, São Paulo und Curitiba) handelte es sich zu diesem Zeitpunkt noch bei allen um Küstenstädte. Der Kaffeeboom im Südosten des Landes ab Ende des 19. Jahrhunderts führte zusammen mit der Neuordnung der Arbeitsverhältnisse durch die Abschaffung der Sklaverei 1888 zu einer zunehmenden Verstädterung auch im bis dahin überwiegend 1
Dieser Wert bezieht sich – wie auch die weiteren Daten des IBGE – auf die in den Bevölkerungszählungen zur Anwendung kommende unterscheidung zwischen städtischer oder ländlicher Lage des entsprechenden Haushalts und seiner Bewohner_innen. Als städtisch werden dabei die Haushalte betrachtet, die innerhalb des Gebiets einer Stadt (cidade; Sitz des munizipalen Bürgermeisteramts) oder einer Kleinstadt (vila; Sitz der Distriktverwaltung innerhalb eines Munizips) liegen, die in beiden Fällen (cidade und vila) durch entsprechende munizipale Gesetze ausgewiesen worden sind. Ferner zählen gesetzlich ausgewiesene städtische Gebiete außerhalb dieser Städte und Kleinstädte dazu (IBGE 2011a, o. S.; IBGE 2011b, o. S.). Es handelt sich um eine administrativ-juristische Definition der Siedlungen, die als städtisch zu bezeichnen sind, denen weder Schwellenwerte einer Mindesteinwohnerzahl noch andere Kriterien zu ihrer Definition zugrunde liegen.
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3 Rahmenbedingungen in Brasilien
ländlich geprägten Hinterland der Küstenstädte. Die neu entstehenden Städte dienten vielen der von nun an als Lohnarbeiter_innen Beschäftigten als Wohnort, zumal sich dort auch im Zuge der aufkommenden Industrialisierung und dem Aufbau eines Binnenmarkts neue Beschäftigungsmöglichkeiten in nichtlandwirtschaftlichen Sektoren wie der Industrie, dem Handel und in anderen Dienstleistungen boten. Während sich so im Südosten ein dezentraler Verstädterungsprozess etablierte, blieb in Regionen mit geringerem Industrialisierungsgrad wie dem Nordosten die Verstädterungsrate auf geringem Niveau. (scarlaTo 2003, S. 425 ff.; saNTos 2005, S. 26 f.). Zwischen den 1940er und den 1980er Jahren erreichte der brasilianische Verstädterungsprozess seinen Höhepunkt (u. a. MaricaTo 2001, S. 16). Ausgelöst wurde dieser u. a. durch die Industrialisierung im weitesten Sinn: „Der Begriff Industrialisierung darf hier nicht im engen Sinne verstanden werden, das heißt als Schaffung von industriellen Aktivitäten an bestimmten Orten, sondern ist in seiner weiteren Bedeutung als komplexer sozialer Prozess zu verstehen, der sowohl die Bildung eines nationalen Marktes einschließt als auch die Anstrengungen zur Ausstattung des Territoriums, um es zu integrieren, sowie die Ausweitung des Konsums in verschiedenen Formen, was die wechselseitigen Beziehungen (d. h. die Ausweitung des Dienstleistungssektors) antreibt und den eigentlichen urbanisierungsprozess aktiviert“2 (saNTos 2005, S. 30, eigene übersetzung).
Innerhalb dieser 40 Jahre lag die durchschnittliche jährliche Verstädterungsrate bei 4,68 %. In den beiden Jahrzehnten zwischen 1950 und 1970 lag das jährliche Städtewachstum bei Spitzenwerten zwischen 5 und 5,5 %, aber auch in der davor und danach liegenden Dekade betrug es noch um 4 % pro Jahr. Die städtische Bevölkerung versechsfachte sich in diesen 40 Jahren von 12 880 790 auf 80 436 409 Einwohner_innen. Das entspricht einem Verdopplungszeitraum von 15 Jahren3 (Abb. 14 im Farbteil). Im selben Zeitabschnitt erreichte das Bevölkerungswachstum in Brasilien seinen Höhepunkt. Während es zwischen 1940 und 1950 und dann wieder zwischen 1970 und 1980 bei knappen 2,5 % lag, beschleunigte es sich in den beiden dazwischen liegenden Dekaden auf fast 3 % (IBGE 2011b, o. S., vgl. Théry & aParecida de Mello 2005, S. 96 f.). Diese gesamtbrasilianische Entwicklung kann somit trotz der Dynamik nicht alleine ausschlaggebend für den rasanten Verstädterungsprozess sein. Dazu beigetragen hat auch eine starke Migration in die urbanen Räume. Die Land-Stadt-Wanderung ist dabei in allen Großregionen festzustellen, wenn die Bevölkerungszunahmen im urbanen Raum mit den allgemeinen Wachstumsraten verglichen werden (Tab. 1). Zwischen 1950 und 1980 lagen erstere in allen Großregionen über denen des allgemeinen Wachstums, was vor dem Hintergrund einer in diesem Zeitraum grundsätzlich niedrigeren Fertilitätsrate im 2
3
„... o termo industrialização não pode ser tomado, aqui, em seu sentido estrito, isto é, como criação de atividades industriais nos lugares, mas em sua mais ampla significação, como processo social complexo, que tanto inclui a formação de um mercado nacional, quanto os esforços de equipamento do território para torna-lo integrado, como a expansão do consumo em formas diversas, o que impulsiona a vida de relações (leia-se terciarização) e ativa o próprio processo de urbanização.” Daten und eigene Berechnungen basierend auf Daten des Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística: IBGE 2011a, o. S. und IBGE 2007, o. S.
87
3.1 Stadtentwicklungstendenzen in Brasilien
Tab. 1: Städtisches und allgemeines Bevölkerungswachstum in Brasilien zwischen 1950 und 1980 nach Großregionen Großregionen norden
Bevölkerungswachstum
Jährliches städtisches Bevölkerungswachstum 1950–1980
Jährliches allgemeines Bevölkerungswachstum 1950–1980
5,74 %
4,37 %
4,78 %
2,81 %
nordosten
4,53 %
Süden
5,68 %
brasilien
5,03 %
Südosten
Mittelwesten
8,75 %
2,22 % 3,00 %
4,67 %
2,80 %
Quellen: saNTos 2005, S. 65; IBGE o. J. b, o. S.; teilweise eigene Berechnungen.
urbanen als im ländlichen Raum (vgl. IBGE 2011a, o. S.) als Indikator für einen allgemeinen Trend der Migration in die Städte gewertet werden kann. Die Land-Stadt-Migration beherrschte v. a. bis in die 1980er Jahre den Verstädterungsprozess. Die industrielle Entwicklung, die in den 1930er Jahren in den städtischen Zentren des Südostens ihren Ausgang nahm und dort ab 1950 eine Vertiefung erfuhr, wirkte in starkem Maße anziehend für die Bevölkerung aus dem ländlichen Raum. Die (vermeintliche) Aussicht auf einen Arbeitsplatz in der Industrie, bessere Schulbildung und damit die Hoffnung auf eine bessere (berufliche) Zukunft der Kinder, medizinische Basisversorgung und erwartete bessere Lebensbedingungen im Allgemeinen übten eine starke Attraktivität auf die arme Landbevölkerung aus. Auf dem Land verschlechterten sich die ohnehin problematischen Lebensbedingungen mit der auch dort einsetzenden Modernisierung und der Verdrängung durch Großbetriebe. Ferner boten überkommene Sozialstrukturen (klientelistische Abhängigkeitsverhältnisse, Minifundien, Landlosigkeit, Tagelöhnerarbeit) im ländlichen Raum anderer Landesteile (v. a. im Nordosten) keine Existenzgrundlage für große Teile der Bevölkerung mehr (vgl. zur allgemeinen Situation im ländlichen Raum Brasiliens Neuburger 2010, S. 75 ff.). Auch die Erschöpfung des formellen Arbeitsmarktes im sekundären und tertiären Sektor und die einzig verbleibende Möglichkeit, unter oft prekären Bedingungen im informellen Sektor ein Auskommen zu finden, entmutigte die Migrant_innen angesichts zusätzlicher positiv eingeschätzter pull-Faktoren nicht, in die Städte zu gehen. (KohlhePP 1994a,b, S. 52 f. u. S. 277 ff.; KohlhePP 2003, S. 28). Der Verstädterungsgrad verdoppelte sich zwischen 1940 und 1980 in allen Großregionen (mit Ausnahme des Nordens, wo er geringfügig darunter lag) und verdreifachte sich sogar im Mittelwesten. Allerdings waren die Ausgangswerte in den Großregionen sehr unterschiedlich, so dass sich der Verstädterungsgrad 1980 zwischen 50,44 % im Nordosten und 82,79 % im Südosten bewegte (saNTos 2005, S. 63; coy 2010, S. 54). Die städtische Konzentration der Bewohner_innen im Südosten resultiert aus der in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg v. a. in São Paulo verstärkt einsetzenden Industrialisierung, die auf der ersten Industrialisierungswelle um die Jahrhundertwende aufbaut und von staatlicher Seite gefördert wurde.
88
3 Rahmenbedingungen in Brasilien
saNTos identifiziert für den Zeitraum zwischen ca. 1950 und 1980 drei Abschnitte der urbanisierung für Brasilien (saNTos 2005, S. 77 ff.). Bei dem ersten Abschnitt handelt es sich um den der „gehäuften Verstädterung“ („urbanização aglomerada“), der zweite Abschnitt umfasst die „konzentrierte Verstädterung“ („urbanização concentrada“) und als dritter gilt der der „Metropolisierung“ („estágio da metropolização“). Während des Abschnitts der gehäuften Verstädterung kommt es ab den 1950er Jahre zu einer Zunahme von urbanen Siedlungen mit mehr als 20 000 Einwohner_innen. unabhängig von der jeweiligen Großregion sind es v. a. diese Siedlungen, die die hohen Verstädterungsraten aufweisen. Der Abschnitt der konzentrierten Verstädterung zeichnet sich durch die Vervielfachung der Städte mittlerer Größe ab 100 000 Einwohner_innen (bis mehr als 500 000) aus. Deren Anzahl verdreifacht sich zwischen 1960 und 1980 von 45 auf 142. Mit dem gleichen Faktor vervielfachen sich auch die Städte zwischen 200 000 und 500 000 Einwohner_innen. Der dritte Abschnitt der Metropolisierung berücksichtigt schließlich die Millionenstädte. Deren Anzahl verdoppelt sich zwischen 1970 und 1980 von fünf auf zehn Städte. Besondere Bedeutung erfahren dabei die 1973 per nationalem Gesetz gegründeten Metropolitanregionen (scarlaTo 2003, S. 434). unter den Metropolitanregionen als Zielräume der Land-Stadt-Migration heben sich São Paulo und Rio de Janeiro ab. 3,3 Mio. Migrant_innen ziehen in den 1970er Jahren nach São Paulo und 1,3 Mio. nach Rio de Janeiro, das entspricht gut 40% der Migrationen in Metropolitanregionen (saNTos 2005, S. 87). In absoluten Zahlen ist das Bevölkerungswachstum der Metropolitanregionen und allen voran v. a. der von São Paulo beachtlich. Wenn allerdings der Blick auf die Anteile der städtischen Bevölkerung in den jeweiligen Stadtgrößenklassen gerichtet wird, fällt auf, dass bereits zwischen 1950 und 1980 der Anteil der in Städten zwischen 100 000 und 1 Mio. Einwohner_innen Lebenden kontinuierlich von 29,35 % auf 35,23 % gestiegen ist, während der Anteil der Bewohner_innen in Millionenstädten im selben Zeitraum von 46,35 % auf 38,31 % zurückgegangen ist (saNTos 2005, S. 92). Diese Tendenz setzte sich in den letzten drei Jahrzehnten fort. Dabei wuchsen zum einen Regionalmetropolen und Städte zwischen 100 000 und 500 000 Einwohner_innen deutlich schneller als die beiden zuerst entstandenen Metropolen Rio de Janeiro und São Paulo. und zum anderen sind es heute die um die Kernstädte der Metropolitanregionen liegenden Städte, die eine deutlich höhere Zuwachsrate zu verzeichnen haben als die Kernstädte selbst (saNTos 2005, S. 134; MaricaTo 2001; S. 25; coy 2010, S. 55 f.). Angesichts dessen fasst Santos die aktuelle Verstädterungsdynamik wie folgt zusammen: „... der Prozess der Metropolisierung wird sich parallel zu einem Prozess der Entmetropolisierung fortsetzen. Die größten Städte werden weiterhin wachsen, während neue große Städte entstehen werden, ... [...] Es gibt also den offensichtlichen Prozess der Entmetropolisierung ohne dass die städtische Größe der Metropolen zurückgeht: Es sind die Mittelstädte, die in ihrem Bevölkerungsumfang wachsen, und so ihren Anteil an der städtischen Bevölkerung steigern“4 (saNTos 2005, S. 135; eigene übersetzung). 4
„... o processo de metropolização vai prosseguir paralelamente a um processo de desmetropolização. As maiores cidades continuarão a crescer, enquanto novas grandes cidades surgirão, ... [...] Há, pois, evidente processo de desmetropolização, sem que o tamanho urbano das metró-
3.1 Stadtentwicklungstendenzen in Brasilien
89
Diese Entwicklung wird auch anhand der Verstädterungsraten des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends deutlich. Danach wachsen alle Munizipien ab 20 000 Einwohner_innen, während kleinere entweder stagnieren oder negative Wachstumsraten aufweisen. Bei den Munizipien über 20 000 Einwohner_innen sind es die zwischen 100 000 und 500 000, die mit 2,05 % Wachstum die Munizipien mit über 500 000 Einwohner (1,79 %) in der Entwicklung überholen, wobei letztere Gruppe immer noch ein sehr hohes absolutes Wachstum aufweist. Gleiches gilt auch für die 15 aktuellen Millionenstädte Brasiliens, deren prozentuales Wachstum mit Ausnahme von zwei Städten (Brasília und Manaus) teilweise aber deutlich unter dem durchschnittlichen Wachstumswert der Städte mit mehr als 500 000 Einwohner_innen liegen (0,35 %–1,77 %) (IBGE 2011b, o. S.). 3.1.2
Disparitäten, Segregation und Fragmentierung – Intraurbane Entwicklungen in Brasilien
Diverse Indikatoren deuten darauf hin, dass das Leben in der Stadt gegenüber dem auf dem Land in Brasilien mit Vorteilen verbunden ist. So sind die Infrastruktur und sozioökonomische Daten im urbanen Raum durchweg besser als auf dem Land. Der Anschluss an die allgemeine Wasserversorgung ist brasilienweit im urbanen Raum für fast 92 % der Haushalte gewährleistet (27,8 % im ländlichen Raum). Gut drei Viertel der städtischen Haushalte sind 2010 an das Abwassersystem angeschlossen oder verfügen über eine Klärgrube (17 % im ländlichen Raum) und die Müllabfuhr erreicht ca. 97 % der städtischen Haushalte (ca. 27 % im ländlichen Raum). Am geringsten ist der unterschied zwischen Stadt und Land bezüglich der elektrischen Energieversorgung. Fast 100 % der städtischen Haushalte – gegenüber knapp 90 % im ländlichen Raum – sind an das Stromnetz angeschlossen (IBGE 2011a, o. S.). Auch wenn sich diese und weitere Indikatoren im Laufe der beiden letzten Jahrzehnte in ganz Brasilien verbessert haben, fällt bei einem intermunizipalen Vergleich auf, dass bereits gut ausgestatte Regionen (Bundesstaaten São Paulo und Rio de Janeiro und die unmittelbar nordwestlich an diese angrenzenden Regionen der Nachbarbundesstaaten) eine besonders positive Entwicklung verzeichnen können (rolNiK & KliNK 2011, S. 96 f.). Auch sozioökonomische Indikatoren haben im urbanen Raum höhere Werte. So liegt die Alphabetisierungsrate der Zehnjährigen und Älteren 2010 bei der städtischen Bevölkerung über 93 %, wohingegen der Wert im ländlichen Raum lediglich bei knapp 79 % liegt. Eine noch größere Lücke besteht beim Einkommen. Das mittlere Monatseinkommen pro Person beträgt im städtischen Raum 2010 1 294 Reais (R$) und damit mehr als doppelt so viel als im ländlichen Raum (IBGE 2011a, o. S.). Diese zunächst positiv erscheinenden Werte bedürfen jedoch einer eingehenderen Betrachtung. Zum einen sind den relativen Werten die absoluten gegenüber zu stellen. Aufgrund des hohen Verstädterungsgrads sind dementsprepoles diminua: são as cidades médias que aumentam em volume, crescendo sua participação na população urbana.”
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3 Rahmenbedingungen in Brasilien
chend trotz eines hohen prozentualen Versorgungsgrads mit Wasser immer noch knapp mehr als vier Millionen Haushalte im städtischen Raum davon ausgenommen und die prozentual gesehen große Lücke relativiert sich angesichts von sechs Millionen Haushalten, die im ländlichen Raum nicht an die Wasserversorgung angeschlossen sind. In absoluten Zahlen kehrt sich das Verhältnis bezüglich des Alphabetisierungsgrads sogar um. Im städtischen Raum sind demnach mehr als neun Millionen über Zehnjährige Analphabeten, während es im ländlichen Raum mit gut fünf Millionen absolut gesehen weniger sind. Ferner bergen die relativen Werte das Risiko in sich, innerhalb eines Indikators bestehende ungleichheiten zu nivellieren. Dieses Risiko ist v. a. bei den Einkommen gegeben. Einen Hinweis auf bestehende Einkommensungleichverteilungen bietet der Gini-Koeffizient. Dieser liegt im ländlichen Raum bei 0,453, wohingegen er im städtischen Raum 0,521 erreicht, was eine höhere Einkommensungleichverteilung im städtischen Raum bestätigt (IBGE 2011a, o. S.). Das durchschnittliche Einkommen im städtischen Raum von 1 294 R$ verteilt sich folglich zwischen einer weiten Spanne von extrem niedrigen zu extrem hohen Einkommen. Sozioökonomische Disparitäten innerhalb der Städte stellen somit eine zentrale Herausforderung für die urbane brasilianische Gesellschaft dar und bedingen weitere Probleme (coy 2010, S. 57). Die sozioökonomischen Disparitäten wirken sich unterschiedlich im städtischen Raum aus. Seit Beginn der rasanten urbanisierung (vgl. Kap. 3.1.1) gibt es in brasilianischen Städten das Phänomen der sozioökonomischen Segregation. Mit den ersten Reformen der damals großen Städte Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, in deren Zuge einerseits die sanitäre Infrastruktur verbessert wurde, um die Epidemien einzudämmen, und andererseits auch städtebauliche Verschönerungsmaßnahmen durchgeführt wurden, entwickelte sich auf der einen Seite ein moderner Immobilienmarkt und kam es auf der anderen Seite zu Verdrängungen der ausgeschlossenen, armen Bevölkerung an die Ränder und auf die Hügel der Städte (MaricaTo 2001, S. 17). Die sozioökonomische Segregation, die bis heute die brasilianischen Städte prägt, hat in der damaligen Zeit ihren ursprung. Die sozioökonomischen Disparitäten und die Bodenfrage selbst rühren aus noch länger vergangenen Zeiten her. Die Bodenfrage wurde zunächst Mitte des 19. Jahrhunderts im ländlichen Raum virulent, als es zu einer zunehmenden Privatisierung von Ländereien kam. Diese neuen Grundeigentümer erlangten in den folgenden Jahrzehnten mehr und mehr neben der ökonomischen auch die politische Macht. Mit der Abschaffung der Sklaverei 1888 entstand die freie Lohnarbeit, die zur Entstehung moderner sozioökonomischer Disparitäten beitrug. „... die urbanisierung war stark durch diese Faktoren beeinflusst: die Sklavenarbeit [vor 1888] (auch für den Bau und die Instandhaltung der Gebäude und der Städte), die Geringachtung gegenüber der Reproduktion der Arbeitskraft auch nach dem Aufkommen des freien Arbeiters und die politische Macht in Verbindung mit dem persönlichen Eigentum“5 (MaricaTo 2001, S. 18; eigene übersetzung). 5
„... a urbanização foi fortemente influenciada por esses fatores: a importância do trabalho escravo (inclusive para a construção e manutenção dos edifícios e cidades), a pouca importância dada à reprodução da força de trabalho mesmo com a emergência do trabalhador livre, e o poder politico relacionado ao patrimônio pessoal.”
3.1 Stadtentwicklungstendenzen in Brasilien
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Die ursprünglich aus dem ländlichen Raum stammenden Strukturen und Prozesse pausen sich somit auch in den Städten durch. Die stark steigende Nachfrage nach Wohnraum durch das urbane Bevölkerungswachstum führte zu einer Verteuerung des überwiegend in Privatbesitz befindlichen städtischen Bodens. um die hohen Bodenrenten abschöpfen zu können, setzte in den zentrumsnahen Bereichen die Vertikalisierung ein. Der so geschaffene Wohnraum war für die Geringverdienenden nicht erschwinglich und so blieb ihnen als Ausweg nur die städtische Peripherie, in der horizontale Siedlungen auf oft irregulär bis illegal von vermeintlichen Besitzern verkauften Parzellen entstanden (scarlaTo 2003, S. 435 f.; MaricaTo 2011, S. 179). Trotz des hohen Wirtschaftswachstums zwischen dem Zweiten Weltkrieg und den 1970er Jahren blieben die Reallohnsteigerungen der Arbeiter_innen deutlich hinter den ökonomischen Wachstumsraten zurück, was zur Folge hatte, dass die Löhne nicht die Kosten des Lebensunterhalts decken konnten (rolNiK & KliNK 2011, S. 99). Aufgrund dessen blieb der formale Wohnungsmarkt für viele Bewohner_innen unerschwinglich, so dass sich diese Bevölkerungsteile Alternativen auf dem informellen Markt suchen mussten und müssen. Ein Teil der ärmsten Bevölkerungsschichten war und ist auf die Besetzung innerstädtischer und v. a. randstädtischer Flächen angewiesen, auf denen in Selbstbauweise unterkünfte errichtet werden, die entsprechend den Möglichkeiten im Laufe der Zeit und mit zunehmender Sicherheit vor Räumung konsolidiert werden. Während diese favelas genannten Okkupationen auf öffentlichen Flächen heute oft geduldet werden, muss auf privaten Grundstücken weiterhin mit gewaltsamen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit möglichen Vertreibungen gerechnet werden (KohlhePP 1994a, S. 60 ff.; zu favelas in São Paulo vgl. KoWaricK 2009, S. 105 ff.). Während der Militärdiktatur (1964–1985) gab es Bestrebungen, dem Wohnungsmangel mit großen Sozialwohnungsprojekten zu begegnen. Abgesehen vom nicht ausreichenden umfang der Programme brachen auch diese Wohnungsbauprogramme nicht das Zentrum-Peripherie-Gefälle auf, da sie ebenfalls an den Stadträndern realisiert wurden. Durch die Infrastrukturausstattung trugen sie außerdem dazu bei, die dazwischen liegenden, bisher unerschlossenen Flächen aufzuwerten und so den Bodenmarkt zusätzlich zu schüren (MaricaTo 2001, S. 20 f.). Im Laufe der Zeit stieg die Attraktivität dieser Flächen gegenüber den in den Innenstädten liegenden Arealen, die von einer allgemeinen überlastung in vielfältiger Hinsicht betroffen waren und vor diesem Hintergrund von der besser gestellten Bevölkerung als Wohn- und Konsumorte gemieden wurden. In Folge wurden keine Investitionen mehr getätigt und die Innenstadtstandorte verschlechterten sich. Dennoch wurden diese nicht aufgelassen, sondern nun zur Befriedigung der Wohnungsnachfrage der ärmeren Bevölkerung untervermietet. Aufgrund der großen Nachfrage und des Vorteils, verhältnismäßig nah zum Arbeitsort zu wohnen, werden für diese dicht bis überbelegten unterkünfte (daher stammt auch ihr Name cortiços (Bienenkörbe/-stöcke)), die oft jegliche infrastrukturelle und sanitäre Mindeststandards vermissen lassen, auch heute noch mitunter sehr hohe Mieten verlangt und bezahlt (scarlaTo 2003, S. 436 f.; zu cortiços in São Paulo vgl. KoWaricK 2009, S. 105 ff.). Mit Beginn der Wirtschaftskrise in den 1980er Jahren wurden die Wohnungsbauprogramme beendet. In Folge dessen stieg die Anzahl der in favelas lebenden Stadtbewohner_innen
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3 Rahmenbedingungen in Brasilien
stark an, so dass heute zwischen geschätzten 10 % und mehr als 30 % der Bewohner_innen der brasilianischen Metropolen in diesen Siedlungen leben. Dabei sind es aufgrund des Mangels und der unverfügbarkeit geeigneter Flächen oft solche Flächen, die besetzt werden müssen, die entweder den Immobilienmarkt nicht interessieren und / oder bei denen es sich um ökologisch fragile Gebiete wie Quellgebiete, Flussufer und -niederungen oder steile Hänge handelt, die entweder durch Gesetze geschützt sind und / oder Risiken wie überschwemmungsgefahren oder Hangrutschungen mit sich bringen (MaricaTo 2011, S. 186 f.). Diese räumlichen ungunstfaktoren führen dazu, dass die dort ansässigen Bewohner_innen einer hohen Vulnerabilität ausgesetzt sind. um die prekären Wohnverhältnisse in den favelas zu verbessern, gibt es seit den 1990er Jahren Programme, die eine urbanisierung der infrastrukturell unterversorgten Stadtviertel vorsehen. In Rio de Janeiro gab es zu diesem Zweck das Programm „Favela Bairro“, dessen Ziel schon im Titel zum Ausdruck kommt, nämlich favelas in bairros, also formale Stadtviertel umzuwandeln (coy & TöPFer 2012, S. 10; vgl. laNz 2004; vgl. VoN WiNTziNgerode 2009). Allerdings, so gibt saNTos zu bedenken, sind solche infrastrukturellen Verbesserungen vor dem Hintergrund eines grundsätzlich marktwirtschaftlich organisierten Wohnungs- und Immobilienmarkts nicht unproblematisch: „Die Verbesserung einer öffentlichen Straße bedeutet auch, die Chancen für die Einführung oder die Verbesserung des öffentlichen Personennahverkehrs zu erhöhen und zu einer Aufwertung beizutragen, die schlussendlich in der Verdrängung der ärmeren Bevölkerung der begünstigen Nachbarschaft mündet. Die Installierung öffentlicher Infrastruktur (Wasserversorgung, Abwasserentsorgung, Elektrizitätsversorgung) führt aus denselben Gründen zu den gleichen Ergebnissen. und die (neue) Notwendigkeit, für diese Dienstleistungen zu zahlen, wiegt schwer angesichts von geringen Haushaltsbudgets und beschleunigt so die Verdrängung. Jede Verbesserung in einem armen Gebiet macht aus diesem eine Bühne für Interessenskonflikte mit der größer werdenden Mittelklasse, um nicht von der Oberklasse zu sprechen“6 (saNTos 2005, S. 125; eigene übersetzung).
Diese Tendenzen treten in jüngerer Zeit z. B. auch wieder in Rio de Janeiro zu Tage. In den sog. „befriedeten“ favelas, also denen, in denen die Befehlsgewalt von einem der Drogenkartelle auf eine Einheit der sog. Befriedungspolizei (unidade de Polícia Pacificadora, uPP) übergegangen ist, siedeln sich vermehrt Mitglieder der Mittelschicht an, die zuvor unter umständen selbst Verdrängung wegen steigender Mieten erfahren haben und nun ihrerseits anderen deren Platz streitig machen (deNis/LMD 2013, o. S.). Das Beispiel der uPP aus Rio de Janeiro weist neben dem Verdrängungseffekt durch Aufwertung auf ein weiteres, panbrasilianisches urbanes Thema, die Bedeutung von Sicherheit, hin. Resultierend aus einer (vermeintlich) allgegenwärtigen 6
„Melhorar uma via pública significa aumentar também a possibilidade de implantação ou melhoria do transporte publico e criar uma valorização que acabará por expulsar daquela vizinhança os mais pobres. Instalar um novo serviço público (água esgoto, eletricidade) acaba por ter o mesmo resultado, pelas mesmas razoes. E a necessidade (nova) de pagar por esses mesmos serviços pesa sobre os orçamentos reduzidos e apressa o processo de expulsão. Todo melhoramento numa área pobre faz dela o teatro de um conflito de interesses com as classes médias em expansão, para não falar das classes altas.”
3.1 Stadtentwicklungstendenzen in Brasilien
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Bedrohung durch Gewalt und Verbrechen im urbanen Raum stellen die Bekämpfung der Kriminalität und die Schaffung von Sicherheit Herausforderungen dar, die auf der urbanen Agenda stehen. Seit den 1980er Jahren – und damit seit den beiden „verlorenen Jahrzehnten“, gekennzeichnet in den 1980er Jahren durch die wirtschaftliche Rezession und in den 1990er Jahren durch die daraus resultierenden sozialen Folgen wie Arbeitslosigkeit (MaricaTo 2001, S. 22 & 29; souza 2012, S. 39 f.) – entstanden an den Rändern der Städte Wohngebiete, die sich durch „homogene Armut“ („pobreza homogênea“; MaricaTo 2001, S. 22) auszeichneten. Außerdem beginnt in den 1980er Jahren das Phänomen der städtischen Gewalt Raum zu greifen. Die Anzahl der begangenen Morde stieg zu dieser Zeit in einem für Brasilien zuvor nicht gekannten Ausmaß (MaricaTo 2001, S. 22 & 31 ff.; vgl. für São Paulo: caldeira 2003, S. 101 ff.). Diese Entwicklung fand ab Ende der 1980er Jahre ihren entsprechenden Widerhall auch in den Medien. Mit teilweise drastischen Formulierungen vom Bürgerkrieg in der Stadt griffen u. a. die Printmedien das soziale Klima und die städtische Gewalt zunächst v. a. in Rio de Janeiro und São Paulo auf (souza 2008, S. 27). Auch im Fall der urbanen Gewalt und Kriminalität spielen die sozioökonomischen Disparitäten eine Rolle. Zwar sind alle Bewohner_innen davon betroffen, allerdings in unterschiedlichen Ausprägungen. In bessergestellten Stadtteilen dominieren Eigentumsdelikte wie Einbrüche, Diebstähle und Raubüberfälle, ferner besteht dort das Risiko, Opfer von Entführungen zu werden. In sozioökonomisch benachteiligten Stadtvierteln an der Peripherie dagegen spielen Kapitalverbrechen gegen Personen wie Morde und Todschläge eine größere Rolle (caldeira 2003, S. 76). Angesichts der Bedrohungsszenarien in brasilianischen Städten hat souza den Begriff der „Phobopolis“ geprägt (vgl. Kap. 2.2.4). Damit bezeichnet er Städte, die von extremen Formen der Gewalt und Kriminalität einerseits und einer zunehmenden Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols und damit des Verlusts der öffentlichen Sicherheit andererseits geprägt sind, was die Bewohner_innen in einen Zustand ständigen Angstgefühls versetzt. Die Gründe für diese Gewaltzunahme sind vielfältig. So können der Verlust oder der Wandel von Werten z. B. im religiösen und gesellschaftlichen Bereich (bspw. Bedeutungswandel der Religion; Hedonismus, Konkurrenzdenken), die zunehmende Bedeutung des Konsums und auch die Korruption in den Reihen der Polizei als Gründe angeführt werden. Daneben spielen aber auch sozioökonomische Gründe und ungleichheiten eine wichtige, wenn eben auch nicht die alleinige Rolle zur Erklärung der Gewaltsituation in den Städten (souza 2012, S. 39). Dem allgemein verbreiteten Gefühl der unsicherheit und der Angst versucht die Oberschicht – zunehmend aber auch die Mittelschicht – durch die Schaffung und Nutzung von privatisierten Räumen zu begegnen. Die am weitesten verbreiteten privatisierten Räume sind die abgeschotteten geschlossenen Wohngebiete (condomínios fechados) der Mittel- und Oberschicht, die entweder aus horizontalen Villenvierteln in zentrumsferneren Gebieten oder aus gesicherten vertikalen condomínios in Form von Apartmenthochhäusern bestehen, die eine vielfältige Infrastruktur wie Sportanlagen, Festsäle, Fitnessstudios und Swimmingpools umfassen (KohlhePP 2003, S. 30; vgl. coy & Pöhler 2002, vgl. caldeira 2003, S. 257 ff.). Ähnlich hermetisch von der städtischen Außenwelt abgeschirmte Bereiche wie die
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3 Rahmenbedingungen in Brasilien
condomínios fechados sind diverse Freizeiteinrichtungen wie private Clubs, Resorts und Sportanlagen wie Golf- oder Jockey-Clubs, die nur zahlungskräftigen Mitgliedern offenstehen. Zu den abgesicherten Räumen zählen auch die Shoppingcenter, die seit den 1960er Jahren in Brasilien Verbreitung finden. Auch wenn sie nicht über dieselben Zugangsbeschränkungen wie die condomínios fechados verfügen, sind sie durch Wachdienste und Videoüberwachung einerseits abgesichert und durch die Lage und Erreichbarkeit nicht für jeden gleich gut erreichbar und damit teilweise unzugänglich. Diese Shoppingcenter stellen für die Oberschicht zum einen die bevorzugten Einkaufsmöglichkeiten dar, sind aber auch durch ihr unterhaltungsangebot (beispielsweise Kino oder Theater) zu neuen Treffpunkten geworden und haben so Funktionen übernommen, die bisher der öffentliche Raum inne hatte (coy & Kraas 2003, S. 37). Die dargestellten gesicherten Räume sind mitunter über den gesamten Stadtraum verteilt und erfordern deshalb Möglichkeiten der Bewegung zwischen diesen. In brasilianischen Städten ist dazu seit langer Zeit das Auto das wichtigste Verkehrsmittel, wenn diese Wahlmöglichkeit aufgrund ausreichender finanzieller Ressourcen besteht. Entsprechend sind brasilianische Städte in besonderem Maße durch den individuellen Verkehr geprägt. Zurückzuführen ist dies zum einen auf eine Förderung der brasilianischen Automobilindustrie (FerNaNdes & NoVy 2010, S. 962) und zum anderen auf die permanente Bevorzugung der Infrastruktur für den Individualverkehr im Gegensatz zum kollektiven Personennahverkehr (alVes 2011, S. 110). Auch wenn der Infrastrukturausbau für die permanent wachsende Flotte an Autos nur begrenzt Schritt halten kann, führt dieser doch dazu, dass der städtische Raum jenseits der individuellen und privaten Mobilitätsfunktion, der den Bewohner_innen zur Verfügung steht, kontinuierlich kleiner wird (schor 2001, S. 148). Der vergleichsweise schlecht ausgebaute kollektive Personennahverkehr macht es erforderlich, dass sich oft auch diejenigen ein Auto leisten müssen, die aus welchen Gründen auch immer tendenziell darauf verzichten würden. Angesichts eines prekären kollektiven Nahverkehrs ist das Auto oft eine Notwendigkeit um die Mobilität zu gewährleisten – trotz des Zeitverlusts in Staus und zähfließendem Verkehr. Diejenigen, die an der städtischen Peripherie leben müssen und keine individuellen Fortbewegungsmöglichkeiten haben, sind oft von sehr eingeschränkter Mobilität betroffen und damit ungewollt im „Exil in der Peripherie“ („exílio na periferia“; saNTos 1990 zit. in MaricaTo 2011, S. 180; borsdorF & coy 2009, S. 348 f.). Die beschriebenen gesicherten Enklaven ebenso wie die Wohnenklaven der ärmeren Bevölkerung, bspw. die cortiços, innerhalb des städtischen Gefüges lösen die ehemaligen Makrostrukturen zwischen einem wohlhabenden Stadtzentrum und einer armen Peripherie zumindest in Teilen auf. Die Sicherheitsinfrastruktur ermöglicht kleinräumigere Abgrenzungen zwischen den sozioökonomisch unterschiedlich situierten Bewohner_innen. „Die Distanz zwischen den ungleichen in der Stadt vollzieht sich nicht mehr überwiegend entlang der Logik Peripherisierung der Ärmeren versus Bestimmung der zentralen und zentrumsnahen Gebiete, die am besten mit kollektiven Konsumstrukturen (Infrastruktur, Einrichtungen und städtische Dienstleistungen) ausgestattet sind, für die Reicheren. Die städtischen Sicherheitssysteme bieten die Voraussetzungen dafür, dass sich die Segregation vertiefen kann, selbst
3.2 Stadtplanung und Stadtpolitik in Brasilien
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dann, wenn sich im ‚Zentrum‘ und in der ‚Peripherie‘ soziale Segmente mit ungleichen kaufkraftniveaus und mit unterschiedlichen Konsuminteressen einander räumlich stark annähern“7 (sPosiTo 2011, S. 140 f.; eigene übersetzung).
Das Ergebnis ist eine sozialräumliche Fragmentierung, induziert sowohl durch sozioökonomische Ungleichheiten als auch durch soziokulturelle Unterschiede. Die räumliche Nähe zwischen Armen und Reichen, die durch Mauern und Sicherheitssysteme ermöglicht wird, stellt ein zentrales Element der Fragmentierung dar. Dadurch werden ungleichheiten vertieft und die Möglichkeiten des Dialogs zwischen den unterschiedlichen und ungleichen Gruppen werden – trotz der räumlichen Nähe – zunehmend in Frage gestellt und schlussendlich negiert (sPosiTo 2011, S. 141 f.). Brasilien war im vergangenen Jahrhundert durch eine rasante urbanisierung und Metropolisierung geprägt. Heute spielt die urbanisierung von Mittelstädten weiterhin eine Rolle, wenn auch bei geringeren Zuwachsraten als zu Zeiten des extremen Städtewachstums. Von Anfang an waren die Städte durch starke Disparitäten gekennzeichnet, die sich im Stadtraum in Form von großflächiger Segregation niederschlugen. Nicht zuletzt aufgrund neuer Sicherheitstechnologien ist es in den letzten Jahrzehnten zu einer kleinräumigeren Verteilung sozioökonomisch ungleich situierter Bevölkerungsteile gekommen, so dass sich der Stadtraum heute oft aus unterschiedlichen Fragmenten konstituiert. Trotz der starken marktwirtschaftlichen Ausrichtung der Stadtentwicklung gibt es vielfältige Ansätze, den diversen Herausforderungen mittels Maßnahmen der Stadtplanung und Stadtpolitiken zu begegnen. 3.2
STADTPLANuNG uND STADTPOLITIK IN BRASILIEN
Die Stadtplanung ist in Brasilien kein neues Betätigungsfeld, sondern kann auf eine mehr als hundertjährige Geschichte zurückblicken (coy 2010, S. 58 f.). Die zur Begründung des urbanen Chaos nicht selten zu hörende Erklärung eines Mangels an Planung ist angesichts dessen kaum gerechtfertigt. Allerdings ist die Planung oft das eine, deren umsetzung aber das andere. Die Stadtplanung ist oft langfristigen Zielen verpflichtet, ohne die Intention der zeitnahen umsetzung erarbeitet und wird von unterschiedlichen Idealen und Ideologien geleitet. Die Stadtplanung bildet so einen theoretischen und ideologischen Rahmen, wohingegen die Stadtpolitik unmittelbare Ziele anstrebt und Pläne oft nicht berücksichtigt, kurzfristigen Rationalitäten und Notwendigkeiten nachkommt und / oder Partikularinteressen verfolgt. Eine Zäsur v. a. in der Planungstradition stellen die institutionellen Neuerungen dar, die ihren Ausgang mit der Aufnahme zweier dezidiert auf die Stadt bezogener Artikel in die Verfassung von 1988 nahmen und ihre Konkretisierung im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausend mit einem nationalen Gesetz zu städtischen Themen, 7
„A distancia entre os desiguais, na cidade, não se opera mais, predominantemente, a partir da lógica de periferização dos mais pobres e de destinação, aos mais ricos, das áreas centrais e pericentrais, as melhores dotadas de meios de consumo coletivo (infraestrutura, equipamentos e serviços urbanos). Os sistemas de segurança urbana oferecem condições para que a separação possa se aprofundar, ainda que se justaponham, no ‘centro’ e na ‘periferia’ segmentos sociais com níveis desiguais de poder aquisitivo e com diferentes interesses de consumo.”
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dem sogenannten Stadtstatut (Estatuto da Cidade), und der Schaffung eines Städteministeriums (Ministério das Cidades) fanden. Einen ausführlichen überblick zur Geschichte der Stadtplanung und ihrer Einordnung in den stadtpolitischen Kontext gibt Villaça (2004b, S. 167 ff.). Dabei richtet sich der Fokus v. a. auf die gesamtstädtischen Planungen – und hier v. a. auf die Masterplanungen – seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des 20. Jahrhunderts.8 Es lassen sich drei Hauptphasen unterscheiden, deren übergänge sich mitunter aber mehrere Jahrzehnte überlappen können. Die erste Phase bis ca. 1930 ist durch sog. Verbesserungs- und Verschönerungspläne (planos de melhoramentos e embelezamentos) geprägt. Die städtische Attraktivitätssteigerung – zur damaligen Zeit oft noch synonym als Innenstadtverschönerung verstanden – war Ziel dieser von den bestimmenden Gruppen vorangetriebenen Planungen und deren umsetzungen. Dabei wurde sich verschiedener Strategien bedient, u. a. auch der Vertreibung der im Zentrum ansässigen Arbeiterbevölkerung. Dies bedingte einen Funktionswandel dieser hochpreisigen Gegend hin zu Handels- und Finanzdienstleistungen und leistete den Spekulationsinteressen der Immobilienbranche Vorschub. Viele der Pläne dieser Epoche basierten ausdrücklich auf ausländischen Vorbildern. So lag den Reformen von Bürgermeister Pereira Passos zwischen 1903 und 1906 in Rio de Janeiro ein unmittelbar auf Pariser Vorbilder zurückgehender Bericht und Plan von 1875 zugrunde. Bei einigen Planungen wurden von vornherein europäische Stadtplaner zu deren Erarbeitung verpflichtet. So stammte der Plan „Rio de Janeiro: Remodelação, Extensão e Embelezamento“ von 1930 von dem französischen Stadtplaner Alfred Agache, unter dessen Namen er auch heute noch meist firmiert (Villaça 2004b, S. 193 ff.). Ferner war vielen dieser Pläne der ersten Phase gemeinsam, dass sie oft und / oder in großen Teilen eine umsetzung und Implementierung erfuhren. Entscheidend dafür war, dass die elitären Planungen breite Akzeptanz in der Bevölkerung als Ganze fanden und deswegen im Vorhinein offen diskutiert und anschließend realisiert werden konnten. Die oft mit den Plänen verbundene Europäisierung der brasilianischen Städte (saNTos 2000, S. 192) – bei gleichzeitig oft zu beobachtender Vernachlässigung und Verneinung des kolonialen Erbes – traf auf breite gesellschaftliche Zustimmung. Das änderte jedoch nichts an den schon damals zu beobachtenden Tendenzen der Segregation, weswegen MaricaTo das zu dieser Zeit dominierende Paradigma als „segregierende modernistische Stadtplanung“ („urbanismo modernista segregador“) bezeichnet (MaricaTo 1996, S. 36 zit. in saNTos Jr. 2008, S. 137). Als zeitlich letzter Plan dieser Ära kann der Plan von Prestes Maia mit dem Titel „Estudo para um Plano de Avenidas para a 8
In der Analyse Villaça findet die Flächennutzungsplanung (zoneamento) bewusst keine Beachtung. Die Flächennutzungsplanung ist ein in Ansätzen bereits Ende des 19. Jahrhunderts angewandtes Instrument der Einteilung des städtischen Raum in unterschiedliche Flächennutzungen. Von Anfang an ist dabei zu beobachten, dass das Ziel v. a. darin besteht, Interessen zu bedienen und Probleme zu lösen, die die Ober- und ggf. Mittelschicht betreffen und die sozioökonomischen Schichten voneinander zu trennen (saNTos 2000, S. 192). Anders als die (Master)Planung ist die Flächennutzungsplanung unbeeinflusst von internationalen Vorbildern entstanden und basiert nicht auf wissenschaftlichen oder theoretischen überlegungen. umgekehrt sind Flächennutzungsplanungen aber in der Regel – und damit anders als oft im Fall der Masterpläne (s. u.) – umgesetzt worden (Villaça 2004b, S. 177 f.).
3.2 Stadtplanung und Stadtpolitik in Brasilien
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Cidade de São Paulo“ („Studie für einen Plan der Hauptverkehrsstraßen für die Stadt São Paulo“) von 1930 betrachtet werden, dessen Vorschläge für den Straßenbau im Wesentlichen umgesetzt wurden. Dabei profitierten v. a. das Zentrum sowie zentrumsnahe Gebiete und die dort ansässige Oberschicht, was wiederum dem Immobiliensektor zugutekam. Der in den 1930er Jahren einsetzende übergang zur zweiten Phase war geprägt von einer Verschiebung der Zielsetzungen von Verschönerungsmaßnahmen hin zu infrastrukturellen Verbesserungen zur Steigerung der Effizienz. Verkehrsinfrastruktur z. B. erlangte so eine höhere Bedeutung als der Wohnungsbau. An dieser Schwerpunktsetzung änderte auch die sich in den großen urbanen Zentren des Südostens in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelnde Arbeiterklasse und die damit einhergehende Entwicklung eines „Bewusstseins des einfachen Volkes“ („consciência popular“)9 (Villaça 2004b, S. 201) nichts. „Mit [...][den genannten Planungs]Ideen ist klar, dass die Pläne weder dazu ausgearbeitet werden, um sie umzusetzen, noch um die Probleme der städtischen Masse der einfachen Bevölkerung zu lösen. Ohne Zweifel wurden sie ausgearbeitet, um die dominanten städtischen Interessen zu bedienen, aber diese wurden immer schwieriger offiziell mittels Plänen zu vermitteln. [...] In zunehmendem Maße werden die Pläne zu reinen Diskursen, denn die dominante Klasse hat keine Vorschläge für die Lösung der sich vertiefenden Probleme. Die Dilemmata und die Interessen, die es durch die neuen Pläne zu verbergen gilt, sind klar. Es werden keine Bauvorhaben im Interesse der einfachen Bevölkerung angekündigt, denn diese werden nicht umgesetzt, und es werden keine Bauvorhaben angekündigt, die umgesetzt werden, weil diese nicht im Interesse der einfachen Bevölkerung sind“10 (Villaça 2004b, S. 203 f.; eigene übersetzung).
Die neuen Pläne der zweiten Phase zeichneten sich durch eine ihnen zugrunde liegende wissenschaftliche Basis und technische Ausrichtung aus. Folglich wurden die Pläne zunehmend als politisch neutral erachtet, also ohne die Realisierung politischer Ziele damit verfolgen zu wollen (saNTos 2000, S. 193). Ferner spielte die Durchführbarkeit und die Operationalisierbarkeit eine untergeordnete Rolle. Ziel der Masterpläne war es, die ganze Stadt abzudecken, wobei oftmals dennoch das 9
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Der brasilianische Begriff „popular“ ist nicht unmittelbar ins Deutsche zu übersetzen. Die vermeintlich naheliegendste übersetzung „populär“ im Sinne von beliebt/allgemein bekannt ist in den wenigstens Fällen zielführend. Oft bezeichnet der Begriff eine schichtspezifische Ausprägung eines Phänomens, wobei es sich generell um eine/die sozioökonomisch benachteiligte Gruppe der (brasilianischen) Gesellschaft handelt. Diese Bedeutung kommt derjenigen nahe, die auch im Laufe der Geschichte immer wieder mit diesem Begriff in Verbindung stand wie „einfaches/gemeines Volk“ (vgl. bruNNer eT al. 1992, S. 141 ff.), nicht zuletzt auch in Abgrenzung zu einer Führungselite (elite oder nobre als Gegenbegriff zu popular). „Com [...] [as] idéias [de planejamento mencionados], fica claro que os planos não seriam elaborados para ser executados nem para resolver os grandes problemas das massas populares urbanas. Sem dúvida eram elaborados para atender aos interesses dominantes urbanos, mas isso passaria a ser cada vez mais difícil de ser divulgado oficialmente através de planos. [...] Cada vez mais os planos passam a ser discurso apenas, pois a classe dominante não tem propostas para resolver os problemas que se agravam. Os dilemas e os interesses a serem ocultas pelos novos planos estão claros. Não há como anunciar obras de interesse popular, pois estas não serão feitas, e não há como anunciar as obras que serão feitas, porque estas não são de interesse popular.”
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Zentrum und die zentrumsnäheren urbanisierten Stadtteile besondere Berücksichtigung fanden. Masterpläne, die diesen Charakteristika entsprachen, entstanden u. a. in Rio de Janeiro, Porto Alegre, Salvador und São Paulo. Während die ersten Pläne dieses Zeitabschnitts noch eine teilweise umsetzung erfuhren, verschob sich der Schwerpunkt mehr und mehr von Ausführungs-Planungen zu Planungs-Diskursen („plano-discurso“) (Villaça 2004b, S. 204 ff.). Pläne, die dem letzteren Paradigma folgten, zeichneten sich durch verschiedene Loslösungen von gegebenen umständen aus: Die oft außerhalb der eigenen Stadtverwaltungen und teilweise von internationalen Planer_innen11 ausgearbeiteten Pläne wurden häufig wegen technischer, politischer und finanzieller Gründe von den jeweiligen Stadtverwaltungen nicht oder nur in Teilen umgesetzt. Ein schon damals virulentes Problem stellt die starke sektorale Spezialisierung innerhalb der Stadtverwaltung dar, die der umsetzung von – ihrer Intention nach – integrierenden und umfassenden Plänen im Wege steht. Viele Pläne blieben darüber hinaus reine Empfehlungen, da sie nie als Gesetz o. ä. formell beschlossen wurden. Statt Masterplänen zu folgen, wurden sektorale Machbarkeitsstudien bevorzugt, wie beispielsweise die in den 1960er Jahren unter dem damaligen Bürgermeister Faria Lima begonnenen untersuchungen für den uBahn-Bau in São Paulo. Die Bevorzugung von sektoralen Projekten bedeutet umgekehrt eine Vernachlässigung und teilweise Geringschätzung breiter, integrativer Planungen vonseiten der Stadtpolitik (souza 2008, S. 92). Dennoch in dieser Zeit entwickelte Masterpläne zeichneten sich durch einen technokratischen Charakter aus und wurden oft – unabhängig von der Stadtverwaltung – von privaten Planungsbüros erstellt. Wenn in einigen Fällen die Stadtplanungsämter doch bei der Erstellung und Ausarbeitung beteiligt waren, zeichnete sich das Verhältnis dieser Abteilungen zu den maßgeblichen Entscheidungsgremien durch eine institutionelle Ferne aus (Villaça 2004b, S. 212 ff.). Die Pläne stellten aber auch für sich – also ohne deren Implementierung – eine gewisse Lösung dar. „Es entstand die dominierende Idee, dass die städtischen Probleme aus einem Mangel an Planungen unserer Städte resultieren. Die Idee des ‚urbanen Chaos‘ wurde zu einem Allgemeinplatz und der Grund dafür war das Fehlen von Planung. [...] Die Pläne an sich erlangten Gültigkeit und nicht deren umsetzungen, [...]. Die Stadtplanung als Ideologie ([verstanden als] übergang des Denkens der dominierenden Schicht zum dominierenden Denken) beherrschte – und beherrscht noch – die Stadtplanung in Brasilien“12 (Villaça 2004b, S. 227; eigene übersetzung und Hervorhebung). 11
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Erwähnung verdient im Zusammenhang mit der Einbeziehung internationaler Stadtplaner_innen und der Problematik fehlender umsetzung ein Plan für den damaligen Bundesstaat Guanabara (heute Munizip von Rio de Janeiro). Der Plan wurde durch das griechisch-internationale Planungsbüro von Doxiadis realisiert und in vielfacher Auflage in englischer (sic!) Sprache 1965 übergeben. Diese Tatsache erachtet Villaça angesichts zumindest zur damaligen Zeit geringer englischer Sprachkenntnisse in der brasilianischen Bevölkerung als entlarvend bezüglich der nicht vorgesehenen umsetzung dieses Planes (Villaça 2004, s. 215). „Desenvolveu-se a idéia dominante de que os problemas urbanos derivavam da falta de planejamento de nossas cidades. A idéia de ,caos urbanos’ tornou-se um lugar-comum, e sua causa era a falta de planejamento. [...] Os planos passam a valer por si sós, e não pelos seus resultados, [...]. É o planejamento urbano enquanto ideologia ([entendida como] transformação do pensamento da classe dominante em pensamentos dominantes) que dominará – e ainda domina – o planejamento urbano no Brasil.”
3.2 Stadtplanung und Stadtpolitik in Brasilien
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Neben dem ideologischen Nutzen lag der praktische Nutzen der Masterpläne der zweiten Stadtplanungsphase maximal darin, dass sie (teilweise) eine grundlegende Bedingung für die Zuwendung sektoraler Subventionen v. a. vonseiten der brasilianischen Regierung waren. Dabei genügte aber ebenfalls deren Erstellung, ihre Realisierung spielte bei der Bewilligung der Mittel dagegen keine Rolle (rolNiK 2011, S. 241; kritisch dazu Villaça 2004b, S. 190).13 Den lokal ausgearbeiteten Plänen kam somit nur eine gewisse Alibifunktion zu, da v. a. in den beiden letzten Dekaden der zweiten Phase während der Militärdiktatur (1964–1985) ohnehin eine überwiegend zentralistische Stadtpolitik und damit auch -planung dominierte. Ergebnisse daraus waren nationale Programme und Institutionen der Stadtpolitik wie die Banco Nacional de Habitação (BNH; Nationale Bank für Wohnungswesen), deren günstige Kredite de jure für die Wohnraumversorgung der geringverdienenden Bevölkerung vorgesehen waren, de facto aber (auch) der Mittelschicht und dem Infrastrukturausbau zugutekamen (vgl. azeVedo 1988). Ausdruck der nationalen Zentralisierung von Stadtplanung war außerdem der Serviço Federal de Habitação e urbanismo (SERFHAu; Bundesamt für Wohnungs- und Städtebau) dessen Aufgabe die Erarbeitung und Koordinierung einer nationalen Politik im Bereich der örtlichen Planung war (vgl. FeldMaN 2005). Eine Zäsur hinsichtlich der Planung erfolgte mit den ersten Tendenzen der Redemokratisierung zu Beginn der 1980er Jahren. Diese Entwicklung stand am Beginn der dritten Phase der Stadtplanung in Brasilien. Anknüpfend an das „Erste Seminar zu Wohnen und Stadtreform“ („Primeiro Seminário de Habitação e Reforma urbana“) von 1963, formierte sich mit der Zeit eine Nationale Stadtreformbewegung (Movimento Nacional pela Reforma urbana)14. Sie setzte sich nicht für Masterpläne ein, sondern für die Dezentralisierung der Stadtpolitik im Allgemeinen sowie Wohnraumpolitiken und städtebauliche Gesetzgebungen im Bereich Flächennutzungsplanung und Bebauungsparzellierung, um den Immobilien- und Grundstücksmarkt zu reformieren und sozialverträglicher zu gestalten, im Speziellen. Dass schlussendlich u. a. der Masterplan doch in der Verfassung verankert wurde, ist Kompromissen geschuldet, die aufgrund unterschiedlicher Ansichten die Stadtreform betreffend erforderlich waren, um die beiden „Stadtartikel“ in die nationale Verfassung (Constituição da República Federativa do Brasil – CF/1988) aufnehmen zu können (vgl. saNTos 2000, S. 197 f.; MeNgay & Pricelius 2011, S. 247). Der Artikel 182 ist der Stadtentwicklung gewidmet und macht die Gesamtentwicklung der sozialen Funktionen der Stadt und die Sicherstellung des Wohlergehens 13
14
Eine Ausnahme hinsichtlich der (Master)Planung und ihrer umsetzung stellt die Stadt Curitiba in Südbrasilien dar. Ein Mitte der 1960er Jahre erarbeiteter Masterplan wurde ab der folgenden Dekade schrittweise unter der Leitung des damaligen Bürgermeisters, der bereits zuvor an der Erstellung des Plans durch das städtische Instituto de Pesquisa e Planejamento urbano de Curitiba (IPPuC; Institut für Stadtforschung und Stadtplanung von Curitiba) beteiligt war, umgesetzt. Einschränkend ist allerdings anzumerken, dass ein zentraler Fokus der Masterplanung Curitibas auch auf der Flächennutzungsplanung lag (zirKl 2007, S. 218 ff.) Seit 1987 existiert die Bewegung unter dem Namen Nationales Forum der Stadtreform (Fórum Nacional de Reforma urbana – FNRu) und setzt sich aus einer Vielzahl von sozialen Bewegungen, Berufsverbänden, Nichtregierungsorganisationen und studentischen Initiativen zusammen ( saNTos Jr. 2008, S. 139 f.; saNTos Jr. 2009, S. 55; saule Jr. 2005, o. S.)
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3 Rahmenbedingungen in Brasilien
der städtischen Bewohner zum Verfassungsauftrag. Der Artikel bestimmt im Einzelnen, dass privates Eigentum in der Stadt eine soziale Funktion erfüllen muss (vgl. auch CF/1988, Art. 5, XXII u. XXIII). Der Masterplan (plano diretor), dessen Erstellung in Städten mit mehr als 20 000 Einwohnern verpflichtend ist, dient danach der Stadtentwicklungs- und -erweiterungspolitik. Als ein kleiner Fortschritt zu vormaligen Masterplänen ist dabei zu werten, dass der ebenfalls in die Verfassung aufgenommene Masterplan jetzt ein Instrument sein soll, mit Hilfe dessen die soziale Funktion des städtischen Eigentums definiert und kontrolliert werden soll (vgl. saNTos Jr. 2008, S. 140 & 145 f.). Wenn Eigentümer von Immobilien (Grundstücke und Gebäude) der Sozialverpflichtung durch unterlassene Nutzung nicht nachkommen, sieht der Artikel verschiedene Stufen zur Durchsetzung dieser Anforderung bis hin zur Enteignung vor. Der Artikel 183 regelt die übertragung des Eigentumsrecht an Grundstücksbesitzer, die dort ununterbrochen und ohne Einsprüche des Eigentümers mindestens fünf Jahre wohnen (usucapião; Ersitzung) (vgl. souza 2003, S. 119 f.).15 In der Folge erarbeiteten zahlreiche, v. a. große Städte neue Masterpläne, die nun explizit politischen Zielen dienten und nicht mehr nur technische Diagnosen darstellten. Sie wurden als Gesetzesinitiativen formuliert; allerdings zogen sich einige stadtparlamentarische Prozesse und Auseinandersetzungen derart hin, dass die Initiativen nie zur Abstimmung kamen. Die Bruchlinien bei den Auseinandersetzungen verliefen und verlaufen dabei u. a. entlang der Frage der Beteiligung des Immobiliensektors durch Besteuerung seiner Gewinne an den Aufgaben der öffentlichen hand. „Im Immobiliensektor hat die Stadtregierung außergewöhnliche Möglichkeiten einzugreifen; nicht so sehr bei der Produktion, sondern hauptsächlich bei der Verteilung des Reichtums, den er generiert. Progressive Kräfte haben versucht den Masterplan auf dieses Ziel hin auszurichten, indem sie ihn in die Richtung lenkten, dass die öffentliche Hand einen Teil der Wertsteigerungen im Immobiliensektor abschöpft, die in weiten Teilen ohnehin auf Leistungen der öffentlichen Hand und der Gesellschaft als Ganzes zurückzuführen sind. Gegen diese Ausrichtung lehnt sich der Immobiliensektor auf“16 (Villaça 2004b, S. 237; eigene übersetzung).
Diese Diskrepanz der Interessen macht die Problematik deutlich, angesichts derer sich die umsetzung der „neuen“ Masterpläne abermals schwierig gestaltet. Die Po15
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Außerdem sind weitere Artikel für die Stadtentwicklung und -politik von Bedeutung. Artikel 29 regelt zum einen die Verpflichtung eines jeden Munizips, ein sogenanntes Lei Orgânica zu verabschieden, das eine Art kommunales Grundgesetz darstellt. Außerdem wird in diesem Artikel auch die Beteiligung von Verbänden und Vereinen von lokaler Bedeutung (associações representativas) und die Möglichkeit von Volksbegehren (iniciativa popular) festgeschrieben (zur Bürgerbeteiligung allgemein s. auch CF/1988, Art. 5, XXXIII und Art. 14) (vgl. coy 1997, S. 126 f.; harTh 1995, S. 20 f.; saNTos 2004, S. 86 ff.). No setor imobiliário, o governo municipal tem excepcionais condição [sic!] de interferir; não tanto na produção, mas, particularmente, na distribuição da riqueza nele gerada. É precisamente nessa direção que as forcas progressistas têm procurado orientar o plano diretor, instrumentando-o no sentido de fazer com que o poder público capte parte da valorização imobiliária da qual ele e a sociedade como um todo são os principais criadores. Contra essa orientação os interesses imobiliários se insurgiram.”
3.2 Stadtplanung und Stadtpolitik in Brasilien
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litisierung der Pläne führt zur Notwendigkeit von Aushandlungsprozessen, bei denen konfligierende Interessenslagen aufeinander treffen. In Folge und zur Konkretisierung der neuen Verfassung von 1988 kam es mit gut 10-jähriger Verzögerung zu weiteren gesetzlichen und institutionellen Neuerungen auf nationaler Ebene, die ausdrücklich Stadtagenden gewidmet sind. Dazu zählen die Verabschiedung des nationalen Stadtstatuts (Estatuto da Cidade – EC/2001, Gesetz Nr. 10.257, vom 10. Juli 2001), die Gründung des Städteministeriums (Ministério das Cidades) und des nationalen Städterats (Conselho das Cidades) und die zweijährliche Durchführung der Nationalen Städtekonferenzen (Conferências Nacionais das Cidades). Das Stadtstatut von 2001 beinhaltet die Ausführungsbestimmungen der beiden „Stadtartikel“ in der Verfassung. Es dient dem Ziel, eine städtische Gesamtentwicklung unter Berücksichtigung der sozialen Funktion des städtischen Eigentums zu gewährleisten und dabei verschiedene Grundsätze zu beachten. Dazu zählen u. a. • das Recht auf nachhaltige Städte (einschließlich der Rechte auf städtischen Grund, Wohnraum, sanitäre Infrastruktur, Transport, städtische Dienstleistungen, Arbeit und Freizeit), • die Regeln demokratischer und partizipativer Verwaltung, • die Zusammenarbeit Aller (Regierungen, privater Sektor und weitere gesellschaftliche Gruppen) zum Allgemeinwohl, • die Vermeidung und Rückgängigmachung von raumplanerischen Fehlentwicklungen, • die Regulierung des Grundbesitzes sowie die gerechte Verteilung von aus urbanisierungsprozessen resultierenden Gewinnen, ebenso wie • der Schutz der gebauten und natürlichen umwelt sowie des kulturellen und historischen Erbes (EC/2001, Art. 2; vgl. MeNgay & Pricelius 2011, S. 249). Das Stadtstatut gibt den brasilianischen Kommunen eine Vielzahl innovativer Regulierungsinstrumente an die Hand, um dem Verfassungsauftrag nachzukommen (coy 2010, S. 61 f.). u. a. fanden praxiserprobte Instrumente wie der Bürgerhaushalt (orçamento participativo) oder die Sonderzonen von sozialem Interesse (zonas especiais de interesse social – ZEIS) Aufnahme in diese nationale Gesetzgebung. Bei den ZEIS handelt es sich um ein ursprünglich in Recife im Nordosten des Landes in den 1980er Jahren entwickeltes, umfassendes Instrumentarium, um informelle Wohngebiete von sozioökonomisch benachteiligten Bevölkerungsschichten zu regularisieren, mit grundlegender Infrastruktur zu versorgen und sie so schlussendlich in die formelle Stadt zu integrieren (coy & TöPFer 2012, S. 10) Es handelt sich weiterhin um Zonen des sozialen Wohnungsbaus für Geringverdienende (MeNgay & Pricelius 2011, S. 251). Der Bürgerhaushalt stammt ursprünglich aus der südbrasilianischen Stadt Porto Alegre. Seit den 1980er Jahren besteht hier für die Bevölkerung die Möglichkeit über einen Teil des Investionshaushalts über ein mehrstufiges sich jährlich wiederholendes Beteiligungsverfahren mitzubestimmen. Neben der Etablierung eines Instruments der direkten Demokratie ist ein weiteres Ziel, durch Dezentralisierung infrastrukturelle Verbesserungen gesamtstädtisch – und damit auch in ehemals benachteiligten Stadtgebieten – umzusetzen (coy 2010,
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3 Rahmenbedingungen in Brasilien
68; detailliert: souza 2001, S. 159 ff.; allg.: cabaNNes 2004, S. 27 ff.; kritisch: Mororó 2012). Ferner wird der Masterplan im Stadtstatut genauer bestimmt. Es legt fest, dass im Masterplan die soziale Funktion der unterschiedlichen Stadtgebiete festzulegen ist. Außerdem ist seine Verabschiedung als munizipales Gesetz Voraussetzung dafür, dass weitere im Stadtstatut vorgesehene Instrumente auf lokaler Ebene umgesetzt werden können (saNTos Jr. 2008, S. 141). Das nationale Städteministerium existiert seit 2003 und wurde in der ersten Amtszeit der Regierung von Luiz Inácio Lula da Silva geschaffen. Damit kam eine Anerkennung der Stadtagenden sowie die Notwendigkeit der politischen Auseinandersetzung mit diesen durch die nationale Regierung zum Ausdruck. Vormals über diverse Ministerien verteilte, die Stadt betreffende Programme und Politiken wurden im neugeschaffenen Städteministerium gebündelt (saNTos Jr. 2008, S. 138 f.; rolNiK 2011, S. 242)17. Parallel mit der Einrichtung des Ministeriums gingen Bemühungen einher, die nationale Stadtpolitik zu demokratisieren und partizipative Elemente zu stärken. Daraus resultiert die Schaffung eines nationalen Städterats, in dem Regierungsangehörige aller drei Verwaltungsebenen und unterschiedliche zivilgesellschaftliche Akteure wie unternehmens- und Berufsgruppenvertretungen, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen (NROs), soziale Bewegungen und wissenschaftliche Einrichtungen vertreten sind. Die Mitglieder des nationalen Städterates werden durch die jeweiligen Teilgruppen innerhalb der Nationalen Städtekonferenz, die sie repräsentieren, gewählt. Die Mitglieder der Städtekonferenz wiederum werden in einem mehrstufigen Verfahren in Konferenzen in den Bundesstaaten und den Munizipien per Wahl bestimmt (rolNiK 2011, S. 242). Ausgehend von den Richtlinien für Masterpläne im Stadtstatut initiierten sowohl das Städteministerium als auch der Städterat Initiativen zur unterstützung der Munizipien bei der Erarbeitung partizipativer Masterpläne. Im Rahmen der Kampagne „Plano Diretor Participativo: cidade de todos“ („Partizipativer Masterplan: Stadt für alle“) für die partizipative Erstellung von Masterplänen wurden landesweit Schulungen durchgeführt. Trotz der breiten Mobilisierung beinhaltete einer Studie zufolge nur ein Viertel der 2006 ausgearbeiteten oder in Ausarbeitung befindlichen Masterpläne Elemente der Bürgerbeteiligung. Außerdem ist zu beobachten, dass bei diesen Beteiligungen die ohnehin schon benachteiligten gering- oder nichtverdienenden Bevölkerungsgruppen abermals unterrepräsentiert sind (saNTos Jr. 2008, S. 141 f. u. 148). Ferner ist zu berücksichtigen, dass Partizipation nicht gleich Partizipation ist. Das Stadtstatut stellt es oftmals den Stadtregierungen anheim, darüber zu entscheiden, ob die Beteiligung beschlussfassenden Charakter hat oder lediglich konsultative Züge aufweist (souza 2008, S. 101).
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Mittlerweile (2011) sind auch wieder gegenläufige Tendenzen zu beobachten. So sind die beiden großen nationalen Programme „Programa de Aceleração do Crescimento – PAC“ („Wachstumsbeschleunigungsprogramm“) und „Programa Minha Casa Minha Vida – PMCMV“ („Mein Haus Mein Leben-Programm“), die (zumindest in Teilen) unmittelbaren Bezug zu städtischen Agenden haben, dem Präsidialamtsministerium (Casa Civil), das direkt dem Präsidenten zugeordnet ist, unterstellt. Dies bedeutet eine gewisse Schwächung des Städteministeriums (MaricaTo 2011, S. 43).
3.2 Stadtplanung und Stadtpolitik in Brasilien
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Die zunehmende Politisierung der Planungsprozesse unter Einbeziehung sozialer Bewegungen und NGOs sowie unter teilweiser Berücksichtigung der unmittelbaren Bürgerbeteiligung führt dazu, dass Projekte, die v. a. der Oberschicht zugutekommen würden, immer seltener Eingang in die Planung an sich finden. Angesichts dessen wird die Planung von der wohlhabenden Bevölkerung nach Möglichkeit bewusst vernachlässigt und es wird stattdessen versucht, diese – oft im Schulterschluss mit der jeweiligen Stadtverwaltung und regierung – durch unmittelbare stadtpolitische Eingriffe zu umgehen (Villaça 2004b, S. 240). Außerdem ist zu beobachten, dass zwar einerseits die in weiten Teilen festzustellende Einführung der im Stadtstatut vorgesehenen Instrumente eine erfolgreiche Verbreitung dieser Reformagenden bedeutet, andererseits aber die räumliche umsetzung des allgemeinen Gedankens der sozialen Funktion des Eigentums oftmals weit hinter der theoretischen Beschäftigung mit dem Thema zurückbleibt (rolNiK & KliNK 2011, S. 104 f.). Dies trifft auch auf die Masterpläne zu, deren Ausarbeitung mitnichten auch die umsetzung garantiert. Abermals wird die Diskrepanz zwischen den planerischen Ansprüchen und den umsetzungsstrategien deutlich (ribeiro & saNTos Jr. 2011, S. 6; vgl. auch rolNiK 2011, S. 241). Stattdessen bleibt wie auch in der Vergangenheit die konkrete Stadtpolitik weiterhin oft die bedeutsamere Ebene zur Durchsetzung von Zielen der Stadtentwicklung. Zur Erreichung von konkreten stadtpolitischen Maßnahmen, deren umsetzungen im Interesse unterschiedlicher städtischer Gruppen sind, ist seit jeher eine Abstimmung und Aushandlung zwischen diesen Gruppen und der Stadtregierung von ausschlaggebender Bedeutung. Das Verhältnis zwischen dem formellen (Wirtschafts)Sektor und der Stadtregierung basiert v. a. auf Stadtproduktion und Zulieferung von Dienstleistungen. Von der Stadtregierung nachgefragte Dienstleistungen werden im Fall von städtischer physischer Infrastruktur von den Bauunternehmen und im Falle von Serviceleistungen wie Müllabfuhr und kollektivem Personennahverkehr von entsprechenden Dienstleistungsunternehmen erbracht. um ihre Märkte zu sichern und einen entsprechenden Gewinn zu gewährleisten, versuchen diese unternehmen, ihre Interessen in Entscheidungsprozessen und bei der umsetzung von Städtebauprojekten und programmen aktiv gegenüber der Stadtregierung zu vertreten (rolNiK & KliNK 2011, S. 104). „Businesses involved in formal urban production establish privileged connections with public agencies, who control the selection of urbanization projects and programs, as well as town planning, guaranteeing markets in certain urban areas for their products and protecting the profitability of their investments. In the area of urban development, these decision processes take place within land management bureaucracies, which are highly permeated by networks of influence that connect businesses with congressmen and political parties, since public works contractors, service providers and real estate developers and builders actively finance electoral campaigns“ (rolNiK 2011, S. 245).
Diese Einflussmöglichkeiten und der seit den 1990er Jahren allgemein zu beobachtende Trend zur Neoliberalisierung haben beispielsweise im Angebot des städtischen Personennahverkehrs dazu geführt, dass Kontrollmöglichkeiten gegenüber den privaten Dienstleistungsunternehmen in diesem Sektor durch die öffentliche Verwaltung immer weiter eingeschränkt wurden und stattdessen der Sicherung des
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3 Rahmenbedingungen in Brasilien
Gewinns der unternehmen ohne entsprechende Qualitätskontrollen Priorität eingeräumt wurde18. Die Diskrepanz zwischen der in weiten Teilen unbefriedigenden Dienstleistung im Personennahverkehr bei gleichzeitig kontinuierlich steigenden Kosten war im Juni 2013 ein zentraler Auslöser der Massenproteste in den brasilianischen Städten (baVa 2013). Auf der anderen Seite ist aber auch der Kontakt zur Stadtregierung für den informellen (Wohn)Sektor von zentraler Bedeutung. Hierbei geht es v. a. um den Grad der Toleranz von Seiten der Stadtregierung gegenüber den informellen Siedlungen und damit in Verbindung stehenden Gesetzesübertretungen. Seit den 1990er Jahren – und damit seit der Redemokratisierung – ist eine gestiegene Investitionstätigkeit in prekären Siedlungen zu beobachten. Die nachträgliche urbanisierung dieser Gebiete ist zu einem wichtigen Bereich der politischen Stadtagenda geworden (rolNiK & KliNK 2011, S. 104). „This is how investments in the urban milieu, along with tolerance, authorization or even promotion of precarious settlements have become a potent electoral device, with great possible political returns for promoters, either through the popular vote or through access to campaign funding. […] the political world always invests in informal settlements and poor neighborhoods in the hopes of receiving support from those selectively benefited by public resources through their intermediation“ (rolNiK 2011, S. 247).
Trotz gewisser Ähnlichkeiten zwischen dem formellen und dem informellen Sektor ist es dennoch wichtig, die Asymmetrien der Beziehungen und ihre unterschiedlichen Regeln nicht außer Acht zu lassen. Ferner sind die Ziele der jeweiligen Gruppen differenziert zu betrachten. Während der formelle Sektor um eine Steigerung und Sicherstellung der Erträge der jeweiligen Geschäftstätigkeit bemüht ist, spielen im informellen Sektor überlegungen der grundlegenden Existenzsicherung eine zentrale Rolle (rolNiK 2011, S. 246). Den wechselseitigen Interessen ist allerdings gemein, dass sie – wenn auch aus unterschiedlichen Motiven – meist an unmittelbaren Ergebnissen interessiert sind. Langfristige Planungen sind dem oft nicht dienlich und sind dementsprechend von geringer Bedeutung (souza 2008, S. 95). Ein anderes Hindernis für die umsetzung langfristiger Planungen stellen die Finanzen von Städten in Brasilien dar. Mit der neuen Verfassung von 1988 ging eine Dezentralisierung einher, die den Munizipien auch finanziell eine größere Autonomie einräumte, wobei diese höheren Finanzzuwendungen v. a. aus verfassungsmäßigen Zuteilungen resultieren, wohingegen die autonome Steuererhebungskompetenz auf typische städtische Aktivitäten (Imposto Predial e Territorial urbano – IPTu, Städtische Gebäude- und Grundsteuer und Imposto sobre serviços – ISS, Steuer auf Dienstleistungen) begrenzt bleibt. Die autonomen Steuereinnahmen stellen somit in allen Munizipien Brasiliens den kleineren Posten im Vergleich zu den Finanzzuwendungen dar. Diese Zuwendungen decken aber meist nur die laufenden Verwaltungskosten und verfassungsmäßigen Sozialtransfers, so dass die Munizipien für Investitionen z. B. in urbane Infrastruktur auf zusätzliche freiwillige 18
Eine Ausnahme bildet auch hier Curitiba mit einem innovativem ÖPNV-System, dass eine gute Erreichbarkeit innerhalb des Stadtgebiets ermöglicht (zirKl 2007, S. 225 ff.).
3.2 Stadtplanung und Stadtpolitik in Brasilien
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Finanztransfers angewiesen sind19. Die freiwilligen Zuwendungen können auf zwei Arten erfolgen. Es kann sich erstens um Mittel handeln, die auf Vereinbarungen zwischen den Munizipien und der jeweiligen Bundesstaats- oder der Bundesregierung basieren, denen Auswahlprozesse durch die jeweils zuweisende Regierung vorausgehen. Zweitens kann es sich um Haushaltsmittel des jeweiligen Bundesstaats oder des Bundes handeln, die aufgrund von Änderungsanträgen von Parlamentarier_innen im Rahmen der Haushaltsplanung gezielt Programmen und Projekten an vorherbestimmten Orten zugutekommen. Dabei kann es sich sowohl um kollektive Anträge als auch um solche einzelner Abgeordneter handeln (rolNiK & KliNK 2011, S. 106). „Obwohl nur kleine Beträge betreffend, können die konkreten individuellen Änderungsanträge positive Auswirkungen auf den Wahlerfolg und das politische überleben der Abgeordneten haben. Wenn auch mit Blick auf die wichtigsten Ziele der Regierungskoalition die Änderungsanträge von untergeordneter Bedeutung sind, ist es notwendig zu unterstreichen, dass im Rahmen des politischen Wettbewerbs im Munizip, das die wesentliche Grundlage für die Wiederwahl des Parlamentariers ist, dieser Mechanismus entscheidend sein kann“20 (rolNiK & KliNK 2011, S. 106 f.; eigene übersetzung).
unabhängig von der Form der freiwilligen Zuwendungen wird deutlich, wie wichtig für die Munizipien gute Beziehungen zu den Regierungen auf Bundesstaats- und Bundesebene sowie auch zu den Bundesstaats- und Bundesparlamentarier_innen aus dem jeweiligen Munizip sind. Dieses subtile Abhängigkeitsverhältnis der munizipalen Ebene zu den übergeordneten Ebenen führt zu einer „bevormundeten Dezentralisierung“ („descentralização tutelada“) (rolNiK & KliNK 2011, S. 106). Wichtig sind in diesem Zusammenhang auch schnell sichtbare Ergebnisse von kleinräumigen Projekten, anstelle von Implementierungen langfristiger großflächiger Planungen, die u. u. erst mit einer gewissen Zeitverzögerung Wirkung zeigen. Die weiterhin geringe Bedeutung der Stadtplanung im Allgemeinen und der Masterpläne im Speziellen wird außerdem durch die in den letzten Jahrzehnten zunehmende Städtekonkurrenz in der Auseinandersetzung um gute Investitionsbedingungen für unternehmen im globalen Wettbewerb und die dadurch (vermeintlich) nötigen Strategien geschmälert. saNTos Jr. benennt vor diesem Hintergrund zwei Paradigmen, die sich in der Stadtpolitik gegenüber stehen: das eine der „Stadt als Ware“ („cidade-mercado“) und das andere der „Stadt als Recht“ („cidade-direito“) (saNTos Jr. 2008, S. 150; ribeiro & saNTos Jr. 2011, S. 4; vgl. MaricaTo 2001, S. 56 ff.).Das zweite Paradigma ist im Entstehen begriffen und kann an einigen Politiken auf den drei Verwaltungsebenen im Bereich der Stadtplanung beobachtet werden. Ziel ist es dabei, mit entsprechenden Maßnahmen den ungleichhei19 20
Eine weitere Möglichkeit stellt die Kreditaufnahme dar. Dabei handelt es sich um Kredite öffentlicher Banken. Allerdings sind die Kreditrahmen relativ begrenzt (rolNiK 2011, S. 248; rolNiK & KliNK 2011, S. 106). „Embora envolvendo valores pequenos, a emenda individual ,carimbada‘ pode ter impactos positivos no sucesso eleitoral e sobrevivência política dos parlamentares. Se do ponto de vista dos grandes objetivos da coalizão governante as emendas têm pouca importância, é necessário ressaltar que no âmbito da competição política no município, base fundamental para definir a reeleição de um parlamentar, este mecanismo pode ser crucial.“
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3 Rahmenbedingungen in Brasilien
ten und der Exklusion durch die tradierte Form der urbanisierung entgegenzutreten. Hier hinein fallen die Initiativen zu partizipativer Stadtplanung/Masterplanung ebenso wie die zum Bürgerhaushalt (orçamento participativo). Durch konkrete Maßnahmen im Raum manifestiert sich aber oft das erste Paradigma. Dieses zeichnet sich dadurch aus, dass die Stadt als Ware sowohl produziert als auch konsumiert wird. Stadtpolitik dient dabei der Befriedigung der Nachfrage, wobei vorrangig derjenigen nachgekommen wird, die hohe Gewinne in verschiedener Form verspricht. Die Nachfrage fokussiert räumlich dabei selten gleichmäßig auf die Gesamtstadt, sondern eher auf besonders begehrte Stadtteile. Entsprechend treten zugunsten der die Nachfrage belebenden Attraktivitätssteigerungen umfassende Gesamtstadt-Planungen hinter kleinräumigeren, strategischen Planungen zurück (saNTos Jr. 2008, S. 150 f.; zu strategischer Planung allg. vgl. Kap. 2.1.3). Vor dem Hintergrund der Marktlogik verliert der Begriff des „Bürgers“ zugunsten von Begriffen wie „Kunde“ und „Konsument“ an Bedeutung (vgl. carlos 2007, S. 88 f.). Beispiele für die strategische Planung sind die Durchführung von sportlichen und kulturellen (Mega)Veranstaltungen, die Realisierung von Erneuerungen in degradierten Stadtteilen und der Einsatz der Architektur als Spektakel („arquitetura-espectáculo“) (MaricaTo 2001, S. 60). Die umfassende Masterplanung wird immer häufiger von projekt- und anlassbezogenen strategischen Planungen abgelöst, die sektoralen und / oder räumlich begrenzten Zielen folgen und / oder zeitlich befristet sind (Souza 2008, S. 97). Die hinter diesem Paradigma stehende Stadtpolitik fassen ribeiro & saNTos Jr. zusammen: „Das Ergebnis ist ein besonderes Muster städtischer Regierungsführung, bei dem Planung, Steuerung und Handlungsroutinen durch ein Interventionsmuster ersetzt werden, das auf Ausnahmen basiert und in dem öffentliche Verwaltungsbehörden und institutionelle Beteiligungskanäle zunehmend brüchig werden“21 (ribeiro & saNTos Jr. 2011, S. 5; eigene übersetzung).
Allerdings sind die beiden mit den Paradigmen in Verbindung stehenden Planungsrichtungen der strategischen Planung (und damit der Stadtpolitik) einerseits sowie der auf den Ausgleich von ungleichheiten abzielenden, partizipativen Masterplanung andererseits nicht unabhängig voneinander. Es kommt vielmehr zu Verschmelzungen beispielsweise von Diskursen, die den Gedanken um eine städtische Reform in sich tragen, und Vokabeln, die eindeutig der unternehmerischen strategischen Planung entlehnt sind (souza 2008, S. 97 ff.). Die Diskrepanz zwischen langfristiger Stadtplanung und kurzfristiger Stadtpolitik basiert also – neben der ohnehin schwachen Tradition der Implementierung von Planungen – auf den engen Verflechtungen und Abhängigkeitsverhältnissen der involvierten Akteure mit ihren unmittelbaren Interessen, der fehlenden finanziellen Autonomie, durch die die Munizipien auf freiwillige Zuwendungen für räumlich tendenziell begrenzte Projekte angewiesen sind, und auf den neoliberalen Entwicklungen, die Städte zu unternehmen machen, die den Stadtraum partiell nachfrage21
„O resultado é um padrão de governança urbana bastante peculiar, onde o planejamento, a regulação e a rotina das ações são substituídos por um padrão de intervenção que se funda na exceção, com os órgãos da administração pública e canais institucionais de participação crescentemente fragilizados.“
3.3 Innenstadtentwicklung in Brasilien
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konform produzieren und vermarkten. Es wird somit deutlich, dass es sich zwischen Stadtplanung und Stadtpolitik nicht nur um zeitliche Diskrepanzen handelt, sondern auch um räumliche. Während die (Master)Planungen die Gesamtstadt im Blick haben, berücksichtigt die Stadtpolitik aus den genannten Gründen tendenziell kleinräumige Projekte (MaricaTo 2001, S. 60). Ein städtischer Teilraum, der dabei u. a. vor dem Hintergrund der Städtekonkurrenz und der Möglichkeit der Distinktion immer wieder eine besondere Rolle spielt, ist das jeweilige Stadtzentrum. 3.3
INNENSTADTENTWICKLuNG IN BRASILIEN
Stadtzentren sind im intraurbanen Kontext herausragende Stadträume. Ihre Zentralität wird hauptsächlich durch Funktionen bestimmt, die für die Gesamtstadt von Bedeutung sind; dabei spielen meist wirtschaftliche und politische Funktionen eine wichtige Rolle bei der Herausbildung dieser Zentralität. In Ländern des Globalen Südens ist darüber hinaus zu beachten, dass hinsichtlich der wirtschaftlichen (Dienstleistungs)Funktionen sowohl Einflussbereiche für gehobene wie auch für einfache Dienstleistungen bestehen, die sich allerdings räumlich und zeitlich überlappen können – aber nicht zwangsläufig müssen. Angesichts dessen kann die Zentralität für unterschiedliche soziale Schichten kongruent sein, aber auch voneinander abweichen. Außer von den Dienstleistungsangeboten hängt die Zentralität auch von der Erreichbarkeit und der Verkehrsinfrastruktur des jeweiligen Stadtraums ab, wobei auch bei dieser Thematik die Abhängigkeiten von unterschiedlichen Verkehrsmitteln eine wichtige Rolle spielen, die je nach Bedeutung von einzelnen Verkehrsmitteln auch zur Herausbildung unterschiedlicher Zentralitäten führen können. So haben Räume mit einem guten ÖPNV-Angebot für die Nutzer_innen dieser Dienstleistungen eine hohe Zentralität, während andere, deren Verkehrsinfrastruktur hauptsächlich auf den Individualverkehr ausgerichtet ist, für automobile Bewohner_innen zentraler sind. (serPa 2011, S. 100 ff.; Villaça 1998, S. 242 f., sPosiTo 2011, S. 139 f.). Neben den funktionalen Merkmalen und Gesichtspunkten der Fortbewegung spielen aber auch symbolische Gehalte und die Identifizierung damit eine wichtige Rolle für die Zentralität. „Der Prozess der Herausbildung und Konsolidierung von Zentralitäten ist dynamisch und historisch und erfordert die Periodisierung als methodisches Werkzeug. Diese Zentralitäten sind das Ergebnis eines langsamen und alltäglichen räumlichen Aneignungsprozesses und finden ihren Ausdruck in urbanen Formen und der Identifikation damit [...]“22 (serPa 2011, S. 103; eigene übersetzung).
In Lateinamerika – und damit auch in Brasilien – lassen sich nach coy im 20. Jahrhundert drei grundsätzliche Zeiträume der Innenstadtentwicklung benennen (coy 2007, S. 57). Ein erster Zeitraum umfasst in etwa die erste Hälfte des 20. Jahrhun22
„O processo de formação e consolidação de centralidades é dinâmico e histórico, requer a periodização como ferramenta metodológica. Essas centralidades são resultado de um processo lento e cotidiano de apropriação espacial e se traduzem em formas urbanas com forte identificação [...].“
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3 Rahmenbedingungen in Brasilien
derts und zeichnet sich durch die Herausbildung typischer Zentrumsfunktionen und städtebauliche Maßnahmen zur Verbesserung der Stadthygiene und zur Verschönerung aus. Ein zweiter Zeitraum von ca. 1950 bis etwa 1980 ist durch Modernisierungsbestrebungen und weitgehende Funktionstrennung geprägt. Gleichzeitig ist es die Zeit der Herausbildung neuer Zentrumsfragmente außerhalb des traditionellen Zentrums. Der letzte, bis in die Gegenwart andauernde Zeitraum steht im Zeichen der „Wiederentdeckung“ des Zentrums und dessen Erneuerung (coy 2007, S. 57). Im Folgenden sollen die drei Zeiträume für Brasilien v. a. hinsichtlich der städtebaulichen, funktionalen und sozialen Betrachtungsebene genauer dargestellt werden. Im ersten Zeitraum dominierten überwiegend solche städtebaulichen Maßnahmen, die auf eine Verbesserung der Stadthygiene und eine Verschönerung ausgerichtet waren (vgl. Kap. 3.2 & coy 2007, S. 57). Diese sowie weitere Instandhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen mit unterstützung der öffentlichen Hand gewährleisteten ein andauerndes Interesse des Immobiliensektors an diesen Zentrumsräumen. Die Anlage breiter Prachtstraßen – oft einhergehend mit der Verdrängung von vor Ort ansässigen armen Bevölkerungsschichten – und der Bau repräsentativer öffentlicher Gebäude begünstigten auch den Bau privater gehobener Immobilien im Zentrum (ribbecK 2005, S. 90; bähr & MerTiNs 1995, S. 101). Ferner schränkte v. a. in der frühen Zeit des ersten Abschnitts die noch gering entwickelte (individuelle) Mobilität die Verlagerung von Immobilienprojekten in Gebiete jenseits des Zentrums ein. Allerdings ist in diesem Zeitraum eine Erweiterung des Zentrums aufgrund gestiegener Nachfrage nach Flächen v. a. für den Dienstleistungssektor zu beobachten (Villaça 1998, S. 279 & 345). Die Dienstleistungsfunktionen erlebten eine starke Zunahme und trugen dadurch zur Herausbildung der Cityfunktionen bei. Die neu eröffneten Geschäfte, Restaurants, Hotels und unterhaltungs- und Kultureinrichtungen sowie die diversen Freiberufler_innen bedienten hauptsächlich die Nachfrage der Ober- und teilweise die der Mittelschicht. Trotz dieser Ausweitung des Dienstleistungssektors blieb auch die Wohnfunktion für die Oberschicht im Zentrum von großer Bedeutung. Der Großteil der zur Oberschicht gehörenden Beschäftigten ging außerdem einer Arbeit im Zentrum selbst nach (Villaça 1998, S. 273). Das Zentrum war somit in starkem Maße von der Oberschicht geprägt und auf ihre Ansprüche ausgerichtet. Nichtsdestotrotz gab es auch Teilräume innerhalb des Zentrums, die überwiegend der Versorgung und auch als Wohnorte der ärmeren Bevölkerungsschichten dienten (Villaça 1998, S. 282). Dieser erste Zeitraum der Innenstadtentwicklung kann weitgehend mit der ersten Phase der brasilianischen Stadtplanung und ihren Verbesserungs- und Verschönerungsplänen (vgl. Kap. 3.2) synchronisiert werden. In São Paulo spiegelt z. B. der Plan von Prestes Maia (vgl. Kap. 4.2) aus den 1930er Jahren die Verschönerungsambitionen u. a. durch die Anlage breiter Prachtstraßen wider. Zu dieser Zeit betraf Stadtplanung aufgrund der noch geringeren flächenmäßigen Ausdehnung der Städte oft v. a. die heutigen Innenstädte. Das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen sozioökonomischen Schichten – bis dahin geprägt von der Dominanz der Oberschicht im Zentrum – änderte sich im darauffolgenden Zeitraum ab ca. 1950 grundlegend zugunsten der sozioökono-
3.3 Innenstadtentwicklung in Brasilien
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misch benachteiligten Bevölkerungsgruppen (s. u.). In den Zentren wurden verschiedene städtebauliche Modernisierungen vorgenommen (coy 2007, S. 57). Dabei war das Zentrum oft zwar der Ort der baulichen Eingriffe, nicht aber unbedingt gleichzeitig der infolgedessen begünstigte Raum. Dies gilt beispielsweise für den Ausbau der am Individualverkehr ausgerichteten Straßeninfrastruktur, deren Straßenschneisen das Zentrum in voneinander getrennte Subeinheiten aufteilten und es zumindest teilweise zu einem Durchgangsort machten. In den ersten Jahren dieses zweiten Zeitraums veränderte sich die Physiognomie des Zentrums durch den Bau von Hochhäusern erheblich (ribbecK 2005, S. 91; bähr & MerTiNs 1995, S. 102). Diese dienten vornehmlich zur Befriedigung der Nachfrage von Dienstleistungsunternehmen nach Büroraum. Das je nach Stadt mehr oder weniger vorhandene baulich-kulturelle Erbe wurde dabei oft geringgeachtet. Modernisierung galt als Entwicklung, während das Kulturerbe eher mit Stillstand assoziiert wurde (hierNaux 2013, S. 386; lacarrieu 2013, S. 423). Ähnlich wie auf gesamtstädtischer Ebene (vgl. Kap. 3.2) spielten in diesem Zeitraum ggf. erfolgende, umfassende (Innen) Stadtplanungen für die tatsächlichen Eingriffe im Zentrum kaum eine Rolle. Es erfolgte überwiegend die umsetzung sektoraler Maßnahmen (bspw. der Bau von Durchgangsstraßen) weitgehend ohne Berücksichtigung anderer Belange. Damit einher ging in dieser Zeit eine schwache Bindung der Eliten an das traditionelle/ historische Zentrum (Villaça 1998, S. 279). Die Wohnfunktion für die Oberschicht verlor im Zentrum folglich in starkem Maß an Bedeutung. Die Bewohner der Oberschicht siedelten sich in neuen, außerhalb des Zentrums gelegenen und teilweise von diesem räumlich getrennten Stadtteilen an. Die an Kraftfahrzeugen orientierte Entwicklung machte eine extensive urbanisierung möglich (hierNaux 2013, S. 380 ff.; riVière d’arc 2004, S. 258). Sukzessive verlagerten sich in Folge auch die von ihnen nachgefragten Dienstleistungen in Richtung der Räume der Wohnexpansion. Aus Sicht der Eliten erfolgte im traditionellen Zentrum ein Funktionsverlust, wohingegen die entsprechenden Dienstleistungsfunktionen in „urbanen Subregionen“ („sub-regiões urbanas“) (Villaça 1998, S. 277) angeboten wurden. Auch die Dezentralisierung öffentlicher Dienstleistungsfunktionen und die Verlagerung von Ämtern und Behörden in die neuen Subregionen unterstützte diese Entwicklung. Diese sowie die Verlagerung auch von privaten Dienstleistungsunternehmen führten schließlich zu einer weitgehenden Verlagerung der Arbeitsplätze der Oberschicht in Gebiete außerhalb des traditionellen Zentrums (Villaça 1998, S. 271 ff.). Mit der Abwanderung der Bewohner_innen der Oberschicht und der Dienstleistungsunternehmen verlor auch das Zentrum als Immobilienmarkt an Bedeutung. Aufgrund ausbleibender Gewinne wurden die Investitionen in die Immobilien weitgehend eingestellt und es setzte mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung eine bauliche Verschlechterung ein. Die freigewordenen Büro- und Geschäftslokale wurden von Dienstleistungsunternehmen übernommen, die vorwiegend die Nachfrage der unter- und teilweise der Mittelschicht bedienten. Dieser Wandel bedingte in Folge ein geringeres Steueraufkommen im Zentrum und damit auch einen Rückgang der Tätigkeiten der öffentlichen Hand bspw. in Bezug auf die Sauberkeit und die öffentliche Sicherheit (Vargas & casTilho 2009, S. 4). Gleichzeitig blieb die Bewohnerschaft der unterschicht konstant oder erhöhte sich sogar z. B. aufgrund
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3 Rahmenbedingungen in Brasilien
der Nähe zu Arbeitsplätzen und des Wegfalls der mitunter hohen Transportkosten. Das Zentrum erlebte eine „Popularisierung“ und wurde zunehmend von den Bewohner_innen der unterschicht („camadas populares“; Villaça 1998, S. 277) geprägt und eingenommen. Damit wurde es nach Villaça zum Zentrum der Mehrheit der städtischen Bevölkerung, wohingegen es zuvor mit der Dominanz der Oberschicht tendenziell das der Minderheit bildete (1998, S. 280). Der dritte Zeitraum ab den 1980er Jahren schließlich steht im Zeichen der Erneuerung des Zentrums (coy 2007, S. 57). Ein Bewusstseinswandel wurde durch die uNESCO und ihre Politik der Wertschätzung des kulturellen Erbes und die Ausrufung von Weltkulturerbestätten u. a. in Städten Brasiliens seit den frühen 1980er Jahren eingeleitet und fand bspw. mit der Ausarbeitung der „Carta de Petrópolis“ über den Schutz historisch bedeutsamer Orte in Städten 1987 Widerhall auf nationaler Ebene (riVière d’arc 2004, S. 258; hierNaux 2013, S. 386; Vargas & casTilho 2009, S. 25; zur Politik der uNESCO allgemein vgl. Kap. 2.1.5). Seitdem werden in Brasilien Ansätze aufgegriffen, die seit den 1970er Jahren weltweit die Grundlage für beobachtbare Eingriffe zum Erhalt des baulichen Erbes bilden (vgl. Kap. 3.4). Mit dieser Entwicklung gewinnt auch wieder die symbolische Dimension des Zentrums an Bedeutung. Hatten im vorangegangenen Zeitraum die Bewohner_innen der Oberschicht das kulturelle Erbe geringgeschätzt, gewinnt nun eben dieses wieder einen höheren Stellenwert. In diesem Zusammenhang spielt auch die neue und meist positive Beziehung zwischen dem Kulturerbe und der (kulturellen) Entwicklung eine wichtige Rolle. Trotz der in großen Teilen erfolgten Abwanderung einiger Kulturformen wie Kinocenter in die neu entstandenen Zentrumsfragmente – und dort wiederum überwiegend in die Shoppingcenter – ist dennoch mit Blick auf die Lage anderer Kultureinrichtungen wie Museen sowie Konzert- und Theatersälen oder Kulturzentren die kulturelle Zentralität weiterhin bzw. teilweise wieder von Bedeutung (hierNaux 2013, S. 382 f.; lacarrieu 2013, S.424 ff.). Neben der (wieder gewonnenen bzw. im Gewinnen begriffenen) symbolischen und kulturellen Zentralität spricht hierNaux mit Blick auf die öffentliche Hand von einer neuen „Aufmerksamkeits-Zentralität“ (2013, S. 383), die zu einer Wiederbeachtung des Zentrums durch die Stadtregierungen und -verwaltungen führt und meist in unterschiedliche Sanierungs- und – seltener – Erneuerungsmaßnahmen (vgl. Kap. 2.1.4) mündet (coy 2007, S. 57). Diese können sowohl in historischen Altstädten als auch in im Verlauf des 20. Jahrhunderts umgestalteten Innenstädten erfolgen und beinhalten meist den Versuch der baulichen Aufwertung bspw. von öffentlichen oder religiösen mehr oder weniger bedeutsamen Bauwerken und der Attraktivitätssteigerung des öffentlichen Raums (u. a. MerTiNs 2003, S. 46 ff.). „Die Inwertsetzung von Räumen, in denen die Dichte des Kulturerbes belebt wird, ist Teil dieser Verbindung mit der [kulturellen] Entwicklung, die nicht notwendigerweise die Lebensqualität der Bewohner, sondern vielmehr der Räume an sich ändert. Es handelt sich um Prozesse, in denen primär Gegenstände neubewertet werden und die damit Auswirkungen auf Menschen und Gruppen haben“ (lacarrieu 2013, S. 426 f.).
Es kommt zu einer Objektvalorisierung bei gleichzeitiger Subjektvernachlässigung (vgl. Vargas & casTilho 2009, S. 3). Die gesellschaftlichen Konsequenzen der Sanierungs- und Erneuerungsmaßnahmen gestalten sich aber je nach sozioökono-
3.4 Innenstadterneuerungsmaßnahmen in brasilianischen Metropolen
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mischem Hintergrund der Betroffenen unterschiedlich. Meist sind die im Zentrum verbliebenen Bewohner_innen nicht die Adressaten dieser Maßnahmen, sondern im Gegenteil dadurch mit Benachteiligungen wie bspw. der Verdrängung konfrontiert. umgekehrt verhält es sich mit den Angehörigen der Mittel- und Oberschicht ebenso wie mit der allgemein steigenden Zahl der Städtetourist_innen, die oft die (implizite) Zielgruppe der Eingriffe darstellen (coy 2007, S. 57; hierNaux 2013, S. 387). Daraus resultiert ein Nebeneinander von sozioökonomisch besser gestellten Anwesenden im Zentrum einerseits und Benachteiligten, die aufgrund von Standortvorteilen im Zentrum verbleiben, um dort zu wohnen oder informellen Beschäftigungsformen wie dem Straßenhandel nachzugehen, andererseits (hierNaux 2013, S. 391 f.; riVière d’arc 2004, S. 265). Diesen Interessen verleihen die betroffenen Bewohner_innen in diesem dritten Zeitraum der Innenstadterneuerung – analog zur gesamtstädtischen Ebene – durch Zusammenschlüsse und die Bildung sozialer Bewegungen Nachdruck. Sie können sich dabei zunächst u. a. auf die neue demokratische Verfassung von 1988 berufen, die die soziale Funktion städtischen Eigentums vorsieht, und in Folge auf das Stadtstatut von 2001 mit seinen stadtplanerischen umsetzungsinstrumenten (vgl. Kap. 3.2). Dennoch bleibt auch in diesem Zeitraum die übergeordnete Planung oft unberücksichtigt gegenüber den unmittelbaren Eingriffen der Stadtpolitik, die damit auch auf Einflussnahmen unterschiedlich mächtiger Interessengruppen reagiert. Weitere, mit den Interessen lokaler Gruppen teilweise kongruente Motive für Innenstadtpolitiken stellen auch in Brasilien die weltweit spätestens seit den 1990er Jahren zu beobachtenden Tendenzen einer Attraktivitätssteigerung der Innenstadt zur besseren Vermarktung der Gesamtstadt dar (vgl. Kap. 2.1). Die Rückbesinnung auf das Zentrum in brasilianischen Städten kann allgemein in zwei Formen zum Ausdruck kommen: Meist handelt es sich um Aufwertungsund Verschönerungsmaßnahmen, aber es gibt auch Bemühungen, solche Interventionen, die den Versuch sozialer Inklusion beinhalten, umzusetzen. 3.4
INNENSTADTERNEuERuNGSMASSNAHMEN IN BRASILIANISCHEN METROPOLEN
In Brasilien folgen Innenstadterneuerungen bisher vor allem dem Aufwertungsund Verschönerungsgedanken, wie Sanierungen der Altstadt von Salvador (vgl. roThFuss 2007b, S. 41 ff.), die Erneuerung des Bairro do Recife, der Corredor Cultural im historischen Stadtkern von Rio de Janeiro (vgl. ribbecK 2005, S. 92 ff.), die Erhaltungsmaßnahmen des kolonialzeitlichen Ouro Preto oder die Sanierung des Viertels Praia Grande in São Luis do Maranhão (vgl. esPíriTo saNTo 2009, s. 169 f.) zeigen. Besondere Bedeutung erhielt in den letzten Jahren die Konversion von Hafenarealen, für die global austauschbare Konzepte von Waterfront-Projekten die Orientierung boten (vgl. allg. schuberT 2001). Jüngste brasilianische Beispiele sind die bereits abgeschlossene Aufwertung der Cais das Docas in Belém (vgl. TriNdade Jr. & WehrhahN 2010, S. 42 ff.), das Großprojekt „Complexo Turístico Cultural do Recife/Olinda“ (coy 2010, S. 64) sowie vor allem das in umsetzung
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3 Rahmenbedingungen in Brasilien
befindliche Erneuerungsprojekt „Porto Maravilha“ in Rio de Janeiro für die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Sommerspiele 2016 (Ferreira 2010, o. S.). Im Folgenden werden Innenstadtsanierungen und -erneuerungen in brasilianischen Millionenstädten mit Blick auf deren Ziele und die Maßnahmen, die zu deren Erreichung durchgeführt wurden, dargestellt. Da selten die Ziele und die Ergebnisse deckungsgleich sind, sollen ferner – soweit bereits absehbar – auch die Konsequenzen der Eingriffe thematisiert werden. Dabei ist es wichtig, die Auswirkungen nicht für alle Stadtbewohner_innen und -besucher_innen als einheitlich gegeben zu betrachten, sondern zwischen den unterschiedlichen soziökonomischen Hintergründen zu differenzieren. In historisch weitgehend intakten Städten war ein frühes Ziel der Erhalt und die Instandsetzung der Bausubstanz und die Sicherung des gebauten kulturellen Erbes. Beispiele für Maßnahmen zu Erreichung dieses Ziels lassen sich in São Luís do Maranhão benennen. Dort ist die historische Altstadt aufgrund ökonomischer Krisen in den 1930er und 1940er Jahren (anders als in anderen brasilianischen Metropolen) weniger überprägt worden und auch eine gewisse Vertikalisierung im Zentrum ab den 1960er Jahren beeinträchtigte das Gesamtensemble nur in begrenztem Maße. Dies führte zu einer frühen unterschutzstellung seitens der Bundesdenkmalschutzbehörde Instituto do Patrimônio Histórico e Artístico Nacional (IPHAN; Institut des nationalen historischen und künstlerischen Erbes) im Jahr 1974 (esPíriTo saNTo 2009, S. 176). Daraufhin initiierte der Bundesstaat Maranhão ab den 1980er Jahren das Projekt „Praia Grande“, das die Aufgabe hatte, die bauliche Struktur zu schützen und zu erhalten. Bis zu Beginn der 2000er Jahre wurden von Bundesstaatsseite in sechs Etappen Maßnahmen geplant und zumeist auch umgesetzt. Das zugrundeliegende Projekt wechselte dabei verschiedentlich den Namen („Programa de Preservação e Revitalização do Centro Histórico de São Luís“ und „Projeto Reviver“) und die Finanzierung stammte aus unterschiedlichen öffentlichen Quellen und regional übergeordneten Programmen, so dass die sechs Etappen des Projekts nicht als ein kohärentes Programm betrachtet werden können. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts spielen dann auch Aktivitäten des Munizips São Luís eine wichtigere Rolle, die sich v. a. der Erhöhung der Wohndichte im Zentrum widmen, da die Bevölkerungszahl im Zentrum in den vorangegangenen Jahrzehnten kontinuierlich zurückgegangen ist. Diese Tendenz konnte allerdings auch in den unter Schutz stehenden Gebieten kaum gebremst werden. Ebenso ist das Ziel der Erhaltung der historischen Altstadt bisher nur in Teilen erreicht, was nicht zuletzt als Ergebnis der heterogenen Maßnahmen über die Jahre hinweg betrachtet wird (esPíriTo saNTo 2009, S. 193 ff.). Das Ziel der Sicherung des gebauten kulturellen Erbes ist allerdings von Beginn an oft (auch) Mittel zum Zweck. Bei dem übergeordneten Ziel handelt es sich meist um die ökonomische Inwertsetzung, der in diesem Zusammenhang oft zwei weitere Ziele – die Tourismus- und Kulturförderung – dienen. Im brasilianischen Kontext sind diese Ziele gut am Beispiel der Interventionen in der Altstadt von Salvador da Bahia aufzuzeigen. Die frühe Deklarierung der kolonialzeitlichen Altstadt um den Pelourinho zum Weltkulturerbe durch die uNESCO im Jahr 1985 und
3.4 Innenstadterneuerungsmaßnahmen in brasilianischen Metropolen
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die damit verbundene Verpflichtung der physisch-materiellen Erhaltung dieses Erbes gemäß der Welterbekonvention (uNESCO 1972) führten zu Sanierungs- und Restaurationsmaßnahmen zum Schutz dieses Kulturerbes (roThFuss 2007b, S. 47). Diese städtebauliche Aufwertung war aber zu keiner Zeit ein Selbstzweck, sondern diente – in ersten Ansätzen bereits in den 1970er Jahren – bzw. dient hauptsächlich der touristischen Vermarktung der Altstadt. Ziel ist es, den spätestens seit den 1980er Jahren florierenden Städtetourismus in Salvador zu fördern und damit die (lokale) tourismusorientierte Wirtschaft wie Gastronomie, Hotellerie sowie weitere Servicedienstleistungen und kommerzielle Kultur- und Kunsteinrichtungen wie Galerien zu unterstützen. Die bauliche Wiederherstellung zielt auf die anschließende kommerzielle Nutzung der Gebäude und so letztendlich auf möglichst gute ökonomische Verwertungsmöglichkeit ab. In Salvador wurde zur Erreichung dieses Ziels das „Projeto de Restauração e Revitalização do Centro Histórico de Salvador“ („Projekt der Restaurierung und Revitalisierung des historischen Zentrums von Salvador“) ab 1992 in sieben Phasen implementiert. Als Hauptakteur der umsetzung ist der Bundesstaat Bahia mit verschiedenen Behörden zu nennen; die Finanzierung wurde überwiegend von der bundesstaatlichen Entwicklungsbank und von -fonds bereitgestellt. Die baulichen Eingriffe gingen mit grundlegenden Veränderungen in der funktionalen Ausrichtung der betroffenen Innenstadtbereiche einher. Zur Implementierung der touristischen Dienstleistungsfunktionen bedurfte es der Zurückdrängung der Wohnfunktion. Diese dominierte – gemeinsam mit oft informellen Dienstleistungsangeboten – zuvor die Raumnutzung in der Altstadt Salvadors. Seit der ökonomischen Krise in Bahia und Salvador zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich die Altstadt zu einem Wohn- und Arbeitsgebiet hauptsächlich von sozioökonomisch Benachteiligten entwickelt. Diese Wohnnutzung wurde v. a. in den ersten Phasen des Projekts als unvereinbar mit den beabsichtigen Zielen betrachtet. „Pelourinho sollte ein nationaler und internationaler Tourismus-Magnet werden und so die lokale Wirtschaft beleben, gleichzeitig sollten die sozialen Probleme beseitigt werden, die eine touristische Nutzung der pittoresken Altstadt blockierten“ (ribbecK 2005, S. 114).
In Folge kam es deshalb zur Verdrängung der ansässigen, überwiegend armen Wohnbevölkerung. In den ersten Phasen gab es vereinzelte umsiedlungen; weit üblicher sind aber Entschädigungszahlungen für die betroffenen Bewohner_innen. Die aus Sicht der betroffenen Bevölkerung vermeintlich hohen Beträge der Entschädigung sind letztendlich nicht ausreichend für eine neue Wohnung oder ähnliches, weswegen viele der auf diese Weise Entschädigten nur die Möglichkeit haben, unter prekären Verhältnissen in benachbarten Favelas unterzukommen (roThFuss 2007b, S. 48 ff.). Erst in jüngeren Sanierungsphasen des Projekts wird in Ansätzen versucht, sozialverträglichere, die ansässige Bevölkerung berücksichtigende Maßnahmen umzusetzen (roThFuss 2007b, S. 49; ribbecK 2005, S. 116). Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass im historischen Zentrum bereits gut 80 % der noch 1980 ansässigen Bewohner_innen verdrängt wurden. Ferner sind die finanziellen Bedingungen für einen Verbleib der Ansässigen häufig nicht erfüllbar, da diese Konditionen sichere Einkommen voraussetzen, über die die oft von informellen Tätigkeiten lebenden Bewohner_innen nicht verfügen (roThFuss 2007b, S. 49). Mit dem Rückgang der Bevölkerungszahl in den betroffenen Gebieten geht
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auch ein massives Schrumpfen der informellen Beschäftigungsmöglichkeiten einher. Zuvor allerdings trugen die informellen Tätigkeiten – diskursiv ergänzt um und verwoben mit illegalen Tätigkeiten wie Drogenhandel, Kriminalitätsdelikten und schlecht beleumundeten Aktivitäten wie der Prostitution – zur Stigmatisierung des betroffenen Gebiets bei. Dieses galt damit als Risikoraum mit einem negativen Image. Die informellen, illegalen und unerwünschten Aktivitäten dienten somit zur Rechtfertigung von Verdrängungsmaßnahmen auch gegenüber den (in Ermangelung von formellen Beschäftigungsmöglichkeiten) informell Tätigen (vgl. roThFuss 2007a, S. 233 ff.). Aus Sicht der die Maßnahmen initiierenden und durchführenden Verantwortlichen sowie von Stadtplanern und Architekten werden bzw. können die erfolgten Eingriffe als Erfolg gewertet werden: „Die Häuser im Altstadtkern sind praktisch alle restauriert, die traditionellen Gassen, die Häuserfronten und die Dachlandschaft sind wieder intakt. Die massive Tourismusförderung ließ ein vielfältiges Angebot an Cafés, Restaurants, Reisebüros, Kunstmärkten und Galerien entstehen. [...] Die Altstadt ist wieder belebt und touristisch attraktiv, wozu zahlreiche Straßenmusiker, Jung- und Althippies beitragen, die in Pelourinho ein pittoreskes Revier gefunden haben“ (ribbecK 2005, S. 115).
Auf einige, auch von ribbecK angeführte, kritische Punkte geht roThFuss genauer ein. Zum einen legt er das Augenmerk auf die sozialen Verwerfungen, die mit dem Austausch der über Jahrzehnte ansässigen Wohnbevölkerung durch tendenziell ökonomische Nutzungen einhergehen. Zum anderen deutet er aber auch auf Risiken hin, die mit der umwandlung eines vormaligen „Nachbarschaftsraums“ in einen reinen „Repräsentationsraum“ verbunden sein können – und zumindest langfristig auch die intendierten Ziele der Sanierungsmaßnahmen in Frage stellen können. „Die stadtplanerische Prioritätensetzung bestand in einer exklusiven Restaurierung des kolonialbarocken Erbes und nicht in der vielbeschworenen Revitalisierung (Revitalização) des Pelourinho. Diese ist nur insofern geglückt, als die urbane Lebendigkeit lediglich durch eine Gruppe mobiler gentry (Touristen und Tourismusakteuren) vertreten ist, welche auf nicht absehbare Zeit den Prozess einer räumlichen Identitätsfindung und endogenen Quartiersentwicklung durch eine lokal ansässige Viertelbewohnerschaft unmöglich macht“ (roThFuss 2007b, S. 54).
Einige damit im Zusammenhang stehende konkrete Probleme sind die Zunahme der unsicherheit nach Einbruch der Dunkelheit aufgrund fehlender Wohnbevölkerung, die fehlende Wiederentdeckung und dementsprechend geringe Identifikation der Mittel- und Oberschicht Salvadors mit der Altstadt und gegebenenfalls auch eine Gefährdung des verfolgten ökonomischen Modells durch eine zu geringe Zahl an Touristen in Folge eines möglichen Authentizitätsverlusts (ribbecK 2005, S. 117; roThFuss 2007b, S. 52). Ein ebenfalls (u. a.) vor dem Hintergrund des (internationalen) Städtetourismus zu sehendes Erneuerungsprojekt ist „Porto Maravilha“ im Bereich der innenstadtnahen Hafenzone von Rio de Janeiro. Weiteres – zentrales – Moment zur seit 2009 laufenden Realisierung des Projekts sind die beiden sportlichen Großereignisse, die 2014 (Fußballweltmeisterschaft der Männer) und 2016 (Olympische Sommerspiele) in Rio de Janeiro stattgefunden haben bzw. stattfinden werden. Diese MegaSportereignisse dienen zur Rechtfertigung großer infrastruktureller Stadterneue-
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rungsprojekte und ermöglichen die Zurverfügungstellung der erforderlichen Investitionsmittel. Damit fügt sich das Projekt in eine Reihe ähnlicher internationaler Waterfront-Projekte ein, und es wird bewusst an diese als Erfolg betrachteten, vorangegangenen Erneuerungsmaßnahmen bspw. in San Francisco, Buenos Aires und Barcelona angeknüpft (Ferreira 2010, o. S.; schMidT 2011, S. 126). Neben der Steigerung des touristischen Potenzials werden noch weitere Ziele genannt, die die Aufwertung der historischen Bedeutung betreffen sowie die Neuetablierung des Zentrums als Wohnort beinhalten (schMidT 2011, S. 125 f.). Der Tourismus selbst soll als Mobilisator für eine gesamtstädtische wirtschaftliche Entwicklung dienen. Zu dessen Stärkung sollen Teilprojekte wie die umgestaltung des Mauá-Piers in einen touristisch ausgestatteten Freiraum, der Bau eines Meeresaquariums und neuer Museen einen Beitrag leisten (Ferreira 2010, o. S.; schMidT 2011, S. 126). Das Ziel der Etablierung des Gebiets als Wohnort soll dezidiert auch durch die Ansiedlung von Angehörigen der Mittelschicht erfolgen. Dies hat zur Folge, dass der überwiegende Teil der für Wohnnutzung bestimmten Gebiete für diese Einkommensschicht vorgesehen ist, wobei die Nachfrage bei Angehörigen der untersten Einkommensgruppen aber am höchsten ist. Ferner wird von Seiten von Bewohner_innenvereinigungen und sozialen Bewegungen Kritik an der Tatsache geübt, dass die bestehende Bausubstanz nur in geringem Maße in die Planungen als Sanierungsobjekte mit einbezogen wurde und der überwiegende Teil der Wohnungen durch Neubau geschaffen werden soll. Dahinter wird vonseiten der Kritiker_innen ein Entgegenkommen an die Bauindustrie vermutet (schMidT 2011, S. 128). Das vom munizipalen Stadtplanungsinstitut Pereira Passos (Instituto Pereira Passos – IPP) ausgearbeitete Projekt wird von allen drei brasilianischen Verwaltungsebenen (Bund, Bundesstaat Rio de Janeiro und Munizip Rio de Janeiro) mitgetragen. Die Beteiligung der Bewohner_innen beschränkte sich auf einige Versammlungen mit betroffenen Bewohner_innen, eine Projektvorstellung beim Nationalen Rat für Stadt- und Regionalpolitik (Conselho Nacional de Política urbana e Regional – CONPuR) sowie Anhörungen bei der Handelsvereinigung sowie beim Industrieverband des Bundesstaats (schMidT 2011, S. 125 ff.). Zwei weitere zur Kategorie der Waterfront-Revitalisierungen zählende Projekte sind Estação das Docas und Ver-o-Peso in Belém. Auch wenn in ihrem umfang deutlich kleiner dimensioniert als in Rio de Janeiro, haben sie doch auch zum Ziel, die teilweise brachgefallenen oder vernachlässigten Hafenareale wieder als Stadtraum nutzbar zu machen und eine Neuorientierung zur in der Vergangenheit das Stadtleben dominierenden Bucht als Identifikationsmoment zu ermöglichen. In den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts wurden dazu verschiedene Maßnahmen umgesetzt. In ihren Zielen, umsetzungen und hinsichtlich der beteiligten Akteure unterscheiden sich beide Projekte jedoch teilweise grundlegend voneinander. Das Ziel hinter dem Projekt „Estação das Docas“ war die Attraktivierung von Belém für den (inter)nationalen Städtetourismus. Die Maßnahmen dienten so letztendlich der Wirtschaftsförderung. Mit Hilfe der Revitalisierung von Lagerhallen, die aus den beiden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stammen, sollte das Stadtimage positiv beeinflusst und zum einen Touristen und zum anderen die lokale Mittel- und Oberschicht als Zielpublikum gewonnen werden (liMa & Teixeira 2009, S. 205 ff.;
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TriNdade Jr. & WehrhahN 2010, S. 42 ff.; oesselMaNN & oesselMaNN 2008, S. 140 ff.). Die Lagerhallen wurden dafür renoviert, umgebaut und neuen Nutzungen zugeführt. Es entstand ein touristischer Komplex mit diversen Restaurants und Bars, einem Saal für Kino- und Theaterpräsentationen, einem nutzbaren Außengelände u. a. mit einem kleinen Amphitheater, Ausstellungsflächen und einem Schiffsanleger für Ausflugsschiffe. Ergänzend wurden auch benachbarte historische Gebäude aufgewertet und touristisch-kulturellen Nutzungen zugeführt. Das Projekt wurde federführend vom Bundesstaat Pará geplant und zu drei Viertel von diesem finanziert. Im Rahmen einer Public-Private-Partnership wurde das verbleibende Viertel durch die die neuen Räume nutzenden Privatunternehmen beigesteuert (liMa & Teixeira 2009, S. 216). Im Vergleich dazu lag die Planung und Durchführung beim Projekt „Ver-o-Peso“ dagegen hauptsächlich bei der Stadtregierung. Die öffentlichen Mittel wurden über den orçamento participativo (Bürgerbeteiligungshaushalt) zugeteilt, in dessen Aushandlungsprozess das Projekt als eine prioritäre Maßnahme bewertet wurde. Ziel des Projekts war es, den lokalen traditionellen Markt am Hafen in und um die Markthalle zu sanieren, neu zu organisieren, die Abläufe zu optimieren und die hygienischen Bedingungen zu verbessern. Damit sollte der Besuch sowohl für die Bewohner_innen v. a. der benachbarten Mittelund unterschichtviertel im Zentrum, die den Markt zur Nahversorgung nutzen, als auch für Tourist_innen attraktiver werden. Die zur Erreichung der Ziele umgesetzten Maßnahmen umfassten zwei große Bereiche. Zum einen ging es um physische Verbesserungen der vorhandenen Infrastruktur, die entweder wie im Fall von historisch bedeutsamen Bauwerken saniert oder bei baufälligen Teilen ersetzt wurde, wie dies durch den Neubau von Marktpavillons erfolgte. Ferner ging es um verbesserte Zugangsmöglichkeiten und die Ausweitung der Parkmöglichkeiten. Zum anderen spielten sozioökonomische Maßnahmen zum Erhalt der traditionellen Nutzung des Marktgebiets eine Rolle, die die vor Ort tätigen Kleinhändler_innen einbezogen und zum Beispiel Schulungen für diese umfassten. Zusätzlich wurde versucht, eine Belebung des Gebiets auch außerhalb der Geschäftszeiten mit der Reorganisation des ebenfalls dort lokalisierten Kunsthandwerkermarkts zu erreichen. Diese Maßnahmen sollten so einen Beitrag zur Aufwertung des Markthandels als kulturell bedeutsame Praxis leisten bei gleichzeitiger Berücksichtigung und Verbesserung der sozioökonomischen Situation der Händler_innen (liMa & Teixeira 2009, S. 220 & 226). Anders als im Fall des Projekts Ver-o-Peso wurde im Bairro do Recife, dem in Teilen noch vorhandenen historischen Zentrum Recifes, die Revitalisierung über einen bewussten Funktions- und Nutzungswandel angestrebt. Ziel war es, das Bairro do Recife als metropolitanes Zentrum zu etablieren, das sowohl für die Mittelschicht Freizeit-, unterhaltungs- und Konsummöglichkeiten bietet als auch für Tourist_innen interessant ist. Weitere damit in Verbindung stehende Ziele waren die Förderung der munizipalen Wirtschaft und die Erhaltung und die Aufwertung des kulturellen Erbes, um allgemein das Image des Bairro do Recife wieder herzustellen (leiTe & PeixoTo 2009, S. 98; leiTe 2006, S. 23). Der von Ende der 1980er Jahre bis in die frühen 2000er Jahre verfolgte Plan der Revitalisierung des Bairro do Recife beinhaltete die umwandlung von historischen Häuserzeilen in Boulevards
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mit Restaurants, Cafés und Bars. Dabei kümmerte sich die öffentliche Hand v. a. um die Attraktivierung des öffentlichen Raums; demgegenüber investierten private unternehmen in die Gebäude und deren Konversion, die sie zum Ausgleich in ihrem Innern grundlegend umgestalten durften (zaNcheTi 2005, S. 22). Neben den physischen Interventionen im Stadtraum gab es aber auch intensive Bemühungen, den öffentlichen Stadtraum mit Hilfe von kulturellen Veranstaltungen im Rahmen eines dichten touristisch-kulturellen Programms mit einem nach Ansicht der Stadtregierung angemessenen Leben zu füllen. Zentrale Akteure der Erneuerung waren von öffentlicher Seite lokale Politiker der Munizipalregierung sowie private Entwickler und der Bausektor. Teilweise vorhandene Bestrebungen, die Beteiligung auf weitere Akteure und die Bevölkerung auszuweiten, wurden zurückgewiesen (zaNcheTi 2005, S. 26). Weitere Maßnahmen zur Wirtschaftsförderung erfolgten Anfang der 2000er Jahre mit der Implementierung des Projekts Porto Digital, in dessen Rahmen die Bundessstaatsregierung von Pernambuco Anreize für die Ansiedlung von unternehmen der IT-Branche im Bairro do Recife bot, und der umwandlung des repräsentativen ehemaligen Zollgebäudes in ein Shoppingcenter (Shopping Paço Alfândega) mit Mitteln der Interamerikanischen Entwicklungsbank (Banco Interamericano de Desenvolvimento – BID). Kurzfristig erreichten die Maßnahmen ihr Ziel, aber bereits mittelfristig sind die Erfolge nicht mehr so klar erkennbar. Die Aufwertung des Bairro do Recife hat zum einen die Miet- und Immobilienpreise in einem Maße steigen lassen, dass sogar einige der angesiedelten IT-unternehmen das Viertel wieder verließen (zaNcheTi 2005, S. 23). Die Attraktivitätssteigerung des öffentlichen Raums und des Stadtgebiets als Ganzes hat nicht lange vorgehalten, so dass bereits kurze Zeit nach dem Abschluss der Implementierung schon wieder ein Aufmerksamkeits- und Investionsrückgang zu beobachten ist, was u. a. auf fehlende Maßnahmen zur Ansiedlung von Bewohner_innen zurückgeführt wird (leiTe & PeixoTo 2009, S. 102). leiTe & PeixoTo sprechen in diesem Zusammenhang von „contrarrevanchismo“ (Gegenrevanchismus), „[...] wenn wir es so verstehen, dass der eigentliche Prozess der Kulturerbe-Aufwertung eine Revanche der Stadt gegenüber den ‚ungewünschten‘ Nutzern und Bewohnern war“23 (2009, S. 101; eigene übersetzung). urbaner Revanchismus24 im Sinne der unmittelbaren Verteidigung und des Schutzes von Privilegien von meist wohlhabenderen Bevölkerungsgruppen zulasten benachteiligter Schichten ist auch in brasilianischen Städten eine die Revitalisierung von Innenstädten begleitende Maßnahme. Mit dem postulierten Ziel des Schutzes der Bevölkerung vor diversen Gefahren im städtischen Raum und der Wiederherstellung der legalen Ordnung im öffentlichen Raum werden u. a. in Rio de Janeiro entsprechende Maßnahmen gerechtfertigt. 23 24
„[...] se entendermos que o próprio processo de patrimonialização foi uma revanche da cidade aos usuários e moradores ‚indesejados’.” Der Begriff „urbaner Revanchismus“ wurde von Neil sMiTh (1996) geprägt und meint Strategien, die die Mittel- und Oberschicht (mit unterstützung von Behörden und / oder Sicherheitskräften) ohne Rücksicht auf bzw. explizit gegen die benachteiligten Bevölkerungsgruppen zur Wiederaneignung bzw. „Rückeroberung“ des Stadtraums und des urbanen Lebens – bspw. mit Hilfe von Kriminalisierungen (vgl. Kap. 2.2.4.1) – anwendet.
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3 Rahmenbedingungen in Brasilien „unter dem [...] Motto [...] choque de civilidade (Anstandsschock) wird ‚städtische unordnung‘, sei es falsches Parken, öffentliches urinieren, Müll auf den Boden werfen, Belegung des Gehsteigs durch Tische und Stühle von Restaurants, ungültige Arbeitspapiere oder illegale, nicht lizensierte Bebauung des öffentlichen Raums, in der gesamten Stadt durch Gebühren, Abtransport, Verhaftungen etc. sanktioniert“ (schMidT 2011, S. 133).
Was zunächst nach einem nachvollziehbaren Versuch der Reedukation der Bürger_innen klingt, ist keineswegs unumstritten, da dahinter eine opportunistische Politik gesehen wird, die zum überwiegenden Teil bei ärmeren Bevölkerungsschichten wie Straßenhändler_innen, Obdachlosen und Bettler_innen Anwendung findet, um diese als für eine Innenstadtrevitalisierung problematisch betrachteten Gruppen „aus dem Weg zu räumen“ (schMidT 2011, S. 133 f.). Proteste und Demonstrationen gegen diese vonseiten der Betroffenen als repressiv wahrgenommenen Maßnahmen werden durch die Polizei oft gewaltsam unterbunden (schMidT & ToMaziNe 2013, S. 213 f.) Auch in brasilianischen Städten, die aufgrund kontinuierlicher überprägungen ihres Zentrums nicht mehr über eine geschlossene historische Altstadt verfügen, spielt Innenstadterneuerung eine Rolle. Durch die politische Kontinuität in der Stadtregierung von Porto Alegre zwischen den späten 1980er Jahren und den frühen 2000er Jahren und durch die Berücksichtigung der Renovierungen historischer Gebäude im orçamento participativo wurde eine kontinuierliche Restaurierung des baulichen Erbes begünstigt. Die sukzessive Instandsetzung ließ im Zentrum wieder einen historischen Kern entstehen (bicca 2009, S. 139). Parallel dazu als auch bereits im Vorfeld wurden viele erhaltenswerte Gebäude unter nationalen, bundesstaatlichen oder munizipalen Schutz gestellt. Das konkrete Projekt zur Revitalisierung des Zentrums von 1998 hatte zum Ziel, das Zentrum wieder aufzuwerten. Es band viele Akteure wie die Bevölkerung und die unternehmerschaft in die überlegungen ein, um sie für das Anliegen zu sensibilisieren und zur unterstützung zu bewegen. Im Rahmen dieses Projekts gelang es auch, dass Porto Alegre in das Programm „Monumenta“ aufgenommen wurde. Bei diesem Programm handelt es sich um eine nationale Initiative hauptsächlich aus dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, die zum Ziel hat, in unter Denkmalschutz stehenden urbanen Gebieten das historische Erbe zu schützen, öffentliche, geschichtlich relevante Sehenswürdigkeiten zu restaurieren, den öffentlichen Raum aufzuwerten und kulturelle Aktivitäten wie Museen und Theater zu fördern. Ausgehend vom brasilianischen Kulturministerium sind die jeweiligen Munizipien und die jeweils unmittelbar betroffenen Eigentümer weitere involvierte Akteure; die Finanzierung stammt neben den Mitteln aus dem Bundeshaushalt von der Interamerikanischen Entwicklungsbank (bicca 2009, S. 148). Dieses nationale Programm spiegelt (wie auch viele der anderen beschriebenen Maßnahmen) die Bedeutung des baulichen Kulturerbes als „Ressource par excellence für die Neukonfiguration bestimmter Räume“ (lacarrieu 2013, S. 419) wider. Damit schließt es an globale Diskurse und Praktiken an, wonach das Kulturerbe seit den 1970er Jahren eine Renaissance erfährt, wohingegen es zuvor oftmals als das eher Rückständige betrachtet wurde, das der Entwicklung und Modernisierung im Wege stand (hierNaux 2013, S. 380 ff.; vgl. Kap. 2.1). Bemerkenswert ist im Fall des Programms „Monumenta“, dass es in Teilen konträr
3.4 Innenstadterneuerungsmaßnahmen in brasilianischen Metropolen
119
ist zu einem anderen nationalen Diskurs, der zwischen patrimonialen Städten wie beispielsweise Ouro Preto, und modernen Städten, wie beispielsweise São Paulo, unterscheidet (lacarrieu 2013, S. 421). Innerhalb des Programms werden nämlich sowohl patrimoniale als auch vermeintlich moderne Städte berücksichtigt. In Porto Alegre wurden mit den entsprechenden Mitteln u. a. Teile des Hafens aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts, die sich nicht mehr in Originalnutzung befanden, saniert. Eine gusseiserne zentrale Hallenkonstruktion wurde instandgesetzt und soll als Verbindungselement des historischen Kerns mit dem Hafen und der Guaíba-Bucht dienen (bicca 2009, S. 164 f.). Als wichtig werden allgemein im Zusammenhang mit dem Programm „Monumenta“ mögliche Streueffekte betrachtet. Die durch die Instandsetzung angezogenen dynamischen Aktivitäten sollen so einen Beitrag zur lokalen Wirtschaftsförderung leisten. Ein weiteres munizipales Projekt in Porto Alegre mit dem Titel „Viva o Centro“ widmet sich mehr der Belebung des öffentlichen Raums mittels der Realisierung eines Antiquitätenmarkts, der Erhaltung des öffentlichen Markts und der Konzeption und Durchführung von Stadtführungen im Zentrum. Die Summe der Maßnahmen leistete zum einen einen Beitrag zur Wahrnehmung der Innenstadt als ein historisches Zentrum und führte zum anderen zu einer gesteigerten Nutzung des Zentrums – auch außerhalb der Geschäftszeiten –, was eine wenn auch noch zögerliche Abnahme des subjektiven Angstempfindens im öffentlichen Raum des Zentrums mit sich brachte (bicca 2009, S. 163). Die kursorische Darstellung einiger wissenschaftlich aufgearbeiteter Innenstadterneuerungsprojekte v. a. der 1990er und 2000er Jahre lässt erkennen, dass sie sich zum überwiegenden Teil im weltweiten „Mainstream“ solcher Maßnahmen bewegen. Manche rekurrieren dabei unmittelbar auf internationale Vorbilder, andere sind indirekt dadurch beeinflusst. In den meisten Fällen geht es – dem allgemeinen Trend der 1990er und 2000er Jahre folgend – um die erhaltende Bausanierung historischer Gebäude oder ganzer zentraler Stadtteile. Dabei ist die Valorisierung der geschichtlich bedeutsamen Architektur aber selten Selbstzweck, sondern dient in vielen Fällen der kulturellen und touristischen Attraktivitätssteigerung. Dazu werden Freizeit- und unterhaltungseinrichtungen eingerichtet, ebenso wie gehobene Konsummöglichkeiten u. a. in der Gastronomie. Außerdem spielt bei den Maßnahmen oft auch die Aufwertung der öffentlichen Räume eine wichtige Rolle. unmittelbare Zielgruppen sind dementsprechend oft (inter)nationale Tourist_innen, aber auch solche Bewohner_innen, die sich die höheren Ausgaben für kulturelle Veranstaltungen und Freizeitvergnügungen oder gastronomischen Konsum leisten können. Indirekt sollen alle diese Ziele und Maßnahmen unterschiedliche Sektoren der (lokalen) Wirtschaft fördern, wie z. B. die Bauwirtschaft, den gehobenen Dienstleistungssektor oder spezielle unternehmensbezogene Dienstleistungen. In den jeweiligen Räumen bereits ansässige Wirtschaftsbetriebe werden hingegen nur selten berücksichtigt. Ähnlich verhält es sich mit der vor Ort beheimateten Bevölkerung. Da es sich dabei oft um Mitglieder der unterschicht handelt, werden sie dem allgemeinen Aufwertungsgedanken folgend kaum berücksichtigt oder sogar für die Entwicklung als störend erachtet und aus diesem Grund aus den jeweiligen Gebieten direkt oder indirekt – bspw. durch steigende Mieten – verdrängt. Dem wirtschaftlichen Kalkül der Maßnahmen entsprechend sind bei der Planung, Finan-
120
3 Rahmenbedingungen in Brasilien
zierung und Ausführung neben den öffentlichen Akteuren auf den drei Verwaltungsebenen oft nur Wirtschaftstreibende oder ihre jeweiligen Vertretungen wie unternehmensverbände beteiligt. Maßgeblich ist sowohl bei Planung als auch Finanzierung aber durchweg die öffentliche Hand. Abschließende Bewertungen der Konsequenzen der Projekte sind aufgrund der vergleichsweise geringen Zeit seit ihrer Implementierung nur vorläufig und begrenzt möglich. Es zeigt sich aber, dass zumindest in einigen Fällen die angestrebten Ziele v. a. hinsichtlich der tatsächlichen Belebung der Zentren im allgemeinen und des öffentlichen Raums im speziellen durch Wohn- und temporäre Bevölkerung nur kurzfristig erreicht wurden, langfristig sich aber in ihr Gegenteil verkehren könnten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Gros der Projekte den jeweiligen Wirtschaftsstandort attraktiver machen soll, um sich so auch eine bessere Ausgangslage im Städtewettbewerb zu sichern. Soziale Einbettungen der jeweiligen Maßnahmen oder gar dezidiert auf sozioökonomische Belange ausgerichtete Projekte sind angesichts dieser Fokussierung die Ausnahme.
121
Farbabbildungen
90 5,22 81,2
5,15
70
3
2,48
2,47 1,93
2
1,64
1,55
24,4
32,4
36,2
2,39
31,3
30
44,7
40
2,97
2,89 44,1
Prozent
2,99
4
1,17
10 0
1940 1950 1960 1970 Anteil der städtischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung Durchschn. jährl. Wachstum der städtischen Bevölkerung im jeweiligen Jahrzehnt
1980
1
15,6
18,8
20
Prozent
50
55,3
3,85
55,9
63,8
67,6
68,7
4,44
60
5
75,6
80
84,4
6
0
1991 2000 2010 Anteil der ländlichen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung Durchschn. jährl. Wachstum der Gesamtbevölkerung im jeweiligen Jahrzehnt
Kartengrundlage: CEM/Cebrap – Centro de Estudos da Metrópole (2008): Região Metropolitana de São Paulo. Divisão municipal em 2007.
Abb. 14: Städtische und ländliche Bevölkerung und Wachstum der städtischen Bevölkerung zur Gesamtbevölkerung in Brasilien von 1940 bis 2010 (Quellen: IBGE 2011a, o. S.; IBGE 2007, o. S.; teilweise eigene Berechnungen.) N
Francisco Morato Franco da Rocha Cajamar Pirapora Caieiras do Bom Jesus Santana de Parnaíba Barueri Osasco Jan-CarapiItapevi dira cuíba Vargem Grande Paulista Cotia
Taboão da Serra Embu Itaperica da Serra
São Lourenço da Serra Juquitiba
EmbuGuaçu
Mairiporã
Guarulhos
São Caetano d. Sul
6
12
18 km
Arujá Guararema
Itaquaquecetuba
São Paulo
0
Santa Isabel
Ferraz Poá de Vasconcelos Suzano
Mogi das Cruzes BiritibaMirim
Salesópolis
Mauá Santo Ribeirão Pires André Rio Grande da Serra São Bernardo do Campo
Diadema
Santos
A t l a n t i s c h e r
O z e a n
Abb. 15: Metropolitanregion São Paulo (Entwurf: Töpfer; Zeichnung: Pungg und Töpfer)
122
9.646.000
3.781.000
10 20
00 20
80 19
70
0,75 %/a
19
1.326.000
2.198.000
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1.120.000
40
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19
340.000
240.000
65.000 18
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31.000
18
15
72
60
2.000.000
90
80 Einwohner
4.000.000
580.000
14 %/a
19
Einwohner
Immigration
6.000.000
91
5,5 %/a 8.000.000
5.925.000
10.000.000
10.434.000
8.493.000
Binnenmigration
19
12.000.000
11.244.000
Farbabbildungen
Quellen: Souza, M.A.A.d. (2004): Território e lugar na metrópole – Revisitando São Paulo. In: Carlos, A.F.A. (ed.): Geografias de São Paulo: a metrópole do século XXI. São Paulo. & www.ibge.gov.br
Abb. 16: Bevölkerungsentwicklung im Munizip São Paulo (eigener Entwurf und Zeichnung) N
Marginal
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Kartengrundlage: Prefeitura de São Paulo (2013): Mapa 09. Sistema Viário Estrutural
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1 Traditionelles Zentrum (Distrikte Sé und República)
2,5
Neue Zentrumsfragmente
5
7,5 km Hauptverkehrsstraße
Abb. 19: Erweitertes Zentrum (Centro Expandido) (Entwurf: Töpfer; Zeichnung: Pungg und Töpfer)
123
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Konzertsaal Sala São Paulo
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8
Teatro Municipal (Stadttheater)
Museum Estação Pinacoteca
9
Bibliothek Mário de Andrade
Museum Pinacoteca
10
Sitz der Präfektur
4
Museu da Língua Portuguesa (Museum der Portugiesischen Sprache)
11
Centro Cultural do Banco do Brasil (Kulturzentrum der Banco do Brasil)
5
Markthalle Mercado Municipal
12
Patio do Colégio
Bahnhof
6
Centro Cultural dos Correios (Kulturzentrum der Post)
13
Caixa Cultural (Kulturzentrum der Sparkasse)
Bus
Busterminal
7
Praça das Artes (Munizipales Kunstzentrum)
14
Kathedrale
M
Metrô-Station Linie 1 (N - S)
M
Metrô-Station Linie 3 (O - W)
M
Metrô-Station Linie 4 (Zentrum - SW)
Zentrumskern (Historisches Zentrum) Plätze und Parks Distriktgrenzen Eisenbahnlinie
Abb. 20: Das Zentrum São Paulos – die Distrikte Sé und República (Entwurf: Töpfer; Zeichnung: Pungg und Töpfer)
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Largo do Arouche
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Kartengrundlage: Eduardo Della Manna (2008): Inteligência imobiliária. Mapa de serviços da região central de São Paulo. Construção Mercado 81.
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Farbabbildungen
124
Farbabbildungen
Abb. 21: Rua Barão de Itapetininga, Distrikt República. (Foto: Glória, 2011)
100.000
Santa Cecília
Einwohner_innen
90.000 80.000
Bela Vista
70.000
Liberdade
60.000
Consolação
50.000
República
40.000
Cambuci
30.000 20.000
Bom ReKro
10.000
Brás
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1950
1960
1970
1980 Jahr
1991
2000
2010
Sé Pari
Abb. 22: Bevölkerungsentwicklung nach Daten der Zensus 1950, 1960, 1970, 1980, 1991, 2000 und 2010. (Daten: IBGE o. J. a)
Farbabbildungen
125
350
Einwohner/ha
300 250 200 150
1980
100
1991
50
2000 2010
0
Einwohner/ha Wohnbaufläche
São Paulo (MSP), Subpräfektur Sé (Sub Sé) und Zentrums-‐ und Zentrumsnahe Distrikte
600 500 400 300 200 100 2010
0
São Paulo (MSP), Subpräfektur Sé (Sub Sé) und Zentrums-‐ und Zentrumsnahe Distrikte
Abb. 23: Bevölkerungsdichte pro Hektar 1980–2010 nach Daten der Zensus 1980, 1991, 2000 und 2010 und Bevölkerungsdichte pro Hektar Wohnbaufläche 2010. (Daten: IBGE o. J. a; SECRETARIA MUNICIPAL DE FINANÇAS o. J.)
126
Farbabbildungen
Bom Retiro
Pari
Santa Cecília
República
Brás Sé
Consolação
Bela Vista Liberdade
Cambuci
Parks Stauseen Distrikte
Dominierende Bodennutzung 2012 Wohnungen, horizontal, einfacher Standard Wohnungen, horizontal, mittlerer und hoher Standard Wohnungen, vertikal, einfacher Standard Wohnungen, vertikal, mittlerer und hoher Standard Handel und Dienstleistungen Industrie und Lager Wohnungen sowie Handel und Dienstleistungen Wohnungen sowie Industrie und Lager Handel und Dienstleistungen sowie Industrie und Lager Parkhäuser Öffentliche Einrichtungen Schulen Brachflächen Andere Nutzungen Ohne dominierende Nutzung Ohne Angaben
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1
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3
4
Kilometer
Abb. 24: Dominierende Bodennutzung im Zentrum und im Zentrumsnahen Bereich São Paulos (Quelle: SECRETARIA MUNICIPAL DE FINANÇAS o. J.; eigene Übersetzung)
Beschä2igte pro Sektor in Prozent
Farbabbildungen
90 80 70 60 50 40 30 20 10 0
127
Handel Dienstleistungen Industrie Baugewerbe
São Paulo (MSP), Subpräfektur Sé (Sub Sé) und Zentrums-‐ und Zentrumsnahe Distrikte Abb. 25: Formelle Beschäftigungen nach Wirtschaftssektoren in Prozent für das Munizip São Paulo, die Subpräfektur Sé, deren Distrikte und die beiden ebenfalls im Zentrumsnahen Bereich befindlichen Distrikte Brás und Pari für 2010 (Daten: MTE o. J. b)
128
Farbabbildungen
Beschä.igte nach Mindestlohn-‐Eikommensklassen in Prozent
45
Mindestlohn bis 0,50
40
0,51 ‒ 1,00 35
1,01 ‒ 1,50 1,51 ‒ 2,00
30
2,01 ‒ 3,00 25
3,01 ‒ 4,00 4,01 ‒ 5,00
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5,0 ‒ 7,00
15
7,01 ‒ 10,00 10,01 ‒ 15,00
10
15,01 ‒ 20,00
5
mehr als 20,00 unbekannt
0
São Paulo (MSP), Subpräfektur Sé (Sub Sé) und Zentrums-‐ und Zentrumsnahe Distrikte
Beschä.igte nach Mindestlohn-‐Eikommensklassen in Prozent
45
2006
Mindestlohn bis 0,50
40
0,51 ‒ 1,00 35
1,01 ‒ 1,50 1,51 ‒ 2,00
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15
7,01 ‒ 10,00 10,01 ‒ 15,00
10
15,01 ‒ 20,00
5
mehr als 20,00 unbekannt
0
2011 São Paulo (MSP), Subpräfektur Sé (Sub Sé) und Zentrums-‐ und Zentrumsnahe Distrikte
Abb. 26: Formelle Beschäftigungen (ohne öffentlichen Dienst) nach Mindestlohn-Einkommensklassen in Prozent für das Munizip São Paulo, die Subpräfektur Sé, deren Distrikte und die beiden ebenfalls im Zentrumsnahen Bereich befindlichen Distrikte Brás und Pari für 2006 und 2011 (Daten: MTE o. J. c)
129
Farbabbildungen
Abb. 27: Praça da Sé von Norden: ursprünglicher Platz mit Palmen im Westen vor der Kathedrale, Erweiterung im Zuge des Metrô-Baus östlich vor dem Palácio da Justiça. (Foto: Töpfer, 2011)
Abb. 28: Praça da Sé, Kathedrale von hinten (Foto: Nuno, 2011)
Abb. 29: Praça da República (Fotos: oben: Nuno, 2011; unten: Kalina, 2011)
130
Farbabbildungen
Abb. 30: Nächtliches Lager von Obdachlosen im Zentrum (Foto: Gerson, 2011)
Abb. 31: Rua General Carneiro 2009 und 2011, werktags, jeweils zur Mittagszeit. Auf dem linken Foto ist die ganze Fußgängerzone neben den autorisierten Straßenhändler_innen-Ständen am rechten Bildrand mit informellen Händler_innen gesäumt. Mit Inkrafttreten der Operação Delegada sind nur mehr die autorisierten Straßenhändler_innen präsent. Am linken Bildrand ist ein Überwachungsstand der PM zu sehen. (Fotos: Töpfer, 2009 und 2011)
Farbabbildungen
131
Abb. 32: Caminhada Noturna. Treffpunkt der Caminhadas Noturnas vor dem Teatro Municipal, 2011 und Erläuterungen im Rahmen einer Caminhada Noturna von Carlos Beutel am Largo do Arouche, 2009 (Fotos: Töpfer, 2011 und 2009)
Abb. 33: Veranstaltung im Rahmen der Reihe „Piano na Praça“ auf der Praça Dom José Gaspar, Distrikt República (Foto: Töpfer, 2009)
Abb. 34: Veranstaltung im Rahmen der Reihe „No Centro da Arte“ am Praça do Patriarca, Distrikt Sé (Foto: Töpfer, 2010)
132
Farbabbildungen
Abb. 35: Veranstaltung am Largo São Bento, Distrikt Sé, im Rahmen der „Ocupação Cultural“ (Foto: Töpfer, 2009)
Abb. 36: Praça Antonio Prado, Distrikt Sé, mit dem Pavillon der Konzerte im Rahmen der Reihe „Pauliceia Sonora“ (rechts) (Foto: Töpfer, 2008)
Abb. 37: Wohnanlage Rua Nova Barão (Condomínio Empreendimento Nova Barão) (Fotos: links: Kalina, 2011; rechts: Töpfer, 2011)
Farbabbildungen
133
Abb. 38: Polizeistreife an der Straßenecke Rua Direita/ Rua 15 de Novembro, Distrikt Sé (Foto: Glória, 2011)
Abb. 39: Obdachlose vor dem ehemaligen Kaufhaus Mappin an der Straßenecke Rua Barão de Itapetininga / Rua Conselheiro Crispiniano (Foto: Kalina, 2011)
Abb. 40: Rampas antimendigos (Anti-Bettler-Klötze) unter einer Fußgängerbrücke an einer Bushaltestelle an der Avenida Prestes Maia, Distrikt República) (Foto: Töpfer, 2011).
134
Farbabbildungen
Abb. 41: Kundgebung des MNPR am Nationalen Tag des Kampfes der Obdachlosen auf der Praça da Sé, 2010 und 2011 nach dem gemeinsamen Zeltlager im Vale do Anhangabaú. (Fotos: Töpfer, 2010 und 2011)
Abb. 42: Ausschnitt einer Titelseite der Zeitung „O Trecheiro“ [Juli 2011, XX (199)]
Abb. 43: Außenmöblierung mehrerer Restaurants am Largo do Café, Distrikt Sé (Foto: Töpfer, 2011)
Farbabbildungen
135
Abb. 44: Mobile Stände autorisierter Straßenhändler_innen in der Rua Dom José de Barros, Distrikt República (Foto: Töpfer, 2010)
Abb. 45: Autorisierter Straßenhändler vor dem Teatro Municipal an der Straßenecke Rua Barão de Itapetininga / Rua Conselheiro Crispiniano (Foto: Glória, 2011)
136
Farbabbildungen
Abb. 46: Sortier-Areal der Recycling-Genossenschaft CooperGlicério unter einem Viadukt der Hochstraße Avenida Radial Leste-Oeste (Foto: Töpfer, 2011)
4 4.1
FALLSTuDIE SãO PAuLO
VOM SuCHEN uND FINDEN – DAS METHODISCHE VORGEHEN
Die Darstellung und Analyse der Innenstadterneuerung in São Paulo im Kontext maßstäblich übergeordneter Rahmenbedingungen, die Beschreibung der Bedeutung des öffentlichen Raums aus Sicht unterschiedlicher Akteure sowie die Aufarbeitung und Interpretation der Haltungen und Handlungen verschiedener Stakeholder mit Blick auf die Innenstadterneuerungen im Allgemeinen und die Interventionen im öffentlichen Raum im Besonderen erfordern eine umfangreiche Informationssammlung zu und eine breite Beschäftigung mit den Themen. Im Sinne einer möglichst umfassenden Diagnose der Situationen sind einerseits unterschiedliche Maßstabsebenen und andererseits viele (kollektive) Akteure und Stakeholder zu berücksichtigen (coy 2005, S. 753 ff.). Die empirische Forschung wird dabei von den Forschungsfragen geleitet und strukturiert. Dennoch sind viele Rahmenbedingungen und forschungsrelevante Informationen (z. B. über die konkret zu analysierenden Akteure und Stakeholder), deren Kenntnis zur konkreten Beantwortung der jeweiligen Frage unabdingbar ist, zu Beginn der empirischen Feldarbeiten noch offen. um sich diese Informationen zu erschließen, als erkenntnisrelevant zu erfassen und damit die Beantwortung der Fragen möglichst gut zu gewährleisten, wird ein exploratives Forschungsdesign verwendet. Dies meint ein entdeckendes, erkundendes Vorgehen mit möglichst großer Offenheit gegenüber Neuem und unbekanntem (KleeMaNN eT al. 2009, S. 19). Dabei ist anzustreben, sich weitgehend unvoreingenommen dem Neuen und damit schließlich der Beantwortung der Fragen zu nähern, ohne aber im umkehrschluss zu meinen, sich einem „weißen Blatt“ gleich damit auseinandersetzen zu können. Stattdessen ist es wichtig, das Vorwissen, sei es alltagsweltlich, regional oder theoretisch, mit zu bedenken und bei der Betrachtung und Interpretation der (empirischen) Erkenntnisse sich des eigenen Kontextes und Hintergrund(wissen)s als Forscher bewusst zu sein (MeiNeFeld 2010, S. 271 ff.). „Die Offenheit für das Neue hängt […] [dann] nicht davon ab, dass wir auf der inhaltlichen Ebene das Alte und Bekannte nicht bewusst gemacht haben, sondern davon, in welcher Weise wir die Suche nach dem Neuen methodisch gestalten“ (MeiNeFeld 2010, S. 272).
Diese Methoden können sowohl quantitativ als auch qualitativ sein. um dem Neuen nahe zu kommen, empfiehlt es sich, mehrere Methoden anzuwenden, um den ggf. vorhandenen „blinden Fleck“ beim Erkenntnisgewinn der einen durch die Möglichkeiten einer anderen Methode wettzumachen. Aus diesem Grund kommt in dieser Arbeit das Konzept der methodischen Triangulation zur Anwendung. Damit ist gemeint, dass mehrere qualitative Methoden und / oder qualitative und quantitative Methoden miteinander kombiniert werden. Diese Kombination dient dem Zweck der Erkenntniserweiterung mittels der multiperspektivischen Betrachtung und Analyse des Forschungsgegenstands (FlicK 2011, S. 27 ff.; Meier KruKer & rauh 2005, S. 5). Sie ermöglicht außerdem, methodische Zugänge, die situativ bedingt
138
4 Fallstudie São Paulo
nicht realisierbar sind, durch andere, der jeweiligen Situation angemessenere Vorgehensweisen zu ersetzen. Die Methoden orientieren sich in diesem Fall neben der Fragestellung (Gegenstandsangemessenheit) auch am (alltäglichen) Kontext der Beteiligten (MaTTisseK eT al. 2013, S. 139 f.). Im Rahmen der Feldforschung kamen v. a. qualitative Methoden zur Anwendung. Diese bieten sich an, wenn es darum gehen soll, Interessen, Bedürfnisse und Handeln von (kollektiven) Akteuren1 zu verstehen. Dabei ist auch die Erfassung des jeweiligen Kontextes von Bedeutung. Dieser kann durch verschiedene Elemente konstituiert werden, wobei der Raum ein solches Element darstellt.2 Ziel ist es, Sinnzusammenhänge (keine Kausalitäten) zu entdecken und zu verstehen durch das Erfahren von Wahrnehmungen, Meinungen und Handlungen unter Berücksichtigung der Kontexte. Es handelt sich um ein induktives Vorgehen, dessen erstes Anliegen es ist, dass der Forscher „im direkten Kontakt mit den Handelnden ein Verständnis ihrer Wirklichkeit entwickelt“ (MeiNeFeld 1976, S. 107, zit. in KroMrey 2002, S. 535). Nach dieser ersten Konstruktion der Wirklichkeit erfolgt die Deutung der erforschten Gegebenheiten mittels der wissenschaftlichen interpretativen Konstruktion (MaTTisseK eT al. 2013, S. 140 f.). Folgende Methoden kamen im Laufe der Feldforschungsaufenthalte zur Anwendung: teilnehmende Beobachtung, problemzentriertes Leitfadeninterview und partizipatives Fotointerview. Außerdem wurden Sekundärdaten in Form unterschiedlicher Materialien gesammelt. Diese Methoden werden im Anschluss vorgestellt. Zusätzlich wurden Literaturrecherchen durchgeführt, die der Feldforschung einerseits vorausgingen, andererseits diese konstant begleiteten. Letzteres erfolgte v. a. deswegen, um auch in möglichst großem umfang die brasilianische Literatur und damit die dort generierten Forschungsergebnisse zu den Themen der Arbeit zu rezipieren. Dies sollte einerseits der potenziellen Gefahr vorbeugen, den untersu1
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In der handlungstheoretischen Sozialgeographie wird unter Akteur ein individuell handelndes Subjekt verstanden (WerleN 2004, S. 305 ff.). Demnach gibt es keine kollektiven Akteure wie Gruppen und Organisationen, denn nur das Individuum ist in der Lage zu handeln. Allerdings gibt WerleN auch zu bedenken, dass zwar „nur Individuen […] Akteure sein können. Aber es gibt keine Handlungen, die ausschließlich individuell sind“ (WerleN 2004, S. 321). Diese seien vielmehr immer in einen sozial-kulturellen Kontext (vergleichbar der Struktur bei Giddens) eingebettet. und ein solcher Kontext kann auch ein Kollektiv darstellen, in dessen Namen Personen handeln oder Handlungen mit anderen Personen einer Gruppe abstimmen. Der Kontext einer Gruppe, mit der sich das Individuum identifiziert, kann Ziele dieses übergeordneten sozialen Systems beinhalten, die dann wiederum dazu führen, dass das Individuum gruppenkonform handelt (WeichharT 2008, S. 263 ff.). Vor diesem Hintergrund werden in dieser Arbeit Akteure, die in Organisationen (meist) eine zentrale Rolle spielen, als solche behandelt, die als Vertreter für die jeweilige Gruppe sprechen und handeln und so eine Aussage über die Gruppe ermöglichen. In Anlehnung an Giddens Strukturationstheorie kann der Kontext bzw. die Struktur aus Regeln (Wissen um soziale Zusammenhänge) bestehen, ebenso wie aus Ressourcen (Hilfsmittel der Produktion und Reproduktion). Zu diesen Strukturen zählen auch Zeit und Raum. Die Strukturen – und damit auch der Raum – und das Handeln stehen dabei in einem wechselseitigen Verhältnis. Dieses wird dadurch bestimmt, dass das menschliche Handeln die Strukturen konstituiert und produziert sowie umgekehrt die Strukturen Medien dieser Konstituierung und damit die Rahmenbedingungen bilden (WeichharT 2008, S. 280 ff.).
4.1 Vom Suchen und Finden – das methodische Vorgehen
139
chungsraum als ein wissenschaftlich unbehandeltes Gebiet zu interpretieren. Stattdessen bildeten die regional fokussierten Forschungspublikationen einen wichtigen Kontext zur Einordnung auch der eigenen, unmittelbaren Feldforschungsergebnisse. Andererseits sollte mit der ausführlichen Literaturrecherche ermöglicht werden, an die Behandlungen von theoretischen Diskursen und Definitionen von Begriffen im brasilianischen Wissenschaftskontext anzuknüpfen und diese ebenso zu berücksichtigen, um einem zu starken Eurozentrismus bei der Behandlung und Interpretation entgegenzuwirken. Aus diesem Grund baut das theoretische Fundament sowohl auf europäischer – v. a. deutschsprachiger – Literatur auf als auch auf brasilianischer zu dem jeweiligen Thema. Die breit gefächerte Literaturrecherche erfolgte in verschiedenen universitären und außeruniversitären Bibliotheken in São Paulo. An der universidade de São Paulo (uSP) wurden die Bibliotheken der Fakultät für Philosophie, Geistes- und Sozialwissenschaften (inkl. Geographie), der Fakultät für Architektur und Städtebau sowie die Bibliothek des Museu de Arte Contemporânea der uSP aufgesucht. Weitere Recherchen erfolgten in den Bibliotheken der Katholischen universität (PuC) São Paulo, der privaten universität Escola da Cidade und in der munizipalen Bibliothek Mario de Andrade. Die Methode der teilnehmenden Beobachtung stammt aus der Ethnologie und gelangte über die Soziologie in die Humangeographie. In der Soziologie wurde sie zuerst von Forschern der Chicagoer Schule angewendet, die Erkenntnisse zu urbanen Subkulturen erhalten wollten (MaTTisseK eT al. 2013, S. 144; girTler 2001, S. 60). Teilnehmende Beobachtung kann wie folgt definiert werden: „[…] [Wir definieren] teilnehmende Beobachtung als einen Prozeß, in dem die Anwesenheit des Beobachters in einer sozialen Situation zum Zwecke wissenschaftlicher Erhebungen unterhalten wird. Der Beobachter steht in unmittelbarer persönlicher Beziehung zu den Beobachteten, und indem er mit ihnen an ihrem natürlichen Lebensbereich partizipiert, sammelt er Daten“ (schWarTz & schWarTz 1955. S. 344, zit. in girTler 2001, S. 65).
Durch die anwesenheit und das Mitmachen und Beteiligtsein soll das Handeln in unterschiedlichen soziokulturellen umgebungen verstanden werden. Die teilnehmende Beobachtung als qualitative Methode erfolgt dabei systematisch, das heißt, sie ist (wissenschaftlich) intendiert und wird protokolliert und ausgewertet. Gleichzeitig ist sie unstrukturiert, was den Vorteil bietet, für das, was im Feld geschieht, in seiner ganzen Breite offen zu sein und nicht zu stark durch eine vorher festgelegte Struktur gelenkt zu werden. Die teilnehmende Beobachtung kann offen erfolgen, so dass die Beobachteten über die Forschung informiert sind, von der sie Teil werden. Eine andere Möglichkeit ist die verdeckte Beobachtung, bei der die_der Forschende seine Rolle und Intentionen nicht offenlegt. Diese Methode ist beispielsweise im (urbanen) öffentlichen Raum unproblematisch und gangbar, da die_der Forschende hier ohnehin eine distanzierte Haltung zu den Beobachteten hat. In privateren umgebungen gestaltet sich die verdeckte Beobachtung aus praktischen Gründen (Auffallen als fremde Person in einem zuvor mehr oder weniger homogenen umfeld) und ethischen Gründen (Instrumentalisierung der Beobachteten ohne deren Wissen) problematisch. Der Grad der Teilnahme kann von vollständiger Partizipation in einem unmittelbar bekannten umfeld bis zur vollständigen Beobachtung ohne Interaktion mit dem Feld reichen. Die teilnehmende Beobachtung ermöglicht zum
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einen zu erfassen, was Menschen tatsächlich tun, ohne dies aus mehr oder weniger gefilterten Schilderungen (bspw. resultierend aus Interviews) ableiten zu müssen. Zum anderen erlaubt die Teilnahme längerfristige Beobachtungen einer Situation und von Dynamiken sowie das vertiefte Kennenlernen von Personen, als dies bei anderen Methoden der Fall wäre. Eine Herausforderung, der sich die_der Forschende bewusst sein sollte, ist die kaum oder nicht gegebene Trennung zwischen Forschenden und Beforschten. „So wie der Forscher zu einem Teil der Gesellschaft wird, die er untersucht, gleiten Teile dieser Gesellschaft in den Forschungsprozess hinein, und es kommt stellenweise zu einem Verschwimmen, zu einer Auflösung der Distanz zwischen Forscher und Beforschten, zu der Erkenntnis, wie sehr die Wissenschaft ein untrennbarer und integraler Teil des Gesellschaftlichen ist“ (MaTTisseK eT al. 2013, S. 147).
Der Beobachtungsprozess beschränkt sich nicht auf nonverbale Handlungen, sondern die Konversation ist oft ein zentraler Teil des Handelns. Die Kommunikation und deren Festhalten stellen deswegen einen wichtigen Teil der Methode dar. Die Teilnahme ermöglicht außerdem, auch erste offene Gespräche mit Beobachteten zu interessierenden Sachverhalten zu führen, die in späteren, strukturierten Interviews vertieft werden (MaTTisseK eT al. 2013, S. 148 ff.). Im Rahmen der Feldforschung für diese Arbeit erfolgte die teilnehmende Beobachtung vornehmlich bei Sitzungen, Treffen und anderen Versammlungen von Zusammenschlüssen und Organisationen, die sich mit dem Thema der Innenstadterneuerung und / oder dem öffentlichen Raum im weitesten Sinn beschäftigen. Grundsätzlich handelte es sich dabei um offene, teilnehmende Beobachtung, das heißt, die mit dem wissenschaftlichen Interesse verbundene Beobachterrolle wurde klar kommuniziert und es gab aktiven Austausch zwischen allen Beteiligten. Ausnahmen waren größere Veranstaltungen, bei denen aufgrund des Rahmens der Versammlung keine Vorstellung möglich war oder die eigene aktive Teilnahme aufgrund dessen reduziert wurde. Die Auswahl erfolgte themenspezifisch mit dem Ziel, solche Gruppen und deren Aktivitäten kennenzulernen, die sich mit den Themen Innenstadterneuerung, öffentlicher Raum und umgang mit Benachteiligten beschäftigen. Es handelte sich also um ein exploratives Vorgehen. Ermöglicht wurden die Teilnahmen bei nicht öffentlichen Sitzungen oft durch die Hilfe im Rahmen der Feldaufenthalte3 kennengelernter Mittelspersonen, die zum einen über potenziell interessante Teilnahmemöglichkeiten informierten und zum anderen in der Position waren, einen Beobachter bei den entsprechenden Treffen einzuführen. Insgesamt 3
Die Feldaufenthalte im Zentrum São Paulos erfolgten in drei Etappen jeweils in den Monaten Juli bis September / Oktober (in Abhängigkeit der Semesterferien in Österreich) zwischen den Jahren 2009 und 2011 (22.07.2009–09.10.2009; 07.07.2010–30.09.2010; 06.07.2011– 26.09.2011). Den Feldforschungsaufenthalten ging ein einmonatiger Aufenthalt in São Paulo voraus (04.08.2008–29.08.2008), der u. a. der Vorabsondierung der Feldaufenthalte, der ersten Literaturrecherche und der Kontaktaufnahme zu Angehörigen des Instituts für Geographie an der universität von São Paulo diente. Diese Arbeit gibt also mit Blick auf die Erneuerungsmaßnahmen und die (Re)Aktion der diversen Akteure und Stakeholder hauptsächlich den Stand von 2011 wieder. Allerdings fließen teilweise auch jüngere Informationen aus wissenschaftlicher Literatur und Internetrecherchen zu speziellen Themen ein.
4.1 Vom Suchen und Finden – das methodische Vorgehen
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wurden Treffen und Sitzungen unterschiedlicher Organisationen und Vereinigungen wenn möglich mehrmals (in Abhängigkeit vom Wiederholungsrhythmus) zu Beobachtungszwecken besucht. Außer den Beobachtungen in Sitzungen und bei Treffen wurden auch solche durchgeführt, die im öffentlichen Raum stattfanden und zum Ziel hatten, dessen unmittelbare Nutzung zu erfassen. Diese Beobachtungen erfolgten überwiegend verdeckt. Eine Ausnahme stellte in diesem Zusammenhang die wiederholte Teilnahme an den Caminhadas Noturnas (Abendspaziergänge) dar. Hier erfolgte die Teilnahme dem Gros der Teilnehmer_innen gegenüber verdeckt, während den Organisatoren und einigen wenigen Teilnehmer_innen der Forschungshintergrund bekannt war. Dieses Vorgehen war wegen des Fokus (Beobachtung des öffentlichen Raums und der in ihm stattfindenden Aktivtäten – und nicht Beobachtung der Teilnehmer_innen an sich) vertretbar. Die Beobachtungsergebnisse wurden in Mitschriften dokumentiert und im Fall der Beobachtungen im öffentlichen Raum auch mittels Fotographie festgehalten. Parallel und teilweise ergänzend zu den teilnehmenden Beobachtungen wurden Interviews mit Stakeholdern durchgeführt. Während die Beobachtungen den Vorteil eines längerfristigen und unmittelbaren Kontakts mit den handelnden Akteuren bieten, ermöglichen Interviews in relativ kurzer Zeit viele Informationen über einen Sachverhalt zu erhalten und die Stakeholder gewissermaßen als Sprecher der Gruppen zu Aktivitäten und den zugrundeliegenden Motivationen zu befragen. Es gibt eine Vielzahl von Interviewmöglichkeiten, die entsprechend viele mögliche Klassifizierungen mit sich bringen. Diese können sich am Grad der Offenheit (bzgl. des Themas und der Fragen) des Interviews orientieren, an den Teilnehmenden (Einzeloder Gruppeninterviews), am Maß ihrer Strukturierung und Standardisierung oder an bestimmten Interviewinhalten (vgl. hoPF 2010, S. 349 ff.; Meier KruKer & rauh 2005, S. 64 ff.) Das Interview als qualitative Methode ist vergleichsweise offen und ermöglicht zwischen Interviewenden und Interviewten im besten Fall ein Gespräch und damit mehr als ein reines Abfragen und Antworten. Bedeutsam ist ferner, das die_der Interviewende einerseits zwar inhaltlich gut vorbereitet ist, um damit das Interesse am Thema und am Gegenüber zu dokumentieren, andererseits aber nicht zu einer überheblichkeit und Voreingenommenheit gegenüber Aussagen der Interviewten neigt. Eine häufig Anwendung findende Form des Interviews ist das problemzentrierte Leitfadeninterview. Problemzentriert meint hier, dass sich die Thematik des Interviews an einer relevanten gesellschaftlichen Problemstellung, zu der die_der Forschende arbeitet, orientiert. Es ist eine teilstrukturierte Form, die durch die Verwendung eines Leitfadens mit zentralen Fragen gekennzeichnet ist, die dem Interview einen breiten Rahmen geben, ohne dass es aber erforderlich ist, sich innerhalb dieses Rahmens strikt an die Reihenfolge der Themen zu halten, sondern Raum bleibt, Gedanken und verwandte Themen, die die Interviewten ansprechen, mit aufzunehmen (MaTTisseK eT al. 2013, S. 166 ff.). Dabei muss der Leitfaden nicht unbedingt bei allen zu Interviewenden identisch sein, sondern kann neben gleichen Fragen und Themen auch solche umfassen, die an spezielle Kenntnisse der_des jeweiligen Interviewten adressiert sind. In diesem Fall handelt es sich um eine Teilstandardisierung. Teilstandardisierte und -strukturierte problemzentrierte Leitfadeninterviews eignen sich bspw. dann, wenn (führende) Mit-
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glieder einer Gruppe, Leiter von Organisationen, die sich mit der Problemstellung in ihrem Organisationsalltag befassen, oder Personen, die sich beruflich mit den entsprechenden Themen beschäftigen, oder im jeweiligen Zusammenhang relevante Entscheidungsträger_innen interviewt werden sollen. Es geht also in diesen Fällen weniger um die Person an sich, als vielmehr um diese in ihrer Funktion oder mit ihrem speziellen Wissen, sie werden deshalb als Expert_innen bezeichnet (MaTTisseK eT al. 2013, S. 175 ff.). Im Rahmen der Feldforschungen für diese Arbeit wurden teilstandardisierte und -strukturierte problemzentrierte Leitfadeninterviews mit Expert_innen durchgeführt. Diese Expert_innen zeichneten sich entweder durch professionelle Expertise (Stadtplaner_innen; Mitarbeiter_innen der Stadtverwaltung) aus oder waren als Vertreter_innen von (Nichtregierungs)Organisationen von Bedeutung. Dafür wurde ein problemzentrierter Interviewleitfaden (Stichworte: Innenstadt(erneuerung) und öffentlicher Raum und seine Nutzer_innen; s. Anhang 1) zu Hilfe genommen, der je nach Interviewpartner_in entsprechende Anpassungen erfuhr. Die Interviewpartner_innen wurden zunächst auf Basis der Vorabinformationen ausgewählt (Welche Organisation / Gruppe bzw. Vertreter_in davon ist ein themenrelevanter Akteur? Welche beruflich mit den Themen Befassten sind zu interviewen?). Außerdem konnten die bereits Interviewten weitere Vorschläge möglicher Interviewpartner_innen machen (Schneeballverfahren). Ferner wurden Interviewte (Schlüsselpersonen) auch gezielt um Kontakte zu bestimmten anderen Organisationen und deren Vertreter_innen gebeten, deren Informationen als hilfreich gelten konnten.4 Die Interviews fanden immer an den von den zu Interviewenden vorgeschlagenen Orten statt, wobei es sich meist um deren Arbeitsplätze (im weitesten Sinne) handelte und in seltenen Fällen um Cafés oder Restaurants. Es wurden insgesamt 37 Interviews durchgeführt, von denen die meisten nach eingeholter Bewilligung durch die Interviewpartner_innen mit einem Aufnahmegerät aufgezeichnet wurden. In den Fällen, in denen eine Aufnahme nicht möglich war (fehlende Bewilligung, laute Hintergrundgeräusche u. ä.), erfolgte das handschriftliche Protokollieren der Informationen.5 Zusätzliche Notizen gab es zur Sicherheit auch bei den aufgenom4
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Bei den interviewten Repräsentant_innen handelt es sich überwiegend um solche von nichtstaatlichen Interessenvertretungen, sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Genossenschaften. Außerdem wurden Mitarbeiter_innen der Stadtverwaltung und städtischer unternehmen interviewt. Schlussendlich nicht zustande gekommen sind trotz mehrmaliger unterschiedlicher Versuche Interviews mit städtischen Verantwortungsträgern in der Stadtregierung. Das einzige (schriftliche) Interview zu den ursprünglich nur zur Erläuterung des Forschungsvorhabens dienenden Fragen erfolgte mit einem Verantwortlichen des munizipalen Stadtentwicklungsamts. Diese Erfahrung spiegelt in etwa die der interviewten Vertreter_innen der diversen Organisationen mit der Stadtregierung wider. Diese kritisierten in den Interviews oft die fehlenden Kommunikationskanäle mit den städtischen Verantwortungsträgern (vgl. Kap. 4.5 & 4.6). Im empirischen Teil werden die aufgezeichneten Interviews als solche bezeichnet, und diejenigen, die mitprotokolliert wurden, als Gespräche. – Da es sich bei fast allen interviewten Personen um solche handelt, die im Namen einer bestimmten Organisation sprechen und als solche auch überwiegend in der Öffentlichkeit bekannt sind, werden sie in dieser Arbeit mit ihrem Namen und der jeweiligen Funktion innerhalb der Organisation genannt. Dies ist auch für das Verständnis und die Einordnung der jeweiligen Aussage von Bedeutung. So macht es einen unterschied, ob eine Aussage von einem unternehmensnahen NGO-Vertreter oder einem Ver-
4.1 Vom Suchen und Finden – das methodische Vorgehen
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menen Interviews. Die Aufnahmen wurden anschließend zusammenfassend transkribiert. Diese Methode der Aufbereitung wurde gewählt, da das Ziel der Experteninterviews v. a. das Was an Informationen und weniger das Wie war. Bereits während des zusammenfassenden Transkribierens wurden besonders relevante Passagen entweder unmittelbar wörtlich transkribiert oder zur nachträglichen wörtlichen Erfassung mit einer Zeitmarke versehen. Die Niederschriften erfolgten in portugiesischer Sprache, um so den Inhalt nicht durch übersetzungen zu verändern oder sogar (ungewollt) zu verfälschen. um sowohl der allgemeinen Lesbarkeit als auch einer möglichst hohen Transparenz gerecht zu werden, sind in dieser Arbeit Originalzitate im Text auf Deutsch6 wiedergeben und in der Fußnote im portugiesischen Original. Zusätzlich wurde mit der Methode der Fotointerviews gearbeitet. Kolb beschreibt diese Methode: „[…] the photo interview method is useful for eliciting local perspectives on daily life and involving local residents in a scientific research process. using the photo interview, local cultural and social settings become visible as residents take photos that show their perspectives on the research question and their experiences with and understandings of the local context“ (Kolb 2008, o. S.).
Diese Methode geht auf den Soziologen John Collier zurück, der bereits in den 1950er Jahren damit arbeitete. Dass sie dennoch auch gegenwärtig noch eine relativ junge Methode geblieben ist, wird vor dem Hintergrund ihrer vergleichsweise geringen Verbreitung verständlich (deNgler 2007, S. 65 f.). Den Ablauf eines Fotointerviews schildert Kolb (2008) wie folgt: Zunächst werden die Fotointerviewpartner_innen in einer Eröffnungsphase eingeladen, Fotos zu einem bestimmten Forschungsgegenstand aus ihrem Blickwinkel aufzunehmen. Es folgt die aktive Phase des Fotografierens, in der die Teilnehmer_innen selbständig Fotos zu dem Thema aufnehmen. Nachdem die Fotos durch die_den Forschenden entwickelt bzw. ausgedruckt wurden, schließt sich die Phase des Dekodierens an, in der die Fotointerviewpartner_innen mit ihren Fotos konfrontiert und gebeten werden, in einem Gespräch anhand der Fotos diese zu erläutern und ihre Gedanken dazu zu äußern. Schließlich erfolgt die Analyse der Fotos in Verbindung mit den dazugehörenden Aussagen durch die_den Forschenden. Die Fotointerviews bieten den Befragten die Möglichkeit, sich zunächst selbst und unabhängig vom Forschenden mit der jeweiligen Thematik zu befassen. Durch das Fotografieren bereiten sie sich gewissermaßen auf das folgende Interview vor. Sie sind damit intensiver mit der Forschung beschäftigt und werden ein aktiverer Teil, als dies bei einem Interview der Fall wäre. Dies bedeutet aber auch, dass sie dafür über die entsprechenden zeitlichen Ressourcen verfügen müssen. Dies muss vor Beginn der Forschungen kommuniziert werden, und es kann zu einem limitierenden Faktor bei der Auswahl der Teilnehmer_innen werden, wenn diese eine Teilnahme wegen des Zeitaufwands ableh-
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treter einer Obdachlosenbewegung erfolgt. Die organisatorische Zugehörigkeit stellt in diesem Zusammenhang eine wichtige Kontextinformation dar (MaTTisseK eT al. 2013, S. 164). Bei sämtlichen direkten Zitaten aus Interviews, die auf Deutsch wiedergegeben werden, handelt es sich um eigene übersetzungen aus dem portugiesischen Original.
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4 Fallstudie São Paulo
nen. Außerdem bedürfen die Teilnehmenden eines (technischen) Grundverständnisses vom Fotografieren. Wenn diese Anforderungen erfüllt sind, ermöglicht die Methode den Interviewten von Bewohnern zu Anwälten des behandelten Themas zu werden, was auch zu einem Machtausgleich zwischen Befragenden und Befragten beitragen (Kolb 2008) und als Motivator wirken kann. „Der Fotograf ist nicht Objekt und reiner Informant im Hinblick auf vorab festgelegte relevante Fragen, sondern er als Subjekt entscheidet über den umfang seine[r] Teilnahme an der untersuchung durch die Auswahl der von ihm zu fotografierenden Bildmotive“ (deNgler 2007, S. 67).
Auf Basis der Fotos wird dann ein Gespräch zwischen beiden Parteien geführt, in dem die Schilderungen der Fotomotive und der Aufnahmemotive breiten Raum einnehmen und die durch Nachfragen zusätzlich vertieft werden können. Im Rahmen der Feldforschungen wurde diese Methode während der dritten Feldforschung eingesetzt. Ziel war es, mittels dieser Informationen zum öffentlichen Raum aus Sicht von sich im Zentrum aufhaltenden Akteuren zu gewinnen. Dabei wurde Wert auf eine möglichst breite Abdeckung sozioökonomisch unterschiedlich situierter Akteure gelegt. Mit der Aufgabe vertraut gemacht, wurden sie gebeten, Fotos des öffentlichen Raums im Zentrum zu machen und dabei einige Fragen zu berücksichtigen, die auf attraktive bzw. abstoßende Faktoren und Verbesserungen bzw. Verschlechterungen den öffentlichen Raum betreffend abzielten. Nach ihrer Einwilligung bekamen sie eine Einwegkamera7 ausgehändigt und deren Funktionsweise erklärt. Außerdem wurde ein neuerliches Treffen nach ungefähr einer Woche vereinbart, bei dem die Fotograf_innen ihre Kameras wieder zurückgaben, um die Fotos entwickeln zu lassen. Sobald dies erfolgt war, fand ein Treffen zum Gespräch über die Fotos statt. Dabei wurden den Fotograf_innen ihre Fotos in der Reihenfolge der Aufnahmen vorgelegt, wobei sie die Freiheit hatten, diese in der ihnen wichtigen Reihenfolge zu behandeln. Es lagen Karten des Zentrums bereit, die ggf. die Lokalisierung der Motive oder der Aufnahmestandpunkte ermöglichen konnten. Die Aufgabe für den Forschenden bestand darin, das Gespräch mit motivierenden Nachfragen bspw. nach der Intention, der Interpretation oder dem Motiv allgemein zu unterstützen. Auch bei diesen Interviews erfolgte die Aufzeichnung der Gespräche und gleichzeitig wurde die Reihenfolge, in der die Fotos im Gespräch vorkamen, schriftlich mit einigen Stichpunkten festgehalten, um später für die Analyse eine Zuordnung von Fotos und Interviewpassagen zu ermöglichen. Die Fotograf_innen wurden mittels Schlüsselpersonen ausgewählt, die aber zu diesen in keinem besonderen Naheverhältnis standen. Wegen des relativ großen Zeitaufwands und der gleichzeitig begrenzten Zeit für den Einsatz dieser Methode nahmen ein leitender Angestellter, eine selbständige Kosmetikerin, eine Bewohnerin aus der Mittelschicht, ein bzw. zwei Obdachlose/r8 und ein Recyclingmaterial7 8
Es handelte sich um einfache Fix-Fokus-Einwegkameras mit einem 27 Aufnahmen umfassenden Kleinbildfilm mit 400 oder 800 ISO, einem Weitwinkelobjektiv (ca. 35 mm) und einem (schwachen) Blitz. Die Fotos wurden von zwei untereinander befreundeten Obdachlosen aufgenommen; einer der beiden erschien aber schlussendlich nicht beim vereinbarten Interviewtermin zu den Fotos.
4.1 Vom Suchen und Finden – das methodische Vorgehen
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sammler an der Fotobefragung teil. Trotz der kleinen Fallzahl wurden durch die Fotointerviews Erkenntnisse gewonnen, die Ergebnisse anderer Methoden bestätigten oder vertieften. Neben den Interviews, Beobachtungen und Fotointerviews wurden Sekundärdaten gesammelt und ausgewertet. Zum einem erfolgte dies im Rahmen der Interviews, indem die Interviewpartner_innen Material zur Verfügung stellten. Zum anderen wurden zur Ermittlung von Materialien zu Themen der Innenstadterneuerungen und des öffentlichen Raums diverse öffentliche und private Bibliotheken aufgesucht. Dazu zählen die munizipale Bibliothek Mario de Andrade, das Historische Archiv von São Paulo und die Bibliothek der SP-urbanismo ebenso wie die privaten Bibliotheken vom Instituto Pólis und der Associação Viva o Centro. Die dort recherchierten unterlagen umfassen bspw. Informationsbroschüren zu Programmen, Planungsunterlagen von Projekten, Zeitungsartikel und Gesetzestexte. Sie dienten zum einen als Informationsquellen zu Programmen und Projekten der Seine Fotos flossen aus diesem Grund nicht in die Analyse ein. Der Kontakt zu den beiden Obdachlosen erfolgte über Vertreter des Movimento Nacional da População de Rua. Zuvor war der Versuch, das Fotointerview mit einem Obdachlosen, der im Speisesaal für Obdachlose Penaforte Mendes zur Teilnahme gewonnen werden konnte, zu führen, gescheitert. Die Gründe, die zu diesem Scheitern beigetragen haben, zeigen einerseits die Rahmenbedingungen auf, die für diese Methode mindestens erfüllt sein müssen, und zum anderen zeichnen sie nach, wie prekär und unter welchen Begleiterscheinungen die Lebensumstände eines Obdachlosen sind. Die übergabe mit den dazu gehörenden Erklärungen erfolgte im Speisesaal in einem angeschlossenen Büroraum. Bereits bei dieser Gelegenheit erkundigte er sich, was er sagen solle, wenn die Polizei ihn kontrollieren und fragen würde, was er da mache. Daraufhin erhielt er die Visitenkarte des Interviewers, damit im Zweifelsfall Kontakt mit diesem aufgenommen werden kann. Im Gespräch mit einem Mitarbeiter des Speisesaals einige Tage später erzählte er dann tatsächlich von einer Kontrolle, bei der ihn die Polizisten nach dem Zeigen der Visitenkarte gewähren ließen. Der Mitarbeiter berichtete außerdem von der Nachfrage des Obdachlosen, ob er als Gegenleistung Geld für ein Lunch bekommen könne. Daraufhin hatte der Mitarbeiter die Idee, dass man ihn evtl. bei dem Interview zu den Fotos auf ein Lunch einladen könne. Wiederum wenige Tage später gab es dem unmittelbaren Bericht des Obdachlosen zufolge in den frühen Morgenstunden eine Art Razzia bei Obdachlosen, die vor dem Speisesaal übernachteten, an der drei Wagen der GCM und ein LKW beteiligt gewesen seien. Bei diesem Einsatz sei auch Pfefferspray zum Einsatz gekommen und alle Habseligkeiten der Obdachlosen – darunter die Einwegkamera des am Fotointerview teilnehmenden Obdachlosen – seien teilweise zerstört und sämtlich mitgenommen worden. Er erklärte sich aber neuerlich zur Teilnahme bereit und erhielt eine neue Einwegkamera. Nach dem vereinbarten Rückgabedatum wurde er mehrmals nicht angetroffen. Als er sich schließlich erneut vor dem Speisesaal aufhielt, wirkte er verwirrt und hatte die Kamera nicht dabei. Ein weiteres übergabetreffen scheiterte ebenfalls und bei späteren Nachfragen im Speisesaal wurde bekannt, dass er längere Zeit nicht mehr dort erschienen sei. Diese Schilderung des Scheiterns eines Fotointerviews macht deutlich, dass die Lebensumstände des betreffenden Obdachlosen so prekär sind, dass der alltägliche überlebenskampf so viele Ressourcen erfordert, dass die „Nebenbeschäftigung“ schlussendlich trotz eindeutig erklärtem Interesse nicht zu Ende gebracht werden konnte. Dabei spielten zum einen interne Faktoren eine Rolle, zum anderen aber auch externe. Der geschilderte Polizeieinsatz der GCM ist ein solcher externer Faktor, dessen Ablauf zwar von keiner „unabhängigen“ Quelle bestätigt werden kann, dessen Schilderung angesichts ähnlicher Ausführungen und eigener Beobachtungen von – wenn auch nachsichtigeren – Einsätzen der GCM vor dem Speisesaal durchaus glaubwürdig erscheint (vgl. auch Kap. 4.5.4 & 4.6.2.4).
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4 Fallstudie São Paulo
Innenstadterneuerung im weitesten Sinn und zum anderen als zusätzliche Belege zu Aussagen von Stakeholdern und Akteuren im Rahmen der Interviews. Auch wenn die qualitative Datenerhebung im Forschungsprozess dominierte, wurde dennoch auch auf statistische Sekundärdaten zurückgegriffen, um bspw. demographische Entwicklungen angemessen darstellen und belegen zu können. Als hauptsächliche Quelle diente die Internetseite „Infocidade“ (http://infocidade. prefeitura.sp.gov.br/index.php) der Stadtverwaltung von São Paulo, auf der viele für das Munizip relevante und für die Distriktebene vorhandene Daten von Dritten (z. B. IBGE [Censos Demográficos], Arbeitsministerium, Steuerbehörde) zur Verfügung gestellt werden. Diese Daten wurden außerdem herangezogen, um die sozioökonomischen Prozesse im Zentrum nachzuzeichnen und darzustellen. 4.2
SãO PAuLO uND SEINE GESAMTSTÄDTISCHE ENTWICKLuNG
um die folgenden Ausführungen einordnen zu können, ist eine Betrachtung der Geschichte und Entwicklung der Stadt9 São Paulo hilfreich. São Paulo – heute (2010) eine Megastadt mit 11,2 Millionen Einwohner_innen im Munizip und 19,7 Millionen in der Metropolitanregion (IBGE 2011b) – wurde im Jahre 1554 von Jesuiten mit dem Ziel gegründet, die dort ansässige indigene Bevölkerung der Tupí zu christianisieren. Die waldfreien Campos der Piratininga waren schon präkolonial von indigenen Gruppen besiedelt und lagen vergleichsweise verkehrsgünstig an einem schon für die indigene Bevölkerung bedeutenden Weg von der Küste ins Landesinnere (Prado Jr. 1998, S. 12 ff.). São Paulo liegt somit im Hinterland – etwa 70 Kilometer von der Küste – auf der Hochebene Planalto Brasileiro Atlântico, etwa 750 Meter über Meeressniveau und durch den steil zum Meer hin abfallenden Gebirgszug Serra do Mar von der schmalen Küstenebene getrennt (ab’sáber 2004, S. 30, 78 u. 97). „Die Siedlung der Jesuiten besaß [...] eine herausragende strategische Lage. Sie nahm auf der Höhe eines Hügels – wo sich heute das Zentrum der Stadt befindet, genauer gesagt der Largo do Palácio oder Pátio do Colégio – einen Ort ein, der durch steile Abhänge und den Zugang von nur einer Seite natürlichen Schutz bot. Dieser Hügel, 25 bis 30 m über der tiefer liegenden Ebene, formt eine spitze Wasserscheide zwischen den Flüssen Anhangabaú und Tamanduateí, die heute kanalisiert sind; [...]“10 (Prado Jr. 1998, S. 16 f.; eigene übersetzung).
Im Jahr 1560 wurde die Siedlung zur vila erklärt und im frühen 18. Jahrhundert wurde São Paulo bereits das Stadtrecht verliehen. An der Struktur der Siedlung änderte sich jedoch (noch) nicht viel: São Paulo blieb dörflich geprägt. Schon im 9 10
Im Folgenden bezieht sich der überwiegende Teil der Aussagen auf die Stadt bzw. das Munizip São Paulo, also die Kernstadt der gleichnamigen Metropolitanregion mit ihren 39 Munizipien. Wenn Aussagen zu der Metropolitanregion gemacht werden, wird dies explizit erwähnt. „A aldeia jesuítica possuía [...] uma posição estratégica esplêndida. Ocupava no alto de uma colina – onde hoje está o centro da cidade, precisamente o Largo do Palácio ou Pátio do Colégio – um sítio naturalmente defendido por escarpas abruptas e acessível por um lado apenas. Esta colina, alta de 25 a 30 m acima da planície inferior, forma o espigão divisor das águas do Anhangabaú e do Tamanduateí, hoje canalizados; [...].”
4.2 São Paulo und seine gesamtstädtische Entwicklung
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17. Jahrhundert diente die Siedlung als Ausgangspunkt der sogenannten bandeirantes, Eroberer, die Sklavenjagd- und Gold-Expeditionen durchführten und damit dazu beitrugen, den portugiesischen Einflussbereich auf Gebiete jenseits der Linie von Tordesillas auszudehnen. Während dieser Zeit spielten die bandeirantes – und mit ihnen São Paulo – eine gewisse Rolle für die brasilianische Wirtschaft, indem indigene Sklaven von dort aus für die Zuckerrohrplantagen in Küstennähe bereitgestellt wurden (PorTo 1992, S. 9 ff.; berNecKer eT al. 2000, S. 54 ff. u. 89 ff.). Während des Goldrauschs im 18. Jahrhundert diente São Paulo als umschlagplatz für Maultiere und Lebensmittel, die in die Bergbauregionen von Minas Gerais geliefert wurden. Darüber hinaus spielte São Paulo während der wirtschaftlichen Zyklen des Zuckers (im 16. und 17. Jahrhundert) und des Goldes (im 18. Jahrhundert) nur eine untergeordnete Rolle. Der ebenfalls exportorientierte Kaffeeboom, der anschließend folgte, übte erstmals einen deutlichen Einfluss auf die Entwicklung von São Paulo aus. Mitte der 1830er Jahre wurde Brasilien der weltweit führende Kaffeeproduzent und einige Jahre später zusätzlich der dominierende Kaffeeexporteur. In den ersten Jahrzehnten dieses Wirtschaftszyklus kontrollierte die Provinz Rio de Janeiro die Produktion und der Hafen von Rio de Janeiro den Kaffeeexport. Aufgrund von Problemen im Zusammenhang mit der Erschöpfung der Böden und deren Erosion verlagerte sich der Anbau bald in Richtung der Provinz São Paulo, die daraufhin zur größten Kaffeeanbauregion Brasiliens wurde. Angesichts der Entfernung zum Hafen von Rio de Janeiro gewann der Hafen von Santos mehr und mehr an Bedeutung, nicht zuletzt deshalb, weil die neuen Eisenbahnverbindungen zwischen dem Hinterland und dem Hafen den Transport erleichterte. Die Stadt São Paulo diente dabei als zentraler umschlagplatz (KohlhePP 1997, S. 138; berNecKer eT al. 2000, S. 180 ff.; harbecK & MeissNer 2006, S. 269 f.). Der Kaffee wurde mit der Bahn transportiert und São Paulo war dabei der zentrale Eisenbahnknotenpunkt, an dem die Linien aus dem Hinterland zusammenliefen und von wo aus der Weitertransport an den Hafen nach Santos erfolgte. Darüber hinaus fungierte die Stadt als Handelszentrum für den Vertrieb importierter Waren (NoVy 2001, S. 171 f.). São Paulo, und vor allem die sogenannten Kaffeebarone mit ihren Villen in der Stadt, die den Handel dominierten, kamen zu Wohlstand. An der Wende zum 20. Jahrhundert begannen sie – im Gegensatz zu den Großgrundbesitzern in anderen Regionen Brasiliens – ihre Gewinne in die aufkommende Industrie zu investieren. Außerdem stimulierten erhöhte Importabgaben – eine frühe Form der Importsubstitution – die Industrialisierung und entsprechende Investitionen. Zunächst entstanden Industriebranchen, die Lebensmittel und einfache Konsumgüter produzierten, aber die Wirtschaft diversifizierte sich schon bald und eine Investitionsgüterindustrie mit beispielsweise kleinen Zement- und Stahlwerken entwickelte sich (NoVy 2001, S. 174 ff.). Papier- und Chemieindustrien folgten, und die Automobilproduktion begann mit der ersten Fahrzeugfabrik im Jahr 1959. ursprünglich entlang der Eisenbahnlinien angesiedelt, ließen sich die großen Industriebetriebe bereits zu diesem Zeitpunkt zum einen auch entlang der großen Ausfallstraßen nieder und zum anderen nicht mehr nur innerhalb des Munizips São Paulo, sondern auch in die Metropolitanregion, zunächst
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4 Fallstudie São Paulo
v. a. an Standorte in der Region ABC(D)-Paulista11 (Abb. 15 im Farbteil). In den 1960er Jahren wurde die Metropolitanregion São Paulo das führende nationale Zentrum der Automobil-, Elektro- und Pharmaindustrie. Die industrielle Produktion dezentralisierte sich in den 1970er und 1980er Jahren in einem über die Metropolitanregion hinausreichenden Radius, aber die wichtigen Steuerungsfunktionen blieben großteils weiterhin im Munizip São Paulo verortet. São Paulos Wirtschaftsstruktur wandelte sich so von einer überwiegend durch den Industriesektor geprägten Ökonomie hin zur einer, in der bis heute die Bereitstellung von kommerziellen, finanziellen und anderen unternehmensorientierten Dienstleistungen dominiert. Auch wenn die Metropolitanregion São Paulo und v. a. das Hinterland bis in die Gegenwart die führende Industrieregion Südamerikas geblieben sind (KohlhePP 1997, S. 141; NoVy 2001, S. 184 ff.; deáK & schiFFer 2007, S. 106 f.; coy & schMiTT 2007, S. 33), so überwiegt in der Beschäftigungsstruktur im Munizip São Paulo mittlerweile deutlich der Dienstleistungssektor. Im Jahr 2010 sind die meisten der unselbständig und formell Beschäftigten im Dienstleistungsbereich (64,5 %) und im Handel (17,8 %) tätig. Nur 17,5 % arbeiten im sekundären Sektor bestehend aus der Industrie und dem Baugewerbe12 (MTe o. J. b, o. S.). Dieses Verhältnis zwischen den drei Wirtschaftssektoren zeigt für São Paulo eindrücklich die Verschiebung von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsstadt. Der Dienstleistungssektor beschäftigt dabei sowohl gering qualifizierte Arbeitnehmer_innen als auch hochqualifizierte Fachkräfte. Letztere arbeiten zum Beispiel in den sogenannten FIRE-Sektoren (Finanz-, Versicherungs- und Immobilienwirtschaft), anderen unternehmensorientierten Dienstleistungen wie der Informationstechnologie und Forschung & Entwicklung oder in einer der vielen Firmenzentralen nationaler unternehmen sowie in den regionalen Niederlassungen multinationaler Konzerne, die in der Stadt oft ihren nationalen oder sogar kontinentalen Sitz haben (Villaça 2011, S. 49 ff.). Neben den formell Beschäftigten gibt es auch einen hohen Anteil informell Tätiger. Aufgrund der strukturellen Veränderungen in der Wirtschaft ist die Nachfrage nach gering qualifizierten Arbeitskräften seit einiger Zeit gesättigt und ein signifikanter Anteil der Bevölkerung ist auf die Möglichkeiten, die sich im informellen Sektor für das überleben bieten, angewiesen. Gering qualifizierte Arbeitskräfte mit niedriger formaler Bildung verdienen ihren Lebensunterhalt mit informeller Beschäftigung im Handel und mit Reparaturdienstleistungen sowie in begrenzter Zahl im Bau- und herstellenden Gewerbe (iTiKaWa 2006, S. 24 ff.; rolNiK 2003, S. 61 ff.; uN-HABITAT 2010a, S. 50 ff.). Die (wirtschaftliche) Entwicklung findet ihren Widerhall auch in der Zunahme der Bevölkerung der Stadt São Paulos (Abb. 16 im Farbteil). Das starke Bevölkerungswachstum, das mit der Industrialisierung einherging, kann gemäß der ursprünge in drei Phasen unterteilt werden: Einwanderung aus dem Ausland, Binnenmigration und natürliches Bevölkerungswachstum. Bis in die 1870er Jahre blieb das Bevölkerungswachstum der Stadt sehr bescheiden. In den ersten Jahrzehnten 11 12
Die Region ABC(D)-Paulista wird gebildet aus den vier namensgebenden Munizipien Santo André, São Bernardo do Campo, São Caetano do Sul und Diadema, die zusammenhängend südöstlich des Munizips São Paulo liegen. Die restlichen 0,2 % entfallen auf im Bergbau und in der Landwirtschaft Beschäftigte.
4.2 São Paulo und seine gesamtstädtische Entwicklung
149
des 19. Jahrhunderts zählte die Stadt rund 30 000 Einwohner_innen (souza 2004, S. 40). Die Immigration begann in den 1870er Jahren und war durch die Notwendigkeit hervorgerufen, Arbeiter_innen für den Kaffeeanbau zu rekrutieren, nachdem mit dem Verbot der Sklavenimporte 1850 und der endgültigen Abschaffung der Sklaverei im Jahre 1888 diese Arbeitskraft weitgehend weggebrochen war. Kurz danach bedurfte auch die aufstrebende Industrie einer zunehmenden Zahl von Arbeiter_innen. Die größte Einwanderergruppe kam aus Italien, gefolgt von portugiesischen, spanischen und anderen Europäer_innen (berNecKer eT al. 2000, S. 187 ff.). Zwei weitere wichtige Gruppen kamen aus Japan und dem Nahen Osten. Diese Immigrant_innen trugen maßgeblich zum schnellsten relativen Wachstum São Paulos ab Ende des 19. Jahrhundert bei. Zwischen 1890 und 1900 wuchs die Bevölkerung der Stadt jährlich um rund 14%. Im Jahr 1930 veränderte das „Gesetz der zwei Drittel“ das Migrationsmuster erheblich, da es die Industrie verpflichtete, die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer_innen auf ein Drittel der Gesamtbelegschaft zu begrenzen. Dieses Gesetz stimulierte die Binnenmigration vor allem aus dem Nordosten des Landes und limitierte die Immigration (KohlhePP 1997, S. 138; NoVy 2001, S. 179). Bis in die 1970er Jahre blieb der Anteil der Migration am Wachstum der Gesamtbevölkerung höher als 50% (KohlhePP 1994a, S. 57), und die jährliche Wachstumsrate belief sich während dieser Jahrzehnte auf etwa 5,5 %, was zu einem erheblichen Bevölkerungswachstum beitrug. Die dritte und immer noch andauernde Phase ist durch eine relativ moderate Bevölkerungsentwicklung dominiert, die vor allem durch das natürliche Bevölkerungswachstum geprägt ist. Die Jahreswachstumsrate sank auf 0,75 % im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts (aTlas do deseNVolViMeNTo huMaNo No brasil 2013, o. S.). Die Bevölkerungsstruktur São Paulos und ihre Manifestation im Raum sind von Polarisierung und Fragmentierung geprägt. Sozioökonomische unterschiede sind in der brasilianischen Gesellschaft tief verwurzelt13. Der Gini-Koeffizient14, ein Maß zur Bestimmung dieser unterschiede, beträgt 0,58 für alle brasilianischen Städte und immer noch 0,50 für São Paulo (2007) (uN-HABITAT 2009, o. S.). Obwohl laut uN-HABITAT der Koeffizient für São Paulo um 11 % von 1990 bis 2007 (von 0,56 auf 0,50) gesunken sei15, handelt es sich gemäß der Kriterien der 13
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Für die (geschichtlichen) Hintergründe dieser sozioökonomischen Disparitäten und ihrer ursachen sei auf vertiefende brasilianische und deutschsprachige Literatur verwiesen: Freyre 2006; Prado Jr. 1994; FerNaNdes 2008; ribeiro 1995, allg. & S. 208 ff.; lühr 1994, S. 140 ff.; schrader 1994, S. 155 ff. u. a. Der Gini-Koeffizient ist ein Maß für die Einkommensungleichheit in einer Bevölkerung innerhalb eines bestimmten Territoriums. Ein Wert von 1 bedeutet die maximale ungleichverteilung und der Wert 0 die perfekte Gleichverteilung zwischen allen Mitgliedern einer gegebenen Bevölkerung (uN-HABITAT 2010a, 62). Diese Entwicklung der Abnahme kontrastiert mit der diametral entgegenlaufenden Tendenz, die laut aTlas do deseNVolViMeNTo huMaNo No brasil 2013 zu beobachten sei. Danach stieg der Gini-Koeffizient für São Paulo von 1991 (0,56) über 2000 (0,61) bis 2010 (0,62) um 0,06 (aTlas do deseNVolViMeNTo huMaNo No brasil 2013, o. S.). Dieselbe Tendenz geht aus den Daten von DATASuS hervor (0,57; 0,62; 0,64) (DATASuS o. J., o. S.). Im Rahmen dieser Arbeit ist es nicht möglich, den methodischen, statistischen und anderen Gründen nachzugehen, die die voneinander so stark abweichenden Ergebnisse bedingen. Es bleibt aber festzuhal-
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4 Fallstudie São Paulo
uN immer noch um eine sehr hohe ungleichverteilung (uN-HABITAT 2010b, S. 64, 73 & 77). Diese unterschiede finden ihren Niederschlag in der sozialräumlichen Segregation auf der Ebene des Munizips. Für den Zeitraum zwischen Ende des 19. Jahrhunderts und 2000 identifiziert caldeira drei Muster der sozialräumlichen Segregation (2003, S. 211 ff., deutschsprachige Zusammenfassung vgl. harbecK & MeissNer 2006, S. 272 ff.). Das erste räumliche Muster für den Zeitraum vom Ende des 19. Jahrhunderts bis etwa 1940 zeichnet sich durch einen kompakten Stadtgrundriss und eine Heterogenität in der Sozialstruktur aus. Trotz eines beachtlichen Bevölkerungswachstums in diesem Zeitraum expandierte die urbanisierte Fläche nicht mit derselben Rate. Die Heterogenität tritt innerhalb eines eng begrenzten Raumes sowohl hinsichtlich der Funktionen zu Tage als auch bezüglich der Sozialstruktur. Die unterschiede zwischen wohlhabenden und einkommensschwachen Bewohner_innen zeigten sich überwiegend in der Art der Wohngebäude. Während letztere v. a. in überbelegten cortiços oder anderen Massenquartieren sowie in dicht bebauten vilas operárias (Arbeitersiedlungen) zur Miete wohnten, lebten die Mitglieder der Oberschicht in eigenen geräumigen Häusern oder Villen. Allerdings ließen sich auch schon zu jener Zeit erste kleinräumige Segregationserscheinungen erkennen. So wohnten die zur Oberschicht gehörenden Bewohner_innen tendenziell in den höher gelegenen Gegenden, wohingegen die armen Bevölkerungsschichten überwiegend in den Flussniederungen und / oder an Bahngleisen lebten (zola 2007, S. 20.). Im Laufe der Zeit zeichneten sich – bedingt durch den damals bei den Eliten herrschenden Diskurs der Gefahr von Epidemien durch Gesundheits- und Hygieneprobleme – weitere Tendenzen der räumlichen Separierung ab. Aus den dichtbesiedelten innerstädtischen Bereichen zogen sie deshalb in benachbarte, von privaten unternehmern angelegte und parzellierte Viertel wie Campos Elísios (portugiesisch für Champs-Élysées [sic!]), an die Avenida Paulista oder nach Higienópolis, dessen Name, der soviel bedeutet wie „hygienische Stadt“, vor dem beschriebenen Hintergrund der Entstehung des Viertels verständlich wird. Neben diesen ersten Tendenzen der „Selbstsegregation“ („auto-segregação“; souza 1996, S. 53) gibt es auch erste Anzeichen einer „induzierten Segregation“ („segregação induzida“; souza 1996, S. 53). Im Rahmen der umsetzung des „Plano de Avenidas“ von Francisco Prestes Maia ab den 1930er Jahren waren für Straßenerweiterungen einerseits großräumig Abrisse erforderlich. Andererseits führte die mit der Eröffnung neuer Straßen verbesserte Erreichbarkeit zu einem Ansteigen der Immobilienpreise, die zu einem Funktionswandel weg von (günstigem) Wohnraum hin zu rentableren Geschäftslokalen und anderen Dienstleistungen führten. Bewohner_innen, die dem Straßenausbau im wahrsten Sinne des Wortes ‚im Weg‘ waren und / oder die sich die hohen Mieten nicht leisten konnten, wurden so aus dem Zentrum verdrängt (caldeira 2003, S. 213 ff.). Industrie- und Arbeiter_innenviertel entstanden hauptsächlich entlang der Eisenbahnverbindungen ten, dass alle Werte für 2007 / 2010 von uN-HABITAT als Indikator für mindestens sehr hohe ungleichheit angesehen werden, die deutlich über dem Schwellenwert von 0,4 liegen, „above which inequalities may have serious negative political, social and economic consequences for societies if not properly addressed.” (uN-HABITAT 2010a, S. 64).
4.2 São Paulo und seine gesamtstädtische Entwicklung
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nordwestlich des Zentrums, v. a. aber östlich und südöstlich. Viertel aus dieser Zeit sind Barra Funda, Brás, Mooca oder Ipiranga (scarlaTo 2003, S. 444). Das zweite Muster – eine großräumige Trennung der sozialen Schichten – begann sich ab den 1940er Jahren durchzusetzen. Dieses Zentrum-Peripherie-Modell zeichnet sich durch eine disperse, weitläufige urbane Struktur aus, in der die unterschiedlichen Schichten weit voneinander entfernt wohnen. Ermöglicht wurde die überwindung der zunehmenden Distanzen durch die Etablierung des Transports mit Omnibussen für die unterschicht und mit Autos für die Mittel- und Oberschicht. Mit dem Ausbau der urbanen Infrastruktur im Zentrum und in zentrumsnahen Gebieten stiegen in diesen Räumen die Bodenpreise; diese waren so für die Mitglieder der unterschicht nicht mehr erschwinglich. Sie mussten dadurch in immer entferntere, nur bedingt infrastrukturell erschlossene Gebiete ausweichen, wo es ihnen möglich war, mehr oder weniger (ir)reguläre Grundstücke zu erwerben, auf denen sie in Selbstbauweise Häuser errichteten. Im Zentrum und in zentrumsnahen Gebieten gab es für die unterschicht lediglich in unattraktiven Teilbereichen die Möglichkeit in cortiços eine prekäre und dennoch teure unterkunft zu finden. Diese cortiços wurden entweder in leerstehenden ehemaligen Villen, die von den ursprünglichen Bewohner_innen aufgegeben worden waren, eingerichtet oder aber in heruntergekommenen Hochhäusern, um so den Eigentümern ohne zusätzliche Investitionen Einnahmen zu ermöglichen. Die zur Mittel- und v. a. zur Oberschicht gehörenden Bewohner_innen fanden demgegenüber Wohnraum in gut ausgestatteten Gebieten in Zentrumsnähe. Das alleinstehende Wohnhaus als dominante Wohnform wurde dabei bereits in den ersten zwei Jahrzehnten dieser Phase sukzessive von Eigentumswohnungen in Apartmenthochhäusern abgelöst (caldeira 2003, S. 224 ff.). Familien mit hohem Einkommen leben seitdem vor allem in Apartmenthäusern in Gebieten, die sich südwestlich an das Zentrum anschließen. Lagen die oben genannten Viertel noch in unmittelbarer Nachbarschaft des Zentrums, verlagerten sich die weiteren Standorte wohlhabender Viertel der Stadt kontinuierlich in zentrumsfernere Gebiete im Südwesten (SEMPLA 2007, S. 51; coy 2007, S. 59 f.; WehrhahN 2009, S. 103). Das dritte Muster, das ab den 1980er Jahren Raum greift, löst das vorangegangene Muster nicht ab, sondern ergänzt oder überlagert es. Das Makromuster Zentrum-Peripherie wird seitdem zunehmend von Mikromustern durchdrungen, die eine fragmentierte sozioökonomische Stadtstruktur formen. „São Paulo ist heute eine komplexere Metropolregion, die nicht durch die einfache Opposition reiches Zentrum versus arme Peripherie kartiert werden kann. Sie bietet nicht mehr die Möglichkeit, Klassenunterschiede einfach zu ignorieren; [...]“16 (caldeira 2003, S. 231; eigene übersetzung).
Die Ausbreitung der Wohngebiete der Mittel- und Oberschicht in zentrumsfernere Gebiete wie beispielsweise Morumbi oder Vila Andrade im Südwest-Sektor führt zu Konflikten mit dort bereits seit längerem ansässigen Bewohner_innen der unter16
„São Paulo hoje é uma região metropolitana mais complexa, que não pode ser mapeada pela simples oposição centro rico versus periferia pobre. Ela não oferece mais a possibilidade de ignorar as diferenças de classes; [...].”
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4 Fallstudie São Paulo
schicht, die sich im Verlauf dieses Prozesses schlussendlich oft mit dem Zwang der umsiedlung konfrontiert sehen, da sie die mit der enormen Aufwertung verbundenen Kosten nicht mehr tragen können. Bei diesen neuen Wohngebieten handelt es sich überwiegend um große, infrastrukturell umfassend ausgestattete, ummauerte und anderweitig gesicherte Wohnkomplexe bestehend aus Apartmenthochhäusern, sogenannte condomínios fechados (verticais) (bewachte, vertikale Wohnanlagen) (caldeira 2003, S. 243 ff.). Auf der anderen Seite der sozialen Skala kam es ab den 1980er Jahren aufgrund von infrastrukturellen und rechtlichen Errungenschaften, die auf Druck sozialer Bewegungen, die mit der Redemokratisierung an Macht gewannen, zustande kamen, auch in anderen peripheren Gebieten zu Aufwertungen. Gleichzeitig stagnierte oder sank aufgrund der wirtschaftlichen Rezession in den 1980er Jahren das verfügbare Einkommen der v. a. in den Selbstbau-Vierteln lebenden Arbeiterschaft. Dies hatte zur Folge, dass sich ein Teil der dort ansässigen Bevölkerung diese Wohnlagen nicht mehr leisten konnte und gezwungen war in favelas und cortiços zu migrieren. Entsprechend stieg der Anteil der Gesamtbevölkerung, der in favelas lebt, seit den 1980er Jahren kontinuierlich von ca. 4,4 % im Jahr 1980 auf ca. 13,9 % im Jahr 2008 (saraiVa & Marques 2007, S. 17; sehabhabi / ceM o. J., o. S.). Ein ebenfalls weiterhin hoher Anteil der Gesamtbevölkerung lebt in cortiços. In diesem Fall belaufen sich die Schätzungen des Anteils von cortiço-Bewohner_innen an der Gesamtbevölkerung auf hohe einstellige Prozentwerte17. Während sich die favelas zum ganz überwiegenden Teil in der Peripherie befinden, konzentrieren sich die cortiços mehrheitlich im Zentrum und in an dieses angrenzenden Altindustriegebieten (Subprefeituras Sé und Mooca) (caldeira 2003, S. 240). Im Zuge der Aufwertungsversuche im Zentrum in den vergangenen 20 Jahren, kommt es auch dort zu einem kleinteiligen Nebeneinander aufgewerteter und vernachlässigter Bereiche. Letztere kommen im Laufe der Zeit mitunter ebenfalls unter Aufwertungsdruck, der die Verdrängung der unterschicht aus diesen Gebieten zur Folge hat (Details vgl. Kap. 4.4) Während die Makrostruktur São Paulos also zwar weiterhin durch eine großräumige Polarisierung gekennzeichnet ist, wird diese durch die beschriebenen Prozesse der Fragmentierung in zunehmendem Maße von einer Mikrostruktur aus kleinen „Zitadellen“ und „Ghettos“18 durchsetzt. Die Zitadellen sind beispielsweise 17
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Verlässliche Angaben bzgl. der Bewohner_innen in cortiços sind kaum zu erhalten. Darauf weist schon caldeira hin, die für die frühen 1990er Jahre eine Diskrepanz von fast 10 % zwischen zwei Studien bezüglich des Anteils der cortiço-Bewohner_innen an der Gesamtbevölkerung São Paulos konstatiert (caldeira 2003, S. 240). KoWaricK greift in verschiedenen Veröffentlichungen – zuletzt 2013 – auf unterschiedliche Quellen zurück, die den Anteil seit den 1970er Jahren auf zwischen 6 und 9 % schätzen (2013, S. 60). Das Begriffspaar aus den beiden Metaphern wurde von FriedMaNN & WolFF in ihrem Artikel „World city formation“ 1982 als eine Möglichkeit der intraurbanen Gliederung von Weltstädten verwendet. „In its internal spatial structure, the world city may be divided […] into the ‘citadel’ and the ‘ghetto’. Its geography is typically one of inequality and class domination. The citadel serves the specific needs of the transnational elites and their immediate retinues who rule the city’s economic life, the ghetto is adapted to the circumstances of the permanent underclass“ (FriedMaNN & WolFF 1982, s. 325 – weitere Ansätze intraurbaner sozioökonomischer [auch differenzierterer] Gliederungen s. lohde-reiFF 2003, S. 28 ff.; holM 2008). Marcuse betont im
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gated communities, condomínios verticais und anspruchsvolle Einkaufszentren sowie gehobene Bürohochhäuser, ausgestattet mit Zäunen, Mauern, Wachtürmen und Sicherheitspersonal. Die Ghettos können favelas, informelle Slums insbesondere in peripheren Lagen und cortiços, innerstädtische Slums, sein. Alle diese Stadtfragmente sind durch eine homogene sozioökonomische Struktur nach innen gekennzeichnet bei gleichzeitig scharfer Abgrenzung nach außen zu den umgebenden Nachbarschaften (coy 2007, S. 62 f.; borsdorF & coy 2009, S. 346 ff.). Dennoch führt diese kleinteilige Fragmentierung dazu, dass die sozialen Gegensätze im Stadtraum (wieder) offensichtlicher werden. Diese (neue) räumliche Nähe von Arm und Reich führt v. a. bei letzterer Bevölkerungsgruppe zu einem gestiegenen unsicherheitsgefühl, dem nicht zuletzt durch einflussreiche, weil auflagenstarke Medien Nachdruck verliehen wird. So titelte das größte illustrierte Nachrichtenmagazin Veja 2001 unter einer suggestiven Fotokollage aus bildlichen Versatzstücken, die São Paulo andeuten: „‚Die Mittelschichtviertel sind im Begriff, von einem Gürtel aus Armut und Kriminalität erdrückt zu werden, der sechsmal schneller wächst als die zentralen Gebiete der brasilianischen Metropolen.‘ Die Bedrohung für die ‚Stadt‘, verstanden als die Stadt der Eliten, ist klar. Sie kommt von den Armen, deren Anteil, gemäß der Logik des Textes, übermäßig wächst und die zusätzlich kriminell sind“ (Ferreira 2011, S. 79; eigene übersetzung).
Konzentrierte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Diskurs zur Begründung einer Trennung der unterschicht von der Mittel- und der Oberschicht hauptsächlich auf Themen wie Hygiene und die Gefahr von Epidemien, fokussiert der Diskurs zur Rechtfertigung der Abschottung Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts auf die zunehmende Gewalt und Kriminalität in der Stadt (caldeira 2003, S. 101 ff.; harbecK & MeissNer 2006, S. 259). Seit den 1980er Jahren ist eine Zunahme von (gewalttätigen) Delikten und Verbrechen zu beobachten. Aufgrund der Komplexität der Thematik ist es mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, in diesem Bereich zu verlässlichen Aussagen zu kommen. Zahlen zu den jährlichen Mordrate gelten dabei als vergleichsweise aussagekräftig, da hier – anders als bei kleineren Delikten19 – die Bereitschaft zur Aufgabe einer Anzeige ebenso wie deren Bearbeitung
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Fall der Ghettos die fehlende Wahlmöglichkeit der dort Ansässigen, die oft einer (ethnischen) Bevölkerungsgruppe angehörten, womit er an die historische Bedeutung des Begriffs anschließt. Zitadellen zeichnen sich nach Marcuse demnach andererseits dadurch aus, dass sich die dort ansässige oder verkehrende Bevölkerung symbolisch oder physisch von dem übrigen Stadtraum abschirmt (vgl. glasze 2003, S. 27 ff.). Die räumliche Polarisierung zwischen sozioökonomischen und/oder soziokulturellen ungleichheiten, die in diesem pointierten (aber auch vereinfachenden, weil auf die zwei Pole reduzierten) Begriffspaar zum Ausdruck kommt, kann mittlerweile nicht nur in global cities, sondern auch in anderen Metropolen in unterschiedlichen Ausprägungen und Intensitäten beobachtet werden. Im Falle Brasiliens sind beide Extreme überwiegend sozioökonomisch bedingt, wobei rassistische Einflusselemente – v. a. im Hinblick auf die afrobrasilianische Bevölkerung – als ein Teilaspekt nicht negiert werden können. caldeira beschäftigt sich eingehend mit den methodischen Herausforderungen, die mit Statistiken im Bereich Gewalt und Kriminalität verbunden sind. Statistiken bilden demnach nie das Ausmaß des „realen“ Verbrechens ab, sondern maximal Kriminalitätstendenzen. Meist gehen statistische Erhebungen auf erstattete Anzeigen bei der Polizei zurück. V. a. Anzeigen von (räu-
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am höchsten ist. Die Mordrate – gemessen in Fällen pro 100 000 Einwohner_innen pro territorialer Einheit und Jahr (ohne Berücksichtigung der von Polizisten / von der Polizei Getöteten) – ist im Munizip São Paulo seit den 1980er Jahren bis um die Jahrtausendwende relativ kontinuierlich von ca. 15 auf über 50 gestiegen. Seitdem kam es zu einer markanten Abnahme und gegenwärtig (2012) liegt die Mordrate mit 12 unter der Anfang der 1980er Jahre (caldeira 2003, S.119 f.; Miraglia 2011, S. 326 f.; NEV / uSP o. J., o. S.). Dieser allgemeine, abnehmende Trend lässt sich für ganz São Paulo beobachten. Allerdings sind die räumlichen Diskrepanzen der Mordraten innerhalb des Stadtgebiets beträchtlich. In sowohl sozioökonomisch als auch (oft) räumlich peripheren Stadtvierteln liegen die Raten oft immer noch um oder sogar jenseits der 20, während sie sich in wohlhabenden, relativ zentralen Stadtvierteln oft im niedrigen einstelligen Bereich bewegen (NEV / uSP o. J., o. S.)20. Während Gewaltverbrechen wie Morde überwiegend in peripheren Stadtvierteln verzeichnet werden, sind Eigentumsdelikte wie Diebstahl und Raub tendenziell im gesamten Stadtgebiet und damit auch in zentraleren Stadtteilen zu beobachten. Diese nehmen im Gegensatz zu der Mordrate entweder vergleichsweise geringfügig ab oder verharren seit einem Jahrzehnt auf ähnlichem Niveau (SEADE o. J., o. S.). Die auf hohem Stand stagnierenden Zahlen für Eigentumsdelikte einerseits und andererseits die überlieferte Angst – basierend auf dem gewalttätigen vorangegangenen Jahrzehnt und einem neueren, zwar singulären, aber sehr einprägsamen Ereignis21 – bilden die Grundlage für ein sehr hohes unsicherheitsgefühl bzw.
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berischen) Diebstählen werden zum einen relativ seltener erstattet und zum anderen von Seiten der Polizei deutlich weniger ernst genommen, da von keiner der Parteien eine wirkliche Aufklärung erwartet wird. Dies hängt nicht zuletzt mit einem geringen Vertrauen in den Polizeiapparat und das Justizsystem zusammen. Dabei spielt auch die Zugehörigkeit zur jeweiligen sozioökonomischen Schicht eine Rolle. Oft gilt, dass Delikte und Verbrechen, denen Mitglieder der Mittel- und Oberschicht zum Opfer fallen, besser verfolgt werden als solche, die an Mitgliedern der unterschicht begangen werden. Den unterschiedlichen Erwartungshaltungen bezüglich möglicher Aufklärung ist eine differenzierte Anzeigebereitschaft geschuldet, die wiederum zu Verzerrungen zwischen der tatsächlichen und der erhobenen Anzahl von Fällen beiträgt. Ferner ist die Klassifizierung des jeweiligen Delikts durch die Polizei oft arbiträr. Auch wenn alle diese Probleme auch bei Tötungsdelikten zu bedenken sind, so sind Daten dazu dennoch am genauesten. Zu berücksichtigen ist bei diesen Daten aber, dass die nicht unerhebliche Anzahl der durch die Polizei in Einsätzen Getöteten – als ein Teil der institutionalisierten Gewalt, der v. a. Bewohner_innen der Peripherie ausgesetzt sind – nicht in die allgemeine Statistik einfließt (caldeira 2003, S. 101 ff. & S. 157 ff.; uN-HABITAT 2010a, S. 70). Eine Ausnahme des Peripherie-Zentrum-Gefälles bezüglich der Morde bilden die unmittelbaren Zentrumsdistrikte wie Sé, Brás, Bom Retiro und República, die trotz eines ebenfalls zu verzeichnenden Rückgangs der Mordraten auch 2012 noch sehr hohe Werte aufweisen (caldeira 2003, S. 123; NEV / uSP o. J., o. S.). Neben regional unterschiedlichen Verteilungsmustern ist ferner zu beobachten, dass Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren überdurchschnittlich häufig Opfer von Morden werden und umgekehrt auch öfter Täter sind. Die Mehrheit beider Gruppen stammt dabei aus peripheren Stadtvierteln, ist dunkelhäutig und männlich (Miraglia 2011, S. 321). Im Mai 2006 kam es zu Ausschreitungen der kriminellen Organisation Primeiro Comando da Capital (PCC; Erstes Kommando der Hauptstadt) v. a. gegen den Polizeiapparat, die in São Paulo zu einer Art Ausnahmezustand in der gesamten Stadt führten (Miraglia 2011, S. 339 ff.; uN-HABITAT 2010a, S. 69 f. u. special feature 16).
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umgekehrt ein gesteigertes Sicherheitsbedürfnis in weiten Teilen der Gesellschaft. Dies bringt verschiedene Konsequenzen mit sich. Allgemein ist eine hohe Bereitschaft zur Abschottung zu beobachten, die unabhängig von den sozialen Schichten bedeutend ist, sich aber in ihrer jeweiligen Ausgestaltung an den finanziellen Möglichkeiten orientiert. Die Maßnahmen reichen so von einfachen Vergitterungen von Türen und Fenstern über Einzäunungen und ummauerungen bis hin zu elektronischen überwachungsmaßnahmen und zur Beschäftigung privaten Sicherheitspersonals – nicht zuletzt angesichts eines geringen Vertrauens in den öffentlichen Sicherheitsapparat und die Justiz (uN-HABITAT 2010a, S. 70 ff.; caldeira 2003, S. 204 ff.). Angesichts der räumlichen ungleichverteilung von Gewalt- und Eigentumsdelikten werden ferner die Trennungen zwischen den unterschiedlichen soziökonomischen Schichten diskursiv verstärkt. „[...] the favelas and the favelados become stigmatized as a locus of crime and lawlessness, further reifying the existing socioeconomic divide by adding fear and suspicion to the separation of social groups.” (uN-HABITAT 2010a, S. 70).
Es kommt also aufgrund der Häufung der Gewaltverbrechen in sozioökonomisch benachteiligten Gebieten zu einer negativen Zuschreibung für die Gebiete selbst und in Folge für die dort lebenden Bewohner_innen. Die Angst der Mitglieder der Mittel- und Oberschicht wird somit unabhängig vom jeweiligen Ort eines Verbrechens und den damit verbundenen umständen und erweitert sich pauschal auf alle Armen und outsiders. Damit einher geht die oftmalige (diskursive) Gleichsetzung des öffentlichen Raums mit einem Raum der Kriminalität, Gewalt und Verwahrlosung durch die sozioökonomisch begünstigteren Gruppen, der folglich durch diese nach Möglichkeit gemieden wird (rolNiK 2008, S. 15). Zusätzlich zu den großen sozioökonomischen Disparitäten sieht sich São Paulo auch mit weiteren Herausforderungen konfrontiert, die – in unterschiedlichen Ausprägungen und Intensitäten – alle Bewohner_innen betreffen. Ein wichtiges Thema ist in diesem Zusammenhang die Verkehrs- und Transportinfrastruktur, die von einer permanenten überlastung betroffen ist (deáK & schiFFer 2007, S. 102 f.; rolNiK & KliNToWiTz 2011, S. 89 ff.). Das u-Bahn-Netz ist wenig ausgebaut und bedient v. a. den dicht besiedelten Osten der Stadt nur unzureichend. Im Gegensatz dazu sind in den letzten Jahren die neuen Strecken vorwiegend in den reicheren Stadtteilen im Südwesten errichtet worden, obwohl die Menschen dort in der Regel den PKW gegenüber den öffentlichen Verkehrsmitteln bevorzugen. Die stetig steigende Anzahl von Fahrzeugen verursacht massive Staus und trägt zur starken Luftverschmutzung bei, die ein ständiges Problem vor allem während der trockenen Wintermonate darstellt. Im Sommer verursachen umgekehrt starke Regenfälle, verbunden mit weitreichender Bodenversiegelung, oft überschwemmungen und Erdrutsche (ross 2004, S. 203 ff.). São Paulo präsentiert sich heute als eine fragmentierte Stadt. Die Stadtstruktur setzt sich aus mehr oder weniger kleinen Fragmenten zusammen, die eine heterogene Stadt bilden. Parallel ablaufende Prozesse tragen zur Bildung und zum Erhalt solcher Fragmente bei. Der Geograph Fred scholz erklärt diese Strukturen und Prozesse mit der Theorie der fragmentierenden Entwicklung (scholz 2004, S. 215 ff.). Die durch die Globalisierung ausgelösten, oft zu beobachtenden und
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4 Fallstudie São Paulo
empirisch gestützten Widersprüche sind Ausgangspunkt der Theorie. Sie verursachen Wohlstand und Integration auf der einen Seite und Armut und Ausgrenzung auf der anderen. Nach den Grundsätzen des globalen Wettbewerbs und des Neoliberalismus begünstigt die vorliegende sozioökonomische Entwicklung nur spezielle Gruppen in begrenzten Regionen, die zu Wohlstand kommen und in der Lage sind, davon für eine bestimmte Zeit zu profitieren. Eine solche Entwicklung trägt weder zur Entwicklung von Ländern als Ganzes bei, wie es die Theorie der Nachholenden Entwicklung postulieren würde, noch ist sie unbedingt von Dauer. Im Fall von São Paulo führt die fragmentierende Entwicklung zur Ausbildung eines räumlichen Muster aus verschiedenen Fragmenten. Die Theorie gliedert Raumeinheiten in drei allgemeine Kategorien: globale ‚Orte‘, globalisierte ‚Orte‘ und die ausgegrenzte ‚Restwelt‘ (scholz 2004, S. 221 ff.). scholz passt das Modell auch auf globale und globalisierte Städte an, mit dem Argument, dass die Fragmentierung nicht nur Raumeinheiten auf der Makroebene, bspw. Nationalstaaten, sondern auch solche auf der Mikroebene beeinflusst. Eine globalisierte Stadt besteht demnach aus global integrierten Fragmenten, die sich wiederum aus Teilfragmenten wie Bürohochhauskomplexen, Villen- sowie Hüttenvierteln und Freizeit- und Konsumeinrichtungen zusammensetzen, und einer großen Peripherie (scholz 2004, S. 225 ff.). Diese Muster können auch in São Paulo beobachtet werden. Mit Blick auf den global integrierten Quadranten südwestlich der Innenstadt22 wird offensichtlich, dass es sich dabei nicht nur um ein Gebiet von Bürotürmen und exklusiven Wohngegenden und gesicherten Wohnenklaven handelt, sondern dort auch Dienstleistungskomplexe wie Shoppingcenter sowie favelas, in denen sozioökonomisch benachteiligte Gruppen leben, verortet sind. Folglich kann dieser Sektor als ein global integriertes Stadtfragment einer globalisierten Stadt beschrieben werden. Exklusive gated communities, Industriegebiete mit Massenproduktion (z. B. die Automobilwerke in den ABCD-Städten im Südosten der Metropolitanregion) und FreizeitEnklaven (z. B. Jockey- und Country-Clubs) sind weitere globalisierte Fragmente der Stadt. Die sogenannte neue Peripherie umfasst den größten Teil der Stadt und setzt sich aus den favelas und cortiços, den großen Projekten des sozialen Wohnungsbaus und den in Selbstbauweise entstandenen Stadtvierteln zusammen. Jorge WilheiM, Stadtplaner und ehemaliger Planungsdezernent von São Paulo, fokussiert auf die Bevölkerung der verschiedenen Fragmente. „Globalization did enhance a global urban network: a ‘virtual archipelago’ of islands on which modern urban consumers share similar habits and behaviors, consume similar products and services, communicate in computer-English, live an accelerated life of speedy decisions, and have a sufficient family income to thrive in this life-style. These islands of modern consumerism are surrounded by oceans of excluded ‘swimmers’ or ‘drowned’ people, that is, the realm of excluded people. In New york or Berlin, the islands might be large and the ocean small; in Mumbai and Lagos, the islands are small and the ocean large. Tiny Zurich is a global city, while huge Lagos is not. São Paulo might be considered half the way between Mumbai and New york. Somehow a little nearer to this latter […].” (WilheiM 2007, S. 331 f.).
22
Hierunter kann man u. a. die Distrikte Alto de Pinheiros, Pinheiros, Jardim Paulista, Butantã, Morumbi, Itaím Bibi, Moema und Santo Amaro subsumieren.
4.3 Das Zentrum
157
Die fragmentierte Struktur São Paulos einerseits und die fragmentierenden Prozesse andererseits prägen heute das Stadtbild und seine Entwicklung. Sie wirken aber nicht nur auf die gebaute umwelt, sondern bringen auch weitreichende Konsequenzen für die Menschen mit sich. Der Betroffenheitsgrad und die Handlungsmöglichkeiten sind dabei nicht zuletzt von den sozioökonomischen Ausgangslagen der Einzelnen mitbestimmt. Die kleinteilige Fragmentierung und ihre Konsequenzen treten im Zentrum São Paulos besonders zu Tage, da dieses für viele Akteure aus unterschiedlichen und gegebenenfalls widersprüchlichen Gründen attraktiv ist oder im Zuge von intervenierenden Maßnahmen wieder attraktiv wird. Angesichts dessen dient die folgende Betrachtung der Entwicklung und der Struktur des Zentrums einerseits als Fokussierung des gesamtstädtisch Beschriebenen und andererseits als Basis zur Darstellung und Interpretation der Innenstadterneuerungsmaßnahmen und ihrer Folgen. 4.3 4.3.1
DAS ZENTRuM
Das Zentrum ist das Zentrum ist das Zentrum – der Versuch einer Eingrenzung
Für die Benennung des zentral(st) gelegenen Raums einer Stadt steht allein in der Geographie eine Vielzahl von Begriffen zur Verfügung. heiNeberg (2006, S. 168) nennt „Stadtmitte, Central Business District (CBD), Innenstadt, Stadtzentrum, City [und] zentraler Standortraum“ als mögliche Benennungen. Diese stellen einerseits keine Synonyme dar, bezeichnen andererseits aber doch ähnliche Räume in Städten, wobei manche engere und konkretere Definitionen für den zu beschreibenden Raum umfassen als andere. Der Begriff City wird v. a. im deutschsprachigen Raum für primär anhand von wirtschaftsfunktionalen Charakteristika beschriebene Räume verwendet. Diesen werden weitere Attribute zugeordnet. Problematisch ist dieser ursprünglich zwar aus dem Englischen entlehnte Begriff angesichts seiner im angloamerikanischen Raum allgemein anderweitigen Verwendung. Hier steht er allgemein für die Bezeichnung einer Großstadt als Ganze oder aber zumindest für einen über die City im deutschsprachigen Sinn hinausgehenden Raum. Der City im deutschsprachigen Raum entspricht im angloamerikanischen Raum am ehesten der Begriff des Central Business District (CBD). Auch dieser Begriff basiert vornehmlich auf wirtschaftsfunktionalen Kriterien, ergänzt um Indizes zu baulich-physiognomischen Merkmale (heiNeberg 2006, S. 168 ff.; FassMaNN 2009, S. 116 ff.). Angesichts dieser einerseits vergleichsweise engen Begriffsdefinitionen und andererseits der unterschiedlichen Bedeutung derselben Ausdrücke wird auf die Verwendung dieser beiden Termini innerhalb dieser Arbeit verzichtet. Stattdessen finden hier zwar weniger scharf definierte, aber inhaltlich breitere Begriffe wie Innenstadt oder (Stadt)Zentrum Verwendung, die den umfang dessen, was einen zentralen Raum einer Stadt ausmacht, berücksichtigen. Die Innenstadt oder das Zentrum einer (Groß)Stadt zeichnet sich also durch eine Reihe von funktionalen, physiognomischen und sozialen Charakteristika aus.
158
4 Fallstudie São Paulo
Als solche genannt werden können eine große Bedeutung des tertiären Sektors (der wiederum räumlich nach Branchen gegliedert sein kann) bei gleichzeitig geringerem Anteil anderer Funktionen wie Wohnen oder produzierendem Gewerbe, ein übergewicht an Tagbevölkerung, eine bauliche Dichte und Vertikalisierung und damit einhergehend eine vertikale Nutzungsdifferenzierung, eine Einzelhandelsinfrastruktur aus Passagen, Kaufhäusern und Fußgängerzonen und eine Reduzierung des (ruhenden) Verkehrs (FassMaNN 2009, S. 116 ff.; heiNeberg 2006, S. 170 ff.). Bedeutsam ist außerdem die Thematik der Erreichbarkeit, die das Zentrum im Idealfall für alle Mitglieder der städtischen Gemeinschaft mit möglichst geringem Zeit- und Kostenaufwand zugänglich macht. Ferner zeichnet sich ein städtisches Zentrum auch durch seine Einmaligkeit und den damit in Verbindung stehenden symbolischen Wert aus, der sich nicht zuletzt aus seiner Materialität in Form von repräsentativen Gebäuden, Straßen und der Gestaltung öffentlicher Räume ableitet. Besondere identitätsstiftende Bedeutung für die Stadt und ihre Gesellschaft erlangt die Innenstadt in jüngerer Vergangenheit (zumindest in gängigen Diskursen), wenn sie gleichzeitig das historische Zentrum der Stadt darstellt (PellNiTz 2013, S. 35; v. a. zu Lateinamerika: hierNaux 2013, S. 382 ff.). In Gesellschaften, die durch große sozioökonomische ungleichheiten bestimmt sind, sind die Einflussmöglichkeiten auf die jeweiligen Faktoren unterschiedlich. Die potenzielle Veränderung der Zugänglichkeit sowie auch die materiellen Gestaltungsmöglichkeiten zugunsten der Einflussnahme auf die Nutzung und die Symbolik sind zwei Beispiele, wie zum Vorteil von Teilgruppen der Gesellschaft und durch diese gesteuert auf das Stadtzentrum eingewirkt werden kann (Villaça 1998, S. 239 ff.; hierNaux 2013, S. 388 ff.). Ähnlich wie bei dem allgemeinen Stadtbegriff an sich gibt es aber auch bei Innenstädten weitere mögliche Merkmale der Abgrenzung gegenüber anderen Stadträumen. Der soziologische (Groß)Stadtbegriff beinhaltet oft den Terminus der urbanität. urbanität – verstanden als städtische Lebensweise oder Verhaltensweise des (Groß)Städters – bedarf zu ihrer Realisierung zu einem gewissen Grad räumlicher Strukturmerkmale, die häufig in Innenstädten zu finden sind, wie z. B. innerstädtische, öffentliche Parks, Plätze und Boulevards, kulturelle Einrichtungen wie Konzertsäle und Theater sowie halböffentliche Galerien, Cafés und Kaufhäuser (schäFers 2006, S. 15 u. 161 f.). Außerdem spielen auch hier politisch-administrative Kriterien für die Festlegung der jeweiligen Territorien eine wichtige Rolle. Diese verschiedenen Merkmale einer Innenstadt können dafür herangezogen werden, diesen zentralen Stadtraum zu bestimmen und abzugrenzen. Das Zentrum São Paulos einzugrenzen ist angesichts der vielfältigen Indikatoren ein nicht ganz triviales unterfangen – nicht zuletzt deswegen, weil im Falle von São Paulo immer häufiger von verschiedenen Zentren die Rede ist, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet haben. In einer vielzitierten Arbeit der Geographin Nice Lecocq Müller aus den 1950er Jahren – und damit aus der Zeit der anfänglichen Herausbildung erster weiterer, unzusammenhängender Zentrumsfragmente – widmet diese sich der untersuchung des Zentrums anhand funktionaler Nutzungskriterien (vgl. Kara José 2010, S. 17 ff.; FeldMaN 2004, S. 37 ff.; araVecchia & boNduKi 2004 S. 1 f.). In ihrer Studie unterschied sie hauptsächlich zwischen einem komplexen Bündel zentraler Funktionen einerseits und der Wohnfunktion anderer-
4.3 Das Zentrum
159
seits sowie verschiedenen übergangsnutzungen. Das Zentrum („Centro“), geprägt durch die Dominanz zentraler Funktionen, umfasste seinerzeit das Territorium zwischen den Plätzen Largo São Bento, Praça da Sé und Praça do Patriarca sowie ein Gebiet um die Praça Ramos de Azevedo23. Die Erweiterung des Zentrums, das periphere Gebiet des Zentrums („Área periférica do Centro“), umfasste in derselben Richtung zusätzlich noch die Gebiete um die Plätze Largo do Paisandú, Praça da Bandeira und Praça da República. Während im Zentrum die Wohnfunktion quasi bedeutungslos war, spielte sie im Erweiterungsgebiet bereits eine Rolle und trug so zu einer ausgewogenen Verteilung zwischen den beiden Funktionen in diesen Räumen bei. In der sich anschließenden übergangszone („Zona de Transição“) dominierte schließlich die Wohnfunktion, die allerdings bereits in ihrer Ausschließlichkeit Auflösungstendenzen zeigte, da immer mehr Aktivitäten, die typisch für das Zentrum sind (z. B. Handel), in diese Gebiete expandierten. Die übergangszone inkl. der beiden zentraleren Gebiete umfasste damals ein Areal, das heute weitgehend den beiden zentralen Distrikten24 Sé und República entspricht und lediglich im Westen über die heutige Abgrenzung hinausging und damit Teile der Stadtviertel Campos Elísios, Santa Cecília und Vila Buarque umfasste sowie im Süden Teile des Stadtviertels / Distrikts Liberdade beinhaltete (FeldMaN 2004, S. 41 f.). Diese weitgehende räumliche Kongruenz der damaligen funktionalen Gliederung des Zentrums und der heutigen politisch-administrativen Abgrenzung der beiden zentralen Distrikte República und Sé lässt zwei Interpretationen zu. Einerseits stimmen die damals mit zentralen Funktionen ausgestatteten Räume auch heute noch mit den zentralen Räumen überein und machen so die zumindest in Teilen räumliche Persistenz des Zentrums deutlich. Andererseits weisen die Abweichungen nach Westen und Süden darauf hin, dass bereits damals erste Tendenzen der Zentrumsverlagerung in Richtung des südwestlichen Quadranten in Form der Ausbreitung zentraler Funktionen in diese Gebiete zu beobachten waren (vgl. auch Kara José 2010, S. 19 f.). Für Belange der Verwaltungstätigkeit, als räumliche Einheiten für statistische Zwecke und für die Auseinandersetzung anderer Organisationen mit dem Zentrum 23 24
In dieser Arbeit werden die Plätze mit ihren portugiesischen Namen bezeichnet. „der Platz“ heißt im Portugiesischen „a praça“ und ist weiblich. Dies spiegelt sich bei der Verwendung der deutschen artikel wider. Das Munizip (Gemeinde) São Paulo ist intern in Zonen / (Regionen) (zonas / (regiões)), Subpräfekturen (subprefeituras) und Distrikte (distritos) unterteilt (vgl. Abb. 17 & 18). Die fünf Zonen Zentrum, Norden, Osten, Süden und Westen sind in 32 Subpräfekturen gegliedert, die wiederum in insgesamt 96 Distrikte aufgefächert sind. Die zentrale Subpräfektur Sé ist mit der Zone Zentrum identisch (INFOCIDADE o. J. b, o. S.). Weitere administrative untergliederungen gibt es in São Paulo nicht. Zur spezifischeren Eingrenzung von Teilräumen können Stadtviertel (bairros) benannt werden. Distrikte werden entweder durch ein gleichnamiges Stadtviertel gebildet oder umfassen mehrere Stadtviertel. Ebenso ist es möglich, dass Stadtviertel distriktübergreifend lokalisiert sind (PMSP 2013, o. S.). Zusätzliche untergliederungen anderer Institutionen neben der Stadtverwaltung orientieren sich entweder an den oben genannten politisch-administrativen Einheiten (z. B. Zensussektoren (setores censitários) der brasilianischen StatistikBehörde IBGE) (PMSP 2013, o. S.) oder aber gliedern das Stadtgebiet weitgehend unabhängig von den kommunalen Teilgebieten (z. B. Polizeidistrikte (distritos policiais) (POLÍCIA CIVIL DO ESTADO DE SãO PAuLO O. J., O. S.; ESTADãO 27.08.2012, O. S.).
160
4 Fallstudie São Paulo
spielt die politisch-administrative Abgrenzung des Zentrums eine besondere Rolle. Die höchste Ebene, die Zone, die allgemein mehrere Subpräfekturen umfasst, stimmt im Fall des zentralen Raums von São Paulo mit der Subpräfektur Sé räumlich überein. Diese Zone heißt Zentrum, und auch wenn die Benennung der anderen vier nach den vier Himmelsrichtungen v. a. auf die Bedeutung der Zonen als Lokalisationshilfen für die sie einschließenden Subpräfekturen und Distrikte verweist, ist es bemerkenswert, dass keine weiteren Subpräfekturen im südwestlichen Quadranten – und damit in Richtung der sukzessiven Zentrumserweiterungen – der zentralen Zone angegliedert wurden. umgekehrt fällt auf, dass bei der Festlegung der Grenzen der Subpräfekturen 2002 im Zentrum Veränderungen in der Hinsicht vorgenommen wurden, dass es zu einer relativen Bedeutungszunahme des Südwestens kam. Die vormalige Administração Regional Sé (Regionalverwaltung Sé) umfasste mit den Distrikten República und Sé sowie Bom Retiro, Pari, Brás, Cambuci, Liberdade, Bela Vista, Consolação und Santa Cecília noch zehn Distrikte. Die neu geschaffene Raum- und Verwaltungseinheit Subpräfektur Sé dagegen beinhaltet die im Nordosten lokalisierten Distrikte Pari und Brás nicht mehr, die fortan zur östlich anschließenden Subpräfektur Mooca gehören (Abb. 18). Trotz dieser administrativen Abtrennung der beiden Distrikte werden sie in Studien zum und anderen Beschäftigungen mit dem Zentrum (z. B. Planungsprogrammen) auch in der Gegenwart oft mit berücksichtigt. Die unterste munizipale untergliederung stellen die bereits erwähnten Distrikte dar, von denen Sé und República das eigentliche Zentrum der aus insgesamt acht Distrikten gebildeten Subpräfektur Sé darstellen. Bei den beiden zentralen Distrikten handelt es sich gleichzeitig um diejenigen, die das historische Zentrum umfassen. Gegliedert wird dieses wiederum in das Centro Velho (Altes Zentrum) und Centro Novo (Neue Zentrum). Ersteres befindet sich im Distrikt Sé, das über viele Jahrhunderte identisch mit der gesamten Stadtfläche São Paulos war. Heute wird es hauptsächlich durch das Triângulo Histórico (Historisches Dreieck), das durch die Straßen Rua São Bento, Rua Direita und Rua 15 de Novembro geformt wird, geprägt. Das Neue Zentrum erlangte seine Bedeutung als Teil des gesamten Zentrums durch eine erste Zentrumserweiterung ab den 1930er Jahren, weist aber auch mit einigen relativ alten Gebäuden zwischen dem Vale do Anhangabaú und der Praça da República – auch aus der Zeit vor der Zentrumserweiterung – architektonische Strukturen auf, die zum Einschluss dieses Teils der Innenstadt in das als historisches Zentrum bezeichnete Gebiet geführt haben (NaKaNo eT al. 2004; S. 124; FeldMaN 2004, S. 40 f.; araVecchia & boNduKi 2004 S. 1). alVes spricht hier vom Zentrumskern (Núcleo do Centro), dessen Grenze im Nordosten das Viaduto Santa Ifigênia bildet, im Südosten die Praça da Sé, im Südwesten die Rua Maria Paula und im Nordwesten die Praça da República (2010, S. 57). Dieser kleinräumigen Zentrumsabgrenzung, basierend auf der historischen Bedeutung von Teilgebieten der Distrikte Sé und República, steht auf Makroebene das Centro Expandido (Erweitertes Zentrum) gegenüber (Abb. 19 im Farbteil). Dabei handelt es sich um ein Gebiet, dass von einigen wichtigen Verkehrsachsen (u. a. Marginal Tietê [Stadtautobahn am Fluss Tietê] und Marginal Pinheiros [Stadtautobahn am Fluss Pinheiros]) eingeschlossen wird und neben der Subpräfektur Sé die
4.3 Das Zentrum
161
Subpräfektur Vila Mariana sowie Teile der Subpräfekturen Mooca, Ipiranga, Pinheiros und Lapa umfasst. Die unmittelbare administrative Bedeutung dieses Centro Expandido ist ähnlich wie die des historischen Zentrums gering. Das Centro Expandido hat v. a. Bedeutung für Regelungen, die den Individualverkehr betreffen25. Bedeutend ist es zusätzlich vor dem Hintergrund der weiteren Zentrumsfragmente (Avenida Paulista, Avenida Brigadeiro Faria Lima, nördlicher Teil der Marginal Pinheiros) im südwestlichen Quadranten, die sich – streng genommen mit Ausnahme der jüngsten Erweiterungen (Avenida Engenheiro Luis Carlos Berrini und südlicher Teil der Marginal Pinheiros) – innerhalb dieses Erweiterten Zentrums befinden (NaKaNo eT al. 2004; S. 124 f.). Der räumliche Fokus dieser Arbeit liegt überwiegend auf den beiden Distrikten República und Sé – dem traditionellen Zentrum – und der untereinheit des historischen Zentrums – dem Zentrumskern. Sie sind seit einigen Jahrzehnten die Gebiete des Zentrums, die städtebauliche und andere Eingriffe mit der Intention der Erneuerung erfahren. Folglich sind es diese Räume, in denen aufgrund der Interventionen auch der öffentliche Raum Modifikationen unterworfen ist, deren Auswirkungen mit unterschiedlichen Konsequenzen für die verschiedenen Nutzer_innen verbunden sind. Für die folgende Darstellung des Zentrums und seiner Entwicklung werden fallweise sowohl die beiden zentralen Distrikte – das traditionelle Zentrum – betrachtet als auch die gesamte Subpräfektur Sé zuzüglich der beiden Distrikte Pari und Brás – der Zentrumsnahe Bereich26 – oder die Subpräfektur Sé an sich. Der Rückgriff einerseits auf diese politisch-administrativen Raumeinheiten bietet die Möglichkeit der Nutzung statistischer Daten, die überwiegend für diese verfügbar sind, und zur Beschreibung sowohl der Entwicklung als auch der aktuellen (2010) Situation des Zentrums dienen können. Die Verwendung andererseits von bereits in der einschlägigen Literatur zum Einsatz kommenden territorialen Abgrenzungen und deren Benennungen27 erlaubt die Einordnung dieser Arbeit in den Gesamtkontext und ermöglicht Vergleiche mit Ergebnissen anderer Autor_innen (vgl. Tab. 2 und Abb. 17, 18, 19 & 20).
25
26
27
Innerhalb des Centro Expandido gilt bspw. der rodízio de veículos, ein System zur Reduzierung des Verkehrsaufkommen innerhalb dieses Gebiets, das zu Stoßzeiten an Werktagen die Fahrerlaubnis für Privat-PKW in Abhängigkeit der letzten, am jeweiligen Werktag gültigen Nummernschildziffer reglementiert und einschränkt. In dieser Arbeit wird auf verschiedene Maßstabsebenen bzgl. des zentralen Bereichs Bezug genommen. um eine Vereinheitlichung und übersichtlichkeit zu ermöglichen, werden die entsprechenden Raumeinheiten, die dabei unterschieden werden, groß geschrieben. Damit wird deutlich, dass auf eine in diesem Abschnitt beschriebene und in Tabelle 2 dargestellte und abgegrenzte Raumeinheit Bezug genommen wird. Zur allgemeinen Verständlichkeit wurden die portugiesischen Benennungen ins Deutsche übertragen; dabei wurde darauf geachtet, einerseits die Originalbezeichnung so wenig wie nötig zu verfremden und andererseits versucht, schlüssige Bezeichnungen für die unterschiedlichen Maßstabsebenen zu finden. Je geläufiger der jeweilige Begriff im Portugiesischen ist, desto mehr wurde versucht, diesen nahe am Original zu übersetzen. Zur Verdeutlichung des Bezugs auf den jeweils spezifischen Raumausschnitt im Text werden die Räume dort bewusst in Anlehnung an Eigennamen mit großen Anfangsbuchstaben geschrieben.
162
4 Fallstudie São Paulo
Jaçanã/ Tremembé
Perus
Z
o
n
a
N
o
r
t
e
Freguesia/ Brasilândia
Pirituba
Santana/ Tucuruvi Casa Verde/ Cachoeirinha
Vila Maria/ Vila Guilherme Penha
Lapa
n
e
a
Sé
Pinheiros
s
t
Butantã
e
Z
Mooca
Centro
o
n
a
L
Aricanduva/ Formosa/ Carrão
e
s
Itaim Paulista
t Guaianases e
Itaquera Cidade Tiradentes
Vila Prudente/ Sapopemba
Vila Mariana
São Mateus
Ipiranga
hab end
er
Campo Limpo
Santo Amaro
Sü
dw
Jabaquara
es t-Q
ua dr
M‘Boi Mirim
Z
o
n
N
Cidade Ademar
t
an
Kartengrundlage: Prefeitura da Cidade de São Paulo, Departamento de Estatística e Produção de Informação – Dipro (o. J.): Mapa 1. Político Administrativo.
o
ohl isch w
O
Sozioökonom
Z
São Miguel
Ermelino Matarazzo
a
0
2,5
5
7,5
10 km
Capela de Socorro
S
u
l
Parelheiros
Abb. 17: Munizip São Paulo mit Zonen/Regionen und Subpräfekturen (Entwurf: Töpfer; Zeichnung: Pungg und Töpfer)
163
4.3 Das Zentrum
N Perus
Tremembé
0
Anhangüera
São Domingos Jaguara Vila Leopoldina
Rio Pequeno
Kartengrundlage: Prefeitura da Cidade de São Paulo, Departamento de Estatística e Produção de Informação – Dipro (o. J.): Mapa 1. Político Administrativo.
Raposo Tavares
Campo Limpo Capão Redondo
Jardim Ângela
Jacanã Mandaqui Tucuruvi FreVila guesia Medeiros do Ó Limão Casa Santana Vila Verde Guil- Vila Maria herme Barra Lapa Funda
Alto de Pinheiros
7,5
10 km
Mooca
Vila Mariana IpiranMorumbi Itaim Moema ga Bibi Saúde
Vila Andrade
Santo Amaro
Campo Belo
Campo Jardim Grande São Socorro Luis
Vila
Jardim Helena Ermelino São Matarazzo Vila Miguel Vila Jacuí Curuçã Ponte Rasa
Cangaíba
Penha
Belém Tatuapé
Perdizes
Pin- Jardim heiros Paulista
Butantã
Vila Sônia
5
Cachoeirinha
Pirituba
Jaguaré
2,5
Brasilândia
Jaraguá
Artur Alvim
Vila Matilde Carrão
Itaquera
Sapo- São Mateus pemba
Cur- Sacomã sino
Guaianases Cidade Tiradentes
Iguatemi
São Rafael
Jabaquara Cidade Ademar
Pedreira
Vila Guilherme
Santana Barra Funda
Cidade Dutra
Perdizes
Bom Retiro
Santa Cecília
RepúConsoSé lação blica Jardim Paulista
Bela Vista
Moema
Grajaú
0
Parelheiros
Lajeado
José Cidade Vila BoniLíder ForParque Aricanfácio mosa do Carmo duva
Prudente São Lucas
Itaim Paulista
2,5
Pari Belém Brás
Liberdade
Mooca
Cambuci
Vila Mariana
Ipiranga
5 km
Distrikte des Munizips São Paulo Distrikte der Subpräfektur Sé Distrikte (mit denen der Subpräfektur Sé) des sog. Zentrumsnahen Bereichs
Marsilac
Abb. 18: Munizip São Paulo mit Distrikten (Entwurf: Töpfer; Zeichnung: Pungg und Töpfer)
164
4 Fallstudie São Paulo Tab. 2: Maßstabsebenen und Raumzuschnitte in São Paulo
Portugiesisch
Deutsch
Abdeckung
Região Metropolitana
Metropolitanregion (admin.)
São Paulo (Munizip) und 38 weitere Städte (RMSP)
Município
Munizip / Stadt (admin.)
São Paulo (MSP)
Zona
Zone (admin.)
Norte, Leste, Sul, Oeste, Centro
Centro Expandido
Erweitertes Zentrum
Subpräfektur Sé & Subpräfektur Vila Mariana sowie Teile der Subpräfekturen Mooca, Ipiranga, Pinheiros und Lapa
Subprefeitura
Subpräfektur (admin.)
Distrikte Sé und República sowie Bom Retiro, Cambuci, Liberdade, Bela Vista, Consolação und Santa Cecília
Área Central
Zentrumsnaher Bereich
Subpräfektur Sé & Distrikte Pari & Brás
Centro
(traditionelles) Zentrum
Distrikte Sé & República
Distrito
Distrikt (admin.)
Núcleo do Centro
Zentrumskern (= Historisches Zentrum)
Centro Velho (Triângulo Histórico) (Altes Zentrum) & Centro Novo (Neues Zentrum)* [Begrenzungen: Nordosten: Viaduto Santa Ifigênia; Südosten: Praça da Sé; Südwesten: Rua Maria Paula; Nordwesten: Praça da República]
* Vgl. allgemein wegen der Großschreibung der Raumeinheiten Fußnote 26.
4.3.2
Die Entstehung des Zentrums
Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein blieb das Stadtwachstum São Paulos sehr moderat (vgl. Kap. 4.2). Entsprechend klein blieb die urbanisierte Fläche, die sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – ausgehend vom ursprünglichen Stadtgebiet, dem Triângulo Histórico zwischen den beiden Flüssen Anhangabaú und Tamanduateí – auf die Gebiete westlich davon ausdehnte, die heute Teil des Distrikts República sind. Verlief die räumliche, demographische und auch funktionale Entwicklung São Paulos bis zu diesem Zeitpunkt sehr langsam, änderte sich dies ab den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts grundlegend. Erst ab diesem Zeitpunkt kommt es zu einer Zentrumsbildung im ursprünglichen Stadtgebiet, dem Triângulo Histórico (vgl. Abb. 20 im Farbteil). „Nach und nach verlor dieser Teil der Stadt seine Wohnfunktion und gleichzeitig wandelte sich dieser in das Gebiet der städtischen Verwaltung, des Handels, der Banken und Hotels, der Börse, der großen Anwaltskanzleien und der Judikative, der medizinischen Dienstleistungen und der Gesundheit allgemein sowie der Freizeitaktivitäten mit Theatern und Cafés, kurz in das tatsächliche Zentrum der Stadt [...]“28 (leMos 2006, S. 109; eigene übersetzung). 28
„Poco a poco, esta parte de la ciudad fue perdiendo la función residencial y concomitantemente fue convirtiéndose en el área de la municipalidad, del comercio, de los bancos, hoteles, bolsa de valores, los grandes despachos de abogados y la sede de las actividades jurídicas, de las actividades médicas y de la salud, de las actividades de ocio con los teatros, cafeterías, en fin, es verdadero centro de la cuidad […].”
4.3 Das Zentrum
165
Die beiden Straßen Rua 15 de Novembro und Rua São Bento waren zu der damaligen Zeit die beiden Hauptgeschäftsstraßen. ursprünglich in den oberen Stockwerken vorhandene Wohnnutzung wurde zugunsten von Büroräumen und solchen für Dienstleistungen verdrängt. Elegante Geschäfte mit ihren Schaufenstern, Banken und Restaurants sowie erste Parkanlagen prägten das Bild des Zentrums (Villaça 1998, S. 262 f.). Relativ schnell danach setzte dann im Zentrum auch die Vertikalisierung ein (vgl. allg. die Monographie von souza 1994 & soMeKh 1997 zum Thema der frühen Vertikalisierung). Die ersten Hochhäuser wurden Ende der 1920er Jahre errichtet (Palacete Riachuelo, erstes Apartmentwohnhaus São Paulos, 1928 und Edifício Martinelli, Bürohochhaus, 1929) und spiegelten schon zur damaligen Zeit die Wertsteigerung des städtischen Bodens wider. Bis zu Beginn der 1940er Jahre waren weite Teile des Zentrumskerns bereits von der Vertikalisierung erfasst (soMeKh 1997, S. 107) und der Trend zur Vertikalisierung hielt bis Ende der 1950er Jahre an. Dabei entstanden sowohl bürohochhäuser als auch Wohnhochhäuser in den beiden heutigen Distrikten Sé und República. Neben der Befriedigung der Nachfrage nach Wohn- und Geschäftsfläche diente der Bau moderner und zeitgenössischer Gebäude auch der Darstellung São Paulos als aufstrebende, moderne Metropole (soMeKh 1997, S. 82 ff. & S. 146 ff.; souza 1994, S. 47 & S. 70). Dabei wurden sowohl repräsentative Bürohochhäuser und avantgardistische Apartmenthochhäuser (z. B. Edifício Altino Arantes als Sitz einer Bank und Edifício Copan mit über 1100 Wohneinheiten), aber auch Hochhäuser mit besonders kleinen Wohneinheiten, sog. quitinetes (Einzimmerapartments) (z. B. Edifício São Vito und weitere in der Baixada Glicério) errichtet. Der Bauboom im Zentrum hielt bis 1957 an, als eine Änderung der Baugesetzgebung die Geschossflächenzahl (coeficiente de aproveitamento) – die bis zu diesem Zeitpunkt zwischen 8 und 10 variierte – für Bürohochhäuser auf 6 und für Wohnhochhäuser auf 4 reduzierte. Die anschließend gebauten Hochhäuser, die diese Koeffizienten überschritten, waren entweder vor der Gesetzesänderung genehmigt worden oder nutzten die beiden unterschiedlichen Koeffizienten dergestalt, dass als Bürohochhäuser genehmigte Bauten nachträglich als Wohngebäude umdeklariert wurden (Kara José 2010, S. 21 f.; leMos 2006, S. 109 f.; NaKaNo eT al. 2004, S. 139 f.). Eine besondere Form der Verschneidung von gebautem Raum und städtischem, halb-öffentlichen Raum stellten in den 1950er Jahren die Galerie-Gebäude (edifícios-galeria) und die Gemeinschaftsgebäude (edifícios-conjunto) dar, die sich durch ihre internen Straßen und überdachten Wege und den Nutzungsmix aus Handel, unterhaltung und Büros charakterisieren lassen (FeldMaN 2004, S. 44). Die erste Zentrumserweiterung erfolgte ab den 1930er Jahren – und verstärkt ab Mitte der 1940er Jahre – mit der Ausweitung von Zentrumsfunktionen in die Gegend zwischen dem Vale do Anhangabaú und der Praça da República. Damit verlagerten sich u. a. Einzelhandelsfunktionen aus dem Alten Zentrum in das sich entwickelnde Neue Zentrum, da hier zum einen noch vergleichsweise geringe Immobilienpreise zu bezahlen waren (die aber mit der steigenden Nachfrage auch entsprechend stiegen und somit weniger lukrative Nutzungen wie das Wohnen verdrängten) und zum anderen die nachfrage- und kaufkräftige Bevölkerung in den
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4 Fallstudie São Paulo
unmittelbar benachbarten Stadtvierteln Santa Ifigênia, Campos Elísios und Higienópolis ansässig war (araVecchia & boNduKi 2004 S. 1 f.). Das Triângulo Histórico der Straßen Rua 15 de Novembro, Rua São Bento und Rua Direita verlor im Zuge dieser Erweiterung bereits in Teilen die Funktion des Zentrums für die einkommensstarken Schichten (araVecchia & boNduKi 2004 S. 1 f.; Villaça 1998, S. 264 f.). Neben der Vertikalisierung stellte auch die Implementierung des Plano de Avenidas in den 1930er und den 1940er Jahren weitgehende Eingriffe sowohl in die physiognomische als auch die sozioökonomische Struktur des Zentrums dar. Mit dem Bau eines Straßenrings (Perímetro de Irradiação) und der Anlage von radialen Zufahrtsstraßen erfolgte eine frühe Ausrichtung des zentralen Stadtraums auf den individuellen Autoverkehr. Aufgrund seiner baulichen Enge und der damit schon zur damaligen Zeit problematischen Verkehrssituation im Alten Zentrum profitierte v. a. das Neue Zentrum an den neuen Hauptstraßen Avenida Ipiranga, Avenida São Luis und Avenida Maria Paula durch die Ansiedlung prestigeträchtiger Dienstleistungen von diesem Infrastrukturausbau (NaKaNo eT al. 2004, S. 129 f.). Mit der Errichtung der neuen Straßenachsen und dem damit verbundenen Platzbedarf kam es zu einer Vielzahl von Enteignungen, Abrissen von (Wohn)Gebäuden und Räumungen (FeldMaN 2004, S. 44). Angesichts der Tatsache, dass große Teile der besser situierten Bevölkerung bereits zuvor in die kurz zuvor entstandenen Stadtviertel westlich des alten Zentrums gezogen waren, waren von diesen Verdrängungen überwiegend Bevölkerungsgruppen geringerer Einkommen betroffen, die sich dadurch mit der Notwendigkeit konfrontiert sahen, in periphereren Stadtteilen neuen Wohnraum zu suchen. Die Wohnnutzung ging somit zugunsten wirtschaftlicher Nutzungen im tertiären Sektor im Zentrum weiter zurück. Infolge des Straßenbaus und der damit gegebenen besseren Erreichbarkeit dieser Stadtviertel kam es zu einer Wertsteigerung der Immobilien bzw. der Grundstücke und damit zu weiteren Verdrängungen von weniger einträglichem Wohnraum zugunsten rentablerer Nutzungen durch den Dienstleistungssektor. Die Folge war eine weiter voranschreitende Trennung zwischen den Bereichen Wohnen und Arbeiten im Zentrum, die von den dominanten Schichten der Bevölkerung mit Blick auf die ärmeren Teile und auf die vermeintlich durch diese verursachten Probleme durchaus beabsichtigt war (vgl. Kap. 4.5.1) (Paoli & duarTe 2004, S. 67 ff.; leMos 2006, S. 110 f.). „Die Stadtlandschaft ist in den 1940er Jahren widersprüchlich und mehrdeutig, zwischen Krise und Fortschritt: Während die Arbeiter unter Wohnungsmangel leiden, wird São Paulo im Kontext von Opulenz, Immobilienspekulation und Industrialisierung mit neuen Alleen modernisiert und mit Hochhäusern ‚verschönert‘.”29 (boNduKi 1998, S. 249; eigene übersetzung).
Trotz der erfolgten Verdrängungen haben das Zentrum und benachbarte Stadtviertel dennoch immer auch als Wohnorte gedient, und auch die Wohnform des cortiços hat die städtebaulichen Reformen überdauert. Schon in den 1940er Jahren wurden 29
„O cenário da cidade nos anos 40 é contraditório e ambíguo, de crise e de progresso: enquanto os trabalhadores sofrem com a falta de moradia, São Paulo é renovada por novas avenidas e “embelezada” por arranhacéus, num contexto de opulência, especulação imobiliária e industrialização.”
4.3 Das Zentrum
167
dabei in Studien Kausalitäten hergestellt, die das Wohnen in unzureichenden Verhältnissen als ursache für verschiedene Vergehen, unmoralisches Verhalten und Straftaten benannten und folglich alle dort Lebenden dem Generalverdacht, potenziell Delinquenten zu sein, aussetzten. umgekehrt wurde postuliert, dass das Wohnen in cortiços u. a. kulturell bedingt sei, da die armen Bewohner_innen einerseits eine Abneigung gegen das individuelle Haus hätten und andererseits tief verwurzelte Gewohnheiten damit verbunden seien. Dass die unterkunft des cortiços für die armen Bevölkerungsteile oft die einzige Wohnform angesichts der für sie schwierigen Bedingungen des städtischen Lebens darstellte, fand in den frühen Beschäftigungen mit dem Thema keine Berücksichtigung (Paoli & duarTe 2004, S. 70 ff.). „Die Misere, das Leid und die schlechten Wohnbedingungen in São Paulo werden nicht als Ergebnis eines ökonomischen Projekts wahrgenommen, das die Stadt umbildet und – vom städtebaulichen Standpunkt betrachtet – die gewinnbringende Ausweitung des damals wachsenden Immobilienkapitals anstrebt; ebenso wenig als Konsequenz einer Nutzungsweise des städtischen Raums, die die Stadt – für den größten Teil ihrer Bewohner – auf einen reinen Raum der Zirkulation reduziert, in dem keine anderen Rechte der Bewohner anerkannt werden; und auch nicht als Ergebnis des Fehlens öffentlicher Politiken oder als ein Projekt, das die öffentliche Sphäre auflöste und die Gesellschaft im Namen der Einheit und der Aufrechterhaltung der Ordnung entpolitisierte. Die von dieser neuen Ordnung Ausgeschlossenen, diejenigen, die den schlechten Wohnbedingungen ausgeliefert wurden, sind für die eigene Misere und das Leid selbst verantwortlich“30 (Paoli & duarTe 2004, S. 70 ff.; eigene übersetzung).
In den 1950er Jahren bildeten die beiden Zentrumsteile Altes und Neues Zentrum das eindeutige Zentrum der Gesamtstadt, in dem Einzelhandels- und Dienstleistungsfunktionen dominierten. Allerdings waren sie mit ihrem Angebot auf jeweils unterschiedliche Nutzergruppen fokussiert. Während das Alte Zentrum v. a. die Nachfrage der ärmeren Bevölkerung bediente, war das Neue Zentrum überwiegend auf die Befriedigung der Nachfrage der Eliten ausgerichtet. Hier befanden sich die entsprechenden Geschäfte und Boutiquen, Restaurants und Cafés sowie die Dienstleistungsangebote und die kulturellen Angebote von Theatern (u. a. das Teatro Municipal [Stadttheater]) bis hin zu diversen Kinos im sogenannten „Cinelândia“ („Kinoland“), einigen Häuserblocks mit verschiedenen Kinos an der Avenida São João und der Avenida Ipiranga. Trotz der Existenz von Subzentren, die v. a. auf Siedlungskerne von mittlerweile mit São Paulo zusammengewachsenen Siedlungen zurückgehen, bildete in den 1950er Jahren der Zentrumskern innerhalb der beiden heutigen Distrikte Sé und – hauptsächlich – República das Zentrum der Metropole 30
„A miséria, o sofrimento e as péssimas condições de habitação em São Paulo não são percebidos como resultado de um projeto econômico que remodela a Cidade, tentando viabilizar, do ponto de vista urbanístico, sobretudo a expansão lucrativa do então crescente capital imobiliário; ou como consequência de um modo de ocupação do espaço urbano que restringe a Cidade – para a maior parte de seus habitantes – a um mero espaço de circulação, onde nenhum outro direito lhes é reconhecido; tampouco como resultado da ausência de politicas publicas ou como consequência de um projeto que eliminou a esfera publica, despolitizando a sociedade em nome da unidade e da manutenção da ordem. Os excluídos dessa nova ordem, os que foram jogados nas péssimas condições de moradia, são responsabilizados pela própria miséria e sofrimento.”
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4 Fallstudie São Paulo
– auch für die Wohlhabenden (Villaça 1998, S. 264 f.). Dabei handelte es sich aber mitnichten um einen länger andauernden Zustand; vielmehr ist es – bezogen auf die Elite São Paulos – nur eine Etappe gewesen auf einem seit den 1930er Jahren andauernden und zeitlich ineinander greifenden Verlagerungsprozess von Orten zentraler Funktionen für die wohlhabende Bevölkerung. Schon Anfang der 1950er Jahre bemerkte die Geographin Nice Lecocq Müller „ [...] das Entstehen eines ‚kleinen Zentrums‘ in der Rua Augusta, zwischen Rua Estados unidos und der Alameda Franca, in fast allem identisch mit dem Zentrum der Stadt‘ mit Luxusgeschäften, Banken, Verwaltungsfunktionen usw.“31 (FeldMaN 2004, S. 41; eigene übersetzung; vgl. Kara José 2010, S. 20). Rückblickend und damit nicht aus dem Moment des Entstehens heraus wie Müller beurteilt Villaça diese Erweiterungen an der Avenida Paulista und der Rua Augusta. Er erkennt darin eher einen fragmentierten und spezialisierten Typ von Zentrum, der von daher nicht mit der ausgewogenen Breite des Angebots im traditionellen Zentrum gleichgesetzt werden dürfe (Villaça 1998, S. 265; FeldMaN 2004, S. 42). 4.3.3
Von reichen und armen Zentren oder: Die Zentren der Minderheit und das Zentrum der Mehrheit
Die von Müller in ihren Anfängen beobachtete, diskontinuierliche Verlagerung zentraler Funktionen in den südwestlich des traditionellen Zentrums gelegenen Quadranten setzt sich bis in die Gegenwart fort. Es entstanden neue Zentrumsfragmente entlang der Avenida Paulista (ab Mitte der 1950er Jahre), die vormals die Villen der sogenannten Kaffeebarone beherbergte, der neu erschlossenen Avenida Brigadeiro Faria Lima (1965–1968), der aus einem Immobilienprojekt hervorgegangenen Avenida Engenheiro Luis Carlos Berrini32 (ab Mitte der 1970er Jahre) und im umkreis der Rua Verbo Divino (ab Mitte der 1980er Jahre) (Kara José 2010, S. 23; NaKaNo eT al. 2004, S. 133; Miele 2008, S. 33; Fialho 2007, S. 67; KohlhePP 1997, S. 140). Parallel dazu entwickelten sich neue Möglichkeiten der Konsumbefriedigung. Innerhalb dieses südwestlichen Quadranten entstanden zunächst für die kaufkräftigeren Schichten Shoppingcenter nach nordamerikanischem Vorbild, die neben Einzelhandelsgeschäften in zunehmendem Maße auch gastronomische und Freizeitangebote (z. B. Kinocenter) beinhalteten. Das älteste von ihnen ist das Shoppingcenter Iguatemi an der Avenida Brigadeiro Faria Lima, das 1966 eröffnet wurde (coy 2007, S. 60 f.; Villaça 1998, S. 302 ff.). Anders als die in São Paulo bereits seit langem bestehenden Subzentren (subcentros) wie Brás, Lapa oder 31 32
„[...] o surgimento de um ‘pequeno centro’ na rua Augusta, entre a rus Estados unidos e a alameda Franca, ,em quase tudo idêntico ao Centro da cidade’, com comercio de luxo, bancos, funções administrativas etc.” Für die Entstehungsgeschichte der Avenida Paulista und der Avenida Berrini vgl. Frúgoli Jr. 2000, S. 113 ff. & S. 175 ff.; für die jüngeren Entwicklungen der überwiegend vom Immobiliensektor gesteuerten Stadtentwicklung in den Bereichen Avenida Faria Lima und Avenida Berrini und den damit verbundenen Konsequenzen (Verdrängung) für die (vormaligen) Anlieger vgl. Fix 2007 und Fix 2001.
4.3 Das Zentrum
169
Pinheiros, die eine ausgeglichene Mischung in den Bereichen Handel und Dienstleistungen aufweisen und deren unterschied zum Hauptzentrum in einem kleineren Einzugsgebiet besteht, sind die dispersen Erweiterungen bspw. in Form von Dienstleistungsstandorten vielmehr funktional hoch spezialisierte Zentrumsfragmente (Villaça 1998, S. 274 f. & 293 ff.; alVes 2010, S. 54 f.). Die verschiedenen Zentrumserweiterungen gemeinsam mit dem traditionellen Zentrum bilden das Erweiterte Zentrum, das in seiner Gänze Bedeutung über die Kernstadt São Paulo hinaus hat und das Zentrum der Metropolitanregion formt, und dessen Einzugsgebiet in Teilen wiederum weit darüber hinaus reicht. Intern ist es jedoch durch eine Vielzahl unterschiedlich spezialisierter Zentrumsfragmente gekennzeichnet, die sich unzusammenhängend in dem entsprechenden Raum verteilen, da es sich um keine kontinuierlichen Zentrumserweiterungen wie in der Vergangenheit (wie bspw. im Falle des sog. neuen Zentrums zwischen Anhangabaú und Praça da República ab den 1930er Jahren) handelt, sondern um v. a. durch Wohnnutzung unterbrochene Einheiten (Villaça 1998, S. 279). Die Motive und ursachen für die Entstehung der neuen Zentrumsfragmente sind vielfältig und komplex. Sie liegen sowohl in den neu entstandenen Räumen und der gesamtstädtischen Entwicklung begründet als auch in Veränderungen im traditionellen Zentrum. Dabei lässt sich für das Zentrum kein eindeutiger ursacheWirkungszusammenhang bzw. keine eindeutige Richtung der Kausalität erkennen. Viele Phänomene und Prozesse lassen sich sowohl als Einflussfaktoren / ursachen als auch als Folgen / Auswirkungen eines Wandels interpretieren, der die Entstehung der neuen Zentrumsfragmente beeinflusst und begünstigt hat. Erschwerend bei der Bestimmung der Kausalität kommt der zeitliche Aspekt hinzu. Es ist mitunter nicht möglich Phänomene zeitlich so zu gliedern, dass eine zeitliche Ordnung Rückschlüsse auf die Kausalität erlauben würde. Konkret bedeutet dies, dass Degradierungserscheinungen im traditionellen Zentrum, die v. a. von der Oberschicht als solche konstatiert werden, sowohl als ursache für die Aufgabe dieses Stadtraums durch die Eliten betrachtet werden können (z. B. leMos 2006, S. 112; coy 2007, S. 58 f.) als auch als Folge dieses Rückzugs der begünstigten Bevölkerungsschichten (z. B. Villaça 1998, S. 282; Kara José 2010, S. 31). Die Reglementierung und damit Limitierung der Vertikalisierung im Jahr 1957 schränkte den Bau neuer Immobilien im Zentrum stark ein (vgl. Kap. 4.3.2). Der Mangel an ausreichend großen Grundstücken aufgrund der bereits weit fortgeschrittenen Verdichtung einerseits und die kleinteilige Eigentumsstruktur andererseits ermöglichten kaum noch den Bau solcher Hochhäuser, die trotz der damals in zentraler Lage noch hohen Bodenpreise entsprechende Gewinne für den Immobiliensektor gewährleistet hätten. Im Gegensatz dazu boten die neuen Straßenzüge vergleichsweise günstige und ausreichend große Grundstücke, um entsprechende Immobilienprojekte zu realisieren. Im Segment der Wohnimmobilien für die Mittelschicht wurde der Trend der Vertikalisierung jenseits des Zentrums ab Mitte der 1960er Jahre zusätzlich durch attraktive Kredite der damaligen Banco Nacional de Habitação (BNH; Nationale Bank für Wohnungswesen) begünstigt (leMos 2006, S. 111; Kara José 2010, S. 23). Die vergleichsweise große Weitläufigkeit, die mit den neuen Fragmenten und den sie trennenden Räumen verbunden war, wurde ab den
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4 Fallstudie São Paulo
1970er Jahren durch eine allgemeine Verbreitung des Autos auch in der Mittelschicht kompensiert. Eine kompakte und funktionsgemischte Stadtstruktur verlor damit an Bedeutung. Ober- und Mittelschicht benötigten stattdessen eine urbane Infrastruktur, die auf den motorisierten Individualverkehr ausgerichtet war. Infolgedessen setzte im Südwesten ein massiver Straßenausbau ein und es wurden weitere erforderliche Bedingungen wie ein ausreichendes Angebot an Parkmöglichkeiten geschaffen (Villaça 1998, S. 280; NaKaNo eT al. 2004, S. 130 ff.). Aber auch im Zentrum und im Zentrumsnahen Bereich wurden die Straßen ausgebaut. Dabei lag der Schwerpunkt v. a. auf Durchgangs- und umfahrungsstraßen, die oft in Form von Hochstraßen oder Tunnels angelegt wurden und vorrangig Verbindungen auf der Makroebene innerhalb der Metropolitanregion schaffen sollten (z. B. die teilweise aufgeständerte Avenida Radial Leste-Oeste [Ost-West-umfahrung] inklusive des Elevado Presidente Costa e Silva [Präsident Costa e Silva-Hochstraße]). umgekehrt erleichterte dieser Infrastrukturausbau nicht die Erreichbarkeit des Zentrums für den Individualverkehr und führte ferner – neben der bereits seit langem existierenden Trennung von Stadtvierteln im Norden und Osten durch die Eisenbahnstrecke – zu einer Desintegration ehemals verbundener Stadtviertel v. a. im Westen und Süden durch breite Straßenschneisen (NaKaNo eT al. 2004, S. 130 ff.). Während sich die Erreichbarkeit des traditionellen Zentrums für den Individualverkehr also nicht verbesserte, erweiterten sich zur gleichen Zeit die Möglichkeiten der Zugänglichkeit des Zentrums mittels des Personennahverkehrs. Ab den 1970er Jahren wurde einerseits ein u-Bahn-System in São Paulo implementiert, dessen erste beiden Linien (Nord-Süd und West-Ost) sich seitdem im Zentrum an der Praça da Sé kreuzen und hier so eine zentrale umsteigestation bilden. Andererseits kam es zu einem Ausbau des Omnibus-basierten Personentransports durch die Anlage von drei großen (Terminal Princesa Isabel, Terminal Bandeira, Terminal Dom Pedro II) und weiteren kleineren zentralen Omnibusbahnhöfen als Endstationen der im Zentrum zusammenlaufenden Buslinien. Diese verschiedenen Investitionen bedingten eine im munizipalen und metropolitanen Vergleich gute Anbindung des Zentrums an das Netz des Personennahverkehrs. Bezogen auf die Anbindung an den Personennahverkehr wird das Zentrum deswegen auch als die „demokratischste Region der Stadt“ (alVes 2010, S. 62) bezeichnet. umgekehrt wurde die Erreichbarkeit für den Individualverkehr durch die Ausweisung von Fußgängerzonen – v. a. im Zentrumskern innerhalb der Distrikte Sé und República – ab Mitte der 1970er Jahre und den Mangel an verfügbaren Parkmöglichkeiten weiter eingeschränkt (NaKaNo eT al. 2004, S. 134 ff.). „Das historische Zentrum zeichnete sich von nun an durch eine maximale Zugänglichkeit durch öffentliche Transportmittel aus – just in dem Moment, in dem sich die Eliten und Mittelschichten definitiv in ihren Autos abkapselten“ (rolNiK 2008, S. 14). Die umgestaltung der Mobilitätsstruktur im Zentrum São Paulos ebenso wie die Veränderungen im Immobiliensektor gingen mit einem Nutzungs- und Funktionswandel einher. Nachdem sich die Einzelhandelsstandorte für eher hochpreisige Geschäfte in den 1930er Jahren bereits in das Neue Zentrum verlagert hatten, folgten sie ab den 1950er Jahren den neu entstehenden Wohnstandorten der Mittel- und Oberschicht in Richtung Südwesten. Gleiches traf auf den unterhaltungssektor
4.3 Das Zentrum
171
(bspw. Kinos) zu, der ebenfalls nach und nach aus dem traditionellen Zentrum wegzog. Ab den 1970er Jahren machten dann die Shoppingcenter zusätzlich zu den neuen Zentrumsfragmenten den Geschäftsstraßen im Zentrum Konkurrenz. Die sich in den neuen Bürohochhausstandorten ansiedelnden unternehmen boten mehr und mehr Beschäftigungsmöglichkeiten mit mittleren und hohen Einkommen. Ab den 1960er Jahren verlagerten sich damit Arbeitsplätze höherer Lohnsegmente immer mehr in die neuen Zentrumsfragmente. Gleiches gilt ab Ende der 1960er Jahre auch für die Firmensitze z. B. der in São Paulo ansässigen Banken, die nach und nach in die neuen Zentrumsfragmente verlagert wurden (Villaça 2004a S. 27 f.; Villaça 1998, S. 270 ff.; Kara José 2010, S. 25 f.). „Was überraschend ist, ist, dass sich die Verwaltungssitze der öffentlichen Hand [in dieser Zeit] ebenfalls in dieselbe Richtung verlagern und sich damit exakt gleich zu den wirtschaftlichen Aktivitäten verhalten, d. h., dem Markt folgen – auch wenn sie sich letzten Endes nicht marktkonform verorten sollten“33 (Villaça 2004a, S. 28; eigene übersetzung und Ergänzung).
Die Präfektur (Bürgermeisteramt) übersiedelte zu Beginn der 1960er Jahren in den südlich des Zentrums gelegenen Ibirapuera-Park und der Sitz der Regierung des Bundesstaats São Paulo in das Stadtviertel Morumbi südwestlich des Zentrums (Kara José 2010, S. 19). Die durch die umsiedlung hochpreisiger Geschäfte, von unternehmen und der Verwaltung frei gewordenen Standorte im traditionellen Zentrum wurden teilweise von preisgünstigerem Einzelhandel und einfachen Dienstleistungen übernommen. Für diese gewann das Zentrum aufgrund einer wachsenden Klientel aus der unterschicht mehr und mehr an Bedeutung. V. a. der Ausbau des Personennahverkehrs begünstigte diese Entwicklung, da die erforderlichen Stationswechsel zwischen den Bus- und u-Bahn-Stationen zu großen und kontinuierlichen Fußgänger_innenströmen führten, von denen letztendlich große Teile des Zentrumskerns erfasst wurden. Zusätzlich zu den klassischen Einzelhandels- und Dienstleistungsangeboten für die geringverdienende Bevölkerung kam in steigendem Maße das Angebot ambulanter Händler_innen hinzu. Diese boten ihre preisgünstigen Waren hauptsächlich in den meistfrequentierten Straßenzügen zwischen den Busendhaltestellen und den uBahnstationen in großer Zahl an und bildeten dort regelrechte ambulante Märkte (NaKaNo eT al. 2004, S. 138; alVes 2010, S. 62 f.). Andere frei gewordene Immobilien wurden außer für den Einzelhandel und für Dienstleistungen für weitere Zwecke herangezogen, um trotz des allgemeinen Wertverfalls der Immobilien im Zentrum nach Möglichkeit noch Gewinne zu erzielen. Es entstanden zum einen in alten häusern und gebäuden cortiços, die zimmerweise an geringverdienende Bewohner_innen vermietet wurden und werden (leMos 2006, S. 112). Trotz der oft hohen Mieten und der sehr prekären Wohnverhältnisse bilden diese unterkünfte gegenüber peripheren favelas den Vorteil der Nähe zu (möglichen) Arbeitsplätzen und damit des Wegfalls hoher Beförderungskosten und langer Transportzeiten. 33
„O que é surpreendente é que as sedes dos aparelhos do Estado também estejam se deslocando na mesma direção, comportando-se exatamente como as atividades econômicas, ou seja, seguindo o mercado – afinal, as sedes dos aparelhos do Estado não deveriam se localizar em função do mercado.“
172
4 Fallstudie São Paulo
Trotz dieser Nachnutzung von Immobilien zu Wohnzwecken sank die Zahl der im Zentrum ansässigen Bevölkerung in den 1980er und 1990er Jahren kontinuierlich. Ab den 1990er Jahren wurde diese Entwicklung zunehmend als Problem betrachtet, da das Zentrum und sein öffentlicher Raum zwar tagsüber stark frequentiert sind, sich abends und nachts aber in Teilen in ein fast menschenleeres Gebiet verwandeln (Kara José 2010, S. 20 & 32). Eine weitere Nutzung frei gewordener Immobilien war und ist diejenige als Parkmöglichkeit. In Ermangelung einer ausreichenden Zahl an Parkplätzen werden die Erdgeschosse der betroffenen Gebäude so adaptiert, dass sie für diesen Zweck dienen können (araVecchia & boNduKi 2004, S. 2). Ein nicht unerheblicher Teil von ungenutzten Gebäuden wurde und wird aber keinerlei Nutzung zugeführt. Sie stehen leer in Erwartung einer Wertsteigerung in der Zukunft, um durch Verkauf oder Nachnutzung einen höheren Gewinn zu erzielen – ohne gegenwärtig möglicherweise Kosten zu verursachen (Kara José 2010, S. 20; leMos 2006, S. 105 f.). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich – beginnend mit den 1950er Jahren und dann verstärkt in den 1970er und 80er Jahren – das traditionelle in ein nicht-elitäres („deselitizado“) Zentrum gewandelt hat (FeldMaN 2004, S. 40 f.). Damit wurde es – so Villaça – zum Zentrum der Mehrheit der Bevölkerung. Dennoch lag ihm zufolge die Definitionshoheit darüber, welches das Hauptzentrum ist bzw. als dieses hergestellt wird, bei der zahlenmäßig kleineren Elite. „Das traditionelle Zentrum war, als es noch das Zentrum der Minderheit – der Bourgeoisie – war, das Zentrum der Stadt. Heute ist es das Zentrum der sozioökonomisch benachteiligten Mehrheit. Genau in dem Moment, in dem das ‚alte‘ Zentrum das Zentrum der Stadt darstellt – denn nun ist es das Zentrum der Mehrheit – wird von der dominierenden Ideologie erklärt, dass die Stadt ein neues Zentrum hat. Es ist merkwürdig. Das neue Zentrum, nach der dominierenden Ideologie, wird das Zentrum der Minderheit. Es ist der Prozess der Verallgemeinerung des Speziellen durch die dominierende Klasse. ‚Ihr‘ Zentrum muss immer das Zentrum der Stadt sein“34 (Villaça 1998, S. 346 ff.; eigene übersetzung).
Innerhalb des Erweiterten Zentrums gab es vor diesem Hintergrund unterschiedliche Zentren, deren zentrale oder nicht-zentrale Stellung von den Sichtweisen der jeweiligen sozioökonomischen Gruppen auf die jeweiligen Gebiete bestimmt war. „[...] für die Gebiete, die die Subpräfektur Sé und Teile der Subpräfektur Mooca umfassen, liegt eine paradoxe Situation vor: gleichzeitig Zentralität in Bezug auf die [...] metropolitane Nordund Ostzone zu besitzen und eine Peripherie hinsichtlich der Zentralitäten und der Stadtviertel sozioökonomisch hohen Standards im Südwestquadranten zu sein“35 (NaKaNo eT al. 2004, S. 126 f.; eigene übersetzung). 34
35
„O centro tradicional, enquanto foi centro da minoria – das burguesias – era o centro da cidade. Hoje, ele é centro da maioria popular. Justamente agora que o centro ,velho’ é o centro da cidade – pois agora ele é o centro da maioria – a ideologia declara que a cidade tem um novo centro. É curioso. O centro novo, segundo a ideologia dominante, passa a ser o centro da minoria. É o processo de universalização do particular por parte da classe dominante. O ,seu’ centro deve ser sempre o centro da cidade.” „[...] impõe-se uma condição paradoxal às áreas abrangidas pela subprefeitura Sé e parte da Mooca: ser simultaneamente uma centralidade, relativamente às já referidas zonas norte e leste metropolitanas, e uma periferia, relativamente às centralidades e aos bairros de alto padrão do quadrante sudoeste.”
4.3 Das Zentrum
173
Diese periphere Zentralität („centralidade periferica“) hat das traditionelle Zentrum geprägt und wirkt hinsichtlich der Strukturen und Dynamiken bis heute nach (NaKaNo eT al. 2004, S. 127.). Aber auch die Glanzzeiten des Zentrums, als es noch die zentrale Zentralität besaß, wirken bis heute als weitergegebene Erinnerungen bei Bewohner_innen des Zentrums nach und werden der als Verlust wahrgenommenen Entwicklung der vergangenen vierzig Jahren gegenübergestellt. Im Fotointerview äußert sich Glória, eine im Zentrum selbständige Kosmetikerin, zur überlieferten Vergangenheit der Rua Barão de Itapetininga (vgl. Abb. 21 im Farbteil) und dem, was sie heute ausmacht, wie folgt: „und hier? Das ist die [Rua] Barão de Itapetininga! Sie war schon eine Prachtstraße, wo sich die Menschen trafen um Tee zu trinken. Es gab wunderbare Häuser. und heute wurde das daraus: Eine Einkaufsstraße ohne viel Attraktivität. […] Man findet keinen schicken Geschäfte mehr, man findet keine Markenartikel mehr, keine Teehäuser, es gibt nichts mehr. […] Ich kenne viele Menschen, und wenn du dich mit ihnen unterhältst, dann weinst Du, [wenn Du erfährst], wie São Paulo war und wie es jetzt ist.“36
In ähnlicher Weise äußert sich im Fotointerview auch eine Bewohnerin des Zentrums. Durch Schilderungen von älteren Bewohner_innen werden so Bilder des „alten“ Zentrums bis in die Gegenwart tradiert und die als unbefriedigend wahrgenommen gegenwärtigen Zustände daran gemessen. Dennoch haben sich auch Veränderungen ergeben, die das Zentrum in der Gegenwart gewandelt haben. 4.3.4
Das Zentrum São Paulos in der Gegenwart
Das Zentrum São Paulos unterliegt bis heute einem permanenten Wandel. Dieser ist vielfältig und reicht von Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur über solche die Beschäftigungssituation betreffend bis hin zu Neuerungen der Raumnutzung und des Dienstleistungsangebots. Auch wenn diese Änderungen teilweise nicht unmittelbar raumwirksam werden, oft nicht die mediale Aufmerksamkeitsschwelle überschreiten und dadurch die breite Bevölkerung, die das traditionelle Zentrum nicht regelmäßig frequentiert, nur mit teilweise größerer Zeitverzögerung erreicht, sind v. a. im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends verschiedene Entwicklungen zu beobachten, die auf das Zentrum teilweise homogenisierende, teilweise diversifizierende Effekte haben. Im Folgenden werden diese Entwicklungen – basierend überwiegend auf Ergebnissen des Zensus’ (der Volkszählung) von 2010 und auf entsprechender Literatur – dargestellt. Die meisten Zensus- und zusätzlichen Daten stammen dabei von der Datenbank Infocidade (http://infocidade.prefeitura.sp.gov.br/) des Amts für Stadtentwicklung (Secretaria Municipal do Desenvolvimento urbano; SMDu). So36
„E aqui? É a Barão de Itapetininga! Que já foi uma rua maravilhosa, onde as pessoas se reuniram para tomar chá. Tinha casas maravilhosas. E hoje em dia virou isso: um comércio sem muito atrativo. [...] Porque aqui não tem mais lojas chiques, se não encontra coisa de marca, uma casa boa de chá, não tem mais nada. [...] Eu conheço muitas pessoas assim, que quando você conversa com elas, você chora como São Paulo era e como está agora“ (Fotointerview mit Glória, selbständige Kosmetikerin im Zentrum, am 21.09.2011 in São Paulo).
174
4 Fallstudie São Paulo
fern erforderlich, wurden die Daten vonseiten des Stadtentwicklungsamts für entsprechende territoriale Einheiten adaptiert, um Zeitreihenvergleiche auch über Änderungen von Gebietszuschnitten zu ermöglichen. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist eine umkehrung der Bevölkerungsentwicklung sowohl im Zentrum als auch im Zentrumsnahen Bereich zu beobachten. Nachdem die Bevölkerung in acht der zehn Distrikte 1980 einen Höchststand erreicht hatte, kam es in allen 10 Distrikten in den beiden folgenden Dekaden zu einem erheblichen Bevölkerungsrückgang, der in der Subpräfektur Sé als Ganze zu einer Abnahme der Bevölkerung um fast 30 % im Vergleich zum Höchststand 1980 führte (Kara José 2010, S. 46). Seit 2000 ist in allen zehn Distrikten allerdings wieder ein Bevölkerungsanstieg zu verzeichnen, der bereits fast die Verluste der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts wettmacht. Die Bevölkerungszahl im Zentrum beträgt gut 80 000 Ew. (2010) und in der Subpräfektur Sé zuzüglich der Distrikte Brás und Pari fast 478 000 Ew. (vgl. Abb. 22 im Farbteil; Details s. u.). Auch wenn der Anteil an der gesamtstädtischen Bevölkerung damit bei nur gut 4 % liegt, ist die Bevölkerungsdichte in der Subpräfektur Sé mit 165 Ew./ha im Vergleich zur Gesamtstadt (75 Ew./ha) hoch (IBGE o. J. a). Ein gegensätzliches Bild ergibt sich, wenn man die Bevölkerungsdichte pro Wohnbauflächen (área construida residencial) berücksichtigt (vgl. Abb. 23 im Farbteil). In diesem Fall beträgt die Dichte in der Subpräfektur Sé mit 205 Ew./ha Wohnbaufläche nur gut die Hälfte des gesamtstädtischen Werts (392 Ew./ha Wohnbaufläche). Allerdings ist der Mittelwert (wie auch im Fall der Bevölkerungsdichte/Gesamt-ha) nur bedingt aussagekräftig, da die Spreizung der Werte zwischen den einzelnen Distrikten dabei nicht berücksichtigt wird. Diesbezüglich ist ein Nordost-Südwest-Gradient zu beobachten. In den nordöstlich des Zentrums gelegenen Distrikten (Brás, Bom Retiro und Pari) wie auch im Distrikt Sé selbst liegen die Dichtewerte um den gesamtstädtischen Durchschnitt und darüber, wohingegen die Werte in den südwestlichen Distrikten des Zentrumsnahen Bereichs (Liberdade, Bela Vista, Santa Cecília und Consolação) um 200 Ew./ha Wohnbaufläche oder darunter liegen37 (secreTaria MuNiciPal de FiNaNças o. J.). Bei der Berechnung dieser Dichtewerte kommt Kara José (2010, S. 47 f.) zu einem sehr ähnlichen Muster und schlussfolgert, dass die höhere Belegungsdichte im Nordost-Quadranten aus der höheren Zahl an unterteilten Wohneinheiten, z. B. cortiços, resultiert. In einer Studie beschäftigen sich NaKaNo & Kohara (2013, S. 70 ff.) ausführlich mit dem Phänomen der Wiederbevölkerung (repovoamento) des Zentrums und des Zentrumsnahen Bereichs auf Basis der Zensusdaten von 2010. Die Analyse der Struktur der Bevölkerung 2010 und ihrer Veränderung zwischen 2000 und 2010 zeigt in Abhängigkeit der Parameter Alter, Einkommen und Haushaltsstruktur drei Tendenzen und entsprechende Erklärungsversuche. • Die Altersklasse der 25 bis 64-Jährigen ist die einzige mit durchweg positivem Migrationssaldo in allen zehn Zentrumsdistrikten, wohingegen die Zahl der Kinder bis 14 Jahre grundsätzlich rückläufig ist und auch die Zahl der Jugend37
Die Werte für die Distrikte República und Cambuci liegen mit ca. 280 Ew./ha Wohnbaufläche im Mittelfeld zwischen den beiden Polen im Nordosten und im Südwesten.
4.3 Das Zentrum
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175
lichen bis 24 Jahre abnimmt. überwiegend positive Zuwachsraten gibt es – wenn auch in etwas geringerem umfang als bei den bis 64-jährigen Erwachsenen – bei den Senioren ab 65 Jahren. Das Ergebnis, dass überwiegend Erwachsene im berufsfähigen Alter in das Zentrum ziehen, kann als Indiz dafür gedeutet werden, dass angesichts der zunehmenden Kosten und des erheblichen Zeitverlusts bei der Anfahrt zum Arbeitsplatz versucht wird, näher an den Arbeitsplätzen (und anderen Angeboten) – von denen sich viele gesamtstädtisch betrachtet im Zentrum befinden – zu wohnen38 (NaKaNo & Kohara 2013, S. 84 ff.). Die Haushaltsstruktur weist Tendenzen zu kleineren Einheiten auf. In allen Distrikten hat sich die durchschnittliche Belegungsdichte geringfügig von 2,6 auf 2,4 Bewohner_innen pro Haushalt im Durchschnitt aller 10 Distrikte verringert. Entsprechend ist auch die Zahl der Ein-Personen-Haushalte von 27,4 % auf 30,9 % aller Haushalte gestiegen (NaKaNo & Kohara 2013, S. 84 ff.). Die Analyse der Einkommensstruktur ergibt ein deutliches Ansteigen der Haushalte mit geringem Einkommen von bis zu drei Mindestlöhnen39. ihr anteil hat sich von 14,2 % auf 36,4 % mehr als verdoppelt. Der Anteil an Haushalten mit mittleren Einkommen von 3–10 Mindestlöhnen ist dagegen leicht (von 40,8 % auf 37,8 %)40, der höherer (10–30 Mindestlöhne) und hoher (über 30 Mindestlöhne) stark bzw. sehr stark (von 27,4 % auf 13,3 % bzw. von 11,7 % auf 2,0 %) zurückgegangen. Angesichts dessen kann von einer deutlichen Tendenz der Wiederbevölkerung des Zentrums überwiegend durch die unterschicht gesprochen werden.
Betrachtet man die Ergebnisse für die einzelnen Distrikte, so wiederholt sich das Gefälle zwischen Südwesten und Nordosten: Knapp unter bis deutlich über 50 % beträgt der Anteil der Haushalte mit niedrigem Einkommen in den nordöstlich liegenden Distrikten Bom Retiro, Pari und Brás ebenso wie im Zentrum selbst (Sé und República). Deutlich niedriger ist der Anteil dagegen in den südwestlich an das traditionelle Zentrum anschließenden Distrikten Santa Cecília (ca. 30 %), Consolação (ca. 20 %), Bela Vista und Liberdade (jeweils ca. 30 %). Genau umgekehrt verhält es sich bei der räumlichen Verteilung der Haushalte höherer Einkommen 38
39
40
Diese Hypothese wird durch kleinere, qualitative Studien der Autoren gestützt, wonach relativ unabhängig von der jeweiligen sozioökonomischen Zugehörigkeit die „Nähe zu allem“ als der dominierende Vorteil des Wohnstandorts im Zentrum genannt wird (NaKaNo & Kohara 2013, S. 100 ff.). Der Mindestlohn (salário mínimo) ist in Brasilien eine gängige Größe zur Einteilung von Einkommensklassen. Er lag zur Zeit der Feldforschung zwischen R$ 465 (2009; ca. € 160) und R$ 545 (2011; ca. € 235) (MTE o. J. a). In den vergangenen 20 Jahren und v. a. ab 2000 wurde der Mindestlohn u. a. in Abhängigkeit von Inflationsrate und Wirtschaftswachstum konstant angehoben, was zu einer stetigen Steigerung des realen Mindestlohns geführt hat (vgl. leubolT 2013, S. 43 ff.; zilla 2013, S. 91 ff.). Für diese Einkommensgruppe (Haushalte mit verfügbarem Einkommen zwischen 3 und 10 Mindestlöhnen) sind neben dem für das Zentrum und den Zentrumsnahen Bereich als Ganzes geltenden negativen Saldo in einigen Distrikten im südwestlichen Zentrumsnahen Bereich (Consolação, Bela Vista, Liberdade) auch Bevölkerungszuwächse zu beobachten.
176
4 Fallstudie São Paulo
(NaKaNo & Kohara 2013, S. 86 ff.). Damit findet das generelle gesamtstädtische Verteilungsmuster von Haushalten höherer und hoher Einkommen seine Entsprechung in den zentrumsnahen Distrikten. Die beiden Zentrumsdistrikte Sé und República nehmen eine Stellung in der Mitte ein, wobei die Werte der (Einkommens)Indikatoren im Distrikt República meist tendenziell höher sind als im Distrikt Sé. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Wiederbevölkerung im Zentrum und im Zentrumsnahen Bereich v. a. zu einem Anwachsen der Bevölkerungsteile mit geringem Einkommen geführt hat, bei gleichzeitiger Abnahme der Bevölkerungsanteile höherer und hoher Einkommen. Lediglich in einigen südwestlichen zentrumsnahen Distrikten wuchs auch der Anteil mit mittleren Einkommen. Neben der Bevölkerung in regulären Wohnverhältnissen stieg im Zentrum in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts auch die Bevölkerung, die entweder in cortiços oder als Obdachlose lebt. Basierend auf offiziellen Zahlen der Bevölkerungszensus 2000 und 2010 stieg die Zahl der Haushalte, die Teil von cortiços sind, von knapp 4 000 auf gut 5 500 in der Subpräfektur Sé (IBGE o. J. c)41. ebenfalls stark gestiegen ist die Zahl der Obdachlosen in São Paulo. In der Subpräfektur Sé, in der die meisten Obdachlosen leben, hat sich ihre Zahl gemäß unterschiedlicher Zählungen zwischen 2000 (ca. 3 400) und 2011 (ca. 6 800), verdoppelt (iNFocidade o. J. a, o. S.)42. Aufgrund der Problematik der genauen Erfassung dieser Bevölkerungsgruppen können diese Zahlen allerdings nur als Anhaltswerte dienen. Sowohl hinsichtlich der Bevölkerung in cortiços als auch der ohne feste unterkunft machen die Zahlen jedoch eine Verschärfung der jeweiligen Problematik deutlich. Der im IBGE-Zensus zum Ausdruck kommende Bevölkerungsanstieg wirkt sich auch auf die Raumnutzung im Zentrum aus. So reduzierte sich die Zahl leerstehender Wohnungen im Zentrum und dem Zentrumsnahen Bereich zwischen 2000 und 2010 um gut 40 % (NaKaNo & Kohara 2013, S. 96 f.). Im Zentrum selbst (Sé und República) reduzierte sich zwischen 1991 und 2010 die Fläche der ungenutzten Grundstücke um fast 50 %. Die Fläche mit Apartmenthausbebauung niedrigen Standards verdoppelte sich im selben Zeitraum, der Anteil an der gesamten Raumnutzung bleibt allerdings gering (1,5 %), auch im Vergleich zur gleichen Raumnutzung mittleren Standards, die bei 10 % der Gesamtfläche liegt. Die Wohnfläche aller drei Standards umfasst im Zentrum knapp 15 % (Kara José 2010, S. 41 f.; secreTaria MuNiciPal de FiNaNças o. J.). Die geringfügige absolute Ausweitung der Wohnfläche aller drei Standards im Zentrum selbst geht überwiegend auf die neuerliche Nutzung leerstehender und / oder die umnutzung ursprünglich anderweitig verwendeter Gebäude zurück. V. a. in der Subpräfektur Sé kommt es aber zusätzlich in den letzten Jahren zu Neubauten von Apartmenthochhäusern. 2010 gab es 18 Neubauprojekte und 2011 sogar 37. Die meisten Neubauten erfolgten im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in den südwestlich gelegenen Distrikten zwischen Santa Cecília und Liberdade. Im Zentrum selbst gab es im Distrikt Sé fast keine neuen Markteinführungen, wohingegen in República die Zahl von vormals maxi41 42
Zur Problematik verlässlicher Zahlen zur Anzahl von Bewohner_innen in cortiços vgl. Kap. 4.2 und Kara José 2010, S. 51 ff. Derzeit laufen Vorbereitungen und Vorabstudien seitens des IBGE, um Obdachlose in der nächsten nationalen Volkszählung 2020 berücksichtigen zu können (SDH 2013, o. S.).
4.3 Das Zentrum
177
mal einem Neubauprojekt pro Jahr auf vier bzw. fünf in 2010 bzw. 2011 anstieg (eMbraesP o. J.). Mit Abstand wird die Raumnutzung im Zentrum allerdings von Handel und Dienstleistungen (67 %) dominiert. Eine deutliche Steigerung von gut 2,5 % auf knapp 5,7 % vollzog sich bei der Flächennutzung für nicht wohnhausgebundene Parkplätze und Parkhäuser im Zentrum (Kara José 2010, S. 41 f.; secreTaria MuNiciPal de FiNaNças o. J.; Abb. 24 im Farbteil). Die Steigerung an Parkmöglichkeiten ist vor dem Hintergrund einer steigenden Anzahl von Pkw zu sehen und trägt der Notwendigkeit einer entsprechenden Erreichbarkeit des Zentrums mittels Individualverkehr Rechnung. Insgesamt entspricht das Raumnutzungsmuster der in einem urbanen Zentrum zu erwartenden Verteilung zwischen den jeweiligen Funktionen. Die Tertiärisierung kommt auch in der Beschäftigungsstruktur zum Ausdruck. Das Zentrum besitzt immer noch einen überdurchschnittlich hohen Anteil der Arbeitsplätze São Paulos. Während nur gut 3,8 % / 0,7 % der Gesamtbevölkerung in der Subpräfektur Sé / im Zentrum wohnen, beträgt der Anteil der Arbeitsplätze im selben Raum knapp 17 % / gut 6 % (jeweils 2010). Von diesem Anteil sind wiederum fast 90 % der Arbeitsplätze in den Bereichen Dienstleistungen (knapp 74 %) und Handel (gut 15 %) angesiedelt. 7,5 % der Beschäftigten sind in der verarbeitenden Industrie tätig und weitere knapp 3,5 % im Bausektor (vgl. Abb. 25 im Farbteil). Allerdings ergibt eine Betrachtung der Werte auf der Distriktebene neuerlich ein differenzierteres Bild. So sind in den nordöstlichen zentrumsnahen Distrikten Bom Retiro, Pari, Brás und Cambuci zwischen ca. 23 % und 36 % in der Industrie tätig43, wohingegen der Anteil der im Dienstleistungssektor und im Handel Beschäftigten im südwestlichen Zentrumsnahen Bereich und im Zentrum selbst durchweg über 90 % liegt (MTE o. J. b). Neben dem Groß- und Einzelhandel sind bedeutende Dienstleistungsbereiche im Zentrum der öffentliche Sektor, unternehmensbezogene und personenbezogene Dienstleistungen sowie Finanzdienstleistungen (vgl. für folgende Ausführungen Kara José 2010, S. 67 ff. & 75 ff.). Die Bedeutung der öffentlichen Verwaltung als Arbeitgeber im Zentrum stieg in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts und in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends deutlich an. Grund dafür war die sukzessive Rückkehr städtischer und bundesstaatlicher Verwaltungseinheiten in das Zentrum. Nachdem die Präfektur Anfang der 1990er Jahre bereits aus dem Ibirapuera-Park in den am Rand des Zentrums gelegenen Dom Pedro II-Park umgezogen war, erfolgte im Jahr 2004 die abermalige übersiedlung in ein Gebäude unmittelbar am Vale do Anhangabaú (für eine detaillierte Aufstellung der Ämter und Behörden im Zentrum s. Kara Jose 2010, S. 253 ff.) . Andere öffentliche Ämter bezogen das Edifício Martinelli und weitere Gebäude in den beiden Zentrumsdistrikten Sé und República. Ergänzend zum öffentlichen Sektor – inklusive vieler hier lokalisierter Einrichtungen der Judikative (Gerichte, Staatsanwaltschaften u. ä.) – agieren viele auf diese Bereiche spezialisierte Dienstleistungsunternehmen im Zentrum. Außerdem gibt es einige unternehmen für gehobene, unternehmensbezogene Dienstleistungen. Stär43
Viele der in den drei Distrikten Bom Retiro, Pari, Brás Beschäftigten arbeiten dort in der Textilund Kleidungsproduktion. In diesen drei Distrikten und dem östlich anschließenden Distrikt Belenzinho sind gut 38 000 Menschen (2006) beschäftigt (MaTTeo 2012, S. 330).
178
4 Fallstudie São Paulo
ker vertreten sind aber die einfachen, personenbezogenen Dienstleistungen. Seit Beginn der 2000er Jahre stiegen mit der Liberalisierung des Telekommunikationssektors die Dienstleistungen in diesem Bereich. Dabei haben sich im Zentrum v. a. unternehmen des Telemarketings (Callcenter) niedergelassen. Ferner erlangte das Zentrum als Standort höherer Bildung an Bedeutung. Neben der seit ihrer Gründung im 19. Jahrhundert im Zentrum angesiedelten rechtswissenschaftlichen Fakultät, die Teil der öffentlichen universität von São Paulo (uSP) ist, ist hauptsächlich seit der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts eine vermehrte Ansiedlung von privaten universitäten im Zentrum zu beobachten. Zwischen 2000 und 2010 eröffneten 11 Hochschulen Standorte in sanierten Gebäuden in den Distrikten Sé oder República. Neben diesen neuen Dienstleistungssektoren behaupten sich auch die seit langem im Zentrum beheimateten Wirtschaftszweige. Auch wenn viele Arbeitsplätze im Bereich der Finanzdienstleistungen in die südwestlich gelegenen Zentrumsfragmente verlegt wurden, stellt das Zentrum immer noch den wichtigsten Pol dieses Sektors mit Blick auf die Zahl der Beschäftigten dar. Ebenso bedeutsam ist weiterhin der (spezialisierte) Groß- und Einzelhandel im Zentrum und dem Zentrumsnahen Bereich. Für viele Produktgruppen haben sich im Laufe der Zeit hochspezialisierte Standorte zu ihrer Vermarktung etabliert, deren Bedeutungsüberschuss teilweise über die Metropolitanregion São Paulo hinausreicht. Beispiele für diese Cluster sind die Rua Santa Ifigênia (Elektro- und Elektronik-Produkte), die Rua General Osório (Motorräder und Ersatzteile) und die Rua 25 de Março (Großund Einzelhandel für Textilien und Stoffe) (Kara José 2010, S. 72 ff.; NaKaNo eT al. 2004, S. 147 ff.). Die geschilderten Entwicklungen haben in den ersten zehn Jahren des neuen Jahrtausends zu einer Erholung der Beschäftigtenzahlen im Zentrum (Sé und República) geführt, so dass die Werte in etwa wieder den Stand zu Beginn der 1990er Jahre erreicht haben (Kara José 2010, S. 65; MTE o. J. b). Ähnlich wie bei der Wohnbevölkerung ist auch im Bereich der Beschäftigung im privaten Sektor zu beobachten, dass Beschäftigungsverhältnisse im geringen Einkommensbereich verhältnismäßig stark steigen, während hoch entlohnte Beschäftigungen abnehmende Tendenzen ausweisen (MTE o. J. c; Abb. 26 im Farbteil). Neben dem formellen Dienstleistungssektor spielt auch der informelle Sektor, v. a. der ambulante Straßenhandel, weiterhin eine Rolle. Allerdings haben seit Mitte der 1990er Jahre eine zunehmend repressivere Vorgehensweise gegenüber dem nicht geduldeten Straßenhandel einerseits und eine deutliche Reduktion des geduldeten ambulanten Handels andererseits zu einem starken Rückgang dieser informellen Aktivität im Zentrum geführt (Frúgoli Jr. 2000, S. 99 ff.; alcâNTara eT al. 2013, S. 53 f., coy 2007, S. 61). Der kulturelle Bereich hat im Zentrum an Bedeutung gewonnen. Neben den hier seit langem ansässigen Einrichtungen wie dem Teatro Municipal (Distrikt República) und dem Teatro São Pedro (Distrikt Santa Cecília) sind neue hinzugekommen. So haben verschiedene unternehmen Kulturzentren oft in ihren vormaligen Geschäftsräumen im Zentrum eröffnet (u. a. Centro Cultural do Banco do Brasil, Centro Cultural Correios und Caixa Cultural da Caixa Econômica Federal). Freie Theatergruppen gründeten mehrere Theater in der Nachbarschaft der Praça Roosevelt (Distrikt República) (Kara José 2010, S. 86 f.). Vonseiten des Bundes-
4.3 Das Zentrum
179
staates São Paulo gab es im Bereich der zentralen Bahnhöfe im Norden des Zentrums Konversionsprojekte, in deren Rahmen Teilbereiche der Bahnhofsgebäude und weitere Gebäude in ihrer umgebung in Kultureinrichtungen umgewandelt wurden. Bereits Anfang der 1990er Jahre entstand so der Konzertsaal Sala São Paulo in einem Teil der Estação Júlio Prestes. Es folgten in den ersten 2000er Jahren die Gedenkstätte des Widerstands gegen die Militärdiktatur in unmittelbarer Nachbarschaft zur Sala São Paulo in einem Gebäude des ehemaligen Departamento de Ordem Política e Social (DOPS; Abteilung für politische und soziale Ordnung) während der Militärdiktatur; zusätzlich beherbergt das Gebäude auch eine Erweiterung der Pinakothek des Bundesstaats mit dem Namen „Estação Pinacoteca“. In dem Bahnhof Estação da Luz ist seit 2006 das Museum der portugiesischen Sprache untergebracht44 (vgl. Kara José 2010, S. 104 ff.). Dieser Wandel des kulturellen Angebots im Zusammenhang mit der Instandsetzung historisch wichtiger Gebäude trägt auch dazu bei, dass kulturell, geschichtlich und religiös bedeutende Orte des Zentrums, wie Plätze, (historische) Bauwerke und Kirchen sowie größere städtebauliche Ensembles für die städtische Bevölkerung als Ganzes (wieder) (verstärkt) als symbolische Referenzen dienen und so einen Beitrag zur Herausbildung einer spezifischen Identität leisten (alVes 2010, S. 75 ff.). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends im Zentrum São Paulos einige Entwicklungen der 1990er Jahre umgekehrt haben. So ist sowohl die Zahl der hier Wohnenden wieder angestiegen als auch die der im Zentrum Beschäftigten. In beiden Fällen vollzogen sich zusätzlich Veränderungen in der Struktur und der Zusammensetzung der beiden Gruppen. So gehören sowohl große Teile der Bewohner_innen als auch der Beschäftigten zu den Geringerverdienenden. Der Anteil der Besserverdienenden in beiden Bereichen ist dagegen in dieser Dekade kontinuierlich zurückgegangen. Die Dienstleistungsstruktur im Zentrum hat sich in diesem Jahrzehnt (wieder) diversifiziert. Auch wenn der Einzel- und Großhandel weiterhin dominiert, erweiterte sich das Angebot um weitere Sektoren. So zogen ehemals abgewanderte öffentliche Einrichtungen wieder ins Zentrum zurück. Mit dem Bereich Telemarketing ist zudem ein weiterer Dienstleistungssektor im Zentrum vertreten; und höhere Bildungseinrichtungen ließen sich mit neuen Standorten im Zentrum nieder. Diese ziehen Studierende aus anderen Teilen der Stadt an und sorgen so für einen Bedeutungsüberschuss des Zentrums gegenüber der Gesamtstadt. Gleiches gilt für die neuen Kulturangebote, die ebenfalls zu einer heterogeneren Gruppe derer, die das Zentrum frequentieren, führen (können). In den 1990er Jahren zu konstatierende Abnahmetendenzen in unterschiedlichen Bereichen im Zentrum scheinen gestoppt zu sein. Dabei erfolgt einerseits eine gewisse sozioökonomische Homogenisierung mit Blick auf die längerfristig anwesende Bevölkerung (Bewohner_innen und Arbeitnehmer_innen) bei gleichzeitig möglicher Diversifizierung derjenigen, die das Zentrum kurzfristig aufsuchen (Besucher_innen anderer Stadtteile und Tourist_innen).
44
Ein gegenüber der Sala São Paulo vonseiten des Bundesstaats São Paulo geplantes Tanztheatergebäude wurde vor kurzem zumindest vorläufig zurückgestellt (esTadão 17.03.2014, o. S.).
180
4 Fallstudie São Paulo
4.4
INTERVENTIONEN IN DER INNENSTADT VON SãO PAuLO
Die dargestellten langfristigen als auch die jüngeren Veränderungen im Zentrum São Paulos beruhen auf einem vielfältigen Bündel von ursachen. Dazu gehören privatwirtschaftliche Initiativen, individuelle persönliche Entscheidungen und Interventionen der öffentlichen Hand sowie unterschiedliche Kombinationen einzelner ursachen. Interventionen, die vonseiten der öffentlichen Hand geplant und mit unterschiedlichem Nachdruck umgesetzt wurden, sind v. a. ab den frühen 1990er Jahren von Bedeutung und spielen bei den Innenstadtpolitiken eine wichtige Rolle. Seit dieser Zeit zielen Programme, Politiken und Eingriffe explizit auf eine Veränderung und in den Augen der Verantwortlichen von Stadtregierung und -verwaltung auf eine Verbesserung der von diesen als korrekturwürdig eingestuften Gegebenheiten im Zentrum ab. Vorangegangene Pläne der Revitalisierung aus den 1970er und 1980er Jahren erfuhren nur eine sehr bedingte bis keine umsetzung (Kara José 2010, S. 27). Allerdings gab es auch in diesen Jahrzehnten Eingriffe im Zentrum, die unmittelbar dort Auswirkungen zeitigten und zu Veränderungen – v. a. auch im öffentlichen Raum – beitrugen. Erwähnenswert sind hier der Bau der beiden uBahnlinien Nord-Süd und West-Ost, im Zuge dessen die Bereiche um die neuen u-Bahnstationen, z. B. die Plätze Sé und São Bento, teilweise grundlegende Veränderungen erfuhren. Gleiches gilt für viele Straßenzüge im Alten wie im Neuen Zentrum, die Ende der 1970er Jahre in ein großes Netz von Fußgängerzonen (calçadão) umgewandelt wurden und damit einen grundlegenden Nutzungswandel erfuhren (Frúgoli Jr. 2000, S. 61 ff.; araVecchia & boNduKi 2004, S. 4). Ferner wurde das Edifício Martinelli, das in den Jahren zuvor vernachlässigt worden war und sich teilweise zu einem cortiço entwickelt hatte, von Grund auf renoviert. Weitere symbolträchtige Bauwerke und Gebäude im Zentrum wie das Viaduto Santa Ifigênia und der Pátio do Colégio (überlieferter Ort der Stadtgründung durch die Jesuiten im 16. Jahrhundert) wurden erneuert und erhielten ihr heutiges Aussehen (araVecchia & boNduKi 2004, S. 5; Frúgoli Jr. 2000, S. 63). Diese Eingriffe waren aber räumlich und zeitlich eher punktuell. Eine gewisse zeitliche Konstanz einerseits und eine räumlich breitere Abdeckung andererseits erlangten die Politiken für das Zentrum ab Beginn der 1990er Jahre. Als Ausgangspunkt kann die komplette umgestaltung des Vale do Anhangabaú ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre gesehen werden. Das städtebauliche Großprojekt bestand aus der untertunnelung der Nord-Südführenden Durchgangsstraße und hatte damit einerseits gesamtstädtische Bedeutung, gleichzeitig beinhaltete es auch die grundlegende umgestaltung des neu geschaffenen Raums oberhalb des Tunnels in eine parkähnliche Anlage, deren Gestaltung Anfang der 1990er Jahre abgeschlossen wurde und so andererseits grundlegende Veränderungen für das Zentrum bedeutete (araVecchia & boNduKi 2004, S. 8 f.; Frúgoli Jr. 2000, S. 64). Die Maßnahmen, die vonseiten der öffentlichen Hand seitdem zur Veränderung der Situation im Zentrum ergriffen wurden, lassen sich in drei große Gruppen unterteilen. Ein Bündel von Maßnahmen setzt auf Anreize für private Investoren, um diese (wieder) für das Zentrum zu interessieren und sie zu Immobilienprojekten oder zur Ansiedlung von Dienstleistungsunternehmen zu motivieren. Direkte Ein-
4.4 Interventionen in der Innenstadt von São Paulo
181
griffe seitens des öffentlichen Sektors sind hier nicht primäres Ziel, sondern nachrangig im Zuge erfolgreicher Einwerbung von Investitionen und damit verbundenem Lukrieren zusätzlicher Mittel möglich. Eine weitere Gruppe von Maßnahmen beinhaltet Investitionen im Wohnungssektor, wobei es sich hier sowohl um Anreizsysteme für private Investoren handeln kann, als auch um unmittelbare Baumaßnahmen, die (zunächst) vonseiten der öffentlichen Hand finanziert werden. Hintergrund bei diesem Paket an Maßnahmen ist die Tatsache einer abnehmenden Bevölkerungszahl im Zentrum seit den 1980er Jahren und die Annahme, dass die umkehrung dieses Prozesses zu einer Verbesserung der Situation in der Innenstadt führen kann – bei gleichzeitiger, als sinnvoll erachteter, bestmöglicher Ausnutzung der im Zentrum gut ausgebauten Infrastruktur. Ein dritter Block an Maßnahmen sind solche, bei denen meist die Stadtverwaltung, aber auch der Bundesstaat oder der Bund, unmittelbar Interventionen im Zentrum angehen, die sich mit der Veränderung der Gegebenheiten befassen und deswegen die Ziele wie beispielsweise reabilitação, regeneração, recuperação, renovação oder revitalização (vgl. Kap. 2.1.4) im Namen des jeweiligen Projekts oder Programms zum Ausdruck bringen. Hierbei handelt es sich aufgrund der städtischen Eigentumsstruktur primär um Maßnahmen im öffentlichen Raum und an öffentlichen Gebäuden, worauf die öffentliche Hand direkt Zugriff hat. 4.4.1
Hilfe zur Fremdhilfe – Anreize für private (Immobilien)Investitionen
Der Immobilienmarkt Brasiliens – und damit auch São Paulos – ist in starkem Maße kapitalistisch geprägt. Die Möglichkeiten des Eingriffs durch die öffentliche Verwaltung sind entsprechend begrenzt und werden darüber hinaus oft auch nicht in ihrem vollen umfang (vgl. Estatuto da Cidade; Kap. 3.2) wahrgenommen. Statt Grundeigentümer_innen und Immobilienunternehmen mit restriktiven Bestimmungen – beispielsweise durch eine progressive Grundsteuer im Falle des nicht verfassungskonformen, längerfristigen Leerstands von Grundstücken und Gebäuden (s. u.) – zu Maßnahmen zur Verbesserung der Situation im Zentrum zu drängen, wird eher auf – in den Gesetzen ebenfalls vorgesehene – Anreizsysteme zurückgegriffen. Ein solches Instrument ist die operação urbana, die Anreizmechanismen für die Beteiligung des privaten Sektors in gesetzlich festgelegten Gebieten vorsieht, in denen die Implementierung eines Bündels von städtebaulichen Interventionen geplant ist. In São Paulo war die Möglichkeit erstmals im Masterplan von 1988 und im Lei Orgânica (Kommunalverfassung) vorgesehen (Nobre 2009, S. 223). In Folge wurde dieses Instrument unter dem Titel operação urbana consorciada (OuC) auch in das bundesweite Estatuto da Cidade aufgenommen, in dem es in Artikel 32 dazu heißt: „Als operação urbana consorciada werden diejenigen Interventionen und Maßnahmen angesehen, welche von der kommunalen Regierung (poder público municipal) koordiniert sind und in deren Rahmen auch die Partizipation von Bodeneigentümern, Bewohnern, ‚Dauernutzern‘ (usuários permanentes) und Investoren berücksichtigt wird. Zweck einer OuC ist das Erreichen von städtebaulichen und strukturellen Transformationen in einem gegebenen Stadtbe-
182
4 Fallstudie São Paulo reich, sozialen Verbesserungen und Schutz der umwelt (valorização ambiental)“ (Estatuto da Cidade, Lei No. 10.257/2001, Art. 32, in: Mororó 2012, S. 290 f.).
Im vom Munizip jeweils für das betreffende städtische Gebiet zu verabschiedenden Gesetz sind neben den allgemeinen Zielen einerseits die Anreize für Investoren aufzuführen und andererseits die Gegenleistungen, die dafür von diesen zu erbringen sind, um die öffentlichen Ziele einer umfeldverbesserung und eines Infrastrukturausbaus in dem entsprechenden Gebiet umsetzen zu können. Es handelt sich folglich um ein Instrument, das die Public-Private-Partnership als zentrales Element vorsieht. In São Paulo wurde 1991 für Teile des Zentrums zunächst das Gesetz der „Operação urbana Anhangabaú“ (lei MuNiciPal 11.090 / 1991) verabschiedet. Es hatte zum Ziel, das Zentrum städtebaulich zu verbessern, die Nutzung ungenutzter oder gering genutzter Gebäude zu erhöhen, Anreize für den Erhalt historischer Bausubstanz zu schaffen und die Wohnnutzung zu fördern. Zum Erreichen dieser Ziele wurden interessierten Investoren verschiedene kostenpflichtige Ausnahmeregelungen (outorga onerosa) im betreffenden Gebiet angeboten, die durch monetäre Zahlungen der begünstigten Investoren kompensiert werden sollten. Der damit eingenommene Betrag stand dann wiederum der öffentlichen Hand für die Realisierung der genannten Ziele zur Verfügung. Bei den Ausnahmeregelungen handelte es sich um die Möglichkeit, Sondergenehmigungen bezüglich der Grundstücksnutzung und der Baugesetzgebung gewährt zu bekommen, um die nachträgliche Regulierung von seinerzeit nicht gesetzeskonform errichteten Bauten oder um die übertragung von Baurechten von Grundstücken mit historischen, schützenswerten Gebäuden auf andere Grundstücke außerhalb des betreffenden Gebiets. Allerdings führten die angebotenen Investitionsanreize bis zum Auslaufen des Gesetzes 1994 nicht zu dem gewünschten Erfolg, nur wenige Investoren nahmen diese in Anspruch und entsprechend standen kaum Mittel für die konkreten Zielerreichungen zur Verfügung (Nobre 2009, S. 223 f.; araVecchia & boNduKi 2004, S. 10). Das mittelbare Nachfolgegesetz ist das der „Operação urbana Centro“ von 1997 (lei MuNiciPal 12.349 / 1997), das bis heute in Kraft ist. Die gesetzlich festgelegte Fläche umfasst die beiden Distrikte Sé und República und die zwischen Zentrum und Bahnlinie befindlichen Bereiche des Distrikts Brás. Es sah zur städtebaulichen Zielerreichung und deren Finanzierung ebenfalls verschiedene Mechanismen vor. Eine mögliche kostenpflichtige Ausnahmeregelung (outorga onerosa) ist die Inanspruchnahme einer höheren (6 bis max. 12 je nach Nutzung) als der allgemein erlaubten Geschossflächenzahl von 4. Bestehen bleibt weiterhin die Möglichkeit des übertrags von Baurecht in andere Stadtgebiete bei gleichzeitigem Erhalt von historisch wertvollen, denkmalgeschützten Gebäuden im Gebiet der Operação urbana und die Möglichkeit der Nutzungsänderung entgegen des ursprünglichen Zonierungsplans. Die Ergebnisse und damit der Erfolg dieses Anreizsystems halten sich auch bei der jüngeren Gesetzgebung in Grenzen. Insgesamt verläuft die Dynamik bezüglich der Anträge der Investoren zur Beteiligung an der „Operação urbana Centro“ gebremst. So entwickelte sich z. B. die akkumulierte Zahl aller Anträge für die übertragung der Baurechte von 30 Anträgen im Jahr 2001 über 33 im Jahr 2003
4.4 Interventionen in der Innenstadt von São Paulo
183
zu 36 in 201445 (Quellen gemäß der Reihenfolge: NaKaNo eT al. 2004, S. 143; Nobre 2009, S. 225; SP-urbaNisMo 2014, S. 1). Außerdem erwies sich die Möglichkeit der Baurechtsübertragung, die ca. ein Drittel der Anträge ausmacht, in gewissem Maße als kontraproduktiv, da dies zu Investitionen außerhalb des gesetzlich festgelegten Gebiets führte46 (Nobre 2009, S. 224 f.; FeldMaNN 2004, S. 39; NaKaNo eT al. 2004, S. 142 f.). Aufgrund des geringen Interesses waren folglich auch die Einnahmen, die aus den kostenpflichtigen Ausnahmeregelungen resultierten, mit 20 Mio. R$ zwischen 1997 und 2011 vergleichsweise gering und lagen deutlich unter denen in anderen Operações Urbanas in São Paulo47. Dennoch wurden im Zentrum mit Hilfe der Finanzierung aus Zahlungen der privaten Investoren im Rahmen der „Operação urbana Centro“ einige Interventionen durchgeführt. Das erste größere Projekt war die umgestaltung der Praça do Patriarca (Distrikt Sé). Hierbei wurde der ursprünglich u. a. als Busterminal dienende Platz 2002 komplett neu gestaltet, in eine Fußgängerzone umgewandelt und mit einem großen, weißen, dachähnlichen und den Platz prägenden Portal versehen, das den Rolltreppenabgang zur Galeria Prestes Maia und zum Vale do Anhangabaú überspannt (NaKaNo eT al. 2004, S. 146). Der Entwurf dazu stammte von dem zeitgenössischen Architekten Paulo Mendes da Rocha, der es im Auftrag der NGO Associação Viva o Centro (AVC) (vgl. Kap. 4.6.1.1) entworfen hatte. Entsprechend euphorisch äußerte sich der leitende Direktor der AVC bei der Einweihung des neu gestalteten Platzes: „Dies ist ein alter Traum, der nun realisiert wird. Die Idee ist, ein architektonisch hochwertiges Monument zu bauen, das die Richtung vorgibt, damit alle nachfolgenden Interventionen im Zentrum, seien sie öffentlich oder privat, auf dem Niveau dieses Portals sein mögen“48 (Marco Antônio Ramos de Almeida, zit. in alMeida 2007, S. 51, eigene übersetzung).
umgekehrt hat die umgestaltung aber auch Kritik hervorgerufen. So schreibt die Geographin aNa FaNi alessaNdri carlos: „[...] die Revitalisierung der Praça do Patriarca, [...], beseitigte das Busterminal, was ohne Fahrgäste im Transit zur Vernichtung des ambulanten Handels führte und schlussendlich schuf ein Architekt ein großes, weißes Portal ohne irgendwelche Beziehungen zu dem Platz und zu dem Leben des Platzes als Verehrung einer ausschließenden und erinnerungslosen Monumentalität“49 (carlos 2007, S. 89; eigene übersetzung). 45 46
47 48 49
Von den in allen Bereichen der „Operação urbana Centro“ beantragten Projekten (125, Stand: Mai 2014) wurden außerdem nur knapp 1/5 (23) bewilligt. Dass das Instrument der operação urbana nicht grundsätzlich als ungeeignet eingeschätzt werden kann, zeigt sich an anderen, ähnlichen Gesetzen für andere Flächen im Stadtgebiet von São Paulo. So hat die „Operação urbana Faria Lima“ im südwestlich des Zentrums gelegenen Quadranten das Interesse von Investoren gefunden und in Folge dessen auch zu einer beachtlichen Gegenleistung für die öffentliche Hand geführt (Nobre 2009, S. 225). Interview mit Eneida Belluzzo Godoy Heck, Mitarbeiterin der Gerência de Operações urbanas im städtischen Stadtplanungsunternehmen SP-urbanismo (vormals EMuRB), am 15.08.2011 in São Paulo. Esse é um velho sonho que se realiza. A idéia de construir um monumento arquitetônico qualificado é dar o tom para que todas as outras intervenções posteriores no centro públicas ou privadas, estejam à altura deste portal.“ „[...] a revitalização da Praça do Patriarca, [...], extinguiu os terminais de ônibus, que sem pas-
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4 Fallstudie São Paulo
Ferner macht die Gestaltung deutlich, dass die Nutzung v. a. auf den Fußgängerverkehr ausgerichtet ist und dem Verweilen mangels Sitzgelegenheiten keine besondere Bedeutung zukommt; außerdem erlaubt die sehr offene Gestaltung z. B. fast ohne Bäume, dass eine gute Einsehbarkeit und Kontrolle möglich ist (alMeida 2007, S. 51). Ein ähnlich umfangreiches Projekt, das u. a. mit Mitteln aus der „Operação urbana Centro“ finanziert wurde50, ist der vor zwei Jahren abgeschlossene umbau der Praça Roosevelt (Distrikt República). Hier wurde eine fünfeckige Betonkonstruktion aus den 1960er Jahren abgetragen und durch eine komplett neue, weitgehend ebenerdige Platzgestaltung ersetzt (balbiM & caMPagNer 2011, o. S.; sPurbaNisMo o J., o. S.). Neben diesen öffentlichen städtebaulichen Interventionen, die – zumindest teilweise – aus den Mitteln der „Operação urbana Centro“ ermöglicht wurden, gibt es auch einige Denkmalschutzprojekte, die sich mit Hilfe der vorgesehenen Anreizinstrumente durch die Eigentümer realisieren ließen. In einer Informationsbroschüre wird auf drei „Leuchtturmprojekte“ verwiesen, die Teil der beantragten, bewilligten und bereits durchgeführten Projekte sind: Das denkmalgeschützte Gebäude des ehemaligen Hauptsitzes der Banco do Brasil im Distrikt Sé wurde u. a. mit Mitteln aus dem Verkauf von Baurechten außerhalb des Gebiets der „Operação urbana Centro“ restauriert und beherbergt heute das Kulturzentrum dieser Bank in São Paulo. Auf gleiche Weise wurde die Restaurierung eines historischen Gebäudes im Distrikt República finanziert, das heute als Sitz der Gewerkschaft der Angestellten der Telekommunikationsunternehmen im Bundesstaat São Paulo (Sindicato dos Trabalhadores em Telecomunicações no Estado de São Paulo – SINTETEL) fungiert. Ein denkmalgeschütztes Gebäude im Besitz der bundesstaatlichen Justiz wurde saniert und das dadurch nicht in Anspruch genommene Baurecht wurde auf zusammengelegte Nachbargrundstücke übertragen, auf denen ein modernes Bürogebäude errichtet wurde. Das sanierte Gebäude ist heute das Museum des bundesstaatlichen Gerichtshofs (EMuRB o. J., S. 7; SP-urbaNisMo 2014, S. 2 ff.). Trotz dieser herausragenden, aber singulären Beispiele ist das allgemeine Interesse an dieser Operação urbana allerdings weiterhin gering. um potenzielle Interessenten zu erreichen, wurden deshalb in der jüngeren Vergangenheit verschiedene Disseminationsstrategien wie die Neuauflage einer Informationsbroschüre (Cartilha da Área Central) (SP-urbaNisMo 2010) durchgeführt und Informationsveranstaltungen geplant (SP-urbaNisMo 2011). Dennoch fällt ein (Zwischen)Fazit zur Operação urbana Centro ernüchternd aus. „Obwohl die Operação urbana Centro das höchste Baurecht [hinsichtlich der Geschossflächenzahl] erlaubt, das in anderen Operações urbanas auf [die Geschossflächenzahl von] vier
50
sageiros transitando, erradicou o comércio ambulante e, para finalizar, um arquiteto criou um grande pórtico branco, sem quaisquer relações com a praça e com a vida da praça, como culto à monumentalidade excludente e amnésica.“ Möglich wurde die Realisierung des auf ca. 40 Mio. R$ veranschlagten Projekts schlussendlich aber durch die zusätzliche Finanzierung aus Mitteln der Banco Interamericano de Desenvolvimento (BID; Interamerikanische Entwicklungsbank) im Rahmen des Programms PROCENTRO-2005 (vgl. Kap. 4.4.3).
4.4 Interventionen in der Innenstadt von São Paulo
185
begrenzt ist, hat sie wenig Interesse auf dem Immobilienmarkt geweckt und die Einnahmen aus der OuC blieben unbedeutend. Auch wenn sie bereits seit mehr als zehn Jahren in Kraft ist, hat sie sich nicht als ein Instrument erwiesen, das in der Lage wäre, notwendige Veränderungen im Zentrum anzustoßen, und ebenso wenig kann man sich vorstellen, dass sich die Gesellschaft die OuC zu eigen gemacht hätte“51 (balbiM & caMPagNer 2011, o. S.; eigene übersetzung).
Ähnlich äußern sich immer wieder weitere Autor_innen seit kurz nach Beginn der „Operação urbana Centro“ bis in die jüngere Vergangenheit (NaKaNo eT al. 2004, S. 142; araVecchia & boNduKi 2004, S. 12; Kara José 2010, S. 29). In gleicher Weise äußert sich auch Eneida Heck, Mitarbeiterin in der Verwaltung der Operações Urbanas im städtischen Stadtplanungsunternehmen SP-urbanismo, und weist zusätzlich auf das aktuelle Problem der Konkurrenz der Anreize hin: „Diese Operação urbana Centro ist ein Gesetz, das erlaubt, dass man in diesem Gebiet [dem Zentrum] Anreize in Anspruch nehmen kann, die es in anderen Gebieten seinerzeit nicht gab. Heute haben auch andere Gebiete diese Anreize. Wie dem auch sei, das Gesetz existiert. Die Operação urbana Centro ist mehr oder weniger vergessen, weil der [Immobilien]Markt wohin geht? An die [Avenida] Faria Lima.“52
Ein über das Instrument der operação urbana hinausgehendes Werkzeug stellt die concessão urbanística dar. Auch hierbei handelt es sich um ein Instrument, dessen umsetzung der Public-Private-Partnership bedarf, wobei die Möglichkeiten der Intervention für den privaten Sektor deutlich weiter gehen als bei der operação urbana. bei der concessão urbanística überträgt das Munizip die Einführung und umsetzung eines städtebaulichen Projekts für einen bestimmten Teil der Stadt einem alleinigen Konzessionär oder einem Konsortium, das gemeinsam die Konzession zur Entwicklung und umsetzung erhält. Die Einnahmen der Konzessionäre und die Mittel für die Maßnahmen im öffentlichen Interesse – also meist Infrastruktur im weitesten Sinn – speisen sich in Folge der umsetzung des Projekts aus der Vermarktung der (neu geschaffenen) privaten Immobilien innerhalb des Projekts. Möglichkeiten, die dem Konzessionär für die Realisierung des Projekts zur Verfügung stehen, sind laut Gesetz u. a. die (Neu)Parzellierung von Grundstücken und der Abriss und Neubau von Gebäuden sowie entschädigungspflichtige Enteignun51
52
„Apesar de permitir o mais alto potencial construtivo da cidade, que em outras áreas de Operação urbana está limita a quatro, a OuCentro não tem despertado grande interesse do mercado imobiliário e sua arrecadação não chega a ser expressiva. Mesmo em andamento há mais de 10 anos, a OuCentro não se mostrou um instrumento capaz de incentivar as transformações necessárias na região central da cidade e tampouco pode-se imaginar que a Ou foi “apropriada” pela sociedade.“ „Esta Operação urbana Centro é uma lei que permite que você tem alguns incentivos aqui nesta área que outras áreas na época não tinham. Hoje, as outras áreas já têm incentivos para isso. De qualquer forma, estamos aqui. É meio esquecido, esta operação urbana Centro. Por que o mercado vai para onde? Para a Faria Lima“ (Interview mit Eneida Belluzzo Godoy Heck, Mitarbeiterin der Gerência de Operações urbanas im städtischen Stadtplanungsunternehmen SP-urbanismo, am 15.08.2011 in São Paulo). Diese Attraktivität für den (Büro)Immobilienmarkt wird auch von anderer Seite bestätigt. So liegen die Mieteinnahmen an den Standorten Av. Berrini, Marginal Pinheiros und Av. Verbo Divino zwei- bis viermal über denen, die im Zentrum erzielt werden können und an der Av. Paulista und der Av. Faria Lima sogar um den Faktor drei bis fünf über den Mieten im Zentrum (scharMaNsKi 2009).
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4 Fallstudie São Paulo
gen auf Basis des vonseiten des Munizips an den Konzessionär übertragenen Vorkaufsrechts (MaleroNKa 2013, S. 1 ff.). Als Instrument bereits im „Plano Direitor Estratégico“ von 2002 (lei MuNiciPal 13.430 / 2002) vorgesehen, wurde dieses Werkzeug in seiner generellen Form 2009 als eigenes Gesetz (lei MuNiciPal 14.917 / 2009) in São Paulo verabschiedet; zeitgleich erfolgte die gesetzliche Fassung der ersten konkret vorgesehenen concessão urbanística zur Realisierung eines städtebaulichen Großprojekts im Stadtviertel Luz im Norden des Distrikts República im Zentrum São Paulos (lei MuNiciPal 14.918 / 2009). Die Ausarbeitung des dieser sogenannten „Concessão urbanística Nova Luz“ zugrundeliegenden städtebaulichen Projekts (projeto urbanístico específico) wurde 2010 an ein Konsortium aus mehreren unternehmen vergeben. Die Kosten für die im Projekt vorgesehenen Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Infrastruktur sollen zum einen aus den Einnahmen der Vermarktung von Immobilien und Grundstücken durch das Konzessionär-Konsortium getragen (s. o.) und zu einem anderen Teil außerdem aus öffentlichen Mitteln bestritten werden. Den Leitbildern der kompakten und der nachhaltigen Stadt folgend, strebt das Projekt die Intensivierung der Bodennutzung des derzeit in Teilen als zu gering genutzt angesehenen Raumes an (MaleroNKa 2013, S. 5 ff. & 9 ff.; coy & TöPFer 2012, S. 10)53. realisiert werden soll die concessão urbanística in einem Gebiet, für das bereits viele Programme der umstrukturierung erarbeitet und teilweise realisiert wurden. Die letzten Interventionen v. a. von bundesstaatlicher Seite zielten auf die Einrichtung kultureller „Leuchttürme“ ab wie des Konzertsaals Sala São Paulo, der Museen Estação Pinacoteca und Museu da Língua Portuguesa sowie auf die Renovierung der Pinakothek selbst (Moreira 2010, S. 4 ff.; vgl. Kap. 4.3.4). Das Gebiet der geplanten Interventionen fällt außerdem weitgehend mit einem Areal zusammen, das in São Paulo seit Anfang der 1990er Jahre als Cracolândia bekannt ist. Dieser meist abschätzig und oft von den Medien verwendete Begriff geht auf die Häufung von v. a. Crack konsumierenden Menschen innerhalb des Gebiets rund um den Bahnhof Luz zurück. Die mit dem Drogenkonsum verbundenen Begleiterscheinungen wie Drogenhandel, Beschaffungskriminalität und (Beschaffungs)Prostitution haben in der breiten Öffentlichkeit mit Hilfe der weitgehend einseitig berichtenden Medien das Bild eines innerhalb des Zentrums besonders degradierten und gefährlichen Stadtviertels entstehen lassen (Moreira 2010, S. 3 und TöPFer 2011, S. 98 f.). Angesichts dessen werden andere Charakteristika, die dieses Gebiet ausmachen, oft weniger beachtet. So ist das Gebiet einerseits auch Wohnort vieler Menschen v. a. aus niedrigen Einkommensschichten und ein über das Munizip São Paulo hinaus bedeutender Einzelhandelsstandort kleiner Handelsunternehmen u. a. für Elektro- und Elektronikprodukte sowie Motoradzubehör (vgl. Kap. 4.3.4). Im Rahmen der „Concessão urbanística Nova Luz“ sind es v. a. Vertreter_innen dieser beiden Gruppen, die dem Projekt mit 53
Vgl. auch das Projekt des beauftragten unternehmenszusammenschlusses von Aecom Technology Corporation (uSA), Cia. City (BR), Fundação Getúlio Vargas (BR) und Concremat Engenharia (BR): Projeto Nova Luz, São Paulo, Brasil, Projeto urbanístico Específico (PuE), Subproduto 5.1: PuE Consolidado, Julho de 2011 (uRL: http://www.prefeitura.sp.gov.br/ cidade/secretarias/upload/desenvolvimento_urbano/arquivos/nova_luz/201108_PuE.pdf (Zugriff: 15.06.2014).
4.4 Interventionen in der Innenstadt von São Paulo
187
Widerstand begegnen, da sie fürchten, aufgrund der mit dem Projekt intendierten Aufwertung verdrängt zu werden, wenn sie sich in Zukunft die gestiegenen Mietund Immobilienpreise nicht mehr leisten können (hiraTa & saMora 2012, S. 3 & 10 f.)54. Neben Protesten in öffentlichen Anhörungen zu dem Projekt sowie mitunter kreativen und multimedialen Demonstrationsformen55 wurde von den vertretenden Organisationen auch immer wieder der Rechtsweg beschritten und so das Vorhaben immer wieder (vorübergehend) gestoppt (Folha de s. Paulo 02.08.2012). Nach einem Regierungswechsel wurde es Anfang 2013 vonseiten der Stadtregierung wegen wirtschaftlicher undurchführbarkeit eingestellt (Folha de s. Paulo 24.01.2013) und eine Gesetzesinitiative sieht die Annullierung des Gesetzes für die „Concessão urbanística Nova Luz“ vor56. Neben den Anreizmechanismen wie der operação urbana und der concessão urbanística, die (un)mittelbar städtebauliche Verbesserungen bewirken sollen, gibt es auch solche, die bestimmte, meist wirtschaftliche Aktivitäten anziehen sollen, von denen – neben der Instandsetzung und haltung der jeweiligen Geschäftslokale – allgemein eine positive Entwicklung des Zentrums erwartet wird. Ein erstes Gesetz dahingehend war das Gesetz für ausgewählte Anreize (lei MuNiciPal 13.496 / 2003) von 2003, das die Niederlassung oder Ausweitung von unternehmen bestimmter Branchen in den beiden Distrikten Sé und República bewerben und unterstützen sollte. Die unterstützung wird primär durch den temporären und teilweisen Nachlass munizipaler Steuern wie der Grundsteuer geleistet, wobei die unterstützung kleiner unternehmungen höher ausfallen sollte als die größerer Firmen. Dieses Gesetz wurde jedoch nie umgesetzt (silVa 2006, S. 93 ff.). Ein ähnliches Gesetz stammt von der Nachfolgeregierung und weist neben dem Grundprinzip der 54
55
56
Informationsmaterial, herausgegeben von der Secretaria de Desenvolvimento urbano (Amt der Städtischen Entwicklung), der Stadtregierung und des städtischen Stadtplanungsunternehmens SP-urbanismo (Projeto Nova Luz – Visão e Diretrizes urbanísticas. In: http://gestaourbana. prefeitura.sp.gov.br/arquivos/cmpu/18a%20ReuniaoOrdinaria_15_12_10.pdf, Zugriff 16.06.2014), von 2010 legt ebenfalls diese Schlussfolgerung einer möglichen Verdrängung nahe. Darin werden in Grafiken sowohl für die Bewohner_innen als auch für die Gewerbetreibenden neben den derzeitig Ansässigen (ocupante atual) auch die ihnen potenziell folgenden Pioniere (pioneiro) und schließlich die wiederum darauf Folgenden (seguidor) erwähnt. Dass dabei begrifflich auf die verschiedenen Phasen der Gentrifizierung (Pionierphase, Zuzug von Besserverdienenden) Bezug genommen wird, wird zwar in dem Informationsmaterial nicht ausdrücklich erwähnt, fügt sich aber in ein allgemein und weltweit beobachtbares Bild, wonach Städte Gentrifizierung und v. a. die damit verbundenen Phasen als einen Teil der Aufwertung bewusst propagieren und anstreben (holM 2010, S. 8 &18 ff.). u. a. wurden Informationen zu Protesten, zum Stand der Dinge der Gerichtsverfahren und zum Projekt und den Problemen aus Sicht der Betroffenen über eine kleine Zeitung (Jornal Apropriação da Luz; s. https://groups.google.com/forum/#!msg/amoaluz/amtE0irz7HA/cFFQRvJxtuIJ; Zugriff: 19.06.2014), über einen Weblog (http://www.apropriacaodaluz.blogspot.co.at/) und mittels Diskussionssendungen zu kontroversen Themen rund um die „Concessão urbanística Nova Luz“ in einem Web-TV-Kanal (Beispielsendung: http://apropriacaodaluz.blogspot. co.at/2013/03/2-programa-do-tv-apropriacao-da-luz.html; Zugriff: 19.06.2014; zum TV-Kanal: #posTV.org; s. auch https://www.facebook.com/canalpostv/info) verbreitet. s. http://www3.prefeitura.sp.gov.br/cadlem/secretarias/negocios_juridicos/cadlem/alteracoes.asp?c=L +149180000; Zugriff: 19.06.2014.
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4 Fallstudie São Paulo
Förderung v. a. wirtschaftlicher Aktivitäten, was es mit dem Vorgängergesetz gemeinsam hat, auch einige grundlegende unterschiede auf. Anders als das sowohl räumlich als auch thematisch eher breite Gesetz von 2003 fokussiert dieses Gesetz (lei MuNiciPal 14.096 / 2005) aus dem Jahr 2005 auf einen kleinen Raum und ausgewählte Wirtschaftssektoren: Der Radius des Gesetzes umfasst nur noch das eng begrenzte Gebiet des o. g. Projekts „Nova Luz“ („Concessão urbanística Nova Luz“) im Norden des Distrikts República, und thematisch werden spezifische Handels- und Dienstleistungsbranchen genannt, von denen ein Beitrag zu einer angemessenen Entwicklung der Gegend erwartet wird. Dazu zählen u. a. Kunstgalerien, Shoppingcenter, unternehmen der Softwareentwicklung und andere EDV-unternehmen, Krankenhäuser, höhere Bildungseinrichtungen, touristische Beherbergungsbetriebe und kulturelle Einrichtungen (silVa 2006, S. 96 ff.). Hintergrund der Auswahl dieser Branchen war die Intention der damaligen Stadtregierung, diese Gegend zu einem Technologiestandort zu machen (Nobre 2009, S. 228; Pacheco 2012, S. 62 f.)57. Auch wenn die Anreizmechanismen in Programmen und Gesetzen zur Erneuerung des Zentrums in São Paulo überwiegen, so wurde in jüngerer Vergangenheit auch ein im Estatuto da Cidade vorgesehenes Instrument auf munizipaler Ebene in São Paulo gesetzlich geregelt: die IPTU progressivo no tempo (Imposto sobre a propriedade predial e territorial urbana progressivo no tempo; im Zeitverlauf ansteigende Steuer auf städtischen Gebäude- und Grundbesitz). Die im Zeitverlauf ansteigende Grundsteuer hat zum Ziel, Eigentümer von Grundstücken und Gebäuden, die diese nicht oder nur unzureichend nutzen und damit nicht der Erfüllung der in der Verfassung verankerten sozialen Funktion des städtischen Eigentums nachkommen, mit steigenden Steuern zu belegen, um so auf eine verfassungskonforme Nutzung hinzuwirken. Dieses Instrument wurde in São Paulo 2010 gesetzlich geregelt (lei MuNiciPal 15.234 / 2010) und findet u. a. im Gebiet der „Operação urbana Centro“ Anwendung. Es sieht die jährliche Verdopplung des Steuersatzes im Laufe von fünf Jahren bis maximal 15 % des Immobilienwertes vor. Sollte innerhalb dieser Frist keine erforderliche Nutzung erfolgen, kann das entsprechende Grundstück enteignet und der Eigentümer mit öffentlichen Schuldpapieren entschädigt werden. Ein Jahr nach Veröffentlichung des Gesetzes wurden in dem Gebiet der „Operação urbana Centro“ vorläufig 181 ungenutzte oder leerstehende Immobilien und Grundstücke identifiziert, deren Eigentümer gegenüber den Behörden die Nutzung nachweisen müssen (esTadão 24.09.2011).58 Im Fall eines nicht erfolgenden Nutzungsnachweises wird der Eigentümer behördlich aufgefordert, eine Nutzung zu initiieren. Aufgrund von Fristen, die dem Eigentümer dabei eingeräumt werden, 57
58
Die systematische Bewertung dieser Anreizprogramme war nicht Teil der Feldforschung im Rahmen dieser Arbeit. Wiederholte Begehungen des Anwendungsgebiets des Gesetz für ausgewählte Anreize im Bereich „Nova Luz“ in den Jahren 2008–2011 unter Beachtung der Einzelhandels- und Dienstleistungsstruktur lassen aber vermuten, dass nicht viele unternehmen der genannten Branchen diese Anreize in Anspruch genommen und sich in diesem Stadtgebiet niedergelassen haben. In einer Studie aus dem Jahr 2009 von silVa eT al. wurden für denselben Raum 158 leerstehende oder fast leerstehende Gebäude und weitere 95 ungenutzte Grundstücke erhoben (silVa eT al. 2009, S. 16 ff.).
4.4 Interventionen in der Innenstadt von São Paulo
189
findet die IPTU progressivo no tempo bei Nichtbeachtung der Auflagen und Fristen in São Paulo erst ab 2019 Anwendung; erste Enteignungen sind folglich frühestens 2025 möglich59. Angesichts dessen lässt sich über die tatsächliche umsetzung des Gesetzes und damit die Wirksamkeit des Instruments in São Paulo zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Aussage treffen. 4.4.2
Wohnen ist zentral60 – die Schaffung von Wohnraum für wechselnde Zielgruppen
Neben den Anreizen, die das Zentrum für den Immobiliensektor allgemein attraktiv machen, und solchen, die der wirtschaftlichen Belebung dienen sollen, sowie der Maßnahme zur Nutzungsverpflichtung gibt es in den vergangenen 20 Jahren auch immer wieder solche Programme, die speziell zur Steigerung des Wohnungsbaus im Zentrum führen sollen. Für die oft als notwendig erachtete sog. Wiederbelebung des Zentrums wird die neuerliche Erhöhung der Wohnbevölkerung – die v. a. in den 1980er und 1990er Jahren stark zurückgegangen ist (vgl. Kapitel 4.3.4) – als maßgeblich betrachtet. Anders als bei dem zuvor beschriebenen Bündel von Anreizen sind im Fall der Attraktivitätssteigerung für die Schaffung von Wohnraum neben der munizipalen Ebene auch bundesstaatliche und nationale Organe mit entsprechenden Programmen – bei unterschiedlichen Zielsetzungen – beteiligt. Es kann sich um die Instandsetzung von bereits als Wohnraum genutzten Gebäuden, die umwidmung ursprünglich anderweitig genutzter und nun im Zentrum oft leerstehender Gebäude für die Wohnnutzung oder den Neubau von (überwiegend) Wohnhochhäusern handeln. Neben diesen umsetzungsmöglichkeiten unterscheiden sich die einzelnen Programme auch hinsichtlich ihrer Zielgruppen. Entweder wird sozialer Wohnungsbau angestrebt, der der Wohnraumversorgung v. a. für die geringverdienende Bevölkerung dienen soll, oder es werden Programme aufgelegt, die primär marktwirtschaftliche Angebote für die Mittelschicht bereithalten sollen. Zusätzlich zu der eigenen Motivation – der Steigerung der Wohnbevölkerung – der öffentlichen Initiatoren der Programme setzen seit den 1990er Jahren außerdem auch soziale Bewegungen, die sich für leistbaren und angemessenen Wohnraum für Geringverdienende und Wohnsitzlose im Zentrum einsetzen, die öffentliche Hand mit verschiedenen Aktionen unter Zugzwang. Mit Hausbesetzungen und Demonstrationen bemühen sie sich v. a. um die umwandlung leerstehender Gebäude in Wohnhäuser (Kara José 2010, S. 35). 59
60
Mündliche Mitteilung eines Teilnehmers im Rahmen einer Podiumsdiskussion zum Thema Reforma urbana e o imposto progressivo em imóveis ociosos em São Paulo (Stadtreform und die steigende Steuer für leerstehende Gebäude in São Paulo) am 17.08.2010 im Casa da Cidade (http://www.casadacidade.org.br/) in São Paulo. Titel in Anlehnung an eine Publikation der NGO Centro Gaspar Garcia dos Direitos Humanos (CGG) mit dem Titel „Moradia é central – lutas, desafíos e estratégias“ („Wohnraum ist zentral – Kämpfe, Herausforderungen und Strategien“), die sich mit dem Recht auf angemessenes Wohnen von Geringverdiener_innen in den zentralen Gebieten brasilianischer Metropolen beschäftigt.
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4 Fallstudie São Paulo
Zu den Programmen, die sich mit der Instandsetzung von Wohnraum beschäftigen, gehört das „Programa de Atuação em Cortiços“ (PAC; „Programm der Betätigung in Cortiços“), das 1998 von der bundesstaatlichen Companhia de Desenvolvimento Habitacional e urbano (CDHu; Entwicklungsgesellschaft für Wohnungsund Städtebau) vorgestellt wurde und dessen Ziel die Eliminierung von cortiços im Zentrum durch die umsiedlung der dort lebenden Familien in neu zu schaffende Wohneinheiten war. Dafür wurde in der Programmlaufzeit von 2002–2010 sowohl auf bundesstaatliche Haushaltsmittel als auch auf die Finanzierung durch die BID (Interamerikanische Entwicklungsbank) zurückgegriffen. ursprüngliches Ziel war die Berücksichtigung von 15 500 Familien (silVa 2006, S. 210). Bis Mitte 2012 wurden v. a. im Zentrumsnahen Bereich ca. 1500 Wohneinheiten fertiggestellt und weitere ca. 700 befanden sich im Bau. Ferner wurden Kreditvergaben („Carta de Crédito“) für 870 Wohneinheiten realisiert, die die Möglichkeit eröffnen sollen, dass sich die begünstigten Familien Wohnungen auf dem Immobilienmarkt kaufen können (CDHu 2012, S. 30 ff.). Das nationale „Programa de Arrendamento Residencial“ (PAR; „Programm der Wohnungsvermietung“) von 1999 basiert anders als das PAC nicht unmittelbar auf dem Erwerb von Wohneigentum, sondern fokussiert zunächst auf langfristige Vermietungen (15 Jahre mit einem monatlichen Mietzins von 0,7 % des Immobilienwerts), um erst in Folge den Familien eine Kaufoption einzuräumen. Zielgruppe dieses Programms sind Familien mit einem Einkommen zwischen drei und sechs Mindestlöhnen. Die finanziellen Mittel des Bundes wurden von der Bundessparkasse (Caixa Econômica Federal; CEF) verwaltet und das Programm war ab 2001 Teil des umfangreicheren Programms „Morar no Centro“ („Wohnen im Zentrum“). Die Wohneinheiten wurden durch die Renovierung oder Adaptierung von un- oder untergenutzten Immobilien im Zentrum durch damit beauftragte private Immobilienunternehmen geschaffen (silVa 2006, S. 210; colVero 2010, S. 94, riVière d’arc 2006, S. 283). Das städtische Wohnungsprogramm für das Zentrum („Morar no Centro“) der Jahre 2001–2004, das räumlich 13 zentrale Distrikte abdeckte, umfasste neben dem PAR auch weitere Programme zur Wohnraumversorgung. Dazu zählen das „Programa de Locação Social“ (PLS; „Programm der Sozialmieten“) und der „Perimetro de Reabilitação Integrada do Habitat“ (PRIH; „Bereich der integrierten Wohnraumsanierung“), die überwiegend aus städtischen Mitteln finanziert wurden. Das städtische PLS diente der Berücksichtigung von Geringverdiener_innen, die aufgrund eines Familieneinkommens unter drei Mindestlöhnen nicht von dem PAR berücksichtigt wurden und keine Möglichkeit zur Wohnraumversorgung auf dem privaten Markt haben. um die Belastungen dem Einkommen entsprechend anzupassen, ist der Mietzins in diesem Programm subventioniert. Bei den entsprechenden Wohngebäuden handelt es sich um solche im städtischen Eigentum (MedraNo & sPiNelli 2014, S. 42; colVero 2010, S. 96; CGG 2012, S. 20 ff.; silVa 2006, S. 101 ff.). In den festgelegten Räumen der PRIH geht es schließlich um umfassende Wohngebietssanierung, die neben der physischen Instandsetzung der Wohnbebauung und ihrer umgebung auch die Verbesserung der sozialen Infrastruktur, z. B. in den Bereichen Kultur, Gesundheit, Bildung und Beschäftigungsmöglichkeiten, vor-
4.4 Interventionen in der Innenstadt von São Paulo
191
sieht (silVa 2006, S. 102; araVecchia & boNduKi 2004, S. 14). Insgesamt verfolgte das Programm „Morar no Centro“ gemäß einer Eigendarstellung die Ziele „einen Beitrag zur Wiederbevölkerung des Zentrums zu leisten, das Wohnen für die Bevölkerung geringer Einkommen im Zentrum zu ermöglichen, leerstehende Gebäude für Wohnzwecke zu sanieren [und] die Lebensqualität der Bewohner des Zentrums zu verbessern“61 (PMSP 2001, S. 27; eigene übersetzung). Ähnliche Zielsetzungen gab es ein Jahrzehnt zuvor, als Anfang der 1990er Jahre erstmals ein munizipales Wohnprogramm für Verbesserungen der Situation in cortiços aufgelegt wurde. Auch wenn schlussendlich nur zwei Pilotprojekte realisiert wurden, so hatten sie dennoch Vorbildcharakter und zeigten die Durchführbarkeit solcher Interventionen (araVecchia & boNduKi 2004, S. 10 ff.). Sowohl vor als auch nach diesen beiden Phasen mit Programmen zugunsten des Wohnens von sozioökonomisch benachteiligten Bewohner_innen im Zentrum dominierten marktwirtschaftliche Versuche, das Zentrum als Wohnort der (unteren) Mittelschicht attraktiv zu machen. Mittels Erhöhung der erlaubten Geschossflächenzahl sollte u. a. der Bau von Wohnungen für die besagte Bewohner_innenschaft trotz vergleichsweise hoher Grundstückspreise für Investoren interessant gemacht werden, die ihre Einnahmen schlussendlich durch den Verkauf von Wohneinheiten an finanziell entsprechend ausgestattete Käufer_innen erzielen (u. a. für die 1980er Jahre: diogo 2004, S. 49; u. a. für die 1990er & 2000er Jahre: silVa 2007, S. 90 ff.). Ähnlich wie auch für wirtschaftliche (v. a. Dienstleistungen) und kulturelle Aktivitäten (vgl. Kap. 4.4.1 & 4.5.5) stand in diesen Perioden nicht die unmittelbare Intervention der öffentlichen Hand zur Schaffung und Verbesserung von Wohnraum im Vordergrund, sondern die Gewährung von Anreizen für den privaten Sektor zur Schaffung von Wohnraum für eine kaufkräftigere Klientel. Teixeira eT al. fassen die unterschiedlichen Herangehensweisen und Zielsetzungen an das Thema Wohnen im Zentrum folgendermaßen zusammen: „Der springende Punkt, der die Aktionen der verschiedenen Regierungen unterscheidet, ist der des sozialen Wohnungsbaus. Für Regierungen, die über keine Tradition des Dialogs mit organisierten sozialen Bewegungen geringerer Einkommensschichten verfügen, verwandelt sich die Thematik nicht in öffentliche Politik. Die Ausrichtung, wenn auch implizit, scheint zu sein, dass die Armen in der Vorstellung dieser Regierungen von Stadt einen anderen Platz haben, fern von Glamour sowie vom symbolischen, administrativen und Entscheidungszentrum. Für Regierungen, die den sozioökonomisch benachteiligten Segmenten der Gesellschaft mehr verpflichtet sind wie die zwei PT62-Stadtregierungen und die [nationale] Regierung unter Lula, ist das Thema deutlich präsenter. Dabei ist [allerdings] wichtig zu sagen, dass die Idee des Sozialwohnungsbaus im zentralen Stadtbereich stärker in Diskursen vorhanden ist als in Maßnahmen dieser Regierungen. Ebenso wenig verschwinden Formulierungen basierend auf ‚Anker-Projekten‘ und Gentrifizierung“63 (Teixeira eT al. 2005, S. 14; eigene übersetzung). 61 62 63
„Objetivos: Contribuir para o repovoamento da área central, viabilizar moradia para a população de baixa renda na área central, reabilitar edifícios desocupados para uso habitacional, melhorar a qualidade de vida dos habitantes da área central.“ PT = Partido dos Trabalhadores (Arbeiterpartei); hervorgegangen aus der linken Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung der 1970er Jahre; verfolgt heute einen sozialdemokratischen Kurs. „O ponto básico que diferencia as ações de alguns governos é o da Habitação de Interesse Social. Para os governos sem tradição de interlocução com movimentos populares organizados a
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4 Fallstudie São Paulo
Emblematisch für diese unterschiedliche Herangehensweise an das Thema Wohnen im Zentrum von São Paulo ist das Edifício São Vito im Nordosten des Distrikts Sé (vgl. auch Kap. 4.3.2). In den 1950er Jahren als Wohnhochhaus für Geringverdiener gebaut, befand es sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einem stark sanierungsbedürftigen Zustand, der es zumindest in Teilen zu einem vertikalen cortiço hat werden lassen. Im Rahmen des Programms „Morar no Centro“ wurde 2004 die Entscheidung zu seiner Sanierung getroffen, um damit erschwinglichen Wohnraum für Geringverdienende wieder herzustellen. Die Bewohner_innen wurden dazu unter Gewährung einer Mietzinsbeihilfe für 36 Monate ausgesiedelt (silVa 2007, S. 75, diogo 2004, S. 135). Mit einem Regierungs- und damit mit dem oben beschriebenen Philosophiewechsel änderten sich die Planungen für das Gebäude grundlegend. Schon 2005 wurden die Sanierungspläne verworfen und stattdessen der Abriss des Gebäudes beschlossen. Nach zeitlicher Verzögerung, u. a. bedingt durch juristische Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern eines Abriss (Folha.coM 17.07.2010), die immer wieder von Wohnsitzlosen zur Wiederbesetzung des leerstehenden Gebäudes genutzt wurde (reVisTa são Paulo da Folha 21.08.2010), erfolgte schließlich 2010 der endgültige Abriss. Pläne der Anlage eines Parks (esTadão 04.09.2010), unterirdischer Garagen u. ä. (esTadão 04.09.2010; PMSP 22.11.2010)wurden bis heute nicht realisiert Die Fläche des Gebäudes (zusammen mit den Flächen ebenfalls abgerissener Nachbargebäude) bildet heute einen großen Parkplatz64. ungefähr zeitgleich (2010) mit dem Abriss des Edifício São Vito wurde ein neues Wohnungsprogramm mit dem Namen „Renova Centro“ (decreTo MuNiciPal 52.942 / 2012) der Stadtverwaltung bekanntgeben, das – anders als andere Ansätze jener Zeit, die v. a. auf privatwirtschaftliches Engagement in diesem Bereich setzten, – auch öffentliche Maßnahmen durch die COHAB-SP (Companhia Metropolitana de Habitação de São Paulo; Metropolitane Wohnungsbaugesellschaft [vom Munizip] São Paulo) vorsieht. Hierbei sollen im Zentrum und im Zentrumsnahen Bereich gut 50 leerstehende Gebäude und Grundstücke enteignet und zum Zwecke der Wohnnutzung umgebaut werden. Die Wohnungen sollen anschließend an bei der COHAB registrierte Anwärter_innen verkauft werden. Pro forma erfüllt das Programm die Auflagen des sozialen Wohnungsbau (HIS; Habitação de Interesse Social), zumal es Gelder des nationalen Wohnungsbauprogramms „Minha Casa, Minha Vida“ in Anspruch nimmt, dessen Bewilligung an die Schaffung von Wohnraum für Familien mit bis zu zehn Mindestlöhnen geknüpft ist. Allerdings ist diese Schwelle im Zentrums São Paulos zu hoch, um die arme, wohnungssuchende Be-
64
temática não se transforma em política pública. A orientação, mesmo que implícita, parece ser a de que os pobres têm outro lugar em seu projeto de cidade, longe do glamour, do centro simbólico, administrativo e de decisão. Para governos mais comprometidos com os segmentos populares, como as duas gestões petistas e o governo Lula, a temática é bem mais presente. Cabe dizer que a idéia de habitação social nas áreas centrais é mais presente no discurso do que nas ações desses governos. Tampouco desaparecem as formulações baseadas nos ‘empreendimentos âncora’ e na gentrificação.“ Vgl. Google Street View Avenida do Estado, Ecke Praça São Vito vom April 2014; https:// www.google.at/maps/@-23.542873,-46.62868,3a,90y,48.86h,78.68t/data=!3m4!1e1!3m2!1sP uXGuV3nlqG_0jppVFK8Lw!2e0 Zugriff: 20.07.2014.
4.4 Interventionen in der Innenstadt von São Paulo
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völkerung die in der Regel über bis drei Mindestlöhne verfügt, zu bedienen (Kara José 2010, S. 124; hiraTa 2012, S. 85). Zumindest von großen Teilen des Programms profitieren angesichts dessen Bewohner_innen der Mittelschicht. Ferner wird die langsame umsetzung des Programms von Vertretern sozialer Bewegungen im Bereich Wohnen reklamiert (Benedito Barbosa in brasil de FaTo 25.08.2011) und bis Ende 2012 wurde lediglich sieben Gebäude saniert bzw. befanden sich in Sanierung (esTadão 12.11.2012). unabhängig vom Thema Wohnen wird deutlich, dass Interventionen im Zentrum zu dessen Erneuerung / Instandsetzung / (Wieder)Belebung seit den 1990er Jahren weitgehend losgelöst von der jeweiligen Stadtregierung an Bedeutung gewonnen haben. Neben den indirekten Maßnahmen der Setzung von Anreizen, um das Interesse der privaten (Immobilien)Wirtschaft für Investitionen im Zentrum zu wecken, und den unterschiedlichen Maßnahmen zur Steigerung der Wohnbevölkerung im Zentrum, gibt es seit dieser Zeit auch immer wieder Bestrebungen mittels direkter Maßnahmen vonseiten der öffentlichen Hand vermeintlich unbefriedigende Situationen im Zentrum Verbesserungen zuzuführen. Aufgrund der stark marktwirtschaftlich geprägten Stadtentwicklungskultur fokussieren diese Maßnahmen, die teilweise recht unterschiedliche Zielrichtungen verfolgen, primär meist auf den öffentlichen Raum als Interventionsgebiet. 4.4.3
Direkte Eingriffe im Zentrum durch öffentliche Erneuerungsmaßnahmen
Seit den 1990er Jahren gibt es eine Vielzahl von Programmen und Projekten insbesondere von den jeweiligen Stadtregierungen, deren umsetzung unmittelbar zu Veränderungen bzw. – aus dem Blickwinkel der Initiatoren – zu Verbesserungen beitragen soll. Oft mit finanzieller unterstützung von weiteren nationalen wie internationalen Institutionen, können diese Projekte thematisch eng auf einen bestimmten Teilaspekt fokussieren oder aber auch integrative, viele Themenbereiche umfassende Ansätze verfolgen. Ein erstes Programm war 1991–1992 das „Programa Piloto de Ordenação da Paisagem da Área Central: Eixo Sé-Arouche“ („Pilotprogramm zur Neuordnung des Stadtbilds im Zentralen Bereich: Achse Sé-Arouche“) während der Regierung unter Luiza Erundina de Souza (kurz: Erundina, PT, 1989–1992). Besagte Achse verläuft entlang historisch und symbolisch bedeutsamer Straßenzüge, angefangen an der Praça da Sé (Distrikt Sé) in nordwestliche Richtung bis zum Largo do Arouche (Distrikt República). Die Verbesserung des Stadtbildes entlang dieser Achse sollte mittels der Neuordnung des städtischen Mobiliars, wie Sitzmöglichkeiten, Mülleimer, orelhões (Telefonzellen) u. ä., der Instandsetzung der Gebäudefassaden und der Eindämmung der „visuellen Verschmutzung“ durch übermäßige Außenwerbung erfolgen, um so dem Eindruck eines heruntergekommenen Raums entgegenzuwirken. Von zentraler Bedeutung bei diesem Projekt war die Einbeziehung verschiedener Stakeholder wie der Geschäftstreibenden und Immobilieneigentümer_innen sowie ihrer Vertretungen in die Ausarbeitung (Vorstellung und Anhörung) und Durchführung (Beratung) des Projekts (silVa 2007, S. 82; araVecchia &
194
4 Fallstudie São Paulo
boNduKi 2004, S. 9; vgl. auch PMSP o. J., S. 1–20). Rückblickend hebt Mirthes Baffi, Leiterin der unterabteilung für Denkmalschutz der Abteilung für das historische Erbe im städtischen Kulturamt, zwei Aspekte des Programms „Eixo Sé-Arouche“ hervor. Zum einen betont sie, dass das Programm sehr partizipativ angelegt war und die Geschäftsleute entlang dieser Achse unmittelbar in die überlegungen zu Eingriffen zur Wiederherstellung der Fassaden und zum umgang mit Werbung einbezogen worden sind. Dies trug zu einer großen überzeugungskraft des Programms bei und führte dazu, dass sich die betroffenen Geschäftsleute die Idee zu Eigen gemacht haben. Zum anderen führt sie den Erfolg des munizipalen Gesetzes „Cidade Limpa“ („Saubere Stadt“) (lei MuNiciPal 14.223 / 2006), das die Außenwerbung unter freiem Himmel in São Paulo in sehr erheblichem Maße einschränkt65, auf die positiven Beispiele zurück, die die Ergebnisse des Programms „Eixo SéArouche“ bewirkt haben. Die Akzeptanz dieses Gesetzes basiere somit auf dem Vorbild und dem Erfolg der Resultate dieses Programms66. Sérgio Abrahão, ebenfalls Mitarbeiter der Abteilung für das historische Erbe im städtischen Kulturamt, weist auf einen weiteren Gesichtspunkt hin, den er im Zusammenhang mit dem Programm „Eixo Sé-Arouche“ sieht. Die Tatsache der Beteiligung unterschiedlicher Gruppen der Gesellschaft und die Wahrnehmung aktiv mitwirken zu können, habe zur Stärkung (bzw. Gründung) von Vereinigungen wie der unternehmensnahen Associação Viva o Centro (AVC; Verein „Es lebe das Zentrum“) geführt, die sich fortan für Belange des Zentrums aus dem Blickwinkel ihrer jeweiligen Klientel einsetzen67. In eine ähnliche Richtung weist ein Zitat von Marco Antônio Ramos de Almeida, dem leitenden Direktor der AVC, aus dem Jahr 2003, in dem er die Ausrichtung von Aktivitäten der Stadtregierung auf das Stadtzentrum betont, zu deren umsetzung die Stadtregierung auf die privaten unternehmen zugekommen sei und diese um unterstützung ersucht habe. Diese Erfahrung der Möglichkeit der Einflussnahme hat nach Auffassung der beiden zitierenden Autor_innen zur Gründung der AVC im Jahr 1991 beigetragen. (vgl. araVecchia & boNduKi 2004, S. 9). Die beiden Nachfolgeregierungen Maluf / Pitta68 (Paulo Salim Maluf, PP, 1993–1996 / Celso Pitta, PTB, 1997–2000) räumten dem Zentrum und seiner Ent65
66 67 68
Werbung unter freiem Himmel ist nach diesem Gesetz grundsätzlich unzulässig. Erlaubt sind lediglich einfache Hinweise z. B. auf Geschäfte, die ebenfalls Auflagen, z. B. bezüglich der Größe, erfüllen müssen. Für die Einhaltung des Gesetzes ist die beim Kulturamt angesiedelte Kommission zum Schutz des Stadtbildes (Comissão de Proteção da Paisagem urbana – CPPu) zuständig (Interview mit Clara d‘Alambert, Mitarbeiterin der Divisão de Preservação do Departamento do Patrimônio Histórico (DPH) da Secretaria Municipal de Cultura (SMC), am 09.09.2010 in São Paulo). Interview mit Mirthes Baffi, Leiterin der Divisão de Preservação do Departamento do Patrimônio Histórico (DPH) da Secretaria Municipal de Cultura (SMC), am 23.09.2010 in São Paulo. Interview mit Sérgio Abrahão, Mitarbeiter des Departamento do Patrimônio Histórico (DPH) da Secretaria Municipal de Cultura (SMC) am 23.09.2010 in São Paulo. Die jeweilige Zusammenfassung der beiden Regierungen ist möglich, da sich ihre Politiken für das Zentrum – wenn überhaupt – nur geringfügig unterschieden; in der einschlägigen Literatur zu diesem Thema erfolgt ebenfalls oft diese Zusammenlegung. In den Fällen, in denen sie möglich ist, stellt sie außerdem eine bessere übersichtlichkeit her. Wenn konkrete Maßnahmen der einen oder anderen Regierung erörtert werden, so wird dies jeweils benannt.
4.4 Interventionen in der Innenstadt von São Paulo
195
wicklung nicht die gleiche Bedeutung ein und widmeten sich stattdessen dem Infrastrukturausbau zugunsten großer Immobilienprojekte im südwestlichen Quadranten der Stadt (silVa 2007, S. 92; zu Details dieser Interventionen vgl. Fix 2001). Dennoch wurde 1993 das Programm „PROCENTRO“ („Programa de Requalificação urbana e Funcional do Centro de São Paulo“; „Programm zur städtebaulichen und funktionalen Requalifizierung des Zentrums von São Paulo“) (decreTo MuNiciPal 33.389 / 1993) geschaffen und so zumindest die diskursive Beschäftigung mit dem Thema aufrechterhalten (Nobre 2009, S. 224; vgl. Tab. 3). Der räumliche umfang des Programms erstreckt sich auf die beiden Distrikte Sé und República sowie einige wenige Häuserblöcke im Distrikt Santa Cecília rund um die Praça Princesa Isabel. Im Hintergrund bedeutsam für die Verabschiedung dieses Programms erachtet Frúgoli Jr. die Einflussnahme der AVC, die zu der Erkenntnis gelangt war, dass sich manche ihrer Ziele primär mit Hilfe der Stadtverwaltung verwirklichen lassen. Z. B. betraf das Gesetzesänderungen, die aus Sicht der AVC zu einer erfolgreichen Attraktivitätssteigerung für mögliche Investoren erforderlich seien (Frúgoli Jr. 2000, S. 81 f.). In der ebenfalls 1993 gegründeten ExekutivKommission der Implementierung des Programms waren als Vertretung der Zivilgesellschaft neben Repräsentanten für unternehmen der Außenwerbung entsprechend nur noch die AVC als Akteur vertreten (Nobre 2009, S. 224). Als Auslöser für die Einrichtung des Programms werden vier Problemfelder des Zentrums genannt: • die Verschlechterung der umwelt und des Stadtbildes; • Schwierigkeiten beim Zugang, beim Verkehr und beim Parken; • der Wertverlust und die unzulänglichkeit des Immobilienbestands; • Mangel an persönlicher und Eigentumssicherheit. Folgende Strategien zur Lösung dieser Probleme werden erwähnt: • Neuerliche Instandsetzung des öffentlichen Raums i. w. S. von Belagssanierung über Möblierung bis hin zur Beleuchtung; • Verbesserungen der Zugänglichkeit für Individual- und Kollektivverkehr inklusive der „Flexibilisierung der Fußgängerzonen“ (partielle Öffnung für KFZVerkehr) und Schaffung von zusätzlichem Parkraum; • Schaffung von Anreizen für Wohnen, Kultur, Freizeit und Tourismus und die Restaurierung von Fassaden (Nobre 2009, S. 224; vgl. PMSP 1993). Für die visuelle Attraktivitätssteigerung wurde 1997 ein Gesetz verabschiedet, dass unmittelbar den Fassaden gewidmet ist (lei MuNiciPal 12.350 / 1997). Das sog. „Lei das Fachadas“ („Fassaden-Gesetz“) sieht Anreize in Form von Steuernachlässen für diejenigen Gebäudeeigentümer vor, die die Fassaden ihrer denkmalgeschützten Immobilien im Bereich des Zentrumskerns restaurieren. Ähnlich wie im Fall der zeitgleich verabschiedeten „Operação urbana Centro“ (vgl. Kap. 4.4.1) war auch hier die Resonanz der in Frage kommenden Immobilienbesitzer_innen eher verhalten und entsprechend gering war die Inanspruchnahme dieses Instruments. Allgemein war der Schwerpunkt des Programms die Aufwertung des Zent-
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4 Fallstudie São Paulo
rums69 sowie die Attraktivitätssteigerung für und die Wiederbelebung durch die Mittel- und Oberschicht (Kara José 2010, S. 102; Nobre 2009, S. 224). Schon 1996 gab es erste Bestrebungen für einen Finanzierungsvertrag mit der BID (Banco Interamericano de Desenvolvimento; Interamerikanische Entwicklungsbank). unterschriftsreif war diese Vereinbarung aber erst mehr als fünf Jahre später. Das Nachfolgeprogramm von „PROCENTRO“, „Ação Centro“ („Aktion Zentrum“), wurde 2003 von der BID und ein Jahr später vom brasilianischen Senat bewilligt. Die damit zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel trugen zu einer erheblichen Stärkung des Programms bei (Kara José 2010, S. 125). Vorausgegangen war dem Programm „Ação Centro“ der „Plano Reconstruir o Centro“ („Plan Das Zentrum wiederaufbauen“) von 2001, der aus der Regierungszeit von Marta Suplicy (kurz: Marta; PT, 2001–2004) stammte und das Programm „PROCENTRO“ ablöste. Darin wurden für einen deutlich erweiterten räumlichen Bereich (die zehn Distrikte des Zentrums und des Zentrumsnahen Bereichs) als dem des Programms „PROCENTRO“ acht Aktionsfelder genannt: • sich im Zentrum bewegen (1); • im Zentrum wohnen (2); • im Zentrum arbeiten (3); • das Zentrum entdecken (4); • das Zentrum erhalten (5); • im Zentrum investieren (6); • das Zentrum pflegen (7); • das Zentrum regieren (8). Dieser Plan basierte auf der sozialen und funktionalen Diversität, die im Zentrum vertreten ist, und bestimmt auf Basis dessen Bereiche wie Wohnen, Beschäftigung, Kultur und Freizeit sowie Bildung und Repräsentation zu Interventionsfeldern des Programms. Dem Entgegentreten der Degradierung des öffentlichen Raums und der Aufwertung zugunsten der Gewerbetreibenden wurden nicht mehr zentrale Priorität eingeräumt; stattdessen wurden breite strukturelle und soziale Verbesserungen angestrebt (Nobre 2009, S. 225; Kara José 2010, S. 126). Dem breiten Themenumfang entsprechend wurde die Exekutiv-Kommission von PROCENTRO aufgelöst und durch eine Koordinierungsstelle ersetzt, die außer mit Vertreter_innen von 12 städtischen Ämtern u. a. auch mit Repräsentant_innen von Architekten-, unternehmens- und Handelsverbänden, des Immobiliensektors und auch solchen sozialer Bewegungen, die sozial ausgeschlossene Gruppen wie cortiçoBewohner_innen und Obdachlose vertreten, besetzt war. Die AVC war in dieser Koordinierungsstelle eine Gruppe unter vielen anderen Gruppen, die sich mit Themen des Zentrums befassten (Nobre 2009, S. 225 f.). 69
Bezeichnenderweise wurde das Programm in späteren Informationsbroschüren der zuständigen Ämter (Amt für Wohnungswesen und städtische Entwicklung und Stadtplanungsamt) als „Programm der Aufwertung des Zentrums von São Paulo“ („Programa de Valorização do Centro de São Paulo“) benannt; gleiches erfolgte auf Werbebannern, die im öffentlichen Raum für das Programm warben (PMSP 1995).
197
4.4 Interventionen in der Innenstadt von São Paulo
Tab. 3: Zentrale Erneuerungsprogramme für das Zentrum São Paulos zwischen 1993 und 2012 (eigene Zusammenstellung u. a. aus Nobre 2009, Kara José 2010 und Teixeira eT al. 2005) Programm
Zeitraum Gebiet
Finanzierung Ziele / Strategien [Mitteleinsatz in %]
PROCENTRO Programa de Requalificação urbana e Funcional do Centro de São Paulo; Programm zur städtebaulichen und funktionalen Requalifizierung des Zentrums von São Paulo
Plano Reconstruir o Centro Reconstruir a Cidade e a Cidadania
Ação Centro Programa de Reabilitação da Área Central; Programm zur Rehabilitation des zentralen Gebiets
PROCENTRO-2005 Programa de Reabilitação da Área Central; Programm zur Rehabilitation des zentralen gebiets
1993–2000
Distrikte Sé und República und kleine Erweiterungen
2001–2003
Zentrum und Zentrumsnaher Bereich
2003–2004
2005/2007–2012
Versuch einer Finanzierung durch die biD
-
neuerliche instandsetzung des öffentlichen Raums i. w. S. (von Belagssanierung über Möblierung bis hin zur Beleuchtung) Verbesserungen der Zugänglichkeit für Individual- und kollektivverkehr (inklusive der „Flexibilisierung der Fußgängerzonen“ und Schaffung von zusätzlichem Parkraum) Schaffung von Anreizen für Wohnen, Kultur, Freizeit und Tourismus und die Restaurierung von Fassaden
sich im Zentrum bewegen (1); im Zentrum wohnen (2); im Zentrum arbeiten (3); das Zentrum entdecken (4); das Zentrum erhalten (5); im Zentrum investieren (6); das Zentrum pflegen (7); das Zentrum regieren (8) (breite strukturelle und soziale Verbesserungen als Ziel)
Beteiligung nicht staatlicher Akteure
Exekutiv-Kommission mit div. unternehmen und AVC
Ergebnisse
Fast keine, da geringe Nur Planungsphase; politische Priorität keine umsetzung erfolgt
-
Distrikte Sé und República
v. a. im Norden des Distrikts República, (Stichworte: Cracolândia/ Nova Luz); Distrikte Sé und República
kredit der biD umkehrung der Immobilienentwertung und Wiederherstellung der Wohnfunktion (Reduzierung der Leerstandsraten und soziale Funktion des Eigentums) [17 %]
umkehrung der Immobilienentwertung und Wiederherstellung der Wohnfunktion (letzteres überwiegend für Mittelschicht) [2 %]
Veränderung des ökonomischen und sozialen Profils (Regulierung Straßenhandel; Angebote für verwundbare gruppen) [11 %]
Veränderung des ökonomischen und sozialen Profils (Errichtung von Technologieparks) [10 %]
Institutionelle Stärkung des Munizips (Zusammenführung der Munizipalen Verwaltung im Zentrum) [5 %]
Institutionelle Stärkung des Munizips [10 %]
Zentralisierung der Stadtverwaltung
Sanierung und teilweise umgestaltung der Plätze Praça da República und Praça da Sé
Wiederherstellung des Wiederherstellung des Stadtbildes (Verbesserung Stadtbildes [58 %] des öffentlichen Raums; Restaurierung öffentlicher Gebäude) [37 %] Transport und Verkehr Transport und Verkehr (Verbesserungen für (Dezentralisierung der den Individualverkehr) Buslinien; Verbesserun[20 %] gen für PKW-Verkehr) [25 %]
Auflösung des Forums Forum zur sozialen und wirtschaftlichen entwicklung des Zentrums u. a. mit Beteiligung der AVC und des FCV
Sanierung der Markthalle Mercado Municipal Wohnraumschaffung im unterprogramm „Morar no Centro“
Sanierung historischer gebäude Kulturzentrum „Praça das Artes“
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4 Fallstudie São Paulo
Parallel zu diesen Veränderungen in der Zusammensetzung des Koordinierungsorgans erfolgten die Verhandlungen mit der BID um einen Kredit für die vorgesehenen Maßnahmen. Ergebnis dieser Verhandlungen war 2003 das „Programa de Reabilitação da Área Central – Ação Centro“ („Programm zur Rehabilitation des zentralen Gebiets – Ação Centro“). Das Programm „Ação Centro“ umfasste räumlich abermals exklusiv die beiden Zentrumsdistrikte Sé und República und thematisch fünf Aktionsbereiche: 1. umkehrung der Immobilienentwertung und Wiederherstellung der Wohnfunktion; 2. Veränderung des ökonomischen und sozialen Profils; 3. Wiederherstellung des Stadtbildes; 4. Transport und Verkehr; 5. Institutionelle Stärkung des Munizips. Außerdem war das Programm „Morar no Centro“ (vgl. Kap. 4.4.2) Teil des übergeordneten Programms „Ação Centro“. Das erste Aktionsbündel fokussierte auf die hohen Leerstandsraten im Zentrum und die Wiedernutzung von Gebäuden, damit diese die verfassungsgemäße soziale Funktion des städtischen Eigentums erfüllen; der zweite Maßnahmenblock umfasste u. a. die Regulierung des informellen Straßenhandels und die Berücksichtigung verwundbarer Gruppen im Zentrum; die dritte Schiene widmet sich der Verbesserung der Qualität des öffentlichen Raums und der Instandsetzung öffentlicher Gebäude; im vierten Themengebiet sind Maßnahmen wie die Dezentralisierung der Endhaltestellen der Buslinien, die Verbesserung des Individualverkehrs und die Errichtung von Parkmöglichkeiten vorgesehen; der letzte Punkt sieht die Zusammenführung der gesamten munizipalen Verwaltung im Bereich des Zentrums sowie die Einrichtung dezentraler Strukturen mit der Etablierung der Subprefeituras vor (Nobre 2009, S. 226; silVa 2004, S. 70 ff.). Für das Programm standen 100 Mio. uS$ an Krediten der BID zur Verfügung bei einer Eigenleistung des Munizips São Paulo von 68 Mio. uS$, die sich teilweise aus Einnahmen der „Operação urbana Centro“ speisten (silVa 2006, S. 169). Die Kreditbewilligung war an verschiedene Auflagen geknüpft. Der Bank war wichtig, dass v. a. solche Maßnahmen Berücksichtigung finden, die sich zu einem späteren Zeitpunkt finanziell auszahlen, weshalb Interventionen, die einen Subventions-Charakter hatten, nicht mit einbezogen wurden (Teixeira 2005, S. 20 ff.). Die Mittel wurden entsprechend aufgeteilt. Gut ein Drittel der Investitionen war für die Wiederherstellung des Stadtbildes vorgesehen, knapp ein Viertel für die Verbesserung der Verkehrs- und Transportinfrastruktur und rund 17 % für die Immobilienaufwertung und die Bedeutungssteigerung der Wohnfunktion. Weitere 11 % entfielen auf die beabsichtigten sozialen und ökonomischen Veränderungen und 5 % auf die räumliche Verwaltungsreform (Kara José 2010, S. 130 f.; kritisch dazu: Teixeira 2005, S. 23). Eine weitere Bedingung war die breite Beteiligung staatlicher und nichtstaatlicher Stakeholder an der Organisation und Durchführung der Maßnahmen. Zu diesem Zweck wurden drei Einrichtungen gegründet. Die Agentur zur Entwicklung des Zentrums (Agência de Desenvolvimento do Centro) hatte zur Aufgabe, Wirtschaftsförderung im Zentrum zu betreiben. Das Forum zur sozialen und
4.4 Interventionen in der Innenstadt von São Paulo
199
wirtschaftlichen Entwicklung des Zentrums (Fórum do Desenvolvimento Social e Econômico do Centro) war breit mit Vertreter_innen der Stadtverwaltung und -regierung sowie Repräsentant_innen verschiedener bereits bestehender Beiräte zusammengesetzt und sollte sowohl repräsentativen als auch beschlussfassenden Charakter haben. Die exekutive Koordinierungsstelle (Coordenação Executiva Ação Centro) hatte v. a. die Begleitung und Abstimmung des operativen Betriebs zur Aufgabe. Die allgemeine Gesamtkoordination des Programms lag bei der EMuRB (Empresa Municipal de urbanização; Städtisches unternehmen zur Stadtentwicklung). Die Bedeutung der beiden letztgenannten Gremien, die die Bürgerbeteiligung sicherstellen sollten, blieb aber wegen des kurzen Zeithorizonts ihres Bestehens und der allgemeinen Bevorzugung sektoraler Kanäle zwischen Beiräten und Ämtern allgemein gering. Hinzu kamen Probleme gegensätzlicher Interessenslagen zwischen den einzelnen Institutionen (Teixeira 2005, S. 22; Kara José 2010, S. 131; Nobre 2009, S. 227). Obwohl das mit Mitteln der BID aufgelegte Programm „Ação Centro“ erst gegen Ende der Legislaturperiode 2004 endgültig beschlossen wurde, konnten einige der darin vorgesehenen Projekte realisiert werden. Dazu zählt die Zentralisierung der Stadtverwaltung, die bereits Anfang der 1990er Jahre mit der Rückführung der Präfektur an den Rand des Distrikts Sé anfänglich begonnen wurde (vgl. Kap. 4.3.4). Ende 2004 waren 15 von 21 städtischen Ämtern wieder in den Distrikten Sé und República angesiedelt. Neben reinen Verwaltungseinrichtungen ließen sich in der Galeria Olido am Largo do Paisandú (Distrikt República) unterschiedliche munizipale Kultureinrichtungen und -institutionen nieder (Teixeira 2005, S. 10 f.). 2004 übersiedelte schließlich auch die Präfektur vom Palácio das Indústrias im Osten des Distrikts Sé in das Edifício Matarazzo unmittelbar am Viaduto do Chá / Vale do Anhangabaú. Ferner wurde die Markthalle Mercado Municipal, ein historisches Bauwerk aus den 1930er Jahren, zwischen dem Groß- und Einzelhandelspol um die Rua 25 de Março und dem Parque Dom Pedro II im Distrikt Sé gelegen, das emblematisch für die Handelsfunktion des Zentrums ist, komplett saniert und mit gastronomischer und touristischer Infrastruktur ausgestattet (araVecchia & boNduKi 2004, S. 13). Dieses Beispiel zeigt die mehrschichtige Auslegung des Programms, dass neben der Instandsetzung denkmalgeschützter Gebäude wie der Markthalle auch die funktionale Komponente mitbedenkt und versucht, die unmittelbare umgebung zu berücksichtigen (coy 2007, S. 66). Eine weitere Realisierung, die unmittelbar die Verbesserung des öffentlichen Raums zum Ziel hatte, erfolgte im Subprogramm „Corredor Cultural“, einem der „Ação Centro“ vorausgehenden Programm, das überwiegend aus Mitteln der „Operação urbana Centro“ bestritten wurde (silVa 2006, S. 80). Der besagte Korridor reichte von der Praça Dom José Gaspar (mit der Stadtbibliothek Mario de Andrade) im Distrikt República über die Rua Cel. Xavier de Toledo, die Praça Ramos de Azevedo (mit dem Stadttheater) und das Viaduto do Chá bis zur Praça do Patriarca. Die Idee des Projekts war die Verknüpfung bestehender kultureller Einrichtungen und die Aufwertung des öffentlichen Raums als verbindendes Element. Anders als die kulturellen Projekte im Stadtviertel Luz (vgl. Kap. 4.3.4 u. unten), die mit der Restaurierung einzelner Gebäude und deren umwandlung in Kultureinrichtungen
200
4 Fallstudie São Paulo
punktuelle Interventionen darstellen, liegt der Fokus bei diesem Projekt auf den diese Einrichtungen umgebenden Räumen. Konkret erfolgte in diesem Projekt die bereits dargestellte verkehrsberuhigte umgestaltung der Praça do Patriarca (vgl. Kap. 4.4.1) und die umgestaltung der Praça Dom José Gaspar verbunden mit einer Verbesserung der Aufenthalts- und Mobilitätsqualität der Fußgänger_innen, der erneuerten Verbindung der am und um den Platz lokalisierten öffentlichen Einrichtungen bei gleichzeitiger, möglichst weitgehender Erhaltung der am Platz befindlichen Vegetation. Die Straße Xavier de Toledo, die die beiden Plätze Dom José Gaspar und Ramos de Azevedo verbindet, wurde mit breiteren Gehwegen versehen, um dem Fußgängerverkehr in Konkurrenz zum Individual- und Kollektivverkehr in der Straße bessere Möglichkeiten einzuräumen (PiNTo & galVaNese 2009, S. 118 ff.). Aufgrund der internationalen Verpflichtungen basierend auf dem Kredit der BID war es Mitte der 2000er Jahre den Nachfolgerregierungen Serra / Kassab70 (José Serra, PSDB, 2005–2006 / Gilberto Kassab, DEM, 2006–2011) nicht möglich, das Programm „Ação Centro“ unmittelbar einzustellen oder durch ein neues zu ersetzen. Allerdings wurde das Programm nach einer zweijährigen unterbrechung, die v. a. auf der unklarheit seiner weiteren Ausrichtung beruhte, mit anderen Prämissen fortgeführt. Dabei wurde es umbenannt und nahm den Namen eines Vorgängerprogramms – „PROCENTRO“ – an, das bereits Ende der 1990er Jahre bestand (s. o.)71. Nach der mit Vertragsstrafen vonseiten der BID belegten Verzögerung von zwei Jahren wurde das Programm mit den gleichen fünf Themenfeldern72 wieder aufgenommen. Allerdings kam es innerhalb der Themenfelder zu teils grundlegenden Modifikationen. Im ersten Themenfeld wurden solche Projekte, die auf die Schaffung von Wohnraum für geringverdienende Bewohner_innen abzielten, umgehend gestoppt. Im zweiten Themengebiet, in dem vormals u. a. Programme für Straßenhändler vorgesehen waren, wurde der Schwerpunkt jetzt auf die Errichtung eines Technologiepols im Zentrum gelegt. Im dritten Themenbereich lag der neue Schwerpunkt auf der Aufwertung des öffentlichen Raums, u. a. um damit potenzielle private Investoren, sei es aus der Immobilienbranche oder dem Dienstleistungsbereich, für das Zentrum zu interessieren. Im Bereich des Verkehrs schließlich wurden die Projekte den Individualverkehr betreffend weitgehend fortgeführt, wohingegen diejenigen, die sich mit dem Personennahverkehr beschäftigten, nicht weiter verfolgt wurden. Die Prioritätenverschiebung wird auch deutlich, wenn man die anteilsmäßige Verteilung der Gelder zwischen den Themenbereichen betrachtet. 70
71 72
Die jeweilige Zusammenfassung der beiden Regierungen ist auch in diesem Fall möglich, da sich ihre Politiken für das Zentrum wenn überhaupt nur geringfügig unterschieden; in der einschlägigen Literatur zu diesem Thema erfolgt ebenfalls oft diese Zusammenlegung. In den Fällen, in denen sie möglich ist, stellt sie außerdem eine bessere übersichtlichkeit her. Wenn konkrete Maßnahmen der einen oder anderen Regierung erörtert werden, so wird dies jeweils benannt. Zur unterscheidung vom Programm „PROCENTRO“ Ende der 1990er Jahre wird das hier thematisierte PROCENTRO in Folge als „PROCENTRO-2005“ bezeichnet. 1. umkehrung der Immobilienentwertung und Wiederherstellung der Wohnfunktion; 2. Veränderung des ökonomischen und sozialen Profils; 3. Wiederherstellung des Stadtbildes; 4. Transport und Verkehr; 5. Institutionelle Stärkung des Munizips
4.4 Interventionen in der Innenstadt von São Paulo
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Der Erneuerung des Stadtbildes und des öffentlichen Raums zur Attraktivitätssteigerung standen mit nun 58 % der Mittel mehr als die Hälfte der Gesamtmittel zur Verfügung (gegenüber 37,5 % im Programm „Ação Centro“, was ebenfalls schon mit Abstand der höchste Anteil war). Drastisch reduziert wurden dagegen die Aufwendungen für die Gebäudesanierung und -umwidmung zugunsten von Wohnraum (von 17,3 % auf 1,7 %). Räumlich wurden alle Themenfelder primär auf das Stadtviertel Luz ausgerichtet, das wenig später mit der „Concessão urbanísitica Nova Luz“ (vgl. Kap. 4.4.1) noch stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit bezüglich der Innenstadtrevitalisierung gerückt wurde (Kara José 2010, S. 135 ff.; cyMbalisTa eT al. 2008b, S. 143 ff.). Kara José kommt zu dem Schluss, dass „[…] aus dem Programm PROCENTRO[-2005] diejenigen Komponenten entfernt wurden, die sich in der einen oder anderen Form mit dem Verbleib der Bevölkerung geringer Einkommen im Zentrum beschäftigt haben, einschließlich der Verbesserungen des öffentlichen Verkehrs. Die Betonung liegt ganz im Gegenteil stattdessen auf einer umkehrung der Popularisierung (popularização) mittels einer Vision der öffentlichen Hand als Dienerin für die Interessen des privaten Sektors“73 (Kara José 2010, S. 137 f.).
Ferner wurden auch die partizipativen Elemente in der Steuerung des Programms mit der Auflösung der beiden dafür vorgesehenen Institutionen (exekutive Koordinierungsstelle und Forum zur sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung des Zentrums) abgeschafft. Das Anliegen der Vorgängerregierung in dem Bereich der Bürgerbeteiligung, das trotz aller Mängel in der umsetzung, Effektivität und Effizienz vorhanden war, verkehrte sich in den Nachfolgerregierungen in das Gegenteil (Kara José 2010, S. 138 f.). Die umsetzungen von Projekten in der zweiten Phase des Kreditprogramms der BID widerspiegeln die neuen Prämissen und finden sich v. a. in den Bereichen der Aufwertung des öffentlichen Raums und der Stadtsanierung in Form der Instandsetzung kulturell und historisch bedeutsamer Gebäude wieder. So wurden die Plätze Sé und República und in jüngster Vergangenheit der Platz Roosevelt (vgl. Kap. 4.4.1) mit Mitteln aus dem Programm „PROCENTRO-2005“ grundlegend erneuert. Im Bereich der Gebäudesanierung wurde die Fassade des Teatro Municipal saniert und dessen Bühne modernisiert, die Stadtbibliothek Mario de Andrade restauriert und ein Gebäudeensemble bestehend aus dem Solar da Marquesa de Santos, dem Casa No 1 und dem Beco do Pinto von Grund auf renoviert. In diesem Gebäudekomplex sollen der Sitz des Stadtmuseums (Museu da Cidade) und Teile des Museums selbst untergebracht werden74. Ein großes Projekt war auch die Errichtung eines Gebäudekomplexes unter Einbeziehung historischer Bausubstanz mit dem Titel „Praça das Artes“ (Platz der Künste) zwischen dem Vale do Anhangabaú und der Avenida São João (cyMbalisTa eT al. 2008a, S. 73 ff.; BID 2013). Inzwischen ist das Programm PROCENTRO-2005 mit der überweisung der letzten Rate des Kreditbetrags durch die BID (im Jahr 2012) abgeschlossen (IDB o. J.). 73
74
„[…] foram eliminados do Procentro os componentes que de alguma forma se relacionavam com a permanência da população de baixa renda existente no Centro, inclusive as melhorias no transporte público. Pelo contrário, a ênfase é na reversão da popularização do Centro, mediada por uma visão de poder público como serviçal de interesses do setor privado.“ Interviews mit Clara d‘Alambert und Mirthes Baffi, vgl. Fußnote 65.
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4 Fallstudie São Paulo
Nicht nur die jüngeren städtischen Erneuerungsprogramme für die Innenstadt zielten schwerpunktmäßig auf den Bereich der Kultur ab. Zuvor wurde v. a. vonseiten des Bundesstaats São Paulo und bei Projekten in Kooperation mit der Republik Brasilien die kultur(historische) Zielrichtung verfolgt. Zusätzlich waren diese Programme regional auf das Gebiet Luz – um den gleichnamigen Bahnhof – im Norden des Distrikts República ausgerichtet. Das nationalstaatliche Programm „Monumenta“ (vgl. Kap. 3.4) fokussierte mit Mitteln der BID und in Kooperation mit dem Bundesstaat und dem Munizip auf die Restaurierung kulturhistorischer Gebäude im Stadtviertel Luz. Grundlegende Idee des Programms ist die Annahme, dass mit der Aufwertung kulturhistorisch bedeutender Gebäude, Parks u. ä. eine allgemeine Dynamik der sozialen und ökonomischen Erneuerung eines bestimmten Gebiets angestoßen werden kann. Aus diesem Grund war in diesem Programm von Anfang an die Beteiligung privatwirtschaftlicher Akteure eine wichtige Prämisse. Schlussendlich sollte es sich um finanziell „nachhaltige Erneuerungen“ („recuperação sustentável“) handeln, d. h., dass die Investitionen – nach Abschluss der Maßnahmen an den jeweiligen Kulturgütern – die erneuerten, historischen Stätten in die Lage versetzen sollten, mit Hilfe von Public-Private-Partnership und ohne öffentliche unterstützung den weiteren Erhalt und die Pflege zu ermöglichen (Kara José 2007, S. 158 ff.). Im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre erfolgte im Rahmen dieses Programms die umsetzung einiger kleinerer Projekte im und um den Parque da Luz. Die prognostizierten Streueffekte für das Einflussgebiet (wie bspw. die Aufwertung der Immobilien in der umgebung) blieben jedoch hinter den Erwartungen zurück (Kara José 2010, S. 111). Die Interventionen vonseiten des Bundesstaats São Paulo in diesem Gebiet (Luz) umfassen bereits mehrere Jahrzehnte und haben größere Veränderungen hinsichtlich der (kulturellen) umgestaltung des Stadtviertels bewirkt. Ausführlich beschrieben und bewertet werden diese von Kara José (2007). Schon in den 1980er Jahren bemühte man sich um eine Stadterneuerung mittels Anreizen durch kulturelle Nutzungen in diesem Gebiet. Das Projekt „Luz Cultural“ hatte zum Ziel, das (gebaute) kulturelle Erbe in Wert zu setzen, um es sowohl für die Bevölkerung als auch für Touristen attraktiv zu machen und so eine Erneuerung in Gang zu setzen. Die Erneuerung sollte sowohl das Interesse neuer Bewohner_innen und anderer Akteure als auch das des Immobiliensektors wecken. Es handelte sich überwiegend um Fördermaßnahmen zur Bekanntmachung und Attraktivitätssteigerung der vorhandenen Angebote; unmittelbar bauliche Eingriffe stellten in diesem Projekt die Ausnahme dar (Kara José 2007, S. 60 ff.). Dies änderte sich ab den 1990er Jahren mit dem Projekt „Pólo Luz“. „Jetzt lag der Schwerpunkt auf der Schaffung neuer Einrichtungen größeren umfangs als Beweis der Investitionsfähigkeit der Regierung [und] mit dem Ziel, Investitionen des privaten Sektors anzuziehen, die [wiederum] tatsächlich zur Veränderung des Gebiets beitragen können“75 (Kara José 2007, S. 194; eigene übersetzung). 75
„Agora se enfatizava a criação de equipamentos novos e de maior porte como prova de capacidade de investimento do governo, visando a atrair investimentos do setor privado que pudessem contribuir de fato para transformação da área.”
4.4 Interventionen in der Innenstadt von São Paulo
203
Kultur und ihre Inwertsetzung wurden in diesem Programm als „Anker“ (wie dies in zurückliegenden Jahrzehnten für den Straßenbau galt) verstanden, mittels dem Anreize für weitergehende (private) Investitionen in diesem Gebiet ausgelöst werden sollten. Erstes Projekt dieser jüngsten Erneuerungsphase war ab 1992 die Renovierung und der umbau der Pinacoteca do Estado (Pinakothek des Bundesstaats). Die nicht unerheblichen Eingriffe (nach Plänen von Paulo Mendes da Rocha) in die historische Bausubstanz (von Ramos de Azevedo) führte zu erheblichen Spannungen mit den Vertreter_innen der Denkmalschutzbehörden der verschiedenen Verwaltungsebenen. Letztendlich wurden die Maßnahmen aber umgesetzt. Von noch größerer Tragweite war die Errichtung der Sala São Paulo. Im Innenhof des Bahnhofs Júlio Prestes wurde bis 1999 ein hochmoderner Konzertsaal gebaut, der als Mittelpunkt aller kulturellen Erneuerungsmaßnahmen des Gebiets angesehen wurde und die Glaubhaftigkeit der bundesstaatlichen Absicht zur allgemeinen Erneuerung unterstreichen sollte. Neben vergleichsweise kleineren Interventionen wie die umgestaltung des Gebäudes der DOPS in eine Gedenkstätte und ein Kulturzentrum namens „Estação Pinacoteca“, die Restaurierung und Erweiterung des Museu de Arte Sacra de São Paulo (Museum für sakrale Kunst São Paulos), das im barocken Klostergebäude des Mosteiro da Luz untergebracht ist, und die Sanierung des Parks Jardim da Luz, ist die Einrichtung des Museums der Portugiesischen Sprache (Museu da Língua Portuguesa) im Bahnhof Luz sowie dessen Renovierung das jüngste abgeschlossene Projekt (Kara José 2007, S. 198 ff.). Auch wenn die Idee, mittels kultureller Leuchtturmprojekte Folgemaßnahmen privater Träger anzustoßen, angesichts der Tatsache, dass das Gebiet landläufig unter dem zweifelhaften Namen „Cracolândia“ (Crackland) (TöPFer 2011, S. 98 ff.) bekannt ist, bisher im Sinne der Initiatoren wenige Erfolge zu zeitigen scheint, waren – zumindest bis vor kurzem – Projekte ähnlichen, wenn nicht sogar größeren umfangs in Planung. Auf der Fläche eines kompletten Häuserblocks direkt gegenüber der Sala São Paulo war ein Tanztheatergebäude geplant. Bereits existierende Entwürfe für dieses Kulturzentrum stammen vom Schweizer Architekturbüro Herzog & de Meuron. Die in Betracht gezogene Fläche wurde bereits insofern vorbereitet, als dass alle dort vorhandenen Gebäude – mit Ausnahme einer Feuerwache – abgerissen wurden. Darunter befand sich auch das großräumige ehemalige überlandbus-Terminal, das bis zu seinem Abriss als ein einfaches Shoppingcenter (Fashion Center Luz) fungierte. Das Projekt wurde vor kurzem zumindest vorläufig zurückgestellt (esTadão 17.03.2014, o. S.), das vorgesehene Areal ist umzäunt und steht bis heute weitgehend leer76.
76
Vgl. Google Street View Alameda Dino Bueno, Avenida Duque de Caxias, Alameda Barão de Piracicaba und Rua Helvétia vom Februar–April 2014; https://www.google.at/maps/@23.535263,-46.640785,3a,75y,273.45h, 92.33t/data=!3m4!1e1!3m2!1sIVEjjeqmPJKAqnIJE6 auog!2e0. An der Straßenecke Rua Helvétia / Alameda Dino Bueno ist zum Aufnahmezeitpunkt im Februar 2014 eine provisorische Anlaufstation des bundesstaatlichen Programms „Recomeço“ („Neustart“) des Gesundheitsministeriums zu erkennen, dass Hilfestellung beim Drogenausstieg bietet (http://programarecomeco.sp.gov.br/). Auf der Homepage des Programms ist diese Anlaufstation allerdings nicht aufgeführt (Stand: 12.08.2014).
204
4 Fallstudie São Paulo
Anders als die kommunalen Programme und Projekte der Innenstadtinterventionen, die durch Regierungswechsel immer wieder abgebrochen und neubegonnen wurden, weisen die bundesstaatlichen Investitionen im Stadtteil Luz – nicht zuletzt wegen politischer Stabilität auf bundesstaatlicher Ebene – eine relativ konstante Entwicklung auf. Dabei wurde von Anfang an versucht, mit den unterschiedlichen Maßnahmen die kulturellen (und historischen) Orte der Region nicht (nur) für die dort unmittelbar ansässige, ärmere Bevölkerung, sondern primär für Bessergestellte aus anderen Gebieten der Stadt und Touristen attraktiv zu machen und zu vermarkten. Ziel war es, mit diesen kulturellen Starthilfen eine allgemeine Entwicklung in diesem Stadtteil in Gang zu setzen, die Immobilien- und andere Investoren anziehen und schlussendlich eine Aufwertung mit sich bringen sollten. Damit entsprechen diese Interventionen dem weitverbreiteten Muster einer Innenstadterneuerung mit Hilfe kultureller Initialzündungen (vgl. Kap. 2.1.5). Der Erfolg in dieser Hinsicht durch die Prestigeprojekte ist aber bis heute weitgehend ausgeblieben. Stattdessen bilden die (im doppelten Sinne) herausragenden Kultureinrichtungen in räumlicher Hinsicht kleinste „inselartige Stadtfragmente“ (Kraas 2010, S. 190; vgl. auch Kap. 2.1.4), deren Besucher_innen mit der unmittelbaren umgebung in keinerlei austausch treten. Bei allen Initiativen, die von den Regierungen der verschiedenen Verwaltungsebenen beschlossen wurden, lassen sich einige Gemeinsamkeiten feststellen. Insbesondere hinsichtlich der Zielsetzungen können solche ausgemacht werden, die – unabhängig von der jeweiligen Regierung – über die vergangenen 20 Jahre Bestand haben. Dazu zählen, dem Zentrum wieder mehr symbolische Bedeutung für die Gesamtstadt, aber auch darüber hinaus zuzuschreiben und der Versuch, private Investoren bei den Maßnahmen zu beteiligen. Die Förderung kultureller Einrichtungen ist ferner eine Konstante bei den ergriffenen Maßnahmen. Zusammenfassend lassen sich in allen Maßnahmen und Programmen Versuche der neuerlichen (ökonomischen) Aufwertung des Zentrums erkennen. Schließlich ist auch das Ziel der Rückführung der öffentlichen munizipalen Verwaltung ins Zentrum zu nennen (Teixeira eT al. 2005, S. 14). Dabei werden aber auch bereits erste unterschiede deutlich, die sich zwischen Perioden eher progressiver(er) und eher konservativer(er) Regierungen ausmachen lassen. Denn die aktiven Phasen der Konzentration der Verwaltung im Zentrum fallen zeitlich mit progressiveren Regierungen zusammen (Anfang der 1990er Jahre: Regierung Erundina; Anfang der 2000er Jahre: Regierung Marta). riVière d’arc skizziert zunächst grob zwei mögliche Richtungen, die die Entwicklung in Stadtzentren nehmen kann: „Welche Rolle wäre, allgemein betrachtet, dem alten gebauten Raum im Stadtzentrum […] zugedacht? Die der exkludierenden Immobilienspekulation […] und der Verbreitung der Kultur als produktive Strategie […], wenn man die These der ‚allgemeinen Gentrifizierung‘ berücksichtigt; oder die eines aufgegebenen öffentlichen Raums der Armen und / oder teilweise ‚privatisiert‘, für diejenigen, die die These der ‚zerfallenden Stadt‘ vertreten“77 (riVière d’arc 2006, s. 266; eigene übersetzung). 77
„Em sentido amplo, qual papel seria então reservado ao antigo espaço no centro urbano [...]? Aquele da especulação imobiliária excludente [...] e da difusão cultural como estratégia produ-
4.4 Interventionen in der Innenstadt von São Paulo
205
Anschließend erwähnt sie noch eine dritte Entwicklungsmöglichkeit, die zwischen den beiden oben beschriebenen Extremen angesiedelt ist, indem auf die anzustrebende soziale Diversität abgezielt wird, die sich, wenn überhaupt, nur im Zentrum realisieren ließe (riVière d’arc 2006, s. 278). Die zweite Entwicklungsrichtung ist im Zusammenhang mit Interventionen – welcher Art auch immer – im zentralen Raum São Paulos keine Zielkategorie der jeweils Verantwortlichen. Im politischen Diskurs, vorzugsweise der Opposition zu Maßnahmen der Regierung, kann sie aber sehr wohl als Drohkulisse dienen. So klagte noch Jahre später der zwischen 1995 und 2000 für das Programm „PROCENTRO“ Verantwortliche, saNderley Fiusa, über die Interventionen der Regierung unter Erundina: „Sie wollte alles in ein großes cortiço verwandeln und in Folge dessen wollten alle unternehmen das Zentrum verlassen. Es war ein Desaster! Alle waren verärgert, weil die Verwaltung in eine Richtung tendierte, während die Bevölkerung anderes wollte. […] Das [Vale do] Anhangabaú war etwas Abschreckendes mit diesen Shows, am nächsten Tag wirkte es wie eine Müllkippe!“78 (Fiusa zit. in araVecchia & boNduKi 2004, S. 11; eigene übersetzung). Diese Aussage kann zwar nicht als Beleg für die Entwicklungsrichtung der „zerfallenden Stadt“ als das Ziel der Regierung Erundina dienen, da in diesem Fall die Innenstadt hätte aufgegeben worden sein müssen, was während der Regierung mitnichten der Fall war, verdeutlicht aber schon die unterschiede in der Verfolgung der Ziele, die schlussendlich doch Tendenzen entweder in die erste Entwicklungsrichtung der „allgemeinen Gentrifizierung“ oder aber in die der „sozialen Diversität“ aufweisen. Die progressiveren Regierungen jeweils zu Beginn der 1990er und der 2000er Jahre zeichnen sich zumindest diskursiv durch Versuche aus, bei den Innenstadterneuerungsmaßnahmen ganzheitliche Ansätze, die auch der sozioökonomischen Disparität des Zentrums Rechnung tragen, zu verfolgen. Auffälligster unterschied ist dahingehend die entgegengesetzte Herangehensweise an die Wohnraumversorgung, deren Schwerpunktsetzung bei den beiden genannten Regierungen tendenziell den geringverdienenden Bevölkerungsgruppen im Zentrum zugutekam, während die tendenziell konservativeren Regierungen von Maluf / Pitta (1993–2000) und Serra / Kassab (2005–2011) den marktgesteuerten Wohnungsbau zugunsten der Mittelschicht favorisierten und eventuell bestehende Programme des sozialen Wohnungsbaus der Vorgängerregierungen annullierten. Weitere Abweichungen zwischen den konservativeren und den progressiveren Regierungen treten bei der Betrachtung der Beteiligung verschiedener Gruppen mit Interessen am Zentrum zu Tage. Erstere beziehen v. a. Stakeholder mit ein, die die Mittelschicht, die (lokale) Wirtschaft / den privaten Sektor und andere ökonomisch am Zentrum Interessierte repräsentieren. Dagegen ist v. a. während der Regierung
78
tiva [...], se levarmos em conta a tese da ‘gentrificação generalizada’; ou o de um espaço público abandonado aos pobres e / ou parcialmente ‘privatizado’, para os que defendem a tese da ‘cidade que se desfaz’.” „[Erundina] queria transformar tudo em um grande cortiço e depois disso todas as empresas queriam sair do Centro. Foi um desastre! Todos estavam irritados, porque a administração pendia para um lado enquanto a população queria outra visão [...] O Anhangabaú era algo assustador com aqueles shows, no dia seguinte parecia um lixão!”
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4 Fallstudie São Paulo
Marta der Versuch unternommen worden, eine wesentlich breitere Palette an Interessierten und Betroffenen zumindest in die Diskurse um das Zentrum zu involvieren. Im Rahmen der eingeschränkten Möglichkeiten bei Maßnahmen für den Raum des Zentrums gibt es auch kleine unterschiede bei der räumlichen Abdeckung der jeweiligen Programme. Während die Programme der progressiveren Regierungen tendenziell eher größere räumliche Einheiten (z. B. Zentrum und Zentrumsnaher Bereich) versuchen abzudecken, sind die der konservativeren Regierungen oft auf kleinere Gebiete (Zentrum oder nur Teile davon, bspw. Stadtviertel Luz) begrenzt. (riVière d’arc 2006, s. 288; Teixeira 2005, S. 28, Kara José 2010, S. 38). Die Erfolge der Maßnahmen zu der einen oder anderen Zielerreichung werden aber allgemein kritisch betrachtet (silVa 2006, S. 20 ff.). Es wurde allgemein deutlich, dass der öffentliche Raum bei vielen der Maßnahmen eine wichtige Rolle spielt. Die munizipalen Programme und Projekte wie „Eixo Sé-Arouche“, „PROCENTRO“, „Ação Centro“, „Corredor Cultural“ und „PROCENTRO-2005“ beinhalteten sämtlich Zielsetzungen den öffentlichen Raum betreffend. Im Folgenden soll der Blick speziell auf den öffentlichen Raum und seine Bedeutung im Zuge der jüngeren Innenstadterneuerungsmaßnahmen gelenkt werden. Neben den schon teilweise dargestellten physisch-baulichen Eingriffen – die im Folgenden an einigen konkreten Beispielen ausgeführt werden – wird der Fokus dabei auch auf regulierende Maßnahmen gelegt, die die Nutzung und die Zugänglichkeit des öffentlichen Raums beeinflussen. 4.5
ÖFFENTLICHER RAuM IN SãO PAuLO
Der öffentliche Raum spielt bei Fragen der Innenstadterneuerung in São Paulo, aber auch allgemein in Metropolen und ihren Zentren, eine wichtige Rolle. Im Zuge des Bedeutungsgewinns der strategischen Planung sowie des globalen, intermetropolitanen Wettbewerbs um die attraktivsten Standorte für unternehmungen und der intrametropolitanen Konkurrenz um Immobilienlagen ist der öffentliche Raum zentral: „Nur das Vorhandensein von öffentlichen Räumen und Einrichtungen, die zugänglich, sicher, vielseitig und mit ästhetischer Qualität und symbolischer Aufladung ausgestattet – also kulturell bedeutend – sind, schafft Zentralität. Die städtische Zentralität, verstanden als Verdichtung der Stadt, ist nicht so sehr der Knoten, an dem die Ströme des metropolitanen Raums zusammenfließen, sondern der Ort der Begegnung und der Identitäten, der Ausdruck der Bürgerlichkeit und das Substrat für das städtische Marketing und den Patriotismus“79 (borJa 2001, S. 71).
Was aber war und ist öffentlicher Raum in São Paulo jenseits dieser allgemeinen, schlussendlich v. a. auf Vermarktung und Standorte abzielenden Bedeutungen? Im Folgenden wird kurz seine historische Entwicklung und Bedeutung im Paulistaner 79
„Somente a existência de espaços e equipamentos públicos, acessíveis, seguros, polivalentes, dotados de qualidade estética e de carga simbólica, quer dizer, culturalmente significativos, cria centralidade. Porque a centralidade urbana, entendida como condensação da cidade, não é tanto o nó onde confluem os fluxos do espaço metropolitano, como o lugar dos encontros e das identidades, a expressão de civismo e o substrato do marketing e do patriotismo da cidade.“
4.5 Öffentlicher Raum in São Paulo
207
Kontext ausgeführt, bevor die mit dem öffentlichen Raum verbundenen Assoziationen (Definitionen und Bedeutungen) der interviewten Stakeholder und Akteure dargestellt werden. Im dritten unterkapitel werden dann zum einen physische Erneuerungsmaßnahmen im öffentlichen Raum im Zentrum São Paulos an Fallbeispielen beschrieben und zum anderen die vielfältigen Regelungen und Initiativen – seien sie von öffentlicher oder privater Seite –, die sich auf den öffentlichen Raum bzw. die Menschen in ihm auswirken und Handeln ermöglichen oder verhindern können, analysiert. 4.5.1
Schlaglichter auf den öffentlichen Raum São Paulos in der Vergangenheit
Die Darstellung dessen, was öffentlicher Raum in São Paulo heute bedeutet, und das Verständnis, wie er im Zentrum in jüngerer Zeit physisch und institutionell gestaltet wird, bedarf der Kontextualisierung in zeitlicher Hinsicht. Die Eruierung soziohistorischer umstände und Prozesse kann helfen, die gegenwärtigen Funktionen und Nutzungen öffentlicher Räume ebenso wie Konflikte darum einzuordnen und zu interpretieren. Die geschichtlichen und damit auch gesellschaftlichen Kontexte bilden den Rahmen für das Handeln und die Reaktionen der Stakeholder und Akteure in der Gegenwart (vgl. Frehse 2009, S. 161 ff.; Frehse 2013, S. 146). Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden kursorisch dargestellt, was öffentlichen Raum in São Paulo in der Vergangenheit ausmachte und welche Funktion(en) er hatte. Die Ausführungen basieren hauptsächlich auf einer detaillierten Analyse zu der gesellschaftlichen Entwicklung São Paulos und der Rolle des öffentlichen Raums in diesem Zusammenhang, die Paoli & duarTe (2004, S. 53 ff.) für die Zeit ab der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert – also ab dem Zeitpunkt, an dem São Paulo sich rapide von einer kleinen Kolonialstadt in eine große Industriestadt wandelte – anstellen. Gesellschaftliche Ausgangslage zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Teilung São Paulos in „zwei Städte“, resultierend aus der sozioökonomischen Aufspaltung der Gesellschaft in eine Oberschicht und eine unterschicht, die sich auch räumlich manifestiert. „Es ist an den Kontext der Werte der Stadt […] [in der damaligen Zeit] zu erinnern, an die schon viel studierten Wahrnehmungsmuster der wohlhabendsten Schichten der Gesellschaft, die allgemein an der Vorstellung einer klar dichotomen Stadt festhielten. Ihre duale Kartographie verortete auf der einen Seite die Stadt der Ordnung, der Moral, der guten Familien, der beispielhaften Weltoffenheit, die durch die Reichen verkörpert wurde, und die Stadt der Avantgarde, bezogen auf die Kultur der 1920er Jahre, die Nicholas Sevcenko als ,modernistischen Wirbel‘ bezeichnete, öffentlich zur Schau gestellt in den Einstellungen und im Auftreten der Menschen in der Öffentlichkeit, in den Kommentaren der großen Medien, in der Häufung der Präsentation von Anzeichen der Moderne wie der Geschwindigkeit, des Krachs, der neuen Maschinen, des Lärms der Hupen und des guten Tons französischer Höflichkeit. Auf der anderen Seite lag die widrige Stadt der unordnung, der Amoralität und des Vagabundentums. Jeder dieser ‚Städte‘ entsprachen ein spezifischer Raum und eine bestimmte Zeit. Auf der einen Seite die Stadt des Rechts, in der sich Zeit und Raum nicht mischten: der Bereich der Arbeit wurde von der Zeit des Hauses getrennt, Freizeit unterschied sich vom Straßenraum. Auf der anderen Seite waren die einfachen Viertel, in denen sich Arbeit, Wohnen und Freizeit in Zeit und Raum
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4 Fallstudie São Paulo überlappten. In diesen einfachen Stadtvierteln wurde die Rechtmäßigkeit, die die gute Stadt ausmacht, ständig unterlaufen und umgedeutet. Der materielle und symbolische Graben zwischen der einen Stadt und der anderen war sehr tief. Paradoxerweise waren die Entfernungen kurz und der Schluss naheliegend, dass, wenn die ‚andere‘ Stadt Raum und Zeit am Rande der guten Stadt war, ihre Bewohner ebenfalls am Rande ständen“80 (Paoli & duarTe 2004, S. 55 f.; eigene übersetzung).
Diese Zweiteilung der Stadt spiegelte sich auch in den öffentlichen Räumen und ihrer Nutzung wider. Dabei gibt es zum einen den Fall der räumlich getrennten Gebiete für die Oberschicht und die unterschicht, aber zum anderen – aufgrund der begrenzten Fläche der Stadt an sich – auch oft die überlappung beider Öffentlichkeiten in ein und demselben Raum mit den entsprechenden Konflikten. Die öffentlichen Räume der Oberschicht spielten von Beginn an als repräsentative Orte eine wichtige Rolle. Vor diesem Hintergrund wurden in den 1910er Jahren die Parks Luz, Anhangabaú und Dom Pedro II aufwändig angelegt, in denen die Mitglieder der Oberschicht Erholung suchten und ihre Freizeit verbrachten (zola 2007, S. 23 f.). Mit der intraurbanen Migration der Angehörigen der Oberschicht (vgl. Kap. 4.2) verlagerten sich auch deren repräsentative Parks. Der 1954 eröffnete Park Ibirapuera löste zu diesen Zwecken die zuvor genannten ab, denen in Folge weniger bis keine Aufmerksamkeit mehr vonseiten der öffentlichen Hand zuteilwurde und deren Zustand sich entsprechend verschlechterte. Auch für die unterschicht war der öffentliche Raum als Ort der Freizeitnutzung – nicht zuletzt wegen der beengten Wohnverhältnisse – von Bedeutung. In den Arbeiterbezirken spielten die Bewohner_innen Boccia und anderes auf den Straßen und der Largo do Arouche im heutigen Distrikt República diente als Treffpunkt der afrobrasilianischen Bevölkerung zum gemeinsamen Musizieren. Ab etwa Mitte des Jahrhunderts gesellten sich auch die Migrant_Innen aus dem Nordosten Brasiliens – die nordestinos – auf den Plätzen und in den Straßen des Zentrums dazu (Paoli & duarTe 2004, S. 57 f.). Allerdings waren diese zentralen Räume nicht unumstritten zwischen der unter- und der Oberschicht. Ein Beleg dafür ist der ehe80
„Não custa lembrar o contexto dos valores da Cidade neste momento, os já muito estudados padrões de percepções próprias dos setores mais abastados da sociedade, que mantinham, em geral, concepções acentuadamente dicotomizadas da Cidade. Sua cartografia dual colocava, de um lado, a Cidade de ordem, da moral, das boas famílias, do cosmopolitismo exemplar dado pelos ricos e, no plano cultural, durante os anos 20, do lugar de vanguarda, que Nicolau Sevcenko denominou de ‚furor modernista‘, exibido publicamente nas atitudes e no aparecer das pessoas em público, nos comentários da grande imprensa, no acúmulo da exibição de signos modernos de velocidade, do barulho, das novas máquinas, do furor das buzinas, do bom-tom da civilidade francesa. Do outo lado ficava a Cidade às avessas, a desordem, a amoralidade e a vadiagem. A cada uma dessa ‚cidades‘ correspondia um espaço específico e um tempo determinado. De um lado, a cidade legal, onde tempos e espaços não se misturavam: o espaço do trabalho estava separado do tempo da casa, o tempo do lazer era distinto do espaço da rua. De outro lado, estavam os bairros populares onde trabalho, moradia e lazer estavam sobrepostos no tempo e no espaço. Nestes bairros populares a legalidade urbana que configurava a boa cidade era continuamente subvertida e ressignificada. A distância material e simbólica entre uma cidade e outra era abissal. Paradoxalmente, era curta a distância e rápida a conclusão de que, se a ‚outra‘ cidade era um espaço e um tempo à margem da boa cidade, seus moradores também seriam.“
4.5 Öffentlicher Raum in São Paulo
209
malige Largo do Rosário, der heutige Platz Antonio Prado. Der ursprüngliche Platz gleichen Namens wie der der Kirche der Ordensgemeinschaft unsere Jungfrau des Rosenkranzes der Schwarzen (Irmandade Nossa Senhora do Rosário dos Pretos) wurde bereits um die Jahrhundertwende nach dem Abriss der Kirche und der bereits vorangegangenen Entfernung der einfachen Wohnbebauung der überwiegend afrobrasilianischen Bevölkerung vollständig umgestaltet. Die Nutzer_innen des Platzes wurden dadurch komplett ausgetauscht. Die ehemaligen armen Anlieger des Kirchplatzes wurden verdrängt und stattdessen entwickelte er sich mit der seinerzeit modernen Bebauung und exklusiven Ausstattung mit Kaffeehäusern zu einem Treffpunkt der eleganten Bürgerschaft der Oberschicht (zola 2007, S. 71 f.). Der öffentliche Raum war für die unterschicht aber mehr als nur der Ort der Freizeitnutzung. Hier manifestierten sich bereits in den zehner Jahren des 20. Jahrhunderts die politischen Forderungen und Proteste der unterschicht in Form von Demonstrationen und Kundgebungen. Während der Zeiten der Diktaturen (Estado Novo 1937–1947; Militärdiktatur 1964–1985) wurden diese Möglichkeiten bis zur Gänze verboten. Der öffentliche Raum verlor in diesen Perioden wegen der zu befürchtenden Repressionen vonseiten des staatlichen Sicherheitsapparats weitgehend seine politische Funktion. Außerdem wurde im Estado Novo in der damaligen Verfassung die Pflicht zur Arbeit festgeschrieben und überlebenssichernde Tätigkeiten von Arbeitslosen (die es per Verfassung gar nicht geben durfte) verboten. Betteln u. ä. im öffentlichen Raum wurde zur Aufgabe der Polizei, die Bettler_innen und andere Nicht-Arbeitende verfolgte (Paoli & duarTe 2004, S. 78 f.). Damit wurden Tätigkeiten der überlebensökonomie im öffentlichen Raum weitgehend unterbunden. Auch die Erweiterung des Lebensbereichs der armen Bevölkerung in den öffentlichen Raum z. B. für Freizeitnutzungen wurde von der Oberschicht mit Argwohn beobachtet. Stattdessen wurde angestrebt, die vermeintlich durch die Armen selbstgewählte Lebensform in den beengten, als kollektive Wohnformen wahrgenommenen cortiços durch solche in individuellen familiären Einheiten zu ersetzen und so das Leben auf der Straße zu reduzieren. Dadurch sollte gewährleistet werden, jeden an seinem Platz zu halten und mögliche Konflikte, die den öffentlichen Frieden und damit die wirtschaftliche Entwicklung gefährden könnten, von vornherein zu vermeiden (Paoli & duarTe 2004, S. 63 f.). Die Bedeutung des öffentlichen Raums als Ort der Freizeit- und Erholungsnutzung für die Oberschicht sank ohnehin in dem Maße, wie private Clubs und andere gesellschaftliche Einrichtungen für diese entstanden. Die Straßen wurden fortan gemieden und das Leben auf der Straße durch jenes in privaten familiären und / oder entsprechenden gesellschaftlichen Räumen ersetzt. Dem öffentlichen Raum kam parallel dazu im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt eine immer wichtiger werdende Funktion zu: die des Verkehrs und des Transports. Im Zuge der umsetzung des „Plano de Avenidas“ (vgl. Kap. 4.2 & 4.3.2) wurde der Park im Tal des Anhangabaú-Flusses Ende der 1930er Jahre durch eine mehrspurige Straßenachse ersetzt, die fortan Teil der neuen Nord-SüdVerbindung durch das Zentrum wurde. Damit erfolgte in einem der zentralen Räume des Zentrums São Paulos ein grundlegender Nutzungswandel. Neben vielen weiteren umgestaltungen gab es auch Neuanlagen von Plätzen, die vorrangig der
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4 Fallstudie São Paulo
Verbesserung des Verkehrs dienten. Ein Beispiel dafür ist die Praça do Patriarca, der 1926 am Knotenpunkt der Straßen Direita, São Bento, Líbero Badaró und des Viaduto do Chá eingeweiht wurde und der Erleichterung der Verkehrsflüsse zwischen diesen zu der damaligen Zeit stark frequentierten Straßen beitragen sollte. Dafür wurde ein Teil des ursprünglich an dieser Stelle befindlichen Häuserblocks abgerissen und alle vier Seiten des entstandenen rechteckigen Platzes für den straßen- und schienengebundenen Verkehr (PKW, LKW, Busse und Straßenbahnen) adaptiert (zola 2007 S. 53 ff.). Der ursprünglich im Zentrum des Platzes befindliche Raum mit einem Denkmal, einigen Bäumen und Bänken wurde bereits gute zehn Jahre nach seiner Implementierung dergestalt verändert, dass die Verkehrsfläche zu Lasten dieses Raumes deutlich ausgeweitet wurde. Der verbleibende zentrale Raum erfuhr eine funktionale Neuausrichtung durch die hier endende Galeria Prestes Maia, die eine unterirdische Fußgängerverbindung vom Vale do Anhangabaú zur Praça do Patriarca darstellte. In der Stadt erlangten der individuale und der kollektive Straßenverkehr – ausgehend von der umsetzung des „Plano de Avenidas“ zwischen dem Ende der 1930er Jahre und der Mitte der 1940er Jahre – zunehmend Bedeutung. Allgemein entwickelte sich der Straßenverkehr zu der dominierenden Verkehrs- und Transportform, der er bis in die Gegenwart geblieben ist. Die Straßen wurden zu ungunsten weiterer Nutzungen primär darauf ausgerichtet. Neu eröffnete öffentliche (Straßen)Räume dienten von nun an hauptsächlich dem Waren- und Personentransport und wurden so von Aufenthalts- und Geselligkeitsräumen zu Durchgangsräumen (abrahão 2011, S. 79). Zwei Beispiele für die Ausrichtung öffentlicher Straßenräume auf den motorisierten privaten Straßenverkehr sind die Errichtung der Hochstraße Costa e Silva (Elevado Costa e Silva, auch als Minhocão [großer Wurm] bezeichnet) und die umgestaltung des Parks Dom Pedro II. Dieser wurde zwischen 1940 und 1970 durch immer wieder erfolgende Straßenerweiterungen und Brückenneubauten zur Verbesserung der Ost-West-umfahrung des Zentrums und der Nord-Süd(ost)verbindung in seiner Qualität zunehmend beeinträchtigt und schlussendlich zu einem „Restraum“ („espaço residual“; abrahão 2011, S. 84). Die Hochstraße Costa e Silva wurde Anfang der 1970er Jahre ebenfalls als Teil der Ost-Westumfahrung des Zentrums fertiggestellt. Sie verläuft in weiten Teilen als aufgeständerte Straße zwischen Häusern über bereits bestehenden Straßenzügen. ursprünglich dazu gedacht, die verschiedenen Verkehrsteilnehmer voneinander zu trennen und so eine höhere Sicherheit für alle zu gewährleisten, führte sie zu erheblichen Verschlechterungen zum einen der Aufenthaltsqualität in den abgedunkelten öffentlichen Räumen und Straßenzügen unter der Hochstraße und zum anderen der Luftqualität angesichts der geringeren Zirkulation. abrahão kommt zu dem Schluss, dass der städtische Raum und v. a. der öffentliche Raum durch die fast ausschließliche Ausrichtung auf den (individuellen) Automobilverkehr stark überprägt und einseitig funktionalisiert wurde. „In dieser Hinsicht führt die private Aneignung dieser Räume und der für diese bestimmten Ressourcen durch die motorisierte Minderheit zur Vernachlässigung des demokratischen Aspekts, der dem öffentlichen
4.5 Öffentlicher Raum in São Paulo
211
Charakter des öffentlichen Raumes inhärent ist“81 (abrahão 2011, S. 81; eigene übersetzung; vgl. auch alVes 2010, S. 77 ff.). Im Zentrum und darüber hinaus gewann ab den 1970er Jahren der schienengebundene Verkehr (nach der Stilllegung des Straßenbahnverkehrs in den 1960er Jahren) mit der Errichtung der Metrô (u-Bahn) wieder eine – wenn auch im Vergleich mit dem straßengebundenen Verkehr bescheidene – Bedeutung. Die parallel dazu im Zentrum implementierten Fußgängerzonen sollten einerseits der Verbesserung der Qualität des Zentrums dienen, ermöglichten aber auch die Zirkulation von Passant_innen, die zwischen den verschiedenen Metrô-Stationen und Bushaltestellen und -terminals pendeln. Der Großteil der Pendler_innen setzte sich aus Geringverdiener_innen zusammen, die aufgrund der fehlenden finanziellen Mittel zur Anschaffung eines eigenen PKW auf den öffentlichen Personennahverkehr angewiesen waren. Zur Befriedigung ihrer allgemeinen Konsumbedürfnisse waren für sie günstige Produkte von Bedeutung, die im Zentrum von einer steigenden Zahl von Straßenhändler_innen angeboten wurden. Diese wiederum profitierten von dem hohen Passant_innenaufkommen und die attraktivsten Standorte für die Straßenhändler_innen waren demgemäß die am meisten frequentierten Straßenzüge und Fußgängerzonen (zola 2007, S. 37 ff.; NaKaNo eT al. 2004, S. 138). Die kurze Darstellung dessen, was öffentlicher Raum in der Vergangenheit in São Paulo bedeutete, widerspiegelt die eingangs beschriebene Zweiteilung zwischen Mitgliedern der Oberschicht und denen der unterschicht. Während die unterschicht den öffentlichen Raum als Lebensraum nutzte und mit Protesten und Demonstrationen auch seine Funktion als politische Sphäre aktivierte, spielte er für die Oberschicht „lediglich“ als repräsentative, friktionsfreie Kulisse für Verkehr und Mobilität eine Rolle. Zur Aufrechterhaltung dieser letzteren Funktion des öffentlichen Raums versuchten die Eliten immer wieder, diesen für ihre Zwecke zu monopolisieren, und abweichende, ihres Erachtens unangemessene Nutzungen zu kriminalisieren oder durch Verdrängung in andere Räume zu verbergen. Diese fortdauernden Trennungen waren nach Ansicht von Paoli & duarTe (2004, S. 99) ein Grund für die Zerstörung eines pluralistischen Zusammentreffens verschiedener Mitglieder der städtischen Gesellschaft São Paulos im öffentlichen Raum. „Die ungleiche und permanent kommunikative Barrieren reproduzierende Modernität, in deren Verlauf São Paulo zur Stadt wuchs, schuf eine alltägliche Modernität, in der die Beziehungen zwischen den Schichten und sozialen Gruppen verarmt sind und die deshalb für lange Zeit den Einfallsreichtum, der daraus resultieren könnte, hemmt“82 (Paoli & duarTe 2004, S. 78; eigene übersetzung).
Der öffentliche Raum erfüllte in der Vergangenheit São Paulos zwar relativ viele Funktionen, diese aber oft nicht für die eine städtische Öffentlichkeit, sondern für 81 82
„Neste aspecto, a apropriação privada destes espaços e dos recursos a eles destinados, pela minoria motorizada, subtrai-lhes o aspecto democrático inerente ao caráter público dos espaços públicos.“ „A modernidade desigual e sempre reprodutora de barreiras comunicativas, pelas quais São Paulo cresceu como cidade, gerou uma modernidade cotidiana empobrecedora em seus relacionamentos interclasses e grupos sociais, por longo tempo tolhendo a inventividade que poderia daí gerar.“
212
4 Fallstudie São Paulo
verschiedene Öffentlichkeiten, deren Bruchlinien meist entlang der sozioökonomischen unterschiede der Nutzergruppen verliefen. Der öffentliche Raum als Ort der politischen Kommunikation und des kommunikativen Handelns wurde überwiegend von armen Bevölkerungsgruppen in Anspruch genommen, wohingegen genau diese Funktion von den Eliten als gefährlich eingestuft und in Abhängigkeit des jeweiligen Regimes mehr oder weniger explizit versucht wurde zu unterbinden. umgekehrt spielte für die unterschicht die Repräsentation durch den Raum eine untergeordnete Rolle, während sie für die Oberschicht von zentraler Bedeutung war. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts betrachteten alle den öffentlichen Raum noch als denjenigen, der auch der Freizeit- und Erholungsnutzung dienen kann; die entsprechenden Aktivitäten übten die unterschiedlichen sozialen Gruppen allerdings auf räumlich voneinander getrennten öffentlichen Straßen und Plätzen aus. Mit Zunahme privater Freizeitmöglichkeiten bspw. in privaten Clubanlagen für diejenigen, die sich die entsprechenden Mitgliedsbeiträge leisten konnten, schwand deren Notwendigkeit, den öffentlichen Raum für solche Zwecke in Anspruch zu nehmen. Stattdessen wuchs – wiederum für alle – die Bedeutung des öffentlichen Raums als Verkehrsraum. Aber auch dabei unterschied sich die entsprechende Infrastruktur für die unterschiedlichen sozioökonomischen Schichten, wobei allgemein gesagt werden kann, dass die Straßeninfrastruktur für den v. a. durch die Oberschicht in Anspruch genommenen, motorisieren Individualverkehr vorrangig ausgebaut wurde, während den schienengebundenen Verkehrsangeboten und dem öffentlichen Personennahverkehr im Allgemeinen weniger Aufmerksamkeit zuteilwurde. Die soziale Dimension des öffentlichen Raums hingegen war in der Vergangenheit immer von untergeordneter Bedeutung. Die Möglichkeit des spezialisierten Austauschs mit Fremden und die damit verbundene Erweiterung des eigenen Erlebnis- und Erfahrungshorizonts wurden durch diejenigen, denen dies möglich war, sogar weitgehend unterbunden, indem Fremde – oft synonym mit Angehörigen anderer, meist niedrigerer sozialer Schichten verstanden – verdrängt wurden. 4.5.2
Öffentlicher Raum, das ist … – Aussagen von Stakeholdern in São Paulo
In einer Studie zu den Fragen, wie öffentlicher Raum definiert wird und welche Wichtigkeit er hat, haben sTaeheli & MiTchell (2007, S. 792 ff.) für den angloamerikanischen Raum die jeweiligen Antworten von Wissenschaftler_innen (aus Publikationen und Interviews) einerseits und Stakeholdern mit Bezug zum öffentlichen Raum (aus Interviews) anderseits zusammengetragen und miteinander verglichen. in ähnlicher Weise wie in der arbeit von schMidT (2011, S. 136 ff.) am Beispiel Rio de Janeiro wurden in der vorliegenden Arbeit die in beiden Studien herausgearbeiteten Kriterien für die Auswertung der Interviewaussagen zu öffentlichem Raum von Stakeholdern in São Paulo herangezogen und wenn nötig um weitere Kriterien ergänzt. Insgesamt werden Aussagen von 15 Stakeholdern für die Analyse herangezogen, deren Institutionen bzw. Organisationen jeweils auf ihre Weise mit öffentlichem Raum zu tun haben und in ihrer Arbeit unterschiedliche Intensitäten von Interessensvertretung für mehr oder weniger klar umrissene und verschiedene Ak-
4.5 Öffentlicher Raum in São Paulo
213
teursgruppen darstellen. Dabei reicht das Spektrum von sozialen Bewegungen und gewerkschaftlichen Organisationen, die unmittelbar die Interessen ihrer Mitglieder verfolgen, über NGOs, die sich v. a. für soziale Belange (im Zentrum São Paulos) einsetzen, und Angehörige der Stadtverwaltung / -regierung bis hin zu Repräsentant_innen unternehmensnaher Nichtregierungsorganisationen. Die Aussagen zu öffentlichem Raum und seinen Definitionen83 sind dabei breit gestreut und eindeutige Festlegungen lassen sich aufgrund dieser nicht treffen. Dennoch gibt es einige Definitionskriterien, die öfter erwähnt werden (Tabelle 4). Relativ häufig wurde als Kriterium für öffentlichen Raum genannt, dass er als öffentliches Gut allen gehöre (6 Erwähnungen). umgekehrt wurde aber auch als eine Art Negativdefinition erwähnt, dass öffentlicher Raum oft niemandem gehöre, sich entsprechend keiner für ihn verantwortlich fühle und es ein Raum der geringen Wertschätzung sei, dem wenig Respekt entgegengebracht werde (4). Luiz Tokuzi Kohara vom Centro Gaspar Garcia de Direitos Humanos (Menschenrechtszentrum Gaspar Garcia) formuliert es wie folgt: „Es gibt keine Bildung dafür, das, was öffentlich ist, zu respektieren. [...] Es gibt eine Logik der öffentlichen Verwaltung: Dabei handelt es sich um eine brasilianische Logik des Patrimonialismus, bei dem die öffentliche Hand die öffentlichen Güter verwaltet, als ob sie privat seien, und des Klientelismus, im Zuge dessen man all das wiederum instrumentalisiert. und was ist der Widerhall dessen auf die Bildung der Gesellschaft? Man weiß nicht den Wert, den ein öffentliches Gut darstellt, zu erkennen. [...] Niemand fühlt sich für öffentliche Güter verantwortlich. [...] Was bedeutet öffentliches Gut in Brasilien? [...] Das, was öffentlich ist, gehört keinem, hat keinen Wert, liegt nicht in meiner Verantwortung.“84
In diesem Zusammenhang wird öffentlicher Raum auch als „Restraum“ bezeichnet, der bspw. für Obdachlose übrig bleibt (2). Dennoch spielt der öffentliche Raum in den Beschreibungen der Interviewten auch als Treffpunkt und Ort der Interaktion eine Rolle (4) und viele der Befragten – v. a. vonseiten der mit sozialen Belangen befassten NGOs und der Interessenvertretungen der sozioökonomisch Benachteiligten – betrachten ihn als denjenigen, den alle nutzen und von dem alle profitieren können (sollten) (6), so lange Dritte dadurch nicht gestört werden (2). Allerdings weist Benedito Roberto Barbosa von 83
84
Analog zu der Studie von sTaeheli & MiTchell (2007) wird hier auf die Begrifflichkeit Definition („definition“) zurückgegriffen, um ggf. Vergleiche mit dieser Studie zu ermöglichen. Es werden wie in der Ausgangsstudie „Schlüsselbegriffe, die öffentlichen Raum für die Autoren [und Interviewten] definieren“ (sTaeheli & MiTchell 2007, S. 797) wiedergegeben und analysiert. Dabei handelt es sich aber nicht (unbedingt) um eine hergeleitete, exakte und in sich geschlossene Bestimmung eines Begriffs, sondern teilweise um Fragmente einer Definition wie einzelne Merkmale oder Kriterien. „Não se tem uma formação na sociedade de respeitar o que que é público. [...] Nós temos uma lógica de gestão pública: Isso é uma lógica brasileira de patrimonialismo, onde o gestor público faz a gestão do bem público como se fosse particular e do clientelismo, onde se instrumentaliza tudo isso daí. E o que que isso repercute na formação da sociedade? Não sabe reconhecer o valor do que é público. [...] Ninguém se sente responsável pelo o bem público. [...] O que significa no Brasil o bem público? [...] O que é público não é de ninguém, não tem valor, não é responsabilidade minha.“ (Interview mit Luiz Tokuzi Kohara, Koordinator des Centro Gaspar Garcia de Direitos Humanos, am 21.09.2010 in São Paulo).
214
4 Fallstudie São Paulo
Ort der Verhandlung, Auseinandersetzung o. Protest
Allg. Nutzung von allen; alle können profitieren
x
x
x
x
Privatisierung des öffentlichen Raums, Privilegien, Exklusivität, Verdrängung von Armen
x
x
Raum der Repräsentation; repräsentativer Raum
x
x
Marco Antonio Ramos de Almeida (AVC)
Sérgio Abrahão (DPH)
Nelson Saule Júnior (Pólis)
6
x
x
6 x
4
x
x
4
x
x
x
Privatisierung durch die öffentliche hand (Busterminals, Zäune, u. a.)
x
x
x Öffentliche Einrichtungen/ Dienstleistungen
x
Luis Ramos (SMDu)
A. Kazuo Nakano, Natasha M. Menegon (Pólis)
x
x
x
SuMME
x
Teresinha Santana (AVC/AL)
x
Cristina Tokie Laiza (SP urbanismo)
x
x
Physische Definition (z. B. Straßen, Parks, etc.)
Ort von Gefahr, Bedrohung, gewalt
José Gomes (SINPESP)
Evaniza Lopes Rodrigues (uMM-SP)
Anderson Lopes Miranda (MNPR) Treffpunkt, Ort der interaktion
x
Luiz Tokuzi Kohara (CGG)
Öffentliches Eigentum (gehört uns allen, dem Volk)
Alderon Pereira Costa (Rede Rua)
Öffentlicher Besitz, öffentliches Eigentum
Márcia Hirata (FCV)
SchMidt (2011) töpfer Benedito Roberto Barbosa (uMM-SP)
Staeheli & Mitchell (2007)
Rene I. Goncalves, Fabiana A. Rodrigues (CGG)
Tab. 4: Definitionen von öffentlichem Raum und deren Nennungen durch interviewte Stakeholder (Quelle: Zusammenstellung anhand von eigenen Erhebungen 2009–2011; nach sTaeheli & MiTchell (2007) und schMidT (2011))
x
3
x
3
x
x
3
x
x
x
3
2
x
2
215
Raum der Gemeinschaft
Ort des freien Zugangs – keine, wenige Einschränkungen
x
x
entwerteter Raum; fehlende Wertschätzung
2
x
2 x
x
x
2
x
2
x
Gesetzlich geregelter Raum
x x
x
Raum der Ströme
Raum der öffentlichen hand
SuMME 2
x
Niemandsland, ohne individuelle Verantwortung
Beim Fehlen anderer Optionen: Nutzen für eine bestimmte gruppe
2
x x
keine anderen Personen stören
Marco Antonio Ramos de Almeida (AVC)
x
x Ort mit freiem Zugang; umsonst; für alle zugänglich
Teresinha Santana (AVC/AL)
Luis Ramos (SMDu)
Sérgio Abrahão (DPH)
2
Restraum für die Obdachlosen; Ort der Verneinung
Gegenteil von privatem Raum
Nelson Saule Júnior (Pólis)
Luiz Tokuzi Kohara (CGG)
José Gomes (SINPESP)
Orte der austauschbeziehungen (z. B. Einkaufen)
A. Kazuo Nakano, Natasha M. Menegon (Pólis)
x
Rene I. Goncalves, Fabiana A. Rodrigues (CGG)
x
Alderon Pereira Costa (Rede Rua)
Márcia Hirata (FCV)
Raum der überwachung
Evaniza Lopes Rodrigues (uMM-SP)
Benedito Roberto Barbosa (uMM-SP)
SchMidt (2011) töpfer
Anderson Lopes Miranda (MNPR)
Staeheli & Mitchell (2007)
Cristina Tokie Laiza (SP urbanismo)
4.5 Öffentlicher Raum in São Paulo
x
2
x
1
1
x x
2
1 1
216
4 Fallstudie São Paulo
der união de Movimentos por Moradia-São Paulo (uMM-SP; Zusammenschluss der sozialen Bewegungen für Wohnraum) darauf hin, was „Stören“ u. a. bedeuten kann: „Das Nicht-Stören anderer Menschen bedeutet folgendes: Es gibt eine sehr große Last an Vorurteilen in unserer Gesellschaft, und die Menschen fühlen sich manchmal durch die Anwesenheit von Personen, den Armen, im Zentrum der Stadt gestört.“85
Diese vermeintlichen Störungen durch die Anwesenheit armer Personen im öffentlichen Raum führen zu einem Bündel von Definitionen, die negative Konnotationen zum öffentlichen Raum zum Gegenstand haben. Öffentlicher Raum wird dabei dargestellt als der, aus dem Arme ausgeschlossen werden, der so zu einem exklusiven Raum mit Privilegien für bessergestellte Bevölkerungsgruppen wird und letztendlich eine Privatisierung erfährt (4). Es wird ferner auch erwähnt, dass eine Privatisierung auch durch benachteiligte Gruppen wie bspw. Obdachlose erfolgen kann (1), wobei ein wichtiger unterschied zu der Privatisierung durch die Oberschicht von Alderon Pereira Costa der Associação Rede Rua (Verein „Netz der Straße“) benannt wird: „Wenn die Person keine andere Wahl hat, noch einen Raum, wird sie einen Platz verwenden, der infolgedessen nicht mehr öffentlich ist, und der dazu übergeht […] eine Verwendung für eine bestimmte Gruppe, die beispielsweise aus Obdachlosen bestehen kann, zu haben. Natürlich ist dies eine Infragestellung, was man vom öffentlichen Raum hat, von diesem Raum aller, der dazu übergeht, von einer bestimmten Gruppe genutzt zu werden aufgrund des Fehlens anderer Möglichkeiten.“86
Schließlich findet auch eine zusätzliche Form der Privatisierung Erwähnung, die durch die öffentliche Hand beispielsweise mit dem Bau von Busterminals auf ursprünglich öffentlichen Plätzen oder durch deren umzäunung erfolgt (2). Angesichts dieser Privatisierungen als Negativdefinitionen dessen, was öffentlicher Raum ist, ist es nachvollziehbar, dass die Definition, dass öffentlicher Raum derjenige ist, der nicht privat ist, selten genannt wird (1). Eine weitere Definition betrachtet öffentlichen Raum als repräsentativen Ort (3). Straßen, Plätze und Parks als physische Komponenten, die öffentlichen Raum formen (3), bilden dabei den Rahmen dessen, was öffentlicher Raum darstellt. Luiz Tokuzi Kohara benutzt eine Metapher, um dies auszudrücken: „Ein Teil der Gesellschaft möchte, dass der öffentliche Raum […] zu einem Speisezimmer wird, dieser schönen Sache, die aber niemand nutzt. Speisezimmer sage ich deswegen, weil es 85
86
„O não incomodar outras pessoas significa o seguinte: Existe uma carga muito grande de preconceito na nossa sociedade, e as pessoas se sentem às vezes incomodadas pela presença das pessoas, dos pobres no centro da cidade“ (Interview mit Benedito Roberto Barbosa, Koordinator der união de Movimentos por Moradia-São Paulo und Anwalt, am 31.08.2009 in São Paulo). „Se a pessoa não tem outra possibilidade, nem o espaço, ela vai usar praça, ela deixa de ser público e passa [...] ter uma utilidade para um grupo particular, que é, por exemplo … são as pessoas em situação de rua. Claro que isso é um questionamento que se tem do espaço público, deste espaço que deveria ser de todos e ele passa usado pelo um grupo específico por falta de outras possibilidades“ (Interview mit Alderon Pereira Costa, Leiter der Associação Rede Rua, am 20.07.2010 in São Paulo).
4.5 Öffentlicher Raum in São Paulo
217
heute – wenigstens in den Familien der Mittelschicht – schöne Esszimmer gibt, die allerdings niemand nutzt und die nur schön anzuschauen sind. Der öffentliche Raum drückt heute viel davon aus.”87
Marco Antonio Ramos de Almeida von der Associação Viva o Centro (AVC; Verein „Es lebe das Zentrum“) weist dagegen auf die Bedeutung eines repräsentativen, gepflegten und instandgehaltenen öffentlichen Raums hin, wenn er sagt: „Degradierung des öffentlichen Raums: In Folge werden die Gebäude, der Handel und die privaten Nutzungen in Mitleidenschaft gezogen. Die Gebäude werden oft aufgegeben, weil die Personen nicht gerne an Orte kommen, wo das Durchkommen schwierig ist, wo man Opfer eines überfalls werden kann und der schmutzig ist. […] Indem man den öffentlichen Raum verfallen lässt, wird auch Einfluss auf den privaten Raum ausgeübt. Es ist ein sich wechselseitig bedingender Prozess.“88
Die von Marco Antonio Ramos de Almeida neben anderen möglichen negativen Kriterien öffentlichen Raums auch genannte Gefahr bspw. durch überfälle wird ebenfalls von anderen Interviewten genannt (3) ebenso wie die damit in Verbindung stehende Definition des öffentlichen Raums als Ort der überwachung (2). Einige weitere Kriterien, die öffentlichen Raum definieren, – wie die des freien und ungehinderten Zugangs (2) sowie des Orts von Verhandlungen, Auseinandersetzungen und Protest (2) – werden auch mit Blick auf die Wichtigkeit öffentlicher Räume89 genannt (Tabelle 5). Mit der Definition des freien Zugangs in engem Zusammenhang steht die Wichtigkeit der Zirkulation und des Kommens und Gehens (ir e vir) (4) und die funktionale Bedeutung als Raum des sich Bewegens und Treffens (3). Ferner wird auch der Stellenwert als Raum für Demokratie und Politik (2) und in diesem Kontext als Ort der Auseinandersetzung über strittige Themen bspw. in Form von Demonstrationen (3) genannt. Oft (6) wird der öffentliche Raum als Wohnraum für Obdachlose und allgemein für Teile der Gesellschaft als (über)lebensnotwendig erachtet. Der damit in Verbindung stehende Aufenthalt (sein / bleiben, estar / ficar) im öffentlichen Raum wird ebenfalls erwähnt (2), ist aber – anders 87
88
89
„uma parte da sociedade quer que o espaço público torne se [...] uma sala de jantar, aquela coisa bonita mas ninguém é para utilizar. Sala de jantar eu digo por que hoje – pelo menos veja as famílias da classe média – tem salas de jantar bonitas mas ninguém utiliza, é só para olhar. Por que tem churrasqueira tem outros espaços que se utiliza. O espaço público hoje expressa muito isso daí“ (Interview mit Luiz Tokuzi Kohara, Koordinator des Centro Gaspar Garcia de Direitos Humanos, am 21.09.2010 in São Paulo). „Degradando o espaço público: por consequência, os edifícios e também o comercio e a utilização dos espaços privados fica comprometida. Os edifícios começam a ser abandonados muitas vezes por que as pessoas não querem vir para um lugar, onde você não possa passar, onde você está sendo ser sujeito de assalto e uma sujeira. [...] Você vai degradando aquele espaço público e [isso] começa até influenciar no espaço privado. É um processo retroalimentado“ (Interview mit Marco Antonio Ramos de Almeida, leitender Direktor der Associação Viva o Centro, am 03.08.2010 in São Paulo). Wie im Fall der Definitionen wird sich mit dem Ausdruck der Wichtigkeit („importance“) ebenfalls an der Begrifflichkeit von sTaeheli & MiTchell (2007) orientiert. Dabei geht es darum, aus Aussagen der Interviewten die „Gründe, [warum] Autoren [und Interviewte] öffentlichen Raum als wichtig erachten […]“ (sTaeheli & MiTchell 2007, S. 797), zu entnehmen und darzustellen. Im folgenden Abschnitt werden Wichtigkeit, Bedeutung und Stellenwert synonym verwendet.
218
4 Fallstudie São Paulo
Zirkulation; Kommen und Gehen (Ir & Vir)
x
x
x
x
x
x
x
Demokratie, Politik, soziale Bewegungen etc.
Grünfläche
Freiheit
(ohne eindeutigen Zweck)
SuMME 6
x
4
x
x
3
x
3
x
x
2
x x
Marco Antonio Ramos de Almeida (AVC)
Luis Ramos (SMDu)
Teresinha Santana (AVC/AL)
Cristina Tokie Laiza (SP urbanismo)
Sérgio Abrahão (DPH)
x
x
ausüben der Bürgerrechte (cidadania)
Sein/Bleiben (Estar/ficar)
Nelson Saule Júnior (Pólis)
A. Kazuo Nakano, Natasha M. Menegon (Pólis)
x
x
Ort der auseinandersetzung
wirtschaftliche Entwicklung
José Gomes (SINPESP)
Evaniza Lopes Rodrigues (uMM-SP)
Anderson Lopes Miranda (MNPR) Funktionale Bedeutung – zu Fuß gehen, Treffpunkt
x
Luiz Tokuzi Kohara (CGG)
Notwendig zum (über)leben
Alderon Pereira Costa (Rede Rua)
Wohnraum (z. b. für Obdachlose)
Márcia Hirata (FCV)
SchMidt (2011) töpfer
Benedito Roberto Barbosa (uMM-SP)
Staeheli & Mitchell (2007)
Rene I. Goncalves, Fabiana A. Rodrigues (CGG)
Tab. 5: Wichtigkeit von öffentlichem Raum und deren Nennungen durch interviewte Stakeholder (Quelle: Zusammenstellung anhand von eigenen Erhebungen 2009–2011; nach sTaeheli & MiTchell (2007) und schMidT (2011))
x
x
2 2
x
x
1
x
1 1
als die Möglichkeit des Kommens und Gehens – nicht unumstritten (s. o.). Bei dem Recht des Kommens und Gehens wird in den Interviews oft der Bezug zur brasilianischen Verfassung von 1988 hergestellt (CF / 1988, Art. 5), während das Recht des Aufenthalts im öffentlichen Raum nicht so eindeutig geregelt ist. Nelson Saule Junior, Koordinator der Abteilung „Recht auf Stadt“ im Institut Pólis begründet dieses Recht folgendermaßen: „Die Frage des Rechts des Kommens und Gehens hängt damit zusammen, dass es keine Einschränkungen der Freiheit der Personen und ihrer Mobilität, sich von einem zum anderen Ort
4.5 Öffentlicher Raum in São Paulo
219
zu bewegen, gibt. Dabei reicht dieses Recht vom Bereich der Mobilität bis zum nicht Erleiden jedweder Einschränkungen der Freiheit. […] Die Frage zu öffentlichen Räumen umfasst die Regulierung dessen, welche Arten von Nutzung innerhalb eines Raums möglich sein sollen. Wenn man eine Begründung prüft, warum Obdachlose unter einer Brücke wohnen dürfen sollten und man sich streng am Gesetz orientiert, ist klar, dass der Raum unter einer Brücke keinen Wohnzweck hat. […] Aber was zur Begründung herangezogen werden kann, damit sie nicht diskriminiert und ihnen keine Gewalt angetan wird, ist ein anderes Gesetzesprinzip, das sich Notstand [Regel im Strafrecht] nennt. Also, durch diesen Notstand ist ein Rückhalt geschaffen, für den Fall, dass die Stadtverwaltung versucht zu verhindern, dass die Personen diesen Raum für ihre eigenen Grundbedürfnisse nutzen – also einen Raum zum Ruhen zu haben –, was als eine Diskriminierung vonseiten der öffentlichen Hand betrachtet werden kann. Es lässt sich nicht sagen, dass die Obdachlosen, dadurch, dass sie unter einer Brücke wohnen, eine illegale Handlung vollziehen, weil es sich für sie um einen Notstand handelt und sie im Prinzip keine andere Alternative haben, als diese.“90
Die Ergebnisse aus den Interviews zu Definition und Wichtigkeit öffentlichen Raums lassen sich zum einen zu den in Kap. 2.2 dargestellten Dimensionen in Beziehung setzen, zum anderen ermöglichen sie eine Gegenüberstellung mit den Definitions- und Bedeutungskriterien, die sTaeheli & MiTchell (2007) und schMidT (2011) in ihren Studien benennen konnten. Schließlich erlauben die Resultate einen intertemporalen Vergleich mit Definition und Bedeutung von öffentlichem Raum in der Vergangenheit São Paulos (Kap. 4.5.1). Die vier Dimensionen öffentlichen Raums – funktional, juristisch, sozial und symbolisch (vgl. Kap. 2.2) – finden in unterschiedlicher Intensität ihre Entsprechungen in den Beschreibungen der Stakeholder. Die meisten Nennungen beziehen sich auf die juristische Dimension im weitesten Sinn. Dazu zählen die explizite Gegenüberstellung von öffentlichem und privatem Raum wie die implizite Erwähnung dieser Polarität durch die diversen Privatisierungen, die öffentlicher Raum erfährt. Hierunter fallen auch die Dualität zwischen dem Raum aller und dem „Niemandsland“ und die oft erwähnte Definition und Wichtigkeit des freien Zugangs und der (Aus)Nutzung durch alle. Hier schließt die funktionale Dimension an, die ebenfalls bei den Definitionen zum Tragen kommt, wenn öffentlicher Raum als Treffpunkt, als Ort der Mobilität und der Zirkulation sowie der wirtschaftlichen und 90
„Esta questão de direito de ir e vir é com relação a não tem restrições à liberdade das pessoas da sua mobilidade de se locomover de um lugar para o outro que vai tanto ao campo da mobilidade e também de não sofrer nenhum tipo de restrição contra sua liberdade. [...] Esta questão dos espaços públicos tem uma regulação quanto ao tipo de usos que devem ser possíveis dentro de um espaço. Se você for verificar uma justificativa para que esta população de rua fique morando embaixo de um viaduto, se você pegar o estrito legal claro que o espaço embaixo de um viaduto não é para moradia. [...] Mas o que vai justificar, que eles não sejam discriminados, violentados é outro princípio que tem dentro do direito chamado estado de necessidade [preceito dentro do direito penal] Então, por este estado de necessidade que cria se uma sustentação de que quando a prefeitura começa a evitar que as pessoas possam utilizar este espaço para suas próprias necessidades básicas – que é de ter um espaço para descanso – possa ser considerado está tendo uma discriminação por parte do poder público. [...] Não de pode dizer que esta população de rua esta praticando [...] algum ato ilegal pelo fato de morando embaixo de um viaduto [...] por que eles estão numa necessidade ali, eles não tem outra alternativa não ser aquela em princípio“ (Interview mit Nelson Saule Junior, Koordinator der Abteilung „Recht auf Stadt“ im Institut Pólis, am 19.08.2010 in São Paulo).
220
4 Fallstudie São Paulo
politischen Austauschbeziehungen und als bedeutend für Obdachlose und andere benachteiligte Bevölkerungsgruppen angegeben wird. Die soziale Dimension u. a. der spezialisierten Austausche, des Zusammenlebens und der sozialen Mischung wird durch die Stakeholder hingegen deutlich seltener erwähnt. Gleiches gilt für die symbolische Dimension, unter die die Definition des öffentlichen Raums als repräsentativer Ort subsummiert werden kann, die allerdings nur wenige Male genannt wurde. Bei einem Vergleich der Ergebnisse aus São Paulo (und Rio de Janeiro; schMidT 2011) mit denen aus dem nordamerikanischen Kontext der Studie von sTaeheli & MiTchell (2007) – wobei hier der Blick v. a. auf die Ergebnisse der Stakeholderinterviews gerichtet ist – lassen sich Gemeinsamkeiten, aber auch unterschiede feststellen. Die Definition von öffentlichem Raum als Raum im öffentlichen Eigentum, der allen gehört, spielt sowohl bei den in den uSA als auch bei den in den beiden brasilianischen Metropolen Befragten eine zentrale Rolle. Gleiches gilt für die Beschreibung mit Hilfe der Treffpunkt- und Interaktionsdefinition. Weniger übereinstimmungen finden sich hingegen bei den genannten Gründen der Wichtigkeit öffentlichen Raums. Sozialer Zusammenhalt sowie Demokratie und Politik führen die Nennungen bei der nordamerikanischen Befragung an und auch in Rio de Janeiro wird die politische Bedeutung mit am meisten genannt. Dass dieses Bedeutungskriterium in São Paulo vergleichsweise selten genannt wird, überrascht auf den ersten Blick, zumal viele der befragten Stakeholder aus dezidiert auch (gesellschafts)politisch engagierten Organisationen stammen. Fasst man allerdings den politischen Stellenwert und die Wichtigkeit der Auseinandersetzung zu strittigen Themen (verstanden als politisches Handeln) zusammen, relativiert sich das Ergebnis für São Paulo wieder. Wenig überraschend angesichts des Hintergrunds vieler der interviewten Stakeholder ist hingegen die Bedeutung als überlebensraum v. a. für Obdachlose, die in São Paulo am meisten genannt wurde. Dieses Ergebnis unterscheidet sich auch von dem in der nordamerikanischen Studie, in der dieses Kriterium eine deutlich geringere Rolle spielt. Auffällig ist auch, dass für die Erfassung der Ergebnisse aus den beiden brasilianischen Metropolen einige weitere Kriterien in die Liste aufgenommen wurden. Dazu zählen das Kriterium der Zirkulation, bei dem v. a. auf die Möglichkeit des Kommens und Gehens abgezielt wird, das Merkmal der Nutzung durch jede und jeden und des Profitierens für alle vom öffentlichen Raum oder auch das Kennzeichen als Ort der Repräsentation. Ein weiteres Bündel an eher negativ konnotierten Eigenschaften dreht sich um die Privatsierungen öffentlicher Räume im weitesten Sinn durch partikulare Nutzungen bestimmter Gruppen. Ebenfalls nur in São Paulo erwähnt wurden die beiden miteinander in Beziehung stehenden Merkmale eines entwerteten Raums und eines Raums als Art „Niemandsland“91. Erklärungen, warum diese zusätzlichen Merkmale in São Paulo genannt wurden, nicht aber im nordamerikanischen Kontext, gestalten sich schwie-
91
Bezüglich der Nennung dieser drei zuletzt genannten Kriterien kann die ursache nur in Teilen darin gesucht werden, dass sowohl das Thema Privatisierung als auch Degradierung des öffentlichen Raums im Verlauf der Interviews explizit angesprochen wurden, da sie in mindestens der Hälfte der Fälle bereits vorher durch die Interviewten zur Sprache gebracht wurden.
4.5 Öffentlicher Raum in São Paulo
221
rig, auch angesichts der Tatsache, dass sie in der Studie zu Rio de Janeiro ebenfalls nicht erwähnt wurden. Im intertemporalen Vergleich lassen sich – auch in Abhängigkeit vom gesellschaftlichen Stellung der Interviewten – einige Kontinuitäten erkennen, die in ähnlicher Weise bereits in der Vergangenheit eine Rolle gespielt haben (vgl. 4.5.1). Bis heute lassen sich unterschiedliche Bedeutungsmuster öffentlichen Raums für sozioökonomisch Benachteiligte und Begünstigte erkennen. Öffentlicher Raum als (über)Lebensraum für die Mitglieder der unterschicht ist weiterhin wichtig, was sich in den Nennungen der Wichtigkeit als Wohnraum für Obdachlose durch die Mitglieder der sozialen Bewegungen und der soziale Belange verfolgenden NGOs niederschlägt. In diesem Zusammenhang wird auch die Privatisierung öffentlicher Räume durch Privilegien für einige und die damit verbundene Exklusivität sowie die Verdrängung der Armen – eine Tendenz, die sich auch schon in der Vergangenheit beobachten ließ – von Vertreter_innen der NGOs kritisch erwähnt. Die in der Vergangenheit v. a. für Mitglieder der unterschicht wichtige politische Funktion in Verbindung mit Formen der Auseinandersetzung über umstrittene Sachverhalte spielt auch in der Gegenwart eine Rolle, wobei diese Funktionen und ihre Wichtigkeit abermals überwiegend von den sozialen Bewegungen und NGOs genannt werden. Es sind überwiegend diese Gruppen, die sich der Möglichkeiten der politischen Artikulation bedienen und zur Bekanntmachung von Problemen und Forderungen auf diese Mittel zurückgreifen. Auffällig ist – auch im Zusammenhang mit den Tendenzen der Verdrängung von unerwünschten Personen aus dem öffentlichen Raum – die Bezugnahme auf das Recht des Kommens und Gehens und dessen verfassungsmäßige Verankerung. Diese Betonung kann neben den aktuellen Entwicklungen auch vor dem Hintergrund der Erringung dieses Rechts im Zuge der Redemokratisierung in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre verstanden werden. Dieses Recht, zusammen mit dem der allgemeinen Möglichkeit der Nutzung und des Gebrauchs öffentlichen Raums, wird ebenfalls überwiegend von Vertreter_innen sozial engagierter NGOs und Bewegungen erwähnt. Dabei darf das Recht auf Kommen und Gehen nicht mit der seit der Mitte des 20. Jahrhunderts immer wichtiger gewordenen Funktion des Verkehrs und des Transports gleichgesetzt werden. Interessanterweise wird diese Funktion lediglich bei einer Definition indirekt erwähnt. Zwei mögliche Erklärungsansätze dafür könnten sein, dass zum einen der Verkehrsraum an sich mittlerweile nicht mehr unmittelbar als öffentlicher Raum wahrgenommen wird, und dass zum anderen im Zentrum São Paulos der (Straßen)Verkehr wegen der vielen Fußgängerzonen (v. a. im Zentrumskern) weniger präsent ist. Weiterhin bedeutend ist der öffentliche Raum für die Oberschicht und die privatwirtschaftlichen Akteure und ihre Stakeholder als repräsentativer Raum, der als eine Art „Aushängeschild“ des jeweiligen Ortes dient; auch diesbezüglich ist eine zeitliche Kontinuität zu beobachten. Viele der Maßnahmen, die zur Erneuerung der Innenstadt ergriffen werden, haben den öffentlichen Raum zum Ziel, zumal in diesem die öffentliche Hand, v. a. die Stadtverwaltung und -regierung, die meisten Möglichkeiten zur unmittelbaren Gestaltung hat. Inwieweit die physisch-baulichen Eingriffe und die institutionellen Regelungen und aktiven Aneignungen welche der Definitionen und Stellenwerte öffentlichen Raums verstärken bzw. abschwächen wird im Folgenden thematisiert.
222
4 Fallstudie São Paulo
4.5.3
Praça da Sé und Praça da República – zwei zentrale Plätze und ihre Reformen 2006 / 2007
Die Reform öffentlicher Räume wie Plätze und Parks ist für die Stadtregierung von besonderer Bedeutung, wobei die damit verbundenen Erwartungen sowohl den Platz unmittelbar als auch dessen umgebung betreffen. Luis Ramos, Leiter des Beraterstabs für Stadtplanung im munizipalen Amt für Stadtentwicklung und in dieser Funktion auch Teil der Stadtregierung von Kassab, nennt folgende Ziele: „Wenn wir zum Beispiel die Requalifizierung eines Platzes anschauen. Eine gut gemachte Maßnahme wird eine mit der Anlage verträgliche Nutzung mit sich bringen und die Nutzung durch eine größere Zahl von Nutzern ermöglichen. und nicht nur das, denn mit seiner Requalifizierung wir der Platz auch seine umgebung positiv beeinflussen. Damit ist die umwandlung vollständig.“92
Im Rahmen des Programms „PROCENTRO-2005“ (vgl. Kap. 4.4.3) wurden 2006 und Anfang 2007 die beiden Plätze Sé und República im jeweils gleichnamigen Zentrumsdistrikt Reformen unterzogen. Dabei ging es um baulich-gestalterische Eingriffe, die von der EMuRB (heute: SP-urbanismo) geplant und durchgeführt wurden. Anhand von Interviews mit jeweils einer (mit)verantwortlichen Stadtplanerin und teilweise basierend auf Planungsunterlagen werden die beiden Interventionen nachvollzogen. Im Anschluss daran werden die Diskussionen zu den Maßnahmen im Speziellen und den beiden Plätzen im Allgemeinen aus weiteren Stakeholderinterviews dargestellt. Die Praça da Sé veränderte im Laufe des 20. Jahrhunderts verschiedentlich seine Lage, Form und Größe (zur Entstehung und Geschichte vgl. iNsTiTuTo culTural iTaú 1996; PoNciaNo 2007, S. 63 f.; Frehse 2013, 157 ff.). In der heutigen Form und Größe ist der Platz Produkt des Baus der Metrô (u-Bahn) in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre. Der größte, östliche Teil des im Zuge dessen entstandenen Platzes besteht aus gestuften Betonplatten, die die Kreuzungsstation Sé der beiden Hauptlinien der Metrô überdecken. Dem umgebenden Gelände folgend hat der Platz einen Niveauunterschied von ca. 5 m (vgl. Abb. 27 im Farbteil). Eines der Ziele der Intervention von 2006 war laut der Architektin Cristina Tokie Laiza von SP-urbanismo93, die Zugänglichkeit des Platzes trotz dieses Niveauunterschieds zu erleichtern. Insgesamt wurde bei der Analyse im Vorfeld der Planungen festgestellt, dass es auf dem Platz erhebliche unterschiede in der Nutzungsfrequenz gab. Während einige Teile viel genutzt wurden, waren andere Teilräume mit Blick auf die Passant_innenströme fast ungenutzt. Allgemeines Ziel war es deshalb, die Zirkulation 92
93
„Se pegarmos, por exemplo, a requalificação de uma praça. uma intervenção bem sucedida traria um uso compatível com o equipamento, permitindo a sua utilização por um número maior de usuários. E não só isso, como sua requalificação influenciaria de forma positiva o seu entorno. Dessa forma, a transformação seria completa.” (Schriftliches Interview mit Luis Ramos, Leiter des Beraterstabs für Stadtplanung im munizipalen Amt für Stadtentwicklung, am 13.09.2010 in São Paulo). Interview mit Cristina Tokie Laiza, Mitarbeiterin von SP-urbanismo, am 25.08.2011 in São Paulo. Sofern nicht anders angegeben, stammen die folgenden Interviewausschnitte in diesem Kapitel zur Praça da Sé aus diesem Interview.
4.5 Öffentlicher Raum in São Paulo
223
im zentralen Raum des mit dem Bau der Metrô entstandenen Bereichs zu verbessern. Dazu wurde u. a. ein zusätzlicher Fußweg zwischen dem unmittelbaren Vorplatz der Kathedrale und der Avenida Anita Garibaldi geplant. um die Ziele zu erreichen, wurden verschiedene Maßnahmen umgesetzt. Die neue Querverbindung des Platzes erfolgte mittels eines neuen Weges, der teilweise in Form metallener Brückenkonstruktionen Lichtschächte zur Metrôstation und am Platz angelegte Wasserflächen überspannt und eine weitere West-Ost-Verbindung in der Mitte des Platzes darstellt. Ebenfalls der besseren Zugänglichkeit dienen neu angelegte Rampen zur Metrôstation und weitere stufenfreie Passagen, um die Niveauunterschiede des Platzes zu überwinden. Einige der Pflanztröge wurden entfernt oder verkleinert, andere entfernt und in Gehwege umgewandelt. um die im Originalprojekt aus den 1970er Jahren angelegten Wasserflächen wurden überflutungsbereiche geschaffen, in denen „Minisümpfe“ entstehen sollten. „Es stand die Frage der Nutzung dieser Wasserflächen im Raum. Es ist nicht so, dass wir die Personen [Obdachlose] fernhalten wollten. […] Es war verschmutztes Wasser, das gesundheitsschädigend für den war, der mit dem Wasser in Kontakt kam. Deshalb wollten wir die unpassende Nutzung dieser Flächen etwas reduzieren. Aber wie dem auch sei… Da die [Sumpfbereiche] […] nicht richtig funktionieren, betreten sie die Wasserflächen weiterhin, um zu baden, um Wäsche zu waschen.“94
Zusätzlich wurden alle Skulpturen auf dem Platz, die eine Art Museum unter freiem Himmel formen sollen, restauriert und beleuchtet. Inwieweit im Rahmen der Reform von 2006 auch die allgemeine Beleuchtung Teil der Interventionen war, wurde zwar nicht explizit deutlich, sie wird aber als gut dargestellt. Die Erfolge der baulichen Maßnahmen hinsichtlich des Ziels einer höheren und ausgeglicheneren Zirkulation werden aber als gering eingeschätzt: „Die soziale Frage ist sehr groß. Auf einem Platz, wo es diese Niveauunterschiede gibt und der ein sehr großes Gebiet umfasst, fühlen sich die Menschen manchmal unsicher, ihn zu überqueren. So gibt es zwar eine höhere Frequentierung hier, aber es ist noch nicht ideal. Ich denke, der öffentliche Raum, der braucht immer Aktivitäten […]. Es [sollten] laufend Sachen geschehen, wo die Menschen hingehen und teilnehmen können. [...] Der öffentliche Raum braucht Animation. [...] Aber wegen der Bewohner des Platzes, ... Menschen, die Drogen konsumieren, … da es [große] Blumentröge gibt, nutzen sie sie, um sich zu verstecken. [...] Sachen wie Diebstähle … [...] Sie zertreten den gesamten Gartenbereich. und so sind die [anderen] Menschen dadurch schlussendlich ziemlich eingeschüchtert.“95 94
95
„Tinha a questão da utilização de espelho d‘agua. Não é que a gente quisesse afastar as pessoas [...] Era uma água poluída prejudicial à saúde de quem fosse contatar com esta água; então a gente queria que minimizar um pouquinho a utilização indevida destes espaços. Mas mesmo assim... Como estes canteiros não estão funcionando corretamente, eles acabam pisando aqui entrando no espelho d‘agua para tomar banho, para lavar roupa.“ „A questão social é muito grande. Por ser uma praça onde você tem estes desníveis, você tem uma área muito grande, as pessoas se sentem meio inseguras às vezes de transitar. Então existe uma maior fluição aqui, mas ainda não é o ideal. Acho que espaço público, ele tem que ter sempre atividades [...] esta sempre acontecendo coisas, onde as pessoas possam ir, participar. [...] O espaço publico tem que ter uma animação. [...] Mas por conta dos moradores da praça, ... Pessoas que usam drogas, ... Como são canteiros eles acabam de se escondendo [...] coisas de furtos [...] Eles pisoteiam toda a área ajardinada; e aí, as pessoas acabam ficando meio intimidadas com isso.“
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4 Fallstudie São Paulo
Diese Einschätzung wird auch von Nuno, einem im Zentrum tätigen leitenden Angestellten, geteilt, der im Fotointerview die wahrgenommene Situation mit dem in der Verfassung von 1988 verankerten Recht auf Bewegungsfreiheit in Verbindung bringt (vgl. Abb. 28 im Farbteil): „Diese Straße nachts hinuntergehen, das kannst du nicht. Weil, da ist... Die Praça da Sé wird... von Straßenkindern. [...] Aber nachts ist er verwahrlost. [...] Was muss man hier in Brasilien verstehen? Bis 1988 hatten wir eine Verfassung, die repressiv war: Wenn man Personen auf der Straße aufgriff: Festnahme wegen Landstreicherei. [...] Seit 1988 gibt es eine demokratische Verfassung, also auch die Freiheit zu gehen und zu kommen. Deswegen kann die Polizei nicht kommen und sagen ‚Verschwinde von hier!‘ Das kann sie nicht. und das hat einer Sache geholfen. und da hat die Explosion der Drogen in Brasilien begonnen, da es ein Fest wurde. und so hat sich das Zentrum angesteckt.“96
Seine Aussage bestätigt einerseits die Wahrnehmung der Praça da Sé als ein Ort, der nachts nicht frequentiert werden kann. Außerdem verbindet er diese Wahrnehmung mit der rechtlichen Situation, die er zwar nicht explizit in Frage stellt aber implizit dadurch kritisiert, dass er die Verbreitung der Drogen – die er als Teil des Problems an der Praça da Sé ortet – mit dieser Freiheit als ursache in Verbindung bringt. Die Prostitution an der Praça João Mendes, unmittelbar hinter der Kathedrale und die Notwenigkeit ihrer Tolerierung bringt er ebenfalls mit den in der Verfassung geregelten Bewegungsfreiheiten in Verbindung (vgl. auch Kap. 4.5.3 und 4.6.1.3). Cristina Tokie Laiza von SP-urbanismo erachtet die Instandhaltung und die Pflege des Platzes gegenwärtig als größte Herausforderung. Schon während der Projektphase habe man an Möglichkeiten der Kooperation dahingehend mit verschiedenen Akteuren wie der Privatwirtschaft und der Kirche gedacht oder auch an die unterteilung des Platzes, damit es jeweils kleinere Pflege-Einheiten gibt. Allerdings wurde diesbezüglich nie etwas realisiert. Die Praça da República ist in seiner Lage und Größe, seit er Ende des 19. Jahrhunderts angelegt wurde, bis heute nahezu unverändert geblieben (zur Entstehung und Geschichte vgl. iNsTiTuTo culTural iTaú 1995; PoNciaNo 2007, S. 125 ff.). Der Platz hatte vor der umsetzung des Projekts im Jahr 2006 nach Ansicht der Architektin Lucia Miyuki Okumara von SP-urbanismo97 mit Problemen zu kämpfen, die auch andere Plätze im Zentrum betreffen. Er war vernachlässigt und diente als „Wohnort“ für Obdachlose. Innerhalb des Platzes war die Anzahl der Passant_innen gering und stattdessen wurden die Gehwege um den Platz genutzt. Das Hauptproblem sei die unsicherheit gewesen. Neben der Verbesserung der Nutzung des Platzes 96
97
„Descendo esta rua aqui, à noite, você não vai. Por que ali é ... a praça vira... de moleque de rua... [...] Mas à noite, ela fica abandonada. O que é que acontece? O que tem de entender aqui no Brasil? Até 1988, nos temos uma constituição, que era repressiva; se pegasse gente na rua: preso, considerado vadiagem. [...] A partir de 1988, fica uma constituição democrática; então a liberdade de ir e vir. Por isso a polícia não pode chegar: ‘Sai daqui!’ Não pode. E isso ajudou uma coisa. E aí, começa a explosão de drogas no Brasil, por que virou festa. E por isso esse centro se contaminou“ (Fotointerview mit Nuno, leitender Angestellter im Zentrum, am 13.09.2011 in São Paulo). Interview mit Lucia Miyuki Okumara, Mitarbeiterin von SP-urbanismo, am 29.08.2011 in São Paulo. Sofern nicht anders angegeben, stammen die folgenden Interviewausschnitte in diesem Kapitel zur Praça da República aus diesem Interview.
4.5 Öffentlicher Raum in São Paulo
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ging es ferner auch darum, ihn wieder in den Originalzustand aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu versetzen. Zur Erreichung der Ziele wurden verschiedene Maßnahmen umgesetzt. So wurde die Vegetation in dem Maße zurückgeschnitten, wie es für eine bessere Einsehbarkeit erforderlich war. Außerdem wurden die erhöhten Blumenbeete entfernt, die einerseits nicht dem Originalentwurf entsprachen und andererseits zum unsicherheitsgefühl beigetragen hätten. Hohe Zäune, die einige eingefasste Blumenbeete umgaben, wurden beseitigt und teilweise durch niedrige Metallbögen ersetzt. Eine unterirdische Toilettenanlage, die zum einen ebenfalls der ursprünglichen Gestaltung entgegenstand und zum anderen bereits sehr in Mitleidenschaft gezogen war, ohne dass sich die Subpräfektur Sé imstande gesehen hätte, diese dauerhaft instand zu halten, wurde abgerissen. Der Platzbelag im Bereich des Gebäudes Caetano de Campos wurde erneuert und die Fußgängerzone zur Verbindung der Straßen Rua do Arouche und Rua 7 de Abril wurde in den Originalzustand von 1978 zurückversetzt. Bezüglich der Möblierung des Platzes wurde hinsichtlich der Sitzgelegenheiten nur eine Minimalvariante umgesetzt. „Also, es ist so, meine persönliche Meinung: Ich glaube, dass man Bänke hätte aufstellen sollen. Die Präfektur denkt jedoch, dass Bänke ein Problem darstellen, weil sie Bettler anziehen und die Bettler auf den Bänken schlafen würden. Aber ich denke, dass man es [Bänke aufstellen] auf diesem Platz hätte tun müssen, weil die Menschen sich gerade in der Mittagspause viel dort hinsetzten und aufhielten. Aber gemäß der Entscheidung der Verwaltung – allgemeine Meinung der Sub[Präfektur] Sé – wollten sie keine Bänke aufstellen. [...] Hier [in der unmittelbaren umgebung der sich auf dem Platz befindlichen Vorschule] haben sie nur einige in der Nähe der Schule aufgestellt, weil die Eltern die Kinder abholen.“98
um der originalen Platzgestaltung gerecht zu werden, wurden auch die kleinen Teiche, die sich am Platz befinden, umgestaltet und angepasst und deren Wasserversorgung erneuert. Die Skulpturen diverser Paulistaner und brasilianischer Persönlichkeiten wurden teilweise erneuert und im Fall des Verlusts / Diebstahls ersetzt. um dem Sicherheitsbedürfnis zusätzlich gerecht zu werden, wurde die Platzbeleuchtung komplett erneuert. Neben weiterhin bestehenden 12 m hohen Laternen wurden auch solche installiert, die nur eine Höhe von 5 m haben und deren Licht somit nicht durch Bäume abgeschattet wird. Außerdem wurde die Lichtfarbe von gelblich auf weißlich geändert, was sowohl die Beleuchtung an sich verbesserte als auch die Senkung des Energiekonsums zu Folge hatte. Grundsätzlich schätzt Lucia Miyuki Okumara die Erreichung der mit den umgesetzten Maßnahmen angestrebten Ziele positiv ein. Die Menschen fühlten sich sicherer und bewegten sich nun auch innerhalb des Platzes und nicht nur auf den Gehwegen an den Rändern. Diese Einschätzung wird von Nuno im Fotointerview geteilt, wenn er die Maßnahmen aus seiner Sicht schildert (vgl. Abb. 29 im Farbteil): 98
„Então, ai, é assim, uma opinião pessoal minha: Eu acho que tinha colocado bancos; porém, a prefeitura acha que colocar bancos é um problema porque atrai mendigo e mendigo vai dormir no banco. Mas nesta praça eu acho que tinha que ter, porque as pessoas assim, na hora de almoço eles sentavam muito ali naquele cantinho e utilizavam. Mas por decisão da administração – opinião geral a Sub Sé – não quiserem colocar bancos. [...] Aqui só colocaram alguns perto da escola porque os pais vão pegar as crianças.“
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4 Fallstudie São Paulo „Die Vegetation war hoch […] Hier sah man das alles nicht. Was hat [die Stadtverwaltung von] São Paulo gemacht? Sie hat [Bäume] gefällt und Rasen angepflanzt. […] Das haben sie bei dieser [Maßnahme der] Reurbanisierung gemacht. und für die Sicherheit war es besser. Es ist heller geworden. Die Zahl der Todesopfer ist hier stark zurückgegangen. Es gab viele Todesopfer hier. […] Weil es nachts in dieser Region Prostitution und homosexuelle [Prostitution] gab. Deswegen passierte immer irgendetwas. Was haben sie gemacht? Beleuchtung und Entfernung der hohen Vegetation.“99
und neben den gestalterischen Eingriffen im physischen Raum erwähnt Kalina, eine Bewohnerin des Zentrums im Fotointerview, ergänzend weitere Aspekte, die zur Sicherheit und zur Aufenthaltsqualität am Platz beitragen (vgl. Abb. 29 im Farbteil): “Hier die Praça da República. Wie man sieht, ist die Polizei dort und sie ist durchgehend 24 Stunden vor Ort. […] Die Straßenreinigung am Platz und im Zentrum allgemein erfolgt mindestens zweimal am Tag. Es gibt also die Polizei am Platz und deswegen gibt es die stehlenden Straßenkinder jetzt nicht mehr. […] Also sind heute eher die Obdachlosen am Platz.“100
Lucia Miyuki Okumara weist ebenfalls auf die Bedeutung einer konstanten Instandhaltung und Pflege hin. Für die erneuerte Praça da República schildert sie ein Beispiel einer Bürgerin, die in einem Weblog mit Bildmaterial und einem Schreiben an die zuständige Subpräfektur Sé auf Missstände hinweist und deren Beseitigung fordert. Mit einem weiteren Foto belegt die Bürgerin später, nach der Behebung der Missstände das aus ihrer Sicht positive Ergebnis der Pflegemaßnahmen. Lucia Miyuki Okumara erachtet die Aneignung des jeweiligen Raums und das Einfordern von Verbesserungen durch die (ortsansässige) Bewohnerschaft als essenziell für die Erhaltung eines Platzes: „Wenn die Gemeinschaft sich [den Platz] nicht aneignet, wenn sie sich nicht als Besitzer dieses Raumes fühlt, dann wird dieser Platz vernachlässigt bleiben. Wenn sie aber das Gefühl hat, dass er ihr [der Gemeinschaft] ist [und] durch sie genutzt werden kann, dann wird sie ihn pflegen. und es wird besser sein, da sie [die Gemeinschaft] keinen Müll dort hinwerfen wird, da sie sehen wird, wenn es Leute gibt, die dort wohnen, und da sie reklamieren und einfordern wird, dass man den Platz sauber hält und diesen Ort allgemein pflegt.“101
Bei der Planung der Erneuerungsprojekte gab es allerdings weder bei der Praça da Sé noch bei der Praça da República Bürger_innenbeteiligung. Im Fall der Sanie99
„A vegetação era alta. [...] Aqui não se enxergava tudo isso. O que é que SP fez? Ele derrubou tudo e fez tudo ... gramas. [...] Com esta reurbanização eles fizeram isso. E para segurança foi melhor. Que fica mais claro. Diminuiu o número de mortes aqui. Tinha muita morte aqui. [...] Por que se tinha esta região, a noite era prostituição, era homossexualismo. Então sempre tinha alguma coisa. O que eles fizeram? Iluminação e tiraram a vegetação alta“ (Fotointerview mit Nuno, leitender Angestellter im Zentrum, am 13.09.2011 in São Paulo). 100 Aqui a Praça da Republica. Como você vê, aqui tem uma polícia militar, ela fica constante na praça, 24 horas. [...] A limpeza na praça e no Centro em geral também é duas vezes por dia, pelo menos. Tem a polícia na praça, então os trombadinhas já não tem mais. [...] Então assim: hoje em dia ficam mais os mendigos na praça. (Fotointerview mit Kalina, Bewohnerin des Zentrums, am 15.09.2011 in São Paulo). 101 „Se a comunidade não se apropria, não se sente dono daquele espaço, aquela praça vai ficar abandonada. Agora, se ela acha que é dela, para ela utilizar, ela vai cuidar. E aí, vai ficar melhor porque ela não vai jogar lixo, ela vai ver se tem gente ali morando, ela vai reclamar, ela vai pedir [...] para que se mantem a limpeza, a conservação daquele lugar.“
4.5 Öffentlicher Raum in São Paulo
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rung der Plätze sei dies für gewöhnlich nicht der Fall, insbesondere dann nicht, wenn es sich wie bei den beiden oben genannten Plätzen um solche handelt, die unter Denkmalschutz stehen. In diesen Fällen sind viele Maßgaben des jeweiligen Denkmalschutzamtes zu berücksichtigen. Die geplanten Eingriffe benötigen schlussendlich die Zustimmung der entsprechenden Denkmalschutzbehörde102. Im Fall der Praça da República waren ferner weitere Institutionen bei der Erarbeitung des Projekts zu beteiligen. Dazu zählen neben anderen die öffentliche Betreiberfirma der Metrô, das munizipale umwelt- und Grünflächenamt und die nationale umweltschutzbehörde IBAMA. Die beiden letztgenannten Behörden waren wegen der Flora (z. B. Bewilligung der Baumschnitte, -umsetzungen und -entfernungen) und Fauna (v. a. wegen Schildkrötenpopulationen) am Platz zu konsultieren und ihre Ausführungsvorgaben entsprechend zu berücksichtigen. Insgesamt waren acht verschiedene Ämter in die Planungen des Projekts involviert, was angesichts der Denkmal- und Naturschutzauflagen im Zentrum keine ungewöhnliche Anzahl sei. Sowohl speziell die durchgeführten Maßnahmen zur Reform der beiden Plätze als auch die Plätze allgemein wurden in den Interviews mit Stakeholdern kommentiert und bewertet. Diese Einschätzungen werden im Folgenden zusammenfassend dargestellt. Alderon Costa von der Associação Rede Rua beklagt die Tatsache, dass es bei den Platzreformen keine Einbeziehung der Nutzer_innen gab. Die Maßnahmen und deren Planungen gingen entweder von Architekten oder Ingenieuren oder einer Stadtregierung aus, die ihre Sicht der Situation zur Grundlage der Projekte machten, ohne die Nutzer_innen des Platzes miteinzubeziehen und so zu einer Demokratisierung der Revitalisierung beizutragen.103 Fabiana A. Rodrigues vom CGG merkt an, dass die Praça da Sé zwar optisch schön sei, allerdings mit der Reform auch versucht worden sei, die dort „ansässigen“ Obdachlosen zu verdrängen. Dies 102 Diese Aussage wurde auch von einer Mitarbeiterin des munizipalen Denkmalschutzamtes im Interview bestätigt (Interview mit Clara d‘Alambert, Mitarbeiterin der Divisão de Preservação do Departamento do Patrimônio Histórico (DPH) da Secretaria Municipal de Cultura (SMC), am 09.09.2010 in São Paulo). Ihre Kollegin Mirthes Baffi schildert im Interview einen Fall an der Praça da República, der zeigt, in welchen Fällen die Denkmalschutzbehörde zu konsultieren ist und welche Interessenkonflikte damit verbunden sein können: Das bundesstaatliche Bildungsministerium, das im denkmalgeschützten Gebäude Caetano de Campos an der Praça da República untergebracht ist, hat den Antrag gestellt, den umgebenden Zaun etwa in die Mitte der derzeitigen Fußgängerzone, die die beiden Straßen Rua do Arouche und Rua 7 de Abril verbindet, zu versetzen. Begründet würde dies mit dem schlechten Geruch u. a. von urin in unmittelbarer umgebung des Gebäudes. Vertreter des DPH vermuteten dagegen, dass es primär darum geht, mit der Erweiterung geschützte Abstellflächen für PKW zu schaffen. Die Vertreter des DPH haben den Antrag abgelehnt, da ihres Erachtens die gesamtgesellschaftliche Bedeutung des durch die Fußgängerzone geschaffenen Raums höher einzuschätzen ist als die Partikularinteressen des Ministeriums. Seinerzeit dauerte der Streit noch an und die Entscheidung des Denkmalschutzbeirats (COMPRESP – Conselho Municipal de Preservação do Patrimônio Histórico, Cultural e Ambiental da Cidade de São Paulo) stand noch aus. Auch wenn seine Mitglieder meist im Sinne der Sachverständigen des DPH entschieden, sei dies nicht immer sicher, da der Druck von politischer Seite mitunter nicht zu unterschätzen sei. (Interview mit Mirthes Baffi, Leiterin der Divisão de Preservação do Departamento do Patrimônio Histórico (DPH) da Secretaria Municipal de Cultura (SMC), am 23.09.2010 in São Paulo). 103 Interview mit Alderon Pereira Costa, Leiter der Associação Rede Rua, am 20.07.2010 in São Paulo.
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4 Fallstudie São Paulo
sei aber nicht gelungen.104 Das bestätigt auch Márcia Hirata, die sich beim Fórum Centro Vivo engagiert. Trotz der Maßnahmen sei es den Obdachlosen weiterhin möglich, Zugang zu diesen Plätzen zu erhalten, sie zu nutzen und sich anzueignen. Die Erneuerungsmaßnahmen sind in ihren Augen insbesondere landschaftsarchitektonischer Art (Skulpturen, Palmen etc.), die sich allgemein der Verschönerung der Räume widmeten.105 Fabiana A. Rodrigues bestätigt die Aussage der verantwortlichen Stadtplanerin für das Projekt der Praça da Sé, wonach es weiterhin so ist, dass die Passant_innen überwiegend die Seiten des Platzes und seinen westlichen Teil nutzen würden, während der große östliche Teil des Platzes durch die Fußgänger_innen u. a. auch wegen der Gefahr, überfallen zu werden, gemieden würde. Dass aber das Risiko, Opfer eines (Gewalt)Verbrechens zu werden, mitnichten nur auf Passant_innen begrenzt ist, zeigten die gewalttätigen übergriffe auf Obdachlose im August 2004. Bei diesen wurden u. a. auf der Praça da Sé mehrere Obdachlose ermordet (gohN 2009, S. 247; FCV 2006, S. 141). Mit Blick auf die Praça da República stellen Kazuo Nakano und Natasha Menegon die Hypothese auf, dass der Platz mehr wie ein Garten als wie ein öffentlicher Raum wirke. Der instandgesetzte Platz leiste so einen Beitrag zur Aufwertung der umgebung, wofür sie den an Bedeutung gewinnenden Immobilienmarkt für Wohnungen in Zentrum allgemein und neue Bauprojekte für Wohnhochhäuser in der umgebung der Praça da República als Indizien anführen.106 Die Erneuerungsmaßnahmen der beiden Plätze haben explizit zum Ziel gehabt, deren Nutzung durch Passant_innen zu verbessern und eine höhere Zirkulation auf den Plätzen in ihrer Gänze zu ermöglichen. Die Hemmnisse, die dieser Nutzung bisher im Wege standen, wurden hauptsächlich auf die (un)Sicherheitslage zurückgeführt. Diese (Gefühle der) unsicherheit wiederum wurden mehr oder weniger direkt mit der Anwesenheit von Obdachlosen begründet. unabhängig davon, ob diese vermeintliche ursachenkette den tatsächlichen Gegebenheiten entspricht, folgen die ergriffenen Maßnahmen dieser „Logik“, indem sie zum Ziel haben, den Raum für Obdachlose unattraktiver zu machen. Mit Hilfe städtebaulicher Präventionen (vgl. Kap. 2.2.4.1) wird versucht, dieses Ziel umzusetzen. Ziel der Senkung von höheren Beeteinfassungen ist es, mögliche Verstecke zu eliminieren, mit der Reduktion und dem Beschnitt der Vegetation wird angestrebt, die Einsehbarkeit zu verbessern und damit die (soziale) Kontrolle zu erhöhen. Die zumindest teilweise verbesserte Beleuchtung der Plätze dient ebenso diesen beiden Zielen. Die Errichtung von unterteilten Bänken, die kein Liegen erlauben, soll Menschen davon abhalten, auf den entsprechenden Plätzen zu lagern (vgl. TöPFer 2014). Die soziale Mischung ist damit kein Ziel der umgesetzten Maßnahmen. Funktional werden die beiden Plätze für die Fortbewegung von Fußgänger_innen optimiert, was zulasten weiterer Funktionen geht wie der des Verweilen und des Ausruhens sowohl von Obdachlosen als auch von Angestellten, die ihre Mittagspause auf der Praça da República verbringen würden, sowie Anwohner_innen und Passant_innen. Damit 104 Interview mit Fabiana A. Rodrigues (& Rene I. Goncalves) vom Centro Gaspar Garcia de Direitos Humanos am 02.09.2009 in São Paulo. 105 Gespräch mit Márcia Hirata am 30.09.2009 in São Paulo. 106 Gespräch mit A. Kazuo Nakano & Natasha M. Menegon vom Institut Pólis.
4.5 Öffentlicher Raum in São Paulo
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kommt es zu einer funktionalen Annäherung zwischen dem in São Paulo schon weitgehend auf Verkehr und Mobilität ausgerichteten Straßenraum und dem für Fußgänger vorbehaltenen Raum auf zentralen Plätzen. Obwohl die physischen Erneuerungsmaßnahmen darauf abzielen, den Obdachlosen die Räume zu enteignen, indem ihnen durch die Raumgestaltung der Eindruck vermittelt wird, dass sie nicht dazugehören, gelingt es ihnen im Fall der Praça da Sé dennoch, sich diesen Raum anzueignen (vgl. Kap. 2.2.3). Sie nutzen ihn in nicht konformer Weise zum Baden, Wäsche waschen und sich Aufhalten. Aus Sicht der Stadtverwaltung und der an den Erneuerungsprojekten beteiligten Architektinnen werden deshalb die Maßnahmen nur bedingt erfolgreich gewesen sein. 4.5.4
Institutionelle Regelungen als Mittel der Revitalisierung öffentlicher Räume
Neben den am Beispiel der beiden zentralen Plätze República und Sé geschilderten baulichen Interventionen zur Erneuerung öffentlicher Räume gibt es auch viele Regelungen und Aktivitäten, die auf den öffentlichen Raum und seine Zugänglichkeiten sowie Nutzungen abzielen, deshalb im weitesten Sinne als ein zusätzliches Mittel der Revitalisierung verstanden werden können und von den Stakeholdern auch als solche bezeichnet werden. Dabei kann es sich sowohl um gesetzliche oder ähnliche Regelungen von öffentlicher Seite handeln als auch um private und privatwirtschaftliche Initiativen verschiedener Reichweite. Im Anschluss werden zunächst zwei gesetzliche Bestimmungen dargestellt, die öffentlichen Raum reglementieren. Danach (4.5.5) werden v. a. private, kulturelle Initiativen erörtert, die den öffentlichen Raum beleben sollen. Die Maßgaben von öffentlicher Seite befassen sich hauptsächlich mit der Zugänglichkeit und Nutzung des öffentlichen Raums. Von besonderer Bedeutung seit der jüngeren Vergangenheit ist die kommunale Verordnung 105 (PorTaria MuNiciPal 105 / 2010 SMSu) für die GCM (Guarda Civil Metropolitana, städtische Polizei107), die die Ausführungsbestimmungen bzw. das Durchführungsprogramm eines Aufgabenbereichs der GCM beinhaltet. Bei diesem Bereich handelt es sich um den „Schutz von Personen in Risikosituationen“, der neben weiteren Aufgaben in einem munizipalen Dekret (decreTo MuNiciPal 50.448 / 2009) festgehalten ist. Die allgemeinen Zielsetzungen dieses Programms zum „Schutz von Personen in Risikosituationen“ sind: 107 Die Guarda Civil Metropolitana (GCM) ist eine munizipale Stadtpolizei oder -wache. Sie hat die Zielsetzung, munizipale Güter, Dienste und Einrichtungen zu schützen und zu überwachen. Ferner ist sie auch für die öffentliche Ordnung zuständig. Dafür macht sie präventive Patrouillen. Konkret obliegt ihr der Schutz schulischer Einrichtungen, von Mitarbeiter_innen der öffentlichen Hand und des öffentlichen Eigentums sowie die Kontrolle des öffentlichen Raums. unter den letztgenannten Punkt fallen die überwachung des ambulanten Straßenhandels, die Beaufsichtigung von öffentlichen, munizipalen Veranstaltungen und der Schutz von Personen in Risikosituationen (DECRETO MuNICIPAL 50.448 / 2009). Sie sind teilweise mit Stadtpolizeien in Österreich und Deutschland vergleichbar.
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4 Fallstudie São Paulo
„2.1 – Schutz von Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und älteren Menschen in Gefahrensituationen in der Stadt São Paulo in übereinstimmung mit den Richtlinien und in Verbindung mit dem Sozialamt [Secretaria Municipal de Assistência e Desenvolvimento Social (SMADS)]; Kontrolle und Orientierung, damit sie die Risikosituationen verlassen, und überstellung an spezialisierte Dienste der sozialen Einrichtungen des Munizips; 2.2. – Einen Beitrag leisten, die Präsenz von gefährdeten Personen auf öffentlichen Straßen und Plätzen der Stadt und an für den gesunden Aufenthalt ungeeigneten Orten zu reduzieren und zu verhindern“108 (PorTaria MuNiciPal 105 / 2010 SMSu; eigene übersetzung). Ferner wird darauf abgezielt, mit den entsprechenden Ämtern, Behörden und Einrichtungen in einer Art Sozialhilfeverbund („Rede de Proteção Social“) zusammenzuarbeiten. Konkretisiert werden diese allgemeinen Absichten durch folgende Ziele: „5.1. – Kontrolle von 100 % (einhundert Prozent) der Kinder und Jugendlichen in Risikosituationen und gegebenenfalls überstellung an spezialisierte Einrichtungen, um zu vermeiden, dass sie in der Risikosituation verbleiben, vor allem auf Straßen und in öffentlichen Bereichen der Stadt. 5.2. – Kontrolle und überstellung von Menschen in Risikosituationen, hauptsächlich in Regionen mit gehäuftem Auftreten und höherem Grad an Verwundbarkeit und Vermeidung ihrer Anwesenheit vor allem in diesen Regionen; 5.3. – Verhindern, dass Menschen in gefährlichen Situationen an Orten, die für die Gesundheit und die physische unversehrtheit ungeeignet sind, lagern. 5.4. – unterstützung der kommunalen Ämter und ähnlicher Einrichtungen, damit die spezialisierten Versorgungen sowohl präventiv als auch im Krankendienst angeboten werden“109 (PorTaria MuNiciPal 105 / 2010 SMSu; eigene übersetzung).
108 „2.1. – Proteger crianças, adolescentes, adultos e idosos em situação de risco na Cidade de São Paulo em conformidade com as diretrizes e em articulação da SMADS, abordando e orientando para que deixem a situação de risco e os encaminhem para atendimento especializado nos equipamentos sociais do município; 2.2. – Contribuir para diminuir e evitar a presença de pessoas em situação de risco nas vias e áreas públicas da cidade e locais impróprios para permanência saudável das pessoas.“ 109 „5.1. – Abordar a 100 % (cem por cento) das crianças e adolescentes em situação de risco e encaminha-las para atendimento especializado conforme o caso, evitando que fiquem em situação de risco, sobretudo nas ruas e áreas públicas da cidade. 5.2. – Abordar e encaminhar as pessoas em situação de risco, priorizando as regiões com maior freqüência e maiores índices de vulnerabilidade e evitar a presença delas especialmente nestas regiões; 5.3. – Evitar que pessoas fiquem em situação de risco acampadas em locais impróprios para sua saúde e integridade física. 5.4. – Apoiar as Secretarias e organismos afins para que sejam oferecidos os atendimentos especializados tanto preventivo quanto de assistência a atendimento de saúde.“
4.5 Öffentlicher Raum in São Paulo
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Zum Erreichen dieser Ziele sind u. a. folgende Ausführungsbestimmungen im Programm vorgesehen: „4.2. […] [Die beteiligten Einsatzkräfte] können autonom agieren und in Zusammenarbeit mit Mitarbeitern der Sozialhilfe, Mitarbeitern der Gesundheitsdienste oder mit Mitarbeitern der städtischen Stadtreinigung (zeladoria) der Subpräfektur in Fällen der Existenz von Lagern und ähnlichem vor allem an ungeeigneten und gefährlichen Orten. 4.3. – Die Tätigkeit der GCM muss 24 Stunden geleistet werden, vor allem in Regionen mit stärkerer Präsenz von Personen in Gefahrensituationen […]“110 (PorTaria MuNiciPal 105 / 2010 SMSu; eigene übersetzung). Die Auszüge der Ziele und Ausführungsbestimmungen der Verordnung 105 machen – abgesehen von der allgemeinen räumlichen Ausrichtung der Arbeit der GCM – explizit den öffentlichen Raum zum Aktionsraum für entsprechende Einsätze. unmittelbar genannt werden Plätze und Straßen. Auch wenn die Verordnung das ganze Stadtgebiet abdeckt, kann der Verweis bei Ziel 5.2., wonach dieses insbesondere in Räumen mit einer Häufung der entsprechenden Personen verfolgt werden soll, dahingehend interpretiert werden, dass die Verordnung als unmittelbaren räumlichen Bezugsrahmen auf das Zentrum und den Zentrumsnahen Bereich ausgelegt ist. Die zunächst sehr breite Definition der betroffenen Personengruppe (Personen in Risiko- bzw. Gefahrensituationen) wird verständlicher, wenn einige Zusatzinformationen aus der Verordnung berücksichtigt werden, die auf Obdachlose jeden Alters als Hauptzielgruppe hindeuten. Zunächst ist der unmittelbare Bezug zwischen dieser Bevölkerungsgruppe und deren Aufenthalt im öffentlichen Raum – und, konkreter, auf Straßen und Plätzen – ein erstes Indiz. Ein weiterer Hinweis sind die erwähnten Lager und die Tätigkeit des Lagerns selbst. Schließlich liefern auch die genannten sozialen und Gesundheitseinrichtungen einen Hinweis auf diese Zielgruppe. Die Verordnung macht die sozioökonomische Problematik der Obdachlosigkeit und die Personen, die davon betroffen sind, zu einer (stadt)polizeilichen Aufgabe, die darin besteht, Obdachlose auf entsprechende Hilfsangebote hinzuweisen, um sie dorthin zu schicken und ihren Aufenthalt im öffentlichen Raum zu verhindern. Eine Ansprache durch die Stadtpolizei (GCM) schildert Gerson, ein junger obdachloser Mann, die er und einige andere Obdachlose abends an ihrem Schlafplatz (vgl. Abb. 30 im Farbteil) im Zentrum erlebten: „Die GCM kam nur einmal vorbei, aber sie fragten: ‚Wollt Ihr, dass ich in einer Notunterkunft anrufe, die CAPE [Central de Atendimento Permanente de Emergência; Permanente NotfallHotline], einen Sozialarbeiter?‘ Ich habe das zur Kenntnis genommen und gesagt: ‚Schau, es lohnt sich nicht bei CAPE anzurufen, um uns zu einer Notunterkunft zu bringen. Warum? Bis der Kombi kommt, um uns zu holen, denke ich, wird Mitternacht vorbei sein. um wie viel uhr 110 „[...] poderão atuar autonomamente e em parceria com os agentes da Assistência Social, com os agentes da Saúde ou com os agentes da zeladoria da subprefeitura nos casos de existência de acampamentos e similares sobretudo em locais impróprios e de risco; 4.3. – A atuação da GCM deverá ser 24 horas, sobretudo nas regiões de maior presença de pessoas em situação de risco [...]“
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4 Fallstudie São Paulo müssen wir aufstehen? Sechs, halb sechs am Morgen, verstehst Du, aufstehen, frühstücken. Bis man in der Notunterkunft ankommt, je nachdem in welcher, ... ohne die Rückfahrt zu berücksichtigen, ... weil sie nur die Hinfahrt mit dem Kombi machen, aber uns nicht zurückbringen. um zurückzukommen, müssen wir per Anhalter mit Bussen fahren.‘ [...] Nicht immer gibt es eine Notunterkunft mit verfügbaren übernachtungsplätzen innerhalb des Zentrums.“111
Der geschilderte Kontakt zwischen GCM und Obdachlosen zeugt in diesem Fall von einem angemessenen umgang der GCM mit den Obdachlosen. Schlussendlich kommt es nicht zu einer überstellung in eine Obdachloseneinrichtung und die Betroffenen können im Zentrum verbleiben. Die Darstellung macht außerdem auf zwei weitere Sachverhalte aufmerksam. Zum einen kommt in der Aussage zum Ausdruck, dass mögliche Obdachlosenunterkünfte mitnichten im Zentrum lokalisiert sind. Die Zahl der verfügbaren Betten hat in den vergangenen Jahren sogar noch abgenommen, da im Zentrum und im Zentrumsnahen Bereich mehrere Obdachlosenheime geschlossen wurden. Dies führt dazu, dass die Betroffenen auf weiter entfernt liegende unterkünfte ausweichen müssen (esTadão 04.02.2010; o Trecheiro 08 / 2009, hiraTa, 2011, S. 100). Zum anderen wird aus der Ablehnung und der Begründung deutlich, welche Bedeutung für die Obdachlosen das Zentrum hat. Die Darstellung zeigt die Bandbreite der Möglichkeiten, Obdachlose aus dem Zentrum zu verdrängen. In diesem Fall wurde die Verordnung 105 ohne Rechtsüberschreitungen umgesetzt. Da dies allerdings oft nicht der Fall ist, und die Aufgabenstellung allgemein nicht unproblematisch ist, wird die Verordnung von Vertreter_innen von Paulistaner NGOs kritisiert. Alderon Costa von der NGO Rede Rua sieht in der Verordnung den Versuch der rechtlichen Legitimation zur Verdrängung von Obdachlosen aus dem öffentlichen Raum des Zentrums. Diese Verordnung „ermöglicht, dass die Stadtpolizei zu dir kommt und sagt: ‚Pass auf, hier kannst du nicht bleiben. Du kannst nicht liegen bleiben, du musst aufstehen, du musst...‘ Sie schaffen einen gesetzlichen Kunstgriff, um dich zu unterdrücken.“112 Alderon Costa gibt außerdem eine Aussage des zuständigen Sekretärs113 wieder, der in einem Interview sinngemäß gesagt haben soll: „‚Diese Verordnung dient 111 „A GCM passou uma vez só, mas eles perguntaram: ‘Ó, vocês querem que eu chamo um albergue, o CAPE [Central de Atendimento Permanente e de Emergência], um assistente social...’ tudo mais assim. Eu peguei e falei: ‘Olha não adianta chamar um CAPE para levar a gente para um albergue. Por quê? Até a perua chegar, para vim pegar a gente, acho que vai passa mais que meia-noite. A gente vai ter que acordar o que? Seis, cinco e meia, da manha, entendeu, levantar, tomar um café ... Até chegar ao albergue dependendo do albergue sem contar também a volta por que eles dão só a ida com a perua mas eles não trazem a gente de volta. Na volta a gente tem que pedir carona pro os ônibus, né.’ [...] Nem sempre tem um albergue assim de disposição de uma vaga de pernoitar dentro do centro“ (Fotointerview mit Gerson, Obdachloser im Zentrum, am 26.09.2011 in São Paulo). 112 [A portaria] „possibilita que os guardas chegam a você, falando: ‚Olha, você não pode ficar aqui. Você não pode ficar deitado. Você tem que levantar, você tem...‘ Eles criam um artifício legal para te coibir.“ 113 Munizipale Sekretär_innen sind Mitglieder der Stadtregierung, die vom Präfekten geleitet wird. Die munizipalen Sekretär_innen in Brasilien sind mit den amtsführenden Stadträt_innen in Österreich vergleichbar.
4.5 Öffentlicher Raum in São Paulo
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dazu, die Obdachlosen zu stören, die GCM soll jetzt die Obdachlosen stören.‘“114 Auch wenn diese Aussage nicht zusätzlich belegbar ist, so wird aus ihr in Verbindung mit der vorangegangenen dennoch ersichtlich, wie NGOs, die mit der Thematik befasst sind, diese Verordnung einschätzen. Es wird ferner auf die unvereinbarkeit dieser Verordnung mit dem in der Verfassung verankerten Recht des Kommens und Gehens (vgl. Kap. 4.5.2) verwiesen. Bezüglich dieser Thematik vertritt Luiz Kohara von der NGO Centro Gaspar Garcia de Direitos Humanos die Meinung, dass es der Verfassung zuwider laufe, das Recht des Kommens und Gehens für eine Bevölkerungsgruppe zu begrenzen, da das Recht für jeden Bürger gelte. Nelson Saule Júnior vom Institut Pólis ist diesbezüglich der Ansicht, dass mit dieser Verordnung den Obdachlosen das Recht aberkannt werde, Nutzer_innen dieser Plätze zu sein. Wichtig sei es aber, die entsprechenden Regeln für alle Nutzer_innen, die die jeweiligen Plätze aufsuchen, auszulegen und – wie Luiz Kohara zu bedenken gibt – die regionalen und lokalen Besonderheiten einer Stadt wie São Paulo v. a. im sozioökonomischen Bereich zu berücksichtigen. Dass beides aber nicht prioritär ist, macht er deutlich, wenn er die Verbindung zwischen dieser Verordnung und den Bestrebungen der Innenstadterneuerung herstellt: „Das ist die Haltung einer Stadtverwaltung. In Wahrheit ist es Absicht […] Was sie [die Vertreter der Stadtregierung] wollen, ist ein schönes, dynamisches Zentrum. Andrea Matarazzo [bis 2008 Subpräfekt der Subpräfektur Sé und bis 2009 Leiter des Amtes zur Koordination der Subpräfekturen] spricht immer wieder von großen Zentren; dass Paris und Barcelona schöne Zentren hätten.“115
Abgesehen von der allgemeinen Problematik der Widersprüche zwischen der Verordnung und der Verfassung sowie den postulierten Hintergründen für diese Verordnung weisen Mitglieder der Ouvidoria Comunitária da População de Rua (Gemeinschaftliche Ombudsstelle für Obdachlose) auf die von ihnen mit einem Beispiel verdeutlichte, zumindest teilweise gewalttägige umsetzung der Verordnung durch die GCM hin. „Hier in São Paulo macht diese Verordnung deutlich, dass es ein Polizeiorgan, die GCM, gibt, die die Befugnis hat, überstellungen – wie sie es nennen – durchzuführen. Aber diese überstellung ist wahrlich gewalttätig. Wenn die Person [einen Ort] nicht verlassen will, können sie sie massiv bedrängen, schlagen.“116
114 „‚Esta Portaria é para incomodar a população de rua, a GCM agora tem que incomodar a população de rua.‘“ 115 „É a postura de uma gestão pública. Na verdade, é intencionalidade [...] O que eles gostariam de deixar o centro bonito, dinâmico. O Andrea Matarazzo faz sempre muita referência aos grandes centros; que Paris, Barcelona teriam centros bonitos“ (Interview mit Luiz Tokuzi Kohara, Koordinator des Centro Gaspar Garcia de Direitos Humanos, am 21.09.2010 in São Paulo). 116 „Aqui em São Paulo, essa portaria que deixa mais claro, que existe um órgão de polícia, a GCM, que tem poderes para fazer o que eles chamam de encaminhamento. Mas este encaminhamento [...] ele é da violência realmente. Se a pessoa não quer sair eles podem agredir, podem bater“ (Interview mit Raquel Lima & Luísa Luz von der Ouvidoria Comunitária da População de Rua [Gemeinschaftliche Ombudsstelle für Obdachlose]).
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4 Fallstudie São Paulo
Aufgrund diverser Berichte von übergriffen auf Obdachlose durch die GCM hat die Staatsanwaltschaft des Bundesstaats São Paulo 2012 eine öffentliche Zivilklage (ação civil pública) gegen das Munizip São Paulo bei Gericht eingebracht. Darin wird der Stadtverwaltung vorgeworfen, nicht das Recht zu haben, bestimmte Personengruppen, konkret Obdachlose, aus dem öffentlichen Raum zu entfernen; ein entsprechendes Vorgehen gemäß der Verordnung sei verfassungswidrig. Ebenso wird die Anwendung von Gewalt in diesem Zusammenhang als unzulässig bezeichnet und ist ebenfalls Gegenstand der Klageschrift117 (MPSP 2012; rede brasil aTual 14.07.2012). Neben dem zumindest in Teilen fragwürdigen Aufgabenbereich des „Schutzes von Personen in Risikosituationen“ wird im entsprechenden munizipalen Dekret (decreTo MuNiciPal 50.448 / 2009) als erste Aufgabe der GCM, die den öffentlichen Raum betrifft, die „überwachung des ambulanten Handels auf den öffentlichen Straßen und Anlagen“ genannt. Diese überwachung hat zum einen die Kontrolle der (mittlerweile wenigen) legitimierten Straßenhändler_innen zur Aufgabe und zum anderen die Verhinderung von Verkaufsständen nichtlegitimierter Straßenhändler_innen. Seit 2009 sind mit dieser Aufgabe zusätzlich auch die Angehörigen der Polícia Militar118 (PM) betraut, die sich damit in ihrer Freizeit ein zusätzliches Einkommen verdienen können. Grundlage dafür ist ein Vertrag zwischen der Präfektur São Paulos und der PM bzw. dem Bundesstaat São Paulo. In diesem ist geregelt, dass die Polizist_innen der PM in ihrer Freizeit als „Operação Delegada“ („Delegierte Tätigkeit“) die Kontrolle der Straßenhändler_innen ausüben können. umgangssprachlich wir diese zusätzliche Beschäftigung als „bico oficial“ („offizieller Nebenjob“) bezeichnet (ceNTro gasPar garcia de direiTos huMaNos 2012, S. 39). Hintergrund dafür ist, dass viele Polizist_innen aufgrund der geringen Entlohnung auf zusätzliche, oft nicht offizielle Nebentätigkeiten angewiesen sind. Die Grundlagen für die übertragung von ursprünglich originär der munizipalen GCM anheimfallenden Aufgaben erfolgt auf Basis eines munizipalen Gesetzes. Dieses Gesetz sieht die „… Schaffung des Leistungsbonus [vor] für delegierte Tätigkeiten gemäß den aufgeführten Regelungen, die an Militär-und Zivilpolizisten119 zu zahlen sind, die munizipale Tätigkeiten durchführen, die dem Staat São Paulo mittels einer unterzeichneten Vereinbarung durch das Munizip São Paulo übertragen werden“120 (lei MuNiciPal 14.977 / 2009; eigene übersetzung). 117 Zum weiteren Verlauf dieser Angelegenheit und ob die Zivilklage bei Gericht angenommen wurde etc. konnten leider keine weitergehenden Informationen gefunden werden. 118 Die Polícia Militar (PM) ist die reguläre Polizei in Brasilien, die bundesstaatlich organisiert ist. Anders als der Name vermuten lässt, gibt es keine Parallelen zu der Militärpolizei in Österreich oder Deutschland. Auch die Verbindung zum brasilianischen Militär ist lediglich indirekt gegeben (Reserve der Armee) und die jeweilige operationale Leitung liegt bei den Bundesstaaten. Die PM ist zuständig für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie die Kriminalitätsprävention. 119 Die Polícia Civil ist wie die PM je Bundesstaat organisiert. Als eine Art Kriminalpolizei fallen ihr die Aufgaben zu, die grundsätzlich mit der Verfolgung und Aufklärung von Straftaten zu tun haben. 120 „Cria a Gratificação por Desempenho de Atividade Delegada, nos termos que especifica, a ser paga aos Policiais Militares e Civis que exercem atividade municipal delegada ao Estado de São Paulo por meio de convênio celebrado com o Município de São Paulo.“
4.5 Öffentlicher Raum in São Paulo
235
Die Erläuterungen in einem Auszug der angesprochenen Vereinbarung machen deutlich, um welche übertragene Aufgabe es sich primär handelt und was unter dem Auftrag der „überwachung des ambulanten Handels auf den öffentlichen Straßen und Anlagen“ verstanden wird: „Durchführung des Programms zur Bekämpfung [sic!] des irregulären oder illegalen ambulanten Handels in kritischen Bereichen des Munizips mit dem Einsatz von Militärpolizisten, uniformiert und ausgestattet mit persönlicher Schutzausrüstung, in speziellem Maßstab, an noch zu definierenden Orten“121 (PMSP 2009, S. 4; eigene übersetzung).
ursprünglich war das Programm auf die zentralen bzw. semizentralen Subpräfekturen Sé, Mooca und Santo Amaro begrenzt. Im Laufe der Zeit wurde es allerdings ausgeweitet und umfasst seit 2011 alle Subpräfekturen. Parallel zur räumlichen Ausdehnung erfolgte die Steigerung der Zahl der mit den Aufgaben betrauten Polizist_innen. Zu Beginn waren 250 Beamt_innen in das Programm integriert. Mit der gesamtstädtischen Abdeckung sind es seit 2011 ca. 3 500, die innerhalb des Programms einer regulären Nebentätigkeit nachgehen (esTadão 29.03.2011). Das Programm trägt so zu einer viel höheren Präsenz von Polizei auf den Straßen der (Innen)Stadt bei. Dabei ist für die Bürger_innen nicht erkennbar, ob die patrouillierenden Polizist_innen gerade ihrem regulären Dienst nachgehen oder ob sie im Auftrag der Stadtverwaltung tätig sind. Dieser umstand führt dazu, dass niemand weiß, mit welcher Aufgabe sie im jeweiligen Moment betraut sind. Ferner lässt sich auch nicht sagen, ob und wie genau zwischen den verschiedenen Einsätzen unterschieden wird. Dies bedingt zum einen eine permanente Gefahr der Vertreibung von Straßenhändler_innen durch Polizist_innen und zum anderen auch tatsächlich deren massive Verfolgung, da sich nun neben der GCM auch die PM und damit ein deutlich größeres Kontingent an Einsatzkräften dieser Aufgabe widmet. Dies trug zu einer noch größeren Kriminalisierung des ambulanten Handels bei (iTiKaWa 2006, S. 519). Die Maßnahme betrifft alle Straßenhändler_innen, die über keine Genehmigung vonseiten der Stadtverwaltung verfügen (vgl. Abb. 31 im Farbteil). José Gomes, als Präsident der Gewerkschaft SINPESP Vertreter der Straßenhändler_innen mit Genehmigung durch die Präfektur, schildert, in welchem Maße die Arbeit für die anderen Straßenhändler_innen infolge der Zusammenarbeit von Stadtverwaltung und Polizei erschwert wird: „Die Einschränkungen durch die Präfektur sind massiv, seit sie die Polizei beauftragen. Mit der Polizei kann man nicht streiten. Die Polizei geht drauf und die Leute [informelle Straßenhändler_innen] müssen laufen. Vorher lief man vor der rapa [Razzia von munizipalen Kontrolleuren des Straßenhandels] davon. [...] Vorher gab es die Straßenkontrollen, die Person arbeitete, wenn sie einen Kontrolleur sah, lief sie davon und entfernte sich aus der Region. Heute nicht, heute ist es durch die Operação Delegada sehr viel schwieriger geworden, weil sie die ganze Zeit dort sind; die Polizei patrouilliert permanent im umkreis von 200 m.“122 121 „Implementar o Programa de Combate ao Comércio Ambulante Irregular ou Ilegal em Regiões Críticas do Município com o emprego de policiais militares, fardados e munidos do equipamento de proteção individual, em escala especial, em locais a serem especificados.“ 122 „É uma restrição muito firme da Prefeitura que coloca PM; não dá de brigar com a polícia. A polícia vai para cima e as pessoas tem que está correndo. Antes corria do rapa [...] Antes tínhamos a fiscalização de rua, as pessoa ficava trabalhando quando viu um fiscal, correu, saiu da região. Hoje não, hoje com a operação delegada é muito mais problemático, por que eles estão
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4 Fallstudie São Paulo
Bedingt durch diese massive Präsenz von Polizist_innen ist die Zahl der informellen Straßenhändler_innen im Zentrum stark zurückgegangen. „Fast 7.000 irreguläre Verkäufer waren in der Weihnachtszeit im Gebiet der Rua 25 de Março (wichtiges Handelszentrum für günstige Produkte) aktiv. In diesem Jahr [2010] waren diese Aktivitäten praktisch nicht vorhanden“123 (roNaldo caMargo, Koordinator der Subpräfekturen, in: esTadão 29.03.2011). Für die Rua Barão de Itapetininga im Distrikt República bestätigt Glória diese Entwicklung im Fotointerview: „Also, einige Aspekte haben sich sehr verbessert. [...] Man sah in manchen Bereichen der [Rua] Barão de Itapetininga ... sehr viele camelôs [informelle Straßenhändler_innen]. Nach fünf uhr nachmittags hatten die Leute Angst, in die Stadt zu kommen. [...] Also, in dieser Hinsicht hat es sich [das Zentrum] sehr verbessert.“124
Angesichts dessen ist aus Sicht der Verantwortlichen für diese Zusammenarbeit das Programm ein Erfolg. Dass es zu diesem werden konnte, hängt auch mit einem intensiven Diskurs der Kriminalisierung zusammen. Im Zuge dessen wird der (informelle) Straßenhandel in Verbindung mit dem organisierten Verbrechen, der Produktpiraterie und dem Schmuggel gebracht. Dadurch wird von den ihm zugrundeliegenden sozialen ursachen abstrahiert (iTiKaWa 2006, S. 414 ff.). Dabei ist es in den letzten Jahren zu einer Diskursverschiebung gekommen, die in der Aussage von Marco Antonio Ramos de Almeida von der AVC zum Tragen kommt, wenn er sagt: „Die Präsenz ambulanter Händler [im Zentrum] ist stark zurückgegangen. […] Früher waren große Teile des öffentlichen Raums durch diesen Handel, der durch eine enge Verbindung zum organisierten Verbrechen charakterisiert ist, privatisiert. Es gab einen Wandel in der Einschätzung – auch bei den Medien, die damals den ambulanten Handel als ein soziales Problem der Menschen geringer Einkommen, die davon lebten, betrachteten; in Anführungszeichen: ‚Die Ärmsten!‘. Mit der Zeit bemerkte man, dass die Menschen in Wirklichkeit Teil einer kriminellen Struktur sind, die geschmuggelte, gestohlene und gefälschte Waren verkaufen. “125
Mit dieser Diskursverschiebung wird der informelle Straßenhandel als Form der überlebensökonomie abgelöst durch den Straßenhandel als Teil der organisierten Kriminalität. Dabei spielt der Wahrheitsgehalt der einen oder anderen Einschätzung ali o tempo todo, a polícia fica circulando no raio de 200 m o tempo inteiro.“ Für Details zur Praxis der Vertreibung in der Vergangenheit vgl. iTiKaWa 2006, S. 252 ff. 123 „Quase 7 mil vendedores irregulares atuavam na área da Rua 25 de Março (importante centro de comércio popular) na época do Natal. Neste ano, esse movimento foi praticamente nulo.“ 124 „Olha, em alguns aspetos melhorou muito. ... Teve parte assim, se viesse esta parte de Barão de Itapetininga: muito camelô. Depois das cinco horas da tarde as pessoas tinham medo de vim pra a cidade. [...] Então, neste ponto melhorou muito“ (Fotointerview mit Glória, selbständige Kosmetikerin im Zentrum, am 21.09.2011 in São Paulo). 125 „Diminuiu muito a presença do comércio ambulante. [...] Antes grande parte do espaço público era privatizado por este comércio que tem uma caraterística bastante ligada ao crime organizado. Houve uma mudança da percepção – inclusive da própria mídia, que na naquela época considerava o comércio ambulante como um problema social, que eram pessoas de baixa renda que sobreviviam disso; entre aspas: ‚Coitadinho!‘. E como passa o tempo foi se percebendo que na realidade fazem parte de uma estrutura criminosa que vende mercadoria contrabandeada, roubada, pirateada“ (Interview mit Marco Antonio Ramos de Almeida, leitender Direktor der Associação Viva o Centro, am 03.08.2010 in São Paulo).
4.5 Öffentlicher Raum in São Paulo
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schlussendlich keine Rolle, da der Diskurs in diesem Fall hauptsächlich als Legitimationsgrundlage für das entsprechend repressive Vorgehen gegen die Straßenhändler_innen dient. Luciana Itikawa schildert einen Diskurs: „Diskurs über die [Produkt]Piraterie: […] der Diskurs der Piraterie ist auch mit den Eliten verbunden. Was ist Piraterie? Es gibt einen Ausschuss von unternehmern... Klar, dass Leute, die mit der brasilianischen Industrie in Verbindung stehen, besorgt über Fälschungen von CDs und Kopien von Piraterie-CDs sind – das liegt auf der Hand. Es besteht die absolute Berechtigung, betroffen zu sein. [...] und Kassab [Bürgermeister von 2006–2012], er führt diesen Diskurs in dem Moment, wenn Leute vertrieben werden. Wenn eine sehr große Aktion erfolgt – denn diese Thematik mit dem Polizeischlagstock zu vertreiben ist alltäglich; sie sprechen bereits von mehreren Fällen von Beschimpfungen, von Vertreibung, von Schlägen, von Gewalt, dies geschieht im „Einzelhandel[sstil]“ – wenn Aktionen im „Großhandel[sstil]“ stattfinden, wie wir Aktionen nennen mit vielen, bei denen die Polizei kommt und Programme, Aktionen durchführt und alle vertreibt, dann erscheint der Bürgermeister und der Diskurs des Bürgermeisters ist immer: Piraterie. [...] Der Diskurs der Piraterie ist sehr stark. Was steckt hinter dem Diskurs der Piraterie? Ich werde die Präsenz des Straßenhändlers im öffentlichen Raum delegitimieren mit der Idee, dass er kriminell ist, dass er ein Verbrechen begeht, wenn er Kopien macht. Natürlich, vom gesetzestreuen Standpunkt aus, ist er kriminell und so nutzt er [Kassab] diesen Diskurs. Aber was steckt dahinter? Das ist das Ziel der Reinigung des öffentlichen Raums.“126
Aus dieser Logik heraus ist die Reaktion der Stadtverwaltung zu verstehen, mittels des Einsatzes von Polizist_innen dieses Problem im öffentlichen Raum zu lösen. Die Verallgemeinerungen und Generalisierungen, die mit diesen Diskursen einhergehen, führen dazu, dass alle Straßenhändler_innen unter einen Generalverdacht gestellt werden und die Kriminalisierung alle erfasst. Dass ein Großteil der im informellen Straßenhandel Tätigen damit in Ermangelung anderer Möglichkeiten ihren Lebensunterhalt bestreiten muss, wird komplett ausgeblendet und entsprechend werden andere alternative Verwendungen der in das Programm fließenden Geldmittel (100 Mio. R$ für 2011; esTadão 29.03.2011) nicht in Betracht gezogen. Luciana Itikawa erwähnt als mögliche Alternativen, die auch der weiterhin gegebenen sozialen Dimension der Problematik Rechnung tragen würde, bspw. den Bau von einfachen Shoppingcentern (shopping popular) für die Straßenhändler_innen, inklusive eines demokratischen sozialen Dialogs und transparenter übereinkommen mit den Straßenhändler_innen. Mit diesen Maßnahmen würde ein Beitrag zur Lösung der 126 „Discurso da Pirataria: Porque o discurso da pirataria também está ligado às elites. Que que a pirataria? Tem uma comissão die empresários... Claro, que gente ligada à indústria brasileira que está preocupada com falsificação de CD, cópia de CD pirataria – óbvio. Tem a absoluta legitimidade para está preocupada. [...] E o Kassab, ele tem este discurso na hora ele vai expulsar. Quando aparece uma ação muito forte – porque esta questão do cacete da polícia de expulsar é diária. Eles já falam vários casos de xingamento, de expulsão, de bate, de violência, isso acontece no varejo – quando existem ações do atacado como a gente chama ações de grande quantidade que a polícia vai lá e faz um programa, uma ação e vai lá e expulsa. Aí, aparece o prefeito e a fala do prefeito sempre é: pirataria. [...] O discurso da pirataria é muito forte. Que que está por trás do discurso de pirataria? Eu vou deslegitimar a presença do camelô no espaço público com a ideia que ele é criminoso, que ele está fazendo um crime ao fazer a cópia. Claro, do ponto de vista legalista, ele é o criminoso e assim que ele usa este discurso. Mas que está por trás mesmo, é esta limpeza do espaço público“ (Interview mit Luciana Itikawa, Koordinatorin des Projekts „Trabalho Informal e Direito a Cidade“ im Centro Gaspar Garcia dos Direitos Humanos, am 16.09.2011 in São Paulo).
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4 Fallstudie São Paulo
dem Phänomen des Straßenhandels zugrundeliegenden ursachen geleistet. Stattdessen wird vonseiten der Stadtverwaltung in Zusammenarbeit mit der PM lediglich an der Bekämpfung der Symptome gearbeitet. Außer den informellen Straßenhändler_innen sind auch diejenigen, die eine Genehmigung vonseiten der Stadtverwaltung besitzen, zunehmend von (indirekter) Verdrängung betroffen. Diese erfolgt auf zweierlei Weise: Entweder werden die Genehmigungen nach Ablauf der Frist nicht mehr verlängert, oder bisherige Standorte des genehmigten Straßenhandels werden dafür gesperrt (Information über Stilllegung von ehemals genehmigten Standorten des Straßenhandels bspw. PMSP 2010, S. 10). Als Begründung für die Reduzierung der Anzahl der Straßenhändler_innen diente die Erholung der Wirtschaft im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts und die damit gestiegenen Beschäftigungsmöglichkeiten im formellen Arbeitsmarkt. Deshalb, so die Meinung der Stadtverwaltung (laut Luciana Itikawa (CGG) und José Gomes (SINPESP)), sei der Straßenhandel als Einkommensquelle obsolet. Allerdings werden bei dieser Argumentation nach Einschätzung von Luciana Itikawa und José Gomes Hemmnisse übersehen, die einen Eintritt in den formellen Arbeitsmarkt erschweren. Luciana Itikawa nennt drei limitierende Faktoren: Zum einen ist die Schulbildung vieler Straßenhändler_innen so gering, dass sie damit keinen Zugang auf den Arbeitsmarkt erhalten. Ferner sind viele bereits älter und haben angesichts dessen geringere Chancen auf reguläre Arbeit. und schließlich spielt auch die soziale Herkunft aus armen Verhältnissen eine nicht zu unterschätzende einschränkende Rolle auf dem Arbeitsmarkt. Ferner kommt hinzu, dass viele der Straßenhändler_innen aufgrund von (körperlichen) Beeinträchtigungen auf dem formellen Arbeitsmarkt kaum eine Chance haben. Beide dargestellten gesetzlichen Regelungen (Verordnung 105 und „Operação Delegada“) betreffen unmittelbar den öffentlichen Raum und seine Nutzung durch bestimmte Nutzer_innengruppen. Deren Anwesenheit im öffentlichen Raum ist nicht gewünscht und entsprechend dienen die mit den Regelungen verbundenen Maßnahmen zur Vermeidung des Aufenthaltes dieser Personengruppen in den bestimmten Räumen. Im ersten Fall wird mit (vermeintlichen) alternativen unterstützungsmaßnahmen argumentiert, wohingegen im zweiten Fall der Weg der Kriminalisierung (vgl. Kap. 2.2.4.1) der entsprechenden Nutzer_innengruppen beschritten wird. Mit der Verordnung für Menschen in sogenannten Gefahrensituationen wird versucht, hauptsächlich Obdachlose aus vermeintlich für sie eine Gefahr darstellenden, öffentlichen Räumen v. a. im Zentrum wegzubringen. Die euphemisierende Bezeichnung als Personen in Risikosituationen lässt zunächst die Vermutung naheliegen, diesen aufgrund dessen Schutz gewähren zu wollen. Die Beurteilungen des Programms durch diverse Stakeholder kommt aber vielmehr zu dem Schluss, dass das tatsächliche Ziel die Verdrängung dieser Personengruppe aus bestimmten öffentlichen Räumen ist. Dieser Versuch wird aufgrund der Tatsache, dass es lediglich auf Basis des sozioökonomischen Status der Betroffenen zu deren Verdrängung kommt, intensiv kritisiert. Anders verhält es sich im Fall der Zusammenarbeit zwischen der Paulistaner Stadtverwaltung und der PM zur Vertreibung der informellen Straßenhändler_innen. Hierbei wird sich des Mittels der (indirekten) Kriminalisierung bedient. Die
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Tätigkeit des informellen Straßenhandels – verstärkt und diskursiv gerechtfertigt durch die apostrophierte Nähe zur organisierten Kriminalität – stellt den Grund der Verfolgung dar. Die konkrete, kriminalisierte Verhaltensweise erlaubt es, alle im informellen Straßenhandel Tätigen des kriminellen Handelns zu verdächtigen und dementsprechend zu verfolgen. Von den sozioökonomischen Disparitäten, die mit der Tätigkeit des Straßenhandels als überlebensökonomie zum Ausdruck kommen, wird vollständig abstrahiert. Dies führt nicht zuletzt aufgrund der breiten medialen, immer wiederkehrenden Reproduktion des Kriminalisierungsdiskurses zu einer gesellschaftlich weit verbreiteten Akzeptanz der Vertreibungen, die durch die vermeintlich kriminelle Tätigkeit gerechtfertigt erscheinen und nicht hinterfragt werden. Die Akzeptanz umfasst dabei alle gesellschaftlichen Schichten, weil die einseitige Berichterstattung v. a. im omnipräsenten Fernsehen kein differenziertes Bild der Situation zulässt. Dies trägt schlussendlich zu einer Reifikation des Diskurses bei. 4.5.5
Privatwirtschaftliche und private Initiativen zur Belebung öffentlicher Räume
Die dargestellten institutionellen Regelungen zur Revitalisierung öffentlicher Räume haben zum Ziel, bestimmten Bevölkerungsgruppen den Aufenthalt im öffentlichen Raum im Zentrum zu erschweren oder unmöglich zu machen, um damit wiederum erwünschten Nutzer_innengruppen den Aufenthalt in denselben Räumen leichter zu ermöglichen. Neben diesen Maßnahmen der öffentlichen Hand gibt es auch verschiedene Aktivitäten von unterschiedlichen, überwiegend privaten oder privatwirtschaftlichen Initiatoren, die tendenziell eher aktivierenden Charakter für die aus Sicht der Initiatoren im öffentlichen Raum des Zentrums „gern gesehenen“ Personengruppen haben sollen. Dazu zählen die neu geschaffene Aliança pelo Centro Histórico (ACH; Allianz für das historische Zentrum) und die wöchentlichen Caminhadas Noturnas (Abendwanderungen) sowie eine Vielzahl (privat wie öffentlich organisierter) kultureller Veranstaltungen im Zentrum São Paulos. Die Aliança pelo Centro Histórico ist eine Gründung und Einrichtung der Associação Viva o Centro in Abstimmung mit der Präfektur und dem Bundesstaat und beinhaltet als Programm städtische Service- und Kontrolldienstleistungen (zeladoria urbana127) und lokales Marketing. Mitte 2009 gegründet, agieren die Bediensteten im Triângulo Histórico zwischen den Plätzen Praça da Sé, Largo São Francisco / Praça do Patriarca und Largo São Bento im Centro Velho von São Paulo. Im Gespräch mit dem Koordinator Orlando Júnior128 schildert dieser die zugrunde liegende Idee und die Aufgabenbereiche, in denen die ACH tätig ist. Inspiriert ist die ACH durch die nordamerikanischen Business Improvement Districts (BID) 127 Der Begriff „zelador“ bedeutet in Brasilien so viel wie Hausmeister. Das Verb „zelar“ meint „wachen über“ und „sorgen für“. „Zeladoria“ als die Tätigkeit des Hausmeisters ist im Fall der Aliança pelo Centro Histórico auf einen Teil des Stadtgebiets übertragen worden. 128 Gespräch mit Orlando Júnior, Koordinator der Aliança pelo Centro Histórico, am 02.09.2010 in São Paulo
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4 Fallstudie São Paulo
(vgl. Kap. 2.1.5). Allerdings sind die Befugnisse begrenzt, da per Gesetz in Brasilien nur die öffentliche Hand Veränderungen im öffentlichen Raum vornehmen darf. Dementsprechend beschränken sich die Aufgaben auf die Feststellung der Probleme im öffentlichen Raum und deren Weiterleitung an die zuständigen Ämter der Stadtverwaltung. Als „professionelle Bürger“, als die er die Beschäftigten der ACH bezeichnet, ginge es darum, Missstände anzumahnen und Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten, wozu die Bevölkerung die Lust verloren habe. Außerdem betreibe die ACH auch Bewusstseinsarbeit bei den Anliegern bspw. bezüglich der Müllentsorgung (z. B. Bereitstellung des Abfalls für die nächtliche Entsorgung nicht vor 18:00 uhr). Themen, denen sich die mit einer einheitlichen, uniformähnlichen Bekleidung ausgestatteten Mitarbeiter_innen der ACH bei ihren Rundgängen in ihrem Aktionsbereich widmen und bei denen sie Lösungen anmahnen, sind neben der Müllentsorgung u. a. die Straßenbeleuchtung, Schlaglöcher in der Straße, fehlende Abflussgitter, informeller Straßenhandel und Obdachlose. Defekte Straßenbeleuchtung, Schlaglöcher oder Müll auf der Straße etc. melden sie an das Büro der ACH, von wo aus die Beanstandungen in Berichten an die zuständigen Stellen wie die Subpräfektur Sé und die mit einzelnen Serviceleistungen beauftragten, privaten Dienstleister wie Ilume (Beleuchtung) oder Loga (Abfallentsorgung) weitergeleitet werden, die dann für die Lösungen zuständig sind. Die Obdachlosen werden von den Mitarbeiter_innen der ACH im Zentrum täglich jeweils zweimal gezählt (6:00–7:00 uhr und 22:30–23:30 uhr); gleiches gilt für die informellen Straßenhändler_innen (12:00–13:00 uhr und 18:00–19:00 uhr). Die Ergebnisse der Zählungen werden an die GCM und die PM weitergegeben. Ziel ist es letztendlich, die Anzahl Angehöriger beider Gruppen im Zentrum zu reduzieren. Zur Erfüllung aller genannten Aufgaben operiert jeweils ein uniformierter Mitarbeiter bzw. eine uniformierte Mitarbeiterin in je einem der 4 Sektoren, in die das historische Zentrum unterteilt wurde, in einer von zwei täglichen Schichten (6:00–15:00 uhr und 15:00–24:00 uhr)129. Hinsichtlich des Stadtmarketings ist eine Karte des Triângulo Histórico für den Tourismus und die (Handels)Dienstleistungen erschienen, aus der hervorgeht, welche touristischen Attraktionen, gastronomischen Betriebe und Geschäfte sowie welche weiteren privaten und öffentlichen Dienstleistungen in diesem Gebiet ihre Standorte haben. Pate gestanden hat dafür die noble Einkaufsstraße Oscar Freire im Distrikt Jardim Paulista, in der viele hochpreisige Markengeschäfte zu finden sind. Ziele der Maßnahmen sind laut Orlando Júnior die Wiederbelebung des Zentrums, das zum einen zu einem reinen Durchgangsort geworden und zum anderen am Wochenende nahezu menschenleer sei. Wichtig sei es, dass das Zentrum wieder zu einem Ort des Zusammenlebens werde. Das Erreichen dieser Ziele ist allerdings nicht unproblematisch. Orlando Júnior erwähnt einige Herausforderungen, mit denen sich die ACH konfrontiert sieht. Ein institutionelles Problem stellt die geringe Zahl an fördernden unterstützern dar. 2010 betrug deren Zahl fünf unternehmungen, die für 100 % des Etats verantwortlich waren. Seinerzeit war deswegen geplant, die Finanzierung auf eine breitere Basis von zahlenden unter129 Laut Homepage sind die Zeiten der Rundgänge 2014 täglich von 8:00 bis 20:00 uhr (http:// www.vivaocentro .org.br/programas-e-projetos/alian%C3%A7a-pelo-centro-hist%C3%B3rico /estrutura.aspx; Zugriff: 28.09.2014).
4.5 Öffentlicher Raum in São Paulo
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stützern zu stellen.130 Weitere Probleme betreffen die operativen Tätigkeiten der Mitarbeiter_innen. Aufgrund ihrer uniformähnlichen Kleidung werden sie oft mit Einsatzkräften der Polizei oder der GCM verwechselt. Allerdings beschränken sich ihre Befugnisse auf diejenigen gewöhnlicher Bürger_innen, die Beobachtungen von (vermeintlich) problematischen und / oder gefährlichen Gegebenheiten im öffentlichen Raum an die zuständigen Behörden melden können. Außerdem wird häufig fälschlicherweise angenommen, dass sie es sind, die Missstände beseitigen. Nicht konfliktfrei ist der umgang zwischen den Mitarbeiter_innen auf der einen und den Straßenhändler_innen bzw. den Obdachlosen auf der anderen Seite. Im Zusammenhang mit den Straßenhändler_innen ist es zu Fällen von Bedrohungen und / oder Bestechung(sversuchen) gekommen. Aufgrund dessen verzichten die Mitarbeiter_innen mittlerweile auf das Fotografieren der entsprechenden Situationen. Bereits bestehende Kontakte zwischen den Vertreter_innen der ACH und Obdachlosen verschlechterten sich nach Aussage von Orlando Júnior wieder, nachdem die GCM eine größere Aktion gegen die Obdachlosen durchgeführt hätte, und diese der Meinung waren, dass die Einsatzkräfte auf Initiative der ACH aktiv geworden seien. unmittelbar nach der Ankündigung der Einrichtung der Aliança pelo Centro Histórico im Juli 2008 (iNForMe ViVa o ceNTro 07 / 2008) regte sich bereits Widerstand gegen die geplanten Aktivitäten. unter dem Namen „Allianz für das Leben“ („Aliança pela Vida“) fanden sich Organisationen und soziale Akteure zusammen, die den Intentionen der ACH kritisch und ablehnend gegenüberstanden. Sie befürchteten, dass die Aktivitäten, die als Kontrollen des physischen öffentlichen Raums angekündigt waren, schlussendlich einen Beitrag zur gewaltsamen Verdrängung der sozioökonomisch benachteiligten Nutzer_innen des öffentlichen Raums wie Obdachlose und Recyclingmaterialsammler_innen leisten würden. um dieser Sorge Ausdruck zu verleihen, organisierten mehrere soziale Bewegungen von Obdachlosen, Recyclingmaterialsammler_innen und Wohnungssuchenden eine Demonstration, während der symbolisch „Trophäen der Säuberung“ („troféus higienístas“) an die die ACH fördernden unternehmen verteilt wurden (hiraTa 2011, S. 97 ff.). Im Laufe der Feldforschungen für diese Arbeit (2009–2011) lenkte vonseiten der sozialen Bewegungen Benedito Barbosa vom Zusammenschluss der Bewegungen für Wohnraum (uMM-SP) den Blick auf die beiden gegensätzlichen Allianzen. „Diese Aliança pelo Centro Histórico wurde gegründet und organisiert – und dann wirst du sehen, was Aneignung öffentlichen Raums bedeutet – von großen unternehmen und Banken in der Innenstadt von São Paulo sowie Anwaltskanzleien, um das Zentrum São Paulos mit unterstützung der Präfektur und der Polizei zu verschönern. [...] und deswegen haben wir ein Bündnis, eine Allianz für das Leben, geschaffen. Somit gibt es nun einen Konflikt zwischen dieser Allianz des Immobiliensektors [...] und der Allianz für das Leben in dem Sinne, eine Auseinandersetzung – das heißt, viele Mobilisierungen – anzustrengen, um Missachtungen 130 Inwieweit diese Bemühungen erfolgreich waren bleibt fraglich. Bei einer Recherche auf der Seite der unterstützer der ACH sind 2014 lediglich sechs Sponsoren aufgeführt (http://www. vivaocentro.org.br/programas-e-projetos/alian%C3%A7a-pelo-centro-hist%C3%B3rico/ colaboradores.aspx, Zugriff: 27.09.2014).
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4 Fallstudie São Paulo der Menschenrechte der Obdachlosen und bewohner der cortiços und Straßenhändler hier in der Innenstadt São Paulos zu denunzieren. [...] Die Allianz für das Leben war eine anlassgebundene Allianz, um dieser Aliança pelo Centro Histórico, die ein konservatives Bündnis ist, das von den Interessen der Immobilienwirtschaft im Zentrum abhängt, die Stirn zu bieten.“131
In weiteren Interviews wurde die Aliança pela Vida nicht erwähnt. Diese Tatsache lässt vermuten, dass es sich bei ihr, wie Benedito Barbosa in seiner Aussage bemerkt, nur um einen anlassgebundenen, temporären Zusammenschluss der betroffenen Bewegungen gehandelt hat, deren Aktivitäten sich auf einige wenige Demonstrationen beschränkt haben. Während Benedito Barbosa die Aktivitäten der ACH als Form der Aneignung öffentlichen Raums kritisiert, ist es aus Sicht des Immobilienverwalters Roberto Bomfim die richtige Vorgehensweise, die mit der Zeit zur Revitalisierung des Zentrums beiträgt. „Gewisse Einrichtungen beginnen Druck zu machen. Nimm z. B. das Centro Velho: dort gibt es ein Projekt „Aliança“ von der [Associação] Viva O Centro. Es gibt den ganzen Tag Menschen, die mit Klemmbrettern auf Probleme hinweisen und das Amt anrufen, den Subpräfekten anrufen. ‚He, Subpräfekt, hier gibt es ein neues Schlagloch.‘ ‚He, Amt, hier ist jemand auf der Straße krank.‘ Hat sich das Erscheinungsbild des Bereichs nicht gewandelt? Es hat sich in diesem Bereich schon geändert! Das Aussehen dieser Gegend hat sich schon gewandelt! Wenn du [den Raum] besetzt, beginnt die Revitalisierung automatisch; sie wird dadurch ausgelöst.“132
Die ACH ist bereits aufgrund ihrer Grundkonzeption und durch die Anlehnung an die BIDs in Nordamerika stark an den Interessen der Geschäftstreibenden und unternehmen im Zentrum orientiert. Die Aktivitäten dienen überwiegend der Verschönerung und Attraktivitätssteigerung. Mit Blick auf benachteiligte Bevölkerungsgruppen im Zentrum, wie bspw. Obdachlose, vertritt die ACH die Meinung, dass ihre Anzahl im Zentrum nach Möglichkeit zu reduzieren sei. Auch wenn sie nicht unmittelbar an deren Verdrängung beteiligt ist, können die erhobenen Daten u. a. zu 131 „Esta ACH, ela foi construída – e aí você vai ver o que significa apropriar o espaço público – foi organizada pelos grandes empresários e os bancos no centro de São Paulo e escritórios de advogados do centro pra embelezar o centro de SP com apoio da prefeitura e da PM. [...] E aí nós criamos uma outra aliança, uma Aliança pela Vida. Então estamos num conflito entre esta aliança dos setores imobiliários [...] e nos, da Aliança pela Vida, no sentido de criar um confronto ali – quer dizer muitas mobilizações – para denunciar os desrespeitos aos direitos humanos da população em situação de rua e dos moradores de cortiço e dos ambulantes aqui do centro de São Paulo. [...] A Aliança pela Vida foi uma aliança conjuntural no sentido de enfrentar esta ACH que é uma aliança conservadora que depende aqui dos interesses dos setores imobiliários aqui no centro“ (Interview mit Benedito Roberto Barbosa, Koordinator der união de Movimentos por Moradia São Paulo und Anwalt, am 31.08.2009 in São Paulo). 132 „Aí começa a pressão das entidades. Pega Centro Velho, por exemplo, falando lá de um Projeto Aliança da Viva o Centro ali. Você tem gente o dia inteiro com pranchinha, apontando problema e ligando pra secretaria, ligando pelo subprefeito: ‚Ô, subprefeito, tem um buraco novo aqui.‘ ‚Ô, secretaria, tem alguém doente aqui na rua.‘ Não mudou o perfil daquela área? Já mudou perfil daquela área! Já mudou a aparência daquela região! Quando você ocupa a revitalização começa automaticamente; ela dispara a partir disso“ (Interview mit Roberto Bomfim von der Firma Neves Bomfim Administração de Imóveis (Neves Bomfim Immobilienverwaltung) am 08.09.2011 in São Paulo).
4.5 Öffentlicher Raum in São Paulo
243
Obdachlosen und Straßenhändler_innen, die auch an die GCM und die PM weitergegeben werden133, indirekt Maßnahmen der Vertreibung unterstützen. Die Caminhadas Noturnas (Abendwanderungen) gehen auf eine Initiative der Ação Local (AL) Rua Barão de Itapetininga134 zurück. Eine dort aktive Bewohnerin unterbreitete 2005 den Vorschlag dazu dem damaligen Präsidenten der AL, Carlos Beutel. Auf die Idee dazu kam sie aufgrund von ähnlichen Abendspaziergängen in europäischen Städten (ceNTro eM Foco 22, 25.10.–25.11.2005, S. 5). Die Motivation und das Ziel für diese Aktivität durch die AL wird in der Stadtteilzeitung ceNTro eM Foco beschrieben: „[Es ist] der Wunsch, den Autoritäten zu zeigen, dass Bewohner, Beschäftigte und Geschäftstreibende des Zentrums die vollständige Sanierung (recuperação) des Zentrums wollen, nicht nur, weil sie in diesem Gebiet leben und/oder durch eine im Zentrum ausgeübte Beschäftigung ihren Lebensunterhalt verdienen, sondern hauptsächlich, weil sie es lieben und respektieren“135 (ceNTro eM Foco 22, 25.10.–25.11.2005, S. 5; eigene übersetzung).
Weitere Motive und Ziele für die Veranstaltung, die Carlos Beutel anführt, sind die Idee, den Paulistanern die Möglichkeit zu eröffnen, ihre Stadt kennen zu lernen und die überlegung, zu zeigen, dass es durchaus möglich ist, abends, nach Einbruch der Dunkelheit, im Zentrum unterwegs zu sein (chizzoliNo 2013, S. 116). Seit 2005 finden die Caminhadas Noturnas fast ohne Ausnahme136 wöchentlich am Donnerstag um 20 uhr statt. Treffpunkt ist jeweils auf der Treppe vor dem Teatro Municipal und anschließend erfolgen meist unter einem Schwerpunktthema stehende, zweistündige Stadtrundgänge. Begleitet werden diese von Beginn an von Carlos Beutel und seit 2006 von dem dafür angestellten Fremdenführer Laércio Cardoso de Carvalho sowie fallweise von weiteren Fachleuten zu speziellen Themen einzelner Stadtspaziergänge. Diese Sonderthemen reichen von historischen Ereignissen (z. B. Dom Pedro I und die unabhängigkeit von Brasilien) über Gesundheitsagenden (Lärmbelastung und deren Gesundheitsrisiken), beachtenswerte Architektur (Edifício [Hochhaus] Matarazzo, Banespinha, Palácio do Anhangabaú und heute Sitz der Präfektur von São Paulo) bis hin zu sozialen Fragestellungen 133 Vgl. auch http://www.vivaocentro.org.br/not%C3%ADcias-do-centro/not%C3%ADcias/ comandante-do-poli-ciamento-do-centro-conhece-alian%C3%A7a-pelo-centro-hist%C3% B3rico.aspx, Zugriff: 29.09.2014. 134 Eine Ação Local (Lokale Aktion) ist eine Art Nachbarschaftsvereinigung von Anwohner_innen und Geschäftstreibenden eines Straßenzugs oder eines Platzes im Zentrum. Sie hat zum Ziel, Verbesserungen verschiedener Art in ihrem Aktionsradius zu erreichen, die sie entweder durch eigene Aktionen initieren kann oder bei den zuständigen Ämter und Behörden einfordern kann. Derzeit gibt es in den beiden Distrikten Sé und República 33 aktive ALs (http://www. vivaocentro.org.br/programas-e-projetos/programa-a%C3%A7%C3%B5es-locais/conhe %C3%A7a-cada-a%C3%A7%C3%A3o-local.aspx; Zugriff: 02.10.2014). Sie stehen in Verbindung mit der Associação Viva o Centro und werden von dort administrativ unterstützt. 135 „[É] o desejo de demonstrar às autoridades que moradores, trabalhadores e comerciantes da região central querem a recuperação completa do Centro, não apenas porque vivem e / ou tiram o seu sustento de alguma atividade desenvolvida na área central, mas principalmente porque a amam e respeitam.“ 136 Zu Beginn (2005 / 2006) gab es eine dreimonatige unterbrechung (ceNTro eM Foco 27, 25.03.– 25.04.2006, S. 3).
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4 Fallstudie São Paulo
(Cooper Glicério der Recyclingmaterialsammler_innen) (http://www. caminhadanoturna.com.br/programacao.htm; Zugriff: 02.10.2014). Die Teilnahme für Interessierte ist kostenlos; deren Zahl beträgt laut Homepage zwischen 50 und 100 Personen pro Abendspaziergang (http://www.caminhadanoturna. com.br/ caminhada.htm; Zugriff: 02.10.2014), bei Regen zwischen 15 und 20 und in Ausnahmefällen bei der Teilnahme von größeren Gruppen 200 (chizzoliNo 2013, S. 119). Diese Zahlen entsprechen den Einschätzungen, die während der teilnehmenden Beobachtung v. a. im Jahr 2011 gewonnen werden konnten. Ferner ließ sich in den Jahren 2009, 2010 und 2011 eine konstante Zunahme der Teilnehmer_innenzahl feststellen. unter den Teilnehmer_innen befinden sich solche, die (fast) jede Woche, solche, die sporadisch teilnehmen und diejenigen, die einmalig dabei sind. Der überwiegende Teil sind Bewohner_innen São Paulos, wobei es auch immer wieder brasilianische und ausländische Tourist_innen unter den Teilnehmenden gibt. Bei kurzen Pausen werden an kulturell und / oder touristisch interessanten Orten Erläuterungen zu diesen gegeben (vgl. Abb. 32 im Farbteil). Dabei werden zur besseren Verständlichkeit der Ausführungen ein kleiner Verstärker und eine schnurloses Mikrofon benutzt. Alle anfallenden Kosten werden seit Bestehen der Caminhada Noturna überwiegend vom vegetarischen Restaurant „Apfel“ getragen, dessen Inhaber Carlos Beutel ist. Der räumliche Radius, den die unterschiedlichen Abendwanderungen abdecken, erstreckt sich überwiegend auf die beiden Distrikte Sé und República, wobei im Distrikt Sé hauptsächlich das Triângulo Histórico im Zentrum des Interesses steht. Allgemein hat sich der Aktionsradius zwischen den teilnehmenden Beobachtungen in den Jahren 2009, 2010 und 2011 und denen von chizzoliNo (2013, s. 118) in den Jahren 2012 und 2013137 geringfügig verkleinert. Während der Abendwanderungen durch das Zentrum sind die Wortbeiträge relativ klar verteilt. Carlos Beutel widmet sich meist „seinem“ Thema: die Bedeutung des Zentrums im Allgemeinen und seine Instandsetzung und Erneuerung im Besonderen; Laércio Cardoso de Carvalho beschäftigt sich in seinen Ausführungen überwiegend mit den geschichtlichen und touristischen Aspekten der jeweiligen Orte; die vortragenden Gäste behandeln schließlich die Themen, zu denen sie aufgrund ihrer entsprechenden Kenntnisse eingeladen wurden.138 Die Beiträge von Carlos Beutel erklären sich aus der Ausgangsmotivation der Caminhadas und seiner persönlichen Motivation, die er einmal in einem Beitrag für das Portal do Voluntário wie folgt zusammengefasst hat: „Für mich ist es inakzeptabel, dass ein Bürger sich nicht für seine Nachbarschaft verantwortlich fühlt und sich dort nicht engagiert. Dass ein Mensch fähig ist, ein Straßenkind oder einen bettelnden, schutzlosen Obdachlosen zu sehen und sich nicht darum kümmert. Wir alle, die wir in Gemeinschaft leben, haben Verantwortung für das, was im Land, in unserer Stadt, in unserer Straße passiert. Deshalb engagiere ich mich, als Dienstleister, im Kampf für die Sanierung 137 Lediglich eine Abendwanderung ging in diesem Zeitraum deutlich über den üblichen Radius hinaus (chizzoliNi 2013, S. 118). 138 Die folgenden Ausführungen basieren auf Aufnahmen von Beiträgen während zweier Abendwanderungen am 01.10.2009 und am 22.09.2011 sowie auf schriftliche Aufzeichnungen zur Caminhada Norturna am 27.08.2009.
4.5 Öffentlicher Raum in São Paulo
245
(recuperação) des Zentrums in jeder Hinsicht: architektonisch, historisch, visuell und vor allem menschlich“139 (carlos beuTel, ca. 2006).
Seine Beiträge sind vor diesem Hintergrund oft ein Plädoyer für das Zentrum und dessen Sanierung. Er betont mit Blick auf das Zentrum dessen Einmaligkeit und macht dies an Beispielen der jeweils während der entsprechenden Wanderung behandelten Themen fest (z. B. Brücken im Zentrum, die unersetzlich für die Vorstellungswelt vom Zentrum seien). Außerdem betont er die Bedeutung des öffentlichen Raums als denjenigen Ort, an dem die städtische Geselligkeit (sociabildade urbana) stattfinden kann. Wichtig sei allgemein an das Zentrum zu glauben. Angesichts dieser Bedeutungen des Zentrums erwähnt er an verschiedenen Standorten zum einen immer wieder Maßnahmen, die zu einer Sanierung des Zentrums beigetragen haben. Dazu zählt er die Rückkehr der Präfektur und vieler Ämter ins Zentrum ebenso wie die Sanierung und Wiederinbetriebnahme des Hotels Jaraguá. Für ihn sind das Indizien, dass es sich lohnt in das Zentrum zu investieren. Ein weiteres positives Beispiel der Erneuerung, das er anführt, ist die Galeria do Rock140, die vor der übernahme durch ein neues Management ein gefährlicher Ort gewesen sei, den die Polizei nicht betreten hätte, und der sich mit der Zeit in eine nationale Ikone im Bereich des Handels mit Produkten der Jugendkulturen gewandelt habe. Ebenfalls grundsätzlich positiv sieht er die Verbesserungen und die Attraktivitätssteigerungen im und um das Edifício Copan des Architekten Oscar Niermeyer, nicht allerdings ohne die extremen Preissteigerungen bei den Wohnungen kritisch zu erwähnen und als „perverse Effekte der Aufwertung des Zentrums“141 zu benennen. Die umgestaltung des Vale do Anhangabaú zu einer parkähnlichen Fläche und die untertunnelung des Verkehrs in diesem Bereich habe ebenfalls einen positiven Effekt für das Zentrum gehabt. Zum anderen führt er aber auch immer wieder aus, welche Probleme er im Zentrum sieht oder sah. Die Degradierung des öffentlichen Raums im Zentrum führt er unmittelbar auf dessen missbräuchliche Nutzung durch den informellen Straßenhandel zurück. Bei den Straßenhändler_innen handele es sich nicht um bedauernswerte Personen, sondern um solche, die vom internationalen Schmuggel manipuliert seien. Ferner sei das Ausmaß der Fußgängerzonen kritisch zu sehen, da 139 „Para mim é inaceitável que um cidadão não se responsabilize e não se envolva com a sua comunidade. Que um ser humano seja capaz de ver uma criança na rua ou um morador de rua em estado de mendicância e abandono e não se importe. Todos nós, por vivermos em sociedade, temos responsabilidade pelo que acontece no país, na nossa cidade, na nossa rua. Por isso, como prestador de serviços, eu me engajei na luta pela recuperação do centro, em todos os seus aspectos: arquitetônico, histórico, visual e, principalmente, humano“ (carlos beuTel, ca. 2006, in einem Text mit dem Titel: Porque sou zelador urbano voluntário do Centro de São Paulo. ursprünglich vermutlich veröffentlich auf der Plattform Portal do Voluntário; defekter Link auf der Seite https://portaldovoluntario.v2v.net/posts/1480-zeladores-urbanosvoluntarios; Zugriff: 01.10.2014). 140 Die Galeria do Rock ist eine auf mehreren Etagen angelegte Einkaufsgalerie, deren einzelne Geschäfte sich auf den Tonträgerverkauf von Rockmusik und anderen Musikstilen sowie die dazugehörigen Accessoires v. a. für eine junge Kundschaft spezialisiert haben. 141 „Efeito perverso da valorização do Centro“ (Carlos Beutel während der Abendwanderung am 22.09.2011)
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4 Fallstudie São Paulo
der Individualverkehr so in starkem Maße eingeschränkt sei. Aus diesem Grunde sei basierend auf einer Studie der universität Belas Artes die Rua 23 de Maio teilweise wieder für den Verkehr geöffnet worden. Der Fremdenführer Laércio Cardoso de Carvalho ist für die touristischen, kulturellen und historischen Beiträge während der Abendwanderungen zuständig. Dabei kann es um so verschiedene Themen wie die Bedeutung und die Geschichte(n) der Brücken im Zentrum gehen, um das Leben der Marquesa de Santos, deren Stadthaus im Zentrum bis heute existiert und einen Teil des Stadtmuseums beherbergt, oder die (ehemaligen) Kinos im danach benannten Stadtgebiet Cinelândia und das Leben der Oberschicht im Neuen Zentrum in der Rua Barão de Itapetininga in den 1950er Jahren. Die eingeladenen Expert_innen liefern Informationen zu verschiedenen Sachverhalten, die oft anlass- oder zeitgebunden ausgewählt werden. So wurden am 22.09.2011 von einem Vertreter der Rede Nossa São Paulo aus Anlass des Internationalen Autofreien Tags Ausführungen zur Verkehrssituation in São Paulo gemacht. Neben diesen inhaltlichen Beiträgen gibt es auch immer Ankündigungen und Hinweise für weitere kulturelle und stadtpolitische Veranstaltungen im Zentrum und auch darüber hinaus. In den acht Jahren ihres Bestehens hat sich der Schwerpunkt der Zielsetzung der Caminhada Noturna teilweise verschoben. Anfangs stand der Einsatz für die Sanierung des Zentrums im Mittelpunkt. Dies lässt sich sowohl aus der ursprünglichen Motivation herauslesen als auch aus dem Transparent, mit dem die Gruppe bei einem der ersten Abendspaziergänge in der Zeitung ceNTro eM Foco abgebildet ist, auf dem steht: „Abendwanderung durch das Zentrum. Für die Sanierung des Zentrums. Schließ Dich uns an“142 (ceNTro eM Foco 22, 25.10.–25.11.2005, S. 5; eigene übersetzung). Dieses Transparent hat einen politischen Charakter und vermittelt den Eindruck einer politischen Kundgebung. Die in jüngerer Zeit geäußerten Motivationen und Zielsetzungen stellen dagegen den touristischen und kulturellen Aspekt in den Vordergrund. Zum Tragen kommt das auch in der Beschreibung auf der Homepage unter dem Titel „Abendwanderung durch das Zentrum. Historische und kulturelle Führungen im Zentrum von São Paulo. Historische Fakten über Architektur, Skulpturen, Museen, Plätze, Galerien, Bars und Restaurants und vieles mehr.“143 Trotz dieser Verschiebung des Schwerpunkts bildet dennoch das Engagement im und für das Zentrum eine zentrale Motivation des Initiators der Caminhadas Noturnas. Die Diskurse, die in den jeweiligen Beiträgen zum Ausdruck kommen, sind dabei allerdings auch von Widersprüchen gekennzeichnet. So kommt einerseits in der Aussage, sich für die „menschliche Instandsetzung“ des Zentrums einsetzen zu wollen, der soziale Impetus zum Ausdruck, der aber im Fall der Straßenhändler_innen durch den Kriminalisierungsdiskurs überlagert wird. Investitionen im Zentrum werden einmal als lohnend beschrieben, um in einem anderen Fall die mit der Aufwertung verbundenen Preissteigerungen bei Eigentumswohnungen zu kritisieren. Ebenfalls nicht stringent ist die Argumentation im Fall des KFZ-gebundenen Indi142 „Caminhada Noturna pelo Centro. Pela Recuperação do Centro. Junte-se a nós“ 143 „Caminhada Noturna pelo Centro. Roteiro Histórico e Cultural do Centro de São Paulo. Fatos históricos sobre Arquitetura, Esculturas, Museus, Praças, Galerias, Bares e Restaurantes e muito mais“ (http://www.caminhadanoturna.com.br/caminhada.htm; Zugriff: 03.10.2014.).
4.5 Öffentlicher Raum in São Paulo
247
vidualverkehrs, dessen Verdrängung durch die Vielzahl von Fußgängerzonen einerseits Kritik hervorruft, andererseits aber im Fall des verkehrsberuhigten Vale do Anhangabaú gutgeheißen wird. In diesen teilweise widersprüchlichen Einschätzungen und Vorstellungen kommt die Vielschichtigkeit der Thematik der Innenstadterneuerung zum Ausdruck, die auch jeweils stark von den individuellen Interessen geprägt wird. Die Abendspaziergänge selbst bedeuten für viele der Teilnehmer_innen eine Aneignung des (meist) öffentlichen Stadtraums, den viele von ihnen entweder grundsätzlich wenig und / oder hauptsächlich nach Einbruch der Dunkelheit nicht kannten. In diesem Sinne ist es eine Aneignung einer umwelt die (teilweise) entfremdet war. Im Schutz der Gruppe ist es – im Sinne von choMbarT de lauWe (vgl. Kap. 2.2.3) – möglich, sich zu ungewohnten Zeiten mit ungewöhnlichen Zielsetzungen im Stadtzentrum bewegen zu können, ihn zu betrachten und zu bewundern und ihn so vorübergehend zu besitzen. ungewöhnlich sind die Motivation und die umsetzung deshalb, weil dieses interessierte Betrachten des gebauten Raums nicht zu den alltäglichen Nutzungen im Zentrum zählt. Alltägliche Nutzungen sind vielmehr das schnelle Passieren, um von einem bestimmten Ort zu einem anderen zu gelangen, oder der Einkauf in einem der zahlreichen Geschäfte. Die selten über längere Zeit stationäre Aneignung einerseits und die wechselnden Personen dabei andererseits tragen dazu bei, dass es zu keiner privatisierenden Aneignung kommt. Auch wenn die Gruppe durch die gemeinsame Motivation, etwas über das Zentrum erfahren zu wollen und sich für dieses zu interessieren, in sich bis zu einem gewissen Grad homogen ist, haben Außenstehende bzw. Nicht-Teilnehmende auch die Möglichkeit sich interessiert zu zeigen und sich (vorübergehend) anzuschließen. Bei denjenigen, die diese Möglichkeit wahrnehmen, handelt es sich aufgrund der Bevölkerungsstruktur im öffentlichen Raum nach Einbruch der Dunkelheit oft um Obdachlose. Dies führt bei den Teilnehmenden gelegentlich zu Verunsicherungen diesen in verschiedener Hinsicht Fremden gegenüber und eröffnet gleichzeitig die Möglichkeit, diese unbekannten – innerhalb des Spannungsverhältnisses zwischen Nähe und Distanz – kennenzulernen. Begünstigend für die Form der Aneignung durch die Caminhadas ist der diskursive Hintergrund. Dadurch, dass die Caminhadas Noturnas als Beitrag zur Innenstadterneuerung verstanden werden, ist die Aneignung nicht dem hegemonialen Diskurs entgegengesetzt. Daher rührt eine Toleranz geringfügigen Grenzüberschreitungen gegenüber, die dazu beiträgt, dass Belästigungen beispielsweise durch den Verstärker ggf. nicht geahndet werden. Demgegenüber werden ähnliche Lärmbelästigungen durch Nutzungen, die den hegemonialen Interessen entgegenstehen, u. u. eher missbilligt und / oder sanktioniert. Die Caminhadas sind deshalb einerseits Raumaneignungen, die das Zusammentreffen und den Dialog und außerdem die Erschließung von Räumen ermöglichen, die vielen unbekannt (geworden) sind. Andererseits resultiert diese Aneignung aus einer Position der Stärke heraus, die aus der damit verbundenen Replizierung des hegemonialen Diskurses der Notwendigkeit der Innenstadterneuerung resultiert. Eine weitere Möglichkeit, mit der versucht wird, das Zentrum (meist) außerhalb der Geschäftszeiten für größere bzw. neue Bevölkerungskreise attraktiv zu machen, sind diverse Arten von Kulturveranstaltungen im öffentlichen Raum
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4 Fallstudie São Paulo
(vgl. Tab. 6). Die mit Blick auf die Zahlen der Einzelveranstaltungen und der Zuschauer größte Veranstaltung, die überwiegend im Zentrum und dort auf öffentlichen Plätzen stattfindet, ist die „Virada Cultural“ („Kulturelle Wende“). Die Großveranstaltung, die die „Nuits Blanches“ („Weiße Nächte“) in Paris zum Vorbild hat, wird seit 2005 jeweils in der ersten Jahreshälfte an einem Wochenende als „Kulturmarathon“ durchgehend von Samstagabend bis Sonntagabend durchgeführt und ist für die Besucher_innen – wie alle im Folgenden beschriebenen Kulturdarbietungen – kostenlos. Organisiert wird sie vom städtischen Kulturamt in Zusammenarbeit mit dem SESC (Serviço Social do Comércio; Sozialer Dienst des Handels144) und dem bundesstaatlichen Kulturamt. Das Programm, das sich größtenteils auf extra dafür aufgebauten Bühnen und unter freiem Himmel abspielt, besteht aus Musikprogrammen verschiedener Stile als Hauptattraktionen und Darbietungen vieler anderer kultureller Bereiche (chizzoliNi 2013, S. 102). Die Zahl der Besucher_innen beträgt pro „Virada“ zwischen geschätzten 1,5 Millionen (2006; http:// viradacultural.prefeitura.sp.gov.br/2014/10-anos/#; Zugriff: 04.10.2014) und 4 Millionen (2011 u. 2012; obserVaTório do TurisMo da cidade de são Paulo 2011 & 2012). Der überwiegende Teil dieser Besucher_innen stammt aus São Paulo selbst oder aus der Metropolitanregion. Das Ziel der Virada Cultural wird auf der Homepage wie folgt beschrieben: „Die Virada Cultural versucht besonders das Zusammenleben im öffentlichen Raum zu fördern, indem sie die Bevölkerung einlädt, sich das Zentrum der Stadt mit Kunst, Musik, Tanz und Laiendarstellungen anzueignen“145 (http://viradacultural.prefeitura.sp.gov.br/2014/a-virada/#; Zugriff: 04.10.2014; eigene übersetzung).
Wie wichtig das Zusammenkommen im Zentrum bei der Virada Cultural eingeschätzt wird, kommt auch in einem journalistischen Beitrag zur Veranstaltung 2011 zum Ausdruck: „Aber was wirklich wichtig erscheint, ist nicht die Qualität der Spektakel, denn dies scheint nicht das hauptsächliche Ziel der Leute zu sein, um den Wohnungen und alltäglichen Gewohnheiten zu entfliehen und sich auf den Straßen zusammenzufinden. […] Ein Spaziergang bei Nacht durch das schöne Zentrum von São Paulo, ohne Angst und Sorge, ist eine inspirierende Erfahrung, die uns der Möglichkeit einer wirklichen Rückeroberung [sic!] der Straßen des Zentrums näher bringt. Die Bündelung der kulturellen Aktivitäten und ein höherer Anteil von Bewohnern im zentralen Bereich sind fundamental, um das Zentrum während der Nacht zu beleben und so heute verlassenen und gefährlichen Orten mehr Sicherheit zu geben“146 (ViTruVius arquiTeTurisMo 2011; eigene übersetzung).
144 Kultur-, Sozial-, Bildungs- und Freizeiteinrichtung der Vereinigung der brasilianischen Handelsunternehmen für deren Mitarbeiter und die Gesellschaft im Allgemeinen. 145 „A Virada Cultural busca, antes de tudo, promover a convivência em espaço público, convidando a população a se apropriar do Centro da cidade por meio da arte, da música, da dança, das manifestações populares.“ 146 „Mas o que parece realmente importante não é a qualidade dos espetáculos, pois parece que esta não é o motivo maior das pessoas saírem de suas casas e fugirem dos seus hábitos cotidianos para se aglomerarem nas ruas. [...] Passear a noite pelo belo centro de São Paulo, sem medos ou receios, é uma sensação inspiradora, que nos coloca diante de uma possibilidade concreta de reconquista das ruas e do centro. „A concentração de atividades culturais e um maior
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4.5 Öffentlicher Raum in São Paulo
Tab. 6: Übersicht über die Kulturveranstaltungen im Zentrum (eigene Erhebungen und Zusammenstellung)
Kulturveranstaltung
Veranstalter
Angebot
Veranstaltungsort
Wiederholungsrhythmus
Anzahl der Zuschauer_innen (pro Einzelveranstaltung)
Weitergehendes Anliegen / zusätzlicher Effekt
Virada Cultural
Kulturamt der Stadt São Paulo
breites Musikangebot und weitere kulturelle Veranstaltungen
Extra aufgebaute bühnen im gesamten Zentrum
jährlich (seit 2005)
ca. 1,5 Mio. (2006) – 4 Mio. (2012) (Gesamtzuschauerzahl)
Zusammenleben im öffentlichen Raum zu fördern
Gesamte Stadt (im Zentrum: Vale do anhangabaú)
jährlich (seit 2007)
-
-
Praça Dom José Gaspar, Distrikt República
14-täglich (2006–2012)
ca. 65
Praça do Patriarca, Distrikt Sé
jährlich ca. 5 x 2 Veranstaltungen (2 Turnusse 2009 und 2010)
ca. 40
attraktivitätssteigerung für die benachbarten bars und restaurants
jährlich
zwischen ca. 15 und 35; Kino: ca. 60
Virada Esportiva
Sportamt der Stadt São Paulo
Trend-/Extremsportarten (im Zentrum)
Piano na Praça
Kulturamt der Stadt São Paulo
Klaviermusik unterschiedlicher genres
No Centro da Arte
Kulturzentrum Tanz, Theater, der banco do akrobatik und Brasil (CCBB) Musik
Ocupação Cultural
kulturunternehmer Fábio Ávila
Tanz, Musik, Theater und kino
Ausgewählte Plätze im Triângulo Histótrico
Pauliceia Sonora
SESC
Instrumentalmusik verschiedener genres
Praça Antonio monatlich Prado, Distrikt (seit 2009) Sé
(jährlicher Turnus vorgesehen)
ca. 30
kulturelle Aneignung des Zentrums
besuch des Zentrums durch die paulistanos;
Öffentlicher Raum als Ort des Zusammenlebens
Nutzung – und Besetzung – des öffentlichen Raums im Zentrum
-
In beiden Äußerungen kommen vermeintlich hegemoniale Diskurse zur Revitalisierung zum Tragen. Allerdings wird diese Großveranstaltung nicht von allen, die diesem Diskurs erwartungsgemäß folgen würden, gutgeheißen. chizzoliNi (2013, S. 102 ff.) beschreibt zwei Treffen zwischen Verantwortlichen und Anwohner_innen und Geschäftstreibenden im Zentrum vor und nach der Virada Cultural 2012. Der Vertreter der AVC, Marco Antonio Ramos de Almeida, ist der Ansicht, dass es sinnvoll sei, die Virada Cultural zu dezentralisieren und beispielsweise große und laute Konzerte, die viel Besucher_innen anziehen, außerhalb des Zentrums zu veranstalten.
contingente de moradores na área central são fundamentais para animar o centro durante a noite, dando mais segurança a diversos logradouros hoje abandonados e perigosos.“
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4 Fallstudie São Paulo „‚Die ganze Stadt als Fest‘, sagt er, ‚Menschenmassen im Zentrum, aber verteilt und nicht konzentriert.‘ Es ist notwendig ‚aus dem Zentrum ein Museum unter freiem Himmel zu machen‘. […] Marco Antonio schien […] hauptsächlich einem Wunsch Ausdruck zu verleihen, wonach das Zentrum in einer ruhigen, disziplinierten und kontemplativen Art zu nutzen wäre – ein bei Museumsbesuchen erwartetes Verhalten“147 (chizzoliNi 2013, S. 106; eigene übersetzung).
Die Ablehnung der Konzertgroßereignisse148, die von breiten Bevölkerungskreisen aller sozialer Schichten besucht werden, einerseits und das Propagieren „musealer“ Veranstaltungen (in Verbindung mit dem Vorschlag, dazu Räumlichkeiten wie das Teatro Municipal und die Sala São Paulo zu nutzen), die mutmaßlich tendenziell eher von sozioökonomisch bessergestellten Bevölkerungsschichten besucht werden, andererseits, lässt zwei Interpretationen zu. In der Vergangenheit mieden diejenigen, die es sich leisten konnten, den öffentlichen Raum der Stadt für Freizeitaktivitäten und missbilligten andererseits dessen Nutzung mit Musik und Tanz durch die sozioökonomisch benachteiligten Bevölkerungsschichten (vgl. Kap. 4.5.1). Dieses Muster scheint sich in den oben wiedergegebenen Äußerungen zu reproduzieren. Gleichzeitig wird damit indirekt zum Ausdruck gebracht, welche Bevölkerungsschichten im Zentrum zumindest vonseiten der AVC zur Wunschklientel gehören und wie diese das Zentrum und seinen öffentlichen Raum zu nutzen haben. In der Art der „Virada Cultural“ verläuft die „Virada Esportiva“ („Sportliche Wendung“), die seit 2007 jährlich in der ganzen Stadt stattfindet und die vom Sportamt der Stadt São Paulo ausgerichtet wird. Die Aktivitäten im Zentrum konzentrieren sich meist auf das Vale do Anhangabaú, wo für verschiedene sportliche Aktivitäten hauptsächlich aus dem Trend- / Extremsportbereich (esportes radicais) mehrere Stationen aufgebaut sind. Bei der Virada Esportiva im September 2011 gab es dort eine Halfpipe für Skater, eine Kletterwand, ein Bungee-Trampolin, aufblasbare Spielfelder für Fußball und Volleyball, Slacklines, einen Skaterparcours und ein mechanisches Surfbrett. Die einzelnen Stationen waren am Nachmittag gut frequentiert. Die Stimmung war ausgelassen und entspannt. Für die Aktivitäten oder zum Ausruhen konnten auch Flächen genutzt werden, deren Inanspruchnahme an gewöhnlichen Tagen nicht gestattet ist. So waren auf einem Teil der zentralen Grünfläche die Slacklines gespannt und auf den Rasenflächen der Praça Ramos de Azevedo war es möglich, sich sitzend und liegend auszuruhen149. 147 „‚A cidade toda em festa‘, ele diz. ‚Multidão no Centro, mas dispersa, e não concentrada.‘ É preciso ‚fazer do Centro um museu a céu aberto‘. [...] Marco Antonio parecia demonstrar [...], sobretudo, um desejo de que o Centro fosse usado de maneira calma, disciplinada e contemplativa – comportamento esperado de visitação de museus.“ 148 Diese Ablehnung kommt allgemein auch im Interview mit Marco Antonio Ramos de Almeida zum Ausdruck. Dabei nimmt er allgemein Bezug auf Großveranstaltungen, die für die ausrichtende Institution zwar mitunter ein Erfolg seien, aber bei einem ganzheitlichen Blick mehr Degradierung und Zerstörung für das Zentrum bedeuten würden. (Interview mit Marco Antonio Ramos de Almeida, leitender Direktor der Associação Viva o Centro, am 03.08.2010 in São Paulo). Obwohl er die angesprochene „Schneise der Zerstörung“ („rasgo de destruição“), die eine Show nach sich ziehen kann, nicht weiter spezifiziert, lässt diese Formulierung zunächst auf vermeintliche physische Beschädigungen im öffentlichen Raum schließen. Diese werden aber beispielsweise von den Teilnehmer_innen der Veranstaltung zur Evaluation der Virada Cultural 2012 mitnichten problematisiert (vgl. chizzoliNi 2013, S. 102 ff.) 149 Beobachtung bei der „Virada Esportiva“ am Samstag, den 17.09.2011, in São Paulo.
4.5 Öffentlicher Raum in São Paulo
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Neben den (kulturellen) Großveranstaltungen gibt es eine Reihe weiterer kultureller Aktivitäten kleinerer Dimension, die ebenfalls den öffentlichen Raum zur Bühne machen. Dazu zählt die Veranstaltungsreihe „Piano na Praça“ („Klavier am Platz“), die 14-täglich auf der Praça Dom José Gaspar stattfand150. nach ihrer erstmaligen Durchführung im Rahmen der zweiten Virada Cultural 2006 entwickelten sich die Platzkonzerte zu einer regelmäßigen Form der unterhaltung am Samstagnachmittag. Veranstaltet wurden sie vom munizipalen Kulturamt (https:// catracalivre.com.br/sp/lugares/praca-dom-jose-gaspar-piano-na-praca/, Zugriff: 05.10.2014). Die Darbietungen umfassten sowohl klassische als auch populäre Klaviermusik mit und ohne Gesang. Für die Konzerte wurde der Platz um die leicht erhöhte Bühne herum mit weißen und farbigen „Segeln“ als eine Art Konzertmuschel gestaltet. Die Bestuhlung für die Zuschauer_innen bestand aus ca. 140 Monobloc-Kunstoffstühlen (vgl. Abb. 33 im Farbteil). Während eines Konzerts im September 2009 waren ca. 65 Zuhörer_innen anwesend151. Ferner bestand auch für die Gäste dreier benachbarter Bars / Restaurants mit Außenbestuhlung am Rand des Platzes aufgrund der räumlichen Nähe die Möglichkeit des Zuhörens. Teilweise wurde die Bestuhlung der umliegenden Gastronomie auch in unmittelbare Nähe zur Bühne positioniert, um ein besseres Zuhören zu ermöglichen. Angesichts dessen ist davon auszugehen, dass die Konzerte auch zu einer Attraktivitätssteigerung der benachbarten Restaurants beigetragen haben. Ergänzend gibt es auch privat organisierte Kulturveranstaltungen. Zwischen 2009 und 2010 gab es zwei Auflagen der Reihe „No Centro da Arte“ („Im Zentrum der Kunst“), die vom Paulistaner Kulturzentrum der Banco do Brasil (CCBB), das im Triângulo Histórico seinen Sitz hat, veranstaltet wurden. Neben dem Vorsatz, die Kunst näher zum Publikum zu bringen und deshalb das Gebäude des CCBB zu verlassen, wird im Ankündigungsflyer explizit auch die Bedeutung der Veranstaltungsreihe für die beabsichtigte Annäherung des Publikums an den öffentlichen Raum betont: „Neben der Stimulierung von Produktion und Realisierung von Spektakeln ‚von der Straße‘ und ‚auf der Straße‘ lädt die Veranstaltung die Bevölkerung dazu ein, das Zentrum der Stadt zu besuchen und hauptsächlich einen neuen Blick auf den öffentlichen Raum zu werfen, der oft nur als Durchgangsort, der wenig einladend für das Zusammenleben ist, betrachtet und empfunden wird“152 (Ankündigungsflugblatt zur Reihe No Centro da Arte im Jahr 2009; eigene übersetzung).
Jeweils an zwei Tagen (entweder Donnerstag und Freitag oder Freitag und Samstag) fanden entweder um die Mittagszeit (12:30 uhr) oder kurz nach Einbruch der 150 Eine Internetrecherche erbrachte, dass es nach Dezember 2012 (https://catracalivre.com.br/sp/ arlivre/barato/guilherme-arantes-encerra-piano-na-praca-2012/; Zugriff: 05.10.2014) – mit Ausnahme der einmaligen Veranstaltung im Rahmen der „Virada Cultural“ 2013 – keine weiteren regelmäßigen Ankündigungen für diese Veranstaltungsreihe gab. 151 Beobachtung bei einem Konzert der Reihe „Piano na Praça“ am Samstag, den 12.09.2009, in São Paulo. 152 „O evento, além de estimular a produção e a realização de espetáculos ‚de rua‘ e ‚na rua‘, convida a população a visitar o centro da cidade e, principalmente, a desenvolver um novo olhar sobre o espaço público – este visto e sentido, muitas vezes, apenas como um local de passagem não convidativo à socialização.“
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4 Fallstudie São Paulo
Dunkelheit (18:00 uhr) in beiden Jahren jeweils sechs verschiedene Veranstaltungen in den Bereichen Tanz, Theater, Akrobatik und Musik auf der Praça do Patriarca statt.153 Die meisten Gruppen führten ihre Darbietungen in einem großen, an drei Seiten offenen Zelt auf, das zur Hälfte die Bühne und teilweise aufwändige Bühnentechnik beinhaltete und im übrigen Teil sowie etwas darüber hinaus für ca. 70 Zuschauer_innen aufgestuhlt war. Eingezäunt war das ganze Ensemble mit ineinander gehakten Absperrgittern, die an ein oder zwei Stellen für Eingänge geöffnet blieben. Während der Abendveranstaltung waren permanent zwei Fahrzeuge der GCM mit je zwei Stadtpolizisten vor Ort. Bei den anderen beiden Veranstaltungen war jeweils privates Sicherheitspersonal anwesend, das teilweise an den Eingängen am Absperrgitter postiert war. Die erste beobachtete Veranstaltung fand spektakulär an einer Häuserfassade an der Praça do Patriarca statt. Es handelte sich um eine tanzakrobatische Darbietung, bei der die Tänzer_innen an Seilen gesichert an und auf der Fassade tanzten. Die beiden anderen Veranstaltungen waren jeweils Tanzund Akrobatik-Performances auf der Zeltbühne. Die Zuschauerzahl lag bei der Abendveranstaltung bei geschätzten 70 Besucher_innen und bei der Zeltveranstaltung 2009 bei grob gezählten 40–50 und bei der 2010 bei ca. 30–40. Bemerkenswert ist bei den beiden letzten Veranstaltungen die Zahl der „Zaungäste“, die die Darbietungen jeweils von außerhalb des mit den Absperrgittern eingefassten Raums verfolgten (vgl. Abb. 34 im Farbteil). Bei der Veranstaltung im Jahr 2010 betrug deren Zahl ebenfalls grob gezählt um die 40 Personen und verdoppelte so die Zuschauerzahl. Diese Tatsache lässt sich auf zweierlei Weise interpretieren. Zum einen ist es im Zentrum üblich, bei Straßenkünstlern im Vorbeigehen mehr oder weniger lange – in Abhängigkeit des Interesses und der Zeit des jeweils Zuschauenden – stehen zu bleiben. Da immer dann, wenn das Programm spektakulär und so Aufmerksamkeit erregend war, mehr Personen zum Zuschauen innehielten, mag dies ein Grund gewesen sein, weshalb ein großer Teil der Zuschauer_innen Zaungäste blieben. Ein weiteres Motiv kann jedoch auch darin begründet liegen, dass für einige, v. a. sozioökonomisch benachteiligte Besucher_innen, trotz der vermeintlichen Offenheit, die Hürden des Absperrgitters und des Wachdienstes abweisend wirkten. Hintergrund dieser überlegung sind Aussagen von Vertreter_innen von sozialen Bewegungen und NGOs, wonach diese Bevölkerungsgruppen sich von theoretisch für alle zugänglichen kulturellen Räumen (Museen, Kulturzentren) nicht angezogen, sondern im Gegenteil u. a. wegen des Sicherheitspersonals eingeschüchtert fühlen.154 Eine weitere Veranstaltung war die dezentral an verschiedenen Standorten im Triângulo Histórico stattfindende „Ocupação Cultural“ („Kulturelle Besetzung“). Hauptsächlich von dem Kulturunternehmer Fábio Ávila vorbereitet und organisiert, 153 Drei Veranstaltungen der Reihe wurden 2009 und 2010 im Rahmen der Feldforschung beobachtet: Samstag, 15.08.2009, 18:00 uhr; Samstag, 05.09.2009 und Samstag, 17.07.2010, jeweils 12:30 uhr. 154 Interview mit Benedito Roberto Barbosa, Koordinator der união de Movimentos por MoradiaSão Paulo und Anwalt, am 31.08.2009 in São Paulo und Interview mit Rene I. Goncalves (& Fabiana A. Rodrigues) vom Centro Gaspar Garcia de Direitos Humanos, am 02.09.2009 in São Paulo.
4.5 Öffentlicher Raum in São Paulo
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stellte dieser die Idee und das Konzept der ersten Ausgabe 2009 im noblen gesellschaftlichen Sitz des Paulistaner Jockey Clubs im Zentrum in Anwesenheit des Leiters des Amts zur Koordination der Subpräfekturen und des Subpräfekten der Subpräfektur Sé und weiterer geladener Gäste vor. Auch hier spielt die Nutzung – und Besetzung – des öffentlichen Raums als explizit geäußerte und damit zentral zugrundeliegende Idee eine wichtige Rolle. Das Konzept sieht kulturelle Veranstaltungen auf Bühnen auf verschiedenen Plätzen des historischen Zentrums vor. Es sollen unterschiedliche Bereiche wie Tanz und Musik abgedeckt werden, wobei im Fall der Musik der Schwerpunkt eher auf klassische, ruhigere Darbietungen gelegt wird. Es wird ferner der Wille zur sozialen Inklusion zum Ausdruck gebracht und das Programm und der Ablauf sollen so angemessen wie möglich für alle Zuschauer_innen sein.155 Die dezentrale Kulturveranstaltung an sich fand an einem Wochenende Ende August 2009 statt.156 Dazu waren an verschiedenen Plätzen kleine Bühnen o. ä. für unterschiedliche Darbietungen aus den Bereichen Tanz, Musik, Theater und Kino aufgebaut. Ferner war die bildende Kunst mit einer Ausstellung in der Krypta des Patio do Colegio und einer Graffiti-Performance vertreten. Für das Publikum waren – mit Ausnahme des Open-Air-Kinos – keine Sitzgelegenheiten vorgesehen. Am Samstag fanden auf den Bühnen wechselnde Darbietungen statt bzw. sollten verschiedene Aufführungen stattfinden. Die Vorstellungen auf der Musikbühne am Largo São Bento waren bei zwei Besuchen während der beobachtenden Begehung des Zentrums mit einmal ca. 35 und einmal ca. 15 Zuschauer_innen die am meisten nachgefragten Veranstaltungen am Tag (vgl. Abb. 35 im Farbteil). Dies hing auch damit zusammen, dass bei den mehrmaligen Besuchen der anderen Bühnen im Rahmen der beobachtenden Begehung dort jeweils weder aktuell Veranstaltungen stattfanden noch solche erkennbar in Vorbereitung gewesen waren. Die Fotoausstellung und die Graffiti-Kunstperformance im und am Patio do Colegio waren beide nur mäßig besucht. Deutlich höher war die Zahl der Besucher_innen mit ca. 60 bei der abendlichen Kinovorführung auf der Praça da Sé vor der Kathedrale. Dabei war die Zahl der vermutlich obdachlosen Zuschauer_innen, die sich abends ohnehin am Platz aufhalten, vergleichsweise hoch, wohingegen Personen „von außen“ tendenziell in der Minderheit waren.157 Die in diesem Rahmen bisher nur einmalig stattgefundene Veranstaltung158 stieß – mit Ausnahme der Filmvorführung – insgesamt auf nur schwaches Zuschauerinteresse. Bemerkenswerterweise handelte es sich bei der Kinoveranstaltung offensichtlich um ein sehr 155 Teilnehmende Beobachtung an der Vorstellung der Veranstaltung im gesellschaftlichen Sitz des Paulistaner Jockey Clubs im Zentrum am 05.08.2009 in São Paulo. 156 Teilnehmende Beobachtung an der Veranstaltung Ocupação Cultural im historischen Zentrum am 29.08.2009 in São Paulo. 157 Ein Bekannter des Autors und der Autor selbst erregten diesbezüglich Aufmerksamkeit, die in der Ansprache durch den Initiator und Organisator der Ocupação Cultural mit der Frage, ob beide Portugiesisch sprächen, zum Ausdruck kam. 158 Im Jahr 2010 fand eine etwas anders geartete Veranstaltung desselben Organisators am Stadtgeburtstag statt (http://ocupacaocultural.com.br/; Zugriff: 06.10.2014) und für 2012 wurde eine weitere Veranstaltungsreihe im munizipalen Tourismusausschuss angekündigt (http://www.spturis.com/comtur/arquivos/ata178.pdf; Zugriff: 04.10.2014). Informationen zu deren Durchführung und aktuellere Informationen lassen sich mit einer Internetrecherche aber nicht finden.
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4 Fallstudie São Paulo
niederschwelliges Kulturangebot, so dass die Obdachlosen keine Restriktionen wahrnahmen, die sie an einer Teilnahme hinderten. Für viele von ihnen war es vielleicht der erste „Kinobesuch“ seit langem oder sogar der erste überhaupt. Inwieweit dies eine Intention des Veranstalters war, bleibt allerdings fraglich. Neben den bisher beschriebenen Kulturveranstaltungen, die fast ausschließlich am Wochenende stattfinden, gibt es eine Musikreihe, die sich zeitlich davon unterscheidet, da ihre Veranstaltungen immer einmal im Monat mittwochs Mittag auf der Praça Antonio Prado dargeboten werden (vgl. Abb. 36 im Farbteil). Die Reihe „Pauliceia Sonora“ wird seit 2009 vom SESC veranstaltet und hat zum Ziel, die Wertschätzung von komponierenden Instrumentalmusiker_innen zu fördern. Dazu treten einmal monatlich im Musikpavillon, der sich auf dem Platz befindet, Instrumentalensembles verschiedener Musikrichtungen auf. An zusätzlicher Infrastruktur wird lediglich eine Verstärkeranlage aufgebaut. Das Angebot richtet sich an Passant_innen und Beschäftigte der Banken, Ämter, des Einzelhandels und weiterer Dienstleistungsunternehmen der umgebung, die ihre Mittagspause auf dem Platz verbringen. Im Rahmen einer Beobachtung159 hielten sich ca. 30 Zuschauer vor dem Pavillon auf, die bewusst der Musik zuhörten. Allen Kulturveranstaltungen sind einige Motive und zugrundeliegende Ideen gemein. Alle machen explizit den öffentlichen Raum des Zentrums zur Bühne und bei der Beschreibung der Zielsetzungen werden wiederholt Begriffe wie Aneignung, Besetzung und Rückeroberung des öffentlichen Raums bemüht. Diejenigen, die ihn in derlei Weise nutzen sollen, werden dagegen weniger eindeutig beschrieben. Allgemein geht es um größere und/oder neue Bevölkerungsteile, die das Zentrum (erneut) kennenlernen sollen. Es soll also auch Publikum von außerhalb des Zentrums angesprochen werden. Vor dem Hintergrund, dass zugunsten der Zentrumsentwicklung oft v. a. eine höhere Nutzungsfrequenz des öffentlichen Raums an Abenden und an Wochenenden angemahnt wird, können die Veranstaltungen als ein Beitrag zur Revitalisierung im Sinne einer Aufwertung des Zentrums verstanden werden, da ein permanent belebtes Zentrum allgemein eine Attraktivitätssteigerung bedeutet. Bemerkenswert ist dabei bei diversen der genannten Veranstaltungen der unmittelbare Bezug auf europäische Vorbilder. Wie bei baulichen Erneuerungsmaßnahmen wird somit auch im Bereich der Kultur die übertragung von Konzepten aus Städten des Globalen Nordens als eine Möglichkeit der (Innen)Stadterneuerung betrachtet. Mit Ausnahme der beiden Großveranstaltungen sind die dargebotenen Kulturprogramme im Zentrum tendenziell von gehobenerem Anspruch und / oder „gediegenerer“ Art; auf Programme, die für ein Massenpublikum tauglich sind, wird dagegen verzichtet. Sie kommen damit dem im Zusammenhang mit der „Virada Cultural“ verschiedentlich geäußerten Wunsch einer vergleichsweise geordneten und übersichtlichen Raumnutzung entgegen. Allerdings verharren gegebenenfalls aber auch deshalb die Zuschauerzahlen auf sehr niedrigem Niveau – gemessen an dem möglichen Potenzial. Viele der Initiativen verbindet außerdem ihre auf wenige Wiederholungen begrenzte Kurzlebigkeit. Den gelegentlich im Zusammen159 Beobachtung bei einem Konzert der Reihe Pauliceia Sonora am Mittwoch, den 21.09.2011, in São Paulo.
4.5 Öffentlicher Raum in São Paulo
255
hang mit den Veranstaltungen geäußerten Anspruch einer konstanten Aneignung des öffentlichen Raums können sie deshalb nicht einlösen. Die grundsätzlich als Problem wahrgenommene Gegebenheit einer extrem ungleich verteilten Tag- / Nacht- und Werktags- / Wochenendbevölkerung kann mit den Initiativen der Kulturveranstaltungen so nur temporär gemindert werden. Die Erneuerungsmaßnahmen, die im öffentlichen Raum baulich durchgeführt werden, durch institutionelle Regelungen zum Tragen kommen und mittels gezielter kultureller Nutzungen erfolgen, basieren explizit überwiegend auf internen Motivlagen (vgl. Kap. 2.1.3). Die stärkste Motivation ist der Wunsch der für die unterschiedlichen Maßnahmen Verantwortlichen, dem Zentrum eine „andere“ Lebendigkeit als die bisherige zu geben. Dazu wird es als zentral erachtet, eine Attraktivitätssteigerung für diejenigen, die das Zentrum wenig frequentieren, zu erzielen und deren Besuche nach Möglichkeit über alle Tages- und Nachtzeiten sowie an Werktagen als auch an Wochenenden zu gewährleisten. Weitere Gründe, die auch eine Rolle spielen, wie die Steigerung der Nachfrage der Wirtschaftstreibenden und des Immobiliensektors, kommen dagegen nur implizit zum Ausdruck. Gleiches gilt für externe Motive, die aber dennoch von Bedeutung sind. Dazu zählt der Tourismus, der zwar selten direkt erwähnt wird, der aber dennoch indirekt bei vielen Maßnahmen als Ziel implizit mitschwingt. Das wird beispielsweise anhand der Tourismusberichte (obserVaTório do TurisMo da cidade de são Paulo) deutlich, die detailliert jedes Jahr auch der Analyse von Veranstaltungen wie der Virada Cultural und der Virada Esportiva dienen. Neben diesen zielgruppenspezifischen Motiven spielen auch weitere, das Zentrum „an sich“ betreffende Hintergründe für die Durchführung der Erneuerungsmaßnahmen eine Rolle. Immer wieder genannt wird in diesem Zusammenhang dessen Einzigartigkeit und die historische Bedeutung, die das Zentrum für die Gesamtstadt hat. Bei den Maßnahmen zur Erreichung aller genannten Ziele wird – hauptsächlich bei einigen kulturellen Interventionen – oft explizit auf globale, meist europäische Vorbilder rekurriert. Die baulichen Interventionen im öffentlichen Raum sowie die institutionellen Regelungen werden von der öffentlichen Hand geplant und umgesetzt. Eine Bürger_innenbeteiligung ist bei den physischen Maßnahmen nicht vorgesehen gewesen und auch direkte Beteiligungen vonseiten der Privatwirtschaft war dabei – mit Ausnahme der Ausführungen – kein Thema, das Erwähnung fand. Bei den kulturellen Interventionen beschränkt sich die Zusammenarbeit auf die Förderung von privaten Kulturdarbietungen durch die öffentliche Hand bzw. das Sponsoring öffentlicher Veranstaltungen durch private unternehmen. Eine engere, auch thematische Zusammenarbeit zwischen privatem und öffentlichem Sektor gibt es im Zusammenhang mit der Aliança pelo Centro Histórico. Initiiert vonseiten der unternehmensnahen NGO Viva o Centro, gibt es Kooperationen zwischen verschiedenen Behörden der munizipalen und der bundesstaatlichen Ebene. Diese ist aber hauptsächlich auf den Informationsaustausch begrenzt, bei dem die ACH Meldungen über Missstände an die jeweils zuständige Behörde meldet. Direktes Eingreifen in den öffentlichen Raum, wie dies in BIDs üblich ist, ist der ACH aufgrund der brasilianischen Gesetzgebung allerdings nicht gestattet.
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4 Fallstudie São Paulo
Auch wenn die Maßnahmen, Regelungen und Aktionen meist (mit Ausnahme der Regelung gegen die pauschal kriminalisierten Straßenhändler_innen) entweder das Zusammenleben aller propagieren (bei den Kulturveranstaltungen) oder aber den Eindruck erwecken, sich um schwächere Gesellschaftsmitglieder zu kümmern (bei der Verordnung für Personen in Gefahrensituationen), machen die meisten Beobachtungen deutlich, dass es durch die Interventionen Bevölkerungsgruppen gibt, die mit erheblichen Nachteilen konfrontiert sind. Der Aufbau eines friktionsfreien Stadtimages ohne Widerstände ist deshalb nicht möglich. Verschiedene Organisationen fordern die Einhaltung von Rechten der Benachteiligten und versuchen, den Verdrängungsprozessen mit unterschiedlichen Aktionen zu begegnen. Dabei handelt es sich um ein heterogenes Bündel aus NGOs, Gewerkschaften, Kooperativen und soziale Bewegungen. Auf der anderen Seite gibt es Organisationen, wie bspw. die NGO Viva o Centro, die bestrebt sind, gruppenindividuelle Interessen ihrer Mitglieder umzusetzen und Privilegien zu Gunsten ihrer Klientel zu erreichen. Deren Interessen müssen dabei nicht unbedingt mit Maßnahmen, die vermeintlichen allgemeinen Hauptströmungen der Innenstadterneuerung folgen, konform sein. Im Folgenden werden soziale Bewegungen, NGOs und andere Vereinigungen vorgestellt und analysiert, die sich teilweise aus sehr unterschiedlichen Beweggründen und mit sehr vielfältigen Mitteln dem (öffentlichen Raum im) Zentrum, der Innenstadterneuerung im weitesten Sinn und / oder seinen Bewohner_innen widmen. 4.6
ORGANISATIONEN IM PAuLISTANER PROZESS DER INNENSTADTERNEuERuNG
Im Zentrum São Paulos beschäftigen sich viele Vereinigungen im weitesten Sinne mit Fragen zur Innenstadterneuerung und mit dem öffentlichen Raum. Oft ist der öffentliche Raum dabei nicht unmittelbar von Interesse. Vielmehr bildet er den Schauplatz, auf dem sich Aktionen der Innenstadterneuerung und Reaktionen darauf abspielen, oder er dient als der Raum, auf den die teils divergierenden und damit gegebenenfalls mit anderen konfligierenden Zielvorstellungen der diversen Gruppierungen fokussieren. Basierend auf den Aussagen von Stellvertreter_innen der jeweiligen Organisationen und der (teilnehmenden) Beobachtung von Treffen der verschiedenen Gremien werden im Kontext der Innenstadterneuerung im Folgenden ihre grundlegenden Interessen und die zentralen, mit dem öffentlichen Raum in Verbindung stehenden Bestrebungen dargestellt. Außerdem werden ihre Einschätzungen und Beurteilungen von Erneuerungsmaßnahmen mit Blick auf ihre jeweilige Klientel geschildert. Vereinfachend werden zur Darstellung der Ergebnisse die NGOs in zwei Gruppen unterteilt. Der eine Teil der NGOs legt bei der Behandlung der oben genannten Themen den Fokus auf die Revitalisierung. Auch wenn von diesen Vereinigungen (teilweise) anerkannt wird, dass es „Leben“ im Zentrum gibt, es also nicht um eine „Wiederbelebung“ per se geht, liegt ihnen doch daran, die Sozialstruktur um andere, tendenziell sozioökonomisch besser gestellte Bevölkerungsgruppen zu erweitern. Die anderen Gruppen widmen sich primär dem im Zentrum anzutreffenden
4.6 Organisationen im Paulistaner Prozess der Innenstadterneuerung
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Leben von sozioökonomisch benachteiligten Bevölkerungsschichten. Diese sind durch die Erneuerungsmaßnahmen und -politiken oft benachteiligt, weswegen das Interesse an einer sozialverträglichen Entwicklung im Zentrum dominiert. Dargestellt werden einige der mit den genannten Themen befassten Organisationen, wobei die Auswahl keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit der Stakeholder beanspruchen kann. Dem explorativen Forschungsdesign folgend, handelt es sich dabei hauptsächlich um solche, die angesichts der Fragestellungen während der Feldforschung in den Fokus der Aufmerksamkeit gelangten. Ergänzt werden sie um weitere, die basierend auf Vorkenntnissen zur Vervollständigung ausgewählt wurden. Dabei geht es v. a. um die Einbeziehung eines breiteren Spektrums von durch Erneuerungsmaßnahmen Benachteiligten und der sie vertretenden Interessengruppen und Bewegungen. 4.6.1
Die „Revitalisierer“ – NGOs im Einsatz für die Innenstadterneuerung
Das Spektrum von Vereinigungen, die sich für eine Innenstadterneuerung einsetzen (und damit auch einen Interessenschwerpunkt auf den öffentlichen Raum legen) wird in São Paulo von der unternehmensnahen NGO Associação Viva o Centro (AVC) dominiert. Weitere Organisationen sind direkt von der AVC initiiert. Dazu zählen die Ações Locais (ALs), die im Anschluss überblicksartig beschrieben werden. Etwas anders gelagert ist der Fokus beim Conselho Comunitário de Segurança Centro (CONSEG-Centro), der sich primär mit Sicherheitsfragen im Zentrum aus Perspektive von Personen und Gruppen, denen dieses Thema sehr wichtig ist, beschäftigt und aus diesem Grund im Zusammenhang mit dem öffentlichen Raum von Relevanz ist. Der Versuch einer breiteren Repräsentation der Interessen im Zentrum geht vom Fórum do Centro de São Paulo aus, das im Jahr 2010 gegründet wurde (Zusammenfassung s. Tab. 7). 4.6.1.1
Die Associação Viva o Centro
Die Associação Viva o Centro (AVC; Verein „Es lebe das Zentrum“) wurde 1991 unter Führung der Bank Boston160, die zur damaligen Zeit ihre brasilianische Niederlassung im Zentrum von São Paulo hatte, gegründet (zur Gründung s. auch Kap. 4.4.3; vgl. allg. coy 2007; oliVeira 1999; Frúgoli Jr. 2000 & 2001; Teixeira eT al. 2005; Kara José 2010). Ziel der AVC ist laut Homepage „[…] die Entwicklung des Zentralbereichs São Paulos mit Blick auf städtebauliche, kulturelle, funktionale, soziale und ökonomische Aspekte, um diesen Bereich in ein großes, starkes und effizientes Zentrum der Metropolitanregion zu verwandeln, das wirkungsvoll zu einem wirtschaftlichen und sozialen Gleichgewicht der Metropolitanregion beiträgt, für die vollständige Zugänglichkeit zu Bürgerrechten [cidadania] und zum Wohlergehen der gesamten 160 Der brasilianische Teil der Bank Boston wurde mittlerweile von der brasilianischen Bank Itaú aufgekauft.
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4 Fallstudie São Paulo Bevölkerung“161 (http:// www.vivaocentro.org.br/quem-somos/a-associação-viva-o-centro. aspx, Zugriff: 11.10.2014; eigene übersetzung).
Konkreter heißt das, das Zentrum als multifunktionalen Raum zu erhalten bzw. falls nötig neu zu schaffen. Das Zentrum solle vielfältigste Nutzungen ermöglichen und unterschiedlichen Funktionen wie der öffentliche Verwaltung, dem Handel, Finanzdienstleistern, der Bildung, Kultur und Freizeit, dem Wohnen und der Hotellerie dienen. Als ein symbolischer Ort sei das Zentrum ein Ort für alle, unabhängig von der ethnischen und / oder sozialen Herkunft des Einzelnen. Die AVC ist als Verein organisiert, in dem Privatpersonen, überwiegend aber unternehmen, Verbände und andere Interessenzusammenschlüsse Mitglied sind. Deren Zahl belief sich im Zeitraum 2011–2013 auf 114162 (http://www.vivaocentro. org.br/quem-somos/associados.aspx; Zugriff: 11.10.2014). Diese teilen sich gemäß der Satzung in sechs verschiedene Kategorien der Mitgliedschaft auf, wobei lediglich die fördernden (im Sinne von zahlenden) Mitglieder bei der Generalversammlung stimmberechtigt sind. Ferner ist die Stimmenanzahl pro Mitglied proportional zu dem jeweiligen unterstützungsbeitrag. Es handelt sich also um ein gemischtes Wahlsystem, das einerseits Elemente eines Zensuswahlrechts (Ausschluss nicht zahlender Mitglieder) enthält und andererseits Ähnlichkeiten zum Klassenwahlrecht (je höher der Beitrag, desto größer die Stimmenanzahl) aufweist. Zu den 21 bedeutendsten fördernden Mitgliedern – die entsprechend über die größte Entscheidungsmacht verfügen – zählen fünf Banken sowie die Börse BM&F Bovespa, fünf private universitäten, zwei große Anwaltskanzleien und vier Interessensvertretungen anderer Wirtschaftszweige. Die operative Arbeit erfolgt durch ein siebenköpfiges Verwaltungsgremium, dem als leitender Direktor Marco Antônio Ramos de Almeida vorsteht. Er ist der Sprecher der AVC, wenn es darum geht, deren Interessen zu Themen der Innenstadterneuerung kundzutun und zu vertreten. Die AVC sieht ihre Funktion laut Almeida163 darin, Anstöße zu geben, Debatten zu führen, Vorschläge zu unterbreiten, Ziele publik zu machen und Druck auszuüben, damit Probleme gelöst werden. um auf die Bedeutung des Zentrums hinzuweisen, entwickelte die AVC zwar Vorschläge für Erneuerungsprojekte, diese seien aber teuer und aufwändig gewesen und nicht (mehr) der Hauptfokus der Arbeit. Er betont vielmehr die Verantwortung eines jeden Akteurs, hauptsächlich die der öffentlichen Hand, die ihren Aufgaben mit den jeweiligen Behörden nachkommen müsse. Allerdings geschieht dies v. a. in den beiden Legislaturperioden von Serra / Kassab nach Ansicht der AVC nur in unzureichendem Ausmaß. Es fehle ein umfassendes Programm für das Zentrum, das alle möglichen Akteure mit einbeziehe und die Möglichkeit böte, darüber mit den dafür Verantwortlichen mittels E-Mail, Telefon oder 161 „[...] o desenvolvimento da Área Central de São Paulo, em seus aspectos urbanísticos, culturais, funcionais, sociais e econômicos, de forma a transformá-la num grande, forte e eficiente Centro Metropolitano, que contribua eficazmente para o equilíbrio econômico e social da Metrópole, para o pleno acesso à cidadania e ao bem-estar por toda a população.“ 162 Im Jahr 2005 betrug die Zahl der Mitglieder lt. Homepage 124 natürliche und juristische Personen (Teixeira eT al. 2005, S. 16). 163 Interview mit Marco Antônio Ramos de Almeida, leitender Direktor der Associação Viva o Centro, am 03.08.2010 in São Paulo.
4.6 Organisationen im Paulistaner Prozess der Innenstadterneuerung
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Besuch in Kontakt zu treten. Aktuell seien die Agenden für das Zentrum, die bestehen, auf verschiedene Ämter aufgeteilt, zwischen denen es wenig bis keinen Austausch gäbe und somit ein wenig abgestimmtes Vorgehen. Ohne die Vorgängerregierung (Marta Suplicy) loben zu wollen, sei festzustellen, dass es in dieser Legislaturperiode ein Programm („Ação Centro“; vgl. Kap. 4.4.3) und entsprechende Ansprechpartner gegeben habe. Bei der Erreichung des Ziels der Innenstadtentwicklung spielt der öffentliche Raum für die AVC eine wichtige Rolle. Almeida erachtet den öffentlichen Raum als den Ort der Bürgerschaft (cidadania) und damit als ganz bedeutenden Raum. Für ihn müsste dieser im Zentrum von ausgezeichneter Qualität sein, in dem man bestens seine Bürgerschaft ausüben können sollte. Allerdings ist er nach seiner Meinung weit von dieser Qualität entfernt. Beispiele, die das belegen sollen, sind die deaktivierten Brunnenanlagen im Zentrum, die eigentlich der Verschönerung der jeweiligen Plätze dienen sollten, der schlechte Zustand des Belags der Fußgängerzonen und die allgemein fehlende kontinuierliche Instandhaltung und Kontrolle. Diese Problematik führe auch nach erfolgten, größeren Erneuerungsmaßnahmen schnell wieder zu einer Degradierung des entsprechenden Raums. Die Fußgängerzonen stellen auch ein Hindernis für die Erreichbarkeit von Orten im Zentrum dar. Aufgrund eines mangelhaften öffentlichen Personennahverkehrs bedürfe es des motorisierten Individualverkehrs, um Ziele in der Stadt anzusteuern. Wegen der restriktiven Regelungen in den Fußgängerzonen und bspw. im Vale do Anhangabaú sei es aber nicht möglich, an viele Adressen mit dem eigenen Fahrzeug zu gelangen. Dies mache viele Gebäude zu unerreichbaren „Inseln“. Der degradierte öffentliche Raum und die ungenügenden Zufahrtsmöglichkeiten schädigen seiner Meinung nach schließlich auch die Nutzung des privaten Raums, mit der möglichen Konsequenz, dass Gebäude leer stehen gelassen werden (vgl. Kap. 4.5.2). Angesichts dessen setzt sich die AVC für möglichst frei zugängliche, halböffentliche Räume wie Galerien und Passagen ein. Der Vorteil sei, dass die Instandhaltung durch den Eigentümer erfolge. Dabei bezieht er sich allgemein auf halböffentliche Räume in verschiedenen Teilen der Welt, bei denen es sich um sehr angenehme Orte handele. Er gibt aber zu bedenken, dass eine weitergehende Öffnung dieser halböffentlichen Räume der Anreize bedürfe und in der derzeitigen Situation nicht ohne weiteres durchzusetzen sei. Einen solchen halböffentlichen Raum stellt die Zugangsstraße zur Geschäfts- und Wohnanlage Rua Nova Barão (Condomínio Empreendimento Nova Barão) im Distrikt República dar (vgl. Abb. 37 im Farbteil). Im Fotointerview beschreibt Kalina diese Straße bzw. Einkaufspassage (galeria): „Dieses Foto hier zeigt die Nova Barão. Sie nennt sich Nova Barão, weil es eine Straße ist, die sie umgebaut haben. […] Sie haben einen Springbrunnen errichtet und Bänke aufgestellt, damit die Leute sich setzen [und] haben die Straße gesperrt. […] Die Gebäude, die es hier gibt, sind alles Wohnanlagen, sie haben die Straße gesperrt für die Menschen, die hier wohnen. Damit es ein angenehmerer Ort wird, haben sie diese Anpassung vorgenommen.164 […] Ich glaube, dass 164 Die Genese der „Straße“ / Passage nahm einen etwas anderen Ausgang. Sie wurde von vornherein als eine Einkaufspassage mit Wohn- und Geschäftsräumen in den oberen Geschossen angelegt. Der Name „rua“ rühre daher, dass sich zur Zeit des Baus zu Beginn der 1960er Jahre der Begriff „galeria“ (Passage) schon etwas abgenutzt habe (vgl. aleixo 2005).
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4 Fallstudie São Paulo die Straße um acht uhr abends geschlossen wird, dann kann man darin nicht mehr spazieren, es sei denn, dass du Bewohner bist. […] Obwohl es im Zentrum ist, macht es den Eindruck, als ob es eine geschlossene Siedlung ist, etwas, was es sonst nur in Stadtvierteln gibt.“165
In der Beschreibung kommen einige der Vorzüge halböffentlicher Räume aus Sicht der AVC zum Ausdruck. Der Raum bietet Annehmlichkeiten, Aufenthaltsqualität durch Bänke und andere Möblierung und wird permanent sauber gehalten. Gleichzeitig bietet er durch das private Hausrecht Sicherheit, bspw. durch die nächtliche Schließung. Aus Sicht der AVC gebessert hat sich die Situation hinsichtlich des informellen Straßenhandels. Nachdem sich die (vermeintliche) Erkenntnis durchgesetzt habe, dass es sich dabei um einen Teil der organisierten Kriminalität handele, hätte die öffentliche Hand den Mut gehabt, stärker dagegen vorzugehen (vgl. Kap. 4.5.4). Weiterhin ungelöst sei hingegen die soziale Problematik der Obdachlosen. Da die öffentliche Hand es nicht schaffe, angemessene Hilfsangebote zu machen, konzentrierten sich diese hauptsächlich im Zentrum, was zu einer Reihe von Problemen führe. Diese beträfen die Sauberkeit, die Gesundheit und die Hygiene. Das wiederum führe zu Konflikten mit den Anwohner_innen und Geschäftstreibenden, wobei sich diese nur in seltenen Fällen (bspw. zwischen Obdachlosen und Hausmeistern) eindeutig manifestieren würden und im übrigen latent seien. Problematisch erachtet er in diesem Zusammenhang die Tätigkeit von verschiedenen NGOs, die sich für die Belange der Obdachlosen einsetzen und sich als deren Verteidiger positionieren. Die Aktionen der entsprechenden NGOs wie bspw. die Essensverteilung unter prekären umständen im Zentrum trügen oft nicht zu einer Lösung der Probleme der Obdachlosen z. B. in Form der Schaffung angemessener Räume für diese Personen bei, sondern führten im Gegenteil zu einer Verfestigung der Situation der Obdachlosigkeit. Eine weitere Thematik im öffentlichen Raum sei die der (un)Sicherheit bzw. deren Wahrnehmung. Wie weit die Wahrnehmungen zum Thema (un)Sicherheit auseinanderliegen können, machen zwei Aussagen in den Fotointerviews deutlich. Glória weist auf einem Foto auf die Fußstreife der Polizei (vgl. Abb. 38 im Farbteil) hin: „Es zeigt auch unsere polizeiliche überwachung. […] Hier die Polizisten. […] [Die Sicherheitslage ist] sehr schlecht. Sehr schlecht. Du siehst, wie andere Personen vor dir überfallen werden und du kannst nichts machen. […] Bis die Polizei eintrifft, ist die Person schon weg. […] Viele überfälle, viele Taschendiebe, das gibt es oft hier in São Paulo.“166 165 „Esta foto aqui é da Nova Barão. Chama se Nova Barão, por que foi uma rua que readaptaram. [...] Fizeram uma fonte, colocaram bancos para as pessoas sentarem, fecharam a rua. [...] Os prédios, que tem, são todos de moradia; eles fecharam a rua para as pessoas que moram aqui, para que fica um lugar mais agradável. Eles fizeram uma readaptação. [...] Acho, que oito horas da noite fecha a rua. Ela está fechada, não pode ficar circulando a não ser que você seja um morador. [...] Por ser no centro, ficou como se fosse uma vila fechada, coisa que só tem em bairro“ (Fotointerview mit Kalina, Bewohnerin des Zentrums, am 15.09.2011 in São Paulo). 166 „Mostra também nosso policiamento. [...] Aqui, os policiais. [...] [A situação de segurança é] péssima. Péssima. Você vê outra pessoa sendo assaltado na sua frente, você não pode fazer nada. [...] Até a polícia chega, a pessoa já foi embora. [...] Muitos assaltos, muitos batedores de carteira, tem muito aqui em São Paulo. (Fotointerview mit Glória, selbständige Kosmetikerin im Zentrum, am 21.09.2011 in São Paulo).
4.6 Organisationen im Paulistaner Prozess der Innenstadterneuerung
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Die folgende Darstellung der Sicherheitslage durch Kalina steht dieser Aussage diametral entgegen: „Ich sage dir, dass das Zentrum einer der sichersten Orte ist, die es gibt. Obwohl es in den Reportagen viele überfälle gibt [und] manchmal ein Todesopfer zu verzeichnen ist oder irgendeine andere Sache, sind es Vorkommnisse, die selten passieren. […] Die Menschen, Paulistaner, haben Angst ins Zentrum zu kommen. Es gibt also viele Leute in São Paulo, die nicht ins Zentrum kommen wegen der Reportagen, die im Fernsehen übertragen werden [und] in denen das Zentrum als gefährlich dargestellt wird und das die stehlenden Straßenkinder zeigt. Klar gibt es das, aber es gibt auch viel polizeiliche überwachung.“167
Während in der Aussage von Kalina aus ihrer Sicht übertriebene mediale Darstellungen der Gefahrenlage im Zentrum zu einer verzerrten Wahrnehmung beitragen, führt Almeida das oft zitierte unsicherheitsgefühl darauf zurück, dass man durch die im Zentrum weit verbreitete Fortbewegung zu Fuß (und nicht mit dem PKW) dem Fremden u. a. auch aus anderen sozialen Schichten (bspw. Obdachlosen) unmittelbar begegne, was dem Gefühl der unsicherheit Vorschub leiste. Ebenso trüge der ungenügende Pflegezustand (unsauberkeit, defekte Straßenbeleuchtung etc.) des öffentlichen Raums dazu bei, der wegen des unmittelbaren Erlebens stärker wahrgenommen werde. Diesem unsicherheitsempfinden stünde die Tatsache gegenüber, dass es im Zentrum weniger Probleme gäbe als im Rest der Stadt. Im Zentrum bestünde hauptsächlich die Gefahr, aufgrund der großen Anzahl von Menschen Opfer eines (Taschen)Diebstahls zu werden, wohingegen bewaffnete überfälle oder sogar Entführungen äußerst selten wären. Außerdem gäbe es im Zentrum eine im Vergleich mit den anderen Stadtteilen höhere polizeiliche überwachung. Allerdings werde dies von den Bürger_innen nicht wahrgenommen, weswegen sich die AVC für eine weitere Verstärkung der Polizeiarbeit im Zentrum einsetzt168, da es nicht ausreichend sei, dass das Zentrum sicher ist, sondern es auch als solches erscheint, damit ein positives Image erzielt werde. Ferner trüge ein verbessertes, subjektives Sicherheitsempfinden der Bürger_innen, das durch Verbesserungen im öffentlichen Raum (z. B. gute Straßenbeleuchtung), effektivere Sozialarbeit (z. B. für die Obdachlosen) und bessere Kontrolle (z. B. Verstärkung der Polizeipräsenz 167 „Vou te dizer, que o Centro é um dos locais mais seguros que tem. Apesar de que passa nas reportagens como está tendo muito assalto as vezes aparece alguma morte alguma coisa, más é uma coisa rara de acontecer. [...] As pessoas, Paulistanos, tem medo de vir para o Centro. Então tem muita gente em SP que não vem pelo entro por causa das reportagens que aparecem no televisão, que o pessoal colocar o centro perigoso, mostra os trombadinhas. Lógico que tem, más tem muito policiamento também“ (Fotointerview mit Kalina, Bewohnerin des Zentrums, am 15.09.2011 in São Paulo). 168 Dies zu argumentieren sei laut Almeida nicht leicht, da die Kriminalitätsstatistiken im Zentrum vergleichsweise niedrige Kriminalitätsindikatoren auswiesen, weshalb es angesichts dessen keine objektive Notwendigkeit einer Verstärkung der Polizeipräsenz gäbe. Die Aussagen der dabei zugrundeliegenden Statistiken stehen im Gegensatz zu den statistischen Mordraten, die in den Zentrumsdistrikten verglichen mit vielen anderen Distrikten relativ hoch sind (vgl. Kap. 4.2). Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass sich die Daten der Mordraten auf die Distrikte als Ganzes beziehen, wohingegen die oben genannte Kriminalitätsstatistik eventuell primär nur den Zentrumskern berücksichtigt. Eine klare Zuordnung und ein unmittelbarer Vergleich sind daher schwierig.
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4 Fallstudie São Paulo
und überwachungskameras) erreicht werde, auch zu einer höheren objektiven Sicherheit bei, da der potenzielle Delinquent umgekehrt für seine Aktivitäten eine größere unsicherheit wahrnehme und auf andere Orte ausweiche. Jüngste größere und im öffentlichen Raum sichtbare Aktion der AVC war die Gründung und Etablierung der Aliança pelo Centro Histórico (vgl. Kap. 4.5.5), deren Mitarbeiter agieren als „professionelle Bürger“ bei der Einforderung von Verbesserungen im öffentlichen Raum. Als „freiwillige Stadt-Warte“ werden dagegen die Mitglieder der Ações Locais (ALs) von Almeida bezeichnet. 4.6.1.2
Ações Locais – die Nachbarschaftsvereinigungen im Zentrum
Die Ações Locais (ALs; Lokale Aktionen) gehen auf eine Initiative der AVC aus dem Jahr 1995 zurück. Zu deren Einrichtung wurde das Zentrum (Distrikte Sé und República) in mehr als 100 Mikroregionen, bestehend aus (Teilen von) Straßenzügen oder Plätzen, unterteilt. Für jeden dieser Räume ist je eine Ação Local vorgesehen. Aktuell sind laut Homepage der AVC 33 ALs aktiv (vgl. Kap. 4.5.5), die zusammen ca. 4 000 Mitglieder (2010) umfassen, von denen wiederum ca. 80 % institutionelle Mitglieder, also Geschäfte und unternehmen, sind.169 Ausgangspunkt der Gründungen der ersten ALs Mitte der 1990er Jahre war laut Teresinha Santana die Wahrnehmung, dass sich v. a. Bewohner_innen der Mittelschicht und Selbständige mit Arbeitsort im Zentrum allein und in „Geiselhaft“ fühlten: „Wir [AVC] bemerkten, dass sie sich als Geiseln fühlten. Warum? Sie waren an dieses Zentrum einer Megacity gebunden. Sie fühlten sich als Geiseln der irregulären Besetzung des öffentlichen Raums durch die Straßenhändler, durch die Obdachlosen, durch diejenigen, die Crack konsumieren, durch die, die in der einen oder anderen Weise diesen Durchgangsort nutzten. […] Sie empfanden diesen Ort als schrecklich.“170
Angesichts dessen wurden zu dieser Zeit die ersten ALs von der AVC unter Mitwirkung der interessierten Bewohner_innen und Geschäftsleute ins Leben gerufen. ursprünglich als eigenständige Vereine konzipiert, gehören sie heute wegen des geringeren Verwaltungsaufwands als Kommissionen zur AVC dazu. Die AVC stellt den ALs administrative und organisatorische unterstützung zur Verfügung und eröffnet ggf. ein Bankkonto für diejenige AL, die dies benötigt. Das Leitungsgremium der jeweiligen AL besteht aus einer Vorsitzenden oder einem Vorsitzenden und mehreren Stellvertreter_innen und wird durch die Mitglieder der entsprechenden AL jährlich gewählt. 169 Gespräch mit Teresinha Santana, Verantwortliche für die unterstützung der ALs bei der AVC, am 10.09.2010 in São Paulo. 170 „A gente percebeu que eles se sentiram reféns. Por quê? Eles estavam fixos neste centro de uma megalópole. Eles se sentiram reféns da ocupação irregular do espaço público pelos camelos, pelos moradores em situação de rua, pelos que usavam crack, pelos que de uma certa forma usavam daquele espaço de passagem. [...] Achavam aquele lugar horrivel“ (Interview mit Teresinha Santana, Verantwortliche für die unterstützung der ALs bei der AVC, am 22.09.2010 in São Paulo; eigene übersetzung).
4.6 Organisationen im Paulistaner Prozess der Innenstadterneuerung
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Der Hauptfokus der Arbeit der ALs liegt – auch vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte – laut Almeida auf dem öffentlichen Raum. Die ALs bemühen sich entweder bei öffentlichen Stellen um Verbesserungen in ihrem Einflussbereich oder initiieren eigene kleinere Maßnahmen für den entsprechenden Raum. „Alle ALs widmen sich dem öffentlichen Raum. […] Was klappt tatsächlich? [Das ist] die Arbeit der Mitglieder der Leitung zu den Themen Sicherheit, Zivilschutz, soziale Hilfe, städtische Kontrolle (zeladoria urbana). In Wirklichkeit sind sie freiwillige Kontrolleure des städtischen Raums, die Forderungen an die öffentliche Hand richten. […] Alle haben das Ziel, den öffentlichen Raum zu verbessern. […] Die Art des Handelns der ALs ist ein Handeln, das sich dem öffentlichen Raum widmet, sei es auf Straßen oder Plätzen. […] Das Handeln richtet sich an die Leute, die besorgt sind, wenn es Straßenlöcher gibt, Obdachlose und defekte Straßenbeleuchtung oder die Stadtreinigung nicht angemessen erfolgt.“171
Neben dem nach außen gerichteten Fokus betont Santana auch das nach innen gerichtete Ziel, sich innerhalb der jeweiligen AL auszutauschen, Probleme zu erörtern und so den Eindruck, mit den Herausforderungen allein zu sein, durch ein Gefühl der Solidarität zu ersetzen. Allerdings gibt sie auch zu bedenken, dass das Interesse an der unmittelbaren Lösung konkreter Probleme ein mindestens ebenso starkes Motiv der Teilnahme an den ALs ist. Die Außeninteressen und die entsprechende Arbeitsweise der ALs spiegeln die der AVC im Kleinen wider. Es gehe darum, so Santana, die öffentliche Hand aufzufordern, Missstände zu beseitigen und Verbesserungen in der jeweiligen Nachbarschaft durchzuführen. Die unmittelbare Lösung der Probleme sei dagegen nicht Aufgabe der ALs. Darüber hinaus dienen die ALs auch als Bindeglied zwischen der AVC und der Basis, den Bewohner_innen und Geschäftstreibenden und kleinen Selbständigen im Zentrum. Santana erachtet die AVC ohne die ALs lediglich als ein Büro. Allerdings sei Almeida tendenziell eher an der Arbeit der Aliança pelo Centro Histórico interessiert. 4.6.1.3
Conselho Comunitário de Segurança Centro – ein Beirat für „Recht (?) und Ordnung“
Die Conselhos Comunitários de Segurança (CONSEGs; Gemeinschaftliche Beiräte für [öffentliche] Sicherheit) sind seit Mitte der 1980er Jahre im Bundesstaat São Paulo gesetzlich verankerte, beratende Gremien, die sich aus Vertreter_innen der Polícia Militar und der Polícia Civil sowie aus Repräsentant_innen unterschiedlicher Organisationen der jeweiligen Munizipien oder Distrikte und solchen der öf171 „Todas as ALs são voltadas pelo espaço público. [...] Na realidade, o que funciona? São os diretores de assuntos de segurança, defesa civil, promoção social, zeladoria urbana. Por que, na realidade, eles são zeladores urbanos voluntários que vão cobrar do poder público etc. [...] Todos eles têm o objetivo de melhorar a qualidade do espaço público. [...] O tipo da atuação da AL é uma atuação voltada pelo espaço público, seja as praças, seja as ruas. [...] Ela é voltada para o cara que está preocupado, se tem buracos, se tem moradores de rua, se tem iluminação queimada, a limpeza não sendo está feita adequadamente“ (Interview mit Marco Antônio Ramos de Almeida, leitender Direktor der Associação Viva o Centro, am 03.08.2010 in São Paulo; eigene übersetzung).
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4 Fallstudie São Paulo
fentlichen Verwaltung zusammensetzen. In der allgemeinen Selbstdarstellung werden die CONSEGs als Beratungsgremien in Sicherheitsfragen der entsprechenden Munizipien bzw. Stadtteile beschrieben: „Die CONSEGs sind Zusammenschlüsse von Personen desselben Stadtviertels oder Munizips, die sich treffen, um ihre Probleme im Stadtteil in Sicherheitsfragen zu diskutieren und zu analysieren und deren Lösungen zu planen und zu begleiten, Bildungskampagnen zu entwickeln und die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen lokalen Stakeholdern zu stärken“172 (http://www.conseg.sp.gov.br/OQueSao.aspx; Zugriff: 26.10.2014; eigene übersetzung).
Die monatlich stattfindenden Sitzungen werden vom Vorstand, der aus gewählten Mitgliedern (Vorsitzende, Schriftführer u. w.) und den delegierten Mitgliedern (je ein Repräsentant der Polícia Militar und der Polícia Civil) besteht, einberufen und geleitet. Eingeladen sind alle Bewohner_innen, unternehmer_innen und Repräsentant_innen des Wirkungsbereichs des jeweiligen Sicherheitsbeirats. Die Sitzungen des CONSEG-Centro finden monatlich, abends, bei der Vereinigung der Buchhalter_innen São Paulos (Sindicato dos Contabilistas de São Paulo) statt173. Die Teilnehmer_innenzahl bei vier im Rahmen der Feldforschung besuchten Sitzungen174 schwankte zwischen 30 und 60. Diese repräsentieren diverse ALs und die AVC, religiöse Einrichtungen, unternehmensverbände, unternehmen, öffentliche Gesundheitseinrichtungen u. a. Soziale Bewegungen sind nur mit einer Organisation vertreten. Die unausgewogene Repräsentativität zwischen Vertreter_ innen der Mittelschicht und denen der unterschicht dauert bis in die jüngere Vergangenheit an (chizzoliNi 2013, S. 91). Das Podium besteht außer aus dem Leitungsgremium des CONSEG-Centro aus den beiden abgeordneten Vertretern der Polizeien und ferner auch aus Repräsentanten der GCM und der Stadtverwaltung. Der Ablauf folgt einer festen Tagesordnung. Diese beinhaltet immer den Tagesordnungspunkt der offenen Aussprache der Anwesenden. Im Anschluss daran werden die Themen vonseiten des Leitungsgremiums aufgegriffen und erörtert. Zusätzlich gibt es fallweise thematische, mit Fragen der Sicherheit befasste Vorträge von Expert_innen; dazu zählen z. B. die erste Bewertung der Promotoria Comunitária do Centro (vgl. Kap. 4.6.1.5) oder Informationen zu einer geplanten polícia comunitária (Gemeinschaftsorientierte Polizei). Die offene Aussprache beinhaltet zum einen Beschwerden der verschiedensten Art zu Fragen der öffentlichen Sicherheit, die vorrangig von Anwohner-Vertreter_innen vorgebracht werden, und damit verbundene Forderungen sowie zum anderen auch Lob für gelungene Lösungen von Pro172 „Os CONSEGs são grupos de pessoas do mesmo bairro ou município que se reúnem para discutir e analisar, planejar e acompanhar a solução de seus problemas comunitários de segurança, desenvolver campanhas educativas e estreitar laços de entendimento e cooperação entre as várias lideranças locais.“ 173 Dafür wird ein aufwändig gestalteter Saal zur Verfügung gestellt, der mit massiven dunklen Holzmöbeln auf dem Podium und mit einer dunkelbeigen Stofftapete ausgestattet ist. Dekoriert ist er mit vier Flaggen in einem Flaggenständer und einer Fotogalerie von Personen, die sich um das Sindicato dos Contabilistas de São Paulo verdient gemacht haben. Aufgrund seiner Gestaltung vermittelt der Raum einen Ehrfurcht gebietenden und hoheitlichen Eindruck. 174 Beobachtende Teilnahme an den Sitzungen am 20.07.2010, 17.08.2010, 21.10.2010 und 20.09.2011 in São Paulo.
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blemen. Die Beschwerden reichen von Lärmbelästigungen durch Straßenmusikanten und aus Bars über die (vermeintliche) Verwahrlosung des öffentlichen Raums und die Probleme, die durch Drogensüchtige verursacht werden, bis hin zur Nennung von Brennpunkten von Diebstählen und überfällen. Verbunden sind diese Reklamationen mit unterschiedlichen Forderungen an die Sicherheitsorgane und die Politik zur Lösung der angesprochenen Probleme. Diese reichen von vergleichsweise progressiven Vorschlägen wie der Einrichtung der polícia comunitária oder dem Eintreten für Drogensubstitutionsprogramme zur Eindämmung der Beschaffungskriminalität über Wünsche nach besserer Polizeipräsenz in den Abend- und Nachtstunden und mehr stationären Polizeiposten auf öffentlichen Plätzen bis hin zu Forderungen repressiver Maßnahmen wie die Verdrängung von als störend betrachteten Gruppen (Drogenabhängige, Obdachlose und Recyclingmaterialsammler_innen) aus dem öffentlichen Raum. Mit Blick auf die Forderungen nach autoritären Maßnahmen werden solche, die in diese Richtung gehen (z. B. zwangsweise Einweisung von Drogenabhängigen), gutgeheißen (chizzoliNi 2013, S. 91), wohingegen dem entgegenstehende Faktoren wie das allgemeine, verfassungsmäßig verbriefte Recht des Kommens und Gehens aller im öffentlichen Raum (vgl. Kap. 4.5.2) wiederholt offen in Frage gestellt werden. Die Verfassung von 1988 wird in diesen Fällen als Problem für das Anliegen der Verdrängung der benachteiligten Gruppen aus dem Zentrum betrachtet. Von einem älteren Mitglied der CONSEGCentro wird dabei bezugnehmend auf seinen Vater auf vorangegangene Regelungen verwiesen. Danach war es in den 1940er Jahren nicht erlaubt, sich „einfach so“ auf der Straße aufzuhalten. Der Bezug auf die 1940er Jahre legt nahe, dass er sich dabei auf die Verfassung des autoritären, nicht-demokratischen Regimes des Estado Novo bezieht, in dem der zweckfreie und der überlebenssicherung gewidmete Aufenthalt im öffentlichen Raum untersagt war (vgl. Kap. 4.5.1). Ähnliche harsche Aussagen mit Bezug auf Drogenabhängige, in denen ihnen die allgemeinen Menschenrechte in Abrede gestellt werden, schildet auch chizzoliNi (2013, S. 93). Dabei erwähnt sie zusätzlich, dass daraufhin von den anderen Anwesenden keine Bedenken oder Bitten um Mäßigung erfolgten. Im Anschluss wird vonseiten des Leitungsgremiums und besonders von den diesbezüglich meist angesprochenen Polizisten und Repräsentanten der Stadtverwaltung auf die Beschwerden und die Forderungen eingegangen. Außerdem folgen eigenständige Beiträge der Anwesenden auf dem Podium wie z. B. zu aktuellen Entwicklungen in der Kriminalitätsstatistik oder auch die postume Ehrung eines im Einsatz im Zentrum gewalttätig zu Tode gekommenen Polizisten. Im unterschied zu den anderen dargestellten Organisationen zeichnet sich die Einrichtung des CONSEG-Centro dadurch aus, dass sie einerseits auf bundessstaatlicher Gesetzgebung beruht und deshalb über eine höhere Legitimität bei den beteiligten Autoritäten und den Mitgliedern verfügt und zum anderen einen unmittelbaren Austausch mit Verantwortlichen erlaubt. Durch die konstante Teilnahme von im Zentrum verantwortlichen Polizisten und die Anwesenheit von Vertretern der Stadtverwaltung bietet sich die Möglichkeit, Anliegen unmittelbar vorbringen zu können und nicht erst andere Kommunikationskanäle erschließen zu müssen, wie dies bspw. bei dem noch relativ jungen Fórum do Centro de São Paulo der Fall ist.
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4 Fallstudie São Paulo
4.6.1.4
Fórum do Centro de São Paulo – ein zivilgesellschaftlicher Zusammenschluss für das Zentrum?
Das Fórum do Centro de São Paulo (FCSP) ist ein lockerer und breiter Zusammenschluss verschiedener Akteure im Zentrum São Paulos. Es geht zurück auf ein Seminar mit dem Titel „Verwaltung des Zentrums: Auf der Suche nach Lösungen“175, das im März 2010 in der Câmara Municipal (Paulistaner Gemeinderat) stattfand. Auf der Homepage des FCSP werden folgende Motive angegeben, die zu dem Seminar und zur Gründung des FCSP führten: „Dieses Seminar war das Ergebnis der Initiative der Zivilgesellschaft mit dem Versuch, die Bevölkerung und die Verantwortlichen in der Verwaltung zusammenzubringen, um spezifische Probleme zu diskutieren im Zusammenhang mit Abfall, Instandhaltung [öffentlicher Infrastruktur] und öffentlicher Sicherheit. Zwei Ziele wurden als wichtig für die Debatten erachtet: 1. Ausarbeitung von Vorschlägen, um eine integrative Verwaltung der Subpräfektur Sé zu erreichen und um einen periodischen Dialog mit den verschiedenen Behördenvertreter_innen, die mit Problemen, die das Zentrum betreffen, befasst sind, aufrechtzuerhalten, und 2. Schaffung eines permanenten Bürgerforums, damit die Bevölkerung mit der öffentlichen Verwaltung interagieren und sich an Diskussionen über Prioritäten und Aktionen beteiligen kann“176 (https:// br.groups.yahoo.com/ neo/groups/forumdocentrosp/info, Zugriff: 16.10.2014; eigene übersetzung).
Initiiert wurde das FCSP u. a. von Carlos Beutel (vgl. Kap. 4.5.5; Caminhada Noturna). Die Idee hinter der Initiative sei gewesen, eine Möglichkeit zu schaffen, die es den sozialen Bewegungen des Zentrums, die eher im politisch linken Spektrum angesiedelt sind, erlaubt, an Diskussionen über die Entwicklung des Zentrums teilzunehmen. Diese Bewegungen nahmen bisher an ähnlichen Veranstaltungen, die oft von der AVC ausgingen, nicht teil, da sie mit den politisch eher rechts orientierten Ansichten der AVC nicht übereinstimmten.177 Ziel des FCSP ist es, Probleme im Zentrum zu diskutieren und über deren Lösungen zu beraten sowie Kommunikationswege mit der Stadtverwaltung zu schaffen, um mit deren Hilfe Problemlösungen umsetzen zu können. Dabei soll eine möglichst breite Einbindung verschiedener Interessenvertreter_innen und Bürger_ innen erfolgen. Anhand der Protokolle der monatlichen Vollversammlungen des Forums zwischen 2010 und 2011 und durch die Teilnahme sowohl an einigen Ple-
175 „Gestão do Centro: na Busca de Soluções” (s. https://br.groups.yahoo.com/neo/groups/ forumdocentrosp/info, Zugriff: 16.10.2014). 176 „Este evento foi fruto de iniciativa da sociedade civil, numa tentativa de reunir população e autoridades para discutir problemas específicos, relacionados ao lixo, manutenção e segurança pública. Dois objetivos foram eleitos como principais nos debates: 1. Elaborar proposta para criar uma gestão integrada da Subprefeitura da Sé, visando manter diálogo periódico entre as diversas autoridades que lidam com problemas que afetam a região; e 2. Criação de um Fórum permanente dos cidadãos, para que a população interaja com a administração pública e participe da discussão sobre prioridades e ações.“ 177 Bei der Gründungsveranstaltung kam es dann offensichtlich zu einem kleinen Eklat, als Almeida von der AVC kundtat, dass das, was das Fórum do Centro mit Blick auf das Stadtzentrum intendiert, von der AVC bereits seit 20 Jahren geleistet würde (chizzoliNi 2013, S. 79).
4.6 Organisationen im Paulistaner Prozess der Innenstadterneuerung
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nen als auch an Sitzungen des Exekutivausschusses (comissão executiva) lassen sich die Aktivitäten des FCSP darstellen und analysieren178. Die in den Vollversammlungen debattierten Themen weisen eine große Bandbreite auf. Sie betreffen Wünsche nach einer 24-Stunden-Kinderkrippe ebenso wie die problematische Situation im Stadtteil Campos Elísios bedingt durch die Anwesenheit von Crack-Abhängigen und die mangelhafte Straßenbeleuchtung sowie die u. a. damit im Zusammenhang stehende, überwiegend nachts schwierige Sicherheitslage im Zentrum. Weitere Angelegenheiten, die in unterschiedlichen Versammlungen zur Sprache kamen, waren die überschwemmungen im Zentrum in Folge von Starkregenereignissen, (fehlende) öffentliche Toilettenanlagen, Lärmbelästigungen und der unzureichende Zustand der Fußgängerzonen. Themen, die besondere Beachtung finden, sind die der problematischen Müllentsorgung, der Situation der Obdachlosen und des städtischen Haushalts. Zu diesen Themen wurden jeweils Arbeitsgruppen eingerichtet, die sich detaillierter damit beschäftigen sollen. Die ersten Vollversammlungen, inklusive der beiden beobachteten, widmeten sich hauptsächlich dem Thema Abfallentsorgung. Ziele des FCSP sind bei dieser Thematik die Verbesserung der Müllentsorgung und der Straßenreinigung, um saubere Straßen zu gewährleisten, umweltbildung, Mülltrennung und die soziale Inklusion der Recyclingmaterialsammler_innen. In der ersten der beiden beobachteten Versammlungen wurde v. a. die Breite der Interessen der Anwesenden, die auch schon in den Zielsetzungen zum Tragen kommt, deutlich. Zum einen nahm Almeida von der AVC teil, der sich ausführlich zu dieser Problematik und Lösungsvorschlägen (u. a. mechanische Müllsammlung mit Containern und Müllfahrzeugen) aus Sicht der AVC äußerte. Im Anschluss ging der anwesende stellvertretende Sekretär für städtische Dienstleistungen unmittelbar darauf ein, bevor er gebeten wurde, auch die thematisch breiteren Stellungnahmen des FCSP zu kommentieren und die vorgelegten Fragen zu beantworten. Danach beteiligten sich auch weitere Anwesende, u. a. auch Recyclingmaterialsammler, an der Diskussion. Kritisiert wurde dabei u. a. das Vorgehen der AVC, wonach es nicht sein könne, dass Almeida einfach einen Forderungskatalog überreiche, sondern das Thema allgemein diskutiert werden müsse. In der zweiten beobachteten Sitzung wurde die Problematik der Obdachlosigkeit unter vielfältigen Gesichtspunkten zentral behandelt. So wurde allgemein daran appelliert, bei Fragen der Innenstadterneuerung nicht so sehr die Gebäude und Denkmäler, sondern vielmehr die Menschen in den Blick zu nehmen. Außerdem wurde postuliert, dass die organisierte Kriminalität (PCC, vgl. Kap. 4.2) die Obdachlosen infiltriert hätte. Wieder andere Redner_innen thematisierten die Straßenreinigung mit Wasser, die nicht gegen die Obdachlosen gerichtet sein dürfe, wohingegen ein anderer Teilnehmer bemerkte, dass es nicht sein könne, dass die Obdachlosen den öffentlichen Raum in Besitz nähmen. Bei den inhaltlichen Kont178 Protokolle der Versammlungen 1 (31.03.2010), 2 (28.04.2010), 6 (25.08.2010), 7 (29.09.2010), 9 (24.11.2010), 10 (26.01.2011), 11 (23.02.2011), 12 (26.03.2011) (vgl. http://forumdocentrosp. wordpress.com/atas/; Zugriff 17.10.2014; aktuellere Protokolle sind online nicht verfügbar); Teilnahme an den Versammlungen 5 und 6 (28.07.2010 und 25.08.2010) und den Sitzungen am 09.08.2010, 16.08.2010, 30.08.2010, 13.09.2010 und 20.09.2010 in São Paulo.
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roversen kommt es gelegentlich auch zu persönlichen Angriffen anderen Teilnehmenden gegenüber, die aber mittels der Moderation entschärft werden können. In den monatlichen Plenen und den wöchentlichen / 14-täglichen Sitzungen des Exekutivausschusses werden neben inhaltlichen Themen auch immer wieder organisatorische und prozessuale Angelegenheiten besprochen, die das Vorgehen des FCSP unmittelbar betreffen. Die Vollversammlungen beinhalten in jeweils unterschiedlichen Ausmaßen Beiträge von eingeladenen Expert_innen zu bestimmten Themen, Darstellungen der Arbeitsgruppen und offene Diskussionen unter den Anwesenden. Als wesentlich für den Ablauf der Versammlungen wird die Horizontalität zwischen den Teilnehmenden erachtet, ebenso wie deren (ideologische) Heterogenität, die dazu führt, dass Themen vor dem Hintergrund unterschiedlicher Ansichten und Erfahrungen erörtert werden können. Das Forum sei deshalb ein Ort für offene, kritische Debatten und Diskussionen. Es soll eine Möglichkeit bieten, Wissen um Sachverhalte zu demokratisieren und eine gesellschaftliche Kontrolle von Vorgängen erlauben. Die für jede und jeden offenen Arbeitsgruppen erörtern in individuellen Sitzungen die jeweiligen Themen, stellen Informationen (Gesetze, Verordnungen, aktuelle Zahlen, Zustandsbeschreibungen u. a.) zusammen und berichten dem Plenum darüber. über debattierte Themen finden in der Vollversammlung Abstimmungen zum weiteren Vorgehen statt. Diese können organisatorische Punkte wie die Festsetzung des Versammlungsorts betreffen oder inhaltliche Themen wie den Beschluss, den Sekretär für städtische Dienstleistungen und weitere Stellen mittels einer formellen Anfrage (ofício) aufzufordern, Auskünfte zu konkreten Fragen das Thema Abfallentsorgung betreffend zu erteilen. Die Organisationsweise des Forums wird permanent thematisiert, wobei es hauptsächlich darum geht, wie das Besprochene und Beschlossene der Stadtverwaltung mitgeteilt wird und mit welchen Mitteln die entsprechenden öffentlichen Stellen dazu gebracht werden können, dass die Forderungen tatsächlich umgesetzt werden. Offen ist die Frage, ob und wenn ja in welcher Form Vertreter_innen der Stadtverwaltung und der Stadtregierung an den Vollversammlungen teilnehmen sollen. Daneben werden immer wieder Kooperationen mit anderen Vereinigungen und Foren diskutiert, die sich entweder mit ähnlichen Themen in anderen Teilen der Stadt oder mit speziellen Themen für die ganze Stadt beschäftigen und deshalb interessant sein könnten. Zudem gibt es gelegentlich auch rein thematische Treffen, in denen anhand eines Vortrags eines Experten_einer Expertin bestimmte Themen (bspw. wiederkehrende überschwemmungen im Zentrum) erörtert werden. Die anfangs wöchentlichen und ab der zweiten Hälfte des Jahres 2010 14-täglichen Sitzungen des Exekutivausschusses dienen überwiegend der Vor- und Nachbereitung der Vollversammlungen sowie der Behandlung von organisatorischen Fragen, die das FCSP betreffen. In diesen Sitzungen werden die Beschlüsse des Plenums ggf. umgesetzt (bspw. Verfassen der formellen Anfrage (ofício) zum Thema Müllentsorgung). Eigene Beschlüsse kann der Exekutivausschuss hingegen nicht treffen, da diese den Versammlungen vorbehalten sind. Ferner werden künftige Themen, mit denen sich das FCSP beschäftigen könnte, erörtert. Außerdem geht es auch darum, wie Ergebnisse der Vollversammlungen festgehalten (bspw. per Video-Aufnahme) und bekannt gemacht (per Weblog u. a.) werden sollen. Die
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Sitzungen dienen auch zur Lösungsfindung für bestehende Probleme. Als verbesserungswürdig wird allgemein die digitale Kommunikation (Homepage, E-Mails, Blog etc.) erachtet, für die die erforderliche Expertise fehlt. Grundsätzlich problematisch gestaltet sich die Finanzierung der Arbeit des FCSP, die weitgehend ungelöst ist. Auch nicht endgültig geklärt scheint die Frage der Zusammensetzung des Exekutivausschusses zu sein. Diskutiert wurde in diesem Zusammenhang z. B., dass hauptsächlich diejenigen vertreten sein sollen, die das FCSP initiiert haben. Allerdings sind die geringen Teilnehmer_innenzahlen an den Treffen ein halbes Jahr nach der Implementierung des FCSP das grundsätzlichere Problem.179 Diskutiert wird im Rahmen der Sitzungen des Exekutivausschusses auch immer wieder die Beteiligung anderer Foren und Organisationen wie Fórum Centro Vivo und Instituto Pólis am FCSP und das wechselseitige Verhältnis zu diesen Zusammenschlüssen. Thematisiert wird ferner immer wieder das Verhältnis zwischen dem FCSP und der Promotoria Comunitária do Centro (vgl. Kap. 4.6.1.5) – deren Vertreter, Staatsanwalt Augusto Rossini, an den Sitzungen und Vollversammlungen des FCSP im Jahr 2010 teilnahm – und wie sich beide voneinander unterscheiden. 4.6.1.5
Promotoria Comunitária do Centro – Mediator zur Lösung von Problemen im Zentrum
Die Promotoria (de Justiça) Comunitária do Centro (PJCC; Gemeinwesen orientierte Staatsanwaltschaft des Zentrums bzw. Stadteilanwaltschaft) wurde Ende Juni 2010 gegründet. Sie ist eine spezielle Beratungseinrichtung der Staatsanwaltschaft des Bundesstaats São Paulo. Der erste für diese Einrichtung zuständige Staatsanwalt war Augusto Rossini, der zuvor schon eine vergleichbare Einrichtung im Süden São Paulos u. a. im Distrikt Jardim Ângela eingerichtet und geleitet hatte und die dort u. a. zu einer deutlichen Reduktion der Mordraten beigetragen hat (zur Promotoria Comunitária no Júri de Santo Amaros vgl. MarTiNs eT al. 2008, S. 319 ff.). Als Mission für die mittlerweile mehreren PJCs in São Paulo heißt es in einer Informationsbroschüre: „Die Gemeinwesen orientierte Staatsanwaltschaft ist ein Projekt, durch das die Staatsanwaltschaft des Bundesstaats São Paulo Lösungen für soziale Probleme und öffentliche Politiken sucht, die direkt oder indirekt Fragen der öffentlichen Sicherheit und der Strafjustiz betreffen. Diese Initiative stellt ein neues institutionelles Paradigma dar, da sich die Staatsanwaltschaft, die sich zuvor nur der Strafverfolgung gewidmet hat, nun auch mit der Prävention beschäftigt und dabei die Zivilgesellschaft, die Sicherheitsorgane, die öffentlichen Stellen und andere miteinbezieht. Die Gemeinwesen orientierte Staatsanwaltschaft ist aber nicht nur eine neue Herangehensweise, sondern eine neue Philosophie, die entwickelt wurde, um die Staatsanwaltschaft zu einer Einrichtung zu machen, die der Gemeinschaft bei der Suche nach effektiven Ergebnissen zur Verbesserung der Lebensqualität stärker verpflichtet ist“180 (assessoria esPecial de ProMoToria coMuNiTária 2011. S. 6; eigene übersetzung). 179 Wiederum ein Jahr später (07 / 2011) bemerkte Carlos Beutel in einem Gespräch, dass nur (noch) wenige Personen aktiv an den Sitzungen des Exekutivausschusses teilnähmen und er es hauptsächlich am Laufen hielte (Gespräch mit Carlos Beutel, 14.07.2011 in São Paulo). 180 „A Promotoria Comunitária é um projeto por meio do qual o Ministério Público do Estado de
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Ausgehend von einem ähnlichen Vorbild in den uSA (community prosecution) zielt die Arbeit einer PJC darauf ab, gemeinsam mit der Bevölkerung und anderen beteiligten Stakeholdern Probleme eines Gebiets zu identifizieren und dafür Lösungen zu finden. Die mit der Betreuung der jeweiligen PJC beauftragten Staatsanwälte sollten dafür in Kontakt mit der entsprechenden Gemeinschaft und anderen Vertreter_innen von Gruppen, die dort agieren, treten und im wechselseitigen Austausch bleiben. Ziel ist es, die problembehaftete Situation und die Interessen der dabei beteiligten Akteure möglichst gut zu verstehen, um dann gemeinsam nach möglichen Lösungen, die jenseits des klassischen Instrumentariums der Anklage und Verurteilung liegen, zu suchen. um dies zu erreichen, sind regelmäßige Besprechungen mit dem Ziel der Vernetzung mit der Gemeinschaft und anderen Beteiligten in deren Stadtteil erforderlich. Im Zentrum war die Gründung der PJC ein zentrales Anliegen des kurz zuvor gegründeten FCSP (vgl. Kap. 4.6.1.4). Aus diesem Grund haben sich Vertreter_innen des Forums an die Staatsanwaltschaft gewandt, mit der Bitte um Einrichtung einer PJC für das Zentrum, und diese hat dem Wunsch stattgegeben. Bei der Gründungsveranstaltung beschrieb Rossini die Aufgabe der PJCC: „Die Netzwerkarbeit funktioniert. Wir müssen eine gemeinsame Vorgehensweise erreichen zwischen den diversen Netzen, also den Bewegungen, Vereinigungen, NGOs, Organisationen der Zivilgesellschaft, den Beiräten und den Foren, um einen Dialog in Gang zu setzen. Die Rolle der Staatsanwaltschaft wird die eines Mediators sein.“
und der Generalstaatsanwalt ergänzt: „Die PJCC wird das Instrument sein, mit dem wir einen Konsens über die Probleme des Zentrums herstellen werden, denn die Visionen sind unterschiedlich. Wir müssen eine Agenda mit Prioritäten erarbeiten, einen offenen und ehrlichen Dialog initiieren und sicherlich werden wir viele Probleme lösen“181 (beide zit. in: http://forumdocentrosp.wordpress.com/2010/09/14/ centro-de-sao-paulo-ganha-promotoria-comunitaria/, Zugriff: 19.10.2014; eigene übersetzung).
Die PJCC und das FCSP arbeiten einerseits eng zusammen, was sich beispielsweise darin äußert, dass zu den Sitzungen in beider Namen eingeladen wird. Der im Jahr 2010 und Anfang 2011 zuständige Staatsanwalt Rossini nahm sowohl an den Vollversammlungen als auch an den Sitzungen teil, die er beide fallweise auch modeSão Paulo atua na busca de soluções para problemas sociais e das políticas públicas que interferem direta ou indiretamente nas questões de segurança pública e justiça criminal. Essa iniciativa representa um novo paradigma institucional, pois o MP, antes voltado à repressão, passa a atuar também na prevenção, envolvendo para isso a sociedade civil, as polícias, os órgãos públicos, dentre outros. A Promotoria Comunitária não é apenas um novo método de trabalho, mas uma nova filosofia que vem sendo implantada para fazer do Ministério Público uma instituição mais comprometida com a comunidade e com a busca de resultados efetivos para a melhoria da qualidade de vida das pessoas.“ 181 „O trabalho em rede funciona. Devemos criar uma ação articulada entre as diversas redes, que são os movimentos, as associações, as ONGs, as OSCIPs, os conselhos e os fóruns, para construir um diálogo. O papel do Ministério Público será o de mediador.“ – „A Promotoria Comunitária será o instrumento por meio do qual formaremos um consenso sobre os problemas do Centro, pois as visões são diferentes. Precisamos fazer uma agenda com prioridades, estabelecer um diálogo franco e aberto, e com certeza resolveremos muitos problemas.“
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rierte. Auf der anderen Seite betonte Carlos Beutel in den Sitzungen auch die unterschiede beider Einrichtungen. Seiner Meinung nach ist die PJCC Mitglied des Forums und Rossini ein Teilnehmer an den Vollversammlungen. Sitzungen, die von der PJCC unabhängig vom FCSP einberufen worden wären, fanden 2010 und 2011 nicht statt. Von einem Vertreter einer sozialen NGO wird die Initiative Rossinis zur Bildung der PJCC einerseits begrüßt, andererseits werden aber auch Schwachstellen zu bedenken gegeben. „Dadurch, dass er [Rossini] es ist, der sie [die PJCC] vorantreibt, glaube ich, dass eine gute Sache dabei herauskommen sollte. Eine Person, die eine Vergangenheit hat. Er hat eine sehr wichtige Arbeit in der Zona Sul von São Paulo geleistet, angesichts einer Region, deren Gewaltraten als die höchsten der Welt betrachtet wurden, in [den Distrikten] Jardim Ângela und Capão Redondo. Er war eine der Personen, die die Arbeit einer PJC begonnen haben. Zusammen mit vielen Personen haben die verschiedenen Arbeiten zur Annäherung an die Bevölkerung in dieser Region beigetragen. […] Angesichts eines gewalttätigen Prozesses wurde die Bedeutung von Investitionen in Soziales betont. und die Gewaltindikatoren sanken in der Region stark. […] Aber es scheint mir bei einem ersten Eindruck so zu sein, […] dass die Gruppen, die sich [im FCSP] zusammengeschlossen haben, nicht viele Leute aus dem Bereich der sozialen Bewegungen umfassen, die andere Themen einbringen könnten. […] Das Problem, das sie zum [drängendsten] Problem des Zentrums erklärt haben, ist der Abfall, aber es gibt viele andere Probleme. […] Die Gruppe, die anwesend war, hat eine ziemlich begrenzte Vision vom Zentrum oder sehr begrenzte Interessen. […] Nun, mein Vertrauen rührt von der Person her, die es begonnen hat anzustoßen. Nach allem was ich kenne und weiß, zeichnet sich diese durch Ernsthaftigkeit aus. Wie es allerdings sein wird, weiß ich noch nicht. [...] Ich glaube, es ist eine interessante Initiative. Mir scheint, als ob Rossini wieder aus dem Zentrum in die Zona Sul wechseln wird. Diese Sachen hängen sehr von den Kapazitäten derer ab, die beim Anstoßen helfen. […] Der Eindruck, den ich habe, geht in zwei Richtungen: Erstens ist sie [die PJCC] durch vertrauenswürdige Personen initiiert. Andererseits: Die Repräsentativität [derer, die im FCSP vertreten sind,] ist sehr eingeschränkt. Wir [CGG] waren tatsächlich nicht eingeladen, vielleicht aus Ignoranz derer, die einluden. […] Damit es eine PJC ist, müssen alle Seiten mitmachen, wenn nicht, bleibt sie begrenzt und wird die Probleme nicht angehen.“182
182 „Por ser ele [Rossini] que está puxando, eu acho que deve ser sair coisa boa. uma pessoa que tem uma história. Ele fez um trabalho muito importante na zona sul de SP, quanto a uma região de os índices de violência considerados mais alto do mundo que é JA e CR. E ele foi uma das pessoas que desbravou um trabalho de uma PJC. Junto com muita gente e fizeram vários trabalhos naquela região de aproximação da população. [...] Frente a frente do processo da violência dá importância de investimento no social. E indicadores de violência da região caíram muito. [...] Agora, me parece que no primeiro momento os grupos que agregaram [...], não teve muita gente da área dos movimentos sociais que poderia levar outros tipos de problema. [...] O problema que levantaram como o problema do centro é o lixo, tem muitos outros problemas. [...] O grupo que estava presente tem uma visão bastante parcial do Centro ou interesse muito parcial. [...] Agora, meu crédito é pela pessoa que começou puxar. Pelo que tudo que eu conheço e sei isso legitima muita seriedade. Agora que vai ser ainda não sei. [...] Acho que é uma iniciativa interessante. Me parece que o Rossini está saindo do Centro, está voltando para região sul de novo. Estas coisas dependem muito da capacidade de quem ajuda puxar. [...] A impressão que tenho que dar para seguir por dois lados: um, está sendo puxado por gente séria. Outra: começou sendo puxado com representatividade muito limitada. [...] Nos nem fomos convidados de fato, talvez pela ignorância de quem articulou. [...] Para ser uma promotoria comunitária tem que ter todos os lados, se não fica muito parcial, ai não vai enfrentar o problema“ (Interview mit
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4 Fallstudie São Paulo
Tab. 7: Zusammenfassende Darstellung der an Innenstadtrevitalisierung interessierten Organisationen im Zentrum São Paulos (eigene Erhebungen und Zusammenstellung) Organisationen
Mitglieder / Vertretung für
AVC (Associação Viva o Centro; Verein „Es lebe das Zentrum”)
v. a. unternehmen und andere juristische Personen
Interessen und Ziele (im Zusammenhang mit Innenstadterneuerung)
Bestrebungen mit Blick auf öffentlichen Raum
Einschätzung von Innenstadterneuerungsmaßnahmen u. ä.
Erhaltung / Schaffung des Zentrums als multifunktionaler Raum
Öffentlicher Raum als Ort der Bürgerschaft
interesse an wirtschaftlichen Dienstleistungen als Funktionen
Kein umfassenÖffentlicher des Programm Raum muss für Zentrum repräsentabel sein vorhanden
Qualität (derzeit) unzureichend
unzufriedenheit mit Arbeit der Stadtverwaltung und -regierung im Zentrum
Zentrum als symbolischer Ort
Sicherer öffentlicher Raum für positives Marketing
nachbarschaft einer Straße (Bewohner_innen [der Mittelschicht] und geschäftstreibende)
Verbesserungen in der nachbarschaft
Verbesserungen im öffentlichen Raum
Zusammenschluss zum austausch
Instandhaltung und Pflege
CONSEG-Centro (Conselho Comunitário de Segurança do Centro; Beirat für öffentliche Sicherheit im Zentrum)
Diverse Stakeholder des gebiets und Bewohner_innen (der Mittelschicht)
unmittelbare Kommunikation mit Polizei und Vertretern der öffentliche Hand (Möglichkeit gegeben)
FCSP (Fórum do Centro de São Paulo; Forum des Zentrums São Paulos)
Möglichst viele interessenvertreter_innen, Vertretungen von Gruppen, die unterschiedliche Zielrichtungen im Zentrum verfolgen
Kommunikation zw. Zivilgesellschaft und Verwaltung
Im Idealfall Vertreter_innen aller mit dem Zentrum befassten Organisationen
gewaltprävention Öffentliche Sicherheit für alle Verbesserung der Lebensqualität
ALs (Ações Locais; Lokale Aktionen)
PJCC (Promotoria (de Justiça) Comunitária do Centro; Gemeinwesen orientierte Staatsanwaltschaft im Zentrum)
Bindeglied zwischen AVC und basis
Verbesserung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung
breite behandlung der Abfallproblematik, öffentliche Sicherheit, breite Diskussion Instandhaltung mit heterogenen des öffentlichen Standpunkten Raums Zivilgesellschaft als Stakeholder der innenstadterneuerung
Problemidentifikation und Lösungsfindung
Meist unzufrieden mit Zustand des öffentlichen Raums wegen unzureichender Aufmerksamkeit vonseiten der öffentlichen hand
Meist unzufrieden mit öffentlichem Raum wegen unzureichender Aufmerksamkeit der öffentlichen hand zu wenig Polizeipräsenz Ausbaufähiger Kontakt zur Stadtverwaltung und −regierung
breite behandlung der Obdachlosenthematik
(latente) Konflikte
…mit informellem Straßenhandel (in der Vergangenheit) …zwischen Anwohner_innen / geschäftstreibenden und Obdachlosen Problematische rolle von karitativen ngOs zugunsten der Obdachlosen …mit Drogenabhängigen, Obdachlosen, Straßenhändler_innen
…mit Drogenabhängigen, Obdachlosen, Straßenhändler_innen
…unmittelbar in den Sitzungen wegen unterschiedlicher Standpunkte der teilnehmenden Akteure zu den jeweiligen Themen (intern)
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4.6 Organisationen im Paulistaner Prozess der Innenstadterneuerung
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Die Vermutung eines Weggangs Rossinis wird durch entsprechende Aussagen in den Protokollen der 11. und 12. Vollversammlung bestätigt. Im ersten Halbjahr 2011 wechselte er von São Paulo nach Brasília an die im Justizministerium angesiedelte Nationale Gefängnisbehörde. Auch wenn in den Protokollen ein Nachfolger genannt wird, bemerkt Carlos Beutel, dass es keinen Nachfolger für die PJCC gäbe.183 unabhängig davon, ob es de jure oder de facto keinen Verantwortlichen für die PJCC gibt, bewahrheitet sich mit der Tatsache, dass es keine regelmäßigen Treffen mehr mit einem zuständigen Staatsanwalt zu geben scheint, die angesprochene Problematik, dass diese Initiativen in starkem Maße von den Kapazitäten der Mitarbeitenden abhängen. Die Aussage des NGO-Vertreters macht ferner die Problematik des nicht endgültig geklärten Verhältnisses zwischen der PJCC und dem FCSP deutlich. Außerdem wird die bereits in den Sitzungen des Exekutivausschusses geäußerte Notwendigkeit, weitere NGOs, Bewegungen und Interessenvertretungen mit einzubeziehen, durch den Vertreter bekräftigt. 4.6.2
Die „Resozialisierer“ – Organisationen im Einsatz für Benachteiligte in der innenstadt
Neben den beschriebenen Organisationen, die sich für eine Innenstadtrevitalisierung einsetzen, gibt es auch solche, deren Aufgabe eine möglichst inkludierende, v. a. auch benachteiligte Gruppen berücksichtigende Beschäftigung mit dem Zentrum ist. Andere zielen auf die unterstützung von bestimmten Gruppen ab, die im Zentrum bei anstehenden Maßnahmen über keine oder nur eine begrenzte Lobby verfügen. Wieder andere sind unmittelbare Interessenvertretungen von benachteiligten Bevölkerungsteilen. Das Fórum Centro Vivo (FCV) vereinigt eine vielfältige Bandbreite von Vereinigungen, sozialen Bewegungen und anderen Vertretungen, die sich einer umfassenden, alle Interessen berücksichtigenden Lösung von Problemen in der Innenstadt und der Inklusion von Benachteiligten verpflichtet fühlen. Das FCV kann vor diesem Hintergrund teilweise als oppositionell zur AVC verstanden werden. Weitere Organisationen fokussieren auf spezielle Gruppen von Benachteiligten. Wegen der aktuellen Bedeutung der (vermeintlichen) Probleme durch bzw. von Obdachlosen, die immer wieder zur Sprache kommen, spielten im Rahmen der Feldforschung solche Zusammenschlüsse, die sich mit Obdachlosen beschäftigen, eine größere Rolle. Dabei ist zum einen eine der Selbstorganisationen der Obdachlosen, das Movimento Nacional da População de Rua (MNPR), von Bedeutung. Außerdem werden zwei NGOs vorgestellt, die sich mit der Situation der Obdachlosen beschäftigen. Teilweise diskursiv damit verbunden – auch aufgrund stattfindender Verallgemeinerungen – sind andere verwundbare Gruppen im öffentlichen Raum wie die der Recyclingmaterialsammler_innen und Straßenhändler_innen. Mit beiden genannten Gruppen beschäftigt sich die NGO Centro Gaspar Luiz Tokuzi Kohara, Koordinator des Centro Gaspar Garcia de Direitos Humanos, am 21.09.2010 in São Paulo). 183 Gespräch mit Carlos Beutel am 14.07.2011 in São Paulo.
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4 Fallstudie São Paulo
Garcia dos Direitos Humanos, deren Einschätzungen zu Entwicklungen im Zentrum wiedergegeben werden. Die (informellen) Straßenhändler_innen stellen eine Gruppe dar, die aus dem öffentlichen Raum bereits weitgehend verdrängt wurde. Die Vertretung der lizensierten Straßenhändler, das Sindicato dos Permissionários de São Paulo (SINPESP), wird beschrieben. Das Verhältnis der Recyclingmaterialsammler_innen zum öffentlichen Raum und die mit ihnen in Beziehung stehenden Fragen der Innenstadterneuerung allgemein werden anhand des Beispiels der in diesem Bereich tätigen Kooperative CooperGlicério dargestellt (Zusammenfassung s. Tab. 8). 4.6.2.1
Das Fórum Centro Vivo
Das Fórum Centro Vivo (FCV; Forum „Lebendiges Zentrum“) wurde im Dezember 2000 gegründet. Es geht zurück auf ein Seminar mit dem Titel „Volksbewegungen und universität“ („Movimentos Populares e universidade“) im Mai desselben Jahres, das von Studierenden der universidade de São Paulo, Mitgliedern der Vereinigung der Volksbewegungen (Central dos Movimentos Populares; CMP) und Angehörigen der união de Movimentos por Moradia-São Paulo (uMM-SP; Zusammenschluss der sozialen Bewegungen für Wohnraum) organisiert wurde (Nobre 2009, S. 225). Die Motivation der Gründung wird in einer Publikation des Fórum Centro Vivo so beschrieben: „Seine Gründung war verbunden mit der Notwendigkeit der Schaffung eines Raums für Treffen, Debatten, Reflexionen, wechselseitige unterstützung und den Kampf im Hinblick auf die Demokratisierung und die Verteidigung der Rechte im Stadtzentrum, im Gegensatz zu öffentlichen und privaten Projekten und Aktionen, die in vielen Fällen die am meisten verwundbaren Gruppen missachteten und negativ betrafen oder ausschließlich private Interessen und solche der Immobilienwirtschaft berücksichtigten. Daher zielt das FCV darauf ab, alle Personen und Organisationen miteinander zu verbinden, die für ein Bleiberecht im Zentrum kämpfen, und außerdem darum, das Zentrum in einen besseren und demokratischeren Ort zu verwandeln, um sich so dem städtischen Erneuerungsprozess und der Exklusion, die in São Paulo vor sich geht, entgegenzustellen“184 (FCV 2006, S. 1; eigene übersetzung).
Im FCV ist eine breite Palette unterschiedlicher Gruppen und Bündnissen zusammengeschlossen. Dazu zählen Studierende verschiedener universitäten, mit sozialen Belangen befasste NGOs, soziale Bewegungen von benachteiligten Gruppen und gewerkschaftliche Vereinigungen.
184 „Sua criação estava associada à necessidade de um espaço para encontro, debates, reflexão, articulação, fortalecimento mútuo e luta na perspectiva de democratização e defesa dos direitos no centro da cidade, como contraponto a projetos e ações públicas e privadas que, em muitos casos, desconsideravam e afetavam negativamente os grupos mais vulneráveis ou atendiam apenas a interesses privados e de ordem econômica e imobiliária. Assim, o FCV tem por objetivo articular todas as pessoas e organizações que lutam pelo direito de permanecer no centro e transformá-lo em um lugar melhor e mais democrático, contrapondo-se, assim, ao processo de renovação urbana e exclusão que vem ocorrendo em São Paulo.“
4.6 Organisationen im Paulistaner Prozess der Innenstadterneuerung
275
In einem Grundsatzpapier wurden im Anschluss an eine breite Diskussion unter den Aktivist_innen zwölf Prinzipien, denen die Arbeit des Forums folgen soll, festgelegt (FCV 2006, S. 1 f.): 1. Kampf um soziale Gerechtigkeit und eine Stadtreform 2. Verteidigung der Sozialfunktion des Eigentums 3. Einsatz für eine Wohnpolitik zugunsten ärmerer Bevölkerungsteile im Zentrum 4. Aufbau einer solidarischen Ökonomie 5. Engagement für die demokratische Nutzung des öffentlichen Raums 6. Garantie einer breiten Zugänglichkeit und Erreichbarkeit des Zentrums 7. Schutz der Geschichte und der Erinnerung als lebendiges Erbe 8. Demokratischer Zugang zu kulturellen Gütern und Informationen 9. Engagement gegen die repressive Behandlung benachteiligter Bevölkerungsgruppen im Zentrum 10. Hinterfragen der Legitimität der operações urbanas 11. Breite Beteiligung aller bei Festlegung der Stadtpolitiken 12. unterstützung von Volksbewegungen und anderen Kämpfen für soziale Rechte im Zentrum In diesem Themenspektrum rund um Fragen und Anliegen zu Innenstadterneuerungsmaßnahmen finden Debatten und Seminare unter den Mitgliedern ebenso statt wie öffentliche Kundgebungen und Verlautbarungen mit Meinungen und Einschätzungen über geplante Maßnahmen. Das FCV arbeitete ferner in anderen Gremien mit, die sich mit Themen der Innenstadterneuerung beschäftigten. Eine zentrale Verlautbarung der Interessen der im FCV zusammengeschlossenen Gruppen stellt das „Manifest für ein lebendiges Zentrum – Das Zentrum der Stadtreform“ (Manifesto por um centro vivo – O centro da reforma urbana) von 2004 dar (FCV 2004). Das öffentlich im Rahmen einer Theateraufführung und Kundgebung auf der Praça da Sé vorgestellte und von 22 Organisationen und weiteren 141 Vertreter_innen von Organisationen und anderen Aktiven unterzeichnete Manifest umfasst neben den 12 grundsätzlichen Prinzipien, zu denen sich die unterzeichner_innen bekennen, 13 konkrete und aus Sicht des FCV unmittelbar umsetzbare Maßnahmen, die eine erste Konkretisierung der 12 allgemeinen Ziele darstellen können. Während der Laufzeit des Programms „Ação Centro“ (2003–2004) unter der Regierung von Marta Suplicy (vgl. Kap. 4.4.3) war das FCV eines der berufenen Mitglieder im Forum zur sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung des Zentrums, das als Beratungs- und Beschlussgremium für das Programm vorgesehen war (silVa 2006, S. 168). Mit der Ablösung der Regierung von Marta Suplicy im Jahr 2004 wurde auch dieses Forum aufgelöst. Stattdessen kam es unter der Nachfolgeregierung von Serra zu einer Reihe von repressiven Maßnahmen gegenüber benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Das FCV griff diese auf, sammelte sie und verfasste auf dieser Basis ein dieses Vorgehen anklagendes Dossier (FCV 2006) mit dem Titel „Menschenrechtsverletzungen im Zentrum São Paulos: Vorschläge und Forderungen für öffentliche Politiken“, das 2006 erschien. Darin werden in einer strukturierten Weise, gegliedert nach den unterschiedlich benachteiligten Gruppen (wohnsitzlose oder unter prekären umständen wohnende Familien, Recyclingma-
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4 Fallstudie São Paulo
terialsammler_innen, Obdachlose, Straßenkinder, informelle Straßenhändler_innen und kriminalisierte sozialen Bewegungen), zunächst der jeweilige stadtpolitische Kontext dargestellt, bevor im Anschluss die überwiegend staatlichen Stellen zur Last gelegten Menschenrechtsverletzungen – ausgehend von diversen Paragraphen der brasilianischen Verfassung von 1988 und anderen Gesetzen, in denen die jeweiligen Rechte verankert sind, und basierend auf Zeugenaussagen und Beobachtungen – geschildert werden, gefolgt von entsprechenden Vorschlägen und Forderungen zur Verbesserung der Situationen. Abschließend dienen Medienberichte zu den einzelnen Sachverhalten als weitere Form des Belegs der übergriffe und Repressionen. Im Rahmen der Feldforschungen wurde die Arbeit des FCV durch die teilnehmende Beobachtung von Sitzungen begleitet und weitere Informationen in Gesprächen mit im Forum Aktiven gewonnen.185 Aufgrund der offenen Forenstruktur und der daraus resultierenden Tatsache fehlender (gewählter) Vertreter_innen, sind die Resultate aus diesen Gesprächen nicht als solche zu verstehen, die im Namen des Forums erfolgten, sondern als solche, die von dort aktiven Akademikerinnen über das Forum gemacht wurden. Der Regierungswechsel 2004 / 2005 stellte hinsichtlich der Arbeit des FCV eine Zäsur dar. In den Jahren 2004 bis 2006 sei das Forum stark gewesen, während in der Amtszeit von Serra gewisse Auflösungstendenzen sichtbar wurden. Der Hintergrund sei gewesen, dass die Regierungen Serra / Kassab individuell mit den einzelnen sozialen Bewegungen über deren Bedürfnisse verhandelt hätten und sich die sozialen Bewegungen dadurch auseinanderdividieren haben lassen, was zu Zerwürfnissen zwischen den Bewegungen geführt habe. Die aufscheinenden Diskrepanzen betreffen bspw. die Bereitschaft zu bzw. die Ablehnung von Abkommen mit der Stadtverwaltung für bestimmte soziale Dienstleistungen mit entsprechender Finanzierung durch die Stadt. Während die Organisationen, die in diese Abkommen einwilligen, einen eher pragmatischen Zugang zur unmittelbaren Verbesserung der Situation ihrer Anhängerschaft und Dritter verfolgen, lehnen andere sie ab, um nicht in Abhängigkeiten zu geraten, die die Auseinandersetzung mit und den Protest gegen Erneuerungsmaßnahmen, die aus ihrem Blickwinkel negative Implikationen mit sich bringen, gefährden könnten. Diese Aufspaltung von sozialen Bewegungen führte letztendlich dazu, dass immer weniger von ihnen an den Treffen des FCV teilgenommen hätten, da das Ziel der Bündelung der Interessen der sozialen Bewegungen zu deren Stärkung aufgrund der geschilderten Entwicklung an Bedeutung verloren hätte. Von den sozialen Bewegungen beteiligten sich zuletzt hauptsächlich noch die der Obdachlosen, der Recyclingmaterialsammler_innen und die, die sich um adäquaten Wohnraum bemühen. Immer schon schwierig sei hingegen die Teilnahme von Vertretungen der (informellen) Straßenhändler_innen gewesen, was u. a. mit ihren teilweise gegebenen Verwicklungen in Schmiergeldzahlungen verbunden sei (vgl. zu den Geldzuwendungen an Behördenvertreter iTiKaWa 2006, S. 188 ff.). Außerdem nahm auch die Zahl der universitären Mitglieder am FCV ab, 185 Teilnehmende Beobachtung an Sitzungen des FCV am 31.08.2010 und 28.09.2010 und Gespräche mit Márcia am 30.09.2009 und 30.07.2010 und Renata am 18.08.2010 in São Paulo.
4.6 Organisationen im Paulistaner Prozess der Innenstadterneuerung
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sodass im Jahr 2009 nur noch ca. fünf bis sechs Aktive regelmäßig für das FCV engagiert gewesen seien. Die Aussagen der Aktiven decken sich mit den Beobachtungen bei den beiden Treffen des FCV. Die 10–15 Anwesenden diskutierten überwiegend Herausforderungen, die einer Wiederbelebung des Forums im Wege stünden. Dazu zählten intern die allgemein geringe Beteiligung an den Treffen, das geringe Verantwortungsbewusstsein von Akteuren, der Bedeutungsgewinn von Partikularinteressen gegenüber denen des Kollektivs und ideologische Brüche zwischen den beteiligen Gruppen sowie solche, die aus den unterschiedlichen Organisationsformen und Motivationen (NGOs gegenüber sozialen Bewegungen) resultieren. unzufriedenheit bestand bei einigen Teilnehmer_innen im Hinblick auf eine wahrgenommene Hierarchisierung der behandelten Themen. Danach würden oft die Fragen nach Wohnraum im Zentrum prioritär behandelt. Als externes Hindernis wurde die allgemeine Krise der partizipativen Demokratie unter den Regierungen Serra / Kassab problematisiert und damit die fehlenden Kommunikationskanäle mit der Stadtverwaltung und -regierung. Es bestand unklarheit darüber, wie es gelingen kann, das FCV zu stärken und Vollversammlungen mit einer großen Zahl an Teilnehmer_innen einzuberufen und dabei nicht nur auf digitale Kommunikationskanäle (Rundmails) zurückzugreifen, sondern auch andere zu nutzen. Ferner wurde auf Anregung einer Teilnehmerin, die sowohl Versammlungen des FCSP als auch Sitzungen des FCV besucht, ebenfalls ergebnisoffen über die beiden neuen Einrichtungen im Zentrum, das FCSP sowie die PJCC diskutiert und ob und wenn ja, wie sich das FCV dort engagieren könnte. Inhaltliche Themen beschränkten sich überwiegend auf Bekanntmachungen von Veranstaltungen und Aktionen von sozialen Bewegungen und anderen Gruppierungen. Ein weiteres Problem stellt die Räumlichkeit dar, in der sich das Forum seit 2008 trifft. Es handelt sich um das von verschiedenen Gruppen selbstverwaltete, politisch-kulturelle Zentrum „Ay Carmela!“ in einem kleinen Gebäude in unmittelbarer Nähe zur Praça da Sé im Zentrum der Stadt. Zu seiner unterhaltung sind monatliche Ausgaben in der Höhe von ca. 2000 R$ (ca. 900 € mit Wechselkurs von 09 / 2010) aufzubringen, was für die beteiligten Gruppen eine erhebliche finanzielle Belastung darstellt, die kaum zu leisten ist (zu „Ay Carmela!“ s. NoWoTNiK 2011, S. 105 ff.). Mutmaßlich aus finanziellen Gründen war das Zentrum „Ay Carmela!“ beim letzten Feldaufenthalt im Jahr 2011 geschlossen. Die im Jahr 2010 angestrebte Neuauflage regelmäßiger Versammlungen des FCV konnte ebenfalls nicht dauerhaft realisiert werden. Nach Aussagen von Márcia findet unter dem Dach des FCV kein gemeinsames Auftreten mehr statt. Die dort zusammengeschlossenen Organisationen und Bewegungen engagierten sich entweder in der einen oder anderen Weise vermutlich weiter für Themen des Zentrums, oder sie haben neue Zusammenschlüsse gebildet, die ggf. auch auf neue Oberthemen wie die Konsequenzen der Fußballweltmeisterschaft der Männer 2014, den neuen Plano Diretor São Paulos oder die Frage der Räumungen von Wohnstätten in Gebäuden und auf Geländen fokussieren.186
186 E-Mail von Márcia am 01.11.2014.
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4 Fallstudie São Paulo
4.6.2.2
Movimento Nacional da População de Rua – Selbstermächtigung der Schwächsten?
Obdachlose sind im Zentrum von São Paulo in erhöhtem Maße von Verdrängung betroffen (vgl. Kap. 4.5.4). Im Jahr 2004 kam es in São Paulo zu massiven übergriffe auf Obdachlose, bei denen sieben Menschen ums Leben kamen. Anderson Lopes Miranda, Koordinator der Nationalen Bewegung der Obdachlosen (Movimento Nacional da População de Rua; MNPR), schildert in diesem Zusammenhang die Gründung der Bewegung: „Wir haben 2004 begonnen uns zu organisieren. [Damals] gab es ein großes Massaker in São Paulo: 19 Personen wurden tätlich angegriffen und sieben fielen diesen Angriffen zum Opfer. und da haben wir uns gefragt: ‚Warum nicht eine Bewegung für öffentliche Politiken [zugunsten von Obdachlosen] gründen?‘ Also, die Bewegung dient dazu, Druck auf den Präsidenten der Republik, die Gouverneure und die Bürgermeister auszuüben [...] und um Inklusionsmaßnahmen zu kämpfen, nicht nur im Bereich der sozialen Fürsorge, sondern auch in den Bereichen Wohnen, Gesundheit, Bildung, Arbeit, Sport, Kultur, ..., damit diese Personen wieder eingegliedert werden können. Diese Personen sind nicht aus der Gesellschaft ausgestiegen, sie wurden von der Gesellschaft ausgeschlossen. Also, die Bewegung wurde gegründet, um den Leuten, die sich auf der Straße befinden, Sichtbarkeit zu verschaffen [...], damit die Gesellschaft beginnt, an der Diskussion teilzunehmen: Wer ist diese Bevölkerung, wie lebt sie und warum sind sie auf der Straße? [...] Wir sind gekommen, um unbequem zu sein, um Sichtbarkeit zu verschaffen: ‚Schaut, wir sind hier und wir wollen Lösungen der Probleme!‘“187
Der Gründung vorausgegangen war das Fórum Permanente de Acompanhamento das Políticas Públicas para a População em Situação de Rua de São Paulo (Dauerhaftes Forum der Begleitung der öffentlichen Politiken für die Bevölkerung auf der Straße in São Paulo), das sich aus verschiedenen sozialen Einrichtungen wie der Obdachlosenseelsorge (Pastoral do Povo da Rua), dem Centro Gaspar Garcia de Direitos Humanos (vgl. Kap. 4.6.2.5), und der Rede Rua de Comunicação (vgl. Kap. 4.6.2.3) zusammensetzt. ursprünglich in São Paulo gegründet, wurde die Bewegung anschließend im Bundesstaat Minas Gerais aktiv. 2010 war sie in acht Städten vertreten, wobei Anderson die Auffassung vertritt, dass sie noch erheblich wachsen müsse. In São Paulo wurde vom MNPR die eigene Vollversammlung „Fala Rua“ ins Leben gerufen, um dadurch bekannter zu werden. Diese findet jeweils am ersten Samstag eines Monats im Casa de Oração do Povo da Rua (Haus des Gebets der Obdachlosen) der Erzdiözese São Paulo statt und dient überwiegend 187 „A gente começou se organizar em 2004. Houve um grande massacre [em 2004]: 19 pessoas foram agredidas na cidade SP e sete vieram óbito. E aí a gente percebeu: ‚Por que não criar um movimento de políticas públicas?‘ Então, o movimento é para pressionar o presidente da República, os governadores e os prefeitos; [...] para que se lute pela uma política de inclusão, não só na assistência social, mas na habitação, na saúde, na educação, no trabalho, esporte, lazer, cultura, para que essas pessoas possam ser inseridas de volta; ela não saiu da sociedade, ela foi exclusa da sociedade; [...] Então o movimento foi criado para gente dá visibilidade a quem está em situação de rua. [...] para sociedade começar participar desta discussão: quem é esta população, como vive, porque está na rua? [...] Nos viemos para incomodar; para dar visibilidade: ‚Olha, a gente está aqui e a gente quer solução do problema.‘“ (Interview mit Anderson Lopes Miranda, Koordinator der Nationalen Bewegung der Obdachlosen, am 14.08.2010 in São Paulo).
4.6 Organisationen im Paulistaner Prozess der Innenstadterneuerung
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der Information der Anwesenden zu unterschiedlichen Belangen, die für die Obdachlosen von Interesse sind. Dazu zählen u. a. Fragen der statistischen Erfassung der Obdachlosen in São Paulo, Informationen zu Protestveranstaltungen wie der „Marsch nach Brasília“, mit dessen Hilfe ein Treffen mit den Präsidentschaftskandidat_innen zur Diskussion der Politiken bezüglich Obdachloser eingefordert werden sollte, oder solche Themen über Angebote für Obdachlose wie die der Ouvidoria da População em Situação de Rua (Gemeinschaftliche Ombudsstelle für Obdachlose, vgl. Kap. 4.6.2.4). Außerdem werden (Protest)Veranstaltungen in São Paulo angekündigt, organisiert und beraten. Darunter fallen bspw. die Aktivitäten am Dia Nacional de Luta da População de Rua (Nationaler Tag des Kampfes der Obdachlosen) oder das Fest unter dem Titel „Natal Solidário“ („Solidarische Weihnachten“). Zusätzlich bietet die Versammlung auch anderen Organisationen, Beiräten und Foren die Möglichkeit über deren Aktivitäten zu informieren.188 Die Konflikte und Probleme für die Obdachlosen sind aus Sicht des MNPR vielfältig und multilateral. Einen allgemeinen Konflikt ortet Miranda zwischen den Obdachlosen einerseits und „der Gesellschaft“ andererseits. Dieser manifestiere sich zwar nicht unmittelbar im Raum, äußere sich aber durch Vorurteile Obdachlosen gegenüber und dadurch, dass ihnen Rechte in Abrede gestellt und sie aus der Gesellschaft ausgeschlossen würden. Die Obdachlosen an sich werden als Problem wahrgenommen, anstelle dass die ursachen problematisiert werden, die der Obdachlosigkeit zugrunde liegen. Beispielhaft schildert Kalina die Problematik anhand eines Beispiels aus der Rua Barão de Itapetininga (vgl. Abb. 39 im Farbteil) aus ihrer Sicht: „Es ist ein so schöner Ort. Nachts, wenn es dunkel ist, ist es voll mit Obdachlosen hier. Ich habe diese zwei fotografiert, aber nachts, wenn du vorbeigehst, ist es hier überfüllt. […] Dort, das finde ich einen schönen Ort, da das Theater [Teatro Municipal] gegenüber liegt, es gibt dieses große Gebäude [des ehemaligen Kaufhauses Mappin] und er ist sehr belebt. Es ist ein Ort, der im Zentrum als schön gilt. Nur, dass er sehr schmutzig ist, weil die Leute auf der Straße wohnen. Die Obdachlosen bleiben dort. Daher oft ein schlechter Geruch.“189
Konkret manifestiert sich der Versuch der Exklusion in Maßnahmen von Vertretern öffentlicher Stellen, v. a. der GCM, gegenüber den Obdachlosen. Dies äußere sich im Einsatz von Wasserhochdruckreinigern, die nicht nur zur Reinigung des öffentlichen Raums zum Einsatz kämen, sondern auch dazu dienten, Obdachlosen den Aufenthalt an diesen Plätzen (u. a. in den frühen Morgenstunden) unmöglich zu machen. Die GCM gehe unmittelbar gegen Obdachlose vor (vgl. Kap. 4.5.4). und schließlich machten bauliche Maßnahmen wie unterteilte Sitzbänke, die das Liegen verhindern, und sog. rampas antimendigos, Anti-Bettler-Klötze aus Beton, bspw. 188 Teilnahme an der Vollversammlung am 07.08.2010 in São Paulo und Tagesordnungen weiterer Versammlungen zwischen 2010 und 2012. 189 „É um lugar tão bonito. À noite quando fica tudo escuro, fica cheio de mendigos aqui. Tirei estes dois, más à noite, quando você passa, fica lotado aqui. [...] Lá, eu considero um lugar bonito, como tem um teatro em frente, tem este prédio muito grande, muito movimentado. ... É um lugar que é considerado bonito aqui no centro. Só que é muito sujo porque o pessoal fica morando na rua; os moradores de rua ficam lá. Então um cheiro muitas vezes ruim“ (Fotointerview mit Kalina, Bewohnerin des Zentrums, am 15.09.2011 in São Paulo).
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4 Fallstudie São Paulo
unter Brücken, den Aufenthalt im öffentlichen Raum immer problematischer (vgl. Abb. 40 im Farbteil). Außerdem gibt es auch die Konflikte, die sich unter den Obdachlosen selbst abspielen. Hier gelte das Gesetz des Stärkeren und im überlebenskampf käme es zu Diebstählen untereinander und zu Streitigkeiten um für ihren Aufenthalt geeignete Orte „auf der Straße“. Ferner gäbe es Fälle, in denen sich Kriminelle wie bspw. Drogenhändler auf der Straße aufhielten und sich unter den Obdachlosen verstecken würden. Dies trüge mit dazu bei, dass Obdachlose allgemein als Kriminelle betrachtet und entsprechend stigmatisiert würden. um auf diese Konflikte und Probleme aufmerksam zu machen und zu reagieren, werden u. a. Demonstrationen veranstaltet. Zur Erinnerung an die gewalttätigen übergriffe mit sieben toten Obdachlosen am 19. August 2004 wurde dieser Tag von den Betroffenen zum Nationalen Tag des Kampfes der Obdachlosen erklärt. Alljährlich finden an diesem Tag in São Paulo Veranstaltungen statt, die vom MNPR mit unterstützung anderer sozialer Einrichtungen veranstaltet werden. Zentral sind dabei Kundgebungen (meist auf der Praça da Sé; vgl. Abb. 41 im Farbteil), die an die Verbrechen von 2004 erinnern und gleichzeitig aktuelle Forderungen der Obdachlosen bekanntmachen sollen. Im Jahr 2011 war die Veranstaltung auf zwei Tage verteilt. Zunächst fand am Vorabend eine ökumenische Mahnwache an der Kathedrale auf der Praça da Sé statt, bevor die Teilnehmer_innen anschließend in einem Demonstrationszug zum Vale do Anhangabaú zogen, wo sie campierten und am kommenden Vormittag eine Kundgebung abhielten (vgl. Abb. 41 im Farbteil). Von den Obdachlosen wurde die Idee eines gemeinsamen Protestcamps geschätzt: „Für [...] einen Arbeitslosen, der auf der Straße lebt, ist es eine gute Idee in einem gemeinsamen Zeltlager zu übernachten, da es ein Gefühl der Sicherheit gibt, da man in einer Gruppe zusammen ist. ‚Wenn diese Leute nicht zusammen sind, begegnet einem die GCM teilweise mit Feindseligkeit, die dann immer um vier uhr in der Früh vorbei kommt, uns aufweckt, bedroht, und die Stellen reinigt, an denen wir schlafen‘, beklagt [er]. Schätzungsweise vierzig Personen übernachteten in und um die Zelte. Trotz der Gruppe erschien die GCM vier Mal vor Ort. [...] Am frühen Morgen wurden alle zum Kaffee eingeladen, bevor die Kundgebung vorbereitet wurde“190 (O Trecheiro 08 / 2011).
Außer in den regelmäßigen Versammlungen und den öffentlichen Aktionen informiert das MNPR auch mit Broschüren (MNPR 2010) und Flugblättern über seine Arbeit und die Rechte von Obdachlosen, die mit unterstützung des Instituto Pólis und des Bundesministeriums für soziale Entwicklung und Bekämpfung des Hungers erstellt wurden. Miranda betont den Respekt anderen sozialen Bewegungen gegenüber. Das MNPR sei keine Konkurrenz zu anderen Bewegungen, sondern eine Ergänzung zu Themen, die noch nicht von den anderen Organisationen abgedeckt seien. Aller190 „Para [um] desempregado em situação de rua, a ideia de dormir no acampamento é boa e dá a sensação de segurança porque estamos em grupo. ‚Quando não tem esse pessoal junto há hostilidade por parte da guarda municipal, que sempre pelas quatro horas da manhã, passa acordando, ameaçando e lavando os locais onde dormimos‘, denuncia [ele]. Quarenta pessoas, aproximadamente, dormiram dentro e fora das barracas. Mesmo juntas, a GCM apareceu mais de quatro vezes no local. [...] Logo pela manhã, todos foram convidados a tomar café e preparar o espaço para o ato.“
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dings macht er auch deutlich, dass es zu manchen sozialen Bewegungen unterschiede gäbe. Hier bezieht er sich konkret auf das Movimento Estadual da População em Situação de Rua de São Paulo (MEPSRSP; Bundesstaatliche Bewegung der Obdachlosen von São Paulo). Er respektiere dessen Leiter, Robson César Correa de Mendonça, inhaltlich seien beide Bewegungen der Obdachlosen aber unterschiedlich aufgestellt. Während das MNPR sich v. a. mit öffentlichen Politiken zugunsten von Obdachlosen beschäftige und dafür einsetze, widme sich das MEPSRSP verstärkt kulturellen Veranstaltungen und Events. Während sich das MNPR unmittelbar für die Belange „der Straße“ engagiere, handele es sich beim MEPSRSP um eine von außen angestoßene Initiative. Bei politisch-thematischen Veranstaltungen könne das MNPR bis zu tausend Anhänger mobilisieren, während die bundesstaatliche Bewegung bei Seminaren 50 bis 100 Personen zusammen bringen könne. Das MEPSRSP wird überwiegend von Robson Mendonça geprägt. Diese Bewegung hängt somit sehr von einer einzigen Person ab und basiert nicht auf einer größeren Anhängerschaft, die die Ideen mitträgt. Jährlich veranstaltet werden u. a. sog. Kultur- und Bürgerschaftstreffen für die Obdachlosen (Encontro Cultura e Cidadania da População de Rua), bei denen es einerseits ein breites Kulturangebot mit Musik und Theater gibt und andererseits Service- und Beratungsangebote in den Bereichen Rechtsangelegenheiten, Soziales, Gesundheit sowie Beruf und Fortbildung gemacht werden. Außerdem gibt es vor Weihnachten jeweils jährlich eine Veranstaltung unter dem Titel „Natal de Luz“, der zum einen so viel bedeutet wie „Weihnachten des Lichts“, andererseits aber auch auf den Ort – das Stadtviertel Luz – hinweist, in dem sie stattfindet. Daneben gibt es gelegentlich Seminare und ähnliche Veranstaltungen die das MEPSRSP (mit)veranstaltet und die oft am Sitz des Gemeinderats (Câmara Municipal) unter Beteiligung von Abgeordneten und anderen lokalen Politikern stattfinden und sich mit Themen rund um die Problematik der Obdachlosigkeit in São Paulo beschäftigen. Das Projekt mit der meisten Aufmerksamkeit ist das der sog. Bicicloteca, einer Bibliothek auf Rädern, die von der NGO Instituto Mobilidade Verde (Institut für grüne Mobilität) mit dem MEPSRSP entwickelt wurde. In einem umgebauten dreirädrigen Fahrrad mit einem schrankähnlichen Aufbau zirkuliert Robson Mendonça im Zentrum und bietet an zentralen Plätzen Obdachlosen die Möglichkeit an, Bücher unbürokratisch auszuleihen, die sonst keinen Zugang dazu haben. Das MEPSRSP ist mit Vertretern des FCSP und einigen ALs sowie der ACH gut vernetzt und kann bei den Veranstaltungen auch auf unterstützung von öffentlicher (munizipaler) und privater Seite zurückgreifen. Im Gegensatz dazu pflegt das MNPR Kontakte überwiegend zu anderen sozialen Bewegungen und wird von sozialen NGOs, die sich mit den Anliegen von Obdachlosen beschäftigen, unterstützt. Beide Bewegungen der Obdachlosen sind in großem Maße von ihren Koordinatoren abhängig. Bei einem Treffen mit einigen Aktivisten des MNPR wird die Problematik deutlich, wenn einer der Anwesenden meint, dass nicht viele beim MNPR mitmachen würden, da sie es sich nicht erlauben könnten, Zeit darauf zu verwenden, die ihnen dann beim Versuch auf der Straße zu überleben fehlen würde. Die extrem prekäre Ressourcenausstattung der meisten Obdachlosen führe dazu,
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dass sie ihre Aktivitäten ausschließlich auf solche konzentrieren müssen, die der überlebenssicherung dienen. Deshalb bliebe keine Zeit, sich regelmäßig und unentgeltlich mit den Politiken für die Obdachlosen u. ä. zu beschäftigen und im MNPR zu engagieren. Außerdem wollen sich viele Obdachlose nicht offen zum MNPR bekennen; umgekehrt verfüge die nationale Bewegung dennoch über einen hohen Bekanntheitsgrad unter den Obdachlosen.191 Vergleichbar schätzt Alderon Costa von der NGO Rede Rua die Herausforderungen ein. Zunächst problematisiert er die extreme Bedürftigkeit der Obdachlosen, die durch keinen Wohnsitz und fehlende Ressourcen auf vielen Ebenen geprägt sei, was die Möglichkeit zur Mobilisierung erheblich einschränke, wenn nicht sogar zunichtemache. Es bestünden keine Kapazitäten, um langfristig aktiv zu sein, was aber bei Bewegungen, die sich für Verbesserungen von Politiken für die Stärkung der Situation von Obdachlosen einsetzen würden, erforderlich sei. Angesichts dessen bewertet er die Bewegungen derzeit als vergleichsweise individuelle Projekte einzelner Akteure oder kleiner Gruppen, was die Gefahr mit sich bringen würde, dass sie wiederum von der eigenen potenziellen Anhängerschaft kritisch betrachtet würden vor dem Hintergrund von Erfahrungen, wonach damit viele hauptsächlich ihre individuellen Interessen durchsetzen wollten. um die Zahl der Aktivisten zu steigern, bedürfe es zumindest minimaler allgemeiner unterstützung wie sozialer (kostenloser) Restaurants und angemessener Obdachlosenheime, damit Kapazitäten für eine Beteiligung an den Bewegungen freigemacht würden. Zusätzlich stellt er teilweise die Sinnhaftigkeit der Obdachlosenbewegungen in Frage, indem er anmerkt, dass solche Bewegungen auch den Eindruck vermitteln könnten, eine miserable Situation zu legitimieren und zu perpetuieren. Dennoch hält er die Bewegungen für unterstützenswert, da er durchaus auch positive Tendenzen erkennen kann. So könne ein solch autonomer, aus Mitgliedern unmittelbar Betroffener bestehender Zusammenschluss eine hohe Authentizität sowohl gegenüber der Anhängerschaft als auch gegenüber den politischen Instanzen als Adressaten haben. Mit der Gründung der Bewegungen hätten die Betroffenen die Möglichkeit, selbst Handelnde zu werden und ihre Entwicklung mit zu gestalten. An dieser Stelle bemerkt er allerdings Diskrepanzen zwischen den Bewegungen einerseits und den sozialen NGOs andererseits, deren Fokus die Betreuung von Obdachlosen ist. Er ortet bei einigen NGOs die Sorge, ihre Stellung verlieren zu können. Bisher hätten NGOs ihre Rolle oft als „Dämpfer“ sozialer Konflikte zwischen der öffentlichen Hand und ihrer Klientel verstanden, für die sie sich dadurch mehr und mehr zu einer übergeordneten Instanz entwickelt hätten. Die Bedürftigen seien so mehr und mehr zu abhängigen Betreuten geworden. Das Auftreten der Bedürftigen als selbständige Bewegung mit ihren eigenen Forderungen führte zu einer Verunsicherung der NGOs, da sie keine Erfahrung im umgang mit mehr oder weniger unabhängigen Bewegungen ihrer Klientel gehabt haben. Die Selbständigkeit werde als gewisse undankbarkeit empfunden denen gegenüber, die immer geholfen hätten und jetzt gegebenenfalls sogar mit Kritik von ihrer eigenen Klientel konfrontiert seien. 191 Teilnehmende Beobachtung an einem Treffen von Aktivisten des MNPR am 18.07.2011 in São Paulo.
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Die hierarchische Vorstellung, wonach die einen helfen und damit aktiv sind und die anderen Hilfe empfangen und damit passiv sind, sei noch durchaus verbreitet und eine Begegnung auf Augenhöhe konfrontiere manche NGOs mit der Angst des Machtverlusts. Schlussendlich bestünde auf lange Sicht die Gefahr, dass die Situation der Bedürftigkeit, die die Legitimation für das Bestehen der NGOs bilde, wegfalle und damit auch die jeweilige NGO obsolet würde. Die Anerkennung der Autonomie der Bewegungen sei auch für NGOs schwierig, die von Geldern des Staates abhängen und Verantwortung für Mitarbeiter_innen tragen würden. Dadurch seien sie relativ stark in das bestehende System eingebunden. Grundlegende Veränderungen können seiner Meinung nach nur die unmittelbar Betroffenen bewirken. Wenn die Bewegungen dabei allerdings keine Hilfe vonseiten der NGOs erhalten und stattdessen als Störung wahrgenommen würden, wäre dieses Anliegen für die Bewegungen nur sehr schwer zu erreichen.192 4.6.2.3
Rede Rua – Sprachrohr für die Obdachlosen
Die gemeinnützige NGO Associação Rede Rua, die sich in verschiedener Weise für Obdachlose engagiert, wurde 1998 gegründet. Ihrer ursprünglichen Mission, die Gesellschaft für die Anliegen der Obdachlosen zu sensibilisieren und Menschenrechtsverletzungen publik zu machen, kommt sie allerdings bereits seit 1991 nach. Seit diesem Jahr existiert die Monatszeitung „O Trecheiro“, die sich zur Aufgabe gemacht hat, der Bevölkerung, den sozialen Bewegungen und den NGOs von übergriffen auf Benachteiligte, hauptsächlich Obdachlose, zu berichten. Initiatoren waren seinerzeit Laien und Sozialseelsorger, die die Notwendigkeit für eine Einrichtung erkannten, die sowohl die Obdachlosen als auch die sozialen Bewegungen unterstützen sollte. Heute zählen zur Arbeit von Rede Rua neben dem Medienangebot auch die unterhaltung eines Speisesaals für Obdachlose (Refeitório Comunitário Penaforte Mendes) und ein Aufnahmezentrum für erwachsene Obdachlose (Centro de Acolhida – Pousada da Esperança). In den beiden letztgenannten Handlungsfeldern arbeitet die NGO mit der Stadtverwaltung zusammen, die diese Arbeit, basierend auf einem entsprechenden Abkommen, finanziert.193 Der von der Stadtverwaltung unabhängige Bereich der Kommunikations- und Medienarbeit – Rede Rua de Comunicação – wird von Beginn an maßgeblich von Alderon Costa betreut. Hier entstehen Informations- und Schulungsvideos, es befindet sich ein Fotoarchiv im Aufbau und es werden enge Kontakte zu sozialen Bewegungen und Organisationen gepflegt. In diesem Arbeitsbereich erfolgt außerdem weiterhin die Herausgabe der Monatszeitung „O Trecheiro“, deren Ziel es einerseits ist, Sichtbarkeit für die Herausforderungen und Probleme der Obdachlosen 192 Interview mit Alderon Pereira Costa, Leiter der Associação Rede Rua, am 19.09.2011 in São Paulo. 193 Vgl. Homepage http://www.rederua.org.br/rederua/conhecer.html, Zugriff: 04.11.2014 und Interview mit Alderon Pereira Costa, Leiter der Rede Rua de Comunicação, am 20.07.2010 und am 19.09.2011 in São Paulo.
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zu schaffen und übergriffe an Obdachlosen bekannt zu machen.194 andererseits soll die Zeitung auch den Obdachlosen selbst als Informationsmedium dienen, in dem sie in Berichten die Hauptrolle spielen. Dabei geht es darum, sie mit anderen, ggf. vorbildhaften Realitäten von Akteuren in ähnlichen Situationen bekannt zu machen, um ihnen deutlich zu machen, dass sie nicht allein in dieser Situation sind und diese nicht aussichtslos sein muss. Diese Aktivitäten im Bereich der Medienarbeit und Kommunikation werden durch finanzielle Zuwendungen deutscher, spanischer und brasilianischer kirchlicher Hilfswerke wie Adveniat, Misereor, Missio und Manos unidas sowie der Caritas gefördert. Trotz dieser Kooperationen betont Alderon Costa die unabhängigkeit in der operativen Arbeit, in die es keine Einmischungen vonseiten der katholischen Kirche gäbe. Rede Rua de Comunicação interagiert mit vielen anderen NGOs und sozialen Bewegungen und steht als unterstützung für diese (z. B. das MNPR) zur Verfügung (vgl. Kap. 4.6.2.2). Außerdem begleiten Vertreter_innen der NGO die Obdachlosen sowohl im Alltag als auch bei Veranstaltungen, die sich mit der Thematik der Obdachlosigkeit beschäftigen. Darüber wird regelmäßig in der Monatszeitung „O Trecheiro“ berichtet (vgl. Abb. 42 im Farbteil). Die Mitarbeiter_innen, allen voran Alderon Costa, sind so in permanentem Kontakt mit den Obdachlosen im Zentrum São Paulos. Sie begleiten zu Dokumentationszwecken Demonstrationen, Mahnwachen, öffentliche Versammlungen und Treffen mit Verantwortlichen, die vom MNPR und den NGOs ausgehen, und berichten über Verletzungen von Menschenrechten bei übergriffen auf Obdachlose. Die Vernetzung mit NGOs und sozialen Bewegungen in diesem Bereich erfolgt u. a. über die Plattform des Fórum Permanente de Acompanhamento das Políticas Públicas para a População em Situação de Rua de São Paulo. Neben der kritischen Begleitung der Politiken für die Obdachlosen hat sich das Forum zur Aufgabe gemacht, politischen Druck für die Einforderung von Rechten für Obdachlose zu machen. Bewegungen und Initiativen der Obdachlosen selbst sollen unterstützt und gestärkt werden. Nach innen dient das Forum zur Vernetzung und zur Abstimmung von Aktionen und Veranstaltungen. Neue thematische Erkenntnisse sollen in gemeinsamen Seminaren bekannt gemacht und vertieft werden. Monatlich finden Plenumssitzungen statt, die dem Austausch, der Information und der Vorbereitung von Aktionen dienen und an denen sich verschiedene NGOs und Vertreter des MNPR beteiligen. Drei Treffen wurden im Rahmen der Feldaufenthalte in den Jahren 2010 und 2011 besucht und beobachtet.195 Die behandelten Themen lassen sich in inhaltliche und organisatorisch-strukturelle Beiträge und Diskussionen gliedern. Inhalte, die aufgegriffen wurden, waren der Rückblick auf den Marsch auf Brasília (2010), der das Ziel verfolgte, Treffen mit den Kandidat_innen für die Präsidentschaftswahl 194 Dabei handelt es sich nicht um eine Straßenzeitung im herkömmlichen Stil. Für den Zweck der Einkommensgenerierung wurde in São Paulo die Straßenzeitung OCAS gegründet, die von Obdachlosen auf der Straße vertrieben wird. Ihr thematischer Fokus liegt stärker auf Beiträgen zu Kultur, Kunst usw. Rede Rua de Comunicação ist daran als Partner 195 Teilnehmende Beobachtung an den Vollversammlungen des Fórum Permanente de Acompanhamento das Políticas Públicas para a População em Situação de Rua de São Paulo am 14.09.2010, 12.07.2011 und am 13.09.2011 in São Paulo.
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zu erreichen und an dem mehrere Vertreter aus São Paulo teilnahmen, sowie hauptsächlich solche Themen, die die lokale und regionale Ebene betreffen. Dazu zählen Informationen zu diversen Konferenzen und Sitzungen, an denen das Forum teilgenommen hat oder teilnehmen wird, der Austausch über Qualifizierungs- und Beschäftigungsangebote, die Beteiligung des Forums an einem in Gründung befindlichen munizipalen Beirat zur Beobachtung der Politiken der Rechte von Obdachlosen oder Berichte über Gesundheitsthemen. Die organisatorisch-strukturellen Themen zielen auf Fragen der internen Prozesse und Strukturen ab und betrafen in den beobachteten Sitzungen oft das Verhältnis zwischen den NGOs und dem MNPR. Dieses ist noch nicht konsolidiert und es wurden Formen der Zusammenarbeit diskutiert. Es wird konstatiert, dass der Austausch zwischen den beiden Seiten der Verbesserung bedarf (u. a. im Hinblick auf die Vorbereitung gemeinsamer Veranstaltungen wie den Dia Nacional de Luta da População de Rua (Nationaler Tag des Kampfes der Obdachlosen); vgl. auch Kap. 4.6.2.2). Darüber hinaus wird die Frage besprochen, wer über welche Auswahlmodi als legitime Repräsentantin bzw. legitimer Repräsentant das Forum bei anderen Treffen und Konferenzen auf übergeordneten Ebenen vertreten kann. Die Rede Rua de Comunicação wird bei den Vollversammlungen des Forums zur Begleitung der Obdachlosenpolitiken meist durch Alderon Costa vertreten. Der zweite Arbeitsbereich der NGO Rede Rua, das Refeitório Comunitário Penaforte Mendes, der Speisesaal für Obdachlose, resultierte aus der Idee heraus, der auf den Straßen im Zentrum São Paulos stattfindenden Essensverteilung von karitativen NGOs, die teilweise unter prekären umständen erfolgt, einen angemessenen Rahmen zu bieten. Dieser Idee folgend, wurde Rede Rua angefragt, die räumliche Infrastruktur zu administrieren, die von den NGOs zur Ausgabe der Mahlzeiten an die Obdachlosen genutzt werden kann. Die Mitglieder der NGOs sind bei der Zubereitung und der Bereitstellung der Mahlzeiten meist ehrenamtlich neben regulären Berufstätigkeiten tätig. Deshalb stellte sich die Verpflegung zur Mittagszeit als problematisch heraus. um dieses Problem zu lösen, wurde ein Abkommen mit der Stadtverwaltung geschlossen, damit diese für die Kosten der Mittagsmahlzeiten aufkommt. Neben der Essensversorgung gibt es zusätzlich auch Bildungs- und Informationsangebote von Erwachsenenbildnern, und ein Sozialarbeiter steht für Beratungen zur Verfügung.196 Hauptaufgabe bleibt aber die Essensausgabe von ca. 500 Mahlzeiten pro Tag (lt. Homepage, s. o.). Alderon Costa betont, dass in den Einrichtungen, die von Rede Rua betreut werden, Vertreter von Sicherheitsorganen (GCM und PM) im Allgemeinen keinen Zutritt haben. Die Begründung, wonach ihre Anwesenheit zum Schutz der dort Angestellten diene, lässt er nicht gelten, da es bisher diesbezüglich noch nie zu Problemen gekommen sei. Sollte es gefährliche Situationen geben, werde die GCM gerufen, um konkret diese zu lösen. Er weist darauf hin, dass bei permanenter Präsenz von Sicherheitskräften keine adäquate sozialpädagogische Arbeit mit den Obdachlosen möglich sei, da
196 Interview mit Alderon Pereira Costa, Leiter der Associação Rede Rua, am 19.09.2011 in São Paulo.
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diese oft in ihrem Alltag Konflikte mit der Polizei und der GCM gehabt und dabei traumatisierende Erfahrungen gemacht hätten. 4.6.2.4
Ouvidoria Comunitária da População de Rua – systematische Dokumentation von Übergriffen auf Obdachlose
Die Konflikte, die Obdachlose mit Sicherheitskräften und anderen erleben, erreichen oft einen Grad, der vom geltenden Recht nicht mehr gedeckt ist. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht in diesem Zusammenhang die GCM. Das Verhältnis zwischen Obdachlosen und der GCM, wie übergriffe ablaufen können und welche Haltung seiner Meinung nach damit verbunden ist, schildert Gerson im Fotointerview. Gleichzeitig macht er auf das ambivalente Verhältnis zur GCM aufmerksam: „Es ist ein Krieg! Es ist ein Krieg. Es gibt GCM, die helfen; aber auf der anderen Seite gibt es die, die Ärger machen wollen: Man sieht den Typ in dieser Situation und will ihm noch einen Schlag versetzen, verstehst du? Ich habe schon einmal einen GCM beobachtet, wie er einen Obdachlosen mit Pfefferspray ins Gesicht aufgeweckt hat, verstehst du? [...] Es gibt einen gewissen Krieg, aber es besteht auch ein gewisser Frieden, weißt du? Es gibt die, nach dem Motto: ‚Der Typ ist schon tief in der Scheiße, warum soll ich da noch nachtreten? Warum soll ich dem Typ noch einen Schlag versetzen? Nein, im Gegenteil, ich werde versuchen zu helfen.‘ Aber es gibt auch die anderen: ‚Der Typ ist schon im Dreck, versetzen wir ihm noch einen Schlag!‘ verstehst du?“197
Bei übergriffen werden nicht selten die elementaren Rechte der Obdachlosen verletzt. Allerdings ist eine Anzeige dieser Gesetzesübertretungen aufgrund der Tatsache, dass oft die Polizei oder die GCM unmittelbar darin verwickelt sind, für die Betroffenen äußert schwierig. Damit diese negativen Erfahrungen aber zumindest nicht undokumentiert bleiben und um Menschenrechtsverletzungen mit detaillierten Informationen zu belegen, wurde 2010 die Ouvidoria Comunitária da População de Rua (Gemeinschaftliche Ombudsstelle für Obdachlose) von Studierenden und Mitgliedern der Juristischen Fakultät der universidade de São Paulo (universität von São Paulo)198 gegründet. Wie Raquel Lima und Luisa Luz von der Ouvidoria berichten, ging deren Gründung „auf das Fehlen von verlässlichen Informationen über das, was passiert, [zurück] [...]. Es gibt keine Erhebung [...] von Vorkommnissen [gegenüber den Obdachlosen] in einer rechtmäßigeren Form [...], die es ermöglicht, sich mit den Behörden zusammen zu setzen und zu sagen: 197 „É uma guerra! É uma guerra. Tem GCM que ajuda; mas por outro lado tem os que querem atrapalhar: ver o cara naquela situação, quer ferra mais ainda, entendeu? Já flagrei GCM acordando morador de rua com gás de pimenta na cara, entendeu. [...] Tem uma certa guerra; mas também existe uma certa paz, entendeu? Tem uns que assim tipo: ‘Cara já tá na merda, vou bater na cara para que? Vou ferra vida do cara para que? Não, pelo contrario: Vou tentar ajudar.’ Mas tem aqueles que: ‘Pó, cara já tá na merda mesmo, vamos ferra mais ainda.’ entendeu? (Fotointerview mit Gerson, Obdachloser im Zentrum, am 26.09.2011 in São Paulo). 198 Die Ouvidoria ist ein Teil der Clínica de Direitos Humanos Luiz Gama, eine Einrichtung der juristischen Fakultät der universität von São Paulo, die eine Schnittstelle zwischen der akademisch-juristischen Ausbildung und der aktiven Menschenrechtsarbeit bildet und die Studierenden über konkrete Projekte mit Menschrechtsfragen in der Praxis vertraut machen soll.
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‚Also, das ist das Problem und das wollen wir!‘ Die Idee war immer: Identifizieren, was die Probleme sind, um Forderungen nach konkreten Maßnahmen erheben zu können.“199
Die Ouvidoria hat wöchentliche Sprechstunden im Zentrum São Paulos, in denen Obdachlose ihre negativen Erfahrungen berichten können und diese dokumentiert werden. Ziel ist eine systematische und detaillierte Aufnahme und Dokumentation von übergriffen, um damit belastbare Belege für Konflikte zu haben, mit Hilfe derer politische Lösungen angemahnt werden können. Zentral für politische Forderungen nach Verbesserungen sind möglichst qualifizierte Informationen über Vorkommnisse. Die Obdachlosen sollen dafür sensibilisiert werden, dass Details zu Ort, uhrzeit und Informationen zu den bei übergriffen beteiligten Personen wichtig sind, damit die Aussagen Gewicht bekommen. Auf Basis von festgestellten Problemen und Gesetzesverstößen gegenüber den Obdachlosen sollen öffentliche Politiken eingefordert werden.200 In diesem Zusammenhang arbeitet die Ouvidoria eng mit NGOs, die sich mit dem Thema der Obdachlosigkeit beschäftigen, und mit dem MNPR zusammen. Viele der vorgebrachten übertretungen mit Blick auf die Obdachlosen erfolgen im öffentlichen Raum, da er den Aufenthaltsraum der Obdachlosen bildet. Die Vertreibung der Obdachlosen aus dem öffentlichen Raum erfolge oft mit dem Hinweis, dass der öffentliche Raum der Zirkulation, also dem Kommen und Gehen diene, nicht aber dem Aufenthalt. Dabei werde nicht selten aggressiv und die Rechte der Obdachlosen verletzend vorgegangen. Viele Fälle repressiven Vorgehens, von denen die Obdachlosen berichten, werden der GCM zur Last gelegt. Zentrale Grundlage, mit der die Vertreibung gerechtfertigt wird, sei die Verordnung 105 (vgl. Kap. 4.5.4), in der die Rede von Weiterleitung an geeignete Einrichtungen ist. Tatsächlich handele es sich aber nach den ihnen berichteten Fällen oft um die gewaltsame Verdrängung von dem Ort, an dem sich die Obdachlosen gerade aufhalten. Die Dokumentation vieler solcher Fälle mache es den Verantwortlichen für das aggressive Vorgehen gegen die Obdachlosen schwerer, von isolierten Fällen einzelner zu sprechen, eine Erklärung, die bei fehlender systematischer Erfassung der Rechtsübertretungen oft vorgebracht werde. Die Verdrängung der Obdachlosen erfolge auf vielfache Weise. Mittelbar geschieht dies durch die Gestaltung von Sitzmöbeln, die nur einen sitzenden Aufenthalt erlauben und auf Dauer keine Annehmlichkeiten 199 „[...] a falta de informações apurados no o que acontece. [...] Não tem uma forma de organização dessa percepção que eles têm de experiência de uma forma mais legítima [...] de um jeito que você consiga sentar com o poder público e falar: ‚Olha o problema é esse e a gente quer isso.‘ A ideia [...] sempre foi: Identificar quais são os problemas para poder fazer reinvindicações de políticas mesmo“ (Interview mit Raquel Lima & Luísa Luz, Koordinatorinnen der Ouvidoria Comunitária da População de Rua (Gemeinschaftliche Ombudsstelle für Obdachlose) am 26.09.2011 in São Paulo). 200 Während die Ouvidoria hauptsächlich politische Ziele verfolgt, übernimmt die Defensoria Pública (öffentliche [kostenlose] Anwaltschaft) mit einem Projekt zur juristischen Beratung von Obdachlosen in São Paulo die Rechtsberatung im engeren Sinn. Im Fall individueller rechtlicher Angelegenheiten nach übergriffen kann die Defensoria beraten und gegebenenfalls anwaltlichen Beistand organisieren. Vonseiten der Ouvidoria wird eine engere Vernetzung mit der Defensoria angestrebt, um Informationen auszutauschen und Fälle massiver Rechtsverletzungen weiterleiten zu können.
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z. B. zum Liegen bieten. unmittelbar gäbe es Fälle verbaler wie physischer Gewalt vonseiten der GCM gegenüber Obdachlosen. Außerdem gibt es Berichte über willkürliche Festnahmen, gesetzeswidrige Wegnahme des persönlichen Eigentums inklusive der Dokumente und zeitlich begrenzte Gefängnisaufenthalte ohne sachliche Begründung und Beweise. Damit würden die Obdachlosen zum einen zeitlich befristet aus dem öffentlichen Raum verbannt und zum anderen in andere Stadtteile gebracht. Außerdem seien Fälle bekannt, bei denen die Polizei Obdachlose aufgreift und mit dem Streifenwagen so lange umherfährt, bis sie die Person an einem Ort, an dem ihr jedwede Orientierung fehlt, zum Aussteigen auffordern. Weitere Fälle, die an die Ouvidoria herangetragen werden, betreffen die willkürliche Abweisung bei den Obdachlosenheimen, die teilweise unabhängig von der Verfügbarkeit von Schlafplätzen und meist unbegründet erfolge. Nur selten werden Begründungen geliefert (z. B. ein Fall von Rassismus). Oft sind es nur Vermutungen, warum Obdachlose bei den Heimen abgewiesen werden wie in dem Fall eines homosexuellen Obdachlosen, bei dem die Abweisung vermutlich aufgrund seiner sexuellen Orientierung erfolgt sei. Auch Obdachlose, die sich sozialpolitisch, bspw. im MNPR, engagieren, bekommen Heimplätze aberkannt, da sie gegebenenfalls Forderungen stellen könnten. Andere Probleme betreffen die internen Regelungen der Obdachlosenheime, die z. B. im Fall der Öffnungszeiten nicht mit den Anforderungen arbeitender Obdachloser übereinstimmen und zum Verlust des Heimplatzes führen können. Ein möglicher Erklärungsansatz der beiden Koordinatorinnen für diese unterschiedlichen übergriffe und Verhaltensweisen zielt auf die vermeintlich individuellen ursachen der Obdachlosigkeit und – darauf aufbauend – auf die im alltäglichen umgang zu Tage tretende Infragestellung von bürgerlichen Rechten: „Die Obdachlosen werden so betrachtet, als seien sie Menschen, die keine Rechte haben. Sie haben keinen Willen, sie haben nichts zu sagen. Deshalb werden sie verwaltet. Sie sind Sachen, die administriert werden können. [...] Das Bild von den Obdachlosen, [...] das vermittelt wird, ist das von Menschen mit individuellen Problemen. Wenn du in der Zeitung die Artikel, die zum Thema geschrieben werden, liest‚ handelt es sich um persönliche Probleme. ‚Warum bist du auf der Straße?‘ fragen sie. ‚Ah, das liegt daran, dass ich angefangen habe zu trinken und dann das Haus verlassen habe.‘ ‚und, warum bist du auf der Straße?‘ ‚Weil ich mich mit meiner Familie überworfen habe.‘ Die Art, wie man öffentlich über die Obdachlosen spricht, hat immer mit persönlichen Irrwegen zu tun. Es hat nie damit zu tun, dass ‚ich durch die Wohnpolitik meine Wohnung verloren habe.‘ Es hat nie damit zu tun, dass ‚ich zu unrecht im Gefängnis war und danach nie mehr eine Beschäftigung gefunden habe.‘ Es hat nichts mit strukturellen Problemen zu tun. Es liegt an persönlichen Irrwegen. und diese öffentliche Einschätzung, dass es mit persönlichen Problemen und individuellen Widersprüchen zu tun hat, erleichtert den Entzug der Charakteristika eines Rechtssubjekts. und das erlaubt einem, dass die Person verwaltet wird. Man kann sie festnehmen, danach schickt man sie in das Obdachlosenheim, anschließend schickt man sie wieder weg. Die Leute werden administriert.“ 201 201 „Estas pessoas em situação de rua são politicamente enxergadas como pessoas que não são sujeitos de direito. Eles não têm querer, eles não apitam em nada. Então eles são geridos. Eles são coisas, que podem ser administradas. [...] A imagem da rua [...] ela é vista como um problema individual. Quando você lê no jornal, as matérias que são feitas, geralmente serve como um problema pessoal. ‚Por que você está na rua?‘ as pessoas perguntam. ‚Ah, é porque eu comecei a beber e sai da casa.‘ ‚E por que você está na rua?‘ ‚Por que rompei com minha família.‘ A própria maneira, como publicamente se fala sobre eles tem a ver com um desvio pessoal. Não
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Neben der pauschalisierenden ursachensuche für die Obdachlosigkeit werden die Obdachlosen auch darüber hinaus wenig differenziert betrachtet und behandelt. Das Label „Obdachlose“ führe zu einer Nivellierung von internen unterschieden wie Alter, Interessen und Fähigkeit usw. und somit zu gleichgeschalteten Hilfsangeboten, die keine individuellen Lösungen erlauben. über die erhobenen Informationen berichtet die Ouvidoria in unregelmäßig erscheinenden Kurzmitteilungen, den Boletins da Ouvidoria Comunitária da População de Rua. Erschienen sind bisher Ausgaben u. a. zu Themen Polizeigewalt, Gesundheit, Arbeit und Diskriminierung. Alderon Costa schätzt den Ansatz der Ouvidoria als äußert sinnvoll und hilfreich ein. Er gibt allerdings zu bedenken, dass die Wirksamkeit der Arbeit vom Konsolidierungsprozess der Einrichtung abhinge. Da es sich um eine universitäre Initiative handele, in der viele Studierende involviert seien, stelle die kontinuierliche Arbeit eine Herausforderung dar. Gleichzeitig sieht er aber darin auch ein Potenzial, wenn junge Studierende mit Menschenrechtsthemen in Bezug auf Obdachlose – nach Aussage der Vertreterinnen der Ouvidoria kein Thema in der regulären akademischen Ausbildung – in Kontakt kommen, dafür sensibilisiert werden und diese Erfahrungen in ihr zukünftiges Berufsleben einfließen ließen.202 4.6.2.5
Centro Gaspar Garcia de Direitos Humanos – eine NGO für Benachteiligte im Zentrum
Ebenfalls mit Fragen zu Menschenrechten – räumlich auf das Zentrum und den Zentrumsnahen Bereich São Paulos fokussiert – beschäftigt sich die NGO Centro Gaspar Garcia dos Direitos Humanos (CGG; Menschenrechtszentrum Gaspar Garcia). Anders als im Fall der Ouvidoria, deren thematischer Fokus auf den Obdachlosen und der Dokumentation der ihnen widerfahrenden Menschenrechtsverletzungen liegt, ist das CGG breiter aufgestellt und widmet sich weiteren benachteiligten Bevölkerungsgruppen im Zentrum wie Bewohner_innen in cortiços und andern prekären unterkünften, informellen Straßenhändler_innen und Recyclingmaterialsammler_innen. Seine Aufgabe sieht das CGG darin „zur sozialen Inklusion von Bewohnern in cortiços, favelas und prekären unterkünften, von Obdachlosen und Recyclingmaterialsammlern beizutragen und dabei eine Verbesserung der tem a ver que ‚a política de moradia me tirou.‘ Não tem a ver que ‚eu fui preso sem razão, nunca mais consegui emprego.‘ Não tem a ver com causas estruturais. Tem a ver com desvio pessoal. Essa maneira pública como tem a ver com desvios pessoais, contraditórios individuais de vida, facilita como que você tire esta caraterística de sujeito de direto. Que você permita que ela seja gerida. Se pode prender, depois se leva no albergue, depois se tira de albergue de novo. E estas pessoas vão sendo administradas“ (Interview mit Raquel Lima & Luísa Luz, Koordinatorinnen der Ouvidoria Comunitária da População de Rua (Gemeinschaftliche Ombudsstelle für Obdachlose) am 26.09.2011 in São Paulo). 202 Interview mit Alderon Pereira Costa, Leiter der Associação Rede Rua, am 19.09.2011 in São Paulo.
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4 Fallstudie São Paulo Lebensbedingungen zu erreichen durch einen Prozess der Bildung ärmerer Bevölkerungsgruppen, die Verteidigung der Rechte und das Mitwirken in Prozessen zum Aufbau öffentlicher Politiken, prioritär im Zentrum São Paulos“203 (http://www.gaspargarcia.org.br/quem-somos/ missão; Zugriff: 07.11.2014).
Ausgangspunkt für die Gründung des CGG war die Erkenntnis, dass es im zentralen Bereich São Paulos in den 1980er Jahren vergleichsweise wenige Initiativen für angemessenes Wohnen und Arbeiten gegeben habe. Die Tendenz einer zunehmenden Entvölkerung der Innenstadt und des Zentrumsnahen Bereichs – v. a. der unteren Einkommensschichten – zulasten der Peripherie habe u. a. angesichts der guten Infrastrukturausstattung und der Arbeitsplatzdichte im Zentrum zu einer ungünstigen Entwicklung beigetragen. Daraus resultierten die Notwendigkeit der kostspieligen Erschließung weit entfernter Gebiete mit (prekärer) Infrastruktur und die unvermeidlichkeit, lange und teure Wege zur Arbeit in Zentrumsnähe auf sich nehmen zu müssen. Deshalb machte sich das CGG zum einen zur Aufgabe, soziale Bewegungen im Zentrum zu unterstützen und zum anderen wurde begonnen, Studien zu den Verdrängungen verschiedener benachteiligter Bevölkerungsgruppen zu erarbeiten. Später beteiligte sich das CGG auch an Beiräten zu Programmen und Projekten wie der Operação urbana Centro als zivilgesellschaftlicher Akteur.204 Die Beurteilung der Maßnahmen zur Innenstadterneuerung von Vertreter_innen des CGG fällt allgemein kritisch aus. Für die Amtszeiten der Regierungen Serra / Kassab wird festgestellt, dass die Revitalisierung grundsätzlich ohne Berücksichtigung der Armen erfolgen solle. Es ginge primär darum, Säuberungen zu betreiben und benachteiligte Bevölkerungsgruppen aus dem Zentrum zu verdrängen. Ziel sei ein attraktives und repräsentatives Zentrum, wobei nicht selten eine gewisse verklärende Romantik mitschwinge, deren Anhänger das Zentrum gerne wieder wie in den 1950er und 1960er Jahren als eines der Eliten sähen, oder auch der Wunsch nach Schaffung eines Zentrums im Stil von Paris oder Barcelona geäußert werde. Als Bespiel für eine Revitalisierungsmaßnahme führt Luiz Kohara das (ehemals) geplante Projekt „Nova Luz“ im Stadtteil Luz an(vgl. Kap. 4.4.1). Der erste Schritt zur Säuberung sei in diesem Fall die vorurteilsbehaftete Benennung des Stadtteils als Cracolândia gewesen. Damit wurden sämtliche dort wohnenden und arbeitenden Menschen – viele davon mit geringen Einkommen – pauschal kriminalisiert und verunglimpft. Ohne weitere Differenzierung seien alle Menschen in diesem Viertel unter einen Generalverdacht gestellt worden. Durch die Benennung als Cracolândia und die damit vermittelten, negative Assoziationen hervorrufenden Bilder dieses Teilraums sei dazu beigetragen worden, dass die Immobilienpreise sanken. In dieser Situation hätte vonseiten der Stadtregierung der Plan bestanden, den Immobilienmarkt auf dieses Gebiet aufmerksam zu machen, damit er dort in 203 „Contribuir para a inclusão social de moradores de cortiços, favelas e habitações precárias, pessoas em situação de rua e catadores de materiais recicláveis, visando melhorar suas condições de vida por meio do processo de educação popular, da defesa dos direitos e da intervenção em processos de construção de políticas públicas, prioritariamente na região central de São Paulo.“ 204 Interview mit Luiz Tokuzi Kohara, Koordinator des Centro Gaspar Garcia de Direitos Humanos, am 21.09.2010 in São Paulo.
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große Projekte investiert. Gleichzeitig sei den hilfsbedürftigen Drogenabhängigen der Region mit polizeilicher Repression begegnet worden. Ziel des CGG ist dagegen immer, die benachteiligten Bevölkerungsgruppen so miteinzubeziehen und zu ermächtigen, dass sie sich letztendlich als Teil des Zentrums fühlen, ein umstand, der oft noch nicht erreicht sei. Zwei Gruppen, die neben anderen unterstützung vom CGG erfahren, sind die Recyclingmaterialsammler_innen und die informellen Straßenhändler_innen. Rene Ivo betont die Wichtigkeit, die Recyclingmaterialsammler_innen in der Stadt wahrzunehmen und zu akzeptieren, dass es sie im städtischen Raum gibt. Ihre Existenz durch Verdrängung zu negieren, sei keine Lösung; stattdessen müsse es darum gehen, sie in sinnvoller Weise mit einzubeziehen.205 Allerdings werden ihre Aktivitäten oft als Problem wahrgenommen, wie Kohara erwähnt, da sie mit ihren Handwagen und der vorübergehenden Akkumulation von Abfall auf dem Bürgersteig den öffentlichen Raum in Anspruch nehmen. Dies führe zu Spannungen zwischen den Kritiker_innen, bspw. bei der AVC, und den Materialsammler_innen. Bei Erneuerungsmaßnahmen im öffentlichen Raum gehe es häufig um dessen Schutz und gleichzeitig darum, dessen Nutzung durch die Armen zu verhindern. Allerdings erkennt Rene Ivo insofern auch positive Tendenzen, als dass das zunehmende Bewusstsein für Mülltrennung und Fragen des umweltschutzes allgemein auch den Recyclingmaterialsammler_innen zugutekomme, da sie sowohl in der Außensicht als auch in der Selbstwahrnehmung in die Rolle der „Anwälte für die umwelt“ wachsen und damit die Akzeptanz für ihre Tätigkeit steigt. Ferner hängt Ihre (Nicht) Anerkennung auf Seiten der Behörden auch von den unterschiedlichen administrativen Maßstabsebenen ab. Während sie auf munizipaler Ebene unter einer konservativen Regierung wie der von Serra / Kassab keinerlei unterstützung erfahren, stehen auf nationaler Ebene finanzielle Mittel bereit, mit deren Hilfe die infrastrukturelle Ausstattung der oft in Kooperativen organisierten Recyclingmaterialsammler_innen verbessert werden könne. Dies sei allerdings an die Erteilung der Nutzungsbewilligung für den jeweiligen Platz, der der entsprechenden Kooperative zur Sortierung dient, gekoppelt. Diese Bewilligungen wurden in São Paulo in der Regierung Kassab allerdings nicht bewilligt. Anders und damit deutlich negativer ist die generelle Beurteilung der (informellen) Straßenhändler_innen in der Mehrheit der Stadtbevölkerung. Seit den 1990er Jahren gibt es laut Luiz Kohara massive Kampagnen gegen die Straßenhändler_innen. Ihre Entfernung aus dem öffentlichen Raum ist seitdem immer wieder Inhalt von munizipalen Wahlkämpfen gewesen (vgl. Exkurs: Selbsthilfe für sozioökonomisch Benachteiligte oder „kriminelle Akteure“). Paradoxerweise sei das alltägliche Konfliktpotenzial in Verbindung mit den Straßenhändler_innen bei eher konservativeren Stadtregierungen geringer, da bspw. unter der Regierung Kassab die informellen Händler_innen so massiv verfolgt und ihre bisherigen und mittlerweile potenziellen Standorte durch permanente polizeiliche Kontrolle derart eingeschränkt wurden, dass eine wirtschaftlich erfolgreiche Tätigkeit kaum noch mög205 Interview mit Rene Ivo Goncalves, Geschäftsführer des Centro Gaspar Garcia de Direitos Humanos, am 02.09.2009 in São Paulo.
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4 Fallstudie São Paulo
lich war. umgekehrt seien alltägliche Konflikte bei eher progressiveren Stadtregierungen häufiger zu beobachten, da diese einerseits tendenziell Verständnis für die wirtschaftlichen Belange der Straßenhändler_innen haben (sollten) und deswegen nicht so massiv gegen die Straßenverkäufer_innen vorgehen können, und andererseits aber auch die anderen Interessen an einem geordneten öffentlichen Raum berücksichtigen und so die Händler_innenaktivitäten in Grenzen halten müssen. Exkurs: Selbsthilfe für sozioökonomisch Benachteiligte oder „kriminelle Akteure“ im öffentlichen Raum? Der (informelle) Straßenhandel in São Paulo seit den 1990er Jahren Die Verfolgung und Verdrängung von (informellen) Straßenhändler_innen (vgl. Kap. 4.5.4) ist in São Paulo Teil einer Entwicklung, die schon früh einsetzte. Luciana Itikawa beschäftigt sich als Mitarbeiterin beim CGG im Rahmen des Programms „Informelle Arbeit und Recht auf Stadt“ intensiv mit dem Thema und hat die Entwicklung im Rahmen ihrer Dissertation (iTiKaWa 2006) ausführlich aufgearbeitet. Im Rahmen zweier Interviews206 schildert sie die Entwicklung, die dazu geführt hat, dass der Straßenhandel im zentralen öffentlichen Raum São Paulo keine Rolle mehr spielt, obwohl er für die Händler_innen weiterhin eine große ökonomische Bedeutung zur Sicherung des Lebensunterhalts hätte. Der Straßenhandel ist kein neues Phänomen und bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es bereits ein erstes Gesetz zu dessen Organisation und der Regulierung im öffentlichen Raum. Größere Bedeutung erlangte er mit der Abschaffung der Sklaverei 1888, als viele ehemalige Sklav_innen auf der Suche nach Arbeit in die Städte migrierten. Deren Inklusion in den formellen Arbeitsmarkt stellte sich allerdings als schwierig heraus. Bis heute stellen diese beiden Themen – das der Regulierung des öffentlichen Raums und das der schwierigen Eingliederung in den Arbeitsmarkt – die Grundlage für die Entwicklung dar. Ein Versuch der Regulierung und Eingrenzung stellt die in den 1980er Jahren eingeführte und bis heute bestehende Regelung der Lizensierung der Straßenhändler_innen dar. Dabei wurden überwiegend an Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen Lizenzen für Aktivitäten des Straßenhandels an bestimmten Orten (bspw. in der Rua 25 de Março) ausgegeben. Die Zahl der Lizenzen sei dabei aber immer deutlich unter der Zahl derer geblieben, die zur Einkommensgenerierung auf den Straßenhandel angewiesen sind. Bei straßenweisen Erhebungen im Rahmen ihrer Dissertation wurde ein permanenter überhang nicht lizensierter und damit als illegal betrachteter Händler_innen festgestellt. Die 1990er Jahre waren durch eine hohe Präsenz von Straßenhändler_innen im Zentrum geprägt. Während die GCM mit der Bekämpfung der nichtlizensierten Händler_innen beauftragt war, wurden die lizensierten von Kontrolleuren der Stadtverwaltung überprüft. Dabei etablierte sich ein korruptes System, bei dem die 206 Interview mit Luciana Itikawa, Koordinatorin des Projekts „Trabalho Informal e Direito a Cidade“ im Centro Gaspar Garcia dos Direitos Humanos, am 16.09.2011 und am 22.09.2011 in São Paulo.
4.6 Organisationen im Paulistaner Prozess der Innenstadterneuerung
293
Kontrolleure Schutzgeld forderten und die Vertretungen der Straßenhändler_innen Bestechungsgelder zahlten. Schlussendlich erreichte der Korruptionsskandal sogar die Amtsleiter (secretários municipais) der jeweiligen Stadtregierungen. Es gab mehrere munizipale untersuchungsausschüsse und Verurteilungen von Beteiligten in der Angelegenheit, die als Máfia da Propina (Schmiergeldmafia) bekannt wurde. Mit dem Amtsantritt der Regierung Marta Suplicy wurde das System der Kontrolle und Lizenzen neu geregelt. Die Kontrolleure wurden ausgetauscht und die Lizenzen neu vergeben. Gleichzeitig wurden die erstmals unter der Regierung Luíza Erundiana gesetzlich geregelten Permanenten Kommissionen der ambulanten Händler (Comissões Permanente de Ambulante, CPA) wieder eingesetzt. Auf Ebene der jeweiligen Subpräfekturen waren sie mit Vertreter_innen der Stadtverwaltung und Repräsentant_innen der Straßenhändler_innen, solchen des Handels und zivilgesellschaftlichen Vertreter_innen besetzt und hatten zur Aufgabe, Anliegen der Straßenhändler_innen zu diskutieren. Ihre (intendierte) Bedeutung lag in dem unmittelbaren Kontakt zwischen den Straßenverkäufer_innen und der Stadtverwaltung zur gemeinsamen Beratung und Interessenabwägung u. a. hinsichtlich der Anzahl von autorisierten Händler_innen und ihrer Standorte. Die gesetzlichen Regelungen der CPAs gelten deshalb international als vorbildlich. Trotz dieser Fortschritte im wechselseitigen Dialog kam es in dieser Zeit bereits zu einer starken Reduktion der Lizenzen. Die Regierung Marta Suplicy war zwar einerseits an einer Verbesserung des umgangs mit den Verkäufer_innen interessiert, aber auch in erheblichem Maße dem Druck der Befürworter einer Innenstadterneuerung ausgesetzt, die sich immer wieder für eine drastische Reduzierung des Straßenhandels aussprachen. Die GCM, die weiterhin mit der Verdrängung der nichtlizensierten Verkäufer_innen beauftragt war, setzte diese mit massiven Aktionen (rapa) um, so dass es zu einer erheblichen Reduzierung kam. So wurden sie z. B. vollständig aus den Straßen Rua Direita und Rua 15 de Novembro im zentralen Finanzdistrikt vertrieben. Zwar seien zur Kompensation der Reduzierung des Straßenhandels die Einrichtungen von shopping populares (Shopping Center für informelle Händler_innen) vorgesehen gewesen, von denen eines auch realisiert worden ist. Allerdings kritisiert Itikawa deren deutliche wirtschaftliche Ausrichtung, die die soziale Komponente in zu starkem Maße vernachlässige. Itikawa gibt gleichzeitig einen Widerspruch zu bedenken, wonach zwar die Besetzung des öffentlichen Raums durch informelle Händler_innen stark bekämpft wurde, während gleichzeitig z. B. Restaurants und Cafés begannen, diese Flächen zu besetzen (vgl. Abb. 43 im Farbteil). Darin sieht sie eine ungleichbehandlung zwischen benachteiligten und bessergestellten Bevölkerungsgruppen. In den beiden nachfolgenden Regierungen Serra / Kassab wurde die Politik von Marta Suplicy fortgesetzt und verschärft. Die Zahl der Lizenzen wurde kontinuierlich verringert. Mit der Amtsübernahme von Kassab verloren die CPAs abermals an Bedeutung; der soziale Dialog zwischen den Akteuren wurde mit der Bestellung von überwiegend ehemaligen hochrangigen Angehörigen der PM für die Posten der Subpräfekten unterbrochen und an seine Stelle trat ein hierarchisches System aus Anordnungen und Erlässen, denen Folge zu leisten war. Die stärkste Form der Verdrängung tritt schließlich mit der „Operação Delegada“ in Kraft, durch die auch die
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4 Fallstudie São Paulo
PM unmittelbar in die sog. Bekämpfung des illegalen Straßenhandels mit einbezogen wird (vgl. Kap. 4.5.4). Itikawa ortet den Paradigmenwechsel im umgang mit dem Straßenhandel im Stadtzentrum in der Amtszeit von Marta Suplicy. Die Bekämpfung der Korruption zusammen mit der Forderung nach einem attraktiven und gepflegten öffentlichen Raum von Seiten der an Innenstadterneuerung Interessierten habe zu einer grundlegenden Veränderung im umgang mit der Thematik geführt. um die Korruption zu vermeiden, wurde auf Verdrängung gesetzt und (sozial)politische Debatten wurden mit der Zeit durch technische und kriminalisierende Diskurse abgelöst. Spielte bei letzterem Diskurs zunächst die Korruption die zentrale Rolle, wird er in jüngerer Zeit durch den oft debattierten Zusammenhang zwischen Straßenhandel und Produktpiraterie gestützt. Die massive Verdrängung nicht autorisierter Händler_innen habe schlussendlich dazu beigetragen, dass das Thema Straßenhandel im Zusammenhang mit dem öffentlichen Raum an Relevanz verloren hat. (Exkurs Ende) Zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts geraten auch diejenigen Straßenhändler_innen immer mehr unter Druck, die eigentlich über entsprechende Lizenzen, die sog. termos de permissão de uso (TPu; Erklärung der Nutzungserlaubnis) verfügen. Zum einen sei 2011 ein Dekret erlassen worden, wonach keine neuen TPus ausgegeben werden sollen, und zum anderen werden die bestehenden nach und nach unter teils unklaren Vorgaben eingezogen. Das CGG verfolgt diese Entwicklung und begleitet und berät die Betroffenen in regelmäßig stattfindenden Sitzungen mit Straßenhändler_innen verschiedener Gebiete im Zentrum und im Zentrumsnahen Bereich (Rua 25 de Março, Brás). Ziele der Arbeit des CGG sind u. a. die Reaktivierung der CPAs zur Aushandlung der unterschiedlichen Interessen und der Versuch, sich juristisch gegen die willkürlichen Aberkennungen der TPus zur Wehr zu setzen. Aufgrund der Entwicklungen im Bereich des (informellen) Straßenhandels, der (ehemals) bestehenden Verbindungen zur Stadtverwaltung und der unterschiedlichen Formen hinsichtlich der Legalität ist eine Vertretung dieser Akteursgruppe nicht einfach. Auch die Formen selbstorganisierter Vertretungen wie Gewerkschaften, vereinsähnlichen Zusammenschlüssen oder sozialen Bewegungen weisen teilweise geringe Konstanz, Brüche und Widersprüche auf. 4.6.2.6
SINPESP – Gewerkschaftliche Vertretung der autorisierten Straßenhändler_innen
Die Vertretung der Straßenhändler_innen, die über die TPus verfügen, ist das Sindicato dos Permissionários em Pontos Fixos nas Vias e Lougradoros Públicos do Estado São Paulo (SINPESP; Gewerkschaft der Autorisierten [Straßenhändler_innen] an festen Standorten im öffentlichen Raum des Bundesstaats São Paulo; vgl. Abb. 44 im Farbteil). Der Präsident der SINPESP, José Gomes207, betrachtet die verschiedenen munizipalen Verwaltungsebenen – die Präfektur, die Subpräfekturen 207 Interview mit José Gomes, Präsident der Gewerkschaft SINPESP, am 21.09.2011 in São Paulo.
4.6 Organisationen im Paulistaner Prozess der Innenstadterneuerung
295
und die einzelnen Ämter – als die wichtigsten Ansprechpartner, gegenüber denen die SINPESP ihre Mitglieder vertritt. Die SINPESP kann nur die lizensierten Straßenhändler_innen vertreten. Deren Zahl habe seit 2005 kontinuierlich abgenommen und liege bei ca. 3000 (2011). Davon seien noch ca. 500 (zahlende) Mitglieder bei der SINPESP. Diese Zahl hat sich ebenfalls reduziert, da die (ehemaligen) Mitglieder keinen Mehrwert in einer Mitgliedschaft erkennen würden und die SINPESP nicht in der Lage sei, Probleme zu lösen. Gomes räumt ein, dass es in der Tat schwierig ist, die alltäglichen Herausforderungen zu bewältigen, gibt aber auch zu bedenken, dass es ohne gewerkschaftliche Repräsentation noch schlechter wäre und manches trotz allem verbessert werden konnte. Als unterstützung stünden der Gewerkschaft zwei Gemeinderatsmitglieder zur Seite, die sich für die Belange der autorisierten Straßenhändler_innen einsetzten. Problematisch gestalte sich aber trotzdem die Tatsache, dass die Straßenhändler_innen untereinander sehr uneinig seien, was es erschwere, Forderungen Nachdruck zu verleihen. Ideen, die sich nach Meinung von Gomes zu verfolgen lohnen, sind Weiterbildungsangebote v. a. auch für junge Verkäufer_innen und von der öffentlichen Hand geförderte Investitionen in die Ausstattung der Stände der Händler_innen, was zu einer Attraktivitätssteigerung der jeweiligen Straßenzüge beitragen könne. Dabei sei wichtig, dass die Stände jeweils in Straßen mit hohem Passant_innenaufkommen lokalisiert seien, da diese die potenzielle Kundschaft seien. Die Passierbarkeit der Fußgänger_innen dürfe dadurch aber nicht eingeschränkt werden, da dies zur Ablehnung des Straßenhandels beitrage. Stattdessen müsse es darum gehen, durch attraktive Angebote und ansprechende Gestaltung der Verkaufsstände Kund_innen zu gewinnen, indem sie dort gerne einkaufen. Gleichzeitig könne sich ein guter umgang zwischen den Geschäftsbetrieben und den lizensierten Straßenverkäufer_innen ergeben, da sie wechselseitig für mehr Kundschaft sorgen könnten. Als positives Beispiel dafür führt er diesbezüglich die Rua 25 de Março an. An anderen Standorten werden die Straßenhändler_innen dagegen nicht unbedingt allgemein goutiert. Glória äußert sich im Fotointerview negativ über Straßenhändler_innen vor dem Teatro Municipal (vgl. Abb. 45 im Farbteil): „und, was passiert? Der Verfall eines so schönen, historischen Ortes in São Paulo. und dann: camelôs, Straßenhändler an dem Platz, nicht wahr? Für mich muss dort ein hübscher, schöner Ort sein.“208
Aus ihrer Sicht tragen die Straßenhändler_innen zu einer Verschlechterung des Stadtbildes bei. Dabei bleibt offen, ob sie dabei zwischen den autorisierten Straßenhändler_innen (von denen einer auf dem Foto abgebildet ist) und den informellen Verkäufer_innen unterscheidet, oder ihr urteil allgemein ausfällt. Die aktuelle Tendenz der Stadtverwaltung zielt nach Aussagen von Gomes auf eine kontinuierliche Verdrängung der Straßenhändler_innen ab, indem keine weiteren Lizenzen ausgegeben, bestehende zurückgenommen und Standorte als Ganze 208 „E assim, ó, o que está acontecendo? A decadência de um lugar lindíssimo, histórico, tá, de São Paulo. E assim, ó: camelôs, vendedores ambulantes ali, não é? Ai, para min, tem que ser um lugar limpo, bonito.” (Fotointerview mit Glória, selbständige Kosmetikerin im Zentrum, am 21.09.2011 in São Paulo).
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4 Fallstudie São Paulo
für den Straßenhandel gesperrt werden. Angesichts dessen seien Diskurse und Maßnahmen zur Revitalisierung aus seiner Sicht nur dazu da, bestimmte Bevölkerungsgruppen – in seinem Fall die autorisierten Verkäufer_innen – zu schädigen. Angesichts dessen seien Arbeitserfolge zugunsten der Mitglieder schwierig, v. a. auch wegen der uneinigkeit zwischen weiteren möglichen Interessenvertretungen. Ein anderes Problem in der Arbeit mit anderen Stakeholdern sei die unverbindlichkeit. Die SINPESP habe bereits an Treffen des Fórums do Centro (FCSP) teilgenommen. Allerdings gehe man dort nach den Aussprachen ohne konkrete Ergebnisse und Ziele auseinander; stattdessen bräuchte es aber seiner Meinung nach ein Dokument als Ergebnis, aus dem die Ziele in Form von Forderungen hervorgingen. Ebenfalls an den Sitzungen des FCSP nehmen Vertreter der CooperGlicério, einer Kooperative von Recyclingmaterialsammler_innen teil. Die Altmaterialsammler_ innen üben ihre Tätigkeit auch überwiegend im öffentlichen Raum aus und sind entsprechend mit ähnlichen Problemen konfrontiert wie die Straßenhändler_innen. 4.6.2.7
CooperGlicério – Recyclingmaterialsammler_innen und Anwälte des Umweltschutzes
Die CooperGlicério ist eine Kooperative von Recyclingmaterialsammler_innen, die 2006 gegründet worden ist und ihren Sitz in der Baixada do Glicério südöstlich der Praça da Sé hat. Dort verfügt sie unter einem Viadukt der Hochstraße Avenida Radial Leste-Oeste über ein ummauertes Areal, in dem die Materialsortierung vorgenommen wird (vgl. Abb. 46 im Farbteil). In der Kooperative gibt es zwei Beschäftigungssysteme: das Produktionssystem und das Arbeitszeitsystem. Im Produktionssystem handelt es sich um catadores (Sammler_innen), die mit ihren Handkarren im Stadtgebiet an festen Standorten v. a. von institutionellen großen Müllproduzenten wie Firmen, Behörden und Banken das Recyclingmaterial einsammeln, es zur Sortierstation bringen und es dort sortenrein trennen. Anschließend wird das Material gewogen und sie erhalten nach Abzug der unkosten der Kooperative ihr Gehalt gemäß den produzierten Materialmengen. Im Arbeitszeitsystem arbeiten Materialsortierer_innen. Der Abfall, den sie in ihren Sortierstationen trennen, wird von einem Kleintransporter von weiter entfernt liegenden Müllproduzenten eingesammelt. Die Bezahlung erfolgt in diesem Fall gemäß der geleisteten Arbeitszeit. Sérgio da Silva Bispo, Vorsitzender der Kooperative, legt Wert darauf, dass sie das zu sortierende Material unabhängig vom Beschäftigungssystem bei Partnern direkt einsammeln, mit denen sie Halbjahres- bis Jahresverträge abgeschlossen haben.209 unter den großen Müllproduzenten befinden sich Banken, die Bundespolizei, die Staatsanwaltschaft des Bundesstaats São Paulos, und andere Firmen und Behörden. Teilweise beteiligen sich die Abfallverursacher an den Abfuhrkosten, da nicht in allen Fällen die Deckung der Kosten ausschließlich aus dem Verkauf des Recyclingmaterials möglich ist. um ihre Zugehörigkeit zur Genossen209 Informationen aus einem Interview mit Sérgio da Silva Bispo, Vorsitzender der Genossenschaft der Recyclingmaterialsammler_innen CooperGlicério, am 02.08.2010 in São Paulo.
4.6 Organisationen im Paulistaner Prozess der Innenstadterneuerung
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schaft bei den Sammelpunkten belegen zu können, habe die Mitglieder der CooperGlicério einen Dienstausweis dabei. Abfall, der auf der Straße zur Entsorgung bereitgestellt wird, wird von der Kooperative nicht verarbeitet. Das ist eines der unterscheidungskriterien zwischen den Genossenschaftsmitgliedern und den unabhängigen catadores, die überwiegend den an den Straßen bereitliegenden Abfall bearbeiten würden und das Recyclingmaterial anschließend an Zwischenhändler verkaufen. Nach Meinung von Bispo sei es anstrebenswert, diese unabhängigen catadores in einem zweistufigen Verfahren an die Kooperativen heranzuführen. Wegen der zunächst vielen Regelungen, die es in einer Kooperative zu beachten gibt, könnten sie zunächst Mitarbeiter werden und später zu echten Mitgliedern. Allerdings sind CooperGlicério und andere Genossenschaften selbst mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert. Die Stadtregierung unter Kassab fokussierte in verstärktem Maße auf die mechanische Müllentsorgung und die Beauftragung großer, privater Entsorgungsunternehmen. Außerdem stehen überlegungen der Müllverbrennung im Raum, um dem großen Müllaufkommen gerecht zu werden. Beide Tendenzen werden vonseiten der Genossenschaften mit Skepsis betrachtet. Im Fall der Entsorgung durch große unternehmen böte sich für die Genossenschaftsmitglieder nur die Möglichkeit, dort eine mit einem Mindestlohn und einem Grundnahrungsmittel-Warenkorb abgegoltene Anstellung zu erhalten. Die vergleichsweise selbstbestimmte Arbeit und Organisation der Genossenschaft und ihrer Mitglieder ginge damit verloren. Ferner sei die Abfuhr mit einem den Abfall pressenden Müllfahrzeug kontraproduktiv, da dies die anschließende Sortierung zur Vorbereitung für das Recycling erheblich erschwere. Gleiches gelte selbstredend für die Müllverbrennung, die der Idee des Recyclings grundsätzlich entgegenstünde. Die Idee der vollständigen Ablösung der catadores durch die industrialisierte Abfallentsorgung hänge u. a. damit zusammen, dass vonseiten der Stadtverwaltung versucht werde, die Handkarren aus dem Stadtbild zu entfernen. um Zustimmung zu diesem Vorhaben zu erhalten, mache man sich mehrere Diskurse zunutze. Zum einen wird auf die unmenschliche, als unwürdig betrachtete und anstrengende Arbeit des Ziehens der Handkarren hingewiesen, angesichts dessen andere Beschäftigungsformen wesentlich humaner wären. um diese in Teilen vielleicht gar nicht ganz abwegige Kritik zu entkräften, könne laut Bispo über Möglichkeiten nachgedacht werden, die Handkarren bspw. mit Elektro-Hilfsantrieben auszustatten. Eine weitere Kritik ist die Störung des motorisierten Individualverkehrs durch die catadores. Hier weist Bispo zum einen auf den umstand hin, dass die Zirkulation lediglich der Müllentsorgung diene, die der gesamten Bevölkerung zugutekäme und zudem auch noch abgasfrei sei, und schlägt zum anderen vor, dass vielleicht an besonders neuralgischen Stellen Radwegen ähnliche Verkehrsspuren für Recyclingmaterialsammler_innen eingerichtet werden könnten. Ein weiterer Diskurs weise den Sammler_innen eine Reihe von negativ besetzten Eigenschaften zu. So werden sie oft mit Drogenabhängigen, Alkoholikern oder Obdachlosen gleichgesetzt. Bispo stellt Drogen- oder Alkoholprobleme mancher Kolleg_innen zwar nicht in Abrede, die Mehrheit sei davon aber nicht betroffen. Viele seien zwar aus der Notwendigkeit während einer Phase der Obdachlosigkeit zum Recyclingmate-
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4 Fallstudie São Paulo
Tab. 8: Zusammenfassende Darstellung der an einer sozial verträglichen Innenstadtentwicklung interessierten Organisationen im Zentrum São Paulos (eigene Erhebungen und Zusammenstellung) Organisationen
Mitglieder / Vertretung für
FCV (Fórum Centro Vivo; Forum „Lebendiges Zentrum“)
Mitglieder verschiedener universitäten, soziale Bewegungen, NGOs, Gewerkschaften
MNPR (Movimento Nacional da População de Rua; Nationale Bewegung der Obdachlosen)
Obdachlose in São Paulo (und brasilienweit)
Interessen und Ziele (im Zusammenhang mit Innenstadterneuerung) bleiberecht für alle im Zentrum inkludierende Politik fürs Zentrum Einsatz für Sozial-funktion des Eigentums Möglichkeiten eines Verbleibs im Zentrum
inkludierende Maßnahmen statt Verdrängung
Bestrebungen mit Blick auf öffentlichen Raum
Demokratische Nutzung des öffentlichen Raums
allgemeine Zugänglichkeit und erreichbarkeit keine repressionen gegen Benachteiligte
CGG (NGO Centro Gaspar Garcia dos Direitos Humanos; Menschenrechtszentrum Gaspar Garcia)
Vertretung und Beratung für Obdachlose, prekär Wohnende, Recylingmaterialsammler_innen, Straßenhändler_innen
Menschenrechtsverletzungen von staatlichen einrichtungen
sozialverträgliche Straßenreinigung mit Wasserhochdruckreinigern
bauliche Maßnahmen zur Verdrängung der Obdachlosen
(latente) Konflikte
…zwischen den staatlichen Sicherheitsorganen und benachteiligten …zwischen den teilnehmenden Organisationen wegen Zielen, Ideologien, u. ä. (intern)
…zwischen GCM (PM) und Obdachlosen wegen ihres aufenthalts im öffentlichen Raum …zwischen den Obdachlosen auf der Straße bedingt durch den überlebenskampf (intern) … zwischen dem MNPR und ObdachlosenNGOs (latent)
…zwischen den hilfseinrichtungen der Rede Rua Ziel: Verdrängung und der GCM (gelegentlich) der Armen
Publik machen von übergriffen auf Obdachlose im Zuge der Erneuerungsmaßnahmen i.w.S.
Mitverfolgen der Obdachlosen zum Zweck der Dokumentation repressiver Maßnahmen u. a.
keine Partizipation der betroffenen
Systematische Dokumentation von repressionen und Gesetzesverstößen gegen Obdachlose
Menschenrechtskonforme Behandlung von Obdachlosen
Verdrängung von Benachteiligten
-
Verbesserung der Lebensbedingungen der Zielgruppen
keine Verdrängung von Benachteiligten aus dem öffentlichen Raum
keine berücksichtigung der Armen
-
Hilfsangebote für Obdachlose im Zentrum Vertretung für Ouvidoria Obdachlose Comunitária da População de Rua (Gemeinschaftliche Ombudsstelle für Obdachlose)
repressive Maßnahmen gegenüber benachteiligte Bevölkerungsgruppen
keine übergriffe repression von (staatlichen) gegenüber Sicherheitskräften Obdachlosen
recht auf Verbleib im öffentlichen Raum
NGO Rede Rua Vertretung und (de ComuniAngebote für cação) Obdachlose
Einschätzung von Innenstadterneuerungsmaßnahmen u. ä.
unterstützung sozialer Bewegungen
sehr technisches Vorgehen ohne Berücksichtigung sozialer Belange
in Einrichtungen lediglich Verwaltung der Benachteiligten
Ziel „nur“ attraktives und repräsentatives Zentrum
Tw. Verklärung historischer epochen im Zentrum (1950er/60er J.)
4.6 Organisationen im Paulistaner Prozess der Innenstadterneuerung Organisationen
Mitglieder / Vertretung für
SINPESP (Sindicato dos Permissionários do Estado São Paulo; Gewerkschaft der Autorisierten [Straßenhändler_innen] des bundesstaats São Paulo)
Straßenhändler_innen an festen Standorten in São Paulo mit einer Genehmigung durch die Präfektur
CooperGlicério (Kooperative von Recyclingmaterialsammler_innen)
Mitglieder der genossenschaft
Interessen und Ziele (im Zusammenhang mit Innenstadterneuerung)
Beibehaltung der Genehmigungen für die Straßenhändler_innen erhalt der Standorte für die autorisierten Händler_innen
attraktivitätssteigerungen der Stände
Aufrechterhaltung der Sammlung von Recyclingmaterial Verbesserung der infrastruktur für die Recyclingmaterialsammler_innen
Bestrebungen mit Blick auf öffentlichen Raum Standorte für die autorisierten Händler_innen an vielfrequentierten Straßen
Diskriminationsfreie Zirkulation mit den Handkarren
Einschätzung von Innenstadterneuerungsmaßnahmen u. ä.
Verdrängung der autorisierten Straßenhändler_innen durch Entzug von Genehmigungen und Auflösung von Standorten
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(latente) Konflikte
…zwischen der Stadtverwaltung und den autorisierten Verkäufer_innen
Ziel der Stadtver- …zwischen catawaltung: schönes dores und indivisauberes Stadtbild dualverkehr ohne vermeintlich störende Gruppen wie die catadores
rialsammeln gekommen, aber den meisten sei es durch die Tätigkeit gelungen, wieder einen festen Wohnsitz zu erlangen. umgekehrt komme ein anderer Diskurs den Recyclingmaterialsammler_innen zugute. Durch ein gestiegenes umweltbewusstsein und das Erkennen der Bedeutung des Abfallrecyclings können die catadores diese Debatte für sich nutzen, da sie zu diesen Themen oft schon über jahrelange Kompetenz und Expertise verfügen. Aus diesem Grund werden beispielsweise Vertreter_innen der CooperGlicério immer wieder zu Vorträgen zu diesen und ähnlichen Aspekten der Müllentsorgung und der umwelterziehung eingeladen. Bispo betont in diesem Zusammenhang das diesbezüglich gute Verhältnis zur Gesellschaft. um aber die Arbeit der CooperGlicério laut Bispo unmittelbar zu be- und eine Weiterentwicklung zu verhindern, wurde ihr in der Amtszeit der Regierung Kassab das Areal, in dem sie die Mülltrennung vornimmt, nicht formell zur Nutzung überlassen (cessão da área). Dies stellte aber eine Bedingung für die Beantragung von Bundessubventionen zur Verbesserung der Ausstattung dar, die eine weitere Konsolidierung bedeutet hätte, die auf diese Weise verhindert wurde. Vonseiten der CooperGlicério seien alle für die formelle überlassung erforderlichen Dokumente vorgelegt worden und auch die anfallenden Steuer (IPTu) würden immer pünktlich gezahlt. Hintergrund dieser Verweigerung sowie der anderen Behinderungen der Stadtverwaltung sei, dass die Revitalisierung des Zentrums mit der Idee einer sauberen Stadt verbunden sei. und in diesem Zusammenhang die catadores, die mit ihrer Arbeit diesem Bild nicht entsprächen, aus dem Stadtbild des Zentrums entfernt werden müssten.
300
4 Fallstudie São Paulo
4.6.3
Zwischenfazit zu den Organisationen im Zentrum
Eine Vielzahl an NGOs, sozialen Bewegungen, Foren und Gewerkschaften engagiert sich im und für das Zentrum. Die Interessen ihrer Mitglieder und Anhänger differieren mit Blick auf die mittels Erneuerungsmaßnahmen anzustrebende Zentrumsentwicklung beträchtlich. Dies gilt sowohl für die generellen als auch für die den öffentlichen Raum betreffenden Ziele. Eingriffe zugunsten der Innenstadterneuerung lassen sich in Brasilien zwischen den beiden Polen reabilitação und revitalização verorten. • Reabilitação meint dabei sowohl baulich-physische Eingriffe als auch soziale und wirtschaftliche Interventionen, die auf den vorhandenen Strukturen aufbauen und versuchen, Defizite in diesen Bereichen unter Berücksichtigung der Akteure vor Ort zu verbessern und dabei die grundlegenden Charakteristika zu erhalten. • Revitalização strebt ebenfalls Verbesserungen und Aufwertungen an, ohne, dass dabei jedoch auf die vorhandenen Strukturen eines Ortes aufgebaut wird bzw. werden muss. Stattdessen sind auch großflächige Erneuerungen in baulicher, funktionaler und sozialer Hinsicht möglich (vgl. Kap. 2.1.4). Die Zielvorstellungen der jeweiligen Organisationen lassen sich ebenfalls in dieses Spannungsverhältnis einordnen (vgl. Abb. 47). Dabei können die hier erfolgenden Einordnungen der jeweiligen Interessenvertretungen von ihren Selbstdarstellungen abweichen. Die Begriffe – v. a. revitalização – umfassen in der alltäglichen Verwendung teilweise wertende Konnotationen und sind in Diskursen negativ besetzt. Sie könnten aufgrund dessen die eigenen Ziele in einem unvorteilhaften Licht erscheinen lassen, weswegen auf andere Terminologien zurückgegriffen wird. Dadurch müssen sich damit die intendierten Ziele allerdings nicht ändern (vgl. Exkurs: Revitalização, Requalificação & Co.). Allgemein messen die Zusammenschlüsse den funktionalen und sozialen Veränderungen im Zentrum eine hohe Bedeutung zu, während bauliche Eingriffe verhältnismäßig selten Erwähnung finden und sich in diesen Fällen auf Verbesserungen des öffentlichen Raums beschränken. Drei der beschriebenen Organisationen lassen sich aufgrund ihrer Darstellungen und ihrer Zielsetzungen mehrheitlich revitalisierenden Ansätzen zuordnen. Dazu zählen die Associação Viva o Centro, die ALs und der CONSEG-Centro. Dies zeigt sich überwiegend mit Blick auf deren funktionale und soziale Ziele. Für die AVC ist die ökonomische Funktion des Zentrums von zentraler Bedeutung. Die ansässigen unternehmen, von denen viele Mitglieder der AVC sind, sollen durch die Interventionen Verbesserungen erfahren, die einen Verbleib im Zentrum ermöglichen. Die „Basisorganisationen“ der AVC, die Ações Locais, die sich sowohl aus etablierten Bewohner_innen (der Mittelschicht) als auch aus Geschäftsleuten der jeweiligen Nachbarschaften zusammensetzen, interessieren sich ebenfalls für revitalisierende Maßnahmen. Dieses Anliegen erscheint zunächst angesichts der Definition revitalisierender Maßnahmen, wonach bestehenden Strukturen – und damit auch vorhandenen Wohn- und Geschäftsstrukturen – nicht unbedingt Bestandsschutz eingeräumt wird, als widersinnig, da die
Institutionen/Organisationen, die sich i. w. S. im und für das Zentrum engagieren, im Spannungsverhältnis 4.6 Organisationen Paulistaner Prozess der Innenstadterneuerung zwischen Revitalização und Reabilitaçãoim sowie tauschwertorientiertem und gebrauchswertorientiertem öffentlichem Raum
t a u s c h w erto r i e n t iert
Re v i t
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t a ç ão
(Sindicato dos Permissionários do Estado SP; Gewerkschaft der Autorisierten [Straßenhändler_innen] des Bundesstaats São Paulo)
ALs
(Ações Locais; Lokale Aktionen)
CooperGlicério
CONSEG-Centro
Öffentlicher Raum
e
SINPESP
AVC
(Associação Viva o Centro; Verein „Es lebe das Zentrum”)
(Kooperative von Recyclingmaterialsammler_innen)
(Conselho Comun. de Segurança; Beirat für öffentliche Sicherheit)
gebr a u c h s w e r t orie n t i e r t
R
301
FCSP
(Fórum do Centro de São Paulo; Forum des Zentrums São Paulos)
PJCC
(Promotoria Comunitária do Centro; Gemeinwesen orientierte Staatsanwaltschaft)
Ouvidoria Comunitária da População de Rua (Gemeinschaftliche Ombudsstelle für Obdachlose)
CGG
langfristig konsolidierte Organisation
(NGO Centro Gaspar Garcia dos Direitos Humanos; Menschenrechtszentrum Gaspar Garcia)
kurzfristig konsolidierte Organisation enge Austauschbeziehungen lockere Austauschbeziehungen
NGO Rede Rua (de Comunicação)
FCV
(Fórum Centro Vivo; Forum „Lebendiges Zentrum“)
MNPR
(Movimento Nacional da População de Rua; Nationale Bewegung der Obdachlosen) Eigene Darstellung
Abb. 47: Organisationen, die sich i. w. S. im und für das Zentrum engagieren, im Spannungsverhältnis zwischen Revitalização und Reabilitação sowie tauschwertorientiertem und gebrauchswertorientiertem öffentlichem Raum
eigene Position ggf. in Frage gestellt werden könnte. Das dennoch vorhandene Interesse in vielen ALs an solchen Maßnahmen erklärt sich aber aus der Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte in Richtung einer teilweisen Prekarisierung des Zentrums (vgl. Kap. 4.3.3). Aus Sicht der ALs sind Verbesserungen wünschenswert, die diesen Entwicklungen und deren Begleiterscheinungen entgegenwirken. Die Strukturen der sozioökonomisch tendenziell besser gestellten AL-Mitglieder sind somit sicherer, da Maßnahmen primär die jüngeren Strukturen der benachteiligten Bevölkerungsschichten in Frage stellen.210 Einer ähnlichen Logik folgt auch der CONSEG-Centro, der sich überwiegend mit Sicherheitsfragen beschäftigt und die 210 Anders stellte sich die Situation im mittlerweile aufgegebenen Großprojekt Nova Luz (vgl. Kap. 4.4.1) dar. Hier waren tatsächlich sowohl lange ansässige Bewohner_innen als auch Geschäftsleute durch das Revitalisierungsprojekt von Verdrängung bedroht, da es u. a. eine klare Gentrifizierungskomponente beinhaltete. Die Proteste der Anwohnervereinigungen und die Zusammenschlüsse der Geschäftstreibenden haben letztendlich ihren Teil zur Zurücknahme dieses Megaprojekts geführt.
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4 Fallstudie São Paulo
zugrundeliegenden Gefährdungen den nach Möglichkeit rückgängig zu machenden Entwicklungen zuschreibt. Dem gegenüber stehen Organisationen und Bewegungen, deren Klientel überwiegend aus benachteiligten Bevölkerungsgruppen besteht, und die sich für deren Verbleib im Zentrum einsetzen. Das Fórum Centro Vivo formuliert dieses Anliegen explizit und setzt sich für eine inkludierende Politik im Zentrum ein, die den mit der reabilitação verbundenen Kriterien nahe kommt. Auch der Bewegung der Obdachlosen geht es um Bemühungen der Integration anstelle der Verdrängung. Dabei erfährt sie unterstützung von NGOs wie der Rede Rua und der Ouvidoria Comunitária für Obdachlose. Auch das Centro Gaspar Garcia verfolgt in seinem Ansatz Ideen der reabilitação, da es sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Obdachlosen, prekär Wohnenden, Recyclingmaterialsammler_innen und Straßenhändler_innen im Zentrum einsetzt. Ebenso für ihren Verbleib im Zentrum engagieren sich die beiden tendenziell wirtschaftliche Interessen verfolgenden Zusammenschlüsse, die Genossenschaft CooperGlicério und die Gewerkschaft SINPESP. Sie sind allerdings ebenfalls stark von Verdrängung betroffen. In ihrer Zielausrichtung weniger eindeutig einem der beiden Pole zuzuordnen sind das Fórum do Centro und die Promotoria Comunitária. Dies hängt damit zusammen, dass sich beide diskursiv um einen möglichst inklusiven Charakter bzgl. der jeweils teilnehmenden Gruppen bemühen. Allerdings spiegelt der tatsächliche Teilnehmerkreis das nur bedingt wider und auch die Einladungen werden tendenziell beliebig anstatt zielgerichtet auf eine möglichst große Breite an Teilnehmenden im Spannungsfeld zwischen revitalização und reabilitação ausgesprochen bzw. verteilt. Anderseits gibt es auch Anhaltspunkte für eine intermediäre Position der PJCC und des FCSP, wenn bspw. der Blick auf die Art der Behandlung von Themen wie die Müllbeseitigung gerichtet wird, bei der zum einen durchaus kontroverse Standpunkte dargelegt werden und zum anderen auch die Zielformulierung weder ex- noch implizit auf die Verdrängung der im Beispielfall relevanten Recyclingmaterialsammler_innen ausgerichtet ist. Auch wenn die Verteilung der Einladungen zugunsten des intendierten breiten Teilnehmerkreises noch zielgerichteter an weitere Stakeholder erfolgen kann, nimmt dennoch bereits ein recht heterogener Teilnehmerkreis an den Versammlungen teil, was z. B. in verbalen Disputen zu einzelnen Sachverhalten deutlich wird und ebenfalls einen Hinweis auf die Zwischenstellung des FCSP geben kann. Zudem ist dem FCSP eine potenziell vermittelnde Funktion zwischen reabilitação und revitalização zuzuschreiben, da aufgrund der teilnehmenden Vertreter_innen lockere Austauschbeziehungen sowohl zu vergleichsweise eindeutig der Idee der Revitalisierung anhängenden Gruppen, als auch zu solchen, die sich eher für inkludierende Maßnahmen der reabilitação aussprechen, bestehen. Alle anderen Austauschbeziehungen zwischen Organisationen finden nur zwischen denen statt, die vergleichbare Zielsetzungen mit Blick auf Erneuerungsmaßnahmen verfolgen. Die Frage, inwieweit diese Initiative des FCSP allerdings tatsächlich eine einflussreiche Position einnehmen kann, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht beantworten. Der öffentliche Raum ist eine zentrale Kategorie im Zusammenhang mit der Erneuerung des Zentrums. Entsprechend oft wird er von den unterschiedlichen
4.6 Organisationen im Paulistaner Prozess der Innenstadterneuerung
303
Bündnissen thematisiert. Die jeweiligen Anliegen dahingehend sind ebenfalls von den jeweiligen Interessen abhängig. Eine zentrale Dimension öffentlichen Raums ist die der Funktionen, wobei Markt und Politik zwei zentrale Funktionen darstellen. • unmittelbar kann der öffentliche Raum im Fall der Marktfunktion dem Handel und dem Warenaustausch dienen, mittelbar kann er aber auch Bedeutung für die gesamtstädtische Wirtschaft haben, indem er repräsentativ ist und so einen Faktor der Anziehungskraft einer Stadt bildet oder durch gute Verkehrsinfrastruktur die Zirkulation erleichtert. Öffentlicher Raum ist in diesen und weiteren Fällen überwiegend tauschwertorientiert. • Der öffentliche Raum, der der politischen Funktion i. w. S. dient, erlaubt neben politischer Kommunikation und kommunikativem Handeln auch anderweitige Aneignungen der nicht-konformen und widersprüchlichen Nutzung. In diesen Fällen ist der öffentliche Raum primär gebrauchswertorientiert (vgl. Kap. 2.2.2 & 2.2.3). Diese unterscheidung eignet sich zur Einordnung der Organisationen hinsichtlich ihres Fokus, unter dem sie für ihre Arbeit und Anliegen den öffentlichen Raum betrachten (vgl. Abb. 47). Bei der AVC ist die Bedeutung öffentlicher Räume überwiegend tauschwertorientiert. Dabei ist die mittelbare Tauschwertorientierung zentral, bei der der öffentliche Raum eine unterstützung für die wirtschaftlichen Aktivitäten der Mitgliedsunternehmen darstellt. Diese Hilfestellung kann sowohl durch ein allgemeines repräsentatives Erscheinungsbild erfolgen, mit der Schaffung und Aufrechterhaltung von Sicherheit verbunden sein oder auch attraktive Verkehrsinfrastruktur für die Erreichbarkeit des Zentrums mittels motorisierten Individualverkehrs umfassen. In der Tendenz ähnlich gelagert ist die Bedeutung des öffentlichen Raums für die ALs und den CONSEG-Centro. Die Geschäftstreibenden der ALs sind an umsatzsteigernden öffentlichen Räumen interessiert, in dem sich potenzielle Kund_innen ungestört und sicher bewegen können. Für die in den beiden Zusammenschlüssen engagierten Bewohner_innen muss der öffentliche Raum primär repräsentativ sein. Aus diesem Grund legen sie Wert auf eine gute Pflege und Instandhaltung. Ebenfalls tauschwertorientiertes Interesse haben die Mitglieder der SINPESP, für die der öffentliche Raum eine Art Marktplatz darstellt und der dort am interessantesten für sie ist, wo eine Vielzahl von Passant_innen die potenzielle Kundschaft bilden. Ähnlich verhält es sich mit Mitgliedern der CooperGlicério. Auch wenn sie nicht unmittelbar im öffentlichen Raum ihren Lebensunterhalt verdienen, stellt er doch eine wichtige Komponente ihrer Tätigkeit dar und ihr Aufenthalt und ihre Bewegungen dort sind auf Einkommenserzielung ausgerichtet. Anders stellt sich die Bedeutung des öffentlichen Raums für die NGOs Rede Rua und CGG, das Fórum Centro Vivo und die Obdachlosenbewegung dar. Die Obdachlosenbewegung reklamiert für sich aus der Notsituation resultierend den Anspruch, den öffentlichen Raum umfassend nutzen zu können. Das bedeutet auch, ihn nicht nur für Bewegungen des Gehens und Kommens, sondern auch für den Aufenthalt anzueignen, eine Form, die vonseiten der Politik und mittels der GCM immer wieder als vermeintlich unzulässig bekämpft wird. Außerdem hat der öffent-
304
4 Fallstudie São Paulo
liche Raum für diese soziale Bewegung (wie auch für viele andere) unmittelbar auch politische Bedeutung, wenn ihre Aktivist_innen durch Demonstrationen, Mahnwachen und Kundgebungen auf ihre Situation aufmerksam machen. Der öffentliche Raum wird dabei zum Ort der Selbstdarstellung, um auf die Probleme aufmerksam zu machen, Forderungen zu erheben und die Einhaltung von Rechten einzumahnen. Sowohl das FCSP als auch die PJCC nehmen mit Blick auf den Stellenwert des öffentlichen Raums abermals eine intermediäre Stellung ein, was überwiegend ihrer heterogenen Zusammensetzung geschuldet ist, die zu einer breiten Bedeutungszuschreibung öffentlicher Räume beiträgt. unterschiede bei den Organisationen bestehen neben den inhaltlichen Differenzen auch beim Konsolidierungsgrad. Damit ist gemeint, wie dauerhaft die jeweilige Interessengemeinschaft organisiert ist. um eine Langfristigkeit der Arbeit zu ermöglichen, können mehrere Faktoren hilfreich sein. Dazu zählen bspw. eine gesicherte Finanzierung, eine große Mitglieder- oder Anhängerschaft zur unterstützung, ein verlässliches Leitungsgremium, ein gutes externes Netzwerk, um evtl. Probleme abfedern zu können und weitere Mitstreiter zu haben, und Motivation aus Erfolgen der Arbeit. Diese verschiedenen Ressourcen sind bei den einzelnen Bündnissen recht unterschiedlich verteilt. Die AVC kann aufgrund ihrer Vereins- und Förderstruktur sowie mit den ihnen zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln als konsolidiert betrachtet werden. Grundsätzlich gilt das auch für die ALs in Hinsicht auf die organisatorischen Strukturen, die von der AVC zur Verfügung gestellt werden. Der gesicherte Fortbestand einer konkreten AL ist deswegen v. a. von den jeweils unmittelbar dort Verantwortlichen abhängig. Ebenfalls als gesichert zu betrachten ist der Fortbestand des CONSEG, wozu in diesem Fall nicht zuletzt die gesetzliche Verankerung dieses Beirats beiträgt. Konsolidiert wirken die beiden NGOs Rede Rua und CGG sowie die CooperGlicério, wobei letztere v. a. aufgrund ihrer genossenschaftlichen Struktur relativ gefestigt erscheint. Viele der dargestellten Interessengruppen machen aber einen vergleichsweise gefährdeten Eindruck, was ihren langfristigen Fortbestand anbelangt. Das FCV, das über knapp zehn Jahre intensive Arbeit geleistet hat, ist in dieser Form nicht mehr existent. Die lockere Organisationsform eines Forums bedarf der engagierten Zusammenarbeit verschiedener Akteure, deren Motivation hauptsächlich durch gemeinsame Erfolge bei gemeinsamen Anliegen resultiert. Fehlen Erfolge oder sind die Anliegen zu heterogen, wird die Zusammenarbeit auf Dauer schwierig und schlussendlich u. u. eingestellt. Das Forum do Centro ist von Anfang an mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert. Einerseits gibt es viele teils heterogene Erwartungshaltungen, andererseits ist das Organisationsteam relativ klein, von wenigen Personen abhängig und demzufolge der Gefahr der überforderung ausgesetzt. Noch mehr hängt die Promotoria Comunitária von dem zuständigen Staatsanwalt ab. Die Abhängigkeit von einzelnen oder wenigen Personen stellt neben anderen limitierenden Faktoren auch ein Problem bei den Obdachlosenbewegungen dar. Die Ouvidoria Comunitária wiederum wird zwar von mehreren Personen getragen, die allerdings in Ausbildung sind und deshalb nicht unbedingt langfristig für die Arbeit in der Ouvidoria zur Verfügung stehen. Die Gewerkschaft der autorisierten Straßenhändler_innen (SINPESP) hat in den vergangenen Jahren aufgrund der repressiven Politik gegenüber Straßenhändler_innen grundsätzlich wenige Erfolge vorzuweisen, was sich in
4.6 Organisationen im Paulistaner Prozess der Innenstadterneuerung
305
einer starken Abnahme der Mitglieder ausdrückt. Diese Reduzierung gefährdet auf Dauer die Arbeit der Gewerkschaft als Ganzes. Die meisten der Anliegen der Interessenvertretungen lassen sich nicht unabhängig von der Stadtverwaltung umsetzten. Entweder bedarf es zumindest der Genehmigung von Erneuerungsmaßnahmen oder diese müssen zunächst von der Stadtverwaltung vorbereitet und anschließend umgesetzt werden. In der Amtszeit von Kassab werden von den Organisationen generell fehlende Kommunikationskanäle zur Stadtverwaltung kritisiert. Eine partielle Ausnahme stellt in diesem Zusammenhang der CONSEG dar, da dieses Gremium aufgrund seiner gesetzlichen Bestimmungen verpflichtend mit Mitgliedern der Polizei besetzt ist. Somit besteht über diesen Kanal die Möglichkeit, zumindest sicherheitsrelevante Themen auch an die auf staatlicher Seite zuständigen Ebenen weiterzuleiten und Lob und Forderungen vorbringen zu können. Zu weiteren Sachverhalten das Zentrum betreffend ist der Austausch mit den zuständigen Stellen dagegen sehr eingeschränkt. Die fehlenden munizipalen Ansprechpartner in der Stadtverwaltung sowie das grundsätzlich nicht vorhandene Gesamtprogramm für das Zentrum werden vonseiten der AVC explizit kritisiert und stellen auch für das FCSP ein Problem dar, da angestrebte Veränderungen und Verbesserungen, die diskutiert werden, nur mittels der Stadtverwaltung realisiert werden könnten, was aber zunächst einen Austausch mit den Verantwortlichen voraussetzen würde. ungleich schwieriger stellt sich die Auseinandersetzung mit der Stadtverwaltung für die Bewegungen der benachteiligten Bevölkerungsgruppen im Zentrum und der sie unterstützenden NGOs dar. Erschwerend kommt hier hinzu, dass ihre Anliegen oft der munizipalen Politik entgegenstehen und deswegen neben fehlenden Kommunikationskanälen auch die Problematik gänzlich widersprüchlicher Ziele zum Tragen kommt. In vielen Fällen geht es deshalb bei diesen Organisationen zunächst weniger um das Erreichen von privilegierenden Maßnahmen, wie die Öffnung der Fußgängerzonen für den motorisierten Individualverkehr, als vielmehr um die Durchsetzung bzw. Einhaltung elementarer Rechte wie im Fall der Obdachlosen das Recht auf körperliche unversehrtheit und das auf Eigentum.
5 5.1
FAZIT
INNENSTADTERNEuERuNG IM ÖFFENTLICHEN RAuM – VON WEM uND FüR WEN?
Die Ergebnisse der Feldforschung haben einen deutlichen Konnex zwischen den Themen Innenstadterneuerung und öffentlicher Raum in São Paulo offengelegt. Der öffentliche Raum ist bei direkten baulich-physischen Eingriffen sowie bei institutionellen Maßnahmen, die mit Innenstadterneuerung im weitesten Sinn in Verbindung gebracht werden können, die zentrale Bühne. Diese direkten Eingriffe werden oft von indirekten Maßnahmen begleitet, die privaten Akteuren wie Grundeigentümern und Investoren als Anreize dienen sollen, Maßnahmen im Sinne der Innenstadterneuerung zu ergreifen. Die zentralen kollektiven Akteure bei den direkten Maßnahmen sind Stadt- und Bundesstaatsregierung. Bei den indirekten Maßnahmen ist primär die Stadtregierung aktiv. Die indirekten Maßnahmen im Zentrum umfassen Instrumente aus dem Bereich der Public-Private-Partnership (PPP), bei denen Investoren einerseits Konzessionen für bauliche Interventionen eingeräumt bekommen und andererseits die öffentliche Hand als Gegenleistung Konzessionszahlungen erhält, mit denen öffentliche Infrastrukturmaßnahmen im Zentrum finanziert werden sollen. Die Möglichkeiten und der umfang der tatsächlichen Eingriffe hängen im Fall dieser indirekten Maßnahmen also unmittelbar von den getätigten privaten Investitionen ab. Bei den PPP-Programmen für das Zentrum blieben die privaten Investitionen seit deren Bestehen zu Beginn der 1990er Jahre stets weit hinter den Erwartungen zurück. Entsprechend gering waren die Einnahmen für die öffentliche Hand und damit auch die Zahl der getätigten Maßnahmen vonseiten der Stadtregierung. Die ausbleibende Akzeptanz der Programme im Zentrum ist teilweise der höheren Attraktivität ähnlicher Programme in anderen Teilen der Stadt geschuldet. Abgesehen von den wenigen, mit Mitteln aus der PPP umgesetzten, öffentlichen Projekten (hauptsächlich Platzsanierungen), wurden diese indirekten Maßnahmen durch private Investitionen kaum raumwirksam. Die geringe Zahl neuer Bürogebäude verändert die Gesamtstruktur des Zentrums nur in geringem Maße. Die funktionalen Neuerungen im Zusammenhang mit den PPPs fokussieren v. a. auf den kulturellen Bereich und sind zahlenmäßig ebenfalls gering. Dennoch ist die Sichtbarkeit höher, als die reinen Zahlen vermuten ließen. Dies ist hauptsächlich der Bedeutung des Kulturzentrums der Banco do Brasil zu verdanken. Weitere indirekte Erneuerungsmaßnahmen, die von Anreizmechanismen für (bestimmte) unternehmensansiedlungen im Zentrum bis hin zu dem ehemals geplanten Megaprojekt „Nova Luz“ reichen, wurden entweder nicht oder nur marginal umgesetzt, so dass strukturelle, funktionale und sozialräumliche Auswirkungen (fast) nicht vorhanden sind. Anders verhält es sich bei den direkten Eingriffen. Seit Beginn der 1990er Jahre setzen sowohl die Stadtregierung als auch v. a. die Bundesstaatsregierung auf Maß-
5.1 Innenstadterneuerung im öffentlichen Raum – von wem und für wen?
307
nahmen, die auf den Ausbau des Kulturangebots im Zentrum fokussieren. Dabei handelt es sich um bauliche Eingriffe, die entweder neue Kultureinrichtungen schaffen oder bestehende instand setzen. Auf Initiative der Bundesstaatsregierung gehen die umwandlung des Bahnhofs Júlio Prestes in den Konzertsaal Sala São Paulo, die Adaptierung des Bahnhofs Luz in das Museum der Portugiesischen Sprache und die Einrichtung eines Gedenkzentrums und eines Kunstmuseums im ehemaligen Gebäude der Politischen Polizei während der Militärdiktatur zurück. Alle diese Kulturzentren befinden sich im Bairro Luz. Die Erwartungshaltung, die damit verbunden war, ging von einer Aufwertung der Nachbarschaften aus, in denen private Investoren weitere Reformen von Gebäuden angehen sollten. Anders als bei den indirekten Maßnahmen ging die öffentliche Hand in diesen Fällen in Vorleistung und versprach sich dadurch Folgeinvestitionen. Die Erwartungen im Bairro Luz sind allerdings kaum erfüllt worden. Die (hoch)kulturellen Projekte bilden stattdessen isolierte Einheiten in einem ansonsten vernachlässigten, sozioökonomisch benachteiligten Stadtraum. Diese Aufwertungen führen somit in verschiedener Hinsicht zu einer weiteren Fragmentierung dieses Stadtgebiets. Andere Kultureinrichtungen wie das Stadttheater und die Bibliothek Mario de Andrade sowie andere historische Gebäude wurden von der Stadtregierung saniert. Zuletzt wurde unmittelbar im Zentrum der Praça das Artes, ein Kulturprojekt des munizipalen Kulturamts, fertiggestellt. Die Maßnahmen trugen zu einer Ausweitung des kulturellen Angebots im Zentrum und damit zu einer funktionalen Diversifizierung bei. Das Kulturangebot hat in weiten Teilen mindestens gesamtstädtische Bedeutung, was angesichts des Bedeutungsüberschusses des Zentrums nachvollziehbar ist. Außerdem unterstützen die neuen Einrichtungen mit Blick auf das Zentrum als Ganzes auch eine von den Initiatoren erwünschte Entwicklung, da sie überwiegend die Mittel- und Oberschicht ansprechen, die sich zum Besuch von Kulturveranstaltungen im Zentrum aufhält. Innerhalb der jeweiligen Kultureinrichtungen ist das Publikum deshalb meist vergleichsweise homogen, was zwei Faktoren geschuldet ist. Zum einen bilden die Eintrittspreise eine finanzielle Hürde für viele Geringverdienende und zum anderen empfinden diese die Veranstaltungen und / oder Einrichtungen oft als exklusiv im Sinne von ausgrenzend. Die Heterogenität zwischen der jeweiligen Kultureinrichtung und deren umgebung bedingt dadurch eine kleinräumige sozioökonomische und kulturelle Fragmentierung des Zentrums. Viele der munizipalen Erneuerungen kultureller Einrichtungen waren Teil breiter angelegter Innenstadt(erneuerungs)programme, die weitere Ziele verfolgten, von denen einige auch realisiert wurden. Dazu zählt die (Rück)verlagerung vieler städtischer Ämter und der Präfektur ins Zentrum. Dies hatte dort eine Ausweitung des Beschäftigungsangebots im öffentlichen Sektor zur Folge. Weitere Teilprojekte fokussieren oft auf den öffentlichen Raum, dessen qualitative Verbesserung im Mittelpunkt des Interesses steht (vgl. Abb. 48). Seit den 1990er Jahren erfuhren so folgende Plätze umgestaltungen oder Instandsetzungen: Vale do Anhangabaú, Praça do Patriarca, Praça Dom José Gaspar, Praça da Sé, Praça da República und Praça Roosevelt. Dabei reichten die Eingriffe von Neuanlagen und grundlegenden umgestaltungen (inklusive Verkehrsberuhigung) wie im Fall der Plätze Vale do Anhangabaú, Praça do Patriarca und Praça Roosevelt bis zu kleineren Interventio-
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5 Fazit
nen bei anderen Plätzen. Bei diesen Interventionen spielte die Verschönerung und die Erhöhung der Nutzungsfrequenz u. a. durch Maßnahmen der Minimierung des (subjektiven) unsicherheitsgefühls eine wichtige Rolle. Die größeren Interventionen im Vale do Anhangabaú und auf der Praça do Patriarca führten zu grundlegenden Struktur- und Funktionsveränderungen. Verkehrsfunktionen des motorisierten Verkehrs wurden vom Fußgängerverkehr abgelöst. Die Intention der kleineren Interventionen war dagegen implizit auf die Nutzungsausweitung der betreffenden Plätze durch Bewohner_innen der Mittelschicht zulasten der benachteiligten Bewohner_innen, die sich auf diesen Plätzen aufhalten, gerichtet. Neben den baulich-physischen Eingriffen im öffentlichen Raum spielen mit Blick auf die Zugangs-, Nutzungs- und Aneignungsmöglichkeiten auch die institutionellen Maßnahmen eine zentrale Rolle (vgl. Abb. 48). Verschiedene Regelungen und Verordnungen verändern diese Möglichkeiten in erheblichem Maße, wobei sie teilweise explizit und teilweise implizit an bestimmte, überwiegend sozioökonomisch schlechter situierte Bevölkerungsgruppen adressiert sind. Explizit gegen die informellen Straßenhändler_innen richtet sich die Regelung der „Operação Delegada“, bei der die Polizist_innen der Polícia Militar (PM) im Auftrag der Stadtverwaltung und von dieser bezahlt ihren Dienst in ihrer Freizeit fortsetzen und dabei dezidiert den informellen Straßenhandel bekämpfen sollen. Dieses Vorgehen hat dazu beigetragen, dass sich zumindest zu den regulären Geschäftszeiten, wenn die Polizeipräsenz im Zentrum hoch ist, quasi keine informellen Straßenhändler_innen mehr im Zentrum aufhalten, da aufgrund der an die PM übertragenen Verfolgung keine halbwegs risikofreie Verkaufstätigkeit möglich ist, ohne die Gefahr der Konfiszierung der Waren zu provozieren. Diejenigen Straßenhändler_innen, die über eine Genehmigung der Stadtverwaltung verfügen, unterliegen ebenfalls vermehrt der Gefahr der Verdrängung, indem ihre genehmigten Standorte von städtischer Seite geschlossen oder die Lizenzen nicht mehr verlängert werden. Die Verordnung 105, eine andere institutionelle Regelung mit Auswirkungen auf die Nutzung des öffentlichen Raums, zielt auf Personen in Risikosituationen ab, eine euphemistische umschreibung für Obdachlose. In der Verordnung wird von der überstellung dieser Personen in einschlägige Hilfseinrichtungen gesprochen. In der Praxis erfolgt die umsetzung der Verordnung durch die GCM aber häufig unter Einsatz von Gewalt und unter Missachtung elementarer Rechte. Es kommt so in vielen Fällen zu einer immer wiederkehrenden Verdrängung dieser Bewohner_innen São Paulos. Eine weitere Gruppe der Bevölkerung, die im Zentrum indirekter Verdrängung ausgesetzt ist, sind die Recyclingmaterialsammler_innen, denen Dokumente vorenthalten werden, die für eine Legalisierung und Konsolidierung des Betriebs der Kooperativen erforderlich wären, was den wirtschaftlichen Erfolg und damit die Existenzsicherung durch diese Beschäftigung gefährdet. umgekehrt werden die dargestellten Maßnahmen bzw. die mit ihnen gezeitigten Effekte – v. a. mit Blick auf die Straßenhändler_innen – von den Teilen der Bevölkerung, die sich zuvor davon gestört bis bedroht gefühlt haben, gutgeheißen. Neben den Verdrängungstendenzen im öffentlichen Raum zielen andere Maßnahmen auf dessen Attraktivitätssteigerung ab. Eine breite Palette von Kulturveranstaltungen verfolgt mehr oder weniger explizit die Mission, mit Hilfe von Theater-, Musik-, Tanz- und anderen Perfor-
5.1 Innenstadterneuerung im öffentlichen Raum – von wem und für wen?
309
Sozioökonomische Disparitäten
Polícia Militar (PM)
Guarda Civil Metropol. (GCM)
Konfl
ikte
Berufstätige
Straßenhändler_innen
Konflikte
Mittelschichtbewohner_innen
Handel
Repräsentation Öffentlicher Raum
Obdachlose
Lebensraum Öffentlicher Raum
I n n e n s t a d t Öffentlicher Raum Interventionen: Reform von Plätzen Kulturangebote im öR
Bundesstaatsregierung
Öffentlicher Raum
Innenstadterneuerung Rahmenbedingungen: Marktgesteuerter Immobilienmarkt Öffentl. Hoheit für Maßnahmen im öR Internationale Kreditgeber mög liche
Stadtregierung
Institutionelle Regelungen: Verordnung 105 Operação Delegada
Associação Viva o Centro (AVC) Konflikte mögliche
Konfl ik
te
Fórum Centro Vivo (FCV)
Abb. 48: Akteursgruppen (Auswahl) und Konflikte im Zusammenhang mit Innenstadterneuerung und Nutzung des öffentlichen Raums in São Paulo
mancedarbietungen, Paulistaner, die das Zentrum ansonsten kaum (noch) aufsuchen, wieder zu Besuchen des öffentlichen Raums des Zentrums zu bewegen. Abgesehen von der jährlichen Veranstaltung „Virada Cultural“ sind die Zuschauerzahlen bei diesen Events aber vergleichsweise gering. Die Kulturveranstaltungen im öffentlichen Raum werden von einer großen Vielfalt von privaten und öffentlichen Organisationen initiiert. Dieser Teilbereich der Maßnahmen zur Innenstadterneuerung spiegelt so im Kleinen das Spektrum von kollektiven Akteuren der Innenstadterneuerung wider. Die Ergebnisse der Forschung haben die zentrale Position der öffentlichen Hand in Form der Regierungen aller drei verwaltungstechnischer Maßstabsebenen – allen voran aber der Stadtregierung – unter Beweis gestellt. Zeigt die Stadtregierung bspw. kein besonderes Interesse an Maßnahmen zur Innenstadterneuerung, ist es für alle weiteren Stakeholder schwierig, ihre Interessen zu adressieren und so zunächst überhaupt eine Debatte darüber anzustoßen. Als vorteilhaft wird von den Stakeholdern erachtet, wenn es mehr oder weniger institutionalisierte Kommunikationskanäle zwischen der Bevölkerung und der Stadtverwaltung gibt. Seit Ende der 1980er Jahre wechseln sich in São Paulo tendenziell progressive und tendenziell konservative Stadtregierungen unregelmäßig ab. Ihre jeweiligen Zugänge zum Thema Innenstadterneuerung unterscheiden sich zum Teil erheblich. Zunächst ist zu bemerken, dass das
310
5 Fazit
Interesse konservativerer Regierungen an Themen der Innenstadterneuerung tendenziell geringer ist. Das Interesse drückt sich hauptsächlich diskursiv aus, ohne dass es in einem größeren Maße zu umsetzungen gekommen ist. Die progressiveren Regierungen legen dagegen prinzipiell einen stärkeren Schwerpunkt auf die Innenstadt und ihre Entwicklung. Dennoch gibt es von allen Stadtregierungen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, Interventionen mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen im Stadtzentrum. Konservativere Regierungen zielen mit Maßnahmen hauptsächlich auf eine Aufwertung des Zentrums ab, die sie u. a. durch Anreize zur Schaffung von Wohnraum für die Mittelschicht und Verschönerungen und Verbesserungen im öffentlichen Raum zu erreichen versuchen. Die progressiveren Regierungen versuchen dagegen, das Zentrum möglichst umfassend zu betrachten und möglichst vielen Interessen gerecht zu werden. Angesichts dieser Ausrichtung ist es für Interessenvertretungen in diesen Amtszeiten leichter möglich, für die jeweiligen Forderungen zu werben. Zu den Stakeholdern gehören auf der einen Seite diejenigen, die in der Tendenz den Bemühungen einer Nutzungsdiversifizierung und Aufwertung zustimmen, diese unterstützen und oft für weitergehende Maßnahmen plädieren. Dazu zählt zuvorderst die Associação Viva o Centro (AVC), der unternehmensnahe Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Attraktivität des Zentrums v. a. für die dort ansässigen unternehmen, Geschäfte und die Bewohner_innen der Mittelschicht zu erhalten bzw. zu erhöhen. Die Gründung der AVC fällt mit Beginn der 1990er Jahre genau in eine Zeit, in der die Stadtregierung bei Programmen zur Innenstadterneuerung auf die Einbeziehung der Geschäftstreibenden im Zentrum setzte. Durch diese Bemühung um Partizipation wurde ein Anreiz gesetzt, dass sich Interessenvertretungen bildeten, um so gemeinsame Ziele mit mehr Nachdruck gegenüber der Stadtregierung verfolgen zu können. Ein weiterer wichtiger Stakeholder, das Fórum Centro Vivo (FCV), in dem Stakeholder sozialer Bewegungen und sozial engagierter NGOs zusammengeschlossen sind, wurde ebenfalls mit Beginn der Amtszeit einer Regierung gegründet, die sich einen hohen Grad an Beteiligung eines breiten Spektrums von Stakeholdern im Zentrum zur Begleitung der Programme zur Innenstadterneuerung zum Ziel gesetzt hatte. Während die AVC hauptsächlich die Interessen der unternehmerschaft und der Bewohnerschaft der Mittelschicht vertritt, hatte es sich das FCV zur Aufgabe gemacht, eine möglichst inkludierende Innenstadterneuerung zu gewährleisten und verband deswegen überwiegend solche Vereinigungen, die sich für benachteiligte und verwundbare Gruppen im Zentrum einsetzen. AVC und FCV bildeten so mit Blick auf die selten deckungsgleichen Interessen zwei entgegengesetzte Pole in einer Reihe weiterer Vereinigungen, die sich im weitesten Sinn für das Zentrum engagieren. Einige sind mit Blick auf ihre artikulierten Interessen mehr oder weniger leicht einem der beiden Pole zuzuordnen. So sind die Ações Locais (ALs) als Initiativen der AVC tendenziell den Interessen der Mittelschichtbürger_innen und Geschäftstreibenden, von denen sie auch überwiegend getragen werden, verpflichtet. Die Zusammensetzung des CONSEG-Centro weist große Schnittmengen mit Vertreter_innen der ALs auf. Mit Blick auf die öffentliche Sicherheit wird dort eine Politik angestrebt, die zur Reduzierung der (vermeintlichen) Gefährdungen für die Bürger_innen der Mittelschicht im Zen-
5.1 Innenstadterneuerung im öffentlichen Raum – von wem und für wen?
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trum beiträgt. Auf der anderen Seite des Spektrums gibt es eine Vielzahl von Vereinigungen, die entweder in Form sozialer Bewegungen die eigene, in der einen oder anderen Weise benachteiligte Klientel vertreten, oder sich als NGOs für verwundbare Gruppen im Zentrum einsetzen. Eine intermediäre Stellung zwischen den beiden Polen beanspruchen die 2010 gegründeten Einrichtungen Fórum do Centro und Promotoria Comunitária do Centro. Von engagierten Bürger_innen der Mittelschicht bzw. einem ambitionierten Staatsanwalt initiiert, ist es ihr Ziel, Fragen und Probleme, die das Zentrum betreffen, möglichst umfassend zu betrachten und im Idealfall zu lösen. Allerdings stehen verschiedene Herausforderungen einer dauerhaften Konsolidierung und damit auch einer erfolgreichen Arbeit entgegen. Dazu zählen neben fehlenden Ressourcen in den Bereichen Personal/Mitarbeitende, Zeit und Finanzen auch der nur schwer zu etablierende Kontakt mit Vertreter_innen der – während der Gründungsphase konservativen – Stadtregierung. Neben diesen beiden Einrichtungen haben aber auch weitere, v. a. aus dem Bereich der sozial engagierten Vereinigungen mit Problemen zu kämpfen, die letztendlich ihren Fortbestand gefährden oder bereits zu einem weitgehenden Verschwinden beigetragen haben. Das FCV ist angesichts heterogener Interessenslagen seiner Mitglieder und des fehlenden gemeinsamen Ansprechpartners in der Stadtregierung mittlerweile nur noch virtuell mit sporadischen Einträgen (ehemaliger) Mitgliedsorganisationen im Web 2.0 existent. Andere Vereinigungen leiden unter internen Strukturproblemen (MNPR und Ouvidoria Comunitária da População de Rua) und / oder fehlenden Einflussmöglichkeiten (SINPESP), was im letzten Fall dazu führt, dass die Mitgliedschaft für Einzelmitglieder mangels erkennbarer Vorteile obsolet erscheint. Die Innenstadtpolitiken und -erneuerungen haben für unterschiedliche gruppen von akteuren verschiedene Konsequenzen und Auswirkungen. in den zwei Amtszeiten der vergangenen, eher konservativen Regierungen lassen sich – trotz eines vonseiten aller Stakeholder grundsätzlich vermissten klaren Bekenntnisses für das Zentrum – Begünstigte und Benachteiligte der allgemeinen, die ganze Stadt betreffenden und der speziellen, auf das Zentrum ausgerichteten Politiken ausmachen. Dies ist unabhängig davon, ob die Politiken explizit der Innenstadterneuerung dienen sollen, oder – was bei anderen als baulich-physischen Maßnahmen öfter der Fall ist – keinen unmittelbaren Konnex zum Innenstadterneuerungsdiskurs herstellen. Auch wenn die Kommunikationskanäle zur Stadtregierung in diesen beiden Amtszeiten für die jeweiligen Interessenvertretungen allgemein unbefriedigend waren, sind dennoch manche Interessen durch die jeweiligen Maßnahmen zumindest implizit berücksichtigt worden. Diese Möglichkeit ist dann gegeben, wenn die dominanten Vorstellungen der Stadtregierung und die Interessen der Stakeholder je nach Thema ähnlich oder gleich sind. In diesen Fällen sind diese Stakeholder und die von ihnen vertretenen Akteure begünstigt. umgekehrt bleiben die Stakeholder und Akteure, deren Interessen nicht mit denen der Stadtregierung übereinstimmen, durch entsprechende Maßnahmen unberücksichtigt oder werden benachteiligt. Mit Blick auf den öffentlichen Raum zielten die im Rahmen des Programms „PROCENTRO-2005“ durchgeführten Reformen der Plätze Praça da Sé und Praça da República auf eine höhere und diversifiziertere Nutzungsfrequenz ab. Angesichts des bis dahin tendenziell durch verwundbare Gruppen geprägten Nut-
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5 Fazit
zer_innenprofils beider Plätze intendieren die Maßnahmen die Steigerung der Nutzung durch Bewohner_innen und Arbeitnehmer_innen der Mittelschicht. Die u. a. durch die Neuerungen erhöhte (subjektive) Sicherheit auf der Praça da República kommt also primär diesen Nutzer_innen zugute. Gleichzeitig ist die Herstellung von Sicherheit scheinbar nur über die Verdrängung anderer Nutzer_innengruppen zu gewährleisten. Neben kleinkriminelle Kinder, die sich dort anscheinend nach der Realisierung der gestalterischen Maßnahmen nicht mehr aufhalten, sind davon auch die Obdachlosen betroffen. Die fortdauernde Präsenz der Obdachlosen auf der Praça da Sé habe die Nutzungsfrequenz durch Akteure der Mittelschicht nicht in dem Ausmaß gesteigert, wie es von den für die Erneuerung Verantwortlichen erwartet wurde. Die institutionellen Regelungen der Verordnung 105 (Entfernung von Obdachlosen aus für sie ungeeigneten Räumen) und die Operação Delegada (Bekämpfung des informellen Straßenhandels) sind explizit an zwei große sozioökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen adressiert. Sie dienen implizit oder explizit zu deren Verdrängung aus dem öffentlichen Raum des Zentrums. Beide Gruppen sind aus unterschiedlichen Gründen für die Sicherstellung ihrer Lebensabsicherung auf die Anwesenheit im Zentrum angewiesen. Zum einen ist hier die potenzielle Kundschaft durch das hohe Passant_innenaufkommen am größten, zum anderen sind die formellen und informellen unterstützungen verschiedener Art entscheidend. umgekehrt profitieren die Akteure der Mittelschicht implizit von diesen Maßnahmen, da diese einen Beitrag zu einem aufgeräumten und repräsentativen öffentlichen Raum leisten, der von der Mittelschicht favorisiert wird. Die umsetzung dieser Verdrängungen führt zu teilweise massiven Konflikten und Auseinandersetzungen zwischen den öffentlichen Sicherheitskräften und den von Verdrängung Betroffenen. Im Fall der Straßenhändler ist dieser Konflikt im öffentlichen Raum überwiegend latent vorhanden, da die starke Polizeipräsenz im Zentrum quasi keine risikofreien Verkaufsaktivitäten informeller Straßenhändler_innen erlaubt. Gestützt wird dieser Konflikt durch den auch medial verbreiteten Kriminalisierungsdiskurs, wonach die Straßenhändler_innen grundsätzlich Teil eines kriminellen Systems rund um Schmuggel und Produktfälschung seien. Deutlich offener sind die Konflikte zwischen den Sicherheitskräften der GCM als treibender Kraft und den Obdachlosen. Der Grad der Konflikte reicht dabei von verbalen Auseinandersetzungen bis hin zu Fällen widerrechtlicher körperlicher übergriffe und des Einsatzes von Pfefferspray gegenüber den Obdachlosen. Im Fall der Obdachlosen ist – anders als bei den Straßenhändler_innen – noch kein allgemeiner Diskurs zu deren Lasten erkennbar, der eine breite Akzeptanz des Vorgehens bedingen würde. Allerdings gibt es oft implizite Verallgemeinerungen, die Obdachlose unhinterfragt mit Drogenabhängigen und / oder informellen Recyclingmaterialsammler_innen gleichsetzen. Im ersten Fall kann dies zu der Schlussfolgerung führen, dass Drogensüchtige zur Befriedigung ihrer Sucht auf Beschaffungskriminalität angewiesen sind und Obdachlose somit als Kriminelle gelten würden. Durch die Gleichsetzung mit informellen, nicht organisierten Recyclingmaterialsammler_innen, die auf Straßen und Plätzen bereitgestellten Abfall auf der Suche nach Recyclingmaterial öffnen und im öffentlichen Raum verteilt zurücklassen, werden die Obdachlosen mitverantwortlich gemacht für die zu überwindende Degradierung des öffentlichen Raums.
5.2 Innenstadterneuerungen und Innenstadtpolitiken – theoretische Einordnungen
5.2
313
INNENSTADTERNEuERuNGEN uND INNENSTADTPOLITIKEN – THEORETISCHE EINORDNuNGEN
Die Maßnahmen der Innenstadterneuerung und die entsprechenden Politiken in São Paulo weisen auf verschiedenen Ebenen Anknüpfungspunkte an die neoliberale Stadtentwicklung (vgl. Kap. 2.1.3) auf. Das heißt allerdings nicht, dass sich diese auch unbedingt im Raum manifestieren oder schlussendlich den Alltag der Akteure prägen müssen, da Planungen nicht in allen Fällen über diese Phase hinauskommen. Emblematischstes Beispiel für unternehmerische Planung im Zentrum ist das Projekt „Nova Luz“, in dessen Rahmen die Stadtverwaltung nicht nur die umsetzung privatwirtschaftlichen unternehmen übertragen wollte, sondern auch die Planung einem privaten Konsortium überantwortet hat. Schlussendlich sollten auch die erforderlichen Enteignungen durch das beauftragte unternehmenskonsortium erfolgen. Dies stellt das Beispiel einer strategischen Planung für ein begrenztes Gebiet dar, die überwiegend neuen Akteuren wie Investoren, Tourist_innen und Bewohner_innen der Mittelschicht zugutekommen sollte. Allerdings verharrte das Interesse potenzieller Investoren auch in diesem Fall auf niedrigem Niveau. Damit gleicht deren Verhalten dem in den – ebenfalls der strategischen Planung zuzuordnenden – operações urbanas im Zentrum. Mit finanziell abzugeltenden Konzessionen, die über den gesetzlich erlaubten Rahmen hinausgehende Baumaßnahmen für Investoren attraktiv machen sollten, war die Erwartung zusätzlicher Einnahmen für die öffentliche Hand verbunden, mit denen in den betreffenden Gebieten Infrastrukturmaßnahmen getätigt werden sollten. Im Zentrum war für dieses Stadtentwicklungsinstrument die Nachfrage aber sehr gering – während diese in anderen Stadtteilen bei zeitgleich ablaufenden, vergleichbaren Projekten durchaus die Erwartungen erfüllte. Dies legt den Schluss nahe, dass nicht das Instrument an sich ungeeignet ist, um Investoren anzuziehen, sondern dass aufgrund der innerstädtischen Konkurrenz Standorte wie die an der Avenida Paulista, der Avenida Faria Lima, der Avenida Berrini und der Marginal Pinheiros im südwestlich des Zentrums gelegenen Quadranten für den Immobilienmarkt attraktiver sind als der innenstädtische Standort. Die „korporative urbanisierung“ (saNTos 2005, S. 120; vgl. Kap. 2.1.3) als ein weiteres Kennzeichen neoliberaler Stadtentwicklung, ist spätestens seit der Gründung der AVC in São Paulo ein wichtiges Thema. Die unternehmen im Zentrum haben mit der Gründung der AVC erkannt, dass sich mittels Lobbyarbeit gruppenindividuelle Ziele verfolgen lassen. Bereits zuvor wurde das Menschenrechtszentrum Gaspar Garcia (CGG) gegründet, das als unterstützungsinitiative für im Zentrum ansässige benachteiligte Bevölkerungsgruppen ebenfalls Lobbyarbeit für diese Bewohner_innengruppe betreibt. Auch wenn im Sinne saNTos‘ beide Vereinigungen gruppenindividuelle Ziele verfolgen, sind diese doch sehr unterschiedlich. Während die AVC ihre Interessen am Zentrum im weitesten Sinne aus wirtschaftlichen und gewinnorientierten Motiven ihrer Mitgliedsunternehmen ableitet, sind die Interessen des CGG sozialen ursprungs und an den unmittelbaren Bedürfnissen verwundbarer Bevölkerungsschichten orientiert. Ähnliches gilt für vergleichbare Vereinigungen wie die sozialen Bewegungen und andere soziale NGOs. Wie und ob diese mit der Stadtverwaltung zusammenarbeiten, gestaltet sich ganz unterschied-
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5 Fazit
lich und spiegelt in Teilen die Diskrepanz zwischen Widerstand und Opposition auf der einen und Konsens und Kooperation als bevorzugte „Spielregeln“ im neoliberalen Zeitalter auf der anderen Seite wider. Diese unterschiedliche Herangehensweise zeigt sich bspw. bei den beiden sozialen Obdachlosenbewegungen. Während sich das MNPR eher als Widerstandsbewegung gegen die aktuellen städtischen Politiken in Bezug auf Obdachlose versteht, ist das MEPSRSP trotz Kritik durchaus auch an Kooperationen interessiert, was bspw. in der akzeptierten unterstützung von wiederkehrenden Kulturveranstaltungen des MEPSRSP durch die Stadtregierung aber auch durch die Polizeien (PM und GCM) zum Ausdruck kommt. Dass die Positionierung gegenüber den Verwaltungen nicht auf allen drei administrativen Maßstabsebenen identisch sein muss, zeigt sich am Fall des MNPR, das beispielsweise bei der Erstellung einer Broschüre mit dem Bundesministerium für soziale Entwicklung zusammen gearbeitet hat. Auch wenn neoliberale Prämissen in den Innenstadtentwicklungsprogrammen unterschiedlicher Stadtregierungen eine Rolle spielen, unterscheiden sich diese doch in den jeweiligen Ausrichtungen. Die Maßnahmen der Innenstadterneuerung tendieren bei konservativeren Stadtregierungen mehr in Richtung der revitalização, wohingegen die progressiveren Stadtregierungen eher Maßnahmen im Bereich der reabilitação anstreben (vgl. Kap. 2.1.4). Im Hinblick auf die Bausanierung, die Funktionssanierung und die Sozialstruktursanierung ist das letztendlich nicht realisierte Projekt „Nova Luz“ das beste Beispiel für eine in weiten Teilen mit einer umwandlung der vorhandenen Strukturen einhergehenden revitalização. Größere umwandelnde Bausanierungen sind im Zentrum São Paulos kaum erfolgt. Das neue, kürzlich fertiggestellte Gebäudeensemble der „Praça das Artes“ kann dazugezählt werden. Ansonsten sind diese Maßnahmen zum einen aufgrund der dominanten Bedeutung des mächtigen, privatwirtschaftlichen Immobiliensektors für die öffentliche Hand kaum durchführbar und werden zum anderen von privaten Investoren eher als unattraktiv erachtet. Eine größere Rolle spielen deshalb die Versuche umwandelnder Sozialstrukturerneuerungen. Hier sind die Bemühungen zu nennen, die auf einen Zuzug von Bewohner_innen der Mittelschicht abzielen. In diesem Bereich besteht der bedeutendste unterschied zwischen konservativen und progressiven Regierungen, da sich die progressiven Regierungen für die Verbesserung der Wohnsituation der bereits im Zentrum ansässigen, ärmeren Bewohner_innen einsetzen und so eine erhaltende Sozialstruktursanierung verfolgen. Weniger eindeutig lassen sich die Maßnahmen zuordnen, die im öffentlichen Raum ergriffen werden. So wurde unter einer progressiven Stadtregierung der Praça do Patriarca grundlegend umgestaltet und durch die Entfernung eines dort lokalisierten Busterminals seine Funktion zugunsten eines Fußgängerbereichs mit repräsentativer Gestaltung maßgeblich verändert. Damit einher ging auch eine partielle umwandlung der Sozialstruktur, da die ärmere Bevölkerung, die hauptsächlich auf den Bus als Transportmittel angewiesen ist, an andere Terminals ausweichen musste. unter der gleichen Stadtregierung erfolgte auch eine Neuregelung des ambulanten Straßenhandels. Zum einen legte die Stadtregierung Wert auf den Dialog mit allen Betroffenen der Angelegenheit und institutionalisierte diesen in entsprechenden Kommissionen. Zum anderen wurden aber nur noch lizensierte Straßenhändler_innen geduldet,
5.2 Innenstadterneuerungen und Innenstadtpolitiken – theoretische Einordnungen
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während die anderen massiv verdrängt wurden. Damit kam es mit dem Wegfall des Warenangebots zu einem Funktionswandel und mit dem Verlust der Beschäftigungs- sowie Einkommensmöglichkeit und der damit für die Händler_innen gegebenen Notwendigkeit, in andere Stadtteile auszuweichen, zu einem Wandel der Sozialstruktur. Dieser Wandel wurde unter konservativen Stadtregierungen forciert und die ergriffenen Maßnahmen führten zu noch weitergehender Verdrängung der betroffenen Bevölkerungsgruppen. Mit der Förderung kultureller Initiativen und der Konversion verschiedener historischer Gebäude in Zentren der (Hoch)Kultur versuchten v. a. tendenziell konservativere Stadtregierungen auf Bundesstaats- wie auf städtischer Ebene, einen Funktionswandel in diese Richtung einzuleiten. Ziel dieser Maßnahmen ist, die Attraktivität des Zentrums für Bewohner_innen der Mittelschicht aus anderen Teilen der Stadt zu steigern. Insgesamt fügen sich die Maßnahmen in São Paulo somit in die weltweit zu beobachtenden Entwicklungen ein, bei denen Maßnahmen der Innenstadterneuerung der gesamtstädtischen Attraktivitätssteigerung dienen sollen (vgl. Kap. 2.1.5). Letztendlich geht es um ein Citymarketing, das wiederum Investitionen anziehen soll. Deshalb liegt der Fokus hinsichtlich des Zielpublikums überwiegend auf der Mittelschicht, weil diese in der Lage ist, entsprechende Angebote zu bezahlen und sie so schlussendlich den Investoren eine entsprechende Kapitalrendite ermöglichen kann. Dabei versuchen die progressiveren Stadtregierungen auch die Interessen der verwundbaren Gruppen im Zentrum bei den Maßnahmen zu berücksichtigen, während diese Bereitschaft bei den konservativeren Regierungen geringer ausgeprägt ist. Eine wichtige Bühne der expliziten wie impliziten Innenstadterneuerungen bildet in São Paulo der öffentliche Raum. Die Maßnahmen tangieren den Zugang, die Nutzung und die Aneignung und, damit in Verbindung stehend, Fragen der Sicherheit. Maßnahmen zur Verbesserung der allgemeinen Zugänglichkeit (vgl. Kap. 2.2.1) stellen die Reformen der beiden Plätze Praça da Sé und Praça da República dar. Dabei wurde überwiegend auf eine höhere Diversifizierung der Nutzer_innengruppen abgezielt, verstanden als Steigerung der Zahl der Nutzer_innen der im Zentrum arbeitenden und wohnenden Mittelschicht. Dafür wurde u. a. mittels baulich-physischer Maßnahmen versucht, die Einsehbarkeit zu erhöhen und so eine kontrollierbare umwelt zu schaffen. Diese gestalterischen Eingriffe wirken umgekehrt für die ärmeren Bevölkerungsgruppen, die sich bis dahin überwiegend auf den Plätzen aufgehalten hatten, wie soziale Filter, da dadurch Rückzugsräume verloren gehen, die für Kleinkriminelle, aber auch für Obdachlose, denen keine anderen privaten Räume für den Rückzug zur Verfügung stehen, von Bedeutung sind. Außerdem spielt die dauerhafte Polizeipräsenz an ausgewählten Plätzen eine weitere wichtige Rolle als Faktor, der den Zugang für die einen ermöglichen und gleichzeitig für andere limitieren kann. Diese Kontrollmaßnahmen kommen den Beschäftigten und den zur Mittelschicht gehörenden Bewohner_innen zugute, während sich ärmere Bevölkerungsschichten, die auf den öffentlichen Raum als Lebensraum angewiesen sind, durch die Polizei gestört fühlen, ausgelöst nicht zuletzt durch schlechte Erfahrungen. In diesem Fall handelt es sich somit um eine ausschließende Kontrolle. Die sich im Zuge der Maßnahmen ändernden Zugänglichkeiten finden ihren Niederschlag auch im Nutzungsverhalten (vgl. Kap. 2.2.2).
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5 Fazit
Mit dem Fernhalten bspw. von Obdachlosen von öffentlichen Plätzen verringert sich auch die aus Sicht der bürgerlichen Mitte nicht-konforme Nutzung dieser Räume. Dazu zählt beispielsweise das Liegen auf Bänken und anderen dafür geeigneten Flächen, das mit Blick auf die jeweilige Person als deviante Nutzung betrachtet wird. Die wirtschaftliche Nutzung des öffentlichen Raums unterliegt mit der massiven Verdrängung der (informellen) Straßenhändler_innen ebenfalls grundlegenden Veränderungen. Die Marktfunktion, die durch die Präsenz der Verkäufer_ innen den öffentlichen Raum prägte und in manchen Straßenzügen dominierte, verliert dadurch stark an Bedeutung. Dennoch verschwindet die wirtschaftliche Funktion nicht. unmittelbar kommt sie in der Zunahme von Außenmöblierung der Gastronomie zum Ausdruck. In dem Maße, wie der informelle Straßenhandel zurückging, nahm die Außenbestuhlung von Restaurants und Cafés an manchen Orten, v. a. im Alten Zentrum, zu. Die der Lebensabsicherung dienende Tätigkeit der Straßenhändler_innen wurde so von einer dem unternehmerischen Gewinn geschuldeten Nutzung des öffentlichen Raums abgelöst. Indirekt dienen viele der Maßnahmen im öffentlichen Raum aber auch indirekt der wirtschaftlichen Inwertsetzung. Dabei dient der öffentliche Raum als attraktivitätssteigernder Rahmen für die Geschäftsinteressen der Anrainer und potenzieller Investoren. Der öffentliche Raum beinhaltet so eine starke Tauschwertorientierung. Die kulturellen Nutzungen tragen indirekt ebenfalls dazu bei. Sind sie zunächst sämtlich kostenlos und so unmittelbar gebrauchswertorientiert, so handelt es sich bei ihnen doch auch um Instrumente, die den öffentlichen Raum und damit das Zentrum für Bewohner_innen jenseits des Zentrums sowie potenziell aus der Mittelschicht attraktiv machen sollen. Außer der Virada Cultural – die wegen ihres „populären“ und ausgelassenen Charakters dafür von der AVC kritisiert wird – sind die anderen kulturellen Programme tendenziell ruhiger und umfassen Angebote klassischer Kultursparten wie Instrumentalmusik, Theater und Kleinkunst. Dadurch und aufgrund der tendenziell tagsüber stattfindenden Veranstaltungen wird ein anderes Publikum angesprochen als bei abendlichen, breitenwirksameren Konzertveranstaltungen populärer Musikrichtungen. Dies zielt langfristig auf weitergehendes Interesse dieser Angesprochenen, die schlussendlich auch zahlungspflichtige Angebote in Anspruch nehmen und so zur Aufwertung beitragen sollen. Ebenfalls eine Attraktivitätssteigerung – hauptsächlich für die im Zentrum aktiven Geschäftsleute – erhofft man sich von neuerlichen Öffnungen einiger Fußgängerzonen für den motorisierten Individualverkehr. Diese Nutzungsänderung wird damit begründet, dass aufgrund des prekären öffentlichen Nahverkehrs die Menschen auf das eigene Fahrzeug angewiesen sind, um Ziele im Zentrum zu erreichen. Nicht-kommerzielle Nutzungen und relativ ungehindertes Tätigsein im öffentlichen Raum werden durch die geschilderten Nutzungen und die Veränderungen der Zugänglichkeit schwieriger. Aktives Handeln wird zugunsten des repräsentativen Charakters, der vonseiten der an der Aufwertung des Zentrums Interessierten angestrebt wird, zunehmend schwieriger. Aneignungen (vgl. Kap. 2.2.3) des öffentlichen Raums durch verwundbare Bevölkerungsgruppen, die auf dessen Nutzung als Lebensraum angewiesen sind, werden durch gestalterische Kontroll- und Verdrängungsmaßnahmen erschwert, ohne dass entsprechende Ausgleichs- und Ausweich-
5.2 Innenstadterneuerungen und Innenstadtpolitiken – theoretische Einordnungen
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möglichkeiten im angemessenen und ausreichenden umfang angeboten werden. Trotz dieser Limitationen gelingt es Mitgliedern der benachteiligten Gruppen immer wieder und noch, sich den öffentlichen Raum zeitweilig ihren Bedürfnissen entsprechend anzueignen. Informelle Straßenhändler_innen gehen ihrer Tätigkeit bspw. zu Tagesrandzeiten und an Samstagen nach, wenn die Polizeipräsenz geringer ist. Obdachlosen gelingt es weiterhin sich bspw. in geschützten öffentlichen Räumen aufzuhalten und Recyclingmaterialsammler_innen können ihrer Tätigkeit mehr oder weniger ungestört nachgehen. Allerdings zeigen v. a. die ersten beiden Beispiele, dass die zeitliche Komponente eine wichtige Rolle spielt. Die Zeitfenster, in denen diese Aneignungen möglich sind, werden durch die Kontroll- und Vertreibungsmaßnahmen kleiner. Ein viel thematisiertes Problem stellt die Frage der (Un)Sicherheit im öffentlichen Raum dar (vgl. Kap. 2.2.4), und viele der Maßnahmen stehen in direkter oder indirekter Relation mit diesem Thema. unsicherheit wird dabei primär als unsafety, das Gefühl der Schutzlosigkeit gegenüber Gefahren für Leib und Leben (in Verbindung mit Gefahren für das persönliche Eigentum), verstanden. In diesem Sinne ist sie v. a. ein Problem der Mittelschicht. Demgegenüber steht die unsicherheit der allgemeinen materiellen und immateriellen Lebensabsicherung (insecurity), die oft für verwundbare Gruppen gegeben ist. In diesem Spannungsverhältnis bewegt sich der Diskurs um Sicherheit im öffentlichen Raum in São Paulo. Direkt aufgegriffen wird von Stakeholdern und Akteuren überwiegend der Sicherheitsdiskurs im Sinne der Gefährdung der eigenen unversehrtheit. Dabei ist im Zentrum weder einseitig von dort vorherrschender, genereller unsicherheit die Rede noch umgekehrt. Stattdessen werden von verschiedenen Akteuren diesbezüglich gegensätzliche Meinungen geäußert. Der Diskurs wird aber v. a. von der unsicherheit geprägt, die für viele Zwecke als Legitimation gilt. So wurde das Thema Mangel an persönlicher und Eigentumssicherheit als eines unter vier Problemfeldern genannt, die mit Hilfe des Programms „PROCENTRO“ zu lösen gewesen wären. Eine ähnliche Problematisierung des Themas Sicherheit diente u. a. als Begründung der Reformen der beiden Plätze Praça da Sé und Praça da República. Auch wenn die tatsächliche Sicherheitslage im Zentrum von einem Stakeholder der AVC nicht als (so) problematisch und die Polizeipräsenz im gesamtstädtischen Vergleich als überdurchschnittlich eingeschätzt wird, ist diese Beurteilung aus seiner Sicht zweitrangig, denn maßgeblich sei stattdessen das subjektive Empfinden der Menschen im Zentrum. Nur dieses sei als eine Komponente für ein positives Image ausschlaggebend. Das subjektive unsicherheitsempfinden wird oft anderen Benutzer_innen des Zentrums zur Last gelegt. Als Gründe, die bspw. das Passieren eines Platzes erheblich erschweren oder unmöglich machen, wird die Anwesenheit von verschiedenen Randgruppen wie Obdachlose, (homosexuelle) Prostituierte, Straßenkinder und (vermeintlich) kleinkriminelle Jugendliche angeführt. Positiv bemerkt wird im umkehrschluss die Reduzierung der Präsenz der (informellen) Straßenhändler_innen im Zentrum. Abgesehen von kleinkriminellen Jugendlichen (wenn sie als solche überführt werden), stellen die genannten Gruppen per se keine gefährlichen Gruppen an sich dar. Stattdessen sind sie zunächst für Angehörige der Mittelschicht Fremde, die mit ihrem normabweichenden Handeln im öffentlichen Raum verunsichernd wirken und stö-
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5 Fazit
ren können. Damit können sie allerdings für Einzelhandelsunternehmen u. a. auch geschäftsschädigend wirken, wenn sich dadurch potenzielle Kund_innen abgeschreckt fühlen. Zu einem vermeintlichen Sicherheitsrisiko werden sie als Gruppe aber erst durch einen Prozess der Kriminalisierung (vgl. Kap. 2.2.4.1). Im Fall der (informellen) Straßenhändler_innen ging diese Kriminalisierung mit einer Diskursverschiebung einher. Zunächst wurden sie als eine unter prekären umständen arbeitende Gruppe, die sich damit ihren Lebensunterhalt verdienen muss, betrachtet. um die Jahrtausendwende erfolgte dann eine erste pauschale Kriminalisierung, weil ein Teil der Händler_innen und ihrer Vertretungen in mehrere Korruptionsskandale verwickelt waren. Daraufhin wurde das Kontrollsystem grundlegend umgestaltet, was zu einer ersten deutlichen Reduzierung der Präsenz informeller Händler_innen beitrug. Zur Rechtfertigung der fortgesetzten Verdrängung dient seit dem v. a. der Diskurs um Produktfälschungen und Warenschmuggel. Die Straßenhändler_innen werden mit der organisierten Kriminalität, die im Bereich der beiden genannten Straftatbestände aktiv ist, in Verbindung gebracht und als Teil dieser dargestellt. Diese beiden pauschalen Kriminalisierungen haben dazu beigetragen, dass – mit Hilfe der Medien – die Straßenhändler_innen mehrheitlich nicht mehr als solche angesehen werden, die sich auf diese Weise ihren Lebensunterhalt verdienen, sondern als (Klein)Kriminelle, die Teil des organisierten Verbrechens sind. Dies ermöglichte die massive Verfolgung der informellen Straßenhändler_innen im öffentlichen Raum, ohne dass es zu breiteren Diskussionen um die Angemessenheit und Legitimität der Maßnahmen gekommen wäre, da es kaum möglich ist, gegen die Tatbestände der Produktfälschungen und Warenschmuggel direkt zu argumentieren. Dass allerdings nicht die unmittelbare vermeintliche Straftatverfolgung dominant ist, sondern die Verdrängung der Verkäufer_innen aus dem öffentlichen Raum des Zentrums, lässt sich daran erkennen, dass auch die lizensierten Händler_innen in der jüngeren Vergangenheit mit teils nicht nachvollziehbaren Argumenten ihre Lizenzen verloren haben. Da diese nachgewiesenermaßen keine gefälschten und / oder geschmuggelten Waren verkaufen dürfen, ist die primäre Motivation in diesem Fall, sie aus dem öffentlichen Raum zu entfernen. Anders gelagert sind die Mechanismen der versuchten Kriminalisierung und Verdrängung im Fall der Obdachlosen. Einer pauschalen, unmittelbaren Kriminalisierung dieser Gruppe steht die brasilianische Verfassung entgegen. In ihr ist das Recht auf Bewegungsfreiheit, des Kommens und Gehens festgeschrieben, das dauerhafte Platzverweise und Betretungsverbote nicht deckt. Allerdings wird diese Regelung wiederholt offen kritisiert und dabei immer wieder diskutiert, inwieweit dieses verfassungsmäßig verbriefte Recht sich auch auf den Aufenthalt im öffentlichen Raum bezieht. Mit der Verordnung 105 wird der Versuch unternommen, mit euphemistischen Formulierungen und Maßnahmen das Ziel der damit intendierten Entfernung dieser Personengruppe aus dem öffentlichen Raum fadenscheinig zu kaschieren. Die auf dieser Verordnung basierenden, teilweise massiven übergriffe der GCM zur Verdrängung der Obdachlosen werden aber mitnichten allgemein gutgeheißen. Stattdessen sind sie auch bereits Angelegenheiten juristischer Behandlung geworden. Allerdings ist offen, ob es nicht ähnlich wie im Fall der Straßenhändler_innen zu Versuchen indirekter Kriminalisierungen kommen könnte. Indiz dafür sind die in
5.2 Innenstadterneuerungen und Innenstadtpolitiken – theoretische Einordnungen
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Diskursen zu dem Thema Obdachlosigkeit oft zu hörenden Verallgemeinerungen. Dabei kommt es zu Gleichsetzungen von Obdachlosen mit Drogensüchtigen sowie Alkoholabhängigen, und von dort ist es nur noch ein kleiner Schritt zu einer Kriminalisierung aufgrund der dann in Folge unterstellten Notwendigkeit der Beschaffungskriminalität. Inwieweit diese Pauschalisierungen schlussendlich diskurs- und in Folge handlungsbestimmend werden, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt allerdings noch nicht sagen. Von ähnlichen Verallgemeinerungen wird vonseiten der Recyclingmaterialsammler_innen berichtet. Diese führen schlussendlich – über die erste Verallgemeinerung, dass sie Obdachlose seien – zum selben Ergebnis wie im Fall der Obdachlosen selbst. Dieser diskursiven Verallgemeinerung steht aber im Fall der Recyclingmaterialsammler_innen auch eine – von ihnen aktiv mitbetriebene – positive Veränderung der Einschätzung ihrer Arbeit als „Anwälte“ des umweltschutzes gegenüber, was ihnen Anerkennung verschafft und eine Möglichkeit der inklusion darstellt. Dennoch sind viele der benachteiligten Gruppen durch die beschriebenen Maßnahmen von Exklusionsprozessen betroffen. Dabei dominieren je nach Gruppe unterschiedliche Dimensionen. Straßenhändler_innen werden zunächst unmittelbar ökonomisch ausgeschlossen, woraus in Folge Exklusionen auf weiteren Ebenen resultieren können. Bei Geringverdienenden und anderen Armen ist oft kultureller Ausschluss zu beobachten, da sie sich die entsprechenden Kulturangebote nicht leisten können. Auch kostenlose Angebote führen nicht automatisch zu einer höheren Teilhabe an kulturellen Angeboten. So beobachten NGOs Hemmungen bei ärmeren Bevölkerungsschichten, kostenlose Kulturveranstaltungen wie Ausstellungen und Konzerte in Kulturzentren und Konzertsälen in Anspruch zu nehmen, da sie sich an diesen Orten nicht willkommen und / oder wohl fühlten. Kulturveranstaltungen im öffentlichen Raum, die zum überwiegenden Teil kostenlos sind, können dahingehend eine Lösung darstellen, allerdings haben die Beobachtungen im Rahmen der Feldforschung gezeigt, dass auch hier die konkrete Gestaltung des Aufführungsorts (neben weiteren Faktoren wie dem jeweiligen Programm) exklusiv bzw. inklusiv wirken können. Wenn die Zuschauerräume eingezäunt sind und an den Eingängen Mitarbeiter_innen von Sicherheitsdiensten stehen, bleiben viele Zuschauer_innen eher „Zaungäste“, während eine offen zugängliche Bestuhlung auch von armen Gruppen wie Obdachlosen in Anspruch genommen wird. Die Exklusion im Fall der Obdachlosen ist dennoch am weitgehendsten. Neben der ökonomischen und kulturellen Ausgrenzung kommen hier mit dem Verlust der gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeit und der Verschlechterung der sozialen Beziehungen auch die soziale und psychische Dimension zum Tragen. Das teilweise ungerechtfertigte Vorgehen der GCM schließlich führt de facto zu einer Aberkennung grundlegender allgemeiner Rechte. Trotz des Vorgehens der GCM bildet der öffentliche Raum für die Obdachlosen in Ermangelung von Alternativen den zentralen (über)Lebensraum. Ferner bietet er die Möglichkeit, Klagen und Forderungen, die bspw. von der sozialen Bewegung der Obdachlosen (MNPR) erhoben bzw. gestellt werden, mit Demonstrationen, Kundgebungen und Mahnwachen zu artikulieren, in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen und damit inkludierende Maßnahmen anzumahnen. Grundsätzlich hilfreich kann sich dabei der Bezug auf das in der Verfassung ver-
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5 Fazit
briefte Recht des Kommens und Gehens erweisen, zumal dieses von staatlicher Seite und von anderen Organisationen nicht (explizit) in Frage gestellt wird. Allgemein ist aber die Lobby der Obdachlosen trotz mehrerer sozialer NGOs, die sich für die Belange der Obdachlosen einsetzen und sie unterstützen, verglichen mit den Bewegungen anderer städtischer Randgruppen wie der prekär Wohnenden oder der Recyclingmaterialsammler_innen schwach. Dies ist nicht zuletzt auf die gering konsolidierten Bewegungen und die teilweise ebenfalls wenig gefestigten unterstützungsorganisationen zurückzuführen. 5.3
BLICK üBER SãO PAuLO HINAuS uND ANSCHLuSSMÖGLICHKEITEN
In dieser Arbeit wurden die Innenstadterneuerungsmaßnahmen São Paulos unter besonderer Berücksichtigung des öffentlichen Raums untersucht. Die Entwicklungen und Prozesse weisen dabei zum einen Parallelen zu anderen Beispielen im nationalen und internationalen Vergleich auf, machen aber auch unterschiede deutlich (vgl. Kap. 2.1.5 & 3.4). Gemeinsam mit anderen internationalen und nationalen Beispielen ist die generell zu beobachtende Tendenz der Aufwertung und der damit verbundenen Verdrängung benachteiligter und verwundbarer Bevölkerungsgruppen. So wurden auch bei der Erneuerung von Salvador in erheblichem Maße informell Tätige aus dem Zentrum verdrängt. Anders allerdings als in Salvador, betraf dies in São Paulo kaum die im Zentrum wohnenden, ärmeren Bevölkerungsschichten. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nahm deren Zahl sogar wieder zu. Keine Parallelen gibt es mit anderen Städten mit Blick auf die Realisierung von Großprojekten. Das einzige geplante Großprojekt „Nova Luz“ wurde schlussendlich wegen Protesten und wegen der veranschlagten Kosten für die öffentliche Hand nicht umgesetzt. Beachtenswert ist in diesem Fall, dass es sich in São Paulo nicht wie in anderen brasilianischen und internationalen Fällen um eine mehr oder weniger brachgefallene Fläche gehandelt hätte, sondern um ein dicht bewohntes und wirtschaftlich sehr aktives Areal. Insgesamt lässt sich in São Paulo eine schwache Bereitschaft vonseiten der (Immobilien)Wirtschaft zu PPP-Projekten erkennen. Zwar hat die private unternehmerschaft im Zentrum Interesse an Aufwertungsprozessen, was sich auch in der aktiven Rolle der AVC zeigt; Maßnahmen werden aber überwiegend von der öffentlichen Hand erwartet. Möglicher Hintergrund dieses fehlenden Interesses auf Seiten des Immobilienmarktes können für diesen mit Blick auf die Renditeaussichten attraktivere Standorte im südwestlich des Zentrums gelegenen Quadranten sein. Im Zentrum konzentrieren sich aus diesem Grund viele Maßnahmen auf den öffentlichen Raum und dessen Aufwertung. Die allgemein bei Innenstadterneuerungsmaßnahmen in Lateinamerika zu beobachtende Funktionsausweitung lässt sich auch in São Paulo beobachten. Während in vielen anderen brasilianischen Städten diese auf die Ausweitung des touristischen Angebots abzielt, steht in São Paulo die kulturelle Diversifizierung und Angebotserweiterung im Vordergrund, ohne dass dabei explizit Tourist_innen das Zielpublikum wären. Mit der Ausweitung des Kulturangebots einher ging ferner auch die Restaurierung
5.3 Blick über São Paulo hinaus und Anschlussmöglichkeiten
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historischer bauten. hieran waren in unterschiedlicher intensität und verschiedenen Programmen alle drei Verwaltungsebenen – Bund, Bundesstaat und Munizip – beteiligt. Wie in anderen Metropolen Brasiliens auch, war mit diesen Maßnahmen die Hoffnung verbunden, dass sich dadurch Streueffekte weitergehender Erneuerungen in den jeweiligen Nachbarschaften ergeben. In São Paulo wurden diese Erwartungen allerdings nicht erfüllt. Parallelen gibt es auch bei den explizit auf Verdrängung benachteiligter Personengruppen aus dem öffentlichen Raum abzielenden Maßnahmen. Hier sind die (impliziten) Ziele der „Operação Delegada“ und der Verordnung 105 vergleichbar mit (teilweise umfassenderen) Maßnahmen in Rio de Janeiro unter dem Motto „Choque de Civilidade“. Beide Paulistaner Programme sind Projekte konservativ ausgerichteter Stadtregierungen. Anders als in anderen Metropolen Brasiliens zeichnen sich die Programme der Innenstadterneuerung aufgrund sich unregelmäßig abwechselnder Stadtregierungen zwischen solchen mit tendenziell konservativer und solchen mit tendenziell progressiver Ausrichtung durch eine vergleichsweise große Heterogenität aus. Diese lässt sich an drei Bereichen festmachen: allgemeine Verpflichtung dem Zentrum gegenüber; Beteiligung von Stakeholdern im Erneuerungsprozess und sozialer Wohnungsbau. Auf alle drei Bereiche legten die progressiveren Stadtregierungen mehr Wert. Andererseits gab es auch Einflussfaktoren, die auch unter progressiveren Stadtregierungen zu tendenziell die Aufwertung begünstigenden Entscheidungen führten. Dies war der Fall im umgang mit Straßenhändler_innen, deren Präsenz im öffentlichen Raum nicht zuletzt aufgrund des erfolgreichen Drucks durch Lobbying vonseiten der Aufwertungsbefürworter drastisch reduziert wurde. Druck von internationaler Ebene bedingte im Fall des Programms „Ação Centro“, dass einerseits ein räumlich engerer Bereich, als ursprünglich geplant, berücksichtigt wurde und andererseits tendenziell an Aufwertung orientierte Projekte bevorzugt wurden, die Investitionen auslösen und nicht ausschließlichen Subventionscharakter haben sollten. Nur unter diesen Bedingungen gewährte die BID den beantragten Kredit. Die Ergebnisse machen deutlich, dass es zur Durchsetzung von Interessen, die mit Innenstadterneuerung und öffentlichem Raum zu tun haben, einerseits (institutioneller) Kommunikationskanäle zur öffentlichen (munizipalen) Verwaltung bedarf und andererseits konsolidierter Organisationen wie Vereine, NGOs, soziale Bewegungen und andere Interessensvertretungen, die die Entwicklung über längere Zeit begleiten sowie Zeiten erschwerter Diskussionen mit der Stadtverwaltung und −regierung durchstehen können. Dies erfordert unterschiedliche Ressourcen wie finanzielle und personelle Mittel, eine Bereitschaft zu Engagement einer – wenn möglich größeren – Gruppe zur Abstimmung der Vorgehensweise und zur Repräsentation der jeweiligen Organisation sowie Fachkenntnisse in den jeweiligen Bereichen. Professionelle und etablierte Institutionen, die noch dazu über gesicherte finanzielle Mittel verfügen, sind deshalb anderen geringer ausgestatteten Vereinigungen gegenüber im Vorteil. Aufgrund dessen bieten sich ersteren oft bessere Möglichkeiten des Lobbying im Vergleich zu anderen. Die Bereitschaft zur Anhörung und Zusammenarbeit der Stadtregierung mit den entsprechenden Gruppen stellt angesichts dessen einen ersten Schritt dar, um deren Interessen zu berücksichtigen. um aber die Interessen möglichst vieler Bürger_innen unabhängig von deren
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Grad der Vertretung durch Organisationen in Planungen und Politiken miteinzubeziehen, sind institutionelle Formen der unmittelbaren Bürgerbeteiligung erforderlich, um die Bedeutung unterschiedlicher Ressourcenverfügbarkeit für erfolgreiche Interessenvertretung zu reduzieren. Viele Untersuchungen zu Innenstadterneuerungen beschäftigen sich mit den Veränderungen, die sich dadurch im gebauten Raum ergeben und fokussieren auf die sich ändernden Nutzungen in sozialer (Wohnen) und ökonomischer (Wirtschaftsstruktur) Hinsicht dieses baulichen Wandels. Die Folgen werden je nach Ausprägung zum Beispiel mit Theorien der Gentrifizierung und der Fragmentierung erklärt. Der öffentliche Raum ist dabei oft implizit ein Thema, das in vielen Fällen eine Rolle spielt, ohne ausdrücklich Erwähnung zu finden. In der vorliegenden untersuchung und Betrachtung um Innenstadterneuerung stehen der öffentliche Raum und seine Akteure im Mittelpunkt des Interesses. Diese explizite Thematisierung öffentlichen Raums ist gerechtfertigt, da sich in ihm viele der Prozesse und Entwicklungen der Innenstadterneuerung manifestieren. Er ist dabei sowohl als physischer Raum von Bedeutung, in dem bauliche Eingriffe umgesetzt werden, als auch als sozial konstruierter Raum, der von den Akteuren nach Maßgabe der institutionellen Regelungen genutzt und angeeignet werden kann. Die institutionellen Regelungen sind es, die die Nutzung und Aneignung des öffentlichen Raums oft mitprägen und so die Innenstadterneuerung im weitesten Sinn maßgeblich beeinflussen, ohne dass sie explizit als solche deklariert werden. Der öffentliche Raum stellt daneben eine wichtige Kategorie für die Stadt als solche dar, da er mit seinen vielfältigen Dimensionen einen zentralen Bestimmungsfaktor für die urbanität eines städtischen Raums in demokratischen Gesellschaften bildet. Er ist in Städten der bedeutende Ort der Interaktionen, Austausche und Begegnungen unterschiedlicher Menschen. Allerdings gibt es eine Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis oder, mit anderen Worten, zwischen normativem Ideal und gelebter Realität. Abgesehen von dieser grundsätzlichen Diskrepanz, die in Demokratien allgemein zum Tragen kommt, unterscheiden sich deren Ausprägungen in Abhängigkeit von den jeweiligen sozioökonomischen, kulturellen und historischen sowie weiteren Rahmenbedingungen. um diesen Themenkomplex mit Blick auf Veränderungen von Aneignungsmöglichkeiten im Zuge von Innenstadterneuerungsmaßnahmen zu untersuchen, ist es zunächst sinnvoll, sich mit der jeweiligen theoretischen und / oder diskursiven Behandlung öffentlichen Raums im entsprechenden gesellschaftlichen Kontext auseinanderzusetzen. Damit nähert man sich der Beantwortung der Frage nach der Bedeutung dieses Raums. um darüber Auskunft zu erhalten, kann zum einen auf entsprechende (wissenschaftliche) Literatur aus dem gesellschaftlichen Kontext zurückgegriffen werden. Eine Herausforderung kann in diesem Zusammenhang die Terminologie darstellen, die in anderen interkulturellen und / oder sprachlichen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen transportieren kann. Eine andere Möglichkeit, der Bedeutung öffentlicher Räume näher zu kommen, ist die unmittelbare Erhebung mittels Befragung von Akteuren und / oder Stakeholdern. Dabei ist es erforderlich, eine breite Palette an zu Befragenden zu gewährleisten, um nicht nur eine Beurteilung zu erhalten, die bspw. auf der Meinung einer speziellen sozioökonomischen Gruppe basiert. Mit Hilfe dieser Bedeutung ist es im An-
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schluss möglich, sich bei der Feldforschung Fragen nach tatsächlichen Aneignungen und Nutzungen öffentlicher Räume durch die Akteure zu widmen und nach Veränderungen im Zusammenhang mit Erneuerungsmaßnahmen zu fragen. Dabei ist die Akteursperspektive deswegen von Bedeutung, um neben den eher technischplanerischen untersuchungen zu Innenstadterneuerungen auch die Bewohner_innen und ihr Handeln im öffentlichen Raum mit einzubeziehen. In diesem Fall bieten sich partizipative Methoden an, die es den Befragten ermöglichen, sich mit zunächst nicht ganz leicht zu fassenden Fragestellungen nach ihrem Agieren im öffentlichen Raum vertraut zu machen, um im Anschluss als Expert_innen in eigener Sache an der Forschung teilzuhaben. Die Beschäftigung mit Innenstadterneuerung ist primär ein stadtgeographisches Thema. Das Handeln der Akteure im (öffentlichen) Raum wird vornehmlich in der sozialgeographischen Forschung untersucht. Vor diesem Hintergrund stellt die beschriebene Herangehensweise an die Thematik der Innenstadterneuerung im öffentlichen Raum und deren Konsequenzen für die Akteure den Versuch dar, beide Teildisziplinen miteinander zu verknüpfen und ist als Plädoyer für eine sozialgeographische Stadtforschung zu verstehen. Die vorliegende Arbeit hat mit Hilfe eines explorativen Forschungsdesigns die Innenstadterneuerungsmaßnahmen am Beispiel São Paulos dargestellt und ihre Auswirkungen analysiert sowie die dabei beteiligten bzw. betroffenen Stakeholder beschrieben und untergliedert. Mit Blick auf unterschiedliche Akteursgruppen wurden die Konsequenzen der Maßnahmen im öffentlichen Raum diskutiert und die Ergebnisse in den theoretischen Kontext von Innenstadterneuerung in Zeiten neoliberaler Stadtentwicklung und der Bedeutung öffentlichen Raums vor dem Hintergrund starker sozioökonomischer Disparitäten eingeordnet. Die Ergebnisse bieten sich an, um mit solchen in anderen Städten verglichen zu werden. Dabei sind einerseits regionale Gegenüberstellungen denkbar. So bieten sich bspw. Vergleiche sozialer Bewegungen an, die sich in anderen brasilianischen Metropolen mit ähnlichen Themen befassen, um so Kriterien für erfolgreiche, an sozialen Belangen orientierte Interessenvertretungen zu ermitteln. Andererseits sind überregionale und internationale Vergleiche ebenso denkbar. In diesem Fall kann es um den institutionellen umgang mit öffentlichem Raum gehen und darum, wie sich dieser für Benachteiligte, bspw. Obdachlose, auswirkt. In diesem Zusammenhang können auch vergleichende untersuchungen zwischen Städten des Globalen Südens und des Globalen Nordens dazu dienen zu eruieren, ob und wenn ja wie sich Politiken unter dem Paradigma der neoliberalen Stadtentwicklung in diesem Fall angleichen. Am Fallbeispiel São Paulos bieten sich vertiefende Analysen einzelner Sachverhalte an. Lohnend, um im Detail untersucht zu werden, ist z. B. der Einfluss der Massenmedien am Bild des Zentrums allgemein und des öffentlichen Raums im Speziellen. Gleichzeitig kann es interessant sein, ob und in welchem Ausmaß Spartenmedien wie die Zeitung zur Problematik der Obdachlosigkeit (O Trecheiro) in der Lage sind, das Image des Zentrums zu prägen. Mikrostudien zu einzelnen Plätzen bieten sich an, um detailliert über das Nutzungsverhalten der verschiedenen Akteure Auskunft zu erhalten. Vertiefende Studien sind auch für spezifische Akteursgruppen denkbar. So ließen sich weitergehende Informationen zu den konkreten
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5 Fazit
Raumnutzungsmustern bspw. der Obdachlosen oder der Recyclingmaterialsammler_innen erzielen. Im Zentrum São Paulos wurden in den vergangenen 25 Jahren diverse Maßnahmen zur Innenstadterneuerung geplant und viele davon auch umgesetzt. Eine angestrebte allgemeine Aufwertung konnte dennoch nicht erreicht werden, da das Interesse des Immobilienmarktes vergleichsweise gering war. Stattdessen konzentrierten sich viele Maßnahmen auf Aufwertungen im öffentlichen Raum, sei es durch bauliche Interventionen oder institutionelle Regelungen seine Nutzung betreffend. Dabei kam und kommt es zur Verdrängung ganzer Nutzergruppen wie im Fall des informellen Straßenhandels und zumindest anfänglich der Obdachlosen. Gleichzeitig steigt seit Ende der 2010er Jahre die Zahl der Immobilienprojekte mit Wohnungen für Bewohner_innen der Mittelschicht im und um das Zentrum seit langem erstmals wieder an. Es bleibt zu beobachten, inwieweit es nach der Aufwertung des öffentlichen Raums auch zu einer allgemeinen Aufwertung kommt und das Zentrum im Laufe der Zeit von einem Zentrum der (ärmeren) Mehrheit wieder zu einem Zentrum der (reicheren) Minderheit wird, oder ob Wege gefunden werden und der Wille vorhanden ist, einer sozioökonomisch und kulturell möglichst vielfältigen Palette von Menschen die Nutzung sowohl des Zentrums im Allgemeinen als auch des öffentlichen Raums im Speziellen zu ermöglichen, um so der von vielen Stakeholdern postulierten Bedeutung des öffentlichen Raums als Raum aller näher zu kommen. Diese Arbeit hat gezeigt, dass der öffentliche Raum eine wichtige „Bühne“ der Innenstadterneuerung darstellt. Viele der Maßnahmen, die unmittelbar als solche der Innenstadterneuerung deklariert sind, widmen sich dem öffentlichen Raum. Oft handelt es sich dabei um gestalterische Aufwertungen und / oder Instandsetzungen dieser Räume. Mit dem Blick auf den öffentlichen Raum wird zusätzlich deutlich, dass viele Maßnahmen, die nicht explizit der Innenstadterneuerung im engen Sinn dienen und vielmehr im institutionellen Bereich angesiedelt sind, mitunter einen viel größeren Einfluss auf Veränderungen des Nutzungs- und Aneignungsverhaltens verschiedener Akteure haben als die baulichen Maßnahmen. Außerdem wurde deutlich, dass der öffentliche Raum gerade in sozioökonomisch stark stratifizierten Stadtgesellschaften viele „Bühnen“ für eine heterogene Vielfalt an Akteuren in einem bildet. Es konnte gezeigt werden, dass die Versuche, öffentliche Räume für gewisse – meist sozioökonomisch schlechter gestellte – Akteure zu negieren, sowohl für die unmittelbar betroffenen Akteure zu teilweise massiven Benachteiligungen führen können, als auch für den Fortbestand des geäußerten, liberalen Selbstverständnisses darüber, was öffentlicher Raum bedeutet, eine Gefahr darstellen können. Gleichzeitig bietet dieses – in Teilen auch institutionell verankerte – breite Selbstverständnis und die Rückbesinnung darauf wiederum die Chance, die tatsächlichen Nutzungen und Aneignungen neuerlich daran zu orientieren und damit die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit öffentlichen Raums zu verringern.
GLOSSAR Ação Local Alameda
Associação Viva o Centro avenida
Baixada Glicério Camelô
Lokale Aktion (allg. für Nachbarschaftsvereinigungen im Zentrum von São Paulo mit unterstützung der Associação Viva o Centro) (kleine) Allee, Straße
Verein Es lebe das Zentrum
Große/breite, in einem gewissen Gebiet zentrale Hauptstraße (wörtlich: Allee, Prachtstraße) Glicério Niederung; ehemalige Auenfläche am Rio Tamduateí, südöstlich des Hügels (colina), auf dem die Stadtgründung erfolgte. (informeller) Straßenhändler
Catador de material reciclável
Recyclingmaterialsammler
Edifício
gebäude
Cortiço
Estatuto da Cidade Favela
Fórum Centro Vivo Largo
Metrô
Munizip/munizipal Operação urbana (Consorciada)
Palacete Pólis
Innenstädtische Slums in vernachlässigten Gebäuden mit hoher Belegungsdichte in Brasilien (wörtlich: Bienenkorb) Stadtstatut (nationale Stadtgesetzgebung)
Städtische Marginalviertel mit einfachsten bis einfachen Wohngebäuden (teilweise in Innenstadtlage, meist in peripheren Lagen) in Brasilien Forum „Lebendiges Zentrum“ (kleiner) Platz
u-Bahn in São Paulo
Kommune, Gemeinde/kommunal
PPP-Instrument; der private Sektor bekommt besondere Bau-Konzessionen eingeräumt, die er mit Konzessionszahlungen an die öffentliche Hand vergütet, die damit in dem festgelegten Gebiet z. B. Infrastrukturverbesserungen durchführt Palais, herrschaftliches Haus
Instituto Pólis; NGO in den Bereichen Forschung, Beratung und Bildung zu nachhaltiger und demokratischer Stadtentwicklung
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glossar
Praça
Platz
Praça da Sé
Domplatz/Platz der Kathedrale
Praça da República Präfektur (Prefeitura)
Prédio rua
SP-urbanismo Subprefeitura
Vale
Vale do Anhangabaú Viaduto
Platz der Republik
In Brasilien: Bürgermeisteramt, Sitz des Bürgermeisters/der städtischen Exekutive (daneben gibt es die Câmara Municipal als Sitz des Gemeinderats/der städtischen Legislative) gebäude Straße
Städtisches unternehmen für Stadtplanung und Stadtentwicklung in São Paulo (Vorgänger: EMuRB)
Subpräfektur; intramunizipale Verwaltungsebene in São Paulo, die sich aus einem oder mehreren Distrikten zusammensetzt und von einem von der Stadtregierung bestimmten Subpräfekten regiert wird. Tal
Anhangabaú-Tal (Parkähnliche Anlage in einem Tal im Zentrum São Paulos) Viadukt, Brücke
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anhang 1
ROTEIRO DE ENTREVISTA (INTERVIEWLEITFADEN)
Roteiro de entrevista de Tobias Töpfer (doutorando alemão/austríaco) para especialistas sobre os espaços públicos do centro de São Paulo e a apropriação/a acessibilidade/o uso destes espaços em virtude de medidas de revitalização APRESENTAÇãO Tobias Töpfer, doutorando alemão/austríaco. Título de pesquisa: “A quem pertence o centro? (questão provocativa) – Apropriação de espaço / apropriação do espaço público em virtude da/na seqüência da/devido à revitalização do centro de São Paulo” Campo de pesquisa: São Paulo em geral e a região do Centro (distritos Sé e República) em particular. Objetivo da entrevista: parte do diagnóstico; entender melhor a situação atual a respeito dos espaços públicos e das mudanças na apropriação do espaço público em virtude da revitalização. Dados para a tese de doutorado de Tobias Töpfer. Palavras-chaves: •
• • •
Revitalização / Reabilitação / Renovação do centro Espaço público Atores/Agentes diversos Globalização
• • • •
Fragmentação do espaço Gestão urbana Direito a cidade Desenvolvimento sustentável da cidade
Por favor, não hesite de pedir esclarecimento se não dá para entender uma pergunta. Agradecimentos antecipados. PERGuNTAS I Espaços públicos em geral 1. O que é – segundo o entendimento da sua organização/instituição e/ou segundo o entendimento dos seus participantes/integrantes 1 – o espaço público? 2. Quais são as caraterísticas de um espaço público? 3. Quais são as funções que os espaços públicos desempenham nas cidades brasileiras em geral e em São Paulo em particular? 4. Qual é o papel desempenhado pelos espaços públicos nas estratégias de segurança de vida dos determinados grupos de usuários? 1
Vale em geral / para o roteiro inteiro
Anhang
347
5. Existe uma classificação / estruturação dos diferentes tipos de espaço público? O Sr./a Sr.a pode apresentá-la? 6. Quais são os critérios para esta classificação/estruturação? 7. Qual é o papel desempenhado pelos espaços públicos na sua organização/ instituição? II 8. 9. 10.
Degradação e espaços públicos2 O que se entende por degradação de espaços públicos? De que ponto de vista se trata de degradação? Há a possibilidade de desfazer a degradação de espaços públicos através da revitalização?
III Revitalização e espaços públicos 11. Quais foram nos últimos anos (desde o início dos anos 90) as medidas de revitalização mais importantes em relação aos espaços públicos? 12. Quais são os beneficiamentos mais importantes das revitalizações dos espaços públicos ? 13. Quais são as desvantagens mais importantes das revitalizações dos espaços públicos? 14. Quais são os previstos objetivos de uso de espaço das medidas de renovação e quais deles são alcançados? 15. Como se modificam as estruturas espaciais através de medidas de renovação? 16. Como se modificam a acessibilidade e o uso dos espaços públicos a seguir às renovações no centro? 17. Quais são as modificações que resultam das medidas de renovação em termos das possibilidades de uso funcionais e sociais? 18. Como se modifica o comportamento dos atores/usuários nos espaços públicos reformados? 19. Como a revitalização do centro contribui para o/um desenvolvimento sustentável da cidade? IV Conflitos, concorrências e espaços públicos 20. Há conflitos de uso a respeito dos espaços públicos? Que tipos de conflitos existem? 21. Quais são os conflitos de uso que resultam da revitalização dos espaços no centro? 22. Quais são os atores envolvidos nestes conflitos? 23. Quais são as estratégias possíveis para resolver estes conflitos? 24. Há concorrência entre os interesses sociais, econômicos e ecológicos nos espaços públicos? 25. Como se manifestam estas concorrências?3 26. Conforme sua opinião, tem interesses mais relevantes do que outros? 2 3
pano de fundo: no discurso: tem nessessidade de renovacão por causa da degradação pensando no desenvolvimento sustentável
348
Anhang
27. Há ocupações irregulares nos espaços públicos? De que forma? Como se resolve os problemas com ocupações irregulares nos espaços públicos? V Privatização e espaços públicos 28. O que o Sr./a Sr.a entende por privatização do espaço público? 29. Ate que ponto, em virtude da revitalização, os espaços públicos se tornam espaços semi privados ou privados? 30. Contribui a revitalização dos espaços públicos para a privatização? 31. Como se muda o perfil de grupos de usuários dos espaços públicos devido das medidas de controle e vigilância elevadas?4 32. Como se mudam as regras de uso devido das medidas de revitalização? 33. Quais são os obstáculos de acesso aos espaços públicos construídos pela revitalização deles? VI Planejamento, governança urbana (urban governance) e espaços públicos 34. Qual é o papel desempenhado pelos espaços públicos a respeito do planejamento urbano em geral? 35. Existe um planejamento especial para espaços públicos? 36. Como funciona o planejamento dos espaços públicos? 37. Quais são os tipos de espaço público considerado no planejamento urbano? 38. Há uma participação popular no planejamento dos espaços público? De que forma? 39. Quais são as diretrizes a respeito dos espaços públicos no novo Plano Diretor? (recipiente: Prefeitura, outros órgãos públicos, ...) 40. Além da sua secretaria, que outras secretarias, autarquias etc. tratam do assunto dos espaços públicos? (recipiente: Prefeitura, outros órgãos públicos, ...) 41. Além da sua organização, que outras organizações, movimentos etc. tratam do assunto dos espaços públicos? (recipiente: ONGs, movimentos sociais, ...) 42. Como funciona a integração das várias instituições, secretarias etc. no planejamento dos espaços públicos (recipiente: Prefeitura, outros órgãos públicos, ...)? ENCERRAMENTO Nome do entrevistado (cartão de visita); Instituição/organização do entrevistado; Posição do entrevistado dentro da instituição/organização. (Visitenkarte hinterlassen.) Outras pessoas/instituições/organizações que valem ser entrevistadas. Há materiais, mapas, dados etc. que podem fornecer informações interessantes? Agradecimentos. Entrevistador: ________________ Data: ________
4
apontamento: espiões…)
Local: ______________.
349
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2
INTERVIEWS & GESPRÄCHE ZuR DISSERTATION5
Nr. Interview- Interviewpartner datum 1 31.08.2009 benedito roberto barbosa 2
02.09.2009
3
02.09.2009
4
02.09.2009
5 6
30.09.2009 20.07.2010
7 8
30.07.2010 02.08.2010
9
03.08.2010
10
14.08.2010
11 12
18.08.2010 19.08.2010
13
03.09.2010
14
09.09.2010
15
21.09.2010
5
Organisation
Funktion (zur Zeit des Interviews) koordinator
união dos Movimentos de Moradia São Paulo (uMM-SP) Rene Ivo Gonçalves, Centro Gaspar Garcia de R.I.: Geschäftsführer; Fabiana Alves Direitos Humanos (CGG) F.: Koordinatorin des Rodrigues Programms “Moradia Digna” (“Würdiges Wohnen”) Olga Luisa Leon de Grupo de Articulação para koordinatorin Quiroga Conquista de Moradia para o Idoso da Capital (GARMIC) Anderson Kazuo Instituto Pólis – Instituto de Mitarbeiter der Abteilung Nakano, Natasha Estudos, Formação e Asses- für Stadtplanung Mincoff Menegon soria em Políticas Sociais Márcia Fórum Centro Vivo Alderon Pereira Associação Rede Rua Herausgeber der Zeitung Costa “O Trecheiro”; Leiter des Vereins Márcia Fórum Centro Vivo Sérgio da Silva Bispo CooperGlicério Vorsitzender der Kooperative Marco antonio Associação Viva o Centro leitender Direktor Ramos de Almeida Anderson Lopes Movimento Nacional da koordinator Miranda População de Rua (MNPR) renata Fórum Centro Vivo Nelson Saule Júnior Instituto Pólis – Instituto de Koordinator der AbteiEstudos, Formação e Asses- lung „Recht auf Stadt“ soria em Políticas Sociais Evaniza Lopes união dos Movimentos de koordinatorin Rodrigues Moradia São Paulo (uMM-SP) Clara d‘Alambert Stadtverwaltung: Departa- Mitarbeiterin der abteimento do Patrimônio Histó- lung für Denkmalschutz rico (DPH) Luiz Tokuzi Kohara Centro Gaspar Garcia de koordinator Direitos Humanos (CGG)
Die hier aufgeführten – chronologisch sortierten – Interviews fanden in der vorliegenden Arbeit Berücksichtigung. Weitere durchgeführte Interviews und Gespräche wurden aus thematischen Gründen für diese Arbeit nicht herangezogen.
350
Anhang
Nr. Interview- Interviewpartner datum 16 22.09.2010 Teresinha Santana
Organisation
17
23.09.2010 Sérgio Abrahão
18
23.09.2010 Mirthes Baffi
19
15.08.2011 Eneida Belluzzo Godoy Heck, & Jair Zanelato
Stadtverwaltung: Departamento do Patrimônio Histórico (DPH) Stadtverwaltung: Departamento do Patrimônio Histórico (DPH) SP urbanismo
20
25.08.2011 Cristina Tokie Laiza
SP urbanismo
21
SP urbanismo
22
29.08.2011 Lucia Miyuki Okumura 08.09.2011 Roberto Bomfim
23
16.09.2011 Luciana Itikawa
24
19.09.2011 Alderon Costa
Associação Rede Rua
25
21.09.2011 José Gomes
26
22.09.2011 Luciana Itikawa
SINPESP (Sindicato dos Permissionários em Pontos Fixos nas Vias e Lougradoros Públicos do Estado São Paulo) Centro Gaspar Garcia dos Direitos Humanos (CGG)
27
26.09.2011 Raquel Lima & Luísa Ouvidoria Comunitária da Luz População de Rua
Associação Viva o Centro (Apoio às Ações Locais)
Neves Bomfim Imóveis Seguros, Locação e Vendas Centro Gaspar Garcia dos Direitos Humanos
Funktion (zur Zeit des Interviews) koordinatorin für die Ações Locais Mitarbeiter Leiterin der Abteilung für Denkmalschutz Mitarbeiter der Verwaltung der Operações urbanas im städtischen Stadtplanungsunternehmen SP-urbanismo Mitarbeiterin von SP-urbanismo Mitarbeiterin von SP-urbanismo Immobilienverwalter Koordinatorin des Porojekts “Trabalho informal e direito à cidade” („Informelle Arbeit und Recht auf Stadt”) Herausgeber der Zeitung “O Trecheiro”; Leiter des Vereins Vorsitzender
Koordinatorin des Porojekts “Trabalho informal e direito à cidade” („Informelle Arbeit und Recht auf Stadt”) koordinatorinnen der Ouvidadoria
Interviewpartner_innen der Fotointerviews 1
12.09.2011 Sérgio
-
2 3 4
13.09.2011 nuno 15.09.2011 kalina 21.09.2011 Glória
-
5
26.09.2011 gerson
-
Recyclingmaterialsammler leitender Angestellter bewohnerin selbständige Kosmetikerin Obdachloser
In Zeiten neoliberaler Stadtpolitiken stehen Metropolen weltweit im Wettbewerb miteinander. Um sich zu behaupten, bedarf es Alleinstellungsmerkmalen wie beispielsweise einem historischen Zentrum. Mit Maßnahmen der Innenstadterneuerung wird auch im Globalen Süden versucht, die allgemeine Attraktivität zu steigern. In São Paulo sind dazu verschiedene Eingriffe im öffentlichen Raum erfolgt, um diesen aufzuwerten. Die Interventionen gehen dabei oft zu Lasten sozioökonomisch benachteiligter Zentrumsnutzer. Außer der Stadtverwaltung gibt es eine Vielzahl von Organisationen, die sich mit Fragen der Innenstadterneuerung und des öffentlichen Raums auseinandersetzen. Der vorliegende Band analysiert zum einen solche, die ein Interesse an der Aufwertung haben, und zum anderen jene, die den damit einhergehenden Verdrängungsprozessen Widerstand entgegensetzen. Basierend auf ausführlichen empirischen Erhebungen verdeutlicht das Buch, dass die Maßnahmen den Fortbestand des liberalen Selbstverständnisses darüber, was öffentlicher Raum bedeutet, gefährden. Die Rückbesinnung auf dieses Selbstverständnis bietet aber die Chance, den Umgang mit öffentlichem Raum neuerlich daran zu orientieren.
ISBN 978-3-515-11773-9
9
7835 1 5 1 1 7 7 39
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag