Islam in Sicht: Der Auftritt von Muslimen im öffentlichen Raum [1. Aufl.] 9783839402375

Das »Coming-out« der Muslime im öffentlichen Raum, das ungewohnte Sichtbarwerden von Religion im säkularen Staat erregt

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German Pages 384 [383] Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Teil I. Einführungen: Islam und Öffentlichkeit
Die sichtbare Präsenz des Islam und die Grenzen der Öffentlichkeit
Symmetrie und Politik: Überlegungen zur Theoriegeschichte des Öffentlichen
Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation
Teil II. Fallstudien: Islamische Bewegungen in der Türkei, Iran und Europa
Die Renaissance des religiösen Bewusstseins in der Türkei: Nur-Studienzirkel
Neue Formen der Geselligkeit: Islamische Cafés in Istanbul
Die Individualisierung des islamistischen Subjekts: Türkisch-islamische Romane
Die Öffentlichkeit im Iran
Frauen in der islamischen Öffentlichkeit des Iran
Der Aufstand der Jugend im öffentlichen Raum von Teheran
Formen der Religiosität junger männlicher Muslime in Deutschland und Frankreich
Die jungen Prediger der Tabligh-Bewegung in Frankreich
Muslimische Frauen und öffentliche Räume: Jenseits des Kopftuchstreits
Teil III. Ausblicke: Religion und Anderssein
Die Öffentlichkeit in muslimischen Gesellschaften
Verkörperte Alterität im öffentlichen Raum
Die Religion und die Identitätskämpfe der Moderne
Autorinnen und Autoren
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Islam in Sicht: Der Auftritt von Muslimen im öffentlichen Raum [1. Aufl.]
 9783839402375

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Islam in Sicht

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) T00_01 Schmutztitel.p 63122367830

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) T00_02 Vakat.p 63122367848

Nilüfer Göle, Ludwig Ammann (Hg.)

Islam in Sicht Der Auftritt von Muslimen im öffentlichen Raum Aus dem Englischen von Henning Thies

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) T00_03 Titel.p 63122367910

Die Drucklegung dieser Publikation wurde finanziert aus Mitteln des Bundesministeriums des Inneren, des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen und der Französischen Botschaft in der Bundesrepublik Deutschland.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2004 transcript Verlag, Bielefeld Innenlayout und Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: digitron GmbH, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-237-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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) T00_04 Impressum.p 63122367958

Inhalt Teil I Einführungen: Islam und Öffentlichkeit Nilüfer Göle Die sichtbare Präsenz des Islam und die Grenzen der Öffentlichkeit ................

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Christian Geulen Symmetrie und Politik: Überlegungen zur Theoriegeschichte des Öffentlichen ......................................................................................................

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Ludwig Ammann Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation .....................

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Teil II Fallstudien: Islamische Bewegungen in der Türkei, Iran und Europa M. Hakan Yavuz Die Renaissance des religiösen Bewusstseins in der Türkei: Nur-Studienzirkel ...................................................................................................

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Ugur Kömeçoglu Neue Formen der Geselligkeit: Islamische Cafés in Istanbul .............................. 147 Kenan Çayir Die Individualisierung des islamistischen Subjekts: Türkisch-islamische Romane ................................................................................. 178 Farhad Khosrokhavar Die Öffentlichkeit im Iran ...................................................................................... 186 Elham Gheytanchi Frauen in der islamischen Öffentlichkeit des Iran ............................................... 206 Mahnaz Shirali Der Aufstand der Jugend im öffentlichen Raum von Teheran ............................ 227

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6) T00_05 Inhalt.p 63122367982

Nikola Tietze Formen der Religiosität junger männlicher Muslime in Deutschland und Frankreich ............................................................................. 239 Moussa Khedimellah Die jungen Prediger der Tabligh-Bewegung in Frankreich ................................. 265 Sigrid Nökel Muslimische Frauen und öffentliche Räume: Jenseits des Kopftuchstreits ................................................................................... 283

Teil III Ausblicke: Religion und Anderssein Shmuel N. Eisenstadt Die Öffentlichkeit in muslimischen Gesellschaften .............................................

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Simonetta Tabboni Verkörperte Alterität im öffentlichen Raum ......................................................... 326 Charles Taylor Die Religion und die Identitätskämpfe der Moderne ........................................... 342

Autorinnen und Autoren ........................................................................................ 379

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6) T00_05 Inhalt.p 63122367982

Dank | 7

Dank

Die Herausgeber danken: dem Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, an dem unser Forschungsprojekt seine Heimat fand, der Bogazici University in Istanbul, die für zwei Tagungen unser Gastgeber war, und dem Center for Transcultural Studies (u.a. Craig Calhoun und Charles Taylor) für seinen gewichtigen Input. Dass dieses Buch erscheinen konnte, verdanken wir: Dr. Guido Steinberg vom Bundeskanzleramt, Juliane Kalinna und Dr. Thomas Lemmen vom Referat für Kirchen und Religionsgemeinschaften im Bundesinnenministerium, Dr. Jean-Marc Bobillon und Hélène Conand von der Französischen Botschaft, dem Präsidenten des Kulturwissenschaftlichen Instituts, Prof. Jörn Rüsen, dem unser Projekt eine Herzenssache war, und natürlich Karin Werner, Roswitha Gost und Andreas Hüllinghorst vom transcript Verlag, die ihm mit unermüdlichem Einsatz einen Platz an der Sonne in der Reihe »global | local Islam« verschafften. Für ihren Einsatz an der persischen Transkriptions-Front danken wir Katajun Amirpur, für die Kontrolle türkischer Namen und Worte Serdar Günes, Angela Schader von der Neuen Zürcher Zeitung für die deutsche Kurzfassung des Beitrags von Kenan Çayır und Daniel Birnstiel für semitistischen Rat. Last but certainly not least schulden wir Henning Thies für weit über das Übliche hinausgehende Mühen bei der Übersetzung der englischsprachigen Beiträge in leserfreundliches Deutsch heißen Dank!

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) T00_06 dank.p 63122368014

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) vakat 008.p 63122368054

Teil I Einführungen: Islam und Öffentlichkeit

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) T01_00 resp teil I.p 63122368070

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) vakat 010.p 63122368086

Die sichtbare Präsenz des Islam und die Grenzen der Öffentlichkeit | 11

Die sichtbare Präsenz des Islam und die Grenzen der Öffentlichkeit Nilüfer Göle In den beiden letzten Jahrzehnten ist der Islam im öffentlichen Leben und in den öffentlichen Debatten der muslimischen wie der westlichen Gesellschaften spektakulär in den Vordergrund gerückt. Der gegenwärtige Islamismus, wie er sich in den muslimischen Ursprungs- und europäischen Einwanderungsländern zeigt, strebt danach, die religiösen Unterschiede, im Kleinen wie im Großen, durch Lebens-, Verhaltens- und Verfahrensweisen in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen – etwa durch die Verschleierung der Frauen in Schulen, den Bau von Moscheen in Europa, Geschlechtertrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln, Tabuvorschriften bei Nahrungs- und Genussmitteln (arab. h.alâl-Fleisch, also nur geschächtetes Fleisch und kein Schwein, kein Alkohol) und anderes mehr. Durch neue politische Forderungen sowie durch das Alltagsleben muslimischer Einwanderer, Großstadtjugendlicher, islamischer Intellektueller und Angehöriger der frommen Mittelschichten wird der Islam in den Vordergrund des öffentlichen Lebens gespielt. Durch solche Praktiken grenzen sich muslimische Akteure ab; sie arbeiten kollektiv ein religiöses Selbst heraus und schaffen sich neue, eigene öffentliche Räume, die in Einklang mit den Erfordernissen ihres Glaubens und eines islamischen Lebensstils stehen. Ziel des vorliegenden Bandes ist es, verständlich zu machen, wie der Islam in drei ganz unterschiedlichen Öffentlichkeiten, nämlich in der säkularen Türkei, im nachrevolutionären Iran und im pluralistischen Europa, Sichtbarkeit und Präsenz erlangt. Die Fallstudien junger Forscher aus der Türkei, Iran und Europa (Kömeçoglu, Çayır, Gheytanchi, Shirali, Tietze, Khedimellah, Nökel), die Überblicke und Überlegungen namhafter Gelehrter (Yavuz, Khosrokhavar, Eisenstadt, Tabboni, Taylor) und unsere einführenden Beiträge (Göle, Geulen, Ammann) sollen zeigen, wie der Islam sich den Weg ins öffentliche Leben bahnt und dabei versucht, die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem sowie zwischen den religiösen und weltlichen Bereichen neu zu definieren, nicht ohne dabei die säkularen, demokratischen Öffentlichkeitsdefinitionen der Moderne in Frage zu stellen. Die vorliegenden Essays sind, wie wir hoffen, indem sie die Rolle der Religion, der Frau, des Körpers und des Raums bei der Abgrenzung von privater und öffentlicher Sphäre beleuchten, auch ein Beitrag zur theoretischen Debatte über die Öffentlichkeit aus islamischer Sicht. Es geht uns um ein besseres Verständnis der Komplexitäten, mit denen die zeitgenössischen Lebens-, Verhaltens- und Verfahrensweisen von Muslimen in der Öffentlichkeit behaftet sind. Darum konzentrieren wir uns auf die zweite Phase des Islamismus, in der das kulturelle Programm des Islam deutlicher hervortritt. In der ersten Phase, die ihren Höhepunkt mit der Iranischen Revolution von 1979 erreichte – einer Revolution, die ihrerseits während der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts als Vorbild für eine erfolgreiche Islamisierung diente –, hatten sich islamische Aktionen in der Öffentlichkeit weitgehend auf das Vorgehen militanter Fundamentalisten beschränkt, die vor allem revolutionär dachten. Dagegen prägen nun, in der zweiten Phase, zunehmend neue gesellschaftliche Gruppen wie muslimische Intellektuelle, kulturelle Eliten, Unternehmer und bürgerliche Schichten das Gesicht des Islam in ^

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12 | Nilüfer Göle der Öffentlichkeit. Und diese Gruppen denken und handeln nicht revolutionär, sondern reformorientiert. Ihre sozialen Profile resultieren aus der islamistischen Bewegung, aber auch aus dem modernen säkularen Bildungswesen, aus modernen Marktwerten und modernen politischen Idiomen. Sie sind hybrid und verkörpern die Ambivalenz zwischen Islam und Moderne auf extreme Weise. Diese Gruppen beanspruchen das islamische Anderssein und akzeptieren gleichwohl gewisse Imperative des modernen Lebens. Sie sind, was den vor zwei Jahrzehnten von militanten Islamisten so freudig propagierten utopischen Fundamentalismus angeht, desillusioniert und versuchen, sich einen Platz im beruflichen, politischen und öffentlichen Leben zu sichern. Während die erste Welle des Islamismus durch einen gegen das System gerichteten Standpunkt und eine rigide Ideologie charakterisiert war, bahnt sich in einer zweiten Welle gegenwärtig eine neue Generation von Muslimen ihren Weg in eine Welt, in der sie am öffentlichen Leben teilnehmen, ohne dieses bestimmen zu können, und in der sie mit weltlichen Akteuren und modernen Lebenssphären interagieren. Dabei verändern sich natürlich auch Dynamik und Orientierung der islamistischen Bewegung. Das bedeutet allerdings nicht das Ende des Radikalismus oder das Ende terroristischer Akte. Das »Coming out« desillusionierter islamischer Akteure im öffentlichen Leben, ihr Sich-Einfügen in das zeitgenössische gesellschaftliche Leben, kann den Terrorismus nicht verhindern; im Gegenteil, es provoziert. Soziale Integration und öffentliche Sichtbarkeit dieser neuen muslimischen Gruppen werden von allen, die weiterhin am ursprünglichen fundamentalistischen Projekt festhalten, als Verrat empfunden und als politisches Scheitern verurteilt. Aus dieser Sicht lässt sich der islamische Terrorismus also als Symptom einer tiefen Spaltung verstehen; er bezeugt die politische Ohnmacht der Militanten, die nicht in der Lage sind, die Einheit aller Gläubigen (umma) wiederherzustellen und den Verlust der Utopie zu kompensieren. Islamische Terroristen und Märtyrer bezeugen1 den Verlust einer idealen Gemeinschaft aller Muslime, indem sie versuchen, sich mit spektakulärer Gewalt gegen deren Befleckung durch die Imperative oder Verführungen des modernen Lebens zu stemmen und diesen Trend umzukehren. In der neuen Phase des Islamismus nimmt der revolutionäre Eifer ab. Aus dem ideologischen Chor wird eine Stimmenvielfalt und es findet ein Distanzierungs- und Individuationsprozess statt, der sich von kollektiver Militanz abgrenzt. Man hat diese Entwicklung mit dem Begriff »Postislamismus« zu fassen versucht, doch es handelt sich eher um einen »Ausweg aus einer religiösen Revolution«.2 Wir können argumentieren, dass sich die muslimische Identität heute, nach einer Phase kollektiver Selbstbehauptung und scharfer Hervorkehrung von Andersartigkeit, in einem Prozess der »Normalisierung« befindet. Die islamischen Akteure bringen sich in die modernen urbanen Räume ein, sie benutzen die globalen Kommunikationsnetze, engagieren sich in öffentlichen Debatten, folgen Konsummustern der anderen, erlernen die Regeln des Marktes, begeben sich in säkulare Zeitabläufe, werden mit den 1 Im Arabischen werden die Begriffe »Märtyrer« und »Zeuge« durch dasselbe Wort bezeichnet: sahîd. 2 Vgl. den Buchtitel von Farhad Khosrokhavar/Olivier Roy: Iran: Comment sortir d’une révolution religieuse, Paris 1999. ^

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Die sichtbare Präsenz des Islam und die Grenzen der Öffentlichkeit | 13 Werten der Individuation, der Berufstätigkeit und der Konsumgesellschaft vertraut, und sie denken kritisch über ihre eigenen Praktiken nach. Folglich können wir einen Wandel dieser Bewegungen beobachten – von einem radikalen politischen Standpunkt hin zu einer stärker sozial und kulturell bestimmten Orientierung –, womit ein Verlust an Mobilisierung der Massen und populistischem Eifer einhergeht. Aus diesen Entwicklungen wollten einige Forscher bereits einen »Niedergang des Islamismus« und ein »Scheitern des politischen Islam« ableiten.3 Doch eine stärker kulturelle Orientierung ist nicht gleichbedeutend mit einer weniger politischen Orientierung! Vielmehr dringt der Islam unserer Meinung nach, statt als Bezugspunkt zu verschwinden, noch tiefer in das soziale Gewebe und in das gesellschaftliche Imaginäre4 ein. Dabei werden neue politische Fragen aufgeworfen – Fragen, die sich nicht nur an Muslime richten, sondern die auch die Grundlagen des kollektiven Zusammenlebens in europäischen und westlichen Kontexten betreffen. Die Grenzen der Öffentlichkeitssphäre und die weltlichen Definitionen bezüglich der Neutralität des öffentlichen Raumes werden durch das öffentliche Auftreten der Muslime, durch ihre neuen Ansprüche und Praktiken in Frage gestellt. Denn in dem Maße, wie sich der Islam in die nationalen Öffentlichkeitssphären begibt, werden deren homogene Strukturen und die dort gültigen Konsensprinzipien destabilisiert. Anders gesagt, der Aufstieg des politischen Islam und sein Erfolg bei den Wahlen in Ländern wie der Türkei lassen sich nicht von der Schaffung neuer Öffentlichkeitssphären und Märkte trennen, die ihrerseits den neuen muslimischen Jugendlichen, Intellektuellen, Mittelschichten und Berufsgruppen völlig neue Chancen eröffnen. Die islamischen Massenmedien, der kulturelle Unterhaltungssektor, aber auch der Dienstleistungssektor werden in Übereinstimmung mit islamischen Vorschriften gestaltet (islamisches Idiom, islamische Kleidung, kein Ausschank alkoholischer Getränke, getrennte Badestrände für Männer und Frauen), und sie bieten islamischen Intellektuellen, Kulturvermittlern, Unternehmern und Mittelschichten neue Einrichtungen und Möglichkeiten. Der Islam schafft sich einen eigenen öffentlichen Raum, in dem neue islamische Sprachstile, Körperrituale und räumliche Lebensund Verhaltensweisen gelten. In manchen Kontexten sind islamische Öffentlichkeiten auch ein Ergebnis von Kräften der Zivilgesellschaft und des Marktes, die nach sichtbarem Ausdruck und nach Legitimität in der nationalen Öffentlichkeitssphäre streben, etwa im Fall der Türkei oder in europäischen Einwandererkontexten. Im Iran dagegen wird die islamische Öffentlichkeitssphäre vom Staat eingerichtet und überwacht. Das Studium des Islam ist heutzutage wegen dessen Vielfalt und wegen des steten Wandels seiner Manifestationen eine komplexe Angelegenheit. Fundamentalismus, Revolution, Terrorismus und Parlamentarismus charakterisieren unterschiedliche Aspekte der kollektiven Handlungsmacht des Islam. Ginge es allein um das 3 Vgl. Olivier Roy: L’échec de l’islam politique, Paris 1992; Gilles Kepel: Jihad: Expansion et déclin de l’islamisme, Paris 2000. (Dt. Das Schwarzbuch des Dschihad: Aufstieg und Niedergang des Islamismus, München 2002.) 4 Vgl. Cornelius Castoriadis: L’institution imaginaire de la société, Paris 1975. (Dt. Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt am Main 1984.)

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14 | Nilüfer Göle Phänomen einer religiösen Erweckungsbewegung mit einer klar zu identifizierenden Institution – das Ganze wäre leicht zu verstehen. Aber es gibt keine einzelne Partei, Organisation, Institution und auch keinen einzelnen Nationalstaat, von denen man sagen könnte, sie verkörperten alle Bedeutungen und Praktiken des zeitgenössischen Islamismus. In unterschiedlichen nationalen Kontexten herrscht eine Pluralität unterschiedlicher Formen des Islam und islamischer Handlungsweisen. In der Tat haben die islamische Revolution im Iran, der religiöse Konservatismus in Saudi-Arabien, der parlamentarische Islam in der Türkei und Bin Ladens Terrorismus kaum etwas miteinander gemein. Gleichwohl kann man, trotz aller unterschiedlichen Formen des politischen Islam – von religiösem Nationalismus und parlamentarischer Politik bis hin zum Terrorismus –, zutreffend von einem gemeinsamen Wunsch aller Muslime sprechen, den Islam und seinen Platz in der modernen Welt, genauer gesagt seine Manifestationen im öffentlichen Leben, neu zu bewerten und zu bestimmen. In den beiden letzten Jahrzehnten ist der Islam zum unvermeidlichen Bezugspunkt geworden – für alle, denen an seiner umfassenderen Durchsetzung liegt, genauso wie für alle, die nach Wegen suchen, seine Manifestationen im öffentlichen Leben zu begrenzen. So ist zum Beispiel die nachrevolutionäre Epoche im Iran geprägt durch ein politisches Ringen um die Definitionen und Grenzen einer autoritären islamischen Kontrolle über die Öffentlichkeit wie über die Privatsphäre. In der Türkei dagegen, einer weltlichen Republik, stellt gegenwärtig die Gerechtigkeitspartei, die als moderat islamistische Partei gilt und bei den letzten Parlamentswahlen am 3. November 2002 eine muslimische Mehrheit der Abgeordnetensitze errang, die säkularen Definitionen von Öffentlichkeit in Frage, wodurch auch die Debatte über die öffentliche Präsenz des Islam intensiviert wird. Die Kopftuchfrage, also der Anspruch verschleierter Frauen, an Parlamentssitzungen, am Universitätsunterricht und an öffentlichen Zeremonien teilnehmen zu dürfen, steht weiterhin im Zentrum eines heftigen Konflikts, bei dem sich Islamisten und Säkularisten in der Türkei gegenüberstehen. Während also in der Türkei die öffentlichen Ansprüche des Islam durch ein säkulares autoritäres System im Zaum gehalten werden, werden im Iran, wo die Verschleierung in der Öffentlichkeit Pflicht ist und der öffentliche Raum von der Religion beherrscht wird, Forderungen nach einer autonomen Öffentlichkeitssphäre laut, und zwar seitens der Reformer, die versuchen, die Allgegenwart des Islam in der Öffentlichkeit zu begrenzen. Wie Farhad Khosrokhavar im vorliegenden Band zeigt, tauchen dort neue Akteure auf, zum Beispiel Jugendliche, Frauen und Intellektuelle, die die Grenzen einer religiös definierten Öffentlichkeitssphäre ausloten und übertreten. In beiden Fällen wird der Islam in den Vordergrund des öffentlichen Lebens gestellt – sei es durch die Macht des Staates, wie im Iran, sei es durch eine politische Partei, wie in der Türkei. Obwohl die Verhältnisse in beiden Ländern fast spiegelbildlich verkehrt sind, zeigen sich hier wie dort Spannungen, die von der Präsenz des Islam im öffentlichen Raum ausgehen. Auch in europäischen Kontexten lässt sich das Vordringen des Islam in den öffentlichen Raum beobachten. Dabei galten Fragen und Probleme, die sich im Zusammenhang mit Muslimen ergaben, zunächst als einwanderungsbedingt, doch nun, da die Muslime der zweiten und dritten Generation im Lande leben, werden sie von der Öffentlichkeit zunehmend als religiöse Probleme wahrgenommen. Die Iden-

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Die sichtbare Präsenz des Islam und die Grenzen der Öffentlichkeit | 15 tifizierung des Islam als »öffentliche Streitfrage« in Europa hat nicht nur mit den Massenmedien zu tun, sondern auch mit dem Zusammenspiel von muslimischen Gemeinschaften und Vertretern der öffentlichen Institutionen. Der französische Staat etwa engagiert sich für das Projekt einer regulären Vertretung der islamischen Religion als öffentliche Institution, um ein Gegengewicht gegen die Fundamentalisten zu setzen und deren Verbindungen zu ihren Herkunftsländern zu kappen. Ziel der Verfechter dieser Lösung ist es, wie sie selbst sagen, »den Islam ans Tageslicht zu bringen« und einen »französischen Islam« zu organisieren »statt eines Islam in Frankreich«.5 Die öffentliche Anerkennung des Islam als Religionsgemeinschaft übt ebenso wie das Bewusstsein, dass der Islam für europäische Länder soziale Probleme schafft, Druck aus, die etablierten Grenzen der nationalen Öffentlichkeitssphäre auszuweiten und die philosophischen Grundlagen wie die juristischen Prinzipien einer säkularen Öffentlichkeit gründlich zu erörtern. Auch ist der Islam nicht nur im öffentlichen Leben europäischer Länder mit muslimischen Minoritäten präsent, sondern er spielt auch in der transnationalen Öffentlichkeit eine Rolle. Paradoxerweise geriet der Islam seit den terroristischen Angriffen vom 11. September 2001 weltweit noch mehr in den Mittelpunkt öffentlicher Besorgnis. Denn seither ringen nicht nur die Muslime, sondern auch die amerikanische und die europäische Öffentlichkeit um eine Neubestimmung ihrer Positionen zum Terror im Allgemeinen sowie zur islamistischen Politik und muslimischen Einwanderung im Besonderen. Der Islam, dessen Ausbreitung bis dahin einer externen Dynamik im Zeichen der Globalisierung gefolgt war, zirkuliert seither aus eigenem Antrieb und wird Teil einer transnationalen, gleichwohl geteilten Öffentlichkeit. Vertreter des Islam aus unterschiedlichen nationalen Zusammenhängen, Islam-Experten aus der ganzen Welt, Bücher über den Islam und islamische Begriffe wie »Dschihad« und »Fatwa« zirkulieren in den unterschiedlichsten Teilen der Öffentlichkeit oder sind in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen. Die Präsenz des Islam in der europäischen und amerikanischen Öffentlichkeit wird zwar allzu leicht mit Fundamentalismus und Terrorismus in Verbindung gebracht, aber sie wirft in den westlichen Demokratien auch neue Fragen zu den Themen Andersartigkeit und Toleranz auf. Auf ähnliche Weise löste der türkische Aufnahmeantrag in der Europäischen Union eine Debatte über die europäische Identität aus. Die Diskussionen über die EU-Kandidatur der Türkei beim Kopenhagener Gipfeltreffen von 5 Es wurde ein Conseil français du culte musulman (CFCM) neu ins Leben gerufen, dessen Mitglieder erstmals am 13. April 2003 von den Muslimen gewählt wurden (Wahlbeteiligung: 88,5 %). Dabei diente die Organisation des 1806 unter Napoleon gegründeten jüdischen Konsistoriums als Vorbild, wie der französische Staat seine Beziehungen zu den anderen großen Religionen regelt. Der Französische Rat für die muslimische Religion ist das erste einheitliche Gremium überhaupt, dem das Recht verliehen wurde, für die etwa fünf Millionen Gläubige umfassende muslimische Gemeinschaft des Landes zu sprechen. Das Ziel ist die Entwicklung einer einheimischen, liberalen Variante des Islam. Derzeit verteilen sich die 25 regionalen Räte auf verschiedene Varianten, die Organisation des liberalen Rektors des Muslimischen Instituts der Moschee von Paris und jetzigen Präsidenten Dalil Boubakeur konnte nur zwei Sitze erringen.

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16 | Nilüfer Göle 2002 illustrierten die Bedeutung des Islam in der öffentlichen Debatte Europas treffend. Die Frage, ob die europäische Einheit durch ein gemeinsames Erbe der christlichen Religion und der westlichen Zivilisation definiert werden solle oder mit Bezug auf gemeinsame politische Werte und eine prinzipielle Offenheit für alle Demokratien, lag dieser Debatte zugrunde, und genau hier verläuft auch die Trennungslinie in den öffentlichen Diskussionen in ganz Europa. Interessanterweise wurden, je mehr sich die Türkei Europa annäherte, in der europäischen öffentlichen Meinung immer deutlicher Bedenken geäußert, die den Islam betrafen, und viele Politiker und Intellektuelle erinnerten an die Notwendigkeit, die Grenzen Europas zu definieren und zu bewahren.6 Kurz, ob mit Bezug auf die Türkei oder auf Muslime aus Einwanderermilieus, die Aufrechterhaltung von Abgrenzungen wird zu einer entscheidenden Frage, wenn über unterschiedliche Definitionen einer europäischen Identität diskutiert wird.

Mobilität, islamische Handlungsmacht und das Imaginäre In der Tat geht es bei der neuen Präsenz des Islam vor allem um Grenzen und Grenzüberschreitungen. Heutzutage dringt der Islam in geographische und kulturelle Räume vor, von denen er zuvor ausgeschlossen war. Mit neuen sozialen Gruppen von Muslimen, die aus ländlichen Gegenden in die Städte ziehen, von den Rändern ins Zentrum der Politik, aus peripheren und regionalen Gegenden in den Kernbereich westlicher Städte und öffentlicher Räume, überschreitet auch der Islam die verbotenen Grenzen zur Moderne. Urbanisierung, Modernisierung und Migration sorgen für Entwurzelung; sie haben gewiss ihre negativen Aspekte – wie jene, die den radikalen Islam genauer untersuchen, nicht müde werden zu betonen. Aber durch ebendiese Prozesse eröffnet sich auch eine neue Sphäre der Chancen für den sozialen Aufstieg. Wird eine Bevölkerung verpflanzt und entwurzelt, so ist sie – nicht nur, aber auch – modernen, universalen Voraussetzungen gegenüber positiv eingestellt.7 Wird eine Bevölkerung oder Praxis dagegen als »lokal« charakterisiert, so heißt das auch, dass sie in einer Region verwurzelt und auf diese begrenzt ist, dass sich in ihr eine spezifische Kultur ohne Potenzial für universale Implikationen ihrer Aktionen manifestiert. Der Islam unterliegt der Dynamik sozialer Mobilität und Modernität insoweit, als er nicht länger Bezugspunkt allein jener Gruppen ist, die einem bestimmten Ort, einem bestimmten Territorium und festgefügten Traditionen verhaftet sind. Im Gegenteil, gerade jene Gruppen, die neuen Bahnen folgen und sich in neue Lebensstile, Lebensräume, Städte und geographische Räume hinein bewegen, nehmen heute den Islam in Beschlag. Der gegenwärtige Islamismus charakterisiert jene Bevölkerungsgruppen, die entwurzelt, verpflanzt und mobil sind. 6 Die Intensität dieser Debatte lässt sich gut nachverfolgen, wenn man die Artikel konsultiert, die in französischer, deutscher und türkischer Sprache während des Kopenhagener Gipfels veröffentlicht wurden. Vgl. die Website »www.ataturquie.asso.fr«. 7 Vgl. Talal Asad: Genealogies of Religion: Discipline and Reasons of Power in Christianity and Islam, Baltimore/London 1993, S. 7-12.

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Die sichtbare Präsenz des Islam und die Grenzen der Öffentlichkeit | 17 Diese Gruppen, angetrieben durch ihren Willen zu besserer Bildung und Ausbildung, zur Teilnahme am städtischen Leben und zur Nutzung der mit der Migration verbundenen neuen Chancen, distanzieren sich selbst von ihren sozialen Wurzeln, von ihrem familiären Hintergrund und den lokalen Traditionen. Die Begleiterscheinung zum Übergang dieser Gruppen in moderne Lebensräume ist, dass Religion und Traditionen ihren Charakter als vorgefertigte Einheiten verlieren. Der Islam erscheint nun nicht mehr als selbstverständliche Norm, die in sozialer Einbettung von Generation zu Generation weitergegeben wird, sondern er ist jetzt Diskontinuitäten und Brüchen ausgesetzt. Der Islam, traditionell eine bindende Kraft unter all jenen, die einem bestimmten lokalen Zusammenhang, einer bestimmten Konfession und einem bestimmten Nationalstaat angehörten, wird heute zum Bezugspunkt für ein imaginäres Band zwischen sozial entwurzelten Muslimen. Charles Taylor beschreibt die soziale Einbettung als Bedingung für eine andere Art des gesellschaftlichen Imaginären; er spricht von den »›horizontalen‹ Formen der gesellschaftlichen Vorstellung, in denen die Menschen sich selbst und andere in großer Zahl als gleichzeitig existierend und gleichzeitig handelnd begreifen«.8 Im Zeitalter der Moderne werde die religiöse Erfahrung zum Bestandteil eines »expressiven Individualismus«; das heißt, es wird wichtig, seinen eigenen Weg zu finden und sich gegen ein Vorbild abzugrenzen, das von außen kommt und das von der Gesellschaft, der vorherigen Generation oder religiösen Autoritäten vorgegeben wird.9 Taylor erinnert zu Recht daran, dass die religiöse Erfahrung in modernen Zeiten zwar eine starke individualistische Komponente enthält, dass der Glaubensinhalt aber nicht unbedingt zur Individuation führt. Vielmehr schließen sich zahlreiche Menschen mächtigen Religionsgemeinschaften an.10 In dieser Hinsicht hat der zeitgenössische Islamismus einiges mit den modernen Formen religiöser Erfahrung gemein, denn auch der Islamismus steht für sozial entwurzelte Formen der Religiosität und wird folglich zu einer Angelegenheit persönlicher Wahl. Der heutigen Islam-Erfahrung fehlt oft die Kontinuität vorgegebener religiöser Strukturen, Autoritäten, nationaler wie konfessioneller Bindungen. Stattdessen funktioniert sie als horizontales gesellschaftliches Imaginäres, wobei viele unterschiedliche muslimische Akteure in unterschiedlichen Kontexten so miteinander verbunden sind, dass sie das Gefühl haben, gemeinsam und simultan zu handeln. Der Begriff »Islamismus« bezieht sich auf die moderne Produktion, Ausarbeitung und Verbreitung dieses horizontalen gesellschaftlichen Imaginären – allen historischen Unterscheidungen zum Trotz, etwa denen zwischen spirituellen Sufis und dem kanonisch an der Scharia orientierten Islam, zwischen Schiiten und Sunniten, zwischen dem konservativen Saudi-Arabien und dem revolutionären Iran. Das heißt allerdings nicht, dass historische, konfessionelle und nationale Unterschiede nun bedeutungslos geworden wären. Vielmehr bieten sie unterschiedliche Bühnen für das gemeinsame Imaginäre, das auf diese Weise mit unterschiedlichen Kulissen und 8 Charles Taylor: Varieties of Religion Today, Cambridge, MA 2002, S. 83. (Dt. Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt am Main 2002, S. 75.) 9 Vgl. ebd., dt. S. 84. 10 Vgl. ebd., dt. S. 98.

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18 | Nilüfer Göle Akteuren inszeniert wird. Daraus entstehen eine Vielfalt von Interpretationen und eine politische Dynamik. Der Islam in Bewegung und als Bewegung kreist zwischen verschiedenen Kontexten und nimmt dabei unterschiedliche Formen an. Aber er schafft auch einen gemeinsamen kollektiven Bezugsrahmen für die Selbstdefinition aller Muslime. Obgleich »Islam« und »Islamismus« in meinem Begriffsgebrauch austauschbar sind, bezieht sich »Islam« eher auf den langfristigen historischen Aspekt dieser Religion, »Islamismus« dagegen auf die Interpretationen durch menschliches Handeln, folglich eher auf die zeitgenössischen Manifestationen. Die muslimische Identität durchläuft einen Wandel – von einer gleichsam »natürlichen«, angeborenen Kategorie, einer »Tradition«, die von Generation zu Generation weitergereicht wird, zu einer »sozialen« Kategorie. »Islamismus« bezeichnet also eine radikale Prozedur, eine Bedeutungsverschiebung vom Muslimischen zum Islamistischen. Radikal ist der Islamismus auch insofern, als er die »gegebenen« Definitionen des Islam zurückweist, weil er sie für zu unterwürfig hält; stattdessen ruft er zu kollektivem Handeln und zur Selbstbehauptung angesichts moderner Machtverhältnisse auf. Daraus ergibt sich, dass die muslimische Identität nicht nur revidiert und selektiv als ein kollektives »Wir« konstruiert wird, das sich mit oppositioneller Handlungsmacht versieht; die muslimische Identität wird vor allem zur individuellen Entscheidung, zur bewussten Wahl. Hier liegt die Grenzüberschreitung zwischen einem Muslim und einem Islamisten. Man kann als Muslim geboren werden, zum Islamisten aber wird man nur durch persönliches und politisches Engagement. Der Islamismus bietet sozial entwurzelten Muslimen eine horizontale Form der Bindung und eine horizontale Form des gesellschaftlichen Imaginären: Weil der Islam diesem Personenkreis nicht mehr in traditioneller Form, durch ein gesellschaftliches, familiäres oder lokales Umfeld, vermittelt wird, schaffen sich diese Muslime kollektiv und in stetiger Revision und Anpassung eine neue religiöse Identität in modernen Kontexten. Dieser Wandel vom Muslim zum Islamisten wird allerdings erst durch Schaffung einer kollektiven Handlungsmacht ermöglicht – durch die Erfindung einer sozialen Bewegung. Der Islam als soziale Bewegung erarbeitet eine neue kollektive Identität für Muslime und transformiert zugleich deren soziales Operationsfeld. Nach Alain Touraines analytischem Ansatz wird bei diesem Ringen um Kontrolle über die Historizität gekämpft, das heißt, um Kontrolle über ein kulturelles Modell, das von Macht- und Konfliktbeziehungen nicht zu trennen ist.11 Der Islamismus als fundamentalistische soziale Bewegung gestaltet eine religiöse Identität kollektiv neu und bezieht sich dabei auf ein gegenkulturelles Modell der Moderne. Somit erfordert eine Kontextualisierung des Islam nicht nur eine einfache Auflistung kausaler und externer Faktoren, sondern unbedingt auch ein Verständnis der subjektiven Wahrnehmungen von Beherrscht-Werden und Unterlegenheit – also die Berücksichtigung eines islamischen Stigmas, dessen Wurzeln zurück in die Geschichte der Modernisierung reichen. 11 Vgl. Alain Touraine: The Voice and the Eye: An Analysis of Social Movement, Cambridge 1981. (Frz. La voix et le regard, Paris 1978.)

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Die sichtbare Präsenz des Islam und die Grenzen der Öffentlichkeit | 19 Der Islamismus ist also nicht direkt aus einem bereits vorhandenen, von den Zeitläuften unabhängigen, religiösen wie gesellschaftlichen Reservoir herzuleiten – einem Reservoir, das trotz modernistischer Repression überdauert hätte und nun erneut zum Vorschein käme. Das wäre eine rein modernistische Sicht der Dinge. Generell gehen modernistische Erzählungen und modernistische Politik vom Tod der Religion aus. Alle, die aus der Perspektive des modernistischen Idioms und der modernistischen Institutionen gesprochen haben – ob es sich nun um politische Eliten, um Akademiker oder um intellektuelle Figuren des öffentlichen Lebens handelte –, haben die Muslime in Theorie und Praxis nur als vorpolitische Subjekte angesehen, bestenfalls als Rückstand einer noch nicht abgeschlossenen Modernisierung, aber ohne jegliches Handlungspotenzial in der modernen Politik. Man rechnete fest mit einer historischen Mutation von Muslimen zu säkularen Staatsbürgern, zu Bürgern, die sich an westlichen Werten orientierten.12 Muslime kamen in den intellektuellen Vorstellungen und im historischen Horizont des Fortschritts einfach nicht vor. Erst im Zeichen des Islamismus streben Muslime jetzt in modernen politischen Umfeldern nach Handlungsmacht und begeben sich dabei in einen Konflikt mit modernen staatsbürgerlichen Annahmen und Werten. Das islamische Handeln wird eher von einem selbstbewussten Eintreten für religiöse Differenz bestimmt als von deren Leugnung. Statt ihre Religiosität aufzugeben – eine Gläubigkeit, die als Quelle der Rückständigkeit und, vom Standpunkt der Säkularisierungsthese und des westlichen Modernismus aus, als tot gilt –, verwandeln Muslime ihr Muslim-Sein (ähnlich wie die Schwarzen in den USA ihr Schwarz-Sein) in einen offenen Protest. Diese Protestbewegung, Islamismus genannt, hat mit anderen zeitgenössischen sozialen Bewegungen, die den universalen und auf Assimilation gerichteten Werten des Aufklärungsprojekts ebenfalls kritisch gegenüberstehen und die neue Identitätskategorien wie Geschlecht, Rasse, Natur und Religion in die Politik einführen, einiges gemein. Kritik am Projekt der Aufklärung lässt sich auch im Islamismus feststellen, aber es ist eine Kritik, die außerhalb des Gedankengerüsts westlicher kritischer Bewegungen steht. Anders als progressive und pluralistische soziale Bewegungen bezieht sich diese fundamentalistische Bewegung nämlich auf transzendentale Quellen der Wahrheit und Autorität. Sie vertritt als ihr Ideal ein vergangenheitsorientiertes Gesellschaftsmodell sowie einen ganzheitlichen Veränderungsanspruch, der alle Lebensbereiche umfasst – von der Staatsmacht über die Wissenschaft und den Glauben bis hin zu den Lebensstilen. Anstatt für eine zukunftsorientierte Utopie zu werben, fordern islamistische Bewegungen die Rückbesinnung auf ein Goldenes Zeitalter. Dieses historisch unbefleckte Gesellschaftsmodell soll nach den Versprechungen der Islamisten als neue Quelle gesellschaftlicher Imagination für alle Muslime dienen.

12 Auf ähnliche Weise wurde lange auch den Bauern in Indien der Status politischer Subjekte abgesprochen. Erst in Subalternstudien wurde die Untersuchung des Bauern als Staatsbürger in der zeitgenössischen politischen Moderne wieder eingeführt. Vgl. Dipesh Chakrabarty: Habitations of Modernity: Essays in the Wake of Subaltern Studies, Chicago/London 2002.

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20 | Nilüfer Göle Bestandteil des islamistischen Projekts ist also eine bestimmte religiöse Zeitlichkeit. Das Ideal ist nicht zukunftsorientiert gefasst, also in Begriffen, die durch die fortschrittlichen Kräfte der Geschichte erst noch bestätigt werden müssten, sondern es ist in der Vergangenheit verankert. Für Muslime gibt es die ideale Gesellschaft bereits, denn sie existierte im Goldenen Zeitalter des Propheten (türkisch asr-i saadet). Es handelt sich um eine bereits realisierte Utopie, ein ewig gültiges Modell, dem man nur noch nacheifern muss. Die Revitalisierung der Verbindung zum Zeitalter des Propheten ist ein wesentliches Element der kollektiven Selbstdefinition. Im islamischen Denken gelten sowohl der Koran (die rezitierte Offenbarung) als auch die Sunna (das normative Vorbild des Propheten Mohammed sowie seiner Frauen und Weggefährten) als Quellen der Weisheit und als religiöse Autoritäten. Aufgrund von Mohammeds prophetischem Wesen – er hat im Islam den herausgehobenen Status eines Gesandten Gottes – gelten seine Worte und exemplarischen Taten, wie sie im Hadith (wörtlich: »Bericht«) überliefert sind, unter Muslimen als erstrebenswerter Maßstab für das ethische Verhalten sowie als Wegweiser in allen weltlichen Fragen (etwa bei Ess- und Trinkgewohnheiten, Kleidungsstilen und Fragen des Familienlebens). Die Sunna ist ein Symbol der Verbindung mit dem Zeitalter des Propheten, ein Symbol für die Kontinuität einer idealen Vergangenheit.13 Der islamische Fundamentalismus verleiht dieser Verbindung zum Zeitalter des Propheten neues Leben. Die Beziehung zu den Ursprüngen der islamischen Religion wird durch regelmäßige Rezitationen aus dem Koran und den Erzählungen über die Worte und Taten des Propheten Mohammed, seinen Umgang und die Gespräche mit seinen Frauen revitalisiert. Die Berichte der Hadith-Überlieferungen stellen für Muslime ein sehr wichtiges kulturelles Repertoire bereit. Denn eine Gruppe mit einer gemeinsamen Traditionserzählung kann stets Vorbilder für angemessenes Verhalten bieten, Vorbilder, die eine Identifizierung mit der prophetischen Tradition ermöglichen. Die Rolle, die dem Gespräch der Gläubigen und der Nachahmung eines Vorbilds zukommt, stellt einen wichtigen Schlüssel für das Verständnis islamischer Identitätsbildung dar. Der Islamismus als soziale Bewegung bietet eine Bühne für die Kultur. Die Treffen der Gemeinschaft dienen als Foren, in denen Erzählungen epischen und moralischen Charakters vorgetragen werden, in denen Emotionen wie Sorge, Zorn und Freude mit anderen geteilt und in denen Diskriminierungs- und Erniedrigungserfahrungen, aber auch die Vorbildtugenden der Geduld und Standhaftigkeit evoziert werden. Die Konversation als diskursive Praxis (türkisch sohbet, abgeleitet vom arabischen s.uh.ba, »Kameradschaft, gesellige Unterhaltung«; die Weggefährten des Propheten sind die s.ah.âba) trägt unter den Mitgliedern einer Bewegung zur Entstehung fester sozialer Bindungen und eines kulturellen Gedächtnisses bei. Auch die soziale Bewegung des Islamismus bietet einen Rahmen für die performative und diskursive Ausarbeitung alter Erinnerungen und neuer Identität, und zwar im Kontext der heutigen Welt. Eine soziale Bewegung ist nicht nur ein System von Überzeugungen, Handlungen und Akteuren, sondern auch eine Sammlung von erzählten und überlieferten Geschich13 Vgl. Daniel W. Brown: Rethinking Tradition in Modern Islamic Thought, Cambridge 1996, S. 2.

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Die sichtbare Präsenz des Islam und die Grenzen der Öffentlichkeit | 21 ten.14 Die Rolle des Gesprächs (sohbet) ist bei der traditionellen Übermittlung und beim Erlernen der islamischen Religion absolut zentral. In den Orden der islamischen Mystiker, der Sufis, dienten Gesprächsgemeinschaften (sohbet) als zentrales Organisationsprinzip.15 Die Gewohnheit des sohbet, übertragen in den modernen Kontext einer sozialen Bewegung, stärkt das religiöse Repertoire, revitalisiert das kollektive Gedächtnis und hilft besonders bei der Inszenierung eines neuen islamischen Selbst, das gleichermaßen in den Erzählungen der Vergangenheit wie in den Erfahrungen der Gegenwart wurzelt. Persönliche Geschichten, die von Ausgeschlossensein und Demütigung handeln, helfen, wenn sie im Gespräch ausgetauscht werden, beim Aufbau eines kollektiven Informationsschatzes; sie rufen überdies gemeinsame emotionale Reaktionen hervor und schärfen das kollektive Bewusstsein aller, die sich in einer solchen sozialen Bewegung engagieren. Durch diese performativen und diskursiven Praktiken wird bei den Muslimen das Gefühl der Zweitrangigkeit, des Verlustes von Würde und Ehre, das man zuvor für ein persönliches Gefühl gehalten und stillschweigend in Kauf genommen hatte, nunmehr kollektiv zum Ausdruck gebracht, miteinander geteilt und zur Quelle politischer Selbstermächtigung gemacht. Islamismus ist der Name dieser sozialen Bewegung. Mit Hilfe des Islamismus wird ein kollektives Gefühl des historischen Niedergangs im Islam und der Stigmatisierung im Zeichen moderner Definitionen von Selbst und Zivilisation umgewandelt – vom öffentlichen Defizit zum »subkulturellen Vorteil«.16 Die Religion spielt eine wichtige Rolle als Macht, die es den Unterdrückten ermöglicht, ein Stigma in eine Quelle der Selbstermächtigung zu verwandeln und aus Scham Selbstachtung zu machen. Der Islam stellt einen Bezugsrahmen für die Identitätsorientierung bereit. »Bezugsrahmen« wird dabei im Sinne Charles Taylors gebraucht, als Rahmen für ein System entscheidender qualitativer Unterschiede, die einem das Gefühl vermitteln, gut zu sein und an den höheren Formen des Lebens teilzuhaben.17 Der Islam dient als Quelle der Orientierung und Unterscheidung, um eine höhere Form des Lebens darzustellen und zu erreichen. Doch zu diesem Zweck, würden die Radikalen sagen, müsste die Religion erst einmal aus ihrer traditionell unterwürfigen, passiven und willfährigen Haltung angesichts der Macht der Moderne befreit werden. Die Religion bietet den Muslimen bei ihrer kritischen Auseinandersetzung mit der Moderne einen autonomen, alternativen Raum für die kollektive Selbstdefinition. Sie bietet einen kognitiven Rahmen für die persönliche Selbstfindung wie für die kollektive Orientierung der Bewegung. Politisierung der Religion und personalisierte Religiosität gehen Hand in Hand. Es handelt sich um einen Pro-

14 Vgl. Gary Alan Fine: »Public Narration and Group Culture: Discerning Discourse in Social Movements«, in: Hank Johnston/Bert Klandermans (Hg.), Social Movements and Culture, Minneapolis, MN 1995, S. 127-142. 15 Vgl. Thierry Zarcone: La Turquie moderne et l’islam, Paris 2004. 16 Vgl. Fine: »Public Narration«. 17 Vgl. Charles Taylor: Sources of the Self: The Making of Modern Identity, Cambridge, MA 1989. (Dt. Quellen des Selbst: Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt am Main 1994.)

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22 | Nilüfer Göle zess, der erst durch die Schwächung der religiösen Bindung an ihren traditionellen Kontext, an hierarchische Autorität und kanonische Interpretationen, ermöglicht wird.

Westliche Zivilisation, Stigmatisierung des Islam und historisches Gedächtnis Der Islamismus übernimmt freiwillig muslimische Attribute, die aus der normativen Sicht der modernistischen Kultur als potenziell diskreditierend gelten. Darum argumentiere ich im Sinne von Erving Goffmans Stigma-Theorie, dass es sich beim Islamismus um eine kollektive, politische Form der »Bewältigung einer beschädigten Identität« handelt.18 Die islamistische Bewegung bewältigt ihr Stigma, ihre »unerwünschte Andersartigkeit« als Muslime, indem sie das stigmatisierende Merkmal freiwillig annimmt, es offen zeigt und in der Öffentlichkeit auch offensiv vertritt. Diese Muslime verfolgen als in modernen Gesellschaften »Unerwünschte« nicht eine Strategie der Assimilation, sondern sie verschärfen ihr beunruhigendes Anderssein sogar noch. Dabei wird die Religion zum sichtbaren Zeichen, zur verkörperten Praxis; körperliche Anzeichen wie die Verschleierung der Frauen oder der Vollbart der Männer, körperliche Praktiken wie das Beten oder die Essgewohnheiten, aber auch Anredekonventionen und diskursive Praktiken werden auf der Suche nach Zugang zur Öffentlichkeit bewusst gewählt und in den Vordergrund gestellt. Wenn ich hier den Begriff »Stigma« ins Spiel bringe, so liegt mir besonders daran zu betonen, dass es in erster Linie um den Bereich des Persönlichen und um den eng mit der Politik des Körpers verknüpften emotionalen Subkontinent der kollektiven Identitätsbildung geht. Zweitens ist auf diese Weise das Wesen der kulturellen Differenz und der gesellschaftlichen Dominanz zu entziffern, einer Dominanz, die sich, wenngleich durch das allgemeine Hegemoniegefühl der säkularen Moderne verdeckt, das Stigma des Islam zunutze macht. Ein Stigma bezieht sich immer auf ein individuelles Merkmal, aber auch auf die soziale Information, die das betreffende Individuum über sich selbst vermittelt – eine Information, die disqualifizierend wirkt und zum Hindernis für die vollständige gesellschaftliche Akzeptanz wird. Darum bezieht sich ein Stigma immer auf ein Attribut, das den Einzelnen gründlich diskreditiert. Zugleich ist das Stigma jedoch auch Gegenstand der öffentlichen, gesellschaftlichen Wahrnehmung. Wir müssen, so Goffman, wenn wir Stigmata und Stigmatisierungsvorgänge verstehen wollen, eine Sprache der Beziehungen untersuchen, nicht eine Sprache der Attribute. Denn als prestigeträchtig oder diskreditierend ist nicht das Attribut an sich anzusehen – sei es nun ein Kopftuch, ein Vollbart oder etwas anderes –, sondern bestimmend für unsere Wahrnehmung sind die normativen Werte und die sozialen Klassen- und Machtverhältnisse.19

18 Vgl. Erving Goffman: Stigma: Notes on the Management of Spoiled Identity, New York 1963. (Dt. Stigma: Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt am Main 1967, 2003.) 19 Vgl. ebd., S. 3-5 (dt. S. 11-13).

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Die sichtbare Präsenz des Islam und die Grenzen der Öffentlichkeit | 23 Ich konzentriere mich zunächst auf das islamische Kopftuch, um den Gedanken einer freiwilligen Übernahme stigmatisierender Symbole etwas weiter auszuführen. Heutzutage wird der Begriff »Stigma« zwar eher mit der Schande selbst als mit dem körperlichen Merkmal der Schande in Verbindung gebracht, aber der ursprüngliche griechische Wortsinn, der sich auf die körperlichen Zeichen bezieht, die etwas Negatives über den moralischen Status des Zeichenträgers aussagen sollen, steht meinem eigenen Ansatz näher. Die Praxis der Kopftuch-Verschleierung, wie wir sie im zeitgenössischen Islamismus beobachten, erscheint unserem öffentlichen Blick als ein körperliches Zeichen, das mit seiner Bedeutungsfülle verwirrt. Denn die Verschleierung ist mit anderen körperlichen Zeichen und mit symbolischen Bedeutungen verknüpft, mit persönlichem Ausdruckswillen und kollektiven Verpflichtungen, mit Glauben und politischem Handeln, mit dem Gegensatz von verbotener Zurschaustellung des Inneren und öffentlichem Blick. Obwohl das Kopftuch, anders als die Hautfarbe, kein angeborenes Merkmal ist, widersetzt es sich – anders als andere freiwillig übernommene Symbole, etwa die der Jugendkultur – Deutungen einer nur individuellen und vorübergehenden Verwendung. Die Hartnäckigkeit, mit der sich junge Schülerinnen in Frankreich weigern, ihr Kopftuch abzunehmen, selbst wenn dadurch ihre weitere Schulbildung in Gefahr gerät, illustriert sowohl eine persönliche Hingabe an den religiösen Glauben als auch ihren Einsatz für die offensive Vertretung des islamistischen Anliegens. Gegen das Kopftuchverbot in Universitäten, beispielsweise in der Türkei, setzen sich junge Islamistinnen mit kreativen, parodistischen Strategien zu Wehr, indem sie Perücken und Hüte tragen, wenn sie den UniCampus betreten. Sie widerrufen weder ihren Anspruch auf höhere Bildung noch ihren religiösen Glauben. Der Schleier als persönliches religiöses Symbol vermittelt in der Öffentlichkeit auch soziale Informationen. Er zeigt zum Beispiel den radikalen Wandel, der gegenwärtig unter Muslimen stattfindet – vom Verbergen der Zugehörigkeit zum Islam und der damit verbundenen Attribute hin zur kollektiven, öffentlichen Zurschaustellung ihrer Religionszugehörigkeit. Muslime, die Kopftücher und Vollbärte tragen, werden offen als Muslime erkennbar. Sie treten offensiv für ihre muslimische Identität ein. Überdies vermitteln sie die Botschaft, dass sie die religiösen Vorschriften eifriger und genauer beachten als jene, die ihre Religiosität auf die Privatsphäre beschränken. So ist das Verschleiern eine unverhüllte Demonstration des Andersseins, obwohl das Kopftuch als solches eine Verhüllung, eine Art Maske ist. Die Verschleierung, in modernen Kontexten gemeinhin als Zeichen für die Herabwürdigung der weiblichen Identität angesehen – als Zeichen dafür, dass Frauen weniger wert sind als Männer, dass sie passiv und im Inneren des Hauses eingesperrt sind –, wird jetzt freiwillig gerade von jenen muslimischen Frauen gewählt, die nicht mehr auf die traditionelle Rolle beschränkt, die nicht mehr im Haus eingesperrt sind, sondern sich aus den Innenräumen in die Öffentlichkeit begeben, von Frauen, die Zugang zu höherer Bildung, zum städtischen Leben und zum öffentlichen Handeln haben. Das Kopftuch ist sowohl persönlicher als auch kollektiver Ausdruck der islamischen Religiosität. Es wird als persönliches körperliches Zeichen getragen, aber in der Imagination auch zur Quelle kollektiver Selbstermächtigung und horizontaler Gruppenbindung unter jenen, die sich als Muslime, genauer gesagt

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24 | Nilüfer Göle als Islamisten von anderen abgrenzen wollen. Sie machen aus der Verschleierung, einem in der Öffentlichkeit potenziell diskreditierenden Attribut, einen subalternen Vorteil. Das Kopftuch, in modernen Kontexten als Symbol der Rückständigkeit, Ignoranz und Unterwürfigkeit muslimischer Frauen angesehen, geht sozusagen in die Offensive, um wieder zu werden, was es im Frühstadium des Islam wahrscheinlich war: ein Symbol der Würde und des herausgehobenen Sozialprestiges urbaner muslimischer Frauen. Die Popularität von Modenschauen mit islamischer Kleidung in der Türkei ist eine gute Illustration der Suche nach ästhetischen Werten und sozialer Distinktion in den neu formierten frommen bürgerlichen Mittelschichten. Die Antwort auf die Frage, ob aus islamischen Stigma-Symbolen neue Prestigesymbole werden oder ob diese sich nicht eher in der Expansion immer neuer Märkte verlieren werden, muss reine Spekulation bleiben. Darum wende ich mich jetzt aus einer erweiterten historischen Perspektive wieder den strukturellen Ursachen des Stigmas zu. Dabei lautet meine These, dass die entscheidende soziale Ungleichheit, an der sich die islamistische Politik reibt und von der sie ihren Ausgang nimmt, weder die Benachteiligungen im ökonomischen Bereich noch autoritäre Haltungen und Strukturen in der Politik sind, sondern dass es vor allem um das vorherrschende kulturelle Modell der Moderne geht – die Moderne als höhere Lebensform, der alle nachzueifern und die alle im Alltag persönlich zu verkörpern haben. Dabei versteht es sich von selbst, dass die kulturellen Prämissen der Moderne nicht unabhängig von den institutionellen und wirtschaftlichen Aspekten der Moderne existieren. Doch können die subjektiven Wahrnehmungen des islamischen Stigmas und dessen tiefere strukturelle, historische Wurzeln, so scheint es mir, am besten erfasst werden, wenn man sie in Beziehung zur Definition des modernen Selbst und zu dessen Gleichsetzung mit dem zivilisierten Westen sieht. Die Herausbildung des modernen Subjekts in der westlichen Welt und dessen grundlegende Prämissen haben bei den westlichen Völkern ein Überlegenheitsgefühl entstehen lassen, das zu einer Stigmatisierung jener Völker führte, die im Hinblick auf die normativen Werte der modernen Identität und der modernen Gesellschaft als unzulänglich galten. Die ausführlichsten Hinweise zum Verständnis jener Machtbeziehungen, die dem Konzept der Zivilisation zugrunde liegen, finden sich in den Arbeiten von Norbert Elias. Im Konzept der Zivilisation kommen laut Elias das Selbstbild des abendländischen Menschen und die Überlegenheitsgefühle von Angehörigen der oberen sozialen Klassen gegenüber anderen Klassen ebenso zum Ausdruck wie das Überlegenheitsgefühl der westlichen Nationen gegenüber dem Rest der Welt – jenen Teilen, die sie erobert, kolonisiert oder einfach nur beeinflusst haben. Unter dem Stichwort »Zivilisation« lassen sich jene Phänomene zusammenfassen, die den Westen und seine spezifischen Erfahrungen von anderen Teilen der Welt unterscheiden, die ihn gegenüber anderen zeitgenössischen, aber »primitiven« Gesellschaften stolz und eigenständig machten: Technologie, Verhaltensregeln für gutes Benehmen, Weltanschauung und was sonst noch dazugehört.20 »Zivilisation« 20 Vgl. Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, 2 Bde., Basel 1939, ern. Frankfurt am Main 1976, Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, S. 2. (Engl. The History of Manners: The Civilizing Process, New York 1978.)

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Die sichtbare Präsenz des Islam und die Grenzen der Öffentlichkeit | 25 bezieht sich auf eine breite Vielfalt von Fakten, vom jeweiligen Stand der Technologie über gesellschaftliche Manieren bis zu religiösen Ideen und Sitten. Vor allem bringt dieser Begriff jedoch, wie Elias zeigt, »Selbstbewusstsein« und »Überlegenheit« des Westens zum Ausdruck. Darum ist »Zivilisation« kein wertfreier Begriff; und er bezieht sich nicht auf eine rein räumliche Untergliederung der Welt, im Sinne eines historischen Relativismus, der alle Kulturen als gleichwertig ansähe. Vielmehr ist damit, besonders seit dem 18. Jahrhundert, eine hierarchische Weltordnung im Sinne des universalistischen Projekts der Moderne verbunden. Es kommt darin das Selbstbild der europäischen Oberschichten zum Ausdruck, die sich als Bannerträger der expandierenden Zivilisation sehen, als Gegenteil eines anderen gesellschaftlichen Entwicklungsstadiums, der Barbarei. Ebenso umfasst der Begriff ein zu erstrebendes Ideal, »etwas, das ständig in Bewegung ist«, das voranschreitet – im Fortschritt.21 Anders als beim deutschen Kulturbegriff, der im Wesentlichen die nationalen Unterschiede hervorhebt, ist mit dem Begriff der Zivilisation ein universaler Geltungsanspruch verbunden – die nationalen Unterschiede werden heruntergespielt und dafür das den Völkern Gemeinsame betont.22 Aber das Problem ergibt sich daraus, dass man die Zivilisation für eine universale, wesentliche Form der »weltlichen Vervollkommnung« hielt, die auf der stetigen Zunahme von Vernunft und Rationalität – und somit auf einem europäischen, spezifisch französischen Denkmodell – basierte. Auf diese Weise kam auch ein normatives Werturteil ins Spiel.23 Die »nichtwestlichen« Teile der Welt schlugen jedoch keinen unabhängigen Kurs ein, sondern ließen sich im Gegenteil gleichfalls durch das Streben leiten, am Lauf der Zivilisation teilzuhaben. Die Geschichte der Modernisierung des Nationalismus war und ist in ganz unterschiedlichen Kontexten, von antikolonialen Bewegungen bis zu freiwilligen Bemühungen um Modernisierung, vor allem durch die politischen Bemühungen der »örtlichen« Eliten gekennzeichnet, die eigene Vergangenheit, die eigenen Traditionen und die eigene Kultur zurückzuweisen, wenn auch in unterschiedlich starkem Maße, und dafür den normativen und institutionellen Rahmen der westlichen Zivilisation zu übernehmen. Die Reformer des 19. und 20. Jahrhunderts benutzten Verwestlichung und Europäisierung als Synonyme für »Modernisierung«. Durch freiwillige Modernisierungen oder auf Druck der Kolonialmächte leiteten viele muslimische Länder kulturelle oder gar zivilisatorische Verschiebungen ein, die den Westen nachäfften. In den letzten beiden Jahrzehnten findet jedoch eine historische Rückbesinnung, eine Umkehr dieser zivilisatorischen Orientierung statt, die meiner Ansicht nach die zentralen Fragen des politischen Is-

21 Vgl. ebd., dt. S. 3. 22 Vgl. ebd., dt. S. 3-5. 23 Vgl. Bruce Mazlish: »Civilization in a Historical and Global Perspective«, in: International Sociology 16 (2001), S. 293-300, hier S. 294.

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26 | Nilüfer Göle lam prägt.24 Die islamische Revolution von 1979 im Iran und die zeitgenössischen islamischen Bewegungen fordern das universalistische Modell der westlichen Moderne heraus. Das führt zu einer Neuauflage der Debatten über Kultur und Zivilisation (oder über »östliche Moral und westliche Technologie«), die seit Beginn des 20. Jahrhunderts in vielen muslimischen Ländern, die sich auf Modernisierungskurs begaben, die politischen und intellektuellen Bewegungen prägten. Doch neben dieser diskursiven intellektuellen Kritik demonstriert auch die Praxis in vielen kleinen Details islamische Daseinsformen im Privaten wie in der Öffentlichkeit. Auf diese Weise bietet uns der Islamismus Mittel zur Aufdeckung jenes Prozesses, durch den die westlichen Definitionen von Selbst und Öffentlichkeit, Sitten und Manieren nicht nur den Menschen im Westen, sondern auch einer Mehrheit von Muslimen als natürlich und überlegen erscheinen. Das weltliche, liberale Identitätsmodell, das universal zu sein beansprucht, wird durch die religiösen, nichtliberalen Praktiken des Islam herausgefordert, die denselben Anspruch auf universale Gültigkeit erheben. In Frage gestellt wird dabei auch die monistische Definition von Zivilisation, die stillschweigend Zivilisation mit westlicher Kultur gleichsetzt. Die Umkehrung des islamischen Stigmas und der verstärkte Einsatz von islamischen Symbolen ist auch eine Erinnerung an die unterdrückten, vergessenen Attribute der muslimischen Zivilisation. Durch eine Untersuchung der Art und Weise, wie der Islam in der Öffentlichkeit zum Problem wird, können auch die stillschweigenden Annahmen bewusst gemacht werden, die im Spiel sind, wenn vom säkularen modernen Staatsbürger oder von den Grenzen der Öffentlichkeit die Rede ist. Der Islamismus ist also ein Phänomen der Kulturpolitik. Er stellt, genauer gesagt, die Geschichte der Modernisierung in den muslimischen Ländern – und die damit verbundenen Brüche im religiösen Gedächtnis und in den Traditionen – in Frage. Hakan Yavuz zeigt in seinem Beitrag zum vorliegenden Band, wie in der Türkei durch Zerstörung islamischer Institutionen und Symbole im Zuge der Modernisierung die beabsichtigte positivistische Gesellschaftsveränderung zu einem ethischen und sozialen Vakuum geführt hat. Wie Yavuz zeigen kann, lehnt die NurcuBewegung, eine islamische Glaubensbewegung, die auf den Schriften von Said Nursi (1876-1960) basiert, die vorherrschenden, materialistisch oder positivistisch gepräg24 In diesem Zusammenhang können Samuel Huntingtons Analysen nicht übergangen werden, die zu dem Schluss kommen, dass kulturelle Identitäten im weitesten Sinne zivilisatorische Identitäten sind und die großen Konflikte der heutigen Welt bestimmen. Huntingtons Definitionen von Kultur und Zivilisation sind allerdings viel zu simplistisch; für ihn handelt es sich um homogene, statische und territorial gebundene Einheiten. Nach Huntington gerät der Westen durch seine universalistischen Prätentionen in Konflikt mit anderen Zivilisationen, speziell mit dem Islam. Der Autor fordert ein Abrücken vom universalistischen Standpunkt der westlichen Moderne und eine Hervorhebung der Tatsache, dass Identität und Zivilisation des Westens partikular und einzigartig sind. Das erklärt auch, warum Huntingtons These vom »Kampf der Kulturkreise« (»clash of civilizations«) ein so breites Echo gefunden hat, in konservativen westlichen Kreisen ebenso wie bei islamistischen Hardlinern. Vgl. Samuel Huntington: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996. (Dt. Kampf der Kulturen, München 1996.)

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Die sichtbare Präsenz des Islam und die Grenzen der Öffentlichkeit | 27 ten intellektuellen Diskurse ab und versucht, das islamische Gedächtnis zu retten und auf den neuesten Stand zu bringen – als Erinnerung an die heiligen Wurzeln der Identität. Auf diese Weise enthüllt die islamische Kritik kulturelle Machtbeziehungen zwischen dem westlichen Modell der Moderne und den Muslimen: Prägungen, die Körpern, Erinnerungen und der Sprache im Verlauf eines langen historischen Prozesses eingeschrieben wurden. Anders gesagt, hier, wo die normativen Werte verkörpert sind, im muslimischen Habitus, liegen auch die Wurzeln für die Stigmatisierung der muslimischen Identität. Das islamische Imaginäre ist eben dieser religiöse Habitus, der gegenwärtig in der Öffentlichkeit durch Mikropraktiken in Erinnerung gerufen und transfiguriert wird. Diese Praktiken enthüllen die von der sozialen Konfiguration ausgehenden Langzeitprägungen im Bereich des Körperlichen, aber auch in Sprache und Raum. In seinem Beitrag zum vorliegenden Band weckt Ludwig Ammann unser Verständnis für die Langzeitprägungen in der zeitgenössischen Sprache und im Verhalten muslimischer Akteure.

Der Auftritt des islamischen Selbst im öffentlichen Raum Bei der öffentlichen Sichtbarmachung geht es um Techniken, wie etwas Inneres nach außen gekehrt werden kann – um Erinnerung und die Wiederbelebung von vergessenen Repertoires sowie um die Verwandlung impliziter Gewohnheiten in explizite, also in solche, die sicht- und hörbar sind. Der Körper als Sinnes- und Gefühlsregister macht die impliziten, nichtverbalen Verfahrensweisen und die anerzogenen Neigungen, also den Habitus, öffentlich sichtbar. Der Islamismus wählt für seine Botschaft den habituellen Bereich; auf dieser Ebene stellt er die modernistischen Bestrebungen, eine zivilisierte (sprich verwestlichte) und emanzipierte Identität herauszubilden, in Frage. Dabei handelt es sich nicht um eine völlig bewusste, diskursive Form der Kritik. Vielmehr zeigt sich ein Konfliktbereich, zu dem man nicht allein über das Bewusstsein des Akteurs oder die ideologischen Prämissen der Bewegung Zugang gewinnen kann. Nur wer sich um eine historische Perspektive bemüht und wer kritisch umsichtig und soziologisch sensibel an die Dinge herangeht, kann das symbolische System entziffern, das jenen Spannungen Ausdruck verleiht, mit denen Muslime bezüglich ihres Stellenwertes und ihrer Gefühle in der modernen Welt leben müssen. In dem Maße, wie soziale Akteure die Welt über das vorherrschende normative Bezugssystem wahrnehmen, sehen sie dieses als selbstverständlich an. Die gesellschaftliche Welt erscheint ihnen dann als normal und natürlich, als doxa (griechisch »sinnvolle Vorstellung«). Eine »doxische« Erfahrung ist eine, bei der die Mitglieder einer Gesellschaft gemeinsame Anschauungen und eine Art gesunden Menschenverstand teilen, der durch eine Reihe impliziter Annahmen und Werte übermittelt wird und dem vieles als selbstverständliche Tatsache, als Wahrheit erscheint. Darum sind solche Wahrnehmungen der sozialen Welt durch den gesunden Menschenverstand auch in der Lage, soziale und symbolische Herrschaftsbeziehungen zu maskieren. Pierre Bourdieu bezeichnet diese kognitive Macht

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28 | Nilüfer Göle als »symbolische Gewalt«, die dem Handelnden die Bedingungen seiner eigenen Dominanz verbirgt und so für die subjektive Blindheit des Handelnden steht.25 Eine soziale Bewegung indes verleiht den Akteuren kollektive Macht, auch Handlungsmacht, um Widerstand zu leisten und die Bedingungen der eigenen Ausschließung umzukehren. In einer sozialen Bewegung gibt es eine eingebaute Subjektivierung, mittels derer sich der/die Handelnde dem aufoktroyierten System widersetzt. Durch den Gebrauch kritischer Handlungsmacht erfolgt eine Distanzierung von vorgegebenen Rollen. Alain Touraine behauptet, das Subjekt verdanke seine Existenz überhaupt erst einem sozialen Konflikt oder einer kollektiven Aktion, also einem Akt der Kritik an der etablierten Ordnung, an Rollenerwartungen und Logik der Macht.26 Folgt man Touraines Argumentation, so kann man in der Tat sagen, dass das islamische Subjekt durch eine kollektive Aktion geschaffen wird, die die Unterjochung der muslimischen Identität durch eine Gemeinschaft (religiöser oder anderer Art) und durch die Moderne kritisiert. Das islamische Subjekt wird sowohl durch die Befreiung von traditionellen Definitionen und Rollen der muslimischen Identität als auch durch den Widerstand gegen ein kulturelles Programm der Moderne und des Liberalismus geformt. Das Streben nach Anderssein und Authentizität bringt einen kritischen Widerstand gegen Assimilationsstrategien und Homogenisierungspraktiken der Moderne zum Ausdruck. Die Umkehr des islamischen Stigmas ist, wie ich bereits gezeigt habe, ein solcher Fall. Die Muslime eignen sich freiwillig die Attribute ihrer eigenen Rückständigkeit und Demütigung wieder an und bekennen sich so in der Öffentlichkeit zu ihrer Stigmatisierung, anstatt dieses Stigma durch Strategien der Anpassung an die modernen Imperative der weltlichen, liberalen Identität zu bewältigen. Sie arbeiten offensiv einen muslimischen Habitus heraus und lassen diesen in der Öffentlichkeit sichtbar werden, was eine Herausforderung der Hegemonieverhältnisse in der Moderne darstellt. Wir benötigen allerdings auch den soziologischen Blick, das dritte Auge, um den objektiven, kognitiven Bereich der Stigmatisierung zu entziffern. Sonst würden wir einfach die Stimme des Akteurs für bare Münze nehmen oder aber das herrschende normative System duplizieren. Nur wenn sich soziale Bewegung und Gesellschaftsanalyse begegnen, können wir die Beziehungsverhältnisse der Dominanz ebenso dekonstruieren wie die kognitiven Aspekte.27 Aus diesem Grund haben wir vor diesem Buchprojekt ein Forschungsprojekt zu den Mikropraktiken des Islam in verschiedenen öffentlichen Räumen durchgeführt. Die wichtigste Hypothese dieses Projekts lautet, dass die öffentliche Sichtbarkeit des Islam und die mit dieser Sichtbarmachung verbundenen spezifischen Praktiken (im Verhalten der Geschlechter, im körperlichen und im räumlichen Bereich) neue Vorstellungen von einer kollektiven Identität und einem gemeinsamen Raum erzeu25 Vgl. Pierre Bourdieu/Jean-Claude Passeron: La reproduction: Éléments pour une théorie du système d’enseignement, Paris 1970; Pierre Bourdieu: Ce que parler veut dire, Paris 1982. 26 Vgl. Alain Touraine: Critique de la modernité, Paris 1992, S. 337. 27 Alain Touraine entwickelt in La voix et le regard seine Methode der soziologischen Intervention, die eine interpretierende Begegnung zwischen sozialer Aktion und sozialer Analyse ermöglichen soll, also zwischen »Stimme und Auge«.

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Die sichtbare Präsenz des Islam und die Grenzen der Öffentlichkeit | 29 gen, die sich vom westlichen, liberalen Selbst und von der Politik des Fortschritts deutlich unterscheiden. Wenn wir diese islamischen Identitätsbildungen und die damit verbundenen Mikropraktiken erforschen, werden wir nicht nur die neuen Konfigurationen des Islam besser verstehen lernen, sondern auch zu neuen Lesarten von Moderne und Öffentlichkeit gelangen. Das Habermas-Modell einer auf vernünftigen Debatten basierenden bürgerlichen Öffentlichkeit, die sich im kritischen Diskurs herausbildet, bietet nicht immer den richtigen Rahmen für das Verständnis der performativen Basis des Weges in den öffentlichen Raum. Anders als im Öffentlichkeitsbegriff der Aufklärung vorgesehen, der von einer universalistischen Definition des Bürgers und von einem homogenen nationalen Raum ausging, zeigen heute soziale Bewegungen, die auf bestimmten Identitäten basieren, religiöse, ethnische, sexuelle und Geschlechtsrollenunterschiede auf und tragen diese demonstrativ in die Öffentlichkeit.28 Die Zurschaustellung des Andersseins mit körperlichen und räumlichen Mitteln erfordert eine neue Lesefähigkeit für nichtverbale Kommunikation, für verkörperte Informationen und Sinnesinteraktionen in der Öffentlichkeit. Laut Erving Goffman stellt die nichtverbale »verkörperte Information« mit ihrer Verbindung zu den »nackten Sinnen« eine der entscheidenden Voraussetzungen für Kommunikation dar.29 Von allen Sinnesorganen hat das Auge eine einzigartige soziologische Funktion: Vereinigung und Interaktion von Individuen basieren auf einem Austausch von Blicken.30 Besonders wenn es um religiöse und geschlechtsrollenspezifische Fragen geht, haben Blickvokabular und räumliche Konventionen ziemlich große Aussagekraft. Wenn muslimische Frauen die Grenzen vom Innenraum zum Außenraum überschreiten, sind multiple Sinneseindrücke – Anblick, Geruch, Berührung und Gehör – im Spiel, wenn es gilt, Grenzen neu zu definieren, den Anstand zu wahren und die Geschlechter voneinander zu trennen. Der Begriff der Reinheit und schicklichen Zurückhaltung (türkisch edep, arabisch adab) liegt der muslimischen weiblichen Identität zugrunde, dem Auftreten in privaten und öffentlichen Räumen. Die Verschleierung (der arabische Begriff h.igâb bezieht sich ebenfalls auf weibliche Tugend und Bescheidenheit) hat mit der Bedeutung der Augen zu tun (Blickvermeidung und Niederschlagen der Augen), und die räumliche Trennung reguliert den sozialen Verkehr der Geschlechter. Diese Handlungsweise, diese Gegenästhetik, diese Körperhaltungen und Anredeweisen haben eine performative Dimension. Sie sind öffentliche Auftritte; mit ihnen versucht man Autorität und Legitimität zu gewinnen, und darum werden sie ständig wiederholt und eingeübt. Sie sind auch der muslimischen Kultur und dem muslimischen Gedächtnis nicht fremd. Verwurzelt sind sie in alten Traditionen und ^

28 Eine Diskussion des Habermas’schen Öffentlichkeitsbegriffs findet sich in Craig Calhoun (Hg.): Habermas and the Public Sphere, Cambridge, MA 1992. Vgl. auch Michael Warner: »Public and Private«, in: Catherine R. Stimpson/Gilbert Herdt (Hg.), Critical Terms for the Study of Gender and Sexuality, Chicago (erscheint demnächst). 29 Vgl. Erving Goffman: Behavior in Public Places: Notes on the Social Organization of Gatherings, New York 1966, S. 15. 30 Vgl. ebd., S. 93.

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30 | Nilüfer Göle Erinnerungen, im religiösen Habitus. Aber es handelt sich nicht um simple Konventionen, die immer schon da waren und die unbewusst von Generation zu Generation weitergereicht werden. Laut Pierre Bourdieu ist der Habitus auch eine Quelle für Improvisationen; dabei ist ein Prozess fortwährender Korrektur und Anpassung möglich.31 Der Islamismus improvisiert in doppelter Hinsicht mit dem muslimischen Habitus: Er markiert einen Bruch mit Traditionen, und er verschärft das muslimische Anderssein. Dieser Verschärfungsprozess ist es, der den Bereich des Habitus offen legt – seine religiösen wie seine säkularen Dispositionen. Das islamistische Kopftuch-Tragen widerspricht den traditionellen muslimischen Formen der Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit ebenso wie deren weltlichen, westlichen Formen. Die Art und Weise, wie Muslime sich heutzutage islamische Kleidungsvorschriften neu zu Eigen machen, illustriert solche Improvisationen – oder das, was Victor Turner »performative Reflexivität« nennt: nämlich einen »Zustand, in dem eine soziokulturelle Gruppe bzw. deren hellsichtigste, repräsentativ handelnde Mitglieder sich auf sich selbst rückbeziehen oder zurückwenden, auf die Beziehungen, Aktionen, Symbole, Bedeutungen und Codes, Rollen, Status, Sozialstrukturen, auf die ethischen und gesetzlichen Regeln und auf andere soziokulturelle Komponenten, die ihr öffentliches ›Selbst‹ ausmachen.«32 Der Auftritt der Islamisten hat insofern reflexiven Charakter, als man sich dafür Codes und Symbole kritisch aneignet, die in der religiösen Kultur eingebettet sind, und sich von der traditionellen Kultur distanziert. Die Verschleierungspraxis ist die Wiederherstellung einer Verbindung zu Traditionen der Vergangenheit, eine Erinnerung an die Religion und an geschlechtsspezifische Vorschriften wie schickliche Zurückhaltung, Reinheit und Beschränkung auf den privaten Raum. Doch das Kopftuch-Tragen entstammt nicht direkt den vorherrschenden kulturellen Sitten und vorgefertigten Konventionen. Im Gegenteil, es ist etwas Neues, das Ergebnis einer selektiven, reflexiven Einstellung – einer Einstellung, die die performativen Zeichen des »Andersseins« verstärkt und dramatisiert. Das Kopftuch-Tragen der Islamisten ist in Bezug auf die muslimischen Traditionen ebenso als Übertretung zu werten wie in Bezug auf die modernen Formen der Selbstdarstellung. Der Fall der jungen muslimischen Frauen in der europäischen Öffentlichkeit illustriert sehr schön das improvisierte, ausgehandelte Wesen der Verhüllung und der Kleidervorschriften in verschiedenen öffentlichen und lokalen Räumen. Sigrid Nökels Beitrag schildert, wie junge Mädchen aus Einwanderermilieus das islamische Kopftuch als strategisches Mittel zur Selbstdarstellung übernehmen, um sich selbst in der Öffentlichkeit als Musliminnen zu »outen«. Zugleich dient ihnen das Kopftuch, vor allem durch das Zurschaustellen einer modischen, ästhetischen Version islamischer Kleidung, auch als Mittel, um sich vom Bild der ungebildeten, von Männern beherrschten und ans Haus gefesselten Frauen aus der ersten Einwanderergeneration abzusetzen. So verändern junge muslimische Frauen, wie Nökel zeigt, das Bild der muslimischen Minderheit in Deutschland – kraft einer 31 Vgl. Craig Calhoun: »Habitus, Field, and Capital: The Question of Historical Specificity«, in: Craig Calhoun/Edward Li Puma/Moishe Postone (Hg.), Bourdieu: Critical Perspectives, Chicago 1993, S. 61-89. 32 Vgl. Victor Turner: The Anthropology of Performance, New York 1986, S. 24.

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Die sichtbare Präsenz des Islam und die Grenzen der Öffentlichkeit | 31 neu entdeckten Subjektivität und indem sie die essenziellen Vorstellungen von traditioneller islamischer Weiblichkeit dekonstruieren. Wenn der Körper das religiöse Anderssein zur Schau trägt, ist der öffentliche Raum die Bühne, auf der die islamische Subjektivität vorgeführt, verhandelt und vermittelt wird. Das islamische Selbst wird durch religiöse Disziplin geformt, doch ebenso sehr auch durch das Bemühen um Zugang zu den modernen Institutionen und um öffentliche Anerkennung. Wie die Biographien von Muslimen zeigen, hilft islamische Frömmigkeit, statt ein Hindernis darzustellen, im Gegenteil oft bei der Realisierung von Bildungsstreben und beruflichen Ambitionen. Denn die Schule wird als Raum empfunden, der dem individuellen Fortschritt ebenso dient wie dem gesellschaftlichen Aufstieg und der sozialen Integration. Die neuen islamischen Gestalten sind jene, die ein doppeltes symbolisches Kapital, ein religiöses wie ein weltliches, erworben haben. Dabei besteht das weltliche Symbolkapital aus Techniken der Selbstdarstellung, aus angemessenen Verhaltensweisen und beruflichem Wissen – Faktoren, die für Eingliederung und Kommunikation in modernen öffentlichen Räumen, von der Schule über den Arbeitsplatz bis hin zu den Medien und zum Parlament, unabdingbar sind. Wir können daher beobachten, dass muslimische Akteure sich über ihre traditionell gebundenen sozialen Lebenswelten hinaus bewegen – dass sie sich neuen räumlichen Erfahrungen aussetzen, ohne dabei ihre Besonderheiten aufzugeben. Einen idealisierten Islam erhalten sie als Merkmal ihrer Andersartigkeit aufrecht. Wir haben soziale Gruppen, die trotz gesellschaftlicher Mobilität am Islam festhielten, in Migrations- und unterschiedlichen nationalen Kontexten untersucht. Anders als die erste Generation von Islamisten, die kollektiv in politischen Organisationen agierte, operiert die zweite Generation im normalen öffentlichen Leben und verwendet entsprechende Techniken der Selbstdarstellung und der Kommunikation. Statt durch politische und doktrinäre Militanz wird das öffentliche Erscheinungsbild der Bewegung jetzt durch Islamisten bestimmt, die es im Beruf zu etwas gebracht haben, die kenntnisreiche Juristen sind, geschickt kommunizieren können oder über die Erfahrungen eines Unternehmers verfügen. Der Begriff »Islamist« ist nicht mehr in der Lage, alle Selbstdefinitionen und objektiven Daseinsbedingungen dieser neuen muslimischen Gestalten zu umfassen. Sie sind nur insofern ein Produkt der islamistischen Bewegung der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts, als sie ihre öffentliche Selbstermächtigung einer kollektiv mit Nachdruck vertretenen islamischen Andersartigkeit verdanken. Sobald sie sich jedoch in berufliche, kommerzielle und politische Lebensräume begeben, müssen sie sich über die vorgegebenen Vorschriften der islamischen Lebenspraxis und Politik hinaus bewegen. Hybridbildungen und ein Interessenausgleich zwischen islamischen Imperativen und weltlicher Lebenspraxis erschweren eine kollektive Definition islamischer Identität und tragen zum Entstehen neuer muslimischer Subjektivitäten bei, die als kritischer Reflex solcher Improvisationen zu sehen sind. Die Romane und Essays der zweiten Islamistengeneration legen Zeugnis ab von den inneren Konflikten zwischen kollektiver Betonung islamischer Identität und persönlichen Gefühlen, Bedürfnissen und Wünschen, die aus den neuen Lebenserfahrungen und aus neuen Erwartungen an das Leben erwachsen.

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32 | Nilüfer Göle Kenan Çayırs Beitrag über islamische Romane in der Türkei hebt den Unterschied zwischen zwei Epochen und Schriftstellergenerationen hervor. In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts waren Romane und Essays Erzählungen mit einer klaren Botschaft, die im Einklang mit dem vorherrschenden ideologischen Klima stand. Sie waren manichäisch geprägt mit ihrer Darstellung zweier getrennter, entgegengesetzter Wertesysteme – des westlich-säkularen und des islamisch-religiösen. Erzählt wurde von den Leiden muslimischer Menschen, aber mit dem didaktischen Ziel, Demütigung, Ausgrenzung und Unterdrückung in Erinnerung zu rufen. Die überwiegend männlichen Autoren kamen meistens aus ländlichen Gegenden. Çayır schreibt, dass demgegenüber in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts Autorinnen – darunter als bekannteste Cihan Aktas¸ und Halime Toros – engagiert die Frustrationen gebildeter Musliminnen darüber zum Ausdruck brachten, dass sie im beruflichen und urbanen Leben nicht so recht zum Zuge kamen; kritisiert werden in diesen Romanen männliche Protagonisten, die sich an die Moderne angepasst haben, die problemlos die Bärte rasieren und Schlips und Anzug tragen, während die ganze Last des islamischen Projekts auf den Schultern von Frauen ruht. Çayır zeigt, dass in diesen Romanen neben der Kritik am islamischen Radikalismus auch die politischen Definitionen eines kollektiven »Wir« in Frage gestellt werden. Überdies werden die inneren Geschlechtsrollenkonflikte in der Öffentlichkeit offen erörtert. Zum Repertoire dieser Romane gehören aber auch innere Dialoge über die eigene Identität und persönliche Gedanken. Die hochgespielten Bedeutungen des weiblichen Kopftuchs werden sorgfältig analysiert – was unter anderem dazu führt, dass eine der Figuren das Kopftuch abnimmt und das Schleiertragen hinfort ablehnt, obgleich sie innerlich am »Schleier« festhält, an einer personalisierten, verinnerlichten Form jener Moral, deren Ausdrucksform sonst der Schleier ist. Intimitäten zwischen Männern und Frauen und darauf gerichtete Wünsche und Sehnsüchte dringen in die kollektiven, öffentlichen Darstellungen der islamischen Identität ein und sorgen für Konflikte; gefragt sind innere Grenzziehungen von Ethik und Moral. Generell wird, ganz abgesehen von der Literaturkritik, im Medium von Romanen und Essays die Ausgestaltung einer privaten, persönlichen muslimischen Identität öffentlich gezeigt. Kulturelle Identitäten sind in der Praxis immer auch mit Räumen verbunden; die Forderungen nach neuen Wegen, das islamische Selbst zu disziplinieren und ihm zum Ausdruck zu verhelfen, gehen mit einer veränderten Nutzung von Räumen einher. Die Vorstellungen vom öffentlichen Raum als einer festen, stabilen Bühne, auf der sich abwechselnd die unterschiedlichsten Akteure tummeln, sind in dieser Form nicht haltbar. Denn das Auftreten von Neulingen, in unserem Fall von Muslimen, stellt die Grenzen des öffentlichen Raums in Frage – Erweiterung oder Einschränkung? – und verändert darüber hinaus auch die Bedeutung und Verwendung dieser öffentlichen Räume. Die von Ugur Kömeçoglu untersuchten islamischen Cafés verdeutlichen die Dialektik zwischen dem Auftreten eines neuen islamischen Selbst und bewussten Versuchen, Räume entsprechend neu zu gestalten. Kömeçoglu untersucht, wie zwei Cafés in Istanbul in den letzten Jahren zu exemplarischen Räumen für eine islamische Öffentlichkeit wurden. Neben Moschee und Basar ist auch das Kaffeehaus ein popu^

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Die sichtbare Präsenz des Islam und die Grenzen der Öffentlichkeit | 33 läres Erbe der osmanischen Vergangenheit. Kaffeehäuser waren öffentliche Räume, in denen man sich zur Erörterung weltlicher und religiöser Themen traf und seine Freizeit gestaltete. Doch heute sind es eher Cafés im westlichen Stil als traditionelle Kaffeehäuser, die den gebildeten Stadtbewohnern gefallen. Auch Islamisten sind gegen diese Vorliebe nicht ganz gefeit. Wie Kömeçoglu zeigt, erwecken islamische Cafés die Erinnerung an die alte Kaffeehauskultur zu neuem Leben: Man organisiert hier Kurse zur Koran-Interpretation, führt Diskussionen, in denen es um intellektuelle und literarische Ausdrucksformen des Islam geht. Gleichwohl sind diese Cafés auch Treffpunkte für beide Geschlechter, ein Ort, an dem unverheiratete junge Leute unkompliziert miteinander umgehen können, auch wenn sich daraus ein Problem ergibt: die Bewahrung der islamischen Moral. Der weibliche Körper und die Sexualität unterliegen weiterhin der Kontrolle, doch an die Stelle von räumlichen Arrangements und Geschlechtertrennung tritt, wie Kömeçoglu zeigt, allmählich ein Diskurs der Selbstdisziplinierung und der inneren Überzeugung – eine Entwicklung, die an die puritanische Dichotomie von Körper und Geist erinnert. Während das kulturelle Umfeld westlicher Cafés in Istanbul für Individualität, Zurschaustellung des äußerlichen Selbst und für säkulare, liberale Formen des gesellschaftlichen Umgangs steht, sind die islamischen Cafés so gestaltet, dass sie als Gegenraum zur weltlichen Atmosphäre dienen können. Laut Kömeçoglu wird hier der bewusste Versuch unternommen, sich von üblichen Cafés abzusetzen, indem religiöse Themen in den Mittelpunkt der Aktivitäten gerückt werden. Die Raumgestaltung folgt dem Konzept, aus einem Ort der Begegnung von Fremden einen halbprivaten Raum zu machen. Islamische Stiftungen (türkisch vakf, von arabisch waqf ) führen unser Verständnis der zentralen Bedeutung des Raumes für die Herausbildung einer islamischen Identität unter den Jugendlichen noch einen Schritt weiter. Ähnlich wie die islamischen Kaffeehäuser haben auch die religiösen Stiftungen ihre Wurzeln in der osmanischen und muslimischen Vergangenheit. In der heutigen türkischen Gesellschaft haben Stiftungen als zivilgesellschaftliche Einrichtungen Popularität und neue Funktionen gewonnen. Die von den Islamisten gegründeten Stiftungen kümmern sich um die Erziehung der studentischen Jugend nach islamischen Grundsätzen. Die Milli Gençlik Vakfı-Jugendstiftung etwa kümmert sich um Universitätsstudenten aus Anatolien. Sie stellt Wohnheime zur Verfügung, beschützt diese Jugendlichen auch sonst vor dem Großstadtleben und impft ihnen als Erziehungsmaßnahme überdies islamische Moral ein. Zu diesem Zweck werden Arbeitsgruppen, Lektürekurse und Diskussionsveranstaltungen organisiert, um die Geschichte des islamischen Denkens und des islamischen Rechts zu vermitteln. Man erwartet von den Studenten, dass sie eine Denkweise entwickeln, die das im Rahmen der Stiftungsaktivitäten erworbene islamische Wissen mit dem in den Universitäten erworbenen Wissen, insbesondere mit sozialwissenschaftlichen Kenntnissen, verschmilzt. Die in den Stiftungen vermittelte Erziehung, die sich nicht allein auf den Bereich islamischen Wissens beschränkt, sondern auch islamische Verhaltensweisen umfasst, ist Bestandteil der Identitätsbildung. Dieses doppelte Bildungskapital verleiht muslimischen Studenten ein Gefühl der Würde und Überlegenheit. Man bemüht sich auf diese Weise, den Nachteil der Neulinge in Stadt und Universität (meistens sind diese Jugendlichen die Ersten aus ihrer Familie, die studieren dürfen) in einen Vorteil zu ^

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34 | Nilüfer Göle verkehren. Die Stiftung fungiert indes nicht nur als zivilgesellschaftliche Mittlerorganisation, die dabei behilflich ist, neue kollektive Forderungen zu formulieren, die Interessen muslimischer Jugendlicher zu verteidigen und mit solchen Forderungen an die Öffentlichkeit zu gehen. Vielmehr ist sie als Organisatorin eines alternativen Lebensraums selbst als eigenständiger Raum anzusehen. Sie fungiert im Innern als eine Art Heimatersatz, nach außen hin als eine Art Alternativ-Universität für junge muslimische Studenten. Als Mittlerinstanz zwischen Innen und Außen ermöglicht sie ihren Studenten das Einhalten von räumlichen wie von Identitätsgrenzen.33 Die Bewahrung innerer Grenzen als Vorbedingung für die islamische Selbstermächtigung im Kontext der Moderne lässt sich gut am Beispiel der Nurcu-Bewegung zeigen, die zur Entstehung des Neo-Sufismus in der Türkei beitrug. Hakan Yavuz lässt uns mit seinen Analysen die Dynamik dieser Bewegung besser verstehen, sowohl was den Aufbau einer frommen individuellen Identität als auch was die Stärkung der Gemeinschaftsbindung betrifft. In so genannten Dershanes, Wohnheimen, Lesezirkeln und Studienzentren der Nurcu-Bewegung, werden die Schriften von Said Nursi unter Zugrundelegung eines verbindlichen gemeinsamen Vokabulars diskutiert. Generell bilden religiöse Texte den heiligen Kern für die Gemeinschaft der Muslime. Doch wie Hakan Yavuz zeigen kann, genügt der religiöse Text allein noch nicht. Vielmehr steht im Zentrum der Gemeinschaftsbildung das gemeinsame Praktizieren dieses Glaubens. Das Gemeinschaftsgefühl entsteht bei der Ausführung gemeinschaftlicher Aktivitäten – Gebet, gemeinsame Mahlzeiten, Gespräche (sohbet) – und durch ökonomische Aktivitäten nach islamischen Vorschriften. Diese religiösen Studienzirkel als urbane Netzwerke des sunnitischen Islam wollen das Alltagsleben nach islamischen Vorstellungen, nach islamischem Idiom und islamischer Praxis formen; sie stehen für religiös geprägte Territorien und fromme Individuen und schaffen Wege der Ermächtigung in wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und bildungsmäßiger Hinsicht. Auf diese Weise haben sie teil an der Hervorbringung muslimischer Eliten. Der individuelle muslimische Glaube als Instanz, die ein Gefühl gemeinschaftlicher Stärkung und sozialer Handlungsmacht vermittelt, ist in europäischen Kontexten noch stärker ausgeprägt. Denn hier bietet die Affiliation mit dem Islam Jugendlichen aus Einwanderermilieus die Möglichkeit, sich von nationalen Affiliationen zu distanzieren. Dies verspricht Befreiung aus der traumatischen kolonialen Vergangenheit oder vom demütigenden Image des Türken oder Algeriers (in Ländern wie Deutschland und Frankreich). In europäischen Kontexten steht der Islam bei jungen Muslimen für universalistische anstelle nationalistischer Neigungen; er bietet ihnen Orientierungshilfe in modernen öffentlichen Räumen. Nikola Tietze argumentiert in ihrem Beitrag, dass eine Kombination von Glaubensstärke und Zusammengehörigkeitsgefühl sich im Verhalten junger Muslime in Frankreich und Deutschland wechselseitig bestärkt. Sie beschreibt, wie Religiosität in einen Verhaltenskodex für den Alltag übersetzt wird, wie daraus eine Ethik des Lebensstils wird. Dabei ergeben sich Möglichkeiten einer Grenzziehung zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem, wodurch 33 Vgl. den für die englische Ausgabe dieses Bandes vorgesehenen Beitrag von Buket Türkmen; die Milli Gençlik Vakfı-Website ist www.mgv.org.tr.

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Die sichtbare Präsenz des Islam und die Grenzen der Öffentlichkeit | 35 die jungen Muslime in europäischen Gesellschaften verankert werden und Orientierung gewinnen. Die Auswirkungen des Heiligen bei der Veränderung des Lebens junger Muslime nehmen bisweilen dramatische Ausmaße an. Die jungen Prediger der TablighBewegung in Frankreich können als Beispiel für einen solchen dramatischen Wandel dienen. Wir haben es hier mit einer radikalen Umkehrung von Stigmata zu tun, mit einem grundlegenden Wandel der Lebensbedingungen – von Delinquenz zum Glauben und zur Nachahmung von Leben und Taten des Propheten. Moussa Khedimellah erläutert in seinem Beitrag, wie die Religion für junge Immigranten ohne Bildungsmöglichkeiten und Arbeitsplatz zur Rettung wird. Im Gegensatz zum unstrukturierten, monotonen alltäglichen Zeitvertreib dieser Gruppe bietet die Religion einen strukturierten Raum und eine innere Organisation. Es kommt für diese jungen gesellschaftlichen Außenseiter fast schon einer religiösen Konversion gleich, die Schwelle zur örtlichen Moschee zu überschreiten, statt in Cafés und Diskotheken herumzuhängen. Bei den Forschungen zu diesen jungen Pilgern zeigt sich erneut, wie die Religion einen individuellen Subjektwerdungsprozess gestaltet – durch Disziplinierung mittels asketischer Praktiken, durch Keuschheitsprinzipien, Ernährungseinschränkungen, genaue Einhaltung der Reinheitsvorschriften, durch einen spezifischen Sprachgebrauch. All diese körperlich verankerten Aspekte werden durch den Körper in religiös gestalteten Räumen auch nach außen vermittelt und zeigen auf diese Weise öffentliche Wirkung. Muslime, die sich in säkularen öffentlichen Umfeldern wiederfinden, in europäischen Ländern, aber auch in der Türkei, unterliegen beim Aufbau ihrer religiösen Identität und bei der gemeinschaftlichen Ausübung ihres Glaubens Einschränkungen. Sie müssen sich nach ihrem eigenen Rhythmus einen eigenen Raum schaffen und diesen im Einklang mit ihren jeweiligen Ambitionen auch selbst regeln. Sie suchen nach Wegen, religiöse und säkulare Lebensräume zu kombinieren und in beiden Räumen zu verkehren. Nach Sigrid Nökels Beobachtungen in Deutschland ist man, wie es ein Mädchen aus dem türkischen Einwanderermilieu formulierte, als Muslimin »ein wenig anders, aber auch ganz normal wie die anderen« (Deutschen). Diese Ambivalenz und die ständigen Strategieverschiebungen zwischen Anderssein und Gleichsein sind typisch für die Praktiken und Identitäten von Muslimen in weltlich-pluralistischen Kontexten. Das Unbehagen, welches die neue Generation von Muslimen verspürt, wenn sie moderne Räume betritt, sei es eine deutsche Schulklasse oder ein westliches Café in Istanbul, lässt eine Spannung zwischen ihrem häuslichen Habitus und diesen öffentlichen Räumen entstehen. Abbauen lassen sich solche Spannungen, wenn die Muslime sich alternative Räume schaffen, in denen sie aufs Neue lernen können, ihr inneres Selbst mit äußerlichen – körperlichen wie räumlichen – Praktiken zu verbinden. Man zeigt ihnen dort, wie sie ihre muslimische Stigmatisierung umkehren und daraus in Kaffeehäusern, Stiftungen und Studienhäusern eine subalterne Überlegenheit machen können – in Räumen, die dazu dienen, Ambivalenzen zwischen Gleichsein und Anderssein in Bezug auf moderne weltliche Lebensräume zum Ausdruck zu bringen, aber auch sie auszugleichen und neu auszuhandeln.

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36 | Nilüfer Göle Die Bezeichnungen dieser Räume und die entsprechenden Übersetzungen verweisen auf eine Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart, aus umgangssprachlichem und globalem Sprachgebrauch, aus dem Erbe traditioneller Institutionen und deren neu gewonnener Popularität in zeitgenössischen Kontexten. Es handelt sich also nicht nur um ein sprachliches Problem, eines der Übersetzung aus der Volkssprache ins Englische oder ins Deutsche, sondern auch um ein sachliches Problem – die korrekte Relation von früheren und heutigen Verwendungen solcher Räume und Bezeichnungen, die ihre Namen und Wurzeln in der muslimischen Vergangenheit haben: Vakf (religiöse Stiftung), kıraathane (Kaffeehaus) und medrese (religiöse Schule) spielten als autonome wie als vermittelnde gesellschaftliche und öffentliche Räume eine ganz entscheidende Rolle. Die Begegnung mit der europäischen Moderne bedeutete, dass sich zu Lasten dieser traditionellen Lebensräume und Organisationen ein europäisch geprägtes Erziehungswesen und europäisch geprägte Freizeitaktivitäten etablierten. Die Verbindungen zu den sozialen Institutionen der muslimischen Vergangenheit werden jedoch in heutigen Kontexten geschaffen und erfordern darum einen Prozess der Erfindung und Übertragung. Die heutigen islamischen Institutionen sind darum weder direkte Nachfahren der traditionellen Kaffeehäuser, religiösen Schulen und Stiftungen noch reine Nachahmungen westlicher Cafés, Nichtregierungsorganisationen und Jugendverbände. Solche Räume definieren sich auch durch Konfliktbeziehungen mit der vorherrschenden Öffentlichkeit; sie fungieren als alternative Öffentlichkeiten, als »GegenRäume«, in denen die dort maßgebenden sozialen Gruppen kollektiv ihre Identitätspolitik betreiben. Laut Nancy Fraser erfinden und verbreiten die Mitglieder untergeordneter gesellschaftlicher Gruppen, Frauen wie Arbeiter, Farbige wie Schwule und Lesben, in solchen Gegen-Räumen Gegen-Diskurse, um ihre oppositionellen Deutungen der eigenen Identität zu formulieren.34 Zur eigenen Identitätsbildung ist ein gewisser Rückzug aus der allgemeinen Öffentlichkeit erforderlich. In halbprivaten Räumen, die nicht jedermann zugänglich sind, sondern nur jenen, die ein bestimmtes Zugehörigkeitsgefühl zum Islam haben, wird das muslimische Selbst geformt und von Tag zu Tag ausagiert, wobei das islamische Stigma in eine Quelle des Selbstvertrauens und der Ermächtigung verwandelt wird – durch eine aktive Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Modellen von Öffentlichkeit. Diese GegenRäume bieten muslimischen Akteuren eine Bühne, auf der sie ihre neuen Rollen, Kostüme und Dialoge erproben und durchdenken können. Freilich kommen diese Gegenöffentlichkeiten auch in anderen öffentlichen Bereichen zum Ausdruck, denn muslimische Frauen, Studenten und Berufstätige bewegen sich ja auch in anderen Räumen und benutzen dementsprechend unterschiedliche Kommunikationsgrammatiken. Dabei kombinieren sie islamische und weltliche Selbstdisziplin, islamische und weltliche Zurschaustellung. Das Offenbarungswissen, also der Wahrheitsanspruch der Religion, wird als Quelle der Argumentation zum Dreh- und Angelpunkt; es bietet einen Rahmen 34 Vgl. Nancy Fraser: »Rethinking the Public Sphere: A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy«, in: Craig Calhoun (Hg.): Habermas and the Public Sphere, Cambridge, MA 1992, S. 109-142.

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Die sichtbare Präsenz des Islam und die Grenzen der Öffentlichkeit | 37 nicht nur für das Anderssein, sondern auch für Überlegenheitsgefühle gegenüber anderen, »normalen« Menschen (womit moderne, weltlich orientierte Bürger gemeint sind). Die islamische Art und Weise, das religiöse Selbst zu inszenieren, ist darum auch Ausdruck muslimischer Ambitionen und Wünsche nach kultureller Distinktion und sozialer Anerkennung. Offenkundig spielt ökonomische Macht eine entscheidende Rolle bei der Überwindung sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit, aber es ist, um mit Max Weber zu sprechen, keineswegs »die ›bloß‹ ökonomische Macht, namentlich die ›nackte‹ Geldmacht«, welche »soziale Ehre« verschafft.35 Im Fall des Islam wird die Klassendimension im Bereich des Interkulturellen ausgespielt – im zivilisatorischen Disput über die ethischen und ästhetischen Definitionen des Selbst. Die Iranische Revolution von 1979 ist ein Paradebeispiel für die durch Mobilisierung religiöser Handlungsmacht und religiöser Ressourcen ermöglichte kollektive Suche nach alternativen Möglichkeiten politischer Herrschaft, nach sozialem Zusammenhalt und Zivilisationscodes. Die islamische Revolution leitete ihre Kraft und Legitimität aus ihrer Fähigkeit zur politischen Mobilisierung und zum sozialen Konflikt her, aber auch aus der moralischen Grammatik, über die sie verfügte – indem sie eine höhere Form des Lebens für den Einzelnen und für die Nation versprach. Nach der Revolution wurde die Öffentlichkeit zum Ort, an dem der Staat die kulturellen Codes der neuen Republik inszenierte und durchsetzte. Die Übernahme der islamischen Kultur und ihrer Vorschriften durch die neuen Herrscher bedeutete auch eine Ausweitung des autoritären Blicks und der autoritären Regeln auf das Alltagsleben der normalen Menschen auf der Straße. Die politische Regelung der Moral fand auf der Straße, in öffentlichen Parks, Schulen und Bussen statt, wo die Verschleierung der Frauen ebenso streng kontrolliert und korrigiert wurde wie das Verhalten der Geschlechter zueinander. Religiöse Vorschriften, aber auch die Hetze gegen die »Vergiftung durch den Westen« (Galâl Âl-e Ahmad) bestimmten die Liste unzulässiger Verhaltensweisen, wobei das Spektrum vom Verhalten der Geschlechter über Konsummuster und Freizeitaktivitäten bis zu künstlerischen Ausdrucksformen reichte. Das autoritäre Wesen der Öffentlichkeit im Iran lässt sich indes nicht ohne weiteres mit einer schwach ausgeprägten Neigung muslimischer Gesellschaften für den Aufbau autonomer Öffentlichkeitssphären erklären. Im Gegenteil. Wie Shmuel Eisenstadt in seinem Beitrag zeigt, entwickelten muslimische Gesellschaften der Vergangenheit im direkten Umfeld der Gemeinschaft der Gläubigen eine sehr lebendige autonome Öffentlichkeitssphäre. Die Rechtsschulen, die Sufi-Orden, die religiösen Stiftungen bildeten nach Ansicht der Islamhistoriker Bereiche des öffentlichen Lebens, die vom jeweiligen Herrscher nicht vollständig kontrolliert wurden. Eisenstadt lenkt in seinem Beitrag unsere Aufmerksamkeit auf die Vielfalt informeller Bindungen, direkter physischer Interaktionen und Begegnungen in den unter religiöser Kontrolle stehenden Öffentlichkeitsbereichen. Ferner weist er darauf hin, dass die politische Herrschaft und die für die Aufrechterhaltung der moralischen Ordnung in ^

35 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. rev. Aufl. Tübingen 1976, S. 531.

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38 | Nilüfer Göle der Gemeinschaft zuständige Herrschaft der Rechtsgelehrten (ulema) voneinander getrennt waren. In dieser Hinsicht bedeutete die Iranische Revolution das Ende einer Reihe traditionell teilweise autonomer Öffentlichkeitsbereiche – zugunsten einer Vereinheitlichung des politischen und des religiösen Bereichs in einem homogenen Nationalstaat. In gewisser Weise vollendete erst die Iranische Revolution den Aufbau des iranischen Nationalstaats, indem sie der Monarchie ein Ende setzte und sich für die Vereinheitlichung der Staatsmacht sowie für die Homogenisierung von Bildung und Kultur einsetzte. Ich muss daran erinnern, dass derselbe Prozess unter säkularen Vorzeichen zuvor auch schon in der Türkei abgelaufen war – in der kemalistischen Revolution von 1923, einer Revolution, die der Herrschaft osmanischer monarchischer Eliten ein Ende setzte, die die religiöse Legitimation des Kalifats beseitigte, die die traditionellen öffentlichen Netzwerke im Umfeld der Religion zerschlug und die in der nationalen Öffentlichkeit weltliche Verhaltensregeln durchsetzte. Nach zwei Jahrzehnten islamischer Revolution im Iran werden die autoritäre Gestaltung und Überwachung der Öffentlichkeit sowie die Einheit der moralischen Gemeinschaft in Frage gestellt – durch eine Vielzahl sozialer Gruppen, die vom politischen Islam enttäuscht sind. Farhad Khosrokhavar zeigt in seinem Beitrag, wie die nichtreligiösen Affekte und Einstellungen der städtischen Jugend weltliche Praktiken fundieren, während im intellektuellen Bereich religiöse Denker nach Wegen suchen, um die Trennung von Religion und Politik im Rahmen des Islam begrifflich zu untermauern. Mahnaz Shirali untersucht den politischen Widerstand der Jugend gegen die tägliche Unterdrückung – wobei Übertretungen des religiösen Codes als Ausdruck von Individualität, von nichtreligiösen Affekten und Verfahrensweisen gelten: So werden Freude, Lachen und bunte Kleidung zu Gesten des Widerstands. Religiöse Trauerzeremonien werden von der Jugend genutzt, um sie subversiv in Unterhaltungsmöglichkeiten zu verwandeln, in unverfängliche Gelegenheiten, Angehörige des anderen Geschlechts zu treffen. Auf ähnliche Weise sind auch Fußballspiele zu öffentlichen Vergnügungen und einem Ort der Begegnung zwischen den Geschlechtern geworden. Elham Gheytanchi konzentriert sich in ihrem Beitrag auf Wege und Möglichkeiten für Frauen, während und nach der Revolution an die Öffentlichkeit zu gelangen. Durch Untersuchung von Frauenzeitschriften, aber auch mit Beispielen aus Filmen und Romanen zeigt sie, wie in solchen mentalen Räumen Tabuthemen angesprochen und Rechte geltend gemacht werden können. Zugleich sind Zeitschriften, Filme und Romane natürlich auch physische Orte, an denen Frauen als Autorinnen, Filmemacherinnen, Schauspielerinnen und Beobachterinnen des öffentlichen Lebens auftreten können.

Das Private im öffentlichen Raum: Die Aufrechterhaltung von Grenzen Hauptgegenstand des vorliegenden Bandes sind Analysen und Beobachtungen zur Handlungsweise zeitgenössischer muslimischer Akteure, die in unterschiedlichen Kontexten und auf unterschiedliche Weise neue Wege gefunden haben, sich in der

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Die sichtbare Präsenz des Islam und die Grenzen der Öffentlichkeit | 39 Öffentlichkeit zu positionieren – nicht nur durch den Anspruch auf Zugang zu und Teilhabe an einer bereits existierenden Öffentlichkeit, sondern auch durch Reaktivierung traditioneller öffentlicher Räume (vakf, medrese, Kaffeehaus), durch Unterwanderung vorhandener (Universitäten, aber auch Moscheen und religiöse Zeremonien) und Eroberung neuer öffentlicher Räume (öffentliche Parks, Strände, Berge). Auf diese Weise werden alternative Öffentlichkeiten neu geschaffen oder neu gestaltet. Aus der Vielfalt dieser Räume ergibt sich eine entscheidende Frage, nämlich die, wann und nach welchen Kriterien ein Raum eigentlich als »öffentlich« zu gelten hat. Auf der Grundlage der hier vorgelegten Untersuchungen kann man sagen, dass ein Raum in dem Ausmaß »öffentlich« wird, wie diverse soziale Gruppen ihn benutzen und beanspruchen und wie die Kontrolle über diesen Raum umstritten ist – zwischen unterschiedlichen Perspektiven und Formen des Imaginären, die miteinander in Konflikt liegen. In unserem Fall geht es um den Konflikt zwischen säkularen und religiösen Weltsichten. Der Begriff des Raumes ist immer auch im Zusammenhang mit Machtfragen, mit Mehrheits- und Minderheitssituationen und Problemen kultureller Differenz zu sehen. Wenn im vorliegenden Band mehr von »öffentlichen Räumen« als allgemein von »Öffentlichkeit« oder »Öffentlichkeitssphären« die Rede ist, so kommt darin auch eine unserer Arbeitshypothesen zum Ausdruck, nämlich dass der Begriff »Öffentlichkeit« nicht irgendein abstraktes Ideal bleiben, sondern dass er in ein Objekt für konkrete Beobachtungen verwandelt werden sollte – eines, in dem sich soziale Beziehungen manifestieren, Klassenbeziehungen ebenso wie kulturelle Unterschiede. Christian Geulen erörtert in seinem Beitrag, dass der Begriff des Raumes im Werk von Hannah Arendt schon eine Garantie dafür ist, dass zum einen dieser Raum von verschiedenen Menschen geteilt wird und dass zum anderen die verschiedenen Standpunkte dieser Menschen miteinander unvereinbar sind. In Hannah Arendts Worten: »Eine gemeinsame Welt […] existiert überhaupt nur in der Vielfalt ihrer Perspektiven.«36 Diese Doppelfunktion als Versammlungsort und zugleich trennender Raum ist laut Geulen von entscheidender Bedeutung, wenn man über die Beziehung zwischen öffentlichem Raum und kulturellen Unterschieden nachdenken will. Die Frage, wie man ein soziales Band zum »Anderen« knüpfen kann, der als andersartig, als »Fremder« empfunden und darum »ausgeschlossen« wird, ist eine wesentliche Frage der Demokratie. Öffentlichkeit als politische Kategorie leitet ihre intellektuelle Popularität und politische Bedeutung aus dem darin enthaltenen demokratischen Versprechen her, aus gesellschaftlicher Diversität eine gemeinsame Welt zu schaffen. Die inneren Verbindungen zwischen Öffentlichkeit, Moderne und Demokratie dürfen jedoch in nichtwestlichen Kontexten nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Eine starke Öffentlichkeitssphäre ist nicht unbedingt ein Beleg für Moderne oder Demokratie. In der republikanischen Öffentlichkeit der Türkei zum Beispiel wurden das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl (im Unterschied zum Staatsgefühl der Untertanen eines Großreiches wie des Osmanischen Reiches) sowie ein weltlicher Lebensstil unterstrichen und durch eine weltliche Verfassung 36 Vgl. Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960, S. 57. (Engl. The Human Condition, Chicago 1958.)

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40 | Nilüfer Göle garantiert. Gleichwohl litt und leidet das öffentliche Leben unter mangelnder Anerkennung des politischen, religiösen und ethnischen Pluralismus. Die eingebauten Spannungen zwischen öffentlichem Säkularismus und demokratischem Pluralismus lassen sich im Aufbau des öffentlichen Raumes noch gut erkennen. Im Iran ist es dagegen der religiöse Nationalismus, der die Öffentlichkeit im modernen Sinn einer Homogenisierung formt, wenngleich durch massiven Einsatz der Machtmittel des Staates. Im Westen führte Kritik an den universalistischen Prämissen des Öffentlichkeitsbegriffs sowie an dessen »Blindheit« gegenüber Geschlechts-, Klassen- und ethnischen Unterschieden dazu, dass Potenzial und Versprechungen der demokratischen Öffentlichkeitssphäre sogar noch ausgeweitet wurden.37 Die Debatten über den Multikulturalismus sind Teil dieser Bemühungen um Anerkennung von Unterschieden, auch Teil der Kritik am westlichen Universalismus. Gleichwohl »normalisiert« und verschweigt der Universalismusanspruch des Westens einen Bereich kultureller Stigmatisierung, der nur vom Standpunkt nichtwestlicher Kritik seitens postkolonialer oder islamischer Betrachter erkannt und offengelegt werden kann. Denn akzeptable Darstellungsweisen des Selbst und des Körpers und akzeptable Regelungen für öffentliche Räume erlangen ihre Bedeutung, je nachdem was bei der westlichen Unterscheidung zwischen »zivilisierten« und »unzivilisierten« Verhaltensweisen als die höhere Form des modernen Lebens gilt. Der Begriff der Zivilisation, in sich durchaus nicht neutral und angesichts der Diversitäten – etwa zwischen indischer, islamischer und französischer Zivilisation – eher asymmetrisch, bewirkt eine hierarchische räumliche Ordnung, die, historisch von der westlichen Erfahrung der Moderne determiniert, normativen Setzungen und kontingenter sozialer Machtausübung folgt. In diesen Bereich, in dem das Selbst und die Zivilisation entstehen, soll unser Projekt etwas Licht bringen. Die Beiträge von Geulen und Tabboni beschäftigen sich mit kritischen Lesarten des westlichen Öffentlichkeitsbegriffs, wobei die Autoren ihren Blick zwischen den Grenzbereichen der westlichen und der islamischen Praxis hin und her schweifen lassen. Simonetta Tabboni lenkt, indem sie sich auf den Begriff des Fremden mit seiner Ambivalenz von Nähe und Distanz konzentriert, unsere Aufmerksamkeit auf den Bereich der inneren Beziehungen und wechselseitigen Abhängigkeiten von Mehrheitsidentität und Anderssein der Minderheit. Sie zeigt, wie die westlichen Regeln für die Präsentation des Körpers in der Öffentlichkeit als selbstverständlich und universal gültig angesehen werden. Dabei werden gerade durch den Körper unterschiedliche persönliche Lebensgeschichten und unterschiedliche Geschichten kultureller Gruppen sichtbar und für den öffentlichen Blick unterscheidbar gemacht. Als physische und kulturelle Realitäten widersetzen sich Körper der Nivellierung und dem Verschweigen von Unterschieden in Sprachen, Meinungen und Ideen; Körper haben in diesem Sinne etwas Subversives an sich. Öffentliche Räume werden zu Auftrittsräumen, in denen die asymmetrischen Machtbeziehungen zwischen weltli-

37 Vgl. Craig Calhoun, »Introduction«, in: Craig Calhoun (Hg.): Habermas and the Public Sphere, Cambridge, MA 1992, S. 1-48.

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Die sichtbare Präsenz des Islam und die Grenzen der Öffentlichkeit | 41 chen und religiösen Akteuren, weltlichen und religiösen Formen des Imaginären zur Schau gestellt werden. Abschließend sei nochmals auf den gemeinsamen Ansatz der vorliegenden Studien verwiesen. Der öffentliche Raum wird nicht als etablierter Raum, als vorgefertigte Arena angesehen, sondern die Untersuchungen gelten seiner Konstituierung und Neuaushandlung durch Auftritte – durch Mikropraktiken, die auch eine Art öffentlicher Auftritt sind. Wie bereits dargestellt, gibt es einen Unterschied zwischen Muslimen und Islamisten: Islamist zu sein, heißt immer auch, seine Identität bewusst herauszustellen. In diesen Zusammenhang gehören auch die kollektive Konstruktion, Zusammenstellung und Neuinszenierung symbolischer Materialien, um Andersartigkeit zu signalisieren. Die Symbole des muslimischen Habitus werden neu gestaltet, selektiv verarbeitet und öffentlich inszeniert. Die impliziten Dimensionen des gesellschaftlichen Imaginären, die Aspekte, die im Habitus einer Bevölkerung – in der Art und Weise, wie man sich anredet, wie man lebt und wohnt – sowie im Geschmack verkörpert sind, sie alle werden bei öffentlichen Auftritten zu expliziten Merkmalen gemacht. Die öffentliche Sphäre wird so zu einem Raum für die Herstellung islamischer Identität und für die Zurschaustellung des islamischen Habitus, in bewusster Absetzung vom verwestlichten Selbst. Körper und Raum werden zu Foren für die Ausarbeitung von Aufführungen, für den Transfer von Vergangenem in die Gegenwart, von Religiösem in den sozialen und von Persönlichem in den gemeinschaftlichen Bereich. Das Hauptanliegen dieses Buches ist die Untersuchung, wie historische Prägung und stigmatisierte Identität in soziale Praktiken, eingebettete Symbole und räumliche Regelungen übertragen werden. Diskursive Praktiken, also Berichte und Erzählungen, sind uns nur insoweit wichtig, als sie nichtverbale Praktiken begleiten und kritisch reflektieren. Anders als die ideologischen Konstrukte und didaktischen politischen Botschaften der Islamisten der ersten Generation vermitteln die Fallstudien im vorliegenden Buch Einsichten in das persönliche und intellektuelle Engagement muslimischer Frauen und Schriftsteller, die über ihre eigenen Praktiken und Widersprüche reflektieren. Hier dient nicht – wie bei den Islamisten der ersten Generation – das vergangene Goldene Zeitalter des Islam als Bezugspunkt und Grundlage für ein Alternativmodell, vielmehr sind Gegenstand unserer kritischen Betrachtung die Gegenwartsprobleme, denen sich muslimische Akteure stellen müssen. Die Islamisten der zweiten Generation engagieren sich im Sinne einer kritischen Reflexivität, indem sie sich mit ihren eigenen ambivalenten emotionalen Konstruktionen und mit ihren hybriden Erfahrungen in einer Welt zwischen Islam und Moderne auseinandersetzen. Die empirischen Fallstudien stammen aus drei typologisch kontrastierenden Regionen: der säkularisierten Türkei, dem entsäkularisierten nachrevolutionären Iran und Europa als pluralistischer Diaspora für muslimische Einwanderer. Doch mehr als die Unterschiede zwischen diesen Regionen beschäftigen uns hinsichtlich des Islam im öffentlichen Raum die konvergierenden Aspekte. In allen Fällen ähneln sich die muslimischen Akteure sehr (Jugendliche, Frauen, Freiberufler, Intellektuelle, bürgerliche Mittelschichten); ein Produkt der ersten Welle der islamistischen Bewegung sind sie nur insoweit, als sie ihre Identität zur kollektiven Bewegung und zur Revolution in Beziehung (oder in Kontrast) setzen. Sie kultivieren ihr religiöses

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42 | Nilüfer Göle Idiom und ihre Selbststilisierung in Gegenräumen, darum dient die Religion ihrer Identität ebenso wie ihrer sozialen Ermächtigung. Sie haben sich weltliches Wissen und westliche Techniken der Selbstdarstellung und der Kommunikation in modernen öffentlichen Räumen – Schulen, Universitäten, Parlament und Massenmedien – angeeignet. Statt in puncto Reinheit und Authentizität in Entweder-Oder-Kategorien zu denken und zu handeln, bedienen sie sich einer Logik von Fusion und Ambivalenz. Sie wechseln zwischen verschiedenen Lebensräumen hin und her. Im Fortschreiten des Islam kann man drei Stadien unterscheiden: Der Islam als vorgefertigte, in ein traditionelles Leben eingebettete Identität (erstes Stadium) wird zur kollektiven politischen Bezugsgröße all jener, die daraus eine soziale Bewegung und ein gesellschaftliches Imaginäres machen, den Islamismus (zweites Stadium). Für moderne Muslime wird der Islam zu einer Kraft, mit deren Hilfe sie bei ihrer Begegnung und Auseinandersetzung mit der Moderne ihr Inneres wie ihr Äußeres ordnen (drittes Stadium). Dabei ist eine personalisierte Glaubensbeziehung nicht unbedingt auch eine ins Private verlagerte; vielmehr wird sie durch gemeinschaftliche Aktivitäten getragen und in öffentlichen Räumen zur Schau gestellt. Der Islam führt zu Wandlungen und fundamentalen Bedeutungsverschiebungen in den modernen Definitionen von Privatsphäre und Öffentlichkeit. Ein öffentlicher Islam muss die Grenzen des Innenraums, die Grenzen zwischen der Privatsphäre des intimen Raumes und dem mit geschlechtlichen Tabus belegten Außenraum, neu definieren und gestalten. Die Wahrung der Grenzen islamischer Moral und islamischer Privatheit auch im öffentlichen Raum ist bei dieser Verschiebung von Innen- und Außenraum, von Privatem und Öffentlichem von überragender Bedeutung. Ludwig Ammann legt in seinem Beitrag den historischen und kulturellen Hintergrund für eine solche Artikulation des Privaten und Öffentlichen im Islam dar. Islamische Städte entwickeln, so Ammann, anders als westliche Städte eine Reihe von Strategien für den gesellschaftlichen Umgang mit Fremden und für ein anonymes öffentliches Leben: indem sie den Bereich des Fremden privatisieren und begrenzen, Städte als Ansammlung von Vierteln organisieren und den Körper in der Öffentlichkeit so managen, dass dieses Management als mobiler Schutzschild der Privatsphäre wirkt. Verschleierung der Frauen, Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum, Kontrolle der gesellschaftlichen Aktivitäten Fremder und der Begegnungen zwischen den Geschlechtern, puritanische Kontrolle über Körper und Verführungsmöglichkeiten durch Kleidungs- und Verhaltensvorschriften, aber auch Kontrolle über Alkoholkonsum und Musik – all dies trägt zur Einschränkung der öffentlichen Bewegungsfreiheit und Selbstdarstellung bei. Daraus ergeben sich Konflikte mit den emanzipatorischen, liberalen Definitionen von moderner Identität sowie mit den Prinzipien von Öffentlichkeit und Bewegungsfreiheit für Fremde im Kontext eines westlichen öffentlichen Raumes. Ob diese Divergenz zwischen dem islamischen und dem liberalen Modell des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft in einer im Entstehen begriffenen gemeinsamen gesellschaftlichen Welt ausgeglichen werden kann, oder ob im Gegenteil ein Bruch die bereits bestehenden zivilisatorischen Unstimmigkeiten noch weiter vertieft und dabei die universalistischen Grundlagen der Moderne in ihren Grundfesten erschüttert, bleibt abzuwarten. Einstweilen erkundet der vorliegende Band die kreativen Spannungen, die aus den Erfahrungen von Muslimen mit

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Die sichtbare Präsenz des Islam und die Grenzen der Öffentlichkeit | 43 der Moderne erwachsen. Dabei werden neue Denkansätze ins Spiel gebracht, die die nur auf eine einzige Zivilisation abgestellten Definitionen des modernen Selbst und des öffentlichen Raumes überwinden.

Literatur Arendt, Hannah: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960. (Engl. The Human Condition, Chicago 1958.) Asad, Talal: Genealogies of Religion: Discipline and Reasons of Power in Christianity and Islam, Baltimore/London 1993. Bourdieu, Pierre/Passeron, Jean-Claude: La reproduction: Éléments pour une théorie du système d’enseignement, Paris 1970. Bourdieu, Pierre: Ce que parler veut dire, Paris 1982. Brown, Daniel W.: Rethinking Tradition in Modern Islamic Thought, Cambridge 1996. Calhoun, Craig (Hg.): Habermas and the Public Sphere, Cambridge, MA 1992. Calhoun, Craig: »Introduction«, in: Craig Calhoun (Hg.), Habermas and the Public Sphere, Cambridge, MA 1992, S. 1-48. Calhoun, Craig: »Habitus, Field, and Capital: The Question of Historical Specificity«, in: Craig Calhoun/Edward Li Puma/Moishe Postone (Hg.), Bourdieu: Critical Perspectives, Chicago 1993, S. 61-89. Castoriadis, Cornelius: L’institution imaginaire de la société, Paris 1975. (Dt. Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt am Main 1984.) Chakrabarty, Dipesh: Habitations of Modernity: Essays in the Wake of Subaltern Studies, Chicago/London 2002. Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation, 2 Bde., Basel 1939, ern. Frankfurt am Main 1976, Erster Band: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. (Engl. The History of Manners: The Civilizing Process, New York 1978, Bd. 1.) Fine, Gary Alan: »Public Narration and Group Culture: Discerning Discourse in Social Movements«, in: Hank Johnston/Bert Klandermans (Hg.), Social Movements and Culture, Minneapolis, MN 1995, S. 127-143. Fraser, Nancy: »Rethinking the Public Sphere: A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy«, in: Craig Calhoun (Hg.), Habermas and the Public Sphere, Cambridge, MA 1992, S. 109-142. Goffman, Erving: Stigma: Notes on the Management of Spoiled Identity, New York 1963. (Dt. Stigma: Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt am Main 1967, 2003.) Goffman, Erving: Behavior in Public Places: Notes on the Social Organization of Gatherings, New York 1966. Huntington, Samuel: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996. (Dt. Kampf der Kulturen, München 1996.) Kepel, Gilles: Jihad: Expansion et déclin de l’islamisme, Paris 2000. (Dt. Das Schwarzbuch des Dschihad: Aufstieg und Niedergang des Islamismus, München 2002.)

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44 | Nilüfer Göle Khosrokhavar, Farhad/Roy, Olivier: Iran: Comment sortir d’une révolution religieuse, Paris 1999. Mazlish, Bruce: »Civilization in a Historical and Global Perspective«, in: International Sociology 16 (2001), S. 293-300. Roy, Olivier: L’échec de l’islam politique, Paris 1992. Taylor, Charles: Sources of the Self: The Making of Modern Identity, Cambridge, MA 1989. (Dt. Quellen des Selbst: Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt am Main 1994.) Taylor, Charles: Varieties of Religion Today, Cambridge, MA 2002. (Dt. Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt am Main 2002.) Touraine, Alain: The Voice and the Eye: An Analysis of Social Movement, Cambridge 1981. (Frz. La voix et le regard, Paris 1978.) Touraine, Alain: Critique de la modernité, Paris 1992. Turner, Victor: The Anthropology of Performance, New York 1986. Warner, Michael: »Public and Private«, in: Catherine R. Stimpson/Gilbert Herdt (Hg.), Critical Terms for the Study of Gender and Sexuality, Chicago (erscheint demnächst). Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. rev. Aufl. Tübingen 1976. Zarcone, Thierry: La Turquie moderne et l’islam, Paris 2004.

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Überlegungen zur Theoriegeschichte des Öffentlichen | 45

Symmetrie und Politik: Überlegungen zur Theoriegeschichte des Öffentlichen Christian Geulen

Einleitung: Das öffentliche Leben einer Puppe In den ersten Wochen nach den Anschlägen des 11. September 2001, als die Welt – in Angst, Hoffnung oder Wut – auf den amerikanischen Gegenschlag wartete, ging eine groteske Nachricht um den Globus. Den Bildern vom 11. September und seinen Folgen wurde ein neues hinzugefügt, das Gesicht einer Puppe, direkt neben dem Konterfei Osama Bin Ladens, auf einem Poster antiwestlicher Demonstranten in Bangladesch. Schnell identifizierte man die Puppe als Bert, neben Ernie einer der beiden Puppen-Stars aus der amerikanischen Kinderfernseh-Serie Sesamstraße, die zum ersten Mal in den 1960er Jahren produziert wurde und seitdem fester Bestandteil des Erziehungsfernsehens in der westlichen Welt ist. Wie sich herausstellte, hatten sich die Demonstranten in Bangladesch auf der Suche nach einem geeigneten Porträt Bin Ladens offenbar im Internet umgeschaut und waren dabei auf eine Website mit dem Namen Bert is Evil gestoßen, die schon länger existierte und in satirischer Absicht eine der bekanntesten positiven Identifikationsfiguren der westlichen Erziehungskultur als Inkarnation des Bösen präsentierte. Hier war eine Galerie von Bildern der grausamsten und gewalttätigsten Führerfiguren der Weltgeschichte versammelt, die so manipuliert worden waren, dass auf jedem einzelnen irgendwo das Gesicht von Bert erkennbar war, als Beweis, dass in Wahrheit Bert als eine Art böser Einflüsterer hinter jeder begangenen Untat dieser Welt stecke. Die Demonstranten in Bangladesch aber verstanden entweder den Sinn dieser Website nicht oder ignorierten ihn. Jedenfalls luden sie ausgerechnet von dieser Seite das Bild Osama Bin Ladens herunter, das dort als jüngster Beweis für Berts üble Machenschaften und schlechten Umgang präsentiert wurde, vergrößerten es zu Postern und gingen damit auf die Straße. Dort wurden sie von westlichen Kamerateams gefilmt, die eines dieser Poster heranzoomten, um dort plötzlich, über der Schulter Bin Ladens, Bert aus der Sesamstraße zu entdecken.1 Wenn Öffentlichkeiten eine Psyche besitzen, dann scheint diese Geschichte von Bert und Bin Laden als eine Art Befreiung von dem Albdruck gedient zu haben, der von jenen Flugzeugen erzeugt worden war, die nur wenige Tage zuvor aus heiterem Himmel ins Zentrum des westlichen Welthandels gerast waren. Die schiere Zahl von Artikeln und Sendungen, in denen über die Bert-Geschichte berichtet wurde, zeugt von dem damaligen Willen, den öffentlichen Diskurs zumindest teilweise durch die Wiedereinführung von Ironie und Humor zu normalisieren. Doch macht die Geschichte ebenso deutlich, wie komplex und im Grunde unkontrollierbar der

1 Vgl. unter den vielen Zeitungsartikeln, welche die Geschichte verbreitet haben, jüngst nochmals Jan-Hendrik Wulf: »Sieh! Mich! An!«, in: die tageszeitung, 24. Mai 2004, S. 15; dort auch die entsprechenden Bilder.

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46 | Christian Geulen öffentliche Diskurs in jenen Tagen war und mit Blick auf das Thema Terrorismus bis heute ist. In gewissem Sinne spiegelt die Absurdität der Bert-Geschichte nur die Absurdität der politischen Situation. Dem entspricht, dass sich einige der hervorstechenden Merkmale der tatsächlichen Ereignisse des 11. September, wenn auch in entstellter Form, in der Bert-Geschichte wieder finden: die Vorstellung einer ›dunklen Seite‹ der Globalisierung, welche die hergebrachten kulturellen wie staatspolitischen Grenzen unterläuft, seien es ›Schläfer‹, die über Jahre unentdeckt inmitten der Kultur leben, die sie irgendwann zu zerstören gedenken, oder sei es der ›Internet-Schläfer‹ Bert, der urplötzlich auf einer antiwestlichen Demonstration in Bangladesch erscheint und von der ungebrochenen Macht des amerikanischen Kulturimperialismus zu zeugen scheint; die Rolle massenhaft verbreiteter Verschwörungstheorien, die eigenwillige, aber prominente Figuren zur Inkarnation des Bösen in dieser Welt erklären, seien sie Bin Laden, Saddam Hussein, Bush oder Bert; die vielfach bemerkte Strategie, westliche Technik für antiwestliche Zwecke zu nutzen, seien es Passagierflugzeuge, das Internet oder eine Symbolfigur der westlichen Erziehungsindustrie; und schließlich der Wille nach größtmöglicher Öffentlichkeit des antiwestlichen Protests, seien es die Demonstranten mit ihren Postern in Bangladesch oder die Piloten des 11. September, von denen es heißt, sie hätten ihren Anschlag absichtlich so geplant, dass er zum bestdokumentierten Einzelereignis der bisherigen Geschichte würde – was er in der Tat ist. Alle diese Aspekte verbinden die Bert-Geschichte mit Phänomenen, die der vorliegende Band behandelt, besonders mit seiner Ausgangsbeobachtung, dass heute – zumindest in einer Reihe verschiedener Kontexte – Muslime in westlichen wie nichtwestlichen Ländern neue Formen der öffentlichen Präsenz entwickeln. Sie beanspruchen dabei nicht allein Zugang zu einer bereits existierenden öffentlichen Sphäre, vielmehr schaffen sie als politische und soziale Akteure durch ihre körperlichen oder symbolischen Auftritte eigene öffentliche Räume.2 Wie die im vorliegenden Band versammelten Fallstudien verdeutlichen, erweisen sich diese neuen raumschaffenden Praktiken ebenso sehr als soziale Strategien der eigenen Identitätsbildung wie als Herausforderung des westlichen Modells von Öffentlichkeit. Mit anderen Worten: Die neuen Formen öffentlicher Sichtbarkeit muslimischer Akteure in Räumen, die vom modernen westlichen Konzept von Öffentlichkeit geprägt sind, haben nicht nur Auswirkungen auf die soziale Struktur dieser Räume, sondern ebenso auf das Konzept der Öffentlichkeit selbst, auf seine politisch-historische Semantik. Ziel des vorliegenden Essays ist es, einige Aspekte dieses Zusammenhangs herauszuarbeiten. Dazu soll die westliche theorie- und ideengeschichtliche Tradition, Öffentlichkeit zu denken, mit Blick auf die darin artikulierten Vorschläge zum öffentlichen Umgang mit kultureller Differenz kritisch untersucht werden. Dabei steht vor allem die Beobachtung im Mittelpunkt, dass jene jüngeren Formen der Besetzung öffentlicher Räume durch muslimische Akteure einen Aspekt der Öffentlichkeit als solcher in Erinnerung ruft, der im politischen Bewusstsein des Westens immer wieder in Vergessenheit gerät: ihre Historizität. 2 Vgl. die Einleitung von Nilüfer Göle in diesem Band.

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Überlegungen zur Theoriegeschichte des Öffentlichen | 47 Auch die Bert-Geschichte, so bizarr sie auch sein mag, reflektiert ein Stück dieser Historizität. Denn sie unterstreicht – nicht trotz, sondern gerade in ihrer komischen Dimension – die Untrennbarkeit der Öffentlichkeit und der Subjekte, die in ihr agieren, der öffentlichen Räume und der Handlungen, die in ihnen stattfinden, des Öffentlichen an sich und dessen, was öffentlich in Erscheinung tritt. Was öffentlich wird, so lautet eine wichtige neuere Einsicht der Theoriebildung über das Phänomen, bestimmt mit, was wir unter Öffentlichkeit verstehen.3 In diesem Sinne macht die Bert-Geschichte nicht nur deutlich, welche Merkwürdigkeiten eine medientechnologisch reproduzierte ›Weltöffentlichkeit‹ hervorbringen kann, die den Anspruch erhebt, rund um die Uhr die ganze Welt zu repräsentieren. Sie zeigt ebenso die innere Struktur einer solchen Weltöffentlichkeit auf, die Tatsache nämlich, dass hier von einer Einheit, von ›der‹ Öffentlichkeit im Singular faktisch keine Rede sein kann. Schon die schiere Anzahl von an der Bert-Geschichte beteiligten öffentlichen Räumen springt ins Auge: der halböffentliche Raum des internationalen Flugverkehrs; das World Trade Center als eines der größten öffentlichen Gebäude der Welt, täglicher Arbeits- und Versammlungsort für Tausende von Menschen in einer Stadt, die zu den Global Cities, den wenigen Weltführungsstädten zählt; Hunderte von Fernsehsendern aus aller Welt, die das Ereignis filmen und ihre Bilder live in der Welt verbreiten; die fast ebenso rasche mediale Verbreitung der unmittelbaren Reaktionen auf das Ereignis; darunter auch die jener Gruppe von Muslimen in Bangladesch, die sich auf einem öffentlichen Platz zum Protest versammeln und die jüngste Form medial produzierter Öffentlichkeit, das Internet nutzen, um ihrem Protest sichtbaren Ausdruck zu verleihen; und schließlich der dabei entstandene zufällige Rekurs auf die genuin westliche Form medialer Volkserziehung durch öffentliches Kinderfernsehen. Alle diese verschiedenen Formen des Öffentlichen scheinen dem Ereignis und seinen konkreten Akteuren vorauszugehen. Doch es sind erst diese Akteure und ihre konkreten Handlungen, die sie zu einer spezifischen Kette arrangieren, die dann Weltöffentlichkeit genannt werden kann. Faktisch ist es aber mit Blick auf die BertGeschichte völlig unmöglich, von einer Weltöffentlichkeit zu sprechen, in der Ereignisse stattfanden oder durch die sie bekannt gemacht wurden. Vielmehr haben wir es mit einer zufälligen Verkettung verschiedener öffentlicher Räume zu tun, die durch die Handlungen, Wahrnehmungen und Kommunikationen der Beteiligten hergestellt wird und keinen präexistenten übergreifenden Diskursraum voraussetzt. Man könnte natürlich argumentieren, dass schon die bloße Möglichkeit, die Bert-Geschichte so zu erzählen, wie hier geschehen, die Existenz eines solchen gemeinsamen Diskurses bezeugt, der sich aus vielen Suböffentlichkeiten zusammensetzt. Doch bedeutet die medial vermittelte, globale Verkettung öffentlicher Diskursräume sowie ihre nachträgliche Lesbarkeit noch keine Weltöffentlichkeit im Sinne eines eigenen globalen Kommunikationsraums. Denn Kommunikation findet in dieser Verkettung gerade nicht statt. Die beteiligten Öffentlichkeiten und Akteure stehen dafür in einem viel zu asymmetrischen Verhältnis. Vor diesem Hintergrund stellt sich die grundlegende Frage, ob eine globale Weltöffentlichkeit als symmetrischer 3 Vgl. Michael Warner: Publics and Counterpublics, New York 2002.

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48 | Christian Geulen Kommunikationsraum jenseits der asymmetrischen Welt, in der wir leben, überhaupt denkbar ist.

Habermas, seine Kritiker und die Lehren der Geschichte Symmetrie ist ein Grundproblem der Öffentlichkeit, ihrer theoretischen Konzeptualisierung und ihrer historischen Entwicklung. So scheint es jedenfalls, wenn man sich einige der zentralen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen zum Thema in den letzten Jahrzehnten vor Augen führt, wie etwa die internationale Debatte zu den grundlegenden Thesen von Jürgen Habermas. Sein Konzept eines herrschaftsfreien vernünftigen Diskurses als Kern moderner Öffentlichkeit ist von Historikern, Feministinnen, Soziologen und Multikulturalisten besonders dafür kritisiert worden, dass es zu harmonisch und daher unrealistisch gedacht sei, da es Exklusionen aufgrund ethnischer, sozialer, geschlechtlicher, kultureller oder religiöser Unterschiede übersehe, derer sich diese Öffentlichkeit schuldig mache. An diesem grundlegenden und bis heute heftig diskutierten Einwand fallen zwei Aspekte besonders auf. Zum einen, dass er meist von der Tatsache absieht, dass Habermas mit seinem berühmten Buch von 1962 nicht nur eine theoretische Konzeption der Öffentlichkeit vorlegte, sondern auch eine Analyse ihres Strukturwandels, die eine Verfalls- und nicht etwa Erfolgsgeschichte erzählt. Zum zweiten fällt auf, dass die Kritik an der von Habermas kontrafaktisch unterstellten Symmetrie im Konzept des Öffentlichen ihrerseits am Anspruch symmetrischer Integration festhält – insofern sie Exklusion als Mangel bewertet!4 Vor dem Hintergrund solcher Auseinandersetzungen lohnt es sich, einen genaueren Blick auf die Rolle der Symmetrie in verschiedenen theoretischen Konzeptionen von Öffentlichkeit zu werfen. Wie weit die gegenwärtig diskutierten Probleme, besonders des öffentlichen Umgangs mit ethnischer, religiöser oder kultureller Differenz, geschichtlich zurückreichen, und wie explizit das Spannungsverhältnis zwischen einer universal gedachten Öffentlichkeit und den Partikularitäten, die zu repräsentieren sie beansprucht, schon in früheren Zeiten und scheinbar entlegenen Kontexten diskutiert wurden, zeigt schlaglichtartig das folgende Zitat: »Eine literarische Legende wurde entwickelt, die den so genannten Orient und den kühn so genannten Okzident in schärfsten Gegensatz zueinander stellt. Der Dichter, Dramaturg und Schriftsteller, der Produzent von Bühnenstücken, Lichtbildern und schnell verkauften Zeitungen, sie haben den ›Orientalen‹ der Imagination, der Eitelkeit [und] des Vorurteils erschaffen, der kein Gegenstück in der Realität besitzt oder je existiert hätte. Es ist zu einem […] immer vielversprechenderen Geschäft geworden, diesen ›Orientalen‹ als eine menschliche Lebensform 4 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zur einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft [1962], Neuaufl. Frankfurt am Main 1990; zur internationalen Debatte vgl. Craig Calhoun (Hg.): Habermas and the Public Sphere, Cambridge, MA 1992; als Überblick Peter-Uwe Hohendahl (Hg.): Öffentlichkeit: Geschichte eines kritischen Begriffs, Stuttgart 2000.

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Überlegungen zur Theoriegeschichte des Öffentlichen | 49 darzustellen, deren Natur sich fundamental von derjenigen des ›Okzidentalen‹ unterscheidet. Wie viele in unseren Staaten aber wissen irgendetwas Authentisches oder Vertrauenswürdiges über die Geschichte Indiens oder Chinas? Doch was genau ist dann dieser ›Orientalismus‹, der sich auf der Bühne präsentiert, in Romanen, populären Magazinen oder in Büchern, die von weit mehr als nur einer kleinen Minderheit ernsthaft gelesen werden, […] jener Orientalismus, der sich verkauft, für den Verleger zahlen, der an den Theaterkassen ›geht‹ [und] der von Politikern auf Stimmenfang ins Feld geführt wird?«

Trotz der etwas eigenwilligen Sprache klingt diese Passage wie eine Art Kurzfassung jener inzwischen berühmten Studie zur Konstruktion des Orientbildes in der westlichen Kultur, die Edward Said 1978 unter dem Titel Orientalismus veröffentlichte.5 Es handelt sich jedoch um ein sehr viel älteres Zitat. Es findet sich in einem Text des amerikanischen Orientalisten William Elliot Griffis, der unter dem Titel A Literary Legend: The Oriental in dem in New York erscheinenden Journal of Race Development publiziert wurde – im Jahr 1912.6 Griffis hatte einige Jahre zuvor eine damals recht populäre Geschichte Japans verfasst und wurde in besagter Zeitschrift als »educational pioneer formerly of the Imperial University in Tokyo« vorgestellt. Diese Zeitschrift, die allerdings nur einige Jahre existierte, widmete sich der »Rassenentwicklung« als einem neuen interdisziplinären Forschungsfeld, in dessen Zentrum die Frage stand, auf welche Weise sich die so genannten minderbemittelten Völker außerhalb Europas und Nordamerikas mit Hilfe der modernen Wissenschaft erziehen und zu gleichwertigen Mitgliedern der globalen Völkergemeinschaft machen ließen. Wie besonders ihr Herausgeber, der Sozialpsychologe G. Stanley Hall, betonte, basierte dieses Projekt auf der unter den damaligen Wissenschaftlern zumal in den USA populären Idee, dass jedes Volk eine Entwicklung nach Art der Individualentwicklung von der Kindheit in ein ›erwachsenes Zeitalter‹ durchmache und es die Aufgabe der westlichen Imperialmächte sei, diese Entwicklung durch Erziehung zu befördern und zu beschleunigen. Damit stellte sich diese Zeitschrift für Rassenentwicklung in eine Tradition des imperialen Selbstverständnisses, wie sie von Rudyard Kipling schon einige Jahre zuvor auf die Formel der »Bürde des Weißen Mannes« gebracht worden war. Als ein solches Forum für die Diskussion imperialer Entwicklungshilfe publizierte die Zeitschrift Artikel zu Themen wie Missionspädagogik, Rassen- und Evolutionstheorie, Völkerpsychologie und Erziehungspolitik. Wegen seiner bisweilen heftigen Kritik an der offiziellen Imperialpolitik insbesondere Englands kann die Zeitschrift keineswegs als eine direkte ideologische Unterfütterung oder wissenschaftliche Legitimation des Imperialismus angesehen werden. Vielmehr nahmen die meisten ihrer Autoren diese Politik als eine gegebene und andauernde Weltordnung hin, die es nun nach wissenschaftlichen Maßstäben zu gestalten gelte. Und so findet sich hier inmitten der Selbstreflexion des kolonialen Zeitalters auch jener zitierte Essay von Griffis, 5 Edward W. Said: Orientalismus, Frankfurt am Main 1981, ern. 1999. (Engl. Orientalism, New York 1978.) 6 William Elliot Griffis: »A Literary Legend: The Oriental«, in: Journal of Race Development 3:1 (1912), S. 65-69.

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50 | Christian Geulen der sich rückblickend wie die Zusammenfassung eines inzwischen kanonischen Textes der postkolonialen Ära liest. Dies kleine Beispiel macht deutlich, in welchem Maße Grundprobleme der postkolonialen Theoriebildung eine weit ins imperiale Zeitalter zurückreichende Geschichte haben. Dass dies auch und sogar besonders für das in der Postkolonialismusdebatte viel diskutierte Spannungsverhältnis zwischen Universalismus und Partikularismus sowie für die Frage nach den Möglichkeiten einer symmetrischen Repräsentation asymmetrischer Kulturkonflikte zutrifft, wird ausgerechnet in den Passagen deutlich, in denen Griffis’ Text seinen wahren Entstehungskontext, das Zeitalter des Hochimperialismus, unmissverständlicher markiert als in den eben zitierten einleitenden Zeilen. Denn sein Hauptargument bezog sich weniger auf das generelle Phänomen des Orientalismus, der kulturellen Konstruktion eines orientalischen Anderen, als vielmehr darauf, dass dieser Orientalismus in besonderem Maße beschämend für die amerikanische Kultur sei. Dass Europäer immer schon ein bestimmtes Bild des Ostens erfunden hätten, um sich von diesem abzugrenzen und selbst zu definieren, sah Griffis als ebenso natürlich an wie die umgekehrte Erfindung eines entstellten Europabildes in der arabischen oder asiatischen Kultur. Amerika aber habe eine Ausnahme zu bilden. Amerika sei dazu bestimmt, den rein wissenschaftlichen Standpunkt beim Blick auf die Kulturkreise der Welt und ihre Konflikte zu repräsentieren. Denn Amerika gehöre weder zur Welt des Orients, noch sei es gezwungen, europäische Traditionen zu übernehmen. Aus diesem Grund sah Griffis im amerikanischen Orientalismus seine schlimmste Form. Er verrate die amerikanische Bestimmung, den einzig objektiven Standpunkt jenseits des Konflikts zwischen westlicher und östlicher Kultur zu vertreten. Und so schloss Griffis seinen Artikel mit den folgenden Sätzen: »Vom Standpunkt der Wissenschaft her betrachtet existiert keine grundlegende Differenz, die wechselseitige Achtung, Wertschätzung, gesellschaftlichen Umgang und mit Zeit und Gewöhnung die volle Anerkennung der Menschheit verhindern sollte. Die Ignoranz und die Vorurteile, die heute dieses ganze Thema beherrschen, sind eine Schande für Amerika. […] Hingegen wird die wechselseitige Achtung von Personen und Zivilisationen sowie der Austausch von Ideen und Produkten die Evolution der Rasse zum perfekten Menschen und einer allen vertrauten Zivilisation anregen. Bei diesem Werk sollte Amerika, das weder dem Orient noch dem Okzident zugehört, die Welt anführen. Für den Mann der Wissenschaft gibt es weder Osten noch Westen, da beides nur bequeme Ausdrücke der Sprache und des Denkens sind.«7

Das Interessante an dieser Passage ist die Tatsache, dass hier die klassische Nationalidee der amerikanischen Mission im Kontext und sogar auf der Basis einer kritischen und konstruktivistischen Auffassung darüber artikuliert wird, wie Kulturen sich gegenseitig wahrnehmen und erfinden. Dieser Zusammenhang wäre nicht möglich, wenn Griffis’ eigener Standpunkt, den er den ›wissenschaftlichen‹ nannte, schlicht darin bestehen würde, ein objektives, gesichertes Wissen über die wirklichen und wahren Unterschiede zwischen okzidentalen und orientalischen Kulturkreisen zu 7 Ebd., S. 69.

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Überlegungen zur Theoriegeschichte des Öffentlichen | 51 verlangen. Denn dann wäre auch Amerika nichts anderes als eine partikulare Kultur unter anderen. Um den amerikanischen mit dem wissenschaftlichen Standpunkt zu verschmelzen, formulierte Griffis Letzteren daher nicht als ein objektives Wissen von den kulturellen Unterschieden, sondern als objektives Wissen darüber, dass es solche Unterschiede eigentlich gar nicht gibt, dass in Wahrheit weder ein Orient noch ein Okzident existiert, sondern allein gegenseitige Erfindungen und Konstruktionen »der Sprache und des Denkens«. Und es war, laut Griffis, Amerikas Bestimmung, dieses Wissen auf der Welt zu verbreiten und den anderen Kulturen beizubringen, dass ihre Differenzen im Grunde nur Erfindungen der gegenseitigen Wahrnehmung sind. Mit anderen Worten: Ein scheinbar sehr modernes, fast schon postmodernes Verständnis kultureller Differenz wurde hier zum entscheidenden Medium, einen symmetrischen Universalismus als Heilsbotschaft einer bestimmten nationalen Kultur, nämlich der amerikanischen, zu präsentieren – und das im Kontext einer Argumentation, die mit einer kulturrelativistischen Selbstkritik typisch westlicher Vorurteilsstrukturen begonnen hatte. Diese Art Wahlverwandtschaft zwischen scheinbar streng relativistischen und ebenso strikt universalistischen Positionen, wie sie hier im Rahmen eines historischen und heute schon lange vergessenen Kuriosums erscheint, ist in anderer Form jüngst auch zu einem wichtigen Thema der soziologischen und philosophischen Debatte über den gegenwärtigen politischen Umgang mit kultureller Differenz geworden. So wurde in jüngeren Analysen des noch erstarkenden sozialreligiösen Fundamentalismus in einigen nichtwestlichen Ländern, die vor noch nicht allzu langer Zeit und unter dem Druck eines ungebrochen glorreichen westlichen Modernisierungsmodells auf dem besten Wege der Säkularisierung schienen, mit Recht darauf hingewiesen, dass dieser scheinbare ›Rückfall‹ zumindest teilweise eine sehr bewusste Strategie der Religionspolitisierung darstellt. Dabei reagiert diese Strategie auch auf ein verändertes Selbstverständnis des Westens, in dem sich die immanente Kritik am Universalismus inzwischen so weit politisch niedergeschlagen hat, dass nichtwestliche Gesellschaften ihre Chancen auf Anerkennung innerhalb der weiterhin von den Industriestaaten dominierten Völkergemeinschaft bisweilen gerade dadurch erhöhen können, dass sie eine besondere, anerkennungswürdige und schützenswerte kulturelle Differenz zum Westen proklamieren. Angesichts der faktischen Heterogenität dieser Gesellschaften kann diese erzwungene Politisierung von Kultur unter bestimmten Umständen Homogenisierungsbestrebungen auslösen und Fundamentalismen fördern.8 Auch in der übergreifenden philosophischen Debatte über Multikulturalismus und Anerkennungspolitik sind korrespondierende Thesen formuliert worden. So hat der slowenische Philosoph Slavoj Zizek in zwei Büchern mit den sprechenden Titeln Liebe Deinen Nächsten? Nein, danke! und Ein Plädoyer für Intoleranz eine sehr grund^ ^

8 Vgl. hierzu Georg Stauth: Authentizität und kulturelle Globalisierung: Paradoxien kulturübergreifender Gesellschaft, Bielefeld 1999; Heiner Bielefeldt (Hg.): Politisierte Religion, Frankfurt am Main 1998; S.N. Eisenstadt: Die Antinomien der Moderne: Die jakobinischen Grundzüge der Moderne und des Fundamentalismus, Frankfurt am Main 1998.

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legende Kritik des Multikulturalismus formuliert. Zizek argumentiert, dass der postmoderne, oder wie er es nennt: der postpolitische Diskurs des kulturellen Partikularismus, der kulturellen Identitäten und ihrer Anerkennung – ein Diskurs, der sich üblicherweise als eine radikale Kritik am westlichen Universalismus versteht – in Wahrheit nur dessen Kehrseite repräsentiert. Er ist die Form, welche dieser Universalismus im postkolonialen Zeitalter annimmt, ohne seine klassische Funktion der Legitimierung westlicher Hegemonie zu verlieren. Vor diesem Hintergrund plädiert Zizek nicht für eine Anerkennung von kultureller Differenz an sich und als scheinbar moralisch korrekter Selbstzweck, denn eine solche Hypostasierung von Differenz tendiere am Ende doch nur zu einer Nivellierung aller konkreten Unterschiede. Er fordert vielmehr dazu auf, die grundlegend asymmetrische Beziehung kultureller Differenzen anzuerkennen. Denn es sind nicht die Unterschiede zwischen Kulturen als solche, sondern es ist ihr asymmetrisches Verhältnis zueinander, das einen politischen Dialog über Anerkennung überhaupt notwendig macht.9 Dahinter steckt die Auffassung, dass die Asymmetrie zwischen dem Universalen und dem Partikularen weder durch symmetrisch-universalistische Gleichheitskonzepte noch durch Konzepte einer symmetrisch-multikulturellen Verteilung von Differenzen, Partikularitäten und ihrer gegenseitigen Anerkennung zum Verschwinden gebracht werden kann. Denn der Anspruch auf universale Geltung der eigenen Kulturwerte ist konstitutiver Bestandteil jeder partikularen Gemeinschaft, erst recht, wenn sie sich auch als politische Gemeinschaft Gehör verschaffen will, und keineswegs nur der westlichen Kultur als Erfinderin des Begriffs ›Universalismus‹ vorbehalten. Kurz, für Zizek ist Differenz- und Anerkennungspolitik grundsätzlich eine Politik asymmetrischer Perspektiven und Wahrnehmungen, weshalb ihr prinzipieller Ausgangspunkt die Intoleranz sein muss: Diese real existierende Intoleranz und nicht einen kontrafaktisch vorausgesetzten Zustand universaler oder multikultureller Harmonie gilt es politisch zu verhandeln. Aus diesem Blickwinkel verliert sogar eine so berühmte und grundlegende Kontroverse zum Problem der Anerkennungspolitik wie die zwischen Jürgen Habermas und Charles Taylor zu Beginn der 1990er Jahre geführte an Gewicht.10 Taylors Argument, dass jede Kultur einen Willen zur ungebrochenen Bewahrung und Fortsetzung ihrer Traditionen habe, den es politisch anzuerkennen gelte, und das Gegenargument von Habermas, dass die modernen Demokratien eine solche Anerkennung auf dem Wege individueller Mitbestimmungsrechte immer schon leisteten und jede darüber hinausgehende Anerkennungspolitik auf einen problematischen »kulturellen Artenschutz« hinauslaufe, scheinen sich zunächst unversöhnlich gegenüber zu stehen. Beide Positionen teilen jedoch die Annahme, dass Anerkennungspolitik – ob ^ ^

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9 Vgl. Slavoj Zizek: Liebe Deinen Nächsten? Nein, danke!, Berlin 1999; S. Zizek: Ein Plädoyer für Intoleranz, Wien 1998; früher schon in ähnlicher Perspektive Alexander G. Düttmann: Zwischen den Kulturen, Frankfurt am Main 1997. 10 Charles Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung: Mit Kommentaren von Amy Gutman, Steven C. Rockefeller, Michael Walzer, Susan Wolf. Mit einem Beitrag von Jürgen Habermas, Frankfurt am Main 1993. (Engl. Multiculturalism and the Politics of Recognition, Princeton, NJ 1992.)

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Überlegungen zur Theoriegeschichte des Öffentlichen | 53 auf dem Wege kollektiver Sonderrechte oder individueller Mitbestimmung – im Grunde einen symmetrischen Interessenausgleich zum Ziel haben muss. Geht man aber von der These einer grundlegenden Asymmetrie in Verhältnissen kultureller Differenz aus, stellt sich auch hier die Frage, ob eine Orientierung ihrer politischen Verhandlung am symmetrischen Modell des Interessenkonflikts und seiner denkbaren Lösungsformen überhaupt sinnvoll ist oder zumindest, ob dies der einzige Ansatzpunkt sein kann und muss. Das Problem der Symmetrie stellt sich aber nicht nur in diesen aktuellen Auseinandersetzungen über Kulturkonflikte, es findet sich bereits in älteren Diskussionen über jenes Phänomen, das sich im Zuge der voranschreitenden Globalisierung immer enger mit Fragen der kulturellen Heterogenität unserer Welt verschränkt: die moderne Öffentlichkeit. Während in der internationalen sozialphilosophischen Debatte auch hier das Werk von Jürgen Habermas eine zentrale Rolle spielt, ist in der historischen Diskussion eine weitere klassische Studie von Bedeutung, die zwar nicht direkt das Thema der Öffentlichkeit zum Gegenstand hat, sich aber dennoch als Gegenentwurf zu den Habermas’schen Thesen über deren Ursprung und Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert lesen lässt. Es war Reinhart Koselleck, der bereits 1959 unter dem Titel Kritik und Krise eine »Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt« vorlegte, die sich von Habermas’ Untersuchung vor allem dadurch unterschied, dass sie keine Verfallsgeschichte erzählt, sondern die grundlegenden Widersprüche und Antinomien herausarbeitet, die dem Projekt der modernen bürgerlichen Öffentlichkeit bereits in seinem Ursprung ihren Stempel aufdrückten.11 Habermas verortet die Anfänge der Öffentlichkeit in den frühbürgerlichen Kommunikationsräumen der europäischen Kaffeehäuser, Salons und Lesegesellschaften des späten 18. Jahrhunderts, in denen sich ein kritischer Diskurs über Literatur, Kunst, Philosophie und schließlich auch Politik etablierte, der in genau dem Maße prinzipiell jedem offen stand, in dem er durch die Regeln vernunftorientierter Kommunikation bestimmt war und so ein radikales Gegenmodell zur Arkanpolitik des absolutistischen Staats darstellte. Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts und im Zusammenhang mit der Wiederverschränkung von Staat und Gesellschaft in Reaktion auf die ersten Krisen des modernen Kapitalismus sieht Habermas eine dialektische Beziehung zwischen der Öffentlichkeit und den dominanten Herrschaftsstrukturen entstehen, die zu eben jenem Strukturwandel führte, der die Öffentlichkeit zu einem nurmehr ideologisch stabilisierenden Element des Gesellschaftssystems machte. Im Gegensatz dazu diagnostiziert Koselleck eine solche Dialektik bereits im 18. Jahrhundert und in den frühesten Anfängen der bürgerlichen Öffentlichkeit. Für ihn war diese Öffentlichkeit nicht einfach eine anti-absolutistische Erfindung reflektierender Intellektueller. Vielmehr seien diese zunächst gerade durch die Politik des absolutistischen Staats in private, geheime und konspirative Räume gedrängt worden: in einen Raum, der keineswegs offen zugänglich, sondern streng exklusiv war. Erst die im Zuge der Aufklärung einsetzende Ausdehnung und ›Ver-Öffentlichung‹

11 Reinhart Koselleck: Kritik und Krise: Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt [1959], Frankfurt am Main 1976.

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54 | Christian Geulen solcher im Grunde privaten Innenräume habe das hervorgebracht, was dann als ›die‹ Öffentlichkeit Gestalt annahm. In Kosellecks Worten: »Der Aufbruch der bürgerlichen Intelligenz erfolgt aus dem privaten Innenraum, auf den der Staat seine Untertanen beschränkt hatte. Jeder Schritt nach außen ist ein Schritt ans Licht, ein Akt der Aufklärung. Die Aufklärung nimmt ihren Siegeszug im gleichen Maße als sie den privaten Innenraum zur Öffentlichkeit ausweitet. Ohne sich ihres privaten Charakters zu begeben, wird die Öffentlichkeit zum Forum der Gesellschaft, die den gesamten Staat durchsetzt. Schließlich wird die Gesellschaft anpochen an die Türen der politischen Machthaber, um auch hier Öffentlichkeit zu fordern und Einlass zu erheischen.«12

Diesem Modell einer Ausdehnung eigentlich privater Räume entsprechend waren die entscheidenden Manifestationen frühmoderner Öffentlichkeit in Kosellecks Sichtweise weniger die offenen Salons und Kaffeehäuser als vielmehr die freimaurerischen Geheimlogen oder die vielfältigen Vorstellungen einer Gelehrtenrepublik, in denen sich modern-säkulare Moralvorstellungen mit traditional-religiösen Ideen der Exklusivität verschränkten. Erst in diesen Kontexten entstand die Vorstellung eines sich stetig ausweitenden gesellschaftlichen Raums, die moderne Vorstellung der Gesellschaft an sich, die den bislang davon strikt geschiedenen Raum des Politischen zu überformen antrat. Koselleck betont hier die faktische Verschränkung der sich scheinbar ausdifferenzierenden Momente des Privaten und Öffentlichen, des Sozialen und Politischen. An anderer Stelle hat er mit direkterem Bezug auf das Verhältnis zwischen Universalismus und Partikularismus in der Moderne die Konsequenzen untersucht, die sich daraus ergeben können. In der Aufklärung des 18. Jahrhunderts wurde der Begriff der Menschheit ausgebildet und politisiert, um die Funktion jener kollektiven Selbstbeschreibung zu übernehmen, die in der griechischen Antike der Begriff des Hellenischen und im Mittelalter der Begriff der Christenheit hatte. Beide verhielten sich zu ihren jeweiligen Gegenbegriffen des ›Barbaren‹ und des ›Heidentums‹ grundsätzlich asymmetrisch. Mit Blick auf den sie ersetzenden Begriff der Menschheit diagnostiziert Koselleck eine fatale Radikalisierung der politischen Semantik. Denn insofern die universalistische Kategorie der Menschheit per definitionem keinen Gegenbegriff mehr hat, verleitet sie im politischen Gebrauch dazu, dem weiterhin asymmetrisch wahrgenommenen Anderen die Qualität des Menschlichen ganz abzusprechen. Woraus sich erklärt, dass auf den Siegeszug des aufklärerischen Begriffs vom Menschen recht bald die unheimliche Karriere so folgenreicher Begriffe wie dem des ›Über-‹ oder ›Untermenschen‹ folgte.13 Diese Analyse der totalitären Effekte eines sich selbst verratenden, durch partikulare politische Interessen aufgeladenen Universalismus, die schon Kosellecks Thesen zur frühmodernen Öffentlichkeit zugrunde lag, lehnt sich an ein Verständnis des 12 Ebd., S. 41. 13 Reinhart Koselleck: »Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe«, in: R. Koselleck, Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, S. 211-259.

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Überlegungen zur Theoriegeschichte des Öffentlichen | 55 Politischen an, wie es vor allem von Carl Schmitt formuliert wurde. Koselleck liest Schmitts berühmte Unterscheidung zwischen Freund und Feind als ein theoretisches Angebot, jene immer asymmetrischen Begriffe politischer Selbst- und Fremdbeschreibung analytisch von einer symmetrischen Position aus untersuchen zu können. Die Unterscheidung Freund/Feind wäre in dieser Sicht also eine symmetrische Formel des Politischen, die ihre historischen asymmetrischen Auffüllungen sichtbar macht.14 Obwohl Koselleck hier eine sehr spezifische Tradition der politischen Theoriebildung aufgreift, lässt sich seine Position mit den oben angesprochenen Debatten über den politischen Umgang mit kultureller Differenz in Beziehung setzen. Im Rahmen der Auseinandersetzung zwischen Habermas und Taylor etwa repräsentiert Letzterer eine den Koselleckschen Überlegungen durchaus verwandte Kritik des Universalismus und darüber hinaus eine Argumentationsweise, die mit Blick auf Kulturkonflikte ebenfalls nach einer übergreifend geltenden Struktur sucht – bei Taylor die anthropologische Annahme eines grundsätzlichen Willens jeder Kultur, sich ungebrochen fortzusetzen. So gesehen, basieren sowohl Taylors als auch Kosellecks Position theoretisch auf einem symmetrischen Differenzbegriff, von dem aus sie das Integrationsdefizit eines Universalismus kritisch beleuchten, der partikulare Wertordnungen mit überpartikularen Ansprüchen auflädt und so überhaupt erst Asymmetrie und Ungleichgewicht ins Spiel bringt. Damit aber übernimmt diese im Kern anthropologisch gedachte Symmetrie die gleiche Funktion, die bei Habermas ein normativer Universalismus als regulative Idee ausübt. Was dieser Kurzdurchgang durch eine Reihe prominenter Positionen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um Universalismus, Öffentlichkeit, Politik und Differenz zeigt, ist die Tatsache, dass einige von ihnen und nicht selten solche, die sich in ihrem Selbstverständnis diametral gegenüber stehen, dennoch Gemeinsames aufweisen, einen gemeinsamen Diskurs teilen, dessen wiederkehrendes Moment die Suche nach formalisierten und symmetrischen Begriffen der Kultur, des Politischen oder des Öffentlichen zu sein scheint. Zugleich drängt sich der Verdacht auf, dass diese theoretische Konstante mit der konkreten Geschichte der modernen Öffentlichkeit und ihres Verhältnisses zu kultureller Differenz selber zusammenhängt. Zumindest der eingangs zitierte Text von William Griffis legte dies nahe, der inmitten der Ära des Hochimperialismus einen einerseits relativistischen und konstruktivistischen, andererseits universalistischen und imperialen Begriff von Kultur einführte und unterm Strich beanspruchte, Differenz mit Hilfe der Wissenschaft so weit zu formalisieren und zu symmetrisieren, dass sich am Ende jede Differenz und jeder Konflikt nurmehr als ein weiterer Schritt auf dem evolutionären Weg zum »perfekten Menschen« herausstelle.

14 Vgl. Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen [1932], Berlin 1963.

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56 | Christian Geulen Räume und Asymmetrien: Hannah Arendt Wenn es zutrifft, dass der Gedanke der Symmetrie vielen sich sonst widersprechenden Positionen in der Debatte um die kulturelle Integrationsfähigkeit der modernen Öffentlichkeit als ein gemeinsames Merkmal zugrunde liegt, stellen sich zwei Fragen. Zum einen: Was ist die Ursache dafür? Und zum anderen: Wo gibt es Ausnahmen, also Positionen, welche die Voraussetzung symmetrischer Konzepte zu vermeiden suchen? Zumindest Teile einer Antwort auf beide Fragen finden sich im Werk Hannah Arendts. Denn es war vor allem Arendt, die nicht nur darauf bestand, dass das Öffentliche weniger idealistisch als Sphäre vernunftgeleiteter Kommunikation und stattdessen konkreter in seinen räumlichen Manifestationen gedacht und analysiert werden müsse, sondern sich auch um eine Historisierung der Öffentlichkeit bemühte, die das Problem der Symmetrie explizit ansprach.15 Arendts Analyse des Öffentlichen beginnt bekanntlich mit der Beobachtung eines fundamentalen Wandels im Verhältnis zwischen Gesellschaft und Politik beim vergleichenden Blick auf die antike griechische Polis einerseits und die moderne Unterscheidung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen andererseits. Während in der Antike die Privatsphäre des Haushalts strikt vom öffentlichen Raum der politischen Versammlung getrennt war, ist die Vermischung dieser beiden Räume laut Arendt das entscheidende Merkmal der Entstehung dessen, was man heute Gesellschaft nennt: »Der Raum des Gesellschaftlichen entstand, als das Innere des Haushalts mit den ihm zugehörigen Tätigkeiten, Sorgen und Organisationsformen aus dem Dunkel des Hauses in das volle Licht des öffentlich politischen Bereichs trat.«16 Die Nähe dieser Position zu den oben zitierten Überlegungen Kosellecks ist offensichtlich. Doch bezieht sich Arendt hier nicht auf die konkreten sozialen Praktiken frühbürgerlicher Kreise unter dem Druck des spätabsolutistischen Staates. Vielmehr hat sie hier Prozesse und Phänomene im Auge, wie sie in anderer Weise von Michel Foucault als Beginn der modernen, sich auf die Gesellschaft ausrichtenden Politik beschrieben wurden: die allmähliche Verwandlung privater und individueller Praktiken in einen Gegenstand öffentlicher und politischer Aufmerksamkeit und die Politisierung ehemals vorpolitischer Probleme der alltäglichen Lebenserhaltung, der Erziehung, der Gesundheit und sexuellen Reproduktion, für deren öffentliche Beobachtung und Kontrolle am Beginn des 18. Jahrhunderts eine eigene wissenschaftliche Institution namens ›Policey‹ erfunden wurde.17 Für Arendt – ebenso wie für Foucault – ist diese Politisierung des Vorpolitischen der entscheidende Hintergrund für die zeitgleich auftretende Unterscheidung zwischen ›privat‹ und ›öffentlich‹ in dem Sinne, wie wir sie heute verstehen. Denn erst 15 Vgl. Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960, 11. Aufl. München 1999, bes. S. 33-97. (Engl. The Human Condition, Chicago 1958.) 16 Ebd., S. 47f. 17 Vgl. Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1998; vgl. auch Volker Sellin: »Politik«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Stuttgart 1978, Bd. 4, S. 789-874; Franz-Ludwig Knemeyer: »Polizei«, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, S. 875-897.

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Überlegungen zur Theoriegeschichte des Öffentlichen | 57 insofern die alltägliche Reproduktion der Gesellschaft bzw. der Bevölkerung als sozialem Kollektivkörper zum Gegenstand politischer Ordnungsstrategien wird, entsteht auch die Vorstellung einer vor diesem Zugriff zu schützenden Privatsphäre, die sich allerdings auf ihre kleinstmögliche Form der Kernfamilie reduziert und zugleich in der Idee der ›Keimzelle des Staates‹ zum Gravitationszentrum des politischen Ganzen erhoben wird. Die Idee einer zu schützenden Privatsphäre, die sich im Gegensatz zum antiken, nicht verwandte Personen einschließenden Haushalt oder auch zur frühneuzeitlichen Hausgemeinschaft auf die Familie und nachgerade sogar nur das Individuum beschränkt, korrespondiert also mit der Herausbildung eines Verständnisses von Gesellschaft als einer politisch zu organisierenden Großfamilie. In Arendts Worten: »Was wir heute Gesellschaft nennen, ist ein Familienkollektiv, das sich ökonomisch als eine gigantische Über-Familie versteht und dessen politische Organisationsform die Nation bildet. [...] Die Gesellschaft ist die Form des Zusammenlebens, in der die Abhängigkeit des Menschen von seinesgleichen um des Lebens selbst willen und nichts sonst zur öffentlichen Bedeutung gelangt, und wo infolgedessen die Tätigkeiten, die lediglich der Erhaltung des Lebens dienen, in der Öffentlichkeit nicht nur erscheinen, sondern die Physiognomie des öffentlichen Raumes bestimmen dürfen.«18

Was laut Arendt bei dieser Eroberung des politischen Bereichs durch die Gesellschaft, der Auffüllung des Öffentlichen mit vormals privaten Sorgen der Lebenserhaltung verloren geht, ist genau das, was in der Antike die eigentliche Polis ausmachte: politisches Handeln – an dessen Stelle in der Moderne das nur noch ›soziale Verhalten‹ tritt. Man hat Arendt mit einigem Recht vorgeworfen, in dieser pessimistischen Einschätzung des modernen Gesellschaftsverständnisses und in der historisch fragwürdigen Idealisierung der antiken Polis einen viel zu einseitigen Begriff des Politischen entworfen zu haben. Denn eine Politik, die von ihrer Aufgabe der Gesellschaftsorganisation komplett absähe, würde sich wohl auf das reduzieren, was in der Tat eine der bevorzugten Formen des politischen Handelns bei den Griechen war: die Erklärung von Kriegen. Allerdings tendiert diese Kritik selber zur Einseitigkeit. Denn weder hatte Arendt eine Wiedereinführung der Polis als politisches Ideal vor Augen, noch hätte sie der Vorstellung zugestimmt, dass eine Politik ›jenseits der Gesellschaft‹ im Grunde nichts anderes als Kriegsentscheidungen, also – wie bei Carl Schmitt – nichts anderes als die Bestimmung von Freund und Feind zur Aufgabe hätte. Eine solche Schlussfolgerung aus Arendts Thesen zu ziehen, bezeugt vielmehr das Maß, in dem wir heute Politik mit Sozialpolitik gleichsetzen – und könnte ein Grund dafür sein, dass uns die politische Behandlung und Regelung von Kulturkonflikten, die im Konzept des Gesellschaftlichen nicht aufgehen, also nicht sozialpolitisch lösbar sind, so schwer fällt. Ein genauerer Blick auf Arendts Konzeption des öffentlichen Raums macht demgegenüber ihre Relevanz für die heutigen Probleme des öffentlichen und politi18 Vgl. Arendt: Vita Activa, S. 39.

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58 | Christian Geulen schen Umgangs mit kultureller Differenz deutlich. Und das vor allem dort, wo Arendts Thesen quer zu dem liegen, was als ein gemeinsames Merkmal verschiedener Positionen der aktuellen Diskussion identifiziert wurde: Symmetrie. So ist schon Arendts Bevorzugung des Begriffs ›öffentlicher Raum‹ gegenüber dem abstrakteren Begriff der ›Öffentlichkeit‹ mehr als nur ein Plädoyer für Konkretisierung. Räumlichkeit hat bei Arendt eine grundlegendere Bedeutung, insofern ein Raum, eine räumlich gedachte Beziehung per definitionem sowohl Gemeinsamkeit und Gemeinschaftlichkeit – im Sinne eines von mehreren geteilten Raums – als auch die grundsätzliche Inkompatibilität der verschiedenen Positionen in diesem Raum garantiert. Denn innerhalb eines Raumes können sich Positionen ebenso wenig decken wie eine Person im wörtlichen Sinne den ›Standpunkt‹ einer anderen Person einnehmen kann. Es ist diese doppelte Funktion eines Raums, Positionen zu versammeln und voneinander zu trennen, auf die Arendt in ihrer Beschreibung des öffentlichen Raums Bezug nimmt. An dieser Stelle wäre es allerdings irreführend, Arendts Ideen auf die Einführung eines solchen wörtlichen Verständnisses von Räumlichkeit zu reduzieren. Denn dann ließe sich zu Recht einwenden, dass die Existenz eines solchen konkreten empirischen Raums – etwa der Polis oder auch eines Territoriums – in gleicher Weise eine symmetrische Voraussetzung aller weiteren Formen und Funktionen des Öffentlichen darstellt. Tatsächlich jedoch verhält es sich anders. Was Arendt den öffentlichen Raum nennt, ist gerade nicht ein präexistenter Raum, in dem sich verschiedene Positionen versammeln und zu Wort melden. Vielmehr konstituiert er sich überhaupt erst in dieser Artikulation verschiedener Positionen und Perspektiven: »Die Wirklichkeit des öffentlichen Raums [erwächst] aus der gleichzeitigen Anwesenheit zahlloser Aspekte und Perspektiven, in denen ein Gemeinsames sich präsentiert und für die es keinen gemeinsamen Maßstab und keinen Generalnenner geben kann. Denn wiewohl die gemeinsame Welt den allen gemeinsamen Versammlungsort bereitstellt, so nehmen doch alle, die hier zusammenkommen, jeweils verschiedene Plätze in ihr ein, und die Position des einen kann mit der eines anderen in ihr so wenig zusammenfallen wie die Position zweier Gegenstände. Das von Anderen Gesehen- und Gehörtwerden erhält seine Bedeutsamkeit von der Tatsache, dass ein jeder von einer anderen Position aus sieht und hört. Dies eben ist der Sinn eines öffentlichen Zusammenseins, mit dem verglichen auch das reichste und befriedigendste Familienleben nur eine Ausdehnung der eigenen Position bieten kann und der ihr inhärenten Aspekte und Perspektiven. [...] Nur wo Dinge, ohne ihre Identität zu verlieren, von Vielen in einer Vielfalt von Perspektiven erblickt werden, so dass die um sie Versammelten wissen, dass ein Selbes sich ihnen in äußerster Verschiedenheit darbietet, kann weltliche Wirklichkeit eigentlich und zuverlässig in Erscheinung treten. [...] Eine gemeinsame Welt verschwindet, wenn sie nur noch unter einem Aspekt gesehen wird; sie existiert überhaupt nur in der Vielfalt ihrer Perspektiven.«19

19 Ebd., S. 71ff.

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Überlegungen zur Theoriegeschichte des Öffentlichen | 59 Dieser Begriff eines gemeinsamen öffentlichen Raums, der sich überhaupt erst in der Artikulation seiner inneren Differenzen konstituiert, macht genau das zum Ausgangspunkt, was viele andere Konzeptionen des Öffentlichen auszuschließen und zu überwinden suchen: Asymmetrie. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Frage nach dem öffentlich-politischen Umgang mit kultureller Differenz lassen sich am besten an einem konkreten Fall erläutern, den Hannah Arendt in den späten 1950er Jahren zum Anlass nahm, ihre historisch-theoretischen Überlegungen in einer Weise zuzuspitzen, die harsche Kritik an ihrer Position hervorrief.

Das Performative im Öffentlichen: Kulturelle Differenz und politisches Handeln In ihrem berühmten Kommentar zum Fall »Little Rock« aus dem Jahr 1959 verband Arendt ihre Konzeption des Öffentlichen mit einer Kritik der damaligen amerikanischen Politik der Rassenintegration. Ihre Argumentation, mit der sie sich in provokanter Weise gegen erzwungene Integration aussprach, wurde unmittelbar nach der Publikation des Textes und auch noch in den anschließenden Jahren von verschiedenen Seiten als unamerikanisch, konservativ, antiliberal oder sogar rassistisch kritisiert. Das wiederum war der wesentliche Grund dafür, dass man in der Rezeption des Textes lange jene Passagen übersah, die einige grundlegende und heute sehr aktuelle Thesen zur Rolle der öffentlichen Sichtbarkeit von Differenz entwickelten, und statt dessen immer wieder auf Arendts in der Tat problematische These rekurrierte, erzwungene Gleichheit sei in keinem Fall besser als erzwungene Diskriminierung.20 Anlass ihres Essays war ein Pressefoto, das ein schwarzes Schulmädchen zeigte, das von einem weißen Polizisten durch das Spalier ihrer zukünftigen weißen Mitschüler zu ihrer neuen Schule in Little Rock in Arkansas eskortiert wurde. Der Polizist sollte sie vor Übergriffen der Mitschüler und ihrer Eltern zu schützen, die lautstark gegen die erzwungene Rassenmischung an öffentlichen Schulen protestierten. Arendts genereller Kommentar zu diesem Foto bestand in der zynischen Frage nach dem Zustand einer Gesellschaft, in der man Kindern die Aufgabe überträgt, »die Welt zu verändern und zu verbessern«21. Wesentlich aber ging es ihr um die in jenem Foto manifest werdende Rolle der Sichtbarkeit von Differenz und damit um die Rolle der körperlichen Erscheinung im Feld des Öffentlichen. Der Rassenunterschied sei in genau dem Maße eine genuin politische Herausforderung der Öffentlichkeit, in dem er eine sichtbare, in der körperlichen Erscheinung selbst sich manifestierende Differenz darstellt: »[Diese Sichtbarkeit] ist keineswegs eine Trivialität. Im öffentlichen Raum, wo nichts zählt, das nicht die Blicke oder das Gehör auf sich lenken kann, sind Sichtbarkeit und Hörbarkeit von äu20 Hannah Arendt: »Little Rock« [1959], in: H. Arendt, In der Gegenwart: Übungen im politischen Denken II, München 2000, S. 258-279. 21 Ebd., S. 265.

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60 | Christian Geulen ßerster Wichtigkeit. Das Argument, es handele sich dabei nur um Äußerlichkeiten, geht an der eigentlichen Frage vorbei. Denn gerade äußere Erscheinungen ›erscheinen‹ in der Öffentlichkeit, während innere Qualitäten emotionaler oder intellektueller Art nur in dem Maße politisch sind, wie ihre Besitzer sie dem Rampenlicht der Öffentlichkeit aussetzen möchten.«22

Eben das ist für Arendt der Grund dafür, warum in einer Gesellschaft wie der amerikanischen, die sich politisch grundlegend dem Gleichheitsgedanken verpflichtet hat, die bloße Anwesenheit sichtbarer körperlicher Rassendifferenzen einen ständigen Skandal darstellt. Und das umso mehr, je weitgehender der politische Anspruch auf Integration und Gleichheitsherstellung formuliert wird. Doch geht es hier weniger um die allgemeinen Probleme der Integration von Differentem, als vielmehr um die für Arendt wesentliche Unterscheidung zwischen sozialer und politischer Integration, deren Missachtung im Fall ›Little Rock‹ sie vor allem kritisiert. In dieser Unterscheidung wird deutlich, was Arendt mit ihrem theoretischen Argument für eine Trennung zwischen gesellschaftlichen Räumen und dem politischen Raum der Öffentlichkeit konkret meinte. Anhand von drei Beispielen erläutert sie diese Unterscheidung: Genuin soziale Räume sind solche, in denen es ein Recht auf Exklusion, ein Recht auf Exklusivität gibt, also Räume der Soziabilität oder Geselligkeit, in denen eine gewählte kollektive Identität ausgelebt werden kann. Dies betrifft in modernen Gesellschaften das Grundrecht auf freie Vereinigung, Assoziierung und Versammlung, kurz das Recht auf die Wahrnehmung und Ausübung von Gruppeninteressen, mögen diese sich nun durch Klasse und Schicht, durch Beruf und Amt oder durch Kultur und Ethnizität definieren. In diesem sozialen Raum ist ›Diskriminierung‹, also der explizite Ausschluss anderer, die Regel und ein Moment der inneren Gesellschaftsstabilisierung. Demgegenüber gibt es genuin öffentliche Räume, in denen sich jede Art von Ausschluss verbietet, insofern sie für alle notwendige und damit notwendig zugängliche Dienstleistungen bereitstellen. Arendts Beispiel ist hier der in den Vereinigten Staaten damals heiß diskutierte Status des öffentlichen Transportverkehrs, der zumindest in den Südstaaten der 1950er Jahre noch nach dem Prinzip der Rassentrennung organisiert war. In diesen im strengen Sinne öffentlichen Räumen muss laut Arendt das Gleichheitsgebot uneingeschränkt gelten. Einen dritten Lebensbereich schließlich, die so genannte Privatsphäre, sieht Arendt weder von Ausschlussmechanismen noch von Gleichheitsprinzipien geregelt, sondern von Abgeschlossenheit. Hier, etwa im Bereich von Freundschaft oder Liebe, ist die Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit eine Sache der persönlichen Wahl und kann sich prinzipiell quer zu allen gesellschaftlichen Strukturen manifestieren. Entsprechend polemisch verweist Arendt in diesem Zusammenhang auf die Doppelbödigkeit der damaligen Integrationspolitik, die zwar jede Art der Diskriminierung in Schulen gesetzlich und praktisch aufhob, jenes in einigen Südstaaten damals aber immer noch gültige Gesetz unberührt ließ, das gemischtrassische Ehen verbot.23

22 Ebd., S. 261. 23 Vgl. ebd., S. 268ff.

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Überlegungen zur Theoriegeschichte des Öffentlichen | 61 Der eigentliche Punkt also, über den Arendt und ihre Kritiker stritten, war nicht das allgemeine Problem der Integration von Minderheiten, sondern die Frage, in welchem Maße und in welchem Sinne die Institution Schule jenem öffentlichen Raum zuzurechnen ist, den auch Arendt dem verfassungsmäßigen Gleichheitsprinzip unterordnete. Während die Kritiker darauf bestanden, in der Schule einen etwa im Vergleich zum öffentlichen Transportverkehr noch viel wichtigeren Raum zu sehen, dessen Öffentlichkeit im strengen Sinne unbedingt garantiert sein müsse, argumentierte Arendt, dass gerade die Schule auch eine soziale Institution sei. Alles was die Erziehung, Bildung und Wissensvermittlung selbst und ihre Inhalte betreffe, sei zwar ein genuin öffentliches Gut, doch sei die Institution, in der diese Vermittlung stattfindet, immer auch ein Raum der Soziabilität. Mehr noch, die Schule stelle gerade jenen Raum bereit, in dem sich ein Individuum zum ersten Mal außerhalb der familiären Privatsphäre in einem gesellschaftlichen Kontext zu positionieren hat. Aufgrund eben dieser notwendigen sozialen Funktion von Schule könne sie nicht gänzlich den Regeln der politischen Öffentlichkeit unterworfen werden. Hier wird deutlich, dass Arendt keineswegs jene rigorose Liebhaberin des rein Politischen und Feindin des Gesellschaftlichen war, als die manche Kritiker sie präsentieren. Ihr Insistieren auf der Unterscheidung zwischen Politik und Gesellschaft ist ein theoretischer Imperativ und kein Rezept praktischer Staatsbildung. Die Schule war für Arendt typisches Beispiel für einen öffentlichen Raum, der sowohl soziale als auch politische Dimensionen besitzt, die es entsprechend beide zu berücksichtigen gelte; ein Raum, in dem sich Individuen versammeln, um sozial zu interagieren und im weiteren Sinne politisch zu reflektieren. Deshalb sei es weder möglich noch ratsam, diesen Raum von sozialer Zugehörigkeit und kultureller Differenz unberührt zu organisieren. Entsprechend ihrer generellen These, dass erst die konkrete Artikulation und Erscheinung von Differentem im öffentlichen Raum diesen konstituiert, würde ein striktes Absehen von Differenz im Namen des politischen Gleichheitspostulats den öffentlichen Charakter der Schule nicht befördern, sondern im Gegenteil sogar unterminieren. Sie liefe auf eine künstliche Trennung von Lern- und Erfahrungswelt hinaus. Kontroversen über die nötige und mögliche Reichweite der Repräsentation von Differenz in öffentlichen Räumen scheinen sich bevorzugt am Phänomen Schule zu entzünden. Der hierzulande so genannte Kopftuchstreit über die Frage, ob es muslimischen Lehrerinnen erlaubt sein soll, ihre traditionelle Kopfbedeckung im Unterricht, also in Ausübung ihres öffentlichen Amtes zu tragen, ist das jüngste Beispiel. Während sich ein Großteil der Debatte hier auf die Frage konzentriert, ob das Kopftuch nun ein eindeutig religiöses bzw. ideologisches Symbol sei oder nicht, würde die Arendt’sche Sichtweise einen ganz anderen Aspekt in den Blick rücken: die Verwechselung des politischen Prinzips unparteiischer Erziehung im öffentlichen Raum mit dem Ausschluss jedweder Differenz und ›Parteiung‹ aus diesem Raum. Das vielleicht Bemerkenswerteste an Arendts Idee des doppelten, sozialen und politischen, Charakters öffentlicher Räume ist vielleicht die Tatsache, dass sie eine Flexibilität des Öffentlichen gegenüber historischem Wandel impliziert. Arendts Aufforderung von 1959, die Rassentrennung an Südstaaten-Schulen nicht auf dem Wege des politischen Zwangs aufzuheben, basierte auf dem Argument, dass eine

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62 | Christian Geulen erzwungene Integration in einem Kontext, der ansonsten von einer ganzen Kultur der Rassendiskriminierung geprägt war, die persönlichen und sozialen Rechte Einzelner unter Umständen in einem höheren Maß verletzen könnte, als durch die langfristigen positiven Effekte einer künstlichen Integration wettzumachen sei. Eben diese Möglichkeit drückte sich für Arendt in jenem Pressefoto des polizeilich eskortierten Schulmädchens aus. Das Argument selbst aber ist und bleibt eines der Abwägung und impliziert durchaus die Möglichkeit, dass in anderen Kontexten erzwungene Integration sinnvoll ist. In einem öffentlichen Raum etwa, der genügend Freiräume für das Ausleben persönlicher Identität und sozialer Zugehörigkeit lässt, in seiner primären Funktion aber noch von einem Ungleichgewicht der Chancen geprägt ist – wie etwa noch bis vor kurzem und teilweise immer noch das höhere universitäre Bildungssystem in den USA – ließe sich auf der Basis der theoretischen Position Arendts für die Einführung von Quotenregelungen, also für die so genannte affirmative action argumentieren.24 Allerdings unter der grundlegenden Voraussetzung, dass diese Quotierung kein Selbstzweck sein kann und darf. Darüber hinaus berücksichtigt Arendts offenes und historisch flexibles Konzept öffentlicher Räume auch die Tatsache, dass soziale Identitäten eine politische Dimension gewinnen und soziale Räume zu politischen Räumen werden können. Denn es sind nach Arendt ja gerade die handelnden Subjekte, die den Raum, in dem sie auftreten und sich artikulieren, erst zu einem öffentlichen Raum machen, Öffentlichkeit also durch ihr konkretes Erscheinen und Handeln erst herstellen. Mit anderen Worten und um es mit einem Terminus zu sagen, der Arendt noch unbekannt war: öffentliche Räume sind performative Räume. Performativität meint hier, in Anlehnung an Judith Butler, eine weder theoretisch noch praktisch auflösbare Verschränkung von körperlicher Präsenz und der Konstituierung von Identität, Zugehörigkeit, sozialer Ordnung und kultureller Positionierung. In kritischer Weiterentwicklung der feministischen Theorie geschlechtlicher Identitätsbildung hat Butler dieses Konzept der Performativität eingeführt, um die Paradoxien »essenzialistischer« und »konstruktivistischer« Gegenbegriffe im feministischen Diskurs zu durchbrechen. An die Stelle des so grundlegenden wie am Ende doch immer dialektischen Widerspruchs zwischen ›biologischer‹ und ›kultureller‹ Geschlechtskonstituierung tritt bei Butler die Untersuchung der Phänomenologie und historischen Genealogie konkreter, performativer Akte der Bildung und Umbildung geschlechtlicher Identität. In diesen gibt die jeweilige Konstellation von körperlicher Erscheinung und ideeller Bedeutungszuschreibung den Blick auf die eigentliche Struktur identitärer Ordnungen frei, statt sie in ihrer vermeintlich kritischen Ausdifferenzierung wieder zu verschütten. Zugleich sollen auf diese Weise auch die Möglichkeiten alternativer Ordnungen durch veränderte performative Praktiken sichtbar werden. Die Untersuchung solcher alltags- und kulturpolitischen Praktiken des performativen Spiels und der praktisch-handelnden Neuordnung von iden-

24 In diesem Sinne ist es im Fall der Schule gerade die Tatsache, dass ihr Besuch von vornherein gesetzlich vorgeschrieben ist, die ihre politisch verordnete Sozialhomogenisierung umso problematischer machen würde.

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Überlegungen zur Theoriegeschichte des Öffentlichen | 63 titären Zeichen und Symbolsystemen ist inzwischen zu einem wichtigen kulturwissenschaftlichen Forschungsfeld geworden.25 In ähnlicher Weise können auch die im vorliegenden Band untersuchten neuen sozialen Praktiken muslimischer Akteure im öffentlichen Raum als Formen einer spezifischen Performativität gelesen werden. Das neue Arrangement wiedereingeführter traditioneller Signifikanten der muslimischen Kultur und Religion experimentiert mit Verschiebungen und Transformationen ihrer praktischen Funktion und ideellen Bedeutung. Wie Nilüfer Göle in ihrer Studie zur Funktion des Schleiers im Selbstverständnis junger Musliminnen in der Türkei gezeigt hat, führt es in die Irre, solche Formen der öffentlichen Wiedereinführung traditioneller Symbole entweder als tatsächliche, womöglich fundamentalistische Wiederkehr religiöser Tradition oder aber als bewussten soziopolitischen Akt antimoderner oder antiwestlicher Provokation zu deuten. Man sollte weniger den Schleier – genauer gesagt: das Kopftuch – als ein Symbol und vielmehr das Verschleiern als eine soziale und kulturelle Praxis lesen, mit deren Hilfe sich junge Frauen in einer Gesellschaft positionieren, die sich gerade durch eine komplexe Verschränkung modern-säkularer und traditionell-religiöser Strukturen auszeichnet. Es ist diese Ambivalenz selbst, die in der Praxis des Verschleierns zur Darstellung gebracht wird: Die Verhüllung des Körpers, ein vermeintliches Verbergen der Person und zugleich eine öffentliche Zurschaustellung eben dieses Akts der Verhüllung mag oder mag auch nicht Ausdrucksform der jeweils eigenen Identität sein; vor allem aber ist es ein performativer Akt, eine Performance des Religiösen im säkularen Kontext, ein Auftritt der Tradition im modernen Raum des Öffentlichen. Indem der Schleier gerade kein vollständiges Bild der verschleierten Person liefert, die persönlich-identitäre Bedeutung des Schleiers also verborgen bleibt wie der Körper, den er bedeckt, reproduzieren und parodieren diese Frauen in ihrer eigenen Körperdarstellung die Unterscheidung zwischen »öffentlich« und »privat« und problematisieren damit zugleich die offizielle, staatspolitisch ausgerufene Trennung zwischen öffentlichem Säkularismus und privater Religiosität.26 Im Licht der Arendt’schen Konzeption des Öffentlichen betrachtet, kann die Tatsache, dass die meisten der im vorliegenden Band untersuchten muslimischen Praktiken ähnliche Formen des Performativen aufweisen, sowohl ein Effekt der spezifischen Situation des heutigen Islam und seines Verhältnisses zur Moderne als auch ein Effekt der spezifischen Situation und des heutigen Zustands der modernen Öffentlichkeit sein. Denn wenn Arendts Diagnose zutrifft, dass die Moderne dazu tendiert, öffentliche Räume zu nivellieren, ihre asymmetrische Pluralität zu symmetrisieren, ließen sich jene Praktiken unter Umständen als performative Unterbrechungen dieser Entwicklungstendenz interpretieren.

25 Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991 (engl. Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity, New York/London 1990); J. Butler: Körper von Gewicht, Frankfurt am Main 1997 (engl. Bodies That Matter: On the Discursive Limits of »Sex«, New York/London 1993). 26 Vgl. Nilüfer Göle: Republik und Schleier: Die muslimische Frau in der modernen Türkei, Berlin 1995. (Frz. Musulmanes et modernes: Voile et civilisation en Turquie, Paris 1993.)

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64 | Christian Geulen Die Orientierung von Lebenswelten an zyklischen Modellen religiöser Zeitverlaufsvorstellungen, die öffentliche Aufführung religiöser Kleiderordnungen, die Installierung exegetischer Lesezirkel in öffentlichen Cafés sowie eine Reihe anderer hier untersuchter Formen muslimischer Alltagspraxis können zwar auch als bloße Ausdrucksformen einer persönlichen Identität und kulturellen Zugehörigkeit gelesen werden. Doch erhalten sie eine genuin politische Qualität, insofern sie eine für andere sichtbare Position innerhalb des öffentlichen Raums weniger verlangen als vielmehr praktisch herstellen und immer schon konkret einnehmen; und zwar eine Position, für die im säkularen Selbstverständnis dieser öffentlichen Arenen eigentlich kein Platz vorgesehen war. Damit repräsentieren diese Praktiken nicht nur so etwas wie einen Wiedereintritt der Religion in die Öffentlichkeit, sondern machen die Religion selbst zu einem Mittel und Medium der Markierung von Asymmetrie und Heterogenität. Die Verhüllung des Körpers mit Kopftuch und Mantel, die Zierde (und Verhüllung!) des Gesichts durch einen traditionellen Bart oder das gemeinsame Lesen und Memorieren der islamischen Überlieferungstexte – dies sind an und für sich recht normale Ausdruckformen religiösen Lebens. Als performative Praktiken in öffentlichen Räumen jedoch, die vom modern-westlichen Verständnis des Öffentlichen geprägt sind, bringen sie Religiosität nicht mehr nur zum Ausdruck, sondern sie zitieren Religion als Ausdruck politischer Partizipation.

Schluss: Das Öffentliche – und eine Puppe In seinen Thesen über den Begriff der Geschichte von 1940 erinnerte Walter Benjamin einleitend an jenen berühmten automatischen Schachspieler, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf Jahrmärkten und Ausstellungen in ganz Europa öffentlich zur Schau gestellt wurde: »Eine Puppe in türkischer Tracht, eine Wasserpfeife im Munde, saß vor dem Brett, das auf einem geräumigen Tisch aufruhte. Durch ein System von Spiegeln wurde die Illusion erweckt, dieser Tisch sei von allen Seiten durchsichtig. In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister im Schachspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte. Zu dieser Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstellen. Gewinnen soll immer die Puppe, die man ›historischen Materialismus‹ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und hässlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.«27

In einem detaillierten Kommentar zu diesem Text hat Ralf Konersmannn darauf hingewiesen, dass weder das Bild des Schachspielers noch die Weise, in der Benjamin es philosophisch umdeutet, eindeutige Thesen impliziert. In Benjamins Wahl der sprachlich-grammatikalischen Verknüpfung wird in der Tat offen gelassen, wer 27 Walter Benjamin: »Über den Begriff der Geschichte« [1940], in: Gesammelte Schriften I.2., Frankfurt am Main 1980, S. 691-706, hier S. 693.

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Überlegungen zur Theoriegeschichte des Öffentlichen | 65 genau hier wen »in den Dienst nimmt«, ob die Puppe des historischen Materialismus sich des Zwergs der Theologie bedient oder umgekehrt. Wie im Rest dieses erstaunlichen Textes, der auf wenigen Seiten versucht, ein radikal antireligiöses, nämlich das marxistische Geschichtsverständnis mit einem radikal antimaterialistischen zu fusionieren, nämlich dem messianischen, bleibt auch hier die Entscheidung aus.28 Dennoch kann dieser einleitende Absatz, der zunächst als eine Art metahistorische Einleitung des zu entwerfenden Konzepts von Geschichtsschreibung erscheint, selber bereits als praktische Form und Ausübung dieser Geschichtsschreibung gelesen werden. Denn die metahistorische Reflexion setzt ganz bewusst an einem Stück konkreter historischer Information und Überlieferung an. Der Verweis auf den Schachspieler ist aber dennoch etwas anderes als bloß der erinnernde Rückgriff auf ein historisches Exemplum. Vielmehr wird dieses Stück Vergangenheit in eine direkte und unmittelbare Beziehung zu seiner eigenen historischen Deutung gebracht. Damit spiegelt die Verschränkung von Marxismus und Theologie, die im historischen Beispiel illustriert wird, zugleich die von Benjamin anvisierte Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart. Hier – wie im Rest des Textes – verhalten sich Vergangenheit und Gegenwart, der historische Fall und seine historiographische Deutung, in der gleichen Weise zueinander wie die Puppe und der Zwerg: weder in einer kausalen, noch zeitlichen Folge oder Entwicklung, sondern in Form einer unmittelbaren, nurmehr räumlichen Beziehung. Konersmann hat diese im Text beschriebene wie vorgeführte ›historische Methode‹ treffend eine »Dialektik im Stillstand« genannt, eine Dialektik ohne Zeitverlaufsvorstellung, die sich stattdessen als asymmetrischer Zusammenhang singulärer historischer Momente präsentiert. Noch in einer anderen, ganz ähnlichen Passage in Benjamins Text wird dieses Konzept einer ›räumlichen‹ Präsentation geschichtlicher Zusammenhänge deutlich. Hier zitiert Benjamin ein Ereignis während der Pariser Juli-Revolution von 1830, als man zu einem bestimmten Zeitpunkt von der Straße aus begann, auf die öffentlichen Uhren an Kirchtürmen und Rathäusern zu schießen. Auch an dieser Stelle wird das überlieferte Ereignis in seiner Zitation unmittelbar zum theoretischen Imperativ seiner historiographischen Deutung: Es gilt, den revolutionären Moment durch die Unterbrechung der Zeit und das Überspringen gewohnter Entwicklungszusammenhänge für die Gegenwart zu bewahren.29 Im vorliegenden Zusammenhang ist an diesen geschichtsphilosophischen Thesen besonders der Umstand interessant, dass in ihnen das Moment des Öffentlichen eine Schlüsselrolle spielt. In Paris war es ein öffentlich ausgeführtes Schießen auf die öffentlich ausgehängten Uhren; und ebenso wurde der Schachspieler in öffentlichen Räumen präsentiert, nicht zuletzt auch in den Frühformen jener in den Metropolen des 19. Jahrhunderts entstehenden ›Passagen‹ und Konsumtempel, mit denen sich Benjamin am Ende seines Lebens so intensiv beschäftigte. Während Historiker auf Benjamin meist als theoretischen Schirmherrn eines alltagsgeschichtlichen An28 Ralf Konersmann: Erstarrte Unruhe: Walter Benjamins Begriff der Geschichte, Frankfurt am Main 1991, besonders S. 20-37. 29 Vgl. Benjamin: »Begriff der Geschichte«, S. 702.

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66 | Christian Geulen satzes verweisen, der anstelle der großen politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in den vernachlässigten Bereich des Privaten vordringt, wird hier deutlich, dass Benjamin selbst dieser Unterscheidung wenig hätte abgewinnen können. Ihn interessierte vielmehr, in welcher Weise scheinbar private Formen des alltäglichen Konsums in den Metropolen neue öffentliche Räume konstituierten: wie die Praxis des Flanierens ein besonderes Zeit/Raum-Verhältnis hervorbrachte, wie die moderne Fotografie und später der Film die öffentlichen Sehgewohnheiten und Wahrnehmungsweisen änderten, oder wie auf den Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts der Kapitalismus als soziale Praxis eingeübt wurde. Vor diesem Hintergrund kann man das Bild von der Schach spielenden Puppe nicht nur auf das Verhältnis von Marxismus und Theologie oder von Vergangenheit und Gegenwart, sondern ebenso auf das Verhältnis zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten beziehen: Was bei Benjamins Schachspieler offen zur Schau gestellt wird und somit öffentlich in Erscheinung tritt, sind vor allem seine identitären, in diesem Fall orientalisierenden Symbole und Zeichen: die türkische Tracht und die Wasserpfeife, die ihn als einen genuinen Meister des orientalischen Spiels ausweisen. Doch funktioniert er allein durch das, was privat und verborgen bleibt. Dieser ›wirkliche‹ Schachmeister wiederum ist eine körperlich de-rangierte Figur im Innern einer Struktur, die von allen Seiten durchsichtig scheint, im Innern scheinbarer Transparenz. Alles in allem ist also rein gar nichts echt hier, nichts ist das, was es zu sein scheint. Im Grunde ist jeder einzelne Aspekt in diesem Bild einer in der Tat kybernetischen Konstruktion irgendwie de-rangiert, verfälscht, zumindest ambivalent hinsichtlich seiner eigentlichen Funktion, Bedeutung und Identität. In ihrer spezifischen Anordnung aber bilden die Einzelstücke eine Konstellation, die »immer gewinnen soll«. Verborgene Praxis, scheinbare Transparenz, performative Neuordnung identitärer Zeichen – eben das sind die Elemente, die auch in den Erscheinungsweisen kultureller Differenz in öffentlichen Räumen eine Rolle spielen, wie sie im vorliegenden Band anhand beispielhafter Praktiken heutiger Muslime untersucht werden. Benjamins Schachspieler liefert ein Bild für die Komplexität dieser Praktiken. Und das weniger durch seinen eigenen Orientalismus oder mit Blick auf die zentrale, wenn auch unentschiedene Rolle von Religion und Theologie. Vielmehr unterstreicht es die Tatsache, dass sich diese öffentlichen Erscheinungsformen kultureller Identität nicht auf klare und eindeutige Ansprüche festlegen lassen, die man innerhalb einer präexistenten Öffentlichkeit anhören und tolerieren kann – oder auch nicht. Deutlich wird stattdessen, wie schon Arendt feststellte, dass im öffentlichen Raum nichts mehr, aber auch nichts weniger als ›Erscheinungen‹ in Erscheinung treten, die ihren eigenen Platz in diesem Raum erobern, ohne dabei aber ein vollständiges Bild der Identitäten oder gar Interessen zu liefern, die sie zum Ausdruck bringen. Die öffentliche Präsenz kultureller und identitärer Zugehörigkeit, die spezifischen Formen, in denen das Private nach außen gekehrt wird und eine öffentliche Position einnimmt, wie sie im vorliegenden Band untersucht werden, repräsentieren also keinen einmaligen Schritt individueller oder kollektiver Identitäten von der einen Sphäre in die andere, sondern bringen performativ die scheinbar Ordnung stiftende Unterschei-

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Überlegungen zur Theoriegeschichte des Öffentlichen | 67 dung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten selber zur Darstellung. Damit erheben sie weder Anspruch auf Gleichheit noch Toleranz, sondern beanspruchen und praktizieren politische Partizipation. Aus dem Englischen übersetzt vom Autor

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68 | Christian Geulen Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise: Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt [1959], Frankfurt am Main 1976. Said, Edward W.: Orientalismus, Frankfurt am Main 1981, ern. 1999. (Engl. Orientalism, New York 1978.) Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen [1932], Berlin 1963. Sellin, Volker: »Politik«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Stuttgart 1978, Bd. 4, S. 789-874. Stauth, Georg: Authentizität und kulturelle Globalisierung: Paradoxien kulturübergreifender Gesellschaft, Bielefeld 1999. Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung: Mit Kommentaren von Amy Gutman, Steven C. Rockefeller, Michael Walzer, Susan Wolf. Mit einem Beitrag von Jürgen Habermas, Frankfurt am Main 1993. (Engl. Multiculturalism and the Politics of Recognition, Princeton, NJ 1992.) Warner, Michael: Publics and Counterpublics, New York 2002. Will, Jan-Hendrik: »Sieh! Mich! An!«, in: die tageszeitung, 24. Mai 2004, S. 15. Zizek, Slavoj: Ein Plädoyer für Intoleranz, Wien 1998. Zizek, Slavoj: Liebe Deinen Nächsten? Nein, danke! Berlin 1999. ^ ^ ^ ^

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Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation | 69

Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation Ludwig Ammann Wie ein allzu langer Schatten weicht die Vergangenheit Zurück in die Voraussicht, und ins Neue. John Ashbery

Prolog: Der doppeldeutige Schritt in den öffentlichen Raum Moderne Menschen aus dem Westen schätzen ihre persönliche Privatsphäre – als das Recht, in Ruhe gelassen zu werden. Gleichzeitig genießen sie für ihr Selbst eine grenzenlose Öffentlichkeit – wenn sie mutwillig Körper und Seele, Unterleib und Überzeugungen vor einer Öffentlichkeit von Fremden zur Schau stellen. Es ist, als ob das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, das Bedürfnis, ja gelegentlich sogar die Pflicht zur Entblößung und zum Bekenntnis förderte – das Bedürfnis, indiskret und unterschiedslos aus dem Schutz der Privatsphäre hervorzutreten, um sich anderen zu nähern. Für moderne Menschen muslimischer Abstammung liegen die Dinge etwas anders. Hier kommen einem zwei Beispiele aus der Türkei in den Sinn, einem Land, das modern sein will – zwei selbstreflexive öffentliche Auftritte, beide am Vorabend der Jahrtausendwende, beide seltsam fragwürdig und darum beunruhigend. Am 2. Mai 1999 trat Merve Kavakci, als erste weibliche Abgeordnete der islamischen Tugendpartei ins Parlament gewählt, in die Öffentlichkeit – und nicht nur in die Öffentlichkeit, sondern ins Parlament, die ehrwürdigste Arena der öffentlichen Debatte in der Türkischen Republik, um ihren Eid abzulegen.1 Ins Rampenlicht trat sie allerdings mit einem weißen Kopftuch, also mit jener Kopfbedeckung, die die islamistische Kleiderordnung von Frauen verlangt. Diese kühne Provokation führte umgehend zu Protesten von derartiger Heftigkeit – »Merve raus, Ayatollahs in den Iran!« –, dass sie gezwungen war, sich ohne Eidesleistung zurückzuziehen. Die Verschleierung ist und bleibt das mächtigste Symbol im weltweiten Kampf für einen islamischen Lebens- und Politikstil. In der Türkei verstößt sie gegen die strikt säkulare Gestaltung der Öffentlichkeitssphäre im ganzen Land; Kopftücher sind im Parlament und in den Universitäten ausdrücklich verboten. Wer sich im Parlament deutlich sichtbar als Muslim oder Muslimin präsentiert, verletzt das weltliche Auge so sehr, dass keine weitere Debatte möglich ist, kein wohlwollender Zweifel. Das ist allerdings bedauerlich, denn Merve Kavakci trat ja, obgleich sie sich als fromme Muslimin präsentierte, nicht als irgendeine beliebige Muslimin auf. Die Aussage, die sie mit ihrer Art sich zu kleiden machte, war durchaus nicht eindeutig. Denn sie wich 1 Vgl. die meisterhafte Interpretation von Nilüfer Göle: »Islam in Public: New Visibilities and New Imaginaries«, in: Public Culture 36 (2002), S. 173-190, bes. S. 178ff., die ich hier zusammenfasse. Ich bin Nilüfer Göle zu großem Dank dafür verpflichtet, dass sie mir mit ihrem spannenden Forschungsprojekt, mit ihren Publikationen und Gesprächen eine neue Gedankenwelt erschlossen hat.

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70 | Ludwig Ammann markant von dem strengen, bewusst nichtmodischen Kleidercode ab, der Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts in Ägypten erfunden worden war, von der so genannten »islamischen Kleidung« (az-ziyy al-islâmî)2; sie verband ihr Kopftuch mit einer modischen randlosen Brille und einem modischen zweiteiligen Kostüm mit langem Rock – anstelle eines langen Gewandes, das die Körperkonturen verhüllt. Die 31-jährige, in den USA ausgebildete Computeringenieurin Merve Kavakci verkörperte somit die grundlegende Ambivalenz des modernen Islamismus als schöpferische Kreuzung von Tradition und Moderne. Kavakcis Art, das Kopftuch zu tragen, weist wesentliche Elemente des ursprünglichen Musters weiblicher Sittsamkeit zurück, wie sie sich in Verschleierung und Zurückgezogenheit äußern: Diese Muslimin lässt sich nicht auf den privaten Raum beschränken, sondern schlägt den Weg einer beruflichen und politischen Karriere ein; mit ungewöhnlicher Selbstsicherheit meldet sie sich in der Öffentlichkeit zu Wort. Gleichwohl ist sie stolz, in der Öffentlichkeit einen Rest von Privatsphäre zu bewahren, indem sie ihren Körper vor den neugierigen Blicken Fremder abschirmt. Ihr Kopftuch ist mehr als ein Symbol. Kavakci hält sich bedeckt und geht doch in die Öffentlichkeit; ihre modische Inszenierung bekräftigt, dass sie weder eine Muslimin oder Islamistin im alten Stil noch im westlichen Sinne modern sein will – und genau das macht ihren Anblick für altmodische säkularistische wie islamistische Betrachter so schwer erträglich. Eine ästhetische Umkehrung dieser mehrdeutigen Szene war vom 28. September bis 19. Oktober des Jahres 2000 in Istanbul zu besichtigen. Jeden Abend gab es damals am Istiklal Caddesi (Straße der Unabhängigkeit), einem Prachtboulevard im Herzen des modernen Istanbul, dem öffentlichen Raum schlechthin, ein seltsames Schauspiel zu sehen: Im ersten Stock des Yapi Kredi Kulturzentrums schien sich eine rothaarige Frau im kurzärmeligen Kleid gegen eine Fensterscheibe zu pressen und diese unsichtbare Barriere in endlosen Berührungen mit Händen und Gesicht zu erkunden. Es handelte sich um eine Videoprojektion der türkischen Künstlerin Selda Asal, die ihre Installation »Glashaus« (»House of Glass«, »Maison fragile«) nannte. Diese Szene weckte sofort Erinnerungen an weibliche Abgeschlossenheit und Geschlechtertrennung – Gegebenheiten, die die kemalistische Revolution im Zeichen ihres großen »Zivilisierungsprojekts« der Verwestlichung des Landes schon vor langer Zeit abgeschafft hatte.3 Trotzdem dauert, so eine erste Deutung der Videoinstallation, die Tradition der Verbannung in den Innenraum an. Es gibt zwar keinen Schleier mehr, und auch die hölzerne masrabiyya, die es den Frauen gestattete, aus dem Fenster zu schauen, ohne selbst gesehen zu werden, ist dahin. Aber die Grenzen zwischen Innenwelt und Außenwelt sind nur unsichtbar geworden, nicht imaginär. Anders gesagt, wenn wir das Imaginäre wirklich ernst nehmen, bleibt die gespenstische Erinnerung an Schwellen weiterhin fruchtbar. Diese Lesart steht mit den Erwartungen der Progressiven mehr oder weniger in Einklang. Gleichwohl bleibt an der Verhaltensweise dieser Frau etwas Seltsames, Ambivalentes, dessen Wurzeln tiefer reichen. Warum schaut sie nicht einfach aus dem Fenster, warum ^

2 Vgl. Fadwa El Guindi: Veil: Modesty, Privacy and Resistance, Oxford 2000, S. 134, 143f. 3 Vgl. Nilüfer Göle: The Forbidden Modern: Civilization and Veiling, Ann Arbor, MI 1996, S. 57ff.

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Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation | 71 nimmt sie nicht zur Kenntnis, was draußen vor dem Fenster geschieht? Könnte es sein, dass die neue Transparenz, weit davon entfernt, Kontakte zu erleichtern, vielmehr die Isolation fördert? Und liegt in der Art dieser Frau, sich zu bewegen, nicht, obwohl sie sich an die Scheibe presst, etwas uneingestanden Ängstliches, eine Art Scheu vor dem Schritt in die Öffentlichkeit – als Künstlerin, als Frau, als Mensch? Eine gewisse Traurigkeit, als dämmerte ihr, dass jeder Gewinn an öffentlicher Sichtbarkeit mit einem Verlust an Privatsphäre verbunden ist? Nicht umsonst verweist der französische Titel »Maison fragile« auf den Wert dessen, das »zerbrechlich« geworden ist – auf den Wert des Hauses als Refugium, als Hort der heiligen Privatsphäre. Die Künstlerin selbst sagt, dass es in ihrer Installation um »Eingrenzung und Nähe« (»limitation and closeness«) gehe.4 Der innere semantische Zusammenhang dieser Begriffe ist erhellend. Denn das Eingegrenzt-Sein oder Eingeschlossen-Sein, eigentlich nur das Ergebnis einer Grenzziehung, offenbart ganz nebenbei die verborgenen Vorteile einer solchen »Klausur«: In der Abgeschlossenheit kommen sich die »Eingegrenzten« viel näher – eine Beziehung, die im Englischen, anders als im Deutschen, auch sprachlich deutlich wird (closure erleichtert closeness). Nähe, die Kehrseite der Medaille, hoffte eine Gruppenausstellung zu entdecken, in der Asals Installation in neuem Kontext nochmals zu sehen war. Der Titel dieser Ausstellung lautete »Aus der Ferne so nah«.5 Hier, im ruhigen, geschützten Innenraum eines Museums, war das Video in einer Tür installiert und wurde von einer Flüsterstimme begleitet, die Intimität schuf – eine intime Nähe, die auf der Istiklal Caddesi unmöglich oder verzerrt gewesen wäre, wenn man die Lautstärke der Stimme entsprechend erhöht hätte. Ergänzt wurde die Installation ferner durch eine Schwarz-Weiß-Videoprojektion von drei strengen Gesichtern, die das rothaarige Mädchen durch einen vergoldeten, an einer Wand hängenden Rahmen musterten. Drei weiße Frauengesichter, die aus der Dunkelheit hervortraten, als wären sie von schwarzen Kopftüchern umhüllt, Tüchern, die nahtlos in die sie umgebende Dunkelheit übergingen. Die Frauen zu diesen Gesichtern sind, wie es im Ausstellungskatalog heißt, barhäuptig. Doch pflanzt sich ein uralter Habitus der Selbstbeschränkung so fort, als trügen diese Frauen tatsächlich Kopftücher. Der gesellschaftlich geformte Körper schüttelt ein über Jahrhunderte eingeschriebenes performatives Muster nicht so einfach ab. Abermals ist die naheliegende Assoziation, dass diese Frauen in einem – freilich goldenen – Käfig traditioneller Rollenzuschreibungen gefangen sind, auch nachdem Schleier und Absonderung passé sind. Damit ist allerdings noch nicht erklärt, warum wir hier in Wirklichkeit ein und dieselbe Frau beobachten – ein Selbst, das in drei Figuren gespalten ist, wodurch sich die Szene ins Psychologische wendet. Und plötzlich erkennen wir auch noch, dass diese dreifache Frau mit dem rothaarigen Mädchen identisch ist, welches sie wie eine misstrauische Mutter überwacht. Der neue Titel dieser Übung in überhöhter Selbstreflexivität lautet »Selbstbeobachtung« (»Me watching 4 Selda Asal in einer E-Mail an den Verfasser vom 11. Dezember 2001. Ihr gilt mein besonderer Dank. 5 Vgl. Margrit Brehm (Hg.): Aus der Ferne so nah: Vier Künstlerinnen aus der Türkei. Füsun Onur – Selda Asal – Elif Celebi – Günes Savas, 30. März bis 3. Juni 2001, Baden-Baden 2001; ich danke der Kuratorin Margrit Brehm für ihre Unterstützung.

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72 | Ludwig Ammann myself«). Für westliche Betrachter hält die Installation noch eine weitere Überraschung parat: Entgegen den Erwartungen beobachtet man nämlich nicht Selda Asal bei der Selbstbeobachtung. Vielmehr wird die Rolle von einer Schauspielerin verkörpert, von Emre Koyuncuoglu. Und dieser Unterschied ist sehr aufschlussreich. Im Westen exponieren sich Videokünstler fast immer selbst, ihre eigenen Körper und Seelen – so sehr, dass die Kunstkritikerin Rosalind Krauss Videos in einem berühmten Diktum als im Grunde narzisstisches Medium abqualifizierte.6 Diese These ist offenkundig falsch: Der Gebrauch, den nordamerikanische Künstler von diesem Medium machen, ist narzisstisch, nicht das Medium selbst. Die türkische Künstlerin Selda Asal verzichtet trotz ihrer Ausbildung in Österreich und Italien auf eine solche Selbstentblößung und verlässt sich stattdessen auf das stumme Rollenspiel einer Stellvertreterin.7 Selbst das unverständliche Flüstern stammt nicht von ihr selbst: Die unsichtbare Stimme rezitiert Gedichte der jungen kurdischen Lyrikerin Bejan Matur. Zu dieser hermetischen Innenwelt finden Fremde so gut wie keinen Zugang. Selda Asals Gebrauch des Mediums Video weist das exhibitionistische Erbe dieser Gattung zurück. Ihre Suche nach Freiheit ist nicht zügellos; es gibt Grenzen, die sie lieber nicht überschreitet. Wenn sie sich überhaupt in die Öffentlichkeit wagt, dann so wie Merve Kavakci: verdeckt oder bedeckt. Diese Lesart nimmt postmoderne Zweifel auf. Wenn wir darin eine Bereicherung unserer ersten Lesart sehen wollen, dann verkörpert die Schauspielerin in »Glashaus«/»Selbstbeobachtung« sozusagen die Doppeldeutigkeiten der Moderne, so wie Kavakci die Ambiguitäten des Islamismus inszenierte. Nur der Ton hat sich geändert, sozusagen von Dur nach Moll. Daraus lässt sich vielleicht ableiten, vielleicht auch nicht, dass die politische Akteurin erfolgreicher eine gesunde Balance zwischen Öffentlichem und Privatem gefunden hat.

Die wandlungsreiche Unterscheidung zwischen Öffentlichem und Privatem Die Vergangenheit geht der Zukunft voraus und prägt, indem sie manches möglich macht und anderes nicht, die Gegenwart. Wer die gegenwärtigen Wandlungen von Öffentlichkeit und Privatsphäre durch die Auftritte muslimischer Akteure sowie das darin enthaltene Potenzial für uns alle verstehen will, muss sich zunächst eine Vorstellung vom Öffentlichen und Privaten in muslimischen Gesellschaften der Vergangenheit machen. Die Begriffe jedoch, die wir dabei zwangsläufig verwenden, sind grundlegend durch einen zweitausendjährigen Zivilisationsprozess geprägt, der eindeutig als europäisch zu bezeichnen ist. Das macht diese Begriffe bei einer Anwen6 Vgl. Rosalind Krauss: »Video: The Aesthetics of Narcissism«, in: Gregory Battcock (Hg.), Video: A Critical Anthology, New York 1978, S. 43-63. 7 Eine Gesamtinterpretation müsste bei Asals Installation auch den Aspekt der Frau als Künstlerin/Schauspielerin berücksichtigen. Vgl dazu Juliet Blair: »Private Parts in Public Places: The Case of Actresses«, in: Shirley Ardener (Hg.), Women and Space: Ground Rules and Social Maps, Oxford 1993, S. 200-221. Blair lokalisiert die private Seite von Frauen im Innern ihres Bewusstseins.

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Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation | 73 dung auf außereuropäische Kulturen nicht nutzlos – wenn man sich die Zeit nimmt, den eigenen Begriffsgebrauch zu überdenken. Unterbleibt diese Reflexion, dann sind diese Begriffe selbst im Hinblick auf die beiden letzten Jahrhunderte der westlichen Geschichte äußerst problematisch; und das scheint eher die Regel als ein Ausnahmefall. Denn die Unterscheidung zwischen »öffentlich« und »privat« ist proteischer Natur. Politische und wissenschaftliche Debatten konzentrieren sich meistens auf vier einander überlagernde, jedoch inkongruente Gegensatzbereiche, die man nicht durcheinander bringen darf:8 Da ist erstens die ökonomische Unterscheidung zwischen staatlicher Verwaltung und Marktwirtschaft, also zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor einer Volkswirtschaft. Die zweite, politische Unterscheidung von »öffentlich« und »privat« feiert das republikanische Ideal der Selbstregierung. Dabei wird das öffentliche Leben auf kollektive Entscheidungsprozesse im öffentlichen Raum reduziert – und damit sowohl vom Bereich der staatlichen Verwaltung als vom Bereich des Marktes unterschieden. So argumentieren zum Beispiel Hannah Arendt und Jürgen Habermas. Das Privatleben ist für die meisten Bewunderer der republikanischen Sitten uninteressant und wird deshalb in ihren Visionen oft übersehen. Das ändert sich allerdings sofort, wenn man, drittens, das öffentliche Leben als außerhäusliches geselliges Leben von Nachbarn und Freunden betrachtet und diesem Bereich das Privatleben als strikt häusliches Familienleben gegenüberstellt. Hier dient die Unterscheidung von »öffentlich« und »privat« auch dazu, eine sozialhistorische Erkenntnis hervorzuheben: Laut Philippe Ariès haben sich die westlichen Gesellschaften so verändert, dass das gesellschaftliche Leben sich zunehmend polarisierte – zwischen einem immer unpersönlicheren öffentlichen und einem immer intimeren privaten Bereich. Der Rückzug der Familie aus dem öffentlichen Raum und aus dem öffentlichen Leben in das Innere des Hauses, das nun gegen die Öffentlichkeit abgeschlossen wurde, riss beide Bereiche auseinander. Anders gesagt, das moderne Leben kann sich rühmen, immer mehr Privatsphäre und Intimität für den Bereich der Familie errungen zu haben, aber auf Kosten der traditionellen Geselligkeit und sogar des Individualismus.9 Jeff Weintraub neigt dazu, diese Art von Geselligkeit mit der modernen, eher anonymen Geselligkeit von Fremden in riesigen Städten auf eine Stufe zu stellen. Anders Ariès; seine geselligen Straßenbummler leben in kleinen Städten und kennen einander.10 Diese Sicht steht eher im Einklang mit dem traditionellen städtischen Leben, im Westen wie bei den Muslimen. Eine 8 Die folgenden Ausführungen basieren auf Jeff Weintraub: »The Theory and Politics of the Public/Private Distinction«, in: Jeff Weintraub/Krishan Kumar (Hg.), Public and Private in Thought and Practice: Perspectives on a Grand Dichotomy, Chicago 1997, S. 1-42. Diese ausgezeichnete Problemskizze ist aus politologischer Sicht geschrieben. 9 Vgl. Philippe Ariès: Die Geschichte der Kindheit, München 1978, S. 556ff. (frz. L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime, Paris 1960). 10 Vgl. ebd., S. 537 und 556, und J. Weintraub, »Theory«, S. 17. Auch Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962, und Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960 (urspr. The Human Condition, Chicago 1958), erörtern in ihren Werken den Gewinn an Intimität im Privatleben.

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74 | Ludwig Ammann weitere, andere Geschichte von der historischen Entwicklung der Privatsphäre erzählt, viertens, Norbert Elias. Er bezieht sich auf die Privatisierung der Körperfunktionen, die den Augen der Öffentlichkeit immer mehr entzogen und zunehmend in intime Räume verwiesen wurden. Elias’ These lautet, dass sich öffentliches und »intimes« Verhalten – im Sinne eines hinter Kulissen verborgenen Verhaltens – im Verlauf des Zivilisationsprozesses immer weiter auseinander entwickelt haben.11 Bemerkenswerterweise ist überdies der private Markt der Ökonomen als lokale Institution – vom Wochenmarkt in der Stadt bis zum Supermarkt – für den Soziologen der öffentlichste Raum, den es überhaupt gibt. Die Unterscheidung von »privat« und »öffentlich« ist in der Tat proteisch! Die neueste Variante dieser Differenzierung stammt aus der Feminismus-Forschung. Diese ähnelt der sozialhistorischen Forschung insofern, als sie »privat« mit dem häuslichen Bereich der Familie gleichsetzt und diesem einen öffentlichen Bereich gegenüberstellt, der gleichermaßen politisch und ökonomisch definiert ist. Somit kombiniert dieser Ansatz alle Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen »privat« und »öffentlich« und interpretiert sie neu – unter Hinweis darauf, dass beide Räume auch mit der Definition von Geschlechterrollen zu tun haben, nämlich mit der in wissenschaftlichen Erörterungen oft verschwiegenen Zuweisung des öffentlichen Raumes an den Mann, des privaten Raumes an die Frau. Eine solche Bewusstmachung ermöglicht die Konfrontation mit der Tendenz der Sozialwissenschaften, das gesellschaftliche Leben mit der Öffentlichkeit gleichzusetzen – mit einer von Männern beherrschten gesellschaftlichen Sphäre. Statt also das Private als Restbereich zu behandeln, sollten eher die besonderen Qualitäten der häuslichen gesellschaftlichen Sphäre erforscht werden.12 Welchen Nutzen haben nun diese modernen, meistens nicht unparteilichen Begriffsbildungen im Hinblick auf muslimische Gesellschaften? Die als Erste aufgeführte ökonomische Differenzierung kann im Folgenden außer Betracht bleiben. Die politische Unterscheidung kann zum besseren Verständnis insbesondere der gegenwärtigen Veränderungen beitragen, wenn wir von Hannah Arendts philosophischer Untersuchung ausgehen und uns das Potenzial ihrer am Performanzgedanken orientierten Definition von Öffentlichkeit als einem Raum oder einer Bühne für körperliche Auftritte zunutze machen.13 Das Habermas’sche Konzept einer bürgerlichen Öffentlichkeit ist dagegen für unsere Zwecke zu logozentrisch. Es ist bewusst epochentypisch, aber nur für eine Epoche (die der Aufklärung), und de facto so stark 11 Vgl. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation: Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt am Main 1976 (urspr. Basel 1939), S. 194, 222, 226, 259 und 261f.; vgl. zur Geschichte der Privatsphäre auch Anton Blok: »Dans les coulisses de la scène publique: Naissance et evolution de la privacy«, in: Mohamed Kerrou (Hg.), Public et privé en islam, Paris 2002, S. 47-76. 12 Vgl. Anna Yeatman: »Gender and the Differentiation of Social Life into Public and Domestic Domains«, in: Social Analysis 15 (1984), S. 32-49. 13 Vgl. H. Arendt: Vita Activa, S. 27-75; Seyla Benhabib: The Reluctant Modernism of Hannah Arendt, Thousand Oaks, CA 1996, S. 199ff.; und Christian Geulens Beitrag im vorliegenden Band.

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Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation | 75 normativ und idealisierend, dass es fast nirgends richtig anwendbar ist.14 Wendet man dieses Konzept zum Beispiel auf nichtwestliche Gesellschaften oder auf westliche Gesellschaften im Zeitraum vor der Aufklärung an, dann ist alles, was dabei herauskommen kann, die Feststellung, dass die Öffentlichkeit dort nur unzureichend ausgebildet sei. Im Falle des Islam lautet die Quintessenz dann, dass eine Theokratie keine Demokratie ist – eine Binsenweisheit. Wir müssen die Begriffe der Öffentlichkeit und der modernen Zivilgesellschaft wieder entkoppeln, um, wie Shmuel N. Eisenstadt zeigt, zu kulturell und historisch weniger festgelegten Definitionen von Öffentlichkeit zu gelangen. Ich schlage hier folgende Definition vor: »Öffentlichkeit« ist eine autonome, frei zugängliche Sphäre für Debatten über das Gemeinwohl, die zwischen der offiziellen Sphäre des Staates und der Privatsphäre angesiedelt ist. Wenn wir diese Definition zugrunde legen, wird sich herausstellen, dass die mittelalterlichen islamischen Gesellschaften sich in der Tat einer sehr lebendigen Öffentlichkeit rühmen konnten.15 Es war vor allem die gelehrte Auseinandersetzung über das religiöse Recht, die Scharia (sarî‘a), im Rahmen der Offenbarungen Gottes, die eine öffentliche Sphäre des rationalen Diskurses entstehen ließ – in Rechtsschulen, SufiOrden, religiösen Stiftungen sowie in den Ämtern des Richters (Kadi, qâd.î) und des Rechtsexperten (Mufti, muftî). Im Namen und auf Veranlassung der Gemeinschaft (umma) aller Gläubigen, die als gleichberechtigt galten, fungierte eine religiöse Elite, die freilich nicht als Klerus organisiert war, als Wächter der moralischen Ordnung. Überdies schuf sie einen öffentlichen Bereich, der vom Herrschaftsbereich (siyâsa) unabhängig war. Dass die Religionsgelehrten (‘ulamâ’) keinen Zugang zur aktiven Politik hatten, während die Herrscher bei der Bestimmung des Gemeinwohls kein Mitspracherecht hatten, ist ein spezifisch islamisches Muster der Trennung zwischen Öffentlichkeits- und Regierungssphäre, sozusagen eine Art Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive. Man kann also geradezu provozierend behaup^

14 Vgl. u.a. Peter von Moos: »Das Öffentliche und das Private im Mittelalter: Für einen kontrollierten Anachronismus«, in: Gert Melville (Hg.), Das Öffentliche und das Private in der der Vormoderne, Köln 1998, S. 3-83, hier S. 16ff.; Harold Mah: »Phantasies of the Public Sphere: Rethinking the Habermas of Historians«, in: Journal of Modern History 72 (2000), S. 153-182, hier S. 168; und neuerdings die erste Gadamer-Vorlesung des Historikers Peter Burke: »The Public Sphere – Past and Present«. Vgl. auch Craig Calhoun: »Introduction: Habermas and the Public Sphere«, in: Craig Calhoun (Hg.), Habermas and the Public Sphere, Cambridge, MA 1992, S. 1-50. Aus mediävistischer Sicht weist Rüdiger Brandt Habermas’ These zurück, es habe in vormodernen Zeiten keine Institutionen gegeben, die den öffentlichen Diskurs gefördert hätten. Vgl. Rüdiger Brandt: Enklaven – Exklaven: Zur literarischen Darstellung von Öffentlichkeit und Nichtöffentlichkeit im Mittelalter. Interpretationen, Motiv- und Terminologiestudien, München 1993, S. 303ff. 15 Vgl. Shmuel N. Eisenstadt: »Public Sphere, Civil Society and Political Dynamics in Islamic Societies«, in: Miriam Hoexter/Nehemia Levtzion/Shmuel N. Eisenstadt (Hg.), The Public Sphere in Muslim Societies, Albany, NY 2002, S. 139-161, und seinen Beitrag zum vorliegenden Band. Weitere Einzelheiten finden sich im zitierten Sammelband von Hoexter/Levtzion/Eisenstadt. Natürlich florierte auch die öffentliche Debatte über andere Themen, z.B. über Literatur.

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76 | Ludwig Ammann ten, dass es im mittelalterlichen Islam eine »Zivilgesellschaft« gab, die auf der Auslegung des heiligen Rechts durch private Akteure gründete. Natürlich unterschied sich diese Zivilgesellschaft in wesentlichen Punkten vom Typus der westlichen Zivilgesellschaft; denn hier bestand das Privileg in der Art und Weise, wie sich Untertanen zu ihren Herrschern und zum Staat verhielten, eher in der Option des Rückzugs als im Privileg, offen seine Meinung zu sagen:16 Man entzog sich dem engen Bereich der autokratischen Herrschaft und brachte seine Bedürfnisse im weiten Bereich des Rechts zum Ausdruck. Der zeitgenössische Islamismus stellt in dieser Hinsicht den Versuch dar, einen elitären Diskurs über das Gemeinwohl auf eine breitere Grundlage zu stellen; nunmehr sprechen die Laien für sich selbst, unter Umgehung der Fesseln traditioneller Gelehrsamkeit. Eine brillante neue Theorie der Öffentlichkeit wurde kürzlich von Michael Warner vorgelegt.17 Seine Darstellung der Entstehung moderner Öffentlichkeiten ist sehr erhellend. Aber seine Definitionen stellen das Neue daran so stark heraus, dass man das Gefühl bekommt, ohne einen täglichen oder wöchentlichen Erscheinungsrhythmus von Zeitungsauflagen sei überhaupt kein öffentlicher Diskurs möglich. Diesem Eindruck, dass vor Entstehung des modernen Pressewesens eine nennenswerte Öffentlichkeit überhaupt nicht möglich gewesen sei, steht allerdings entgegen, dass es im evolutionären Prozess der Entstehung von Öffentlichkeit auf jeden Fall funktionale Äquivalente oder Vorläufer gab. Die Öffentlichkeit als Idee im Bereich des gesellschaftlichen Imaginären mag ja zweifellos modern sein, aber der juristische Begriff eines unfehlbaren Konsenses (der ganzen Gemeinschaft – igmâ‘ al-umma, realistisch betrachtet ein consensus doctorum)18 fungierte im traditionellen öffentlichen Diskurs des Islam in ähnlicher Weise wie der Habermas’sche Begriff des Konsenses nach Abschluss der Debatte im modernen Gegenstück. Die relevantesten Gesichtspunkte für eine Untersuchung der traditionellen Muster von Privatheit und Öffentlichkeit in muslimischen Städten, wie sie uns hier vorschwebt, sind zum einen der sozialhistorische Akzent auf Geselligkeit im öffentlichen Raum und zum anderen die feministische Betonung der mit Geschlechtsrollendifferenzierung verbundenen Trennung von öffentlichem und privatem Raum. Dabei bleibt zunächst vor allem ein Punkt festzuhalten: Diese traditionellen Muster und ihre Wandlungen müssen von den für den Westen postulierten Mustern insofern markant abweichen, als ein hervorstechendes Merkmal des orientalischen Stadtund Dorflebens schon in vorislamischer Zeit ein strikt häusliches Familienleben war, ^

16 Vgl. Ellis Goldberg: »Private Goods, Public Wrongs, and Civil Society in Some Medieval Arab Theory and Practice«, in: Ellis Goldberg/Resat Kasaba/Joel Migdal (Hg.), Rules and Rights in the Middle East: Democracy, Law, and Society, Seattle 1993, S. 248-271. Vgl. zur Herrschaft des Rechts auch C. Calhoun: »Introduction«, S. 14. 17 Vgl. Michael Warner: »Publics and Counterpublics«, in: Public Culture 14 (2002), S. 4990. 18 Einzelheiten dieser juristischen Theorie finden sich in den Artikeln »IDJM‘« und »EJM‘« der Encyclopaedia of Islam, New Edition, und der Encyclopaedia Iranica. Vgl. auch Birgit Krawietz: Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam, Berlin 2002, S. 182-203.

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Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation | 77 das vor einem Eindringen der Öffentlichkeit bewahrt und bewacht wurde. Ob diese intensive Privatheit auf Kosten der öffentlichen Geselligkeit ging, wird zu zeigen sein. Wo liegt der semantische Kern der ursprünglich römischen Unterscheidung von »privat« und »öffentlich«, einer Begrifflichkeit, die es ermöglicht, die in stetigem Wandel befindliche Welt der sozialen, politischen und ökonomischen Phänomene nach so vielfältigen Gesichtspunkten zu ordnen? Publicus und privatus sind Begriffe, die ein fundamentales Problem der Gesellschaftsbildung umfassen: das Verhältnis des gesellschaftlichen Ganzen zu seinen Teilen. Differenziert wird nach dem, was sich auf das Volk (populus), die Gemeinschaft oder das Kollektiv bezieht, und dem, was davon abgetrennt ist (privatus). Der zweite Zustand hat immer zu gegensätzlichen Bewertungen Anlass gegeben, was sich auch in den gegensätzlichen Bedeutungen des Wortes privatio äußert: »Befreiung« (zum Beispiel von Schmerzen) und »Beraubung, Entzug« (eine wichtige Spezialbedeutung von privatus ist »des Amtes beraubt«).19 Das Privatleben kann als Privileg empfunden werden, aber auch als Amtsentzug – das hängt wahrscheinlich ganz davon ab, ob der Rückzug ins Privatleben freiwillig oder gezwungenermaßen erfolgte. Folglich wird die Unterscheidung von »öffentlich« und »privat« oft asymmetrisch verwendet; einer der beiden Bereiche wird dabei entwertet und als Restkategorie betrachtet. Wann immer das Gemeinwohl beschworen wird, kommt das Private schlecht weg, während der Staat als Feindbild dient, wenn es um die individuellen Freiheitsrechte geht. Das muss natürlich nicht so sein – im römischen Begriffsgebrauch herrscht Symmetrie. Es geht um eine Balance zwischen privater Autonomie und öffentlichem Amt oder, aristotelisch gesprochen, zwischen dem Menschen als zoon oikonomikon (»Haushalts-Lebewesen«) und als zoon politikon (»Stadt-Lebewesen«).20 Diese Symmetrie kommt elegant in Ted Kilians Definition von Privatheit und Öffentlichkeit als Komplementärkräften zum Ausdruck: Kilian spricht von »Ausschluss« und »Zugang«.21 Damit ist jedoch erst die eine Ebene einer Unterscheidung beschrieben, die mindestens zwei Ebenen umfasst. In einigen europäischen Sprachen, wie dem Italienischen, Französischen und Englischen, wird nur das abstrakte Gegensatzpaar 19 Vgl. zur Etymologie Alois Walde: Lateinisches etymologisches Wörterbuch, 3. Aufl., Heidelberg 1938-1956. Eine brillante kurzgefasste Geschichte der Begriffe und der dazu gehörigen Theorien bietet Peter von Moos: »Das Öffentliche«, und ders.: »Die Begriffe ›öffentlich‹ und ›privat‹ in der Geschichte und bei den Historikern«, in: Saeculum 49 (1998); von Moos’ lexikographischer Essay »›Öffentlich‹ und ›privat‹ im Mittelalter. Zu einem Problem historischer Begriffsbildung« wird in den Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Wiesbaden, erscheinen. – Die grundlegende Ambivalenz von privare wird auch in Lidia Sciamas ausgezeichneter anthropologischer Untersuchung der Privatsphäre deutlich. Vgl. Lidia Sciama: »The Problem of Privacy in Mediterranean Anthropology«, in: Shirley Ardener (Hg.), Women and Space: Ground Rules and Social Maps, Oxford 1993, S. 87-111, hier S. 91. 20 Vgl. P. von Moos: »Das Öffentliche«, S. 26. 21 Vgl. Ted Kilian: »Public and Private, Power and Space«, in: Andrew Light/Jonathan M. Smith (Hg.), The Production of Public Space, Lanham, MD 1998, S. 115-134, hier S. 124ff.

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78 | Ludwig Ammann »universal/kollektiv« und »partikular/individuell« betont. In anderen Sprachen, wie dem Deutschen, Schwedischen und Niederländischen, kommt als Gegensatzpaar »offen« und »verborgen/heimlich« hinzu. Wenn als Gegenbegriff zum Öffentlichen das Verborgene, Heimliche verstanden wird, kommt darin das physische Substrat der Unterscheidung von »öffentlich« und »privat« zur Geltung. »Öffentlich« ist demnach das physisch allen Zugängliche, oder einfach das von allen Wahrnehmbare – das, was alle sehen und/oder hören können. Akzentuiert wird dabei, dass auch verborgen werden könnte, was offen gelegt wird. Etymologisch erinnert diese lebensnahe Terminologie an das Heim, den physischen Hort des Privatlebens (»heimlich«, »Geheimnis«). Wenn wir den Blick nicht auf Europa beschränken, legen kulturübergreifende Forschungen nahe, dass bei der Differenzierung von »privat« und »öffentlich« sogar drei Dimensionen zu unterscheiden sind – unabhängig davon, ob die lokale Terminologie dem römischen Sprachgebrauch ähnelt oder nicht. Diese drei Dimensionen sind »Zugang« (vom räumlichen Zugang bis zum Zugang zu Informationen und Wissen), »Handlungsvermögen« und »Interesse«.22 Während Regeln für den privaten Zugang ein universales Phänomen sind, stößt das öffentliche Handlungsvermögen in segmentierten Gesellschaften an seine Grenzen, wenn es zum Beispiel über die jeweiligen Dorfgrenzen hinaus keine offizielle Führung gibt oder wenn sich solche Gesellschaften mit »Big Men« begnügen, die überhaupt kein öffentliches Amt bekleiden.23 Der Staat, der dem römischen Begriff res publica zugrunde liegt, ist eine im historischen Maßstab späte, sekundäre Form der Gesellschaftsformation. Die daran anschließenden semantischen und begrifflichen Differenzierungen von »öffentlich« und »privat« in den europäischen Sprachen könnten deshalb ein Reflex der allmählichen Institutionalisierung transpersonaler Staaten sein. Die relativ späte Staatenbildung erklärt auch die Erkenntnis von Anthropologen und Kulturhistorikern, dass viele nichtwestliche Gesellschaften bei der Definition des Unterschiedes von »öffentlich« und »privat« nicht von der öffentlichen Sphäre ausgehen, die unserem politisch-rechtlichen Diskurs über den Bürger und dessen Rechte und Pflichten so sehr am Herzen liegt, sondern dass dort der Ausgangspunkt das Private ist – wobei die Privatsphäre nicht als relativ bedeutungslose Restkategorie gilt, sondern als – oftmals heilige – Tabusphäre für lebenswichtige gesellschaftliche Funktionen.24 Anders gesagt: Hier gilt das Private als das Primäre, nicht andersherum! Aus der Sicht des Universalhistorikers könnte Privatheit des Zugangs im Frühstadium des Zivilisationsprozesses sogar noch kostbarer und schutzbedürftiger sein als in Spätstadien, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: In Gesellschaften, in denen jeder jeden kennt und in denen unbeobachtete, private Augenblicke so selten wie kostbar sind, kann das Leben auf grausame Weise öffentlich sein. »So kann die 22 Vgl. Stanley I. Benn/Gerald F. Gaus: »The Public and Private: Concepts and Action«, in: Stanley I. Benn/Gerald F. Gaus (Hg.), Public and Private in Social Life, Kent, OH 1983, S. 330, und P. von Moos, »Das Öffentliche«, S. 23, 29. 23 Vgl. Martin Krygier: »Publicness, Privateness and ›Primitive Law‹«, in: S.I. Benn/G.F. Gaus (Hg.), Public and Private, S. 312ff. 24 Vgl. P. von Moos: »Das Öffentliche«, S. 8, 30.

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Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation | 79 extreme Öffentlichkeit des Lebens in kleinen Gesellschaften dafür sorgen, dass ein extremes Bedürfnis für abgegrenzte Zonen der Privatheit und/oder Heimlichkeit entsteht.«25 Ein entscheidender Punkt ist hier der Mangel an Anonymität oder Fremdheit, während diese Faktoren in großen Gesellschaften durchaus als Mittel zum Schutz der Privatsphäre entdeckt werden können – in teilweiser Umkehrung ihrer früheren Bewertung als Bedrohung für die Privatsphäre. Die Indifferenz, die nun, so die Annahme, zwischen Fremden herrscht, besagt, dass man weder Interesse hat, andere zu beobachten, noch darunter leiden würde, von anderen beobachtet zu werden. Was macht nun die Privatsphäre – die Macht, andere vom eigenen Heim oder aus dem Club auszuschließen – so wertvoll? Begrenzter Zugang fördert enge Beziehungen und somit jene Arten des sozialen Umgangs – wie Vertrautheit, Freundschaft und Liebe –, die andere ausschließen, um eine persönlichere Qualität der Beziehung zu erreichen.26 Diese Grundannahme ermöglicht ein subtileres Modell der Evolution des Öffentlichen und des Privaten. In traditionellen Gesellschaften herrschen kleine, oft verwandtschaftlich geprägte Kreise mit ihrem persönlichen Umgangsstil vor, während in den großräumigen Gesellschaften der Moderne die funktionale Vergesellschaftung und somit der unpersönliche Umgang realer oder vermeintlicher Fremder in der Öffentlichkeit dominieren. Wir haben es also mit einem verblüffenden Paradox zu tun: Je unpersönlicher das öffentliche Leben wird, desto mehr kann das Privatleben rein persönlich, intim und frei von sozialen Funktionen sein – auf Kosten gemischter Umgangsformen. Dies mag der Grund für die oft festgestellte Polarisierung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten in der Moderne sein. Soweit zur europäischen Begrifflichkeit und zu den Lektionen der kulturübergreifenden Forschung. Wie lagen die Verhältnisse nun in den muslimischen Gesellschaften der Vergangenheit? Zwar unterschieden auch Muslime zweifellos zwischen allgemeinem und begrenztem Zugang, allgemeiner und begrenzter Handlungsfähigkeit sowie allgemeinem und begrenztem Interesse, aber eine übergreifende, abstrakte Begriffsopposition »öffentlich – privat«, abgeleitet aus einem einzigen, auf alle drei Dimensionen anwendbaren Gegensatzpaar, hat es bei ihnen niemals gegeben. Juristisch wurde zwischen Gemeinwohl und Privateigentum unterschieden, es gab gesetzliche und moralische Vorstellungen von Privatheit, die im alltäglichen Leben von größter Bedeutung waren, und anderes mehr. Terminologisch indes kann die Privatheit des Zugangs zum Körper und zum Raum – auf diesen Aspekt werden sich die folgenden Ausführungen konzentrieren – als warnendes Beispiel dienen. Man sollte hier nicht mit genau passenden Begriffen und Vorstellungen rechnen, weil das 25 M. Krygier: »Publicness«, S. 318. J. Weintraub (»Theory«, S. 19) zitiert Johan Huizingas Feststellung, dass in der europäischen Gesellschaft des Mittelalters alles im Leben von einer stolzen, grausamen openbaarheid gewesen sei. 26 Vgl. Julie Inness: Privacy, Intimacy, and Isolation, New York 1992, und Rudolf Schlögl: »Öffentliche Gottesverehrung und privater Glaube in der frühen Neuzeit: Beobachtungen zur Bedeutung von Kirchenzucht und Frömmigkeit für die Abgrenzung privater Sozialräume«, in: Gert Melville (Hg.), Das Öffentliche und das Private in der Vormoderne, Köln 1998, S. 165-210, hier S. 170ff.

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80 | Ludwig Ammann klassische Arabisch, die für die Entstehung der islamischen Zivilisation entscheidende Sprache, kein Wort für »Privatsphäre« kennt. Es gibt dort keine Einzelvorstellung, die dem westlichen Begriff »Privatsphäre« genau entsprechen würde, sondern nur ein Begriffsfeld verwandter Konzepte, Einstellungen und Normen, die inhaltlich jedoch signifikante Abweichungen aufweisen. »Privatsphäre« hat eine kulturspezifische Bedeutung; die hochgeschätzte häusliche Sphäre wird im Namen von Sittsamkeit, Sexualmoral, Reserviertheit, Ehre und Respekt geschützt.27 Vor allem aber – und hier liegt ein markanter Unterschied zum profanen Begriffsfeld »öffentlich – privat« vor – ist die Privatsphäre heilig. Beginnen wollen wir indes mit den Dimensionen »Interesse« und »Handlungsvermögen«. Hier besitzt die vertraute Unterscheidung zwischen »kollektiv/universal« und »individuell/partikular« durchaus Relevanz. Kollektivität, der Kernbegriff des Öffentlichen, wird im Arabischen am häufigsten durch Wörter ausgedrückt, die sich den Wurzeln ’MM, ‘MM, GM‘ und GMHR zuordnen.28 Semantisch gesehen bilden die beiden ersten und die beiden letzten Wurzeln jeweils ein begrifflich verwandtes Paar, wobei die Zugehörigkeit zum jeweiligen semantischen Feld zusätzlich durch die identischen Radikale MM oder GM hervorgehoben wird – ohne dass daran etymologische Theorien geknüpft werden sollen. Mit ’MM lassen sich im Proto-Hamito-Semitischen, einer Sprache, von der manche Forscher annehmen, sie sei um 10.000 v. Chr. an der Levante und in Nordafrika gesprochen worden,29 zwei rekonstruierte Wörter verbinden: ’am – »Frau« und ’um – »Volk«.30 Das Ganze der Ge^

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27 Vgl. Abraham Marcus: »Privacy in Eighteenth-Century Aleppo: The Limits of Cultural Ideals«, in: International Journal of Middle East Studies 18 (1986), S. 165-183; Michael Cook: Commanding Right and Forbidding Wrong in Islamic Thought, Cambridge 2000, S. 482, 593; und F. El Guindi: Veil, S. 82. N. Göle: The Forbidden Modern, S. 7ff., erläutert an einem türkischen Beispiel den Unterschied zwischen westlichen Vorstellungen von Privatsphäre und dem einheimischen Begriff mahrem. 28 Arabische Wortwurzeln werden in Großbuchstaben transliteriert. Wie in anderen semitischen Sprachen werden im Arabischen Wörter aus drei bis vier Konsonanten gebildet, den so genannten Radikalen, unter Verwendung eines umfangreichen Morphem-Systems. Die Spezifizierung der Bedeutung innerhalb eines durch eine Wurzel definierten semantischen Feldes ist erstaunlich groß. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen, werden die Buchstaben GM‘ am Ende dieses Absatzes jeweils als Großbuchstaben geschrieben. – Das Zeichen ›’‹ steht für den Kehlkopf-Stimmabsatz (Hamza) und ›‘‹ für den Kehlkopfpresslaut ›‘ain‹. – Ich danke dem Semitisten Daniel Birnstiel für Rat und Tat. 29 Vgl. Vladimir Orel/Olga V. Stolbova: Hamito-Semitic Etymological Dictionary: Materials for a Reconstruction, Leiden 1995. 30 Vgl. ebd., Nr. 34 und 131. Zwar liegen hier im Semitischen zwei verschiedene Wurzeln, nämlich die biradikale Wurzel ’M (hierzu arab. ’ama »Magd«) sowie die triradikale Wurzel ’MM vor, vgl. jedoch Theodor Nöldeke: Neue Beiträge zur semitischen Sprachwissenschaft, Straßburg 1910, S. 129: »Es scheint mir nicht unmöglich, daß wir hier wieder ein ursprüngliches Lallwort, ein Kosewort des kleinen Kindes für die es pflegende und beaufsichtigende Magd haben, die ev. auch seine Mutter war.« Dadurch wird zwischen den beiden Wurzeln eine semantische Brücke geschlagen. ^

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Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation | 81 sellschaft lässt sich hier also vom für die Reproduktion zuständigen Menschen ableiten, von la mamma – wenn man mir an dieser Stelle eine transkulturell onomatopoetische Wortbildung gestattet. Anders gesagt, Gesellschaftsbildung kann hier biologisch als Fortpflanzung verstanden werden. In den semitischen Sprachen, und besonders im Arabischen, wird der Begriff »Mutter« mit ’umm wiedergegeben, ihr Produkt, das Volk, jedoch als ’umma.31 Im Arabischen wird der Begriff ’amma – »führen« mit ’imâm – »Führer« und ’immat – »Lebensweise« weitergeführt, was wahrscheinlich so zu erklären ist, dass die Mutter nach der Geburt das erste Lebewesen ist, dem die Neugeborenen folgen; sie imitieren die Mutter, um den Weg ins Leben zu erlernen. Diese Vorstellung lag dem Begriff ’umma schon in vorislamischer Zeit zugrunde, sodass das erzogene Produkt von Fortpflanzung und Sozialisation kulturell gesehen als etwas verstanden wurde, das durch einen gemeinsamen Lebensstil definiert war. Auch mit ‘MM lassen sich im Proto-Hamito-Semitischen zwei Wörter verbinden: ‘am – »Volk« und ‘am – »Verwandter, Freund«.32 Semitische Sprachen unterscheiden zwischen ‘amm – »Volk, Masse« und ‘amm – »Verwandter, Onkel, Vorfahr«. Im Arabischen finden wir ‘amm und ‘amma für Onkel und Tante, und ‘âmm (Adjektiv) bzw. al-‘âmma (Substantiv) in der Bedeutung »gemeinsam, allgemein, universal« bzw. »Gemeinsamkeit, Allgemeinheit, das ganze Volk«.33 Aber es ist die abfällige Bedeutung von »Volksmasse, Pöbel«, die in theologischen, juristischen, mystischen und philosophischen Diskursen vorherrscht und der regelmäßig der Begriff al-hâs.s.a – »Elite, Aristokratie« gegenübergestellt wird, abgeleitet vom Adjektiv hâs.s. – »besonder …«. Aus dieser begrifflichen Perspektive ist das Ganze mit Ausnahme der Wenigen schlecht. Hier macht sich in einer semantischen auch die soziale Differenzierung bemerkbar. Es ergibt sich ein Gegensatzpaar ‘MM/HS.S., das dem römischen Gegensatzpaar »öffentlich/privat« ungefähr entspricht. Diese Unterscheidung wird oft asymmetrisch verwendet, sie könnte aber auch neutral sein – wie in der Begriffsopposition yad ‘âmma und yad hâs.s.a (im juristischen Diskurs die Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Disposition) – und somit ein Vorläufer moderner Unterscheidungen zwischen »öffentlich« und »privat«. Bezüglich der Wurzeln GM‘ und GMHR gilt festzuhalten, dass die biradikale Sequenz GM (proto-semitisch GM) in einer größeren Zahl von semitischen Triradikalen mit der Grundbedeutung »versammeln, sammeln, vervollständigen, usw.« vorliegt.34 Im Arabischen werden sowohl von GM‘ als auch von GMHR Wörter gebildet, die von der Grundbedeutung »sammeln« abzuleiten sind, zum Beispiel al-GaMâ‘a – »Ge^

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31 David Cohen: Dictionnaire des racines sémitiques où attestées dans les langues sémitiques, Paris 1995, S. 22f. (Erstveröffentlichung als Faszikel 1970). 32 Vgl. V. Orel/O. Stolbova: Hamito-Semitic Etymological Dictionary, Nr. 1065 und 1066. Hier wird auch eine etymologische Urverwandtschaft der beiden Lexeme erwogen. 33 Vgl. auch den nachbiblischen, abfällig gebrauchten hebräischen Terminus ‘am ha-’arets., wörtlich »Volk des Landes«, d.h. die breite Masse. 34 Vgl. D. Cohen: Dictionnaire des racines sémitiques, S. 134. Siehe auch V. Orel/O. Stolbova: Hamito-Semitic Etymological Dictionary, Nr. 952, wo bereits ein proto-hamito-semitisches *goma‘ »sich versammeln, treffen« angesetzt wird.

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82 | Ludwig Ammann ^

meinschaft«, al-GâMi‘ – »Moschee« zur Versammlung der Gläubigen, oft als »Freitagsmoschee« übersetzt, weil der Freitag, yaum al-GuM‘a, wörtlich der »Tag der Versammlung« ist, an dem sich die Gemeinschaft der Gläubigen in der größten Moschee der Stadt versammelt, und schließlich auch iGMâ‘ al-’umma – der »Konsens der Gemeinschaft«. Wichtige Begriffe aus dem modernen Arabisch sind: muGtaMa‘ für »Gesellschaft«, ‘ilm al-iGtiMâ‘ – »Wissenschaft der Versammlung« – für Soziologie und GâMi‘a für »Universität«. GMHR schließlich, »Republik, Staat«, fand schon im Titel der mittelalterlichen arabischen Übersetzung von Platons Staat Verwendung als al-Gumhûr. Heutzutage heißen Republiken auf Arabisch gumhûriyya. Die ganze Vielfalt der Begriffe, die sich von diesen und anderen Wurzeln herleiten, und die Entwicklung der Begriffsbildung von »öffentlich« und »privat« im Arabischen können für einen Zeitrum, der mehr als 1300 Jahre umspannt, hier natürlich nicht dargestellt werden.35 Gleichwohl bleibt Folgendes festzuhalten: Meistens lässt sich keiner dieser Begriffe, auch keine Begriffskombination, ohne weitere Erläuterungen mit »privat« oder »öffentlich« übersetzen. Sonst entstünde zum Beispiel der Eindruck, dass es im Islam Gemeineigentum im selben Sinne wie anderswo auf der Welt gab. Es existierte, aber mit feinen – und manchmal auch sehr deutlichen – Unterschieden. So bezieht sich ein scheinbar unverfänglicher Begriff wie sabîl (»öffentlicher Brunnen«) oder fî sabîl (»Gemeinschaftseigentum«) auf die religiöse Vorstellung vom uneigennützigen Handeln: fî sabîl allâh heißt »auf dem Weg Gottes«, bezeichnet ein Handeln um Gottes willen und zum Wohle der Gemeinschaft der Gläubigen (sabîl allâh ist auch eine metaphorische Alternativbezeichnung für die Gemeinschaft der Gläubigen). Wenn wir uns nun auf das Gebiet des juristischen Diskurses beschränken, so beziehen sich bezeichnenderweise die Begriffe für »öffentlich« im Sinne von allgemeiner Übereinstimmung (igmâ‘ al-‘umma, eine der vier Primärquellen des islamischen Rechts) und im Sinne von »öffentlichem«, also allgemeinem Interesse (mas.lah.at al-’umma, eine der drei Sekundärquellen des islamischen Rechts) ebenfalls auf die Gemeinschaft der Gläubigen. Denn verwendet wird ’umma, nicht ‘âmma, also das religiöse, nicht das weltliche Sprachregister.36 In Be^

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35 Ein kurzen Überblick über die zahlreichen Begriffe für »öffentlich«, überwiegend im modernen Arabisch und Persisch, geben zwei Anthropologen: Mehdi Abedi/Michael M. Fischer: »Thinking a Public Sphere in Arabic and Persian«, in: Public Culture 5 (1993), S. 220-230. Eine umfassende Begriffsgeschichte bleibt weiterhin ein Desiderat. Vgl. auch Mohamed Kerrou (Hg.): Public et privé en islam, Paris 2002, darin besonders den umsichtigen Beitrag von Sylvie Denoix, sowie M. Hoexter/N. Levtzion/S.N. Eisenstadt (Hg.): The Public Sphere. Die große Anzahl verschiedener Begriffe im Arabischen korrespondiert mit einer entsprechend großen Bedeutungsvielfalt des Gegensatzpaares »öffentlich – privat« in westlichen Sprachen. 36 Zum Begriff ’umma im mittelalterlichen Islam vgl. Ulrich Haarmann: »Glaubensvolk und Nation im islamischen und lateinischen Mittelalter«, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften: Berichte und Abhandlungen 2 (1996), S. 161-199. Zu mas.lah.at al-’umma vgl. den Eintrag in der Encyclopaedia of Islam, New Edition, sowie B. Krawietz, Hierarchie, S. 223-242, und Tilman Nagel: Das islamische Recht: Eine Einführung, Westhofen 2001, S. 253-274.

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Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation | 83 griffen einer heiligen Gemeinschaft gefasst, spielen die Gedanken des »öffentlichen« diskursiven Handelns und des »öffentlichen« Interesses sicher eine wichtige Rolle in der juristischen Theorie. Selbst wenn dann igmâ‘ al-’umma wiederum so abgewandelt wird, dass das Laienpublikum al-‘âmma von diskursiven Handlungsmöglichkeiten ausgeschlossen ist. Auf diese Weise wird die »öffentliche« Übereinstimmung schon fast wieder zum privaten Konsens – ähnlich wie im britischen Schulwesen die angeblich »öffentlichen« public schools Privatschulen sind. Die Anerkennung kollektiver Interessen und allgemeiner Übereinstimmung im Gebiet des us.ûl al-fiqh (Quellen des Rechts) ist freilich immer noch meilenweit entfernt von der modernen westlichen Unterscheidung zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht. Das islamische Recht ist weitgehend privat und individualistisch. Das belegt nicht zuletzt die berühmte, oft zitierte Unterscheidung zwischen »privaten« und »öffentlichen« Rechten im Strafrecht. Die »privaten« Rechte werden als h.uqûq al-‘ibâd, h.uqûq an-nâs und h.uqûq al-âdamiyyîn bezeichnet (»Rechte der Menschen« [wörtlich »Sklaven Gottes«], »Rechte der Leute«, »Rechte der Menschenwesen«), aber der Gegenbegriff heißt nicht h.uqûq al-‘âmma, sondern h.uqûq allâh (»Rechte Gottes«)! Anders gesagt, Kollektivität wird auf eine Weise religiös gefasst, die alle privaten Subjekte vollständig ausschließt. Dies ist eine charakteristische Verschiebung: Normalerweise ist das Recht individualistisch gefasst, als Rechte und Pflichten privater Subjekte, sodass der Gegenbegriff sich auf Rechte eines völlig anderen Rechtssubjekts bezieht.37 Soweit zu den Einzelheiten des juristischen Diskurses. Eine allgemeinere Diskussion der Begriffe »öffentlich« und »privat« im vormodernen Islam – in der Tat die beste, weil sie auf einer umfassenden Geschichte der islamischen Zivilisation basiert – findet sich in Marshall Hodgsons dreibändigem Meisterwerk The Venture of Islam. Es gipfelt in einem Kapitel über »Kulturelle Denk- und Verhaltensmuster im Bereich des Islam und im Abendland« (»Cultural Patterning in Islamdom and Occident«). Darin interpretiert Marshall die gesellschaftlich-politischen Beziehungen in der Nach-Abbasiden-Zeit (nach dem 10. Jahrhundert) unter dem Gesichtspunkt des Gegensatzes zwischen »islamisch geprägtem Vertragsrecht« und »abendländischem Korporatismus«: ^

»Die Menschen des Abendlandes neigten dazu, mit ihrer besonderen Betonung einer fixierten Amtsautonomie den Sonderstatus öffentlicher Akte ins Extreme zu steigern – bis zu einem Punkt, da eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem privaten und dem öffentlichen Bereich, zwischen privatem und öffentlichem Recht vorausgesetzt wurde, so sehr, dass letztlich die Schlussfolgerung möglich war, der Staat habe seine eigenen Normen, die den für private Handlungen gültigen ethischen Erwägungen nicht unterworfen seien. Dagegen gestand das muslimische Prinzip öffentlichen Handlungen überhaupt keinen Sonderstatus zu; es strich egalitäre

37 Vgl. Baber Johansen: »Equality and Exchange under the Penal Law: Eigentum, Familie und Obrigkeit im hanafitischen Strafrecht. Das Verhältnis der privaten Rechte zu den Forderungen der Allgemeinheit in hanafitischen Rechtskommentaren«, in: Baber Johansen, Contingency in a Sacred Law: Legal and Ethical Norms in the Muslim Fiqh, Leiden 1999, S. 349-420.

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84 | Ludwig Ammann und moralistische Prinzipien so sehr heraus, dass ab einem gewissen Punkt jeglicher Korporatismus ausgeschlossen war und alle Handlungen nur noch die Handlungen persönlich verantwortlicher Individuen waren.«

Marshalls brillante Erörterungen zeigen, wie eine Sicht des Lebens als System individueller vertraglicher Abmachungen öffentliche Pflichten nur noch als Sonderfall persönlicher Pflichten erscheinen lässt, wobei dem öffentlichen Recht gegenüber dem privaten Recht jegliche unabhängige eigene Sphäre bestritten wird. Eine radikale Schlussfolgerung aus muslimischer Sicht wäre es demnach zu sagen, dass jede Bezugnahme auf individuelles Handeln als »privates« Handeln nicht korrekt ist, »denn diese Gegenüberstellung von ›öffentlich‹ und ›privat‹ im sozialen Handeln ist ja genau das, was die Muslime bestritten, während sie im Abendland bis ins Extrem getrieben wurde«.38 Eine bescheidenere Schlussfolgerung würde einfach lauten, dass im Islam der Primat der Individualrechte gegenüber den Kollektivrechten unbestreitbar ist. Wir kommen nun zur entscheidenden Dimension der Privatsphäre: dem begrenzten Zugang zu Körpern und zum Raum, sowie zur entsprechenden muslimisch-arabischen Begrifflichkeit. Jener Begriff, der mitsamt seiner Aura von Ehrfurcht und Respekt westlichen Vorstellungen von Privatsphäre zweifellos am nächsten kommt, ist h.urma – »Unverletzlichkeit«. Im juristischen und moralischen Diskurs bezeichnet er die Unverletzlichkeit von Körpern und Häusern, wobei beide als Heiligtümer gedacht sind: geschützte Räume, zu denen der Zugang strikt begrenzt ist.39 Der im Westen bekannteste Begriff ist natürlich »Harem« (h.arîm), das berühmte Frauenquartier, das in Phantasien über den Orient eine prominente Rolle spielt. Dieses Wort stammt von derselben Wurzel ab wie h.urma: H . RM. H . igâb, das von der Wurzel H G B abgeleitete Wort für »Vorhang, Schirm, Schleier«, bahnt sich . inzwischen ebenfalls seinen Weg ins westliche Bewusstsein und in die europäischen Sprachen. Beide Begriffe bezeichnen soziale Institutionen, die einen Komplex bilden: weibliche Verschleierung und Absonderung als asymmetrische Mittel, um Frauen und Familien im Haus und darüber hinaus zu behüten. Man könnte es auch »gemeinschaftliche Privatheit« nennen. Apologetische Autoren wie Fadwa El Guindi wollen uns gern davon überzeugen, dass im »kulturellen Code« der Geschlechter^

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38 Vgl. Marshall G.S. Hodgson: The Venture of Islam: Conscience and History in a World Civilization, 3 Bde., Chicago 1974, Bd. 2, S. 343-357. B. Johansen, »Equality«, S. 410ff., zeigt, in welchem Ausmaß das hanafitische Strafrecht trotzdem allmählich korporative Strukturen anerkannte. Hodgsons strikter Gegensatz ist natürlich idealtypisch und sollte nicht als absolut gültig missverstanden werden. Semantisch gesehen ist jedoch der gerade erwähnte Gegensatz von Gottesrecht und Menschenrecht ein gutes Beispiel dafür, wie auf terminologischer Ebene der begriffliche Gegensatz von »öffentlich« und »privat« tatsächlich negiert wird. 39 Vgl. Birgit Krawietz: Die H . urma: Schariatrechtlicher Schutz vor Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit nach arabischen Fatwas des 20. Jahrhunderts, Berlin 1991, S. 278ff., und Juan E. Campo: The Other Sides of Paradise: Explorations into the Religious Meanings of Domestic Space in Islam, Columbia, SC 1991, S. 98ff.

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Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation | 85 trennung kein Element der Absonderung enthalten sei, dass die »geheiligte Privatsphäre« in der arabisch-islamischen Kultur nur ein Privileg sei, keine »Entbehrung« oder »Beraubung« (Deprivation).40 Doch diese Ansicht wird von allen relevanten normativen Texten widerlegt. Die Regeln der Rechtsschulen und die diesbezüglichen Aussagen und Beispiele des Propheten, wie sie in den Hadith-Sammlungen überliefert sind, wurden in Überblicksdarstellungen bestens dokumentiert – Abhandlungen, die beschreiben, wie Verschleierung und Absonderung der Frauen in den ersten drei Jahrhunderten nach den Offenbarungen an den Propheten zu legalen Institutionen wurden.41 In all diesen Texten wird Frauen regelmäßig verboten, das Haus zu verlassen, außer zur Erfüllung religiöser Pflichten oder mit Erlaubnis ihres Ehemannes – und oft ist selbst dann noch ein Stirnrunzeln zu verzeichnen. In seinem Traktat über die Ehe bietet der große Sufi-Meister al-G.azâlî eine bezeichnende Beschreibung der tugendhaften Frau. Sie lässt sich in einem einzigen Satz zusammenfassen: »Sie sollte im Innern ihres Hauses sitzen und bei ihrem Spinnrad bleiben.«42 »Absonderung« ist eine ziemlich neutrale Beschreibung dieses Zustands und gewiss keine »unangemessene ethnozentrische Übertragung auf die arabisch-islamische Kultur«. Überdies ist anzumerken, dass entgegen dem Eindruck, der manchmal erweckt wird, die relevanten von der Wurzel H . RM abgeleiteten Begriffe, vor allem h.urma und h.arîm, im normativen Diskurs über die Verschleierung und die familiäre Privatsphäre durchaus nicht immer Schlüsselbegriffe waren. Genauer gesagt, Koran und Hadith als Hauptquellen des islamischen Rechts und der islamischen Moral verwenden diese Begriffe kein einziges Mal zu diesem Zweck. Dort werden eher Begriffe der Wortwurzel H . GB verwendet und stärker an der Praxis ausgerichtete Vorschriften gemacht, zum Beispiel in Kapiteln über das erlaubte Betreten (duhûl) und Verlassen (hurûg) des Hauses in den entsprechenden Abschnitten des Hadith über gutes Benehmen.43 Es gibt einen guten Grund, warum Untersuchungen über die Anfänge von Verschleierung und Absonderung normalerweise h.igâb als generischen Begriff für den Gesamtkomplex Geschlechtertrennung verwenden:44 Dies ist der mittelalterliche Sprachgebrauch.45 Weil historiographische und ethnographische Daten die ^

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40 Vgl. F. El Guindi: Veil, S. XVII, 82ff. und 157. 41 Vgl. Claudia Knieps: Geschichte der Verschleierung der Frau im Islam, Würzburg 1993, S. 234-267. Vgl. auch Barbara F. Stowasser: Women in the Qur’an, Traditions, and Interpretation, New York 1994, S. 85-118. 42 Eine vollständige Übersetzung dieser Beschreibung findet sich bei C. Knieps: Geschichte, S. 266f.; sie basiert auf dem an die Frauen des Propheten gerichteten Koran-Gebot »waqarna fî buyûtikunna« (»bleibt in euren Häusern«; Sure 33:34). Weitere Hinweise auf klassische und zeitgenössische Quellen zur Absonderung der Frauen im Haus finden sich bei Fatema Mernissi: Der politische Harem: Mohammed und die Frauen, Freiburg 1992, S. 129ff. (frz. Le harem politique, Paris 1987). 43 Vgl. zum Hadith-Corpus die relevanten Einträge in Arent J. Wensinck/J. P. Mensing: Concordance et indices de la tradition musulmane, 8 Bde., Leiden 1936-1988. 44 Vgl. F. Mernissi: Harem, C. Knieps: Geschichte, und den Artikel H . IDJÂB in der Encyclopaedia of Islam, New Edition.

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86 | Ludwig Ammann Wichtigkeit der in der Begriffskette »fehlenden« Glieder für spätere Zeiten beweisen können, bedeutet die Lücke vielleicht, dass eine erklärende Verbindung zwischen den Begriffen h.arîm und h.urma einerseits und diesem Komplex andererseits sich erst nach der ursprünglichen Einrichtung der Sache entwickelte und zur Begriffsverschiebung führte. Zur Regierungszeit des Kalifen Hârûn ar-Rasîd, anderthalb Jahrhunderte nach dem Tod des Propheten, war das Haremssystem unter den reichen städtischen Klassen fest etabliert.46 Allerdings verstand man unter h.arîm den ganzen Haushalt (also das, was im Griechischen oikos und im Lateinischen domus hieß) – einen Privatraum, der nur mit Erlaubnis zugänglich war. »Das Wort h.arîm als Begriff der Architektur wurde von den Lexikographen der Mamluken-Zeit niemals als ›Frauenquartier‹ definiert, sondern breit als ›h.arîm eines Gebäudes: das Innere [eines Gebäudes], nachdem die Tür geschlossen wurde‹.«47 Eine Terminologie, die noch weiter differenziert, vor allem im Sinne der räumlichen Geschlechtertrennung, wie sie in den osmanischen Begriffen haremlik und selamlik zum Ausdruck kommt, ist zur Mamluken-Zeit (1260-1517) noch nicht belegt. In Ägypten kamen besondere Arrangements für die Trennung von Männern und Frauen im Haus, also für ein abgetrenntes Frauenquartier (Harem), allem Anschein nach erst nach dem 14. Jahrhundert in Palästen vor;48 sie scheinen sich dann bis zum 18. Jahrhundert in den Häusern der Reichen ausgebreitet zu haben. »Absonderung« entspricht, wie schon gezeigt wurde, etymologisch dem semantischen Kern von »privat« (privatus). Und die Unterscheidung von »öffentlich« und »privat« hat zwei Ebenen: Die englische Terminologie betont den abstrakten Gegensatz von »kollektiv« und »einzeln, partikular«, während in der deutschen Terminologie zur Hälfte noch die lebensnahe Gegenüberstellung von »offen, öffentlich« und »verborgen, heimlich« bewahrt ist und damit die Dimension des Zugangs, genauer gesagt, des sicht- und hörbaren Zugangs. Die arabische Wortwurzel H . GB – »verdecken, verbergen« bezieht sich auf ebendiese Dimension sowie auf die Mittel und die Bedeutung einer Zugangsbegrenzung durch Bedecken oder Verbergen. Das von der Wurzel H . GB abgeleitete Substantiv h.igâb kommt in vorislamischen Texten nur selten vor. Es gehört nicht zu den verschiedenen Begriffen, die für Gesicht und Körper bedeckende Schleier oder Schals benutzt werden, sondern bezeichnet einen Vorhang am Hauseingang. Dem entspricht das Verb haggaba im Sinne von »am Eintritt hindern«.49 Im koranischen Sprachgebrauch bezieht sich h.igâb auf Trennvorhänge und ^

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45 Vgl. B. Stowasser: Women, S. 92. 46 Vgl. Reuben Levy: The Social Structure of Islam, Cambridge 1957, S. 127ff. 47 Vgl. Shaun Marmon: Eunuchs and Sacred Boundaries in Islamic Society, Oxford 1995, S. 6. Ferner ist anzumerken, dass im juristischen Sprachgebrauch h.arîm auch die angrenzenden Anlagen von Häusern, Dörfern, Brunnen, Flüssen und Kanälen bezeichnet, die vor Missbrauch und Schäden geschützt werden müssen. 48 Vgl. J. Campo: The Other Sides of Paradise, S. 77. 49 Vgl. C. Knieps: Geschichte, S. 130. Cohens äußerst wertvolles Lexikon der semitischen Wurzeln ist leider noch nicht bis zum Buchstaben H . gediehen, sodass es nicht leicht ist, die semantischen Felder der Wurzeln H G B und H RM zu bestimmen. – F. Mernissi: Ha. . ^

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Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation | 87 Wandschirme; dazu gehört auch eine interessante Geschichte über Maria (Sure 19:17f.), die sich von ihrer Familie zurückzieht und einen h.igâb benutzt, um sich den Blicken zu entziehen, möglicherweise weil sie menstruiert (aber darüber können die Kommentare nur spekulieren).50 Letztlich ergibt sich die Bedeutung eines solchen Rückzugs aber auch aus dem sakralen sprachlichen Kontext: Das Amt der Bewachung des Allerheiligsten, der Ka‘ba, hieß h.igâba, der Wächter selbst h.âgib (wörtlich »der Bedeckende«). Dem entspricht das Begriffspaar sidâna und sâdin, das Ibn alKalbî für das Amt des Türhüters und für Wächter arabischer Heiligtümer verwendet. Schließlich wird der Vorhang, der das Heiligtum verdeckt, über das man anscheinend nicht allzu viel weiß, als h.igâb al-‘atîq bezeichnet.51 Kurz gesagt, die Zugangsbeschränkung, besonders am Eingang, durch Abschirmung mittels eines Vorhangs oder Gitters, dient natürlich dem Schutz dessen, was dahinter verborgen ist. Der koranische Begriff h.igâb im Sinne von häuslicher Trennung, wie er in Sure 33:53 verwendet wird, wurde später so ausgeweitet, dass er auch die – in der Öffentlichkeit gebotene – verhüllende Kleidung umfasste. Gleichwohl blieb h.igâb ein Gattungsbegriff, im Gegensatz zur Terminologie für spezielle Arten bedeckender Kleidungsstücke.52 Wenn Männer und ganz besonders Frauen bedeckt und versteckt werden, hat das vor allem mit den Geschlechtsorganen und der Fortpflanzungsfähigkeit zu tun. Im Arabischen wird Nacktheit begrifflich als ‘aura (»Blöße«, wörtlich »Spalt«) gefasst, also als Angriffspunkt, Schwäche oder Blöße, die der schützenden Bedeckung bedarf. Im muslimischen juristischen Diskurs wird zwischen der ‘aura von Männer und Frauen unterschieden. Bei Männern reicht die Blöße nur vom Nabel bis zu den Knien, bei Frauen gilt der ganze Körper als ‘aura. Nur im malakitischen und hanafitischen Rechtssystem waren ihre Hände und ihr Gesicht ausgenommen.53 Zwei Begründungen für diese asymmetrische Definition bieten sich an: Frauen haben zwei weitere Geschlechtsorgane, die bedeckt werden müssen, und sie können Vergewaltigungsopfer werden. In der Tat wurden Frauen schon in vorislamischer Zeit als ‘aura beschrieben.54 Nach Aussage des asketischen Gelehrten H . asan al-Bas.rî (gestorben 728) sagte der zweite Kalif ‘Umar ibn al-Hat.t.âb (gestorben 644), ein frommer Frauenverächter: »Frauen sind Nacktheit (‘aura). Bedeckt sie (STR) mit Häusern und heilt ihre Schwäche mit Schweigen!«55 Die Absonderung im Haus ist in der Tat die vollkommenste Form der Bedeckung. Funktional gesehen ergibt es Sinn, die Abson^

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rem, S. 124ff., bietet einen ausgezeichneten Abschnitt über den Begriff h.igâb in islamischen und vorislamischen Quellen, unter Berücksichtigung arabischer Sekundärliteratur. Vgl. C. Knieps: Geschichte, S. 365f. Vgl. ebd., S. 336ff. Vgl. B. Stowasser, Women, S. 92. Die koranischen Vorschriften werden im Folgenden erörtert. Vgl. ebd., S. 93, und B. Krawietz: H . urma, S. 281f. Vgl. den Artikel MAR’A in der Encyclopaedia of Islam, New Edition. Vgl. C. Knieps: Geschichte, S. 263, Anm. 881. Eine vollständige Analyse aller Hadith-Stellen über ‘aura (matn-cum-isnâd) ist ein Desiderat; die Gleichsetzung Frau – ‘aura wurde in einer frommen Fälschung sogar schon dem Propheten in den Mund gelegt.

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88 | Ludwig Ammann derung als eine Form der Bedeckung zu betrachten, wenngleich sie radikaler ist als eine Bedeckung mit Kleidungsstücken. Diese funktionale Äquivalenz hoben auch muslimische Juristen wie Ibn Taimîya (gestorben 1328) hervor, der erklärte, Gott habe die Frauen dazu bestimmt, »geschützt und abgesondert« zu werden. »Die Verhüllung (STR) mit Kleidung und Häusern« werde ihnen auferlegt, weil »die Erscheinung von Frauen eine Ursache von Unordnung und Zwietracht (fitna) ist und weil die Männer über ihnen stehen«.56 Verschleierung der Frauen und gelegentliche Absonderung fanden sich schon im vorislamischen Arabien. Dazu unten mehr. Eine Form der Absonderung muss jedoch schon im gegenwärtigen Zusammenhang erwähnt werden: Junge Mädchen wurden nach ihrer ersten Menstruation in ihrem Zelt oder Haus in einem abgetrennten Raum (hidr) hinter einem Vorhang verborgen (H . GB): Es ist also exakt der Beginn der Sexualreife und Fortpflanzungsfähigkeit, der in einer notorisch kriegerischen Gesellschaft nach einem speziellen Schutz verlangte.57 Wenn etwas als »privat« deklariert oder wenn ein h.igâb eingerichtet wird, handelt es sich um profane Vorstellungen von Absonderung und Geschlechtertrennung. Es gab und gibt allerdings auch eine sakrale Absonderung. Mehr noch, Abtrennung ist der semantische Kern des »Heiligen«, des Sakralen. Wie die vergleichende Religionswissenschaft zeigt, stellen sich die Religionen das Heilige zum einen als inhärente Mächte und zum anderen als attributive oder transformative Absonderung vor. Beide Aspekte, die innere Qualität des Heiligen und die Erklärung eines Raumes zum Heiligtum, sind komplementär zu verstehen. Dabei wird der terminologische Schwerpunkt kulturspezifisch jeweils auf einen der beiden Aspekte gesetzt. Das lateinische sacer betont das Element der Abtrennung.58 Sacer bezeichnet den Raum, der einer Gottheit geweiht und darum dem profanen Gebrauch entzogen ist. Vom Verb sacrare ist das Partizip sacratus (»geheiligt«) abgeleitet, von sancire (wörtlich »abgrenzen«) sanctus (»unverletzlich, ehrwürdig, heilig«) und sanctum (»eingegrenzt, Heiligtum«). Die Grundbedeutung besagt in allen Fällen, dass das Heilige vom Profanen abgegrenzt ist. Als Gegensatzpaar erwecken sacer und profanus eine räumliche Vorstellung, denn sie unterscheiden zwischen dem als heilig erklärten Boden, dem für den kultischen Gebrauch bestimmten Heiligtum, und dessen Umfeld, dem profanum (wörtlich »vor dem Tempel liegend«).59 Dieser Befund passt perfekt zu der ^

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56 Vgl. S. Marmon: Eunuchs, S. 8. 57 Vgl. C. Knieps: Geschichte, S. 128, 156f. Die Belege, die Knieps für weniger spezifische »Frauenquartiere« anführt, müssen sehr sorgfältig interpretiert werden: Wenn in Versen die Rede von einem Vorhang am Eingang des Zeltes die Rede ist, so wird damit nur bewiesen, dass die Frauen abgesondert waren, und Verse über Frauenquartiere an den Höfen eines akkulturierten arabischer Vasallenstaats (S. 124) beweisen für innerarabische Beduinengesellschaften überhaupt nichts. 58 Vgl. drei ausgezeichnete terminologische Essays des Religionswissenschaftlers Carsten Colpe: »heilig (sprachlich)«, in: Hubert Cancik/Burkhard Gladigow/Matthias Laubscher (Hg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Stuttgart 1993, Bd. 3, S. 74-80, hier S. 76f.; »Das Heilige«, ebd., Bd. 3, S. 80-99, hier S. 88f.; und Über das Heilige: Versuch, seiner Verkennung kritisch vorzubeugen, Bodenheim 1990, S. 79. 59 Vgl. C. Colpe: »Das Heilige«, S. 92f.

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Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation | 89 von der Wortwurzel H . RM abgeleiteten arabischen Terminologie, der die Vorstellung zugrunde liegt, das Heilige sei verboten, und umgekehrt. Doch der Reihe nach: Das semitische Wortfeld der Wurzel H . RM umfasst ein weites Bedeutungsspektrum, von »getrennt« über »vom allgemeinen Gebrauch abgesondert, Gott gewidmet« bis zum »Verbot«.60 Als Spekulation gebe ich zu bedenken, ob nicht das proto-hamito-semitische Substantiv har (»Exkremente«) diesem semantischen Komplex zugrunde liegen könnte. Was ausgeschieden wird, wird vom Körper getrennt und man darf es nicht mehr anfassen, es ist tabu – ontogenetisch eine der ersten und stärksten körperlichen Lektionen in puncto Tabu und Unverletzlichkeit. Dies würde gut zu den psychohistorischen Theorien des Heiligen und seiner Ambivalenz zwischen Reinheit und Befleckung, Scheu und Abscheu passen61 – und nicht zuletzt auch zu h.aram/ h.arîm und h.arâm. Im Arabischen decken die H . RM-Derivate das semantische Feld des Heiligen, Unverletzlichen, Verbotenen, Ehrfurchtgebietenden ab. H . arâm und sein Antonym h.alâl »gehen auf die alte semitische Idee ritueller Reinheit zurück. Genauer gesagt ist h.arâm das Tabu, während h.alâl einfach etwas ist, das nicht unter dem Bann des Tabus steht, alles, das ›davon befreit ist‹. H . arâm bezieht sich auf Dinge, Orte, Personen und Handlungen; und alles so Bezeichnete ist definitiv von der Welt des Profanen getrennt und auf eine besondere Daseinsebene gehoben, der des ›Heiligen‹ im doppelten Sinn von Heiligkeit und Befleckung; es handelt sich auf jeden Fall um etwas Unnahbares, Unberührbares.«62

Im Koran ist es Gott, der etwas als h.arâm (»absolut verboten«) oder h.alâl (»frei«) erklärt. H . aram und h.imâ (H . MY – »beschützen«) und mah.gar (H . GR – »am Betreten hindern«), zwei Wörter, denen anscheinend das H als Bedeutungsträger des Verbo. tenen gemein ist, sind die vorislamischen Begriffe für »Heiligtum«, »Schutzraum«.63 Es handelt sich um einen Raum, der für den kultischen Gebrauch geschützt ist, eine heilige Enklave in einer Welt unablässig Krieg führender Beduinen. Vom allgemeinen Gebrauch ist dieser Ort durch Tabus, die sich auf Blutvergießen, Jagen und Abholzen beziehen, abgetrennt; so wird dieser Ort zu einer Art Privatweide einer Gottheit, so wie Verschleierung und Absonderung eine Frau zum privaten Weidegrund eines Patriarchen machen.64 Ein h.aram ist von seiner Umgebung oft auf natürliche Weise getrennt: durch Wasser, Vegetation und Abgelegenheit. Ursprünglich wohnten dort namenlose Gottheiten, die ginn, abgeleitet von der semitischen Wortwurzel ^

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60 Vgl. Martin R. Zammit: A Comparative Lexical Study of Qur’anic Arabic, Leiden 2002, S. 139. Im Akkadischen bedeutet HRM sowohl »trennen« als auch »bedecken«. 61 Vgl. C. Colpe: Über das Heilige, S. 37, 62. 62 Vgl. Toshihiku Izutsu: Ethico-Religious Concepts in the Qur’an, Montreal 1966, S. 245. 63 Vgl. R. B. Serjeant: »H . aram and h.awtah: The Sacred Enclave in Arabia«, in: Abd al-Rahman Badawi (Hg.), Mélanges Taha Husain, Kairo 1962, S. 41-58, und Julius Wellhausen: Reste arabischen Heidentums, Berlin 1897, S. 105ff. 64 Im juristischen Diskurs sind die sexuellen Rechte asymmetrisch festgelegt: Ehemänner haben das Recht, den Körper ihrer Ehefrauen exklusiv zu genießen - milk al-mut‘a; umgekehrt gilt dies freilich nicht. Vgl. B. Johansen: »Equality«, S. 362.

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GN (»bedecken, schützen«). Diese Schutzgottheiten überdauerten die Ankunft des Islam als unsichtbare Dämonen gemeinsam mit dem Wort für »Paradies«, ganna (»Garten, von Mauern eingeschlossenes Grundstück«), während die heiligen Städte Mekka und Medina unter dem Namen al-h.aramain (»die beiden Heiligtümer«) bekannt wurden. Von der h.aram-Vorstellung als geschützter heiliger Raum ist es nur ein kleiner Schritt zu den Begriffen h.arîm und h.urma, die Häuser und Körper als geschützte Räume betrachten. H . aram und h.arîm, Mekka und der Haushalt, bilden so die Gegenpole des Heiligen im Islam. »Jedes Haus hat seine eigene Heiligkeit (h.urma)«, heißt ein ägyptisches Sprichwort. »Wer ohne Erlaubnis oder nicht korrekt eintritt, wer den Eigennamen einer Frau so laut ausruft, dass Außenstehende ihn hören können, wer schamlos redet und wer ohne Erlaubnis hineinschaut, verletzt die h.urma des Hauses.«65 Es kann kein Zweifel bestehen, wer besonders gefährdet ist und darum abgeschirmt wird: die Frauen, also die Ehefrau des Mannes und seine Töchter. Tatsächlich werden üblicherweise h.urma und h.aram auch gebraucht, wenn man respektvoll von der Ehefrau eines Mannes sprechen will, wie sich auch h.arîm nicht nur auf das Frauenquartier bezieht, sondern auch auf die Frauen selbst. Schon die Lexikographen der Mamluken-Zeit erklärten h.uram (Plural von h.urma) und h.arîm eines Mannes als »das, wofür er kämpft und was er beschützt« bzw. »seine Kinder und Frauen und das, was er beschützt«.66 Der heilige Charakter des Hauses hängt von der Anwesenheit von Frauen ab. Frauen stehen im Mittelpunkt des »Heiligtums«, zu dem der Zugang streng begrenzt bleibt. Nur sexuell tabuisierte männliche Verwandte (mah.ram) haben Zutritt jenseits aller Schirme und Gitter, die als Schutzschilde gegen visuelles Eindringen fungieren, das bereits als Verletzung der Tabusphäre gilt. H . urma, h.arîm und h.igâb haben in erster Linie mit dem Aspekt räumlicher Absonderung zu tun. Es ist Gottes Tabu, das Frauen und Familienangehörige separiert, indem sie für unverletzlich und heilig erklärt werden. Man kann indes auch nach der inneren Qualität des Heiligen fragen, die hinter dieser äußeren Abgrenzung steht. Es ist, wenn wir einen Augenblick von allen sekundären Merkmalen und Zutaten absehen, die Macht der Fortpflanzung, die als heilig gilt. Dass der institutionelle Komplex der Absonderung letztlich den heiligen Kräften sexueller Fortpflanzung gilt, zeigt sich anschaulich immer noch in den Lebenszyklen mancher Frauen. »Heirat ist Schutzbedeckung für Mädchen«, heißt ein ägyptisches Sprichwort. »Das Ende des Hochzeitszyklus ist die duhla, ein Begriff, der das Eindringen des Bräutigams in die Braut, also das Ende ihrer Jungfräulichkeit, aber auch den Einzug der Braut in das Haus des Bräutigams bezeichnet. Zum passenden Zeitpunkt ^

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65 Vgl. J. Campo: The Other Sides of Paradise, S. 98. Vgl. auch die berühmten Essays über kabylische Werte, besonders über h.urma/h.aram als das weibliche Heilige, die Bourdieu 1960 schrieb und 1966 veröffentlichte: Pierre Bourdieu: »The Sentiment of Honour in Kabyle Society«, in: J. G. Peristiany (Hg.), Honour and Shame, Chicago 1966, S. 91-214. (Dt. »Ehre und Ehrgefühl«, in: P. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1976, S. 11-47.) Vgl. auch Stefano Bianca: Hofhaus und Paradiesgarten: Architektur und Lebensformen in der islamischen Welt, München 1991, S. 21-28, 96ff. 66 Vgl. S. Marmon: Eunuchs, S. 116, und J. Campo: The Other Sides of Paradise, S. 99.

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Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation | 91 trägt der Bräutigam sie über die Schwelle des Brautgemachs und verletzt dann ihre Jungfräulichkeit, in Anwesenheit enger weiblicher Verwandter aus beiden Familien, mit seinem mit Gaze umwickelten Finger.«67 Und so ist es auch keine Überraschung mehr, dass ein auf diese Weise durchstoßenes Jungfernhäutchen als h.igâb bezeichnet wird. Es handelt sich um den letzten, entscheidenden »Vorhang« des Haremssystems. Die Verletzung des Unverletzlichen, die hier gefeiert wird, beweist mit der öffentlichen Zurschaustellung von Blut, dass die Schwelle des heiligsten/privatesten Raumes, den es im menschlichen Körper gibt, nicht schon zuvor unrechtmäßig überschritten wurde. Zusammengefasst ergibt unsere semasiologische Erkundung des arabischen Wortschatzes für »privat« und »öffentlich« folgenden Befund: In der arabisch-islamischen Vorstellungswelt ist das Ganze der Gesellschaft (’umma, ‘âmma) genealogisch mit der abgesonderten, von Gott geschützten Fortpflanzungsmacht verbunden, wobei der Zugang zur primären Reproduktionseinheit, der Frau und Mutter (’umm), strikt begrenzt ist. Anders gesagt, hier ist das Private das Primäre. Es wird als Sanctum definiert, als heilige Tabusphäre lebenswichtiger sozialer Funktionen. Und das gilt auch in vielen anderen Kulturen.68 ^

Von der Polis zur Madîna: Die orientalisch-islamische Stadt als Verkörperung gemeinschaftlicher Privatheit Wie die Wörter bewahren auch die Stadtentwürfe und -anlagen Zustände von langer Dauer für die Nachwelt auf. Darum soll jetzt, bevor wir uns eingehender mit der häuslichen Einheit als Kernzelle des gesellschaftlichen Lebens befassen, zunächst die islamische Stadt (al-mis.r al-gâmi‘ – »die kollektive Stadt«)69 als Siedlungseinheit untersucht werden. Im Durchschnitt war die vorindustrielle madîna eine wesentlich größere und kosmopolitischere Stadt, mit sehr unterschiedlichen religiösen und ethnischen Bevölkerungsgruppen, als ihr westliches Gegenstück: Im Mittelalter hatten nur wenige christliche Städte mehr als 20.000 Einwohner. Während das muslimische Córdoba sich um das Jahr 1000 n. Chr. einer Einwohnerzahl von rund einer halben Million rühmen konnte, hatte Paris damals kaum 40.000 Bewohner. Schätzungsweise ein Fünftel der Bevölkerung im Kairo des 18. Jahrhunderts gehörte speziellen ethnischen und religiösen Gemeinschaften an, und in Algier war deren Anteil sogar noch höher.70 Die madîna ist Gegenstand autokratischer Herrschaft von Gou^

67 Vgl. J. Campo: The Other Sides of Paradise, S. 110; duhla ist von DHL – »eintreten« – abgeleitet. 68 Vgl. L. Sciama: »Privacy«, S. 99, zu griechischen Hirten und deren Häusern als Heiligtum der Familie. 69 Dieser Begriff hat sich im islamischen Recht entwickelt; seine unterschiedlichen Definitionen divergierten nach sozioökonomischen und politisch-juristischen Kriterien. Vgl. Baber Johansen: »The All-Embracing Town and Its Mosques: Al-mis.r al-gâmi‘«, in: Revue de l’occident musulman et de la méditerranée 32 (1981), S. 139-161. 70 Vgl. zur Größe europäischer Städte Hektor Ammann: »Wie groß war die mittelalterliche

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92 | Ludwig Ammann verneuren und, zumeist durch deren Vernachlässigung, auch ein Komplex sich selbstverwaltender Stadtteile. Niemals aber war die madîna eine sich im Ganzen selbst regierende polis – wenn man die Lieblingsbeschäftigung einer müßiggängerischen Sklavenhalterklasse wirklich so nennen will – und auch keine Stadtgemeinde korporativistischen Typs. Und nicht zuletzt war die orientalische Stadt ein wesentlich privaterer Raum als moderne und vormoderne Städte des Westens. Davon kann jeder ein Lied singen, der sich einmal im Labyrinth ihrer Gassen verlaufen hat. Islamische Städte verkörpern eine Art gemeinschaftlicher Privatheit. Trennung und Absonderung sind dort bestimmende Faktoren des städtischen Lebens, während abendländische Städte einen bemerkenswert öffentlichen Lebensstil pflegen.71 Es ist gewiss riskant, aus der Diversität realer, sich wandelnder Phänomene einen Idealtypus der islamischen Stadt zu konstruieren. Dass es überhaupt so etwas wie »die islamische Stadt« gegeben habe, wird bisweilen bestritten und als essenzialistischer Mythos der Orientalisten kritisiert.72 In der Tat gab es für diese Skepsis gute Gründe, weil ein Extremfall, die marokkanische Stadt Fes, immer wieder als typisch für die Städte der gesamten islamischen Welt dargestellt wurde. Doch in sorgfältigen Analysen der architektonischen Anlage islamischer Städte von Marokko bis in den Iran samt deren sozialen Hintergründen und gesellschaftlichem Nutzen haben der deutsche Geograph Eugen Wirth und sein Forschungsteam über mehr als zwei Jahrzehnte hin sieben typische Merkmale muslimischer Städte identifiziert – Merkmale, die sich in abendländischen Städten entweder überhaupt nicht oder nur in geringerem Maße finden (z.B. Veränderungen des Stadtplans). Wirths Ergebnisse werden durch histo-

Stadt?«, in: Carl Haase (Hg.), Die Stadt des Mittelalters. Erster Band: Begriff, Entstehung und Ausbreitung, Darmstadt 1978, Bd. 1, S. 408-415; zu Schätzungen über spezielle Gemeinschaften André Raymond: »Islamic City, Arab City: Orientalist Myths and Recent Views«, in: British Journal of Middle Eastern Studies 12 (1994), S. 3-18, hier S. 15. In Aleppo betrug allein die Zahl der nichtmuslimischen Einwohner zwischen 24.000 und 120.000. Neueste Schätzungen finden sich in Jean-Claude Garcin/J.-L. Arnaud/Sylvie Denoix (Hg.): Grandes villes méditerranéennes du monde musulman médiéval, Rom 2000. 71 Vgl. Eugen Wirth: »Zur Konzeption der islamischen Stadt: Privatheit im islamischen Orient versus Öffentlichkeit in Antike und Okzident«, in: Die Welt des Islams 33 (1991), S. 5092; Eugen Wirth: »Esquisse d’une conception de la ville islamique: Vie privée dans l’Orient islamique par opposition à la vie publique dans l’Antiquité et l’Occident«, in: Géographie et Cultures 5 (1993), S. 7-90; Eugen Wirth: Die orientalische Stadt im islamischen Vorderasien und Nordafrika, 2 Bde., Mainz 2000, Bd. 1, S. 325-336. 72 Drei exzellente Forschungsberichte versuchen hier, Fakten von Mythen zu scheiden: A. Raymond: »Islamic City«; Janet L. Abu-Lughod: »The Islamic City – Historic Myth, Islamic Essence, and Contemporary Relevance«, in: International Journal of Middle East Studies 19 (1987), S. 55-176; und Masashi Haneda (Hg.): Islamic Urban Studies: Historical Review and Perspectives, London 1994, bes. S. 33-44. Vgl. auch Peter Feldbauer: »Die islamische Stadt im ›Mittelalter‹«, in: Peter Feldbauer/Michael Mitterauer/Wolfgang Schwentker (Hg.), Die vormoderne Stadt: Asien und Europa im Vergleich, Wien 2002, S. 79-106.

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Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation | 93 rische und soziologische Forschungen gestützt.73 Vier dieser sieben Kriterien sind auch in unserem Kontext von Belang: – Die geordnete Anlage islamischer Stadtgründungen verwahrloste allmählich immer mehr. Offene Räume, vor allem Straßen, die immer unter Aneignungsdruck stehen werden, hatten stärker unter Beeinträchtigungen zu leiden als ihre westlichen Gegenstücke – aus einer ganzen Reihe von Gründen und nicht zuletzt, weil der Marktaufseher (muh.tasib), der das Bauwesen zu überwachen hatte, sich mehr um die Bewahrung der häuslichen Privatsphäre kümmerte als darum, dass offene Räume auch offen blieben. Hauptsache, man konnte die Engstellen noch passieren. Wichtiger noch: Im Eigentumsrecht hatten die Rechte der Privatbesitzer Vorrang, während die Rechte der Allgemeinheit und die der Verwaltungseinheit als nachrangig galten.74 Dieser Befund darf allerdings nicht mit der unzutreffenden Vorstellung von Orientalisten vermischt werden, antike Städte seien planmäßig, islamische Städte dagegen ungeordnet angelegt. Makellose klassisch-antike Stadtanlagen (urbs) waren bereits in vorislamischer Zeit verwahrlost. Überdies sind einige Veränderungen nicht als Verlust zu werten. Breite, von Kolonnaden gesäumte Straßen verschwanden im Nahen und Mittleren Osten nach dem 4. Jahrhundert n. Chr., zusammen mit dem Wagentransport. Packesel waren unter den neuen Bedingungen effizienter, darum benötigte man auch nur eine gewundene Gasse, die breit genug war, dass zwei Lasttiere aneinander vorbei kamen. Dieser Raum war alles, was Juristen für öffentliche Straßen forderten; der übrige Raum konnte für Läden und Werkstätten genutzt werden.75 – Ein auffälliges Merkmal traditioneller islamischer Städte ist die ziemlich strikte Trennung zwischen Geschäftszentrum und Wohngegenden – was mit der Geschlechtertrennung zusammenhängen könnte,76 aber auch mit der Zellenstruktur der Wohnquartiere, d.h. mit der weiteren Unterteilung in Dutzende getrennter Wohnbereiche durch Türen, die andere ausschließen sollen. Das abgeschlossene Viertel, die Nachbarschaft (mah.alla, h.âra, h.auma) ist das grundlegende Element einer städtischen Gesellschaft – und damit zweifellos mehr als eine nur geographische Einheit. Ein solches Viertel beherbergt eine festgefügte Gemein73 Vgl. E. Wirth: Die orientalische Stadt, Bd. I, S. 517ff.; J. Abu-Lughod: »The Islamic City«; S. Bianca: Hofhaus, S. 24-155; A. Raymond: »Islamic City«; Ali Madani-Pour: »Public Space in the Middle Eastern City«, in: Culture: Unity and Diversity. Proceedings of the Annual Conference of the British Society for Middle Eastern Studies, 12-14 July 1994, Durham 1994, S. 369386; sowie jetzt für islamische Städte des Mittelmeerraums bis zum 15. Jahrhundert die Zusammenfassung in J.-C. Garcin/J.-L. Arnaud/S. Denoix (Hg.): Grandes villes. 74 Vgl. J. Abu-Lughod: »The Islamic City«, S. 163. 75 Vgl. Hugh Kennedy: »From polis to madîna: Urban Change in Late Antique and Early Islamic Syria«, in: Past & Present 106 (1985), S. 3-27, hier S. 26. 76 Vgl. J. Abu-Lughod: »The Islamic City«, S. 169 und Anm. 36; A. Raymond: »Islamic City«, S. 12; A. Madani-Pour: »Public Space«, S. 370. E. Wirth: Die orientalische Stadt, Bd. 1, S. 136150, führt aus, wie Wohnbereiche immer mehr aus dem Geschäftsviertel verbannt wurden.

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94 | Ludwig Ammann schaft, deren Solidarität und kollektive Verantwortung auf Verwandtschaft (Familie, Abstammung, Clan) basieren kann, aber auch auf Klientelverhältnissen, gemeinsamer Herkunft aus bestimmten Dörfern, ethnischen und sprachlichen Identitäten (zum Beispiel Kurden), religiösen Identitäten (zum Beispiel Juden), Sektenidentitäten (zum Beispiel Schiiten) oder auf beruflichen Gemeinsamkeiten. Im Lauf der Zeit gruppierten sich die Familien neu nach Reputation und Besitz, sodass die Herkunft als Grundlage der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft immer mehr an Bedeutung verlor. Der Sozialstatus wurde zum sozialen Unterscheidungsmerkmal, während andererseits in späterer Zeit die Behörden mit Vorliebe Neuankömmlinge, insbesondere religiöse Minoritäten, in eigenen Stadtvierteln zusammenfassten. Darum muss für jede Zeit und für jedes Quartier einzeln untersucht werden, in welchem Maß die Bewohner einer gemeinsamen Klasse angehörten oder nicht.77 Eine solche Nachbarschaft entspricht einem kleinen Dorf, das aus 200 bis 400 Familien mit zwischen 1000 und 2000 Menschen besteht. Die Beziehungen sind also noch persönlich, nicht anonym. Die Exklusivität der Wohngebiete fördert Vertrautheit und soziale Kontrolle. Das schließt auch den Schutz der Gemeinschaft ein: Abgeschlossene Viertel dienten den Gemeinschaften in Städten, die oft unter inneren Kämpfen litten, als Verteidigungsraum. Letzteres kam in westlichen Städten viel seltener vor. Solche Wohnviertel wurden geradezu zum Markenzeichen muslimischer Städte. Nordamerikaner sollten indes eine faszinierende Konvergenz nicht übersehen: die Entwicklung von »gated communities«, also abgeschirmten und bewachten Wohnvierteln für Gemeinschaften, die heute jedoch weitgehend auf Klassenzugehörigkeit basieren. – Bei genauerem Hinsehen erkennt man ein weiteres einzigartiges Merkmal islamischer Städte: die zahlreichen eingeplanten Sackgassen in den Wohnvierteln. So entsteht ein Labyrinth, das den Zugang weiter begrenzt und kontrolliert. Die Sackgasse selbst ist in der Tat ein Privatraum. Juristisch gilt sie als Gemeinschaftseigentum der Anlieger, die sie als private Sphäre betrachten, in der intime Verrichtungen möglich sind. Die Straße fungiert hier als Fortsetzung der Häuser, wenn deren Bewohner zu arm sind, um dem Ideal der weiblichen Absonderung nachkommen zu können. Wenn sich die unter Fremden geforderte physische und visuelle Trennung nicht realisieren lässt, wird die Familie eben umfassender definiert, sodass sie auch die Nachbarn einschließt.78 – Im Zentrum des Systems stehen überwiegend Häuser, die um einen Innenhof gebaut sind, nach innen, nicht nach außen gerichtet, Häuser, deren Äußeres

77 Vgl. J.-C. Garcin/J.-L. Arnaud/S. Denoix (Hg.): Grandes villes, S. 312f., und A. Raymond: »Islamic City«, S. 14. Raymond bevorzugt den Klassenbegriff, ohne zu quantifizieren, wie oft die »ganz anders geartete Logik« eines nachbarschaftlichen Viertels zum Zuge kommt. Dass es solche Nachbarschaften gab, bestreitet auch Raymond nicht. Sjobergs Konzept einer universalen vorindustriellen Stadt wird von J. Abu-Lughod: »The Islamic City«, S. 164 und Anm. 36, zurückgewiesen. 78 Vgl. J. Abu-Lughod: »The Islamic City«, S. 168.

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Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation | 95 schlicht und abweisend ist, damit Fremde keinen Einblick haben. Hier liegt das Heim, der privateste aller Räume, das Reich der Großfamilie, ein Heiligtum. Diese Organisation des städtischen Raumes reflektiert und stärkt die Gruppensolidarität, indem die Bewegungen der Körper kontrolliert werden. Abgeschlossene, abgesonderte Räume, vom Haus der Familie bis zum eingefriedeten Wohnquartier, schaffen deutlich mehr privaten, halbprivaten und halböffentlichen Raum als in abendländischen Städten – anders gesagt, Räume, die in einem konzentrischen System relativer Privatheit nicht jedermann frei zugänglich sind. Abgesehen von Durchgangsstraßen und Gebäuden wie öffentlichen Bädern und später Kaffeehäusern gab es in solchen Städten nur zwei große öffentliche Räume, die normalerweise ganz im Zentrum lagen: den Markt (sûq, bâzâr) als Teil der Hauptstraße und die Moschee für große Gemeindeversammlungen (al-gâmi‘), die so genannte Freitagsmoschee mitsamt ihren Schulräumen, zum Beispiel der madrasa. Gemeinsam bilden sie den öffentlichen Raum.79 Die Zitadelle als Reich des Herrschers war definitiv kein öffentlicher Raum, sondern heiliger privater Raum,80 normalerweise am Rand der Stadt gelegen. Der einzige andere öffentliche Raum ist der leere, offene Raum (finâ’) in der unmittelbaren Umgebung der Stadt, als Bereich für die gemeinsamen Interessen der Bewohner gekennzeichnet.81 Die Moschee ist ein polyvalenter öffentlicher Raum: Sie dient religiösen, schulischen, richterlichen und – wenn wir an den Treueid und die Einbeziehung des Herrschernamens in die Freitagspredigt denken – auch politischen Zwecken. Als Raum für vielfältige öffentliche Funktionen trat die Moschee somit an die Stelle der klassischen Agora (in der griechischen Polis) bzw. des Forums (in römischen Städten) und des antiken Theaters. Zutritt zur Moschee haben allerdings nur muslimische Gläubige, und so bleibt als einziger wirklich öffentlicher Raum in der muslimischen Stadt der Markt. Die Marktstraße ist oft überdacht, während Moscheen einen weiten, offenen Innenhof haben. Als wichtigster Versammlungsort unter freiem Himmel ersetzt die Moschee also die Agora. In manchen Fällen wurde sie sogar auf der Fläche der alten Agora errichtet.82 Die Überlagerung des Marktplatzes (griechisch agora) als Raum des öffentlichen Diskurses durch al-gâmi‘ (arabisch »versammelnd« [part.act.]) belegt den Wandel der Stadt von der Polis zur madîna, von der profanen Öffentlichkeit zu einer Öffentlichkeit, die mit dem Heiligen verbunden und dort beheimatet ist – von der zivilen Selbstverwaltung, die freilich in der Spätantike schon stark beeinträchtigt war, zur Theokratie. Die Theokratie ist eine Gesetzesherrschaft, die Herrschaft von Gottes offenbartem Gesetz, eine Herrschaft, die im Idealfall durch autokratische Herrscher durchgesetzt oder zumindest nicht behindert wurde, denn die Regierungsgewalt wurde immer wieder von ^

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79 Vgl. Friederike Stolleis: »Öffentliche Räume in islamischen Altstädten: Eine Darstellung anhand ethnographischer, geographischer und islamwissenschaftlicher Quellen«, in: IWALEWA Forum. Arbeitspapiere zur Kunst und Kultur Afrikas 1-2 (1999), S. 75-92. 80 Vgl. S. Marmon: Eunuchs, S. 9ff. 81 Vgl. Baber Johansen: »Urban Structures in the View of Muslim Jurists«, in: B. Johansen, Contingency in a Sacred Law, S. 154ff. 82 Vgl. H. Kennedy: »From polis to madîna«, S. 15f.

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96 | Ludwig Ammann jenen usurpiert, die die Macht dazu hatten. Für die Stadt bedeutete das oft anstelle städtischer Autonomie die Anwesenheit eines tyrannischen Gouverneurs – und anstelle körperschaftlicher städtischer Institutionen eine informelle Selbstverwaltung durch ein Netzwerk. Daran beteiligt waren einerseits der Gouverneur, der Kadi und der Marktaufseher, der für die Kontrolle der Moral im öffentlichen Leben zuständig war, sowie andererseits die Vorsteher der Stadtquartiere (sprich: Stadtteilgemeinschaften, t.awâ’if) als Vertreter einer maximalen substaatlichen Gemeinschaftsautonomie (sprich: Privatsphäre).83 Die Privatsphäre der Wohnquartiere wird kontinuierlich gegen Eindringlinge abgeschirmt, die gefährlich sein könnten oder einfach nur nicht dazugehören – sie sind nicht Mitglied dieser lokalen Gruppe, und darum haben sie dort nichts zu suchen. Die gemeinschaftliche Privatsphäre ist in einer soziozentrischen Gesellschaft nicht auf die Kernfamilie beschränkt, und sie ist schon gar nicht die Privatsphäre eines autonomen Individuums. Vielmehr handelt es sich um ein System abgestufter, immer enger gefasster Zugangsberechtigungen, eine Struktur, die mit einem System der Segmentierung oder Absonderung in sozial-räumliche Einheiten und Untereinheiten korrespondiert, wobei die Großfamilie das Zentrum bildet. Eine derartige Privatsphäre markiert die Zugehörigkeit und fördert eine enge Vertrautheit im Nachbarschaftsleben. Mit anderen Worten, es handelt sich um eine außerhäusliche Geselligkeit unter Nicht-Fremden, die in Armenvierteln sogar noch an Bedeutung gewinnt. Die Kehrseite dieser Vertrautheit ist natürlich die soziale Kontrolle, besonders aus der Sicht des Individuums in einer egozentrischen Gesellschaft: ein Mangel an persönlicher Privatsphäre. Man kann sich durchaus Gedanken darüber machen, ob nicht das kulturelle Ideal physischer Privatheit die Informations-Privatsphäre zu wenig einbezieht.84 Wichtiger ist indes Folgendes: Die intensive Privatsphäre der Familie, die in eurozentrischen Zivilisationstheorien als späte Entwicklung auf Kosten traditioneller Geselligkeit gilt, existierte in einigen Gesellschaften tatsächlich schon sehr früh und war dort mit überwiegend männlicher außerhäuslicher Geselligkeit 83 Vgl. Thierry Bianquis: »Derrière qui prieras-tu, vendredi? Réflexions sur les espaces publics et privées, dans la ville arabe médiévale«, in: Bulletin d’études orientales 37-39 (1988), S. 7-20, hier S. 10, wo es zusammenfassend heißt: »Or, la plupart des conflits politiques dans l’Orient arabe médiéval n’opposaient pas des individus entre eux ou au souverain, mais concernaient des groupes de solidarités, lignages, tribus, ethnies, communautés religieuses, professionnelles, territoriales ou autres. Parmi ces groupes, la famille primait: c’était l’institution fondamentale dans laquelle l’individu arabe s’insérait et s’identifiait et qui le représentait auprès du pouvoir. Matériellement, le lieu du fonctionnement social de la famille était la maison et l’intervention du pouvoir était prohibée dans cet espace sacralisé à l’égard de tout étranger. La ville était ainsi un agrégat de cellules privées, presque autonomes. Elle renfermait également des espaces semi-publics ou quasi-publics, gérés soit par des communautés plus larges, soit directement par le Prince ou par son représentant.« 84 Abraham Marcus’ (»Privacy in Eighteenth-Century Aleppo«, S. 174ff.) dahingehende These wird von Michael Cooks Belegen (Commanding Right, S. 480ff.) für das Verbot von Spionage und Schnüffelei deutlich relativiert: Das Ideal informationeller Privatheit gab es sehr wohl – nur ließ es sich nicht ohne weiteres realisieren!

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Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation | 97 kombiniert – ein öffentliches Leben, das sich sowohl in der halbprivaten Nachbarschaft als auch in der Öffentlichkeit von Moschee und Markt abspielte. Die Mängel solcher Theorien treten sogar noch deutlicher hervor, wenn man berücksichtigt, dass wenigstens in den großen Häusern versucht wurde, den widersprüchlichen Normen der Privatheit und der Gastfreundschaft dadurch gerecht zu werden, dass man genug eigene Räume für die Pflege der Gastlichkeit und für geschäftliche Gespräche vorsah.85 Es konnte und kann, wenngleich stets kontrolliert und nach Geschlechtern getrennt, ein reiches gesellschaftliches Leben in muslimischen Privaträumen geben! Die Privatsphäre in islamischen Städten reflektiert die Bedeutung trennender Kräfte und substaatlicher Einheiten auf allen Ebenen, von den Geschlechtsrollenzuweisungen bis zur Religion, von der Familie bis zur Nachbarschaft. Es ist verlockend, diesen Zustand als Produkt einer sippenorientierten Gesellschaft zu interpretieren, selbst wenn sich die Stammesstrukturen, soweit sie über die endogame väterliche Linie in arabischen und anderen muslimischen Gesellschaften hinausreichten, in den Städten gewiss nach einiger Zeit auflösten. Hier soll die These vertreten werden, dass sich die gemeinschaftliche Privatsphäre am Stammesparadigma ausrichtet, das in der muslimischen Ökumene jenseits der Stadtmauern weiterlebte und das auch im gesellschaftlichen Imaginären der Stadtbewohner eine große Rolle gespielt haben muss; schließlich wurden die Städte regelmäßig von unterschiedlichen Stammeskräften erobert. Noch heute wird in den Nachbarschaften die Familie ganz groß geschrieben, in Vierteln, in denen die Nähe und Enge der eingeschlossenen Mitbewohner als die Nähe einer Sippe interpretiert wird, was den Korpsgeist von Solidaritätsgruppen stärkt, die ständig auf der Hut sind. Hier entsteht soziale Einheit durch ein wechselseitiges Gefühl der qarâba (»Nähe/Sippengefühl«), das Familienbeziehungen ebenso einschließt wie das Verhältnis von Patron und Klient und Nachbarschaftsbeziehungen.86 Bezeichnenderweise ist das arabische Wort für »Sippe« von der Wurzel QRB (»nahe, eng«) abgeleitet. In der sozialen Welt zeitgenössischer Be. duinen lautet der Gegenbegriff zu qarîb: garîb – »Fremder«.87 Diese Bindungen enthalten allerdings auch ein Element der Wahlfreiheit: Es ist, als hätten die Stadtbewohner das Potenzial sozial-räumlicher Segmentierung entdeckt, um den Risiken einer unkontrollierten Fremdheit und Anonymität in immer größeren und immer heterogeneren Riesenstädten zu begegnen.88 Die größere Öffentlichkeit westlicher 85 Vgl. J. Campo: The Other Sides of Paradise, S. 79, 86. 86 Vgl. Dale F. Eickelman: »Is There an Islamic City? The Making of a Quarter in a Moroccan Town«, in: International Journal of Middle East Studies 5 (1974), S. 274-294, eine Feldstudie über ein Wohnviertel in einer marokkanischen Kleinstadt. Vgl. auch Nawal al-Messiri Nadim: »The Concept of the h.âra: A Historical and Sociological Study of al-Sukkariya«, in: Annales Islamologiques 15 (1979), S. 313-348, eine Studie über ein Viertel in Kairo. 87 Vgl. Lila Abu-Lughod: Veiled Sentiments: Honor and Poetry in a Bedouin Society, Berkeley, CA 1986, S. 49ff. Man beachte, wie sich zwischen miteinander nicht verwandten Wohnnachbarn sippenähnliche Bindungen entwickeln und wie diese als Herzensverwandtschaft interpretiert werden (S. 62f.); so werden aus Nachbarn Quasi-Verwandte. 88 J.-C. Garcin in: J.-C. Garcin/J.-L. Arnaud/S. Denoix (Hg.): Grandes villes, S. 6-11, vertritt die Ansicht, dass die islamischen »mégapoles« aus universalistischer Sicht etwas ganz Ande-

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98 | Ludwig Ammann Städte könnte andererseits einen Mangel an Stammesbewusstsein reflektieren, genauer gesagt das allmähliche Verschwinden von Sippenstrukturen und größeren Sippen in Europa. »In klassischer Zeit betonten Griechen und Römer unilineare Abstammungsgruppen (patrilineare Clans und Lineages [also Sippen in väterlicher Linie, LA]). Doch diese Verwandtschaftsstrukturen verschwanden weitgehend, einerseits unter dem Einfluss der germanischen Invasoren mit ihren bilateralen Verwandtschaften und andererseits unter dem Druck der christlichen Kirche, die alle umfassenderen Verwandtschaftsgruppen schwächte, indem sie deren Umfang effektiv begrenzte und ein Alternativsystem ritueller Beziehungen durch Patenschaften schuf. Diese Schwächung passte sowohl der Kirche als auch den Feudalherren bestens ins Konzept.«89 Laut Aristoteles basierte bereits der griechische Stadtstaat (Polis) auf der Zerstörung aller verwandtschaftlichen Bindungen.90 Und das Christentum war in der Tat sehr darum bemüht, Großfamilienstrukturen, die alle Geschwister mit einbezogen, zugunsten intimer, individueller Kleinfamilien zu bekämpfen: Die Familie, die im gesellschaftlichen Imaginären Europas eine ganz besondere Rolle spielte, die Heilige Familie, besteht aus Vater, Mutter, Einzelkind – entspricht also der postindustriellen Kern- und Kleinfamilie!91 Christen sind normalerweise verblüfft, wenn sie hören, dass Jesus tatsächlich Brüder und Schwestern hatte. Diese sind in der Bibel erwähnt – doch nicht ein einziges Gemälde aus 2000 Jahren zeigt Jesus mit seinen Geschwistern! Islamische Städte sind nicht immer gleich gewesen. Es gibt markante Unterschiede zwischen maghrebinischen Städten wie Fes – die den Idealtypus der privaten Stadt bis ins Extrem verkörpern, indem sie den geringen noch verbliebenen öffentlichen Raum noch weiter abwerten – und den größeren städtischen Zentren des Safawidenres seien als andere islamische Städte ihrer Zeit. Es ist allerdings zu bezweifeln, ob das auch für das Prinzip der gemeinschaftlichen Privatsphäre gilt. 89 Vgl. Jack Goody: The European Family: An Historico-Anthropological Essay, Oxford 2000, S. 3. Goodys historisch-anthropologische Untersuchungen zur eurasischen Familie und darüber hinaus sollten zur Pflichtlektüre für alle Soziologen erhoben werden, die sich mit der »Moderne« und der Einzigartigkeit des Westens befassen. – Ein tabellarischer Vergleich orientalischer Stammes- und Clanstrukturen und abendländischer Sozialstrukturen findet sich bei Pierre Guichard: Structures sociales »orientales« et »occidentales« dans l’Espagne musulmane, Paris 1977, S. 19. Zu Ehemustern – Sklavenhalterhaushalt mit Geschlechtertrennung und Haremssystem oder auf die Ehefrau ausgerichteter Haushalt mit Dienstpersonal – vgl. Marshall Hodgson: The Venture of Islam, Bd. 2, S. 355. – Einen ausgezeichneten neueren Vergleich europäischer und nichteuropäischer Familien- und Verwandtschaftsmuster bietet Michael Mitterauer: Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München 2003, S. 70-108 (»Gattenzentrierte Familie und bilaterale Verwandtschaft: Gesellschaftliche Flexibilität durch gelockerte Abstammungsbeziehungen«). 90 Vgl. H. Arendt: Vita Activa, S. 28. 91 Vgl. Albrecht Koschorke: Die Heilige Familie und ihre Folgen. Frankfurt am Main 2000, S. 113ff. – Zur Reinterpretation der leiblichen Geschwister Jesu als entfernte Verwandte vgl. die Schilderungen der »Heiligen Sippe«.

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Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation | 99 und Osmanen-Reiches mit ihren eindrucksvollen öffentlichen Bauten. Auch entwickelten sich neue öffentliche Räume, besonders die Kaffeehäuser. Andererseits ist die markante Privatheit der Stadtanlage kein Vorrecht islamischer Städte. Solche Strukturen gab es schon in antiken orientalischen Städten wie Babylon. Tatsächlich setzen fünf der sieben von Wirth identifizierten typischen Merkmale islamischer Städte lediglich eine orientalische Tradition der Stadtkultur fort. Allein das spektakuläre Marktviertel und große multifunktionale Baukomplexe sind eine städtische Innovation islamischer Gesellschaften. Darum sollte man den oben skizzierten Idealtypus auch nicht islamische Stadt nennen, sondern lieber orientalisch-islamische Stadt. Überdies muss immer bedacht werden, dass die Religion nur eine von vielen Kräften ist, die Stadtbild und städtische Struktur geprägt haben. Das wichtigste und augenfälligste Merkmal ist die Privatsphäre als beherrschendes Prinzip sozialer Interaktion. Man kann mit guten Gründen annehmen, dass dieses Prinzip aus einer alten semitischen Tradition genealogischer Gesellschaftsbildung hervorgegangen ist, die in der islamischen Zivilisation überlebte, im christianisierten und im germanischen Europa jedoch zurücktrat oder gar nicht erst zum beherrschenden Prinzip werden konnte. Wie weit ist der typologische Kontrast der orientalischen und der abendländischen Stadt nach Jahrhunderten der Modernisierung und Verwestlichung noch gültig? In der ganzen muslimischen Welt wurden neue Viertel im westlichen Stil gebaut, die mit der alten Stadt koexistieren, und bisweilen wurde selbst der alte Stadtkern drastisch verändert. Das sieht nach Konvergenz aus. Doch dem widerspricht ein faszinierender Essay des Anthropologen Werner Schiffauer über die Kultur der Geschlechtertrennung innerhalb der türkischen Großstadtkultur.92 Hervorgegangen ist dieser Essay aus Feldstudien in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Eskis¸ ehir, einer Großstadt, die auf den ersten Blick jeder größeren westlichen Stadt ähnelt. Es gibt dort öffentliche Räume wie Parks und Boulevards, Cafés, Restaurants, Kinos und Theater. Doch Frauen haben zu diesen Orten nur begrenzten Zugang – Orten, die nicht als Quintessenz urbaner Kultur, sondern als gefährliche Orte wahrgenommen werden. So sind Cafés hier keine Cafés im französischen Stil, an denen man vorbeiflaniert und deren Stühle und Tische, große Fenster und Spiegel alle nach außen, in den öffentlichen Raum gerichtet sind; nein, diese Cafés kehren dem öffentlichen Raum den Rücken zu. Zwei Dinge sind dafür, wie auch generell für die inneren Unterschiede gegenüber westlichen Großstädten hauptsächlich verantwortlich: die patriarchalische Tendenz, Beziehungen unter Männern durch Frauenehre zu symbolisieren (dazu gleich mehr), und insgesamt die Bedeutung von zwischen Individuum und Gesellschaft angesiedelten Gruppen. Dazu zählen zum Beispiel ethnische, von endogamen Verwandtschaftsgruppen bevölkerte Wohnquartiere oder Gemeinschaft stiftende Unternehmen. Die Bedeutung solcher Gruppen geht einher mit einem starken Bedürfnis, sich in häuslichen Räumen unter seinesgleichen zu bewegen, in Intimität und Wärme, geschützt und beschirmt durch soziale Kontrolle. 92 Vgl. Werner Schiffauer: »Das Ideal der Segregation: Annäherungen an die urbane Kultur der türkischen Großstadt«, in: W. Schiffauer, Fremde in der Stadt: Zehn Essays über Kultur und Differenz, Frankfurt am Main 1997, S. 128-143.

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100 | Ludwig Ammann So findet ein beträchtlicher Teil des gesellschaftlichen Lebens im privaten Raum statt: Die türkische Stadtkultur ist nach innen gerichtet, sie kehrt der öffentlichen Bühne der europäischen Stadtkultur den Rücken zu. Soweit zur Türkei. Eine um 1990 durchgeführte anthropologische Feldstudie in Casablanca zeichnet ein genaues Bild, wie Veränderungen im Wohnumfeld und bei sozialen Werten das Verhältnis von privatem und öffentlichem Raum sowie die nachbarschaftliche Geselligkeit in einem Viertel beeinflussen können.93 Das moderne koloniale Vorstadt-Armenviertel Ben M’sik aus den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts hatte den außerhäuslichen Raum, anders als im traditionellen Stadtdesign üblich, zunächst entprivatisiert. Doch die Bewohner reprivatisierten die kleinen Gassen zwischen ihren Armenhütten und machten sie zum Hof ihrer Häuser – eine armutsbedingte Ausdehnung des häuslichen Raumes, die die traditionelle Privatheit der Sackgassen wiederbelebte. Dieser halbprivate Raum war in erster Linie ein weiblicher Raum unter strikter sozialer Kontrolle; Außenstehende wurden ausgeschlossen. Die Vertrautheit des Nachbarschaftslebens war gleichbedeutend mit Sicherheit und Geselligkeit, aber aus Sicht der kleinsten sozialen Einheit auch mit einem Mangel an familiärer Privatsphäre oder Intimität – das Leben konnte hier unangenehm öffentlich sein, weil alle fast alles mithören oder beobachten und sich in alles einmischen konnten. Die Umsiedlung in ein neues Viertel mit festen Bauten in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts zog gravierende Veränderungen nach sich: Der außerhäusliche Raum wurde nun vollständig entprivatisiert; zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum verblieb kein zwischengeschalteter halbprivater und/ oder halböffentlicher Raum mehr. Und dies hatte nicht nur mit der neuen Anlage des Wohnviertels zu tun. Eine am sozialen Aufstieg orientierte Gruppe optierte für einen neuen Lebensstill und eine neue Identität und richtete sich dabei am Verhalten jener aus, die bereits in solchen Häusern wohnten und die mit den traditionellen Werten der Geselligkeit, Vertrautheit und des Zusammenlebens in Freud und Leid gebrochen hatten – zugunsten eines Höchstmaßes an familiärer Intimität. »Das Vokabular dieses neuen Ethos zeugt von der Herausbildung neuer Modelle, die Praktiken des Rückzugs entsprechen, einer Neubestimmung von Abstand und Nähe im gesellschaftlichen Raum. Diese Modelle werten Zurückhaltung und Meidung als Formen der Bewältigung von gesellschaftlicher Heterogenität auf. Die zu diesem Ethos gehörigen Verhaltensweisen setzen nicht mehr eine offene Räumlichkeit und Gemeinschaftsbeziehungen des Teilens und Austauschs voraus, sie werden vielmehr individuell ausgeübt und unterliegen dem Primat des ›bei sich zu Hause‹. Daraus ergibt sich ein Prozess der Individualisierung und Beschränkung der Verantwortung auf die Kernfamilie, deren Grenzen mehr und mehr der Parzelle entsprechen.«94

Die Kern- und Kleinfamilie hat über die größeren Solidargruppen gesiegt, die soziale 93 Vgl. Abdelmajid Arrif: »Variations spatiales du privée et du public à travers les exemples de Ben M’sik et de Hay Moulay Rachid à Casablanca«, in: Les Cahiers d’URBAMA 13 (1997), S. 61-89. 94 Vgl. ebd., S. 83, und die faszinierenden Interview-Auszüge S. 82ff.

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Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation | 101 Distanz über die Nähe, die Welt der Fremden über die Welt der Brüder. Jetzt haben wir es in der Tat mit einer familiären Privatsphäre auf Kosten der Geselligkeit zu tun, ganz besonders auf Kosten weiblicher Geselligkeit. Denn nun war die Absonderung der Frauen im Haus endlich praktikabel. Es liegt keine geringe Ironie darin, dass das Privileg der Privatsphäre, ein altes islamisches Ideal, sich für diese Leute aus dem Hüttenviertel auf eine durchaus westliche Weise verwirklichen sollte – als Polarisierung des Privaten und des Öffentlichen, die mit Verlusten, mit Deprivation verbunden ist: »Hier geht einem der Nachbar verloren, man entfernt sich voneinander, es gibt nicht mehr das gleiche Einvernehmen wie früher. Hier sind alle Fremde, unser Leben hat sich völlig verändert, die Zärtlichkeit, die es früher zwischen uns gab, ist verschwunden und die gegenseitigen Besuche, das Kommen-und-Gehen, hat abgenommen. Jeder hat seine Tür und macht sie zu …« Dazu sagte eine Frau: »Hier sind meine Beziehungen zu den Nachbarinnen sehr eingeschränkt. Hier fühlst du dich allein, isoliert; wenn du etwas zu feiern hast, kommt keiner zu Besuch. Hier hält jeder auf Abstand. Du fühlst dich hier wie in einem Gefängnis.« Die Elemente bewusster Entscheidung und Nachahmung werden in der folgenden Äußerung zur Sprache gebracht: »Man will ja neue Beziehungen schaffen, neue Benehmensweisen. Wie soll ich sagen? Es heißt doch: ›Wer mit einem Volk verkehrt, gehört dazu‹.« So ging der Bruch mit einer ausgewogenen Tradition also aus. Nach Michael Warner gehört der gesellschaftliche Umgang unter Fremden normativ zu den Definitionskriterien der Moderne; der Status des Fremden sei notwendig, damit alle im Medium der Öffentlichkeit gleiche Rechte und Chancen haben, was wiederum Voraussetzung für einige unserer am höchsten geschätzten Lebensweisen sei.95 Aber um welchen Preis? Fremdheit schließt normalerweise Vertrautheit und Intimität aus, soweit nicht eine Art Stammessolidarität vorausgesetzt werden kann und soweit nicht aus Fremden im Lauf der Zeit Nichtfremde werden. Der gesellige Umgang verliert auf diese Weise seine wertvollsten Eigenschaften; er wird zum unpersönlichen »rationalen Umgang unter Fremden«. Wenn sich die Öffentlichkeitssphäre ausweitet, wenn das städtische Potenzial für kosmopolitische Universalität über die zentralen Austauschräume hinaus ausgeweitet wird, so leidet darunter die gemeinschaftliche Nähe der Nachbarschaftsquartiere. Eine Öffentlichkeit von Fremden als kommunikative Norm passt zwar zum westlichen Streben, die stammeskulturelle Brüderlichkeit zugunsten einer universalen »Andersheit« hinter sich zu lassen. Doch dafür ist ein Preis zu zahlen: »Es ist eine Tragödie der Moralgeschichte, dass die Ausweitung des Geltungsbereiches moralischer Gemeinschaft meistens durch Aufgabe der Intensität moralischer Bindungen erkauft wurde – dass nur dadurch alle Menschen zu Brüdern werden konnten, dass sie zugleich zu Anderen wurden.«96

95 Vgl. M. Warner: »Publics and Counterpublics«, S. 56f. 96 Vgl. Benjamin Nelson: The Idea of Usury: From Tribal Brotherhood to Universal Otherhood, Chicago 1969, S. 136.

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102 | Ludwig Ammann Der öffentliche Mann und die private Frau im Islam Die moderne kosmopolitische Großstadt im Westen ist – im Gegensatz zur Welt persönlich bekannter Anderer in Stämmen, Dörfern und Kleinstädten, aber auch im Gegensatz zu den Wohnquartieren orientalisch-islamischer Städte der Vergangenheit, und teilweise auch der Gegenwart – eine Welt anonymer Fremder. Ein früherer Typus von Kosmopolitismus begrenzt den Bereich der Fremden und privatisiert potenziell öffentliche Räume durch Schaffung kollektiver Zwischen-Räume – Heimatterritorien und Dörfer mitten in der Stadt, mit jeweils beschränktem Zugang. Es gibt jedoch, wie der Soziologe Lyn Lofland gezeigt hat,97 noch weitere Strategien, um mit der Welt der Fremden zurechtzukommen: Begrenzung des Zugangs zum Individuum durch ein Körper-Management, das wie ein Schutzschild funktioniert. So soll man auf der Straße oder in der U-Bahn andere nicht anstarren, sondern so tun, als würde man die anderen Menschen überhaupt nicht bemerken. Es wird erwartet, dass man sich einen gleichgültigen Anschein gibt und üblicherweise den mimischen, gestischen und hörbaren Selbstausdruck auf ein Minimum reduziert. Das drastischste funktionale Äquivalent dieses im Verhalten zum Ausdruck gebrachten Schutzschildes der Privatsphäre ist die Verschleierung (oder das Zeitungslesen). Nunmehr sind wir an dem Punkt unserer Erörterungen angelangt, an dem es erforderlich ist, das Thema der weiblichen Verschleierung und Absonderung in islamischen Gesellschaften systematisch anzusprechen – durch Akzentverschiebung von der Stadt als Ganzem zur häuslichen Sphäre im Zentrum des Ganzen. Traditionelle islamische Gesellschaften bieten ein Extrembeispiel für geschlechtsrollengebundene Bereiche – die einst fast universal gültige Unterscheidung zwischen dem öffentlichen Mann und der privaten Frau, eine Zuschreibung von Rollen und Räumen an Männer und Frauen, die auf der Mutterrolle der Frau basiert.98 Während Frauen aufgrund ihrer Mutterrolle überwiegend von häuslichen Aktivitäten in Beschlag genommen werden, haben Männer die Freiheit, sich auch außerhäuslich zu engagieren und auf diese Weise ihren Haushalt mit der Gesamtgesellschaft zu verbinden. Als Folge dieser Rollenverteilung werden Frauen mit dem häuslichen, Männer mit dem öffentlichen Leben identifiziert. Diese Arbeitsteilung – familiäre Reproduktion versus gesellschaftliche Produktion – enthält im Normalfall, aber nicht notwendigerweise, zwei Asymmetrien: Männer und ihre Aktivitäten werden höher bewertet, und sie erhalten formale Macht über die Frauen, die sich natürlich informell trotzdem eine Menge Einfluss und Macht sichern können. Die islamische Zivilisation stand rückhaltlos hinter diesen beiden Asymmetrien, die in nuce in dem berühmten Koranvers enthalten sind: »Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott die einen vor den anderen ausgezeichnet hat usw.« (Sure 4:34). Hier wurde die ungleichgewichtige Differenzierung sozialräumlicher Orientierungen zu einem institu97 Vgl. Lyn H. Lofland: A World of Strangers: Order and Action in Urban Public Space, New York 1973, S. 140ff. 98 Vgl. Michelle Z. Rosaldo: »Women, Culture, and Society: A Theoretical Overview«, in: Michelle Z. Rosaldo/Louise Lamphere (Hg.), Women, Culture, and Society, Stanford, CA 1974, S. 17-42 – ein Klassiker.

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Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation | 103 tionellen Komplex der Geschlechtertrennung entwickelt; man verfiel auf die weibliche Absonderung und Verschleierung, um die familiäre Privatsphäre zu sichern. Während die beigeordnete Regel, die den Zugang beschränkt (»Betretet keine anderen Häuser als die euren, bevor man euch willkommen heißt«, Sure 24:27), auch für Männer gilt, haben die Last der beschränkten Ausgangsmöglichkeiten allein die Frauen zu tragen. Die koranischen Grundlagen dieser Geschlechtertrennung sind oft genug beschrieben worden.99 Es gibt verschiedene von Gott offenbarte Vorschriften, die weibliche Verschleierung und Absonderung institutionalisieren. Einige dieser Vorschriften richten sich an die Frauen des Propheten, die ein leuchtendes Vorbild sein sollten: »Ihr seid nicht wie sonst jemand von den Frauen« (Sure 33:32). Sie wurden deshalb gedrängt, zu Hause zu bleiben, zu beten, Almosen zu geben und sich nicht zur Schau zu stellen (33:33). Mit ihnen nicht verwandte Männer wurden aufgefordert, sie nur hinter einem Vorhang (H . GB) anzusprechen (33:53). Weil der Prophet und seine Ehefrauen zu Verhaltensvorbildern für zukünftige Generationen wurden – Nachahmung des Propheten ist tatsächlich die wichtigste Quelle islamischen Rechts und islamischer Moral –, erlangten diese Regeln später allgemeine Gültigkeit. Die Pflicht zur Verschleierung, genauer gesagt: zur Bedeckung vor Männern, und die genauen Ausnahmeregeln für bestimmte Verwandte wurden für die Frauen und Töchter des Propheten sowie für alle gläubigen Frauen formuliert. In Sure 33:59 werden alle eben genannten Frauen aufgefordert, beim Verlassen des Hauses (was freilich aus dem Kontext des Verses erschlossen werden muss) ihr körperlanges Gewand (gilbâb) fest zu schließen, »sodass sie [als tabu] erkannt und nicht belästigt« würden. In Sure 24:31 erhalten alle Frauen den Rat, ihren Schal (himâr) über ihr Dekolleté zu ziehen und ihren Schmuck nur ihrem Ehemann, Vater oder Schwiegervater, ihren Söhnen oder Stiefsöhnen, ihren Brüdern oder den Söhnen ihrer Brüder und Schwestern zu zeigen, sowie ihren Dienerinnen, Sklavinnen, Eunuchen und »den Kindern, die noch nichts von weiblicher Nacktheit [‘aura] wissen«. Eine weniger umfassende und darum striktere Ausnahmeliste findet sich in Sure 33:55, wahrscheinlich mit Bezug auf die Frauen des Propheten, wenn es darum geht, dass Männer nur hinter dem in 33:53 geforderten häuslichen Vorhang mit ihnen sprechen dürfen – allerdings könnte es hier auch um viele andere Dinge gehen, denn es bleibt an dieser Stelle unausgesprochen, was kein Vergehen von »ihnen« ist, wenn sie es tun. Eine Vagheit, die unterschiedliche Interpretationen zulässt, ist auch bezüglich der Körperteile zu konstatieren, die vor nicht verwandten Männern durch festes ^

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99 Vgl. die Überblicksdarstellungen bei Richard T. Antoun: »On the Modesty of Women in Arab Muslim Villages: A Study in the Accomodation of Tradition«, in: American Anthropologist 70 (1968), S. 671-697; J. Campo: The Other Sides of Paradise, S. 19-24; C. Knieps: Geschichte, S. 182-209; B. Stowasser: Women, S. 85-103; sowie, mit detailliertem historischem Kontext, F. Mernissi: Harem, S. 113-252.

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104 | Ludwig Ammann ^

Schließen des gilbâb zu bedecken sind. Insgesamt gesehen fühlten sich die islamischen Rechtsschulen nicht ohne Grund aufgerufen, diese Teilversuche einer Verhaltensregelung bezüglich der Raum- und Kleiderordnung zu einem Gesamtkomplex räumlicher und visueller Geschlechtertrennung entlang der Grenze von »privat« und »öffentlich« zu systematisieren. Aber es bestand gewiss keinerlei Notwendigkeit, den außerhäuslichen und häuslichen Raum so strikt nach dem Prinzip der Geschlechtertrennung zu ordnen, dass das schöne Geschlecht in der Öffentlichkeit fast unsichtbar und im Idealfall ganz ans Haus gebunden wurde. Im Zentrum des koranischen Moralkodex steht eindeutig nicht die Verhüllung des Gesichtes, sondern die Bedeckung des Busens; auch geht es im Koran nicht um die kategorische Absonderung von Frauen in der häuslichen Sphäre, sondern nur um eine deutliche Geschlechtertrennung, außerhalb wie innerhalb des Hauses. Schließlich stellt der berühmte Vorhang (h.igâb) aus Sure 33:53 nur eine visuelle, keine auditive Trennung innerhalb des Hauses her; er fungiert als Äquivalent zur Bedeckung des Körpers außerhalb des Hauses. Es dauerte noch Jahrhunderte, bis die Reichen diesen Trennschirm zu abgetrennten Harems für ihre Frauen weiterentwickelt hatten. Der gesamte Kodex schützt die Frauen vor sexueller Belästigung – bei nicht verwandten Männern durch Zugangsbegrenzung, bei den engsten männlichen Verwandten (mah.ram) durch das Inzesttabu. Und wie soll man diesen Kodex bezeichnen? Antoun schlägt als Kurzformel »Sittsamkeitskodex« (modesty code) vor100 – in Anlehnung an die Koranverse, die Mohammed auffordern, den Männern (Sure 24: 30) und den Frauen (24:31) zu sagen, sie sollten »ihre Augen niederschlagen und ihre Geschlechtsteile bedecken«. Diese Verse stehen direkt vor dem ergänzenden Rat an die Frauen, ihren Busen mit dem Schal zu bedecken. Diese Kombination ist in der Tat bezeichnend, verbindet sie doch die Minimalbedeckung der Sexualorgane mit der komplementären Verhaltensvorschrift, wegzusehen und den Blick zu senken. Auf diese Weise werden Exhibitionismus und Voyeurismus – die Gewährung wie das Erstreben visuellen Zugangs zum erotischen Körper – gleichermaßen erschwert, und damit auch eine mögliche illegitime Fortpflanzung. Wie Campo in seiner Analyse dieser Sure erläutert, werden hier auf engstem Raum Diskurse über Ehebruch, Besuchsregelungen, den Körper und die Ehe zusammengeführt; Regeln für den Zugang zum häuslichen Raum gelten als im Prinzip ähnlich wie Regeln für den Zugang zum menschlichen Körper und für dessen Entblößung; das Haus, der menschliche – speziell der weibliche – Körper und sexuelle Beziehungen, sie alle werden zu einem Komplex verbunden.101 »Sittsamkeit« als Kurzformel für einen großen, vielfältigen Komplex von Tugenden und Institutionen, der über die von beiden Geschlechtern verlangte Bedeckung bestimmter Körperteile weit hinausgeht, ist ein hinreichend umfassender Begriff.102 Die Asymmetrien bei der Frage, wer einem ^

100 Vgl. R. Antoun: »Modesty«, S. 672f. 101 Vgl. J. Campo: The Other Sides of Paradise, S. 21. 102 Er ist jedenfalls mindestens so brauchbar wie El Guindis »Heiligkeits-, Zurückhaltungsund Respekt-Kodex«, eine Bezeichnung, die das Thema Sex ganz umgeht – und die im Untertitel des Buches schließlich doch zugunsten von »modesty« (»Sittsamkeit«) aufgegeben wird, »weil Muslime diesen Begriff übernommen haben, um jenen Kodex zu be-

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Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation | 105 größeren Risiko ausgesetzt sei und wer mehr zu verbergen habe – sie zeigen sich bereits in der Behandlung des Themas im Koran –, wurden bei der Fortentwicklung der Wertesysteme bis ins Extrem gesteigert. Dabei stellte und stellt man sich die weibliche Sexualität, und nur diese, als ständige Gefahrenquelle vor: Es ist die verführerische Frau, die die gesamte Gesellschaft aus den Fugen zu bringen droht und die Chaos (fitna) herbeiführt.103 Die daraus resultierende Differenzierung des Sittsamkeitskodex zu komplementären Konzepten von männlicher und weiblicher Ehre haben am treffendsten Pierre Bourdieu und Lila Abu-Lughod beschrieben – obwohl beide aus ihren Schilderungen der »kleinen Traditionen« von kabylischen Dorfbewohnern vor 1961 bzw. von ägyptischen Beduinen vor 1986 die »große Tradition« des Islam eliminierten. Bourdieu betont, wie das Ehrgefühl (nîf) des Mannes diesen dazu anhält, die heiligsten und verletzlichsten Dinge der Familie zu verteidigen, seine Frau und den Haushalt (h.urma), in denen die Ehre der väterlichen Linie – im Sinne von Respektabilität und Wertschätzung – ihren Niederschlag gefunden hat. Es ist eine auf den Mann fixierte Darstellung, die sich auf die Ehre konzentriert und in der die Sittsamkeit nur für einen kurzen Augenblick zur Geltung kommt,104 gleichwohl eine Darstellung, die höchst anregende Beschreibungen enthält: »Der Gegensatz zwischen h.aram und nîf, dem rechten Sakralen und dem linken Sakralen, kommt in verschiedenen proportionalen Gegensätzen zum Ausdruck: Gegensatz zwischen der Frau, auf der unheilvolle und unreine, zerstörende und zu fürchtende Kräfte lasten, und dem Mann, dem wohltuende, befruchtende und schützende Tugenden verliehen wurden; Gegensatz zwischen der Magie, die ausschließlich Sache der Frauen ist und vor den Männern geheimgehalten wird, und der Religion, die im Wesentlichen männlich ist; Gegensatz zwischen der weiblichen Sexualität, die als Schuld und Schande gelebt wird, und der Virilität als Symbol für Kraft und Prestige. Der Gegensatz zwischen drinnen und draußen als Modus des Gegensatzes zwischen dem rechten und dem linken Sakralen kommt konkret in der scharfen Unterscheidung zum Ausdruck, die zwischen dem weiblichen Raum, dem Haus und seinem Garten, d.h. zuvorderst dem Ort des h.aram überhaupt als einem abgeschlossenen, geheimnisvollen, vor Eindringlingen und Blicken anderer geschützten Raum einerseits und dem männlichen Raum der thajma‘th, dem Ort der Versammlung, der Moschee, dem Café, den Feldern oder dem Markt andererseits gemacht wird. Auf der einen Seite das Geheimnis der Intimität, die durch das Schamgefühl verschleiert wird, und auf der anderen Seite der offene Raum der gesellschaftlichen Beziehungen, des politischen und religiösen Lebens; auf der einen Seite die Sinne und das Gefühlsleben, auf deren anderen Seite die Beziehungen von Mann zu Mann, der Dialog, die Austauschbeziehungen. Während in der städtischen Welt, wo männlicher und weiblicher schreiben, der ihrem Handeln zugrunde liegt« (F. El Guindi: Veil, S. 82f.). Ebd., S. 82ff. und 113, findet sich ein, allerdings unvollständiger, Überblick über arabische Begriffe, die von den Wurzeln H . RM, H . SM, HSD, H . YY und ‘WR abgeleitet sind. 103 Antouns diesbezügliches Material aus einem jordanischen Dorf beschreibt eine weit verbreitete, von muslimischen Predigern immer wieder bestärkte Einstellung – wie z.B. Antouns hervorragende Transkription einer Freitagspredigt zeigt. Vgl. auch Fatima Mernissi: Beyond the Veil: Male-Female Dynamics in a Modern Muslim Society, Cambridge 1975. 104 Vgl. P. Bourdieu: »Ehre und Ehrgefühl«, S. 11-47. ^

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106 | Ludwig Ammann Raum sich überlagern, der Schutz der Intimität durch den Schleier und das Gebot strenger Zurückgezogenheit garantiert wird, sind diese beiden Räume im kabylischen Dorf, wo das Tragen des Schleiers der Tradition nach nicht bekannt ist, sehr deutlich voneinander getrennt. Der Weg, der zum Brunnen führt, weicht dem Bereich der Männer aus.«105

Abu-Lughod schlägt eine ausbalanciertere Begrifflichkeit vor: Im Zentrum des beduinischen Moralsystems stehen die Werte Ehre (saraf) und Sittsamkeit (h.asam); dabei lässt sich Sittsamkeit am besten als die Ehre der Schwachen und Abhängigen verstehen – vor allem der Frauen, die von jenen beherrscht werden, die zu ihrem Schutz verpflichtet sind: starken und unabhängigen Männern. Anders gesagt, Ehre und Sittsamkeit sind geschlechtsrollenbezogene Möglichkeiten, Respekt zu gewinnen. »Sittsamkeit« ist hier eine Kurzformel für Schamhaftigkeit, Schüchternheit und peinliche Berührtheit, sowie für eine gewisse Unterwürfigkeit. Sittsamkeit spricht die Sprache der Zurückhaltung, der Verschleierung und der sittsamen Kleidung, des niedergeschlagenen Blickes; Sittsamkeit versagt sich Essen, Gespräche und Lachen in der Öffentlichkeit, und ganz allgemein meidet die sittsame Frau die Gegenwart nicht verwandter Männer, indem sie sich unsichtbar macht – in Ermangelung einer strikten Absonderung, die nicht praktikabel wäre.106 Die besondere Betonung im Sittsamkeitskodex auf der Verleugnung von Sexualität in der Öffentlichkeit lässt sich durch die Tatsache erklären, dass auf diese Weise die Bedrohung minimiert wird, die von der Sexualität für das Sozialsystem ausgeht – für die patrilineare Vergesellschaftung durch patrilaterale Parallelbasen-Heirat, also die bevorzugte Eheschließung eines Mannes mit der Tochter seines Vaterbruders (bint ‘amm). Abu-Lughods Versuch, den Beitrag der »islamischen Ideologie« zu diesem Kodex in seiner Bedeutung gegenüber einer Ideologie der Stammesverwandtschaft gering anzusetzen, ist in Wahrheit nichts anderes als eine Studie zu Transformation und Anverwandlung einer »großen Tradition« – ein Prozess, bei dem eine polyvalente Sitte wie die Verschleierung neue Bedeutungen gewinnt, die die alten Bedeutungen in den Schatten stellen können, aber nicht müssen.107 Daraus ergibt sich unausweichlich die Frage: Wie islamisch ist das in muslimischen Gesellschaften gültige System der Geschlechtertrennung angesichts seiner Transformationen überhaupt? Weibliche Verschleierung und Absonderung sind keineswegs ursprünglich islamische Institutionen. Sie existierten in mediterranen Gesellschaften schon lange vor den Offenbarungen des Korans: in antiken Gesellschaften in Orient und Okzident, in Griechenland und in Persien, in hellenistischen, byzantinischen und sassanidischen Reichen, und bei Juden, Christen und anderen Gläubigen. Übrigens gab es sie auch bei den vorislamischen polytheistischen Ara^

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105 Ebd., S. 36f.; zusammengefasst erscheint diese Passage als »l‘opposition entre la maison et l’assemblée des hommes, entre la vie privée et la vie publique« in P. Bourdieu: »La maison kabyle ou le monde renversé«, in: Échanges et communications: Mélanges offerts à C. Lévi-Strauss à l’occasion de son 60e anniversaire, Paris 1970, S. 739-758, hier S. 747. 106 Vgl. L. Abu-Lughod: Veiled Sentiments, S. 79ff., 108, 152. 107 Vgl. ebd., S. 143ff., 152f., 159-167.

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Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation | 107 bern!108 Die Verschleierung ist in den altarabischen Quellen allerdings nur in einer Weise bezeugt, die allgemeine Feststellungen darüber, wer sich wann verschleierte, unmöglich macht. Wir wissen jedoch, dass es zum Zweck der Verhüllung verschiedene Arten von Tüchern gab: vor allem das bereits erwähnte körperlange lockere Gewand (gilbâb), den Schal (himâr), der so drapiert werden konnte, dass er Kopf und bestimmte Körperteile bedeckte oder nicht bedeckte, und Gesichtsschleier wie die qinâ‘.109 Die Verschleierung wurde von einer unbekannten Zahl von Frauen aus verschiedenen Stämmen praktiziert, bei Beduinen wie in den Städten, und gleiches gilt für die Absonderung junger Mädchen. Beide Sitten hatten jedoch niemals den Status kodifizierten Rechts – dies war etwa in Assyrien um 1300 v. Chr. der Fall – noch den islamspezifischen Status göttlichen Rechts. Das von mittelalterlichen Gelehrten ausformulierte islamische System der Geschlechtertrennung ist das Ergebnis ihrer Interpretationen gemäßigter koranischer Grundlagen im Lichte überwiegend sassanidischer und byzantinischer Traditionen, wie sie in den vom Islam eroberten Gebieten vorherrschten. Die Striktheit dieser Vorschriften ist eine Schöpfung frommer Muslime, die jene Merkmale eines heterogenen kulturellen Erbes auswählten, umformten und für gottgegeben erklärten, die sie als kongenial zur von Gott offenbarten moralischen Vision empfanden – und als kongenial zu ihren eigenen Vorlieben. Das kulturelle Ideal der patriarchalischen Geschlechtertrennung wurde, historisch gesehen, auf vielerlei unterschiedliche Weise praktiziert – je nach Zeit und Ort, Klassenzugehörigkeit, ethnischer Zugehörigkeit und je nach Neigung zu städtischen, ländlichen oder stammesmäßigen Lebens- und Organisationsformen der Gesellschaft.110 Eines der durchgängigsten Muster der Verschleierung ist mit der Klassenzugehörigkeit und dem Stadtleben verbunden: »Verschleierung und Absonderung entwickelten sich im vorislamischen Nahen Osten und in den angrenzenden Gebieten als Kennzeichen städtischer Frauen aus der Ober- und Mittelschicht. Sie signalisierten, dass diese Frauen nicht arbeiten mussten, und dienten dazu, sie von Fremden fernzuhalten.«111 Von Anfang an war die Verschleierung ein Statuszeichen, ein Vorrecht der Frauen aus der Oberschicht, während es Sklavinnen und Prostituierten manchmal verboten war, den Schleier zu tragen. Dieses Muster weisen schon sowohl der higâb-Vers (33:32) als auch der gilbâb-Vers (33:59) aus dem Koran auf: Im ersten ^

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108 Vgl. den Überblick in C. Knieps: Geschichte, S. 173-181. 109 Die Belege werden ausführlich besprochen bei C. Knieps: Geschichte, S. 63-172. 110 Eine hervorragende Überblicksdarstellung findet sich bei Nikki R. Keddie: »Introduction: Deciphering Middle Eastern Women’s History«, in: Nikki R. Keddie/Beth Baron (Hg.), Women in Middle Eastern History: Shifting Boundaries in Sex and Gender, New Haven, CT/ London 1991, S. 1-22; im selben Band differenziert Deniz Kandiyoti nach Islam und verschiedenen Typen des Patriarchats in: »Islam and Patriarchy: A Comparative Perspective« (S. 23-44); vgl. auch Erika Friedl: »The Dynamics of Women’s Spheres of Action in Rural Iran«, ebd., S. 195-213, und Mary E. Hegland: »Political Roles of Aliabad Women: The Public-Private Dichotomy Transcended«, ebd., S. 215-230. Beide Autorinnen liefern anthropologische Fallstudien aus dem ländlichen Iran, die zwischen nuancierter Analyse und apologetischer Tendenz schwanken. 111 Vgl. N. Keddie: »Introduction«, S. 2.

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108 | Ludwig Ammann Fall wird den Frauen des Propheten, die nicht ihresgleichen haben, auch innerhalb des Hauses eine Privatsphäre hinter einem Vorhang gewährt, während der zweite Vers für die Frauen des Propheten und die Frauen der Gläubigen die Verschleierung als Zeichen der Respektabilität vorsieht. Diese Frauen durften nicht belästigt werden, während Sklavinnen und andere schutzlos blieben. In nicht geringem Maße blieb die häusliche und außerhäusliche visuelle Privatsphäre ein zweischneidiges Privileg überwiegend städtischer Frauen aus der Mittelschicht, besonders jedoch der Oberschicht. Die meisten anderen konnten sich die Umsetzung des vorgeschriebenen Ideals weiblicher Ansonderung aus wirtschaftlichen Gründen überhaupt nicht leisten. In der Realität basierte der weibliche Lebensstil der Oberklasse auf der Mobilität von Frauen aus der Unterschicht, die als Dienerinnen mit ihren Botengängen die Kluft zwischen Harem und Außenwelt überbrückten. Die Freiheit, in öffentlichen Räumen handeln zu dürfen, war das zweischneidige Privileg der Armen: Wenn die patriarchalische Kontrolle über die Frauen der Unterschicht gelockert wurde und diese auf dem zentralen Markt, am Flussufer und in Kaffeehäusern in Erscheinung traten, so war dies weniger ein freiwilliges Entgegenkommen als schiere Notwendigkeit.112 Verschleierung und Absonderung sind nicht nur eine Frage der Klassenzugehörigkeit, sondern auch des Stadtlebens. In dieser Hinsicht ist der Kontext der göttlichen Offenbarungen aus Medina zur Geschlechtertrennung von Belang: Mohammed und seine ersten Anhänger waren aus dem kleinen und friedlichen Mekka, einer Stadt, in der es nur einen Stamm und eine Religion gab, als Migranten und als religiöse Minderheit – und damit in doppelter Hinsicht als Fremde – in das riesige Medina gekommen, das mit fünf Stämmen und nunmehr drei Religionen aufwartete. Anders gesagt, Medina war eine wesentlich kosmopolitischere und anonymere Stadt, selbst wenn Mekka als Sitz des Heiligtums ebenfalls zahlreiche Besucher anzog. Wahrscheinlich war die Verschleierung in dieser Welt von Fremden einfach empfehlenswert – als Schutzschild der Privatsphäre in einem potenziell gefährlichen öffentlichen Raum, weil diese Stadt notorisch von Bürgerkriegen heimgesucht wurde. Ganz zu Hause zu bleiben, war sogar noch sicherer. Die Begründung, die in Sure 33:59 für die Verschleierung gegeben wird – »damit sie erkannt und nicht belästigt werden« –, liest sich aus dieser Perspektive geradezu als generische Maßnahme gegen die Anonymität und den damit verbundenen Unfrieden. Weibliche Stadtbewohner waren meistens die Ersten, die den islamischen Schleier (h.igâb) trugen – anders als die Landbewohnerinnen, unabhängig davon, ob diese bäuerlich oder als Nomaden lebten. Darin könnte sich durchaus eine größere Notwendigkeit zur Verschleie^

112 Vgl. Judith E. Tucker: »The Arab Family in History: ›Otherness‹ and the Study of Family«, in: Judith E. Tucker (Hg.), Arab Women: Old Boundaries, New Frontiers, Bloomington, IN/ Indianapolis 1993, S. 195-207, zu arabischen Familientypen in Nablus und Kairo im 18. und 19. Jahrhundert, sowie Dina R. Khoury: »Slippers at the Entrance or Behind Closed Doors: Domestic and Public Spaces for Mosuli Women«, in: Madeleine C. Zilfi (Hg.), Women in the Ottoman Empire: Middle Eastern Women in the Early Modern Era, Leiden 1997, S. 105-127, zur Klassenzugehörigkeit und zu den Bewegungsräumen der Frauen in Mosul im selben Zeitraum.

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Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation | 109 rung in den großen Städten widerspiegeln, denn dort war der Kontakt mit nicht verwandten Fremden viel wahrscheinlicher; hinzu kamen die besseren Möglichkeiten der Reichen, diesem Bedürfnis auch nachzukommen. Selbst die heutige Wiederbelebung der Verschleierung auf freiwilliger Basis lässt sich wohl teilweise dadurch erklären, dass die städtischen Migranten der zweiten Generation eine traditionelle Möglichkeit wiederentdecken, mit riesigen Großstädten und deren eisiger Unpersönlichkeit zurechtzukommen – so wie auch die zeitgenössische Mode für Teenager und Twens Kapuzenhemden und Strickmützen wiederentdeckt hat: ein schutzbietender Look. Das von Designern beschworene »Cocooning« ist weder ein ausschließlich islamisches noch ein ausschließlich weibliches Privileg. Auf dieser Abstraktionsebene hat es ganz den Anschein, als wäre mit der weiblichen Verschleierung und Absonderung nicht allzu viel spezifisch Islamisches verbunden, so wenig wie mit der Rollenverteilung von privater Frau und öffentlichem Mann. Das gilt, wenn wir auf der Suche nach einem gemeinsamen anthropologischen Kern dieser Verhaltensweisen über die kulturspezifischen Bedeutungen hinauszugehen versuchen. Trotzdem bleibt die Tatsache, dass diese nahöstliche und mediterrane Sitte – für sich genommen wiederum nur ein lokales Beispiel für eine weit universalere Dichotomie – durch die koranischen Offenbarungen und den ethisch-rechtlichen Diskurs der Muslime gründlich islamisiert wurde. Natürlich konnte sie im Lauf der Zeit neue Funktionen und Bedeutungen annehmen. Als in den meisten muslimischen Ländern im vorigen Jahrhundert das göttliche Gesetz aufgegeben wurde, wurde das Schleiertragen zum spektakulären Symbol für die Herrschaft des Islam, für den Wunsch, entweder der Scharia (sarî‘a) oder wenigstens einem möglichst islamischen Lebensstil wieder Geltung zu verschaffen. Allerdings mit einem Unterschied: Primär waren Schleiertragen und Geschlechtertrennung eigentlich dazu gedacht, die gemeinschaftliche Privatheit, die Privatsphäre innerhalb der Gemeinschaft, zu sichern. Wie sich die Dinge indes weiterentwickelt haben, wird das Schleiertragen heute so verstanden, als diente es der Sicherung der persönlichen Privatsphäre und als könnte es ein Gleichgewicht schaffen zwischen Autonomie und Rücksicht auf die Gemeinschaft, zwischen Freiheit und Bindung, Erwerbsarbeit und Mutterschaft – mit anderen Worten: Der Schleier ist zu einer Art von islamischem Button geworden, ein Abzeichen, welches das eigentümliche Privileg einer informierten Selbstbescheidung verkündet, einer Selbstbeschränkung, die auf freier Entscheidung statt auf Zwang beruht. Abgetrennte Subjekte können sich für die Zusammengehörigkeit entscheiden und auf diese Weise gerade denen ihre Subjektivität beweisen, die sie ihnen absprechen. Wenn westliche Menschen diese noch andauernde Transformation beobachten, könnten sie dabei ihrerseits die Bedeutung der Sittsamkeit und des Schamgefühls als gemeinschaftsfördernde Werte wiederentdecken, als Gegengewicht zum überhand nehmenden Individualismus.113 Die etymologische Kernbedeutung des Wortes »Scham« lautet »bedecken«, wie aus der indogermanischen Wurzel *(s)kem- oder *(s)kam- hervorgeht.114 Scham als Reaktion auf ^

113 Vgl. Carl D. Schneider: Shame, Exposure and Privacy, Boston 1977, eine sehr empfehlenswerte Darstellung des inneren Zusammenhangs von Schamgefühl und Privatsphäre. 114 Vgl. ebd., S. 29, und zum Folgenden das ganze 4. Kapitel. – Das verwandte Wortfeld mit

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110 | Ludwig Ammann Gefahren sucht statt im Weglaufen Zuflucht im Verbergen: Ein Abwenden des Blickes, eine Bedeckung des Gesichts und ein Erröten sind Versuche, das Verletzbare abzuschirmen, wenn es sichtbar und entblößt wird. Um den Raum zwischen Individuen zu überwinden, ist irgendeine Form von Deckung erforderlich. Hier liegt der Grund, warum geschlechtsneutrale funktionale Äquivalente der Verschleierung wie Sonnenbrillen sich bei Muslimen und Nichtmuslimen gleichermaßen großer Beliebtheit erfreuen, selbst wenn die Sonne gar nicht scheint: Man kann sich hinter einer solchen Brille verstecken. Das männliche Äquivalent zum Schleier ist ein Bart – aber es dauert länger, ihn wachsen zu lassen, und man kann ihn nicht so leicht abnehmen wie eine Brille. Ein Bart ist die perfekte (Be-)Deckung für Wachstumsprozesse in Zeiten, da die Verwundbarkeit besonders groß ist.115 Das Schamgefühl ist eine Schutzbedeckung, weil es dafür sorgt, dass einem nicht gleich ist, was andere über das eigene Verhalten denken. Es fungiert auf der Verhaltensebene wie eine Verschleierung, die das private Ich schützt, wenn es in eine Gemeinschaft eingebettet ist, die auf wechselseitigem Respekt gegründet ist. Das Leben der Sterblichen braucht, wie Hannah Arendt mit Bezug auf den Privathaushalt als Reich der Geburt und des Todes festgestellt hat, gerade für sein Lebendigsein die schützende Verborgenheit.116 Im Arabischen gibt es eine verblüffende Parallele: Das Wort für »Scham«, h.ayâ’, stammt von derselben Wurzel wie das Wort für »Leben«, h.ayâh. Gleichwohl ist es bezeichnend, dass h.ayy (»lebendig«) auch die Bedeutungen »weibliche Geschlechtsteile«, »Stamm« und »Wohnviertel« haben kann. Die soziale Einheit für ein Leben in geschützter Vertrautheit geht über die Kern- und Kleinfamilie hinaus. Und sie ist auf jeden Fall größer als die Insel eines isolierten Individuums. Es steckt weit mehr als patriarchalische Bequemlichkeit dahinter, wenn Muslime Widerstand leisten gegen den Fall der »privaten Frau«. Sie stellen sich damit nämlich letztlich gegen eine westliche Kultur der Öffentlichkeit, und sogar deren Kult, die zur Schwächung und Zerstörung von Primärbindungen und letztlich zur Gefährdung der Reproduktion führen.117 Sie ziehen damit eine nachhaltige Vergesellschaftung den beunruhigenden Verheißungen universaler »shareholder values« vor.

Epilog: Die Stadterfahrung der Avantgarde Im Jahr 2000 brachte der franko-algerische Sänger und Liedermacher Rachid Taha sein sechstes Album heraus, »Made in Medina«, das umgehend zum weltweit anerkannten Klassiker wurde und im folgenden Jahr in der Kategorie »Traditional und

den Begriffen für Haut, Haus, Hütte, Schuh und Himmel ist von einer zweiten indogermanischen Wurzel mit der Bedeutung »bedecken« abgeleitet. 115 Vgl. die in Khedimellahs Beitrag zum vorliegenden Band geschilderten Entwicklungsstadien der Tabligh-Wanderprediger. 116 Vgl. H. Arendt: Vita Activa, S. 61 und 192. 117 Vgl. Werner Schiffauer: »Die civil society und der Fremde«, in: W. Schiffauer, Fremde in der Stadt, S. 35-49, hier S. 35f.

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Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation | 111 Weltmusik« mit dem »Victoire de la Musique« ausgezeichnet wurde.118 Diese Musik ist natürlich überhaupt nicht traditionell, sondern geradezu versessen auf die Moderne, gewiss der ansteckendste Rock’n’Rai, den es je gab, eine Musik, nach der man sehr gut tanzen kann, eine Fusion von Rock, Punk, Techno, Trance und arabischen Klängen mit aggressiv gesungenen Liedtexten in Arabisch und Französisch, Asri und Francarabe. In seinem cyber-stammesmäßigen, orientalo-elektrischen Groove verschmelzen arabische melodische Sensibilität und ein Grundrhythmus des Rock. Das ist der Sound unserer Zeit – hergestellt in London, Paris und New Orleans in Zusammenarbeit mit dem Produzenten-Veteranen, Arrangeur und Gitarristen Steve Hillage. »Made in Medina« ist natürlich nicht in Medina gemacht, im Stadtstaat des Propheten, den die radikalen Islamisten so sehr idealisieren. Dort wäre solche Musik verboten. Nein, sie wurde in den kosmopolitischen Megastädten der Welt gemacht, genauer gesagt, in deren nichteuropäischen Innenstadtvierteln wie Belleville, das zunehmend von Exilanten und Immigranten bevölkert wird – in der Tat eine Welt von Fremden, die in gewisser Weise die Situation der ursprünglichen Gemeinschaft des Propheten in Medina widerspiegelt. Doch in der globalen Stadt, die Rachid Taha im Titelsong »Medina« schildert, findet sich keine Spur der traditionellen orientalischen Stadt, die so stark zum gemeinschaftlichen Privatleben neigte. Taha schildert die zeitgenössische condition humaine der Großstädte: die Erfahrung der Anonymität und Einsamkeit eines isolierten Individuums im Getümmel gehetzter Menschenmassen. »Ich fühle mich wie ein Fremder« lautet sein Schrei des Herzens, der nicht nur den Schmerz eines jeden Immigranten zum Ausdruck bringt: Dies ist der Preis, den wir alle für einen westlichen Kult der Öffentlichkeit zahlen, der auf Kosten engerer persönlicher Bindungen das rein funktionale Verhältnis von Fremden privilegiert. Diese Analyse stammt natürlich nicht von Taha, sondern von uns. Doch seine arabisch-islamischen Empfindlichkeiten und seine zuerst im polyglotten Oran geprägten gesellschaftlichen Idealvorstellungen haben seinen Texten eine solche Form gegeben, dass derartige Gedanken nicht abwegig erscheinen. Eine apokalyptische Bilderwelt charakterisiert den Eingangssong des Albums, der auch im Soundtrack von Ridley Scotts »Black Hawk Down« Verwendung fand. Es ist die Welt »da draußen« – »BARRA BARRA«, wie es der unablässig wiederholte Titel des Songs herausschreit –, die Außenwelt jenseits des heiligen Refugiums des Hauses, anders gesagt: die Welt, die im Westen als öffentlicher Raum definiert wird, während in der islamischen Stadt dieser potenziell gefährliche Raum meistens privatisiert wurde. Natürlich könnte dieser Song auch die Zustände im algerischen Bürgerkrieg reflektieren. Aber er wirkt universaler. Man braucht nur an die notorische Innenstadtverwahrlosung in den Vereinigen Staaten zu denken. Was dem Selbst in dieser Welt da draußen am meisten fehlt, ist h.urma, ist »Würde« und »Respekt« – aber diese Übersetzungen bringen nur unvollkommen das sozialräumliche Substrat des Begriffes h.urma zum Ausdruck, die heilige Unverletzlichkeit des Abgesonderten, Privaten. Und 118 Vgl. die offizielle Website www.rachidtaha.com; Besprechungen und Biographien finden sich in Artikeln aus Village Voice, L’Humanité, Globalist, San Francisco Bay Guardian and Yahoo, die über die Suchmaschine Google zu finden sind. Alle erwähnten Tracks kann man auf der Website www.maquam.com anhören.

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112 | Ludwig Ammann diese Sphäre kann auch in verschiedenen Formen der Bedeckung zum Ausdruck kommen. Rachid Tahas moralische Vision für diese Welt der Fremden findet am Ende des Albums im Imperativ des Songtitels »GARAB« seinen Ausdruck (gebildet von der Wurzel QRB) – einer Aufforderung, die wiederum endlos wiederholt wird: »Komm näher!« – »du bist so weit weg«. Dies ist ein Ruf nach jener physischen und allgemeinen Nähe, die für den sozialen Umgang in der arabischen (und in der lateinischen) Welt typisch ist, ein Ruf nach jener Nähe der Vertrautheit, die auch das Privileg einschließt, andere Menschen vom gleichen Geschlecht berühren zu dürfen, statt jeglichen Körperkontakt tunlichst vermeiden zu müssen.119 Es ist dies nicht der . Weg der Sufis, den Said Nursi empfiehlt: Überwindung der Entfremdung (GRB), des 120 Exils der Seele in dieser Welt, durch Annäherung (QRB) an Gott. Rachid Tahas Ideal ist entschieden humanistisch und weltlich. Aber der sich beschleunigende zeitgenössische Rhythmus, der bis zum Ende vom inkantatorischen qrab qrab der Stimme durchbohrt wird, scheint gleichwohl in einer traditionellen Ekstasetechnik der Sufis verwurzelt, der dikr-Zeremonie. Nur dass hier ein anthropozentrischer Imperativ an die Stelle der ursprünglichen, theozentrischen Litanei Allâh allâh... oder Lâ ilâh illâ llâh, lâ ilâh illâ llâh... tritt. Das Ganze ist eine trance/kulturelle Reise, welche die Vergangenheit durch deren Transformation auf den heutigen Stand bringt. Die Säkularisation ist ein Bruch, der sich selbst mit Wiedergängern überrascht. »Medina« endet mit einem Schrei, der in einer Endlosschleife zum Himmel121 aufsteigt – wie die Möwen, die nachts die erleuchtete Blaue Moschee schweigend umkreisen, ewig.

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) vakat 118.p 63122368238

Teil II Fallstudien: Islamische Bewegungen in der Türkei, Iran und Europa

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) T02_00 resp teil II.p 63122368286

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) vakat 120.p 63122368326

Die Renaissance des religiösen Bewusstseins in der Türkei | 121

Die Renaissance des religiösen Bewusstseins in der Türkei: Nur-Studienzirkel 1 M. Hakan Yavuz Einer der entscheidenden Konflikte im modernen türkischen Leben ist die große Spannung zwischen Gesellschaft und Staat, die sich als Konflikt zwischen islamischen sozialen Bewegungen und der Staatsideologie, dem Kemalismus, artikuliert. Nach Alberto Melucci streben soziale Bewegungen mit ihrem aktiven Widerstandspotenzial danach, das Alltagsleben von der Kolonisierung durch die Zentralregierung zu befreien, damit Individuen ihr einzigartiges Potenzial realisieren und ihre kollektive Identität behaupten können.2 Dies ist auch eine passende Beschreibung der Nurcu-Bewegung, einer islamischen Glaubensbewegung, die auf den Schriften von Said Nursi (1876-1960) basiert und die zur Entstehung des Neo-Sufismus in der Türkei beigetragen hat. Nursi glaubte, dass die anatolische Bevölkerung stets bereit sei, sich zu spiritueller Ekstase hinreißen zu lassen – egal ob beim Gebet, beim Tanz, bei der Arbeit oder bei der Heilung. Diese innere Motivationskraft der türkischen Gesellschaft ist noch nicht hinreichend untersucht worden. Im vorliegenden Beitrag soll gezeigt werden, wie sich Said Nursi dieses Potenzial zunutze machte, um die islamische Tradition zu modernisieren – indem er den Muslimen wissenschaftliches und ethisches Rüstzeug sowie ein dynamisches Identitätsbewusstsein vermittelte. Said Nursi, der kurdische Gründer der Nur-Bewegung, stellte die große Bedeutung von Schreiben und Lesen heraus. Seine Schriften, als Risale-i Nur Külliyati (»Briefe des Lichts«) bekannt, waren, wie er selbst und seine Anhänger glaubten, ein Geschenk Gottes; sie hatten damit nach Meinung der Nur-Bewegung halbwegs den Status heiliger Schriften. Für Nursis Schriften gelten drei miteinander verbundene Ziele: muslimische Bewusstseinsbildung, Zurückweisung von Materialismus und Positivismus als vorherrschenden intellektuellen Diskursen, Wiederherstellung des kollektiven Gedächtnisses durch Revision der gemeinsamen Grammatik dieser Gesellschaft, des Islam.3 Im ersten Teil des Beitrags werde ich diese drei Ziele näher erläutern. Im zweiten Teil widme ich mich einer Analyse der Netzwerke von Nur-Lesezirkeln (sing. dershane). Bei der Untersuchung von Dershanes als Institution wird der Hauptakzent auf den Überlappungen von Öffentlichkeit, öffentlichem Raum, Moral und gesellschaftlichen Praktiken bei der Gemeinschaftsbildung liegen. In diesen 1 Dieser Beitrag ging aus Forschungen während meiner Zeit als Rockefeller Visiting Fellow am Kroc Institute in Religion, Conflict, and Peacebuilding der Notre Dame University hervor. Ich danke dem Kroc Institute sowie Nilüfer Göle, Ahmet Kuru und Etga Ugur. 2 Zum besseren Verständnis moderner sozialer Bewegungen empfehle ich Alberto Melucci: Nomads of the Present: Social Movements and Individual Needs in Contemporary Society, London 1989. 3 Vgl. M. Hakan Yavuz: »Being Modern in the Nurcu Way«, in: ISIM Newsletter 6 (Oktober 2002), S. 7 und 14 [International Institute for the Study of Islam in the Modern World, Leiden University], und M. Hakan Yavuz: Islamic Political Identity in Turkey, New York 2003, S. 151-178. ^

2004-09-13 19-27-08 --- Projekt: T237.gli.ammann.göle / Dokument: FAX ID 01d563122367806|(S. 121-146) T02_01 yavuz.p 63122368358

122 | M. Hakan Yavuz Studienzirkeln wird sehr deutlich, dass man auch als Muslim »modern« sein kann und dass sich beides wechselseitig bedingt. Dershanes werfen etliche Fragen auf, darunter auch die nach dem Engagement in einer globalen Gesellschaft, in Technologie und Moderne. Unter »Moderne« wird hier ein Komplex von Einstellungen zu Autorität, Identität, Zeit, Raum, Gesellschaft und Politik verstanden. Islamische Bewegungen versuchen, diese modernen Einstellungen zu formen, ebenso wie sie versuchen, die Moderne selbst umzuformen. Der Lebensstil in Dershanes ist asketisch geprägt: spartanische Lebensbedingungen, einfache Mahlzeiten, ein strenges Studienprogramm und Gehorsam gegenüber den Lehren des Islam. Aufgabe der Dershanes ist es, islamische Werte und Normen in der Gesellschaft zu verankern und zu vertiefen – durch konversationsähnliche Lesungen (sohbet) und durch Gebete. Im Schlussteil des Beitrags werden die Ursachen für die ethnische, klassenmäßige und politische Pluralisierung der Nur-Bewegung erörtert. Gemeinsames Anliegen all dieser Gruppierungen bleibt es jedoch, dafür zu sorgen, dass Moral und Religiosität als entscheidende Identitätskriterien behandelt werden.

1. Die Herausforderung an den Positivismus Die türkische Version des Positivismus wird von zwei grundlegenden Überzeugungen bestimmt – der Überzeugung von der ausschließlichen Wahrheit der Naturwissenschaften und dem Glauben an den Fortschritt der Geschichte, bis hin zur vollständigen Ablösung der Religion. Das positivistische Ziel, sich der sozialen Folgen der Religion entledigen zu wollen, ist regelrecht zum Mythos geworden. Als Reaktion auf den nachhaltigen Einfluss des Positivismus im osmanischen Bildungssystem und auf den damit einhergehenden totalen Zusammenbruch des islamischen Bildungssystems versuchte Nursi zu zeigen, dass Wissenschaft und Religion durchaus miteinander vereinbar sind – ebenso wie Freiheit und Glauben, Moderne und Tradition. Er erneuerte die Sprache des Islam im Hinblick auf die vorherrschenden universalen Diskurse: Wissenschaft, Menschenrechte und Rechtsstaat. Die Briefe des Lichts bilden eine alternative Grundlage für die Persönlichkeitsentwicklung von Muslimen sowie für eine Neubestimmung der Grenzen zwischen Wissenschaft und Religion, Staat und Gesellschaft. Mit dem Entstehen einer umfassenden Öffentlichkeitssphäre im Osmanischen Reich des späten 19. Jahrhunderts, als sich viele Menschen im Zeichen einer Ausweitung der Zeitungslandschaft, im Zeichen von Bildungsnetzwerken und im Zeichen einer sich entwickelnden Marktwirtschaft zur direkten Teilnahme an einer landesweiten Debatte berufen fühlten, wurde der Positivismus zu einer Art öffentlicher Philosophie, zur Grundlage für den gelenkten Aufbau einer neuen Gesellschaft.4 Eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung der positivistischen Philosophie spielte die Einführung der allgemeinen Schulpflicht in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts unter Sultan Abdulhamid II. Die Einführung einheitlicher Lehrbücher im Zuge dieser Schulreform markierte einen Wendepunkt, sowohl im Hinblick auf die Eta^

4 Vgl. Hilmi Ziya Ülken: Türkiye’de Cagdas¸ Düs¸ünce Tarihi, Istanbul 1979, S. 155-174.

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Die Renaissance des religiösen Bewusstseins in der Türkei | 123 blierung »objektiver« Kriterien als auch im Hinblick auf Berechtigung und Ermächtigung des Individuums zum Lernen. Die allgemeine Schulbildung und die Verwendung standardisierter Druckwerke als Lehrmaterial halfen bei der Herausbildung des neuen rationalen Denkens über die Welt und die Funktionsweisen der Natur. Das neue Bildungssystem spielte eine revolutionäre Rolle bei der Schaffung einer neuen positivistischen Erkenntnislehre und bei der Herausbildung eines auf Textarbeit gestützten Lehrer-Schüler-Verhältnisses. Zur vorherrschenden Denkweise wurde so der Positivismus.5 Zu dessen Grundbestand gehören die Überzeugungen, dass Wissenschaft die einzig gültige Quelle für Wissen und Wahrheit ist und dass Fortschritt nur erreichbar ist, wenn die Wissenschaft als Wegweiser für das menschliche Verhalten und für die Gesellschaft dient. So wurde der Positivismus, der jegliche Form von Metaphysik oder unwissenschaftlichem Vorgehen ablehnt, als universales Menschheitsprojekt eingeführt. Hauptangriffsziele der osmanischen Positivisten waren der Islam und das Vertrauen in die Religion. Sie benutzten das neue Schulsystem, um anstelle der traditionellen theologischen Religionen eine »positive« Religion zu installieren. Diese Trennung des Menschen von seinen heiligen Wurzeln galt Nursi als Quelle von Armut, Krieg und Feindseligkeiten. Auch wenn Nursi reagierte und sich gegen die positivistische Philosophie wandte, machten ihm die Auswirkungen der neuen sozioökonomischen Kräfte doch sehr zu schaffen; denn das rationale Denken gewann in der Öffentlichkeit immer mehr an Boden. Durch Trennung der Naturgesetze von den göttlichen Gesetzen wurde zum einen das abstrakte Selbst konstituiert und zum anderen das wissenschaftliche Denken verbreitet. Die epistemologische Säkularisierung des öffentlichen Denkens, verbunden mit der Abkoppelung persönlicher Identität vom Bereich des Heiligen, war eine bahnbrechende Entwicklung. Die nun vorherrschenden Diskurse des Materialismus, Positivismus und Liberalismus kodifizierten eine ganz neue Sicht der Welt. Im Zeichen des Konzepts vom abstrakten Selbst, das durch seine Rechte definiert ist, sowie des Konzepts der Natur als Vorbild und Modell für die Gesellschaft, entstand eine moderne politische Sprache, die der traditionellen, religiös fundierten, an der Gemeinschaft orientierten Persönlichkeit und dem theozentrischen Offenbarungswissen entgegenstand. Die positivistische Philosophie wurde in der Endphase des Osmanischen Reiches und in der neuen Republik zur Grundlage gelenkter gesellschaftlicher Veränderungen. Dabei wurde das Offenbarungswissen als Quelle öffentlichen Denkens noch weiter in den Hintergrund gedrängt. Weil Nursi den schädlichen Einfluss des Positivismus und die Erosion der religiösen Autorität in der Gesellschaft erkannte, nutzte er seinerseits die neuen öffentlichen Instanzen, um den Einfluss des Positivismus in die Schranken zu weisen und seine eigene Version von Wissenschaft zu propagieren. Die neuen öffentlichen Foren (Magazine, Zeitschriften und Zeitungen) ermöglichten Muslimen die Teilnahme an einer weltweiten Debatte über die islamische Identität. Die Muslime wurden auf diese Weise auch in die Lage versetzt, in Absetzung vom aggressiven Positivismus ihr »Anderssein« zu formen. Das Aufblühen des öffentlichen Raumes führte zur 5 Vgl. zum Positivismus Süleyman Hayri Bolay: Türkiye’de Ruhçu ve Maddeci Görüs¸ün Mücadelesi, 4. Aufl. Ankara 1995.

2004-09-13 19-27-09 --- Projekt: T237.gli.ammann.göle / Dokument: FAX ID 01d563122367806|(S. 121-146) T02_01 yavuz.p 63122368358

124 | M. Hakan Yavuz Herausbildung einer neuen Gesellschaft, in der nicht mehr traditionelle Verbindungen, sondern in immer stärkerem Maße die öffentliche Meinung zur maßgeblichen Struktur wurde. Beim »Lesen« von Nursis Schriften unterliegen die Teilnehmer der Studienzirkel dem Einfluss eines Textes, den sie zugleich ausdeuten. Nursi glaubte nicht, dass seine Schriften von Gott inspiriert seien; er hielt sie vielmehr für am Koran ausgerichtete geistige Arbeit (sünuhat).6 Er forderte seine Jünger auf, seine Briefe zu lesen und sich von ihnen leiten zu lassen. Seine Anhänger indes glauben, dass Gott ihn bei seinen Schriften stets inspiriert habe. Durch muslimische Bewusstseinsbildung, wobei er den Muslimen mit einer Gegen-Epistemologie und mit einer neuen Denkweise Mut machte und Kraft gab, versuchte Nursi, die inneren Grenzen des Selbst zu schützen und Abwehrkräfte gegen den Positivismus zu mobilisieren. Er stellte nicht das Innenleben über das Außenleben oder den Glauben über die Vernunft, sondern versuchte eher, eine Synthese zwischen Innen und Außen, Glauben und Vernunft zu schaffen. Er wollte durch Einsatz der Vernunft den Glauben an Gott wiederherstellen; ihm lag an einer Akzentverschiebung – vom Glauben durch Nachahmung (taklid-i iman) zum Glauben durch Erkundung (tahkik-i iman). Indem er an die Stelle der Religions- und Rechtsgelehrten (ulema) oder Scheichs den Text setzte, versuchte Nursi auf die Fragmentierung der religiösen Autorität im Islam zu reagieren. Er entwickelte mit seinen Dershanes ein informelles Bildungssystem, um Offenbarungswissen und Vernunftwissen einander anzunähern. Nursis Ziel war es, die weltliche Bildung vor dem Unglauben und die religiöse Bildung vor dem Fanatismus zu bewahren, indem er Glauben und Wissenschaft miteinander versöhnte. Nach Ausweis seiner Schriften gibt es drei Wege, islamisches Wissen zu erlangen: den Koran, den Propheten und das Universum, von Nursi meistens als das »Große Buch des Universums« bezeichnet. Weil Nursi die Natur als Buch ansieht, kann er sagen, dass sie »wie ein Buch mit äußerster Klarheit die Existenz ihres Schreibers und ihres Urhebers bezeugt, sowie seine [d.h. Gottes] Fähigkeiten und Leistungen«. Anders gesagt, laut Nursi sollte die Natur nicht aus sich selbst verstanden werden (mana-yı ismi), sondern eher nach den Maßstäben ihres Schöpfers (mana-yı harfi). So gut wie jedes Wesen in der Natur, auch der Mensch, spiegelt die Kunstfertigkeit seines Schöpfers wider, des Handwerkers, der sie alle erschaffen ^

6 Bei der Klärung dieses Punktes waren die Arbeiten von Metin Karabas¸ oglu sehr hilfreich. Nursi argumentiert, dass »die Briefe nicht offenbart wurden, was auch gar nicht möglich wäre. Auch sind sie nicht inspiriert, sondern Gedanken nach der genauen Lektüre des Korans«: »Das heißt, es handelt sich nicht um göttliche Offenbarung […]. Und es handelt sich, allgemein gesagt, auch nicht um Inspiration. In den meisten Fällen wird es meinem Herzen durch die Auslegung des Korans eingegeben und von ihm unterstützt, und es ist vom Koran abgeleitet.« (»Yani vahiy degil ve olamaz. Hem umumiyetle dahi ilham degil, belki ekseriyetle Kur’an’in feyziyle ve medediyle kalbe gelen sunuhattir ve istihracat-i Kur’aniyedir«; Said Nursi: Sikke-i Tasdik-i Gaybi, Istanbul 1960, S. 81.) Sünuhat ist eine Schlussfolgerung, zu der man nach tiefem Nachdenken im Herzen gelangt. Anders gesagt, um sünuhat zu erlangen, muss man die Bedeutung der Koranverse gesellschaftsbezogen verstehen. Nursi betrachtet seine Schriften als »istihracat-i Kur’aniye« (»logische Schlussfolgerungen aus dem Koran«). ^

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2004-09-13 19-27-09 --- Projekt: T237.gli.ammann.göle / Dokument: FAX ID 01d563122367806|(S. 121-146) T02_01 yavuz.p 63122368358

Die Renaissance des religiösen Bewusstseins in der Türkei | 125 hat: Allah. Nursi benutzte die Naturgesetze, um die Allmacht eines Schöpfers zu erklären. Als Antwort auf die vorherrschende Tendenz zur Skepsis und auf den diskursiven Wandel des Weltbildes, von einem religiösen zu einem säkularen, versuchte Nursi eine neue Begrifflichkeit zu entwickeln, die Religion und Wissenschaft wieder vereinte. Statt die wissenschaftlichen Naturgesetze aus orthodox-religiöser Sicht zurückzuweisen, versuchte Nursi eher Verbindungen zwischen Wissenschaft und Religion zu sehen, so John Voll. Nursi betonte die vielschichtigen Bedeutungen des Korans und lehrte, dass die Natur aus sich heraus keine Bedeutung habe; vielmehr verweise sie auf mana-yı harfi, das Vorhandensein einer Ordnung und die Gegenwart Gottes. Kurz gesagt, die Natur wird als Gottes Drehbuch angesehen, während im Koran Gottes Worte verzeichnet sind. Laut Ibrahim Kalın sieht Nursi die Rolle der Wissenschaft als die eines »Entzifferers der heiligen Sprache«.7 Nursis Wissensbegriff ist eng mit den koranischen Allegorien verbunden. Er versuchte die Gesetze der Natur unter Rückgriff auf die Namen Gottes zu untersuchen. So werfen für Nursi auch die Allegorien aus dem Koran ein gewisses Licht auf die Kenntnis der Natur. Nursi argumentierte, dass die Natur aus sich selbst keine Macht hat; die transzendentale Macht Gottes ist erforderlich, damit die Natur Sinn ergibt. Für Nursi ist die Natur Beleg für Gottes Werk – ein Kunstwerk, in dem sich Gottes Allmacht zeigt. Darum reflektiert die Ordnung in der Natur die Namen Gottes: Der Ewig-Lebende (arab. al-h.ayy) und Belebende (al-muh.yî), der sich Selbst-Erhaltende (al-qayyûm) und Ewig-Währende (al-bâqî); der Allerheiligste (al-quddûs), Allgerechte (al-‘adl) und Weise (al-h.akîm). Kurz gesagt, die Natur ist eine Vision, nicht nur Natur. Sie ist eine Vision Gottes. Nursi will, dass seine Anhänger Gottes Gegenwart spüren, wenn sie Gottes Worte und fortwährende Taten studieren. Durch seine Koranlektüre im Lichte der neuen wissenschaftlichen Entdeckungen versuchte Nursi, die jüngere Generation vom Banne des Positivismus zu befreien. Das mechanistische Verständnis des Universums wies er nicht pauschal zurück. Vielmehr werden dieser Mechanismus und die Ordnung des Universums als Plan und Entwurf des göttlichen Schöpfers angesehen. Anders gesagt, Nursi übernahm die mechanistische Sicht des Universums und integrierte sie in seine Koran-Lektüre. 7 Vgl. Ibrahim Kalın: »Three Views of Science in the Islamic World«. Dieses unveröffentlichte Paper stellt in knapper Form die konkurrierenden Ansichten zur Wissenschaft dar. Kalın bietet eine andere Lesart der Schriften Nursis, indem er dessen Sensibilität gegenüber der Wissenschaft als eine Möglichkeit darstellt, den Islam aus der Perspektive der neuen Entdeckungen zu lesen. Nursi dagegen versucht, die neuen wissenschaftlichen Entdeckungen aus einer islamischen Perspektive zu lesen. Anders gesagt, Nursi argumentiert – wie übrigens auch das Erste Vatikanische Konzil von 1870 –, dass wir an eine offenbarte Wahrheit nicht deswegen glauben, weil deren intrinsische Wahrheit mit dem natürlichen Licht der Vernunft zu sehen wäre, sondern wegen der Autorität Gottes, der diese Wahrheit offenbart. Mit anderen Worten, Nursi reduziert nicht Koranverse auf einen wissenschaftlich erfassbaren Gehalt, sondern er benutzt die Wissenschaft, um Argumente für seine theistische Vision zu entwickeln. Nuancierter und treffender deuten die Verbindung zwischen Wissenschaft und Religion Yamina Bouguenaya/Metin Karabas¸ oglu/Senai Demirci: Bilimin Öteki Yüzü, Istanbul 1991. ^

2004-09-13 19-27-09 --- Projekt: T237.gli.ammann.göle / Dokument: FAX ID 01d563122367806|(S. 121-146) T02_01 yavuz.p 63122368358

126 | M. Hakan Yavuz In Nursis Schriften werden Regelhaftigkeit, Ordnung und Vorhersagbarkeit der natürlichen Welt als Zeichen für die Macht und Gegenwart Gottes behandelt. Diese theistische Konzeption des Universums – Gott schuf das Universum aus dem Nichts, er ist vom Universum getrennt und trotzdem fortwährend darin aktiv – wurde von Nursi und seinen Anhängern völlig verinnerlicht. Im Falle Nursis decodieren und beleuchten sich die Wissenschaft und der heilige Text des Korans wechselseitig. Die Bedeutung des Korans ist für Nursi auf diese Weise veränderlich: »Was den Islam kontinuierlich manifest werden lässt und dafür sorgt, dass er sich gemäß den Fortschritten des Denkens weiterentwickelt, ist die Tatsache, dass er auf Realität gegründet ist, sich auf Beweise verlässt, im Einklang mit der Vernunft steht, in der Realität etabliert ist und mit den Grundlagen der Weisheit konform geht, die von Ewigkeit zu Ewigkeit aneinander gebunden sind.«8 Darüber hinaus ist nicht der Koran die Quelle wissenschaftlicher Entdeckungen, vielmehr offenbaren alle wissenschaftlichen Entdeckungen die Tiefe der koranischen Botschaft. Zum Beispiel: »Je älter die Zeit wird, desto jünger wird der Koran. Seine Zeichen werden offenbar. So wie das Licht manchmal als Feuer erscheint, erscheint intensive Beredsamkeit gelegentlich als Übertreibung.«9 In diesem Fall behandelte Nursi, anders als andere Islamisten, wissenschaftliche Entdeckungen als den Versuch, »das Verständnis des Korans weiter zu vertiefen«. So wie sich das menschliche Wissen in nichtreligiösen Bereichen ständig erweitert, erweitert sich auch unser Verständnis der koranischen Offenbarung. In Nursis Schriften bedeutet das Wort ayet eher »Zeichen« als (Koran-) »Vers«. Diese »Zeichen« (ayetler) sind Zeichen der schöpferischen Kraft Gottes. Mit der Verbindung von besserem Koran-Verständnis und wissenschaftlichen Entdeckungen erstrebte Nursi eine neue, radikale Lesart des Korans. Dazu heißt es bei ihm: »Jeder wird in seinem eigenen Maß davon profitieren, auch wenn nicht jeder alles komplett verstehen wird. Außerdem gilt: Weil es sich um die Erläuterung von Glaubenswahrheiten handelt, haben wir es gleichzeitig mit Wissen, Gelehrsamkeit und Gottesverehrung zu tun. […] Wenn wir uns an die Regel halten, dass einem etwas ›selbst dann, wenn es nicht völlig errungen ist, auch nicht völlig wieder entgleitet‹, so ist es unvernünftig, diese Sache vollständig aufzugeben und zu sagen: ›Ich kann in diesem immateriellen Garten nicht alle Früchte ernten.‹ Ganz gleich, wie viele Früchte jemand ernten kann, er wird immer Nutzen daraus ziehen. Denn die Dinge, die mit dem Größten Namen zu tun haben, sind so umfangreich, dass sie nicht zu erfassen sind, zugleich aber auch so subtil, dass der Verstand nicht in der Lage ist, sie zu unterscheiden.«10

Somit tritt Nursi für ein relativistisches Verständnis des Islam ein, indem er behauptet, kein einzelner Kleriker und keine religiöse Institution könne für sich beanspruchen, im Besitz der einzig wahren Deutung der Religion zu sein. Weil das Verständnis des Islam von Zeit, Ort und Umständen abhänge, dürften abweichende Para8 Said Nursi: »Muhakemat«, in: Risale-i Nur Külliyatı, Istanbul 1996, Bd. 2, S. 35. 9 Said Nursi: »Mektubat«, in: Risale-i Nur, Bd. 1, S. 135. 10 Said Nursi: »Lem’alar«, in: Risale-i Nur, Bd. 1, S. 818.

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Die Renaissance des religiösen Bewusstseins in der Türkei | 127 digmen der Interpretation nicht zum Schweigen gebracht werden. Er befürwortet auch eine Trennung von Religion und Politik – weil Letztere gar nicht anders könne, als die freie Interpretation des Islam zu beeinträchtigen oder zu behindern. Indem Nursi es jedem Einzelnen überlassen will, den Islam nach seinen eigenen Umständen zu interpretieren, versucht er, die Religion zu vergesellschaften. Weil für Nursi das Universum von Gott inspiriert ist, sieht er die Natur und die vom Menschen gemachte Zivilisation auch nicht als autonom an, sondern als Manifestationen Gottes. Statt zu sagen »Wie schön sie doch sind!« sollen Nursis Leser nach dessen Intentionen sagen: »Wie schön sie doch gemacht sind!«11 Die Erklärung soll nach Nursis Wünschen auf einem an Gott ausgerichteten Verständnis basieren. Nach seinem Verständnis des Islam liegt die Bedeutung nicht in der Religion per se, sondern eher in den zeitgenössischen Bedürfnissen jener, die eine humanere Gesellschaft zum Ausdruck bringen. Es handelt sich um eine Revolte gegen den Positivismus, aber auch um eine Vergesellschaftung der Religion durch Instrumentalisierung und Nutzbarmachung. Im Falle Nursis ist sein Ruf nach einer »freien Untersuchung« der Botschaft Gottes unverkennbar. Sein Ziel ist es, jeden Einzelnen zur eigenen Autorität in Religionsfragen und zum eigenen Dolmetscher des Textes werden zu lassen. Anders gesagt, das Heil des Menschen erfordert die Interpretation des Textes im Kontext der Moderne.

2. Die Konstruktion der moralischen Identität Nachdem Nursi Ignoranz, Zersplitterung und Armut als Feinde des Islam ausgemacht hatte, präsentierte er als Lösung der Probleme Bildung, harte Arbeit und Konsens. Nursis Islam ist ein persönlicher Islam mit dem Ziel, auf unterster Ebene und im Kleinen durch Hebung des religiösen Bewusstseins eine neue Moral aufzubauen. Noch sein Verständnis der Scharia spiegelt dieses persönliche Engagement wider. In Isarat-ül Icaz definiert Nursi die Scharia als einen Weg, Recht von Unrecht, Gut von Böse, Erlaubt von Unerlaubt zu unterscheiden – und zwar eher durch das Gewissen als durch Gewalt. Anders gesagt, eine gerechte Gesellschaft basiert nicht auf Gewalt, sondern auf rechtschaffenen Männern und Frauen. In den Schriften Said Nursis findet sich kein klar artikulierter politischer Gesellschaftsentwurf. Sein Ziel besteht vielmehr darin, den Islam vor dem Fanatismus der traditionellen Religiosität und das moderne Wissen vor dem Unglauben zu bewahren. In seinen Schriften versucht Nursi unablässig eine muslimische Persönlichkeit aufzubauen, die zugleich fromm und modern, tolerant und hinsichtlich der Kardinaltugenden des Islam prinzipienfest ist. Nursis Bücher waren sein Refugium, und sie sind für Türken, die ihre Seele erkunden wollen, auch deren Weg zur Erfüllung geworden. Mehmet Kırkıncı, ein 11 Darum sind Nursis Anhänger auch sehr erfolgreiche Naturwissenschaftler und Ingenieure geworden. Sie lasen die Koran-Verse im Lichte der neuen wissenschaftlichen Entdeckungen. Nursi versuchte, die Muslime mit moderner Wissenschaft und Rationalität zu rüsten. Sein Wortschatz leitet sich extensiv aus den Bereichen Thermodynamik und Elektrizität her. Die physische Welt gilt ihm als »Fabrik des Universums« (fabrika-i kainat).

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128 | M. Hakan Yavuz prominenter Nurcu der zweiten Generation, hat Said Nursis Werke als das »Licht« bezeichnet, das die Dunkelheit Anatoliens zu überwinden hilft. Nursis Bücher sind die »Heimat«, in der viele Muslime ihre eigene Identität finden. So sagt Kırkıncı: »Ich befreie mich durch diese Bücher von meiner Einsamkeit. Ich erforsche mich selbst und meine Geschichte in und zwischen den Zeilen von Risale-i Nur.«12 Diese Bücher sind gewissermaßen die Architekten für Herz und Seele der anatolischen Muslime geworden. In den Lesezirkeln, den Dershanes, begegnen sich Herzen und Seelen. Der wesentliche Beitrag von Nursis Schriften war die Interpretation des Islam in Einklang mit modernen Bedürfnissen und Verhältnissen. Es ist ein Islam der Praxis und nicht so sehr ein Islam der Texte. Ständig betont Nursi Freiheit und Bewusstheit als unverzichtbare Rahmenbedingungen für den echten Glauben. Mit Nursis Argumenten verwoben sind Probleme wie das Aufkommen einer neuen Persönlichkeitssprache, die direkten Zugang zur Öffentlichkeit hat, und die Bedeutung der neuen Ethik.13 Said Nursis Verständnis des Islam basierte auf seinem Verständnis der menschlichen Natur. Der religiöse Glaube ist für ihn das Ergebnis der intellektuellen Schwäche des Menschen sowie seiner Unfähigkeit, dauerhafte Harmonie in seinem Leben und in der Gesellschaft zu schaffen. Laut Nursi lebt der Einzelne in einer ständigen Spannung zwischen Begierde und Vernunft, weil der Mensch unendliche Begierden und Wünsche, aber nur begrenzte Möglichkeiten hat. Bewältigt werden kann diese Spannung nur durch den Aufbau einer umfassenden Verbindung zu Gott. Alle menschlichen Fähigkeiten haben ihren Ursprung in drei dem Menschen innewohnenden Bereichen, die einander überlagern: in den Kräften der Triebe (kuvve-i seheviyye), des Zorns (kuvve-i gadabiyye) und der Vernunft (kuvve-i akkliyye). Dabei sind die Triebe der Quell aller physischen, biologischen Bedürfnisse und Begierden – wie Essen, Trinken und Fortpflanzung. Das Gefühl des Zorns entsteht, wenn die menschliche Würde verletzt wird. Für Nursi war und ist der Zorn Ursprung sowie Dreh- und Angelpunkt des Aktivismus. Dadurch dass Gott dem Menschen die genannten Fähigkeiten rückhaltlos gegeben hat, gewährt er dem Einzelnen, um dessen Menschlichkeit auf die Probe zu stellen, Entscheidungsfreiheit. Die Triebe können nämlich auch zu illegalen, unmoralischen und sündigen Aktivitäten führen. Zorn nimmt oft aggressive Formen an und äußert sich dann als Kampf, Unterdrückung und Mord. Wird der Verstand ohne Weisheit gebraucht, so kann daraus die irrige Ansicht entstehen, der Mensch sei das Maß aller Dinge. Um solche Exzesse zu vermeiden, müssen die drei Motivationsbereiche auf religiöse Tugenden zentriert werden: der Zorn auf den Mut, die Triebe auf die Keuschheit, und die Vernunft auf die Weisheit. Alle drei Tugenden sind für Nursi zentral für das Glück des Menschen. Die wichtigste Quelle für Nursis ethischen Diskurs ist die Religion, der Glaube an den einen Gott. Durch Reorientierung des Individuums an Gott versucht Nursi die Muslime mit religiös-moralischen Argumenten gegen Ignoranz, Unterdrückung und ungerechte politische Systeme zu wappnen. Nursis Ene Risalesi (»Das Buch vom Ich«) untersucht des Gefühl der Identität und behandelt es als Illusion; nur, wenn 12 Interview mit Mehmet Kırkıncı am 25. September 1995. 13 Vgl. Metin Karabas¸ oglu: Risale Okumaları, Istanbul 1998, S. 12. ^

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Die Renaissance des religiösen Bewusstseins in der Türkei | 129 dieses Gefühl auf Gott zentriert ist, ergibt es Sinn. Das Selbst wird »jemand«, wenn – und nur wenn – dieses Selbst auch für etwas steht. »Stehen« heißt hier: Definition der eigenen Identität in Beziehung zu Gott. Weil wir alle den Wunsch und das Verlangen nach Macht und Kontrolle haben, können wir unsere »hevesat-i refsaniyye« (»schlechten Triebe und Wünsche«) nur dadurch beschränken und domestizieren, dass wir uns mit dem Schöpfer verbinden. In den Schriften Nursis hat sogar der Individualismus einen göttlichen Bezugspunkt – was in einem der Namen Gottes zum Ausdruck kommt: der Einzelne (arab. fard). Scharf kritisierte Nursi den positivistischen Fortschrittsglauben und das Verlangen, Natur und Gesellschaft zu kontrollieren. Weil die Religion dem Menschen von Natur aus innewohnt, hat jeder Mensch auch die angeborene Fähigkeit, auf die göttlichen Offenbarungen zu reagieren. Im Religionsdefizit sieht Nursi die Quelle von Unterdrückung und Konflikten. Er erweiterte sein Konzept der Spannungen zwischen Trieb und Fähigkeit auf die Ebene der Gesellschaft, wo die Ursache der Probleme des Menschen in der Abwesenheit Gottes im öffentlichen Raum zu sehen ist. Nursis Ziel war es daher, Gott in den öffentlichen Raum zurückzubringen. Verbindung mit Gott – das hieß für Nursi Einführung neuer konzeptioneller Mittel, um das menschliche Verhalten zu formen und den Weg zu weisen. Nursis Projekt bot den Muslimen eine neue »Landkarte der Bedeutung«, dazu gedacht, ihr Verhalten zu leiten. Nursi bot keine große Lösung an, also keine »islamische Verfassung« oder »islamische Ordnung«, sondern eine Lösung aus vielen kleinen Schritten – eine Denkweise zur Strukturierung des eigenen Alltagslebens. Bei Nursi treffen wir weder auf einen islamischen Populismus, der das Ziel hätte, den Staat zu kontrollieren, noch auf einen Islam, der dem Staat leicht als Rechtfertigung für seine Unterdrückungspolitik zur Kontrolle der Gesellschaft dienen könnte. Auch handelt es sich nicht um einen Islamismus, eine nationale Befreiungsbewegung. Nein, Nursis Projekt war eine auf dem Glauben basierende Bewegung mit dem Ziel, ein ethisches System wiederherzustellen. Nursis Hauptziel war die Neustrukturierung des Alltagslebens im Einklang mit seiner Vision einer islamischen Ethik. Diese basierte auf sechs Schlüsselbegriffen: positives Verhalten (müsbet hareket), Gottesfurcht (takva), Wahrhaftigkeit (sidk), Selbstachtung (kendine güven), Bruderschaft und Freundschaft (uhuvvet, sadakat oder dostluk) sowie Aufrichtigkeit (ihlas).14 Nursi forderte seine Anhänger auf, sein Ihlas Risalesi (»Buch von der Aufrichtigkeit«) alle zwei Wochen neu zu lesen. Wer diese sechs Eigenschaften besitzt, kann leicht sein Umfeld gegen verbotene Aktivitäten schützen. Der Glaube ist laut Nursi wie eine Leuchte, die einem den Weg zum angemessenen Verhalten weist. Bei genauerer Betrachtung fordert Nursi seine Anhänger auf, stets eine »positive Verhaltensweise« an den Tag zu legen: Konfrontationen zu meiden, sich an intellektuellen Debatten zu beteiligen und das soziale wie kulturelle Leben der Gesellschaft durch gute Taten zu gestalten.15 Ein Glaube ohne Taten ^

14 Zu Nursis ethischem Konzept vgl. Abdullah Albayrak: Degis¸me Acısından Sosyal Cemaat Kavramı: Bediüzzaman ve Nurculuk Örnegi, unveröffentl. Magisterarbeit, Marmara Universität Istanbul, 1999. 15 Said Nursi: »Lem’alar«, in: Risale-i Nur, Bd. 1, S. 654. ^

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130 | M. Hakan Yavuz ist wie ein Boot ohne Ruder. Bei der Ausführung »guter Taten« hebt Nursi Aufrichtigkeit und Gottesfurcht als grundlegende Prinzipien der Nur-Ethik hervor. Gottesfurcht definiert Nursi als »Vermeidung von verbotenem und sündigem Verhalten, Handeln im Einklang mit den islamischen Normen und Engagement für gute Taten zum Ruhme Gottes«.16 Für Nursi rangiert die Vermeidung von verbotenem und sündigem Verhalten noch vor den religiösen Übungen. Den Islam definiert Nursi im Sinne der Praxis – gute Werke, Toleranz, Liebe und Vernunft sind in die Tat umzusetzen. Ein Gläubiger wird sein Gewissen nicht starken weltlichen Kräften unterordnen; er wird sein Handeln an den Vorschriften des Islam ausrichten. Gedankenfreiheit ist für Nursi das Schwert der Zivilisation und die Quelle aller kreativen Kräfte.17 Freiheit gilt ihm als integraler Bestandteil des Glaubens. Die Nurcus versuchen, die neue Ethik und ihren »frommen Aktivismus« durch weltliche Askese zu institutionalisieren. Voraussetzung für das religiöse Heil sind laut Nursi kontemplatives Handeln und harte Arbeit. Bei den Nurcus bedingen sich religiöse Kontemplation und Aktivismus gegenseitig, sie werden so miteinander versöhnt. Hier heißt Muslim zu sein, ein bewusster Muslim zu werden – mit guten Werken und mit guten Kenntnissen in Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft. Weil sie erkannt haben, dass die Moderne Gott die Anerkennung verweigert, rufen die Nurcus, um diesen Zustand zu überwinden, die Muslime dazu auf, den Koran im Lichte der Vernunft zu interpretieren und die Wissenschaft ernst zu nehmen. Die religiösen Wissenschaften werden als »Licht des Gewissens« behandelt, die »Künste der Zivilisation« – Technologie, Architektur, Naturwissenschaft und Literatur – als Licht des Intellekts. Nursi versucht, aus dieser Verbindung von religiösem Gewissen und Intellekt ein stabiles, glückliches Leben abzuleiten. Ein Muslim, der Nursis Vorstellungen entspricht, ist eine moralische Person, die beides benutzt – das Licht des Gewissens wie das Licht des Verstandes. Eine solche muslimische Persönlichkeit setzt allerdings Freiheit und Individuation voraus, damit das moralische und innere Selbst herausgebildet werden kann. Die Herausbildung moderner Subjektivität erfordert also, dass man die gemeinsame Sprache des Islam verinnerlicht und zur Gestaltung des eigenen Alltagslebens verwendet. Es handelt sich, mit anderen Worten, um einen Bildungsprozess, um die Formung einer modernen moralischen Subjektivität durch Verwendung islamischer Idiome und Praktiken. Nursi setzt bei einer Extremsituation an und untersucht die Möglichkeiten einer Herausbildung muslimischer Subjektivität selbst unter schwierigsten Bedingungen – nämlich dann, wenn es nötig ist, Fremder und Außenseiter zu werden, um eine muslimische Subjektivität herausbilden zu können. Nursis Begriffe gurbet (»Entfremdung«) und garip (»Fremder«) sind für das Verständnis seines Konzepts muslimischer Subjektivität von großer Bedeutung.18 Nursi, der schon immer ein Gefühl der Entfremdung (gurbet) gehabt hatte, schilderte, wie er dieses Gefühl der Isolierung durch dynamischen Glauben, Ver16 Said Nursi: »Kastamonu Lahikasi«, in: Risale-i Nur, Bd. 2, S. 1632. 17 Said Nursi: »Divan-i Harb-i Orfi«, in: Risale-i Nur, Bd. 2, S. 1920-1932. 18 Vgl. Yvonne Haddad: »Ghurba as Paradigm for Muslim Life: A Risale-i Nur Worldview«, in: Muslim World 89 (1999), S. 297-313.

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Die Renaissance des religiösen Bewusstseins in der Türkei | 131 trauen und Geduld überwinden konnte. Der Glaube war für ihn der Führer zur Gestaltung des individuellen Lebens. Nursis eigener Lebenskampf bietet anderen Muslimen ein starkes Vorbild für die Überwindung von Einsamkeit und Entfremdung durch Vergegenwärtigung eines Bewusstseins von Gott. Nursis Entfremdungsbegriff (gurbet) ist ein Schlüsselbegriff für den Entwurf eines ethischen Codes unter schwierigen sozio-politischen Bedingungen. Die Muslime müssen seiner Meinung nach überzeugt werden, ihr Alltagsleben im Bewusstsein Gottes zu gestalten. Nursis Diskurs zielt auf die Stärkung muslimischer Individuen durch moralische Argumente und Widerstandsstrategien gegen Konsumhaltung und Materialismus. Wenn es in Nursis Schriften ein Projekt gibt, dann eines zur islamischen Ethik im Alltag. Nursis Lösung im Kampf gegen die Kräfte der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Unterdrückung ist individualistisch; sie konzentriert sich auf das Bewusstsein und die Pflege des Inneren. Nursis Leben im Exil und in Gefängnissen manifestiert eine Ethik des Widerstands gegen die Unterdrückung durch den türkischen Staat, gegen die Erosion der religiösen Erziehung und gegen spaltende Nationalismen. Nursis Exil und Einsamkeit sind für jene Muslime sehr instruktiv, die selbst unter einem Gefühl der Entfremdung leiden. Durch Akzentuierung der Gegenwart Gottes versuchte Nursi, das tiefe Gefühl der Einsamkeit in einer feindlichen Umgebung zu überwinden. Indem er seine Lage als Entfremdung (gurbet) charakterisiert, als Verlust von Freundschaft oder Liebe seiner Verwandten und seines Heimatlandes, entdeckt er zugleich die größere, höhere Liebe. In gewisser Weise ist gurbet, der Zustand, in dem man über den Koran Gott als Gefährten entdeckt, auch ein erhebender Augenblick im eigenen Leben. Nur wer entfremdet oder einsam ist, kann sich der Gegenwart Gottes vollkommen bewusst werden. Die Einsamkeit ist nötig, damit man sich zu deren Überwindung ganz auf Gottes Gegenwart konzentrieren kann. Nursi gibt Muslimen Kraft, in der Rüstung des Glaubens allen unerwarteten Herausforderungen zu widerstehen und Auswege aus schwieriger Lage zu finden. Nur in Gott sollen die Muslime nach Nursi Freuden und Frieden finden. Er bezieht sich auf den Hadith, um die Entfremdung zu rechtfertigen (»Gesegnet sind die Fremden«), und macht daraus einen Moment der Freude. Eines der wichtigsten Kennzeichen religiöser Identität ist deren absolute Kraft, die einen vollkommen in den Bann schlägt. Religiöse Bindungen schaffen ein Gefühl der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und eine Brüderlichkeit, die nur die Betroffenen wirklich kennen können. Durch religiöse Praktiken versichern sich die Gläubigen ihrer Identität und ihres Engagements für ihre Religionsgemeinschaft. Die religiöse Identität schafft Moral – und Erinnerung.

3. Verhinderung der »Mankurtisierung«: Wiederherstellung des kollektiven Gedächtnisses Das dritte Hauptziel der Schriften Said Nursis war es, das Gedächtnis des Volkes zu bewahren und kollektiven Erinnerungsverlust zu verhindern, um sicherzustellen, dass in der Türkei nicht eine neue Generation heranwuchs, die keinerlei Kenntnis

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132 | M. Hakan Yavuz von irgendeiner Tradition oder von Geschichte und Ethik hatte.19 Nursis Schriften haben in hohem Maße dazu beigetragen, dass die Muslime nicht zu geschichts- und gedächtnislosen Sklaven (»Mankurts«) wurden. Nursi wusste, dass ein Volk allen Widrigkeiten zum Trotz überleben kann, wenn es sein Gedächtnis bewahrt. Dagegen versuchte der Kemalismus – in seinem Bestreben, den Islam und das osmanische Erbe zu beseitigen –, durch Ersetzung des arabischen durch das lateinische Alphabet ein Volk ohne Gedächtnis zu schaffen, ein Volk aus Mankurts. (In Tschingis Aitmatows Roman Ein Tag länger als ein Leben sind Mankurts versklavte Krieger, die durch Folter ihr Gedächtnis verloren und sogar ihren Namen vergessen haben – Menschen, die folglich alle Würde verloren haben.)20 Nursi versuchte, durch Kurzfassung einer gemeinsamen Sufi-Tradition und indem er islamische Konzepte für die anatolischen Muslime zeitgemäß aufbereitete, das türkische Gedächtnis nicht nur zu bewahren, sondern es in neuen öffentlichen Räumen sogar auf den neuesten Stand zu bringen. So ist eine Erörterung von Said Nursis Lebenswerk letztlich auch eine Erörterung der modernen Geschichte der türkischen Gesellschaft. In Nursis Schriften gehen das Selbst, die Gemeinschaft und das Gedächtnis eine sich wechselseitig bedingende Beziehung ein. Aufbau und Bewahrung des Gedächtnisses finden auf religiöser Grundlage und mit religiösen Symbolen statt. Überdies ist auch Nursis politische Konzeption eng mit seinem Wunsch verknüpft, kollektive Erinnerungen und ein Zusammengehörigkeitsgefühl fortzuführen und zu bewahren. Im Falle Nursis ergibt sich eine enge Verbindung zwischen Selbstbestimmung und Glaube. Eine neue Öffentlichkeitssphäre, die direkten Zugang erlaubt, führt die Menschen ins politische Leben, und wenn sie dann in öffentlichen Räumen erscheinen, um sich an der politischen Debatte zu beteiligen, so tun sie dies als Gemeinschaft mit eigenem Idiom und Gedächtnis, mit eigenen Überzeugungen und eigenem Engagement. Der Islam wird von Nursi auch als Nationalität behandelt. Mit seinen reichen, komplexen 19 Vgl. Ismail Kara: S¸ eyhefendinin Rüyasındaki Türkiye, Istanbul 1999, S. 19 (»Bediüzzaman Örnegi«). 20 Dieses Konzept wird in Aitmatows Roman Ein Tag länger als ein Leben (russ. 1980; dt. Übers. Charlotte Kossuth, München 1981) in einer kasachischen Legende dargestellt. Das Steppenvolk der Schuan-Schuany behandelt gefangene Krieger höchst grausam, um durch schlimme Foltern ihr Gedächtnis zu zerstören. Zuerst wird den Gefangenen der Kopf völlig kahl geschoren und jedes verbliebene Haar einzeln ausgezogen. Dann töten ganz in der Nähe erfahrene Schlächter aus dem Stamm ein Mutterkamel, das sein Junges säugt, und ziehen ihm das Fell ab. Die Haut wird in mehrere Stücke zerteilt und im noch feuchten, warmen Zustand über die geschorenen Köpfe der Kriegsgefangenen gespannt. Dort klebt die Kamelhaut wie ein Pflaster fest. Wenn sie nun trocknet, zieht sie sich zusammen – und damit auch den Skalp des Opfers. Wer einer solchen Tortur unterworfen wird, stirbt entweder, weil er die Schmerzen nicht mehr aushalten kann, oder er verliert jegliche Erinnerung an die Vergangenheit. Er wird zum »Mankurt«, zum willenlosen Sklaven, der sich an sein vergangenes Leben nicht mehr erinnern kann. – Das Konzept des Vergessens als integraler Aspekt des kollektiven Identitätsaufbaus findet sich auch bei Ernest Renan: »What Is a Nation?«, in: Homi K. Bhabha (Hg.), Nation and Narration, London 1991, S. 8-22. ^

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Die Renaissance des religiösen Bewusstseins in der Türkei | 133 Kommunikationsstrukturen und Symbolen hilft er bei der Bestimmung der eigenen Identität und des eigenen Standpunkts. Bei Nursi basiert das religiöse Bewusstsein auf der Beteiligung am Alltagsleben. Nursi selbst verkörpert jene unterschiedlichen Strategien – Engagement, Rückzug oder Opposition –, die einer muslimischen Bewegung als Reaktion auf die politische Unterdrückung der regierenden Kemalisten zu Gebote standen, denen es vor allem darum ging, das kollektive Gedächtnis der anatolischen Muslime auszulöschen. Indem die Kemalisten – bildlich gesprochen – alle Brücken zerstörten, die das islamische Zentrum mit der Peripherie verbanden, die Mystikerorden der Sufis ebenso wie den gemeinsamen islamischen Verhaltenskodex, zerstörten sie auch die gemeinsame Sprache muslimischer Kommunikation und den gemeinsamen Ursprung islamischer Sitten und islamischer Ethik. Der Islam war die wichtigste Grundlage solcher Verbindungen – ein ethisches System und eine Basis, auf der sowohl die eigene Persönlichkeit als auch die Gemeinschaft aufbauen konnten. Indes, durch die Zerstörung islamischer Institutionen und Symbole schuf das kemalistische System in der türkischen Gesellschaft ein ethisches und soziales Vakuum.21 Trotzdem konnte sich der türkische Nationalismus, auch wenn einige Gelehrte das Gegenteil behaupten, niemals vollständig von seinem osmanischen und islamischen Erbe befreien.22 Nursi war sich darüber im Klaren, dass der Islam als Bedeutungssystem in der türkischen Gesellschaft soziale Kontinuität bewirkt und zum Ausdruck bringt – dass er als Gedächtnis fungiert. Darum sah Nursi im Islam einen guten Weg, das Kollektivgedächtnis lebendig zu erhalten. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass er den Islam nicht als starre Tradition ansah, ebenso wenig wie er die Vergangenheit des Islam als ausschließliche Grundlage für die Gegenwart betrachtete. Vielmehr war der Islam für ihn ein reicher Fundus an Bildern, Verhaltensformen, Rahmen, Metaphern und Praktiken, die für Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart sorgen. Anders gesagt, der Islam galt Nursi als Teil der Dynamik sozialer Interaktion, wodurch sich eine Gesellschaft selbst konstituiert. Dabei ist das kollektive Gedächtnis nicht fixiert, sondern eine flexible, ständiger Anpassung unterliegende Quelle des Wissens und Handelns. In Schrift und Tat versuchte Nursi niemals, den Islam zur festen Tradition zu machen. Vielmehr lag ihm, um den Herausforderun21 Vgl. S¸ erif Mardin: Religion and Social Change in Modern Turkey: The Case of Bediuzzaman Said Nursi, Albany, NY 1989. Obwohl S¸ erif Mardin nur von einem ethischen Vakuum spricht, war das gesellschaftliche Vakuum tatsächlich die negativste Folge des Kemalismus. 22 Vgl. David Kushner: The Rise of Turkish Nationalism: 1876-1908, London 1977, S. 102. Kushners These lautet, dass der Islam nach Mustafa Kemals Reformen nicht mehr als ideologische Komponente der türkischen Identität und Kultur behandelt wurde. Die türkische Identität habe seither ausschließlich auf der türkischen Sprache und westlichen Idealen basiert. Tatsächlich stand der Islam jedoch immer im Zentrum der türkischen Identität. Vgl. Selim Deringil: »The Ottoman Origins of Kemalist Nationalism: Namik Kemal to Mustafa Kemal«, in: European History Quarterly 23 (1993), S. 165-191, und Massami Arai: »An Imagined Nation: The Idea of the Ottoman Nation as a Key to Modern Ottoman History«, in: Orient 27 (1991), S. 1-11.

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134 | M. Hakan Yavuz gen der Moderne begegnen zu können, daran, den Geist des Islam offen zu legen. Eine solche Wiederentdeckung des koranischen Geistes erstrebt nicht nur eine Gestaltung der Gegenwart, sondern auch die Schaffung einer neuen Beziehung zur Vergangenheit. Es handelt sich also nicht nur um ein Gegenwartsprojekt zur Wiederherstellung der gesellschaftlichen Beziehungen, sondern auch um eine neue, kreative Sicht der Vergangenheit. Man kann in Nursis Schriften drei verschiedene Schichten des Islam unterscheiden. Die erste, die ich als grundlegend islamisch bezeichnen möchte, besteht aus den am tiefsten verwurzelten Werten und Vorbildern sozialer Praxis und gesellschaftlicher Rituale. Diese Schicht dient als Bedeutungssystem, das Sinn und Zweck der menschlichen Existenz definiert. Mit anderen Worten: Hier geht es um die Grundlagen, um die Bewahrung zentraler Werte. Die zweite Schicht besteht aus religiösen Formen und Metaphern, deren Substanz ständigem Wandel unterworfen ist. Sie bietet zwar die Kontinuität der äußeren Erscheinung und eine grundlegende Stabilität; ihre Bedeutung ändert sich jedoch je nach Zeit und Raum. Diese Schicht des Islam hilft den Muslimen dabei, die Moderne einzubürgern und verständlich zu machen; auf diese Weise können auch die modernen Idiome der Demokratie und der Menschenrechte übernommen werden. Die dritte Schicht des Islam schließlich, eine Reaktion auf größere Umwälzungen und schnelle gesellschaftliche Veränderungen, besteht aus neu erfundenen Bildern und Praktiken, die der Aufrechterhaltung islamischer Traditionen dienen. Nursi laviert sorgfältig zwischen diesen drei Schichten des Islam hin und her, ohne die erste, grundsätzliche Dimension jemals zu beschädigen. Sein Ziel ist es, Muslime mit einer neuen Sprache der Menschenrechte, der Demokratie und des Rechtsstaats vertraut zu machen, und zwar durch eine neue Lesart des Korans und der Tradition. Nursi bemüht sich außerdem, eine Kultur zu schaffen, die in der ersten, fundamentalen Schicht des Islam wurzelt. Es handelt sich also um eine Art dualen Prozess: einerseits den Versuch, durch Rationalisierung den Islam von traditioneller Folklore zu befreien, andererseits den Versuch, den Islam dadurch volkstümlicher zu machen, dass er stärker ins Zentrum des Alltagslebens gerückt wird. Die beiden großen Ziele Nursis sind also Spiritualisierung des Alltagslebens und Intellektualisierung der Religion. In seinen Schriften begegnet uns gewichtige Kritik an der Tradition und an traditionalistischen Religionsgelehrten: Dieser Islam sei zu folkloristisch, er biete keine neuen Lösungen für die Herausforderungen der Gegenwart. Indem Nursi sich systematisch auf den Glauben und eine religiöse Argumentation stützt, entwickelt er nicht nur neue Bedeutungen, die sich den Herausforderungen durch die Moderne stellen, sondern er dient mit seinen Äußerungen auch als Inspirationsquelle für gesellschaftliche Korrekturen. Diese imaginative Funktion der Religion in den Schriften Nursis befreit die Gesellschaft vom Pessimismus und reaktiviert ihre Energien für die persönliche und soziale Transformation. Die durch eine neue Lesart des Korans entfesselte soziale Energie ist in der Türkei zur Quelle einer neuen Form von Gemeinschaft geworden. Die Verfahrensweisen der Nur-Gemeinschaft zeigen, dass sich Religion und Moderne nicht gegenseitig ausschließen und dass die Religion sogar das kreative Potenzial enthalten kann, die Moderne einer Überprüfung zu unterziehen. Die durch moderne Lebensumstände erzeugte Unsi-

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Die Renaissance des religiösen Bewusstseins in der Türkei | 135 cherheit schafft ein Bedürfnis nach religiösem Glauben. Individuation und Autonomiestreben sind die wichtigsten Merkmale der Moderne, und Nursi versucht sie in seine Vorstellungen vom Islam zu inkorporieren. Das individuelle Streben nach Anerkennung durch die Gemeinschaft und die gesellschaftliche Konformität erfordern vom Einzelnen, dass er sich religiöser Symbole und Praktiken bedient, um sich Raum für den eigenen Individualismus zu schaffen und gleichzeitig Anerkennung seitens der Gemeinschaft zu erlangen. Gemeinschaft kann es für Nursi nicht ohne einen »heiligen Kern« geben, also ohne etwas wie einen religiösen Text, ein religiös gestaltetes Territorium, Mythen und Rituale. Allerdings genügt der religiöse Text allein noch nicht. Denn nicht das Glaubenssystem, sondern das gemeinschaftliche Praktizieren des Glaubens ist für die Gemeinschaftsbildung zentral. Gemeinschaftsbildend wirken gemeinschaftliche Aktivitäten im Einklang mit der muslimischen Moral – zum Beispiel Gebet, gemeinsame Mahlzeiten und gemeinsame Gespräche über gesellschaftliche und politische Themen aus islamischer Sicht –, aber auch ökonomische Aktivitäten nach islamischen Vorschriften. Nicht der Glaube, sondern die Umsetzung des Glaubens in gemeinsame Taten lässt Gemeinschaft und Identität entstehen. Die religiöse Bindung rangiert für Nursi noch vor allen menschlichen Erfahrungen, doch werden alle menschlichen Interaktionen in religiös geformten Institutionen wie Familie, Kirche und Gemeinschaft durchgeführt. Anders gesagt, religiöse Bindungen sind für Nursi ursprünglicher Natur; sie sind ohne gesellschaftliche Ursache, aus sich selbst bedingt. Ein wichtiges Instrument zur Übermittlung von Erinnerungen ist somit vorrangig die organisierte Religionsausübung. Religionen sind traditionell Schatzhäuser des Wissens, und so sind in der Religionsgeschichte auch die schriftlichen historischen Aufzeichnungen eines Volkes enthalten. In Nursis Schriften wird auf die Vielfalt der Identitäten – islamische, türkische, kurdische und regionale Identität – Bezug genommen. Doch anders als die Kemalisten vermied Nursi das Ausschließlichkeitsdogma, dem zufolge man nur eine türkische oder eine kurdische Identität haben könne; auch benutzte er die osmanische Geschichte nicht, um die Gegenwart zu kritisieren und die Zukunft zu beeinflussen. Vielmehr war Nursis vorrangiges Instrument bei seiner Mission, die Bevölkerung Anatoliens zu einer Einheit zu formen, die islamische Komponente der türkischen Identität. Die daraus resultierende Nurcu-Bewegung kann insofern als »modern« gelten, als sie eine Weltsicht vertritt, die sich auf die Fähigkeit eines selbstreflexiven und am politischen Leben beteiligten Individuums konzentriert, persönliche Ziele zu realisieren und zugleich Teil einer kollektiven Identität zu sein. Diese Klassifizierung ist auch deshalb gerechtfertigt, weil die Bewegung versucht, lokale Netzwerke und Institutionen zu bilden, die sich auf die globalen Diskurse von Demokratie, Menschenrechten und Marktwirtschaft beziehen. In diesem Sinne kann man sagen, dass Nursi der Begründer des modernen religiösen Diskurses in der Türkei war. Auf die Identitätssuche, die seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches ein typisches Merkmal der türkischen Politik geblieben ist, hat am wirksamsten die Nurcu-Bewegung reagiert. In ihren Dershanes versuchen die Nurcus, eine über das individuelle Selbst hinausgehende Identität zu schaffen, die nicht zuletzt in Debatten und Mei-

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136 | M. Hakan Yavuz nungsverschiedenheiten der Mitglieder ihren Ausdruck findet. Obgleich Dershanes in erster Linie Lesezirkel sind, ist ihr Anliegen ein vielfältiges. Denn sie bemühen sich, ebenfalls Zentren der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aktivität zu sein. Moral als Teil der muslimischen Identität spielt beim Aufbau der Nurcu-Gemeinschaft eine konstitutive Rolle. Dershanes: Neue öffentliche Räume In ihren religiös verwurzelten, sozial geprägten Netzwerken ist den Angehörigen der Nurcu-Bewegung daran gelegen, in einem laizistischen Staat das Gemeinschaftsgefühl einer Religionsgemeinschaft aufzubauen. Dabei wurden die Nurcu-Lesezirkel zu Institutionen, die das Individuum in Gesellschaft und Staat integrieren. In früheren Forschungsbeiträgen habe ich Dershanes als textgebundene Gemeinschaften analysiert, die sich an Nursis Briefen des Lichts ausrichten.23 Im modernen Türkisch kann mit dershane eine spezielle Wohnung oder ein einstöckiges Gebäude, aber auch eine Gruppe von Menschen gemeint sein, die sich dort versammelt, um Nursis Schriften zu lesen und zu diskutieren. Dershanes sind für die Nurcu-Identität von zentraler Bedeutung; sie erleichtern die Herausbildung facettenreicher Beziehungsnetzwerke unter den Anhängern. Dabei entstehen Vertrauensverhältnisse ebenso wie höfliche Beziehungen. Die Gespräche und Diskussionen werden sohbet (»Konversation«) genannt. Nach der Arbeit oder an Sonntagabenden versammeln sich die Nurcus in den Dershanes, um Nursis Schriften zu diskutieren. Zwar beginnen fast alle Gespräche mit Schriften von Nursi, aber sie nehmen unterschiedliche Verläufe und enden fast immer mit politischem oder geschäftlichem Meinungsaustausch. Die Briefe des Lichts bilden die Gesprächsbasis und stellen einen gemeinsamen Wortschatz für die Erörterung sozio-politischer Ereignisse innerhalb und außerhalb der Türkei bereit. Generell sind Gespräche ein wichtiger Aspekt der türkischen sozio-politischen Kultur. Und als informelle Beziehungsgefüge, durch die Ideen, Kapital und Menschen hindurchgeleitet werden, sind Dershanes daran beteiligt, ein bestimmtes Verhaltensmuster in der Gesellschaft zu institutionalisieren. Vor der 1983 von Ministerpräsident Turgut Özal eingeleiteten wirtschaftlichen Liberalisierung hatten sich die Nurcus in Privatwohnungen getroffen, um gemeinsam Nursis Schriften zu lesen. Mit Hilfe neu gesammelten Kapitals begannen sie danach, eigene Gebäude zu kaufen, wo sie sich versammeln und soziale Themen aus der Sicht von Risale-i Nur erörtern konnten. Islamische Druckwerke und die Bildung von Gemeinschaften um den Kristallisationspunkt solcher Texte herum sind im Wesentlichen ein städtisches Phänomen. Zunehmende Alphabetisierung, die Expansion der Marktwirtschaft und die Ausbreitung der Informationstechnologie führten nicht zu einer Säkularisierung der türkischen Gesellschaft, sondern sie erleichterten, im Gegenteil, die Entstehung islamischer Bewegungen. Die Form gedruckter Texte hat das islamische Wissen aus der Vorherrschaft der Religionsgelehrten (ulema) befreit und es auf diese Weise demokratisiert. Nursi popularisierte die Naturwissenschaften, 23 Vgl. M. Hakan Yavuz: »Print-Based Islamic Discourse and Modernity: The Nur Movement«, in: Third International Symposium on Bediuzzaman Said Nursi, Istanbul 1995, S. 324-350.

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Die Renaissance des religiösen Bewusstseins in der Türkei | 137 indem er sie im islamischen Idiom neu präsentierte. Er steht für die bahnbrechenden Verschiebungen von tekke (einer Sufi-Loge) zum Text, vom mündlichen zum schriftlichen Islam.24 Obwohl sich Nursis Ideen im Kontext von Sufi-Logen (sing. tekke) der Naks¸ ibendi und Kadiri entwickelten, sprengten seine Gedanken den traditionellen Rahmen der Frage-und-Antwort-Form. In Nursis Schriften wird – gemessen an dem, was sonst im anatolischen und osmanischen Sufistum üblich war – ein Höchstmaß an Dynamik und Raffinement erreicht.25 Die Art, wie der Text in Nursis Schriften komponiert ist, erfordert kollektives Lesen oder etwas kollektive Nachhilfe, damit man ihn verstehen kann. Nursi verwendet weder die volkstümliche Sprache noch die einfache Pressesprache; und das macht das Verständnis seiner Schriften schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Um Nursis Argumente wirklich zu verstehen, muss man sich einem Lesezirkel (dershane) anschließen. Selbst wenn der Inhalt seiner Botschaften nicht kommunitarisch (oder an ein Kollektiv gerichtet) wäre, würde Nursis Schreibstil kollektives Lesen und Hören voraussetzen. Weil dort der Zugang zu den verfügbaren Quellen leichter und die islamische Theologie auch flexibler ist, wurzelt die Nurcu-Bewegung in den Städten. Ihr Hauptziel besteht nicht darin, zur islamischen Vergangenheit zurückzukehren, sondern darin, die Moderne zu islamisieren – durch eine Neuinterpretation der gemeinsamen Sprache des Islam. Innerhalb der eng begrenzten Öffentlichkeitssphäre unter der Herrschaft des kemalistischen Staates trug Nursi dazu bei, ein oppositionelles, aufsässiges Bewusstsein zu schaffen und zu pflegen. Die Ausweitung von Dershanes fiel mit einer Zersplitterung der Nurcu-Bewegung nach Klassen, Geschlecht, ethnischer und regionaler Herkunft zusammen. Dershanes, die sich als Lese- und Textverständnis-Gemeinschaften konstituieren, schaffen neue öffentliche Räume, in denen sich die türkische Zivilgesellschaft selbst ermächtigt. Dershanes haben bei der Evolution und Pluralisierung der islamischen Bewegungen in der Türkei eine entscheidende Rolle gespielt; auch waren sie bei der Herausbildung einer Gegen-Elite in der Türkei von Bedeutung. Es ist zum Beispiel bedeutsam, dass Dershanes auch als Wohnheime für Universitätsstudenten benutzt wurden und werden. Als urbane Netzwerke des sunnitischen Islam trennen Dershanes nicht zwischen Religion und Alltagsleben; vielmehr streben sie danach, das Alltagsleben nach islamischen Vorstellungen durch ein islamisches Idiom und islamische Praxis zu formen. Die Zeitschrift Köprü, die sich am ernsthaftesten mit den Risale-i Nur auseinandersetzt, hat eine Auflage von 5000 Exemplaren; 3500 davon sind von Dershanes abonniert. Dershanes führten zum Entstehen einer neuen Nurcu-Elite; sie ließen das neue anatolische Bürgertum deutlicher hervortreten. Die Stärkung der Marktkräfte in der 24 Vgl. Dale Eickelman/Jon Anderson (Hg.): New Media in the Muslim World: The Emerging Public Sphere, Bloomington, IN 1999; darin M. Hakan Yavuz: »Media Identities for Alevis and Kurds in Turkey«, S. 180-199. 25 Die meisten von Nursis Lehrern gehörten zum Orden der Khalidi Naks¸ ibendi, aber er las auch die Schriften von Abdul Kadir Geylani, dem Gründer des Kadiri-Ordens. Massiv beeinflusst war Nursi durch die Schriften von Führern des Naks¸ ibendi-Ordens wie dem Inder Ahmed Sirhindi oder Ahmed Ziyaeddin Gümüs¸ haneli.

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138 | M. Hakan Yavuz türkischen Gesellschaft hat Dershanes zu Zentren wirtschaftlicher wie sozialer Aktivität gemacht. Die Menschen treffen sich zur Diskussion von Wirtschaftsthemen, sie verbreiten neue Informationen an die anderen Mitglieder. Mit anderen Worten, Dershanes bieten Wege zur Realisierung individueller Interessen wie zur Bewahrung einer kollektiven Identität. Dershanes sind mit einer spezifischen Gruppe von Menschen verbunden; sie stehen für religiös geprägte neue öffentliche Räume, die sich schnell in die sie umgebende Gemeinschaft integrieren. Diese Dershanes regen zur Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben an. Überdies tragen sie zur Verinnerlichung von Werten und Normen wie Toleranz, Vertrauen und Mäßigung bei, die eine friedliche Regelung sozialer Probleme erleichtern. Bei einer genaueren Betrachtung dieser Dershanes ergibt sich, dass sie auf Gegenseitigkeit und sozialem Vertrauen gründen, was im Wesentlichen auch erklärt, warum es den Nur-Gemeinschaften in der ganzen Türkei wirtschaftlich so gut geht. Die bürgerliche Zivilgesellschaft ist in der Türkei nur schwach ausgeprägt, weil es kaum »soziales Kapital« gibt. Und genau dieser Mangel verhindert auch die Konsolidierung der Demokratie. Nach einer 1997 weltweit in über fünfzig Ländern durchgeführten Untersuchung zu grundlegenden Werten (World Values Survey) lagen die Türken an vorletzter Stelle, als es um die Frage des gegenseitigen Vertrauens zwischen Personen ging; auch stimmten in der Türkei 65 Prozent der Aussage zu, dass in Demokratien zu viel Unordnung herrsche.26 1997 stimmten nur 7 Prozent der türkischen Befragten der Aussage zu, dass man den meisten Menschen trauen könne. Im Vergleich dazu waren es in den USA 42 Prozent, in Schweden 60 und in Japan 36 Prozent. In der türkischen Kultur waren Vertrauen und Zusammenarbeit immer mit islamischen Idiomen und Institutionen verknüpft. Informelle Normen, die »eine Zusammenarbeit zwischen zwei und mehr Individuen fördern«, stellen eine Art soziales Kapital dar.27 Normen wie Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Gegenseitigkeit und Wohltätigkeit leiten sich aus der traditionellen Kultur her. In muslimischen Gesellschaften sind diese Normen weitgehend aus dem Islam abgeleitet. Doch der türkische Staat setzte es sich zum Ziel, alle traditionellen Netzwerke und horizontalen Bindungen zu unterminieren, »zugunsten vertikaler Bindungen zwischen dem Parteienstaat und dem Individuum. Das hat [in vielen Gesellschaften, so auch in der Türkei] zum Verlust von Vertrauen und einer widerstandsfähigen Zivilgesellschaft geführt.«28 Indem er den Islam aus der Öffentlichkeit verdrängte und die Ausbildung religiöser Netzwerke in der Türkei verhinderte, sorgte der türkische Staat auch dafür, dass die Zivilgesellschaft begrenzt und anfällig blieb. Das Problem des unterentwickelten sozialen Kapitals ist auch eine zentrale Ursache für die Demokratieschwäche und die schwach ausgeprägte Zivilgesellschaft in der Türkei. Eine Untersuchung türkischer Gemeinschaften in Europa zeigt, dass dort fast alle sozialen Aktivitäten und Verbindungen sich auf religiöse Netzwerke konzentrieren oder ^

26 Vgl. Yılmaz Esmer: Devrim, Evrim, Statuko: Turkiye ’de Sosyal, Siyasal, Ekonomik Degerler, Istanbul 1999. 27 Vgl. Francis Fukuyama: »Social Capital, Civil Society and Development«, in: Third World Quarterly 22:1 (2001), S. 7-20, hier S. 7. 28 Ebd., S. 18.

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Die Renaissance des religiösen Bewusstseins in der Türkei | 139 diesen nahe stehen. Laut Francis Fukuyama ist »soziales Kapital oft ein Nebenprodukt von Religion, Tradition, gemeinsamen historischen Erfahrungen und anderen Faktoren, die außerhalb der Kontrolle irgendeiner Regierung liegen«.29 Weil NurZirkel Ehrlichkeit und Verlässlichkeit ermutigen, fördern diese Normen auch »bessere Geschäftsbeziehungen untereinander« und mit anderen.30 Ein positiver Nebeneffekt dieser Normen ist, dass sie zur Stabilisierung der Zivilgesellschaft beitragen. In Deutschland und Holland habe ich mehrere Dershanes der Nur-Gemeinschaft von Fethullah Gülen besucht.31 Sie haben viele verschiedene Funktionen und bemühen sich besonders um muslimische Universitätsstudenten. Erfolgreich sind sie überwiegend unter Türken, aber auch bei einigen türkisch geprägten Kurden. Dershanes in Europa fungieren als kervan saray (»Karawanserei«), wo sich Türken bei einer Tasse Kaffee in geselliger Atmosphäre treffen können. Zu den weiteren Funktionen gehören die Verbreitung von Informationen, Arbeitssuche und -vermittlung, Anbahnung neuer Freundschaften und die Ermöglichung von Zugang zu diversen sozialen Netzwerken. So fallen persönliches Vertrauen und soziale Kontrolle zusammen. Dershanes, die es den Nurcus ermöglichen, einander zu finden, breiten sich in ganz Europa aus. In einigen hängen sogar Landkarten aus, auf denen die Standorte von Dershanes in anderen europäischen Städten grün markiert sind. Indem sie die europäische Landkarte auf diese Weise mit Dershanes »begrünen«, wird den Nurcus Europa immer mehr zum vertrauten Territorium, fast sogar zur zweiten Heimat. Dershanes, die horizontal und nicht hierarchisch organisiert sind, betonen Solidarität, Teilhabe und Integrität. Sie helfen sozusagen dabei, belastungsfähige Gemeinschaften zu errichten. Diese Netzwerke erleichtern die Koordination und verbreiten die Kunde von der Vertrauenswürdigkeit anderer Nurcus. Die Zersplitterung der Nur-Bewegung Nach Nursis Tod im Jahre 1960 zerfiel die Nurcu-Bewegung nach regionalen, ethnischen und Klassenidentitäten in mehrere Teilgemeinschaften mit eigenen, voneinander abweichenden Interpretationen und Publikationen. Die Autorität des Textes innerhalb der Bewegung findet ihre Grenze in der Freiheit eines jeden, von den Interpretationen anderer abzuweichen und einen eigenen, autonomen Lesezirkel (dershane) zu gründen. Anders gesagt, Spaltungen sind das Lebenselixier der Nur-Bewegung und das Geheimnis ihres Erfolges. Stets unterstützt und entwickelt die NurBewegung herzliche Beziehungen unter den Lesezirkeln. Dabei kommt es zu einem Interpretationswettbewerb und Wetteifern im Dienst an der Verbreitung der zentralen Nur-Botschaft. In der ganzen Bewegung wirkt eine mächtige Motivationskraft, eine Art Do-it-yourself-Mentalität, die zur Entstehung vieler unterschiedlicher dynamischer Nur-Gruppen führt. Anders gesagt, Nursis Schriften bieten keinen Raum für klerikale Kontrolle oder für die Vorherrschaft einer einzigen Interpretationsweise, vielmehr laden sie jeden Leser dazu ein, seine eigene religiöse Autorität zu werden. 29 Ebd., S. 17. 30 Ebd., S. 13. 31 Vgl. M. Hakan Yavuz: »Towards an Islamic Liberalism? The Nurcu Movement and Fethullah Gülen«, in: Middle East Journal 53:4 (1999), S. 584-605.

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140 | M. Hakan Yavuz Jede Gruppe bemüht sich, in die geistige Welt Nursis einzutauchen, um die Botschaft seiner Schriften besser verstehen zu können. In den Dershanes werden die Menschen aufgefordert, Nursi als ihren »Freund« (dost) zu betrachten, mit dem sie intime Gespräche führen können. Unter den Nurcus herrschen erzählende Kommunikationsformen anstelle verallgemeinerter theologischer Formeln vor. Nurcus erzählen gerne Geschichten über Nursi und über sich selbst. Für Nursis Anhänger bedeutet der Weg zum Heil, dass man Gottes Macht versteht und anerkennt und dass man ein Freund des Propheten Mohammed wird. Die metaphorischen Schriften und Lesungen helfen den Nurcus dabei, ihre eigene religiöse und soziale Identität zu festigen. Letztlich basiert die Nur-Bewegung auf einem Paradox, das dem christlichen Pfingstwunder gleicht – einem »paradoxen Vorgang, der impliziert, dass das eigene Selbst autonomer wird, wenn man sich den Forderungen einer moralischen Weltordnung unterwirft oder aufs Neue verschreibt«.32 Die erste ernsthafte Spaltung der Nur-Bewegung war das Resultat eines Streits über Kontrolle und Bedeutung des Textes zwischen zwei Gruppen, Verlegern und Schreibern. Die »Schreiber« (Yazıcılar), Verfechter einer ausschließlich handschriftlichen Überlieferung der Briefe des Lichts, betrieben unter Hüsrev Altınbas¸ ak die Abspaltung von der Nur-Bewegung. Dabei brachte Altınbas¸ ak vier grundlegende Argumente vor: Das (Ab-)Schreiben mache, erstens, den Text menschlicher und erleichtere seine Verinnerlichung; es schaffe, zweitens, eine innere Bindung zwischen Schreiber und Text; es mache, drittens, den Nurcu selbst zum Teil des Textes, und viertens werde auf diese Weise auch die aktive Beherrschung der arabischen Schrift aufrechterhalten. Die »Verleger« (Nes¸riyatçı) betonten dagegen die Bedeutung von Massenproduktion und schnellem Vertrieb. Diese Gruppe von Nurcus, später unter dem Gruppennamen »Yeni Asya« bekannt, gründete 1964 in Izmir ihre erste Zeitung namens Zülfikar, anschließend in Istanbul die Wochenzeitung Uhuvvet.33 Als die Sicherheits32 Vgl. Salvatore Cucchiari: »›Adapted for Heaven‹: Conversion and Culture in Western Sicily«, in: American Ethnologist 15 (1988), S. 417-441, hier S. 418. 33 1962 wurde in Ankara die Wochenzeitung Irs¸ad gegründet, Herausgeber war Said Özdemir. Aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten und auf Druck des Militärgerichtshofs unter General Cemal Tural musste das Blatt sein Erscheinen einstellen. Anschließend veröffentlichte Ihsan Gemalmaz am 15. November 1963 die Wochenzeitung Ihlas, die jedoch wegen ihrer Kritik an der Regierung verboten wurde. Ismail Anbarlı beschloss, dass es weiterhin eine Nurcu-Zeitung geben müsse, und begann am 17. Juli 1964 in Izmir mit der Veröffentlichung der Wochenzeitung Zülfikar. Es wurden 11 Ausgaben gedruckt, und davon wurden 10 von der Regierung kassiert. Nachdem Altındag Müftüsü Turan Dursun in Tire einen Vortrag gehalten hatte, in dem er die Nur-Bewegung und Said Nursi angegriffen hatte, veröffentlichte Zülfikar eine scharfe Kritik an Dursun. Daraufhin erwirkten die Organisatoren der Konferenz, auf der Dursun gesprochen hatte, gerichtlich das Recht auf eine Gegendarstellung. Doch die Zeitung beschloss, lieber ihren Namen zu ändern, als Dursuns Gegendarstellung abzudrucken. Der Name wurde in Uhuvvet geändert, und dieses Blatt erschien bis zum 26. September 1964. Dasselbe Blatt, das unter den Namen Zülfikar und Uhuvvet erschien, wurde auch in Erzurum veröffentlicht, dort aber unter dem ^

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Die Renaissance des religiösen Bewusstseins in der Türkei | 141 beamten Zülfikar regelmäßig verboten, suchte die Gruppe nach neuen Lösungen. 1969 gründete eine Gruppe von Nurcus Mihrab Yayınevi und begann ebenfalls mit der Publikation der Wochenzeitung Ittihad. Deren erster Herausgeber war Mustafa Polat; auch Zubeyir Gündüzalp war an den Aktivitäten der Zeitung maßgeblich beteiligt. Nach einem verdeckten Militärputsch verbot ein Militärgericht diese Zeitung am 7. Juni 1971. Nach der Schließung von Ittihad folgte Yeni Asya; die Leitung hatte nun Gündüzalp, der im Juli 1971 ein erfolgreiches Vertriebssystem aufbaute. Die Ziele dieser Zeitung waren: Schutz der Demokratie und Eintreten gegen alle antidemokratischen Bewegungen; Darstellung von gegen Kommunismus und Atheismus gerichteten Meinungen und Positionen; Eintreten für engere Verbindungen mit westlichen Ländern (als Hür dünya bekannt); Entwicklung enger Beziehungen mit den anderen abrahamitischen Religionen und Institutionen – zur Schaffung einer gemeinsamen Front gegen Kommunismus und Atheismus. Die Yeni-Asya-Gemeinschaft sieht sich selbst so: »Sie akzeptiert die Briefe des Lichts als die einzige moderne Interpretation des Korans; sie glaubt, dass die Briefe des Lichts das einzige wirksame Mittel sind, um den Glauben zu bewahren und ein frommes Leben zu führen. Außerdem akzeptiert sie die Briefe als grundlegenden Bezugspunkt für religiöse, soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Fragen. Sie ist bestrebt, Nursis Botschaft über Kommunikationsnetzwerke zu verbreiten; sie glaubt an die Informationsgesellschaft und bemüht sich, den Muslimen mit Wissen zu Stärke und Macht zu verhelfen.«34

Die zweite Ursache für Spaltungen war die politische Haltung der Bewegung. Nach dem Militärputsch von 1980 unterstützten Mehmet Kırkıncı und Fethullah Gülen diesen Staatsstreich und nahmen eine sehr staatstragende Haltung ein. Diese beiden Nur-Gemeinschaften deuteten die Nur-Bewegung nun zu einem »türkischen Islam« um, nationalisierten sie also.35 Erstrebt in einem laizistischen Staat (der auf eine strikte Trennung von Religion und Staat achtet, oder aber durch Eingliederung der Religion in den Staat Kontrolle über diese gewinnen will) eine religiöse Bewegung Legitimität und Anerkennung, so ist die einzige Methode, Unterstützung und Anerkennung des Staates zu gewinnen, der Nationalismus. Anders gesagt: Religiöse Gruppen versuchen, ihre Relevanz und Legitimität vor dem Staat dadurch zu beweisen, dass sie ihren Beitrag zum Nationalismus und zur Nationalkultur herausstreichen. Namen Hareket. N. Mustafa Polat war der Herausgeber der Wochenzeitung Hareket, die lange Zeit erscheinen konnte. Außerdem brachte eine Gruppe von Nurcus unter Leitung von Müslim Selçuk die Wochenzeitung Vahdet heraus; sie erschien am 14. September 1964, wurde aber nach nur drei Ausgaben wieder eingestellt. 34 Sener Boztas¸ , der stellvertretende Direktor der Yeni-Asya-Stiftung, gab diese Stellungnahme am 13. März 2001 ab. 35 Vgl. Nevzat Köseoglu, Bediüzzaman Said Nursi Hayattı-Yolu-Eseri, Istanbul 1999, als detaillierte Untersuchung der Art und Weise, wie einige Gruppen versuchen, aus Said Nursi in erster Linie einen Türken zu machen. ^

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142 | M. Hakan Yavuz Fethullah Gülen spaltete seine Aktivitäten von denen anderer Nur-Gemeinschaften ab und gestaltete seine Gruppe zu einer sehr mächtigen und dynamischen Bewegung um. Er hob die Bedeutung der Erziehung hervor. Fethullah Gülen, eher ein Mann der Tat als ein Ideengeber, entwickelte sich vom Prediger einer kleinen Moschee zum Führer der mächtigsten transnationalen islamischen Bewegung. Die Gemeinschaft von Fethullah Hoca umfasst Tausende loser Netzwerke von Gleichgesinnten. Gülen geht es besonders um die Umsetzung von Ideen und ethischen Maximen, öffentlich wie privat. Er beschränkt den Islam nicht auf den privaten Bereich, sondern betont die Rolle der öffentlichen Religion bei der Herausbildung von Ethik, Identität und Gemeinschaft. Der Islam spielt – als öffentliche Ethik wie als private Frömmigkeit – bei der Formung der muslimischen Persönlichkeit und der muslimischen Gemeinschaft eine konstitutive Rolle. Gülen errang internationales Renommee mit den hohen Erziehungs- und Bildungsstandards in seinen über 200 Privatschulen in vielen Ländern. Man kann seine Bewegung aber auch als »religiösen Nationalismus« interpretieren. Denn der türkische Islam unterscheidet sich für Gülen vom arabischen oder persischen Islam. Seiner Meinung nach sorgte die tolerante Islamauffassung der Türken in Verbindung mit der Mosaikstruktur des Osmanischen Reiches für eine liberalere Auslegung des Islam in der Türkei. Doch Gülens staatstragende, nationalistische Ideen haben sich inzwischen schon wieder stark verändert.36 Meiner Ansicht nach gibt es zwei Gülens: den alten, nationalistischen und den neuen, am globalen Diskurs orientierten, der 1997 durch die Kampagne des türkischen Militärs gegen den islamischen Aktivismus ins Exil in den USA getrieben wurde.37 Die zentralisierte Struktur von Gülens Gemeinschaft bringt einen rigideren, stärker zentralistischen Gesellschaftsdiskurs hervor. Mit Disziplin und Pünktlichkeit richtet er sich stark an der militärischen Struktur in der Türkei aus. Weder die Struktur noch der Diskurs der Gülen-Gemeinschaft erleichtern die Ausbildung von Individualismus. Seit dem sanften Staatsstreich von 1997 hat sich Gülen jedoch schrittweise von seinen früheren nationalistischen, am Staat orientierten Positionen entfernt, hin zu einer liberaleren, globaleren Perspektive. Dieser neuen Gülen, 36 Vgl. M. Hakan Yavuz/John Esposito (Hg.): Turkish Islam and the Secular State: The Gülen Movement, Syracuse, NY 2003 als detaillierte Untersuchung zur Gülen-Bewegung; sowie Ugur Kömeçoglu, »Kutsal ile Kamusal: Fethullah Gülen Cemaat Hareketi«, in: Nilüfer Göle (Hg.), Islamin Yeni Kamusal Yüzleri, Istanbul 2000, S. 148-194. 37 Bei einem Interview mit Fethullah Gülen in den USA (Mai 2000) fragte ich ihn nach den Veränderungen in seinem Denken und seinen Aktivitäten. Seine Antwort lautete: »Wir verändern uns doch alle, nicht wahr? Es gibt kein Entkommen vor Veränderungen. Durch Besuche in den Vereinigten Staaten und in vielen anderen europäischen Ländern erkannte ich die Vorteile und die Rolle der Religion in diesen Gesellschaften. Der Islam floriert in Amerika und Europa viel mehr als in etlichen muslimischen Ländern. Das heißt, für einen persönlichen Islam braucht man Freiheit und einen Rechtsstaat. Darüber hinaus braucht der Islam den Staat nicht zum Überleben, vielmehr benötigt er für seine Blüte gebildete und finanziell reiche Gemeinschaften. In einem voll ausgebildeten demokratischen System wird sozusagen nicht der Staat, sondern die Gemeinschaft benötigt.« ^

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Die Renaissance des religiösen Bewusstseins in der Türkei | 143 »made in USA«, hat die globalen Diskurse von Menschenrechten und Demokratie verinnerlicht. Er ist unpolitischer geworden, weniger auf den Staat fixiert, mehr an der Gesellschaft und am Markt orientiert. Die Gülen-Bewegung in der Türkei ist jedoch weiterhin vom Nationalismus und von kommunitarischen islamischen Werten bestimmt. Sie bemüht sich, diese innere Uniformität dadurch zu kompensieren, dass sie Toleranz und Koexistenz mit »anderen« religiösen Gruppen hervorhebt. Anderen muslimischen Führern oder Gruppen gegenüber gelten diese Toleranz und Koexistenz bislang aber nicht. Bei Yeni Asya kam es 1990 zu einer dramatischen Spaltung, als ein Gruppe jüngerer, sehr einflussreicher Angehöriger der »neuen Generation« (Yeni Nesil) eine modernere pro-Özal-Haltung einnahm. Diese Gruppe dominiert heute durch Veranstaltung einer Reihe hochwertiger Konferenzen und Seminare die Interpretation der Briefe des Lichts. Aufgrund des Engagements und Fleißes dieser Gruppe stehen die Briefe des Lichts jetzt im Zentrum akademischer Forschung und Betrachtung. Man begegnet dort Nursis Texten mit mehr kritischer Distanz und lädt überdies regelmäßig ausländische Wissenschaftler ein, ihre Interpretationen der Briefe des Lichts vorzutragen. Die dritte wichtige Bruchlinie für Spaltungen in der Nur-Bewegung sind die ethnischen Spannungen in der Türkei. Eine Gruppe kurdischer Nurcus spaltete sich ab und gründete eine eigene Gruppierung, die Med-Zehra. Sie gründete ihr eigenes Verlagshaus (Tenvir Nes¸riyat) und verbreitete seit April 1989 ihre Ansichten durch ihr kurdisch-nationalistisches Magazin Dava. Angeführt wird diese Gruppe von Muhammed Sıddık (Dursun) Seyhandzade, der aus einer reichen kurdischen Familie kommt.38 Diese Gruppe tritt für die mehr politische Rechte der Kurden ein, widersetzt sich einem starken türkischen Staat und hat enge Verbindungen zu radikalen islamischen Gruppen. Sıddık beschuldigt andere Nur-Gemeinschaften als »Nihal Atsız Nurcusu«39 und versucht, sich selbst als ummetci, also dem Ideal einer transnationalen Gemeinschaft der Muslime verbunden darzustellen, die anderen Gruppen dagegen als nationalistisch. Die kurdischen Nurcus neigen dazu, Said Nursi als kurdischen Nationalisten zu behandeln, während die Türken mehr seinen Panislamismus hervorheben. Viele kurdische Nationalisten deuten Nursis Exil und Verfolgung als Beispiel für die generelle Verfolgung der kurdischen Identität. Die Gerichtsunterlagen bezeugen jedoch, dass seine Verfolgung Resultat seines gegen die gelenkten Gesellschaftsreformen der Kemalisten gerichteten Kampfes zur Erneuerung des Islam war.40 Wegen Sıddıks Strenge und aufgrund seines Bestrebens, die Bewegung rigoros zu kontrollieren, kam es bei Med-Zehra 1990 zu einer größeren Spaltung. Eine Gruppe jüngerer und weniger kurdisch-nationalistisch eingestellter 38 Mehr zu Sıddık findet sich in artıHaber vom 20.-26. Dezember 1997. 39 Nihal Atsız, ein rassistischer, pantürkischer Aktivist, denunzierte den Islam und trat für eine rassistische Variante des türkischen Nationalismus ein. Atsız kritisierte Nursi ständig als »ignoranten Kurden, dessen wahres Motiv der kurdische Nationalismus« sei. Vgl. Nihal Atsız: Türk Ülküsü, Istanbul 1992, S. 101, 115; Makaleler III, Istanbul 1992, S. 214, 451f., 455, 469, 504. . 40 Vgl. Bekir Berk: Hakkın Zaferi Için, Istanbul 1972.

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144 | M. Hakan Yavuz ^

Nurcus gründete unter der Führung von Izzeddin Yıldırım Zehra Egitim ve Kültür Vakfi und konzentrierte sich fortan auf das Bildungswesen. Wichtigstes Ziel der neuen Gruppierung war die Veröffentlichung der Briefe des Lichts in kurdischer Sprache. Sie gab unter Leitung von Mehmet Metiner, einem opportunistischen kurdischen Politiker, auch die Zeitschrift Yeni Zemin heraus.41 Izzeddin Yıldırım, der Führer der Zehra, wurde von einem Anhänger der radikalen Hisbollah ermordet. Man nimmt an, dass die Hisbollah enge Beziehungen zum türkischen Staatssicherheitssystem unterhält, und es besteht der Verdacht, dass sich der Staat schon öfter der Hisbollah bediente, um prominente gemäßigte kurdische Intellektuelle aus dem Weg zu räumen. Gegenwärtig gibt es acht größere Nur-Gemeinschaften, die sich nach ihren politischen Grundpositionen und nach ihrer jeweiligen Stellung zur Moderne voneinander unterscheiden. Die Schreiber, Mehmet Kırkıncı und Mustafa Sungur stehen für eine konservative Grundhaltung bei der Interpretation von Nursis Schriften; sie haben überdies eine defensive Einstellung zur Moderne.42 Zu den modernistischen und progressiven Gruppierungen gehören Yeni Nesil, Fethullah Gülen und Yeni Asya. Eine ethnisch ausgerichtete radikale Gruppe ist die Med-Zehra.

Zusammenfassung Die vorliegende Untersuchung zeigt, dass Säkularisierung nicht gleichbedeutend ist mit dem Verschwinden der Religion, sondern dass es sich vielmehr um einen Umund Neugestaltungsprozess von Glaubenssystemen handelt. Darüber hinaus werden Religionen in modernen Gesellschaften zu Speichern kollektiver Erinnerung und zu kollektiven Bedeutungssystemen. Nursis Schriften sind nicht unbedingt als islamisches Projekt anzusehen; vielmehr kommt darin ein vom Islam geprägtes ethisches Ideal zur Geltung, das der Transformation von Individuum und Gesellschaft den Weg bahnt. Das Wiedererstarken der Religion schließt – in der Türkei wie in vielen anderen Ländern – Individuations-, Subjektwerdungs- und Pluralisierungsprozesse nicht aus. Der Einzelne muss sich seine eigene sinnvolle Welt bauen, und dieser Prozess erfordert direkten Zugang zum Fundus der Religion. Nursi bemühte sich sehr darum, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Seine Schriften und die Praxis in den Dershanes zeigen, dass der Islam ein umfassendes Bedeutungssystem ist, das für Kontinuität sorgt und zugleich den sozialen Wandel rechtfertigt. Indem sie die Religion als eine imaginative Kraft nutzen, gestalten Nursis Anhänger ihr Verhalten und ihre Maßstäbe stets so, dass sie die Gegenwart gestalten können. Der Islam war durch seine imaginative Funktion und seine Betonung von Gerechtigkeit schon immer eine Religion des Widerstands und eine Kraftquelle, die gegen Unterdrückung einsetzbar war. Die Nurcu-Bewegung mit ihren 5 Millionen Anhängern durchläuft 41 Die Titelgeschichte der letzten Nummer von Yeni Zemin vom Mai-Juni 1994 hieß »Waisen der muslimischen Gemeinschaft – die Kurden«. 42 Vgl. Kiyasettin Kocoglu, Said Nursi ve Nurculuk, unveröffentl. Magisterarbeit an der Universität Ankara, Ilahiyat Fakültesi 1996, S. 80-85. ^

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Die Renaissance des religiösen Bewusstseins in der Türkei | 145 gerade einen Transformationsprozess. Dabei spielen eine Rolle: die ethnische Differenzierung nach Türken und Kurden; die Hoffnung auf EU-Mitgliedschaft als Motivation für die Gestaltung einer demokratischen Türkei; die Globalisierung durch Expansion der Netzwerke, aber auch durch Verinnerlichung globaler Diskurse wie Menschenrechte und Demokratie. Bei der Fragmentierung der Dershane-Netzwerke sind in erster Linie Klassenfaktoren am Werk. Wenn sich Menschen in Dershanes treffen, so meistens, weil sie überwiegend dieselben sozioökonomischen Probleme haben. Die Antworten, die sie darauf finden, werden Antworten für alle. Durch Beseitigung des Fatalismus hat die Moderne in der Gemeinschaft wie bei den Individuen Kreativkräfte befreit. Doch dieselben Kräfte führen auch zur Zersplitterung der Identität; sie machen das Individuum für Kräfte von außen sehr anfällig. Die Ausbreitung von Dershanes in unterschiedlichen sozialen Schichten in großen Industriestädten zeigt, dass diese Netzwerke eine Art Kompensation für die Anonymität des Individuums anbieten. In den traditionellen Sufi-Orden gestalten sich die Beziehungen zwischen den Mitgliedern nach dem Muster von Familienbeziehungen; man zeigt wechselseitig Gefühle. So sind auch Dershanes eine emotionale Gemeinschaft, die auf einer Art Wahlverwandtschaft unter Brüdern gründet und den emotionalen Austausch in formalisierter Form pflegt. Das Zusammenspiel textlicher und emotionaler Bindungen ist für die Existenz der Nur-Gemeinschaften von zentraler Bedeutung.

Literatur ^

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Neue Formen der Geselligkeit: Islamische Cafés in Istanbul ^

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Ugur Kömeçoglu Das Herz verlangt weder nach Kaffee noch nach dem Kaffeehaus. Das Herz wünscht sich sohbet [Gespräche], der Kaffee dient nur als Vorwand. Türkisches Sprichwort Die traditionellen räumlichen Arrangements eines islamischen Lebensstils unterliegen derzeit einem Wandlungsprozess. Die räumlichen Ausdrucksformen werden hybrider. Denn die neuen islamischen Akteure, im Großen und Ganzen Produkte der Moderne, transformieren, wenn sie sich in moderne urbane Räume, Konsummuster und Marktgesetzlichkeiten eingliedern, auch den Islamismus. Die Islamisierung des städtischen Lebensstils manifestiert sich zum Beispiel in nach gesellschaftlichen Vorgaben gestalteten »Gegen-Räumen« wie Restaurants, Hotels und Cafés, die auf die islamische Moral Rücksicht nehmen. Dass es neuerdings in Istanbul Cafés1 gibt, die sich auf ein gebildetes islamisches Publikum eingestellt haben, kann den hybriden Charakter der islamischen Öffentlichkeit treffend illustrieren. Jeder Versuch, die neue islamische Öffentlichkeitsdimension unter dem Aspekt »Kaffeehausbesuch als räumliche Handlungsweise« zu verstehen, erfordert zunächst eine Analyse der räumlichen Struktur des historischen »muslimischen Kaffeehauses«. Weil es mir mehr um den räumlichen als um den zeitlich-historischen Aspekt dieser Institution geht, beschäftige ich mich allerdings nicht vorrangig mit Periodisierungen – also mit den üblichen »Themen der Geschichte: Entwicklung und Aufschub, Krise und Kreislauf, den Themen einer sich fortschreitend akkumulierenden Vergangenheit«.2 Nach Michel Foucault haben die Ängste der Moderne im Grunde eher mit Räumen als mit der Zeit zu tun.3 Für die Untersuchung konfligierender sozialer Kräfte ist darum die räumliche Betrachtungsweise von Geschichte sehr hilfreich – »von den großen Strategien der Geopolitik bis zu den kleinen Taktiken im Bereich des Lebensraumes«.4 Der vorliegende Beitrag beleuchtet durch eine Untersuchung des Kaffeehauses – durch räumliche Betrachtung seiner Vergangenheit und durch eine Analyse der Mikropolitik des Raumes (also dessen, was Foucault die »kleinen Taktiken im Bereich des Lebensraumes« nennt) – die öffentlichen Aus-

1 Warum ich hier nicht die traditionelle türkische Bezeichnung für »Kaffeehaus«, kahvehane, verwende, wird im Folgenden ausführlich erläutert. 2 Michel Foucault, zitiert bei Edward W. Soja: »Heterotopologies: A Remembrance of Other Spaces in the Citadel-LA«, in: Sophie Watson/Katherine Gibson (Hg.), Postmodern Cities and Spaces, Cambridge 1995, S. 13-34, hier S. 17. 3 Vgl. ebd. 4 Vgl. Michel Foucault: »The Eye of Power«, in: Colin Gordon (Hg.), Power/Knowledge: Selected Interviews & Other Writings, 1972-1977, New York 1980, S. 146-165, hier S. 149.

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148 | Ugur Kömeçoglu drucksformen in diesem kleineren öffentlichen Raum. Eine solche Untersuchung hat exemplarischen Charakter für den allgemeinen neueren Trend einer Revitalisierung des Islam und seiner Lebensformen. Die Wahl des Kaffeehauses anstelle anderer islamischer Gegen-Räume hat mit der Tatsache zu tun, dass im Unterschied zu anderen öffentlichen Räumen das Kaffeehaus im Lauf der Geschichte schon immer eine wichtige Institution für den öffentlichen Meinungsaustausch in muslimischen Gesellschaften war. Das Kaffeehaus ist eine jener Institutionen, in denen nach Habermas die bürgerliche Öffentlichkeit als Forum der öffentlichen Debatte und Diskussion ihren Ursprung in Europa hatte. Der öffentliche Raum als jene Sphäre, die zwischen Staat und Gesellschaft vermittelt, ist »ein Bereich unseres gesellschaftlichen Lebens, in dem etwas, das einer öffentlichen Meinung nahe kommt, sich bilden kann«, und zwar durch rationale und kritische Debatten zu Themen von allgemeinem Interesse. Folglich entsteht »ein Teil der Öffentlichkeit [bereits] in jedem Gespräch, zu dem sich private Individuen treffen, um ein öffentliches Ganzes zu bilden«.5 Die Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit war eng verbunden mit dem Wachstum der städtischen Kultur als eines neuen Schauplatzes lokal organisierten öffentlichen Lebens, aber auch mit der Expansion von Kommunikationsstrukturen (Presse, Verlage und andere literarische Medien) und mit der Entwicklung eines Lesepublikums – zum einen durch Lese- und Sprachgesellschaften, zum anderen an Orten der Geselligkeit: in Kaffeehäusern, Tavernen und Clubs. Ein letzter wichtiger Faktor für das Entstehen von Öffentlichkeit war das Erblühen eines neuen Universums freiwilliger Vereinigungen im bürgerlichen Raum.6 Dieses Verständnis von Öffentlichkeit ist auch relevant, wenn man verstehen will, wie sich in Istanbul eine islamische Öffentlichkeit entwickelt hat – in einer Stadt, die Jahrhunderte lang mit ihren Moscheen, religiösen Seminaren und Sufi-Logen nicht nur das politische, sondern auch das kulturelle und religiöse Zentrum des Osmanischen Reiches war. Man hat die These vertreten, der westliche Öffentlichkeitsbegriff, für Habermas’ Konzept der Moderne von entscheidender Bedeutung, sei historisch gesehen nicht Teil des islamischen Gesellschaftsmodells gewesen. Weil es in islamischen Gesellschaften nicht in gleicher Weise wie im Westen zu einer Kritik der Tradition gekommen sei, lasse sich der westliche Begriff der Moderne nicht ohne weiteres anwenden, so als verstünde er sich von selbst. Laut Gerard Delanty ist es Aufgabe der Sozialwissenschaften zu zeigen, ob es alternative Wege zur Moderne gibt.7 Nilüfer Göle verwendet in einem Essay zu den Beziehungen zwischen Moderne und nichtwestlicher Welt den Begriff »nichtwestliche Formen der Moderne«, wenn sie sich auf die neuen Praktiken des religiösen Diskurses und der sozialen Räume in nichtwestlichen Kontexten bezieht. Dabei wird die Moderne weder einfach zurückgewiesen 5 Geoff Eley: »Nations, Publics, and Political Cultures: Placing Habermas in the Nineteenth Century«, in: Craig Calhoun (Hg.), Habermas and the Public Sphere, Cambridge, MA 1992, S. 289-339, hier S. 289. 6 Vgl. ebd., S. 291. 7 Vgl. Gerard Delanty: Social Theory in a Changing World: Conceptions of Modernity, Cambridge 1999, S. 96.

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Neue Formen der Geselligkeit: Islamische Cafés in Istanbul | 149 noch einfach übernommen, sondern es kommt zu einer kritischen und kreativen Aneignung.8

Vom Kaffeehaus (kahvehane) zum Café Zum besseren Verständnis der gesellschaftlichen Signifikanz des Kaffeehauses (kahvehane) im osmanisch-türkischen Kontext ist zunächst ein kurzer Abriss der wichtigsten historischen Veränderungen erforderlich, soweit sie diese Institution betreffen. Die folgende Kurzanalyse osmanischer Kaffeehäuser in Istanbul liefert zwar kein komplettes Bild, auch keinen Bezugsrahmen für einen Vergleich europäischer und osmanischer öffentlicher Räume, aber es ist trotzdem möglich, auf einige der wichtigsten Unterschiede und Ähnlichkeiten hinzuweisen. Anders als in westeuropäischen Gesellschaften gelang es den Einrichtungen der Öffentlichkeit in der osmanischen Gesellschaft bis ins 19. Jahrhundert nicht, ein starkes und anerkanntes Gegengewicht zum Staat auszubilden. Soziale Gruppen wie heterodoxe islamische Sekten, schiitische Sufi-Orden oder Handwerkergilden ähnelnde ökonomische Vereinigungen – sie alle waren zu schwach, um der Staatsmacht etwas entgegenzusetzen; im Allgemeinen wurden sie unterdrückt. In einer Gesellschaft, in der es nur die Dichotomie von Herrschenden (askeri) und Beherrschten (reaya) gab, konnte keine Mittelschicht, keine Mittelklasse effektive Legitimität erringen.9 Bevor es Kaffeehäuser gab, war in der osmanischen Gesellschaft das Spektrum gesellschaftlicher Begegnungsmöglichkeiten in öffentlichen Räumen sehr schmal. Überdies war das öffentliche Leben am Abend sehr begrenzt: »Es gab nur wenige, ganz spezielle Gründe dafür, abends noch auszugehen. In bestimmten Jahreszeiten zog die Moschee auch nach Einbruch der Dunkelheit gelegentlich noch Massen an, und in gewissem Maße boten die Sufi-Orden ihren Anhängern abendliche Treffpunkte. Doch davon abgesehen zogen nur Tavernen, Spielhöllen und andere Sündentempel Klienten an.«10 1543 kam der Kaffee nach Istanbul, ein Jahrzehnt vor der Eröffnung der ersten Kaffeehäuser. Als Erste konsumierten die Sufis dieses Getränk zu Beginn ihrer aus langen Litaneien zum Lob Gottes (zikir) bestehenden religiösen Zeremonien, um die nächtelangen Gottesdienste ohne Schlaf überstehen zu können. Der Scheich rief den Namen Gottes an und reichte den Kaffeebecher dann der Person zu seiner Rechten weiter; so kreiste der Becher unter allen zur Andacht Versammelten im Kreis. Beliebt war Kaffee auch bei den Mitgliedern des Halvetiyye-Ordens; dieser politisch bedeutenden tarikat (Sufi-Orden), einer der einflussreichsten des Osmanischen Reiches,

8 Vgl. Nilüfer Göle: »Snapshots of Islamic Modernities«, in: Daedalus 129:1 (2000), S. 91117. 9 Vgl. S¸ erif Mardin: »Civil Society and Islam«, in: John A. Hall (Hg.), Civil Society: Theory, History, Comparison, Cambridge 1995, S. 278-300. 10 Ralph S. Hattox: Coffee and Coffeehouses: The Origins of a Social Beverage in the Medieval Near East, Seattle, London 1996, S. 128.

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150 | Ugur Kömeçoglu gehörten auch Mitglieder der herrschenden Schichten an. Die Kalenderis, reisende Derwische, die sich der Zentralisierungspolitik des Staates und der normativen Überwachung durch die sunnitischen Institutionen widersetzten, begannen, neben dem Gebrauch von Haschisch, ihrer traditionellen Droge, auch Kaffee zu trinken. Wegen seiner stimulierenden Wirkung galt Kaffee wie Haschisch beim religiösen Establishment als religionsrechtlich verboten (haram). Dass beide, Kaffee wie Haschisch, vor dem Konsum geröstet wurden, förderte in orthodoxen Kreisen die Gleichsetzung beider Drogen. Als sich der Kaffeegenuss trotzdem allmählich in der Gesellschaft ausbreitete, galt er anfangs als »Symbol eines dekadenten Lebens«. Außerhalb der Derwisch-Logen (tekke) hatte die Praxis, den Kaffeebecher von Hand zu Hand weiterzureichen, ihre mystischen Assoziationen verloren; das Ritual ähnelte nun der Art, wie man Wein trank, und rief deshalb den Widerstand der Religionsgelehrten (ulema) auf den Plan.11 Obwohl man weiß, dass Ebusuud Efendi, s¸eyhülislam (höchster religiöser Würdenträger der Muslime) jener Zeit (1490-1574), gegen den Kaffee war, sind sich die Historiker nicht einig, ob es eine Fatwa (ein islamisches Rechtsgutachten des Muftis) gegen den Kaffeegenuss gab. Überdies lässt sich aus den vorhandenen Belegen schließen, dass während der Herrschaft des Sultans Süleyman der Prächtige (1520-1566) Kaffee problemlos nach Istanbul gelangte.12 Das erste Kaffeehaus in Istanbul gründeten zwei Männer, Hakim aus Aleppo und S¸ ems aus Damaskus, im Jahre 1554 – im Stadtviertel Tahtakale, einem zentralen Handelsplatz und Wirtschaftsstandort. Dass das erste Kaffeehaus gerade hier eröffnet wurde, war kein Zufall. Laut Ekrem Is¸ ın war das Tahtakale jener Zeit ein ungewöhnliches Viertel – jedenfalls für all jene, die an Sicherheit im Viertel und Haus gewöhnt waren. Weil dieses Viertel an den Hafen am Goldenen Horn angrenzte, war es zum Refugium für abenteuerlustige Seeleute geworden, zum Tummelplatz für westliche Kaufleute mit schlechtem Ruf, Hochstapler, die sich als Aristokraten ausgaben und deren Reichtum aus zweifelhaften Quellen stammte, sowie für Reisende, die sich vom Charme des Orients bezirzen ließen. Es war die lebendige, kosmopolitische und von den Rändern der Gesellschaft geprägte Atmosphäre des Tahtakale, die die Verankerung der Kaffeehäuser im Alltagsleben Istanbuls erleichterte.13 In der Regierungszeit Selims II. (1566-1574) gab es in Istanbul rund sechshundert Kaffeehäuser.14 Ihr Erscheinungsbild war außerordentlich vielfältig: vom kleinen Dorfkaf11 Vgl. Ays¸ e Saraçgil: »Kahvenin Istanbul’a Giris¸ i, 16. ve 17. Yüzyıllar«, in: Héléne DesmetGrégoire/François Georgeon (Hg.), Dogu’da Kahve ve Kahvehaneler, Istanbul 1999, S. 27-41, hier S. 28-30 (Original: Les Cafés d’Orient revisités, Paris 1997; türk. Übers. Meltam Atik/Esra Özdogan). Enis Batur hat in der Popularität des Kaffees in muslimischen Ländern folgende inhärente Logik entdeckt: »Anders als die Christen, die ihr Problem des Vergnügens dadurch lösen konnten, dass sie das Blut Christi in der symbolischen Form von Wein tranken, waren die Muslime hoch motiviert, eine alternative Quelle solchen Vergnügens zu entdecken, weil Wein ihnen [durch den Koran] verboten war.« Vgl. Enis Batur: »Pleasures Hidden in a Coffee-Color Bean«, in: Selahattin Özpalabıyıklar (Hg.): Coffee: Pleasures Hidden in a Bean, Istanbul 2001, S. 6-9, hier S. 6. 12 Vgl. Ays¸ e Saraçgil: »Kahvenin Istanbul’a Giris¸ i«, S. 28-30. 13 Vgl. Ekrem Is¸ ın: Istanbul’da Gündelik Hayat, Istanbul 1999, S. 296-297. ^

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Neue Formen der Geselligkeit: Islamische Cafés in Istanbul | 151 feehaus außerhalb der Stadtmauern bis zum großen Renommierbau waren in der Stadt alle Varianten vertreten.15 Sich in einem speziellen Außenraum zu treffen, war in einer Gesellschaft, in der man normalerweise weder ins Restaurant noch ins Theater ging, offenbar eine ganz besondere Neuheit. Die neuen Kaffeehäuser schufen einen funktionierenden öffentlichen Raum für Besucher, die durch das eher private Klima von Haus, Wohnviertel und tekke in ihrem gesellschaftlichen Umgang eingeschränkt waren. Laut Albert Hourani wurden in muslimischen Gesellschaften sogar die Wohnviertel gewissermaßen als Ausweitung des häuslichen Bereiches angesehen; darum wurde auch hier die Privatsphäre besonders geschützt.16 Einerseits entsprach die Organisation der Wohnquartiere (mahalle) der Maxime von der Privatisierung der Öffentlichkeit, andererseits wurden sogar die intimsten Geheimnisse des Privatlebens enthüllt und dann öffentlich gemacht, sobald durch privates Verhalten die traditionellen Normen islamischer Moral in Frage gestellt wurden. Fikret Yılmaz kam beim Studium von Gerichtsunterlagen (s¸eriye sicilleri) aus der osmanischen Gesellschaft des 16. Jahrhunderts zu dem Schluss, dass »noch die entlegensten Aspekte des Privatlebens im Bereich der Öffentlichkeit zu beobachten waren. […] Man kann mit Fug und Recht sagen, dass die Öffentlichkeit als Wächter von Moral und Ordnung fungierte und dass sie den privaten Bereich wirksam unter Kontrolle hatte.«17 Moschee und Basar (çars¸ı) waren zwei wichtige öffentliche Räume, die ihrer Funktion ihre Bedeutung verdankten: Hier wurden religiöse und kommerzielle Bedürfnisse befriedigt. Darüber hinaus war die Moschee ein Zentrum für die Verbreitung von Informationen zu Themen von öffentlichem Interesse – in den Freitagspredigten (sing. hutbe) der religiösen Führer. Das Kaffeehaus bot nun erstmals Durchschnittsmenschen die Aussicht auf einen Lebensstil außerhalb von Basar und Moschee – in einem Raum, dessen Grenzen nicht durch die eigenen Pflichten gegenüber Familie und Gott gezogen waren.18 Der Kaffee war Mittler für die Entwicklung eines neuartigen Modells der Zivilgesellschaft, das auf einer anderen Art von Geselligkeit beruhte: Indem das Kaffeehausmilieu die Vermischung von Menschen aus allen Lebensbereichen ermöglichte, »indem es verschiedenartige Elemente der Gesellschaft zusammenbrachte – Regierungsbeamte, Religionsgelehrte, Kaufleute und Handwerker, die Frommen und die Profanen –, und zwar außerhalb ihrer je-

14 Vgl. Hattox: Coffee and Coffeehouses, S. 81. 15 Vgl. François Georgeon: »Osmanlı Imparatorlugu’nun Son Döneminde Istanbul Kahvehaneleri«, in: H. Desmet-Grégoire/F. Georgeon (Hg.), Dogu’da Kahve ve Kahvehaneler, Istanbul 1999, S. 43-85, hier S. 44. 16 Vgl. Albert Hourani: A History of the Arab Peoples, London 1991, S. 123, und den Beitrag von Ludwig Ammann im vorliegenden Band. 17 Vgl. Fikret Yılmaz: »XVI. yy. Osmanlı Toplumunda Mahremiyetin Sınırlarına Dair«, in: Toplum Bilim 83 (2000), S. 92-110, hier S. 110. 18 Vgl. Ekrem Is¸ ın: »A Social History of Coffee and Coffeehouses«, in: Selahattin Özpalabıyıklar (Hg.), Coffee: Pleasures Hidden in a Bean, Istanbul 2001, S. 10-43, hier S. 25. ^

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152 | Ugur Kömeçoglu weils geschlossenen Kreise, auf dem gemeinsamen Boden des Kaffeehauses«, stand dieses Milieu für einen Gesellschaftsentwurf, an dem alle mit ihrem je eigenen Wissen und mit ihren je eigenen Erfahrungen teilhaben konnten.19 Die osmanischen Kaffeehäuser standen allen Menschen aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten offen, doch zwei soziale Gruppen hatten keinen Zutritt: Frauen und Nichtmuslime. Jürgen Habermas weist allerdings darauf hin, dass auch zu den Kaffeehausgesellschaften in Frankreich und Großbritannien um die Mitte des 17. Jahrhunderts nur Männer zugelassen waren.20 Kaffeehäuser entstanden zuerst im Osten. »Der offizielle Bericht über die Begebenheiten in Mekka im Jahre 1511 enthält die erste Anspielung auf das Vorhandensein eines Ortes für den Kaffeekonsum, an dem sich Menschen zu geselligen Zwecken wie zur Erfrischung versammeln.«21 Der Kutscher eines levantinischen Kaufmanns eröffnete im 17. Jahrhundert das erste Kaffeehaus in Wien.22 In der osmanischen Gesellschaft basierte der gesellschaftliche Ausschluss aus Kaffeehäusern, anders als in den Kaffeehäusern Europas, nicht auf dem ökonomischen Status der Betreffenden, sondern auf religiösen Vorschriften. »Die muslimische Gesellschaft betrachtete [das Kaffeehaus] als ihre eigene Institution, als einen Ort, an dem die Gegenwart von Nichtmuslimen unnötig und bisweilen sogar anstößig war. Wir müssen ferner davon ausgehen, dass die allgemeine gesellschaftliche Tendenz zur religiösen Trennung auch in den Kaffeehäusern galt.«23 Man sollte sich allerdings vor anachronistischen Annahmen hüten, die zu einem verzerrten Verständnis dieser beiden unterschiedlichen Gesellschaften, der westlichen und der osmanischen, führen würden. Große europäische Städte der Zeit waren ethnisch und religiös homogener als die kosmopolitische Stadt Istanbul in osmanischer Zeit. Im Istanbul des 17. Jahrhunderts gab es keine lebendige, starke bürgerliche Kultur. Überdies folgt »aus der Annahme, dass alle Klassen Kaffeehäuser besuchten, noch nicht unbedingt, dass alle Klassen auch dasselbe Kaffeehaus besuchten«.24 So wurden vom 17. Jahrhundert an im osmanischen Istanbul getrennte Kaffeehäuser für bestimmte Berufsgruppen gegründet. Darüber hinaus widersprechen sich die historischen Quellen in der Frage, ob tatsächlich auch die obersten Ränge der Gesellschaft in die neu eröffneten Kaffeehäuser kamen. In islamischen Gesellschaften war das Kaffeehaus nicht nur ein öffentlicher Ort für weltliche Geschäfte. Auch religiöse Diskurse und eine Rhetorik, wie man sie oft in Moscheen und Sufi-Orden in Gesprächsform (sohbet) pflegte, hielten Einzug in die Kaffeehäuser. So hielten Mullahs Ansprachen und erzählten den Gästen fromme Geschichten. Zudem entfalteten sich dort lebhafte literarische Aktivitäten: »Gesprä19 Ebd., S. 11. 20 Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962 (zuletzt Frankfurt am Main 2003), S. 48. (Engl. The Structural Transformation of the Public Sphere, Cambridge 1992, S. 33.) 21 Hattox: Coffee and Coffeehouses, S. 77. 22 Vgl. Habermas: Strukturwandel, S. 48 (Structural Transformation, S. 32). 23 Hattox: Coffee and Coffeehouses, S. 98. 24 Ebd., S. 94.

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Neue Formen der Geselligkeit: Islamische Cafés in Istanbul | 153 che in den Kaffeehäusern waren nicht nur geistlos und pragmatisch. […] Wie später auch in Europa wurde das Kaffeehaus gewissermaßen zum literarischen Forum. Dichter und Schriftsteller trugen ihre neuesten Texte vor, um sich dem Urteil eines kritischen Publikums zu stellen. In anderen Ecken des Kaffeehauses gab es vielleicht hitzige Diskussionen über Kunst, Wissenschaft oder Literatur.«25 Scherzhaft wurde das Kaffeehaus auch »Schule des Wissens« (mekteb-i irfan) genannt; neben Müßiggängern gehörten Literaten, Beamte, Richter und Professoren zu den Stammgästen der neuen Institution.26 Politische Diskussionen über die Staatspolitik waren ebenfalls Bestandteil der Kaffeehausgespräche. Als »Forum für die öffentliche Erörterung von Nachrichten, Meinungen und Beschwerden über den Staat« besaßen Kaffeehäuser »das Potenzial, politische ›Clubs‹ zu werden, von denen konzertierte Aktionen politisch mit dem Regime Unzufriedener ihren Ausgang nehmen konnten«.27 Das galt ganz besonders für die im 17. Jahrhundert gegründeten Kaffeehäuser der Janitscharen. Diese waren politisierte Treffpunkte, wo politische Diskussionen (devlet sohbeti, »Staatsgespräche«) unverzichtbar waren – als Teil der in den Janitscharen-Corps, die sich aus nichtmuslimische Jungen rekrutierten, üblichen politischen Opposition. Praktisch der gesamte in der Gesellschaft aufgestaute Ärger, verursacht durch Gerüchte über Korruption und schlechte Verwaltung, kam zunächst hier zum Ausdruck. Gelegentlich wurde in den Kaffeehäusern auch die Saat zu Palastaufständen gelegt. Hier traf die isolierte, von strikter militärischer Disziplin geprägte Kultur der Janitscharen auf das Alltagsleben der Stadt. Und weil die Janitscharen-Kaffeehäuser unter der Rubrik devlet sohbeti (»Staatsgespräche«) eher eine Ethik der Rebellion provozierten, wurden sie 1826 ganz verboten. In der Tat wurde »mehr als ein Staatsstreich in einem Kaffeehaus in die Wege geleitet oder zumindest dort geplant«.28 Danach wurde diese Art von Gesprächen in den Kaffeehäusern der »Tulumbacı« (freiwilligen Feuerwehr) geführt.29 Im Westen wurde die Öffentlichkeit durch die kritische Diskussion politischer Themen schließlich zum Gegenspieler des Staates. Sie schien eine Autorität zu besitzen, die selbst der Staat anerkennen musste. Einen Versuch der Öffentlichkeit, sich gegen den Staat zu stellen, gab es zwar auch im Osmanischen Reich, doch hier weigerte sich der Staat, die Autorität der Öffentlichkeit anzuerkennen. Solche Herausforderungen wurden mit diversen Mitteln niedergeschlagen, unter anderem durch gelegentliches Verbot der Kaffeehäuser. D’Ohsson schreibt zum Beispiel die »energischste Komplettschließung der Kaffeehäuser in Istanbul« einer solchen Problemkonstellation zu.30 Das Istanbuler Kaffeehausleben, zu dem nicht nur literarische, religiöse und politische Aktivitäten gehörten, sondern auch Freizeitaktivitäten, Spiele (Schach, Man25 Ebd., S. 101. 26 Vgl. C. van Arendonk: »Kahwa«, in: Encyclopaedia of Islam, 2. Aufl., Leiden 1936, Bd. 2, S. 630-635, hier S. 633. 27 Hattox: Coffee and Coffeehouses, S. 102. 28 Ebd. 29 Vgl. Ekrem Is¸ ın: Istanbul’da Gündelik Hayat, S. 298. 30 Vgl. Hattox: Coffee and Coffeehouses, S. 102.

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154 | Ugur Kömeçoglu cala und Halma), Aufführungen, Geschichtenerzählen, Puppenspiele, Musik und sogar die Einnahme von Drogen, schuf eine lebendige Öffentlichkeitssphäre.31 Denn zu den Ausdrucksformen der Öffentlichkeit und in der Öffentlichkeit gehörte nicht nur der rationale Diskurs. Neuere historische Untersuchungen haben gezeigt, dass verschiedene soziale Gruppen in der Öffentlichkeit oft auf andere Ausdrucksformen zurückgriffen, etwa auf Riten, Satiren, Zeremonien, Karneval. Im osmanischen Istanbul wurden in der Öffentlichkeit der Kaffeehäuser oft karnevaleske Formen gewählt. Die Auftritte der as¸ık (»Wandermusiker«; eine Art Troubadoure, Sänger, Geschichtenerzähler und Verseschmiede), in deren Versen eine bodenständige Lebensphilosophie zum Ausdruck kam und die sich im Volk hoher Achtung erfreuten, sind ein gutes Beispiel für diese Art von öffentlichem Vortrag. Speziell in den Kaffeehäusern verbreiteten die as¸ık ihre kritischen Ansichten zum Handeln der Regierenden vor großem Publikum.32 Das satirische Karagöz-Schattenspiel und Auftritte, bei denen europäische Kleidung und Manieren lächerlich gemacht wurden, waren in Kaffeehäusern populär.33 Harte Kritik am gesellschaftlichen und politischen Leben war ein grundlegender Bestandteil der Karagöz-Aufführungen. Von Zeit zu Zeit wurden solche Aufführungen aus unterschiedlichen Gründen verboten, unter anderem wegen politischer Satiren.34 Die Bedeutung solcher und ähnlicher – von Habermas vernachlässigter – Ausdrucksformen rührt daher, dass sie einen Fundus öffentlicher Ausdrucksweisen anzapfen und auf diese Weise die Öffentlichkeit für unterschiedliche soziale, auch ungebildete Schichten zugänglich halten. Dies steht im Gegensatz zum Habermas’schen Verständnis von Öffentlichkeit, denn dort handelt es sich um eine eher elitäre Sphäre. Aus Habermas’scher Sicht kann jene Öffentlichkeit, die sich vor dem 19. Jahrhundert in den osmanischen Kaffeehäusern entwickelte, jedenfalls nicht als Öffentlichkeit im modernen Sinne bezeichnet werden. Das hängt mit der besonderen Art des Subjekts zusammen, das sich damals mit seinem Sozialstatus und seiner Gruppenzugehörigkeit in die Öffentlichkeit begab: in erster Linie als Mitglied des Janitscharen-Corps, der Feuerwehr, der Berufsgruppen, Gilden usw., und nicht vorrangig als abstraktes Individuum. Ohnehin wird das universalistische Theoretisieren über die Öffentlichkeit von Historikern kritisiert und korrigiert, die gezeigt haben, dass das Konzept der Öffentlichkeit als eines einheitlichen Ganzen unzulänglich bleiben muss, solange die partikularen und Gruppenidentitäten im öffentlichen Raum keine Berücksichtigung finden. Habermas sagt: »Öffentlichkeit als ein eigener, von einer privaten Sphäre geschiedener Bereich lässt sich für die feudale Gesellschaft des hohen Mittelalters soziologisch, nämlich anhand institutioneller Kriterien, nicht nachweisen.«35 Doch die gegen osmanische Kaffeehäuser gerichteten politi31 Vgl. ebd., S. 98-111. 32 Vgl. Ekrem Is¸ ın: »Kahvehaneler«, in: Istanbul Ansiklopedisi, Istanbul 1994, Bd. 4, S. 386392, hier S. 390. 33 Vgl. Hattox: Coffee and Coffeehouses, S. 106. 34 Vgl. Mevlut Özhan: »Karagöz«, in: Istanbul Ansiklopedisi, Istanbul 1994, Bd. 4, S. 448-452, hier S. 449. 35 Habermas: Strukturwandel, S. 19 (Structural Transformation, S. 7).

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Neue Formen der Geselligkeit: Islamische Cafés in Istanbul | 155 schen Reaktionen belegen, dass schon damals in einem von der Privatsphäre getrennten Bereich verschiedene soziale Gruppen zusammenkamen, um eine Kultur der politischen Kritik herauszubilden. Dabei ist zu bedenken, dass die kulturell-ideologische Rechtfertigung der osmanischen Staatstradition sich aus einer islamisierten Version des platonischen Weltbildes herleitete. Demnach war Staatsmacht gleichbedeutend mit der Herrschaft von rechtschaffenen »Wächtern«.36 Dies war die klassische Legitimationsformel des osmanischen Staates, welche die Anerkennung der grundlegenden Dichotomie von Herrschern (askeri) und steuerpflichtigen Beherrschten (reaya) einschließt. Es war von entscheidender Bedeutung zu verhindern, dass die Klasse der reaya Eingang in die Klasse der askeri fand, denn auf die Steuern der reaya war der Staat angewiesen. Jeder musste starr auf seinem Platz im Ganzen gehalten werden. Die osmanischen Kaffeehäuser als Zentren politischer Satire hatten aus der Sicht dieser klassischen Legitimationsformel den vermeintlich homogenen Zusammenhalt der Gesamtgesellschaft gefährdet. Angeblich bekam in diesem System doch jeder das Seine. Der Hauptwiderstand gegen die Institution des Kaffeehauses rührte also nicht aus der Tatsache her, dass der Kaffeegenuss religiös gesehen bid’a (eine verbotene »Neuerung«) war. Bedeutsamer waren vielmehr politische Überlegungen. Die dahinschwindende Stärke der osmanischen Militärmacht und die Wirtschaftskrisen vom 17. Jahrhundert an führten zur Auflösung des platonischen Weltbildes mit seiner grundlegenden Ansicht, dass jeder auf dem ihm zukommenden, angestammten Platz gehalten werden müsse. Die anfängliche Reaktion auf die Desintegration der traditionellen sozioökonomischen Struktur bestand im Beharren darauf, dass die traditionelle Ordnung der Gesellschaftsschichten beibehalten oder wiederhergestellt werden müsse. Jede Formation, die diese Ordnung in Frage stellte, weckte Misstrauen. Der Versuch der reaya, den Lebensstil der askeri nachzuahmen, stieß auf die Ablehnung der Herrschenden, die eifersüchtig darüber wachten, dass ihre Privilegien nicht angetastet wurden. Dass die Grenze zwischen Herrschern und Untertanen immer unschärfer wurde, war für die herrschende Elite Anlass zu ernster Sorge. Man war auf Vorsichtsmaßnahmen gegen die Versuche der reaya bedacht, ihren niedrigen Status zu überwinden, etwa indem sie den Kleidercode der Elite nachahmten oder auf Pferden durch die Straßen ritten (was ein Privileg der askeri war).37 Das Kaffeehaus galt als Zentrum solcher inakzeptablen Kontakte und grenzüberschreitenden Vermischungen. Murad IV. (1623-1640) versuchte mit einer strikt zentralistischen Politik, den traditionellen Absolutismus wiederherzustellen. Darum war er besonders gegen Orte eingestellt, die das Potenzial hatten, Zentren der Opposition zu werden – wie Tavernen und Kaffeehäuser, wo Männer unterschiedlicher Stellung öffentliche Angelegenheiten erörterten und kritisierten.38 Die in den Kaffeehäusern zu beobachtenden neuen Formen der Geselligkeit verwandelten diese 36 Vgl. Levent Köker: »National Identity and State Legitimacy: Contradictions of Turkey’s Democratic Experience«, in: Elisabeth Özdalga/Suna Persson (Hg.), Civil Society, Democracy, and Muslim World, Istanbul 1997, S. 63-72, hier S. 67. 37 Vgl. Saraçgil: »Kahvenin Istanbul’a Giris¸ i«, S. 37, 38. 38 Vgl. ebd.

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156 | Ugur Kömeçoglu Institution in einen Ort, der nicht mehr abseits der Machtkonflikte in der Hauptstadt des Reiches lag. Die Maßnahmen gegen die Kaffeehäuser symbolisieren das Ringen der Zentralautorität um die uneingeschränkte Bewahrung des Absolutismus; man war auf jeden Fall bemüht, die Ausbreitung eines gegen das Regime gerichteten Diskurses zu verhindern.39 Die Teilnehmer an den öffentlichen Aktivitäten im Osmanischen Reich versuchten, wie schon erwähnt, anstatt sich mit ihren traditionellen Statusattributen zufrieden zu geben, ihre staatlich determinierten Positionen zu unterminieren. Dies legt den Schluss nahe, dass die begriffliche Erfassung von Öffentlichkeit »als strukturiertes Umfeld für kulturellen und ideologischen Wettbewerb oder für Verhandlungen zwischen unterschiedlichen Teilöffentlichkeiten mehr Sinn ergibt als [der Begriff von Öffentlichkeit] als einer spontanen und klassenspezifischen Leistung des Bürgertums in irgendeinem hinreichenden Sinne«.40 Erst Mitte des 19. Jahrhunderts finden sich im Osmanischen Reich erste Andeutungen einer modernen Art von öffentlicher Meinung. Moscheen hatten mit den dort gehaltenen Freitagspredigten schon immer die wichtigsten Kommunikationszentren gebildet. Die Diskussionen in den Kaffeehäusern waren eine weitere Form von Öffentlichkeit. Und es war hauptsächlich diese Eigenschaft der Kaffeehäuser als Orte kritischer öffentlicher Diskussionen, die zu ihrer genauen Beobachtung und Überwachung durch die Regierung geführt hatte. Doch erst im Zuge der Errichtung einer unabhängigen Presse Mitte des 19. Jahrhunderts errang die öffentliche Meinung weitreichende Bedeutung. Die Besucher der Kaffeehäuser waren eifrige Zeitungsleser. Eine kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs abgeschlossene Erhebung zeigte, dass 26 Prozent der Kaffeehausbesucher allein zum Zeitungslesen regelmäßig dorthin gingen. Überdies wurden die Zeitungen dort laut vorgelesen, damit auch die Analphabeten unter den Kaffeehausbesuchern etwas davon hatten.41 Das Aufkommen einer intellektuell anspruchsvollen Presse korrespondierte mit der Gründung einer neuen Art von Kaffeehaus, des kıraathane (»Lesehaus«), wo zahlreiche Bücher, Zeitungen und Broschüren auslagen. Lesestoff hatte es zwar in bestimmten Kaffeehäusern auch schon vor den Reformen im westlichen Geiste (»Tanzimat«, 1839-1876) gegeben, aber die kıraathane leiteten ihre Daseinsberechtigung so sehr aus den dort stattfindenden literarischen Aktivitäten her, dass zum Beispiel das Erdgeschoss des 1857 eröffneten kıraathane »Sarafim Efendi« als Druckerei genutzt wurde. Neben den kıraathane wurden auch eher akademische Salons gegründet. »Einer der ersten ernsthaften Kontakte zwischen der osmanischen und der westlichen Geisteswelt auf Nichtregierungsebene wurde in einem solchen Salon etabliert: die so genannte Bes¸ iktas¸ Cemiyet-i Ilmiyesi [«Wissenschaftliche Gesellschaft von Bes¸ iktas¸ »]. Diese Gesellschaft befasste sich in ihren Sitzungen mit Mathematik, Astronomie, Literatur und Philosophie.«42 Anlass für die Einrichtung eines weiteren Lesesalons in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts durch die Cemiyyeti Ilmiyye-i Osmaniye (»Osmanische Wissenschaftliche Gesellschaft«) unter Münif Pas¸ a, dem späteren Vgl. ebd., S. 39, 40. Vgl. Geoff Eley: »Nations, Publics, and Political Cultures«, S. 306. Vgl. François Georgeon: »Osmanlı Imparatorlugu’nun Son Döneminde«, S. 71. S¸ erif Mardin: The Genesis of Young Ottoman Thought, Princeton, NJ 1962, S. 229. ^

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Neue Formen der Geselligkeit: Islamische Cafés in Istanbul | 157 Erziehungsminister, waren das unzureichende Schulbildungsangebot und hohen Buch- und Zeitungspreise. In diesem Salon lagen mehr als dreißig Zeitungen in verschiedenen Sprachen aus: Türkisch, Französisch, Griechisch, Englisch, Armenisch, und so weiter. Es wurden auch englische und französische Sprachkurse angeboten.43 Die Gesellschaft publizierte drei Jahre lang auch eine wissenschaftliche Zeitschrift: Mecmua-i Fünun. In den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gab es immer mehr Kaffeehäuser mit intellektuellem Leben. Hitzige Debatten über literarische und künstlerische Themen machten einen wesentlichen Teil der Kaffeehausgespräche aus. Darum war der von Ebuzziya Tevfik angestellte Vergleich des Kaffeehauses im Hof der Mahmud-Pas¸ a-Moschee mit dem »Procope« in Paris durchaus nicht unangemessen. Denn wie François Georgeon zu Recht feststellt, war dieses Kaffeehaus in Wahrheit ein »Akademiker-Club«.44 Neben den Kasernen waren Kaffeehäuser der Ort, wo die geistige Saat der Jungtürken-Revolution von 1908 gelegt wurde. Auch die nach ihrem Versuch einer Gegenrevolution (am 13. April 1909) aus der Armee entlassenen Offiziere benutzten Kaffeehäuser als Treffpunkte und Kommunikationszentren. Im »Fevziye Kıraathane«, dem beliebtesten »Lesehaus« der Zeit, organisierten sie Konferenzen. Dort wurde auch der erste Film in ganz Istanbul gezeigt.45 Während des nationalen Befreiungskampfes von Mustafa Kemal (1918-1922) dienten bestimmte Kaffeehäuser als Verbindungsglieder zwischen Anatolien und Istanbul. Denn hier war es möglich, Informationen über die Vorgänge in Anatolien zu bekommen sowie die in Ankara verbotenen Zeitungen zu lesen. Einige Kaffeehäuser dienten auch als Kommunikationszentren für verbannte Nationalisten, ja sogar als Munitionslager für Munitionssendungen nach Anatolien.46 Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Bedeutung der Kaffeehäuser als öffentliche Orte durch das Hervortreten verschiedener neuer Örtlichkeiten gemindert, die weitgehend westlichen Vorbildern folgten: Kinos, Theater, Opernhäuser, Ballsäle und Konditoreien dienten als die neuen öffentlichen Räume in Istanbul. Das traditionelle Kaffeehaus dagegen konnte sich im Zuge der »westlichen« Reformen im 19. und 20. Jahrhundert nicht erneuern und halten. Offenkundig vermochten die traditionellen Kaffeehäuser jeglicher Couleur mit den modernen Ansprüchen nicht mehr mitzuhalten. Kahvehanes wurden allmählich zu stagnierenden, schmutzigen Kaschemmen, in denen arbeitslose, ungebildete und vor allem pensionierte Männer herumhingen und Karten oder Halma spielten, um die Zeit totzuschlagen. Damit ging die Attraktivität der Kaffeehäuser für die gebildeten Mittelschichten der republikanischen Zeit verloren. Kaffeehäuser wurden nun in fast allen provisorischen Siedlungen (gecekondu) Istanbuls gegründet, meistens für die Migranten aus einer bestimmten Region. In solchen Kaffeehäusern werden alte dörfliche Netzwerke aus der Heimat aufrecht^

43 Vgl. Georgeon: »Osmanlı Imparatorlugu’nun Son Döneminde«, S. 72. 44 Ebd., S. 73. 45 Vgl. ebd. Das erste Istanbuler Lichtspielhaus, das »Milli Sinema« (Nationalkino), wurde an derselben Stelle gegründet. 46 Vgl. ebd., S. 77.

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158 | Ugur Kömeçoglu erhalten oder neue gegründet. Doch dies hat die negativen Konnotationen des Begriffes kahvehane verstärkt; »Kaffeehäuser« sind für moderne, gebildete Stadtbewohner nur noch Orte der Provinzialität, Rückständigkeit und Geschmacklosigkeit. Wer in solche Kaffeehäuser geht, gilt als vulgär, faul und dumm. Andererseits sollte nicht vergessen werden, dass kahvehanes besonders in provisorischen Stadtvierteln als »Gemeindehaus« fungieren, als zentraler Treffpunkt und als Kommunikationszentrum, wo gemeinsam interessierende Dinge erörtert und auf informellem Wege Entscheidungen getroffen werden.47 Kahvehanes waren die am häufigsten genutzten Orte, wenn es darauf ankam, Herz und Verstand der Leute zu gewinnen. Das galt und gilt für Politiker ebenso wie für die Sprecher religiöser Gemeinschaften. Letztere betrieben hier Propaganda und rekrutierten neue Mitglieder – so auch die Fethullah Gülen Cemaat, eine in der Türkei einflussreiche Nur-Gemeinschaft (siehe den Beitrag von Hakan Yavuz im vorliegenden Band). Die Werbeaktion der Gülen-Nurcus in anatolischen Städten in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts richtete sich in erster Linie an die Besucher von Kaffeehäusern. Dort konnte man in den Kleinstädten auf dem Lande Zugang zu den Leuten aus der Unterschicht gewinnen. Lange Sitzungen, in denen die Vertreter dieser Religionsgemeinschaft über die Grundlagen ihres Glaubens referierten, führten zum Aufbau enger Beziehungen mit einfachen Leuten und zu dauerhaften Bindungen. Die an solchen öffentlichen Orten entstandenen Bindungen führten dazu, dass sich viele kleine Handwerker samt Anhang der Gülen-Bewegung anschlossen. In den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts war in Istanbul eine geradezu explosionsartige Ausbreitung von Cafés im europäischen Stil zu verzeichnen, die besonders in den verwestlichten Bevölkerungsschichten der Stadt in Mode kamen. Da überrascht es kaum, dass sich keines dieser Cafés als kahvehane bezeichnete. Genauso wenig dürfte es überraschen, dass die Kahvehanes trotzdem weiter bestanden. Dort trafen sich weiterhin nur Männer, während in den modernen Cafés die Angehörigen beider Geschlechter ein und ausgingen. In Kahvehanes bekommt man Tee und türkischen Kaffee serviert, in Cafés auch kleine Gerichte und alkoholische Getränke. Was man indes in den meisten dieser westlichen Cafés nicht bekommen kann, ist türkischer Kaffee – ebenjener Trank, dessentwegen Kaffeehäuser überhaupt existierten. Türkischer Kaffee gehört nicht zum Habitus moderner Cafés, stattdessen trinkt man dort lieber Filterkaffee im westlichen Stil. Letzterer steht in der Türkei schon lange für einen westlichen Lebensstil. Mit ihrer aufwändigen Dekoration stehen Cafés in direktem Kontrast zur Schlichtheit altmodischer Kaffeehäuser. Und anders als Kahvehanes gehören Cafés zum »kulturellen Kapital« der gebildeten Mittelschichten: Cafés haben einen Statuswert, sie signalisieren einen westlichen Lebensstil. Darum können sie von ihren Besuchern auch höhere Preise verlangen als traditionelle Kaffeehäuser. Cafés und Kaffeehäuser stehen inzwischen für völlig andere, sogar gegensätzliche Lebensstile. Zwischen Kahvehanes gibt es in puncto Zusammensetzung ihrer Kundschaft, Gesprächsatmosphäre und Diskussionsthemen keine großen Unter47 Vgl. Kemal H. Karpat: The Gecekondu, Rural Migration and Urbanization, Cambridge 1976, S. 132.

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Neue Formen der Geselligkeit: Islamische Cafés in Istanbul | 159 schiede. Alles ist auf die Unterschichten ausgerichtet. In manchen Kahvehanes pflegt man auch das Glücksspiel. Meistens liegen zwei oder drei Massenblätter aus. Die Besucher ereifern sich über Fußball, Tagesprobleme, und manchmal sehen sie auch fern. Im Vergleich zu den hitzigen politischen Debatten vergangener Jahrzehnte wirken die Gesprächsthemen seit 1980 fast frivol: Die kritische Aktivität politischer Debatten ist apolitischer Geselligkeit gewichen. Seit der Einführung des Mehrparteiensystems im Jahre 1946, und besonders im überpolitisierten und stark polarisierten politischen Umfeld der siebziger Jahre, waren die Kaffeehäuser Orte, die die jeweiligen Spaltungen der Gesellschaft zwischen Rechts und Links reflektierten. Damals hatte jede politische Gruppierung ihr eigenes Kaffeehaus. Das Aufkommen der Cafés dagegen entspricht dem weniger politisierten, dafür aber kultivierteren und stärker ästhetisierten Milieu der neunziger Jahre. Auf ähnliche Weise lassen sich in den Kaffeehäusern auch die Spuren jener sozialen Veränderungen nachzeichnen, die sich in den Türkei bezüglich des Islamismus ergeben haben.

Islamische Cafés In den Anfangsjahren des Islamismus standen für muslimische Akteure interne repressive Regelungen im Vordergrund, Prinzipien wie gamâ‘a (Gemeinschaft) und umma (Gemeinschaft aller Muslime) sowie politische Aktionen durch eine islamische Partei. Zugunsten der Gemeinschaft, insbesondere zugunsten des Ideals einer homogenen öffentlichen Ordnung, hatte das Subjekt sich der Idee eines islamischen Kollektivs unterzuordnen. Inzwischen führt die Entstehung einer islamischen Öffentlichkeit jedoch zu sehr komplexen Konkurrenzbeziehungen – einerseits zur westlichen Moderne, andererseits zur kollektiven Repräsentanz des Islam. Der Islamismus hat sich seinen Weg in die Öffentlichkeit gebahnt. Das gilt für seine Produkte – Kulturkritik in Form von islamischen Romanen, Zeitschriften, Filmen, Musik und Zeitungen – ebenso wie für seine alternativen Konsumstrategien (islamische Kleidung und islamische Modenschauen) und für die Islamisierung urbaner Lebensstile – etwa bei der Bevorzugung von Restaurants und Hotels, die islamische Regeln respektieren (Alkoholverbot, Beachtung der Gebetszeiten).48 Um die gespannte Beziehung zwischen islamischer Gemeinschaft und Individualität zu verdeutlichen, konzentriere ich mich hier auf das islamische Raumkonzept von Öffentlichkeit in zwei kleineren Istanbuler Cafés, die sich um Gäste aus der Literaten- und Intellektuellenszene bemühen. Dort wird versucht, eine Öffentlichkeit zu gestalten, in der die Subjektivität ihren Platz und ihren Ursprung hat. Laut Nilüfer Göle lässt der Islam, »wenn er sich in die Öffentlichkeit begibt, neue muslimische Subjektivitäten entstehen, die ihrerseits das islamistische Ideal einer homogenen öffentlichen Ordnung in Frage stellen, einer Ordnung, die durch das Gemeinschaftsbewusstsein (conscience communautaire) legitimiert ist«.49 Die ^

48 Vgl. Nilüfer Göle: »The Gendered Nature of the Public Sphere«, in: Public Culture 10:1 (1997), S. 61-81, hier S. 75. 49 Ebd., S. 74.

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160 | Ugur Kömeçoglu Komplexität dieser Beziehung wird verständlich, wenn man die interne Dynamik der genannten Istanbuler Cafés analysiert. Da ist zum einen das Kız-Kulesi-Kulturzentrum in einem dreistöckigen Gebäude im Istanbuler Stadtteil Üsküdar. Der »Leanderturm« (Kız Kulesi) gehört zu den beherrschenden Wahrzeichen Istanbuls; es handelt sich um einen byzantinischen Turm aus dem 12. Jahrhundert, der vor der Küste am Bosporus mitten im Meer auf einem natürlichen Felsen erbaut wurde. Neben den historischen Moscheen ist Üsküdar mit seinen eher konservativen Bewohnern ein stark islamisch geprägter Bezirk. Der Besitzer und Manager dieses Kulturzentrums ist ein islamischer Unternehmer männlichen Geschlechts. Er besitzt einen islamischen Verlag, Kaknüs, der außer einer sanft anarchischen Literaturzeitschrift, Est & Non, auch Bücher islamischer Autoren (Dichter, Romanschriftsteller, Intellektuelle und Akademiker) veröffentlicht. Im Eingangsbereich des Zentrums trifft man auf Poster einiger europäischer und amerikanischer Arthousefilme sowie auf Bilder alter osmanischer Kaffeehäuser. Im ersten Stock des Gebäudes liegt eine Buchhandlung, die nicht nur die Publikationen des Kaknüs Verlages anbietet, sondern auch die Bücher anderer islamischer Verlage. Der dritte Stock des Gebäudes ist für kulturelle Aktivitäten reserviert: Musikunterricht, Fotokurse, Vorträge und Seminare, Soziologiekurse, Filmkurse, literarische Lesungen, und so weiter. Ebenfalls im dritten Stock befindet sich das Büro einer Bildungsagentur, die demselben Unternehmer gehört: Babil Education Services. Diese Firma bietet Fernkurse einer amerikanischen High School (Oak Meadow) an, die ausschließlich von verschleierten Oberschülerinnen belegt werden. Öffentliche Schulen in der Türkei dürfen diese Mädchen nicht besuchen, weil dort das Schleiertragen verboten ist. Im zweiten Stock schließlich liegt ein Café, das den Namen des Verlags trägt. Das Kaknüs Café ist der interessanteste und lebendigste Teil des Kulturzentrums. Man gibt sich bewusst Mühe, eine authentische Atmosphäre zu schaffen: ein kleiner, mit Feuerholz dekorierter Kamin, Sofas in Verbindung mit modernen Möbeln, Bilder von alten osmanischen Kaffeehäusern an den Wänden. Über die Aktivitäten, die hier stattfinden, sagt der Besitzer: »Es hat Zeiten gegeben, da wurde im Café Live-Musik auf der Gitarre gespielt: von der modernen Interpretation türkischer Volksmusik bis zu den langsamen Titeln aus der westlichen Musik. […] Das war Musik, die jeder mit einem bestimmten intellektuellen Geschmacksniveau gerne mochte. Gegenwärtig gehören zu unseren wöchentlichen Aktivitäten tefsir-Kurse [KoranInterpretation] und die Einladung an Gastredner, die mit den Zuhörern bestimmte Themen diskutieren. Solche Kurse werden von Leuten aus allen Lebensbereichen besucht: von Zufallsgästen, unseren Stammgästen, alten Bekannten, Leuten, die auf Empfehlung herkommen, Oberschulabsolventen, Universitätsabsolventen, Theologieprofessoren, Lehrern an imam-hatip-Schulen [Ausbildungsstätten für islamische Vorbeter und Prediger], Kaufleuten, und so weiter. Gelegentlich kommen 30 bis 35 Leute zu den Vorträgen.«

Das zweite Café, das Gegenstand der Untersuchung ist, ist das Istanbul Kulturzentrum im Stadtteil Cagaloglu in der Altstadt. Es handelt sich um einen intellektuell ^

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Neue Formen der Geselligkeit: Islamische Cafés in Istanbul | 161 faszinierenden Standort inmitten vieler Verlage und in der Nähe der Istanbuler Universität. Das vom Türkischen Schriftstellerverband betriebene Kulturzentrum ist für gebildete Muslime also leicht zu erreichen. Dieser Verband wurde von islamischen und gemäßigt nationalistischen Autoren gegründet. Das Gebäude ist eine alte osmanische medrese, ein theologisches Seminar aus dem 16. Jahrhundert, das, nach seinem Stifter Hacı Mehmet Aga benannt, ursprünglich »Kızlaragası Mehmet Efendi Medresesi« hieß. Das heruntergekommene Gebäude war vom Stadtrat, in dem die islamische Tugendpartei (FP) die Mehrheit hatte, und vom Türkischen Schriftstellerverband restauriert worden. Es handelt sich um ein großes, geräumiges Gebäude, das sich über den kunstvollen Säulen der osmanischen Architektur erhebt. Mit seinem von Säulen umrahmten Hof und seinem osmanischen Architekturstil bietet das Kulturzentrum des Schriftstellerverbandes eine authentischere Atmosphäre als das Kaknüs Café. Der Raum dient in erster Linie als Café, ist zugleich aber auch die Verbandszentrale. Kleinere Räume umgeben den zentralen Raum des Cafés. Einer dieser Räume nennt sich »Haus der Dichtung«. Es handelt sich dabei um eine kleine Bibliothek, in der man die Werke der klassischen und zeitgenössischen türkischen Dichter in ruhiger Atmosphäre lesen kann. In dem Raum stehen anstelle von Stühlen kleine Diwane (sing. sedir). Man kann diese Bücher bei einer verschleierten Mitarbeiterin auch kaufen. Ein anderer Raum, ebenfalls mit Diwanen bestückt, ist die Miniaturreproduktion eines osmanischen Kaffeehauses. Dorthin ziehen sich vor allem die älteren Intellektuellen unter den Cafébesuchern zurück. Auf dem Tisch einer Gruppe von Gästen liegen Bücher von Edgar Allen Poe. Ein weiterer Raum, der sich zum Café hin öffnet, wird als Seminarraum bezeichnet. Der Zentralraum des Cafés lässt sich leicht in einen Konferenzraum verwandeln. Als ich das Café besuchte, hingen dort Plakate für ein Symposium über Baki, einen der klassischen osmanischen Dichter. So ist das Umfeld des Caféraums mit Hinweisen auf kulturelle Aktivitäten geradezu gespickt. Der gebildete Teil der islamischen Jugend gehört zu den Stammgästen dieses Cafés. Dort kann man zahllose Akteure von unterschiedlich starkem islamischen Selbstverständnis treffen: Universitätsstudenten, Kulturtätige wie Intellektuelle, Dichter und Schriftsteller, kurz: die islamische Geisteselite. Selbstverständlich wird in diesen Cafés kein Alkohol ausgeschenkt. In beiden Einrichtungen, im Kaknüs Café und im Café des Türkischen Schriftstellerverbandes, spürt man den, wenngleich unbewussten Versuch, das alte osmanische Kaffeehaus mit seinen kulturellen und literarischen Aktivitäten in etwas abgewandelter Form für die heutige Zeit wiederzubeleben. Man versucht, dem kulturellen Gedächtnis dadurch neues Leben einzuhauchen, dass man in Anlehnung an klassische Raumkonzepte Räume konstruiert, in denen eine engagierte Öffentlichkeit sich entfalten kann. Zweifellos sind diese Orte ein Produkt der kulturellen Revitalisierung des Islam, die seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts immer stärker in Schwung kommt. Gleichwohl bezeichnen in Zeiten, in denen westlich orientierte Cafés weite Verbreitung gefunden haben, islamische Akteure, wenn sie ein Kaffeehaus gründen, dieses lieber nicht als kahvehane, um die heutzutage negativen Konnotationen dieses Begriffs zu vermeiden. Der Besitzer des Kaknüs Cafés bringt sein entsprechendes Zögern bei der Namengebung wie folgt zum Ausdruck: ^

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162 | Ugur Kömeçoglu »Die Verwendung des Begriffes ›Café‹ schien mir eine Kapitulation vor der anderen Seite zu sein. Trotzdem war es genau dieser Begriff, der der Gesellschaft am besten verdeutlichte, was ich erreichen wollte: Modernes wie Traditionelles. […] Das läuft auf ›Café‹ hinaus […] Diese Bezeichnung ist für unsere Zwecke besser geeignet. ›Kahvehane‹, ›Kıraathane‹ – das klingt vielleicht besser, ich finde solche Bezeichnungen passender, befriedigender, buchstäblich richtiger. Doch was praktisch herauskäme, wenn man diese Namen verwenden würde, macht mir große Sorgen. Weil sie Degeneration suggerieren, wirkt jede Verwendung dieser Begriffe auf viele Menschen abstoßend.«

Solange der Westen die Bedeutung der Moderne vorgab und im globalen Maßstab die vorwärts drängenden Kräfte entfesselte, bestand das von Eliten betriebene türkische Zivilisationsprojekt darin, Kultur und Gesellschaft nach westlichem Vorbild umzuformen, so Nilüfer Göle. Gesellschaften, die beim Hervorbringen sozialer Innovationen schwach waren, verließen sich also auf die Impulse der westlichen Moderne. Göles Begriff der »schwachen Historizität« gilt Gesellschaften »mit der geringen Fähigkeit, die Moderne als gesellschaftliche ›Selbstproduktion‹ zu gestalten, als eigenständige Entwicklung, die auf der Interaktion zwischen kulturellen Geweben und sozialen Handlungsweisen beruht«.50 Das Kaknüs Café bietet ein Beispiel: Der Besitzer ist sich durchaus bewusst, dass es in muslimischen Gesellschaften eine starke Kaffeehaustradition gegeben hat und dass die Begriffe kahvehane und kıraathane zu seinem sozialen Projekt eigentlich besser passen würden. Weil jedoch diese Tradition im modernen Istanbul nicht fortgeführt worden war und weil aus kahvehanes in den Augen normaler Stadtbewohner Orte der Stagnation geworden sind, vermarktet er sein Projekt lieber als »Café«. Er ist zwar Islamist, aber auch Unternehmer, der sich am Markt behaupten muss, um zu überleben. Also bezeichnet er, weil dieser Begriff für einen kultivierteren und urbaneren Lebensstil steht, seinen Ort als »Café«. Obwohl er versucht, die europäische Café-Tradition durch bestimmte Verhaltensrestriktionen zu untergraben (so sollen hier zum Beispiel Angehörige beider Geschlechter nicht miteinander flirten) und obwohl er diese Tradition durch die islamische Moral ersetzt und in seinen Räumen tefsir-Kurse anbietet (dazu im Folgenden mehr), zieht er den europäischen Namen »Café« vor. So widerstreiten in diesem Café-Besitzer, der versucht, seine kommerziellen Ziele mit seinem traditionellen Anliegen in Einklang zu bringen, das lokale islamische Bewusstsein und der Unternehmergeist. Wenn ein islamisierter Ort »Café« und nicht »Kaffeehaus« heißt, so zeigen sich darin nicht zuletzt die Probleme einer schwachen Historizität – und sei es nur im Sprachgebrauch. Als der Verfasser an einem Abend im Fastenmonat Ramadan das Café des Schriftstellerverbandes besuchte, war es dort ziemlich voll. Einige verschleierte Mädchen spielten Schach. Hier wurde die für den traditionellen islamischen Lebensstil typische Geschlechtertrennung nicht eingehalten. Im »Haus der Dichtung« schwatzten Jugendliche rauchend mit der Aufsicht. Die Mädchen in dieser Gruppe waren 50 Vgl. Nilüfer Göle: Republik und Schleier: Die muslimische Frau in der modernen Türkei, Berlin 1995, S. 23. (Engl. The Forbidden Modern: Civilization and Veiling, Ann Arbor, MI 1996, S. 28.)

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Neue Formen der Geselligkeit: Islamische Cafés in Istanbul | 163 alle verschleiert. Während bei Musliminnen der Schleier einen islamischen Lebensstil signalisiert und die Verschleierten von den Nichtverschleierten abgrenzt, ist dies bei männlichen Muslimen anders. Das Erscheinungsbild eines jungen Mannes in dieser Gruppe, der für eine islamische Zeitung arbeitet, verrät beispielsweise nichts über seine islamische Identität. Mit seinem langen, zum Pferdeschwanz zusammengebundenen Haar, seinen schwarzen Jeans, Pullover und Springerstiefeln würde er außerhalb dieses Cafés ohne weiteres als Rocker oder linker Universitätsstudent durchgehen. Von einem traditionell und schlampig gekleideten, politisierten islamistischen Studenten, der frisch vom Land in die Stadt gekommen ist, hebt er sich schon durch sein äußeres Erscheinungsbild ab – wie das Café bereits durch seinen Namen vom traditionellen kahvehane.

Maskierbare Andersartigkeit Wenn Frauen in einem islamischen Café verschleiert sind, ist das ein unmissverständlicher Hinweis auf eine »nicht maskierbare Andersartigkeit«.51 Denn in der Verschleierung der Frauen zeigt sich das körperliche Erscheinungsbild des Islam. Wenn Männer dagegen nicht gerade einen nach muslimischer Tradition geschnittenen Bart tragen, kann man, wenn sie an solchen Orten verkehren, vielleicht von einer »maskierbaren Andersartigkeit« sprechen. Gleiches gilt auch für nicht verschleierte Mädchen, die ein islamisches Leben führen und islamische Cafés besuchen – obgleich deren Zahl gering ist. Wie Lyn Lofland gezeigt hat, benutzt der moderne Stadtbewohner im Gegensatz zu seinem vorindustriellen Gegenstück als Definitionskriterien, um Menschen aus seiner Umgebung einzuordnen, eher Begegnungsoder Standorte als das äußere Erscheinungsbild der Betreffenden. Während in vorindustrieller Zeit der städtische Raum chaotisch, das äußere Erscheinungsbild der Menschen jedoch geordnet war, trifft in der modernen Stadt das Gegenteil zu: Das äußere Erscheinungsbild der Menschen ist chaotisch, der Raum indes geordnet: »In der vorindustriellen Stadt war der Mensch, was er trug. In der modernen Stadt ist der Mensch, wo er sich aufhält.«52 So konnte man zum Beispiel im Café des Schriftstellerverbandes die islamische Identität des jungen Mannes mit den langen schwarzen Haaren leichter erkennen, weil die Begegnung in einem islamisierten Raum stattfand. Der Raum machte seine Identität sichtbar, nicht sein Outfit oder seine Kleidung. Auf ähnliche Weise wird auch die islamische Identität einiger unverschleierter Mädchen nur an speziellen Orten wie dem Kaknüs Café erkennbar. Für Lofland ist als Homosexueller identifizierbar, wer »in einer Schwulenbar verkehrt, und nicht unbedingt ein Mann, der ein rosafarbenes Rüschenhemd trägt«.53 Laut Erving Goffman verleihen Uniformen mit ihrer Fähigkeit, eine Identität zu vermitteln, ihren Trägern oft den Status von Nichtpersonen.54 Lofland sieht ein gu51 Vgl. Lyn H. Lofland: A World of Strangers: Order and Action in Urban Public Space, New York 1973; Ausg. Prospect Heights, IL 1985, S. 86. 52 Ebd., S. 82 53 Ebd.

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164 | Ugur Kömeçoglu tes Beispiel für die Richtigkeit dieser These in der häufigen Klage von Nonnen im Habit, dass ihnen niemand je ins Gesicht sehe. In ähnlicher Weise werden auch islamische Frauen mit ihren langen Mänteln und Schleiern auf den Status von Nichtpersonen reduziert, weil der weltlich Orientierte sie nur nach ihrem äußeren Erscheinungsbild beurteilt. Wer mit diesem Status nicht zufrieden ist und in der Türkei beispielsweise seine Schulbildung oder sein Studium fortsetzen möchte, muss entweder den Schleier abnehmen oder eine Perücke tragen, wenn der Kopf bedeckt sein soll. Auch einige männliche Muslime, insbesondere Anhänger einer tarikat (Sufi-Orden) und von islamistischen Gemeinschaften, weisen, indem sie direkten Blickkontakt oder eine engere persönliche Kommunikation vermeiden, verschleierten Frauen den Status von Nichtpersonen zu. Man kann hier sogar von einer doppelten Stigmatisierung verschleierter Musliminnen sprechen, wobei die eine auf der laizistischen Ideologie basiert, die andere auf der mit islamischer Moral verbundenen Geschlechterdiskriminierung. Wenn Studentinnen, die verschleiert keinen Zugang zu Universitäten hätten (weil diese als Teil des offiziellen öffentlichen Raumes gelten), stattdessen Perücken tragen, so ist auch dies ein Beispiel für maskierte Andersartigkeit in der Öffentlichkeit – wobei die Maskierung in diesem Fall gezwungenermaßen erfolgt. Dasselbe gilt für bärtige islamische Studenten, die sich in der Türkei rasieren müssen, um Zugang zu öffentlichen Bildungseinrichtungen zu erhalten. In solchen Fällen ist der Raum geordnet und sind auch die äußeren Erscheinungsformen scheinbar geordnet. Tatsächlich sind und bleiben sie jedoch chaotisch.

Islamische Moral Weil in den Räumen des Kaknüs Cafés keine Geschlechtertrennung herrscht, entwickelt dessen Besitzer eine neue Definition islamischer Moral, die Männern und Frauen die Möglichkeit gemeinsamen öffentlichen Beisammenseins in geschlossenen Räumen eröffnet. Er bezieht sich in seiner Argumentation auf innere Disziplin und Tugend anstelle äußerer, räumlicher Trennungsarrangements. Die folgenden Erklärungen des Café-Betreibers ermöglichen eine islamische Raumgestaltung in multifunktionalen Räumen, einschließlich der Gelegenheit zu unkomplizierten Begegnungen zwischen islamischen Männern und Frauen in intellektuellen und religiösen Diskussionsgruppen und Lesekreisen: »Man muss auch andere Dimensionen beachten: Aufrichtigkeit, innere Überzeugung, Glaube, Gewissen. […] Es ist wichtig, dass die Einzelnen selbst über ihre Handlungen entscheiden, aber ich meine, dass diejenigen, die in diesem Punkt empfindlich sind, auch das Recht haben, die Café-Umgebung zu meiden. Ich spreche da ganz besonders von den Damen. Ich behaupte ja gar nicht, dass Caféräume immer gesunde Umgebungen sind. Ich respektiere Menschen, die da gewisse Vorbehalte haben. Aber bei uns gibt es keine strikte Geschlechtertrennung. Unser Café heißt alle willkommen, denen das Beisammensein von Mann und Frau keine Probleme bereitet.« 54 Vgl. ebd., S. 86.

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Neue Formen der Geselligkeit: Islamische Cafés in Istanbul | 165 So wird also das stärkste Element einer islamischen Öffentlichkeit, die Politik der Geschlechtertrennung, zunehmend in Frage gestellt – und damit auch die traditionellen Formen der Sichtbarkeit von Frauen in geschlossenen öffentlichen Räumen. Körper, Gefühle und Sexualität der Frauen werden zwar auch weiterhin kontrolliert, doch jetzt interessanterweise im Rahmen eines cartesianischen Diskurses mit seiner Dichotomie von Geist und Körper bei der Kontrolle von sinnlichen und emotionalen Trieben zwischen den Geschlechtern – also: Kontrolle durch innere Überzeugung (ursprünglich eine moderne Denkweise) statt, wie sonst im Islam üblich, durch äußerlich-räumliche Trennung. Allerdings reichen innere Überzeugungen allein nicht aus, damit islamische Akteure ihre islamische Moral bewahren können; denn zwischen Individuationsstrategien, Definitionen des Selbst und der islamischen Moral herrscht eine inhärente Spannung. Und die »Frauenfrage« unterliegt definitiv dieser Spannung und der sich daraus entfaltenden Dynamik. Die verbotenen Grenzen im öffentlichen Raum werden im Islam traditionellerweise durch die Abschottung des weiblichen Körpers gezogen. Wenn Frauen nun jedoch neue städtische Räume wie die Cafés besuchen, bringen sie dadurch – unabhängig von ihren Absichten und Wünschen – einen störenden Prozess in Gang.55 Wie noch zu zeigen sein wird, gefährden unkontrollierte Begegnungen und die physische Nähe von muslimischen Männern und Frauen im Kaknüs Café den idealen öffentlichen Raum. Der Besitzer, der flüchtige Flirts und vorübergehende Intimität, die nicht auf eine ernsthafte Beziehung oder eine Ehe hinauslaufen, als prekär und sinnlos ansieht, betrachtet solche Annäherungen als verboten. Körperliche Begierden sind der Selbstdisziplin zu unterwerfen: »Bestimmte Verhaltensweisen, wie Liebkosungen und Küsse in der Öffentlichkeit, können auf andere störend und anstößig wirken. Das Mindeste, was geschieht, ist, dass die Triebe der in der Nähe Sitzenden stimuliert werden. Sie werden dich dann ständig anstarren. Solches Verhalten ist unangemessen. Gelegentlich müssen wir unsere Besucher in dieser Hinsicht verwarnen. Diese Art Verhalten sollte an öffentlichen Orten nicht stattfinden. Ich bin gegen unsensibles Benehmen in der Öffentlichkeit. Wenn ich wüsste, dass diese Leute sich wirklich lieben [und heiraten werden, UK] und dass sie da sitzen und herumturteln, weil sie das nirgendwo anders können, dann würde ich ihnen ohne Hintergedanken die Schlüssel zu meiner eigenen Wohnung geben. […] Aber was sie leben [eine voreheliche Affäre, UK], bedeutet nichts. Wenn wir in diesem Punkt nachlässig werden und alles erlauben, können wir von unseren Gästen zu Recht kritisiert werden.«

Auf den Einwand, solches Verhalten unter jungen Leuten sei doch an öffentlichen Orten wie Cafés durchaus zu erwarten, erwiderte der Besitzer des Kaknüs Cafés: »Eines der Ziele bei unseren Gesprächskreisen (sohbet) und Koran-Interpretationskursen (tefsir) ist doch die Schaffung von Begegnungsmöglichkeiten für Singles. Es gibt viele unverheiratete Leute. Und die müssen sich doch irgendwo und irgendwie treffen.« Nach Ansicht des Besitzers bieten die Kurse Singles die Gelegenheit, sich in einer Umgebung kennen zu lernen, in der ihre Aufmerksamkeit auf ein gemeinsam 55 Vgl. Nilüfer Göle: »The Gendered Nature«, S. 75.

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166 | Ugur Kömeçoglu interessierendes Thema gerichtet ist: »Im Café-Umfeld ist Verführung durch Blickkontakt das eine, aber das andere ist doch, dass sie kommen und sich durch Gedankenaustausch kennen lernen. Das ist ein völlig anderes Mittel zum Aufbau von Beziehungen, viel bedeutsamer, viel gesünder. […][Die Beziehung] rührt aus Gefühlen und Gedanken her, die sich beim gemeinsamen Kennenlernen entwickeln.« Und er fügte noch hinzu, dass seiner Meinung nach »Verführungsversuche durch Augenflirts in Cafés wirklich plump« seien. Definitionen von Moral ändern sich wie die dazugehörigen Definitionen des Selbst. Die zentrale Bedeutung der islamischen Moral wird nicht durch Geschlechtertrennung bewahrt, sondern durch die Schaffung einer Aura von Feierlichkeit und kollektiver Selbstkontrolle – wie im Falle der Gesprächskreise (sohbet). Je mehr islamische Frauen in diesen Cafés ins Blickfeld der Öffentlichkeit rücken, desto mehr Diskrepanzen zu den moralischen Interpretationen ergeben sich für sie: »Da gibt es verschleierte Mädchen, die in den Koran-Interpretationskursen (tefsir) rauchen. Obwohl mir das gegen den Strich geht, greife ich nicht ein. Sie rauchen und nippen an ihrem Café, während sie dem Hodscha zuhören. Das sind schlechte Manieren. Aber das sind eben die gravierenden Probleme der islamischen Generation der neunziger Jahre. Ich finde das seltsam. Warum? Weil ich mich selbst als Angehörigen der Generation der achtziger Jahre definiere. Wir als Generation der achtziger Jahre haben uns im Hinblick auf die weltlichen Vergnügungen selbst diszipliniert. Jedes Verhalten, das nicht zu unseren moralischen Grundüberzeugungen passte, war verkehrt.«

Der Versuch, ein Café zum Treffpunkt beider Geschlechter zu machen und gleichzeitig die islamische Moral durch intellektuelle und religiöse Gesprächsgruppen zu bewahren, ist der Versuch, die islamische Identität neu zu positionieren, und zwar sowohl im Verhältnis zur Tradition als auch im Verhältnis zur Moderne. Sohbet – die mündliche Tradition der Rezitation und Interpretation von Koranversen und der Erzählung von Geschichten aus dem Koran – spielt eine wichtige Rolle bei der Sozialisierung von Menschen in einem religiösen Umfeld, denn sie gibt den Teilnehmern das Gefühl einer gemeinsamen Kultur, gemeinsamer Bedeutungen und Emotionen, der Gemeinschaft und der gemeinsamen Aktivierung dieser Tradition. Dadurch werden Verbindungen zur koranischen Vergangenheit geschaffen. Die aktive Rückbesinnung auf die koranischen Traditionen verhilft den muslimischen Akteuren zu argumentativer wie gedanklicher Praxis.56 Zwar zeugt die Unentschiedenheit des Café-Besitzers bei der Benennung seines Cafés/Kaffeehauses von einer schwachen Historizität des Kaffeehauses als Institution, doch sein Versuch, das Kaknüs Café zu einem neuen Zentrum islamischer intellektueller und religiöser Geselligkeit zu machen, sowie sein Versuch, die islamische Moral zu bewahren, ohne in seinen Räumen Geschlechtertrennung zu praktizieren – wodurch er ebendiese Moral, die er bewahren will, bereits anders definiert –, kann als Beispiel für die Aussicht auf Schaffung neuer sozialer Beziehungen die56 Vgl. Nilüfer Göle: »Studying Islamism as a Contemporary Social Movement«, unveröffentlichtes Paper.

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Neue Formen der Geselligkeit: Islamische Cafés in Istanbul | 167 nen – Beziehungen, die aus dem gespannten Verhältnis von Moderne und Islam herausführen. Anders gesagt, »muslimische Akteure betreten die Bühne der Geschichte durch das Tor des Islamismus, und wenn sie erst einmal auf der Bühne agieren, entsteht eine Interaktion zwischen ›muslimisch‹ und ›modern‹.«57

Beziehungen zwischen Räumen Auch die Beziehungen islamischer Cafés wie des Kaknüs Cafés zu anderen kulturellen und religiösen Räumen sind von Bedeutung. Der Café-Besitzer betont beharrlich, dass es sich nicht um ein »ganz normales« Café handele, sondern um das Obergeschoss einer Buchhandlung. Die Inspiration zu solchen Cafés kommt von alten islamischen Kleinbuchhandlungen, in denen das Kaffeetrinken mit sohbet kombiniert war. Aber der Café-Betreiber bezieht sich auch auf das Umfeld religiöser Brüderlichkeit in den Sufi-Logen (sing. tekke): Die Buchhandlung, die sein Vorbild war, »hatte das Ambiente einer tekke.« Er bringt seinen Wunsch zum Ausdruck, das alte Umfeld neu zu erschaffen, das er in seiner Jugend in einer moderneren oder professionelleren Form kennen gelernt hatte. Kurz gesagt, er will das sohbet-Modell des traditionellen Islam in einen modernen Raum übertragen, indem er das Obergeschoss seiner Buchhandlung in ein Café verwandelt. »Ich bin im islamischen Umfeld der achtziger Jahre aufgewachsen. Was wir in den Achtzigern durchlebt haben, hat uns kooperativer gemacht, sensibler für unsere Umwelt. […] Selbst wenn es damals nur wenige Buchhandlungen gab, so waren sie doch funktionaler, die Beziehungen waren enger. […] Wie soll ich sagen? ›Sie [die Buchhandlung] hatte das Ambiente einer tekke.‹ Ich habe mich gefragt, ob ich das modernisieren könnte. Ich habe darüber nachgedacht, wie ich einen lebendigeren, moderneren Ort schaffen könnte. Das heißt, wenn man sich in einem sozialen Umfeld enger Beziehungen befindet, muss es Tee und Kaffee geben. Entweder muss man Tee und Kaffee im Buchladen ausschenken oder daneben ein Café eröffnen, das diesen Service anbietet.«

Dieses Zitat verweist auf eine Überlappung von Erinnerung, Identität und Ort: Der Café-Besitzer versucht, seine Erinnerungen an die achtziger Jahre mittels des Kaknüs Cafés wieder lebendig werden zu lassen. Gaston Bachelard hat darauf hingewiesen, dass man Gebäude nicht nur als physische Bauwerke betrachten sollte. Wie zum Beispiel das eigene Geburtshaus sind viele Gebäude erfüllt von Spuren der Erinnerung, ja manchmal sind sie geradezu aus Erinnerungen gebaut. Sie schließen Vorstellungen ein. Artefakte wie Gebäude, Räume, Möbel, und so weiter vermögen Erinnerungen zu wecken – Erinnerungen, die unweigerlich sozialer Natur sind.58 Man kann eine weitere Beziehung zwischen Kaffee und Sufi-Logen aufdecken, wenn man die vom Café-Besitzer verwendete Analogie aus historischer Perspektive 57 Nilüfer Göle: The Forbidden Modern, S. 133. (Nicht enthalten in dt. Republik und Schleier, S. 162.) 58 Vgl. Gaston Bachelard: La poétique de l’espace, Paris 1957, 9. Aufl. Paris 1978, S. 23ff.

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168 | Ugur Kömeçoglu sieht. Das Aufkommen von Kaffeehäusern in islamischen Gesellschaften hat natürlich mit der Entdeckung und allmählichen Ausbreitung des Kaffeetrinkens zu tun. Bevor es Kaffeehäuser gab, war der einzige Ort außerhalb des eigenen Hauses, an dem Kaffee serviert wurde, die Derwisch-Loge (tekke). Das Kaffeetrinken im Rahmen der stundenlangen Sufi-Andachten und -Litaneien (zikir) war ein wichtiges soziales Ereignis. »Schließlich waren jene, denen man die Entdeckung des Kaffees als Getränk traditionell zuschrieb, oft Männer, die im Sufitum eine beträchtliche Stellung innehatten.« Die Sufis, islamische Mystiker, schrieben dem Kaffee heilige Eigenschaften zu; sie hielten ihn für einen Segen, der es ihnen ermöglichte, ihre frommen Andachten besser und länger durchzuhalten. Zu Beginn des zikir begleitete ein bestimmtes Ritual die Austeilung und das Trinken von Kaffee. Die soziale Bedeutung eines solchen Rituals liegt in der »Bruderschaft des gemeinsamen Trinkens als Teil der Litanei (zikir), in der Verbindung von Trinken und religiösem Singen beim gemeinsamen Tun.« Weil sich das Alltagsleben der Sufis (Derwische) nicht allein im Kreis ihrer Orden abspielte, kam den Sufis eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des allgemeinen Wissens über den Kaffee zu. Darüber hinaus bedeutete die Tatsache, dass ihre Anhänger aus einem breiten Spektrum sozialer Gruppen kamen, auch, dass »nicht nur eine Gesellschaftsschicht, sondern gleichzeitig viele verschiedene Schichten auf dieses Getränk aufmerksam wurden«. Dies trug nicht nur zur Popularität des Kaffees bei, sondern auch zur Entwicklung des Kaffeehauses.59 Durch Verwendung eines islamischen Idioms werden auch die beiden Cafés, denen der vorliegende Beitrag gilt, ständig mit Bezug auf andere Orte imaginiert: islamische Buchhandlung, tekke, Haus der Dichtung, Konferenz-/Seminarraum, Kulturzentrum, Café im westlichen Stil, kahvehane. Gemeinsam ergeben diese Bezugspunkte ein spezifisches Ensemble für eine spezifische Gemeinschaft. Vorausgesetzt wird dabei eine Gemeinsamkeit des Glaubens, die sich im gemeinsamen Verständnis für eine spezielle Räumlichkeit und im gemeinsamen Erleben dieser Räumlichkeit äußert. Die islamischen Cafés haben »die seltsame Eigenheit, zu anderen Orten in einer solchen Beziehung zu stehen, dass sie das Bezugssystem, welches sie bezeichnen, spiegeln oder reflektieren, ihrerseits in Frage stellen, neutralisieren oder umkehren«.60

Halb-private Räume Die städtischen Institutionen und Räume (wie Kaffeehäuser und Salons), in denen laut Habermas die Öffentlichkeit entstand, waren in Wirklichkeit halb-private Räume. Der Besitzer des Kaknüs Cafés erläutert seine Ziele für die Umwandlung dieses Ortes in ein Zentrum islamischer Geselligkeit wie folgt:

59 Vgl. Hattox: Coffee and Coffeehouses, S. 74-75. 60 Vgl. Benjamin Genocchio: »Discourse, Discontinuity, Difference: The Question of ›Other‹ Spaces«, in: Sophie Watson/Katherine Gibson (Hg.), Postmodern Cities and Spaces, Cambridge 1995, S. 35-46, hier S. 37.

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Neue Formen der Geselligkeit: Islamische Cafés in Istanbul | 169 »Wir wenden uns nicht an Besucher, die nur kommen und gehen. Dies ist kein Café, wo man einfach vorbeikommt, um eine Tasse Tee oder Kaffee zu trinken. Wir selbst sehen uns so: Wir haben ein Café im zweiten Stock, und wenn Leute regelmäßig dorthin kommen, dann deshalb, weil sie ihrer Beziehung zu diesem Ort eine Bedeutung beimessen. Wir wollen, dass dieser Ort zu einem sinnvollen Leben motiviert. Mindestens die Hälfte unserer Gäste ist von Anfang an dabei. Sie leben in unterschiedlichem Maß nach islamischen Maßstäben; ihre Identität ist islamisch, aber nicht bei allen gleich.«

Hier wird also der Versuch unternommen, dem Raum einen anderen Charakter zu geben und das Café aus einem urbanen öffentlichen Raum, einem Ort, wo Fremde ein und ausgehen, in einen halb-privaten Raum zu verwandeln – eine Art Heimat, in der aus Fremden persönlich bekannte Andere werden.61 Laut Lofland hat diese Transformation damit zu tun, dass wir als Stammpublikum immer mehr über den öffentlichen Raum wissen, in dem wir verkehren, dass wir immer mehr Details kennen und uns dort immer sicherer bewegen. Für diejenigen, die sich dort auskennen, ist ein solcher Ort nicht länger ein fremdes öffentliches Lokal, sondern sie beginnen, diese Umgebung für ihre eigenen privaten Zwecke zu nutzen.62 Man kann sagen, dass das Ziel, aus einem öffentlichen Raum einen halb-privaten zu machen, im Falle des Kaknüs Cafés erreicht wurde. Als ich dieses Café zum ersten Mal besuchte, drehte sich fast jeder nach mir um und starrte mich an. Die neugierigen Blicke gaben mir das Gefühl, dass ich dort nicht hingehörte. Während man in anderen Cafés die Erfahrung einer anonymen Individualität sucht und macht, gilt in dem islamischen Café offensichtlich das Gegenteil.

Die Intellektualisierung des islamischen Cafés In Einklang mit Walter Benjamins Beobachtungen steht das heutige kulturelle Umfeld in Istanbuler Cafés im westlichen Stil eher für Individualität als für Gemeinschaft. Solche Cafés sind ein Ort, an dem man sich verlieren oder sein äußeres Selbst zur Schau stellen kann. Im türkischen Kontext heißt das, sie sind ein Ort, an dem man das mit einem westlichen Habitus verbundene kulturelle Kapital zur Schau stellt: westliche Speisekarte, westliche Musik oder westlicher Wein, Capuccino, Espresso und Illy-Kaffee. Das islamische Café indes bildet einen Gegen-Raum, einen Raum für Koran-Interpretationskurse (tefsir), Symposien, religiöse Gespräche in sohbet-Form und Begegnungen mit dem anderen Geschlecht – aber nicht für verführerische Flirts im westlichen Sinne, sondern für Begegnungen innerhalb der Grenzen der islamischen Moral. Ein solches Café ist ein Raum für islamische Versammlungen und intellektuelle Runden. Ein gemeinsames Merkmal der beiden islamischen Cafés, um die es im vorliegenden Beitrag geht, ist das Bemühen ihrer Betreiber, aus diesen Orten mehr zu machen als normale Cafés (Cafés, die sie als »frivol«, »oberflächlich« und »flüchtig« 61 Vgl. Lyn H. Lofland: A World of Strangers, S. 95. 62 Vgl. ebd., S. 122.

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170 | Ugur Kömeçoglu charakterisieren). Sie wünschen sich ihre eigenen Cafés als »tiefgründige«, »kreative« und intellektuell anregende Orte, die die Besucher »gefangen nehmen«. Natürlich ist hier anzumerken, dass beide Cafés auch von intellektuell orientierten Leuten geführt werden, das Istanbul Kulturzentrum zum Beispiel vom Türkischen Schriftstellerverband, der von religiösen und nationalistischen Autoren gegründet wurde. Das Kaknüs Café wurde von einem Islamisten eingerichtet, der sich in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts im politischen Islamismus engagiert hatte. Seit den neunziger Jahren hat sich dieser Intellektuelle auf den kulturellen Bereich umorientiert, befriedigt durch sein Café zugleich auch seine intellektuellen und unternehmerischen Ambitionen. Mit Hilfe seines Cafés konvertiert er nicht nur islamisches intellektuelles Kapital in ökonomisches Kapital (durch seine Aktivitäten als Verleger, Werbeagent und Fernstudienberater für junge Frauen, die als Kopftuchträgerinnen vom öffentlichen Schulwesen ausgeschlossen sind), sondern er schafft auch einen Ort, an dem sich andere Akteure an der Reproduktion islamischen kulturellen Kapitals beteiligen können. »Wir wollen keinen Ort«, sagt er, »an dem eitles Geschwätz und Frivolität herrschen. Hier soll etwas für die Zukunft getan werden. Was wir hier zu verwirklichen suchen, ist Folgendes: Wir wollen etwas Sinnvolles, Intellektuelles und Künstlerisches schaffen. Dafür sind bestimmte Aktivitäten unverzichtbar. Sonst würden wir uns nicht von ganz normalen Cafés unterscheiden. […] Wir wollen, dass dieses Café Menschen motiviert, dass die Beziehungen fester werden… Wir wollen nicht nur konsumieren, wir wollen etwas Nützliches hervorbringen […].«

Solche Äußerungen beziehen sich auf den Entwicklungsvorgang einer neuen öffentlichen Person – einen Prozess, der für die Entwicklung einer islamischen Öffentlichkeitssphäre von entscheidender Bedeutung ist. Dieser islamische Akteur ist sich der Tatsache bewusst, dass »Orte, die konsumiert werden, viel von ihrer früheren Einzigartigkeit verlieren. Kommerzialisierung lässt sie mehr wie andere Orte erscheinen.«63 Unter Verwendung von Gedankengängen, die entfernt an Habermas erinnern, erwähnt der Besitzer des Kaknüs Cafés Macht und Geld als Bedrohungen seines Ideals von der Schaffung einer moralischen und intellektuellen Gemeinschaft: »Unsere Besucher bemühen sich um eine islamische Identität. Bei manchen lässt sich jedoch eine graduell zunehmende Laxheit und Degeneration beobachten. Doch ich mache diesen Leuten, die kein solches [sinnvolles] Leben führen wollen, keinen Vorwurf. Außer wirtschaftlichen Schwierigkeiten sind sie auch politischem Druck ausgesetzt. Die Maßnahmen vom 28. Februar, die Schrumpfung des Finanzmarktes, die verheerenden Auswirkungen des Erdbebens auf die Wirtschaft – das alles fordert auch von unseren Besuchern seinen Tribut.«64

63 Robert Stack, zitiert bei Kevin Robins: »The Prisoners of the City: Whatever Could a Postmodern City Be?«, in: E. Carter u.a. (Hg.): Space and Place: Theories of Identity and Location, London 1993, S. 303-330, hier S. 304. 64 Mit den »Maßnahmen vom 28. Februar« 1997 sind Maßnahmen des Nationalen Sicherheitsrats gemeint, die den Einfluss der Religion auf das politische und gesellschaftliche

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Neue Formen der Geselligkeit: Islamische Cafés in Istanbul | 171 Im Versuch des Café-Besitzers, praktische Gründe für diesen Stand der Dinge zu benennen, lässt sich indes auch der Kern einer Kolonisierung der Lebenswelt durch Geld- und Machtsysteme erkennen – denn so beginnt gemeinhin das Vordringen der instrumentalen Rationalität des Kapitalismus in den Bereich kommunikativer Handlungen. Dazu wieder der Café-Betreiber: »Es gibt aber auch praktische Gründe. Wenn das Café in [den Stadtteilen] Taksim oder Kadıköy läge, […] hätten die Leute mehr Zeit und Geld für intellektuelle Aktivitäten übrig. Aber die Intellektuellen von Üsküdar haben mit echten ökonomischen Härten zu kämpfen. Mit Leuten, die keine solchen Probleme haben, hätten wir noch mehr erreichen können, aber auch so ist unser Ort schön. Es braucht vielleicht Zeit, aber was wir hier versuchen, ist lobenswert. Allerdings gibt es bestimmte Dilemmas. Wenn Sie im Café etwas Besonderes machen wollen, entstehen Extrakosten. Die Intellektuellen sind andererseits meistens arm; sie haben nicht genug Geld, aber sie bringen intellektuelle Neugier mit. Sie kommen her, kaufen nur eine Tasse Tee und bleiben sechs bis sieben Stunden. Ständig müssen Sie den Aschenbecher leeren, und im Verhältnis zu der Zeit, die sie im Café verbringen, sind die Einkünfte, die Sie selbst erzielen, kümmerlich. Für den Betreiber, der bestimmte Erwartungen an seine Gäste hat, ist das beunruhigend. Sie müssen bedenken, dass die Rechnung am Ende aufgehen muss, dass Miete zu zahlen ist und dass weitere Kosten entstehen. Somit hat das Problem auch eine ganz praktische Seite.«

Das islamische Café ist anders als andere Cafés; es existiert in einem allgemeinen sozialen Raum, der nicht zuletzt als Folie für seine Andersartigkeit dient. In den islamischen Cafés spürt man den bewussten Versuch, den Raum (space) in einen persönlichen Ort (place) umzuformen. Ein solcher Ort ist ein Raum, dem menschliche Bedeutung verliehen wurde.65 Doreen Massey vertritt die Ansicht, dass es angemessener sei, Orte begrifflich als »artikulierte Bewegungen in Netzwerken sozialer Beziehungen und Verständigungen« zu fassen denn als Bereiche, die von physischen Grenzen umgeben sind.66 Die im vorliegenden Beitrag untersuchten Cafés verkörpern die symbolischen und imaginären Investitionen des islamischen Bewusstseins und der islamischen Tradition. Das wird beispielsweise dadurch erreicht, dass das eine Café in einem alten theologischen Seminar aus osmanischer Zeit (medrese) liegt, oder durch eine Wiederbelebung der islamischen sohbet-Tradition und der gemütlichen, brüderlichen Atmosphäre einer Sufi-Loge (tekke), durch den Ausdruck intellektueller Formen des Islamismus, aber auch (in der Geschlechterfrage) durch die Neuziehung der Grenzen islamischer Moral. Die Tradition verschwindet nicht einfach in der Moderne; sie ist nur gezwungen, sich zu erklären. Die Moderne erzwingt die kritische Neuinterpretation der Tradition, nicht deren totales Ver-

Leben der Türkei begrenzen und islamistische Aktivitäten strikter unter Kontrolle bringen sollten. 65 Vgl. Kevin Robins: »The Prisoners of the City«. 66 Vgl. Doreen Massey, zitiert ebd., S. 325.

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172 | Ugur Kömeçoglu schwinden.67 Der in unserem Zusammenhang wichtige Punkt ist, dass die Moderne, die sich auch als eine Rekonstruktion der Tradition in veränderter Form fassen lässt, eine alte osmanische Tradition, das Kaffeehaus, zu neuem Leben erweckt – und zwar durch die Entwicklung neuer islamischer Ausdrucksformen. Das zeigt sich deutlich in der Gründung des Kaknüs Cafés als Ort, an dem der Besitzer seinen Wunsch verwirklichen kann, die guten alten sohbet-Gesprächskreise zu »modernisieren«. Was aus diesem Wunsch entsprang, war ein Ort, der die islamische Tradition mit modernen Praktiken kombinierte. In der Tat zeigen die Akteure, die an diesen Orten verkehren, ähnliche Merkmale bezüglich ihrer Körper – wobei der Körper der Ort für den Aufbau eines modernen Subjekts ist. Ebenso wie der Körperschmuck des oben erwähnten jungen Islamisten mit der Pferdeschwanzfrisur nicht zum traditionellen Konstrukt eines islamischen Körpers passt, verweist auch die teils hyperfeminine Erscheinung der modebewussten verschleierten jungen Frauen in den Cafés zusammen mit gelegentlich übertriebenem Make-up auf den Wandel in den Ausdrucksformen des islamischen Selbst und seiner Individuationsstrategien. Die Retraditionalisierung des Raumes geht Hand in Hand mit neuen, an die Moderne angelehnten Handlungsweisen und Erscheinungsformen. Je mehr der Islam textualisiert und ästhetisiert wird, desto mehr verliert er seine politischen und radikalen Dimensionen, desto stärker bewegt er sich in die kulturelle Sphäre. Sowohl das Café des Schriftstellerverbandes als auch das Kaknüs Café sind Manifestationen der kulturellen Ausdrucksformen des Islam in der Öffentlichkeit. Sie stehen in Beziehung zu Gebäuden, die beide als Kulturzentren bezeichnet werden. Das ist bezeichnend für den Unterschied zwischen politischem und kulturellem Islam. Beide Arten des Islam finden in der Tat ihren Ausdruck in der Öffentlichkeit, d.h. in den verorteten Räumen der Öffentlichkeit – in den Kaffeehäusern. Zum Beispiel sind die – ausschließlich männlichen – Besucher eines Kaffeehauses im Stadtteil Fatih, einem Bezirk, in dem die islamische Lebensweise den Raum beherrscht, fast nur radikale, politisierte Islamisten. Dieses Kaffeehaus ist nach einer radikalen islamischen Gruppe benannt: »Akıncılar« (ein historischer Begriff zur Bezeichnung eines speziellen Corps der leichten Kavallerie, das eine reine Angriffseinheit gegen die Feinde des Islam war). Sogar die Benennung der Treffpunkte verdeutlicht also symbolisch den Kontrast zwischen radikalem und kulturellem Islam. Im türkischen Modernisierungsprojekt entstand der von den weltlichen Eliten strikt überwachte öffentliche Raum als Ergebnis eines autoritären Staatsmodernismus, der die Religion in die Privatsphäre verbannte.68 Dagegen sind die Ansprüche der Islamisten auf den öffentlichen Raum durch deren Gruppenpartikularismus geprägt, durch ihre Anfechtung der Säkularisierung des öffentlichen Raumes. Indem die Islamisten sich so präsentieren, dass ihre Gruppenidentität annonciert wird, fordern sie die modernistisch-säkulare Öffentlichkeit kulturell wie ideologisch heraus. 67 Vgl. Anthony Giddens: »Living in a Post-Traditional Society«, in: Ulrich Beck/Anthony Giddens/Scott Lash, Reflexive Modernization, Cambridge 1994, S. 56-109. (Dt. »Leben in einer posttraditionalen Gesellschaft«, in: Ulrich Beck/Anthony Giddens/Scott Lash, Reflexive Modernisierung: Eine Kontroverse, Frankfurt am Main 1996, S. 113-194.) 68 Vgl. Nilüfer Göle: »The Gendered Nature«, S. 63.

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Neue Formen der Geselligkeit: Islamische Cafés in Istanbul | 173 Die islamische Öffentlichkeit, die in Cafés wie dem des Schriftstellerverbandes oder im Kaknüs Café entsteht, ist eine Öffentlichkeit, die sowohl zur liberalen Vision der Moderne als auch zur extrem gemeinschaftsorientierten Vision des Islamismus in Opposition steht. Es ist eine Öffentlichkeit, die weder von atomistischen Individuen noch von festen Gemeinschaften bevölkert wird. Die Beziehung zwischen Islamismus und Öffentlichkeit ist so problematisch wie bereichernd; sie trägt zum besseren Verständnis der grundlegenden Schwierigkeiten bei, die sich ergeben, wenn man in nichtwestlichen Gesellschaften »modern« werden will. Die meisten sozialen Aktionen im Westen haben sich in der Tat aus dem Konfliktpotenzial der Moderne ergeben. Alain Touraine vertritt die These, dass die Moderne zwar eine Allianz von Rationalisierung und Subjektivierung ist, dass sie jedoch bis in die Gegenwart Fortschritte nur durch die Vorherrschaft der instrumentalen Vernunft gegenüber der Subjektivierung erzielt hat.69 Der Feminismus, die Umweltschutzbewegung, ethnische und religiöse Bewegungen, die Bewegung der Schwarzen und Bewegungen, die für das Recht auf gleichgeschlechtliche Lebensentwürfe eintreten – sie alle zeigen die Macht von unterdrückten Merkmalen des Subjekts (Geschlecht, Natur, Religion, ethnische Zugehörigkeit, Rasse, Homosexualität, und so weiter) und kritisieren die monistischen Vorstellungen und Denkweisen der Moderne. Auf ähnliche Weise lehnen Islamisten auch die Idee ab, die Moderne sei gleichbedeutend mit der instrumentalen Vernunft. Sie verfolgen die Idee einer Subjektivierung durch die islamische Moral als Antithese zur westlichen Rationalität. Auf diese Weise versuchen sie, Rationalität und islamische Subjektivierung miteinander zu verbinden. Die von der säkularen republikanischen Elite der Türkei eingeführten kulturellen Reformen – einer Elite, die nach der westlich orientierten Transformation einer ganzen Zivilisation strebte – hatten ihre Auswirkungen natürlich auch auf die Öffentlichkeit. Der Ausschluss islamischer Symbole aus dem öffentlichen Raum galt als unverzichtbare Voraussetzung für den Prozess der Verwestlichung. Und diese Haltung führte zur Korrosion des traditionellen Kaffeehauses mit seinen islamischen und mystischen Konnotationen. Dass die weltlichen Intellektuellen nicht in der Lage waren, diese Tradition wiederaufleben zu lassen, ist bemerkenswert. Im Zusammenhang mit einer Ausstellung zur traditionellen Kaffeekultur, die im Jahre 2001 in der Kunstgalerie einer Istanbuler Bank stattfand, erschien auch ein Katalog mit Artikeln über Kaffee und Kaffeehäuser. In einem der Katalogbeiträge bringt der Direktor des bankeigenen Verlags, Enis Batur, ein berühmter türkischer Literaturkritiker, zum Ausdruck, was ihm durch den Kopf ging, als in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein ausländischer Forscher, Gérard-Georges Lemaire, mit ihm über die türkische Kaffeekultur sprechen wollte. Batur schreibt: »Ich erfuhr, dass Lemaire an einer internationalen Ausstellung über dieses Thema arbeitete, zu der auch ein Katalog erscheinen sollte. Ich muss zugeben, dass ich ein wenig neidisch war. Er hatte sein Projekt ›Literarische Cafés‹ getauft, wobei er das Thema durch die großen Städte Europas verfolgte. Wir verbrachten einen langen Abend miteinander, an dem wir vom Procope zum Café Florian schweiften, vom Café Pedrocchi zum Kaffeehaus Griensteidl und zur Close69 Vgl. Alain Touraine: Critique of Modernity, Oxford 1995.

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174 | Ugur Kömeçoglu rie des Lilas – wobei wir unzählige Dichter, Schriftsteller und Künstler auftreten ließen. Danach kamen von Lemaire einige Bücher und Ausstellungen heraus, eine nach der anderen, und an dem Projekt arbeiteten auch einige türkische Künstler mit. Trotzdem schaffte es Istanbul nicht, mit dem Thema ›Kaffee‹ herauszukommen. Das sollte erst im Jahre 2001 gelingen!«70

In diesem Zitat werden die Übernahme eines westlichen Habitus und der Erwerb kulturellen Kapitals, beides conditio sine qua non für moderne/säkulare türkische Intellektuelle, sehr deutlich. Erst nachdem ein westlicher Intellektueller gegenüber Batur auf das Thema zu sprechen gekommen war, gestand dieser dem Projekt Bedeutung zu und beschloss, selbst ein gleichartiges Projekt auf den Weg zu bringen: »Dabei muss ich eigentlich sagen, dass wir Türken bei dieser Sache schon längst die Führung hätten übernehmen sollen. 1998 weilte ich zu einem Kurzbesuch in Paris, und nachdem ich meine Koffer im Hotel abgestellt hatte, ging ich ins Café de la Mairie, um meine erste Tasse Kaffe zu trinken, die der Kellner mit einem winzigen Zuckerpäckchen vor mich hinstellte. Als ich den Aufdruck auf diesem Päckchen las, war mein Stolz beinahe verletzt: ›Das erste Kaffeehaus wurde 1554 in Istanbul eröffnet.‹ Und als ich dort saß, wanderten meine Gedanken und meine Phantasie unablässig zwischen Hörensagen und Geschichte, Vergangenheit und Gegenwart hin und her, durch eine weitschweifige, komplexe Kette von Tradition und Brauchtum. Ich erinnere mich noch, wie ich vor meinem inneren Auge das Bild einer ganzen Kaffeebohne sah. Und diese kleine Bohne, die die angenehmen Seiten des Lebens so schön symbolisiert, machte mir, als ich mich im grenzenlosen Spektrum von Verhaltensweisen, Idiosynkrasien, Orten und Gegenständen treiben ließ, eines klar: Die beste Art und Weise, diese Sache weiter zu verfolgen, bestand darin, all diese Dinge zu sammeln und auszustellen.«71

Hier kann man erleben, wie der Autor mit der Selbstentfremdung der türkischen Intellektuellen von ihren kulturellen Traditionen fertig wird. Die Entdeckung der eigenen Tradition in einem Pariser Café und das westliche Bewusstsein vom Ursprung der Kaffeehäuser führen bei Enis Batur nicht nur zu Selbstkritik, sondern auch zu einer anderen Selbstbewusstheit, die wiederum als Katalysator für die Aktivierung des historischen Bewusstseins wirkt. Doch diese Entdeckung mündet dann nicht in eine Reproduktion der einheimischen Tradition. Nein, Batur ist zufrieden damit, diese Tradition hinter großen Fenstern in einer Galerie auszustellen. Derartige und ähnliche Bemühungen sind zwar nützlich, um das historische Gedächtnis der säkularen Eliten zu schärfen, aber sie gehen letztlich nicht über die Zurschaustellung der Tradition in musealen Formen hinaus. Oder wäre es eine Übertreibung, das obige Zitat im Sinne Foucaults als »bedrohliche Vereisung« der Vergangenheit zu lesen?72 Oder als Beleg für eine freiwillige »Selbst-Orientalisierung« – wenn man den guten alten Edward Said einmal so rücksichtslos zweckentfremden darf? Wenn heute traditionelle Kaffeehäuser in konkreten Räumen wiederauferstehen – wenngleich in hybrider Form und unter Betonung ihres muslimischen Hinter70 Enis Batur: »Pleasures Hidden in a Coffee-Color Bean«, S. 6. 71 Ebd. 72 Vgl. Edward W. Soja: »Heterotopologies«, S. 17.

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Neue Formen der Geselligkeit: Islamische Cafés in Istanbul | 175 grunds wie ihrer muslimischen Textur –, dann geht die Initiative dazu von islamischen Aktivisten aus, die versuchen, sich einen Weg in den öffentlichen Raum zu bahnen. Eine alte medrese in Istanbul wird wieder aufgemöbelt und in ein Kaffeehaus für muslimische Akteure verwandelt. Dabei ist es unangemessen, wenn man in diesen Kaffeehäusern lediglich Versuche sieht, eine Tradition fortzuführen. Nochmals: es ist kein Zufall, dass der Name des einen der beiden vorgestellten Cafés identisch ist mit dem Namen eines islamischen Verlags und einer islamischen Buchhandlung; oder dass das Obergeschoss des Kaknüs Cafés als Fernstudien-Beratungszentrum für verschleierte Mädchen dient, die wegen ihres Kopftuchs vom öffentlichen Schulwesen ausgeschlossen sind. Urbanisierung und eine Anhebung des Bildungsniveaus führen zu einer Transformation der islamischen Bewegung von innen her. Die neuen Islamisten akzentuieren die kulturellen und intellektuellen Dimensionen ihrer Identität im öffentlichen Bereich, und das erfordert eine entsprechende räumliche Verortung der islamischen Kultur. Cafés im westlichen Stil können diesem Bedürfnis wegen ihres Verfremdungseffekts nicht gerecht werden. »Ich fühle mich in den Cafés in Beyoglu [einem Istanbuler Stadtteil, der für seine westlichen Cafés berühmt ist] nicht wohl; ich habe das Gefühl, dass ich da nicht hingehöre. Denn ich suche nach einer authentischen Umgebung, die besser zu meiner Identität passt«, sagte mir eine junge verschleierte Universitätsstudentin. Folglich schaffen sich islamische Akteure Orte, die besser zu ihrer religiösen Lebenswelt passen, indem sie aus ihrem historischen Fundus neue Produkte formen – oder gezielt solche Orte aufsuchen. So dient auch der Fall der islamischen Cafés zur Stützung der These, dass funktionierende kulturelle Identitäten nicht unabhängig von räumlichen Gegebenheiten denkbar sind. ^

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178 | Kenan Çayir

Die Individualisierung des islamistischen Subjekts 1 : Türkisch-islamische Romane Kenan Çayir Zu Beginn der achtziger Jahre beschäftigte der Islamismus die türkische Gesellschaft vor allem in Form der »Kopftuch-Debatte«. Die Forderung strenggläubiger Musliminnen, auch in der Universität die vorgeschriebene Kleidung tragen zu dürfen, führte zu einer allgemeinen Politisierung der religiös-orthodoxen Bewegung, die sich in Protesten und Demonstrationen, aber auch in der Ausbildung einer neuen islamistischen Identität niederschlug. Einerseits verschärfte sich der Antagonismus zwischen den Islamisten und dem säkularen kemalistischen Staat, dessen Legitimität grundlegend in Frage gestellt wurde; anderseits versuchten islamistische Denker auch, gewissen Konzeptionen ihres Glaubens eine neue, gegenwartsbezogene Bedeutung zu geben – Begriffen wie etwa dar al-islam (Land des Islam) oder mustekbir/ mustaz’af (Unterdrücker/Unterdrückter), die auch politische Implikationen hatten.2 Schon daraus ließ sich ersehen, dass die Islamisten durchaus ihren Ort im Kontext der Gegenwart suchten. Keineswegs nur rückwärts gewandt, wollten sie sich die Möglichkeiten und Institutionen der Moderne zunutze machen, was zu einer erbitterten Auseinandersetzung über Ideen wie Demokratie, Zivilgesellschaft oder die Grenzziehung zwischen öffentlicher und privater Sphäre führte. Im damals vorherrschenden Diskurs wurde die muslimische Identität – unter diskreter Ausblendung aller geschlechtlichen, ethnischen und nationalen Differenzen – als homogen und in sich ruhend dargestellt. Die Identität des Individuums war deckungsgleich mit derjenigen des Kollektivs. Viele Fragestellungen wurden im Licht einer romantisch verklärten Vergangenheit verhandelt: So umging man das Konfliktpotenzial des modernen Geschlechterverhältnisses und definierte die Funktionen von Mann und Frau ganz im Geist von Harmonie und gegenseitiger Ergänzung.3 In den neunziger Jahren wurde der radikale Ansatz der vorgängigen Dekade durch eine Denkströmung gebrochen, die sich vermehrt mit Fragen des Alltagslebens statt mit politischen Idealen befasste. Zu jener Zeit begann sich eine islamistische Mittel- und Oberklasse heranzubilden, die einen gleichzeitig standesgemäßen und glaubenskonformen Lebensstil pflegen wollte: Freizeitgestaltung, Unterhaltung 1 Aus dem Englischen zusammenfassend übertragen von Angela Schader. Erstmals erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung, 10./11 Dezember 2001, S. 79-80. Herzlichen Dank für die Erlaubnis zum Wiederabdruck! 2 Vgl. Ali Ünal: Kur’an’da Temel Kavramlar (Grundkonzepte im Koran), Istanbul 1986, und Yusuf Kerimoglu: Kelimeler ve Kavramlar (Worte und Konzepte), Istanbul 1985. Zu antiwest. lichen Positionen vgl. u.a. Mehmet Dogan: Batılılas¸ ma Ihaneti (Verrat durch Verwestli. chung), Istanbul 1986, Yusuf Kerimoglu: Islami Hareketin Mahiyeti (Das Wesen der islami. schen Bewegung), Istanbul 1985, und Ahmet S¸ ahin: Islamı Yas¸ama Sanatı (Die Kunst, den Islam zu leben), Istanbul 1989. 3 Vgl. Abdurrahman Dilipak: Bir Bas¸ka Açıdan Kadın (Die Frau aus einer anderen Sicht), Istanbul 1995, und Hüseyin Hatemi: Kadının Çıkıs¸ Yolu (Der Ausweg der Frau), Ankara 1988. ^

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Türkisch-islamische Romane | 179 und sogar Modeschauen wurden Themen auf der islamistischen Agenda. Es gab spezielle Hotels mit separaten Swimmingpools für Männer und Frauen, Kinos, die islamische Filme oder ausgewählte und gegebenenfalls geschnittene westliche Produktionen zeigten, alkoholfreie Restaurants, Damenfrisiersalons mit ausschließlich weiblicher Bedienung und Geschäftsbetriebe, die das Einhalten der Gebetsstunden und des Fastenmonats ermöglichten. Im gleichen Maß, wie sich die strenggläubigen Muslime in der Gesellschaft etablierten, verloren sie ihre Opfermentalität. Die Klage der achtziger Jahre – »Ich kann meinen Glauben nicht leben« – verwandelte sich in die selbstsichere Forderung: »Ich will als Anwältin oder Ärztin arbeiten und dabei mein Kopftuch tragen können.« Die Erfolge der Wohlfahrtspartei, die 1996 zusammen mit Tansu Çillers Partei des rechten Weges eine Koalitionsregierung bildete, sowie die Einrichtung islamischer Radio- und Fernsehstationen, Krankenhäuser und Unternehmen ließen die Islamisten zu sichtbaren Akteuren im öffentlichen Leben werden. Doch diese Entwicklungen führten über kurz oder lang zum Eingreifen des Militärs. Mittels eines ›leichten‹ Putsches, der von Medien und Bevölkerung mehrheitlich mitgetragen wurde, stürzte man am 28. Februar 1997 die Koalitionsregierung; die sichtbaren Manifestationen des Glaubens im politischen wie im Alltagsleben wurden energisch zurückgestutzt. An den Hochschulen ist das Tragen des Kopftuches seither untersagt, sogar in der theologischen Fakultät; Politiker, deren Ehefrauen sich verschleierten, wurden zu Gesprächen gebeten, die Transaktionen islamischer Geschäftsunternehmen wurden überprüft. Diese Beschneidungen führten zu einer Selbstbesinnung, die durchaus auch kritische Züge trug. Islamische Intellektuelle kritisierten die allzu hermetische und intolerante Atmosphäre in den religiösen Kreisen, die mit einem guten Maß an willentlicher Blindheit für eigene Irrtümer und Ungerechtigkeiten einherging. Parallel dazu brachte die Literatur, die früher bedingungslos der Sache des Glaubens gedient hatte, die Konflikte, Begehrlichkeiten und Fehltritte zur Sprache, die man lange Zeit nicht als Bestandteil der islamischen Identität hatte akzeptieren wollen. Bis zum Ende der osmanischen Epoche war der Roman als literarische Form in der Türkei nicht bekannt. Erst die nach Europa hin orientierte kemalistische Elite verhalf dem Genre zum Durchbruch; zusammen mit der neuen Form wurden westliche Ideale, nicht zuletzt auch dasjenige der Liebe und der freien Partnerwahl, verbreitet. In einer Gesellschaft, wo über Jahrhunderte Diskretion, Keuschheit und die Einbindung des Individuums in Familie und Gemeinschaft hochgehalten worden waren, konnte dies freilich nicht ohne Widerstand geschehen. Romane westlichen Zuschnitts wurden zunächst oft als Bedrohung der traditionellen Werte empfunden und insbesondere von Frauen und Kindern sorgsam ferngehalten.4 In den siebziger und achtziger Jahren begannen die religiösen Kreise dann, das zuvor verpönte Medium ihren eigenen Ansprüchen anzupassen. Zeitgleich mit der islamistischen Bewegung entwickelte sich eine von muslimischen Idealen geprägte 4 Zum Sujet der Liebesheirat in der türkischen Literatur des späten 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit sich wandelnden Familienmustern vgl. Alan Duben/Cem Behar: Istanbul Households: Marriage, Family and Fertiliy, 1880-1940, Cambridge 1991, S. 87-121.

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180 | Kenan Çayir Literatur, die in den entsprechenden Kreisen reißenden Absatz fand. Der erste derar. tige Roman, Minyeli Abdullah (Abdullah aus Minyeli) von Hekimoglu Ismail, erlebte bislang 70 Auflagen mit insgesamt 275.000 Exemplaren. Der produktivste islamistische Romancier ist Ahmet Günbay Yıldız, dessen einundzwanzig Romane zwischen zwanzig und dreißig Auflagen erreichten. Ihm folgten in den achtziger Jahren Emine . S¸ enlikoglu, Mehmet Zeren, Sadık Tekin, Raif Cilasun, Yusuf Koç, Ibrahim Ulvi Yavuz, Cafer Tayyar und Mehmet Emin Gerger. Gemeinsam ist diesen Romanen in erster Linie ihre didaktische Ausrichtung: Literatur ist nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel, islamisches Bewusstsein zu entwickeln. Selbstverständlich stellte sich die professionelle Literaturkritik gegen eine solche Indienstnahme des Textes als reines Vehikel der religiösen und erzieherischen Botschaft; Günbay Yıldız suchte die Position der islamistischen Autoren zu rechtfertigen: ^

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»Es gibt überhaupt keinen Roman ohne Botschaft, denn ein Roman stellt entweder das Gute oder das Böse dar. Wenn die Darstellung des Islam, der die Quelle alles Guten ist, eine Botschaft sein soll, dann ist die Schilderung des Falschen und Unwahren ebenfalls eine Botschaft. Wer unsere Botschaft kritisiert, der will nicht, dass wir vom Islam erzählen.«5

In dieser Stellungnahme spiegelt sich der zentrale Anspruch des Islam: dass die Religion sämtliche Lebensbereiche durchdringen, die Grundlage alles persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Handelns – und eben auch der schriftstellerischen Tätigkeit – sein sollte. Der strikte moralische Anspruch dieser frühen islamistischen Romane leitet sich aber – auch das deutet sich in Yıldız’ Formulierungen an – nicht nur aus dem erzieherischen Impetus ab, der ja sein Ziel auch anhand der Darstellung von Verirrung, Sündenfall und Strafe oder Buße erreichen könnte. Für islamistische Autoren ist – insbesondere wo es um die Darstellung muslimischer Charaktere geht – diese Option mit Tabu belegt, denn seit langem gilt in der islamischen Kunst das Wort, dass »die Darstellung des Nichtigen den reinen Geist verdirbt (batılı tasvir saf zihinleri idlal eder)«. So beschränkt sich diese Literatur weitgehend auf die Darstellung der Leiden und Fährnisse von unverbrüchlich frommen und tugendhaften Protagonisten, die wegen ihres Glaubens von der Gesellschaft drangsaliert werden. Dessen äußere Zeichen – der Schleier für die Frauen, der Bart für die Männer – waren in der säkularisierten türkischen Gesellschaft verpönt; entsprechend einfach war es, die Gläubigen in den Romanen als Opfer des modernen Zeitalters darzustellen. Typische Romantitel dieser Zeit waren: Kurban (Opfer), Özyurdunda Garipsin (Du bist ein Fremder im . eigenen Land), Senin Için Aglayacagım (Ich werde für dich weinen), S¸ imdi Aglamak Vakti (Jetzt ist die Zeit des Weinens), Bacımın Gözyas¸ları Ne Zaman Dinecek (Wann werden die Tränen meiner Schwester enden), Dinmeyen Gözyas¸ları (Tränen, die nicht ^

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5 Ahmet Günbay Yıldız: Benim Çiçeklerim Ates¸te Açar (Meine Blumen blühen im Feuer), 9. Aufl., Istanbul, S. 171. »Feuer« bezieht sich auf die unreligiöse und unmoralische Gesellschaftsordnung.

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Türkisch-islamische Romane | 181 . enden), Dokunmayın Bacıma (Fass meine Schwester nicht an!), Is¸itilmeyen Feryat (Weinen, das keiner hört) usf. Doch wohlgemerkt: Die Protagonisten sind Opfer der Gesellschaft, nicht etwa ihres Glaubens. Der Islam wird vielmehr als Ausweg aus allen Dilemmata der Moderne wahrgenommen. So geht die Klage der Marginalisierten Hand in Hand mit der Gewissheit, auf dem richtigen Weg zu sein. Diese Literatur bot den Gläubigen einerseits simple Modelle für die eigene Existenz: Die Lösung aller Probleme fand sich ganz von selbst im guten muslimischen Lebenswandel. Gleichzeitig aber wurde damit die Beziehung der Gemeinschaft zur übrigen Welt auf einen gefährlich einfachen Nenner gebracht: Außerhalb gab es nur mehr »die Anderen«, von denen sich der Gläubige vermeintlich in jeder Hinsicht unterschied. Diese simplifizierte Weltsicht mochte zwar anfangs zur Konstitution einer islamistischen Identität beigetragen haben; im Lauf der neunziger Jahre stieß sie jedoch auch innerhalb religiöser Kreise auf immer deutlichere Kritik. Neue berufliche Möglichkeiten, neue Bedürfnisse und ein sich rasch veränderndes Umfeld hatten zu einer deutlichen Ausdifferenzierung in der vermeintlich homogenen Gemeinde der Gläubigen geführt; und auch der Einzelne konnte sich nicht mehr ohne weiteres als das harmonisch im Glauben und damit auch in sich ruhende Individuum wahrnehmen, das die Romane der achtziger Jahre entworfen hatten. Vielmehr fanden die im realen Leben erfahrenen Spannungen zwischen Glaubensideal und Lebenspraxis, zwischen Religion und weltlichen Aspirationen, zwischen Reinheitsgebot und den Versuchungen einer modernen und aufgeschlossenen Gesellschaft auch in der Literatur ihren Niederschlag. Und während sich in den achtziger Jahren fast ausschließlich männliche Autoren zu Wort gemeldet hatten, waren es nun Schriftstellerinnen, die als Erste schräge und scharfe Töne in die kollektive Harmonie der islamistischen Literatur brachten. Sie schrieben über die Frustration gut gebildeter, gläubiger junger Frauen, die Mühe haben, ihren Ort im Leben zu finden. Sie sind »weder Städterinnen noch Bäuerinnen, weder Hausmütter noch Geschäftsfrauen, weder ehrgeizig noch gelassen, weder artikuliert noch stumm. […] Sie können außerhalb der Familie nicht existieren und sind zu Hause nicht glücklich«, heißt es etwa bei Cihan Aktas¸ ,6 die in ihren Erzählungen die muslimischen Männer scharf attackiert: Sie hätten sich leichten Herzens der Moderne angepasst, Krawatten umgelegt und die Bärte gestutzt, während »die ganze Last der islamistischen Bewegung über zwanzig Jahre lang auf den Schultern der Frauen lag«. Eine Kritik, die zwar nicht ungerechtfertigt ist, der man aber auch mit dem Hinweis auf die zahllosen Männer begegnete, die »nicht ihres Geschlechts, sondern ihres Glaubens wegen ins Gefängnis kamen«.7 Trotz ihrer kritischen Reflexion des Geschlechterverhältnisses geht Aktas¸ nach wie vor von einem »reinen« und »integren« Bild der islamischen Frau aus; erst im Lauf der neunziger Jahre verlängerte sich die Darstellung der Konflikte bis in die individuelle Psyche hinein. So beschreibt Halime Toros in ihrem autobiographischen Roman Halkalarin Ez. 6 Vgl. Cihan Aktas¸ : Üç Ihtilal Çocugu (Kind von drei Revolutionen), Istanbul 1991, S. 32. . 7 Vgl. Is¸ ık Yanar: »Özneles¸ me Sürecinde Kadın ve Iktidar«, in: Tezkire 19 (2001), S. 119129, hier S. 128. ^

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182 | Kenan Çayir gisi (Volksmelodien) eine junge, strenggläubige Frau, deren Religiosität aber nicht von der Tradition, sondern vom radikal-ideologischen Ideengut der Iranischen Revolution geprägt ist. In ihren Kreisen galt damals: »Radikalismus war eine Religion. Es war die Zeit einer neuen Sprache, neuer Begriffe. Wir verschlangen Zeitschriften und Bücher, träumten von der Revolution. Wer es nicht abwarten konnte, ging in die Berge von Afghanistan oder nach Qom.«8 Die Heldin verzichtet auf das Tragen des Schleiers. Aber das wird über kurz oder lang zum Problem: »In einer Zeit, da der Glaube zur Schau getragen werden musste, galt ich als unvollkommen und fehlbar, weil der Koran gebot, den Kopf zu verhüllen.«9 Toros nimmt die Überbewertung von Äußerlichkeiten bei der Konstruktion der muslimischen Identität scharf ins Visier: »Alle Männer mit Bart waren gut. Alle Frauen mit Kopftuch waren anständig, liebenswürdig und aufopfernd. Jeder stellt die andern in Frage. Niemand stellt sich selbst in Frage. Mein Gott, keine von uns schaut sich auch nur an.«10 – Nisa, die Protagonistin des Romans, hat die typischen Konflikte der gleichzeitig gebildeten und gläubigen Muslimin auszutragen. Nach der Heirat verhüllt sie sich auf den Wunsch ihres Mannes hin: »Tahsin [der Ehemann] bedeckte meinen Kopf mit einem crèmefarbenen Schleier. Er gab mir ein Geschenk. So dachte ich wenigstens. Aber in Tat und Wahrheit war ich das Geschenk. […] Wenn ich zornig war, durfte ich nicht mehr schimpfen. Ich musste La Havle (Gott ist uns genug) sagen oder meine Augen niederschlagen und schweigen.«11

Nisa hat ein Studium absolviert, darf aber nicht arbeiten und ist ans Haus gebunden – genau wie die »gewöhnlichen« Frauen, von denen sie sich hatte unterscheiden wollen. Mit der Zeit lernt sie, diese Haltung in Frage zu stellen: »Wir hatten all das abgelehnt, wofür diese Frauen standen. Wir versuchten, Mannsein und Frausein aus Büchern zu lernen. Wir verloren unsere Seelen in den Büchern.« Den Furor, mit dem sie und ihre revolutionären Gefährten alles in Frage gestellt hatten, was nach der »goldenen Ära« der islamischen Frühzeit kam, erkennt sie ebenfalls als Holzweg: »Dieses Hinterfragen macht nicht weniger blind als die bedingungslose Anerkennung und Gutheißung der Vergangenheit. Denn wenn man erst einmal das Gewebe des Geheiligten aufzulösen beginnt, dann hört das auch beim Koran nicht auf. Das ist die Regel des Spiels. Man muss dabei bleiben bis zum Ende. Und dann kommt man zurück wie jeder Schatzsucher, mit nichts als Schmach und Enttäuschung in den Händen. Man wird alles verloren haben, was man

8 Vgl. Halime Toros: Halkaların Ezgisi (Volksmelodien), Istanbul 1997, S. 22-23. Toros (geb. 1960) verfasste auch Tanımsız (Ohne Beschreibung, 1990) und Sahurla Gelen Erkekler (Die Männer die während des Sahur kamen, 1993). 9 H. Toros: Halkaların Ezgisi, S. 38. 10 Ebd., S. 42. 11 Ebd., S. 40.

2004-09-13 19-27-14 --- Projekt: T237.gli.ammann.göle / Dokument: FAX ID 01d563122367806|(S. 178-185) T02_03 cayir.p 63122368414

Türkisch-islamische Romane | 183 auf die Reise mitgenommen hatte. […] Ich bin die Reisen in die Vergangenheit müde. […] Wir wollen neue, unerhörte Geschichten!«12

Zum Schluss nimmt Nisa den Schleier wieder ab, bleibt aber ihrer Religion und den sonstigen Geboten der Glaubenspraxis treu. Man könnte sagen, dass sie sich von der Islamistin zur Muslimin entwickelt hat: Sie wahrt ihren Glauben, trägt ihn aber nicht mehr demonstrativ zur Schau. Männliche Autoren setzten sich in den neunziger Jahren nicht nur kritisch mit der Geschichte und der Perspektive der islamistischen Bewegung auseinander, sondern vermehrt auch mit Beziehungskonstellationen, die das heile Bild der gläubigen Familie in Frage stellten. Der Protagonist in Ahmet Kekeçs Yagmurdan Sonra (Nach dem Regen) hat sich nicht nur von den radikal-islamistischen Überzeugungen seiner Studienjahre, sondern auch von seiner Ehefrau entfremdet; er lässt sich auf die Freundschaft mit einer progressiven und selbstständigen Bekannten ein und verliebt sich zu guter Letzt noch in die schöne und wesentlich jüngere Tochter seiner Stiefmutter. »Auch wenn diese Liebe nicht einmal erwidert wird, gibt sie mir Kraft und meinem Leben Bedeutung«, überlegt er. »Es mag eine gefährliche Vertrautheit, eine unmoralische Bindung sein, aber das ist mir egal. […] Soll dies mein Tod sein. Soll dies die Verneinung meines ganzen Lebens sein, der Ordnung, um die ich jahrelang gerungen habe.«13 – Das ist denkbar fern von den erbaulichen Meditationen, in denen sich die Protagonisten der in den achtziger Jahren entstandenen Romane ergingen. Der Unterschied zwischen den Romanen der achtziger und der neunziger Jahre ließe sich anhand von Bachtins Definition der Gattungen Epos und Roman festmachen. Das Epos konstituiert sich laut Bachtin dadurch, dass es die Welt, die es schildert, in eine heroisch überhöhte Vergangenheit projiziert. Diese »absolute Vergangenheit«, schreibt Bachtin, sei Quelle und Anfang alles Guten; sie werde durch einen Helden vertreten, der die vollkommene Verkörperung aller Tugenden sei.14 Da die Figur des Helden in sich vollkommen und von »kristallklarer« Transparenz ist, ist er frei von jeder inneren Widersprüchlichkeit oder Widerständigkeit. Der Roman dagegen stellt die »unschlüssige« und wandelbare Gegenwart dar, eine dynamische, stets im Entstehen begriffene Welt.15 Wenn die Gegenwart zum zentralen Orientierungspunkt wird, schreibt Bakhtin, dann verlieren Zeit und Welt ihre Ganzheitlichkeit und die dargestellten Objekte und Figuren ihre »semantische Stabilität«.16 Da der Roman auf eine unbekannte Zukunft hin geöffnet ist, muss die Gegenwart – und insbesondere auch der Standort des Protagonisten darin – ständig neu überdacht und bewertet werden. ^

12 Ebd., S. 212. 13 Vgl. Ahmet Kekeç: Yagmurdan Sonra, Istanbul 1999, S. 130. Ahmet Kekeç ist derzeit Kolumnist bei einer islamistischen Tageszeitung. 14 Vgl. Mikhail M. Bakhtin: »Epic and Novel«, in: Michael Holquist (Hg.), The Dialogic Imagination: Four Essays by M. M. Bakhtin, 10. Aufl., Austin, TX 1996, S. 3-40, hier S. 15. 15 Ebd., S. 27. 16 Ebd., S. 30. ^

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184 | Kenan Çayir Auf diesem Hintergrund ließe sich sagen, dass die Charaktere der islamistischen Romane in den achtziger Jahren eher dem Modell des Epos entsprachen: Sie handelten als Helden oder Schurken, aber immer im Blick auf ein erhabenes Ideal oder ein dramatisches Schicksal. Die Figuren repräsentierten das »Wahre« oder das »Falsche«, wie es sich im Licht der idealisierten islamischen Vergangenheit darstellte. Dementsprechend gerieten auch die Handlungsmuster jener Romane zu einer Art Quest, welche die Abenteuer eines gläubigen Helden in einer materialistischen Welt schilderte – und selbstverständlich mit dem Sieg des »Guten« über das »Korrupte« endete. Die Romane der neunziger Jahre dagegen entsprechen mit ihrer Gegenwartsbezogenheit und der Fokussierung auf das Innenleben der Protagonisten durchaus Bachtins Definition des Romans. Durch ihre oft vielfältigen Konflikte sind diese Figuren nicht mehr einfach als »Helden« oder »Schurken« zu typisieren; man könnte auch sagen, dass – parallel zur eingangs geschilderten Herausbildung einer in die modernen Lebensverhältnisse integrierten islamistischen Gesellschaftsschicht – das zuvor ideologisch geprägte Bild des Protagonisten von der Innerlichkeit des Subjekts unterminiert wurde. So sind die islamistischen Romane selbst zu einem Instrument der Hinterfragung des Islamismus und einer neuen, differenzierteren Selbstfindung des gläubigen Muslims geworden. Sie schaffen eine Sprache, in der die Fragen von individueller und kollektiver Identität verhandelt werden können, statt sich ausschließlich an einer präskriptiven Auslegung des religiösen Texts zu orientieren. Statt einer isoliert im Widerstreit mit ihrem Umfeld liegenden Gemeinschaft entwerfen sie Individuen, die sich aktiv mit dem Konflikt zwischen Glaubensgebot und Lebenspraxis, Eigenem und Anderem auseinandersetzen und für das Potenzial einer neuen, hybriden muslimischen Identität stehen. Deutsche Kurzfassung des englischen Originals durch Angela Schader, NZZ.

Literatur . Aktas¸ , Cihan: Üç Ihtilal Çocugu (Kind von drei Revolutionen), Istanbul 1991. Bakhtin, Mikhail M.: »Epic and Novel«, in: Michael Holquist (Hg.), The Dialogic Imagination: Four Essays by M. M. Bakhtin, 10. Aufl., Austin, TX 1996, S. 3-40. Dilipak, Abdurrahman: Bir Bas¸ka Açıdan Kadın (Die Frau aus einer anderen Sicht), Istanbul 1995. . Dogan, Mehmet: Batılılas¸ma Ihaneti (Verrat durch Verwestlichung), Istanbul 1986. Duben, Alan/Behar, Cem: Istanbul Households: Marriage, Family and Fertiliy, 18801940, Cambridge 1991. Hatemi, Hüseyin: Kadının Çıkıs¸ Yolu (Der Ausweg der Frau), Ankara 1988. Kekeç, Ahmet: Yagmurdan Sonra (Nach dem Regen), Istanbul 1999. Kerimoglu, Yusuf: Kelimeler ve Kavramlar (Worte und Konzepte), Istanbul 1985. . Kerimoglu, Yusuf: Islami Hareketin Mahiyeti (Das Wesen der islamischen Bewegung), Istanbul 1985. . S¸ ahin, Ahmet: Islamı Yas¸ama Sanatı (Die Kunst, den Islam zu leben), Istanbul 1989. ^

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Türkisch-islamische Romane | 185 Toros, Halime: Halkaların Ezgisi, Istanbul 1997. Ünal, Ali: Kur’an’da Temel Kavramlar (Grundkonzepte im Koran), Istanbul 1986. Yıldız, Ahmet Günbay: Benim Çiçeklerim Ates¸te Açar (Meine Blumen blühen im Feuer), 9. Aufl., Istanbul 2000. . Yanar, Is¸ ık: »Özneles¸ me Sürecinde Kadın ve Iktidar«, in: Tezkire 19 (2001), S. 119129.

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186 | Farhad Khosrokhavar

Die Öffentlichkeit im Iran Farhad Khosrokhavar Die Frage der Öffentlichkeit hängt eng mit der Zivilgesellschaft und dem politischen System der Demokratie zusammen. Meistens sind Öffentlichkeit, Zivilgesellschaft und Demokratie nur unvollkommen miteinander verbunden. Historisch gesehen war Öffentlichkeit das Ergebnis einer Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft im Europa des 18. Jahrhunderts.1 Dagegen gilt in muslimischen Gesellschaften das Verhältnis von Öffentlichkeit und Islam meistens als gegensätzlich, bestenfalls konfliktträchtig. Die Problemfelder sind vielfältiger Natur: So geht die grundlegende Idee der umma von einer einheitlichen, umfassenden Gemeinschaft aller Muslime aus, die Demokratie dagegen von grundlegenden Rechten des Einzelnen. Im islamischen kanonischen Recht (fiqh) besteht ein zentraler Unterschied zwischen Muslimen und Nichtmuslimen, wobei den Letzteren gleiche Rechte verweigert werden, insbesondere allen nicht anerkannten Religionen (anerkannt werden allein die abrahamitischen Religionen, also Judentum und Christentum, deren Anhänger als Schutzbürger [arab. dimmî] gelten, sowie die Anhänger der zoroastrischen Religion im Iran). Der islamische Entscheidungsfindungsprozess – durch den (arab. igmâ‘ genannten) Konsens der Religionsgelehrten (arab. ‘ulamâ’) oder durch Bezugnahme auf Koran oder Tradition (arab. sunna) – ist nur schwer mit demokratischen Entscheidungsprozessen vereinbar, die auf festgelegten Prozeduren und Mehrheitsentscheidungen basieren. Hinzu kommt die Geschlechterproblematik, die Ungleichheit von Mann und Frau im islamischen Familienrecht. All diese Aspekte der islamischen Kultur und Gesellschaft tragen dazu bei, dass zwischen islamischer Weltanschauung und Demokratie ein massives Spannungsverhältnis besteht, wobei das Öffentlichkeitsproblem auf beiden Seiten der Spannungslinie anzusiedeln ist. Die Verhältnisse im Iran werfen ein bezeichnendes Licht auf die Lösungsvorschläge, die von den Intellektuellen des Landes sowie von diversen Gruppen von Männern und Frauen entwickelt wurden, aber auch auf die Dilemmata, mit denen die iranische Gesellschaft im institutionellen Rahmen einer theokratischen Konzeption des Islam konfrontiert ist. Rollendefinitionen in der Familie und gesellschaftliche Reaktionen auf die öffentlich sanktionierte Affektregulierung treten in eine Wechselwirkung mit der neuen Öffentlichkeit, die im Begriff ist, sich im heutigen Iran herauszubilden. ^

Die historischen Hindernisse für eine Öffentlichkeit im Iran Ende des 19. Jahrhunderts bestand die iranische Öffentlichkeit weitestgehend aus Intellektuellen und »aufgeklärten« Mitgliedern der Kadscharen-Aristokratie, die bei der so genannten Verfassungsrevolution von 1906-1911 eine wichtige Rolle spielten. Sie forderten eine von der Willkürherrschaft der Krone unabhängige Rechtspre-

1 Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962.

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Die Öffentlichkeit im Iran | 187 chung und ein Parlament, das für die Gesetzgebung zuständig sein und die Macht des Monarchen auf die eines legalen Verfassungsgaranten beschränken sollte.2 Doch von Anfang an kam es in dieser Bewegung zu starken Spannungen zwischen den Verfechtern des islamischen Rechts, der Scharia (arab. sarî‘a), und denen, die für eine weltliche politische Struktur eintraten, unter Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts des Volkes. Spaltungen gab es nicht nur zwischen »islamischen« und »nichtislamischen« Protagonisten, sondern auch innerhalb der islamischen Hierarchie. Einige Ulema (z.B. T.abât.abâ’i und Behbahâni) standen auf Seiten der Konstitu. tionalisten, andere, wie Scheich Fazlollâh Nuri, auf der Gegenseite. Tatsache ist, dass es unter den Ulema Missverständnisse hinsichtlich der Folgen des Konstitutionalismus gab, denn die meisten Ulema machten sich die Folgen einer Verfassung auf ihre Macht und ihre Privilegien nicht hinreichend klar: In einem Verfassungsstaat würden die Entscheidungen des Volkes die Oberhoheit des hohen schiitischen Klerus bei der Deutung von Recht und Gesetz in Frage stellen. Das Votum des Volkes anzuerkennen, hieß auch, die Autonomie seiner sozialen und politischen Entscheidungen zum Islam zu akzeptieren – und dies zu akzeptieren war fast kein Mitglied aus den Reihen der Ulema grundsätzlich bereit. Um die Situation zu retten, versuchten die Ulema, innerhalb des Parlaments eine Gruppe von Religionsgelehrten zu institutionalisieren, die darüber wachen sollte, dass die Parlamentsbeschlüsse nicht gegen die Religionsgesetze verstießen. Dies schien ihnen ein gangbarer Weg zu sein, um die »Stimme des Volkes« mit der »Stimme Gottes« in Einklang zu bringen. Wegen solcher Unklarheiten, aber auch aufgrund der allgemeinen Rückständigkeit des Iran – für die Modernisierung stand damals nur eine winzige Minderheit der Bürger ein – war die Verfassungsbewegung zum Scheitern verurteilt, nicht zuletzt, weil sie nicht in der Lage war, die semikoloniale Situation des Iran erfolgreich in Frage zu stellen (das Land war zwischen einer russischen Interessensphäre im Norden und einer britischen im Süden eingezwängt). Die despotische Machtstruktur von (Schah) Moh.ammed ‘Ali Sâh, einem unbeirrbaren Gegner des Konstitutionalismus, spielte den Russen in die Hände, mit deren militärischer Hilfe der Monarch aus der Kadscharen-Dynastie der Verfassungsbewegung im Jahre 1911 ein Ende setzte.3 Das Hauptproblem in dieser sozialen Bewegung wie auch in den folgenden (der nationalistischen Bewegung von 1950-1953 und der islamischen Revolution von 1979) war die Spannung zwischen der Lehre des Islam in ihren verschiedenen Interpretationen und der Selbstregierung der Gesellschaft, wie sie in dem projektierten Wahlsystem ^

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2 Vgl. Feridun Âdamiyat: Idiulozi-ye nehzat-e masrut.iat-e Irân (Die Ideologie der konstitutionellen Bewegung Irans), Teheran 1977; Mangol Bayat: Iran’s First Revolution: Shi’ism and the Constitutional Revolution of 1905-1909, Oxford 1991. 3 Vgl. Ah.mad Kas.ravi: Târih-e higdah sâle-ye Azarbâygân (Die 18-jährige Geschichte von Aserbeidschan), Teheran 1976/77; Magoleslâm Kermâni: Târih-e enh.et.ât.-e magles (Geschichte des Niedergangs des Parlaments), Teheran 1977/78; Naz.imoleslâm Kermâni: Târih-e bidâri-ye Irâniyân (Geschichte des Erwachens der Iraner), Teheran 1978/79; Yahyâ Doulatâbâdi: Târih-e mo‘âs.er yâ h.ayât-e Yah.yâ (Zeitgeschichte, oder das Leben des Yahyâ), Teheran 1949/50. ^

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188 | Farhad Khosrokhavar zum Ausdruck kam. Diese Spannung blieb (und ist weiterhin) das wichtigste Strukturmerkmal des Modernisierungsprozesses im Iran. Auch die iranische Öffentlichkeit ist davon geprägt. Einer der Stolpersteine bei der Herausbildung einer autonomen Öffentlichkeit war stets die Schwäche der Zivilgesellschaft im Iran. Aus historischen Gründen erfolgte die Modernisierung des Landes erst mit Verspätung. Zum Teil war diese Situation mit der des Osmanischen Reiches identisch. Auch dieses wurde wie der Iran niemals offiziell kolonisiert. Gleichwohl litt der Iran unter dem Joch der Kolonialmächte, die seine Modernisierung verhinderten und seine Entwicklung »einfroren« – aus russischer Sicht, um dem britischen Empire den Zugang zum nördlichen Iran zu verwehren, aus britischer Sicht, um dem Zarenreich den Zugang zu den Gegenden am Persischen Golf im iranischen Süden zu verwehren. Ein solcher Zugriff hätte nämlich die britische Herrschaft in Indien gefährden können. Anders als die Osmanen oder Ägypter, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von etlichen tausend Kilometern Eisenbahnstrecken oder von einem moderneren Bildungssystem profitierten, verfügte der Iran nur über ein sehr sporadisches Eisenbahnsystem von einigen Dutzend Kilometern und über ein sehr begrenztes modernes Schulwesen.4 Die Heterogenität der iranischen Bevölkerung, die aus Nomaden, Bauern (im Wesentlichen unter den Bedingungen der Halbwüste arbeitend) und Stadtbewohnern bestand, wobei bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts insgesamt weniger als ein Viertel der Gesamtbevölkerung in Städten lebte, erschwerte – wie auch die Vielfalt der gesprochenen Sprachen – die Entstehung einer Zivilgesellschaft außerordentlich. Rund die Hälfte der Bevölkerung sprach verschiedene türkische Dialekte; die Stämme im Südwesten, in Khuzistan, sprachen Arabisch, die Belutschen im Südosten des Landes Paschtunisch, während im Nordosten und Norden Turkmenisch gesprochen wurde. Von den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts an modernisierte die Pahlavi-Dynastie den Iran mit autoritären Mitteln von oben; dabei wurde das Monopol des Klerus auf die Rechtsprechung ebenso gebrochen wie sein Zugriff auf das Bildungssystem. Es wurden ein modernes Justizwesen und ein weltliches Bildungswesen eingeführt, außerdem weltliche Verhaltensregeln. Alles wurde den Menschen aufoktroyiert, Frauen durften nicht mehr verschleiert sein. Die traditionellen Ulema reagierten auf diesen Angriff nicht frontal, und doch wurde ein soziales Gedächtnis geschaffen, besonders in den Unterschichten und im traditionellen Basar. In diesem Gedächtnis war Modernisierung gleichbedeutend mit Gewalt und Verachtung für den Islam. . Die von (Schah) Moh.ammad Rezâ Sâh auf amerikanischen Druck hin durchgeführte Landreform von 1963 zerstörte die letzten Reste der traditionellen Gesellschaft und trieb das Land endgültig in die Moderne,5 vor allem durch die Migration der landlos gewordenen Kleinbauern aus den Dörfern in die unwirtlichen Stadtgebiete, wo sie kaum Trost fanden und der Zorn sich aufstaute.6 Sie identifizierten das Re^

4 Vgl. Charles Issawi: The Economic History of Iran, 1890-1914, Chicago 1971; Homa Katouzian: Political Economy of Modern Iran, 1926-1979, New York 1980. 5 Vgl. Eric Hooglund: Land and Revolution in Iran, Austin, TX 1982. 6 Vgl. Farhad Khosrokhavar: »Les paysans dépaysannés et la révolution iranienne«, in: Cemoti 27 (1999), S. 159-182.

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Die Öffentlichkeit im Iran | 189 gime des Schahs mit der ungerechten, antiislamischen, satanischen, prowestlichen, entarteten Herrschaft des Teufels. Auch die neuen städtischen Mittelschichten beschwerten sich über das Regime, das ihnen den Zugang zur politischen Szene verwehrte und sie auf den Status passiver Konsumenten reduzierte, ohne jegliches Mitspracherecht in der Politik. All diese Faktoren verhinderten die Entstehung einer Zivilgesellschaft und brachten weite Teile der Bevölkerung gegen die Monarchie auf. Die islamische Revolution von 1979 war zum großen Teil die Folge dieser autokratischen Modernisierung von oben.7 Dieser Aufstand war durch das Misstrauen der neuen Generation gegen die nationalistische Ideologie der Monarchie gekennzeichnet, die auf einer weltlichen Verherrlichung der vorislamischen Vergangenheit des Landes beruhte. Die Hauptgruppen, die an der islamischen Revolution beteiligt waren, folgten einer antidemokratischen Ideologie. Die Traditionalisten wollten die »ungerechte« Monarchie beseitigen – ein antiislamisches Regime, das Verrat an der Lehre des h.aqq begangen hatte (das Wort bedeutet »das Gute«, »Gott«, aber auch »Wahrheit«).8 Die modernisierte Jugend in den Städten war, weitgehend unter dem Einfluss von ‘Ali Sari‘ati (Schariati)9, von einer synkretistischen Vision des Islam und des Marxismus beseelt. Diese jungen Menschen waren bereit, zur Verteidigung . der »Unterdrückten« (mostaz‘afin) gegen die »Anmaßenden« (mostakberin) zu kämpfen, gegen Imperialisten und Kapitalisten. Beide Begriffe waren islamischen Ursprungs, aber mit neuen, linken Inhalten gefüllt. Die islamische Revolution war vom Islam in seiner säkularisierten Form beeinflusst10 sowie von modernen linken Ideologien, die anderen gegenüber intolerant und in ihrer Grundhaltung antidemokratisch waren. Das machte den Aufbau einer Öffentlichkeitssphäre mehr als ein Jahrzehnt lang unmöglich.11 ^

Die paradoxen Ergebnisse der islamischen Revolution Der Sieg der islamischen Revolution brachte unter anderem Rückschritte im Rechtsstatus der Frau mit sich: Das Recht, sich scheiden zu lassen, wurde ihr genommen und allein dem Ehemann gegeben, das Sorgerecht für die Kinder lag nun weitgehend beim Mann, sie durfte nur noch mit Einverständnis des Mannes reisen, und 7 Vgl. Robert E. Looney: Economic Origins of the Iranian Revolution, New York 1982; Mohammad H. Malek: The Political Economy of Iran under the Shah, London 1986. 8 Vgl. Paul Vieille/Farhad Khosrokhavar: Le discours populaire de la révolution iranienne, 2 Bände, Paris 1990; Farhad Khosrokhavar: L’utopie sacrifiée: Sociologie de la révolution iranienne, Paris 1993. 9 Anm. des Hg.: Eingeführte Schreibweisen wie Khomeini, Khatami, Khamenei, Sorusch, Rafsandschani usw. werden der wissenschaftlichen Umschrift nur bei der ersten Namensnennung in Klammern beigefügt. 10 Vgl. Hamid Dabashi: Theology of Discontent: The Ideological Foundation of the Islamic Revolution in Iran, New York 1993; Amir Nikpey: Politique et religion en Iran contemporain: Naissance d’une institution, Paris 2001. 11 Vgl. Ervand Abrahamian: Iran between Two Revolutions, Princeton, NJ 1982.

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190 | Farhad Khosrokhavar ihre Zeugenaussage vor Gericht war jetzt nur noch halb so viel wert wie die eines Mannes. In der Politik jedoch herrschte jetzt annähernd Gleichheit zwischen Männern und Frauen: Bei Wahlen zählten die Stimmen gleich viel, und theoretisch konnten Frauen in fast jedes Amt gewählt werden (außer in das eines Richters und in das höchste Staatsamt, das des obersten Wächters im theokratischen Staat, vali faqih). Die Ungleichheit in Angelegenheiten des Familienrechts ist aber nur die eine Seite. Denn der allgemeine Modernisierungstrend im Iran führte langfristig dazu, dass die Lebensbedingungen von Männern und Frauen einander in vielerlei Hinsicht immer mehr annäherten, vor allem im Bildungsbereich. Mehr als 80 Prozent der rund 40.000 iranischen Dörfer erhielten die Möglichkeit, Grundschulen zu eröffnen, in denen Jungen und Mädchen Bildungschancen eröffnet wurden, die es vor der islamischen Revolution nicht gegeben hatte. In gleicher Weise gingen in den großen Städten die Mädchen zur Oberschule und zur Universität; seit Beginn der neunziger Jahre nahm ihre Zugangsquote im sekundären und tertiären Bildungssektor immer weiter zu, bis Ende der neunziger Jahre bereits fast die Hälfte der Universitätsstudenten weiblichen Geschlechts war. In der mentalen Einstellung war die jüngere Generation, Jungen wie Mädchen, einander nie ähnlicher als heute, und doch waren sie vor dem Gesetz, insbesondere im Familienrecht, seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts niemals ungleicher als heute. Diese Diskrepanz – subjektive Ähnlichkeit junger Männer und Frauen bei gleichzeitiger Disparität im legalen Status – hat bei den Frauen zu einem starken Gefühl der Ungerechtigkeit geführt. Hier liegen die Wurzeln für eine neue Frauenbewegung, die die Gleichberechtigung von Mann und Frau im Iran fordert – auch im Familienrecht. Das Universitätsstudium, in der Vergangenheit Vorrecht einer kleinen Minderheit der jungen Generation, steht heute einem großen Teil der Jugend offen, hauptsächlich, weil eine halbprivate Universität, Dânesgâh-e âzâd, auch in kleineren Städten Fakultäten errichtet hat, deren Niveau zwar nicht das der Staatsuniversitäten erreicht, die jedoch all jenen, die nicht in der Lage wären, eine Staatsuniversität zu besuchen, weil sie die strengen Aufnahmeprüfungen nicht bestehen würden, eine akademische Erziehung und kulturelle Prägung angedeihen lässt. Der Bau von Straßen, welche die ländlichen Gegenden mit den benachbarten Städten und auch die Dörfer am Wege untereinander verbanden, wurde hauptsächlich von einer Revolutionsorganisation (Gehâd-e sâzandegi) vorangetrieben, die auch zur Elektrifizierung der meisten Dörfer einen Beitrag leistete. Der Zugang ländlicher Regionen zu Radio und Fernsehen12 und die Expansion der Grundschulbildung verhalf dem Persischen (Farsi) als Nationalsprache zu einen neuen Status, denn zum ersten Mal in der iranischen Geschichte spricht jetzt die gesamte jüngere Generation im Iran diese Sprache. Im Vergleich zur Vergangenheit hat die Homogenisierung des Landes auch in dieser Hinsicht jetzt ihren Zenit erreicht. Türkischsprachige, arabischsprachige, kurdischsprachige Jugendliche – sie alle verstehen und sprechen jetzt problemlos Farsi. Nur in die entferntesten ländlichen Gegenden ist das neue Schulwesen bisher noch nicht vorgedrungen. ^

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12 Vgl. Eric Hooglund: »Letter from an Iranian Village«, in: Journal of Palestine Studies 27:1 (1997), S. 76-84.

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Die Öffentlichkeit im Iran | 191 Auch der Urbanisierungsgrad hat dramatisch zugenommen. Vor der Revolution lebte mehr als die Hälfte der Bevölkerung auf dem Land, jetzt wohnen mehr als 60 Prozent in Klein- und Großstädten. All diese Faktoren haben wesentlich stärker als früher zu einer kulturell homogenisierten Gesellschaft beigetragen. Insgesamt hat sich die Gesellschaft in den beiden letzten Jahrzehnten dramatisch verändert. Die zweite und dritte nachrevolutionäre Generation sind insgesamt besser ausgebildet; sie sind sich ihrer Lage stärker bewusst und radikalen Ideologien weniger zugeneigt. Der revolutionäre Radikalismus der Väter hat seine Grenzen offenbart, war er doch nicht imstande, eine gerechtere und offenere Gesellschaft aufzubauen – in mehr als zwei Jahrzehnten revolutionärer Regierungen. Die hitzige Atmosphäre aus der Anfangszeit der islamischen Revolution ist bei der Jugend einer illusionsloseren Einstellung gewichen. Die Jugend ist jetzt stärker mit der eigenen Zukunft beschäftigt, mit den Möglichkeiten zur Erreichung individueller Ziele und mit dem Zugangsrecht zu ökonomischen und sozialen Aufstiegsmöglichkeiten, weniger mit hehren ideologischen Zielen. Die großen ideologischen Weltentwürfe wurden durch den Fall der Berliner Mauer ebenso diskreditiert wie durch das Scheitern der islamischen Revolution. Das Ergebnis der beiden letzten Dekaden ist ein neues Individuationsmuster.13 Die islamistische Utopie, die vorwiegend auf dem Kampf gegen den Imperialismus basierte, der es aber auch um den Aufbau einer neuen Gesellschaft zu tun war, die sich durch moralische Reinheit, soziale Gerechtigkeit und eine enge Verbindung von Religion und Politik auszeichnen sollte, diese Utopie ist diskreditiert, weil all ihre Ideale mit den harten Realitäten des Alltags kollidierten. In den Reihen der Intellektuellen ist ein tief gehender Wandel zu verzeichnen: Viele von denen, die für die Revolution kämpften, wie ‘Abdolkarim Sorus (Sorusch) und Mogtahed Sabestari (Schabestari), viele Künstler, die die islamischen Ideale gegen die vermeintlich korrupten westlichen Ideologien verteidigten, wie Moh.sen Mahmalbâf (Makhmalbaf), und viele Jüngere, die gegen die Vereinigten Staaten kämpften und in den achtziger Jahren an der Besetzung der amerikanischen Botschaft beteiligt waren, wie ‘Abbâs ‘Abdi und Ma‘s.ume Ebtekâr, haben einen tiefen Sinneswandel durchlaufen und verteidigen heute eine neue Denkweise: die Trennung von Politik und Religion. Für die neuen Intellektuellen14 soll sich die Religion auf die Spiritualität beschränken. Die Autonomie der Politik gegenüber dem Islam wird nicht nur als weltliche Forderung begründet, sondern auch als ein religiöses Gebot, damit die Religion, unbefleckt von kompromittierenden Einmischungen in weltliche Angelegenheiten, ihre Reinheit bewahren kann. Aus dieser Sicht hat die weltliche Verwicklung der Religion deren theokratischen Anspruch unterminiert – das Ziel, mit Hilfe der Institution des Velâyat-e faqih (der Herrschaft eines Rechtsgelehrten als Oberster Führer) und des kanonischen Rechts ^

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13 Vgl. Farhad Khosrokhavar: »Le nouvel individu en Iran«, in: Cemoti 26 (1998), S. 125-157. 14 Vgl. Mehrzad Boroudjerdi: Iranian Intellectuals and the West, Syracuse, NY 1996; Farhad Khosrokhavar: »Les intellectuels postislamistes en Iran«, in: Awal 11 (1994), S. 47-59, und »Les intellectuels post-islamistes en Iran revisités«, in: Revue Trimestre du Monde 1 (1996), S. 53-62.

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192 | Farhad Khosrokhavar (fiqh) die Gesellschaft zu formen. Die postislamistischen Intellektuellen verfügen über großen Einfluss in einer neuen Generation von Studenten. Es gibt rund anderthalb Millionen Studenten, die sich zu ungefähr gleichen Teilen auf die Staats- und die Privatuniversität verteilen. Diese neue Generation glaubt nicht mehr an die islamistische Lehre und denkt viel individualistischer als die an der Revolution beteiligte Generation ihrer Eltern.15 Inhaltlich gesehen sind die Forderungen der Studenten zum ersten Mal seit den späten dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, seit es die Studenten als nennenswerte soziale Gruppe gibt, demokratisch. In der Regierungs. zeit von Rezâ Sâh gab es nur wenige tausend Studenten, deren Kerngruppe marxistisch beeinflusst war, ohne indes in der Lage zu sein, innerhalb der Gesellschaft Druck auszuüben – was mit ihrer kleinen Zahl und der traditionellen Mentalität der iranischen Gesellschaft zusammenhing. Eine selbstbewusste Gruppe wurden die Studenten besonders von den sechziger . Jahren des 20. Jahrhunderts an, als Moh.ammad Rezâ Sâh die Landreform durchsetzte. Sie widersetzten sich dem Pahlavi-Regime bereits nach dem von CIA und britischen Geheimdiensten geförderten Staatsstreich von 1953 gegen Premierminister Mos.addeq.16 Doch erst ab den sechziger Jahren gewann die Studentenbewegung an Durchschlagskraft, weil sie zahlenmäßig stärker wurde und weil in der iranischen Gesellschaft das Tempo von Urbanisierung und Modernisierung rapide zunahm. Der starke Anstieg der Erdöleinnahmen in den siebziger Jahren und die Ausweitung des Universitätssystems verliehen den Studenten neue Stärke, weil in der Gesellschaft verbreitet Unmut herrschte über das autokratische Regime des Schahs und dessen Weigerung, den neuen städtischen Mittelschichten politische Mitspracherechte einzuräumen. Die Mehrheit der Studenten hatte mit der Demokratie allerdings nichts im Sinn. Denn die repressive Politik des Schahs, dessen aktive Beteiligung an der imperialistischen Politik der USA in der Region am Persischen Golf, der Mangel an Freiheit in der innenpolitischen Auseinandersetzung im Iran, das Fehlen einer gefestigten demokratischen Tradition im Lande und die gewaltsame Beendigung des ersten demokratischen Experiments im Iran unter Mos.addeq durch die USA im Jahre 1953 – all diese Faktoren führten zu einem generellen Misstrauen gegen die Demokratie. Man sah darin eher eine List der westlichen Staaten gegenüber den islamischen Ländern oder den Entwicklungsländern, ein Mittel zur Verhinderung ihrer wirtschaftlichen und politischen Autonomie. Die Studenten waren damals in zwei deutlich unterschiedliche Gruppen gespalten: Die einen verteidigten die Idee einer »proletarischen Revolution«, die anderen forderten eine islamische Gesellschaft, die dem moralisch korrupten und politisch pervertierten Regime des Schahs ein Ende setzen sollte. Dazwischen entwickelten Gruppen wie die Volksmudschaheddin eine synkretistische Ideologie des revolutionären Islam, in der sie die schiitische Endzeiterwartung des Zwölften Imam mit der marxistischen Utopie einer all^

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15 Vgl. zu den Einstellungen der jüngeren Studentengeneration Magid Moh.ammadi: Darâmadi bar raftâr senâsi-ye siyâsi-ye dânesguyân dar Irân-e emruz (Eine Einführung in die politischen Verhaltensmuster der Studenten im heutigen Iran), Teheran 1999/2000. 16 Vgl. Richard W. Cottam: Nationalism in Iran, Pittsburgh, PA 1964; Mark J. Gasiorowski: US Foreign Policy and the Shah: Building a Client State in Iran, Ithaca, NY 1991. ^^

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Die Öffentlichkeit im Iran | 193 gemeinen Volkserhebung kombinierten – mit dem Ziel, die Regierung des Schahs, einer Marionette des imperialistischen Westens, zu stürzen.17 Die gegen den Schah opponierenden Studenten hatten keine demokratischen Ideale. Das bedeutete auch, dass sie gegen jegliche autonome Öffentlichkeitssphäre waren. Die islamische Revolution wurde von etlichen unterschiedlichen Gruppen bewerkstelligt, die ein weites Spektrum abdeckten – von traditionell gesinnten Bauern in der Stadt (den »entbäuerlichten Bauern«)18 bis zu den radikalisierten Volksmassen –, die die Generationsgrenzen von Alt und Jung überschritten und von denen keine einzige demokratisch gesinnt war. Hier liegt der Grund, warum kaum ein Jahr nach der Revolution die von nur wenigen Minderheitsgruppen verteidigte Redefreiheit abgeschafft werden konnte, ohne dass es seitens der Bevölkerung zu nennenswerten Protesten kam. Tatsächlich war die Freiheit, der sich das Volk in den letzten Monaten vor dem Zusammenbruch des Pahlavi-Regimes und in den ersten Monaten nach der Revolution erfreuen durfte, einer Staatskrise geschuldet: Das Regime des Schahs war in Auflösung begriffen, und in der Anfangszeit der Revolutionsregierung, die an seine Stelle trat, war der Staat noch nicht reorganisiert, der Repressionsapparat noch untätig. Doch kaum ein Jahr nach der Revolution war das Vakuum dann fast völlig beseitigt, und der neue Staat schaffte die Freiheiten der Übergangszeit fortschreitend und systematisch wieder ab. Der lange Krieg mit dem Irak (1980-1988) gab dem islamischen Regime Gelegenheit, politische Freiheiten einfach zu verweigern – im Namen der nationalen und islamischen Einheit gegen den Feind. Als Imâm Homeyni (Khomeini) 1989 starb, waren die Aussichten für eine autonome Öffentlichkeit düster. Die radikalislamistische H . ezbollâh-Gruppe (Hisbollah) regierte in einer Situation politischer Desorganisation durch Repression und Einschüchterung. Der Tod des charismatischen Führers, zuvor schon das Ende des Krieges gegen den Irak, dann die Nominierung eines neuen obersten Führers, Ayâtollâh Hamene’i (Khamenei), die Herrschaft von Rafsangâni (Rafsandschani) als Präsident der Republik und der zunehmende Verlust des Vertrauens der Revolutionsgeneration in eine islamische Utopie – all dies setzte der aufwühlenden Aufbruchstimmung aus den Anfangsjahren der Revolution ein Ende. In einem Zeitraum, der sich noch bis in die ersten Jahre des Irak-Kriegs erstreckte, hatte eine Gruppe von sehr jungen, mit der Basig-Bewegung assoziierten Männern mit der Unterstützung Homeynis und des Revolutionsregimes für eine überhitzte Endzeitatmosphäre gesorgt, die in schiitischen Wendungen ihren Ausdruck fand (bevorstehende Wiederkehr des messianischen Verborgenen Zwölften Imam).19 Das Revolutionsregime ^

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17 Vgl. Ervand Abrahamian: Radical Islam: The Iranian Mojahedin, London 1989. 18 Vgl. Farhad Khosrokhavar: »Le modèle bassidji«, in: Cultures et Conflits 29/30 (1998), S. 59-118, und »Les paysans dépaysannés et la révolution iranienne«, in: Cemoti 27 (1999), S. 159-182. 19 Die religiöse Miliz Basig war eine Freiwilligenorganisation, deren Aufgabe zunächst darin bestand, nach der Revolution schahtreue Partisanen zu bekämpfen. Während des langen Krieges gegen den Irak (1980-1988) wurde sie zum Rückgrat der Mobilisation der Jugend. Auf dem Höhepunkt kämpften in den Reihen der Basig rund 400.000 Milizionäre gegen die irakische Armee. ^

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194 | Farhad Khosrokhavar benötigte unbedingt eine radikale Gruppe, die sich seiner aktivistischen Ideologie verschrieben hatte. Der Krieg selbst wurde als Martyrium gesehen und gedeutet, und die Idee der Selbstaufopferung der Jugend, verbunden mit der Sicht des Krieges als einer vom gottlosen imperialistischen Westen durch das irakische Regime aufgezwungenen Auseinandersetzung, entflammte und verschärfte solche Märtyrer-Visionen nur noch mehr. Alle Komponenten dieses Komplexes verstärkten sich wechselseitig. Die Repression des Zentralstaates und die Anwesenheit dieser Gruppe männlicher Jugendlicher, die bereit waren, die islamische Lehre bis zum Martyrium zu verteidigen, machten jene leidenschaftslose Gesamtatmosphäre unmöglich, in der sich eine autonome Öffentlichkeit hätte entwickeln können. Die Autonomie der Gesellschaft wurde vom Staat und von dieser Gruppe fanatisierter Jugendlicher verweigert, die das Regime und den von Ayâtollâh Homeyni propagierten aktivistischen Islam unterstützten. Homeynis Tod und kurz zuvor das Kriegsende setzten der aufgewühlten religiösen Atmosphäre in dieser Gruppierung ebenso ein Ende wie dem bedingungslosen Führergehorsam in der Gesellschaft – denn dem neuen Führer ging das Charisma des Verstorbenen ab.

Die Entwicklung der neuen Öffentlichkeit Diese negativen Aspekte (Abkühlung des revolutionären und religiösen Eifers, Ende des achtjährigen Krieges gegen den Irak, fehlendes Charisma des neuen Führers, Ayâtollâh Hamene’i, nach Homeynis Tod) führten in Verbindungen mit positiven Aspekten (Auftritt einer neuen Generation, die nicht an der Revolution teilgenommen hatte, Veränderungen in den internationalen Beziehungen nach dem Sturz des Kommunismus im Jahre 1989) zu einer neuen Lage im Iran. Die Wahl von Moh.ammad Hâtami (Khatami), einem Kleriker mit nicht-islamistischer Vision,20 zum Staatspräsidenten im Jahre 1997 sowie das Misstrauen, mit dem neue Generationen dem Aktivismus begegneten, diskreditierten die wichtigsten Dogmen des politisierten schiitischen Islam. Die neuen Generationen hatten die Revolution weit mehr als Mangelsystem denn als Utopie erlebt, und ihnen blieb der Zugang zu Überfluss und wirtschaftlicher Gerechtigkeit, wie ihn der revolutionäre Islam versprochen hatte, immer wieder vorenthalten. So war in den Augen der Jugend ebenso wie in denen der Elterngeneration, die sich an der Revolution beteiligt hatte, der revolutionäre Aktivismus nachhaltig diskreditiert. Man sorgte sich nun viel mehr um persönliche Freiheit und individuelles Wohlergehen, und jegliche ganzheitliche Ideologie stieß auf Skepsis. Ein neuer Intellektuellentyp begann, im Namen des Islam die theokratischen Grundlagen der islamischen Revolution in Frage zu stellen – durch Kritik am Konzept des Velâyat-e faqih (der Herrschaft eines Rechtsgelehrten als Oberster Führer) und durch Aufzeigen eines Weges zur Autonomie der Politik gegenüber der Religion mittels einer neuen Exegese des Islam. ^

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20 Vgl. Seyyed Moh.ammad Hâtami: Az donyâ-ye sahr tâ sahr-e donyâ (Von der Welt der Stadt zur Weltstadt), Teheran 1997/98, ein Buch, in dem der Autor eine nicht-islamistische offene Sicht der modernen Welt vertritt.

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Die Öffentlichkeit im Iran | 195 Die neue Öffentlichkeit wird von vielen Gruppen verteidigt, die ihrer Konzeption nach heterogen sind, die jedoch, enttäuscht vom politischen Islam, gemeinsame Grundüberzeugungen zu sozialen und politischen Fragen teilen. Dabei üben die weltlich gesinnten Intellektuellen großen Einfluss auf religiös geprägte Intellektuelle und die Jugend aus. Die so genannten religiösen Intellektuellen (rousanfekrân-e dini) haben viele ihrer Grundüberzeugungen – Toleranz, Autonomie der Gesellschaft gegenüber der Religion, Zurückweisung aller ganzheitlichen Gesellschaftskonzepte – in islamische Begrifflichkeit übersetzt. Auf diese Weise wurde die revolutionäre, intolerante Vision einer – unter Führung einer religiösen oder nichtreligiösen Avantgarde – gleichgeschalteten Gesellschaft entlegitimiert. Eine neue Einstellung, intellektuell, aber auch tief im Alltag verwurzelt, stellte die Bindung an utopische Visionen, im Namen hehrer Ideale verkündet, in Frage. Die modernisierte Jugend im heutigen Iran erlebt ständig im Alltag, wie ihr in der Öffentlichkeit sexuelle und politische Autonomie verweigert wird, wie ihr dank einer Klientelstruktur und -politik des Staates die Früchte des wirtschaftlichen Fortschritts vorenthalten bleiben und wie die Bürgerrechte durch die Miliz (Basig, Ans.âr-e H . ezbollâh) unterdrückt werden. Stets werden im Namen islamischer Sittlichkeit die Beziehungen zwischen Männern und Frauen reglementiert, nicht verschleierten wie »schlecht verschleierten« (bad h.egâb). Das repressive, puritanische Revolutionssystem erstickt jeglichen Ansatz zum Selbstrespekt. Die im Alltag verwurzelte Erfahrung der Verweigerung von Freiheit und Selbstbestimmung greift dabei auch auf den Bereich der Politik über – anders als in der Revolutionszeit, wo die Ideologie des politischen Islam gerade keine Extension der konkreten Alltagserfahrung, sondern Ergebnis der Indoktrination durch linke oder islamistische Ideologien war. Von einer ungezügelten revolutionären Utopie beseelt, handelte die Revolutionsgeneration – als Reaktion auf die Despotie des Schahs und ohne Rücksicht auf das Alltagsleben – radikal. Der neuen Generation bereitet dagegen vor allem die Verweigerung ihrer alltäglichen Freiheiten Sorge, sei es im Bereich von Sitten und Moral, sei es in der Politik. Politik wird gewissermaßen als Extension persönlicher Freiheitsbestrebungen wahrgenommen. Das macht diese Generation kompromissbereiter, um Gewalt zu vermeiden, aber auch kritischer gegenüber den Unzulänglichkeiten der Gesellschaft, weil ihre Maßstäbe in der konkreten Alltagserfahrung verankert sind und nicht in der abstrakten Außenwelt. Für die Revolutionsgeneration war an Mängeln in der iranischen Gesellschaft stets der Westen schuld; sie ließ es an jeder selbstkritischen Einstellung fehlen. Der Blick der neuen Generation auf die Komplexitäten der gesellschaftlichen Textur ist wesentlich ausgewogener; die Versäumnisse der Gesellschaft werden nicht mehr im Namen des Kampfes gegen den Imperialismus schöngeredet. Das wiederum erleichtert die Entwicklung einer Öffentlichkeitssphäre, in der gesellschaftliche Akteure gesellschaftliche Probleme als Resultat gesellschaftlichen Handelns kritisch reflektieren und verstehen können, als Folge des eigenen kulturellen und politischen Verhaltens. Die religiösen Konservativen als Gruppe stehen mit dem Rücken zur Wand. Sie repräsentieren, wie die Resultate der Präsidentschaftswahlen von 2001 und von Kommunal- und Parlamentswahlen in den Jahren 1999 und 2000 zeigen, höchstens noch 10 bis 15 Prozent der Gesellschaft. Ideologisch vertreten sie einen mehr oder weniger heterogenen Standpunkt. Es finden sich alte Revolutionäre Garden darunter, ^

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196 | Farhad Khosrokhavar ^

aber auch neue Intellektuelle (wie die Mitglieder der Familie Lârigâni) und moderne, im Westen ausgebildete Freiberufler, die zufrieden sind, die wirtschaftlichen Aktivitäten der Erstgenannten leiten zu dürfen. Die Konservativen werden sich zunehmend ihrer Stellung als Minderheit in der realen Gesellschaft bewusst, wo ihre traditionalistischen islamischen Sitten, ihre antiwestliche Haltung und ihr politisches Credo der völligen Unterordnung unter den Obersten Führer als Verkörperung des Islam von der großen Bevölkerungsmehrheit mehr und mehr hinterfragt werden. Sie weisen enge Verbindungen zu traditionellen Gruppen in den führenden Schichten im Basar auf und wehren sich hartnäckig gegen die »Unsittlichkeit« junger Frauen und gegen die schwach ausgeprägte religiöse Praxis der Jugend im Allgemeinen. Sie treten unbeirrt für die Durchsetzung islamischer Sitten in einer Gesellschaft ein, die sich von diesen Restriktionen zu befreien versucht, und sie bemühen sich um die Bewahrung der »Reinheit« des Islam, indem sie sich weigern, einer Aufweichung der rigiden Interpretation des Islam zuzustimmen. Sie haben Angst vor einer Demokratisierung der Gesellschaft, die ihre ökonomischen und politischen Privilegien in Frage stellen würde – Privilegien, die mit anderen zu teilen sie nicht bereit sind. Sie verfügen über die Zwangsmittel des Staates, über Armee und Polizei, Milizen und illegale Pressure groups, die alle dem Obersten Führer unterstellt sind, und sie werden von einigen sehr finanzkräftigen islamischen Verbänden unterstützt, etwa von der Hey’at-e Mo’talefe. Für sie stellt die »neue« Gesellschaft allein schon durch ihre Existenz eine Gefahr dar, darum weigern sie sich, auf deren Forderungen offen einzugehen. Andererseits treten die neuen Generationen mit ihren Ansprüchen auf mehr Autonomie und Freiheit immer mehr in den Vordergrund. Die neue Öffentlichkeit ist für diese neuen Gruppen, die die Grundlagen des gesamten revolutionären Systems in Frage stellen, Realität und Anspruch zugleich.

Die affektiven Veränderungen innerhalb der Familie Neben den sozialen und kulturellen Gründen, die zur Entwicklung der neuen Öffentlichkeit beigetragen haben, sind auch anthropologische Gründe von entscheidender Bedeutung, zum Beispiel Veränderungen in der Familienstruktur – in Großstädten, kleineren Städten und sogar auf dem Land in der Nähe der großen Städte. Die für die iranische Gesellschaft typische rigide patriarchalische Familienstruktur hat in den beiden letzten Jahrzehnten bemerkenswerten Veränderungen durchgemacht. Die distanzierte Vaterfigur, wie sie aus der iranischen Mythologie bekannt ist,21 wie sie aber im Zeichen der islamischen Revolution von 1979 auch – mit Aus^

21 Mit Bezug auf den mythischen Helden in Ferdousis Nationalepos Königsbuch (Sâhnâme) spricht man oft von einem »Rostam-Komplex«. Im Kampf tötet der legendäre Held Rostam seinen Sohn S.ohrab und stellt auf diese Weise unwissentlich die patriarchalische Ordnung wieder her, die im Falle von S.ohrabs Sieg möglicherweise in Gefahr gewesen wäre. Im Königsbuch tötet übrigens der Vater den Sohn, während im griechischen Mythos Oedipus als Sohn unwissentlich seinen Vater tötet.

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Die Öffentlichkeit im Iran | 197 nahme einer winzigen Minderheit von verwestlichten Teheraner Familien – als Vorbild der iranischen Familie diente, hat sich dramatisch verändert. Der Vater ist inzwischen emotional eng an seine Kinder herangerückt.22 Der Vater ist nicht mehr die alleinige Entscheidungsinstanz, wenn es um die Zukunft seiner Kinder geht, um Ehen und beruflichen Karrieren. Die Mädchen haben heute eine bessere Schulbildung, und sie haben gelernt, über ihre eigenen Eheschließungspläne zu verhandeln und, wie ihre Brüder, über die eigene Zukunft zu entscheiden – natürlich nicht im Alleingang, aber in Abstimmung mit den Eltern. In den städtischen Regionen ist aus der »arrangierten« Ehe längst eine »ausgehandelte« geworden, so wie auch die Entscheidung für Schulbesuch und Studium weitgehend vom Joch der Tradition befreit wurde, der zufolge Mädchen nicht studieren durften und sogar vom Besuch der Oberschule ausgeschlossen waren.23 Auch auf politischem Gebiet hat dieses neue Verhaltensmuster indirekte Folgen. Homeyni war ein Patriarch, der als Übervater an die Stelle des Schahs trat, den er vertrieb. Seine Rolle hatte eine transzendente Seite, er war die unbeugsame Figur des idealisierten Vaters. Heutzutage ist Hâtamis Charisma das eines älteren Bruders, den die Jugend wegen seiner Fehler kritisiert, den sie wegen seiner Nähe und Demut jedoch schätzt.24 Die transzendente Figur des Obersten Führers Homeyni, Idol der iranischen Revolutionsgeneration, ist der immanenten Figur des Präsidenten Hâtami gewichen, der die Rolle des neuen Vaters oder älteren Bruders verkörpert. Die Affinitäten zu diesen beiden Figuren und Rollenvorbildern sind nicht unschuldig. Sie enthalten auch einen Verweis auf das neue symbolische Modell der Familie, in dem der ältere Bruder dem Vater nicht mehr bedingungslos gehorsam, sondern mit ihm fast austauschbar geworden ist. Das trug in den Wahljahren zu Hâtamis großer Volksnähe bei. Die Transformation des präsidialen Charismas ist also wenigstens zum Teil auch den Veränderungen der beiden letzten Jahrzehnte in den iranischen Familien in geschuldet. Dies wiederum bereitet einer Gesellschaft aus Gleichberechtigten den Weg, in der Väter gegenüber ihren Kindern keine allzu privilegierte Position mehr innehaben, so wie analog auch die ^

22 Vgl. z.B. T.aqi Âzâd Barmaki: »Sekâf-e beyn-e nasli dar Irân« (Die Kluft zwischen den Generationen im Iran), mit dem Untertitel »Sekâf-e beyn-e nasli dar hânevade« (Die Kluft zwischen den Generationen in der Familie), in: Nâme-ye angoman-e gâme‘e senâsi-ye Irân (Journal of the Sociological Association of Iran) 4 (2000/01). 74 Prozent der Befragten gaben an, dass die jüngere Generation sich aufgrund des kulturellen Wandels und der intimeren Beziehungen innerhalb der Familie nicht mehr an die Verhaltensregeln der Vergangenheit halte. 23 Bei einer von Farhad Khosrokhavar und Amir Nikpey durchgeführten, sehr ausführlichen Meinungsumfrage unter Jugendlichen beiderlei Geschlechts in Teheran und in zwei anderen Städten in den Jahren 2000 und 2001 wurden rund 150 Personen zwischen 19 und 25 Jahren interviewt. Eine beträchtliche Mehrheit der Befragten verwies auf diese neue familiäre Einstellung zu Verhandlungslösungen in Zukunftsfragen (Heirat, Studium, Berufswahl usw.). 24 Anm. des Hg.: In den Jahren seit Abfassung dieses Beitrags hat er allerdings stark an Glaubwürdigkeit eingebüßt. ^

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198 | Farhad Khosrokhavar charismatischen politischen Führungsfiguren dem kritischen Zugriff der Bürger nicht länger entzogen sind.

Auf Umwegen zur Öffentlichkeit In Gesellschaften, in denen die demokratischen Institutionen vom Staat nicht vollständig anerkannt sind oder gar unterdrückt werden, suchen die Menschen nach anderen Wegen, um ihre Beschwerden oder Forderungen zum Ausdruck zu bringen. Eine dieser Möglichkeiten bieten kollektive Sportereignisse, eine andere Straßendemonstrationen aus scheinbar nichtpolitischem Anlass. Eine dritte Möglichkeit ist das öffentliche Zum-Ausdruck-Bringen jener Affekte, die von den gegenwärtigen Machthabern an den Rand gedrängt wurden. Im Iran sind seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts nationale und internationale Fußballspiele zu öffentlichen Großereignissen geworden. Als bei der Fußballweltmeisterschaft 1998 in Lyon der Iran gegen die USA gewann, aber auch schon nach den Siegen gegen Australien in den Qualifikationsspielen strömte die Bevölkerung, besonders die Jugend, auf die Straßen der iranischen Städte und ließ ihrer Freude und ihrem Enthusiasmus freien Lauf. Dabei begannen viele Leute zu tanzen und ihre »nationalen« Gefühle auf nichtreligiöse Weise zum Ausdruck zu bringen. Männliche und weibliche Jugendliche gingen so miteinander um, dass es den Vorschriften der Scharia offen widersprach. Während die offizielle Ideologie des islamischen Regimes davon ausging, dass iranische und islamische Identität auf das Engste miteinander verbunden seien, spiegelte das neue Verhaltensmuster der Jugend, als besagtes Junktim im trotzigen Jubel aufgehoben wurde, eine überwiegend nichtreligiöse Stimmung wider. Die Hauptaffekte der Schiiten, während der islamischen Revolution von 1979 ebenso mobilisiert wie später im Krieg gegen den Irak und im Straßenkampf gegen die linke Opposition der Volksmudschaheddin in den Jahren 1981 und 1982, waren Selbstaufopferung, Sorge und Trauer. An die Stelle kalter, vernunftbestimmter öffentlicher Debatten über soziale Probleme traten öffentliche Trauerbekundungen. Der Präzedenzfall des traditionellen Schiitentums für Schmerz und Trauer, die Passion und das Martyrium des Imams H . usain, des Dritten Imams, der im 9. Jahrhunderts durch den Umayyaden-Kalif Yazîd getötet wurde, ist Anlass für einen ganzen Trauermonat (moh.arram), in dem das Martyrium des Imams und seiner Gefährten rituell wiederaufgeführt wird und in dem die Menschen bei den Prozessionen Tränen vergießen und ihre Trauer um den erschlagenen Imam offen bekunden. So verstärkte das islamische Regime im Iran seine symbolische Legitimität dadurch, dass es diesen Affekten einen besonders hohen Stellenwert einräumte, um seine politischen Ziele zu rechtfertigen. Auf diese Atmosphäre institutionalisierter Trauer reagierte die Jugend der neuen Generation nun mit öffentlichen Freudenkundgebungen – im Rahmen einer Art »Gegenkultur«, die die offiziell sanktionierten Affekte in Frage stellte, die sonst, bei offiziellen Anlässen, die öffentliche Stimmung dominierten. Die neue Generation demonstrierte auf diese Weise nicht zuletzt ihre Abnabelung von jener »islamischen Gemeinschaft«, die der Staat förderte und die er unter seiner Ägide mit Beschlag belegte. Die Freudenkundgebungen auf den Straßen un-

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Die Öffentlichkeit im Iran | 199 terstrichen die Autonomie der Gesellschaft gegenüber dem Staat. Schon allein die große Zahl der Demonstranten machte es den Konservativen unmöglich, diese Tatsache zu leugnen, ohne sich lächerlich zu machen. Stattdessen versuchten die Konservativen nun, diese Einstellung zu diskreditieren, indem sie darauf hinwiesen, wie anfällig für Ausbeutung und Manipulation durch den Westen oder sogar durch die »fünfte Kolonne« innerhalb der eigenen Gesellschaft diese Haltung sei. Die neue Stimmung wird auch bei Gruppensportereignissen sichtbar, zum Beispiel am Wochenende beim Bergwandern in der Nähe von Teheran. Donnerstags und freitags (den Wochenendtagen im Iran und in vielen islamischen Ländern) machen gemischte Gruppen von Jugendlichen beiderlei Geschlechts stundenlange Wanderungen, manchmal auch Kletterpartien in den Bergen. Auch diese Aktivitäten stellen die zuvor, bis Anfang der neunziger Jahre, ausschließlich religiösen Ausdrucksmöglichkeiten der Affekte im öffentlichen Raum in Frage. Der Stimmungswandel in den jüngeren Generationen rückt die nichtreligiösen Affekte ins Zentrum der Aufmerksamkeit, und dies wiederum ermöglicht implizit eine neutrale Öffentlichkeitssphäre, die sich dem Einfluss religiöser Dogmen entzieht. Die Säkularisierung als Merkmal der Öffentlichkeit wird durch die neuen Affekte und Einstellungen der Jugend erreicht – in einer Gesellschaft, in der im intellektuellen Bereich religiöse Denker wie Mogtahed Sabestari, ‘Abdolkarim Sorus, Moh.sen Kadivar und Yusefi Eskevari die Trennung von Religion und Politik in islamischen Begriffen zu rechtfertigen versuchen. Die Verbindung beider Bewegungen öffnet die Gesellschaft für neue Ansprüche und Anforderungen, die der Revolutionsgeneration vor zwei Jahrzehnten völlig fremd waren. ^

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Die neuen Protagonisten der Öffentlichkeit Damit sich innerhalb eines autokratischen Revolutionsregimes eine autonome Öffentlichkeit entwickeln konnte, bedurfte es neuer Akteure. Bei dieser Entwicklung taten sich mit ihrem gesellschaftlichen Handeln drei Gruppen besonders hervor. Die erste dieser Gruppen war eine neue Journalistengeneration, die sich nach dem Tod Ayâtollâh Homeynis gegen die staatliche Zensur wehrte. Eine Zeitschrift wie Salâm, die im Namen des Islam die Politik der Machthaber zaghaft kritisierte, wurde während Rafsangânis Präsidentschaft verboten. Hâtamis Wahl verlieh den Medien neuen Impetus, getragen von Journalisten, von denen die meisten ein Jahrzehnt zuvor noch Revolutionäre gewesen waren. Doch sie hatten inzwischen ihre Einstellung zum Islam, zu politischen Problemen, sozialen Aufgaben und internationalen Angelegenheiten geändert. Darunter befanden sich renommierte revolutionäre Intellektuelle wie ‘Abdolkarim Sorus, der hinter einer Zeitschrift wie Kiyân stand, die neue Versionen und Interpretationen des Islam veröffentlichte, wie Mogtahed Sabestari, Mos.t.afâ Malekiyân und viele andere. Im Bereich neuer Printmedien, deren Zahl 1997 und 1998, auf dem Höhepunkte der Präsidentschaft von Hâtami, auf mehr als tausend angewachsen war, zeichnete sich eine weitere Gruppe durch besondere Aktivität aus: die Journalistinnen. Sie gründeten neue Zeitungen, Wochenzeitungen oder Monatsschriften oder erweckten alte zu neuem Leben. Dahinter standen einflussreiche ^

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Frauen wie die Schwester Rafsangânis oder säkulare Feministinnen wie Friedensnobelpreisträgerin Sirin (Schirin) Ebâdi und Mehrangiz Kâr.25 Eine jüngere Generation von Journalisten schließlich, die dritte Gruppe, schloss sich den älteren Journalisten an. Es entwickelte sich ein bislang im Iran unbekannter Enthüllungsjournalismus. Junge Leute wie Moh.ammad Qucâni deckten auf, wie die neue ökonomische und politische Elite des Landes ihren Einfluss auf die iranische Wirtschaft in illegaler und unmoralischer Weise geltend machte und dabei ohne staatliche Kontrolle Privatvermögen anhäufte. Im gleichen Geiste denunzierte Akbar Gangi, ein Ex-Revolutionär, den »faschistischen Islam« der Machthaber unter den Konservativen. Intellektuelle, Journalisten, Männer wie Frauen, desillusionierte Revolutionäre und die Generation ihrer Kinder, sie alle trugen zu diesem neuen Phänomen bei: Infragestellung der Theokratie durch Zweifel an ihren islamischen Wurzeln und ihrer religiösen Legitimation. Die enge Verbindung zwischen Intellektuellen und professionellen Journalisten schuf eine neue, spezifische Art von öffentlicher Meinung. Ihre Zeitungen, Journale und Wochenzeitschriften haben zwar nur marginale Bedeutung im Vergleich zu Fernsehen und Radio, die sich in den Händen der Konservativen befinden, von denen die genannten Intellektuellen und Journalisten als antiislamisch diffamiert werden. Doch trotz der täglichen Diffamierungen im Fernsehen sind die reformorientierten Zeitungen die Führer der öffentlichen Meinung. Obwohl sie in puncto Reichweite und im komplexen Mediensystem im Iran nur eine Minderheit sind, sprechen sie in puncto Legitimität für die Mehrheit; in der allgemeinen Wahrnehmung spiegeln sie die Ideen der »realen Gesellschaft« wider. Demgegenüber gelten im Volk diejenigen, die in den Massenmedien die Zügel in der Hand haben, als parteilich, illegitim und nicht objektiv. Die neue Öffentlichkeit im Iran fußt also auf einer öffentlichen Meinung, die die gegenwärtige Situation kritisch sieht, die der Minderheitenpresse Glaubwürdigkeit attestiert und jene zurückweist, die eigentlich über das nationale Radio und Fernsehen die öffentliche Meinung formen sollen. In dieser Hinsicht fallen »reale Gesellschaft« und Machthaber auseinander, und die öffentliche Meinung wird vorrangig von jenen Medien gebildet, die ständig dem Risiko ausgesetzt sind, von der Justiz, die von den Konservativen dominiert wird, verboten oder zensiert zu werden.26 ^

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25 Vgl. Mehrangiz Kâr: Pazuhesi dar bâre-ye hosunat aleyhe zanân dar Irân (Forschungen zur Gewalt gegen Frauen im Iran), Teheran 2000/01; Gamile Kadivar: Zan, Teheran 1996/97; Nouchine Yavari d’Hellencourt (Hg.): Les femmes en Iran: Pressions sociales et stratégies identitaires, Paris 1998; Sirin Ebâdi: Târihce va asnâd-e h.oquq-e basar dar Irân (Geschichte und Dokumente der Menschenrechte im Iran), Teheran 1994/95. (Vgl. auch den Beitrag von Elham Gheytanchi im vorliegenden Band.) 26 Seit 1997 wurden viele Zeitungen geschlossen, das Gros von mehr als 20 Blättern im Jahre 1999, was Studentenproteste hervorrief, die im Sommer 1999 von Polizei und Miliz niedergeschlagen wurden. Vgl. Moh.ammad Rez.â Galâ’ipur: Doulat-e penhân, barresi-ye gâme‘-e senâhti va avâmel-e tah.did konande-ye gonbes-e es.lâh.ât (Die verborgene Regierung: Eine soziologische Untersuchung der Fakten, die die Reformbewegung bedrohen), Teheran 2000/01; Thierry Coville (Hg.): L’économie de l’Iran islamique: Entre l’état et le marché, Teheran, Paris 1994. ^

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Die Öffentlichkeit im Iran | 201 Auch Sarkasmus ist in den Händen von Intellektuellen zum Werkzeug geworden, in Romanen und satirischen Gedichten, in denen die Unzulänglichkeiten des Justizsystems, seine Doppelmoral sowie die unrechtmäßigen Methoden angeprangert werden, mit denen die Konservativen die Reformer neutralisieren.27 Die innere Spaltung in den Institutionen des Staates hat bei der Entstehung dieser Art von Öffentlichkeit eine wichtige Rolle gespielt. Denn in der islamischen Republik herrscht eine duale Machtstruktur. Zum einen gibt es den »demokratischen Sektor«, der von Wahlen und den Stimmen des Volkes abhängt: Das Amt des Präsidenten der Republik und die Sitze der Parlamentsabgeordneten werden durch Wahlen vergeben. Die vier anderen wichtigen Institutionen indes sind dem Einfluss des Wahlvolks entzogen: das Amt des Obersten Führers (vali-ye faqih), die Justiz, der Wächterrat (sorâ-ye negahbân), der die vom Parlament verabschiedeten Gesetze überwacht und im Namen des Islam zurückweisen kann, sowie der Rat zur Feststellung der übergeordneten Interessen des Islam (sorâ-ye tashis.-e mas.leh.at), der in Streitfällen zwischen Parlament und Wächterrat die letztgültige Entscheidung fällt. Die Mitglieder dieser Institutionen werden in einem komplizierten Auswahlverfahren benannt, bei dem das Volk keine Mitwirkungsmöglichkeit hat.28 Auf diese Weise sind die gewählten Körperschaften den nicht gewählten, die jede wichtige Entscheidung gegen die Interessen der Konservativen verhindern, untergeordnet. Ein weiterer Faktor, der die Position der Konservativen stärkt, ist die Existenz eines halböffentlichen Sektors, der sich der Regierungsaufsicht entzieht und direkt dem Obersten Führer unterstellt ist: die Revolutionsstiftungen. Dabei handelt es sich um komplexe ökonomische Strukturen, die, anders als die Privatwirtschaft, von der Pflicht zur Steuerzahlung befreit und gegenüber der legalen Regierung nicht zur Rechenschaft verpflichtet sind.29 Diese Stiftungen haben ganze Wirtschaftsimperien mit schillernden Bilanzen und kreativer Buch- und Kontoführung errichtet. Sie helfen bei der Organisation von Demonstrationen, bezahlen den Konservativen die Milizen und finanzieren deren Klientelgruppen. An der Spitze der Revolutionsstiftungen stehen geschlossene kleine Gruppen aus Religion und Politik, die sich am islamischen Fundamentalismus orientieren, wie die »Gruppe der Vereinten« (goruh-e mo’talefe), welche die Hierarchie der Pasda. ran-Armee (zum Beispiel Moh.sen Rezâ) repräsentiert, einige der Alten Garden im . Basar (wie Asgaroulâdi und Hamusi) und einige antimoderne Kleriker (wie Ayâtollâh Gannati und Mes.bah Yazdi). Diese Gruppen haben ihre eigenen Medien und sind eng mit dem Obersten Führer und der Justiz verbunden, die die offiziellen Radiound Fernsehsender dominieren. Die Konservativen als Körperschaft haben es geschafft, ihre institutionellen Strukturen gegen Einflüsse von außen abzusichern. So können sie auch Aktionen ^

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27 Vgl. z.B. Seyyed Ebrâhim Nabavis Roman Sotun-e pangom (Die fünfte Kolonne), Teheran 1999/2000, und seine Sammlung satirischer Gedichte, Se‘r-e tanz-e emruz-e Irân (Satirische Gedichte aus dem heutigen Iran), Teheran 2000/01. 28 Vgl. Asghar Shirazi: The Constitution of Iran: Politics and State in the Islamic Republic, London 1997. 29 Vgl. Parvin Alizadeh (Hg.): The Economy of Iran: Dilemmas of an Islamic State, London, New York 2000. ^

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202 | Farhad Khosrokhavar des Parlaments verhindern. Reformorientierte Medien, die die illegalen Einflüsse der konservativen Nomenklatura in Frage gestellt haben, werden von der Justiz einfach geschlossen: Viele Zeitungen wurden verboten, viele Journalisten auf legale oder illegale Weise eingeschüchtert oder ins Gefängnis geworfen. Der Wächterrat blockiert alle Gesetze, die die Vorrechte der Konservativen beschneiden könnten, und der Rat zur Feststellung der übergeordneten Interessen des Islam weist anschließend in Streitfällen mit dem Wächterrat Einsprüche des Parlaments zurück. So herrscht im institutionellen System des Iran eine Pattsituation.

Die Paradoxien der Öffentlichkeit im Iran Einerseits gibt es eine öffentliche Meinung, die weitgehend von den reformorientierte Medien beeinflusst ist und die auch diese ihrerseits beeinflusst. Sie steht für eine neue Zivilgesellschaft, die im Wachsen begriffen ist und um Anerkennung in der Öffentlichkeit ringt. Die Präsidentschaftswahlen von 1997 und 2001, die Parlamentsund Kommunalwahlen von 1999 und 2000, sie alle belegen den Aufstieg dieser neuen Gesellschaft, die besser ausgebildet ist als die vorangegangene Generation. Ihr gehören überwiegend junge Menschen im Alter unter 25 Jahren an, die für eine Öffnung des politischen Systems und eine demokratischere Gesellschaft eintreten. Institutionell wird die Öffentlichkeit jedoch von jenen Medien beherrscht, die sich in den Händen nichtdemokratischer Gruppen befinden – vor allem der Konservativen, die eine korporativ verfasste Wirtschaftsgruppe bilden und darüber hinaus die Wahlprozeduren beaufsichtigen. Ihr Blockadepotenzial hinsichtlich der Reformaktionen in Exekutive und Legislative ist hoch.30 So entsteht inmitten der iranischen Gesellschaft eine Zivilgesellschaft, die gegenüber dem Staat immer autonomer wird, an der Macht jedoch nur einen sehr geringen Anteil hat. Diese neue Zivilgesellschaft, die erste in der iranischen Geschichte, befindet sich aufgrund der institutionellen Pattsituation in einer ernsthaften Krise. Dieses Problem ist ideologischer Art (einige der konservativen Kleriker sind alt und antimodern), aber auch ökonomisch bedingt: Die Konservativen beherrschen mit Hilfe halböffentlicher ökonomischer Strukturen viele Sektoren der Wirtschaft, schließen auf diese Weise Wettbewerber aus und sichern sich selbst überhöhte Profite. Die wechselseitige Lähmung der Gesellschaft durch die Pattsituation ist fast total – einer Gesellschaft, die immer homogener wird und nach mehr politischen Freiheiten, Mitspracherechten in der Politik, wirtschaftlichen Chancen und nach mehr Freiheit im Umgang der Geschlechter verlangt.31 Drei getrennte Gruppen sind es insbesondere, die gegen den Status quo protestieren: die Studenten, die Intellektuel30 Vgl. Mohammad-Reza Djalili: Iran: L’illusion réformiste, Paris 2001; Wilfried Buchta: Who Rules Iran? The Structure of Power in the Islamic Republic, Washington, DC 2000; Houchang E. Shehabi: »The Political Regime of the Islamic Republic of Iran in Comparative Perspective«, in: Government and Opposition, 36:1 (2001), S. 48-70. 31 Vgl. John L. Esposito/Rouhollah K. Ramazani (Hg.): Iran at the Crossroads, New York 2001.

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Die Öffentlichkeit im Iran | 203 len und die Frauen aus der Mittelschicht. Anders als in den heroischen Zeiten der Revolution sind sie nicht mehr auf sich gestellt, im Elfenbeinturm verschlossen. Die Verbindungen dieser Gruppen mit der umfassenderen Gesellschaft werden durch kulturelle und politische Bewegungen aufrechterhalten. Die Diskrepanz zwischen den Aspirationen und Forderungen dieser neuen Gesellschaft und einer aus der Revolution ererbten politischen Struktur wird immer akuter. Die gewählten Instanzen haben bislang die Rolle der Pufferzone zwischen beiden Lagern gespielt, doch langfristig könnte mangels greifbarer Reformen die Koexistenz zwischen der realen Gesellschaft und der politischen Struktur in Frage gestellt sein. Die Reformer haben bei der Geburt der Öffentlichkeit im Iran eine wichtige, allerdings ambivalente Rolle gespielt. Sie haben der neuen Gesellschaft, die sich gegen das revolutionäre politische System entwickelt hat, institutionelle Unterstützung gegeben, doch haben sie damit auch neue Erwartungen und Wünsche entstehen lassen, die sie nicht mehr befriedigen können. Ihr Dilemma ist das eines Subsystems in einem politischen Regime, das sie als Ganzes diskreditieren, ohne jedoch in der Lage zu sein, es von innen heraus zu reformieren. Sie können unter den Argusaugen der undemokratisch gesinnten Machthaber nicht über ein bestimmtes Maß an Freiheit hinausgehen, doch die reale Gesellschaft hat dieses durch die Koexistenz von Reformern und Konservativen erzwungene Maß an Zurückhaltung bereits hinter sich gelassen. Darum befindet sich gegenwärtig die Öffentlichkeit in einer Krise, und die Lage verschlechtert sich von Tag zu Tag. Die offene Politik der gewählten Organe verleiht einer demokratischen Meinung Legitimation, die jedoch in ihren konkreten Ausdrucksmöglichkeiten durch die nicht gewählten, im politischen System dominierenden Institutionen unterdrückt wird. Die Hâtami-Epoche seit 1997 kann als eine Art Übergangszeit gelten, in der eine neue öffentliche Meinung geboren wird, die durch die liberale Deutung des Islam legitimiert werden könnte, welche der Präsident, und seit 2000 auch das Parlament vertritt, die sich indes wegen der unbeirrbaren Opposition der anderen politischen Strukturen nicht durchsetzen ließ – jener Strukturen, die auf der Ideologie des Velâyat-e faqih (Herrschaft eines Rechtsgelehrten als Oberster Führer) basieren. Die gegenwärtige Öffentlichkeit kann in ihrer Existenz nicht mehr rückgängig gemacht werden, weil sie auf einer neuen Generation fußt, die die alte Utopie einer einheitlichen Glaubensgemeinschaft (sei es der Islam, sei es der Marxismus) aufgegeben hat und gegenwärtig eine Desillusionierungsphase durchlebt, in der das Selbst eher nach Anerkennung als Individuum denn als Mitglied einer heiligen Gemeinschaft strebt – ganz gleich ob es sich dabei um den Islam oder um irgendeine andere geheiligte Ideologie handelt.

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206 | Elham Gheytanchi

Frauen in der islamischen Öffentlichkeit des Iran Elham Gheytanchi Die Lage der Frauen im Iran wandelte sich im letzten Jahrhundert mehrfach. Als Gruppe wurden Frauen erstmals nach der Verfassungsrevolution von 1906-1911 aktiv; zur Zeit der neuen Pahlavi-Dynastie (1921-1979) gelangte diese Bewegung unter . staatliche Kontrolle.1 Unter Rezâ Sâh (Reza Schah), der sich bei seinen Reformen an der Türkei Kemal Atatürks orientierte, wurden die Frauen zwischen 1936 und 1941 gezwungen, den Schleier abzulegen. Durch diesen Akt wurde der weibliche Körper zum Ort politischer Auseinandersetzungen. In den folgenden Jahrzehnten . . vereinheitlichte Rezâs Sohn, Moh.ammad Rezâ Sâh, die Frauenorganisationen und schuf eine staatliche Stelle zur Kontrolle des politischen Aktivismus von Frauen, die der herrschaftlichen Forderung nach Entschleierung und Verwestlichung der Frau Geltung verschaffte. Das revolutionäre Projekt von Homeyni (Khomeini) zog dann all jene Frauen an, die sich weiter an das islamische Gesetz und an die islamischen Moralvorstellungen halten wollten. In den zweieinhalb Jahrzehnten schließlich, die seit der Iranischen Revolution vergangen sind, war die Identität muslimischer Frauen erneut substanziellen Veränderungen unterworfen. Dabei bildete sich ein neues Selbstverständnis muslimischer Frauen heraus. In der Zeit vor der Revolution von 1979 waren Frauen aus privilegierten Kreisen – Frauen, deren Vorzugsstellung durch Bildung, Kultur und Klassenzugehörigkeit begründet war – in der Politik vertreten. Die neuen Mittelschichten und Eliten der Pahlavi-Ära, in ihrer politisch-kulturellen Orientierung weltlich und westlich ausgerichtet, folgten unterschiedlichen Ideologien: Nationalismus, Kommunismus und Liberalismus. Doch war »in den meisten Staaten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre niemals klar festgelegt« (Dale F. Eickelman; vergleiche dazu den Beitrag von Ludwig Ammann im vorliegenden Band.)2 Zudem dauerte die vom Schah verordnete Trennung von Politik und Religion nicht lange an; die Revolution von 1979 brachte die Religion massiv in die Politik zurück, und so wurde der weibliche Körper erneut zum Ort politisch-religiöser Auseinandersetzungen. Seither ist das Erscheinungsbild von Frauen in der Öffentlichkeit zur hochpolitischen Angelegenheit geworden. 1979 wurde die Verschleierung (h.egâb) Pflicht, und weltlicher Widerstand gegen diese Maßnahme wurde nach der Revolution massiv unterdrückt. Auch wenn es seitens säkular eingestellter Frauen zu Beginn der Revolution noch Opposition gegen die H . egâb-Pflicht gab, wurde die Verschleierung allmählich von allen Frauen als Tatsache des iranischen Lebens akzeptiert. Laut Ziba Mir-Hosseini gilt der H . egâb auch nicht allen Aktivistinnen als Problem, weil ^

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1 Vgl. Parvin Paidar: Women and the Political Process in Twentieth Century Iran, Cambridge 1995, und Eliz Sanassarian: The Women’s Rights Movement in Iran, New York 1982. 2 Vgl. Dale F. Eickelman/Jon W. Anderson (Hg.): New Media in the Muslim World: The Emerging Public Sphere, Bloomington, IN 1999, S. 15.

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Frauen in der islamischen Öffentlichkeit des Iran | 207 »viele Frauen im Iran heute ihre Ausbildung, ihre Jobs, ihre wirtschaftliche Autonomie und ihren Stand in der Öffentlichkeit dem H . egâb-Zwang verdanken. Für viele Frauen ist der Schleier ein Kennzeichen, ja sogar der Inbegriff ihrer weiblichen Identität; er macht sie in den Augen der Gesellschaft akzeptabel, nicht zuletzt als Ehepartner. In dieser Hinsicht unterschiedet sich das Schleiertragen nicht wesentlich von anderen Botschaften, die Frauen anderswo durch ihre Kleidung übermitteln.«3 ^

In der Revolutionszeit erwies sich Homeynis Aufruf an die Frauen, sich am politischen Leben zu beteiligen, als widersprüchlich: Nachdem man sie ermutigt hatte, eine aktive Rolle zu spielen, entwickelten die Frauen ein feministisches Bewusstsein und begannen, die ihnen nach der Revolution verweigerten Rechte einzufordern. Im letzten Jahrzehnt haben sich muslimische Frauen durch Mitarbeit im Parlament und in den Stadträten aktiv in der Politik engagiert. Weil Feminismus als Direktimport aus dem imperialistischen Westen galt, dessen Einfluss durch die Revolution ausdrücklich unterbunden werden sollte, bezeichneten sich die muslimischen Aktivistinnen auch nicht als Feministinnen. Vielmehr versuchten sie, ihre eigene, etwas andere Form eines Feminismus zu schaffen: eine Art islamische Bewegung zur Mobilisierung armer Frauen in Stadt und Land, um deren im »wahren Islam« manifestiertes Potenzial tatsächlich voll zu verwirklichen. Zahrâ Rahnavard, Fât.eme Hasemi und ‘Az.am T.âleqâni waren die ersten muslimischen Aktivistinnen im Iran, die argumentierten, der Islam sei das einzige sozioökonomische und politische System, das weder auf die Verhäuslichung der Frauen noch auf deren Vermarktung aus sei; es weise Frauen den Bereich von Haus und Familie zu, ohne sie auf den Privatbereich zu beschränken.4 Die These dieser Aktivistinnen lautete, im Kapitalismus und im Kommunismus würden die Frauen als Sexobjekte unterdrückt bzw. als billige Arbeitskräfte ausgebeutet. Beiden Systemen müsse also vorgeworfen werden, den Frauen das eigentlich Weibliche genommen zu haben. Im Islam dagegen würden Frauen ermutigt, sich am wirtschaftlichen Leben zu beteiligen. Sie würden als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft behandelt, ohne dass ihr weibliches Wesen abgewertet werde. Ihre Arbeit innerhalb wie außerhalb des Hauses sei wertvoll, und . die Koranverse zeigten, dass Frauen ein Anrecht auf nafage hätten – eine Vergütung, die Frauen von ihren Ehemännern für die Aufzucht der eigenen Kinder oder für die Hausarbeit bekommen könnten.5 Nach Meinung von Hannah Arendt lassen sich in der Politik des 20. Jahrhunderts moralische und politische Inhalte nicht sauber auseinanderhalten, weil uns der ^

3 Ziba Mir-Hosseini: Islam and Gender: The Religious Debate in Contemporary Iran, London 1999, S. 278. 4 Vgl. Zahrâ Rahnavard: Z.ohur-e zan-e mosalmân (Der Auftritt der muslimischen Frau), Teheran 1979; vgl. Fât.eme Hasemi in der iranischen Zeitschrift Et.t.elâ‘ât, Juli 1980; vgl. ‘Az.am T.âleqâni: Zan dar eslâm (Die Frau im Islam), Qom 1980. Alle genannten Werke werden in englischer Sprache zitiert bei Maryam Pooya: Work and Islamism: Ideology and Resistance in Iran, London 1999, und bei P. Paidar: Women and the Political Process. 5 Vgl. Z. Rahnavard: Z.ohur-e zan-e mosalmân, S. 50. ^

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208 | Elham Gheytanchi Totalitarismus einen »totalen moralischen Zusammenbruch« beschert habe.6 Im Iran ist die islamische Moral zur Grundlage der Politik geworden, und durch die Anerkennung der moralisch hohen Stellung der Frau als Mutter sind muslimische Frauen in der Lage gewesen, sich eine neue Identität zu schaffen. Die muslimischen Aktivistinnen erkannten die von muslimischen Gelehrten weiter ausgearbeitete Sicht des Korans an, dass Frauen biologisch, psychologisch und intellektuell anders sind als Männer; doch sollte dies dann auch dazu führen, dass die Frauen Anspruch auf eigene, andere Rechte haben. Die Aktivistinnen argumentierten, dass Mutterschaft in der Tat das primäre Anliegen der Frauen sei, dass ihnen diese heilige Aufgabe aber auch das Recht auf Teilnahme am öffentlichen Leben sichere, statt ihre Rolle auf den Privatbereich zu beschränken. So rückt die Mutterrolle ins Zentrum eines neuen Selbstverständnisses muslimischer Frauen. Wenn wir Arendts Angriff auf die liberale Trennwand zwischen Öffentlichem (Politischem) und Privatem (Ökonomischem) folgen wollen, ist es zunächst erforderlich, die Beteiligung muslimischer Frauen am Wirtschaftsleben zu analysieren. Dann können wir die neue Öffentlichkeit, die sich im Iran entwickelt hat, besser verstehen. Während des achtjährigen Kriegs gegen den Irak wurden muslimische Frauen in die Kriegsanstrengungen einbezogen: als Arbeitskräfte, aber auch in Regierungsämtern. In drei Bereichen wurden muslimischen Frauen aus allen Klassen Führungsaufgaben übertragen: 1) in religiösen Institutionen, 2) im sozialen Bereich und 3) in der offiziellen Politik.7 In all diesen Bereichen bildete sich eine neue weiblich-muslimische Identität heraus – verschleiert und doch zeitgenössisch, Mutter und dennoch engagiert, »sittsam, aber modern«.8 Dies hatte zum Teil mit einem neuen ideologischen Trend im Islam zu tun: »Frauen interpretieren den Islam stärker im Sinne einer Gleichberechtigung der Geschlechter, wozu sie durch die Tatsache ermutigt werden, dass mehr religiöse Frauen eine Rolle in der Öffentlichkeit spielen, dass eine fundierte religiöse Bildung für Frauen bis in die höchsten Ränge möglich wurde und dass der öffentliche Diskurs auf islamische Parameter beschränkt wurde.«9 Dieser Trend ist in Frauenzeitschriften am deutlichsten erkennbar; dazu gleich mehr. Auf dem Arbeitsmarkt war eine steigende Zahl von Frauen sogar in Bereichen wie dem Ingenieurwesen zu verzeichnen, die weitgehend eine Männerdomäne sind. Weil sich der Staat in einer Wirtschaftskrise befand, war die Mitarbeit der Frauen gefragt. Anders als es viele erwartet hatten, verbot der islamische Staat die Frauenarbeit nicht. Vielmehr wurde die Geschlechtertrennung am Arbeitsplatz forciert. Ob6 Vgl. die ausgezeichnete Einleitung von Craig Calhoun und John McGowan in dem von ihnen edierten Band Hannah Arendt and the Meaning of Politics, Ann Arbor, MI 1997. 7 Vgl. P. Paidar: Women and the Political Process, S. 307ff. 8 Vgl. Afsaneh Najmabadi: »Feminism in an Islamic Republic: Years of Hardship, Years of Growth«, in: Yvonne Yazbeck Haddad/John Esposito (Hg.), Islam, Gender and Political Change, Oxford 1998, S. 59-84. 9 Nikki Keddie: »Women in Iran Since 1979«, in: Social Research 67:2 (2000), S. 405-439, hier S. 416. Vgl. auch Elham Gheytanchi: »Appendix: Chronology of Events Regarding Women in Iran since the Revolution of 1979«, ebd., S. 439-452.

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Frauen in der islamischen Öffentlichkeit des Iran | 209 wohl die staatliche Gesetzgebung Frauen ermutigte, zu Hause zu bleiben, und obwohl männliche Vorurteile und Abwehr am Arbeitsplatz die Frauen eher entmutigten, lag dem Staat mehr daran, eine bestimmte Geschlechtertrennung am Arbeitsplatz einzuführen, als Frauen vom Arbeitsmarkt auszuschließen. Dabei wurde allerdings keine einheitliche Linie vertreten, und so führten hitzige Debatten über die Frauenarbeit zwischen verschiedenen Gruppierungen der islamischen Elite zu einer Ad-hoc-Politik beim Thema weiblicher Beschäftigung. Das Ergebnis war eine überwältigende Präsenz verschleierter Frauen an öffentlichen Arbeitsplätzen. Mit Schleier waren Frauen vom Land jetzt Arbeitsplätze zugänglich, die ihnen zuvor von ihnen Familien verboten worden waren – schließlich waren diese Arbeitsplätze ja nun »islamisch«, und es bestand keine Gefahr mehr durch »korrupte westliche Kräfte« (so die offizielle Rhetorik). Die Verschleierung sorgte sogar dafür, dass Frauen vor den am Arbeitsplatz üblichen lüsternen Blicken und Belästigungen geschützt waren.10 Die öffentlichen Räume füllten sich also mit verschleierten Frauen, die sich ungezwungen unter ihre männlichen Arbeitskollegen mischten. Wissenschaftliche Untersuchungen zur weiblichen Beschäftigung im nachrevolutionären Iran kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen,11 vor allem weil die iranischen Zensus-Angaben zur Frauenarbeit unklar sind. Die Angaben von 1986 gestatten keine präzise Feststellung, welche Veränderungen bei der Beschäftigung von Frauen auf die Revolution von 1979 zurückzuführen sind. Unstrittig ist jedoch, dass Frauen heute sowohl in der staatlichen Verwaltung als auch im Privatsektor der Wirtschaft sichtbarer sind. Dazu schreibt Maryam Pooya: »Durch mündliche Aussagen und eigene Beobachtungen fand ich […] heraus, dass entgegen der offiziellen Statistik, der zufolge eine große Zahl von Frauen für den Staat arbeitet, eine noch viel größere Zahl von Frauen für kleine Privatfirmen arbeitet.«12 Daraus ergibt sich, dass eine große Zahl von Frauen mit eigenem Einkommen in der offiziellen Statistik gar nicht erfasst ist. Nach Haleh Esfandiari gehören zu diesen Frauen auch jene, die zuvor aus ideologischen Gründen von der Berufstätigkeit ausgeschlossen, nunmehr jedoch in der Lage waren, sich den Weg ins Arbeitsleben zu bahnen.13 Auch ins höhere Bildungswesen sind Frauen vorgedrungen. Nach den neuesten verfügbaren iranischen Statistiken waren 65 Prozent aller zum Universitätsstudium Zugelassenen weiblichen Geschlechts. Während zu Beginn der Revolution viele Bereiche für Frauen nicht zugänglich waren, etwa die Fächer Bergbau und Management, stehen inzwischen fast alle wissenschaftlichen und technischen Fächer auch Frauen offen. Mit Nachdruck fordern Iranerinnen gleiche Bildungschancen in allen 10 Dass dies auch für andere islamische Länder gilt, zeigt Bouthaine Shaaban in Both Right and Left Handed: Arab Women Talk about Their Lives, London 1988. 11 Vgl. Valentine Moghadam: »Women, Work, and Ideology in the Islamic Republic«, in: International Journal of Middle East Studies 20:2 (1988), S. 221-243, und Haideh Moghissi: Populism and Feminism in Iran: Women’s Struggle in a Male-Defined Revolutionary Movement, New York 1996. 12 M. Pooya: Work and Islamism, S. 20. 13 Vgl. Haleh Esfandiari: Reconstructed Lives: Women and Iran’s Islamic Revolution, Washington, DC 1997.

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210 | Elham Gheytanchi Bereichen. Allein im Jahr 2000 gab es zahlreiche Demonstrationen verschleierter Frauen, bei denen gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit, gleiche Bildungschancen und mehr Reformen seitens des Staates gefordert wurden. Zum Beispiel protestierten am 1. März 2000 mehr als 600 Medizinstudentinnen der Frauenuniversität von Qom vor dem Gesundheitsministerium in Teheran. Sie behaupteten, nicht die erforderliche medizinische Ausbildung zu erhalten, weil für den Unterricht nicht genug Ärztinnen zur Verfügung stünden. Medienberichten ist zu entnehmen, dass unverkennbar ein neues weiblich-muslimisches Selbstbewusstsein im Entstehen begriffen ist. Dieses betrifft die Selbstwahrnehmung ebenso wie die Sicht der gesellschaftlichen Rollen der Frau, verbunden mit einem feministischen Bewusstsein. Das ist in der modernen iranischen Geschichte ein einzigartiger Vorgang. Frauen engagieren sich zunehmend in Politik, Wirtschaft und Kunst. Dass sie in öffentlichen Bereichen verschleiert zugegen sind, hat ihre Stellung ironischerweise in mancherlei Hinsicht gestärkt. Frauen, deren Mutterrolle jetzt öffentlich gefeiert wird, zeigen sich als neue Akteure: als Mütter oder potenzielle Mütter, die die rechten gesellschaftlichen Werte fördern und am gesellschaftlichen Leben aktiv teilnehmen.

Die Identitäten und Kämpfe muslimischer Frauen in der Öffentlichkeit Während des iranisch-irakischen Krieges nahm die Bevölkerung des Irans dank des Verzichts auf Geburtenkontrolle trotz schwerer Verluste zu, und zwar in den Jahren 1986-1991 um jeweils 3,1 Prozent. Seither ist das Bevölkerungswachstum auf 1,5 Prozent im Jahre 1996 zurückgegangen. Zum Zeitpunkt der letzten Volkszählung von 1996 betrug die Gesamtbevölkerung des Irans 60 Millionen, davon 29,5 Millionen Frauen; das CIA World Factbook schätzt die Gesamtbevölkerung für Juli 2004 auf 69 Millionen. 64 Prozent aller Iraner und Iranerinnen waren 1998 laut Statistischem Jahrbuch des Irans unter 34 Jahre alt (CIA World Factbook 2004: 28 Prozent unter 14 Jahre alt, Durchschnittsalter 23,5). 12,5 Millionen Frauen leben in ländlichen Gebieten, und die Stadtbevölkerung nimmt von Jahr zu Jahr zu. Der Alphabetisierungsgrad ist in den letzten Jahren beträchtlich gestiegen. Heutzutage wird das Leben im Iran von einer überwältigend großen Zahl junger Menschen bestimmt. Diese neue Bevölkerungszusammensetzung führt bei jungen Frauen, die sich einen Platz im öffentlichen Leben erkämpfen wollen, zur Ausbildung neuer Identitäten. Wie bereits gesagt, stehen die Presse und neuerdings auch die Filmindustrie an vorderster Front, wenn es um Veränderungen im Leben der Frauen geht. Zeitschriften, Magazine, Filme und die neuen Medien erlebten im Iran im letzten Jahrzehnt einen unerwarteten Boom. Diese Medien bahnten einer neuen iranischen Öffentlichkeit den Weg. Islamische Räume, physische wie virtuelle Räume, sind jetzt sowohl »islamisch« als auch »modern«. In seiner Untersuchung der neuen Medien in muslimischen Ländern stellt Dale Eickelman fest: »Diese Kombination von neuen Medien und neuen Teilnehmern an religiösen und politischen Debatten fördert bei allen Akteuren ein Bewusstsein dafür, auf welch unterschiedliche Art und Weise der Islam und islamische Werte geschaffen werden können. Auch führt sie zu einem neuen Gespür für einen öffentlichen Raum, der diskursiv, performativ und auf Teil-

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Frauen in der islamischen Öffentlichkeit des Iran | 211 habe angelegt ist und der sich nicht auf formelle Institutionen beschränkt, die vom Staat und anderen Autoritäten anerkannt sind.«14 In der neuen iranischen Öffentlichkeit spielen Frauen inzwischen eine zentrale Rolle; ihre Präsenz ist nicht mehr zu übersehen. In der Frühzeit der Iranischen Revolution befanden sich die Frauenzeitschriften direkt in der Hand islamischer Hardliner. Publikationen wie Payâm-e zan, Payâm-e h.agar und Zan-e ruz standen hauptsächlich im Dienst des Staates. Sie luden die Frauen ein, sich aktiv am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen, vorausgesetzt, sie seien gute Mütter und wahre Muslime.15 Während des achtjährigen Krieges mit dem Irak wurde die Rolle der Frauen als aufopferungsvolle Mütter, die Söhne, Ehemänner und Brüder in den Krieg schicken, öffentlich glorifiziert. Spannungen im Grenzbereich der Rollenzuweisungen waren unausweichlich – zum einen die Frau als gehorsame Staatsbürgerin, zum anderen die Frau als aktive Revolutionärin mit der moralischen Verantwortung, der neuen islamischen Nation im Iran den Weg zu weisen. Die Zeitschrift Zanân nahm die Herausforderung an, die Debatten über die Rechte der Frauen in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf eine neue Ebene zu heben. Dazu schreibt Ziba Mir-Hosseini: ^

»Obwohl sie zwei unterschiedliche politische Richtungen vertreten, sind die Zeitschriften Zanân und Payâm-e zan sich im Prinzip der Frauenrechte einig; beide sind der Ansicht, dass der Islam den Frauen diese Rechte gewährt. Beide wollen die gegenwärtige Situation verändern, aber in Details sind sie unterschiedlicher Meinung – bei der Definition dieser Rechte und bei den Mitteln und Wegen, wie diese Rechte zu realisieren sind. Payâm-e zan lehnt die Gleichheit der Rechte und Pflichten [von Männern und Frauen] ab, weil sie eine Ähnlichkeit [der beiden Geschlechter] impliziere; hier tritt man für Gleichberechtigung im Sinne von Gerechtigkeit und einer ausgewogenen Balance von Rechten und Pflichten ein, mit dem Ziel, im Kontext der islamischen Rechtsprechung eine Lösung für die Frauenproblematik zu finden. Zanân hingegen versucht, die alte Polarisierung zwischen Islam und Feminismus zu überbrücken; hier tritt man für Gleichberechtigung der Geschlechter an allen Fronten ein.«16

Wie Mir-Hosseini zeigen kann, versucht Zanân, eine neue Definition des Islam und des Feminismus zu entwickeln, um zu demonstrieren, dass ein genuin islamischer Feminismus im Iran möglich ist. Diese Debatte hat die Öffentlichkeit verändert, denn es sind Muslime und vor allem Musliminnen, die sich in Zanân aktiv daran beteiligen und für Gleichberechtigung der Frauen eintreten.

14 D.F. Eickelman/J.W. Anderson (Hg.): New Media in the Muslim World, S. 2. 15 Einen Überblick über die Frauenzeitschriften im Iran während der ersten zehn Jahre nach der Revolution bietet Hisae Nakanishi: »Power, Ideology, and Women’s Consciousness in Postrevolutionary Iran«, in: Herbert L. Bodman/Nayereh Tohidi (Hg.): Women in Muslim Societies: Diversity Within Unity, Boulder, CO 1998, S. 83-100. 16 Z. Mir-Hosseini: Islam and Gender, S. 276.

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212 | Elham Gheytanchi Zanân: Die Politisierung der Mutterrolle in einer Frauenzeitschrift Weil das islamische Regime weltlich argumentierenden Frauen die Teilnahme an der öffentlichen politischen Auseinandersetzung radikal verwehrte, lag nach den hitzigen Tagen der Revolution von 1979 die Verantwortung für die Verteidigung und Legitimierung der Frauenrechte ganz auf den Schultern islamisch argumentierender Aktivistinnen. Der Trend in Frauenzeitschriften lässt erkennen, dass seither bei der Verfolgung des Ziels, Frauen mehr Autonomie zu verschaffen, kontinuierliche Fortschritte gemacht werden. Denn nun stellen diese Publikationen jene Fragen, die zuvor weltlich argumentierende Feministinnen im Exil gestellt hatten.17 Muslimische Aktivistinnen wie Zahrâ Rahnavard, Fât.eme Hasemi, Sâhin T.abât.abâ’i und ‘Az.am T.âleqâni fanden sich auf einmal in der Rolle von Verteidigerinnen weiblicher Freiheit im islamischen Iran wieder. Unter ihrer Aufsicht haben die Zeitschriften Zan-e ruz, Payâm-e h.agar, Nedâ und Payâm-e zan, die als abhängige staatliche Organisationen begannen, sich seither einen quasi unabhängigen Status erarbeitet. Diese Blätter waren und sind aktiv daran beteiligt, weibliche Tugenden zu politisieren und in der öffentlichen Debatte für sie einzutreten – um auf dieser Grundlage Änderungen im rechtlichen Status der Frauen einzufordern. Eine weitere Zeitschrift, Farzâne, meldete sich erstmals im Herbst 1993 zu Wort, um die Frauenfrage im Iran aus kulturrelativistischer Sicht zu erörtern. Die Herausgeberin, Mah.bube Ommi (zuvor als Mah.bube Abbâsqolizade Autorin verschiedener Beiträge in Zan-e ruz), schlug vor, in einheimischen und religiösen Praktiken des iranischen Volkes nach Lösungen für die Frauenfrage zu suchen. Zanân wurde das öffentliche Forum für die Verbreitung einer neuen Definition der muslimischen Frau, und zwar durch Beiträge von Frauen. Vertreten wird das Leitbild einer informierten Frau, die sich im islamischen Recht (fiqh) auskennt und die sich aktiv an der Bestimmung des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern beteiligt. Mit einer relativ hohen Abonnentenzahl von fast 120.000 Leserinnen, überwiegend städtischen und gebildeten Frauen, hat Zanân das Projekt einer radikalen Neuinterpretation der islamischen Quellen zu den Rechten der Frau auf den Weg gebracht. Das Blatt wurde schnell zum Ort der politischen Debatte innerhalb wie außerhalb des Landes. Zanâns investigativer Journalismus und die öffentlichen Debatten über die relative Rechtlosigkeit der Frau stellten eine direkte Herausforderung der kulturellen Normen dar – jener Normen und Richtlinien für Moral und Macht, die normalerweise mit der Stellung der Frau in Verbindung gebracht werden. Zanân, 1991 erstmals erschienen, hat mit Erfolg einen Raum für Debatten über Frauenfragen geschaffen, über Probleme wie wirtschaftliche Unabhängigkeit, Freiheit und Entscheidungsfreiheit im Rahmen eines islamischen zivilgesellschaftlichen Diskurses. Zanân wird in Qualitätszeitschriften und -zeitungen innerhalb wie außerhalb des Landes häufig als »prominente Frauenzeitschrift« zitiert.18 Zan-e ruz, das anfänglich staatlich kontrollierte Frauenmagazin, aus dem Zanân hervorging, ^

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17 Vgl. A. Najmabadi: »Feminism in an Islamic Republic«. 18 Z.B. in der New York Times vom 1.1.1998, S. 6.

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Frauen in der islamischen Öffentlichkeit des Iran | 213 erschien erstmals 1980 unter Aufsicht des Schriftstellerverbandes. 1991 kam es dort zu einem plötzlichen Wechsel in der Chefredaktion, und bald darauf wurde Zanân gegründet. In einem Leitartikel des neuen Blattes wurde deutlich, dass die Abspaltung von Zan-e ruz mit der fortdauernden Unterdrückung der Frauen durch die neuen islamischen Vorschriften zu tun hatte: »Einige in unserem System versuchen, die Religion zu monopolisieren und im Namen Allahs Frauen Unrecht zu tun. Diese Leute sollten sich daran erinnern, dass die islamische Revolution das Ziel hatte, die Frauen zu befreien, und dass der Islam das Bewusstsein der Frauen bildet, nicht das Gegenteil.«19 Mit dieser Erklärung begann Zanân seine Mission, im Diskurs der Zivilgesellschaft einen Raum für die Vermittlung »partikularer« Bedürfnisse von Frauen und Müttern zu öffnen, die aus der Privatsphäre der Familie kommen. Zanân geriet schnell in Opposition zu – sowie in direkte Diskussionen mit – Politikern vom religiösen rechten Flügel, die die staatlich kontrollierte Zeitung Resâlat herausgeben, ein Blatt, das von rechtsradikalen Bazaris und Klerikern unterstützt wird. Mit Hilfe vieler Autoren und Autorinnen, Theologen und Sozialwissenschaftler stellt Zanân immer wieder die kulturell und sozial rigiden islamischen Codes in Frage, die Leben und Rechtsstellung der Frauen regeln. Wie mir Sahlâ Serkat, die Herausgeberin der Zeitschrift, in einem Gespräch sagte – sie stammt aus einer sehr religiösen Unterschichtfamilie, in der restriktive Maßstäbe für den »angemessenen« Platz der Frau gelten –, erhält Zanân, wann immer dort ein Artikel erscheint, der auf die politischen und sozialen Rechte der Frauen Bezug nimmt, Drohungen – nicht nur seitens des Staatsapparats, sondern auch von diversen linientreuen »Pressuregroups«, die von Hardlinern im Staatsapparat unterstützt werden. Deren Vorwürfe lauten, Zanân sei »ketzerisch« und »verderbe die Jugend kulturell«. Mit diesem politischen Druck muss Zanân auch weiterhin leben. Im Überblick lässt sich zeigen, wie die Zeitschrift allem Druck zum Trotz in der Lage war, weibliche Tugenden, vor allem die Mutterrolle, durch Verweis auf islamische Gerechtigkeitsvorstellungen und deren »Freiheits«-Versprechen für Frauen für ein breiteres Publikum politisch aufzuwerten. Schon im allerersten Leitartikel des Blattes heißt es, das Erscheinen von Zanân sei eine Reaktion auf ein Diskussionsbedürfnis in der iranischen Gesellschaft über Fragen der weiblichen Identität. In vier Bereichen seien die Frauen geschlechtlicher Diskriminierung ausgesetzt: in Religion, Kultur, Recht und Bildung. Klar zum Ausdruck gebracht wird der Wille, den Weg für eine neue Lesart der Religion zu öffnen, um die Rechte der Frauen zurückzugewinnen. »Wir wissen, dass diese Diskussionen in einem Land, in dem die primäre Bedeutung der Frau in ihrer reproduktiven Rolle gesehen wird, kein freundliches Echo finden werden. Unsere Diskussionen werden für unsere orientalischen Männer ein schwerer Fall von Ketzerei sein; aber wir hoffen, dass unsere Bemühungen zu einem produktiven Dialog mit unserem Volk in unserem islamischen Land führen werden.«20 Zanân gab zu, dass die Leserschaft ^

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19 Zanân 1 (1991), S. 3. 20 Ebd.

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214 | Elham Gheytanchi des Blattes in erster Linie aus gebildeten, städtischen Frauen bestehen werde. Man forderte jedoch Männer und Frauen aus allen anderen Klassen auf, sich ebenfalls an den Diskussionen zu beteiligen.21 In den beiden folgenden Jahren, 1992-1994, schrieb Mehrangiz Kâr, eine Juristin mittleren Alters, die als Aktivistin seit 1979 ihren Beruf nicht mehr ausüben durfte, über den realen Rechtsstatus der Frau im iranischen Zivilrecht. Von Heft 11 (1992) bis Heft 20 (1994), und darüber hinaus bis in die Gegenwart, schrieb und schreibt Kâr immer unter Verweis auf die Mutterrolle über das Familienrecht. In ihrem Beitrag über das Strafrecht verweist Kâr auf Spannungen innerhalb des islamischen Rechts: Frauen gelten schon im Alter von neun Jahren als erwachsen, Männer hingegen erst mit fünfzehn. »Darum sind Frauen für alle Verbrechen schon sechs Jahre eher verantwortlich, als Männer für ungesetzliche Aktivitäten zur Verantwortung gezogen werden können. Paragraph 1210 des Zivilgesetzbuches hat Frauen also definitiv gegenüber Männern rechtlich schlechter gestellt.«22 Kâr fügt hinzu, dass der islamische Staat die Frauen zwar wegen ihrer heiligen Aufgabe als Mütter preise, dass rechtlich die Zeugenaussage einer Frau jedoch nur halb so viel wert sei wie die eines Mannes. Derartige Ungleichheiten und Widersprüche im islamischen Recht und in der islamischen Ideologie veranlassten Kâr zu der dringenden Empfehlung an alle Frauen, igtihâd zu üben und ihre Rechte im Namen ihrer Stellung als Mütter einzufordern.23 In Heft 22 von Zanân erörtert Kâr, dass der Gesetzgeber nach der Revolution Müttern das Recht nahm, für ihre Kinder ein Bankkonto zu eröffnen. Denn durch die nun verabschiedeten Gesetze erlangten der Vater und seine Sippe die vollständige Kontrolle über alle Bankkonten, über die zuvor die Frauen als Mütter Verfügungsgewalt hatten. So fragt Kâr die Gesetzgeber: »Wie respektieren wir de facto den hochgepriesenen Status der Mütter – in unseren Slogans und Mottos oder in Gesetzen? Das Gesetz verkündet uns warnend, der hohe Stellenwert der Mutterschaft erfordere Veränderungen in öffentlichen und politischen Angelegenheiten. Doch bislang fehlt jede Anerkennung dieses Status [als Mütter] als eines gesetzlich respektierten Status, und unsere Gesetzgebung entwickelt sich in der Tat auch nicht auf dieses Ziel zu.«24 In Heft 34 (1997) veröffentlichte Zanân den Text eines Podiumsgesprächs über die wichtigsten Probleme, vor denen Frauen im Iran stehen.25 Teilnehmer waren . der Verwaltungswissenschaftler ‘Ali Rezâ ‘Alavi T.abâr und die Juristin Sirin Ebâdi, ^

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21 Vgl. Zanân 2 (1991). 22 Zanân 11 (1994), S. 18. 23 Marshall Hodgson definiert »igtihâd« wie folgt: »Ijtihad bezeichnet die individuelle Untersuchung zwecks Feststellung des Urteils der Scharia – jenes Regelwerkes, das für das gesamte Leben eines Muslims Gültigkeit hat, im Recht wie in Ethik und Etikette; zu einem bestimmten Punkt angestrengt durch einen mujtahid, eine Person, die für eine derartige Untersuchung qualifiziert ist.« Marshall Hodgson: The Venture of Islam, Bd. 2, Chicago 1974, S. 583. 24 Zanân 22 (1994), S. 47. 25 Vgl. Zanân 34 (1997), S. 12-19. ^

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Frauen in der islamischen Öffentlichkeit des Iran | 215 die 2003 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Frau Ebâdi (Jahrgang 1947), die ihr juristisches Studium 1969 abschloss, war als eine der ersten Richterinnen im Iran von 1975 bis 1979 Präsidentin der iranischen Richtervereinigung. Nach der Revolution verlor sie ihr Amt und war zunächst gezwungen, als Gerichtssekretärin zu arbeiten – weil Frauen nach islamischem Recht nicht als Richter fungieren dürfen. 1984 ließ sie sich pensionieren und arbeitet seither als Anwältin und Dozentin an der Universität Teheran. Sie schreibt in Zeitschriften regelmäßig über die Rechte von Frauen und Kindern in der Islamischen Republik Iran. Bei dem genannten Podiumsgespräch sagte sie: »Ich glaube, unser wichtigstes Thema sind die Rechte der Frauen. Unser Rechtssystem benachteiligt Frauen eindeutig. Es heißt zum Beispiel im Gesetz, dass es keine Vergeltung (qis.âs.) [Bestrafung nach dem Prinzip, Gleiches mit Gleichem zu vergelten] gibt, wenn ein Vater oder Großvater seinen Sohn tötet. Zu juristischen Schritten kommt es nur, wenn die Mutter des Sohnes Beschwerde einlegt. Andererseits steht im selben Gesetz, dass Abtreibung ein Verbrechen ist. Wenn ein Ehepaar schon zehn Kinder hat und kein elftes mehr haben will, dann sind, wenn die Frau eine Abtreibung vornehmen lässt, diese Frau, der Vater [des ungeborenen Kindes] und der Arzt Verbrecher. Dann wird der Vater zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Nun, was heißt das alles? Es heißt, dass, wenn eine Frau eine Abtreibung vornehmen lässt, alle Beteiligten sich eines Verbrechens schuldig machen; ist das Kind aber schon geboren und der Vater beschließt, dieses Kind zu töten, dann ist das rechtlich unbedenklich – vorausgesetzt, die Mutter reicht niemals Beschwerde ein.«

Nach dieser Erörterung innerer Widersprüche im Recht der Islamischen Republik plädiert Sirin Ebâdi für eine Interpretation des Korans, die Frauen als Mütter anerkennt: ^

»Und im selben Gesetz heißt es dann auch noch, dass, wenn ein Mann sein Kind in die Wüste führt und dieses Kind dort verhungert, am Vater gesetzlich Vergeltung (qis.âs.) geübt werden kann. Das heißt also, dass ein Vater sein Kind zu Hause legal töten darf und juristisch nur belangt werden kann, wenn sich die Mutter beschwert, dass er sein Kind in der Wüste aber nicht töten darf! Manche würden sagen, dass diese Gesetze im Islam verwurzelt und darum legitim sind, doch ich möchte feststellen, dass diese Gesetze nicht im Islam verwurzelt sind. Denn der Islam misst der heiligen Aufgabe der Mutterschaft großen Wert bei. Die eben genannten Beispiele zeigen, dass in ein und demselben Gesetz drei unterschiedliche Bestrafungsregeln enthalten sind. Und welche dieser drei Regeln ist nun genuin islamisch? Wenn eine dieser Vorschriften islamisch ist, würden ihr die beiden anderen doch widersprechen. Nein, diese widersprüchlichen Gesetze zeigen, dass die Interpretationen der Autoren islamischer Gesetze nicht korrekt waren; und sie zeigen, das patriarchalische Gedanken in die Schriften und Interpretationen dieser Gesetzesautoren eingedrungen sind. Es handelt sich nicht um die direkten Lehren des Islam!«26

Somit kommen im zitierten Podiumsgespräch grundlegende Spannungen zwischen 26 Ebd., S. 13.

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216 | Elham Gheytanchi der privaten Familiensphäre und dem zivilgesellschaftlichen Diskurs zum Ausdruck. Überdies wird die Mutterrolle politisiert und zum Kampfplatz für das Ringen der Frauen um Gleichberechtigung gemacht. Kâr und Ebâdi, die manchen Betrachtern eher als säkular denkende Frauen gelten würden, erheben ihren Anspruch auf eine Neuinterpretation des islamischen Rechts allerdings eindeutig auf der Grundlage ihrer anerkannten Identität und Selbständigkeit als muslimische Frauen.

Mütter als mugˇ tahid Andere Beiträge von Zanân treten für die Berechtigung der Frauen ein, sich direkt am Studium der Religion und an der Neuinterpretation des islamischen Rechts zu beteiligen. Das erweitert das weibliche Rollenspektrum um den verschleierten mugtahid. Frauen, die selbständige Rechtsfindung (igtihâd) praktizieren, treten verschleiert an die Öffentlichkeit – weil sie entschlossen sind, an Orten zu verkehren, wo Männer und Frauen miteinander Umgang haben. Die Autoren und Autorinnen in Zanân geben dem Argument höchste Priorität, dass Frauen aufgrund ihres in der Islamischen Republik Iran hochgepriesenen Status als Mütter auch das Recht haben sollten, im religiösen Bereich aktiv zu werden und sich direkt an islamischen Gesetzgebungsprozessen zu beteiligen. Zanân vertritt die These, dass der Islam die Frauen niemals ausgeschlossen habe und dass nunmehr die Zeit für die muslimischen Frauen – als Erzieherinnen und Wegweiser der nächsten Generation – gekommen sei, sich aktiv an der Neuinterpretation der islamischen Quellen zu beteiligen. Dazu schreibt Moh.s.en Saidzâde, ein muslimischer Kleriker, der mit weiblichem Vornamen Minâ unter dem Pseudonym Yâdegar Âzâdi (»zum Gedenken an die Freiheit«) als wortgewaltiger Verteidiger der Frauenrechte auftritt: ^

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»In den Primärquellen des Islam, in Koran und Hadith [den Überlieferungen von vorbildlichen Taten und Worten des Propheten], gibt es kein einziges Dokument, welches zweifelsfrei beweist, dass der Islam Frauen das Recht verweigert, Fatwas zu erstellen [religiöse Rechtsgutachten, die den höchsten Rängen des Klerus vorbehalten sind] oder marga at-taqlîd zu werden [die höchste Position im hierarchischen System des schiitischen Klerus; die Sunniten kennen keinen derartigen Klerus]. Doch es gibt in den Sekundärquellen, etwa im fiqh und in den moralischen und theoretischen Interpretationen von Hadith-Stellen, einige Punkte zu diesem Themenbereich, die wir diskutieren sollten. Bei einem so wichtigen Thema sollte man sich jedoch in erster Linie auf die Primärquellen verlassen, auf Koran und Hadith, weil die Sekundärquellen ihrerseits bereits Interpretationen der Primärquellen durch verschiedene islamische Denker ihrer Zeit sind.«27 ^

Anschließend zitiert der Autor noch weitere Sekundärquellen, in denen festgestellt wird, dass eine Frau, wenn sie im islamischen Recht ausgebildet sei, einem Manne gleichwertig sei und somit auch mugtahid werden könne. Der Aufruf zum igtihâd weist iranischen Frauen einen neuen Weg, Muslim zu ^

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27 Vgl. Zanân 8 (1992), S. 24ff.

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sein. Zuvor konnten nur Männer mugtahid sein. Doch nun fordern auch Frauen aktive Teilhabe am öffentlichen und politischen Leben. Die Anwesenheit von Frauen in der heiligen Stadt Qom, nicht nur als Mütter, sondern auch als Studentinnen in Kursen zum islamischen fiqh, verändert nicht nur den öffentlichen Raum, sondern auch die Identität dieser Frauen. Ein weiblicher mugtahid stellt neue Fragen, wenn es um die Interpretation der islamischen Regeln geht. Er ermächtigt sich selbst und wird eigenständig auf eine Art, die Islam und moderne Werte in Einklang bringt. Es besteht eine Allianz zwischen einer älteren Generation von Juristinnen wie Mehrangiz Kâr, jungen Jurastudentinnen und einzelnen männlichen Rechtsexperten, möglicherweise aber auch eine Allianz zwischen einer ehemals säkularistisch argumentierenden Generation, die nun bis zu einem gewissen Grad religiöser auftritt, und einer jungen religiösen Generation, die mit islamischen Vorstellungen aufgewachsen ist, die jedoch im gemeinsamen Kampf um die Gleichberechtigung trotzdem an der Seite der Älteren steht. Beide benutzen – mal mehr, mal weniger überzeugt – eine gemeinsame religiöse Sprache, um unter den Bedingungen der Islamischen Republik ein gemeinsames Ziel zu erreichen. ^

Gewalt gegen Mütter In iranischen Zeitschriften und Zeitungen brachten muslimische Frauen auch die Gewalt gegen Frauen öffentlich zur Sprache, sodass dieses Thema nicht länger in der Privatsphäre der Familie verborgen blieb. Dieser Widerstandsakt verwischt die in muslimischen Ländern gültige Unterscheidung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen; denn dort werden Familienangelegenheit normalerweise in moralischem Ton abgehandelt, wird die Familienehre strikt gewahrt. Wie Kâr in Heft 29 von Zanân schreibt, finden dieselben hochgepriesenen Mütter, die Verantwortung für ihre Kinder tragen, vor Gericht oft keine Zuflucht vor ehelicher Gewalt – wenn ihr männlicher Richter beschließt, ihr Zeugnis außer Acht zu lassen, weil die Aussage einer Frau nur halb so viel zählt wie die eines Mannes, sie also mehrere Zeuginnen beibringen müsste. »Verlangt eine Frau vor Gericht die Scheidung, so ist der Ehemann, falls die Scheidung nach Jahren tatsächlich gewährt wird, für ihren finanziellen Unterhalt nicht mehr verantwortlich. Wird die Frau geschieden, so verliert sie nach geltendem Recht ihre Kinder an deren Vater. Darum muss in zahlreichen Fällen eine Mutter, um ihre mütterlichen Pflichten zu erfüllen, weiter in dem Haus bleiben, in dem ein gewalttätiger Mann ihr Leben bedroht!«28 In den Zanân-Heften 30 bis 50 veröffentlichte Kâr eine Artikelserie über die Ehe und das Eherecht. Darin erläutert sie bis ins kleinste Detail das im Iran gültige Eherecht und rät zur Aufnahme von Vorbehaltsklauseln in den Ehevertrag, Klauseln, die zum Beispiel Frauen das Recht geben, von sich aus die Scheidung zu beantragen. Kâr erhebt auch Einwände gegen Paragraph 1133 des Zivilgesetzbuches, in dem es heißt, dass ein muslimischer Iraner »sich wann immer er will von seiner Frau scheiden lassen« kann. In ihrer Artikelserie schlägt Kâr weiter vor, unter den im Voraus akzeptierten Scheidungsgrün28 Zanân 29 (1996), S. 3.

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218 | Elham Gheytanchi den im Ehevertrag auch Impotenz des Mannes und Drogensucht aufzuführen. Auf diese Weise könnten Frauen das diskriminierende Rechtssystem zu ihren Gunsten manipulieren. Zanân macht die Spannung zwischen dem heiligen Status von Müttern, wie er vom islamisierenden Staat immer wieder beschworen wird, und den tatsächlichen Rechten der Mütter publik. Aus diesem Widerspruch leitet das Blatt die indirekte Forderung ab, Frauen den Rechtsstatus eines »Individuums« zu geben, damit sie in der Lage versetzt werden, ihren Mutterpflichten nachzukommen. Im heutigen nachrevolutionären Iran läuft ein dialektischer Wandlungsprozess ab. Zunächst schlossen sich jene Frauen, die aus politischen und religiösen Gründen gegen das frühere Regime waren, den Revolutionären an; die patriarchalischen Strukturen gestatteten ihnen, so lange in der Öffentlichkeit präsent zu sein, wie sie »gute Mütter« waren. Doch dann wurde den Kämpferinnen für die Islamische Republik bewusst, dass sie unter dem neuen Regime viele Rechte verloren hatten. Im Zuge dieser Erkenntnis entwickelten sie ein neues islamisches Selbstverständnis. Inzwischen gibt es eine muslimisch-weibliche Identität, die im islamischen Kontext um Selbstbehauptung bemüht ist. Dazu schreibt Nilüfer Göle: »In der islamistischen Politik ist der Preis der Demokratie nicht von den (schrumpfenden) Grenzen der Öffentlichkeit zu trennen, die wiederum in erster Linie durch Kategorien der Moral und der Identität bestimmt werden, also geschlechtsrollenspezifisch sind.«29 Und so dient die Mutterrolle iranischen Frauen als moralische, politische und geschlechtsrollenspezifische Kategorie, mit deren Hilfe sie sich einen Platz im öffentlichen Leben schaffen und sichern können.

Das neue islamische Selbstverständnis im Roman Nach der Revolution von 1979 erlebte die iranische Literatur einen Aufschwung muslimischer Lyrikerinnen und Romanschriftstellerinnen.30 Darum soll im Folgenden am Beispiel eines Romans aus der Feder einer jungen iranischen Autorin der selbstreflexive Weg des islamischen Selbstverständnisses im Umbruch nachgezeichnet werden.31 Der Morgen der Trunkenheit (dt. 2000), ein Roman der muslimischen 32 Autorin Fat.t.âne H . âg Seyed Gavâdi kann als historische Autobiographie einer ganzen Nation im Wandel der Zeiten gelesen werden. Sie setzt sich im Gewand einer allegorischen Liebesgeschichte stellvertretend für die Menschen im nachrevolutionä^

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29 Nilüfer Göle: »The Gendered Nature of the Public Sphere«, in: Public Culture 10 (1997), S. 61-81, hier S. 63. 30 Vgl. Farzaneh Milani: Veils and Words: The Emerging Voices of Iranian Women Writers, Syracuse, NY 1992. 31 Ein Parallelbeispiel aus dem türkischen Bereich, die Analyse eines türkischen Romans, findet sich in Nilüfer Göles Aufsatz »Snapshots of Islamic Modernities«, in: Daedalus 129:1 (2000), S. 91-117, hier S. 103-110. 32 Bâmdâd-e homâr, Teheran 1995 (dt. Fattaneh Haj Seyed Javadi: Der Morgen der Trunkenheit, Frankfurt am Main 2000, 2002. Namen der Figuren im Folgenden nach der deutschen Ausgabe.)

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Frauen in der islamischen Öffentlichkeit des Iran | 219 ren Iran mit der Liebe zum Islam und dem Preis für die dabei gemachten Fehler auseinander. Eine verliebte junge Frau fragt ihre Tante Mahbubeh (Mah.bube, d.h. »Geliebte«) um Rat. Die über Siebzigjährige beschließt, ihrer Nichte anstelle einer direkten Antwort ihre eigene Geschichte einer gescheiterten Liebe zu erzählen. Mahbubeh verliebte sich gegen den Willen ihrer Eltern in einen gutaussehenden jungen Mann, der aus der Unterschicht kam – im Teheran der zwanziger Jahre des 20. . Jahrhunderts. Und sie heiratete diesen Mann zu einer Zeit, als unter Rezâ Sâh das gesamte politische System umgeformt wurde beim Versuch, im Iran dieselben verwestlichenden Reformen durchzuführen wie unter Kemal Atatürk in der Türkei. In dieser Umbruchsituation hat Mahbubeh das Gefühl, auch sie könne mit Traditionen brechen und über Kultur- und Klassenschranken hinweg den geliebten Mann heiraten: »Zu Hause hatte meine Mutter einen Jungen geboren, draußen hatte sich der Iran in die Arme Reza Chans geworfen, und ich sehnte mich nach einem Schreinerlehrling. Iran war sehr viel früher erfolgreich gewesen, sehr viel früher und leichter. Als würde die ganze Welt durcheinandergewirbelt.«33 Mahbubeh berichtet ihrer Nichte von ihren Kämpfen, aber auch von ihrer großen, begehrenden Liebe zu diesem Mann. Der springende Punkt ist, wie die Erinnerung an das unbedachte Begehren mit dem Bedauern über die unbedachte Liebe einer ganzen Nation zum Islam verknüpft wird: Das Werk zieht nämlich eine Parallele zwischen Mahbubehs blinder Liebe zu einem ungehobelten Schreiner und blinder Liebe zum traditionellen Islam. 1999 waren im Iran von diesem 1995 erschienenen Roman in 24. Auflage bereits 120.000 Exemplare verkauft. Überdies wurde das Buch kopiert und jedes Exemplar von mehreren Menschen gelesen. Sein Erfolg war für den Iran beispiellos. Der Roman schuf sich eine Lesergemeinschaft, die aus der zweischneidigen Er. fahrung ihrer vermeintlich revolutionären Liebe zum Islam lernte. Rezâ Sâh war entschlossen, durch eine Reihe von Modernisierungsprogrammen die Normen und Traditionen der Menschen im Iran zu ändern. Doch der von Mahbubeh geliebte Mann wird sogar gewalttätig. Mahbubeh zieht aus ihrer privaten Erfahrung den Schluss, dass man eine patriarchalische Kultur nur langfristig ändern kann. Der Schreiner kommt aus der Unterschicht, wo man es nicht gewohnt ist, Frauen mit Respekt zu begegnen, schon gar nicht der eigenen Ehefrau. Nichts wird ihn verändern, keine Modernisierungspläne des Schahs und keine islamische Revolution. Allein Mahbubehs Bewusstsein hat sich verändert. Sie sieht ein, dass weder der wahre Islam noch westliche Maßstäbe die entwürdigenden Einstellungen der Männer zum weiblichen Geschlecht über Nacht verändern können. Das ist nur in einem tief greifenden kulturellen Wandel möglich. Gesellschaftliche Veränderungen wie ein neues Geschlechtsrollenverständnis brauchen Zeit und erfordern das Engagement der Menschen in politischen Prozessen; erfordern zuallererst neue islamische Subjekte, offene Augen und die Bereitschaft, ständig neue Interpretationen des Islam zu wagen und zu akzeptieren. So überträgt Gavâdi Scheitern und Hoffnung der letzten Generation auf Mahbubehs Nichte, die für die Generation der nach der Revolution von 1979 Geborenen steht. ^

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33 F. Javadi: Der Morgen der Trunkenheit, S. 65.

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220 | Elham Gheytanchi Film: Frauen in einem neuen partizipatorischen öffentlichen Raum Seit seinen Anfängen um 1900 galt der Film im Iran als ein westliches Phänomen, das die Zuschauer ins moralische Verderben stürze. Gegen den Kinobesuch und eine Tätigkeit als Schauspieler sprachen, besonders für Frauen, zahlreiche religiöse Tabus.34 Bis zur Revolution von 1979 fanden iranische Filme – mit wenigen Ausnahmen – keine internationale Beachtung. Das populäre Genre des persischen Films zog viele Schauspielerinnen an, ästhetisch und filmisch blieb es jedoch unbedeutend. In der Anfangszeit der Revolution von 1979 wurde das Kino verdammt und verboten, galt es doch als Haupteinfallstor westlicher Ideen. Drehbücher wurden vom islamischen Staat zensiert und zurückgewiesen, und viele Filmemacher mussten das Land verlassen.35 Doch in den achtziger Jahren wollten sogar die Islamisten das Kino für Propagandazwecke einsetzen. Also musste das Kino erhalten bleiben. Das Ministerium für Kultur und Islamische Führung, dem zeitweise der heutige Präsident Hâtami (Khatami) vorstand, setzte eine Reihe von Maßnahmen in Kraft, um sicherzustellen, dass die Filmproduktion moralisch einwandfrei war. 1983 gründete das Ministerium die Farabi Cinema Foundation zur Steuerung und Kontrolle des Filmimports und -exports und zur Förderung der lokalen Filmproduktion.36 Es wurden zahlreiche Regelungen für die in jedem Film erforderlichen »islamischen Werte« geschaffen und durchgesetzt. Ein wichtiger Aspekt betraf dabei die Frauen: Sie durften in Filmen nicht ohne Schleier (h.egâb) gezeigt werden; auf der Leinwand waren entblößte Frauenkörper verboten, ebenso intime Beziehungen zwischen Mann und Frau. Überdies sollten in iranischen Produktionen auch keine Szenen oder Rückblenden aus vorrevolutionärer Zeit vorkommen. Entgegen vielen Spekulationen nahm die Filmpräsenz von Frauen jedoch zu. Sie wurden auf komplexe Weise dargestellt, weil die Filmemacher eine Balance zwischen offiziellen Restriktionen und ästhetischen Erwägungen finden mussten. Dementsprechend entwickelte der iranische Film in den achtziger Jahren eine einzigartige Formel für die Darstellung von Frauen in Nebenrollen, die laut Hamid Naficy »›Sittsamkeit der Blicke und Handlungen‹ ermutigte und den ›abgewandten Blick‹ anstelle des direkten Blickes favorisierte, zumal anstelle eines Blickes, der sexuelles Verlangen signalisierte«.37 Als im Zuge politischer Veränderungen im Iran eine Liberalisierung in den Künsten zu verzeichnen war, führte dies in Filmen, die in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren gedreht wurden, zu lebhafteren und freieren Darstellungen von Frauen. In Filmen wie Hâreg az mah.dude (Off the Limits),38 ^

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34 Eine hervorragende Überblicksdarstellung zum iranischen Film findet sich bei Hamid Naficy: »Iranian Cinema«, in: Rosa Issa/Sheila Whitaker (Hg.), Life and Art: The New Iranian Cinema, London 1999, S. 13-26. 35 Vgl. Nedâ Bognordi: Dur az hâne: Filmsazân-e Irân ke Irânrâ ba‘d az enqelâb tark kardeand (Fern der Heimat: Iranische Filmemacher, die Iran nach der Revolution verließen), Teheran 2000. 36 Vgl. H. Naficy: »Iranian Cinema«, S. 20. 37 Ebd., S. 22. 38 Regie: Rahsan Bani ‘Et.emâd (1987). Bei allen in diesem Beitrag genannten Filmen gilt: ^

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Narges,39 Parand-e kucik-e hosbahti (The Little Bird of Happiness)40 und Dige ce habar? (What Else Is New?)41 waren Frauen nicht mehr nur auf Nebenrollen beschränkt, sondern spielten auch Hauptrollen. Im letzten Jahrzehnt florierte der iranische Film, viele Werke wurden auch im Ausland gezeigt. Heute gibt es 305 Iranerinnen, die in der Filmindustrie arbeiten: als Regisseurinnen, Schauspielerinnen und in anderen Bereichen der Filmproduktion. Zehn Regisseurinnen sind zu nennen: Tahmine Ardakani, Mahasti Badei, Marz.ie Borumand, Rahsan Bani ‘Et.emâd, Farial Behzâd, Purân Derahsande, Samirâ Mahmalbâf, Tahmine Milâni, Yâsaman Malek Nas.r und Kobrâ Sâ‘di.42 Obgleich Frauen als Regisseurinnen und Schauspielerinnen mit vielen Beschränkungen und Behinderungen zu kämpfen haben, sind sie weiterhin eine unüberhörbare Stimme im iranischen Film. So wie sich die iranische Filmindustrie im letzten Jahrzehnt entwickelte, durften Frauen Hauptrollen in Filmen spielen und bei Filmen Regie führen, die sich im Wesentlichen auf Frauen konzentrieren. Neben den Filmemacherinnen im nachrevolutionären Iran gibt es rund 200 professionelle Schauspielerinnen. Diese Frauen kommen aus den vielfältigsten sozioökonomischen Milieus. Manche Schauspielerinnen waren auch schon in vorrevolutionären Filmen aufgetreten; wenn sie dort nicht an »pornographischen« Szenen beteiligt waren, bekamen sie weiterhin Rollenangebote. Zu diesen Schauspielerinnen gehört Sahlâ Riyâhi, die erste Filmregisseurin im vorrevolutionären Iran.43 Sie arbeitet seit den fünfziger Jahren als Schauspielerin, und ihr Wiedererscheinen in Filmen wie Farzandân-e t.alâq (Children of Divorce)44 und Farâr az gahânam (Escape from Hell)45 verweist nicht zuletzt auf die Selbstreflexion im neuen iranischen Film. Niki Karimi ist eine neue Schauspielerin, deren Spiel in Filmen wie ‘Arus (The Bride),46 Do zan (Two Women)47 und Nime-ye penhân (The Hidden Half)48 außergewöhnlich brillant ist. Interessanterweise hat Niki Karimi, deren schönes Gesicht schon öfters Titelseiten iranischer Filmzeitschriften zierte, bisher noch keine nationalen Auszeichnungen gewonnen, dagegen zahlreiche internationale Preise, darunter den als beste weibliche Darstellerin beim Filmfestival in Taormina im Jahre 1999 (für ihre Rolle in Zwei Frauen). Karimis Filmrollen und die andauernde Kritik von Seiten rechtsra^

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Originaltitel in Farsi, dazu kursiv gesetzte englische oder deutsche Verleihtitel so vorhanden; nicht kursivierte Titel sind rein sprachliche Übersetzungen. Regie: Rahsan Bani ‘Et.emâd (1992). Regie: Purân Derahsande (1988). Regie: Tahmine Milâni (1992). Vgl. Sahnâz Morâdi Kuci: Zanân-e sinamâ dar Irân (Frauen in der iranischen Filmindustrie), Teheran 2000. Sie führte Regie bei Margân (1955). Regie: Tahmine Milâni (1989); dt. Scheidungskinder. Regie: Tahmine Milâni (1995). Regie: Behruz Afhami (1990). Dieser Kassenschlager war der erste nachrevolutionäre Film, der ein unverschleiertes Frauengesicht in Nahaufnahme zeigte. Regie: Tahmine Milâni (1998); dt. Zwei Frauen. Regie: Tahmine Milâni (2001); dt. Die versteckte Hälfte.

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222 | Elham Gheytanchi dikaler Islamisten im Iran, die sich dagegen wehren, dass Karimis Schönheit auf der Leinwand zu sehen ist und womöglich ausgezeichnet wird, können als Anzeichen dafür verstanden werden, dass die muslimische Frauenbewegung im Iran in kleinen Schritten, aber kontinuierlich Boden gutmacht. Karimi, deren Karriere erst im nachrevolutionären Iran begann, tritt weiterhin in filmischen Hauptrollen auf. Eine neue Konfiguration von Frauen im Kino und in der Öffentlichkeit macht sich im Iran bemerkbar: Auch Kopftuch tragende Frauen können schön sein, und ihre Gegenwart in der Öffentlichkeit wird nicht länger marginalisiert. Ein besonders auffälliges Beispiel findet sich in Moh.sen Mahmalbâfs Film Sokut (Silence, 1996; dt. Die Stille), der weibliche Schönheit in einer langen Naheinstellung feiert, einem Blick auf lächelnde Straßenverkäuferinnen. Hier liegt ein demonstratives Aufbegehren gegen die Einschränkung der Darstellungsmöglichkeiten vor – gedreht wurde darum im benachbarten Tadschikistan. Zu den Einschränkungen, unter denen die iranische Filmindustrie leidet, gehört vor allem die Verschleierung der Frauen. Frauen dürfen auf gar keinen Fall ohne Kopfbedeckung gezeigt werden – selbst in Szenen aus der vorrevolutionären Zeit, als Frauen unverschleiert in der Öffentlichkeit auftreten durften. Außerdem sind keinerlei Filmszenen erlaubt, in denen Frauen Körperkontakt mit Männern haben. Demzufolge sind iranische Filme mit Symbolen überladen, und bei Liebesgeschichten werden jene Szenen ausgespart, in denen sich die Zuneigung von Mann und Frau physisch äußert. Gleichwohl sind die islamischen Räume in iranischen Filmen nicht geschlechtsneutral, wie Hamid Naficy zeigt: »Frauen und Männer sehen einander und organisieren das Gesichtsfeld des jeweils anderen. Darüber hinaus werden die anderen Dualismen wie ›verwandt/nicht verwandt‹ (und darum berechtigt/nicht berechtigt, sich zu sehen) (mah.ram/nâmah.ram), ›innen/außen‹ (bât.en/z.âher) und ›religiös erlaubt/verboten‹ (h.alâl/h.arâm) zwar physisch und sozial strukturiert, aber sie sind nicht nur durchlässig, sondern laden zum Vergnügen der Grenzübertretung geradezu ein.«49

Das iranische Kino bietet einen öffentlichen Raum, in dem sich Männer und Frauen gemeinsam versammeln, um auf der Leinwand Szenen aus ihrem Alltag in Form von Dokumentarfilmen, Dokudramen, Komödien oder Melodramen anzuschauen. Während das Kino unter dem alten Regime – mit einer Produktion und einem Verleih von rund hundert Filmen im Jahr – als »westlicher« Import galt, ist das Kino heute für Frauen längst kein Ort der »Korruption« mehr. Vielmehr spielen Frauen Filmrollen, führen Frauen Regie und kommen Frauen als Zuschauerinnen in Kinos, die als »islamische Räume« gelten. Wie Naficy zeigt, haben die für Filme eingeführten Sittsamkeitsregeln zu einer geschlechtsbezogenen Grammatik des zeitgenössischen iranischen Films geführt. Diese Regeln lassen Frauen nur anwesend sein, wenn sie verschleiert sind. Obwohl sich Frauen im Islam unter ihren nächsten männlichen Verwandten (sing. mah.ram) unverschleiert zeigen dürfen, tragen sie im 49 Hamid Naficy: »Veiled Voice and Vision in Iranian Cinema«, in: Social Research Journal 67: 2 (2000), S. 559-577, hier S. 563.

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Frauen in der islamischen Öffentlichkeit des Iran | 223 Film immer eine Kopfbedeckung – selbst im Schlafzimmer. Dies zeigt, dass sich alle stets der Gegenwart der Kamera bewusst sind: Weil die Zuschauer im Kino alles sehen, was die Darstellerinnen tun, müssen diese immer verschleiert sein. Die geforderte Selbstdisziplin bestimmt alle Aspekte weiblichen Lebens und führt zu einem neuen Bewusstsein der Frauen. Ständig verschleierte Frauen werden sich bewusst, dass sie stets »im politischen Körper agieren« (vergleiche dazu den Beitrag von Sigrid Nökel im vorliegenden Band). Die Schilderung des Lebens iranischer Musliminnen auf der Kinoleinwand ebnet die Unterscheidung zwischen »privat« und »öffentlich« ein: Alles, was mit Frauen zu tun hat, ist öffentlich, und alles Öffentliche ist politisch. Im letzten Jahrzehnt haben sich iranische Filme überwiegend auf Frauenthemen . konzentriert, auf Themen wie die zeitlich befristete Ehe (sige), Mutterschaft, Impotenz, Gewalt gegen Frauen und sogar Prostitution. Filme wie Sagkosi (Hundetötung) von Bah.râm Beyzâ’i, Do zan (Two Women, Zwei Frauen) von Tahmine Milâni, Dâyere (The Circle, Der Kreis) von Gafar Panâhi, ein Film, der erstmals Prostituierte auf Teherans Straßen zeigt und der im Iran trotz sittsamer Verschleierung nicht öffentlich vorgeführt werden durfte, Sokarân (Hemlock, Schierlingsgift) von Behruz Afhami, ein engagiertes Plädoyer gegen das Rechtsinstitut der Zeitehe, Rusari-ye âbi (The BlueVeiled, Das blaue Kopftuch) von Rahsan Bani ‘Et.emâd, Gabbe von Moh.sen Mahmalbâf, Leylâ, Pari und Sâra, eine Trilogie von Dârius Mehrgu’i, und Sib (The Apple) von Samirâ Mahmalbâf – sie alle befassen sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit den Identitäten muslimischer Frauen und den Geschlechterrollen. Auch ein Kinohit wie . Âdam-e barfi (Snowman, 1994) von Davud Mirbageri nimmt sich des Themas an. Darin versucht der männliche Held, in der türkischen US-Botschaft ein Visum für die USA zu ergattern. Weil er Iraner ist, wird sein Wunsch wiederholt abgelehnt. Schließlich verkleidet er sich als Frau und beantragt erneut ein Visum. Diese für das iranische Kino außergewöhnliche Szene eines Mannes in Frauenkleidern zeigt eine für den nachrevolutionären Iran beispiellose Flexibilität hinsichtlich des Geschlechtsrollenverständnisses. Eine solche Szene wäre im vorrevolutionären Iran unmöglich gewesen. Snowman führt vor, dass Geschlechtsrollen performative Akte sind, dass sie entgegen unseren Erwartungen nicht statisch, »natürlich« und unverrückbar sind, während islamistische Hardliner uns das genaue Gegenteil einreden wollen. Filme sind zu einem wichtigen Medium der Sozialkritik geworden. Die postrevolutionäre iranische Gesellschaft, die ihren dramatischen Wandel trotz widersprüchlicher Zielvorgaben steuern möchte, hat einen erhöhten Bedarf an Selbstreflexion. Auf die Spitze getrieben wird das in autobiographischen Werken wie Bânu-ye ordibehest (The May Lady, 1996) von Rahsan Bani ‘Et.emâd über eine alleinerziehende Mutter und Filmemacherin, die einen Dokumentarfilm über die »ideale Mutter im Iran« drehen will und dafür prominente Frauen wie die Rechtsanwältin Mehrangiz Kâr interviewt. Nicht minder bedeutend ist der Beitrag Tahmine Milânis, die sich selbst als die einzige offen muslimisch-feministische Filmemacherin des Iran bezeichnet,50 das heißt, als eine Muslimin, die stolz auf ihren Glauben und ihr islamisches Heimat^

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50 In einem Interview an der University of California in Los Angeles am 14. November 2001 anlässlich einer Vorführung ihres Films Do zan (Two Women).

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224 | Elham Gheytanchi land ist und trotzdem für die Rechte der Frauen eintritt, ohne dabei von westlichen feministischen Vorstellungen abhängig zu sein. Nime-ye penhân (The Hidden Half, 2001) ist der Film, der Milani weltberühmt machte, weil sie seinetwegen in Teheran inhaftiert war und erst nach massivem internationalem Druck wieder auf freien Fuß kam. Die versteckte Hälfte stellt erstmals seit der Revolution von 1979 die vorrevolutionäre Zeit dar, die für islamische Filmautoren eigentlich tabu war. Ein Mann entdeckt das Tagebuch seiner Ehefrau, in dem sie über ihr voreheliches Verhältnis mit einem älteren Mann und ihre damalige Unterstützung für linke muslimische Gruppen spricht, die letztlich gegen die islamistischen Hardliner unterlagen. Die Selbstdeutung dieser reifen Frau führt den Gatten zu der unerwarteten Einsicht, dass seine Frau heute gerade darum eine gute Mutter, Muslimin und Staatsbürgerin ist, weil sie aus ihrer Vergangenheit lernte. Das ist eine Vorstellung von menschlicher Reife, die dem engstirnigen h.alâl-h.arâm-Denken der konservativen Tugenddiktatur von Grund auf widerspricht. Diese Filme zeigen neue gesellschaftliche Akteure, muslimische Frauen, die ihre Ziele auf der Leinwand anschaulich in Szene setzen und damit ein nationales wie internationales Publikum überzeugen. Frauen haben als Regisseurinnen, Schauspielerinnen und Filmschaffende das Wesen des iranischen Films verändert, und zwar in einer Weise, die den Planungen und moralischen Richtlinien des Staates und des Kulturministeriums durchaus nicht entspricht. Im Vergleich zur Frühzeit der Revolution nach 1979, als Frauen in Filmen keine Hauptrollen spielen durften, ist viel erreicht worden. Jetzt spielen Frauen in iranischen Filmen nicht nur Hauptrollen, sondern sie sind sogar Autorinnen und Produzentinnen dieser Filme. Auch die Grammatik der Filme hat sich allmählich verändert: Der »abgewandte Blick«, von dem Naficy in ihrer Untersuchung spricht, ist inzwischen direkteren, dynamischeren und aktiveren Blicken zwischen Männern und Frauen gewichen. Iranische Filme sind zum Medium der Sozialkritik geworden und spiegeln die zunehmende Bedeutung von um Gleichberechtigung ringenden Frauen wider, deren Selbstverständnis islamisch, feministisch, und aktivistisch ist. Während in vorrevolutionärer Zeit die Masse des ungebildeten Volks Kinobesuche für moralisch verwerflich hielt, sehen die Menschen dies heute anders: Ein Kinobesuch ist auch für Frauen nicht mehr anstößig, denn das Kino ist heute im Iran ein öffentlicher Ort, den Frauen und Männer gemeinsam besuchen, um nebeneinander Männern und Frauen auf der Leinwand dabei zuzusehen, wie sie miteinander umgehen. Das ist Modernität mit einer eigenen Note: Vermischung der Geschlechter an öffentlichen Orten, wobei die gesellschaftlich engagierten Frauen verschleiert auftreten.

Zusammenfassung Ein neues muslimisch-weibliches Selbstverständnis entsteht durch Filme und Zeitschriften im Iran. Muslimische Frauen identifizieren sich zuallererst mit ihrer Rolle als Mutter. Doch diese Rolle ist so, wie sie neuerdings interpretiert wird, sowohl öf-

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Frauen in der islamischen Öffentlichkeit des Iran | 225 fentlich als auch privat: Diese Frauen sind – wie die Autorinnen, die in Zanân schreiben – nicht nur Mütter, sondern auch politische Aktivistinnen. Indes, das neue Selbstverständnis iranischer Musliminnen bildet sich nicht nur in Zeitschriftendebatten heraus. Wichtig ist dafür auch die Tat, die körperliche Gegenwart an öffentlichen Orten – verschleiert, als Ausdruck der Selbstdisziplin. Auf diese Weise wird die muslimisch-weiblichen Identität verändert, Altes wird abgelegt, Neues errungen, und es entsteht ein neuer öffentlicher Raum. Frauen spielen im Iran eine aktive Rolle bei der Gestaltung und Umgestaltung des öffentlichen Raumes, wo »das Politische seine Bedeutung in erster Linie dadurch erlangt, dass es der Raum ist, in dem Pluralität erscheint, ermöglicht wird, gefördert und geschützt wird«.51 Wenn hier von »öffentlichem Raum« die Rede ist, dann im Sinne Hannah Arendts, für die der öffentliche Raum nicht ein Raum der Gemeinschaft ist, sondern ein Raum, in dem Unähnliches und Unterschiedliches zusammenkommt und seinen Ausdruck findet. Die muslimischen Frauen im Iran waren in der Lage, sich durch disziplinierte Verschleierung neue Räume zu schaffen. Denn Schleier und Kopftuch verhüllen sie nicht nur, sie geben ihnen auch Beteiligungs-, Gestaltungs- und Auftrittsmöglichkeiten in der Männerwelt, die ihnen vor Errichtung des islamischen Regimes nicht gegeben waren. Wie jede Revolution führte auch die im Iran zur Solidarisierung unterschiedlicher Menschen in der Gesellschaft, auch der Frauen. Doch im Lauf der Zeit wurde den muslimischen Frauen klar, dass sie anders waren und ungleich behandelt wurden. Sie sehnten sich nach Statusänderungen in ihren Rollen als Mütter, Ehefrauen und Bürgerinnen in einer neuen Gesellschaft. Wandel ist für die Frauen im Iran ein unabgeschlossener Prozess, in dessen Verlauf ihre Identitäten – unter Berücksichtigung der Ergebnisse einer tief greifenden Neuinterpretation muslimischer Weiblichkeit – stets aufs Neue auszuhandeln sind. Muslimische Weiblichkeit ist das Ergebnis des neuen Selbstverständnisses, das sich im Verlauf dieses Prozesses herausgebildet hat. Dabei sind muslimische Frauen keine einheitliche Gruppe mehr; ihre Kämpfe, Verhandlungen und Aktivitäten sind so vielfältig wie sie selbst.

Literatur ^

Bognordi, Nedâ: Dur az hâne: Filmsazân-e Irân ke Irânrâ ba‘d az enqelâb tark karde-and (Fern der Heimat: Iranische Filmemacher, die Iran nach der Revolution verließen), Teheran 2000. Calhoun, Craig/John McGowan (Hg.): Hannah Arendt and the Meaning of Politics, Ann Arbor, MI 1997. Eickelman, Dale F./Jon W. Anderson (Hg.): New Media in the Muslim World: The Emerging Public Sphere, Bloomington, IN 1999. Esfandiari, Haleh: Reconstructed Lives: Women and Iran’s Islamic Revolution, Washington, DC 1997.

51 Craig Calhoun/John McGowan (Hg.), Hannah Arendt and the Meaning of Politics, S. 15.

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Der Aufstand der Jugend im öffentlichen Raum von Teheran | 227

Der Aufstand der Jugend im öffentlichen Raum von Teheran Mahnaz Shirali In einer Stadt, der es an Vergnügungszentren mangelt, haben sich bestimmte beliebte Viertel wie Jordan (Gordan), Gischa (Gisâ), Fereschteh (Feresteh), Vanak und Gandhi in Unterhaltungsstätten verwandelt und nehmen die meist unter Zwanzigjährigen in Empfang, ohne ihnen die notwendigen Dienstleistungen bieten zu können. Täglich treffen sich die Jugendlichen in diesen Vierteln, um sich zu zerstreuen und von den wenigen verfügbaren Angeboten Gebrauch zu machen. Sie legen dabei Verhaltensweisen an den Tag, die von den Normen der Islamischen Republik Iran abweichen und den Zorn der Machthaber erregen. Des Krieges gegen bewaffnete Widerstandsgruppen und feindliche Nachbarländer enthoben, betrachten die Vertreter des Regimes die Jugendlichen als ihre wahren Feinde und greifen sie unablässig an. Das Viertel Gischa im Nordwesten Teherans ist eines dieser angesagten Quartiere, das von Jugendlichen aus fast allen sozialen Schichten stark frequentiert wird. Ihre Präsenz prägt den öffentlichen Raum so stark, dass die Truppen der H . ezbollâh (Hisbollah) und anderer Sittenwächter es zum bevorzugten Ziel ihrer systematischen Angriffe auf Jugendliche auserkoren haben. Wenige Jahre nach der Revolution wurde ein Stützpunkt islamistischer Kommandos am Hauptzugang des Viertels erbaut, um das Kommen und Gehen seiner Bewohner und Besucher lückenlos zu überwachen. Das Viertel ist an einem Hang gelegen und mündet in einen großen grünen Platz, der nachmittags die Bewohner anzieht. Diese Lage verleiht der Hauptstraße, entlang derer Handels- und Bildungsangebote, medizinische Versorgung und mehr zu finden sind, ihren besonderen Reiz. Gischa erfüllt sowohl lokale wie stadtweite Funktionen und ist eines der wenigen Viertel in Teheran, dem sich seine Bewohner – überwiegend junge Menschen – stark verbunden fühlen; anderswo muss man jeden Tag für einfache Besorgungen das Viertel mehrfach verlassen, was das Zugehörigkeitsgefühl schwächt. Die Jugendlichen von Gischa kommen mehrheitlich aus Familien der städtischen Mittelschicht, seltener der unteren Mittelschicht, und gehören einer mehr oder weniger einheitlichen urbanen Kultur an; sie unterscheiden sich daher äußerlich eher nach Altersgruppe als sozialer Klasse. Im Gegensatz dazu können wir bei den Jugendlichen aus anderen Stadtteilen, die Gischa aufsuchen, große soziale und kulturelle Unterschiede beobachten. Eben diese kulturelle und soziale Vielfalt macht dieses Teheraner Viertel zu einem Ort der Begegnung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und lässt eine Reihe von Konfigurationen sozialer Beziehungen an ein- und demselben Ort entstehen. Unsere Leitfrage ist: Wie verhalten sich die Jugendlichen zu ihrer Umgebung und wie behaupten sie sich in einer Gesellschaft, in der sie Opfer von Unterdrückung sind? Darum interessiert sich diese Untersuchung besonders für die konfliktreichen Beziehungen, die die Jugendlichen durch ihre täglichen Kontakte zu den Ordnungskäften unterhalten. Diese Verhältnisse im konkreten öffentlichen Raum lassen erkennen, wie die Jugendlichen um Aufmerksamkeit und Aufsehen ringen. Das hilft uns zu verstehen, welche Strecken jeder von ihnen zurücklegen muss, um ^

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228 | Mahnaz Shirali sich in einer Welt zu behaupten, die dem Aufbruch der Jugend feindselig gegenübersteht.

Tägliche Unterdrückung im Viertel Gischa von Teheran Unsere qualitative Untersuchung umfasst einundzwanzig Jugendliche, zehn Mädchen und elf Jungen aus städtischen Mittelschichtsfamilien, die seit mindestens drei Generationen in Teheran leben. Sie sind alle unverheiratet und leben bei ihren Eltern. Sie haben ein bis drei Geschwister, die durchschnittliche Kinderzahl beträgt in ihren Familien zweieinhalb. Mit Ausnahme einer Studentin der Kunstgeschichte und zwei Medizinstudenten, die halbtags arbeiten, waren sie bislang fast nie erwerbstätig. Sechzehn von ihnen wurden im Viertel geboren, die übrigen zogen vor mindestens zehn Jahren aus einem Nachbarviertel zu. Das Durchschnittsalter liegt in dieser Gruppe bei neunzehn Jahren. Von zwei Schülern abgesehen, die wegen »schlechten Betragens« einige Monate vor unserer Erhebung im Sommer 1998 der Schule verwiesen wurden, sind alle Studenten oder Gymnasiasten. Die Neigung des islamistischen Regimes zu autoritären Antworten auf die soziale Frage zeigt sich hauptsächlich an mannigfaltigen täglichen Unterdrückungsakten im öffentlichen Raum. Die Truppen der Sittenwächter – die Polizei, die Pasdaran, die islamistischen Kommandos und Mitglieder inoffizieller Gruppen dieser Art – haben sich vor allem das Ziel gesetzt, die Jugendlichen zu einem Verhalten nach den Regeln des islamischen Anstands (mawâzin-e sar‘i) zu zwingen. Wer diese Regeln nicht genügend beachtet, etwa wenn die äußere Erscheinung von den Kleidungsvorschriften abweicht, gilt als »Schandmal des Islam und der Revolution« und wird zur Zielscheibe von Drohungen, Angriffen und Beleidigungen, die oft in polizeilichem Gewahrsam und Gefängnis enden. Bei der Wahl der Opfer herrscht absolute Gleichheit: Ob reich oder arm, gut oder schlecht gekleidet, zurückhaltend oder auffällig, jeder läuft Gefahr, von den Ordungskräften (ma’murin-e entez.âmi) angegriffen zu werden. »Es genügt schon, dass man ausgeht, um belästigt zu werden. Um in Ruhe gelassen zu werden, sollte man zu Hause bleiben«, so eine junge Teheranerin. Die täglichen Repressionen haben den öffentlichen Raum in ein Konfliktfeld verwandelt, in dem sich die Jugendlichen und die Ordnungskräfte ständig beschimpfen und Schlägereien liefern. Zwanzig Jahre der Islamischen Republik haben die Grenzen zwischen dem Privaten und Öffentlichen so geschwächt, dass die Ordnungskräfte unter dem Vorwand des Kampfes gegen die Sünde mit Leichtigkeit in den Binnenraum des Privaten eindringen. Kein Familienfest, von der Abendgesellschaft unter Freunden bis zur Hochzeitsfeier, vergeht ohne Angst vor Unterbrechung durch die Sittenwächter. Alkohol oder »nicht nach islamischer Sitte gekleidete« Frauen reichen aus, dass allesamt in Gewahrsam genommen werden. Manchmal werden persönliche Konflikte durch Denunziation eines Fests ausgetragen. Dabei nutzen die Ordnungskräfte in Anbetracht des gesunkenen Lebensniveaus die Gelegenheit, um den Leuten erhebliche Summen abzuverlangen. Da sich das Konfliktfeld bis ins Privatleben hinein ausgedehnt hat, ist die selbst in intimsten Sphären angegriffene Freiheit des Individuums zur wichtigsten Forderung der Bürger geworden. ^

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Der Aufstand der Jugend im öffentlichen Raum von Teheran | 229 Die sich über alle Verbote hinwegsetzenden Ansprüche der Jugendlichen folgen dieser Logik. Zwar könnte man angesichts von Krieg und Arbeitslosigkeit den Wunsch nach Jeans, Make-up und amerikanischer Mode für die geringste Sorge halten. Doch tragen diese sehr beschränkten Forderungen nicht selten bereits den Keim zu einer gemeinsamen Aktion in sich, und im Rückblick scheint die Kontinuität zwischen diesen geringen Ansprüchen und dem nachdrücklichen Einsatz der Jugendbewegung für die Freiheit groß. Auch wenn die Jugendlichen nur persönliche Freiheiten beanspruchen, stellen sie damit unbeabsichtigt zentrale Aspekte der Herrschaft des Regimes in Frage, die auf einem Mangel an Achtung vor der Menschenwürde gründet. Ihrer Forderungen sind erschütternd einfach und bedeutsam zugleich: »Ich möchte lachen«, »Ich möchte bunte Kleider tragen«, »Ich möchte reden mit wem ich will, ohne dass mir jemand sagt: Du darfst oder Du darfst nicht« – solche Sätze hört man öfter als erwartet. Obwohl diese Jugend nur die Islamische Republik erlebt hat und allein deren Normen kennt, versteht sie heute nicht, warum die elementarsten menschlichen Reaktionen bestraft werden müssen: »Man hat mich auf der Straße angehalten, weil ich lachte. Ich habe ihnen gesagt: ›Wenn Lachen schlecht wäre, hätte Gott selbst es unterdrückt, er braucht euch nicht, um es uns zu verbieten!‹« Das Unverständnis der Jugendlichen für die Gesellschaftspolitik des Regimes kennt keine Grenzen. Sie begreifen absolut nicht, warum man ihnen bei jeder Festnahme und für nichts und wieder nichts den Kopf schert oder die Kleider zerreißt. Ein Student erzählt uns ironisch: »Ich weiß nicht, was sie gegen meinen Kopf haben. Seit einigen Jahren bin ich praktisch kahlgeschoren – kaum sind meine Haare wieder etwas gewachsen, rasieren mich die Frisierbrüder von den Pasdaran von neuem!« Obwohl die Repressionen des Regimes im öffentlichen Raum zur Gewohnheit geworden sind, sind sie keine Banalität und beschäftigen die Bürger und besonders die Jugendlichen stark. Es ist ausgeschlossen, dass ihnen die entgegengebrachte Verachtung mit der Zeit weniger ausmacht. »Mit welchem Recht beleidigt man uns?«, »Woher kommen diese Typen, wer hat ihnen erlaubt, sich so aufzuführen?« und immer wieder mit erhobener Stimme: »Das verdienen wir nicht, sie haben kein Recht, uns so zu behandeln!« Auf diesem Standpunkt beharren sie erbittert. Sie berufen sich auf ihre Rechte und Verdienste, sind sich wohl bewusst, was ihnen fehlt, und stellen so ihr Selbstbewusstsein unter Beweis. Es liegt auf der Hand, wer sich in diesem Konflikt als Gegner gegenübersteht: auf der einen Seite das islamistische Regime, auf der anderen Seite der Freiheitsdrang einer Jugend im Aufruhr. Die täglichen Auseinandersetzungen auf der Straße bestimmen für die Jugend die Grenzen der Macht. Das Gewaltmonopol des Regimes und dessen häufiger Einsatz von Gewalt im öffentlichen Raum, der zum wichtigsten Schlachtfeld wird, zeigen die Machtverteilung in der Gesellschaft auf. Die Machthaber sind zu Feinden des Gesellschaftlichen geworden, gegen das sie ohne Zögern mit Gewalt vorgehen; ihre Überlegenheit ist offenkundig. Dabei beschränkt sich die Eroberung nicht auf den öffentlichen Raum, sie erstreckt sich vielmehr zunehmend aufs Private, um die Individuen besser zu überwachen. Das führt zum spiegelbildlichen Phänomen im Gesellschaftlichen: Die Jugendlichen fassen ihre intimen Beziehungen, ihr Privatleben und ihren Körper als Schlachtfeld auf, auf dem das Individuum gegen die Unterdrückung Widerstand leisten kann. In diesem Prozess verwandeln sich die intimsten Dinge des

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230 | Mahnaz Shirali Privatlebens in eine öffentliche Angelegenheit, wenn nicht sogar Staatsaffäre. Die Ausweitung der Kampfzone aufs Private verleiht ihm einen neuen Charakter, der von den Akteuren selbst ebenso wie von der übrigen Gesellschaft seltsam verkannt wird. Die erstaunliche Grobheit, die Älteren am Betragen der heutigen Jugendlichen auffällt, ihre Schamlosigkeit, der Mangel an Höflichkeit und vieles andere mehr, was man ihnen vorwirft, hat seinen Grund in der Bedrückung einer Jugend, der man jegliche Freiheit verweigert hat. Wenn Mädchen in den ersten Minuten eines Gesprächs den Verlust ihrer Jungfräulichkeit zum Besten geben, wenn Gymnasiasten ihren Wert daran messen, wie viel Alkohol sie im Monat trinken, dann wäre es naiv anzunehmen, man habe es mit freieren Sitten oder Anzeichen von Ausschweifung zu tun. Diese Reaktionen sind nicht nur die Antwort auf eine Krise der gesellschaftlichen Normen, sie können auch Zerrbilder eines kaum organisierten Kampfes sein. Auf der einen Seite bieten sich derartige Reaktionen als Antwort auf starre Sitten an, die sich Eingriffen der Gesellschaft entziehen. Auf der anderen Seite entsprechen sie Akteuren, die jede Vorstellung von kollektivem Handeln ablehnen und sich vor allem als Individuen verstehen, als könne jegliche Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft diese gebrechliche Individualität zerstören.

Grenzüberschreitung: Eine Seinsweise des auffälligeren Erscheinens Der Ausschluss von legitimen Formen der politischen und gesellschaftlichen Teilhabe und die gesellschaftliche Unzulässigkeit ihrer Ansprüche lösen bei den Jugendlichen ein starkes Gefühl der Frustration aus. Dies zeigt sich an ihren extrem gespannten Beziehungen zu allen Autoritätspersonen von den Eltern bis zu Vertretern des Regimes, dergestalt dass die Jugend dieser Islamischen Republik keine Anstalten macht, sich zu unterwerfen »wie es sich gehört« und stattdessen versucht, ihre Unzufriedenheit und ihr Aufbegehren in allen Aspekten des Lebens auszudrücken. Wo aber jede offene Revolte streng bestraft wird, fällt die Wahl auf eine Logik der verdeckten Revolte: die Grenzüberschreitung, eine Daseinsform, durch die sich die Jugendlichen ein neues Selbstbild verschaffen können, um in einer Umgebung sichtbar hervorzutreten, die jeder Herausbildung individueller Autonomie feindlich gegenüber steht. »Wenn ich mich zusaufe, wenn ich mich wie eine Verrückte anziehe, tut mir das gut. Das ist meine Art, allen Mullahs Scheiße zu sagen. Dadurch spüre ich, dass ich existiere: Bahâr Rah.mâni ist wirklich da! Sie ist nicht nur ein paar Buchstaben auf dem Papier, sie ist eine junge Frau und tut, wozu sie Lust hat.« (Bahâr, siebzehn Jahre). Die Grenzüberschreitung hilft den Jugendlichen, der Not jener zu entkommen, die den Kampf aufgegeben haben. Sie macht es ihnen möglich, sich zum großen Teil von den Schuldgefühlen zu befreien, die der Mangel an sozialen Aktivitäten ihnen bereitet. Wenn der Einzelne beim geringsten Anzeichen von Eigenart Erniedrigungen, Beschuldigungen und Verachtung erdulden muss, wenn diese vom Gesellschaftlichen produzierten Bilder das Individuum in die schlimmsten Konflikte stürzen – dann entfesselt der Geist der Herausforderung, die einfache Tatsache, dass man sich sagen kann: »Ich bin dagegen!« – so oberflächlich das erscheinen mag –, in

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Der Aufstand der Jugend im öffentlichen Raum von Teheran | 231 der Psyche des Einzelnen den erstaunlichen Mechanismus des Widerstands, der ihn davor bewahrt, von der Last der herrschenden Ordnung völlig ausgelöscht zu werden. Der Drang, sich trotz allem und unbedingt zu behaupten, äußert sich in allen Praktiken und Einzelheiten des Lebens von Jugendlichen, aber er drückt sich wesentlich dort aus, wo die Unterdrückung am stärksten ist, also im öffentlichen Raum. Weil es verboten ist, sich in auffälligen Farben zu kleiden, fühlen sich die meisten Mädchen in Teheran geradezu verpflichtet, Kopftücher in Rosa, Violett und Rot zu tragen; und da sich Frauen nach den Regeln der Scharia angeblich nicht für nicht verwandte Männer schminken dürfen, ist Make-up zu einem unverzichtbaren Bestandteil des Alltags in Teheran geworden. Durch Übertretung der Verbote kann das Individuum der Gleichgültigkeit entrinnen, dem Vergessen und der Auslöschung. Der inneren Autonomie beraubt, braucht das Selbst Stützen; seine Eigenliebe fordert, dass man es ein wenig bemerkt und ihm Aufmerksamkeit schenkt. Was vielleicht als Provokation erscheinen mag, ist nur der unleugbare Wunsch nach identitärer Selbstbehauptung von Individuen, die sonst kein Mittel finden, um sich in einer Gesellschaft zu äußern, in der alles verboten ist. Die Übertretung gibt dem gebeutelten Einzelnen Auftrieb, weil sie ihn zum Vertreter einer Gesamtheit und besonderen Verkörperung eines gemeinsamen Geistes macht – auch wenn es sich dabei um eine randständige Minderheit handelt. Als Akt, der niemals allen freisteht, verbindet sie gesellschaftlichen Ungehorsam mit individueller Selbstabgrenzung. Durch ihr ordnungskritisches Verhalten gewinnen die gesellschaftlichen Forderungen der Jugendlichen den erhabenen Anschein von besonderer Individualität. Dass viele von ihnen selbstzerstörerisch handeln, hat seinen Hauptgrund darin, dass unter diesen Umständen die Neigung, sich zu unterscheiden, über die üblichen Grenzen hinaus wächst: Wo andere sich im Alkoholkonsum miteinander messen, will man gleich Alkoholiker sein; wenn Beziehungen zum anderen Geschlecht Ausweis der Modernität sind, verhält man sich wie ein Wüstling; und da religiöser Glaube mit dem Islam des Regimes verwechselt werden könnte, erklärt man sich zum Feind Gottes und seines Propheten. So verschafft man sich einen individuellen Anstrich im Verhältnis zur vorherrschenden Tendenz in der Denkungsart des betreffenden Milieus. Man möchte die anderen auf deren eigener Bahn überholen. Das exzessive Verhalten der Jugendlichen, ihre starke Neigung zur Selbstdarstellung und Übertreibung, stellen ein eigentümliches Gleichgewicht zwischen dem Zug zum Sozialen und dem Zug zum Individuellen her. Da die äußeren Einschränkungen schwer auf uns lasten, wollen wir uns um jeden Preis von ihnen befreien; und da jeder Ausdruck von Individualität im öffentlichen Raum untersagt ist, wird es zur Hauptsorge der Jugendlichen, die persönlichsten Züge ihres Lebens öffentlich zur Schau zu stellen. Darum haben wir bei vielen Interviewten, hochintelligenten Personen übrigens, die Neigung festgestellt, von ihren – oft inexistenten! – sexuellen Beziehungen zu sprechen und übertreibend die schlüpfrigsten Details preiszugeben. Vom Verbot, mit einer Person des anderen Geschlechts auszugehen, bis zur obsessiven Darbietung von intimen Verhältnissen im öffentlichen Raum ist es weniger weit als man denkt. Diese Art von Übertreibung und Exhibitionismus kombiniert Verhaltensweisen auf eine Art, die individuelle Forderungen und kollektive Erwartungen sowie Souveränität und Un-

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232 | Mahnaz Shirali terwerfung verbindet. Das Individuum beweist seine Souveränität, indem es die Regeln des gesellschaftlichen Benimms übertritt. Das gibt ihm ein Gefühl der Freiheit angesichts der Zwänge, unter deren Last es sich krümmt. Aber es drückt zugleich aus, bis zum welchem Grad die Wahl des Einzelnen beschränkt ist: Er überwindet die sozialen Zwänge nur, weil er nicht anders kann. Alle Anstrengungen der Jugendlichen, das Ausmaß ihres Verhaltensspielraums zu demonstrieren, und ihre ganze Neigung zur Überschreitung zeigen, wie sehr sie unter der Last der herrschenden Ordnung zu ersticken glauben. Wenn es der größte Stolz eines Kunsthochschulstudenten ist festzustellen, dass er die Mädchen im Hof der Fakultät küsst – in dem viele Studenten allein dafür streng bestraft wurden, dass sie mit ihren Kommilitonen des anderen Geschlechts gesprochen haben! –, ist nicht nur zu fragen, wie stark er übertreibt und ob das überhaupt stimmt, sondern es ist zu klären, woher der Prestigegewinn eines solchen Akts rührt. »Ich habe die Mädchen siebzehn Mal im Säulengang der Fakultät geküsst und bin jedes Mal entkommen. Wenn ich die islamistischen Studenten der Fakultät ansehe, sterbe ich vor Lachen: Wenn sie wüssten, was ich da anstelle, fast unter ihrer Nase, würden sie mich töten.« Es geht sicher nicht um die sexuelle Befriedigung, die dieser Akt dem Individuum vielleicht verschaffen könnte, es geht darum, sich den Gefahren des Wettkampfs zwischen Verbot und Übertretung auszusetzen. Wenn dieser junge Mann, der sich seines Erfolgs bei Frauen gewiss ist und sie auch unter anderen Umständen verführen könnte, gerade darauf stolz ist, sie siebzehn Mal im Säulengang der Fakultät, also im öffentlichen Raum geküsst zu haben, ein Ort, an dem sich Jungen und Mädchen normalerweise nicht einmal grüßen dürfen, dann darum, weil er so sagen und vor allem sich selber sagen kann: »Siebzehn Mal habe ich mich über alle Verbote der Universität lustig gemacht!« Die Übertretung ist nicht die wohlbedachte Antwort bestimmter Individuen auf schwierige Umstände, sondern die einzige Überlebenschance derer, die sich einer unerträglichen Situation ausgesetzt fühlen. Zugleich geht aus der Überschreitung hervor, dass die Ordnung vom Individuum kaum verinnerlicht ist. Je mehr es sich von den Normen und Werten des Kollektivs entfernt hat, desto erstickender erscheint ihm diese Ordnung. Umgekehrt zwingt sich die Ordnung, die ihre Kraft aus der Unterwerfung einer größtmöglichen Zahl von Individuen bezieht, umso nachdrücklicher auf, wenn eine rebellische Minderheit sie nicht befolgt und dadurch bedroht. So entsteht ein Teufelskreis sich verschärfender Verbote und wachsender Übertretungsbereitschaft. Nicht eine vermeintliche Schwäche der herrschenden Ordnung steht hier zur Diskussion, sondern allein der Grad ihrer Verinnerlichung durch den Einzelnen; denn je öfter die Ordnung übertreten wird, desto totaler wird sie. Immer heftiger bedrängt sie die Individuen, um zu gewährleisten, dass die quasitotalitären Politiken des islamistischen Regimes greifen. Das enorme Gewicht des von allen erdenklichen Sanktions- und Repressionsmitteln gestützten Wertesystems hat die soziale Kontrolle in äußeren Zwang verwandelt. Aufgrund des verschärften Drucks gibt es nirgends Schutz vor den plötzlichen brutalen Attacken der Ordnungshüter auf die Individualität.

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Der Aufstand der Jugend im öffentlichen Raum von Teheran | 233 Selbstbehauptung durch Bruch mit dem Glauben der Gemeinschaft Die Jugendlichen wollen sich Gehör verschaffen. Doch führt sie der Widerstand gegen die soziale Kontrolle bis zur Verachtung der Glaubensanschauungen und Werte der Gesellschaft; und das verübelt man ihnen. Geradezu systematisch verwechseln die Jugendlichen von Gischa den Islam mit dem islamistischen Regime. Sie lasten alle Mängel, Probleme und Verbote der Religion an. Da sie dem Regime nicht direkt entgegentreten können und es auch keinen organisierten Widerstand gibt, nehmen sie die Religion aufs Korn und verwerfen ihre Prinzipien und Werte im Glauben, sie könnten so ihre Rechnung mit der Politik begleichen. Um ihre Unzufriedenheit mit Letzterer zu bekunden, bekennen sie sich zum Immoralismus und bemühen sich nach Kräften, sich als »Atheisten« auszugeben. Ob sie mit den Turbanen der Mullahs auf der Hauptstraße von Gischa spielen, um gegen die Schließung des öffentlichen Parks im Viertel zu protestieren, oder ob sie anlässlich religiöser Feierlichkeiten vor aller Augen tanzen – immer sind sie bereit, den höchsten Preis zu zahlen, und sei es das Leben, um »sich das Vergnügen zu gönnen, die Regeln und Verbote der Religion lächerlich zu machen«. Als im Winter 1997 dreißig Jugendliche zwei Mullahs die Turbane fortnahmen und damit auf der Hauptstraße Fußball spielten, wurde 400 Jugendliche festgenommen; hundert von ihnen mussten umgerechnet 230 Euro Kaution zahlen, und fünfundzwanzig wurden zu 50 Peitschenhieben verurteilt. So kommt es, dass seit einigen Jahren die Moschee von Gischa, die von den konservativsten Islamisten des Regimes geleitet wird, keine kollektiven religiösen Trauerfeierlichkeiten mehr organisieren kann, ohne dass man sich über sie lustig macht und die Jugendlichen des Viertels sie zum Vorwand nehmen, sich zu vergnügen: ^

»Ich liebe es, an der ›Nacht der Fremden‹ (sâm-e qâribun)1 teilzunehmen. Was wollen wir mehr: Man bietet uns das Beste zum Essen und Trinken, es gibt Musik [Anspielung auf religiöse Lieder] und, super, wir können mit allen Mädchen des Viertels in romantischer Atmosphäre flirten, mit Kerzen überall. Und das alles, ohne von den Typen der H . ezbollâh belästigt zu werden! Wie wollen sie uns auch von den anderen unterscheiden? Es ist Nacht, alle sind schwarz angezogen, und wir mischen uns unter die wirklich Frommen. Keiner kann wissen, wer wer ist. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie gut das tut, ausgerechnet in der Nacht der Leiden von Imâm H . oseyn etwas anzustellen. Welche Leiden? welcher Imâm H . oseyn? Das ist alles Unsinn. Was haben wir mit diesen armen Imamen zu schaffen, die sich vor zehntausend Jahren töten ließen? Die Mullahs stehen auf Schmerzen. Wenn sie könnten, würden sie das ganze Jahr in Tage des Leidens verwandeln. Sie bringen die Leute gern zum Weinen. Aber hier bringen wir sie zum Weinen!« (Bâbak, achtzehn Jahre)

Wenn eine Stadt schmerzlich alle Freizeitangebote vermissen lässt, das tägliche Leben trübselig ist und es nichts im Fernsehen, Kino oder anderswo gibt, dann ertrotzen sich die Jugendlichen ihr Recht auf Vergnügungen, indem sie die religiösen Fei1 Schiitischer Trauertag zum Gedenken an den Märtyrertod des Imams und Prophetenenkels H . oseyn und seiner Gefährten bei Kerbelâ’ im Jahr 680, die in der Folgenacht am 11. Muh.arram beweint werden.

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234 | Mahnaz Shirali erlichkeiten verhöhnen. Um sich ein freieres Gefühl zu verschaffen, zögern diese Jugendlichen nicht, die Werte der Gemeinschaft zu verspotten; die Werte, die das »Ganze der Glaubensanschauungen, Riten und Symbole bilden, welche die Rolle des Menschen in Zeit und Raum mit dem tiefsten Sinn der Existenz verknüpfen«.2 Damit demonstrieren sie ihre Distanz zu diesen Werten: Keiner von ihnen versteht, warum man immerzu über die Leiden der Märtyrer von Kerbelâ’ weinen soll, wenn es so viele andere Ungerechtigkeiten auf der Welt gibt – und besonders da, wo sie leben. Dieses Unverständnis der Jugend gegenüber den religiösen Riten und Symbolen zeigt nach Farhad Khosrokhavar ihren Bruch mit der Welt des kollektiven Sinns: »Noch in der letzten Generation hätte selbst wer dem Westen nahe stand die schiitische Neigung zu Leid und Tränen vor ihrem kulturgeschichtlichen Hintergrund gut verstanden. Für diese Generation waren die Tränen, die Prozessionen der Geißler, die Rezitationen von H . oseyns Leidensgeschichte, die ganze Inszenierung, die Zittern und Weinen selbstverständlich einschließt, nicht das Gegenteil von Freizeit, sondern in einem gewissen Sinn sogar deren Inbegriff. Wenn heute die Jugend der Mittelschicht gegen die ›Tränen‹ aufbegehrt, dann zeigt sich darin ihr Bruch mit dieser geistigen Welt, die sie nicht mehr versteht.«3 Unter den hier befragten Jugendlichen finden sich nur wenige, die den Bedarf der Gesellschaft an religiösen Riten und Zeremonien verstehen und sich nicht gleichgültig oder geringschätzig geben. Weil der Widerstand gegen die Unterdrückung sie mit allen gemeinsamen Werten brechen lässt, ohne dass sie ein eigenes Sinn- und Wertesystem dagegen setzen könnten, machen nicht nur die Ordnungskräfte, sondern macht die ganze Gesellschaft Front gegen die Revolte einer ungläubigen Jugend. Das ist der Grund, warum der Aufstand der Jugend trotz allgemeiner Unzufriedenheit mit dem islamistischen Regime immer ohne Echo bleibt und selbst ihre berechtigsten Forderungen leider keine Früchte tragen. Der Hass der Jugendlichen von Gischa gegen das Regime und ihre Wut auf die Verbote verwandeln sich in radikale Verweigerung fundamentaler Sinnvorgaben. Die Religion wird unerbittlich verworfen. Das ist unvermeidlich, weil man im Namen der Religion jede individuelle Freiheit erstickt; weil im Namen Gottes Peitschenhiebe ihren Körper versengen; und weil die Vertreter dieses Gottes ihnen Erniedrigungen zufügen, die sie in einen Zustand dauernder Empörung versetzen. Darum nimmt die Ablehnung der Religion einen so wichtigen Platz in ihrem Denken ein. In ihren Gesprächen muss sie als Grund für alle Probleme der Gesellschaft herhalten und wird für alles Unglück verantwortlich gemacht: »In diesem Land kann man weinen so viel man mag, privat und öffentlich, da belästigt einen keiner. Nur leiden ist erlaubt und alles andere verboten. Das ist die Religion! Sie ist gleichbedeutend mit Angst, Verboten und Unterdrückung. Schauen Sie sich um: Wo die Religion herrscht, herrschen Krieg und Elend!« (Râd, einundzwanzig Jahre)

2 John Coleman, zitiert nach: Danièle Hervieu-Léger (Hg.): La religion pour mémoire, Paris 1993, S. 58. 3 Vgl. Farhad Khosrokhavar: Anthropologie de la révolution iranienne: Le rêve impossible, Paris 1997, S. 81.

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Der Aufstand der Jugend im öffentlichen Raum von Teheran | 235 »Man sollte das Gesicht des Islam nicht mit einer Maske verhüllen und ihm einen falschen schönen Schein verleihen. Islam, das ist Ersticken, Angst und Tod. Der wahre Islam ist der der Taliban: die Frauen einsperren und Hungrigen, die ihr Brot stehlen mussten, die Hand abhacken. Kurz, der Islam ist die reine Barbarei! Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr es die Abgesandten der H . ezbollâh trifft, wenn man sie ›Taliban‹ nennt. Das ist in ihren Augen die schlimmste Beleidigung. Sie sind so dumm, dass sie glauben, anders als die Taliban zu sein. Einmal habe ich ihnen gesagt: Ihr seid wirklich nicht wie die Taliban – ihr seid schlimmer als sie!« (Sahrâm, fünfundzwanzig Jahre) ^

Man hört die Jugendlichen oft die Islamische Republik mit dem Regime der Taliban in Afghanistan vergleichen. Zum Nachteil des Islam wird zwischen dessen offiziell verkündeten Spielarten und Religion als subjektivem Sinnsystem, das Bedürfnisse des Individuums erfüllt, nicht unterschieden: »Wissen Sie, warum ich die Taliban mag? Weil sie offen sind! Sie sind nicht wie die unsere Islamisten, die ihre Absichten hinter schönen Worten verbergen und dir dann wer weiß was reinwürgen! Sie versuchen dem Islam ein schönes Gesicht zu geben, sagen, er sei mit der modernen Zeit vereinbar, obwohl das vollkommen falsch ist. Was die Islamisten bei uns anstellen, das ist noch schlimmer als was die Taliban machen. Der einzige Unterschied ist, dass die ihren Dreck deutlich aussprechen, während unsere Islamisten auch noch lügen!« (Ah.mad, fünfundzwanzig Jahre)

Es ist leicht zu erkennen, wie die Jugendlichen ihre Eindrücke von der Religion und vom islamistischen Regime in eins setzen, die Heuchelei des Letzteren durch zynische Wertschätzung der Taliban anprangern – und dabei alles der Religion anrechnen. Wenn man Religion als Synonym für Angst, Elend und Ersticken definiert, so bezieht sich das auf eine Grundlage der repressiven Politik dieses Regimes: Die Angst sichert die Herrschaft der Islamisten über die Gesellschaft, wie es ihrem archaischen Lehrsatz »Zum Sieg durch die Furcht!« (an-nas.ro be ro‘b) entspricht. Da sie unablässig die Religion für ihre Zwecke in Anspruch nehmen und als Vertreter kollektiver Glaubensanschauungen auftreten, fällt es den Jugendlichen schwer, deutlich zwischen ihren Gegnern und dieser Sinnordnung zu unterscheiden. Letztere verstehen es nur zu gut, an die gemeinsamen Werte der Gesellschaft zu appellieren und das ganze Volk gegen diese »verlorenen Kinder ohne Halt« in Stellung zu bringen. Umgekehrt stellen die Jugendlichen aus Hass auf die selbsternannten Verteidiger moralischer Werte alle Werte in Frage – was einer unfreiwilligen Sittenlosigkeit Auftrieb gibt. Dafür wiederum rächt sich die Gesellschaft an ihnen und hält die Repressalien für »verdient«, denen die Ordnungskräfte sie oft willkürlich und ungerecht unterwerfen. Die Handwerker und Geschäftsleute des Viertels sind einer Meinung über die Jugend: Ihr Verhalten, das allen Anstand hinter sich lässt, scheint ihnen »grotesk« und entsetzt sie. »Sehen Sie diese Jugendlichen da, gegenüber der Telefonzelle? Das sind alles Süchtige. Sagen Sie mir, dass ich träume, dass ich halluziniere, dass das nicht wahr ist! Können Sie sich das vorstellen? Den ganzen Tag stehen sie da, um den Mädchen nachzuschauen und nichts zu tun.

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236 | Mahnaz Shirali Ich frage mich, wo die herkommen, diese Pest: Haben sie keinen Vater? Gibt es niemanden in ihrer Familie, der besonnener ist als sie? Wissen Sie, wo das Problem liegt? Das Problem ist, dass sie sehr schlecht erzogen sind, keiner hat ihnen Respekt und Benimm beigebracht. Ich sage Ihnen etwas, das habe ich auch meinen Kindern gesagt, nämlich dass diese Jugend von heute verdient, dass die Pasdaran und die Leute von der H . ezbollâh sie so behandeln. Denken Sie doch bloß mal, um Gottes willen, was los wäre, wenn man ihnen die Freiheit lassen würde, wenn man ihnen eines Tages sagen würde: Na gut, es gibt keine Pasdaran und keine H . ezbollâh mehr! Ich sage Ihnen, was geschehen würde: Sie würde am helllichten Tag miteinander schlafen, vor allen Leuten, genau! Ich kann die Mullahs wirklich nicht leiden, ich bin kurz davor, sie mit meinen eigenen Händen zu erwürgen. Trotzdem bin ich nicht dagegen, dass man diese kleinen Teufel unterdrückt, ich glaube sogar, dass es nicht reicht, sie hätten noch mehr nötig. Man sollte ihnen die Zunge abschneiden, damit Schluss ist mit ihren Gotteslästerungen!« (‘Ali Aqâ, Schuster in Gischa)

Man sollte ihnen also die Zunge abschneiden, damit sie nicht mehr Blasphemien begehen und die nahezu heiligen Konventionen einer Gesellschaft verhöhnen, die es kaum erträgt, wenn einige ihrer Mitglieder ihre normative Ordnung ablehnen. Es gibt viele Eltern, die wie dieser Schuster argumentieren. Das Erstaunlichste an ihren Reden ist aber, dass sie ihrerseits zu den eifrigsten Gegnern des islamistischen Regimes zählen und ihre Kritik die ihrer Kinder zumindest in Worten weithin übertrifft. Die Struktur der patriarchalischen Familie beruht so sehr auf Herrschaft und Gewalt, dass ihnen jede Form von Unterdrückung legitim erscheint, die die Machtverhältnisse im Schoß der Familie wiederherstellt. Da die repressive Politik des Regimes mit dem Prinzip des privaten Patriarchats übereinstimmt, kann sie aus den bestehenden Herrschaftsstrukturen Kraft schöpfen, und so wird ihr Erfolg zu großen Teilen von der Gesamtheit der iranischen Gesellschaft garantiert. Wie der Philosoph ‘Abdolkarim Sorus (Sorusch) 1995 in einem Offenen Brief an den früheren Präsidenten Rafsangâni (Rafsandschani) sagte: »Die Logik des Zwangs (eqtedagerâi) hat [durch die innerfamiliären Machtverhältnisse] die Mentalität so tief und durchdringend geprägt, dass mir der Weg zur Freiheit und Demokratie in unserem Land besonders lang und schwer erscheint.«4 Da die Familie die kulturellen Zwänge repräsentiert, betrachten diese Jugendlichen sie als Hauptverbündeten des Regimes, das ganz die gesellschaftlichen Tabus verkörpert. Tatsächlich hat das Regime, um totale Kontrolle über das Soziale zu erlangen, das private Patriarchat durch ein öffentliches bekräftigt. So finden wir in allen Institutionen, die den öffentlichen Raum überwachen sollen, die Grundregeln der androzentrischen Weltsicht in einer Weise verwirklicht, welche ihre Geltung im privaten Raum noch übertrifft. Diese in allen gesellschaftlichen und politischen Bereichen errichtete patriarchalische Pyramide hilft dem Regime, die Individuen in eine erzkonservative Weltsicht einzuschließen, die die patriarchalische Familie zum Vorbild der gesellschaftlichen und moralischen Ordnung erhebt. Diese Sicht gründet auf der Herrschaft der Männer über die Frauen und der Herrschaft der Erwachsenen über die Kinder und setzt Moral mit Zwang gleich, der vom Körper verinnerlicht wurde – dem Sitz der Versuchungen und ^

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4 Vgl. ‘Abdolkarim Sorus: Siyâsat-nâme, Teheran 1999, S. 32.

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Der Aufstand der Jugend im öffentlichen Raum von Teheran | 237 männlichen Begierden. Dass das Regime so sehr betont, wie wichtig die Ehe als einzige Lösung für alle Leiden und Schwächen der Jugend sei, gehört auch zu dieser repressiven Politik, die die Jugendlichen ganz den Sorgen des alltäglichen Lebens ausliefern möchte. So bringt man ihnen bei, dass die »Unverheirateten nicht ins Paradies kommen«, dass »jeder Tag des Lebens als Unverheirateter zehntausend Todsünden entspricht«, und dass »Unverheiratete Schande herausfordern«. Um eine Stellung zu erhalten, eine Wohnung zu mieten und an bestimmten sozialen Aktivitäten teilzunehmen, ist Verheiratetsein die erste Voraussetzung. So ist jeder Versuch, die herrschende Ordnung in Frage zu stellen, zum Scheitern verurteilt. Dennoch verhindern die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die Legitimationsdefizite des islamistischen Regimes, dass eine solche Politik der Unterdrückung so erfolgreich ist, wie es die Islamisten wünschen. Und umgekehrt kann der Zwang, seinen Zorn angesichts der tagtäglichen islamistischen Gewalt zu unterdrücken, nicht verhindern, dass sich unter diesen Jungendlichen ein starker Geist des Widerspruchs entwickelt, wie groß auch die Gefahr sei, der sie sich aussetzen. Mit großem Eifer verkünden sie ihre Gottlosigkeit und begegnen den religiösen Zeremonien und kollektiven Glaubensanschauungen mit Trotz. Doch verbirgt sich dahinter nicht unbedingt ein materialistischer Geist. Dieser Versuch, die Religion zu verneinen, ist dem begreiflichen Stolz der Jugend geschuldet, der sich weigert, sich den Verboten einer höllischen normativen Ordnung zu unterwerfen.

Schluss Die zunehmenden Verbote im öffentlichen Raum, die von der Gesamtheit der kulturellen und politischen Anlagen der iranischen Gesellschaft auferlegt werden, lassen in den Herzen der Jugend den Entschluss reifen, mit der Ordnung zu brechen, um die erstickenden Lebensverhältnisse lebbar zu machen. Wenn die heutige Jugend von der Familie bis zum Regime und von der Kultur bis zur Religion die Vertreter jeglicher Autorität geschlossen zurückweist, dann geschieht dies, weil für das Auftreten dieser Jugend weder im öffentlichen noch sogar im privaten Leben ein Platz vorgesehen ist. Das gegliederte System religiöser und kultureller Anschauungen, wie es sich in bestimmten gesellschaftlichen Praktiken ausdrückt, wird in Frage gestellt. Das lässt darauf schließen, dass die Welt des Sinns bei diesen Jugendlichen bröckelt. Doch führt sie ihre Ablehnung der Normen und Werte sowie der offiziellen religiösen Vorbilder nicht direkt dazu, ihr eigenes subjektives Sinnsystem zu schöpfen, das fähig wäre, ihre Bedürfnisse zu stillen und sie individuell zufrieden zu stellen. Da nichts die Individualisierung der gemeinsamen Werte in einem sinnentleerten Universum begünstigt und keine mögliche Systematisierung eine individuelle Zusammenstellung von Sinn erlaubt, ist nur schwer zu sehen, wie diese Jugendlichen aus der Isolierung herausfinden könnten, die ihnen die Ablehnung der gemeinsamen Werte beschert. Ihr Selbstausschluss von allen gemeinsamen Glaubensanschauungen und der Mangel an Mitteln, die notwendig wären, um ein eigenes Sinnuniversum aufzubauen, ziehen die Jugendlichen in Kreise, wo das menschliche Handeln nicht mehr nach allgemein akzeptierten Wertmaßstäben folgt. So führen sie ihr

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238 | Mahnaz Shirali Leben in einer Welt des Unwerts, und kein Bestand von Sinn erlaubt ihnen, die Enttäuschungen, Ungewissheiten und Niederträchtigkeiten des Lebens zu überwinden. Aus dem Französischen übersetzt von Andreas Hüllinghorst

Literatur Hervieu-Léger, Danièle (Hg.): La religion pour mémoire, Paris 1993. Khosrokhavar, Farhad: Anthropologie de la révolution iranienne: Le rêve impossible, Paris 1997. Sorus, ‘Abdolkarim: Siyâsat-nâme, Teheran 1999. ^

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Formen der Religiosität junger männlicher Muslime | 239

Formen der Religiosität junger männlicher Muslime in Deutschland und Frankreich Nikola Tietze In der deutschen und französischen Öffentlichkeit kommt es immer wieder zu leidenschaftlichen Debatten über den Islam. Während in der französischen Gesellschaft die Kopftuch tragenden muslimischen Schülerinnen die Normen der republikanischen Integration in Frage zu stellen scheinen und den Gesetzgeber zu einem Verbot aller religiösen Zeichen in der Schule veranlasst haben, haben in der Bundesrepublik Gerichtsentscheidungen – wie das Bundesverfassungsgerichtsurteil zu einer Kopftuch tragenden Lehramtskandidatin in Baden Württemberg und zur Schächterlaubnis oder die vom Bundesverwaltungsgericht ausgesprochene Anerkennung der Islamischen Föderation in Berlin e.V. als Religionsgemeinschaft im Sinne des Berliner Schulgesetzes – eine öffentliche Auseinandersetzung provoziert und das traditionelle Bild Deutschlands als homogene Kulturnation erschüttert. In diesen Diskussionen gerät die Frage, wie die Muslime selbst ihre Religiosität in der Öffentlichkeit leben und ihr Muslimsein dazu in Bezug setzen, häufig aus dem Blick. Der folgende Text stellt sich daher die Aufgabe, zumindest ansatzweise das Verhältnis von Muslimen in Deutschland und Frankreich zu der jeweiligen nationalen Öffentlichkeit zu beschreiben. Dabei stehen junge Gläubige, die wirtschaftlich und sozial marginalisiert sind, und ihre Konzeptionen vom Islam beziehungsweise vom öffentlichen Raum im Vordergrund. Grundlegend für meine Überlegungen ist die Beobachtung, dass Identifikationsformen mit dem Islam flexible Selbstbeschreibungen ermöglichen, in denen Alteritäts- und Identitätskonstruktionen ineinander verschränkt werden; »Identität« soll hier Übereinstimmung mit den Bedürfnissen, Ansprüchen und Vorlieben von sozial vergleichbaren Gruppen in der Mehrheitsgesellschaft bezeichnen, also Gleichheit, »Alterität« die Abweichung davon. Die jungen Leute eignen sich Bilder, Werte und institutionelle Strukturen an, die sie sowohl in der islamischen Tradition und den religiösen Organisationen als auch im französischen oder deutschen öffentlichen Raum vorfinden. Gleichzeitig verändern sie diese Elemente, um sich Positionen und Handlungsfähigkeit in der jeweiligen Gesellschaft zu sichern. Die im Vordergrund stehenden Ausdrucksformen muslimischer Religiosität müssen als Strategien verstanden werden, eine prekäre sozioökonomische Situation zu überwinden. Daher werde ich zunächst typische soziale Erfahrungen junger Männer beschreiben, deren Eltern aus Nordafrika nach Frankreich oder aus der Türkei in die Bundesrepublik eingewandert sind und die häufig in sozial benachteiligten Stadtvierteln leben. In einem zweiten Abschnitt wird das individualisierte Verhältnis beschrieben, das die jungen Leute zur islamischen Tradition aufbauen. Die individualisierte Identifikation mit der Religion ist mit einer großen Flexibilität der Religiosität verbunden. Dieses Merkmal, das für die muslimischen Selbstbeschreibungen und Alteritätskonstruktionen eine entscheidende Rolle einnimmt, steht im Zentrum meines dritten Abschnitts. Abschließend werde ich die Herstellung von Differenz und Gleichheit, die bei jungen Muslimen zu beobachten ist, in einen Bezug zu den Machtverhältnissen stellen, die den öffentlichen Raum in Deutschland und

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240 | Nikola Tietze Frankreich durchziehen. Dabei geht es mir insbesondere um muslimische Ausdrucksformen in der urban underclass der Bundesrepublik und Frankreichs.1

Erfahrungen von sozialer und ökonomischer Unsicherheit »Wollen Sie wissen, was es heißt hier zu wohnen? Man läuft herum, man sitzt auf Bänken, raucht Joints, trinkt Bier, man bringt die Zeit herum! Das ist das Leben der Jugendlichen im Stadtteil!« Abdou, ein Bewohner von Neuhof, einem Stadtteil Straßburgs, beschreibt mit diesen Sätzen den Alltag einer von sozialer und ökonomischer Gefährdung gekennzeichneten Situation.2 Raum wird als zielloses Herumlaufen erfahren. Zeit wird als Langeweile, die jede selbstständige Initiative zunichte macht, erlebt und aus der Perspektive eines Individuums betrachtet, das sich von der gesamtgesellschaftlichen Zeitkonzeption ausgeschlossen fühlt. Damit wird sie zu einer Last, die der Einzelne zu ertragen hat, er muss die Zeit »herumbringen«. Für viele junge Leute führen Arbeitslosigkeit, unsichere Jobs, Schuldefizite etc. zu einem Rückzug in das Wohnviertel, das sie von der Teilhabe am sozialen Leben der Mehrheitsgesellschaft ausschließt. Jede Form sozialer Beziehung beschränkt sich auf das Ziel, eine soziale Lage zu ertragen, die aus der Perspektive des Einzelnen mit der Struktur der Stadt verbunden ist. Abdou erklärt das so: »Sie errichten die Vorstädte. Die Vorstädte wurden geschaffen, damit es Leute gibt, die so leben. Eine Vorstadt ist eine Vorstadt. Aus einer Vorstadt kann man keine feine Gegend machen. Sonst gibt es die Vorstädte hinterher nicht mehr. Es wird immer Vorstädte geben müssen.« Die Worte von Abdou verweisen auf eine weitere Dimension sozialer Prekarität. Die jungen Leute sind nicht nur Opfer von objektiver sozialer Benachteiligung – wie Arbeitslosigkeit und mangelnde Schulausbildung –, sondern werden auch mit dem Stigma konfrontiert, die »falsche Adresse« zu besitzen. In der öffentlichen Meinung und in den Medien werden die Bewohner von Stadtteilen mit einer hohen Konzentration von Sozialhilfeabhängigkeit, sozialen und wirtschaftlichen Problemen häufig als unverantwortliche, von Schwarzarbeit lebende Bürger dargestellt, die zum Drogenmissbrauch tendieren, gewalttätig sind und im Fall von Zuwanderern zu einem wie auch immer ausgerichteten Fundamentalismus neigen. Solche Wohnviertel werden als städtische Räume aus der so genannten integrierten Mehrheitsgesellschaft ausdifferenziert, ein Phänomen, das für einige Jugendliche der zweiten und dritten Einwanderungsgeneration zu einer alltäglichen Realität geworden ist. Deniz aus 1 Der Ausdruck urban underclass ist in der amerikanischen Literatur, insbesondere von William J. Wilson: When Work Disappears: The World of the New Urban Poor, New York 1996, geprägt worden. Ohne weiter auf die Diskussion über diesen Begriff einzugehen, geht es mir bei seiner Verwendung darum, die spezifische, in der urbanen Struktur verankerte sozioökonomische Unsicherheit hervorzuheben und gleichzeitig die mögliche sinnstiftende, affektive Rolle des Stadtteils für die Bewohner zu betonen. 2 Die Schreibweise der arabischen und türkischen Vornamen ist der französischen Schreibweise angepasst, wenn die betroffenen Personen in Frankreich leben, der deutschen, wenn sie in der Bundesrepublik leben.

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Formen der Religiosität junger männlicher Muslime | 241 Wilhelmsburg, einem Hamburger Stadtteil, beschreibt diese Erfahrung folgendermaßen: »Die Mehrheit der Leute in Hamburg, die Geschäftsleute und Unternehmer, wollen nicht hier leben und hier im Stadtteil ihre Geschäfte aufmachen. Sie denken, dass es hier nur Kriminalität und Diebstahl gibt. Deswegen will man uns ja nicht einmal irgendwo in der Stadt einstellen.« Der im Folgenden vorgenommene Vergleich zwischen Muslimen in Deutschland und Frankreich basiert auf der Ähnlichkeit sozialer Erfahrungen, die die jungen Leute selbst mit der stigmatisierten Marginalisierung ihres Wohnorts innerhalb der Stadt verbinden. Die benutzen empirischen Daten stammen aus einer zwischen 1994 und 1998 vorgenommenen Untersuchung in zwei französischen Stadtteilen (Neuhof, einem Stadtteil von Straßburg, und Val d’Argent, einem Viertel von Argenteuil, fünfzehn Kilometer nordwestlich von Paris) und einem deutschen Stadtteil (Wilhelmsburg, einem an den Hamburger Hafen angrenzenden Stadtteil Harburgs). Meine Gesprächspartner waren junge Männer, die sich selbst als Muslime beschrieben und durchschnittlich 23 Jahre alt waren. Zusätzlich zu der sozialen Benachteiligung verstärkte die biographische Situation als Jugendlicher das Gefühl sozialer und wirtschaftlicher Unsicherheit und Stigmatisierung. Auf der einen Seite kämpften sie darum, unabhängige Erwachsene zu werden (Familiengründung, eigene Wohnung, sicheres Einkommen und selbstständiges Handeln). Auf der anderen Seite wünschten sie, den für die deutsche oder französische Jugendkultur typischen Bedürfnissen im Bereich von Konsumgütern, Vergnügen und Unterhaltung nachkommen zu können (Mode, Diskotheken, Sport, Musik, Freundinnen). In diesem Zusammenhang gibt es einen entscheidenden geschlechtsspezifischen Unterschied unter den jungen Leuten. Die Schwierigkeiten junger Frauen in demselben Alter unterscheiden sich zum Beispiel hinsichtlich der Emanzipation von der Familie von den Problemen, mit denen junge Männer konfrontiert sind. Subjektivitätskonstruktionen und damit verbundene muslimische Selbstbeschreibungen müssen daher geschlechtsspezifisch differenziert werden.3 Meine Untersuchung über den Zusammenhang von sozialen Erfahrungen und religiöser Identifikation beschränkt sich auf junge Männer. Die Ähnlichkeit der sozialen Erfahrungen meiner Gesprächspartner ist jedoch von einem entscheidenden Unterschied gekennzeichnet: Junge Erwachsene in französischen Stadtteilen beschreiben ihre Lage fast ausschließlich in Verbindung mit der Diskriminierung ihres Wohnviertels, während in Deutschland die Ausländerfeindlichkeit zum Dreh- und Angelpunkt der Erfahrungen wird. Die Tatsache, als Ausländer diskriminiert zu werden, verbindet sich erst in einem zweiten Schritt mit dem Stigma, in einem benachteiligten Stadtviertel zu leben. Es gibt im Deutschen keine entsprechenden Begriffe für das von französischen Jugendlichen und Medien gebrauchte Wort banlieue oder cité, obwohl die als solche bezeichneten städtischen Räumen, in denen sich soziale und ökonomische Probleme häufen, durchaus als 3 Vgl. zu weiblichen Islamisierungsformen in Deutschland Sigrid Nökel: Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam: Zur Soziologie alltagsweltlicher Anerkennungspolitiken. Eine Fallstudie, Bielefeld 2002, in Frankreich Françoise Gaspard/Farhad Khosrokhavar: Le foulard et la république, Paris 1995, und Farhad Khosrokhavar: L’islam des jeunes, Paris 1997.

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242 | Nikola Tietze soziale Realität existieren.4 Die Bezeichnung étranger (Ausländer) fehlt hingegen in den Selbstbeschreibungen der Jugendlichen der zweiten und dritten Einwanderungsgeneration in Frankreich. Manchmal bezeichnen sich einige Männer selbst als arabes, beurs, rebeux oder kabyles, jedoch nicht als Algerier, Marokkaner oder Tunesier.5 Das am häufigsten gebrauchte Wort ist jeunes (Jugendliche), was letztlich die französisch republikanische Blindheit für kulturelle und nationale Herkunft in die allgemein übliche Beschreibung sozialer Gruppen übersetzt. In der Bundesrepublik hingegen ist die Selbstbezeichnung als »Türke« oder »türkischer Ausländer« eine verbreitete Form, Erfahrungen innerhalb der Gesellschaft zusammenzufassen. Dadurch werden die soziale Lage und die Konzeption der sozialen Beziehungen kulturalisiert. Diese Kulturalisierung nimmt weder den Erfahrungsbeschreibungen ihren sozialen Charakter noch kann sie die ökonomischen Bedingungen und urbanen Probleme negieren, die die Machtverhältnisse begründen, auf denen diese Selbstbeschreibungen beruhen. Der unterschiedliche Sprachgebrauch und die damit verbundene unterschiedliche Konzeption der gesellschaftlichen Problematik haben, wie im Folgenden deutlich zu machen sein wird, einen entscheidenden Einfluss auf die Alteritäts- und Identitätskonstruktionen der Muslime in der deutschen beziehungsweise französischen Öffentlichkeit. Während meine Gesprächspartner in Frankreich eine Opposition zwischen den Banlieusards (den Leuten aus den Vorstädten) und denjenigen konstruieren, die dort nicht wohnen, werden in Deutschland Ausländer und Inländer gegenübergestellt. Deniz aus Wilhelmsburg beschreibt seine sozialen Erfahrungen daher mit folgenden Worten: »Also, ich habe viele Freunde, die Albaner, Griechen, Jugoslawen und so weiter sind, alle Ausländer. Aber ich habe keinen deutschen Freund. Ich habe Bekannte, aber keinen Freund. Die sind alle Ausländer, die müssen nicht Türken sein, aber es sind keine Deutschen.« Solche Sätze können nicht mit mangelnder kultureller Integration erklärt werden; denn Deniz nimmt an der für sein soziales Milieu typischen Jugendkultur teil, besitzt Vorstellungen von Beruf und Einkommen, die mit den Perspektiven junger Deutscher, die nicht in einer eingewanderten Familie sozialisiert worden sind, identisch sind.6 Bei dem Vergleich muslimischer Religiosität in Deutschland und Frankreich muss ein weiterer Unterschied bedacht werden. Die nationale Herkunft der Familien meiner Gesprächspartner war nicht identisch, was die unterschiedliche Zusammensetzung der eingewanderten Bevölkerungsgruppen in den beiden Ländern widerspiegelt. In der Bundesrepublik sind die Muslime mehrheitlich türkischer Herkunft, während die Mehrheit der Muslime in Frankreich aus Familien kommt, die aus Nordafrika eingewandert sind. In meinen empirischen Untersuchungen ist dieser 4 Vgl. Jens S. Dangschat: »›Stadt‹ als Ort und Ursache von Armut und sozialer Ausgrenzung«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage 31-32 (1995), S. 50-62. 5 Beurs und rebeux sind umgangssprachliche Ableitungen des Worts arabes. Die Selbstbeschreibung als kabyles bezieht sich auf eine Berber-Sprachgruppe bzw. -Gegend in Algerien. 6 Vgl. Nikola Tietze: »La turcité allemande: Les difficultés d’une nouvelle construction identitaire«, in: Cemoti 24 (1997), S. 251-270, und Regina Mönch: »Die jungen Türken Berlins sind anders als viele glauben: Fast 60 Prozent wollen einen deutschen Paß. Eine Repräsentativumfrage«, in: Der Tagesspiegel vom 13.12.1997, S. 9.

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Formen der Religiosität junger männlicher Muslime | 243 Unterschied jedoch nur dann von Bedeutung gewesen, wenn die jungen Muslime selbst eine Verbindung zwischen ihrem kulturellen Ursprung und ihrer religiösen Identifikation hergestellt haben. Eine solche vergleichende Methode, in der die muslimische Religiosität und die sozialen Erfahrungen isoliert werden, dient dazu, die üblichen Sichtweisen auf islamische Identifikationen in westeuropäischen Ländern zu vermeiden. Im Allgemeinen wird der Islam mit dem Immigrationsproblem und der Integration nichteuropäischer Bevölkerungsgruppen in westliche Gesellschaften verbunden. Davon ausgehend wird muslimische Religiosität zu einem kulturellen Phänomen, das sich auf das Problem des »ewig Anderen« reduziert. Ein solcher Ansatz vernachlässigt die Bedeutung von Glauben für die Konstruktion des Selbst und übersieht dabei, wie die Religion in den Identifikationsprozessen verändert wird. Meine Arbeitshypothese ist hingegen, dass die Bedeutung, die muslimische Religiosität für junge Männer der zweiten und dritten Immigrantengeneration gewinnen kann, weder einen Mangel an Integration noch Defizite kultureller Anpassung widerspiegelt. Die Identifikation mit dem Islam stellt vielmehr ein gewöhnliches Instrument unter anderen dar, das Subjektivitätskonstruktion und Handlungsfähigkeit in der Gesellschaft ermöglicht.7 Gleichzeitig umfasst muslimische Religiosität Glaubensformen, die über kulturelle Muster hinausgehen und erst dadurch ihre Funktion der Sinngebung ermöglichen.

Individualisierte Identifikationsformen mit der islamischen Tradition Dort, wo soziale und ökonomische Probleme sowie Diskriminierung die Autonomie der jungen Leute bedrohen, ihnen das Gefühl geben, von der Zeit der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen und in einem Stadtteil eingeschlossen zu sein, kann religiöse Identifikation zu einer Ressource gegen soziale Entfremdung werden. Hakim aus Argenteuil, der sein Exklusionsgefühl mit dem Satz zusammenfasst, »Ihr verbietet uns zu leben«, beschreibt seine Islamizität als ein »Gedankensystem«, das sich gegen den Kapitalismus und Individualismus in der französischen Gesellschaft wendet. Für ihn bedeutet das Muslimsein die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft der Gerechtigkeit und Solidarität, einer Gemeinschaft, die sich unabhängig gemacht hat von »den schönen Autos und dem ganzen Luxus, den man im Westen antrifft«. In seinem Fall stellt die islamische Tradition einen Bezugspunkt her, um eine Alternative zu der sozialen Welt vorstellbar zu machen, die ihm Anerkennung und Chancengleichheit verweigert. Boujemaâ aus Neuhof hat die Schule ohne Abschluss abgebrochen und besitzt keine Berufsperspektive. Er erklärt: »Ich organisiere meine Zeit um die Gebete herum.« Mouloud, den Boujemaâ immer in dem kleinen Gebetsraum des Sozialwohnungsgebiets trifft, fügt hinzu:

7 Vgl. Alain Touraine: »La formation du sujet«, in: François Dubet/Michel Wieviorka (Hg.), Penser le sujet, Paris 1995, S. 21-45, und Farhad Khosrokhavar/Alain Touraine: La recherche de soi: Dialogue sur le sujet, Paris 2000.

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244 | Nikola Tietze »Wenn man betet, merkt man hinterher, dass es sehr, sehr wichtig ist, das soll heißen, dass das eine wichtige Säule ist, wenn man die verschiedenen Säulen des Islam sieht. Man weiß zum Beispiel, dass es im Islam fünf Säulen gibt. Es gibt die sahâda [das Glaubensbekenntnis, NT], das ist das Wichtigste, ohne die kann man nicht vorwärts kommen und nicht die anderen Säulen befolgen. […] Danach kommt das Gebet, gleich danach, darum ist das sehr wichtig. […] Denn das Gebet ändert das Leben […]. Früher habe ich nicht gebetet und mir nicht allzu viele Fragen gestellt. Aber wenn ich heute sehe, dass es Zeit ist, muss ich mich fertigmachen, um zum Gebet zu gehen. […] es [macht] einem möglich, dass man einen klaren Kopf behält, wenn man arbeitslos ist.« ^

Dieses Zitat macht deutlich, dass die Religiosität nicht nur ein ideologisches Bezugssystem an die Hand geben kann, wie Hakims Islamizitäts-Konzeption zeigt, sondern auch einen Handlungsraum eröffnen kann, der über die Tradition und die strikte Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Muslime hinausgeht. Dabei wird der individuelle Glaube zum zentralen Element, er füllt die Dogmen mit Sinn. Moulouds Interpretation der fünf Säulen des Islam ist weniger das Ergebnis einer vertieften Exegese theologischer Schriften, sondern vielmehr das Resultat eines Ausbalancierens von Lebenswirklichkeit und religiösen Vorschriften. Die regelmäßigen Gebete im Gebetsraum eröffnen ihm die Möglichkeit, Distanz zu seinem Alltag als Arbeitsloser einzunehmen. Diese Distanz lässt ihn »etwas« erfahren, das über die soziale Logik hinausgeht, »etwas«, das ihn glauben lässt und sich für ihn persönlich in »einen Wegweiser fürs Leben« verwandelt. Die Identifikation mit der Religion bietet dem Individuum zwei entscheidende Ressourcen für die Konstruktion eines Selbst an. Auf der einen Seite bietet sie Zugang zu einem ideologischen Prinzip, das die Integration der eigenen Gruppe und ihre Abgrenzung von anderen Personen und Gruppen rechtfertigt, mit der sie in sozialen Beziehungen steht.8 In dieser Hinsicht begründet religiöse Identifikation ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer »Ahnenreihe von Gläubigen« (lignée croyante)9 und zu anderen Muslimen in derselben Situation. Auf der anderen Seite antwortet das religiöse Prinzip auf das Bedürfnis, an etwas »Anderes«, jenseits der sozialen Welt, zu glauben. Indem das Individuum ein religiöses Verständnis seiner Existenz entwickelt, holt es dieses utopische »Andere« in sein Leben hinein, das durch den Abstand zur gesellschaftlichen Realität seine Plausibilität erhält.10 Aus dieser Perspektive

8 Der Begriff des Ideologischen lehnt sich an die Definition von Paul Ricœur an, der drei Elemente der Ideologie unterscheidet: die Verschleierung, die Gruppenintegration und das Verwechseln der in der Weltanschauung produzierten Bilder mit der Wirklichkeit. Die Ideologie ist also »ein Muster, ein Kode, um sich ein Gesamtbild nicht nur von der Gruppe, sondern auch von der Geschichte und letztendlich von der Welt zu machen« (vgl. Paul Ricœur: Du texte à l’action: Essais d’herméneutique II, Paris 1986, S. 340). 9 Vgl. Danièle Hervieu-Léger: Religion pour mémoire, Paris 1993. 10 Paul Ricœur betrachtet die Utopie als eine komplementäre Bewegung zur Ideologie und zerlegt sie ebenfalls in drei Elemente: die Vorstellung von einer Alternative zur bestehenden sozialen Ordnung, die Blindheit gegenüber Widersprüchen zwischen Anspruch und

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Formen der Religiosität junger männlicher Muslime | 245 heraus kann Glauben als eine Herstellung von Sinn und Ordnung definiert werden. Religiosität ist die subjektive Verknüpfung zwischen Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft und Glauben. Die vom Einzelnen vorgenommene Verbindung beider Dimensionen des Religiösen macht die soziale Welt und die eigene Lebenslage subjektiv plausibel.11 Zugehörigkeit und Glauben stellen somit die Pole dar, zwischen denen das Individuum seine Religiosität in jeweils unterschiedlicher Weise akzentuiert beziehungsweise sein Verhältnis zur islamischen Tradition aufbaut.

Ethisierte Religiosität Ismail, ein achtzehnjähriger Gymnasiast aus Wilhelmsburg und Mitglied des örtlichen Jugendclubs von Milli Görüs¸ , erklärt mir, dass sein Muslimsein nur ihn persönlich und Gott etwas angehe. Niemand habe das Recht, seinen Glauben an den Islam zu beurteilen; denn in dieser Sache sei er »auf sich gestellt«. Daher stellt der junge Mann keine Verbindung zwischen der türkischen Herkunft seiner Eltern und seiner muslimischen Religiosität her. In Ismails Konzeption transzendiert die Religion sein »Türkischsein« und umfasst einen Raum, in dem verschieden Kulturen koexistieren. Die kulturelle Zugehörigkeit der Frau, die man eines Tages heiratet, wird somit bedeutungslos. »Da muss man unterscheiden, wer in einer anderen Gesellschaft, in einer anderen Kultur aufgewachsen ist. Aber wenn man jetzt zum Beispiel Türke ist, in der Türkei beruht die ganze Erziehung auf der türkischen Kultur, und dann will man eine deutsche Christin heiraten, dann gibt es Konflikte. Dann neigt man eher dazu, eine Gleichgesinnte, sag ich mal, zu heiraten. Aber wenn wir hier […] mit Menschen aus verschiedenen Kulturen konfrontiert sind, dann können wir besser damit umgehen. Und ich glaube, dass das hier irrelevant ist, ob das nun eine Deutsche oder eine Türkin ist [die man heiratet, NT].«

Aber die Deutsche oder die Türkin muss religiös sein. »[…] wenn sie sagt, dass sie Atheistin ist und sagt, dass sie von den Affen abstammt, also wenn man halt so denkt, dann darfst du den nicht heiraten. Aber sonst ist das völlig shit.« In diesen Ausführungen wird das Zugehörigkeitsprinzip dem Glauben untergeordnet. Die Identifikation mit dem Islam initiiert damit gleichzeitig die Emanzipation von Zwängen, die die kulturelle Herkunft über Familie und soziales Umfeld auferlegen kann.

Wirklichkeit und die Ablehnung von Handlungseinschränkungen (vgl. Ricœur: Texte, S. 430). 11 Die Verwendung der von Ricœur eingeführten Definition von Ideologie und Utopie bricht mit der allgemein üblichen Bezeichnung islamistischer Bewegungen als ideologische Gruppierungen, die den Islam politisieren. Der hier gebrauchte Ideologiebegriff impliziert nicht, dass alle ideologisierten Islamizitätsformen dem Islamismus zuzurechnen sind. Es wird lediglich auf die Betonung der integrativen und abgrenzenden Funktionen des religiösen Prinzips in der Religiosität abgehoben.

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246 | Nikola Tietze Kenan, ein zwanzig Jahre alter Geschäftsmann und, wie Ismail, regelmäßiger Gast im Wilhelmsburger Jugendclub von Milli Görüs¸ , betont ebenfalls seine individualisierte Beziehung zu Gott. Für ihn bedeutet ein Leben ohne Religion das Fehlen von Zielen »in einer Welt ohne Grenzen«. »Ziellos, man … schwebt irgendwie im Weltall. Ziellos wie ein Schrotthaufen, ne, das ist ziellos.« Der Islam und seine Konzepte h.alâl und h.arâm geben ihm jedoch Mittel an die Hand, Grenzen in diese Welt einzuführen, die sich der Unordnung der Gesellschaft, der Anomie im Sinne Durkheims, entgegenstellen. Ähnlich wie der oben zitierte Mouloud in Frankreich die Bedeutung des Gebets in individueller Weise bestimmt, um Ordnung in seine Situation als Arbeitsloser zu bringen, so verwandelt Kenan in Deutschland die Rituale, Dogmen und Verbote der religiösen Tradition in ein Regelwerk, das ihm hilft, sein Leben zu organisieren. Er rationalisiert die islamischen Regeln und schafft sich einen ethischen Bezugsrahmen, der ihm ermöglicht, mit den Widersprüchen und Spannungen im Leben eines »türkischen Ausländers« in der Bundesrepublik umzugehen. Während eines Fortbildungskursus in Hannover verbringt er mit seinen nicht-muslimischen und nicht-türkischen Kollegen einen Abend in einer Bar und in einem Nachtclub: »Die Damen waren der Meinung, ich war kein Mann. [Er lacht.] Sie meinten, ich solle meine Mannheit beweisen, indem ich einen Schluck trinke. Ich habe gesagt, das mach ich nicht, selbst für das ganze Geld in Deutschland, das mache ich nicht. Sie haben das dann versucht, und die anderen auch. […] Ich hab gesagt, ihr braucht nicht weiter zu versuchen, ihr könnt trinken, ihr braucht einen Fahrer, hab ich gesagt. [Lacht.] So hab ich mich dann rausgeredet, da waren die dann auch froh, dass ich nicht getrunken habe. Weil wir dann noch irgendwo [in eine] Disko fahren wollten und und. Egal, ich hab die dann gefahren, ich hab nicht mitgetrunken.«

Utopisierte Religiosität Im Gegensatz zu Kenan und Mouloud übersetzen Murad aus Wilhelmsburg und Tahar aus Argenteuil ihr Glauben nicht in ein ethisches Programm der Lebensführung. Sie beschreiben das Glauben als ein Gefühl, die Wahrheit gefunden zu haben. Tahar lehnt es sogar ab, dass unser Interview aufgenommen wird, weil meine Interpretationen seiner Worte immer »falsch sind hinsichtlich dieses Gefühls«. Murad, der die Mathematik liebt, bemerkt: »Und wenn man die Wahrheit irgendwie hat, man kann ja nicht sagen, ich weiß die Wahrheit, sonst könnte man das ja vielleicht, was weiß ich, durch mathematische Beweise, durch eine Aufzeichnung, irgendwas mit Materie, was man sehen kann oder so, beweisen. Die Wahrheit ist, dass man, wie soll ich sagen, durch häufiges Auftreten der Gefühle, dass man […] überzeugt ist, oder was weiß ich, Erkenntnis hat zu dem, was man glaubt.«

In diesem Fall ist das Glauben als Muslim eine spirituelle Erfahrung, die nicht in Worte gefasst werden kann. Das Glauben schafft eine Distanz zur sozialen Welt. In-

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Formen der Religiosität junger männlicher Muslime | 247 dem die Identifikation mit dem Islam eine solche utopische Akzentuierung erhält, schafft sich der Gläubige ein Mittel, um die Spannungen und Widersprüche in seiner Biographie zu überwinden. Murad, Student an einer Hamburger Fachhochschule, hat einen sozialen Aufstieg vollzogen, der ihn von seinem Herkunftsmilieu und seinen Freunden im Stadtteil entfernt hat. Eine gewisse Ambivalenz prägt daher seinen persönlichen Erfolg als Student. Der Konflikt mit seiner Mutter, die seine Rückkehr in die Türkei wünscht, zeigt die Schwierigkeiten, die junge Leute wie Murad erleben, wenn sie mit sozialen Brüchen konfrontiert sind. Dank der utopischen Konzeption vom Islam hat sich der Student der Medizintechnologie jedoch eine Lösung erarbeitet: »In erster Linie muss ich jedoch, da ich ja meinem Glauben in jeder Hinsicht die größte Priorität gebe, müsste ich in erster Linie überlegen, wie es von meinem Glauben her denn jetzt ist, wenn ich hier [in Hamburg, NT] oder in der Türkei bin. Dann überlegt man natürlich von der Glaubensseite, ob es was ausmacht, dass man in der Türkei, also in Deutschland oder in der Türkei ist [...]. Eigentlich macht das überhaupt keinen Unterschied!«

Die Türkei bietet keine Alternative für einen Muslim, der sein Leben ausschließlich nach religiösen Prinzipien ausrichten möchte. In dieser Hinsicht muss Murad nicht mit seiner Mutter brechen; denn er bleibt, wie sie es wünscht, ein Muslim und damit ihrer Glaubenswelt verbunden. Aber seine Religiosität, die sich an dem außersozialen »Anderen« des Glaubens orientiert, macht es möglich, sich von seiner Mutter zu emanzipieren, ein »Deutscher« zu werden und doch Muslim zu bleiben.

Ideologisierte Religiosität Wird in der Religiosität die Zugehörigkeit zur religiösen Tradition und Gemeinschaft der Gläubigen betont und tritt das bloße Glauben dahinter zurück, vollzieht sich eine andere Form der Selbstkonstruktion. Wie der zu Beginn dieses Abschnitts zitierte Hakim zeigt, kann die Betonung des ideologischen Prinzips zum zentralen Element einer Islamizität werden. In dieser Akzentuierung dient die islamische Tradition dazu, die soziale Ordnung innerhalb der Gemeinschaft und ihre Abgrenzung von anderen zu rechtfertigen und damit die Integration der Gruppe zu garantieren. Für Hakim ist die muslimische Gemeinschaft die Gruppe junger Leute seines Stadtteils, die nicht »wie ein Tier in dieser Stadt leben wollen«. »Sie [die Franzosen, NT] haben diese Gruppe auseinander gerissen. […] Jetzt ist man verloren, und die Idee hat sich eingeschlichen, dass man Geld verdienen muss, dass das ein Grund zum Leben ist.« Daher wollen Hakim und seine Freunde sich zur »Elite« der Muslime des Stadtviertels machen, die die anderen Bewohner davon überzeugt, dass sie sich als eine Gegengemeinschaft zur französischen Gesellschaft konstituieren sollen. Der junge Mann unterscheidet bei seinen Ausführungen deutlich zwischen seiner eigenen Religiosität und der der »Generation der Väter« »mit ihrer Art die Dinge zu sehen«. In Deutschland kann eine solche ideologisierte Religiosität bei einigen Mitgliedern der Föderation Milli Görüs¸ beobachtet werden, die häufig führende Position in den örtli-

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248 | Nikola Tietze chen Organisationen einnehmen. Ertekin aus Wilhelmsburg thematisiert explizit den Rassismus, dem er als türkischer »Ausländer« ausgesetzt ist. Er beschreibt die abschätzigen »Blicke« im Bus, die ihn treffen, und kritisiert, dass »Türken« beim Arzt länger warten müssen und schlechtere Noten in der Schule oder Universität bekommen als die »Deutschen«. Sein Engagement in der lokalen Moscheeorganisation von Milli Görüs¸ belege hingegen, dass ein Türke in Deutschland zu einer ehrenhaften Gemeinschaft gehört, einer muslimischen Gemeinschaft, die mit der christlichen gleichwertig ist. Gerade weil diese Gemeinschaft eindeutig anders ist, kann Ertekin dank seines Zugehörigkeitsgefühls zu ihr für sich Gleichberechtigung und Würde einfordern. Die Muslime stellen in seinen Augen »die sich gut benehmenden Türken« im Stadtteil dar und wollen als »islamische Gemeinde« am lokalen Leben teilnehmen. In diesem Zusammenhang gilt es also einen Unterschied zwischen Muslimen in Frankreich und Deutschland festzuhalten, die ihr Muslimsein ideologisieren. Für Ertekin und seine Freunde in der lokalen Gruppe von Milli Görüs¸ ist die Zugehörigkeit zur muslimischen Gemeinschaft mit einem Selbstverständnis als »Türken« verknüpft, während junge Leute wie Hakim in Frankreich eine solche Verbindung zwischen Konfession und nationaler Herkunft nicht herstellen. Für sie ist die Gemeinschaft der Muslime eine Gemeinschaft der »jungen Leute« (Hakim) des Wohnviertels oder die Gemeinschaft der Armen, wie aus folgendem Zitat von Ahmed in Neuhof hervorgeht: »Was sie letztlich wollen, ist, dass wir zu Pennern werden, zu Mackern, zu menschlichen Wracks, Alkoholikern und so. Das hat man alles schon durchgemacht. […] Aber mit der Zeit hat man erkannt, dass man sein Gleichgewicht verloren hat. […] die Leute wollen mit ihrem ganzen Wesen an etwas glauben. Das ist so. McEnroe ist für mich zum Beispiel ein Fundamentalist. Das ist jemand, der nur an eins denkt und eins liebt, Tennis, Tennis, Tennis. […] Wir können keinen Sport treiben, das ist zu teuer, wir haben nichts zu tun. Was bleibt uns? Uns bleibt Gott. Durch Gott sieht man Wege.«

Kulturalisierte Religiosität Eine weitere mögliche Akzentuierung der muslimischen Religiosität wird in der Identifikation deutlich, die den Islam »kulturalisiert«. In diesem Fall ist das religiöse Prinzip in der Selbstbeschreibung der Zugehörigkeit zu einer Jugendkultur untergeordnet. In Frankreich bestimmt sich diese über die Vorstadtkultur, während sie in der Bundesrepublik über die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der »Ausländer« definiert ist. In der einleitenden Beschreibung des sozialen Milieus meiner Gesprächspartner ist schon betont worden, dass die Beschreibungskategorien der Position in der Gesellschaft für junge Leute in Deutschland und Frankreich zu differenzieren sind. Folglich unterscheiden sich auch die jeweiligen Strategien, muslimische Religiosität und soziale Zugehörigkeit zu verknüpfen. Kader aus Argenteuil erkennt in der Praxis des Ramadan einen Teil »der Sitten in der cité [Wohnviertel, NT]«, wäh-

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Formen der Religiosität junger männlicher Muslime | 249 rend Yildirin das Fasten als »normales Verhalten der Türken in Wilhelmsburg« sieht. Für Letzteren »ist das automatisch, wenn du ein Türke in Deutschland bist, dann bist du von Geburt an ein Muslim«. Der junge Mann in Frankreich erkennt in ähnlicher Weise eine unvermeidliche Beziehung zwischen dem Leben in einem marginalisierten Stadtteil und islamischer Praxis. Deswegen betont er, dass sogar »die Franzosen« in der örtlichen Fußballmannschaft während des Ramadans fasten. Aber in beiden Fällen bleibt die religiöse Identifikation an die soziale Zugehörigkeit gebunden. Die Vielfältigkeit der Religiosität, die in den genannten Beispielen zum Ausdruck kommt, verstärkt sich dadurch, dass sich die Identifikationsformen mit dem Islam ständig ändern. Die jungen Leute akzentuieren Zugehörigkeit und Glauben ständig neu. Die Begegnung mit einem gesellschaftlichen Akteur (Polizist, Sozialarbeiter, Lehrer etc.), die Veränderung der biographischen Situation (einen Ausbildungsplatz finden, sich verlieben etc.) oder ein Wandel in der sozialen Situation (den Wohnort wechseln, Geld verdienen, straffällig werden etc.) stellen Momente dar, in denen Inhalt und Intensität der Islamizität variieren können. Die jungen Männer sind nicht ein für alle Mal Muslime und nicht immer in derselben Weise. Sie können ihre Identifikation mit dem Islam in bestimmten Situationen aufgeben, um sie dann in anderen wieder aufzunehmen. Daher sind Sätze, wie »vorher war ich kein richtiger Muslim, aber jetzt …« oder »früher hab ich den Islam nicht so verstanden, aber jetzt …«, ein immer wiederkehrendes Element in den Selbstbeschreibungen der Muslime. Verschiedene Religiositätsformen können sich darüber hinaus auch bei einer Person überlappen. Mehmet aus Wilhelmsburg beschreibt sich als ein Muslim, der universelle Werte mittels seiner Islamizität zu leben versucht, wenn er sich von seinen Eltern abzugrenzen versucht die »so ein bisschen nationalistisch« sind. »Aber der Islam und der Nationalismus sind zwei verschiedene Sachen, das ist nicht eins. Der Islam ist für alle, nicht nur für die Türken. Also der Islam ist nicht links und nicht rechts. Er geht dazwischen hindurch.« Aber wenn der junge Mann, der gerne Bundesgrenzschutzbeamter werden möchte, von der Ausländerfeindlichkeit spricht, der er sich ausgesetzt fühlt, dann betont er seinen Stolz über türkische Muslime wie Necmettin Erbakan. »Er lehnt es ab, den Europäern in den Arsch zu kriechen!« Im Falle Mehmets entsprechen bestimmte Lebensmomente und -phasen unterschiedlichen Formen muslimischer Religiosität. Die Emanzipation von seiner Familie – der seine »Germanisierung« nicht gerade willkommen ist – ist mit einer »ethisierten« Islamizität verbunden, während er seine Erfahrung mit der Überheblichkeit der »Deutschen« gegenüber den »Türken« mit einer »ideologisierten« Religiosität beantwortet. Hingegen fühlt er seinen Glauben und erlebt die »utopisierte« Religiosität bei religiösen Feierlichkeiten, etwa wenn er am Ende des Fastenmonats betet. Mehmet ist keine Ausnahme unter den jungen Leuten, selbst wenn er mit einer besonders erstaunlichen Geschwindigkeit und Selbstverständlichkeit von einer Religiositätsform zu anderen wechselt. Die jungen Männer in sozial und wirtschaftlich gefährdeter Lage machen aus ihrem Muslimsein kein fundamentales und unveränderliches Handlungsprinzip. Die Identifikationen mit dem Islam werden zu Erfahrungen, wie sie François Dubet definiert hat:

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250 | Nikola Tietze »Soziale Erfahrung entsteht dort, wo die klassische Vorstellung von Gesellschaft nicht mehr angebracht ist, wo die Akteure gleichzeitig verschiedene Handlungsprinzipien, die wiederum auf unterschiedliche Dimensionen des sozialen Systems verweisen, bewältigen müssen. […] Die Verknüpfung der Handlungsprinzipien, die die Erfahrung strukturieren, besitzt kein ›Zentrum‹. Soziales Handeln beruht also nicht mehr auf einer einzigen und fundamentalen Logik.«12

So folgt auch die Identifikation mit dem Islam keiner feststehenden Logik, sondern übersetzt sich in Momente einer Biographie. Glauben und Zugehörigkeit kristallisieren sich zeitweise heraus, sind aber niemals endgültig fixiert, so dass die religiöse Identifikation immer seltener zu dem fundamentalen Handlungsprinzip eines Individuums werden kann. Eine Radikalisierung oder extreme Politisierung der Islamizität ist damit zu keinem Zeitpunkt in einer Biographie ausgeschlossen. Ihre Verstetigung wird jedoch zu einem schwierigen Unternehmen und hängt letztendlich von den Mitteln einer Organisation ab, diese Momente für sich zu nutzen und auf Dauer zu stellen.

Differenz und Identität im öffentlichen Raum Deutschlands und Frankreichs Eine flexible, ein- und aussetzende muslimische Religiosität, die u.a. eine Ressource für die Bewältigung sozialer Erfahrungen darstellt, verweist auf eine ambivalente Beziehung zwischen den Gläubigen und der Gesellschaft. Mittels ihres Muslimseins thematisieren sich die jungen Erwachsenen gleichzeitig als »gleich« und als »anders«. Sie sind immer beides zugleich. Ihr Auftritt im öffentlichen Raum der Bundesrepublik und Frankreichs beruht auf einem Hin- und Herpendeln zwischen den verschiedenen Religiositätsformen. Die jungen Muslime treten in einen Dialog mit der Gesamtgesellschaft, indem sie Identität und Differenz in komplexer Weise miteinander verknüpfen. Dabei werden das »Sichtbar-Machen« und die explizite Formulierung der religiösen Identifikation oder ihre Verinnerlichung und ihr »UnsichtbarMachen« zum entscheidenden Motor. Die mit diesen Mechanismen verbundenen Strategien sind in der französischen und deutschen Öffentlichkeit jeweils unterschiedlich. Es ist daher wichtig, den nationalen Zusammenhang jedes Landes und seine jeweiligen politischen und sozialen Problemen zu differenzieren, um die Ausdrucksformen der islamischen Identifikationen zu verstehen. Daher werden im Folgenden die muslimischen Selbstthematisierungen im bundesdeutschen öffentlichen Raum von denen in Frankreich unterschieden.

Muslime im öffentlichen Raum der Bundesrepublik Wie eingangs schon bemerkt, unterscheiden sich junge Muslime in Deutschland nicht von anderen Jugendlichen eines vergleichbaren sozialen Milieus, wenn man 12 Vgl. François Dubet: Sociologie de l’expérience sociale, Paris 1994, S. 91-92.

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Formen der Religiosität junger männlicher Muslime | 251 ihre Teilhabe an der Jugendkultur (Mode, Musik, Sport) und ihre Berufswünsche miteinander vergleicht.13 Trotzdem sind sie »anders«; denn sie werden als »Türken« oder als »Ausländer« betrachtet, die außerhalb der deutschen Kultur stehen. Dieser Widerspruch zwischen tatsächlichen sozialen Verhaltensweisen der jungen Muslime und ihrer Wahrnehmung durch die Mehrheitsgesellschaft spiegelt sich auch auf der Ebene der Subjektivitätskonstruktion wider. Die jungen Leute vermischen Themen, die mit der politischen Situation in der Türkei verbunden sind, mit ihren sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen in Deutschland und ihrer Selbstthematisierung als Muslime. Osman, ein aktives Mitglied des Wilhelmsburger Vereins von Milli Görüs¸ , kritisiert im selben Atemzug das Verbot der doppelten Staatsbürgerschaft in der Bundesrepublik und die Reformen Atatürks.14 »Ich würde gerne Deutscher und Türke sein. Denn man kann seine Identität nicht einfach aufgeben. Jemand, der einmal seine Identität aufgegeben hat, wird sie auch ein zweites Mal aufgeben. Diese Jugendlichen, die vergessen, dass sie Türken sind, können nicht zu guten Deutschen werden. Ich möchte ein richtiger Türke sein. Atatürk hat die türkische Kultur zerstört. Vor allem, das Schlimmste, was er gemacht hat, ist, die islamischen Ideen zu verbieten. Islam ist aber unsere Identität und wir müssen unser Leben hier in Wilhelmsburg in einer islamischen Weise organisieren.«

Als »Türken« und somit als Fremde in Deutschland betrachtet, formulieren die jungen Leute ihre Subjektivität mit Kategorien, die außerhalb des bundesdeutschen Kontexts verortet sind, nämlich in der Türkei, obwohl sie im täglichen Leben wie Inländer handeln. Nun leben junge Männer wie Osman aber in einem Staat, in dem – anders als in Frankreich und in der Türkei – religiöse Identifikationsformen im öffentlichen Raum legitim sind. Die christlichen Institutionen sind sogar entscheidende öffentliche Akteure, die einen wichtigen Beitrag zum Selbstverständnis der Bundesrepublik leisten.15 Der öffentlich-rechtliche Status der Kirchen, ihre Privilegien (z.B. in eigener Verantwortung einen Religionsunterricht in staatlichen Schulen anzubieten, Art. 7 Absatz 2 GG) und ihr sozialer, wirtschaftlicher sowie normativer Einfluss garantieren gewissermaßen die Legitimität aller religiöser Ausdrucksformen im öffentlichen Raum.16 Wenn auch die islamischen Gemeinschaften bisher keine Anerkennung als 13 Vgl. Roland Reichwein: »Jugend und Minderheiten«, in: Armin Nassehi (Hg.), Nation, Ethnie, Minderheit: Beiträge zur Aktualität ethnischer Konflikte. Georg Weber zum 65. Geburtstag, Köln 1997, S. 103-131. 14 Das Gespräch mit Osman fand vor der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vom 1. Januar 2000 statt. 15 Der damalige Bundespräsident Johannes Rau stellte zum Beispiel in einer Rede zur Integration der Immigranten fest, dass die deutsche Gesellschaftsordnung auf einem christlichen Erbe gründet, vgl. Johannes Rau: Berliner Rede. Haus der Kulturen der Welt, Berlin, gehalten am 12.5.2000. 16 Vgl. Johannes Rau: Religionsfreiheit heute – zum Verhältnis von Staat und Religion in Deutschland, Wolfenbüttel, Rede gehalten am 22.1.2004.

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252 | Nikola Tietze Körperschaften des öffentlichen Rechts erfahren haben und daher nur in eingeschränktem Maße bzw. gar nicht von den für die christlichen Kirchen definierten Privilegien profitieren,17 so wird in Deutschland zumindest die öffentliche Praxis muslimischer Religiosität nicht als eine Infragestellung der institutionellen Regelung des Verhältnisses zwischen Religion und Staat aufgefasst. Darüber hinaus führt der bundesrepublikanische Föderalismus, der der zentralistischen politischen Staatsnationskonzeption in Frankreich entgegensteht, eine kulturelle Dimension in die nationale, föderale Öffentlichkeit ein. Die Anerkennung regionaler Differenz, die erst die staatliche Einheit garantiert, führt zwangsläufig zur politischen Anerkennung kultureller Partikularinteressen im öffentlichen Raum. In dieser Hinsicht kann auch eine Identifikation mit dem Islam, die die konfessionelle und kulturelle Differenz hervorhebt und betont, zu einem Mittel werden, Gleichberechtigung und Respekt in der Öffentlichkeit einzuklagen. So kann das Öffentlich-Machen der muslimischen Religiosität als Forderung nach Anerkennung des »Gleichseins« betrachtet werden, das sich mittels einer konfessionellen Differenz begründet. Als »Türke« oder »Ausländer« empfindet der Einzelne in der Tat, dass ihm ein minderwertiger Status zugeschrieben wird, mit dem die Mehrheitsgesellschaft Drogenhandel, Kriminalität etc. assoziiert. Als Muslim versucht er hingegen, diese Zuschreibungen zu überwinden. Indem der Gläubige sich einer religiösen Gemeinschaft zugehörig fühlt, kann er sich als gleichberechtigtes Mitglied der Gesellschaft verstehen. Die gegenwärtige Diskussion über den islamischen Religionsunterricht an bundesdeutschen Schulen vermittelt einen Eindruck von diesem Zusammenspiel von Differenzkonstruktion und Gleichheitsforderung, das in die Strukturen der deutschen Öffentlichkeit eingeschrieben ist. Der Religionsunterricht ist in der Verfassung verbürgtes Recht (Art. 7 Absatz 3 GG) und legt die Zusammenarbeit des Staats mit den anerkannten Religionsgemeinschaften fest. Die muslimischen Teilnehmer an öffentlichen Debatten, wie über den islamischen Religionsunterricht, die Befreiung vom Schwimmunterricht oder das Recht auf das Schächten, sind nicht dieselben jungen Erwachsenen, die um persönliche Autonomie, sozialen Aufstieg und Jobs kämpfen. Nur eine Minderheit dieser Jugendlichen ist in der Lage oder daran interessiert, an solchen im öffentlichen Raum sichtbaren Auseinandersetzungen zu partizipieren. Wer es tut, akzentuiert im Allgemeinen die ideologische Dimension seiner Religiosität, d.h. er macht seine Zugehörigkeit zum Islam über die Abgrenzung von anderen Konfessionen zum zentralen Punkt seiner Islamizität. So z.B. der oben zitierte Ertekin, der in Wilhelmsburg eine »islamische Gemeinde« aufbauen will, oder Osman, der in ein und demselben 17 Die Anerkennung der Islamischen Föderation Berlin (IFB) im Sinne des Berliner Schulgesetzes als Religionsgemeinschaft ist ein Beispiel dafür, dass der rechtliche Rahmen für religiöse Vereinigungen in der Bundesrepublik prinzipiell auch für die islamischen Gemeinschaften offen steht und den Zugang zu bestimmten Privilegien (in diesem Falle die Erteilung eines islamischen Religionsunterrichts in Berliner Grundschulen) ermöglicht; vgl. Claire Galembert/Nikola Tietze: »Institutionalisierung des Islams in Deutschland: Religionsgemeinschaft zwischen Pluralisierung und angestammten Loyalitäten«, in: Mittelweg 36 11 (2002), S. 43-62.

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Formen der Religiosität junger männlicher Muslime | 253 Atemzug Atatürks Reformen und die deutsche Regierung kritisiert, weil sie die doppelte Staatsbürgerschaft verbietet.18 Diese beiden Männer eignen sich politische Themen an, wie unter anderem den Islamunterricht, um an der Öffentlichkeit teilzuhaben. Ertekin und Osman greifen aber auch in die Diskussionsrunden ein, die die Ortsverwaltung für die Bürger des Stadtteils zum Beispiel zu Umweltschutzfragen im Hamburger Hafen durchführt. Sie positionieren sich in solchen Situationen als Vertreter der muslimischen Gemeinschaft, die sich zwar von den anderen Gruppen im Viertel unterscheidet, aber dasselbe Interesse wie diese an der Wohnqualität im Stadtteil besitzt. Die Teilnahme an den öffentlichen Diskussionen wird damit zu einer Gelegenheit, die Differenz der eigenen Gruppe und die Zugehörigkeit zur lokalen politischen Gesellschaft miteinander zu verbinden. Anders formuliert, die Teilnahme am öffentlichen Leben macht es möglich, die eigene Alterität zu formulieren, zu bekräftigen und eventuell zu politisieren. Eine solche Politisierung nimmt u.a. die Forderung nach Gleichberechtigung im institutionellen Regelungssystem der Trennung von Staat und Religion sowie hinsichtlich der individuellen Rechte auf Religionsfreiheit zu ihrem Ausgangspunkt. Obwohl Ertekin und Osman planen, ihre Kinder nur in Kindergärten zu schicken, die von der lokalen Gruppierung Milli Görüs¸ eingerichtet worden sind, oder versuchen, ihre Einkäufe nur in Geschäften von Milli Görüs¸ -Mitgliedern zu tätigen, geben sie sich kein besonders »islamisches« Aussehen. Im Gegenteil, ihr äußeres Erscheinungsbild – klar unterschieden von dem einiger türkischen Immigranten der ersten Generation, deren Kleidung an anatolische Traditionen erinnert – lässt sich mit dem von Geschäftsleuten mittelständischer Kleinbetriebe aus der Mehrheitsgesellschaft vergleichen. Dieses äußere Integrationszeichen verweist auf die Perspektive, die diese jungen Muslime mit ihrer Teilnahme an der Öffentlichkeit verbinden: Betonung der religiösen Differenz und sozioökonomische Identität. Ihr Erscheinungsbild als etablierte Mittelstandszugehörige unterscheidet Muslime wie Ertekin und Osman von den Gläubigen, die ihre Religiosität in anderer Weise akzentuieren. Männer, die den Islam »kulturalisieren« und ihre Zugehörigkeit zur islamischen Tradition der Jugendkultur der »Deutsch-Türken« unterordnen, kleiden sich nach der zeitgemäßen Jugendmode. Für sie ist es wichtig, »hip« zu sein und moderne Marken zu tragen. Ihre Unterhaltungen drehen sich um Discotheken, Frauen, die sie attraktiv finden, Sport und Musik. Für sie bedeutet an der Öffentlichkeit teilzunehmen, zu konsumieren und in diesem Bereich gleich sein zu können, obwohl sie ökonomisch und sozial benachteiligt sind. Die religiöse Identifikation bringt in diesem Zusammenhang eher ein Zugehörigkeitsgefühl zum Milieu der türkischen Immigranten zum Ausdruck als eine Strategie, die religiöse Differenz in der Öffentlichkeit zu unterstreichen. Folgendes Zitat von Özcan stellt genau diese Tatsache heraus: 18 Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht verlangt, dass Anwärter auf die deutsche Staatsbürgerschaft, die älter als 23 Jahre sind, ihre frühere Nationalität aufgeben. Ausnahmen werden gemacht, wenn das Herkunftsland eine solche Aufgabe nicht zulässt (z.B. der Iran), oder aber wenn dies Nachteile hinsichtlich des Immobilienbesitzes oder der Erbschaften im Herkunftsland nach sich zieht.

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254 | Nikola Tietze »Einer der neuen deutschen Lehrlinge im Betrieb hat neulich einfach sein Brot weggeschmissen und ist drauf rumgetreten. Ich hab ihn voll angemacht und gesagt, dass das bei uns nicht üblich ist. Du ehrlich, unter uns Türken würde das wirklich keiner machen, weil wir unsere Kultur und Religion respektieren. Seit diese Lehrlinge, die nicht von hier sind [nicht in Wilhelmsburg wohnen, NT], bei uns arbeiten, ist die Atmosphäre bei der Arbeit nicht mehr so angenehm wie früher.«

Für Özcan wird der Respekt vor Nahrungsmitteln, der keine spezifisch islamische oder türkische Wertvorstellung genannt werden kann, zu einem Symbol für die Zugehörigkeit zur Gruppe der türkischen Jugendlichen in Wilhelmsburg, ein Symbol, das der »neue deutsche Lehrling« nicht respektiert. Er disqualifiziert sich somit für die Zugehörigkeit zur Gruppe. Özcans Bemerkungen illustrieren eine implizite Funktion religiöser Werte, die kaum oder gar nicht in der Theologie verankert werden. Eine solche »kulturalisierte« Akzentuierung der Religiosität unterscheidet sich deutlich von Konzeptionen junger Muslime, die ihre religiöse Identifikation »ideologisieren« und sich an politischen Auseinandersetzungen in ihrem Stadtteil beteiligen. Das heißt nicht, dass solche »kulturalisierten« Konzeptionen der Religion im öffentlichen Raum keine Rolle spielen. Auch diese jungen Männer gehen gelegentlich in die Moschee, so wie Deniz »freitags, wenn ich Zeit habe«. Während des Ramadan fasten sie am Wochenende oder ein paar Tage im Monat. Sie lehnen den Verzehr von Schweinefleisch ab. Jedoch ist die »kulturalisierte« Islamizität kaum hör- oder sichtbar. Sie ist eher als eine »abwartende Religiosität« zu verstehen, die ohne weiteres und jeder Zeit angesichts einer Wandlung in der eigenen Biographie oder angesichts eines bestimmten Ziels ihre Form ändern kann. Machen junge Männer wie Özcan und Deniz ihre Zugehörigkeit zur islamischen Tradition zum zentralen Punkt ihrer Subjektivitätskonstruktionen und benennen diese als die zentrale Rechtfertigung für ihr soziales Handeln, dann treten jugendkulturelle Elemente im Auftreten oder Erscheinungsbild in den Hintergrund, ja werden explizit abgelehnt. »Kulturalisierte« und »ideologisierte« Religiositätsformen führen zu Differenzkonstruktionen, die stark dem Bild der Mehrheitsgesellschaft von den Muslimen ähneln. Da diese Alteritätsformen in der Öffentlichkeit leicht zu erkennen sind, stellen sie eine nützliche Ressource für die Selbstbeschreibungen dar, die Identität und Differenz ineinander verweben. Jedoch schließt dies nicht aus, dass diese Akzentuierungen des Islam sich wandeln und Glauben statt Zugehörigkeit in den Vordergrund gestellt wird. Kenan beschreibt eine solche Transformation am Beispiel seiner eigenen Biographie: »Ich hatte einen Freund. Er hat getrunken, alles mitgemacht, er hat sozusagen alles mitgemacht, was seine deutschen Schulkameraden gemacht haben. Eine Zeit lang bin ich auch mit ihm mitgezogen. Das hat mir auch eigentlich nichts Schlechtes gebracht. […] Ich hab dadurch Erfahrungen gelernt und gesehen, dass das kein Ende hat, so zu leben. […] Wenn ich […] mich nicht zusammengerissen hätte, […] das, was ich gelernt habe, meinen religiösen Stamm, wenn ich da nicht wieder hingegriffen hätte, wär ich jetzt auch bestimmt ziellos irgendwo auf der Straße.«

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Formen der Religiosität junger männlicher Muslime | 255 Kenans »religiöse Wurzeln« definieren sich über die Unterscheidung zwischen dem, was h.alâl und h.arâm ist. In dieser Hinsicht stellt das Glauben für ihn Orientierung bereit, wenn er sich in der Öffentlichkeit bewegt. Es ordnet den sozialen Raum. In ihrer Freizeitgestaltung suchen Männer wie Kenan in der Tat nur bestimmte Orte im Stadtteil auf. Man findet sie nicht im Haus der Jugend, in einer Kneipe oder im lokalen Fußballteam. Sie besuchen islamische Jugendclubs, die in Wilhelmsburg von Milli Görüs¸ oder den Süleymancilar unterhalten werden, und nehmen an den Sportund Kulturveranstaltungen dieser religiösen Organisationen teil. Das heißt nicht, dass sie sich aus dem öffentlichen Raum vollständig zurückzuziehen. Im Gegenteil, das selektive und an religiösen Vorschriften orientierte Verhalten garantiert ihnen die erfolgreiche Teilnahme an gesellschaftlichen Orten wie Schule, Universität oder Arbeitsplatz, und zwar, ohne dass sie dabei als Muslime unbedingt sichtbar werden. Gerade die Unsichtbarkeit gibt dieser Religiositätsform eine bestimmte Dynamik in der Öffentlichkeit: Die Verinnerlichung und Rationalisierung islamischer Werte ermöglicht es dem Einzelnen, selbständig zu handeln und affirmativ im Alltag aufzutreten. Die Zeit, die sie in den Strukturen der islamischen Organisationen verbringen, stärkt ihr Selbstvertrauen und dient ihnen als eine Art Sprungbrett in die nichtislamische Mehrheitsgesellschaft. In ähnlicher Form übersetzen Muslime, die den Islam »utopisieren«, ihre Religiosität in ihre Bewegungen im Raum und ihre Zeiteinteilung in der Öffentlichkeit. Das Glauben ist auf bestimmte Orte beschränkt, wie etwa die Moschee oder die islamischen Vereine. Die religiöse Identifikation begründet sich auf der Ebene subjektiver Erfahrungen und wird in dieser Hinsicht zu einer Ressource für den individuellen Umgang mit sozioökonomischen Problemen beziehungsweise rassistischer Diskriminierung. Es geht nicht wie im Falle des »ideologisierten« oder »kulturalisierten« Islam darum, Differenz im öffentlichen Raum zu begründen oder zu akzentuieren. Im Gegensatz zur ethischen Akzentuierung der Religiosität stehen nicht die religiösen Regeln im Vordergrund, sondern der Wunsch, ein »Anderswo« zu erfahren, das von sozialen Zwängen befreit ist. Murad zum Beispiel schämt sich, dass er immer noch so enge modische Jeans und nicht die weitgeschnittene Kleidung nach anatolischer Tradition trägt. »Diese Sachen sind ja nicht eng, sondern extra weit gemacht, damit die Körperteile nicht, zum Beispiel wie bei mir, ich mein, Gott vergebe wieder, ich hab auch so bisschen … das ist auch nicht so eng, aber enge Sachen an. Dieses hat den Zweck, was die tragen, dass sie weit sind und dass die Körperteile nicht so … sichtbar sind. Und dann auch niemanden reizen. […] Weil der [die Person, die weite Kleidung trägt, NT] […] voll hinter dem Islam ist und das auch praktiziert, wie ich eben schon gesagt habe, wir müssen … wie soll ich sagen … psychisch und auch vom Wissen so motiviert herangehen, dass wir das irgendwann auch mal schaffen. Aber für Jugendliche ist das auch wirklich sehr schwer, wenn man sich so als Jugendlicher das zutraut … den würde ich bewundern, das ist nicht einfach.«19

19 Murads Bemerkung über die engen Hosen erinnern an die Tablighis, für die die Sichtbarkeit ihrer religiösen Kleidung sehr wichtig ist (vgl. Khedimellahs Beitrag in diesem Band).

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256 | Nikola Tietze Das Gefühl, die Gläubigkeit ständig auch im alltäglichen Leben vertiefen zu müssen, kann dazu führen, die Gläubigkeit auch äußerlich sichtbar machen zu wollen. Indem man eine Mode trägt, die eindeutig gegenläufig zu den Bekleidungsvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft (insbesondere der Jugendkultur) ist, soll die Gleichgültigkeit gegenüber gesellschaftlichen Kategorien verdeutlicht werden. In einem solchen Prozess kann sich die »utopisierte« Religiosität »ideologisieren« und damit in der Öffentlichkeit den Ausdrucksformen ähneln, die – wie Ertekin und Osman – die Zugehörigkeit zu einer »islamischen Gemeinde« betonen.

Muslime im öffentlichen Raum Frankreichs Obwohl sich dieselben Religiositätsformen wie in der Bundesrepublik auch in Frankreich beobachten lassen, besitzen sie andere Bedeutungen. Sie sind in politische Sinnbezüge integriert, die auf die spezifische politische Organisation und den geschichtlichen Hintergrund der ideologischen Strukturen des französischen Öffentlichkeitsbegriffs Bezug nehmen. Nach dem Laizitätsprinzip sind zunächst einmal religiöse Ausdrucksformen aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen. Die republikanischen Normen und damit auch die Laizität beruhen auf dem Versprechen, alle französischen Staatsbürger ökonomisch und sozial in die Nation zu integrieren – unter der Bedingung, dass der Einzelne seine kulturellen und religiösen Werte auf die Privatsphäre beschränkt. Im Gegensatz zum bundesdeutschen Öffentlichkeitsbegriff haben kulturelle und religiöse Elemente in der französischen Definition vom öffentlichen und politischen Leben keinen Platz. Die nationale Integration beruht auf einer zentralistischen Politik, die föderalistische Strukturen und die in Deutschland damit verbundene Anerkennung kultureller bzw. konfessioneller Besonderheiten ausschließt. In diesem politischen Kontext werden darüber hinaus die jungen Muslime, die hinsichtlich ihres Konsumverhaltens oder ihrer jugendkulturellen und beruflichen Vorstellungen »dieselben« sind, nicht als »Ausländer« mit einer anderen Nationalität gesehen. Sie werden als Franzosen betrachtet (was bekanntlich rassistische Diskriminierungen nicht ausschließt).20 Im Vergleich zu ihren deutschen Glaubensgenossen beruht ihre regionale und lokale Identifikation weniger auf der Verinnerlichung einer spezifischen lokalen Geschichte oder Partikularität. Sie ist vielmehr sozialer und ökonomischer Natur und bezieht sich auf eine banlieue oder eine cité, die – anders als in Deutschland die Kommunen oder Bundesländer – keine politischen Einheiten darstellen. Wenn der französische Muslim seine Differenz zum Ausdruck bringt, so geschieht dies im Zusammenhang mit seiner sozialen und ökonomischen Position oder im Hinblick auf rassistische oder religiöse Diskriminierung innerhalb der französischen Gesellschaft. Ein entscheidender Unterschied zwischen Muslimen in Deutschland und Frankreich ist daher die Perspektive der Differenzkonstruktionen. Während Muslime in der Bundesrepublik ihre Alterität als eine Er weiß jedoch nichts über diese internationale Bewegung. Er ist ein Mitglied von Milli Görüs¸ . 20 Vgl. Philippe Bataille: Le racisme au travail, Paris 1997.

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Formen der Religiosität junger männlicher Muslime | 257 ausländische beschreiben, lokalisieren Muslime in Frankreich ihre Alterität innerhalb der Nation. Hakim, der den »Individualismus« und die »kapitalistische Kultur« in der französischen Gesellschaft kritisiert und die öffentliche Anerkennung der »muslimischen Gemeinschaft« verlangt, fühlt sich trotzdem ganz und gar französisch. »Ich sage nicht, dass Frankreich … dass ich es liebe oder einen Kult aus ihm mache. Ich sage nur, dass ich hier geweint und gelacht habe. Ich denke, spreche, sehe französisch.« Dieses Bekenntnis unterscheidet sich deutlich von dem permanenten Wechsel, der bei Osman und Ertekin zum Ausdruck kommt, wenn sie die türkische Politik und ihre Situation in der deutschen Gesellschaft in ein und demselben Atemzug kritisieren. In Frankreich nutzen Leute wie Hakim ihre »ideologisierte« Religiosität, um die Diskrepanz zwischen den republikanischen Werten (die soziale und ökonomische Integration für alle versprechen, die ihre religiöse und kulturelle Identität nicht öffentlich machen) und der Realität von sozialer Ungerechtigkeit und rassistischer Diskriminierung zu verdeutlichen. Für Hussein zum Beispiel gibt es »keine laizistische Schule. Es wird jeden Freitag in der Kantine Fisch gegessen, wir haben Lieder über Jesus gelernt. Und die Lehrer sprechen nicht über den Algerienkrieg oder die Probleme in Palästina. Aber sie zwingen muslimische Mädchen das Kopftuch abzulegen und haben uns in diese Stadtteile getan, wo niemand eine Chance hat, rauszukommen.«

Wird eine solche Gegenüberstellung zwischen der Selbstbeschreibung als Muslim in einem benachteiligten Stadtteil und dem Laizitätsprinzip in der Schule hergestellt, so wird die Religiosität zu einer Ressource für die Formulierung sozialer Konflikte. Der Islam ist darüber hinaus etwas, das an die französische Kolonialzeit und die Befreiungskriege erinnert.21 Jede Identifikation mit ihm stellt somit nolens volens einen Zusammenhang zu einem politischen Konflikt her, der für den Islam im öffentlichen Raum der Bundesrepublik vollkommen unbekannt ist. Die Sinnzusammenhänge, in denen Jugendliche ihre Zugehörigkeit zur islamischen Tradition in Frankreich »ideologisieren«, unterscheiden sich somit von denen, die jungen Leute in Deutschland dazu führt, die Interessen von Milli Görüs¸ bei öffentlichen Veranstaltungen in deutschen Stadtteilen hörbar zu verteidigen. Die Muslime in Frankreich geben sich im Übrigen auch nicht das Erscheinungsbild von etablierten Mittelstandszugehörigen, sondern treten als Jugendliche in modisch sportlicher Kleidung mit Baseballkappen auf. Das offene und affirmative Sprechen über »islamische« Themen, das charakteristisch für die Mitglieder von Milli Görüs¸ in der Bundesrepublik ist und in Wilhelmsburg durchaus auf die Anerkennung anderer lokalpolitischer Akteure trifft, gilt in Frankreich als provokativ und im öffentlich Raum als illegitim. Genau dies war Hakims Erfahrung mit der städtischen Verwaltung von Argenteuil, die seinen Verein für Schularbeitenhilfe verbot, weil nicht nur bei den Hausaufgaben

21 Vgl. Jocelyne Cesari: Être musulman en France: Associations, militants et mosquées, Paris 1994.

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258 | Nikola Tietze geholfen wurde, sondern auch islamische Werte vermittelt wurden.22 Dieses Beispiel zeigt, dass in Frankreich Muslime, die in einer »ideologisierten« Form ihre Religiosität in die Öffentlichkeit tragen, riskieren, aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen zu werden. Ihre Konzeption der Differenz steht in einem offensichtlichen und direkten Gegensatz zu den Werten der französischen Republik. In Deutschland hingegen ist dieselbe Akzentuierung der Religiosität ein effizienter Weg, um sich in den öffentlichen Raum zu integrieren, und zwar indem die religiöse Differenz als eine konfessionelle Alterität betont wird. Die hier an dem Beispiel von Hakim und Hussein beschriebene Spannung zwischen muslimischer Religiosität und republikanischer Konzeption des öffentlichen Raums verringert sich, sobald die religiöse Identifikation in die Banlieue-Kultur (Vorstadtkultur) integriert wird. Wenn sich die Islamizität kulturalisiert, kann sie in der Öffentlichkeit einen Platz finden, ohne dass der Muslim Gefahr läuft ausgeschlossen zu werden. Eine Alterität wird in der Tat dann legitim, wenn sie auf einer sozioökonomischen Differenz aufbaut, die auf eine urbane Position Bezug nimmt. So kann ein Hip-Hop-Song, der das Muslimsein der Texter zum Ausdruck bringt, als Kultur der benachteiligten Vororte der französischen Metropolen anerkannt werden, ohne dass sich die politischen und institutionellen Akteure durch die religiösen Inhalte provoziert fühlten. Der Hip-Hop hat in der Tat den öffentlichen Raum für bestimmte islamische Ausdrucksformen geöffnet. Liedertexte und Textbücher werden nicht als Orte für politische Forderungen im Namen des Islam oder der religiösen Werbung betrachtet. Die dort zu findenden Anspielungen auf die islamische Tradition – wie am Anfang des Textbuchs von Disiz-la peste zu der CD Poisson Rouge »Gelobt sei Allah der Allmächtige, ich danke …« (Barclay 2000) oder die Erwähnung Gottes und des Islam, die in den Texten von N.A.P. (North-African Poets) aus Straßburg (Neuhof) (vgl. die CD A l’intérieur de nous, Arista 2000) – lassen die Ausdrucksformen muslimischen Glaubens zu kulturellen Elementen einer pluralistischen Gesellschaft und somit zu einem Teil des öffentlichen Raums in Frankreich werden.23 Einer der N.A.P. Musiker erläutert im Interview, dass die Identifikation mit dem Islam einen Teil der Kultur der Armen in Frankreich ist. Ein solcher Standpunkt verweist einerseits eindeutig auf die Verknüpfung von Islamizität und sozioökonomischer Positionierung in der Gesellschaft (vgl. das Zitat Ahmeds weiter unten). Andererseits wird hier die in Frankreich mögliche Transformation von »kulturalisierter« in »ethisierte« Religiosität deutlich. Im Gegensatz zu den »ethisierten« Formen des Islam in Deutschland ist dieser Wandlungsprozess nicht zwingend damit ver22 Als die Direktorin einer Schule im Stadtteil von diesem impliziten »Islamunterricht« hörte, informierte sie die zuständigen Behörden und verlangte, dass dem Verein die öffentlichen Mittel entzogen werden. 23 Auch in Deutschland gehört die Hip-Hop-Musik zur Jugendkultur. Die Verbindungen zu einer urban underclass sind jedoch schwächer ausgeprägt als in Frankreich. Die jungen Erwachsenen in der Bundesrepublik haben in diesem Musikstil zwar auch eine Möglichkeit gefunden, ihre Erfahrungen in den Kulturmarkt einfließen zu lassen. Die Texte zielen aber weniger auf den Islam als auf die Tatsache, in Deutschland ein Ausländer oder »Kanake« zu sein.

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Formen der Religiosität junger männlicher Muslime | 259 bunden, dass der Gläubige nur noch »islamische« Orte im Stadtteil aufsucht. Die großen, finanzstarken islamischen Organisationen, die in deutschen Stadtteilen das islamische Leben prägen und zahlreiche Freizeitangebote für junge Leute anbieten, fehlen in den französischen Vorstädten. Es ist daher für junge französische Muslime schwierig, ihr Freizeitleben voll und ganz nach einem islamischen Angebot auszurichten. Die »ethisierten« Konfigurationen im französischen Islam sind daher weniger sichtbar als in Deutschland. Es fehlen aber nicht nur relevante Organisationen. Die Muslime, die den Islam »ethisieren«, haben vor allem zum Ziel, der banlieue und der mit ihr verbundenen Stigmatisierung zu entkommen. Die islamischen Lebensregeln stellen für die Gläubigen ein Mittel dar, an der Gesellschaft erfolgreich teilzuhaben. Für sie besteht daher zunächst einmal kein Widerspruch zu den republikanischen Wertvorstellungen. Karim aus Argenteuil, der sein Engagement in der Nachbarschaft mit seiner muslimischen Religiosität begründet, kann sich nicht vorstellen, seinen Arbeitgeber zu bitten, am Arbeitsplatz die Gebetszeiten einhalten zu dürfen. »Wir [die Bewohner seiner cité, NT] haben schon genug Probleme. Wenn ich meinen Boss auch noch nach Zeit fürs Beten frage, werde ich noch mehr Ärger haben.« In der Tat würde Karim nicht nur die ökonomischen Interessen seines Chefs herausfordern, sondern auch an dem Tabu der Religion im öffentlichen Raum rühren. Muslime, die ihre religiösen Prinzipien »utopisieren« und ihre sozioökonomischen Probleme mit Hilfe ihres Glaubens zu überwinden versuchen, verschweigen ebenfalls ihre Religiosität in der Öffentlichkeit. In Frankreich und Deutschland machen diese Muslime ihre Religiosität nur an bestimmten Orten öffentlich, wie etwa in der Moschee. Nur wenn die jungen Leute ihren Glauben durch ihre Kleidung demonstrieren – wie im Fall der Tablighis – und damit ihre Gleichgültigkeit gegenüber sozialen Zwängen verdeutlichen, treten sie in ein Spannungsverhältnis zu den republikanischen Normen (vgl. Khedimellah in diesem Band). Die »utopisierte« Religiosität integriert sich jedoch in den meisten Fällen konfliktlos in den Alltag. So kann diese Ausdrucksform von Religiosität sogar dazu führen, dass der Islam »französisiert«, ja sogar »europäisiert« wird: »Das dritte Goldene Zeitalter des Islam wird es in Europa geben, nicht bei uns in den islamischen Ländern. […] was heute in den islamischen Ländern passiert, ist Mist, Bürgerkrieg und so weiter. Dies ist ein Land, wo man Dinge ausdrücken kann. Das gilt auch beim Islam, also korrespondiert das beides miteinander.«

Diese optimistische Prognose stammt von einem jungen Mann aus Neuhof, einem Stadtteil der europäischen Metropole Straßburg. Es ist kein Zufall, dass der muslimische Traum von Europa auf einer Identifikation mit dieser Stadt basiert. Hakim aus Argenteuil bei Paris hätte so einen Traum vom Islam nicht formuliert. Seine Erfahrungen urbaner Segregation wird weder durch den Stolz auf die Zugehörigkeit zu einer Stadt kompensiert, noch hat er das Gefühl, mit lokalen Entscheidungsträgern konfrontiert zu sein, die eine gewisse Unabhängigkeit von der nationalen Politik-

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260 | Nikola Tietze ebene besitzen. Für Hakim beginnt der Republikanismus, der seiner Ansicht nach versäumt, die muslimische Gemeinschaft anzuerkennen, direkt auf der Straße vor dem Wohnblock, in dem er wohnt. So widersprüchlich es auch erscheinen mag, aber gerade die starke lokale Identität der jungen Leute in Neuhof ermöglicht, ein positives Verhältnis zwischen der individuellen Religiosität und der französischen Nation mit ihrer republikanischen Ideologie zu entwickeln. Da die Stadtregierung, die unter der Bürgermeisterin Catherine Trautmann kulturellen und religiösen Gruppen in der Stadt eine besondere Sensibilität entgegengebracht hat, den politischen Bezugspunkt für die Bewohner der Stadt darstellt, enthält auch die Identifikation mit dem Islam weniger Konfliktstoff als in Argenteuil.24 Sie eignet sich nicht zur Artikulation einer Differenz aus einer Protestreaktion gegen die nationale Politik heraus. So können sich die muslimischen Ausdrucksformen leichter »französisieren« oder, wie im obigen Zitat deutlich wird, »europäisieren«.

Die Macht der Instabilität und Ambivalenz Die unterschiedlichen islamischen Konfigurationen, die hier beschrieben worden sind, revolutionieren nicht die Strukturen und Normen des öffentlichen Raums in Deutschland und Frankreich. Vielmehr sind die Differenz- und Identitätskonstruktionen, die auf eine muslimische Religiosität aufbauen, Versuche von jungen Leuten unter prekären sozialen und ökonomischen Bedingungen, mit der Gesellschaft in einen Dialog zu treten. Der Begriff des Dialogs geht jedoch im Allgemeinen von einer Gleichberechtigung der Dialogpartner aus. Das Verhältnis zwischen den jungen Muslimen und der französischen oder deutschen Gesellschaft ist jedoch asymmetrisch. Der Schwächere der beiden eignet sich in der Tat bestimmte Konzepte des Mächtigeren an, verändert sie, indem er sie verarbeitet, oder lehnt andere in mehr oder weniger explizit formulierten Konflikten ab. Dadurch werden diejenigen, die traditionell die Deutungsmacht besitzen, herausgefordert: die Mehrheitsgesellschaft mit ihrem Verständnis von nationaler Öffentlichkeit und die Repräsentanten der mehr oder weniger einflussreichen islamischen Organisationen in Deutschland und Frankreich. Der Dialog, der beschrieben worden ist, ist also eindeutig kein gleichberechtigter, und zwar vor allem, weil die Untersuchungsgruppe sich aus jungen Leuten ohne jeglichen sozialen Einfluss zusammensetzt. Ihnen fehlt es an Macht, die Strukturen religiöser Organisationen zu verändern. Einige junge Muslime sind des24 Straßburg ist nicht nur eine reiche Stadt mit genügend finanziellen Ressourcen für eine wohlfahrtsstaatlichen Kommunalpolitik, sondern hier gilt auch das Konkordatsprinzip, ein Erbe der deutschen Besatzung von Elsass und Lothringen im 19. Jahrhundert. Die politischen Entscheidungsträger sind daher gezwungen, mit Vertretern der protestantischen und katholischen Kirche sowie der jüdischen Gemeinde in verschiedener Weise zu kooperieren. Diese Ausnahme vom Laizitätsprinzip der französischen Republik hat zu einer besonderen Sensibilität für kulturelle und religiöse Ausdrucksformen im öffentlichen Raum geführt, vgl. Richard Kleinschmager: Strasbourg: Une ambition européenne, Paris 1997.

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Formen der Religiosität junger männlicher Muslime | 261 wegen versucht, ihre eigenen Organisationen zu gründen. So träumt Hakim aus Argenteuil von einer islamischen Elite der jungen Leute, die »die Dinge anders als die Generation der Väter« sieht. Die jungen Gläubigen können nicht das öffentliche Schulsystem reformieren, nicht die ökonomischen Strukturen umwandeln oder die Stadtpolitik verändern; denn Alter bleibt ein Kriterium für den sozialen Status und die damit verbundene Handlungsmacht. Die Verzweiflung, von den Entscheidungsträgern nicht gehört zu werden, kann jedoch dazu führen, dass sich islamische Ausdruckformen radikalisieren. Nichtsdestotrotz stehen junge Muslime im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, weil sie zum einen für die Kontinuität religiöser Organisationen eine entscheidende Rolle spielen und zum anderen ein Teil der Gesellschaft von morgen sind. Es ist daher kaum verwunderlich, dass die Debatten über den Islam im öffentlichen Raum sowohl in Deutschland als auch in Frankreich vor allem Fragen aus dem Bildungs- bzw. Erziehungsbereich betreffen. In Frankreich geht es vor allem um das Kopftuch von muslimischen Schülerinnen, während in Deutschland der islamische Religionsunterricht und das Kopftuch von Lehrerinnen im Zentrum der Auseinandersetzung stehen. Die Konzentration der Aufmerksamkeit auf die Jugend eröffnet den jungen Muslimen die Möglichkeit, existierende Werte und Normen des öffentlichen Raums sowie islamische Vereinsstrukturen durch ihre Ausdrucksformen von Religiosität hör- und sichtbar in Frage zu stellen. Jedoch bestimmt nicht nur das Alter, sondern vor allem die soziale und ökonomische Lage die untergeordnete Position der jungen Muslime. Die Ausdrucksformen von Religiosität, die im Zentrum des Interesses der obigen Beschreibungen stehen, sind untrennbar mit den Stigmatisierungserfahrungen und insbesondere mit dem Gefühl, auf der Grenze zwischen Exklusion und sozialem Aufstieg zu leben, verbunden. Die Muslime benutzen auf der einen Seite ihr Zugehörigkeitsgefühl zur islamischen Gemeinschaft bzw. ihren Glauben, um Diskriminierungen zu überwinden oder soziale Konflikte zu benennen. Auf der anderen Seite stellt in vielen Fällen gerade die Diskriminierung einen Ausgangspunkt für ihre Religiositätskonstruktionen dar. So erklärt Ahmed aus Straßburg: »Wenn es allen gut ginge, wenn es keine Arbeitslosigkeit, keinen Krieg, nichts gäbe, dann würde es Gott nicht geben, nirgends.« Die Jugendlichen fordern mit ihren Konzeptionen vom Islam jedoch nicht nur die Strukturen des öffentlichen Raums in Deutschland und Frankreich heraus, sondern auch die islamischen Organisationen, die die Verschmelzung der sozialen Erfahrungen der jungen Leute mit individualisierten Glaubens- und Zugehörigkeitsformen in ihrer Arbeit anerkennen müssen, um überhaupt für diese Muslime attraktiv bleiben zu können. Vereine, die ihre Existenz und Aktivitäten an die Herkunftsländer – wie die Türkei, Marokko oder Algerien – binden und nach deren Kriterien ausrichten, schwächen ihre Position auf dem religiösen Markt. Diese Kriterien haben in der Tat keinen Bezug zu dem Leben der jungen Leute in Frankreich oder Deutschland. Selbst für die türkisch-islamischen Föderationen in der Bundesrepublik, die nach wie vor ihre Themen und Differenzierungen über das politische Feld in der Türkei legitimieren, treffen mehr und mehr auf eine Distanzierung bei den jungen Muslimen türkischer Herkunft, weil sich ihre islamische Religiosität mehr und mehr von der politischen Fixierung auf die Türkei löst. Die Verschmelzung der islamischen Religiosität und Kritik an sozialer sowie

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262 | Nikola Tietze ausländerfeindlicher Diskriminierung stellt die Defizite und Versäumnisse der nationalen Integration heraus. In Frankreich ist die »ideologisierte« Akzentuierung der muslimischen Religiosität die deutlichste Form der Kritik an der Effizienz und Legitimität laizistischer Werte. In diesem Fall wird das Laizitätsprinzip direkt in Frage gestellt, weil es sein Versprechen von der sozialen und ökonomischen Integration aller Individuen, die ihre Religiosität ins Private verbannen, nicht einhalten kann. Aber die verinnerlichten Formen des Islam, wie die »ethisierte«, »utopisierte« und die implizite »kulturalisierte« Religiosität (z.B. des Hip-Hop) sind Zeichen dafür, dass die Vorgabe einer bestimmten nationalen Definition für das Handeln eines »guten« Staatsbürgers nicht mehr akzeptiert wird. Die jungen Leute lassen sich immer weniger zu einem Beweis für die Wirksamkeit des republikanischen Integrationsmodells machen. So werden ihre Religiositätsformen und deren ständig wechselnden Akzentuierungen zur Herausforderung für den öffentlichen Raum in Frankreich. Institutionelle Regelungen, die darauf zielen, den Pluralismus und die Kakophonie der islamischen Vereine zu entzerren und zu ordnen, scheitern an den sich permanent verschiebenden und zersplitterten religiösen Konfigurationen. Auch der neu gegründete Conseil Français du Culte Musulman (2003), der die religiöse Gemeinschaft auf der nationalen Ebene repräsentieren soll, wird die individuellen und flexiblen religiösen Ausdrucksformen, die die Jugendlichen entwickeln, als eine strukturierende Realität des Islam in Frankreich anerkennen müssen, um seine Funktionen erfüllen zu können. In Deutschland bringt der »ideologisierte« Islam keine mit Frankreich vergleichbaren explosiven sozialen Probleme mit sich. Obwohl Muslime mit einer solchen Religiosität lautstark und in manchen Fällen aggressiv die Anerkennung einer islamischen »Gemeinde« fordern, korrespondiert ihr politisches Handeln letztendlich mit den Strukturen des öffentlichen Raums in der Bundesrepublik. Damit sind Konflikte zwischen islamischen Organisationen und staatlichen oder gesellschaftlichen Akteuren (z.B. Politikern, Lehrern oder Sozialarbeitern) nicht ausgeschlossen. Im Gegenteil: Sie werden mehr und mehr zum bundesrepublikanischen Alltag gehören, weil die Muslime, die das ideologisierende Prinzip ihrer Islamizität betonen, sich in einer identitätspolitischen Perspektive individuelle Rechte und institutionelle Regelungen zu Eigen gemacht haben. Es ist daher kaum überraschend, dass gerade Gläubige, die ökonomisch integriert sind, diese Form von muslimischer Religiosität entwickeln. Die »kulturalisierte« Akzentuierung des Islam stellt für bundesdeutsche Gesellschaft keine große Herausforderung dar, weil die Religion der Jugendkultur der »türkischen Ausländer« untergeordnet wird. Damit entspricht diese islamische Konfiguration weitgehend den Bildern der Mehrheitsgesellschaft. Diese Bilder werden jedoch in Frage gestellt, wo Muslime ihre Islamizität von der nationalen Kultur ihrer Herkunftsländer abkoppeln, wie es in den »ethisierten« und »utopisierten« Konfigurationen der Fall ist. Wenn der Islam als eine Religion mit universellen Wertvorstellungen formuliert wird und die Identifikation mit ihm zum Ziel hat, sich von dem auferlegten Bild des »Türken« zu befreien, kommen die vorherrschenden Vorstellungen von Identität und Differenz durcheinander. Es scheint so, als ob die Träger der Definitionsmacht im öffentlichen Raum auf diese Konfusion nur mit Ignoranz antworten können. Die Blindheit gegenüber diesen muslimischen Aus-

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Formen der Religiosität junger männlicher Muslime | 263 drucksformen ist jedoch mit der Gefahr verbunden, dass die Gläubigen ihre Religiosität und ihre sozialen Aktivitäten mehr und mehr auf islamische Organisationen beschränken, die ausreichende Ressourcen und Strukturen bieten, das gesamte Leben religiös auszurichten. Die Instabilität islamischer Religiositätsformen widerspricht darüber hinaus einer Auffassung, die in der deutschen Öffentlichkeit verankert ist, nämlich, dass jedes Individuum von Geburt an einer religiösen Konfession angehört und diese Zugehörigkeit auch nicht wieder aufgeben kann. Der Wechsel von einer bestimmten Akzentuierung des Islam zu einer anderen beziehungsweise der immer auch mögliche Ein- oder Austritt aus einer religiösen Tradition widersprechen der Stabilitätsillusion von Identitäten, auf die die institutionellen Regelungen der sozialen Beziehungen sowohl in Deutschland als auch in Frankreich aufbauen. Die Herausforderungen, die mehr oder weniger offensichtlich durch die Präsenz junger Muslime in Deutschland und Frankreich entstehen, wachsen durch die zunehmende Pluralisierung in beiden Ländern und deuten gleichzeitig den sozialen Wandel an. Die jungen Muslime stellen also nicht nur Transformationen im Umgang mit der islamischen Tradition heraus. Ihre Religiositätsformen verweisen auch auf eine größere Flexibilität und Fragmentierung von Identifikationsformen im Allgemeinen, die individualisierte und ambivalente Handlungsformen im öffentlichen Raum nach sich ziehen. Die sich ständig wandelnden Differenzkonstruktionen, die nie eine reine Alterität festlegen, sondern immer mit Identität vermischt sind, und die Fähigkeit, widersprüchliche Elemente miteinander zu verbinden, unterlaufen die institutionellen Ordnungen, die Normen und Verhaltensweisen im öffentlichen Raum festlegen. Die Fähigkeit zur Ambivalenz ist nicht nur auf junge Muslime beschränkt, sondern kann auch in anderen sozialen Gruppen beobachtet werden, die immer schon ein Teil der französischen beziehungsweise deutschen Gesellschaft waren. Aber die islamischen Selbstkonstruktionen der Jugendlichen, die in einer unsicheren sozialen und wirtschaftlichen Situation leben, heben deutlich den Einfluss von Ambivalenz und Instabilität hervor, weil diese jungen Leute in besonderem Maße mit diesen beiden Elementen der Moderne umzugehen wissen. Aus dem Englischen übersetzt von der Autorin

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Die jungen Prediger der Tabligh-Bewegung in Frankreich | 265

Die jungen Prediger der Tabligh-Bewegung in Frankreich Moussa Khedimellah

Neue muslimische Akteure: Geschichte und Lebensverhältnisse Seit ungefähr einem Jahrzehnt treten in den französischen Vorstädten neue muslimische Akteure auf, die der Predigerbewegung namens Tabligh angehören. Obwohl sie schon in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts in Frankreich Fuß gefasst hatte, trat diese Bewegung erst seit dem Ende der achtziger Jahre sichtbarer in Erscheinung, als sie einen bedeutenden Aufschwung nahm. Sie ist noch immer eine junge Bewegung, die sich vor allem auf Randgruppen der zweiten und dritten Generation von Kindern maghrebinischer Einwanderer stützt, die bereits Franzosen sind; wir kommen darauf zurück. Doch woran erkennt man diese neuen Akteure eines Islam, der sich im öffentlichen Raum herausfordernd präsentiert? Ihre langen Bärte kontrastieren oft mit jungen Gesichtern. Sie tragen traditionelle pakistanische Kleidung oder allgemeiner ein langes weißes Gewand mit Ärmeln (in frz. Umschrift: djellaba oder gandoura, »Kaftan«), das bis zu den Knöcheln reicht, eine Mütze auf ihrem Kopf (taguilla) und möglicherweise ein Paar Turnschuhe von Nike oder Reebok. Ob Regen oder Sonnenschein, unermüdlich pilgern sie in Frankreich und der gesamten Welt in kleinen Gruppen zu dritt oder zu fünft über Berg und Tal, um die Botschaft Gottes zu verkünden. Sie sind zumeist Franzosen marokkanischer bzw. maghrebinischer und schwarzafrikanischer Herkunft und heißen Mohamed, Rachid, Amadou oder Moustafa – und immer öfter auch Eric, Thomas, Patrick oder Didier. Sie sind männlichen Geschlechts, achtzehn bis fünfunddreißig Jahre alt, und werden zunehmend von jungen Frauen begleitet, die stolz das Kopftuch aufziehen und sich mit ihnen bemühen, den Glauben zu verkünden.1 Sie leben im Wesentlichen in Vorstädten, wo sich durch Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung und Rassismus die Probleme häufen.2 Das sind die zum Islam neu- und vor allem wiederbekehrten, also freiwillig zur Religion ihrer Eltern zurückgekehrten »wiedergeborenen« Muslime, die »Ritter der Bekehrung und Frömmigkeit«, so der marokkanische Soziologe Mohamed Tozy.3 Diese neuen Bannerträger eines eifrig verfochtenen und auffällig zur Schau gestellten4 Islam sind alle religiöse Vorkämpfer der Tabligh-Bewegung in Frankreich. Die Tabligh-Bewegung ist die größte und wich-

1 Vgl. Barbara Metcalf (Hg.): Making Muslim Space in North America and Europe, Berkeley, CA 1996. 2 Vgl. Michel Wieviorka: La France raciste, Paris 1992. 3 Vgl. Mohamed Tozy: Monarchie et islam politique au Maroc, Paris 1999. 4 Anm. des Hg.: Im Original »ostentatoire«; das neue französische Gesetz über die Laizität an öffentlichen Schulen vom 15. März 2004 verbietet bereits Zeichen und Kleidungsstücke, die eine religiöse Zugehörigkeit »ostensiblement« manifestieren, wie ein Kopftuch, eine Kippa oder ein Kreuz »de dimension manifestement excessive«.

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266 | Moussa Khedimellah tigste transnationale islamische Bewegung der Welt.5 Die Jahresversammlung in Raiwind in Pakistan wird von mehr als einer Million Muslimen aus 94 Ländern besucht und ist seit geraumer Zeit die zweitgrößte religiöse Zusammenkunft von Muslimen – nach der Pilgerfahrt nach Mekka. Die Versammlungen in Nordamerika und Europa gehören mit mindestens zehntausend Teilnehmern ihrerseits zu den größten muslimischen Treffen im Westen. . »Tablîghî Jamâ‘at« oder auch »Gamâ‘at at-tablîg wad-da‘wa« bedeutet »Gemeinschaft für Predigt« oder »Gemeinschaft für Predigt und Aufruf [zum Islam]«.6 Die Bewegung wurde ab 1880 von Muh.ammad Ismâ‘îl (1835-1898) angebahnt und dann von dessen Sohn Muh.ammad Ilyâs Kândhalawî (1885-1944) in Indien begründet. Die Väter der Bewegung machten sich große Sorgen um die dortige muslimische Gemeinschaft, die zur Zeit der britischen Kolonialherrschaft unter dem Einfluss mächtiger jesuitischer und protestantischer Missionarsgruppen durch massive Konversionen in Gefahr geriet. So entstand auf dem indischen Subkontinent zwischen 1925 und 1927 eine Gegenbewegung der inneren Mission. Sie beruft sich auf einen berühmten Koranvers, der so übersetzt werden kann: »Und immer sei von euch ein Volksstamm, Berufend7 zu dem Guten, / Gebietend Fug und wehrend ab von Unbill, / Dieselben sind die Hochbeglückten« (Sure 3:104, nach Friedrich Rückert). Nach seiner Rückkehr von der Wallfahrt nach Mekka führte der Gründer mit Unterstützung der großen islamischen Schulen seiner Zeit, der Deoband und Nadwat al-‘ulamâ’, die Praxis der Wanderpredigt ein.8 Als streng unpolitische, gewaltlose Bewegung in sufischer Tradition konnte sich die Tablîghî Jamâ‘at durch ihre Missionare in aufeinander folgenden Wellen immer weiter verbreiten: in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts in der islamischen Welt, bis in die Türkei und die arabischen Länder, von 1950 bis 1960 in den Industriestaaten von Kanada und den USA über Großbritannien bis nach Japan, und schließlich durch systematische Vernetzung im Rest der Welt, darunter auch in Frankreich. Das heftig diskutierte mystische Erbe scheint uns unbestreitbar, vor allem mit Blick auf die Praktiken der Versenkung (dikr) und des spirituellen Rückzugs (i‘tikâf). Der Gründer Muh.ammad Ilyâs war ein Sufi von Rang, der selbst von einer Linie großer Mystiker abstammte. Dieser Gesichtspunkt wird oft übergangen. Rufen wir auch in Erinnerung, dass diese ^

5 Vgl. Gilles Kepel: Les banlieues de l’islam: Naissance d’une religion en France, Paris 1987, und jetzt Yoginger Sikand: The Origins and Development of the Tablighi Jama’at (1920-2000): A Cross-Country Comparative Study, New Delhi 2002 – eine von zwei nach Abschluss des Manuskripts erschienenen Monographien. – Anm. des Hg.: Vgl. auch Abderraouf Ben Halima: Tabligh: Etape IV – Le plus grand mouvement mondial de prêche et de formation musulmane devant son tournant historique, Saint-Etienne 2000. 6 Vgl. Marc Gaborieau: »Tablîghî Djamâ’at«, in: Encyclopédie de l’islam, Bd. 10, Leiden 1998. 7 »Da‘wa« – »Aufruf« geht auf dieselbe Wurzel zurück. 8 Vgl. Christian W. Troll: »A Muslim Mission Instruction«, in: Vidyajyoti: Journal of Theological Reflection 46 (1982), S. 391-401, und jetzt Muhammad Khalid Masud (Hg.): Travellers in Faith: Studies of the Tablighi Jama’at as a Transnational Islamic Movement for Faith Renewal, Leiden 2002 – die andere nach Abschluss des Manuskripts erschienene Monographie.

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Die jungen Prediger der Tabligh-Bewegung in Frankreich | 267 Bewegung auf sechs Pfeilern oder Eigenschaften beruht, die jeder Anhänger auswendig lernt und sein Leben lang befolgen sollte: ^

– der Glaube an einen einzigen Gott (sahâda – »Glaubensbekenntnis«) – das aufmerksame Gebet voller Hingabe (s.alât) – das Bemühen um Wissen und das fortwährende Gedenken Gottes (al-‘ilm wad-dikr) – die edelmütige Liebe zu allen Geschöpfen (ikrâm al-muslimîn) – die gute und aufrichtige Absicht (as.lah. an-nîya) – die Predigt und die Missionsreise (ad-da‘wa ilâ llâh wal-hurûg fî sabîlillâh, wörtlich »Aufruf zu Gott und Aufbruch auf dem Weg Gottes«). ^

In Frankreich besteht die Tabligh-Bewegung offiziell als gemeinnütziger Verein, der im April 1971 auf der Präfektur von Seine-Saint-Denis unter dem Namen »Foi et Pratique« eingetragen wurde. Von 1960 an begannen erste Predigergruppen aus Pakistan durch Frankreich zu streifen und fanden unter den ersten maghrebinischen Zuwanderern Nacheiferer. Sie forderten zunächst Stätten für den Gottesdienst, die ihnen in Frankreich viel verdanken, bevor sie ihren Aktivismus weiter vorantrieben. Seit dem Ende der achtziger Jahre hat sich die Tabligh-Bewegung sehr verjüngt und spricht nun vornehmlich ein ganzes Segment der zweiten und dritten Generation von Kindern maghrebinischer Zuwanderer an. Heute ist sie sehr gut organisiert und hat lokale, regionale, nationale und transnationale Bande geknüpft.9 Das ist eine bemerkenswerte Erscheinung gerade durch die Verzweigungen in Vorstädten wie Mantes-la-Jolie, dem Siedlungskomplex Quatre Mille in La Courneuve, dem Viertel Neuhof in Straßburg, aber auch in Großstädten wie Marseille, Lyon, Lille und so fort. In Lothringen, der von uns untersuchten Region,10 die wir am besten kennen, schwärmt Foi et Pratique in einer Einflusszone aus, die von der Stadt Forbach an der deutsch-französischen Grenze bei Saarbrücken als Ausgangspunkt über Nancy bis Bar-le-Duc und darüber hinaus nach Verdun und Longwy reicht, und strahlt in andere Regionen bis nach Mulhouse im Elsass und Dijon im Burgund aus. Dieses nationale und transnationale islamische Netzwerk findet immer mehr Anhänger, aber auch eine wachsende Zahl eifriger Gegner, insbesondere in der Mehrheitsgesellschaft, die mit Furcht und Schrecken in diesen bärtigen Jugendlichen den Archetyp

9 Vgl. Moustapha Diop: »Structuration d’un réseau: La Jamâ’at Tablîgh (Société pour la Propagation de la Foi)«, in: Revue européenne des migrations internationales 10 (1994), S. 145-155. 10 Vgl. Moussa Khedimellah: Des ténèbres de la foi à la lumière: La Jama’a Tabligh en Lorraine, Paris 1999 (Magisterarbeit an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales), kurzgefasst in M. Khedimellah: »Jeunes prédicateurs du mouvement Tabligh: La dignité identitaire retrouvée par le puritanisme religieux?«, in: Socio-anthropologie 10 (2001), S. 5-18, und M. Khedimellah: »Aesthetics and Poetics of Apostolic Islam in France«, in: ISIM Newsletter 11 (2002), S. 20-21.

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268 | Moussa Khedimellah des islamistischen Fundamentalisten »made in France« verkörpert sehen, wie ihn die Medien hegen und pflegen.11 Welches soziale Profil weisen nun die Jugendlichen auf, die von der Tabligh-Bewegung angezogen werden? Der idealtypische französische Tabligh-Aktivist ist nach unseren Beobachtungen ein volljähriger junger Mann (aber auch die Zahl der Frauen nimmt zu). Er lebt meistenteils in Räumen der Verbannung und sozialen Disqualifikation, er ist schulisch und darum oft auch im Berufsleben gescheitert.12 Vergessen wir nicht, dass 51 Prozent der Jugendlichen maghrebinischer Herkunft zwischen 15 und 24 Jahren arbeitslos sind – und Jugendliche rein französischer Herkunft um die Hälfte weniger. Der Aktivist kommt aus Volksschichten mit eher schwachem Bildungsniveau und lebt mit seiner Familie vor allem in vormals stark industrialisierten und nunmehr deindustrialisierten Gebieten des Nordens, Ostens und des Pariser Beckens, insbesondere in den so genannten »prioritären urbanen Zonen« (ZUP), in denen sich die aus mehreren Wirtschaftskrisen herrührenden Schwierigkeiten häufen. Seine Eltern kommen überwiegend von der anderen Seite des Mittelmeers aus Nordafrika und wurden in mehreren Wellen von den Vertretern der großen französischen Industriegruppen angeworben. Zunächst kamen nur alleinstehende wie verheiratete Männer in großer Zahl und wurden als Arbeitskräfte in Fabriken eingestellt, um ein vom Zweiten Weltkrieg ausgeblutetes Frankreich wieder aufzubauen. Der Rest der Familie, die Frauen, Kinder, Brüder und Schwestern trafen erst in den Jahren von 1960 bis 1970 in größerer Zahl ein, namentlich infolge der Familienzusammenführung. Diese Familienzellen wurden vom Staat notdürftig in Arbeitersiedlungen untergebracht, die rasch aus dem Boden gestampft wurden, um das Wohnungsdefizit zu beheben. Die Eltern träumten lange davon, genug zu sparen und dann in die Heimat zurückzukehren, aber das sollte für die meisten schon bald zu einem Mythos werden, der nach der Ankunft der ersten in Frankreich geborenen und einschulten Kinder nicht mehr zu verwirklichen war. Diese Jugendlichen kommen mithin aus kinderreichen Familien, bei denen ein Teil der Kinder oft noch im Herkunftsland der Eltern geboren wurde, was Spaltungen im Inneren der Familie bewirken kann. Sie leben zwischen zwei Polen der kulturellen Orientierung: der oft verklärten Heimat und der französischen Gesellschaft, die Arbeit gibt und zugleich Furcht, Misstrauen und Verachtung einflößt – ein Erbe der noch sehr gegenwärtigen jüngsten Geschichte, des Algerienkriegs usf. Es sind oft die eher traditionellen und konservativen Familien, in denen die künftigen Aktivisten der Tabligh heranwachsen. Der religiöse Bezug ist in diesen Familien allgegenwärtig, auch wenn die religiöse Praxis schwach ist, doch mischen sich in dieser Religiosität Tradition und Folklore; der Vater ist dabei der symbolische Schutz schlechthin. Auch bleiben kulturelle Eigenheiten bestehen: religiöse Riten, die traditionelle Küche, Feste und Eigentümlichkeiten wie die von den Männern verteidigte Familieneh11 Vgl. Constant Hames: »La construction de l’islam en France: Du coté de la presse«, in: Archives des Sciences Sociales des Religions 68:1 (1989), S. 79-92. 12 Vgl. Francois Dubet: La galère: Jeunes en survie, Paris 1986, sowie Robert Castel: Les métamorphoses de la question sociale: Une chronique du salariat, Paris 1995, und Serge Paugam: La disqualification sociale: Essai sur la nouvelle pauvreté, Paris 1993.

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Die jungen Prediger der Tabligh-Bewegung in Frankreich | 269 re, die von den Töchtern symbolisiert wird, sowie die Ehrerbietung, die Älteren gebührt. Ebenso werden verschiedene Tabus wiederbelebt, die das Verhältnis von Mann und Frau, die Sexualität, das Geld, den gesellschaftlichen Erfolg und Krankheit betreffen. Diese aus den Herkunftsländern in die französische Gesellschaft eingeführten Tabus verlieren sich allmählich, doch nicht ohne zuvor den in Frankreich geborenen Kindern Schwierigkeiten zu bereiten, da sie aus zwei verschiedenen Kulturen hervorgehen und den Zusammenprall erleben. Die Ambivalenzen eines Lebens in zwei Kulturen verursachen oft Unbehagen und einen starken Verlust von Rückhalt, den wir als »doppelte nationale Nichtmitgliedschaft« bezeichnet haben. Es ist das unbestimmte Gefühl, weder zu Frankreich noch zum Herkunftsland ihrer Eltern zu gehören, das vor ihrem »Beitritt« zur Tabligh überwiegt. Sie wissen nicht recht, ob sie Franzosen, Araber, Muslime oder alles zugleich sind. Der Zwiespalt ihres Selbstgefühls ist alltäglich, ohne Unterlass lavieren sie zwischen zwei kulturellen Welten und ihren sehr unterschiedlichen Bezügen. Davon abgesehen stehen sie im Alltag vor weiteren Schwierigkeiten. Tatsächlich sehen sie ihr tägliches Leben oft als Herausforderung. Ihre nordafrikanische Abkunft und ein Leben in Räumen, die von Arbeitslosigkeit und Kriminalität gezeichnet sind, stigmatisieren sie in den Augen der umgebenden Gesellschaft. Häufig beginnt alles mit ihrem regelrecht vorprogrammierten Scheitern in der Schule. Einmal von der Schule verbannt, ist es oft die Straße, die diese rebellische Jugend ohne Ziel aufnimmt. Der fast allgemeine Analphabetismus ihrer Eltern aus der ersten Zuwanderergeneration und der institutionelle Rassismus tragen dazu bei, diese Jugendlichen aus dem schulischen Verkehr zu ziehen – junge Menschen, die ohnehin durch die Doppelkultur desorientiert sind, die ihnen festen kulturellen Rückhalt verwehrt (»nicht von hier und nicht von dort«, wie sie selber sagen). Im Verein mit der Krise der achtziger Jahre und dem Rückzug des Staates aus den »urbanen Zonen« wurden diese Lebensräume von der städtischen Politik sich selbst überlassen. So wurden aus den Arbeitersiedlungen der Väter Schritt für Schritt die Arbeitslosensiedlungen der Söhne, in denen Ausgrenzung und ein verschärfter Rassismus den Ton angeben. Das Elend ist ihr gewohntes Los; ohne Beruf und damit ohne einen Cent brüten sie in ihrem Innersten Hass aus. Dieser Hass hat seine Ursachen im Gefühl verlorener Würde, im Ausgestoßensein aus der Gesellschaft, in einem nutzlosen Leben voller Überdruss. So hat die Zeit für sie weder Sinn noch Bedeutung, ob Tag oder Nacht spielt kaum eine Rolle, Hauptsache, man schlägt davon so viel wie möglich tot – mit endlosen Abenden im Café, mit Videos, Fußballspielen, improvisierten Festen, auf denen der Alkohol in Strömen fließt, oder auch mit Streitereien, die dem Gegner des Tages beweisen, wie stark man ist, ob bei Schlägereien mit der Polizei, mit den Antiverbrechens-Brigaden oder rivalisierenden Banden… Kurz, alles was die tödliche Monotonie ihres Daseins unterbricht, jede Aufregung muss genutzt werden: Rennen mit gestohlenen Wagen, angezündete Fahrzeuge, Angriffe auf die Feuerwehr oder jedes andere Autoritätssymbol. Um ein bisschen von der Zeit zu verbringen, die sich unendlich vor ihnen dehnt, halten sie sich bevorzugt in Eingangshallen, weitläufigen Unterführungen und Busunterständen auf. Sie »verrosten«, so ihr eigener Ausdruck für den Tod, den das Fehlen einer Zukunft bedeutet, für die erstickende Routine und das Zuschauen beim Verrinnen der Zeit, ohne dass sie sich selbst ein Leben aufbau-

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270 | Moussa Khedimellah en können, während das der anderen vor ihren Augen Gestalt annimmt. Vom Arbeitsmarkt beiseite geschoben und unfähig, eine Familie zu gründen, finden sie sich zuunterst in den Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus wieder, ihrem alltäglichen Universum. Sie hängen herum, »verrosten« und »kleben an den Wänden«, statt richtig zu arbeiten. Die Ungerechtigkeit einer Gesellschaft, die sie entbehrlich gemacht hat, erfüllt sie mit Hass, der sich bei Stadtkrawallen in Gewalt entlädt. Seit dem Ende der achtziger Jahre ziehen die urbanen Gewalttätigkeiten die Aufmerksamkeit der überregionalen Medien auf sich und lassen diese Örtlichkeiten als über die Maßen gefährlich erscheinen. Damit sind neue gefährliche Klassen geboren. Allerdings ist die Bande nur eine flüchtige Gemeinschaft; sie bildet sich gegen Gefahren wie die Polizei, die als Bedrohung der gesamten Siedlung empfunden wird, und fällt bald wieder dem eintönigen Alltag zum Opfer. Die Jugendlichen geben einander und sich selbst abwertende Namen wie »lascars« (etwa: »Schläger«), »hittistes« (»Wandsteher«), »zonards«, usf. und nehmen gewalttätige Verhaltensweisen nach dem Vorbild des gewalttätigen Universums an, in dem sie heranwachsen. Oft vergleichen sie ihre Viertel mit einem riesigen Gefängnis oder Ghetto, in dem sie auf immer eingesperrt sind, ohne Hoffnung auf Entkommen – daher das Gefühl, sie hätten nichts zu verlieren. Sie halten wenig von sich selbst und fühlen sich als Bewohner eines sozialen Niemandlands. Es ist dieses harte und gewalttätige Bild von sich selbst, das sie gegen andere hervorkehren, um sich durch Angst den Respekt zu verschaffen, den ihnen die Gesellschaft als ganze so wenig zollen möchte. Dem entspricht ihre äußere Erscheinung: Sie tragen bewusst Turnschuhe und Mütze im Gegensatz zu Anzug und Krawatte, die für die Gesellschaft der Reichen stehen. Dieser Kleidungsstil wird zum Erkennungszeichen aller Verlierer in den so genannten sensiblen Vierteln, die sich bei Rap- und Hip-Hop-Konzerten, Sportereignissen usf. treffen und eine gewisse Solidarität ausbilden. Der kulturelle Zwiespalt, die Schwierigkeiten eines entwerteten Lebens – all dies erklärt auch ihr gespaltenes Verhältnis zum Konsumgütermarkt. Sie fühlen sich von der Gesamtgesellschaft und dem Konsumgütermarkt ausgeschlossen, da es ihnen an Mitteln fehlt, auf legalem Wege zu kaufen, was ihnen die allgegenwärtige Werbung zur Schau stellt. Am Arbeits- und Konsumgütermarkt teilzuhaben heißt der Nation von Bürgern anzugehören – sie aber wurden zurückgewiesen. So weisen sie auf doppeldeutige Weise ebenfalls diese Gesellschaft der Reichen zurück, wollen aber zugleich deren Embleme haben: große Wagen, prestigeträchtige Kleidungsstücke und anderes mehr. Sie verschaffen sich darum diese kostspieligen Zeichen des gesellschaftlichen Erfolgs oft durch Diebstahl und auf anderen unredlichen Wegen. Sie sind versucht, Kriminalität als Lösung des Geldmangels zu betrachten, und rechtfertigen sie mit dem Rassismus der Personalchefs. Natürlich verübeln sie auch die Schikanen, die ihnen aufgrund ihrer Gesichtszüge und Herkunft insbesondere durch polizeiliche Identitätskontrollen bereitet werden.13 Der Rassismus wird von Medien verstärkt, die Araber, Muslime und Fundamentalisten alle in eins setzen. Sie fühlen sich diskriminiert und entwürdigt und haben ihr Scheitern verinnerlicht.

13 Vgl. Michel Wieviorka: La France raciste, Paris 1992.

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Die jungen Prediger der Tabligh-Bewegung in Frankreich | 271 Die Stadien der religiösen Karriere Solche Jugendlichen schließen sich also der Tabligh-Bewegung an. Denn für manche von ihnen wird im Gegensatz zum Verbrechen als scheinbar einzigem Ausweg ein streng religiöses Engagement zur letzten Rettung. Sobald aus ihnen eifrige Aktivisten der Bewegung geworden sind, sind diese Jugendlichen um größtmögliche Sichtbarkeit im öffentlichen Raum bemüht. Wir haben über mehrere Jahre die Stadien auf dem Weg dieser Aktivisten verfolgt, und es hat sich gezeigt, dass man von einer regelrechten »religiösen Karriere« im Inneren von Foi et Pratique sprechen kann. Man erkennt die Aktivisten der Tabligh-Gemeinschaft an ihrer auffälligen Erscheinung: Sie tragen als Männer Bart, Rosenkranz, Zahnstocher und Gandoura, als Frauen Schleier. So entsteht in einer Gesellschaft, die sie ihrer Ansicht nach nie akzeptiert und anerkannt hat, eine neue Form der körperlichen, spirituellen und sprachlichen Selbstinszenierung. Dabei kann man die aktivistische Karriere der Prediger recht genau anhand eines originellen physischen Indikators verfolgen: der Länge des Bartes. Je mehr Bedeutung das Engagement in der Tabligh-Bewegung gewinnt, desto länger wird der Bart, der als religiöse Empfehlung gilt, und umgekehrt. Es gibt drei Phasen des Engagements in der Tabligh-Bewegung und eine Vorstufe: Die Vorstufe ist ein zerrüttetes Leben ohne jede Ordnung und sehr häufig fern von Gott, in Territorien der gesellschaftlichen Ausgrenzung ohne Ressourcen und Zukunft. Das Selbstbewusstsein ist erschüttert und ohne Halt. Die erste Stufe des Engagements führt zu zunehmender Religiosität, wobei oft mehrere, manchmal sogar sich widersprechende Identitäten nebeneinander bestehen können, im Extremfall die eines Drogenhändlers und Kriminellen mit der eines eifrig verfochtenen Islam. Der Beitritt zur Tabligh-Bewegung vollzieht sich langsam, in kleinen Schritten der Annäherung an deren Aktivisten, die dem Jugendlichen im Laufe der Monate und Jahre durch regelmäßige Besuche einen gewissen Respekt einflößen. Mit steigender Achtung wird er empfänglich für religiöse Argumente, die für den Ausstieg aus der Spirale des moralischen, beruflichen und gesellschaftlichen Verfalls sprechen, für den Ausstieg aus einem Viertel ohne Zukunft. Dann tut er den ersten Schritt und erklärt sich bereit, die Schwelle der Moschee seines Quartiers zu überschreiten, die er selten anders als dem Namen nach kennt. Dort trifft er andere Mitglieder der Gemeinschaft und stellt fest, dass sie sein soziokulturelles Profil oft mit ihm teilen. Die zweite Phase beginnt mit dem Einverständnis der Jugendlichen, eine erste Missionsreise von drei Tagen zu unternehmen, um das Werk der Predigt zu vollbringen und sich der Sache des Islam anzuschließen. Dieser Einsatz wird bald zu einer Antwort auf den Rassismus, die Verbannung und Ausgrenzung – zu einem Mittel, die verlorene Würde14 durch Transzendenz wiederzuerlangen. Vor dem Hintergrund einer unbewältigten und traumatischen Kolonialgeschichte, deren Kosten ihre Väter trugen, reißt das Heilige sie aus ihrem eintönigen Leben und gibt ihnen 14 Vgl. H. Malewska-Peyre: »L’image négative de soi chez les enfants de migrants et les stratégies identitaires contre la dévalorisation«, in: J. Retschitzki/M. Bossel-Lagos/P.R. Dasen (Hg.), La recherche interculturelle, Paris 1989, Bd. 1, S. 47-59.

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272 | Moussa Khedimellah wieder Stolz und etwas, an das sie glauben können. Ihre Persönlichkeit erfährt dabei einen tiefen und anhaltenden Wandel. Zur Hauptstütze der Identität wird der religiöse Pol; von ihm aus erarbeiten sie eine neue Sicht der Welt und des Selbst. Das führt oft zu dem, was Donégani den »Starrsinn« des Bekehrten nennt, den Übereifer der ersten Zeit. Die Gesamtgesellschaft verdächtigt sie darum oft des »Fundamentalismus«, schon wegen ihrer äußeren Erscheinung und besonders wegen des Bartes, der sie den Fernsehbildern von radikalen Islamisten aus aller Welt zum Verwechseln ähnlich sehen lässt. Dies ist die Stufe des unbedingten Engagements, eine Phase der »religiösen Forcierung«. Der Aktivist spricht nur noch von Gott und seinen Eigenschaften, vom Paradies und von der Hölle. Sein Predigteinsatz ist auf dem Höhepunkt. Er begibt sich auf Missionen, die ihn manchmal sehr weit in die Ferne führen – bis nach Indien, ans Grab des Gründers in New Delhi, bis nach Lahore und Peshawar in Pakistan und noch weiter nach China, in die USA oder nach Südafrika. Der übliche Widerstand der beunruhigten Familie, die möchte, dass der junge Mann seinen missionarischen Einsatz reduziert, richtet nichts aus. In diesem Stadium findet eine Verwandlung statt: Der junge Aktivist bricht mit seiner Umwelt. Oft sieht er kein Fernsehen mehr, hört keine Musik, wählt seine Freunde mit Bedacht, vermeidet sexuelle Promiskuität mit Frauen, geht wenig aus und betet viel. Wie ein Einsiedler beginnt er regelmäßig zu fasten, sich der Versenkung, dem Gebet und dem Studium zu widmen. Er nutzt damit die Zeit, die ihm als Arbeitslosem oder Gelegenheitsjobber zur Verfügung steht, um seinen Glauben und dessen Praxis zu vervollkommnen. Dies alles ist eine Politik der Askese und Keuschheit, die sich gegen die Prahlerei der Konsumgesellschaft wendet. Konsumverweigerung wird regelrecht zum islamischen Leitmotiv und über den Selbstzweck hinaus ein Mittel, um das Unerträgliche eines Lebens der Ausgrenzung, wie sie es kannten, zu ertragen. Körper und Sprache zielen in dieser entscheidenden Phase des Engagements auf übermäßige Sichtbarkeit; wir kommen darauf zurück. In der dritten Phase wendet sich der Tabligh-Aktivist oft wieder der Gesellschaft zu, nachdem er die Kraft gefunden hat, die Spannungen zu überwinden und seine Stigmatisierung nach dem Muster von »Muslim is beautiful« ins Gegenteil zu verkehren. Er findet Anhaltspunkte, die ihm helfen, sich ein besseres Bild von sich selbst und den anderen zu machen, und er stellt wieder einen Sinn für sich her, indem er sich als verantwortungsbewussten Bürger begreift. Im rassistischen Nachbarn sieht er zum Beispiel nur noch ein verirrtes und unwissendes Geschöpf Gottes, mit dem man gütig Mitleid und Geduld haben sollte, statt an ihm Anstoß zu nehmen. Ebenso gilt nun das gesellschaftliche Scheitern einfach als Prüfung, die man bestehen muss, die Armut als etwas Gutes, das vor den Versuchungen des übertriebenen Konsums bewahrt, usf. In diesem Augenblick des Bruchs verwandelt sich die auffällige Erscheinung des »entflammten Glaubens« oft wie durch eine Häutung in »soziale Unauffälligkeit« – zum Beweis, dass endlich ein Verhalten in der Mitte zwischen religiösem Übereifer und dem sinnlosen Vorstadtleben ohne Geld, Würde und Zukunft gefunden wurde. Die Prediger legen das traditionelle Gewand wieder ab und kürzen ihren Bart, als Beweis dafür, dass es ihnen gelungen ist, einen Kompromiss zwischen ihrem Bekenntnis und den Gesetzen der Republik zu finden. Sie nennen diese Phase gern »den Mittelweg«, abgeleitet von einem Koranvers (»eine in

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Die jungen Prediger der Tabligh-Bewegung in Frankreich | 273 der Mitte stehende Gemeinschaft«, Sure 2:143). So kehren sie, nach einer Zeit der auffälligen Sichtbarkeit, zur üblichen gesellschaftlichen Unsichtbarkeit zurück, indem sie ihre Ausbildung fortsetzen, eine Arbeit aufnehmen, und sei es nur ein unsicherer Job, und in Vereinen, als Bürger und beim Sport aktiv werden. Ihr Engagement in der Tabligh-Gemeinde kann nachlassen, auf kritische Distanz gehen oder enden. Allerdings beunruhigt die auffällige Sichtbarkeit der ersten Zeit die Behörden, die den Risiken terroristischer Anschläge vorbeugen sollen, und so bleibt die Tabligh-Bewegung ein religiöser Verein, der seit dem Anschlag zweier ehemaliger junger Foi-et-Pratique-Aktivisten aus Courneuve in Marrakesch im Jahre 1994 und der Khaled-Khelkal-Affäre im Jahre 199515 unter strenger Beobachtung der Nachrichtendienste steht. Der Geheimdienst interessiert sich vor allem für die eifrigsten Prediger, also jene, die für vier Monate nach Pakistan und Indien gegangen sind und Ausbildungslager in Afghanistan besucht haben könnten. Während Innenminister Chevènement die offizielle Vertretung des französischen Islam in einem Rat vorbereitete und dabei die Tabligh-Gemeinschaft neben der Pariser Moschee und anderen als eine wichtige Autorität konsultierte, stand und steht die Bewegung gleichzeitig weiter unter dem Verdacht, im Verborgenen von »Kellermoscheen« potenzielle Islamisten heranzuziehen – wofür es bislang keinen Beweise gibt. Was den möglichen »Fundamentalismus« innerhalb der Tabligh betrifft, so konnten wir bei unserem Studium dieser Bewegung auf französischem Terrain keine beweiskräftigen Anzeichen dafür finden oder die geringste Abweichung in dieser Richtung feststellen, jedenfalls nicht bis zum heutigen Tag.16

Der sichtbare Auftritt im öffentlichen Raum Die Tabligh-Bewegung tritt auf verschiedene Arten im öffentlichen Raum in Erscheinung: durch den institutionellen Auftritt, durch körperliches und sprachliches Hervortreten, und schließlich in geringerem Maße durch öffentliche Religionsausübung. Die institutionelle Existenz in Form eines gemeinnützigen Vereins mit fünf regionalen Zentren und einem Zentralbüro in Paris ist vor allem für das Netz von Moscheen von Bedeutung, mit denen die Bewegung in Frankreich und Europa im Bund steht; ihr Einfluss war übrigens auch entscheidend, als in den siebziger und achtziger Jahren Moscheen gefordert wurden. Der Staat hat die Tabligh-Gemeinschaft als einen wichtigen Vertreter des Islam in Frankreich anerkannt. Bemerkenswerter ist, wie die Bewegung körperlich und sprachlich in Erschei15 Vgl. den Artikel »Moi, Khaled Kelkal«, in: Le Monde vom 7.10.1995. 16 Vgl. dazu Marc Gaborieau: »Renouveau religieux de l’islam ou stratégie politique occulte? La Tablighi Jama’at dans le sous-continent indien et dans le monde«, in: Catherine Clémentin-Ojha (Hg.), Renouveaux religieux en Asie, Paris 1997, S. 211-229 und Yoginder Sikand: The Origins and Development. – Anm. des Hg.: Das »intégrisme« des Originals bezieht sich hier immer auf einen politischen und womöglich militanten Islam im Gegensatz zur entschieden apolitischen Tabligh-Bewegung.

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274 | Moussa Khedimellah nung tritt und den Blick auf sich zieht. Die Präsenz der Aktivisten wird in Frankreichs Städten durch die Bekleidung sichtbar gemacht. Wie schon ausgeführt, markieren die Aktivisten ihr Terrain im öffentlichen Raum durch demonstrative physische Sichtbarkeit: Man erkennt die jungen Tablighis an Bart, Mütze, Zahnstocher und Gandoura und die Frauen am Schleier. Mit dieser Art von Uniform präsentieren sie sich als Arbeiter im Dienst Gottes. Das provoziert, denn der öffentliche Raum ist und bleibt in Frankreich der Ort, an dem der Laizismus des Staates zum Ausdruck gebracht werden muss, weil kein Individuum sein ethnisches, gesellschaftliches oder religiöses Anderssein in einer Sphäre zeigen soll, in der sich Gleichheit und das Recht auf gleiche Geltung schicken. Das laizistische Frankreich fordert von seinen Einwohnern, zwischen dem Bereich des Privaten, dem die Religion, das Privatleben und alle Zeichen der Unterscheidung angehören, und dem Bereich des Öffentlichen eine Trennlinie zu ziehen. Also muss die äußere Erscheinung der Tablighis eine Gesellschaft schockieren, die sich dauerhaft im Laizismus als einem Merkmal eingerichtet hat, das zur Selbstdefinition dieser Nation gehört. Die jungen Männer der Tabligh-Bewegung stellen genau wie die Mädchen mit Kopftuch an den Schulen der Republik Frankreichs Absicht in Frage, Anderssein zu assimilieren. Manche Autoren haben darum vorgeschlagen, den laizistischen Pakt zu revidieren, andere vertreten eine laizistische Sicht, nach der die äußere Erscheinung der Tablighis eine grundlegende Unvereinbarkeit von Frankreich und dem Islam zum Ausdruck bringt. Für die Aktivisten sind abgesehen vom Privatleben der Familie alle anderen Teile des Lebens aus religiöser Sicht nicht voneinander zu trennen. Die Identität soll weder nach öffentlichen und privaten Räumen zerstückelt noch auf den intimsten Bereich beschränkt werden. Sie fordern daher, an den Tag zu bringen, wovon der Laizismus möchte, dass es privat bleibt: ihre religiöse Zugehörigkeit. Was die Kleidung angeht, so sind auch die jungen Frauen erwähnenswert, die durch ihre Brüder, Väter oder Ehemänner zum Engagement in der Tabligh-Bewegung fanden. Bei Missionsreisen trifft man sie in den lokalen Zentren den islamischen Vorschriften gemäß in Paaren an. Oft hat ihnen der Schleier gestattet, sich zu emanzipieren und sich von der Familie unabhängig zu machen; er wird zum Mittel, die Beteiligung von Frauen am öffentlichen Leben – und daher auch an der Verkündung des Glaubens durch Missionsreisen – zu rechtfertigen.17 Allerdings treiben manche jungen Frauen das Puritanische auf die Spitze, ähnlich wie die jungen Männer die Länge des Bartes. So trafen wir einige Frauen, die sich total verschleiert hatten, wohinter sich anscheinend die Absicht verbirgt, den Körper zu desexualisieren. Allgemeiner gesagt führen die Aktivitäten der Tabligh zu einer neuen Ordnung der Geschlechter: Der Schleier erlaubt eine gewisse Vermischung der Geschlechter anstelle der Segregation; wie die Männer entscheiden sich die Frauen, ihre Sexualität durch eine Rhetorik der Reinheit der Religion unterzuordnen, damit angesichts der sexuellen Unordnung des Westens wieder religiöse Glaubwürdigkeit waltet. Nachdem sie lange darauf beschränkt waren, sich in Vierteln der Ausgrenzung 17 Auch hier bewahrheitet sich also eine Grundthese von Nilüfer Göle: The Forbidden Modern: Civilization and Veiling, Ann Arbor, MI 1996. (Dt. Republik und Schleier: Die muslimische Frau in der modernen Türkei, Berlin 1995.)

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Die jungen Prediger der Tabligh-Bewegung in Frankreich | 275 eine multiple Identität zu basteln, profitieren die Jugendlichen nun von ihrem neuen und unerschütterlichen Glauben, um in der Öffentlichkeit eine religiöse Identität hervorzukehren, auf die sie stolz sind, eine »Identität der Provokation«, so Jocelyne Césari. Damit eignen sie sich unter positiven Vorzeichen jene Stigmata an, die sie aus Sicht einer Gesamtgesellschaft tragen, die in jedem Islamisten einen potentiellen Terroristen sieht: Die islamische Sichtbarkeit, die diese Jugendlichen mit äußeren Kennzeichen annehmen und fordern, weckt Furcht und führt zu Verwechslungen. Man sieht sie regelmäßig und methodisch die französischen Vorstädte durchforsten, die viele Einwanderer beherbergen. Deren potentiell muslimische Herkunft bedeutet für die Prediger, dass sie leichter auf den Weg des Heils zu führen sind. Die Aktivisten treten insbesondere während ihrer Missionsreisen von drei bis zu vierzig Tagen oder sogar mehreren Monaten in Erscheinung. Dabei gehen die jungen Männer – die Frauen bleiben zuhause – wie die Zeugen Jehovas von Tür zu Tür, um von Gott zu sprechen, oder sie treffen auf dem Weg unvermutet Muslime, die Gott ihnen geschickt hat. Diese fordern sie zum Glauben und strenger Religionsausübung auf: Sie machen »da‘wa«, wie sie es in ihrer Sprache ausdrücken. Während dieser Wanderungen lernen sie sehr intensiv ihre Religion kennen und erfahren, wie sie genau nach dem Vorbild des Propheten Mohammed zu verbreiten sei. Die Stätten städtischer Unruhen sind oft Hauptziele der Tabligh-Mission. Dort sollen verstörte Jugendliche zu Gott zurückgeführt werden, die durch ihre Vergehen das Bild des Islam verderben, dessen Symbol sie sind, ohne es zu wissen. Gerade an diesen Orten treten die Tablighis durch nachdrückliche Präsenz besonders markant körperlich in Erscheinung. Man sieht oft Gruppen von jungen Bärtigen im traditionellen Gewand in Fahrzeugen die Straßen der so genannten sensiblen Vororte patrouillieren, um den »Wildlingen« die frohe Botschaft zu bringen. So war es im Vorort Mantes-la-Jolie nach den Unruhen der neunziger Jahre; der Erfolg ließ nicht auf sich warten, ein nicht unbeträchtlicher Teil der Jugend schloss sich den Tablighis an – wofür Kleidung und Bart ein guter Hinweis sind – und seither herrscht vergleichsweise Ruhe. Auf diese Weise haben sie das Gefühl, etwas Nützliches zu tun, daher die Rede von der religiösen Arbeit. Sie gehen in diese vom Staat im Stich gelassenen Vorstädte, um Dealern, Einbrechern und Drogensüchtigen das Wort zu bringen. Gerade im Kampf um die Resozialisierung von Süchtigen hat sich die Tabligh-Bewegung als effizient erwiesen. Viele der von uns getroffenen Aktivisten waren früher berüchtigte Dealer oder Süchtige von der Straße, denen die spektakuläre Verwandlung in einen eifrigen und seiner Sache treuen Prediger gelang. Doch darf man das nicht verallgemeinern, denn wir sind ebenso auf Doktoranden, Rechtsanwälte, Informatiker, Journalisten und andere getroffen. Vier Jahre lang sind wir in Lothringen, in Nancy, Fameck, Metz und Longwy diesen »Verrückten Gottes« (wie der englische Soziologe Richard Hoggart sie nennt) der Tabligh-Bewegung gefolgt, die aus sich Apostel und unermüdliche Hausierer der frohen Botschaft im Namen eines erleuchteten und puritanischen Islam gemacht haben – eines Islam, der mit dem Islam der eigenen Eltern vollkommen bricht, jener meist maghrebinischen und oft analphabetischen Zuwanderer, die einen gewohnheitsmäßigen und traditionalistischen Islam praktizieren. Der sprachliche Aspekt ist an der beschriebenen Sichtbarkeit beteiligt. Die Akti-

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276 | Moussa Khedimellah visten nehmen eine ganz besondere Sprechweise an, die ich als »Francabligh« bezeichnet habe, weil sie eine synkretistische Mischsprache aus Französisch und dem Jargon der Vorstädte18 einerseits und dem Arabischen andererseits ist, mit dialektalen, religiösen und Tabligh-spezifischen Einsprengseln. Dazu kommen originelle Neologismen und Anglizismen, die die Zugehörigkeit zur Tabligh beweisen, zum Beispiel ein französisiertes arabisches Wort wie »khourougiste« (von arabisch hurûg – »Ausgang«), oder der Gebrauch von »Muslims« anstelle von »musulmans«, usf. Der französische Vorstadtjargon beruht im Allgemeinen auf besonderen Worten, die aus der Verbindung mehrerer Sprachen gebildet werden, zum Beispiel »lascars« (etwa: »Schläger«), der Name, den sich die jungen Beurs untereinander geben, hergeleitet vom arabischen ‘askar – »Soldat«, ebenso »hittistes« von arabisch h.â’it. – »Wand«. »Beur« für »Araber« ist übrigens schlicht Verlan, also die in Vorstädten weit verbreitete Wortbildung durch Vertauschen der ersten und zweiten Worthälfte bzw. ihrer Konsonanten, hier von »arabe«! Weiter kennzeichnen den Vorstadtjargon Kraftworte wie »grave« und »spécial« und mehr oder weniger mechanisch eingestreute Schimpfworte und Beleidigungen, die man bei den Tablighis nicht findet. Ich vermute, dass diese ungepflegte Sprache der Vorstädte dem puritanischen Geist der jungen Tabligh-Missionare widerstrebt, weshalb sie aus dem Ausdrucksangebot auswählen. Es ist bemerkenswert, wie rasch der Tabligh-Novize nach seinem Beitritt die moralisch anstößigen Ausdrücke aus seinem Sprachgebrauch ausmerzt. Er fängt an Francabligh zu sprechen, indem er Beleidigungen, verletzende Ausdrücke, sexuelle Anspielungen usf. aussondert. Auch das Verlan wird vom Francabligh ausgeschlossen. Dafür ist die Rede aller Tablighis, mit denen wir uns unterhalten haben, nun geradezu übersät von arabischen religiösen Formeln wie al-h.amdu lillâh, subh.ân Allâh, Allâhu akbar usf. Dazu gesellen sich die Tabligh-spezifischen Ausdrücke, die sich vor . allem auf das Predigen beziehen: at-tablîg (»Predigt«), al-gaula (»Streifzug, Rundreise«), al-‘amal (»Arbeit«), al-markaz (»Zentrale«) usf. Schließlich sind da noch die Allerweltsausdrücke des profanen dialektalen Umgangsarabisch. Die Herausbildung einer derart hybriden Sprache kann als Versuch verstanden werden, die drei Pole der Herkunft des Predigers – Frankreich, Heimat der Eltern, Vorstadt – mit dem neuen islamischen Pol seiner Identität, der gewählten Missionsarbeit zu verbinden. In geringerem Umfang wird die Sichtbarkeit der Tablighis im öffentlichen Raum auch durch Religionsausübung erzeugt. Die Aktivisten nehmen nämlich während ihrer Missionsreise die Gewohnheit an, unter freiem Himmel an allen möglichen Orten zu beten: im Fußballstadion, auf der Wiese oder einer Lichtung im Wald, in Hallen und Höfen und auf Parkplätzen … Sie beten vor aller Augen und besetzen damit schamlos den laizistischen öffentlichen Raum. Auch so treten die Tablighis spektakulär in Erscheinung. Sie gönnen sich mithin in verschärftem Glauben und exzessiver religiöser Sichtbarkeit einen Raum der Freiheit und des Selbstausdrucks, um angesichts immer wieder erfahrener Ungerechtigkeiten ihr ^

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18 Vgl. Jean-Pierre Goudaillier: Comment tu tchatches! Dictionnaire du français contemporain des cités, Paris 1997, und David Lepoutre: Coeur de banlieue: Codes, rites et langages, Paris 1997.

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Die jungen Prediger der Tabligh-Bewegung in Frankreich | 277 Recht zu fordern: das Recht, ein Subjekt von anerkannter Würde zu sein, um an der »Gemeinschaft der Bürger« teilzunehmen, von der Dominique Schapper spricht.19

Die Lebensweise der Tabligh-Anhänger Von Bedeutung ist auch, wie sich die Lebensweise der Aktivisten wandelt und sie Selbstdisziplin annehmen. Es wird für sie zum Bedürfnis, ihr Leben in Ordnung zu bringen. In seinem Werk über den Islam der Jugendlichen stellt Farhad Khosrokhavar fest, dass »die Gleichung Islam = Ordnung und Regelmäßigkeit im Leben der Jugendlichen eine Vorstellung ist, die viele vor Ort engagierten Personen teilen«.20 Auch wir haben das beobachten können, sogar bei bekannten Rückfalltätern. Das Fehlen von Anhaltspunkten in Zeit und Raum, das das Leben der Jugendlichen vor ihrer Bekehrung kennzeichnet, weicht allmählich festen Anhaltspunkten, die im Religiösen verankert sind. Die Zeit wird durch die fünf täglichen Gebete strukturiert, der Raum durch die lokale Moschee und die Gebetsrichtung gen Mekka hin. Die Zukunft ohne Perspektiven gewinnt Tiefe. Jetzt besteht die Zukunft darin, Gott kennen zu lernen und sich auf Erden und im Himmel zu verwirklichen, mit dem Paradies als letztem Ziel, das durch ihre guten Werke in greifbare Nähe rückt. Ebenso besiegt ein fester und kenntnisreicher Glaube ihre gefährliche Ungeduld, die ihren Sozialbeziehungen innewohnende Gewalt und die Anziehungskraft von Konsum und Drogen, der sie vorher erlagen. Auch das Bild der Vergangenheit erfährt unter islamischen Vorzeichen einen Wandel: An die Stelle der kurzen und flüchtigen Erinnerungen des Viertels tritt die Erinnerung an die große, Jahrhunderte zurückreichende Geschichte der Muslime. Dieser Wechsel reiht die Jugendlichen in eine lange Linie von Gläubigen ein und schenkt ihnen Würde; aus den Verlorenen von einst werden Akteure, die ihr Selbstvertrauen wiedergefunden haben. Auf die prahlerische Konsumgesellschaft antworten sie mit erstaunlicher Askese, indem sie die irdischen Freuden als unnötigen Tand geißeln, der überdies von Gott entfernt. Sie trennen sich von ihren leichtfertigen Freunden, die in die Irre führen, und ganz besonders von denen, die sich nicht auch dem Islam zuwenden wollen. Sie verkehren auch nicht mehr auf frivole Art mit Frauen. Jungfräulichkeit, Heirat usf. gewinnen nun in Übereinstimmung mit der islamischen Moral einen hohen Stellenwert. Zur Konsumverweigerung tritt also eine strenge Keuschheitspolitik. Sie verbieten sich Cafés, Diskotheken und alle anderen Orte mit Alkoholausschank, an denen sich Männer und Frauen begegnen. Geduld, strenge Befolgung der religiösen Pflichten, die Nachahmung des Propheten, seines Bartes, seiner Kleidung und seines Benehmens, werden zum kategorischen Imperativ angesichts einer zerrütteten Gesellschaft voller Versuchungen. Die Wohnung ist nur spärlich möbliert, die Kleidung einfach, ebenso die Nahrung und andere Einkäufe; nichts wird zur Schau gestellt. Sie begnügen sich also mit einer Art freiwilliger Armut, die durchaus an das Armutsgelübde christli19 Vgl. Dominique Schnapper: La communauté des citoyens, Paris 1994, und D. Schnapper: La France de l’intégration: Sociologie de la nation en 1990, Paris 1991. 20 Vgl. Farhad Khosrokhavar: L’islam des jeunes, Paris 1997.

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278 | Moussa Khedimellah cher Mönchsorden erinnert. Diese Armut wird von einer ausgefeilten Argumentation auf Grundlage des Korans und prophetischer Worte unterstützt; dennoch fällt auf, dass die religiöse Einstellung hier genau die prekäre Lebenslage rechtfertigt, ja empfiehlt, die sie vor ihrer Bekehrung verabscheuten, dass sie also sehr dazu beiträgt, ihre Ausgrenzung von der Gesellschaft zu akzeptieren. Auch die Ernährung wird überprüft. Zum klassischen Verbot von Alkohol und Schweinefleisch treten noch strengere Einschränkungen wie das Verbot von jeglichen Produkten auf Fleischbasis, und seien es nur Tierfette und Gelatine. Dieser Prozess erreicht seinen Gipfel darin, dass sie methodisch unzählige chemische Substanzen auswendig lernen, die Nahrungsmitteln zugefügt werden, wie Farb- und Konservierungsstoffe, E 311, E 403 usf. Hier überschneiden sich die Logiken religiöser Nahrungstabus und andere Logiken des Zeitgeists, die transgenen Mais, hormonbehandeltes Hühnerfleisch und BSEverdächtiges Rindfleisch auf den Index setzen. Die strengen Vorschriften sind als Ausdruck des Wunsches zu verstehen, den Körper zu reinigen – eine notwendige Vorbedingung der moralischen Reinheit, wie sie sagen. Sie fühlen sich der Kultur ihrer Herkunftsländer entfremdet und werden in Frankreich als Bürger der »zweiten Zone«21 betrachtet. So sehen sie ihr Heil allein in einer zur Schau gestellten islamischen Identität, die das Problem der doppelten nationalen Nichtmitgliedschaft löst: Ihre herausfordernde Erscheinung hat immerhin den Vorteil der Ersichtlichkeit. Schließlich und endlich lässt sich die neue Lebensweise der Aktivisten auch daran beobachten, wie ihre Weltsicht ins Körperliche übersetzt wird. Waren die Werte zuvor vielfältig und brüchig, so werden nach ihrem Beitritt zur Tabligh plötzlich die Welt, der Körper und alle Handlungen an strengen Normen ausgerichtet. Gott und der Teufel bilden eine dichotomische Sicht des Universums, die man auf der Ebene des Körpers als Gegensatz von rechts und links wieder findet. Alles was rechts ist, ist rein und gottgefällig, alles was links ist, verweist auf die dämonischen Seiten des Menschen. So hört der Aktivist auf, sich mit der Linken zu ernähren, und isst nur noch mit der Rechten. Der linken Hand ist es fortan vorbehalten, die Teile des Körpers zu reinigen, die als schmutzig gelten, wie die Ohren, Füße, Körperöffnungen usf. Rechte und Linke verweisen zudem über diese Lesart des Körpers hinaus auf die Gegensätze zwischen Gut und Böse, Rein und Unrein, Gesund und Ungesund …

Ausblick Die »khourouge«, die Missionsreise nach Indien und Pakistan, verleiht den Aktivisten eine doppelte Weihe: zum einen die institutionelle der lokalen und regionalen Zentren der Bewegung, und zum anderen an der Basis die der anderen Aktivisten, die sich vor Ort in der Tabligh engagieren. Diese doppelte Anerkennung verleiht dem Jugendlichen, der die höchstrangige »khourouge« vollbracht hat, zum einen den Status des »inthronisierten« Aktivisten aufgrund der Tatsache, dass diese »khourouge« von vier Monaten ins Land des Ursprungs der Bewegung, an das Grab des Gründers, 21 Vgl. Jean Leca: »Une capacité d’intégration défaillante«, in: Esprit 6 (1985), S. 9-23.

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Die jungen Prediger der Tabligh-Bewegung in Frankreich | 279 als eine Art interne »Wallfahrt« der Tabligh betrachtet wird. Er erhält daher offiziell die Rangbezeichnung eines Ältesten oder, wie Felice Dassetto es nennt, »echten Tablighi«.22 Der »harte Kern der Tabligh« wird in der Regel von solchen Ältesten gebildet. Zum anderen verbessert der Aktivist seinen gesellschaftlichen Status vor Ort: Er symbolisiert ein wichtiges moralisches Kapital und wird darum von den jungen Muslimen seiner Umgebung respektiert. Unsere Erfahrung zeigt, dass dieses lokale Prestige ihm einen zentralen Platz in der Gemeinschaft verschafft. Die Ältesten werden von den jüngeren Anhängern auf Missionsreisen um Rat in religiösen Angelegenheiten wie der Predigt gebeten, aber auch bei ganz anderen Fragen des gesellschaftlichen Lebens. Wer nach Indien und Pakistan ging, wird zum »Experten« der Verkündung und gewinnt dadurch so sehr an Ansehen, dass er oft zum Fürsprecher der jüngeren Tablighis und darüber hinaus allgemein der jungen Muslime gegenüber staatlichen Behörden wie dem Ratshaus, der Polizei und der Präfektur und ebenso gegenüber den Verwaltungsinstanzen der Moscheevereine wird. Sie sammeln also moralisches Kapital in der örtlichen Gemeinschaft an und stellen eine neue Machtbalance in Stadtgebieten mit hohem Zuwandereranteil her. Der örtliche Zweig der Tabligh spielt trotz des Widerstands der Behörden eine herausragende Rolle in Zonen mit hoher Verbrechensrate. Der Islam wird zum Bollwerk gegen Verbrechen und Drogenabhängigkeit, da die jungen Tablighis Devianz im Namen der Religion verurteilen. Desgleichen wird, wiederum im Namen der Religion, zur Arbeit ermuntert. Kurz, verschiedene gesellschaftlich erwünschte Verhaltensweisen werden als religiöses Gebot validiert. Die jungen Aktivisten werden also aufgrund ihres religiösen Ansehens zu Vermittlern zwischen einer verletzten und potentiell gewalttätigen Jugend und den Behörden. Man profiliert sich vor Ort auf dem Weg zu Bildung neuer Eliten. Die in Frankreich sozialisierten jungen Aktivisten entdecken ihre Neigung zur Spiritualität in einer westlichen Welt, der es an Sinn fehlt. Damit glauben sie etwas Gutes zur Gesamtgesellschaft auf dem Weg der Globalisierung beitragen zu können. Gewisse Verbote berühren sich mit weiter verbreiteten ökologischen Bestrebungen wie dem Wunsch nach gesunder Ernährung und mehr Tierschutz. Darüber hinaus bleiben sie dem sehr modernen Grundsatz des Gründers Muh.ammad Ilyâs treu, sich nicht in die Politik einzumischen – also der Trennung von Religion und Politik. Das erklärt vielleicht auch, warum diese Bewegung so lang überlebt hat und heute nicht nur im Internet sehr präsent ist, sondern ihr Netzwerk über die gesamte Welt ausdehnen konnte. Unsere Gespräche haben auch gezeigt, dass diese Jugendlichen den Islam als sich globalisierende Kultur leben, die »den Sinn der Praktiken«23 durch eine »totale Reislamisierung« des Selbst im Herzen der Tabligh-Gemeinschaft neu ordnet, in der »die gemeinschaftliche Dimension der Aktivitäten vorrangig« ist.24 22 Vgl. Felice Dassetto: La construction de l’islam européen: Approche socio-anthropologique, Paris 1996. 23 Vgl. Jocelyne Césari: Etre musulman en France: Associations, militants et mosquées, Paris 1994, S. 26. 24 Vgl. Gilles Kepel: Les banlieues de l’islam: Naissance d’une religion en France, Paris 1987, S. 200 und 207.

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280 | Moussa Khedimellah Das Engagement in »dieser freiwilligen Gruppierung der religiösen Intensität«25 gestattet es dem Selbst, sich mittels gruppenbildender Ideale wie der Nachahmung des Propheten, der Abwehr des Bösen und des Aufrufs zum Guten neu zu konstituieren. Es ist eine »Radikalkur«26 durch radikale Religiosität im Herzen einer asketischen Ordnung, die Sicherheit angesichts der Versuchungen und Gefahren der Vorstadt im Besonderen und der Welt im Allgemeinen verspricht. Diese Ordnung schützt die verletzte Identität, indem sie dem Selbst ermöglicht, sich ganz zu resozialisieren und gegen die gesellschaftlichen Übel zu wappnen. Das fällt, wie ausgeführt, bei einer Reihe von Punkten mit Modernität zusammen. Es scheint sich also zu bestätigen, dass der Einstieg und Einsatz bei der Tabligh-Bewegung einen Augenblick des Übergangs für die sozio-religiöse Identität darstellt. Die Tabligh würde damit als »intermediäre Struktur der Resozialisation«27 die Rolle eines Ortes spielen, an dem sich das Selbst wiederherstellt. Die Erfahrung der Transzendenz reißt die jungen in der Bewegung engagierten Männer aus ihrem niederschmetternden Alltag und gewährt ihnen »Zugang zur moralischen Verpflichtung«.28 Sie gestattet den Missionaren, ihr Selbstverständnis in »Räumen der Authentizität, aus denen das Nichtauthentische verbannt ist«, neu abzustützen. Durch das Heilige haben sich diese Jugendlichen entschossen, sich für diese Predigtbewegung einzusetzen, und sie scheinen dadurch die verlorene Würde einer Identität wiedergefunden zu haben, die zwischen den beiden Ufern des Mittelmeers hin und her irrte. Wir möchten uns daher Olivier Roy anschließen,29 der die Ansicht vertritt, dass diese jungen Muslime nicht Gegner der Moderne sind, wie westliche Gesellschaften oft denken, sondern deren Produkt und, mehr noch, als gesellschaftliche Akteure tüchtige Produzenten von Moderne. Aus dem Französischen übersetzt von Andreas Hüllinghorst

25 Vgl. Jean Seguy: »Groupements volontaires d’intensité religieuse dans le christianisme et l’islam«, in: Archives des sciences sociales des religions 100 (1997), S. 47-60. 26 Vgl. Gilles Kepel: Les banlieues de l’islam: Naissance d’une religion en France, Paris 1987, S. 196. 27 Vgl. Chantal Saint-Blancat: L’islam de la diaspora, Paris 1997, S. 158. 28 Vgl. Danièle Hervieu-Léger: La religion pour mémoire, Paris 1993, S. 98. 29 Vgl. Olivier Roy: »Quel archaïsme?«, in: Autrement 95 (1987), S. 207-213 (= Sonderheft »Islam, le grand malentendu« in der Reihe »Mutations«), und jetzt die Überlegungen von Yoginder Sikand: The Origins and Development of the Tablighi Jama’at (1920-2000): A CrossCountry Comparative Study, New Delhi 2002.

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Muslimische Frauen und öffentliche Räume | 283

Muslimische Frauen und öffentliche Räume: Jenseits des Kopftuchstreits Sigrid Nökel Verschiedene Ereignisse haben jüngst das Kopftuch muslimischer Mädchen und Frauen ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit katapultiert: die rigorose Verbannung des Kopftuches aus französischen Klassenzimmern, die mit dem Prinzip des Laizismus begründet wurde, und das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts zum Kopftuch auf den Häuptern von Lehrerinnen im Beamtenstand, das im Vergleich dazu weich und uneindeutig erscheint. Tatsächlich hat das höchste Gericht die Entscheidungsmacht den einzelnen Bundesländern überantwortet und damit »Kopftuchdiskurse« auf den verschiedensten politischen, juristischen und zivilgesellschaftlichen Ebenen angeregt. Bereits in früheren Jahren hatten verschiedentlich Kopftuch tragende Lehrerinnen über untere juristische Instanzen versucht, einen Anspruch auf Verbeamtung geltend zu machen. Die ihnen gewidmete öffentliche Aufmerksamkeit war stets bescheiden und beschränkte sich auf Randnotizen im inneren Teil regionaler, zuweilen auch überregionaler Tageszeitungen. Erst durch Einschaltung des Bundesverfassungsgerichts und dessen nur knapp mehrheitliche Entscheidung gegen ein generelles Verbot erfolgte ein bedeutsamer Schritt: Die »Kopftuchfrage« ist nun nicht mehr nur eine Angelegenheit von privatem oder begrenztem, sondern von öffentlichem und damit allgemeinem Interesse. Die Urteilsbegründung wie die prompte Kommentierung in der Medienmaschine haben deutlich gemacht, dass das Kopftuch Kernfragen der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung berührt wie Gleichheit, Religionsfreiheit, Verteilungsgerechtigkeit, Inklusion und Anerkennung. Das muslimische Kopftuch von Staatsbeamtinnen wirft die Frage auf, inwieweit der soziale Konsens auch ein interkultureller zu sein habe und somit neu zu bestimmen sei. Im deutlichen Widerstreit liegt dabei eine kulturelle Eigenheiten betonende Perspektive mit einer vorgeblich kulturneutralen Perspektive, welche kulturelle Eigenheiten verneint und sich an einem modern-säkularen Wertekanon orientiert, der Individualismus, Gleichheit und instrumentelle Vernunft privilegiert.1 Es sind diese strittigen Punkte des gesellschaftlichen Selbstverständnisses, die politische Akteure, Medien und engagierte Bürger in nachhaltige Debatten um das Kopftuch und die wachsende Präsenz des Islam im öffentlichen Raum verstrickt haben und das Thema in den Mittelpunkt des öffentlichen »metatopologischen Raumes«2 rücken ließen. Somit hat eine muslimische Frau, Fereshta Ludin, erfolgreich die seit Jahren unentschieden im Raum stehende »Kopftuchfrage« auf die öffentliche Bühne gebracht und einen breiten Diskurs entfacht. Man kann diese Angelegenheit als beispielhaften 1 Vgl. die detaillierten Ausführungen bei Charles Taylor: »Modernity and the Rise of the Public Sphere«, in: The Tanner Lectures on Human Values 14 (1992), S. 205-260, sowie Wolfgang Kaschuba: »Kulturalismus: Kultur statt Gesellschaft«, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 80-95. 2 Vgl. Taylor: »Modernity and the Rise of the Public Sphere«, S. 228f. Vom abstrakten metatopologischen Raum unterscheidet Taylor topologische, also konkrete abgegrenzte Räume.

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284 | Sigrid Nökel Fall für das gelungene Funktionieren der liberalen Gesellschaft sehen, bei der die Bürger sich für ihre Interessen, Rechte und Bedürfnisse im Zusammenspiel mit politischen Entscheidungen und Instanzen einsetzen und das zivile Gegengewicht zur politischen Macht bilden.3 Allerdings ist vielfach bezweifelt worden, ob diese Sicht den gesellschaftlichen Realitäten gerecht wird. Insbesondere entzündet sich die Kritik an der zugrunde liegenden Dichotomie zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre. Das Konzept des öffentlichen, als politisch verstandenen Raumes basiert auf der Abgrenzung zwischen dem, was als Gegenstand von allgemeinem Interesse bestimmt wird, der öffentlich verhandelbar ist, und dem, was als privat gilt und darum von öffentlicher Verhandlung und Regulierung ausgeschlossen wird. Dazu zählt an hervorragender Stelle das Familiäre und Eigennützige. Diese Dichotomie, die unter anderen auch von Peter von Moos als eine Konstellation »asymmetrischer Gegenbegriffe«4 begriffen wird, führt dazu – um es hier sehr verkürzt auf den Punkt zu bringen –, dass nur bestimmte Inhalte und Interessen den Eingang in die Verhandelbarkeit des metatopologischen Raumes finden, während andere von vornherein als ›privat‹ oder unerheblich abgewiesen werden. Formen der öffentlichen Aushandlung, die den anerkannten Formen nicht entsprechen, also nicht auf Bildung von kollektiven Akteuren, Anschluss an Netzwerke und öffentlichen Diskursen beruhen, finden in diesem starren Konzept kaum Beachtung.5 Im Rahmen dieses Aufsatzes setze ich mich nicht mit dieser sehr komplexen theoretischen Debatte auseinander. Vielmehr zeige ich von der empirischen Seite her, dass es noch andere Bühnen und Politiken der öffentlichen Aushandlung gibt, die im Schatten dieses theoretischen Zuschnitts und der Definition des realen Politischen stehen und daher, so sie überhaupt wahrgenommen werden, als unbedeutend abgetan werden. Seit mindestens einem Jahrzehnt führen, jenseits der breiten Aufmerksamkeit, muslimische Frauen Auseinandersetzungen um Anerkennung und die Präsenz des Islam in öffentlichen Räumen. In Form und Ausdehnung sind sie mit dem Alltagsleben verknüpft. Sie entfalten sich in begrenzten topologischen Räumen des Alltags, in denen Akteure sich nicht oder nicht nur im rationalen Diskurs begegnen. Und sie entfalten sich in »kleinen« metatopologischen Räumen, nämlich in lokalen Diskursforen. Dabei entsteht die Frage, ob es nicht jene »kleinen«

3 Vgl. z.B. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Darmstadt und Neuwied 1962; Taylor, »Modernity and the Rise of the Public Sphere«. 4 Vgl. Peter von Moos: »Die Begriffe ›öffentlich‹ und ›privat‹ in der Geschichte und bei den Historikern«, in: Saeculum 49 (1998), S. 161-192. 5 Vgl. z.B. Stanley I. Benn/Gerald F. Gaus: »The Liberal Conception of the Public and the Private«, in: S.I. Benn/G.F. Gaus (Hg.), Public and Private in Social Life, Kent, OH 1983, S. 3166; Jeff Weintraub/Krishan Kumar (Hg.): Public and Private in Thought and Practice: Perspectives on a Grand Dichotomy, Chicago/London 1997; Andrew Light/Jonathan M. Smith: The Production of Public Space, Lanham, MD 1998; Craig Calhoun (Hg.): Habermas and the Public Sphere, Cambridge, MA 1992; Karen V. Hansen: »Rediscovering the Social: Visiting Practices in Antebellum New England and the Limits of the Public/Private Dichotomy«, in: Jeff Weintraub/Krishan Kumar (Hg.), Public and Private, S. 268-302.

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Muslimische Frauen und öffentliche Räume | 285 Formen und Foren sind, in denen öffentliche Aushandlungen nachhaltig erfolgen und in denen sich die Idee von der liberalen Gesellschaft praktisch umsetzt. Ich beziehe mich im Folgenden auf jene Frauen und Mädchen, die zumeist, wenn auch nicht ausschließlich, zur zweiten Generation der Arbeitsimmigranten aus muslimischen Ländern gehören, die den Islam in einer modernen Variante für sich als progressive Kraft entdeckt haben, die überzeugte Kopftuchträgerinnen sind, aber zugleich berufliche Karrieren verfolgen.6 Wäre da nicht das Kopftuch, so hätten weder Verteidiger der Werte des Abendlandes noch Verfechter einer political correctness Vorbehalte, sie als Ikonen einer gelungenen Integration zu feiern. Für die jungen Frauen und Mädchen hingegen ist Integration erst gelungen, wenn sie mit ihrem doppelten Anspruch von, um es hier schlagwortartig so zu nennen, »Karriere plus Kopftuch« Anerkennung und Respekt finden, wenn also Anerkennung und Respekt gleichermaßen ihr Anders- und ihr Gleichsein einschließen. Sie folgen der Vision einer gerechten multikulturellen Gesellschaft und hängen der Vorstellung einer modernen Gesellschaft an, die sich aus authentischen und damit notwendigerweise unterschiedlichen Individuen zusammensetzt.7 Für die jungen Frauen und Mädchen existiert allerdings ein Dilemma: Was ihnen Authentizität verschafft, und das tut für sie eine religiöse Lebensweise, die das Tragen des Kopftuches einschließt, ist stigmatisiert. In der Einwanderungsgesellschaft wird das Kopftuch weitgehend gleichgesetzt mit (Selbst-)Marginalisierung und (Selbst-)Abwertung, und zwar sowohl des weiblichen Geschlechts wie einer ganzen Bevölkerungsgruppe. Die »Wahl-Musliminnen« der zweiten Migrantengeneration versuchen nun, diese Vorstellungen »umzudrehen« und ihr eigenes, aus der Reflexion ihrer bikulturellen Biographien gewonnenes Selbstverständnis sichtbar zu machen. Um ihre Lebensentwürfe zu verwirklichen, haben sie spezifische Öffentlichkeitspolitiken entwickelt. Diese Politiken sind unmittelbar in den Alltag eingebettet und werden von einzelnen Personen in ihrem persönlichen sozialen Umfeld betrieben.8 Wegen ihrer lokalen Begrenzungen bezeichne ich sie als Mikropolitiken. Nur

6 Ich stilisiere hier bewusst und verweise auf ausführliche Erörterungen in Sigrid Nökel: Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam, Bielefeld 2002. Zweifellos handelt es sich nur um eine spezifische Gruppe neben vielen anderen, darunter jenen, die sich als nichtreligiös bezeichnen, und wieder anderen, die ein stärker traditionelles Verständnis haben. Zu den Letzteren vgl. Armando Salvatore/Schirin Amir-Moazami: »Religiöse Diskurstraditionen: Zur Transformation des Islam in kolonialen, postkolonialen und europäischen Öffentlichkeiten«, in: Berliner Journal für Soziologie 12 (2002), S. 309-338. 7 Vgl. Georg Stauth: Authentizität und kulturelle Globalisierung, Bielefeld 1999, und Thomas Noetzel: Authentizität als politisches Problem, Berlin 1999. 8 Die folgenden Beschreibungen basieren auf einer empirischen Studie aus den 90er Jahren, als das Phänomen der selbstbewussten Kopftuchträgerinnen noch relativ neu und unbekannt war und in keiner Weise breit diskutiert wurde. Grundlage dieser Studie waren mehr als ein Dutzend biographische Narrative von sich als religiös definierenden Frauen und Mädchen der zweiten Migrantengeneration zwischen etwa 18 und 28 Jahren. Durch die breiten biographischen Darstellungen in Kombination mit teilnehmenden Beobachtungen

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286 | Sigrid Nökel in begrenztem Maße stützen sie sich auf Diskurse; ihre bedeutendere Form liegt in der visuellen Präsenz als moderne Muslimin, darin, dass man durch die Körpersprache und praktisches Handeln in alltagsweltlichen Feldern zeigt, wer man ist. Kennzeichnend für alltagsweltliche Mikropolitiken ist, dass die Akteure nur gelegentlich und eher spontan versuchen, kollektiv zu handeln; etwaige Organisationen sind entsprechend instabil.9 Die jungen Frauen, gewissermaßen auf der Flucht vor kollektiven Zuordnungen wie den Muslimen, den Migranten, den Türken etc., verstehen sich als individuelle Akteure und handelnde Subjekte. Als solche sehen sie sich in der Verantwortung, ihre persönliche Identität wie ihren eigenen Lebensstil zu entwickeln und zu verteidigen. Sie folgen den gesellschaftlichen Vorstellungen von der Ausbildung eines authentischen Selbst und nehmen darum über die bloße Anpassung an die Aufnahmegesellschaft hinaus die Herausforderung an, die durch ihre spezifische Biographie – Zuwanderung und Religiosität – gegebenen Eigentümlichkeiten herauszuarbeiten. Sie machen die Frage der persönlichen Identität zur öffentlichen Frage. In komplexer Weise überschneiden sich Privates und Öffentliches, Individuelles und Kollektives mehrfach. Im Zuge des »Kopftuchstreits« erfolgt eine radikale Umordnung von individuellen praktischen Mikropolitiken hin zu rational durchgearbeiteten, sich auf Recht und Moral gründenden Diskursen. Die damit verbundenen Effekte sind noch nicht klar abzusehen; auf diesen Punkt komme ich am Ende dieses Aufsatzes zurück. Im Mittelpunkt stehen die subjektiven Akteure und ihre Mikropolitiken, die vor und jenseits der politisch-institutionellen Zurichtung infolge des mega-öffentlichen Ereignisses existieren. Ich stelle ausgewählte Fälle und Situationen vor, die aber trotz der persönlichen Färbung keine Ausnahmefälle und -situationen sind, sondern in repräsentativer Weise Handlungshorizonte aufscheinen lassen.

Islamische Frauen als Teilnehmerinnen an öffentlichen Diskursen Ich beginne mit den Mikropolitiken, die dem dominierenden Verständnis von öffentlichem Handeln als diskursivem Handeln nahe kommen, ohne aber feste Strukturen kollektiver Interessenvertretung aufzuweisen. Die jungen Frauen, die ich im Rahmen der Studie kennen gelernt habe, sind ist es möglich, die religiösen Einstellungen in ihren vielfältigen Interaktionen mit den lebensweltlichen Strukturen zu sehen. Im Rahmen dieses Artikels präsentiere ich einige Ausschnitte. Vgl. dazu Nökel: Die Töchter der Gastarbeiter. Vgl. auch folgende Arbeiten, die zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen: Gritt Klinkhammer: Moderne Formen islamischer Lebensführung, Marburg 2000, und Yasemin Karakas¸ oglu,: Religiöse Orientierungen und Erziehungsvorstellungen: Eine empirische Untersuchung an türkischen Lehramts- und PädagogikStudentinnen, Frankfurt am Main 1999. 9 Einige Theoretiker halten die Bildung von kollektiven Akteuren für eine Grundvoraussetzung »wirklicher« öffentlicher Akteure, vgl. z.B. Shmuel N. Eisenstadt: Paradoxes of Democracy, Washington, D.C./Baltimore, 1999; Nancy Fraser: Widerspenstige Praktiken: Macht, Diskurs und Geschlecht, Frankfurt am Main 1994. ^

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Muslimische Frauen und öffentliche Räume | 287 überwiegend nicht fest in islamische Organisationen eingebunden. Zwar nehmen alle für eine gewisse Zeit – vor allem am Anfang, wenn sie den Islam für sich entdecken, Wissen erwerben und andere Frauen mit der gleichen Interessenlage kennen lernen wollen – häufiger an Veranstaltungen von islamischen Gruppen teil, doch schließen sie sich ihnen zumeist nicht auf Dauer an. Nur einige haben eine Art »Stamm-Moschee«, in der sie regelmäßig tätig sind, soweit es ihre Ausbildung oder Arbeit zulässt, und zwar meist in Mädchen- oder Frauengruppen. Wenn sie zum kleinen harten Kern einer solchen, in der Regel wenig stabilen Gruppe gehören, bereiten sie zuweilen Diskussionen vor oder organisieren Wochenendtreffen für Mädchen, die mehr über den Islam wissen wollen; diese Treffen werden manchmal »da’wa«-Wochenende genannt, nach dem arabischen Wort da‘wa – »Aufruf [zum Islam]«. Über die Moschee-Anbindung und die ethnische bzw. nationale Abstammung hinweg können lose lokale Frauennetzwerke entstehen. Diese Netzwerke werden bei Bedarf mobilisiert, wenn es gemeinsame Interessen zu verteidigen gilt, wenn also beispielsweise besondere Schwimmbadzeiten für Frauen – auch für nichtreligiöse Frauen! – in öffentlichen Hallenbädern mit den zuständigen Stellen der örtlichen Verwaltung auszuhandeln sind. Hier bestehen Wirtschaftlichkeitszwänge, d.h. der Zulauf muss groß genug sein, um entsprechende Arrangements treffen zu können. Das wäre ein klassischer Fall von kollektiver Interessenaushandlung auf der kommunalpolitischen Ebene. Allerdings zeigt sich in anderen Zusammenhängen immer wieder, wie sehr die Gesamtheit der muslimischen Frauen durch Alters- und Bildungsunterschiede sowie ihre Vorstellungen vom Islam und seiner normativen Bedeutung gespalten ist. Die selbstbewussten Kopftuchträgerinnen der zweiten Generation wollen anti-traditionell ausgelegte islamische Prinzipien mit ihren modernen und emanzipatorischen Lebensentwürfen verbinden. Ihre beruflichen Ziele und ihr Selbstverständnis als gleichberechtigte Bürgerinnen führen sie, ob sie wollen oder nicht, in öffentliche Arenen im topologischen Sinne. Dort sind sie gezwungen, ihr »fremdes« Erscheinungsbild zu legitimieren und Politiken der Selbstrepräsentation zu betreiben. Sie selber fühlen sich verpflichtet, ihre Motive und Gründe darzulegen und transparent zu machen, also andere, wie sie häufig formulieren, »über den Islam aufzuklären«. Hin und wieder werden für diese Aufklärungsarbeit die öffentlichen Medien genutzt. Einzelne der mir bekannten Frauen haben sich zum Beispiel in TV-Talkshows einem breiteren Publikum gestellt, um ihre persönlichen Motive für die Wahl des Islam als Form weiblicher Würde darzulegen, oder sie haben zu diesem Zweck Presseinterviews gegeben. Allerdings wurden sie in der Regel enttäuscht: Das Publikum, sagen sie, habe ihre Motive nicht begriffen, vielleicht auch nicht begreifen wollen, oder ihre Rede verdreht. Darum ziehen sie nun Dialoge mit kleinen interessierten Gruppen vor, Schulklassen zum Beispiel oder lokalen Initiativen des christlich-islamischen Dialogs. Häufig erhält eine Frau aufgrund ihres persönlichen Kontakts zum Veranstalter eine Einladung. Per Telefon oder bei einem informellen Treffen sucht sie daraufhin nach weiteren Teilnehmerinnen. Die Frauen sprechen sich untereinander ab, wer »dieses Mal geht«. Häufen sich Veranstaltungen dieser Art, tritt eine gewisse Müdigkeit ein. Die Teilnahme an diesen Veranstaltungen wird dann – ich beziehe mich hier auf eine konkrete Situation aus der Feldforschung – als eher

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288 | Sigrid Nökel lästige und auch langweilige Pflicht empfunden, bei der, einem Ritual gleich, schon vorhersagbar immer die gleichen Antworten auf die immer gleichen Fragen folgen. Trotzdem, so argumentiert eine junge Frau, die beruflich ziemlich eingespannt ist, nehme sie möglichst jedes Mal teil, weil sie nicht wisse, wer sonst hingehe. Für sie ist am wichtigsten, dass die Repräsentantinnen des Islam ihre Argumente in gutem Deutsch und beredt vortrügen. Sie erzählt von Veranstaltungen, bei denen sie am liebsten in den Boden versunken wäre, weil weniger routinierte Frauen, die erst seit kurzem im Deutschland lebten, sich vom Zwang des Diskurses haben hinreißen lassen und bereits Gesagtes in mangelhaftem Deutsch wiederholten, obgleich die Argumente längst erschöpft waren. Auch wenn die Teilnahme für sie persönlich keinen Gewinn mehr bedeutet,10 werden solche Dialoggespräche ernst genommen als wichtige Bühnen für die Selbstdarstellung des weiblichen islamischen Subjekts – eines Subjekts, das weiß und darlegen kann, warum es gerade diese Religion gewählt hat, das die Position des Anderen kennt und die Regeln des kommunikativen Austausches meistert. Hier ist sozusagen ein Raum des Austauschs unter Gleichen. Mindestens ebenso wichtig wie das Wort ist die persönliche Präsentation als muslimische, aber selbstbewusste und sozial kompetente Frau, die den öffentlichen Auftritt beherrscht. Bevorzugt werden Diskussionen unter Frauen, aber auch gemischtgeschlechtliche Ereignisse dieser Art sind nicht selten. Man stellt sich auf die Gastgeber ein; von Nichtmuslimen wird ohnehin keine Geschlechtersegregation erwartet, viele Veranstaltungen würden wegen mangelnder Teilnehmerzahl sonst gar nicht zustande kommen. Wenngleich manche der Frauen an gemischten Gesprächsrunden nur ungern teilnehmen, weil sie es für unschicklich oder unangenehm halten, fühlen sie sich auch hier zur Teilnahme verpflichtet. Dabei schwingt das Motiv mit, einer wenn auch kleinen Öffentlichkeit zu zeigen, dass auch Frauen über solide Islamkenntnisse verfügen, dass es hinsichtlich des Wissens keine geschlechtsspezifischen Unterschiede gibt. Sie stellen damit ihre Auffassung eines modernen Islam unter Beweis, in dem die Frauen nicht marginalisiert werden. Frauen, so ihre Botschaft, sind nicht nur Konsumenten oder gar Opfer eines patriarchalisch organisierten Islam, sondern setzen sich mit ihm intensiv und aus eigenem Antrieb auseinander und sind in dieser Hinsicht gleichgestellt mit Männern; sie sind gleichberechtigte Partner in Bezug auf Wissen, Reflektion und Weltanschauung. Darum nehmen diese Frauen auch an gemischtgeschlechtlichen Tafsir-Treffen, also Runden zur Koranexegese teil, die meist von gehobeneren Bildungsschichten besucht werden. Zwar ist die gemeinsame Teilnahme von Frauen und Männern auch darauf zurückzuführen, dass der Besucherkreis klein ist und oft weibliche Experten fehlen, die diese Zusammenkünfte leiten könnten. Doch spielt neben praktischen Erwägungen auch die pädagogische Vorstellung eines modernen Islam eine Rolle, der die Geschlechter gleich behandelt. Auf der anderen Seite ist aber auch eine Spannung spürbar. Sie zeigt sich zum Beispiel darin, dass eine Frau, die im Kreis von Frauen stets lebhaft und selbstsicher 10 So wird oft hervorgehoben, dass man durch diese Übungen in lokalen öffentlichen Arenen an Selbstbewusstsein gewonnen habe.

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Muslimische Frauen und öffentliche Räume | 289 auftritt, sich angesichts der routinierten Moderation zweier Männer, die ihr im Übrigen wohlbekannt sind, auffällig schweigsam verhält, während ihre Körpersprache starkes Unbehagen verkündet. Als ihr Ehemann sie als »mein Stellvertreter« einführt, quittiert sie das mit einem gequälten Lächeln, denn, so mein Eindruck aus anderen Begegnungen mit ihr, sie begreift sich nicht als jemandes Stellvertreter, sondern als souveräne Person. Hier wie auch in zahlreichen anderen Situationen eröffnet sich ein Blick auf die Schwierigkeit, eine Balance zwischen sich überschneidenden islamischen Geschlechterordnungen – einer eindeutig hierarchischen in der traditionellen Lesart und einer modernen Lesart von der Gleichheit der Geschlechter – und der persönlichen Vorstellung vom Selbst zu finden. Die Frauen selber, alle im koedukativen Schulsystem aufgewachsen und an Diskussionen mit männlichen Personen gewöhnt, sind in dieser Hinsicht hochsensibel und befangen. Sie zeigen eine gewisse Nervosität und bezeugen durch stille Ironie und verärgertes Schweigen dezent Widerstand, der nur dann deutlicher wird, wenn sie im Hintergrund der Bühne unter sich sind. Das zeigt sich auch bei internen Treffen zur Ergründung des heiligen Textes, bei denen fast immer Männer mit Wissensvorsprung zugegen sind. Wie es scheint, stehen sie nicht nur, wie Nilüfer Göle beobachtet hat,11 unter dem Druck der individuellen Selbstbehauptung, sondern auch unter dem verwandten Druck, die zählebigen Muster der symbolischen Gewalt, die »im Dunkel des Habitusschemas« nisten,12 zu überlisten und die im Zeichen des Islam stehenden Geschlechterbeziehungen durch die Arbeit des Entzifferns und Umgestaltens der operierenden »Partikel und Fragmente«13 zu reorganisieren, aus denen sich die Alltagswelt konstituiert. Ohne Frage sind die Frauen hier sensibler und drängen auf Veränderungen. Allgemein kann man sagen, dass von den Frauen eindeutig ein gemischtgeschlechtlicher schulischer Raum präferiert wird. Sie schätzen ihn im Hinblick auf das spätere Arbeitsleben als Grundbedingung für die Erzeugung von Geschlechtergleichheit. Als beispielhaft kann hier die Erzählsequenz einer jungen Frau gelten, die zusammengefasst folgenden Inhalt hat: Während ihres zweijährigen Aufenthaltes in einem islamischen Internat in der Türkei, in dem sie sich sehr wohlfühlte, habe sie Tendenzen zur Förderung homosexueller Neigungen bemerkt, weil für die Schwärmereien der jugendlichen Mädchen keine männlichen Objekte vorhanden gewesen seien, auf die sie sich hätten richten können. Ihrer Meinung nach ist das eine Form der Unterdrückung der Sexualität, die vom Islam nicht befürwortet werde. Sie erlebte eine zweijährige nahezu komplette Geschlechtersegregation, die in ihrem Falle dadurch gegeben war, dass ihre Familie in Deutschland lebte und sie bis auf die Ferien das Internat nur gelegentlich für Einkäufe mit einer weiblichen Begleitperson verließ. Bei den anschließenden Prüfungen, die extern von Regierungsbeamten abgenommen wurden, traf sie unvorbereitet auf männliche Prüflinge und Lehrer. Sie wusste nicht, wie sie sich benehmen sollte, und schnitt schlecht ab. Wieder zurück in Deutschland in einer gemischten Klasse habe sie mindestens ein Jahr zur Akklimatisierung ge11 Vgl. Nilüfer Göle: »The Gendered Nature of the Public Sphere«, in: Public Culture 10 (1997), S. 61-81, S. 73. 12 Vgl. Pierre Bourdieu: Language and Symbolic Power, Cambridge 1991, S. 96. 13 Vgl. ebd., S. 88.

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290 | Sigrid Nökel braucht. Ihr späterer Versuch, eine Nachhilfeklasse in einem Moscheeverein auf die Beine zu stellen, scheiterte an ihrem Beharren, Mädchen und Jungen nur durch die Sitzordnung zu trennen. Das deutet darauf hin, dass die Trennung der Geschlechter aus der Sicht der Frauen zwar in einem symbolischen Sinne, aber nicht aktuell erwünscht ist. Ähnliche Äußerungen anderer Frauen gehen in die gleiche Richtung. Das bei Diskussions- und Koranauslegungsveranstaltungen mit muslimischen Männern beobachtete Balance-Problem besteht in anderen Räumen nicht. So ist es nicht ungewöhnlich, dass islamische Frauen in den kommunalen Ausländerbeiräten mitarbeiten und sich, wie andere auch, auf den öffentlich aushängenden Listen mit Namen und Lichtbild zur Wahl stellen. Auch wenn dieses Ehrenamt keine Entscheidungsbefugnisse, sondern lediglich beratende Funktion hat,14 so lassen sich durch den Titel und die Institution bedeutend einfacher Netzwerke anknüpfen und Informationsressourcen erschließen.15 Es bietet immerhin ein bescheidenes Forum für die Repräsentanz weiblicher Interessen und Bedürfnisse. Hier liegt somit ein Beispiel für öffentliches Handeln im klassischen Sinne vor, indem weibliche Bedürfnisse bis zu einem gewissen Grad formuliert und vermittelt werden. Eine weitere Facette öffentlichen Handelns steht im Kontext von Institutionen. Sehr vereinzelt haben sich Fraueninitiativen als Träger für soziale Dienstleistungen rund um Schwangerschaft, Erziehung, Gesundheit und den Erwerb von Fremdsprachen für muslimische (und andere) Frauen entwickelt. Man kann hierin einen Schritt zum Aufbau einer »subalternen Gegenöffentlichkeit«16 sehen, in der eigene spezifische Bedürfnisse formuliert, verteidigt und behandelt werden, etwa wenn Frauen Frauen des eigenen kulturellen Hintergrundes beraten. Damit befreit man sich symbolisch von der übermächtigen Vorstellung der Nicht-Bürgerin und Migrantin, die der sozialen Vormundschaft bedarf.17 Über die Selbsthilfe-Organisation konstituiert sich ein Bürger-Bewusstsein. Der zentrale Punkt ist in diesen skizzierten Fällen die Einbettung in lokale Arenen und Auseinandersetzungen. Ebenso wichtig ist die damit verbundene Positionierung zwischen partikularen Interessen und einem universalen Interesse. In diesem Spiel bildet ein als progressiv verstandener Islam das Medium oder, um Ann Swidlers Formulierung aufzugreifen, den »Werkzeugkasten«,18 um sich als moralisch integre Bürgerin mit einem ausgeprägten Sinn für die öffentliche Bedürfnisse 14 Vgl. Levent Tezcan: »Kulturelle Identität und Konflikt: Zur Rolle politischer und religiöser Gruppen der türkischen Minderheit«, in: Wilhelm Heitmeyer/R. Anhut, Bedrohte Stadtgesellschaft, Weinheim/München 2000, S. 401-448. 15 Vgl. Ruth Gavison: »Information Control: Availability and Exclusion«, in: Stanley I. Benn/ Gerald F. Gaus (Hg), Public and Private in Social Life, Kent, OH 1983, S. 113-134. 16 Vgl. Nancy Fraser: »Rethinking the Public Sphere: A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy«, in: Craig Calhoun (Hg.), Habermas and the Public Sphere, Cambridge, MA 1992, S. 109-142, S. 123. 17 Vgl. Anna Yeatman: Postmodern Revisionings of the Political, New York/London 1994, S. 109. 18 Vgl. Ann Swidler: »Culture in Action: Symbols and Strategies«, in: American Sociological Revue 51 (1986), S. 273-286.

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Muslimische Frauen und öffentliche Räume | 291 innerhalb einer Gemeinschaft von Bürgern zu begreifen statt als Objekt der sozialpädagogischen Bearbeitung.

Politiken der Anerkennung in alltagsbestimmenden Institutionen Aus den Einzelbiographien zweier Frauen, die durch ihr großes Engagement, unter anderem im lokalen Ausländerbeirat, herausragen, aber ansonsten keineswegs untypisch sind, lässt sich schließen, dass die Mitgliedschaft in einer islamischen Vereinigung kein bestimmender Faktor ist. Weder Sibel K. noch Huda S. sind Delegierte einer Organisation. Wohl ist jede in der lokalen »islamischen Szene« verankert. Sibel K. mit türkischem Hintergrund hat aber keine »Heimatorganisation«, sondern pflegt lose Beziehungen zu den Frauen verschiedener Vereine in ihrer Umgebung. Zusammen mit einer Freundin steht sie muslimischen Mädchen und Frauen helfend zur Seite, wann immer Probleme z.B. mit Behörden auftauchen. Huda S., deren Eltern aus Ägypten stammen, ist sehr engagiert im arabisch-islamischen Verein ihrer Stadt, pflegt aber auch »Arbeitsbeziehungen« zu gleichaltrigen Frauen, die sich in türkischen Vereinen treffen. Hin und wieder kommt es zu gemeinsamen Veranstaltungen, etwa wenn ein so genanntes »Mädchenwochenende« in einer Moschee organisiert wird, die dazu geeignete Räumlichkeiten und einen Hoca bietet, der solche Aktivitäten schätzt. Sowohl Sibel K. wie Huda S. sind sozusagen lokale Ikonen eines modernen Islam. Beide sind gleichermaßen unzufrieden mit den männlich dominierten Strukturen in den Organisationen und kämpfen, wenngleich nicht in offenen Konfrontationen, aber unmissverständlich deutlich im weiblichen Kreis, gegen eine traditionelle Lesart des Islam und den damit verbundenen Vorstellungen über Geschlechterrollen und Geschlechterbeziehungen.19 Beide gehen jedoch trotz ihres öffentlichen und teilöffentlichen, d.h. innerislamischen Engagements in den lokalen islamischen Strukturen nicht auf, sondern vermitteln den Eindruck von einzelnen Subjekten, die auf der Suche nach intellektuellen Wahlverwandten egal welchen ethnischen oder nationalen Hintergrundes sind. Dazu gehören auch Musliminnen deutscher Herkunft, zu denen eine tiefere freundschaftliche Bindung besteht. Beide, Sibel K. und Huda S., zum Zeitpunkt der Erhebung Ende Zwanzig, verfügen über ein relativ hohes Bildungsniveau, nämlich Abitur und Fachabitur. Beide sind mehrfache Mütter und daher seit Jahren Hausfrauen. Sibel K., Kindergartenerzieherin mit mehrjähriger Berufserfahrung vor ihrer Islamisierung, versuchte seit geraumer Zeit wieder in ihren Beruf zurückzukehren. Ihre gekonnten Bewerbungsschreiben, in denen sie sich als »Managerin der Familie« beschreibt, verhalfen ihr mehrmals zu Bewerbungsgesprächen. Doch wie sie berichtet, »wenn sie mein Kopftuch sehen und feststellen, dass ich es nicht wegen der Tradition trage, sondern aus Überzeugung, schwindet ihr Interesse rapide«. Huda S., während des Abiturs zum ersten Male schwanger, wartet ungeduldig darauf, dass das jüngste Kind das Kindergartenalter 19 Wenn Huda S. z.B. ihre Tochter im vorpubertären Alter zu einem Treffen in die Moschee mitnimmt, dann lässt sie sie, auch wenn andere Frauen protestieren, kein Kopftuch aufsetzen.

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292 | Sigrid Nökel erreicht, um endlich ein Studium beginnen zu können. In den letzten Jahren arbeitete sie mal mehr, mal weniger intensiv im Betrieb ihres Ehemannes mit, aber seinem Vorschlag, einen beruflichen Weg einzuschlagen, der sie zum Geschäftspartner machen würde, stand sie trotz aller praktischer Vorteile kritisch gegenüber. Das liegt, wenn man ihre Gesamterzählung im Auge hat, weniger daran, dass sie noch nicht sicher ist, wo ihre Interessen liegen, als dass sie ein eigenes Interessen- und Arbeitsgebiet jenseits der familiären Beziehungen sucht. Beide Frauen räumen der Familie großen Wert ein. Beide nehmen ihre Erziehungsaufgaben sehr ernst und setzen sich intensiv mit Fragen der modernen Pädagogik auseinander, um selbstbewusste Kinder aufzuziehen, die »wissen, dass sie Muslime sind«. Für beide ist es aber nicht das einzige Lebensziel. Im Gegenteil, beide betrachten es als persönliche Vervollkommnung, ihre intellektuellen Kapazitäten im beruflichen Rahmen einzubringen, weniger aus materiellen Gründen, sondern um als Pädagogin, Medizinerin oder Juristin sozial nützlich zu sein. Obwohl sie durch ihre Familien ausgelastet sind, haben beide fast ein schlechtes Gewissen, ihre Ressourcen bislang weitgehend auf diesen Bereich zu beschränken. Ihr Engagement in den lokalen politischen Arenen hat somit durchaus Ersatzcharakter. Beide Frauen empfinden sich als privilegierte muslimische Frauen von intellektuellem Zuschnitt und zeigen das Bedürfnis, ihre Fähigkeiten, ihre Eloquenz, ihre Bildung und ihr Wissen sowohl mit Hinblick auf den Islam und seine stilsichere praktische Integration in den Alltag einzusetzen als auch bei Auseinandersetzungen mit bürokratischen Stellen und den verschiedenen sozialen Regelungen im Interesse (nicht nur frommer) muslimischer Frauen und Kinder. Damit sind sie an demokratischen Verteilungsprozessen und Anerkennungspolitiken beteiligt und machen von ihren Bürgerkompetenzen als muslimische Frauen Gebrauch. Zugleich zeigen sie den Unterschied zwischen einem als progressiv verstandenen Islam und einem traditionellem Islam und deren jeweiligen Frauenbildern auf. Ein derartig ausgeprägtes zivilgesellschaftliches Handeln in lokalen politischen Arenen im engeren Rahmen lässt sich nur bei wenigen Frauen finden. Offensichtlich bedarf es gewisser biographischer Voraussetzungen. So war Sibel K., bevor sie mit Anfang Zwanzig zur praktizierenden Muslimin wurde, bei den Grünen ihrer Heimatstadt aktiv und setzte sich intensiv mit Fragen der Ökologie und der sozialen Integration auseinander. Sie verstand ihr islamisches Engagement als Fortführung und Vollendung dieser Phase, in der die Anerkennung ihrer Person allerdings, wie sie nicht ohne Bitterkeit vermerkte, vor allem darauf beruht hätte, dass sie, wie andere ihr durchaus wohlwollend mitgeteilt hätten, »eine andere Türkin« sei, eine aufgeklärte Türkin, die »nicht so ist wie anderen«, also unbelastet von unbeliebten, nichtmodernen »türkischen« Traditionen und Weltauffassungen und somit deutlich unterschieden von denen, die das Objekt für das moralische Engagement abgaben. Im Rückblick resümiert sie: »Ich konnte nicht sein wie ich war!« Die Anerkennung ihrer Person habe letztlich auf ihrer Unterwerfung unter die Kontrolle und Wertsetzung der Anderen basiert und sei mit einer dauernden Furcht verbunden gewesen, den Kriterien der Anderen nicht mehr zu genügen und in die schlechtere Kategorie zurückzufallen. Als sie das Kopftuch zu tragen begann, kam es zum Bruch: Ihre früheren Freunde, die bewusst Wohnungen mit türkischer Nachbarn gewählt hatten,

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Muslimische Frauen und öffentliche Räume | 293 mochten ihre Ängste vor rechtsradikalen Angriffen nicht verstehen: Warum trage sie auch ein Kopftuch? Trotzdem sind ihre politischen Techniken – Selbstaffirmation, kulturelle Authentizität, Engagement für Gemeinwohl und Minderheit – in dieser Phase geformt worden, in der sie auch langsam begonnen hat, sich mit dem Islam auseinander zu setzen. Letztlich war es für sie nur ein Schritt vom Umweltschutzpapier zum Kopftuch. Die Eltern von Huda S. stammen aus der gebildeten ägyptischen Mittelschicht und waren als junges Ehepaar dem Angebot des deutschen Arbeitgebers des Vaters gefolgt, eine Stelle im deutschen Mutterwerk anzunehmen. Erst hier begannen sie sich, wie die Tochter mutmaßt, aus einem »Kulturschock« heraus als Muslime zu begreifen und sich den Islam auf eine intellektuelle Art anzueignen, die auch auf sie abfärbte. Durch die Heirat wurde sie zum Mitglied einer lang ansässigen ägyptischen Arztfamilie in einer Kleinstadt und gehört zur etablierten lokalen gutbürgerlichen Schicht. Ausgrenzungserfahrungen aufgrund ihres Kopftuches hat sie nie gemacht, was sie auf ihr selbstbewusstes Auftreten zurückführt. Ihr politisches Engagement speist sich aus zwei Quellen: Erstens fühlt sie sich veranlasst, einen Kampf gegen die Gleichsetzung des Islam in Deutschland mit einem Islam türkischer Traditionen niedriger sozialer Schichten und einer hierarchisierten Geschlechterordnung führen. Darin unterscheidet sie sich von Sibel K. keineswegs. Ihre eigenen Erfahrungen mit türkischen Muslimen oder überhaupt Türken sind nur begrenzt. Als Jugendliche besuchte sie kurzzeitig eine Koranklasse in einer nahegelegenen türkischen Moschee, die sie aber schnell wieder verließ, weil sie bemerkte, dass mehr Wert auf »gutes« weibliches Verhalten als auf das Studium der Heiligen Schriften gelegt wurde. Das ausschlaggebende Moment war für sie, dass sie kritisiert wurde, weil sie keinen langen Mantel trug – was sie seitdem auch bewusst vermeidet. Durch eine türkische Klassenkameradin lernte sie eine türkische Familie kennen. Dort habe sie erlebt, wie islamische und pseudo-islamische Techniken wie Gebet, Kopftuch und die Kontrolle der Freizeit eingesetzt worden seien, um die Persönlichkeiten der Töchter zu deformieren, während der Sohn gleichzeitig »auf dem Motorrad durch die Gegend kurvte« und »keinerlei moralischen Halt bekam«. Hin und wieder unterhält sie sich mit ihrer türkischen Putzfrau. Deren spärliches Wissen in Bezug auf Alltagsangelegenheiten im Allgemeinen und den Islam im Besonderen überrascht und amüsiert sie. Gewiss hat sie noch andere, bessere Erfahrungen gemacht, aber es sind diese drei, die ihr Urteil bestimmen und die Bedrohung ihrer weiblichen und islamischen Identität symbolisieren. Insofern ist ihr Kampf um Anerkennung doppelseitig: Er richtet sich sowohl gegen die männliche wie auch die öffentliche Kontrolle ihrer Identität und führt sie in den Bereich des Wettbewerbs um persönliche Anerkennung, den »Kampf um Repräsentation«.20 Dass sie politische Aufgaben wahrnimmt, macht öffentlich sichtbar, welche Position sie in diesem Bereich beansprucht. In diesem Punkt sind beide Frauen unabhängig von sozialer Klasse und nationaler Herkunft identisch. Die zweite Quelle ihrer politischen Motivation ist ein Bürger-Ethos, das moralisch dazu verpflichtet, die Arbeit öffentlicher Einrichtungen zu unterstützen. An 20 Vgl. P. Bourdieu: Language and Symbolic Power, S. 221f.

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294 | Sigrid Nökel prominenter Stelle stehen hier Erziehungseinrichtungen, die Schule und der Kindergarten. Insbesondere sind es Mütter, vor allem in Kindergarten und Grundschule, die sich hier beteiligen. Frauen, die nicht nur die Schulkarrieren ihrer Kinder aktiv unterstützen, sondern ebenso auf die Übermittlung islamischer Werte und Regeln Wert legen, sehen hier eine besondere Herausforderung. Das Ziel von Huda S. ist es, ihre Kinder so zu erziehen, dass sie schrittweise in islamische Moral und Praktiken hineinwachsen, und zwar in der Auseinandersetzung mit Alltagsroutinen und Alltagshandeln und ihren Mikro-Abgrenzungen. So sollen sie zum Beispiel lernen, dass sie als islamisch erzogene Kinder Höflichkeit schätzen und nicht die Schimpfwörter der anderen übernehmen (»bei uns gibt’s höchstens mal ›blöde Kuh‹«). Sie selber wirkt in Kindergarten und Schule darauf hin, dass wenigstens gelegentlich anstelle des »parallelen« Frühstücks, bei dem jeder seine mitgebrachten Speisen verzehrt, ein gemeinsames Frühstück als Zeichen der Zusammengehörigkeit stattfindet. Ihr Ziel ist es, ihre Kinder in die Lage zu versetzen, sich als Persönlichkeiten in öffentlichen Räumen einzubringen, die selbstbewusst mit islamischen Prinzipien umgehen. Um eine Basis dafür zu schaffen, hat sie sich als Elternvertreterin in der Schulklasse ihrer Tochter zur Wahl gestellt. Pflichtbewusst widmet sie sich dieser Aufgabe und lässt keine Versammlung aus, die die Klasse und die Schule betrifft. Sie besucht auch regelmäßig den so genannten Elternstammtisch, ein informelles Elterntreffen, das in einer Kneipe stattfindet, einem Ort, den sie überhaupt nicht mag. Mit den Lehrern ihrer Kinder steht sie ständig in Kontakt. Mit diesem Engagement hat sie eine Arena zur Aushandlung islamischer Angelegenheiten geschaffen, wann immer das nötig ist. Auf der anderen Seite wird sie geschätzt als engagierte, stets hilfsbereite, um praktikable Lösungen bemühte Mutter, die sich um die Angelegenheiten ihrer Kinder ebenso wie der anderen kümmert. Ihr sehr ähnlich zeigt Sibel K. das gleiche Engagement im Kindergarten der katholischen Kirche, den ihre Kinder besuchen. Eines ihrer erklärten Ziele ist es, auf eine praktisch wirksame multikulturelle Sensibilität auch in vielen unauffälligen Kleinigkeiten hinzuwirken; so hat sie zum Beispiel erfolgreich angeregt, zu den Elterntreffen während der Weihnachtszeit neben dem üblichen alkoholhaltigen Glühwein zusätzlich Tee anzubieten. Diese Fallbeispiele zeigen, dass lokale öffentliche Räume wie Schule und Kindergarten, die das Leben der Einzelnen und des Sozialen maßgeblich ordnen, zentrale Orte des Austausches zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen sind. Über die Kinder erfolgt gleichzeitig der Zugriff auf die Mütter. In der Regel sind sie es, die die Kinder pünktlich und passend ausgestattet zur Schule schicken, dafür sorgen, dass die Hausaufgaben gemacht werden, allgemein die Bedingungen dafür schaffen, dass sie in und mit diesem Betrieb funktionieren, während andererseits stetig kontrolliert wird, ob sie die gesetzten Standards und Werte erfüllen. Die Mütter werden im Sinne Foucaults zu Agenten bei der Formierung von Staatsbürgern. Hier, im Hineinragen in die Institutionen, zeigt sich der hochgradig öffentliche Charakter von Mutterschaft.21 Bewusst muslimische Frauen wie Huda S. und Sibel K. versuchen dabei ganz gezielt, die partikularen Ansprüche mit den als universal gesetzten zu

21 Vgl. Jean Bethke Elshtain: Public Man, Private Woman, Oxford 1981.

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Muslimische Frauen und öffentliche Räume | 295 vermitteln. Ihr besonderes Engagement auch für die allgemeine Ordnung und nicht nur für partikulare islamische Interessen macht sie zu modernen zivilgesellschaftlichen Akteuren, die dem moralischen Code der Unterordnung der eigenen unter allgemeine Interessen folgen.22 Gleichzeitig erfolgt eine Rückkoppelung von den Institutionen zur Familie, also vom Öffentlichen zum Privaten. Im Rahmen der biographischen Narrative zeigt sich das zum Beispiel beim Umgang mit dem Weihnachtsfest. Als ihre Kinder sie fragten, warum sie zu Hause keinen Weihnachtsbaum hätten, erklärte ihnen Sibel K., dass sie sich als Muslime über die Geburt Jesu freuten; auch er sei ein Prophet, aber keiner, der für den Islam sehr bedeutsam wäre, so dass sie kein eigenes Fest hätten. Einen eigenen Christbaum hätten sie deshalb nicht, weil es Verschwendung von Leben (des Baumes) und Elektrizität sei. Hier treffen sich sozusagen Ökologie und Islam. Wie auch andere Frauen aus islamischen Familien beschreibt sie ihre eigenen Erfahrungen mit der Weihnachtszeit als eher bedrückend: Über vier Wochen werde eine ständig steigende Spannung erzeugt, die sich für die einen dann schließlich in der Freude über das Weihnachtsfest und die Geschenke auflöse, während die muslimischen Kinder mit nichts dastünden, sich in einem leeren Raum befänden. In Erinnerung an die eigene frühere Enttäuschung hat sie sich vorgenommen, die eigenen demnächst schulpflichtigen Kinder nicht am ersten Tag nach den Weihnachtsferien in die Schule zu schicken, wenn die Gedanken und Gespräche nur um die Weihnachtsgeschenke kreisen. Auf der anderen Seite werden ähnliche Praktiken entwickelt: Dem Adventskalender entsprechend basteln manche Frauen für ihre Kinder Ramadan-Kalender, die für jeden Abend des Ramadans eine Überraschung bereithalten, die von einem Stück Schokolade bis hin zu einem Computerspiel reicht. Auf pädagogische Weise wird damit den noch nicht zum Fasten verpflichteten Kindern Ramadan als eine Zeit der Selbstdisziplin vermittelt. Man sieht an diesen Beispielen, dass die muslimischen Frauen an den Grenzen operieren, diese Grenzen reflektieren und sie nach beiden Seiten hin vorsichtig überschreiten bzw. sich manches über die Grenze hinweg aneignen. Maßgeblich sind hierfür der Alltag und seine Interaktionen, die häufig spontane Reaktionen erfordern.

Körper und öffentliches Handeln Bislang wurden hier zwei Formen öffentlichen Handelns angeführt: die gesuchte Einbindung in Diskurse und lokale politische Arenen und die Müttern und Erzieherinnen auferlegte Einbindung in Institutionen, die öffentliche Räume bilden. Letzteres gehört, wie die biographischen Narrative darlegen, zu einem ganzen Ensemble koexistierender öffentlicher und teilöffentlicher Räume, die in gewisser Weise jeweils panoptisch organisiert sind, wenn auch nicht in der streng kalkulierten Art, die Fou-

22 Vgl. John W. Meyer/Ronald Jepperson: »The ›Actors‹ of Modern Society: The Cultural Construction of Social Agency«, in: Sociological Theory 18:1 (2000), S. 100-120.

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296 | Sigrid Nökel cault für das Gefängnis darlegt,23 sondern eher Elias’ Modell des Hofes ähnelnd.24 Demnach ist jeder dieser Räume insofern politisch, als in ihnen Regeln wirken, die Handlungen, Interaktionen, Individuen und die Verteilung von Anerkennung ordnen. Diskursive Auseinandersetzung und kollektive Anerkennungspolitiken sind dabei nur die Instrumente, die in einigen spezifischen Feldern zentral sind, während in sie in anderen eher nebensächlich sind. Nach Lofland25 sind Handeln in öffentlichen Räumen (im topologischen Sinn) und das Wissen um das jeweils angemessen Handeln in den verschiedenen lokalen Räumen zentral für die persönliche Anerkennung in modernen Gesellschaften. In der idealtypischen mittelalterlichen Stadt – die Lofland sicher zu statisch und holzschnittartig, aber dafür einprägsam als Gegenbild vorstellt – ist der Raum wenig strukturiert und weitgehend offen für alle Personen; dafür ist deren sozialer Status durch Standeskleidung auf den ersten Blick erkennbar, die Ordnung ist also sozusagen eine bewegliche. Im typologischen Gegensatz dazu ist in der Moderne der Raum klar durchstrukturiert. Er bildet eine Serie von getrennten und in sich homogenen Teilräumen, die Individuen segregieren. Jeder Raum ist nun ein besonderer sozialer Raum, in dem spezifische soziale Charaktere legitim präsent sind. Nicht mehr das äußere Merkmal der Kleidung, sondern der Habitus ist nach Lofland der primäre Identitätsmarker.26 Folgt man dieser These vom Raum als dominantem sozialem Ordnungsprinzip, so muss eine Analyse muslimischer Akteure nicht bei der Kleidung ansetzen (wenngleich Muslime wie Nichtmuslime genau diesen Aspekt hervorheben), sondern beim Raum. Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Islam, Geschlecht und Raum in Verbindung mit der Frage nach Anerkennung; genauer noch: die Frage danach, welche Beziehung zwischen den Regeln, die einen Raum beherrschen, und den darin operierenden Subjekten sowie den in ihm angelegten Anerkennungspolitiken besteht. Ausgehend von den biographischen Einbettungen junger muslimischer Frauen sind es vor allem drei Räume, die maßgeblich die Definition und Präsentation des Selbst und die Methoden der Anerkennung prägen: Schule, Universität und Arbeitsplatz. Gerade diese Räume sind charakterisiert durch die Funktion der Normalisierung bzw. Zivilisierung von Individuen. Standardisierung von Körper und Seele geht in Praktiken und Vorstellungen Hand in Hand mit Klassifizierung, Konkurrenz und Ideen des Individuellen, Einzigartigen. Aus der Sicht der jungen Frauen ist insbesondere die Schule der Ort der Identitätsbildung, der Ort, der sie als Fremde, als Anderskulturelle gegenüber sich selbst zu erkennen gibt – ein Zustand, der sich nach 23 Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1977. 24 Vgl. Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft, Frankfurt am Main 1969; Über den Prozess der Zivilisation, 2 Bde., Basel 1939, ern. Frankfurt am Main 1976. 25 Vgl. Lyn H. Lofland: A World of Strangers: Order and Action in Urban Public Space, New York 1973. 26 Zweifellos ist diese Trennung sehr grobschlächtig. Zumindest in bestimmten Situationen oder Aushandlungsphasen ist Kleidung ein gewähltes Instrument der gezielten Distinktion, aber eben als ein Additiv zum sozialen Regelwerk des Raumes.

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Muslimische Frauen und öffentliche Räume | 297 den Berichten dieser Frauen Schritt für Schritt durch den Austausch mit Anderen und durch deren Blick enthüllt und der nicht selten Scham erzeugt. Es ist aber gleichzeitig der Ort, der individuellen Fortschritt und soziale Aufwärtsmobilität ermöglicht, wenn es gelingt, das Selbst und die für den erfolgreichen Umgang mit den Institutionen erforderlichen Techniken zu meistern, einschließlich der Repräsentation eines souveränen Selbst. Allerdings entstehen, selbst wenn die Regeln erfolgreich beherrscht werden, Spannungen – Spannungen zwischen der Essenzialisierung zum muslimischen Mädchen durch die Schule, der vom Elternhaus vermittelten Kultur und einer ›öffentlichen Kultur‹ von Gleichen im Austausch. Sie machen es erforderlich, eine Balance zwischen Anpassung, Selbstdarstellung nach außen und dem tiefen inneren Selbst27 zu finden – eine Balance, die zu einer Suche nach dem authentischen Selbst und seinen wahren Bedürfnissen führt.28 Man kann von einem institutionell begleiteten, räumlich gebundenen Prozess der De-Essenzialisierung und Selbst-Essenzialisierung sprechen, der zu einer persönlichen Identitäts-Akkumulation und der Idee einer modernen muslimischen Frau führt. In diesem Prozess lernen die Einzelnen, sich mit adäquaten Formen der Selbststeuerung in öffentlichen Räumen auszustatten. Das Persönliche ist dabei, dass jedes Individuum für sich einen modernen islamischen Lebensstil entdeckt und ihn im Zusammenspiel mit dem eigenen Umfeld in den Details gestaltet. Die Kleidung ist eines der Hauptwerkzeuge, sich als souveränes Selbst zu inszenieren, das den Raum und sein Regime meistert. Sie macht die anderen sehen, wer man wirklich ist, und demonstriert die persönliche Identität. Eben weil sie die Trägerin in den Blickpunkt rückt, weil sie Fragen und Kommentare hervorruft, ist sie produktiv: Sie verhilft dazu, sich selbst als Handelnde, nicht mehr nur als Mitläuferin in einem Chor von selbsternannten Trendführern zu fühlen. Über das selbst bezeugte Anderssein, über das selbstbewusste Statement von selbstbestimmter Differenz bilden sich Akteure mit Gestaltungsmacht innerhalb der lokalen Räume heraus. Aus den biographischen Erzählungen geht klar hervor, dass die Kleidung ein Mittel nicht nur der Selbstdarstellung, sondern der Selbststeuerung ist und sich den Forderungen des Raumes anpasst. So wird die vollständige Verhüllung zwar als »ein Schritt höher« gelobt, aber trotz der sonstigen Versuche, möglichst perfekt und konsistent »nach dem Islam zu leben«, zeigt sich hier ausnahmslos ein sehr reduzierter Ehrgeiz. Selbst der tschadorförmige Schnitt, der das Gesicht nicht verbirgt, ist unter den jungen Frauen nicht beliebt, weil uniform. Es ist aus der Sicht der jungen Frauen das Gewand der muslimischen und islamistischen Anderen, deren demonstrative strikte Vorstellung einer hierarchischen Geschlechterordnung die weiblichen Interaktionen im öffentlichen Raum beschränken und die Frauen auf die Rolle von »participation units« begrenzt und ihnen die Chance nimmt, selbständig navigierende Akteure, »vehicular units« zu sein,29 sie also auf den sozialen Status reduziert, der sich 27 Vgl. Jonah Goldstein/Jeremy Rayner: »The Politics of Identity in Late Modern Society«, in: Theory and Society 23 (1994), S. 367-384. 28 Vgl. Thomas Noetzel: Authentizität; Georg Stauth: Authentizität. 29 Vgl. Erving Goffman: Relations in Public: Microstudies of the Public Order, London 1971, S. 23ff.

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298 | Sigrid Nökel mit den Frauen der ersten Migrantengeneration verbindet. Hingegen verweist der individuelle Stil, die Auswahl modischer Kleidung, die dem persönlichem Geschmack und der islamischen Körperordnung entspricht, in Kombination mit einem Kopftuch, das perfekt sitzt und das Haar korrekt bedeckt, auf die Fähigkeit zur Selbststeuerung. Selbststeuerung aber steht nicht nur im Kontext von Lebensstil, sondern auch im Kontext von Selbstdisziplin und Konkurrenzfähigkeit und führt zu eigenmächtigen Kontrollen, die strenge oder traditionell islamische Auffassungen von weiblicher Präsenz überschreiten. Das zeigen die Erläuterungen von Frauen zu ihrem Verhalten in öffentlichen Räumen wie dem Hörsaal: »Wenn ich«, wie eine Frau formuliert, »dauernd darauf achten muss, ob einer meine Hände sieht, kann ich nicht richtig mitschreiben.« Eine andere, die die Gewohnheit hat, beim Mitschreiben die Ärmel hoch zu schieben, sieht keinen Grund diese Gewohnheit aufzugeben, nur weil irgendwelche Muslime der Meinung sind, das stelle eine Gefahr für die männlichen Kommilitonen dar. Ebenso wird bezweifelt, dass es »einen Mann umhaut, wenn er ein bisschen von meinen Haaren sieht«. Diese hier aus ihren Erzählkontexten herausgerissenen Aussagen mögen banal sein, aber sie weisen auf eine bestimmte Positionierung innerhalb des Feldes der Vorstellungen und Praktiken des Islam. In ihnen deutet sich eine eigenmächtige Ausbalancierung des Schamgefühls und der Präsenz des Weiblichen in den Feldern an, in denen Konkurrenz und Leistung relevant sind. Und den Frauen ist sehr wohl bewusst, dass sie den Wettbewerbsnachteil, den das Kopftuch verursacht, durch Leistung kompensieren müssen. Eindeutig wird in einem öffentlichen Raum, der Personen nach institutionellen Regeln und darüber hinaus nach Lebensstilen ordnet, die sich am Körper manifestieren, auch über den islamischen Körper soziale Anerkennung eingefordert. Der modisch und geschmackvoll dekorierte Körper wird bewusst eingesetzt für eine differenzierte Kommunikation in verschiedenen öffentlichen Räumen. Dabei werden je nach Kontext verschiedene, aber letztlich übereinstimmende Botschaften gesendet. Zum Beispiel trägt die 19-jährige Selma T. in der Schule lange, aber bewusst modische und jugendliche Kleider und Röcke. Bei einem Familiennachmittag aus Anlass eines Kinderfests in der örtlichen Moschee des Diyanet hingegen war sie eine der wenigen, die Hosen trugen und damit im augenfälligen Kontrast zu den konservativunauffällig gekleideten Frauen der älteren Generation und den in Röcken und Kleidern für das Ereignis aufgeputzten Mädchen stand. In beiden Fällen verfolgt sie das gleiche pädagogisches Ziel: sich als eine »andere« islamische Frau zu behaupten. Während sie in dem einem Fall die wohlabgewogene Nähe zum Kollektiv der islamischen Gemeinschaft und damit einer abgewerteten Minderheit in den Vordergrund stellt, ist es im anderen Fall die Distanz zu eben den konservativen Teilen dieser Gemeinschaft, denen sie zeigt, dass es auch anders geht. In beiden Fällen sendet sie auf der prädiskursiven Ebene bzw. körpersprachlich Informationen über ihre persönliche Identität und veranlasst die Anderen zu Fragen und damit zur Eröffnung des verbalen Diskurses.30 30 An anderer Stelle habe ich mich intensiver mit diesen Fragen auseinandersetzt, vgl. Nökel: Die Töchter der Gastarbeiter, S. 84ff.

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Muslimische Frauen und öffentliche Räume | 299 Die Repräsentation der persönlichen Identität ist zentral, aber sie ist durch ihren Zweck, den Erwerb von Anerkennung, gebunden an die Kombination mit öffentlichen bzw. als universal deklarierten Normen und Werten. Dazu zählen gute Leistungen und Beurteilungen, z.B. in der Form von Schulnoten, die möglichst eloquente Verteidigung des authentischen Selbst in den akzeptierten psychologischen Kategorien und des eigenen Lebensstils, der letztlich auch den Regeln der Konsumgesellschaft folgt. Es ist die Verteidigung der reflektierten »kleinen Differenz«, die den islamischen Akteur in den lokalen öffentlichen Bereichen erzeugt.

Der Arbeitsplatz als Schauplatz der Etablierung des islamischen Subjekts An verschiedenen öffentlich zugänglichen Orten zeigen einzelne Arbeitsmigrantinnen, dass sie »da« und »im Zentrum angekommen« sind – und sei es nur visuell durch Betreten bislang kopftuchfreier Räume wie Cafés, öffentliche Bibliotheken, Theater und Museen, die ein eher bürgerliches Publikum anziehen; womit sie die eher randständigen sozialen Räume überschreiten. Nicht minder wichtig ist jedoch der Arbeitsplatz. Auch wenn aus theoretischer Sicht, zum Beispiel bei Hannah Arendt,31 die Ökonomie der Sphäre des Privaten zugerechnet wird, ist doch der Arbeitsplatz aus der Perspektive der Alltagsmenschen ein gewissermaßen öffentlicher Ort des Austausches.32 Durch ihn manifestiert sich die soziale Position wie auch, untrennbar damit verbunden, die persönliche Identität. Er bietet Instrumente für Anerkennungspolitiken und Teilöffentlichkeiten, in denen Identität ausgehandelt und transparent gemacht wird. Gerade für die hybride Identität der jungen neomuslimischen Frauen ist dieser Raum von allergrößter Bedeutung. Die folgenden zwei Fallbeispiele illustrieren das. Lale Y., 21 Jahre alt, ist Zahnarzthelferin. Sie ist mit leitenden Verwaltungsaufgaben betraut und beherrscht sozusagen, von Kopf bis Fuß in makelloses Weiß gekleidet, das Büro und den Empfangstisch am Eingang der Praxis. Sie tut dies mit Hilfe der neuesten Technik, eines Computers, mit dem sie routiniert umzugehen weiß; ihr Umgang mit den Patienten ist sicher, fachkundig und freundlich. Sie spricht, wie sie im Interview hervorhebt, perfekt deutsch, ohne jeglichen Akzent, wenn man vom starken hessischen Klang ihrer recht energischen, Autorität vermittelnden Stimme absieht. Über die Geschlechterrollen denkt sie konservativ, und sie plant, ihren Beruf aufzugeben, sobald ihr Ehemann, mit dem sie erst wenige Wochen verheiratet ist, seine Familie ernähren kann. Bis dahin wird er allerdings, wie sie nüchtern einschätzt, einige Ausbildungsjahre in Deutschland und ihre massive Unterstützung – durchaus im Sinne von Anleitung – brauchen; er hat in der Türkei ein paar Semester Biologie studiert. »Damit kann man doch nichts anfangen«, meint 31 Vgl. Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960. (Engl. The Human Condition, Chicago 1958). 32 Das trifft sicherlich nicht immer zu. Aber es geht hier nicht um theoretische Überlegungen, sondern um die gewöhnliche alltagspraktische Dimension junger Frauen.

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300 | Sigrid Nökel sie. Tatsächlich liebt Lale Y. ihre Arbeit. Im Urlaub, den sie regelmäßig bei Verwandten in der Türkei verbringt, vermisst sie bereits nach wenigen Tagen ihren Arbeitsplatz. Aus ihrer islamisch begründeten Sicht – eine Sicht, die keine der von mir befragten Frauen teilt und die im Verlauf ihrer biographischen Erzählung ins Gegenteil umkippt – »darf« sie »eigentlich nicht arbeiten«. Aber sie findet trotzdem positive Begründungen: Was sie tut, ist »Arbeit, die dem Menschen nützt«, und sie kann »Dschihad« machen, im Sinn einer friedlichen frommen Anstrengung, nämlich den »Leuten erzählen, was der Islam eigentlich ist«, ein willkommener Ausgleich zu den ritualisierten islamischen Pflichten wie Beten und Fasten. Zu ihrer Enttäuschung ist das Interesse der Patienten daran gering; nur ganz selten wird sie angesprochen und gefragt. Aber sie ist sich sicher, dass sie durch ihre eigene Person, durch ihre wirksame Tüchtigkeit, ihr Wissen in ihrer beruflichen Funktion und ihr energisches, selbstbewusstes Auftreten ein einprägsames Gegenbild zu den Bildern von muslimischen Putzfrauen ist oder zu den in Zeitungen verbreiteten Bildern von Mädchen mit riesigen Kopftüchern, die ihre kleinen Gesichter schier zu erdrücken scheinen, und deren niedergeschlagenen Augen, die ernst auf dem Koran ruhen. Sie glaubt einzelnen Patienten anzusehen, dass diese, wenn sie sie am Computer hantieren sehen, sich fragen: »Kann die das überhaupt?« – »Die machen manchmal einen langen Hals und versuchen auf den Bildschirm zu schauen« – und sie will die Möglichkeit nutzen, um zu zeigen, dass »wir«, die Muslime, die Türken, »so was können«. Wenn, wie Knorr Cetina darlegt,33 in der Kommunikation das Bild, speziell das Piktogramm, das Wort ersetzt hat, dann kann man hier durchaus ein Beispiel für die Selbstbehauptung im Zeichen des Piktogramms sehen, bei der nicht, oder nur in zweiter Linie, das Wort zählt, sondern das vom Wort unabhängige Arrangement der Zeichen im Vordergrund steht. In diesem Fall bildet der Empfangstisch in der Arztpraxis gewissermaßen ein symbolisches Abbild der Umkehrung der Ordnung. Die Ordnung konstituierende Seite der Autorität wird von dem übernommen, der ihr sonst unterworfen ist. Dieser Tisch ist zu einem Gegenstand geworden, durch den Bilder, die anderswo entstanden sind und gepflegt werden, sich umformen. Eine gute berufliche Ausbildung zu haben und in diesem Beruf zu arbeiten ist für die jungen Frauen, die erfolgreich im Bildungssystem integriert sind, von größter Bedeutung. Verschiedene Motive spielen zusammen: der Wunsch nach finanzieller Unabhängigkeit – zugleich zu sehen als Gegenentwurf zur Absicherung durch Heirat; der Wunsch, gesellschaftlich nützlich zu sein; sowie ein praktischer und sichtbarer Gegenentwurf zu dem, was als Abwertung der »muslimischen Frau« betrachtet wird. Beruflich qualifizierte Arbeit zu leisten ist, abgesehen davon, dass es heutzutage zum Standard der Weiblichkeitsdefinition gehört, ein Teil der Selbstbehauptung als Frau »aus dem Orient« und als Frau aus einem Arbeitsmigrantenhaushalt. Das Tragen des Kopftuches und damit die offenkundige Differenz als Muslimin wirken verstärkend. Zwei Aspekte fallen zusammen: Die Islamisierung des Selbst wird verstanden als legitimer Ausdruck der authentischen Identität, die zurückgreift auf kulturelle Wurzeln. Das Selbst aber existiert nicht unabhängig vom öffentlichen Raum. 33 Vgl. Karin Knorr Cetina: »Sociality with Objects: Social Relations in Postsocial Knowledge Societies«, in: Theory, Culture and Society 14:4 (1997), S. 1-23.

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Muslimische Frauen und öffentliche Räume | 301 Es bewegt sich fortwährend in ihm, ordnet sich bestimmten räumlichen und ideellen Segmenten zu und hängt in seinem Selbstverständnis und seiner Selbsterkenntnis maßgeblich von vorgegebenen Positionen ab. Eben dadurch ist die eigene Formierung des Selbst eng verbunden mit der Anerkennung durch andere, die wiederum verknüpft ist mit der Repositionierung im Raum. Es wirken in diesem Falle eben nicht nur die feldspezifischen Rollen und Rituale des Zusammenspiels der Akteure. Die Töchter der »Gastarbeiter« operieren politisch, sie zielen darauf, die eigene Biographie zu bekräftigen und einen niedrigen kollektiven Sozialstatus aufzuwerten, dessen Umbrüche auch auf anderen Ebenen zu finden sind. Beispielhaft ist an dieser Stelle auch Amina R’s biographische Erzählung. Mit acht Jahren ziehen sie, ihre Mutter und die jüngeren Geschwister aus dem marokkanischen Süden zum Vater in eine deutsche Großstadt. Nach anfänglichen Schwierigkeiten in der Schule stellt sich heraus, dass sie ein sehr begabtes Kind ist. Sie besucht das Gymnasium und schließt es mit einem Einser-Abitur ab. Bis zum 15. Lebensjahr ist sie davon überzeugt, dass sie bald mit der Familie wieder ins marokkanische Dorf heimkehren wird. Das allerdings nimmt sie dann nicht mehr nur als wunderbare Umgebung für Kinderspiele wahr, sondern als einen Ort, an dem Mädchen für die Küche und die Familie diszipliniert werden und an dem es für sie eigentlich nur eine berufliche Zukunftsaussicht gibt, nämlich »vom Ehemann eine Nähmaschine zu bekommen und zu nähen«. Sie nimmt sich vor, Medizin zu studieren und sich später als Gynäkologin, »die anderen Frauen hilft«, in Casablanca niederzulassen, jener nördlichen dynamischen und relativ liberalen Metropole, die sie aus den Erzählungen anderer kennt. Mit der Zeit entdeckt sie allerdings mehr und mehr die, wie sie sagt, »deutschen Anteile« in ihrer Persönlichkeit, die sie mit den »marokkanischen Anteilen« zusammenbringen muss, wobei allerdings die Letzteren sehr viel schwieriger zu definieren sind als die ersteren. Auf jeden Fall aber lehnt sie eindeutig »das Traditionelle«, also »Ehre und so« ab, und damit das, was die Geschlechterbeziehungen definiert. Mit neunzehn Jahren entdeckt sie den Islam als kulturelle Wurzel und als Werkzeug, ihre beiden kulturellen Anteile zu vereinen. Nach langem Ringen mit sich selbst und ihrer Angst, dass ihre schulische Karriere darunter leiden könnte, beginnt sie, ein Kopftuch zu tragen. Völlig überraschend für ihre Klassenkameraden und Lehrer erscheint sie also eines Tages mit dem Kopftuch im Unterricht und brennt darauf, ihnen ihre persönliche Veränderung, ihr neues authentisches Selbst mitzuteilen. Enttäuscht stellt sie fest, dass diese ihr neues Auftreten lediglich als die Unterwerfung der cleveren Amina unter die ethnisch-islamische Norm ihrer Familie sehen. Ihr Vater indessen, mit dem sie die Supermarkt-Einkäufe für die Familien zu erledigen pflegt, und den sie als traditionell eingestellten regelmäßigen Moscheebesucher beschreibt, weigert sich zunächst, sich mit der vielversprechenden Tochter, die sich auf einen akademischen Beruf vorbereitet, in diesem Aufzug auf der Straße zu zeigen. Mit ihrer durch das Kopftuch dokumentierten Islamisierung präsentiert sie sich als souveränes Selbst, das sich sowohl einer Germanisierung wie auch einer Marokkanisierung entzieht. Kurz darauf beantragt sie die deutsche Staatsbürgerschaft, ein deutliches Anzeichen, dass sie, und zwar als Einzelperson unabhängig von ihrer Familie, sich endgültig entschieden hat, wohin sie gehört. Parallel zu diesen Ereig-

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302 | Sigrid Nökel nissen fällt sie einen anderen Entschluss: Da sie nicht direkt nach dem Abitur mit dem Medizinstudium beginnen kann und es überhaupt satt hat, auf der Schulbank zu sitzen, statt »das richtige Leben kennen zu lernen«, beginnt sie kurzentschlossen eine Ausbildung zur Krankenschwester. Damit wechselt sie von der Schule, einem Raum, den sie bestens beherrscht hat, in eine andere halböffentliche Sphäre mit einem spezifischen kommunikativen Austausch, mit spezifischen Funktionen, Ritualen und Hierarchien. Was sie dort sucht, ist die Selbsterfahrung und Erfahrung als islamische Frau in einer ihr unbekannten Teilöffentlichkeit, in der sie stärker als zuvor unter Beobachtung steht und in funktionale Austauschbeziehungen und -pflichten eingebunden ist, in der sie ihre Position finden muss und auch noch »Gutes tun« kann. Wie die Arzthelferin Lale Y. sieht sie hier eine Gelegenheit, mit Anderen über den Islam und über »uns« zu sprechen, zu zeigen, wer »wir« sind – ein doppeltes »Wir«: das eine traditionell und das andere modern eingestellt. Auch hier sind die PatientInnen, von denen sie aufgrund des Kopftuches einige Male für die Putzfrau gehalten wird, wenig interessiert daran zu wissen, wie der Islam »wirklich« ist. Interessierter sind die anderen Lernschwestern und -pfleger, die sie allerdings in ungläubiges Staunen versetzen mit dem, was sie über den Wertehorizont ihrer Familie »wissen« (»Deine Mutter musste so viel Kinder kriegen«), und den Schlüssen, die sie daraus für ihre Person ziehen. Sie stellt fest, dass das Wort nicht so mächtig ist, wie sie glaubte, aber sie kann den Leuten immerhin »ihren Charakter zeigen«. Das heißt, sie kann ganz unmittelbar über praktische Handlungen, in diesem Falle nicht nur durch den eigenen Körper, sondern auch am Körper der anderen, die Handlungsdimensionen und Einstellungen einer modernen islamischen Frau sinnlich erfahrbar zeigen: Sie widmet sich fachkundig, gewissenhaft und geduldig der Gesundung ihrer Patienten, wofür diese sie loben, sie lernt und erfasst schnell, was zu tun ist, und sie zeigt Empathie für die nun abhängigen Kranken. Sie ist tüchtig und effizient bis zu einem ungewöhnlichen Grad: So z.B. ziert sie sich nicht, auch männlichen Patienten bei Bedarf einen Katheter anzulegen, wobei, um das Wasserlassen zu ermöglichen, ein Röhrchen in die Harnröhre eingeführt wird. Damit überschreitet sie ironischerweise die informelle Geschlechterdifferenzierung beim Pflegepersonal, denn in diesem Falle wird in der Regel ein Krankenpfleger herbeigerufen mit der praktischen Begründung, ein Mann könne das besser. Von den Kolleginnen wird sie bewundert, dass sie diese Aufgabe ganz professionell als eine unspektakuläre Pflicht neben anderen versieht. Sie erinnert sich schmunzelnd daran, dass beim Einstellungsgespräch eine der wichtigsten Frage war, ob sie trotz ihrer religiösen Einstellung in der Lage sei, mit nackten Personen, insbesondere Männern umzugehen. Sie findet diese Frage absurd und mit ihr die dahinter stehende Annahme, dass sie als muslimisches Mädchen noch nie einen nackten Mann gesehen hätte. Ihrer rationalen und wissenschaftlichen Einstellung zufolge ist medizinische Hilfe nicht ans Geschlecht gebunden: »Ein kranker Mann ist auch nur ein Mensch, der Hilfe braucht.« Und anderen zu helfen ist für sie eine islamische Pflicht. Sie verbindet damit keinerlei erotische Konnotation. Es ist für sie lediglich notwendige Arbeit, die geleistet werden muss. Im Namen der Funktionalität überschreitet sie Grenzen, die sich für gewöhnlich mit den Vorstellungen von islamischer Weiblichkeit verbinden. Amina hat die Ausbildung nach einem Jahr aus verschiedenen Gründen abge-

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Muslimische Frauen und öffentliche Räume | 303 brochen. Einer davon war, dass sie von einer Vorgesetzten aufgrund des Kopftuches schikaniert worden ist; bei KollegInnen hat sie sich sorgfältig rückversichert, dass diese Feststellung nicht allein auf ihrer subjektiven Wahrnehmung beruht. Daneben hat sie aber auch viele Bestätigungen erhalten, dass man sie, trotz des Kopftuches, sehr schätzte. Es war ihr praktisches Handeln, mit dem sie bewiesen hat, dass sie nicht anders, nicht »weniger« oder schlechter ist, sondern mindestens ebenso leistungsstark wie jeder andere Mensch in dieser Position. Ihre Versuche, die Leute »über den Islam aufzuklären«, waren auf der Diskursebene weniger fruchtbar, aber sie hat im lokalen Rahmen ihre Auffassung von einem modernen, mit der Moderne kompatiblen Islam sichtbar gemacht, praktisch vermittelt und ihre Ansprüche auf ihre Form des Selbst repräsentiert.

Verschiebungen Fragt man nach den Effekten der hier beschriebenen weiblichen Mikropolitiken, so muss man zuerst feststellen, dass Erfolge kaum verifizierbar sind. Das liegt allein schon an den hier gegebenen methodischen Grenzen; es liegt keine Komplementärstudie vor, die die in den biographische Erzählungen und Milieubeobachtungen enthaltenen Hinweise auf die Adressaten von Mikropolitiken abstützen könnte. Aus den Erzählungen geht hervor, dass diese sehr subjektabhängigen Formen der Meinungsbildung und Anerkennungspolitiken, die auf persönlichen unmittelbaren und situationsgebundenen Austausch in kleinen Gruppen und kleinen Feldern basieren, weder planbar noch organisierbar sind. Sie beinhalten Rückschläge, Fehlschläge, aber auch kleine Erfolge. Sie sind abhängig von den Frustrationstoleranzen der einzelnen Akteure, von den Feldern, in die sie Eingang finden, von ihrem Geschick, die Regeln in diesen kleinen sozialen Feldern zu lesen und sich mit ihnen zu arrangieren. Dazu sind diese einzelnen Akteure allerdings hochgradig angewiesen auf intersubjektiven Austausch und auf die offene Dialogbereitschaft der Anderen. Diese Mikropolitiken sind sozusagen ganzheitlich, sie beanspruchen die ganze Person und eine weite Interaktionspalette. Sie funktionieren im komplizierten reziproken Spiel.34 Sie funktionieren nicht in der Reduzierung auf juristische oder politische Formeln. Ihre Gestaltungsmacht ist begrenzt, aber vermutlich dafür umso wirksamer, wo sie greift, denn sie spricht das Habituelle und nicht nur Rationale an. Das aber ist ein Kriterium, das in den dominierenden Öffentlichkeitskonzepten ausgeblendet wird. Deutlich wird auf jeden Fall, dass durch diese Mikropolitiken weibliche islamische Akteure entstehen, die in sehr bescheidenem Rahmen, doch dafür wahrscheinlich umso tiefgreifender vom Rand her in den politischen Prozess hineinwirken. Der Anschlag vom 11. September hat einen gewaltigen und nachhaltigen Schlagschatten auf die öffentliche Wahrnehmung des Islam und der Muslime geworfen. 34 Vgl. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt am Main 1979. Einen Eindruck von reziproken Strukturen in dem hier gegebenen Rahmen vermittelt Jörg Hüttermann: Der Konflikt um islamische Symbole zwischen lebensweltlich sedimentiertem Gastrecht und formalem Recht: Eine fallgestützte Analyse, unveröff. Manuskript, Bielefeld 2004.

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304 | Sigrid Nökel Auf der Mikroebene haben aber bereits zuvor muslimische Frauen immer wieder gegen die Assoziation von Islam und Gewalt angekämpft. Immer wieder gab es unübersehbare Schlagzeilen über von Muslimen verübten Attentate, die ihr Projekt eines integrationsfähigen und anerkennenswerten Islam bedrohten. So waren und sind sie gezwungen, ihre Visionen vom Islam und ihre Interessen- und Bedürfnislagen in Abgrenzung zu militanten Muslimen auszuformulieren. Nicht zuletzt durch den Zwang, sich mit zufälligen entfernten Ereignissen auseinanderzusetzen, sind sie zu informierten und diskursfähigen Bürgerinnen geworden. Der Kopftuchstreit trifft allerdings ins Zentrum ihrer weiblichen Identität und ihres Selbstverständnisses als souveräne Bürger. Durch ihn sind muslimische Frauen zum Gegenstand einer breiten zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzung geworden. Aus dem Blickwinkel einer von Habermas beeinflussten Öffentlichkeitstheorie wurden sie damit zu öffentlichen Akteuren, die ihre Interessen aushandeln. Allerdings sind die in diesem Aufsatz beschriebenen Frauen nicht wirklich präsent. Sie bilden kein Kollektiv, das in »bedürfniszentrierter Rede« oder in der auf »Rechte und Interessen zentrierten Rede«35 legitime Interessen, Bedürfnisse oder Rechte formuliert und deren Anerkennung im Prozess der politischen Auseinandersetzung betreibt. Die Aufrüstung auf der metatopologischen Ebene hat ihre topologisch orientierten Mikropolitiken überrollt. Intellektuelle und rechtliche Diskurse durchdringen den Alltagshorizont; deren Rationalität im Verein mit einer vorgeblich kulturneutralen Argumentation, die sich mit dem Topos des Allgemeinwohls verbindet, drängen die subjektive Perspektive, welche die kulturelle Differenz hervorhebt, in den Hintergrund. Auch das charakteristische mikropolitische Element der jungen Frauen, die nichtsprachliche Kommunikation, die über die leibliche und ästhetische Selbstdarstellung erfolgt, droht unterlaufen zu werden. Die auf Selbstsouveränität deutende Kombination von modernem Lebensstil und religiöser Weltauffassung – sichtbar an modischen Kleidungsstilen plus Kopftuch – sowie das selbstsichere Auftreten in sozialen Räumen, in denen Arbeitsmigrantinnen und deren Folgegenerationen bislang kaum vertreten waren, Kopftuchträgerinnen sich nun aber als Meisterinnen der raumspezifischen Regeln bewähren, drohen ihre Wirkung zu verlieren, die auf der lokalen Einbettung beruht. Der oder die nichtmuslimische Andere sieht nun nicht mehr nur eine neue, progressive Weiblichkeit, die so sehr – und für die meisten wohltuend – vom gewohnten Bild der traditionellen muslimischen Frau abweicht. Er oder sie sieht jetzt Gefahren der Indoktrinierung, der womöglich nur oberflächlichen Veränderung, vielleicht sogar bewussten Täuschung. Das Sichtbare,36 der visuelle Eindruck, aus dem der betrachtende Andere unvoreingenommen, der persönlichen Wahrnehmung folgend Schlussfolgerungen ziehen konnte, ist jetzt zweifelhaft und doppelbödig geworden, weil sich mit den Kopftuchdiskursen der Kontext der Be35 Vgl. N. Fraser: Widerspenstige Praktiken, S. 250 36 Zur Differenz zwischen dem Visuellen und dem Diskurs bzw. in der Sprache von Deleuze und Foucault zwischem dem Sichtbaren und dem Sagbaren vgl. auch Nökel: »Islam, Interkulturalität und Bio-Politik: Überlegungen zur Integration des Islams in den europäischen Kontext«, in: Mechthild Rumpf/Ute Gerhard/Mechthild M. Jansen (Hg.), Facetten islamischer Weiblichkeit, Bielefeld (2003), S. 290-312.

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Muslimische Frauen und öffentliche Räume | 305 trachtung und der Beurteilung verändert hat. Der zweckgerichtete Diskurs »von oben«, vom Kopf und von der »systemischen« Ebene her, hat somit ein ganz wesentliches Medium des Dialogs, das »unten«, auf der persönlichen Ebene und in der Intuition angesiedelt ist, wenn nicht ausgehebelt, so doch erheblich diskreditiert. Das Gesprochene triumphiert über das Sichtbare. Subjektivität ist minimiert zur subjektiven und irgendwie auch naiven Befindlichkeit. Die informierte Öffentlichkeit, wer immer das im Einzelnen ist, kann sich auf Argumente aus berufenem Munde stützen, die sich der Sprache einer Moral des Allgemeinwohls anstelle der demgegenüber minderwertigen subjektiven Interessenlage bedienen, etwa des Arguments, dass das Kopftuch die Gleichheit der Geschlechter untergrabe. Die Zeit des unmittelbaren Austausches scheint vorbei zu sein. Neue Gräben und Polarisierungen haben sich aufgetan. Rationale Diskurse haben neue, für die Frauen nachteilige Machtverhältnisse geschaffen.37 Die Frage ist, ob die vorrangig auf Sichtbarkeit ausgerichteten Politiken dieser Frauen dagegen eine Chance haben. Dagegen ist zu beobachten, dass im Zuge der Auseinandersetzungen bisher eher randständige Vertreter kollektiver Interessen wie der »Zentralrat der Muslime in Deutschland« (ZMD) oder hybride polito-religiöse Organisationen wie die »Islamische Gemeinschaft Milli Görüs¸ « (IMGM) als Teilnehmer am öffentlichen Diskurs an Gewicht gewonnen haben. Die Schlüsselpositionen haben hier vor allem Männer inne, deren Verständnis vom Islam sich in weiten Teilen nicht mit dem der jungen Frauen deckt. Diese Männer haben die Mittel, um auf die öffentliche Meinungsbildung einzuwirken. Sie haben die Ressource Organisation, die unabdingbar scheint, um als legitime, wenn auch nicht unumstrittene Akteure im öffentlichen Diskurs anerkannt zu werden.38 Frauen, die sich vielfach nicht hinreichend in diesen Organisationen vertreten fühlen oder fühlten und seit mindestens einem Jahrzehnt auf der lokalen Ebene, in begrenzten Öffentlichkeiten und Diskursen operieren und Anerkennungspolitiken als Kopftuchträgerinnen führen, haben dagegen wohl kaum eine Chance, diese breite Beachtung zu finden. Jetzt überkreuzt sich ihre »kleine« und unprofessionelle bedürfnis- und rechtzentrierte Rede, die im Persönlichen verhaftet ist und den Schwerpunkt auf die kulturalistische Perspektive setzt, mit dem weitaus mächtigeren Mahlstrom rechtlicher, staatlicher und starker zivilgesellschaftlicher Diskurse und den darin vertretenen a-kulturalistischen Ordnungsvorstellungen, die sie auszuhebeln drohen. Deutlich wird hier das Ungleichgewicht der Diskurse und ihrer Akteure. Die Rede von der Gestaltung des Selbst, vom Bedürfnis nach individueller Authentizität, die, wie synthetisch auch immer, der eigenen bikulturellen Biographie und ihrer Lagerung in der sozialen Ordnung entspricht, hat nun anzutreten gegen die übermächtige, über ihren Köpfen angesiedelte und in die Alltagswelt ragende professionelle Rede von Moral, Politik und Recht. Die große Dissoziation zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen erweist sich, wieder einmal, als Exklusionsmaschine. Die auf der Alltagsebene formulierten Ansprüche erscheinen nur noch als nebensächliche, verklärte individuelle Befindlichkeiten. Es ist fraglich, 37 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Diskurse, Frankfurt am Main 1991. 38 Vgl. z.B. die Anmerkungen von Heide Oestreich: Der Kopftuchstreit, Frankfurt am Main 2004, S. 119f.

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306 | Sigrid Nökel ob die Taktik der Mikropolitiken noch greifen kann angesichts der mächtigen Diskurse. Gayatri Spivak hat vor einiger Zeit gefragt: »Can the Subaltern Speak?«39 – und diese Möglichkeit aufgrund der strukturellen Bedingungen ausgeschlossen. Ihre Subalternen waren indische Landfrauen. Hier nun kann man fragen: »Wie werden Subalterne erzeugt und Stimmen zum Verstummen gebracht?« Die moderne Sicht von Öffentlichkeit als Mega-Diskurs hat zur Folge, dass Kulturen der Vermittlung oder Aushandlung jenseits des Diskurses strategisch ausgebootet werden. Mit Blick auf den Liberalismus kann man daraus zweierlei schließen: Seine Toleranz beschränkt sich auf bestimmte vorgegebene Formen und Prozeduren, die sich als Hürden erweisen können. Zweitens aber, und das ist durchaus kein Widerspruch, kann er kulturschöpferisch sein, insofern er, da er nur diese Formen akzeptiert, dazu den Anstoß gibt, dass sie erzeugt werden. Vielleicht also werden wir bald eine islamische Frauenrechtsbewegung erleben – und damit einen erheblichen Schritt in Richtung eines westlichen Islam. Aus dem Englischen übersetzt von der Autorin

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Teil III Ausblicke: Religion und Anderssein

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Die Öffentlichkeit in muslimischen Gesellschaften | 311

Die Öffentlichkeit in muslimischen Gesellschaften Shmuel N. Eisenstadt

I. Im Folgenden sollen einige für die Öffentlichkeit in muslimischen Gesellschaften typische Merkmale kurz analysiert werden. Ich werde die Entwicklung dieser Merkmale in »traditionellen« muslimischen Gesellschaften vergleichen und überdies auf wichtige Tendenzen verweisen, die sich bei ihrer Transformation in modernen muslimischen Gesellschaften zeigen. Sehr lange herrschte in Forschung und öffentlichem Diskurs – besonders im Westen – die Meinung vor, in muslimischen Gesellschaften habe sich, anders als in westlichen Gesellschaften, keine starke, autonome Öffentlichkeitssphäre oder Zivilgesellschaft entwickeln können. Diese Ansicht war eng mit der – orientalistisch geprägten – Sicht der politischen Regime verbunden, die sich in diesen Gesellschaften herausgebildet hatten und in denen man den Inbegriff des orientalischen Despotismus sah. Nach dieser Sichtweise wurden alle muslimischen Gesellschaften, aber auch China und sogar die Königreiche Indiens von orientalischen Despoten regiert. Alle Macht war in den Händen solcher Herrscher konzentriert und Teilbereichen der Gesellschaft wurde keinerlei Autonomie zugestanden – abgesehen von rein lokalen Angelegenheiten. Und selbst diese lokalen Angelegenheiten wurden von den großen Despoten oft noch strikt geregelt. Eines der bekanntesten Beispiele für diese Theorie ist Karl Wittfogels Buch Oriental Despotism (dt. Die orientalische Despotie). Darin verwendet Wittfogel den Begriff der Despotie für das chinesische Kaiserreich und die systematische Analyse seiner imperialen Strukturen.1 Dieser Linie folgten zum Teil auch neuere Diskussionen, wenn das Fehlen oder die Schwäche von Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft in diversen asiatischen, auch muslimischen Gesellschaften als »Erklärung« dafür herhalten muss, warum es so schwierig ist, dort demokratische Regierungssysteme zu etablieren. Zwei geradezu übermächtige Annahmen sind in diesem Zusammenhang festzuhalten: erstens, dass die Entwicklung einer Öffentlichkeitssphäre und einer Zivilgesellschaft eine entscheidende Vorbedingung für die Herausbildung und Fortentwicklung konstitutioneller demokratischer Regime sei;2 und zweitens, dass zwi1 Vgl. Karl August Wittfogel: Oriental Despotism: A Comparative Study of Total Power, New Haven, CT 1957. (Dt. Die orientalische Despotie. Eine vergleichende Untersuchung totaler Macht, Köln 1962.) 2 Vgl. Jean Cohen: »Trust, Voluntary Association and Workable Democracy: The Contemporary American Discourse of Civil Society«, in: Mark E. Warren (Hg.), Democracy and Trust, Cambridge 1999, S. 208-248; William A. Galston: »Social Capital in America: Civil Society and Civil Trust«, in: Josef Janning/Charles Kupchan/Dirk Rumberg (Hg.), Civic Engagement in the Atlantic Community, Gütersloh 1999, S. 67-78; R. Mardsen: »Community, Civil Society, and Social Ecology«, ebd., S. 97-114; Benjamin R. Barber: »Civil Society: Getting Beyond the Rhetoric: A Framework for Political Understanding«, ebd., S. 115-142.

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312 | Shmuel N. Eisenstadt schen den Konzepten der Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft eine enge Verbindung bestehe, dass sie sich überlappten oder nahezu deckungsgleich seien. Jedenfalls wird zwischen diesen beiden Begriffen oft nicht klar unterschieden. Ein Blick auf die verfügbaren historischen und zeitgenössischen Belege zeigt jedoch, dass diese Annahmen sehr problematisch sind. Erstens sind die Beziehungen zwischen Zivilgesellschaft, Öffentlichkeit und politischer Arena wesentlich variabler, als bei diesen Annahmen impliziert wird. Zweitens und eng damit verbunden, sollten Öffentlichkeitssphäre und Zivilgesellschaft nicht in einen Topf geworfen werden. Als »Öffentlichkeit« kann nur die Zwischensphäre zwischen dem offiziellen und dem privaten Bereich bezeichnet werden. Je nach Verfassung und Stärke jener Teile der Gesellschaft, die nicht Bestandteil des Herrschaftssystems sind, expandiert oder schrumpft diese Öffentlichkeitssphäre. Zu einer Zivilgesellschaft gehört immer auch eine Öffentlichkeitssphäre, doch nicht umgekehrt zu jeder Öffentlichkeitssphäre auch eine Zivilgesellschaft vom ökonomischen oder politischen Typ, wie sie im zeitgenössischen Diskurs verstanden wird oder sich im frühmodernen Europa durch direkte Teilhabe am politischen Prozess entwickelte, sei es von Körperschaften oder mehr oder weniger begrenzten Bürgervereinigungen zur Verfolgung von Privatinteressen. Generell ist zu erwarten, dass sich in jeder Zivilisation von einiger Komplexität und Alphabetisierung eine Öffentlichkeitssphäre herausbildet – nur nicht unbedingt eine, die den Gepflogenheiten in einer Zivilgesellschaft entspricht.3 Ungeachtet aller Unterschiede im jeweiligen Verhältnis von Öffentlichkeit, Zivilgesellschaft und politischer Arena gehört zu diesem Komplex in allen Gesellschaften seit jeher ein Ringen um Macht und Autorität, Legitimation und Rechenschaftspflicht. Die konkreten Formen, wie sich solche Verhandlungen oder Streitigkeiten entwickeln, differieren je nach Zivilisation stark voneinander; sie entwickeln ihre je eigene Dynamik und sind ein Beleg dafür, wie verschieden Macht und Kultur verwoben sind.

II. Bei genauerem kritischem Hinsehen zeigt sich in der Tat – als Ergebnis einer Reihe von Vorträgen bei einem Workshop in Jerusalem –, dass sich in muslimischen Gesellschaften eine sehr lebhafte autonome Öffentlichkeit entwickelte, die für die Dynamik dieser Gesellschaften von entscheidender Bedeutung war.4 In ihrer Einleitung zu dem Sammelband, der aus diesem Workshop hervorging, schreiben Miriam Hoexter und Nehemia Levtzion: »Das Bild, das sich aus den Beiträgen des vorliegenden Bandes ergibt, ist das einer lebendigen Öffentlichkeitssphäre, die unterschiedliche autonome Gruppen in großer Zahl einschließt und 3 Vgl. Shmuel N. Eisenstadt: European Civilization in a Comparative Perspective, Oslo 1987, und Die Vielfalt der Moderne, Berlin 2000. 4 Vgl. Miriam Hoexter/Nehemia Levtzion/Shmuel N. Eisenstadt (Hg.): The Public Sphere in Muslim Societies, Albany, NY 2002.

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Die Öffentlichkeit in muslimischen Gesellschaften | 313 relativ stabil und dabei sehr dynamisch ist. Die Gemeinschaft der Gläubigen war der Schwerpunkt, um den sich die Aktivitäten der Öffentlichkeit drehten. Dass diese Gemeinschaft an der Ausformung der Öffentlichkeitssphäre beteiligt war, versteht sich von selbst. Ihr Wohlergehen, ihre Bräuche und ihr Konsens waren Motiv und wichtigste Rechtfertigung für alle Veränderungen in der gesellschaftlichen und religiösen Praxis, in Recht und Politik, die die Öffentlichkeitssphäre bestimmten. Die in der islamischen Geschichte klar etablierte Unabhängigkeit der Scharia (sarî‘a) sowie die Aufteilung der Pflichten gegenüber der Gemeinschaft auf Herrscher und Religionsgelehrte (‘ulamâ’) waren entscheidende Faktoren für die Sicherung der Autonomie der Öffentlichkeitssphäre und für die Begrenzung der absoluten Macht der Herrscher.«5 ^

Diese Öffentlichkeitssphären waren Arenen, in denen verschiedene Teile der Gesellschaft im Namen der grundlegenden Prämissen der islamischen Vision ihre Forderungen vortragen konnten. Die Dynamik dieser öffentlichen Sphären lässt sich nur dann angemessen verstehen, wenn man die absolut zentrale Stellung der Gemeinschaft der Gläubigen (umma) darin berücksichtigt, welche auf einer Grundannahme des Islam gründet: Danach sind alle Gläubigen gleichberechtigt, und alle haben den gleichen Zugang zum Heiligen. Daraus ergibt sich zwingend, dass die Mitglieder der Umma ein Recht auf Teilhabe und Teilnahme haben – wenn schon nicht direkt in der zentralen politischen Arena, so doch auf jeden Fall in allen Angelegenheiten der Gemeinschaft und der Religion, bei der Verbreitung und Verkündung von Normen für die öffentlichen Ordnung. In der Tat waren es die Ulema (‘ulamâ’), so schwach ihre Organisation auch sein mochte, die als Wächter der ursprünglichen islamischen Vision, als Bewahrer der normativen Dimensionen der Umma und als Wächter und Deuter der Scharia fungierten. Es waren die Ulema – die religiösen Führer, die über Gesetz und Scharia wachten, und so mittelbar auch über die Grenzen der islamischen Gemeinschaft – es waren die Religionsgelehrten, die in ihrer juristischen Funktion eine zentrale Stellung innehatten. Sie agierten jedoch stets gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Akteuren: mit Repräsentanten von Familien, mit Mitgliedern der Gemeinschaft bzw. von Gemeinschaften und natürlich auch mit den Herrschern. Wie Mashall Hodgson in The Venture of Islam gezeigt hat, waren es die Ulema, die in islamischen Gesellschaften durch ihre Aktivitäten in Rechtsschulen, Stiftungen (sing. waqf) und Sufi-Orden die Öffentlichkeit bildeten und die dabei Arenen schufen, die von den Herrschern nicht vollständig kontrolliert wurden.6 Unter den vielen Organisationen, die sich in muslimischen Gesellschaften entwickelten, waren es in der Tat die Rechtsschulen, Stiftungen und Sufi-Orden, die zu wesentlichen Teilen die Öffentlichkeit konstituierten. Zwar änderten sich Bedeutung und Reichweite dieser Institutionen je nach historischem Kontext, aber irgendeine Kombination dieser Einrichtungen scheint es im Islam immer und überall gegeben zu haben. Viele Aspekte der institutionellen Arenen, die zusammen genommen die 5 Ebd., S. 15. 6 Vgl. Marshall G.S. Hodgson: The Venture of Islam: Conscience and History in a World Civilization, 3 Bde., Chicago 1974, Bd. 1, S. 278-284, 289-291, 299-300, 345-350, 473-474; Bd. 2, S. 46-53, 110, 406-407, 448-453, 457-493; und zum Sufismus Bd. 2, S. 203-213, 218-220.

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314 | Shmuel N. Eisenstadt Öffentlichkeit bildeten, variierten in unterschiedlichen Gesellschaften und Epochen. Auch unterlagen sie der Regulierung durch die Herrscher. Trotzdem waren sie relativ autonom und konnten weitgehenden Einfluss auf den jeweiligen Herrscher ausüben – einen Einfluss, der weit über simple Unterwürfigkeit gegenüber offizieller Herrschaft oder Versuche, diese Herrschaft zu umgehen, hinausging. Es war die zentrale Stellung der Ulema, ihr ziemlich hoher symbolischer Stellenwert trotz minimaler organisatorischer Autonomie, die den Unterschied zwischen muslimischen Regimen und anderen traditionellen dynastischen Regimen in Südoder Südostasien oder im frühen Nahen Osten ausmachte. Zwar entwickelte sich die autonome religiöse Elite der Ulema nicht zu einem breiten, unabhängigen, kohärenten Klerus. Denn die religiösen Gruppen und Funktionäre waren nicht als eigene, separate Einheit organisiert. Auch bildeten sie keine straffe Organisation aus – allenfalls, und auch dort nur teilweise, im Osmanischen Reich,7 wo weite Teile der Ulema vom Staat organisiert waren, oder in verschiedenen Gruppierungen der Schiiten.8 Doch selbst im Osmanischen Reich waren die Ulema weitgehend autonom, da sie nach eigenen – wenngleich sehr informellen – Rekrutierungskriterien ausgewählt wurden und zumindest im Prinzip von den Herrschern unabhängig waren. Diese religiösen Führer schufen umfassende Netzwerke und vereinten auf diese Weise unter einem einheitlichen religiösen, oft auch gesellschaftlich-zivilisatorischen Dach unterschiedliche ethnische und geopolitische Gruppen, Stämme, sesshafte Bauern und Städter. Sie schufen zwischen diesen Gruppen und Individuen Wechselwirkungen und Interaktionen, die sich auf andere Weise wahrscheinlich nicht entwickelt hätten. Und es waren die Ulema, die mit ihren unterschiedlichen, oft transstaatlichen Netzwerken das entscheidende Element für die Herausbildung der typischen Merkmale von Öffentlichkeit in islamischen Gesellschaften waren.

III. Die wichtigsten Faktoren für die Konstitution von öffentlichen Sphären im Islam waren: das Ideal der Gemeinschaft aller Gläubigen (umma) als wichtigster Ort für die Umsetzung der moralischen transzendentalen Vision des Islam; die stark universalistische Komponente in der Definition dieser islamischen Gemeinschaft; die eng damit verknüpfte Akzentuierung der prinzipiellen politischen Gleichheit aller Gläubigen – sowie die fortwährende Konfrontation dieses Ideals mit den politischen Realitäten der islamischen Expansion. Die unverfälschte Vision der Umma, die wahrscheinlich nur in der allerersten, prägenden Phase des Islam galt, schloss eine vollständige Verschmelzung der politischen und religiösen Kollektive ein, also die vollständige Konvergenz von soziopoliti-

7 Vgl. Hamilton A.R. Gibb: Studies on the Civilization of Islam, Boston 1968; Halil Inalcik: The Ottoman Empire: The Classical Age, 1300-1600, London 1973. 8 Vgl. Said Amir Arjomand (Hg.): Authority and Political Culture in Shi’ism, Albany, NY 1988.

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Die Öffentlichkeit in muslimischen Gesellschaften | 315 scher und religiöser Gemeinschaft.9 Schon die begriffliche Unterscheidung zwischen diesen beiden Dimensionen, eine in der historischen Erfahrung des Westens verwurzelte Differenzierung, ist, streng genommen, auf das Konzept der Umma überhaupt nicht anwendbar. Im Rahmen dieser Vision ergaben sich von Beginn der islamischen Geschichte an starke Spannungen zwischen partikularen, urtümlich arabischen Elementen oder Komponenten, die anscheinend auf natürliche Weise in den ursprünglichen Trägern der islamischen Vision verkörpert waren, und der universalistischen Orientierung des Islam – wobei diese Spannungen im Zeichen der fortwährenden Expansion (d.h. der islamischen Eroberungen und der damit verbundenen Eingliederung neuer territorialer Einheiten und ethnischer Gruppen) immer mehr in den Vordergrund rückten.10 Endgültig kristallisierte sich diese universalistische Ideologie im Zeichen der so genannten Abbasiden-Revolution heraus. Paradoxerweise entwickelte sich ebenfalls zu dieser Zeit, sogar in enger Beziehung zur Institutionalisierung dieser universalistischen Vision, besonders im sunnitischen Islam eine De-facto-Trennung zwischen religiöser Gemeinschaft und Herrschern. Diese von den religiösen Führern teilweise legitimierte Trennung wurde stets aufs Neue bestätigt, vor allem durch die fortwährende militärische und missionarische Expansion des Islam – eine Expansion, welche die Möglichkeiten eines einzelnen Regimes, alles zusammenzuhalten, weit überstieg.11 In den verschiedenen muslimischen Regimen, die sich im Zeichen der ständigen Expansion des Islam herausbildeten, ergab sich eine Trennung zwischen dem Kalifen (halîfa) und dem tatsächlichen Herrscher, dem Sultan. Hier deutete sich die später de facto erfolgende Trennung zwischen Herrschern und religiösem Establishment (‘ulamâ’) bereits an. Dieser Prozess kulminierte im 11. Jahrhundert und wurde unter dem Eindruck der mongolischen Invasionen noch weiter verstärkt. Der

9 Vgl. Michael Cook: Muhammad, Oxford 1983; M. Hodgson: The Venture of Islam; Bryan S. Turner: Weber and Islam, London 1974; Ira M. Lapidus: A History of Islamic Societies, Cambridge 1987; I.M. Lapidus: »The Arab Conquest and the Formation of Islamic Societies«, in: Gautier Juynboll (Hg.), Studies on the First Century of Islamic Society, Carbondale, IL 1982, S. 49-72; Irfan Shahid: »Pre-Islamic Arabia«, in: P.M. Holt/Ann Lambton/Bernard Lewis (Hg.), Cambridge History of Islam, Bd. 1, Cambridge 1970, S. 3-29; Wolfgang Schluchter: »Einleitung. Zwischen Welteroberung und Weltanpassung: Überlegungen zu Max Webers Sicht des frühen Islams«, in: W. Schluchter (Hg.), Max Webers Sicht des Islams: Interpretation und Kritik, Frankfurt am Main 1987, S. 11-124; Daniel Pipes: Slave Soldiers and Islam, New Haven, CT 1981; Patricia Crone: Slaves on Horses: The Evolution of the Islamic Polity, Cambridge 1980. 10 Vgl. Ira M. Lapidus: »The Separation of State and Religion in the Development of Early Islamic Society«, in: International Journal of Middle Eastern Studies 6 (1975), S. 363-385, und »State and Religion in Islamic Societies«, in: Past and Present 151 (1996), S. 3-27. 11 Vgl. H.A.R. Gibb: Studies in the Civilization of Islam; I.M. Lapidus: History of Islamic Societies; I.M. Lapidus: »State and Religion in Islamic Societies«; D. Pipes: Slave Soldiers and Islam; P. Crone: Slaves on Horses.

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316 | Shmuel N. Eisenstadt Kalif hatte de facto oft keine Macht mehr, aber er diente weiterhin als Idealfigur – als Verkörperung der ursprünglichen islamischen umma-Vision und als wichtigste Legitimationsquelle für den Sultan. Letztlich verweigerten jedoch weder Kalif noch Ulema jemals einer Person oder Gruppe, die in der Lage waren, die Macht zu ergreifen, die entsprechende Legitimation. Die Differenzierung zwischen Kalif und Sultan wurde noch weiter forciert, als sich – in enger Beziehung zur Expansionsweise des Islam, speziell des sunnitischen Islam – ein einzigartiger Herrschertyp herauskristallisierte: der Typ des aus einem Stammes- oder Sektenhintergrund hervorgegangenen militärisch-religiösen Herrschers. Im Zuge dieser Entwicklung entstand auch das System der Militärsklaverei mit seinen speziellen sozialen Aufstiegsmöglichkeiten – . etwa das gulâm-System im Allgemeinen und das System der Mamluken und der osmanischen devs¸irme im Besonderen. Auf diese Weise konnten herrschende Gruppen auch aus fremden Elementen und ausländischen Kontexten rekrutiert werden.12 Selbst wenn sich irgendwo Strukturen eines eigenen Reiches entwickelten – etwa im Iran, einem Hort des schiitischen Islam, wo recht dauerhafte, starke Patrimonialregime entstanden –, folgte daraus noch immer kein vollständiges Zusammengehen von politischen Herrschern und religiösem Establishment.13

IV. Im Rahmen dieses fortwährenden Spannungsverhältnisses zwischen umma-Ideal und soziopolitischen Realitäten entwickelte sich in der muslimischen Gesellschaft eine ebenso beständige wie variable, durch Autonomie der Ulema und Hegemonie der Scharia geprägte Öffentlichkeitssphäre. Damit war und ist jedoch, anders als in europäischen Parlamenten und in den städtischen Körperschaften im Westen, noch kein autonomer Zugang zur politischen Arena und zum Herrschaftsbereich impliziert. Dass es in vielen muslimischen Gesellschaften trotzdem zu Versuchen, oft sogar zu massiven Bestrebungen kam, Einfluss auf die Regierung zu gewinnen, versteht sich von selbst. Doch im Konkreten, besonders in der Außen- und Militärpolitik, aber auch bei inneren Angelegenheiten wie der Besteuerung, der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Kontrolle über den Beamtenapparat, waren die Herrscher von den diversen Akteuren im Bereich der Öffentlichkeit ziemlich unabhängig. Die im vorherrschenden islamischen Denken der sunnitischen Mehrheit etablierte Trennung zwischen Kalif und Sultan legitimierte tendenziell jeden Machtha12 Vgl. David Ayalon: L’esclavage du mamelouk, Jerusalem 1951, und Le phénomène mamelouk dans l’Orient islamique, Paris 1996. 13 Vgl. Said Amir Arjomand: »The Law, Agency, and Policy in Medieval Islamic Society: Development of the Institutions of Learning from the Tenth to the Fifteenth Century«, in: Comparative Studies in Society and History 41:2 (1999), S. 263-293; S.A. Arjomand (Hg.): Authority and Political Culture in Shi’ism, Albany, NY 1988; S.A. Arjomand: From Nationalism to Revolutionary Islam, Albany, NY 1984; S.A. Arjomand: The Turban for the Crown: The Islamic Revolution in Iran, New York 1988.

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Die Öffentlichkeit in muslimischen Gesellschaften | 317 ber, der die Existenz der muslimischen Gemeinschaft und die Geltung der Scharia sicherstellte. Zugleich legitimierte diese Herrschaftsstruktur den möglichen Zwangscharakter der Herrschaftsausübung; ja sie setzte ihn geradezu voraus – ebenso wie die Distanz dieser Herrscher zum ursprünglichen, moralisch geprägten muslimischen Ordnungsideal einer Gemeinschaft aller Gläubigen. Gleichwohl galt die Legitimation der Herrscher, selbst die der Despoten – in jenem scheinbar minimalistischen Ton, der für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Gemeinschaft erforderlich war – nur für diesen Bereich. Als Verkünder, Wächter oder Regulierer der grundlegenden Normen der islamischen Gemeinschaft waren solche Herrscher nicht qualifiziert. Unabhängig vom jeweiligen Akzeptanzgrad der Herrscherlegitimation gehört es normalerweise zu den Pflichten der Herrscher, die gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten und durch Umsetzung der Scharia Gerechtigkeit walten zu lassen. Für die Ulema ergab sich daraus jedoch die Möglichkeit, das Verhalten der Herrscher genau unter die Lupe zu nehmen, selbst wenn eine derartige Beobachtung nicht immer klare institutionelle Auswirkungen hatte. Dass politische Streitfragen auch Gegenstand der muslimischen Theologie wurden, hatte paradoxerweise nicht zuletzt mit dieser Divergenz zwischen dem Ideal des islamischen Herrschers (als Garant der ursprünglichen transzendentalen Vision des Islam) und der Realität seiner Herrschaftsausübung zu tun14. So kam es in muslimischen, zumal in sunnitischen Gesellschaften zu einer sehr interessanten Dissoziation zwischen Aufbau und Form der Öffentlichkeitssphäre sowie dem Zugang zur eigentlichen politischen Arena einerseits und den tatsächlichen Entscheidungsprozessen der Herrscher andererseits. Diese Entkoppelung manifestierte sich darin, dass große Teile der Gesellschaft, im Bereich der Öffentlichkeit die wichtigsten Akteure, nur sehr begrenzt autonomen Zugang zu konkreten politischen Entscheidungsprozessen hatten, während andererseits die Bewahrung der moralischen Ordnung der Gemeinschaft (umma) bei Ulema und Gläubigen lag – wobei die Herrscher in dieser Hinsicht nur eine sekundäre Rolle spielten. In ebendieser Entkoppelung von Öffentlichkeit und Regierungshandeln liegen die tieferen Gründe für die Entstehung des falschen Eindrucks, bei den Herrschern in muslimischen Gesellschaften handele es sich um orientalische Despoten. Dieses Bild ist vor allem deshalb falsch, weil das Spektrum der Entscheidungsgewalt solcher Herrscher relativ beschränkt war. Auch wenn sie sich bisweilen gegenüber ihrem engsten Hofstaat oder sogar gegenüber einzelnen Untertanen wie Despoten aufführten, war ihre Macht in allen inneren Angelegenheiten, die über Steuerfragen und die Aufrechterhaltung der Ordnung hinausgingen, deutlich eingeschränkt – und zwar nicht nur aufgrund technologischer Beschränkungen. Die Macht der Herrscher war auch deshalb eingeschränkt, weil in allen sunnitisch-islamischen Gesellschaften der Herrschaft (»Politik«), anders als in Europa, anders auch als im Urbild des muslimischen Herrschers als Verkörperung der transzendentalen Vision des Islam vorgesehen, bei der Aufrechterhaltung der moralischen Ordnung ideologisch keine zentrale Bedeutung zukam, auch wenn sie pragmatisch gesehen natürlich eine unabdingbare 14 Vgl. Aziz al-Azmeh: Muslim Kingship: Power and the Sacred in Muslim, Christian and Pagan Politics, London 1997.

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318 | Shmuel N. Eisenstadt Voraussetzung für die Umsetzung der Scharia war. Überdies ist, wie Arjomand gezeigt hat, die »politische« Schwäche vieler bedeutender Organisationen des öffentlichen Lebens nicht despotischen Neigungen der Herrscher zuzuschreiben, sondern dem Fehlen rechtlicher Konzepte und juristisch definierter Körperschaften.15 Die Abkoppelung einer autonomen, lebendigen Öffentlichkeitssphäre von der politischen Arena, genauer gesagt: vom Bereich der Herrschaftsausübung, war ein Hauptmerkmal der muslimischen Zivilisation; hier liegt einer der Hauptunterschiede gegenüber den Verhältnissen in Europa, besonders in West- und Mitteleuropa, aber auch zum Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und politischer Herrschaft in anderen, nichtmuslimischen Zivilisationen Asiens. So unterschieden sich die muslimischen Verhältnisse zum Beispiel von denen in Indien, wo die politische Ordnung keine große Bedeutung für die Umsetzung der vorherrschenden transzendentalen und moralischen Vision hatte, wo die Souveränität sehr zersplittert und die Herrschaft weitgehend in ein sehr flexibles Kastensystem eingebettet war.16 Daraus entwickelte sich dort eine lebendige Öffentlichkeitssphäre mit relativ gutem Zugang zu den Herrschenden. Aber die muslimischen Verhältnisse unterschieden sich auch von denen in China, wo die politische Ordnung in der Tat die wichtigste Arena für die Umsetzung der transzendentalen Vision war, wo jedoch die Herrscher zusammen mit den konfuzianischen Mandarinen die Rolle der einzigen Wächter dieser Weltordnung spielten und kaum Raum für eine autonome Öffentlichkeit ließen.17

V. Die Interaktionsweise der verschiedenen Akteure in der Öffentlichkeitssphäre muslimischer Gesellschaften wurde durch grundlegende Prämissen des Islam ebenso beeinflusst wie durch die relative Distanz dieser Akteure zur direkten Beteiligung am politischen Entscheidungsprozess. Typisch für diesen Bereich waren enge physische Interaktionen zwischen unter15 Vgl. Erwin J. Rosenthal: Political Thought in Medieval Islam, Cambridge 1958, und S.A. Arjomand: »The Law, Agency, and Policy in Medieval Islamic Society«. 16 Vgl. Gloria Goodwin Raheja: »India: Caste, Kingship, and Dominance Reconsidered«, in: Annual Review of Anthropology 17 (1988), S. 497-522; Lloyd I. Rudolph/Susanne H. Rudolph: In Pursuit of Lakshmi: The Political Economy of the Indian State, Chicago 1987; André Wink: Al-Hind: The Making of the Indo-Islamic World, Band 1, Early Medieval India and the Expansion of Islam: 7th-11th Centuries, Leiden 1990. 17 Vgl. Etienne Balazs: Chinese Civilization and Bureaucracy: Variations on a Theme, New Haven, CT 1964; Chang Chung-li: The Chinese Gentry: Studies on Their Role in Nineteenth-Century Chinese Society, Seattle 1955; Otto B. van der Sprenkel: The Chinese Civil Service: The Nineteenth Century, Canberra 1956; Frederic Wakeman, Jr.: »Boundaries of the Public Sphere in Ming and Qing China«, in: Daedalus 127:3 (1998), S. 167-190; Alexander Woodside: »Territorial Order and Collective Identity Tensions in Confucian Asia: China, Vietnam, Korea«, ebd., S. 191-220; Shmuel N. Eisenstadt (Hg.): Kulturen der Achsenzeit II: Ihre institutionelle und kulturelle Dynamik, Teil I, China, Japan, Frankfurt am Main 1992.

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Die Öffentlichkeit in muslimischen Gesellschaften | 319 schiedlichen Akteuren und die Entwicklung gemeinsamer Kleidungs- und Essensnormen sowie starker informeller, labiler Bindungen, oft über die Grenzen formeller Institutionen hinweg, wobei diese Institutionen zwar durchlässig, aber auch sehr mächtig waren. Ihnen kam entscheidende Bedeutung für die fortwährende Bildung von Öffentlichkeitssphären zu, in denen zahlreiche Menschen und viele Teile der Gesellschaft interagieren konnten. Daneben dazu entwickelte sich innerhalb dieser Öffentlichkeit ein enormes Potenzial für Massenbewegungen und Massenausbrüche. Gerade die ständige Oszillation zwischen dauerhaften informellen Bindungen und Mitgliedschaften einerseits und derartigen Massenausbrüchen andererseits war für viele Öffentlichkeitsbereiche muslimischer Gesellschaften typisch. Sie konnten als wichtiges Signal politischer Unzufriedenheit dienen – in Extremfällen auch als Bestandteil oder Grundlage sektiererischer Aktivitäten, die sich als Bannerträger der ursprünglichen islamischen Vision darstellten. Derartige Aktivitäten bildeten in muslimischen Gesellschaften geradezu eine Konstante. Sie stellten ein wichtiges Element bei der Konstitution von Öffentlichkeit dar. Dabei hingen die sektiererischen Aktivitäten meistens mit dem Fortleben der utopischen Vision aus der Frühzeit des Islam zusammen; denn diese Utopie wurde niemals vollständig umgesetzt, aber auch niemals völlig aufgegeben. Sektiererische Tendenzen gab es auch in den sozialen Bewegungen, die in muslimischen Gesellschaften immer wieder aufkamen. Zu deren typischen Merkmalen gehörte auch die Bedeutung politischer Dimensionen in ihrem Inneren – politischer Visionen, die sich häufig an der Restauration der niemals ganz aufgegebenen ursprünglichen, reinen Vision des Islam orientierten. Solche Erneuerungsvisionen waren in den verschiedenen Versionen des Reform-Überlieferungskorpus verkörpert, den so genannten mugaddid-Überlieferungen.18 Sie konnten sich aber auch auf die messianische Person des Mahdis konzentrieren und/oder von einem Sufi-Orden, in einer Stammesgruppe oder in einer Rechtsschule verbreitet werden. Derartige politische oder auf Erneuerung gerichtete Orientierungen hatten in der Regel eines von drei möglichen Zielen: die aktive Teilhabe im politischen Zentrum, die Zerstörung oder Transformation des politischen Zentrums oder den bewussten Rückzug aus der Politik. Doch sogar die Rückzugsbewegungen, die sich im schiitischen Islam und bei den Sufis entwickelten, schlossen oft Tendenzen zur Erneuerung der ursprünglichen islamischen Vision ein – was potenziell wiederum zu politischen Aktionen führte. Die umfassendste Entwicklung des politischen Potenzials von Erneuerungsten^

18 Vgl. Ella Landau-Tasseron: »The ›Cyclical Reform‹: A Study of the Mujaddid Tradition«, in: Studia Islamica 70 (1989), S. 79-118; Hava Lazarus-Yafeh: »Tajdid al-Din: A Reconsideration of Its Meaning, Roots and Influence in Islam«, in: The New East 31 (1986), S. 1-10; Nehemia Levtzion: »Eighteenth-Century Renewal and Reform Movements in Islam«, ebd., S. 48-70; N. Levtzion/John O. Voll (Hg.): Eighteenth-Century Renewal and Reform Movements in Islam, Syracuse, NY 1987; N. Levtzion/G. Weigert: »Religious Reform in EighteenthCentury Morocco«, in: Jerusalem Studies in Arabic and Islam 19 (1995), S. 173-197; J. Voll: »Fundamentalism in the Sunni Arab World: Egypt and the Sudan«, in: Martin E. Marty/R. Scott Appleby (Hg.), Fundamentalism Observed, Chicago 1991, S. 345-403.

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320 | Shmuel N. Eisenstadt denzen war in islamischen Gesellschaften immer dann zu verzeichnen, wenn solche Tendenzen sich mit einem Wiederaufleben von Stammesaktivitäten verbanden, mit einem Aufstand gegen »korrupte« oder schwache Regime – ein Komplex, der in der Expansionsweise des Islam begründet war. Diese Tendenz hängt eng mit den berühmten Kreisläufen zusammen, die Ibn Haldûn in seinem Geschichtswerk schilderte – mit dem Zyklus von Stammeseroberungen auf der Grundlage von Stammessolidarität und religiöser Frömmigkeit. Diese Stämme eroberten gottlose verweltlichte Städte und wurden dort sesshaft, woraufhin es erneut zu einer Degeneration der aus Stämmen hervorgegangenen Herrscherschicht und ihrer anschliessenden »Regeneration« durch neue tribale Gruppen aus dem weiten – alten oder neuen – Reservoir an Stämmen kam. Solche neu zum Islam bekehrten Stämme wie die Mongolen entwickelten sich in der islamischen Zivilisation zu einer zentralen dynamischen und politischen Kraft neben den nur scheinbar zur Ruhe gekommenen Stämmen auf der Arabischen Halbinsel, nicht zuletzt den Saudis gleich Banû Sa‘ûd als wahrscheinlich jüngstem und mächtigstem Beispiel eines Stammes, der durch das Bündnis mit einer religiösen Bewegung, den Wahhabiten, ein Reich gründete. Natürlich war bei diesen Erneuerungstendenzen in verschiedenen muslimischen Gesellschaften und zu unterschiedlichen Zeiten ihrer Geschichte eine große Bandbreite im konkreten Denken zu verzeichnen, aber die Tendenzen als solche bildeten eine fortlaufende Komponente bei der Konstitution von Öffentlichkeit in muslimischen Gesellschaften.

VI. Sofern solche Bewegungen nicht – wie in Ibn Haldûn Zyklustheorie – neue Regime installierten, machte sich ihr Einfluss auf die muslimischen Gesellschaften, wie auch der Einfluss vieler anderer gesellschaftlicher Gruppen, in Form einer fortwährenden Rekonstruktion von autonomen, lebendigen Öffentlichkeitssphären bemerkbar – insbesondere in Rechtsschulen, Stiftungen (sing. waqf) und Sufi-Orden. Wie wir bereits gesehen haben, waren diese öffentlichen Bereiche weitgehend autonom – in dem Sinne, dass sie nach autonomen Kriterien für Rekrutierung und Handeln konstruiert waren. Außerdem bildeten sie Bereiche, in denen verschiedene Teile der Gesellschaft ihre Forderungen im Namen der vermeintlichen Grundprinzipien der islamischen Vision zum Ausdruck bringen konnten. Zwar waren diese Öffentlichkeitsbereiche de facto oft in hohem Maße von den Herrschern abhängig, aber ihre Entwicklung verlief trotzdem weitestgehend autonom. Dabei wurden auch umfassende staatsübergreifende Netzwerke geschaffen und es konnte gelegentlich zum Schlagabtausch zwischen den autonomen Bereichen der Öffentlichkeit und den Herrschern kommen. In diesen Zusammenhängen führte der Aufbau autonomer Öffentlichkeitsbereiche in der historischen Erfahrung muslimischer Gesellschaften zur Entstehung spezifischer, für diese Gesellschaften typischer Muster des Pluralismus. Selbst in den Gesellschaften islamischer Großreiche war ein solcher Pluralismus von überaus

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Die Öffentlichkeit in muslimischen Gesellschaften | 321 starken patrimonialen Merkmalen (im Sinn von Max Weber) geprägt, zum Beispiel von der Existenz separater regionaler, ethnischer und religiöser Teilbereiche. Zu den Entstehungsbedingungen eines solchen Pluralismus gehörten auch eine relativ schwache Durchsetzungskraft des Zentrums an den Peripherien sowie Übergriffe der Peripherie auf das Zentrum. Und schließlich waren auch multiple Legitimationsmuster typisch für diesen Pluralismus, besonders in den genannten Teilbereichen. Doch im Gegensatz zu den eher klassischen Patrimonialregimen, die sich in »nicht-achsenzeitlichen« Zivilisationen wie den altindianischen Kulturen Mittelamerikas und im alten Mittleren Osten des hinduisierten südasiatischen Raumes herausbildeten, bestanden bei muslimischen dynastischen Regimen ständig Spannungen zu sektiererischen Tendenzen.19 Darum konnten diese Regime von extremeren Proto-Fundamentalisten wie den Wahhabiten unterminiert werden, die im Einklang mit der reinen Lehre des Islam ein Regime zu etablieren suchten, das dieser ursprünglichen Vision entsprach.

VII. Die Konstitution von Öffentlichkeit hat sich seit dem Beginn der Moderne und seit Gründung moderner Nationalstaaten natürlich wesentlich verändert, vor allem das Verhältnis von Öffentlichkeit und politischer Arena. Viele Merkmale der »traditionellen« muslimischen Öffentlichkeit haben zwar weiterhin Bestand – ihre Lebendigkeit, die dort herrschende Vielfalt informeller Verbindungen, direkter physischer Begegnungen und Interaktionen, die starke Bedeutung, die Kleidungsmustern, öffentlichen Auftritten und öffentlichen Interaktionen beigemessen wird, sowie die Möglichkeit von Massenausbrüchen und Massenkonfrontationen. Doch haben sich diese Merkmale im Zeichen der grundlegenden Prämissen des modernen Staates und der modernen Kommunikationsmittel stark verändert. Zunächst sind verschiedene neue Entwicklungen bei der Konstitution von Öffentlichkeit in muslimischen Gesellschaften zu verzeichnen. Es traten neue, »moderne«, vielseitig aktive soziale Akteure und Verbände auf: Freiberufler, Intellektuelle, Medienexperten und dergleichen, oft in enger Verbindung mit neuen politischen Organisationsweisen, sei es in sozialen Bewegungen, sei es in politischen Parteien. Diese Gruppen versuchten natürlich, sich eigene neue öffentlich-soziale Räume zu schaffen. Das Ausmaß, in dem es zwischen »traditionelleren«, in der islamischen Tradition und in islamischen Institutionen verwurzelten Formen öffentlichen Handelns einerseits und den modernen Akteuren andererseits zu Kontakten kam, variierte in unterschiedlichen Gesellschaften beträchtlich, doch insgesamt neigten beide Bereiche lange dazu, sich in getrennten Nischen zu entwickeln. Erst in jüngerer Zeit entstanden intensivere – kooperative oder rivalisierende – Kontakte zwischen ihnen.

19 Zum Begriff »Achsenzeit« vgl. u.a. Shmuel N. Eisenstadt (Hg.): Kulturen der Achsenzeit II.

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322 | Shmuel N. Eisenstadt Zugleich entwickelten sich viele neue, nicht in traditionellen islamischen Institutionen eingebettete religiöse Gruppen oder Bewegungen – neue Formen älterer SufiOrden oder moderne religiöse Bewegungen, einschließlich der Fundamentalisten. Eine weitere sehr bedeutsame neue Entwicklung in der Öffentlichkeit zeitgenössischer muslimischer Gesellschaften – sowohl in moderneren Kreisen als signifikanterweise auch in den neuen religiösen Gruppen – ist die zunehmend autonome Beteiligung und sichtbare Präsenz von Frauen und Frauenbewegungen. Darauf wurde in der Literatur in gebotener Anschaulichkeit und Ausführlichkeit vielfach hingewiesen. Doch nicht nur die Eingliederung von Akteuren in die Öffentlichkeitssphäre muslimischer Gesellschaften hat sich in moderner Zeit deutlich verändert. Dramatisch verändert haben sich vielmehr – was fast noch wichtiger ist – die grundlegenden Prämissen für den Bereich der Öffentlichkeit, vor allem hinsichtlich des Verhältnisses von Staat und Öffentlichkeit. Der wichtigste Einzelaspekt, bedingt durch die Grundvoraussetzungen moderner Gemeinwesen, ist eine drastische Veränderung bei der traditionellen Trennung von Öffentlichkeit und politischer Arena, auch wenn diese Trennung niemals absolut war. Inzwischen ist sie allem Anschein nach weitgehend verschwunden. Wer heute in der Öffentlichkeit agiert, tendiert weit stärker dazu, sich direkt in der politischen Arena zu engagieren. Die Tendenz zu einer facettenreicheren Öffentlichkeit mag dabei als Ausweis einer stärkeren Demokratisierung angesehen werden, doch sind damit das Ausmaß autonomer politischer Teilhabe und das Spektrum des Pluralismus nicht automatisch größer geworden. Vielmehr hat sich mit den neu konstituierten modernen politischen Regierungssystemen auch die Wahrscheinlichkeit von Konfrontationen vergrößert – eine Wahrscheinlichkeit, die in den ideologischen Prämissen der Moderne mit ihrer starken Betonung politischer Homogenität wurzelt. Denn der Staat versucht, sich die Öffentlichkeit zu Eigen zu machen, sie zu kontrollieren und sogar zu monopolisieren. Entsprechend kann dabei die Autonomie der verschiedenen Öffentlichkeitsbereiche weitgehend unterminiert werden. Es kam und kommt fortwährend zu Spannungen und Rivalitäten zwischen den verschiedenen Sektoren der Öffentlichkeit sowie zwischen deren Protagonisten und den politischen Aktionsräumen. So haben sich im Zeichen moderner Entwicklungen die Spannungen und Konfrontationen zwischen pluralistischen und totalitären Tendenzen in muslimischen Gesellschaften, zwischen »offenen« und repressiven Tendenzen in ihrem Inneren, weit mehr verschärft als dies in »traditionellen« muslimischen Gesellschaften der Fall war. Mit dem Aufkommen zeitgenössischer fundamentalistischer Bewegungen sind diese Probleme sogar noch akuter geworden – basieren diese Bewegungen doch auf sektiererischen Tendenzen, die sich großenteils aus dem Inneren des öffentlichen Raumes heraus entwickelten und dort große Bedeutung erlangten. In derartigen fundamentalistischen Bewegungen verbinden sich oft die Kontrollmechanismen des modernen Staates mit starken jakobinischen Neigungen, und das Ganze legitimiert sich aus einer essenzialistischen Tradition. Entwicklungen im religiösen Bereich müssen allerdings nicht immer eine totalitäre Richtung nehmen. So sind zum Beispiel in indonesischen Sufi-Gruppen sehr

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Die Öffentlichkeit in muslimischen Gesellschaften | 323 interessante Entwicklungen zu verzeichnen, bei denen sich pluralistischere, offenere Räume ergeben haben; eine lebendige, facettenreiche Öffentlichkeit hat sich dort bis zu einem gewissen Grade sogar vom Staat gelöst.20 Solche Entwicklungen sind im Kontext der Versuche in vielen gesellschaftlichen Bereichen zu sehen, sich in lebendigen neuen Öffentlichkeitssphären weiterzuentwickeln, die auf geradezu »postmoderne« Weise versuchen, sich vom Staat zu distanzieren und sich autonome Sphären zu schaffen, ohne direkt auf ein politisches Engagement zu verzichten. Insgesamt gesehen bewegen sich die heutigen muslimischen Gesellschaften also zwischen zwei Polen: einerseits den Versuchen, Territorialstaaten zu etablieren, die einige Elemente des Pluralismus bieten und dabei an frühere historische Erfahrungen anknüpfen, Erfahrungen, die allerdings schon neu konstituiert sind, und andererseits starken antipluralistischen Tendenzen. Letztere zeigen sich in extremen säkular orientierten Unterdrückungsregimen (oft Militärdiktaturen) oder aber in fundamentalistischen Regimen, die zu extremem Jakobinertum neigen.

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326 | Simonetta Tabboni

Verkörperte Alterität im öffentlichen Raum Simonetta Tabboni In diesem Beitrag möchte ich zeigen, was es für die herrschende Mehrheitskultur einer Gesellschaft bedeutet, kulturelle Andersartigkeit (Alterität) im öffentlichen Raum zu akzeptieren, wenn sich diese als öffentliche Präsentation eines Körpers in auffälligem Gegensatz zur etablierten Norm äußert. Dieses wichtige Thema scheint mir in der Multikulturalismus-Debatte noch nicht genug Beachtung gefunden zu haben. Meine Beobachtungen konzentrieren sich auf zwei Hauptpunkte. 1. Die einflussreichsten normativen Theorien zum Multikulturalismus haben das Recht auf Anerkennung von Andersartigkeit und das Recht darauf, diese auch zum Ausdruck zu bringen, etabliert – unter der Bedingung, dass dabei die Menschenrechte respektiert werden. In dieser Ansicht stimmt die Mehrheit der öffentlichen Meinung, soweit sie von den sozialdemokratischen Parteien getragen wird, mit Intellektuellen und »progressiven« Politikern überein. Trotzdem ist Andersartigkeit in ihrer physischen Verkörperung, soweit sie sich im öffentlichen Raum manifestiert, noch immer weit von allgemeiner Akzeptanz entfernt. Wie kann das sein? Welche Aspekte des Themas werden durch den Auftritt eines »andersartigen« Körpers stärker hervorgehoben als durch »andersartige« Sitten und Denkweisen? Warum führt ein Körper, der im öffentlichen Raum »anders« präsentiert wird, zu wesentlich intensiveren Ablehnungsreaktionen als »andersartige« Gedanken, Worte und Praktiken? 2. Meine zweite Beobachtung betrifft die Untersuchung der Art und Weise, wie in der westlichen Kultur die Präsentation eines Körpers im öffentlichen Raum normativ geregelt ist – und zwar so, dass alle anderen Möglichkeiten ausgeschlossen werden. Unter Berücksichtigung des sinnlich – in diesem Fall: optisch – Erfahrbaren zeigt diese Analyse, wie Identität und Alterität voneinander abhängen, vom Augenblick ihrer wechselseitigen Bestimmung als Gleich- und Andersartiges an. Beide Sinnwelten, die oft als gegensätzliche und unvereinbare kulturelle Welten aufgefasst werden, haben in Wirklichkeit manche Kulturbestandteile gemeinsam, die nur als Gegensätze erscheinen, wenn man diese Welten jede für sich darstellt. Weder Identität noch Alterität können autonom, unabhängig voneinander, ohne Rekurs auf ihr Gegenteil definiert werden. Noch wichtiger ist, dass weder »Identität« noch »Alterität« begriffliche Entsprechungen zu »reinen«, in sich völlig kohärenten Kulturen sind. Meine Identität als Katholikin hebt sich zwar deutlich von den Einstellungen und Praktiken der Muslime ab. Doch erst die Interaktion beider Gruppen erlaubt uns zu bestimmen, was zu Jesus und was zu Allah gehört. Zugleich wissen wir dann, dass beide Kulturen weder in sich kohärent und homogen noch in jeder Hinsicht gegensätzlich zueinander sind. Nicht umsonst haben Kenner der vergleichenden Religionswissenschaft gezeigt, dass Christentum und Islam vieles gemein haben. Aus geographischer Sicht sind Einheimische und Fremde das Resultat derselben Festlegung räumlicher Grenzen. Die Eingrenzung der Identität schafft Differenz, die wiederum die Identität inhaltlich bestätigt. Dieser Vorgang ist auch deshalb möglich, weil der Fremde dem Einheimischen die Möglichkeit gibt, sich ex negativo zu definieren – als das, was er nicht ist. Der Einheimische oder – seit Entstehung des modernen Staates – der Staatsbürger sieht sich als Nicht-Fremder und stellt sich auch so

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Verkörperte Alterität im öffentlichen Raum | 327 dar. Der Mensch in der westlichen Kultur sieht sich als jemand, der Ruhe, Reserviertheit und Rationalität schätzt und der keinen Wert darauf legt, dabei zu sein, wenn die Tiere, die er essen wird, geschlachtet werden – im Gegensatz etwa zum marokkanischen Immigranten, der sein Radio- und Fernsehgerät laut aufdreht, der eine Geselligkeit auf der Straße kultiviert, die andere als Belästigung empfinden, der im Kaffeesatz liest und auf der Terrasse seiner Wohnung einem Schaf die Kehle durchschneidet. Die Konstruktion einer Identität ist nur durch Abgrenzung von Andersartigkeit möglich und zugleich eine schwere Wahl, weil aus verschiedenen Möglichkeiten ausgewählt werden muss. Identität ist ein Konstrukt, ist Resultat und Summe dieser schwierigen Einzelentscheidungen – doch daran wollen wir uns lieber nicht mehr erinnern. Es ist viel befriedigender, sich die eigene Identität als essenzielle Qualität vorzustellen – als substanzielle Identität, die über Jahrhunderte unverändert geblieben ist.1 Zurück zu den Regeln, die der Andersartigkeit (des Fremden) für den öffentlichen Auftritt von Körpern durch die Identität (der Einheimischen) auferlegt werden. In Situationen, in denen die Mehrheitsidentität die Macht dazu hat, definiert sie als »Anderen« (Fremden) jeden, der nicht derselben Kultur angehört. Das lässt die Präsentation individueller kultureller Merkmale dieses Anderen im öffentlichen Raum illegitim erscheinen. Ein buddhistischer Rechtsanwalt darf zum Beispiel Klienten vor einem westlichen Gericht nicht vertreten, wenn er in orangefarbene Stoffbahnen gehüllt ist. Bei genauerer Analyse derartiger Machtausübung der westlichen Mehrheitskultur gegenüber der Minderheit erschließt sich der Inhalt der Mehrheitsidentität in Einzelheiten, etwa in der Notwendigkeit, als (männlicher) Anwalt im Gericht eine Robe oder einen grauen bzw. dunkelblauen Anzug mit Krawatte zu tragen (und als Anwältin das Äquivalent dazu). Der Universalitätsanspruch einer solchen Identität ist eindeutig unbegründet. Wenn wir die Einzelschritte in jenem Prozess verfolgen, durch den eine bestimmte Gruppenvorstellung vom Verhalten in der Öffentlichkeit als einzig »normale« etabliert wird, als einzige, die allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann, dann wird leichter verständlich, warum der Skandal, der von einem »andersartigen« Körper in der Öffentlichkeit verursacht wird, oft größer ist als der durch »andersartige« Reden verursachte. Ein solcher historischer Abriss der Konstruktion des Körperbildes in der Mehrheitsidentität ist eine verhältnismäßig einfache Möglichkeit, dessen nicht-natürliches, nicht-universales Wesen aufzuzeigen und dessen völlig auf Wunschdenken basierendes Wesen als Konstrukt zu erweisen – ganz zu schweigen von Interdependenz und Reziprozität der beiden Konstrukte »Identität« und »Alterität«. Bei der Analyse des Verhältnisses von Identität und Alterität beziehe ich mich auf die Kategorie des »Fremden«, wie sie Georg Simmel ausgearbeitet hat.2 Über dieses Thema habe ich selbst jahrelang gearbeitet. Erstaunlicherweise wurde diese 1 Vgl. Francesco Remotti: »L’essenzialità dello straniero«, in: Maurizio Bettini (Hg.), Lo straniero, ovvero l’identità culturale a confronto, Rom, Bari 1992, S. 32. 2 Vgl. Georg Simmel: »Exkurs über den Fremden«, in: G. Simmel, Soziologie, Leipzig 1908.

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328 | Simonetta Tabboni Kategorie noch nie mit den Kategorien Differenz und Dominanz in Verbindung gebracht. Dabei gestattet uns die Kategorie des Fremden ein adäquateres Verständnis des Verhältnisses von kultureller Mehrheit und Minderheit, zwei Gruppen, die unter Machtgesichtspunkten nicht gleichberechtigt sind – durch Offenlegung der Ambivalenz, die oft im Spiel ist, wenn sich Mehrheiten und Minderheiten begegnen. Eine Lesart der Konfrontation verschiedener Kulturen unter dem Gesichtspunkt der »gesellschaftlichen Form« des Fremden und im Lichte der Analysen einiger Anthropologen belegt eindeutig die wechselseitige Kontamination der betreffenden Kulturen – die diversen Mischungen, die sich bei kulturellen Identitäten hinter den Ansprüchen auf Reinheit und Essenzialismus verbergen.3

Andersartigkeit in der Debatte über den Multikulturalismus In den interessantesten Antworten auf die durch den Multikulturalismus aufgeworfenen Fragen werden die Extreme des Universalismus und Partikularismus vermieden; man sucht nach einem Mittelweg. Trotz ihrer unterschiedlichen theoretischen Ansatzpunkte vertreten etwa Jürgen Habermas, Charles Taylor und Alain Touraine eine Art »gemäßigten« Universalismus, der sich im Wesentlichen folgenden normativen Inspirationen verpflichtet weiß: Ein demokratisches System muss die Anerkennung von Andersartigkeit garantieren, aber auch Gleichheit vor dem Gesetz und Gleichberechtigung. Die Anerkennung von Andersartigkeit muss so geschehen, dass sie die interkulturelle Kommunikation begünstigt und die Bildung kultureller Enklaven verhindert – also die Entstehung von Gemeinschaften, die in sich geschlossen und nach außen hin abgeschlossen sind. Anders als erkenntnistheoretische Skeptiker, die es für unmöglich halten, andersartige kulturelle Welten zu vermessen, suchen und finden die genannten Theoretiker universale Elemente, die eine Kommunikation zwischen unterschiedlichen Kulturen ermöglichen. Das bedeutet: Nicht alle Differenzen sind zu respektieren, sondern nur jene, die dieses Kriterium der Universalität erfüllen. Es geht also nicht um ein bedingungsloses Akzeptieren aller Unterschiede und alles Andersartigen. Vielmehr wird – auf der Grundlage der Vereinbarkeit mit den Menschenrechten, dem Dreh- und Angelpunkt des westlichen Universalismus – eine Auswahl getroffen. Von einem radikal relativistischen Standpunkt aus hat Richard Rorty diese Positionen kritisiert und die These vertreten, kein einziger Standpunkt könne universalistisch genannt werden, wenn man bedenke, dass unser Wissen über die Welt unausweichlich durch Sprache vermittelt wird, jene Sprache, die wir benutzen, um die Welt zu beschreiben und zu deuten. Es gebe keinen unverzerrten Standpunkt oder Ausgangspunkt, von dem aus man Unterschiede objektiv bewerten könne. Die Erklärung absoluter Werte maskiere nur einen abgrenzenden Konstruktionsakt, der stets auf einen Kontext und auf eine kulturelle Situation bezogen sei. Die so genannten

3 Vgl. F. Remotti: »L’essenzialità dello straniero«; vgl. auch Remottis Buch Contro l’identità, Rom, Bari 1996.

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Verkörperte Alterität im öffentlichen Raum | 329 universalen Prinzipien seien in Wahrheit gesellschaftlich kontingent.4 Wenn wir das Andere oder den Anderen auf der Grundlage universaler Prinzipien zu erkennen meinten, funktioniere der Erkenntnisprozess de facto auf der Grundlage unserer eigenen kulturellen Identität. Richard Rorty tritt für einen Pluralismus ein, der jedem Anspruch auf allgemeine Gültigkeit entsagt. Nach Rortys Überzeugung kann Pluralismus graduell durch den Konsens akzeptiert werden, den die verschiedenen Kulturen erreichen können – allerdings nur auf der Basis eines Bewusstseins der radikalen Andersartigkeit im Werteansatz und der rein »poetischen« Natur der Grundlagen ihrer Institutionen und kulturellen Identitäten. Wenn uns bewusst wird, dass unser eigenes Vokabular aus Schlüsselbegriffen nur eine von viele Möglichkeiten ist, die Welt zu beschreiben und zu interpretieren, dann sind wir in der Lage, uns zu unserer eigenen Welt wie zu der der Anderen ironisch in Beziehung zu setzen. Erst dann erwerben wir die Fähigkeit, mit dem Schlüsselbegriffsvokabular anderer Menschen und Kulturen zu kommunizieren. Der ironische Mensch spürt, dass, was ihn mit anderen verbindet, weder eine allgemeine Solidarität ist noch die Tatsache, dass man gemeinsame universale Ideale hat, sondern die Fähigkeit, jene besondere Form des Leidens, die wir als Erniedrigung kennen, zu spüren und die in uns allen vorhandene selbstsüchtige Hoffnung zu hegen, dass unser eigenes kulturelles Universum nicht zerstört werden möge.5 Paradoxerweise landet Rorty, der die Suche nach einem universalen Prinzip verurteilt, am Ende selbst bei einem solchen – dem Bestreben aller Menschen, sich gegen Erniedrigung zu wehren, und dem Bemühen aller Menschen um die Sicherung der eigenen Kultur. Indes, selbst wenn die Schlussfolgerungen, die Rorty am wichtigsten sind, sich als unhaltbar erweisen, sind seine Ausführungen zum Konstrukt-Charakter der Alterität absolut überzeugend: Was als andersartig gilt, hängt ganz davon ab, wie die vorherrschende Identität Andersartigkeit definiert. Zumal im Zusammenhang unseres Themas vom »andersartigen« Körper, definiert als Körper des Fremden, unterstreicht Rortys Argument den nichtontologischen relativen Charakter der Körperdefinition im Spannungsfeld von Identität und Alterität; diese Definition ist in eine Machtbeziehung eingebettet, sie bildet sich auch in diesem Kontext heraus. Niemand kann ontologisch als »Fremder« definiert werden, und genauso unhaltbar ist die Behauptung, eine bestimmte Präsentation des Körpers sei schon für sich genommen unschicklich. In beiden Fällen ist ein solches Urteil nur vom Standpunkt einer vorherrschenden Identität aus möglich, die sich die Macht anmaßt, nach eigenen Kriterien zu dekretieren, wer Fremder ist und wie der Körper in der Öffentlichkeit präsentiert werden sollte. Die Schaffung von Differenz und die Definition, wer als Fremder gilt und was den korrekten Auftritt eines Körpers in der Öffentlichkeit ausmacht, haben keinerlei Bezug zu einer objektiven Realität. Sie sind das Ergebnis von Konflikt 4 Vgl. Richard Rorty: Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge 1989. (Dt. Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt am Main 1992.) 5 Vgl. Richard Rorty: »Method, Social Science and Social Hope«, in: Canadian Journal of Philosophy 11: 4 (1981), S. 569-588; auch als Kap. 11 in: Consequences of Pragmatism, Minneapolis 1982, S. 191-210.

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330 | Simonetta Tabboni und Verhandlung zwischen Mehrheit und Minderheit, wobei die mächtigere Seite die Identität der schwächeren Seite bis ins Detail bestimmt. Dazu gehören auch die akzeptablen Darstellungsweisen des Körpers im öffentlichen Raum. Identität und Alterität werden nur durch eine Wechselbeziehung definiert. Der bemalte Körper eines australischen Ureinwohners (Aborigine), aus westlicher Sicht bei einem Parlamentsabgeordneten, einem Anwalt vor Gericht oder einem Gast bei einem Botschaftsempfang undenkbar, ist aus sich heraus weder abartig noch teuflisch noch beunruhigend noch unschicklich. Der Skandal entsteht erst im Kontext jener Präsentationsweisen des Körpers, die der Westen dem Rest der Welt als einzig akzeptable Form für Auftritte im öffentlichen Raum erfolgreich aufoktroyiert hat. Norbert Elias hat in seinem Buch Etablierte und Außenseiter6 klar gezeigt, dass Etablierte und Außenseiter als solche nicht unabhängig voneinander existieren. Erst das Modell der Interdependenz, in dem sie zu agieren haben – ein figurationssoziologisches Modell, das bestimmt, wie beide Gruppen definiert werden und wie sich die eine Gruppe der anderen darstellt –, schafft zwei gegensätzliche Gruppen, die miteinander in Konflikt liegen. In seiner mustergültigen, auf soziologischen Studien in Winston Parva, einem Vorort der englischen Industriestadt Leicester, basierenden Darstellung zeigt Elias, wie sich zwischen zwei kulturell unterschiedlichen Gruppen eine Beziehung entwickeln kann, die beide Gruppen wechselseitig definiert. Seit vielen Generationen lebte dort eine Gruppe von Arbeiterfamilien, die im Lauf der Zeit »zivilisierte«, bürgerliche Gewohnheiten und Sitten angenommen hatte, was ihnen zu einer gewissen Respektabilität verholfen hatte. Als nun eine neue Gruppe von Arbeiterfamilien mit wesentlich »unzivilisierteren« Gewohnheiten in dasselbe Viertel zog, wurden Letztere von den Alteingesessenen zurückgewiesen, verachtet und durch Diskriminierung ausgegrenzt. Die alten Bewohner fühlten sich nämlich von sozialem Abstieg und Erniedrigung bedroht, wenn sie ihren sozialen Raum mit »unzivilisierten« Menschen hätten teilen müssen. Darum hielten sie die Neuen so weit wie möglich auf Distanz. Die Interdependenz beider Gruppen ist offensichtlich: Die Alteingesessenen wurden zu Etablierten, weil sie im Stadtbezirk ihre überlegene Macht gegenüber der neuen Gruppierung ausspielen konnten, und die neue Gruppe wurde nicht aufgrund essenzieller Eigenschaften zu Außenseitern, sondern durch eine Definition, die sie hinzunehmen hatte – und die im Verlauf desselben Prozesses gefunden wurde, der den anderen die Rolle der Etablierten zuwies. Wie alle Fremden, die in der heutigen Welt mit ihrer andersartigen, den Körpern oft eingeschrieben Weltsicht jede Menge politische und soziale Probleme bereiten, lässt sich auch Simmels »Fremder« nicht nach objektiven Merkmalen bestimmen. Das gilt auch für die Art und Weise, wie Fremde ihren Körper präsentieren, unabhängig von den Normen, die die jeweilige Mehrheit für die Körperdarstellung in der Öffentlichkeit gesetzt hat. Der Fremde ist im Grunde eine der Figuren, die der Westen konstruiert hat, um seiner eigenen kollektiven Identität Gestalt zu verleihen und sie mit einem Polster zu umgeben. Das Konstrukt des »Anderen« dient dazu, noch 6 Vgl. Norbert Elias/John L. Scotson: The Established and the Outsiders: A Sociological Inquiry into Community Problems, London 1965. (Dt. Etablierte und Außenseiter, Frankfurt am Main 1990 u.ö.)

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Verkörperte Alterität im öffentlichen Raum | 331 die ästhetischen Aspekte des Körpers als Universalien zu verankern und jede andere Art des Umgangs mit dem Körper auszuschließen oder wenigstens in passender Distanz zu halten. Auch hier ist der Gedanke der Realität als eines sozialen Konstrukts relevant. Es ist ein Gedanke, der insgesamt berücksichtigt, wie der Fremde definiert und konstruiert wird.7 Der Fremde, derjenige, der als andersartig definiert wird, ist kein reales Faktum, niemand, der außerhalb unserer selbst objektiv als Fremder existiert, mit einem spezifischen Körper, der unbestreitbar fremde Eigenschaften aufweist. Vielmehr handelt es sich um ein semantisches Konstrukt, das uns ziemlich direkt etwas über die grundlegenden Merkmale jener kulturellen Identität mitteilt, die über die Definitionsmacht verfügt – die also auch bestimmen kann, was als »fremd« zu gelten hat. Für Identität wie Alterität lässt sich das grundlegende Spektrum der Möglichkeiten und Formen, die für die Präsentation des Körpers im öffentlichen Raum vorgeschrieben sind, daraus ersehen, wie der Fremde in dem betreffenden Umfeld definiert ist.

Zum Hintergrund der Fragestellung In einem Artikel hat sich Nilüfer Göle kürzlich Gedanken über einen interessanten politischen Vorfall gemacht, der in der Türkei zu lebhaften öffentlichen Debatten führte.8 Eine türkische Parlamentsabgeordnete trat im Mai 1999 mit Kopftuch im Parlament auf, was zu einem heftigen Skandal und zu einem Parlamentsbeschluss führte, sie von der Sitzung auszuschließen. Der im Einklang mit der islamischen Kleiderordnung präsentierte Körper widersprach den säkularen Ansichten der türkischen politischen Klasse und deren Vorschriften für die Präsentation des Körpers in der Öffentlichkeit. In Italien geschah etwas Ähnliches. Im Juni 2000 brachte der italienische Premierminister Giuliano Amato seine Absicht zum Ausdruck, eine Homosexuellen-Parade, die kurz darauf in Rom stattfinden sollte, mit folgender Begründung zu verbieten: »Der Anblick von Männern und Frauen, die vulgär und provokant gekleidet auf der Straße paradieren, ist unvereinbar mit der würdigen, imposanten, ernsten Atmosphäre des Heiligen Jahres (Anno santo).« Was bedeutet diese Episode? Nicht nur aus Sicht der schwulen Minderheit signalisiert Amatos Aussage das stillschweigende Einverständnis mit der Meinung, wenn homosexuelle Andersartigkeit auf den Straßen Roms physisch demonstriert werde, dann müsse diese Zurschaustellung auf jeden Fall unsittlich sein. Aus der Sicht jener, die »Unsittlichkeit« inhaltlich definieren, also aus der Sicht der heterosexuellen Mehrheit, für die der italienische Premierminister sprach, bedeutet der Vorfall, dass 7 Vgl. Edward W. Said: Orientalism, New York 1978. (Dt. Orientalismus, Frankfurt am Main 1981.) 8 Vgl. Nilüfer Göle: »Islam in Public: New Visibilities and New Imaginaries«, in: Public Culture 36 (2002), S. 173-190. Vgl. auch den Beitrag von Ludwig Ammann im vorliegenden Band.

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332 | Simonetta Tabboni hier definiert wurde, was bei der öffentlichen Präsentation des Körpers züchtig und annehmbar sei, und was nicht; er bedeutet, dass nur eine bestimmte Form der öffentlichen Präsentation des Körper als legitim gilt – obwohl die italienische Republik verfassungsmäßig verpflichtet ist, Andersartigkeit anzuerkennen. Letztlich ist dieses Bild der legitimen Körperdarstellung eines, das die westliche Kultur im Lauf der letzten zwei Jahrhunderte als Exklusivbild für Anstand entwickelt hat – für den »anständigen« Auftritt des Körpers im öffentlichen Raum. Dieses Bild vom Anstand distanziert sich von anderen Bildern, überwiegend in den Kulturen anderer Völker anzutreffen, die sich einem Modernisierungsprozess nicht verpflichtet fühlen und dafür Vergnügen, Irrationalität, religiösen Schmuck oder Phantasie bei der öffentlichen Zurschaustellung ihrer Körper bevorzugen und für wert erachten. Die dominante moderne westliche Kultur hat eine öffentliche Darstellungsweise des Körpers durchgesetzt, die sich am säkularen Modell von Rationalität, Homogenität und Zurückweisung sexueller Bedürfnisse und puren Vergnügens orientiert – an einer Sicht, die eher die Verneinung und Ruhigstellung des Körpers fordert. Das Zusammentreffen unterschiedlicher Kulturen ruft emotionale Reaktionen hervor, die umso heftiger ausfallen – bis hin zum Empfinden, es handele sich um eine Provokation –, wenn die kulturelle Botschaft körperlich übermittelt wird. Denn was hier in Frage gestellt wird, ist das gesamte Modell der öffentlichen Körperpräsentation, und dabei handelt es sich um ein Modell, das Jahrhunderte lang von der Mehrheit mit Hilfe ihrer Mehrheitsmacht erfolgreich durchgesetzt wurde und nicht in Frage gestellt werden darf. Dieses Bild der Körpers im öffentlichen Raum wurde nie zuvor herausgefordert, es galt einfach als selbstverständlich. Die Amato-Episode zeigt, wie die zur Homosexuellen-Parade bereiten Körper als Fremde behandelt werden und wie ihr Anspruch zurückgewiesen wird, ihre Andersartigkeit im öffentlichen Raum physisch zur Geltung zu bringen – handelt es sich hier doch um »andersartige« Körper und nicht um Gedanken, Worte und Praktiken, die das Recht auf Andersartigkeit verteidigen. Dagegen wäre eine Schwulendemonstration, auf der nur Reden über das Recht eines jeden auf die eigene persönliche Sexualorientierung gehalten worden wären und bei der man sich an die Vorschriften des Demonstrationsrechts gehalten hätte, sicher überhaupt kein Problem gewesen.

Der Fremde, Alterität und Ambivalenz Ein solcher Ansatz wirft Fragen auf, die es nahe legen, sich dem Fremden, wie er von Simmel definiert und dargestellt wurde, nochmals zuzuwenden. Die Beziehung zwischen dem Fremden und dem Einheimischen ist nämlich dieselbe wie die zwischen Minderheitsalterität und Mehrheitsidentität. Der Fremde ist eine Figur, deren auf verschiedenen Ebenen wirksame Ambivalenz sich gut für eine Erklärung der Wechselseitigkeit eignet, die man stets beachten muss, wenn der spezifische Inhalt von Identität und Alterität zur Debatte steht. Der Fremde ist nah und fern zugleich; er kommt anderswoher und lebt doch inmitten der Einheimischen. Er gehört zu der Gruppe, der er sich anschließt – aber auf der Grundlage eines Statuts, das ihn teilweise ausschließt. Man schätzt ihn wegen der Rolle, die er ausfüllt, aber man verach-

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Verkörperte Alterität im öffentlichen Raum | 333 tet ihn wegen seiner Andersartigkeit. Von Simmels Ansatz ausgehend haben anthropologische Forschungen die Fragestellung weitergeführt. Warum erhält jede Gesellschaft unter dem Strich eine politische Unterscheidung aufrecht zwischen jenen, die »von Natur aus« das Recht haben, den öffentlichen Raum zu nutzen, und jenen Anderen, die das nicht oder nur dank einer Konzession der Mehrheit dürfen? Warum entscheidet die Mehrheit, wie der Körper im öffentlichen Raum präsentiert werden darf und dass der Fremde seinen Körper den Normen der Mehrheit anpassen muss? Warum gibt es neben diesen repressiven Maßnahmen gegen den Fremden fast immer auch andere Maßnahmen, die den Kontakt des Fremden mit der Mehrheit erleichtern? Die Anthropologie bietet Antworten auf diese Fragen, Antworten, die einen substanziellen Beitrag zu unserem Verständnis jener Prozesse leisten, die in Gang gesetzt werden, wenn Identität und Alterität aufeinandertreffen und ein Austausch von Ambivalenzen stattfindet, der deren Wechselspiel fördert.9 Die anthropologische Literatur vermerkt übereinstimmend, dass ein Zusammentreffen mit kultureller Alterität, mit dem Fremden, starke emotionale Reaktionen hervorruft, die normalerweise eher negativ als positiv sind. Der Ethnozentrismus scheint also eine universale Eigenschaft der menschlichen Gesellschaften zu sein.10 Doch jede Aussage über die Universalität des Ethnozentrismus muss von einer gegenteiligen Aussage begleitet werden: dass eine definitive Sehnsucht nach allem Fremden, Anderen, nach allem, das an andere Welten, unbekannte Objekte und Erfahrungen erinnert, in der menschlichen Geschichte allgegenwärtig ist. Tatsächlich scheint es eine friedlich nur mit sich selbst beschäftigte Gesellschaft, die sich allein aus ihrer eigenen Kultur speiste, zu keiner Zeit gegeben zu haben – was sich eigentlich von selbst versteht, weil das Problem, wie man seine eigene Kultur nähren und ihre Entwicklung fördern kann, sich nur durch Kontakte mit anderen Kulturen lösen lässt. Selbst in jenen Kulturen, die bei Anthropologen als isoliert und als friedlich repetitiv gelten wie die Kultur der Tikopia in Polynesien, über die Raymond Firth in seiner klassischen Studie berichtet,11 ist der Wunsch, Objekte aus weiter Ferne zu besitzen, sehr stark ausgeprägt, ebenso der Wunsch, zu reisen oder wenigstens Geschichten von Reisenden zu hören. Dieser Wunsch wurde nicht erst von den westlichen Kolonisatoren und durch die unerhörten Neuheiten, die sie mitbrachten, eingeführt, sondern er existierte schon vorher und wurde lediglich intensiviert. Es gibt ihn in allen menschlichen Gesellschaften. Er begleitet den Prozess der Herausbildung einer kulturellen Identität und koexistiert mit der Angst vor dem Fremden. Tatsache ist allerdings, dass der von Anthropologen mit schöner Regelmäßigkeit beschriebene Ethnozentrismus häufiger analysiert und in seinen konkreten Manifes9 Vgl. F. Remotti: »L’essentialità dello straniero« und Contro l’identità. 10 Vgl. Claude Levi-Strauss: Race et histoire, Paris 1952. (Dt. Rasse und Geschichte, Frankfurt am Main 1972.) 11 Vgl. Raymond W. Firth: We, the Tikopia: A Sociological Study of Kinship in Primitive Polynesia, London 1936, Stanford, CA 1963.

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334 | Simonetta Tabboni tationen kritisiert wurde, als dass man nach seiner Bedeutung gefragt hätte. Francesco Remotti darf für sich das Verdienst in Anspruch nehmen, nach der »Obskurität« des Ethnozentrismus gefragt zu haben, nach den Gründen für dessen Aggressivität und für die häufig zu beobachtende Koexistenz des Ethnozentrismus mit gegenläufigen Tendenzen. Remottis Forschungen berühren Themen wie den Fremden, kulturelle Alterität, die damit verbundene Neugier auf das Andere und tief sitzende Wünsche des Menschen im Spannungsfeld von Identität und Alterität. Remottis Argumentation geht von der Kritik des Ethnozentrismus aus, die William Sumner, wahrscheinlich der erste Anthropologe, der die Frage nach der Figur des Fremden als eines Gruppenaußenseiters einigermaßen adäquat behandelte, schon 1906 vorgetragen hatte.12 Für Sumner (der die soziologischen Begriffe »Ingroup« und »Outgroup« einführte) kommt den »Anderen«, die nicht der Gruppe der Mehrheitskultur angehören und somit eine »Outgroup« bilden, eine klar erkennbare Rolle zu: Sie fördern bei der »Ingroup« das Gefühl einer besonderen kulturellen Identität – jene Genugtuung, die zum Überleben einer Kultur unverzichtbar ist und die in der Gewissheit der eigenen Besonderheit liegt. Ist die Gruppe (Ingroup) mit dem Fremden (Outgroup) konfrontiert, dem es sich – oft auch kriegerisch – widersetzt, so wird sie sich ihrer selbst bewusst, und zwar durch ihre Differenz von den Außenstehenden, die eine andere Kultur haben und als minderwertig angesehen werden, ja denen oft sogar der Status als Menschen abgesprochen wird. Diese Interpretation der Rolle des Fremden und des Ethnozentrismus fügt sich gut in die Sicht einer dialektischen Wechselbeziehung zwischen Identität und Alterität als historischer Prozess. Zu Beginn gab es wahrscheinlich nur unbewusste, unzusammenhängende, nichtkommunikative kulturelle Identitäten, die naiv auf sich selbst gerichtet waren. Die Begegnung und Auseinandersetzung mit der Outgroup verursachte nicht nur Krieg, wobei der Fremde und der Feind vollständig zu einer einzigen Figur verschmolzen, sondern provozierte in der kulturellen Gemeinschaft auch das Bewusstsein einer Identität, die zuvor nur gelebt, aber nicht bewusst empfunden worden war. Später verlor der Fremde dann seine abgrenzende, identitätsfördernde Funktion, als im Zeichen der fortschreitenden Moderne und der Entwicklung von großräumiger Kommunikation die kulturellen Identitäten allmählich zu einer Wir-Identität verschmolzen, die sich auf die ganze Menschheit bezog. Das führte zum Verschwinden der Figur des Fremden in seiner archaischen Form – sowie zum Verschwinden jener Emotionen, die die Begegnung mit dem Anderen begleitet hatten. Abgesehen davon, dass diese Interpretation des Ethnozentrismus durch die dramatische Ereignisse der jüngsten Vergangenheit auf das Heftigste widerlegt wird, bleibt sie auch die Antwort auf die Frage nach den Gründen der Ambivalenz schuldig, die fast immer mit im Spiel ist, wenn Identität und Alterität aufeinandertreffen. Wesentlich fruchtbarer wäre sicher die Hypothese, dass der Fremde seinen Platz schon immer im Innern der kulturellen Identität hatte, auch wenn diese dann nicht klar und wohldefiniert war, und dass der Ethnozentrismus einem menschlichen Be12 Vgl. William G. Sumner: Folkways: A Study of the Sociological Importance of Usages, Manners, Customs, Mores, and Morals, Boston 1906, New York 1959, 2002.

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Verkörperte Alterität im öffentlichen Raum | 335 dürfnis nach Abgrenzung Gestalt verliehen hat, das als Schutz gegen die Gefahr eines Ausfaserns und einer Verflüchtigung der eigenen Identität zu verstehen ist. Wenn es zutrifft, dass menschliche Gesellschaften sich durch historisch determinierte Formen definieren müssen, dass sie zum Bewusstsein ihrer selbst nur innerhalb der »unzerstörbaren Begrenzung ihrer Partikularität«13 vordringen können und dass sie nur dann ein kulturell umschriebenes Wir-Gefühl zu entwickeln vermögen, so ist zu vermuten, dass dieses Bedürfnis durch eine Reihe von Einzelentscheidungen befriedigt wird – durch eine Auswahl aus teils uneinheitlichen, teils einander widersprechenden Möglichkeiten. Solche Entscheidungen werden allerdings anschließend nur zu gern vergessen, gerade weil es sich um eine schwierige Wahl handelte und die Entscheidung stets aufs Neue in Frage gestellt werden kann. Da ist für alle, die zum »Wir« gehören, die Vorstellung einfacher und befriedigender, sie besäßen eine essenzielle Identität – eine permanente, selbstverständliche Identität ohne jede Spur innerer Spannungen und Ungereimtheiten. Ein Bewusstsein unserer eigenen Identität indes, das auch die differenten Elemente umfasst, die stets Bestandteil einer solchen Identität sind, bedeutet, sich der anderen Pfade bewusst zu sein, die man hätte einschlagen können – der anderen Möglichkeiten, die zurückgewiesen wurden, wie der Alternativformen, die das kulturell definierte »Wir« noch heute annehmen könnte. Aber das ist eine unbequeme Bewusstheit, die der Figur des Fremden und damit dem Andersartigen seine ganze Perplexität zurückgibt, die dessen Herausforderung anerkennt sowie dessen Funktion, der kulturellen Identität unverzichtbare Nahrung zuzuführen. Wenn wir uns allerdings des mühsamen Prozesses bewusst sind, der erforderlich ist, um eine Definition unserer individuellen Identität zu erreichen, dann erregt das Andersartige nicht mehr als jenes Mindestmaß an Angst, das uns dazu bringt, unsere Identität zu verteidigen, und jenes Minimum an Sehnsucht nach dem Fremden, das uns Bereicherung durch Kontakte mit anderen Kulturen bringt. Der Mythos aber, der dann aufgegeben werden muss, ist der von der Existenz einer kohärenten, Zusammenhalt schaffenden kulturellen Identität – ein Mythos, den Remotti mit der Metapher von der »Sphäre« gut gezogener Abgrenzungen beschreibt.14 Die Idee der Kultur als eines homogenen Ganzen wurde in vielen anthropologischen Studien, die die vorherrschende Tradition einer klaren kulturellen Eingrenzung der Identität in Frage stellen, mit überzeugenden Argumenten kritisiert. Kulturen sind heterogene, wechselhafte Konstrukte, die fortwährenden Prozessen der Kontamination durch andere Kulturen ausgesetzt sind. Kulturen sind keine kohärenten, homogenen Einheiten, die sich in all ihrer Reinheit begegnen. Robert Lowie hat überzeugend gezeigt, wie Kulturen aus Fragmenten und Versatzstücken – Fragmenten, die aus verschiedenen heterogenen kulturellen Welten stammen – zusammengestückelt und häufig von inneren Spannungen geprägt sind.15 Viele dieser Fragmente sind fremdartig und werfen die Frage auf, in welcher Distanz das Andersartige – und damit auch das Verhältnis zwischen 13 F. Remotti: »L’essentialità dello straniero«, S. 32. 14 Vgl. ebd., S. 22. 15 Vgl. Robert H. Lowie: Primitive Society, New York 1920, 1947, Nachdr. 1970.

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336 | Simonetta Tabboni Mehrheit und Minderheit – gehalten werden muss. Der Fremde ist nicht nur jemand, der plötzlich hereinplatzt und in der Szene der ständigen Wiederholungen des Selben für Veränderung sorgt. Er ist nicht nur jemand, dem man durch Handelsbeziehungen, Heirat oder Migration begegnet. Der Fremde (das Andere) ist fundamentaler Bestandteil des Wir-Gefühls (der Identität), selbst wenn sich keine echte Gelegenheit für eine äußere Begegnung mit dem Fremden bietet. Das Andere, Fremde ist Bestandteil der Identität und trägt zu deren Definition bei. Der Fremde ist ursprünglich und nicht mit einem kohärenten, kompakten Geist ausgestattet. Schon ehe der Fremde die Stadt der Einheimischen betrat, war er bereits ein Teil davon – in dem Sinne, dass seine Präsenz erforderlich war, um das Leben, die Imagination und die Entwicklung der Stadt zu bereichern. Wenn wir uns auf die Suche nach dem Fremden machen, wie es alle Völker schon immer getan haben, so deshalb, weil wir wissen, dass es ihn gibt. Wir begeben uns auf eine Entdeckungsreise – und finden ihn dann im Innern unserer Mauern, weil ein Teil unserer Identität nach ihm ruft. Der Grund, warum der Fremde, Andersartige soziale Distanz halten muss, liegt in der Tatsache, dass jede Alterität die Mehrheit an die Brüchigkeit der eigenen kulturellen Identität und an die Entscheidungen erinnert, die getroffen wurden, um der Stimme der Mehrheit in dieser Identität und dem Fremden im eigenen Innern Form und Stärke zu geben. Die Stimme des Fremden ist ein steter Beleg dafür, dass es Stimmen gab, die zum Schweigen gebracht wurden, um die eigene Identität zu schaffen und zu konsolidieren. Diese Stimmen sind für die Entwicklung einer Kultur notwendig, zugleich aber auch eine Bedrohung. Wenn Kulturen miteinander in Kontakt kommen, sind Veränderungen auf beiden Seiten die unausweichliche Folge. Veränderungen sind, es sei nochmals betont, überlebensnotwendig, aber sie haben auch ihren Preis: Anstrengung und Unruhe. Identität und Alterität, Einheimische und Fremde, sind oft in ihren Hauptzügen eine Mischung, sie entstammen einem gemeinsamen Ursprung und beide Seiten tragen noch Züge der Ähnlichkeit zum jeweils Anderen. Wenn die Mehrheit zur Minderheit spricht, wenn sie darauf besteht, dass deren Körper nach bestimmten Regeln in der Öffentlichkeit präsentiert werden, und wenn sie Urteile über die Minderheit fällt, so verweist sie damit – explizit oder implizit – auf die Stützen der eigenen Kultur, auf deren Stärken und Schwächen. Wenn die Mehrheitsidentität Differenz schafft, übt sie Macht aus, und diese Machtausübung, die sich in der Definition von Differenz, in der Ausgrenzung von Andersartigkeit äußert, verdeutlicht wiederum den Inhalt der eigenen Identität.16

Körper im öffentlichen Raum Während den Spannungen und Konflikten zwischen zu unterschiedlichen Kulturen gehörigen Einstellungen und Praktiken schon viele Studien gewidmet wurden, gibt es bisher nur wenige, zudem zeitlich weit auseinander liegende Untersuchungen zur 16 Vgl. E.W. Said: Orientalism.

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Verkörperte Alterität im öffentlichen Raum | 337 kulturellen Begegnung unterschiedlicher Körper. Dabei ist der Kontrast zwischen Identität und Alterität niemals so groß und niemals für Sinne und Vorstellungskraft so unmittelbar einleuchtend wie dann, wenn er sich als Konflikt über Zulässigkeit oder Unzulässigkeit körperlicher Darstellung in der Öffentlichkeit äußert. Angesichts der Tatsache, dass der Körper Quelle der Individualität ist, wird die durch Deklaration von Andersartigkeit hervorgerufene Reaktion niemals so groß sein wie dann, wenn die Differenz körperlich zum Ausdruck gebracht wird. Wenn für selbstverständlich gehalten wird, dass sich jeder Körper von jedem anderen Körper unterscheidet, so wird dabei vielleicht nicht hinreichend bedacht, dass Individuen durch ihre Körper ihre persönliche Geschichte und zugleich die Geschichte der kulturellen Gruppe erzählen, der sie angehören. Die Kultur der Abzeichen und Symbole formt den Körper klar ersichtlich. Schon von den ersten Lebensjahren an, wenn wir durch Billigung, Verbot und Strafe lernen, was wir mit unserem Körper tun und lassen sollten und welches Körperbild wir aufbauen sollten, bis ins Erwachsenenalter, wenn wir weiterhin nach kulturellen Normen körperlich kommunizieren, unseren Körper zum Ausdruck bringen und formen, ist dieses Modellieren des Körpers eine reale kulturelle Konstruktion. Wenn es gilt, unserer physischen Erscheinung Ausdruck zu geben, sind Natur und Kultur miteinander verwoben. Es gilt sicherzustellen, dass unsere kulturellen Manifestationen nicht nur in Einstellungen und Praktiken Ausdruck finden, sondern dass sie vor allem verkörpert werden. Viele Gelehrte vertreten heute die Ansicht, die Grundlage unseres Realitätsverständnisses und unserer Manipulation der Realität sei mit den Erfahrungen unseres Körpers in seiner dualen physischen und kulturellen Realität verbunden. Erfahrungen werden verkörpert, sind verkörpert. Daraus folgt, dass den Körper eines anderen zu »lesen« eine Möglichkeit ist, mit der gesamten kulturellen Welt in Kontakt zu treten, in der dieser Körper verankert ist und die diesen Körper mitgeformt hat. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Manipulation des Körpers in unterschiedlichen Kulturen viele verschiedene Formen hat und dass sie eine der wirkungsvollsten und sichtbarsten Möglichkeiten ist, Normen und andere kulturelle Inhalte zu vermitteln. Weil sie in wachsender Zahl in deutlich sichtbare wichtige Bereiche des öffentlichen Raumes vordringen, sind Polizistinnen und Richterinnen ein wirkungsvollerer Ausdruck für das Recht, anders zu sein, als Mitbürger ausländischer Herkunft – weil Polizistinnen öffentliche Aufgaben in Uniformen erledigen, die von den Regeln der Mehrheit vorgeschrieben sind. Definitionsgemäß ist es weniger beunruhigend, (männliche) Fremde in Uniform zu sehen als den Körper einer Frau in öffentlicher Funktion zu erleben. Und dieser starke Effekt ergibt sich, obwohl diese Frauen ihre Andersartigkeit dadurch abgemildert haben, dass sie Uniformen tragen. Die Regeln für die Präsentation des Körpers im öffentlichen Raum sind sehr strikt, eben weil sie anscheinend selbstverständlich sind und selten explizit in Frage gestellt werden – mit anderen Worten: weil sie als Universalien behandelt und durchgesetzt werden. Es ist nicht schwer, sich die Wirkung auszumalen, die eine Universitätsdozentin in einem Hörsaal hervorriefe, wenn sie ihre Vorlesung in einem knallig bunten, sinnlich geschnittenen Damastjackett halten würde oder wenn sie wie ein Popstar gestylt wäre (mit Gangsta-Outfit und Rastazöpfen). Ebenso kann man sich die Auswirkungen vorstellen, wenn eine Parlamentsabgeordnete provokant sexy gekleidet im

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338 | Simonetta Tabboni Parlament ans Rednerpult träte oder wenn ein Beamter in exotischer Volkstracht an einem deutschen Schreibtisch säße. Dagegen werden solche Zurschaustellungen des Körpers mit ziemlich großem Wohlwollen toleriert und stoßen auf wechselseitiges Interesse, wenn sie sich in der Privatsphäre abspielen: in Privatwohnungen, Unterhaltungsstätten und besonders an Orten, wo die Menschen tanzen, sich entspannen und Spaß haben. Hier gelten normalerweise keine speziellen Kleiderordnungen. Jeder kann hier seinen Körper präsentieren, wie er will, ohne Peinlichkeiten und Skandale zu produzieren. Doch sobald es um öffentliche Räume geht, schreiben alle Mehrheitskulturen vor – durch kollektives Diktat der Regeln, die bei unterschiedlichen Gelegenheiten einzuhalten sind, wenn der Körper in der Öffentlichkeit präsentiert wird –, welche Körper legitimiert sind, dort aufzutreten. Die moderne westliche Kultur hat entschieden, dass von bestimmten Dingen abzusehen ist, ehe Körper öffentlich auftreten dürfen: zum Beispiel vom Ausdruck eines allzu eigenwilligen ästhetischen Geschmacks, von sexuellen Botschaften, von Tendenzen zu reinem Vergnügen, von der Zurschaustellung ethnischer oder religiöser Symbole und Abzeichen (obwohl es im letztgenannten Fall in einigen Ländern etliche Ausnahmen gibt, je nachdem wie die Beziehungen zwischen Staat und Kirche geregelt sind). Was den ästhetischen Reiz betrifft, den ein Körper im öffentlichen Raum haben kann, so beginnt die Geschichte der übermäßigen Zurückhaltung bei der Darstellung des Körpers für Männer im 19. Jahrhundert: keine leuchtenden Farben mehr, keine optischen Sexualprotzereien mehr, keine extravaganten Stoffe mehr. In anderen Epochen, zum Beispiel in der Renaissance, hatten die Männer sinnlichen Geschmack bei der Auswahl von Stoffen demonstriert, hatten sie Spaß daran gehabt, die Aufmerksamkeit auf ihren Brustkorb, ihren Hintern und ihre Genitalien zu lenken, aber auch gern an ihren kulturellen Hintergrund erinnert, besonders an ihre Religionszugehörigkeit. Indem die Frauen, als sie sich ihren Platz in der Öffentlichkeit eroberten, dem optischen Beispiel der Männer folgten, gaben auch sie das Verführungspotenzial ihres Körpers auf; ebenfalls verzichteten sie darauf, affektiven Symbolen ihrer kulturellen Zugehörigkeit körperlichen Ausdruck zu verleihen. Diese Möglichkeiten der Körperdarstellung müssen auf die Privatsphäre begrenzt bleiben. Nur im Privatleben können Männer und Frauen die kulturellen Bindungen ihres Körpers zur Schau stellen, ihrem Bedürfnis, begehrenswert zu sein, Ausdruck verleihen und Spaß daran empfinden, sich zu ästhetischen Objekten zu stilisieren. Im Allgemeinen hat die römisch-katholische Kirche als Teil der westlichen Kultur die Regel akzeptiert, dass Religiöses körperlich stillschweigend übergangen wird. Katholiken tragen keine religiösen Körpermerkmale oder Körperaccessoires, dafür sind öffentliche Gebäude über und über mit Kruzifixen geschmückt. Was nun demonstrative religiöse Abzeichen am eigenen Körper betrifft, so haben Ausbreitung und beherrschende Stellung der westlichen Moderne dazu geführt, dass Religion als Privatangelegenheit gilt und privat bleiben muss. Diese sehr allgemeine Norm hat zwei hauptsächliche Bedeutungen angenommen: – Religions- und Gewissensfreiheit sind heilig; dies ist die große Errungenschaft

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Verkörperte Alterität im öffentlichen Raum | 339 am Ende des Zeitalters der Religionskriege in Europa; sie legt die Grundlagen für alle anderen modernen Freiheiten. – Eine zunehmende Differenzierung zwischen den verschiedenen Bereichen des kollektiven Lebens. Dies befreit die weltlichen Bereiche von kirchlicher Kontrolle und beschränkt das demonstrative Tragen von religiösen Abzeichen und Symbolen auf die Privatsphäre. Vor allem das zweite Prinzip wird in der jüngeren Geschichte oft missachtet, seit die Präsenz von Körpern, die durch Abzeichen oder Kleidung eindeutig religiös gekennzeichnet sind, immer üblicher wird. Normalerweise sind es muslimische Körper, die mit ihrem Anspruch, im öffentlichen Raum nach islamischen Regeln aufzutreten, Skandale hervorrufen, doch auch bei Katholiken und Protestanten zeichnet sich ein Trend ab, die Relegation auf den Privatbereich zurückzuweisen, wenn es um sprachliche und körperliche Äußerungen über die Religion geht. Diesen Trend, der in den täglichen Nachrichten und Fotografien schon sehr deutlich zu sehen ist, hat José Casanova in einer wichtigen Studie untersucht.17 Laut Casanova werden die verschiedenen Theorien der Säkularisation durch verschiedene Umstände in zunehmendem Maße widerlegt: Die Trennwände, die die moderne Welt errichtet hat, um religiöse und politische Institutionen auseinander zu halten, werden immer brüchiger und löchriger. Religiöse Institutionen übernehmen immer wichtigere öffentliche Rollen, während sich politische und religiöse Initiativen immer mehr ineinander verstricken, manchmal sogar ihre Rollen tauschen. Obwohl in Säkularisationstheorien prognostiziert wurde, dass die Religion im öffentlichen Raum immer mehr verstummen werde, hat seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Religion diese Sphäre zunehmend in Beschlag genommen, um radikale moralische Kritik an der Politik zu üben, während sich umgekehrt die typischen Träger öffentlicher Debatten – Medien, Intellektuelle, Politiker – sehr für typisch religiöse Themen interessieren. Außer einer »anderen« Sprache waren und sind auch »andere« Körper zu beobachten. Die Akteure spüren zunehmend das Bedürfnis, die Merkmale ihrer religiösen Zugehörigkeit in der Kleidung sichtbar zu machen, wenn sie ihre Körper direkt im öffentlichen Raum präsentieren – durch Abzeichen und Symbole, die die Logik der modernen Trennung von Staat und Religion, von öffentlichem und privatem Raum, eigentlich hinter die Kulissen verbannt hatte. Obwohl Casanova selbst nicht darauf zu sprechen kommt, kann man ergänzend hinzufügen, dass es hier nicht nur um muslimische Mädchen geht, die in Schule und Büro ihr Kopftuch tragen wollen, oder um Juden, die 1993 in Italien öffentlich gegen die Gewalt protestierten, die ihnen durch Skinheads widerfahren war. Auch junge polnische Katholiken zeigen auf den Straßen Italiens demonstrativ ihre Sympathien für den Papst. Ihre Körper sind mit Zeichen bedeckt – Kruzifixen, päpstlichen Insignien und Kirchenfarben –, die auf höchst öffentliche Weise die religiöse Leidenschaft dokumentieren und demonstrieren, die diese Jugendlichen nach Rom geführt hat, um sich mit dem Papst und dessen ethischen Anliegen zu solidarisieren. 17 Vgl. José Casanova: Public Religions in the Modern World, Chicago 1994.

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340 | Simonetta Tabboni Casanova kritisiert die von einem evolutionären Modell ausgehenden Säkularisationstheorien, die diese »Entprivatisierung« der Religion als antimodern und fundamentalistisch brandmarken, und vertritt die Ansicht, dass das Vordringen religiös gekennzeichneter Reden und Körper in den öffentlichen Raum als konstruktive Kritik am vorherrschenden Trend anzusehen sei. Seiner Meinung nach ist es verkehrt, dieses religiöse Handeln im öffentlichen Raum als reaktionär zu betrachten. Es handele sich um Innovationskräfte seitens jener Gruppen, die moralischen Normen verteidigen wollen, Normen, die sie durch den normalen Betrieb der politischen Institutionen als gefährdet ansehen. In den letzten zwei Jahrzehnten habe die »kontrafaktische normative Kritik« religiöser Institutionen die Rolle einer lebenswichtigen Entwicklungskraft innegehabt, weil sie eine Debatte zwischen unterschiedlichen normativen Inspirationen aufrechterhalte, die ansonsten im politischen Routinebetrieb abzusterben drohe.

Zusammenfassung Wenn wir beobachten, was geschieht, wenn Alterität am Körper deutlich zur Schau gestellt wird und bestimmte Darstellungsweisen des Körpers im öffentlichen Raum von der Mehrheit abgelehnt werden, dann können wir daraus leichter entnehmen, wie die Mehrheit ihre eigene Identität definiert und welche Präsentationsformen der Körpers für diese Mehrheit als akzeptabel gelten. Wenn Ministerpräsident Amato die geplante Homosexuellen-Parade mit ihrer physischen Schamlosigkeit – die unvermeidlich ist, wenn die Alterität von Schwulen und Lesben öffentlich zur Schau gestellt wird – vereitelt, so erhält man einen klaren Eindruck vom Körperbild, das von der Mehrheit gebilligt und verteidigt wird. Dieser Mehrheits-Körper hat sich das Bedürfnis nach Ordnung, Homogenität, Rationalisierung sowie die Abneigung gegen Andersartigkeit, Phantasie und Erfindungsreichtum zu Eigen gemacht – Eigenschaften, deren Förderung bei seinen Bürgern der moderne Staat sich zur Aufgabe gemacht hat.18 Mit Worten darf diese Homogenität ohne nennenswerte Reaktionen und Sanktionen in Frage gestellt werden, mit Körpern nicht ohne weiteres. Wenn der Fremde seine Alterität enthüllt, indem er sie am Körper und durch den Körper in der Öffentlichkeit zeigt, erregt er mit höherer Wahrscheinlichkeit Anstoß, als wenn er seine Andersartigkeit in Meinungsäußerungen und Alltagspraktiken zum Ausdruck bringt. Die westliche Kultur hat ganz bestimmte Regeln für die Körperpräsentation im öffentlichen Raum etabliert, die sich an folgenden Maßstäben ausrichten: Anonymität, Zurückhaltung, Verzicht auf erotische und kulturelle Verweise. Diese Normen werden als universal gültige Prinzipien angesehen, während sie in Wahrheit nur einem speziellen Standpunkt entstammen: dem der Mehrheit. Die Macht und Selbstverständlichkeit, mit der diese Normen vertreten und durchgesetzt werden, rühren einfach aus der Mehrheitsmacht her. Der Fremde, der durch Andersartigkeit Gekennzeichnete, ist eine unverzichtbare Figur, wenn es zu (er)klären gilt, wer »wir« sind. In diesem Sinne ist der Fremde 18 Vgl. Zygmunt Baumann: Modernity and the Holocaust, Ithaca, NY 1989.

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Verkörperte Alterität im öffentlichen Raum | 341 auch Bestandteil unserer eigenen Identität. Das Konstrukt des Fremden hat im Rahmen der westlichen Kultur jene Erscheinungsform, die es erhielt, als Andersartigkeit mit Grenzübertretung und Regelverletzung gleichgesetzt wurde, als Andersartigkeit in Bezug auf ein Identitätsmodell definiert wurde, zu dessen Konstruktion ebendieser Fremde selbst beigetragen hatte, und als die ästhetischen Formen, auf deren Akzeptanz und Wertschätzung im öffentlichen Raum der Westen sich geeinigt hatte, klar umrissen worden waren.

Literatur Baumann, Zygmunt: Modernity and the Holocaust, Ithaca, NY 1989. Casanova, José: Public Religions in the Modern World, Chicago 1994. Colombo, Enzo: Rappresentazioni dell’altro: Lo straniero nella riflessione sociale occidentale, Mailand 1999. Elias, Norbert/Scotson, John L.: The Established and the Outsiders: A Sociological Inquiry into Community Problems, London 1965. (Dt. Etablierte und Außenseiter, Frankfurt am Main 1990 u.ö.) Firth, Raymond W.: We, the Tikopia: A Sociological Study of Kinship in Primitive Polynesia, London 1936, Stanford, CA 1963. Göle, Nilüfer: »Islam in Public: New Visibilities and New Imaginaries«, in: Public Culture 36 (2002), S. 173-190. Lévi-Strauss, Claude: Race et histoire, Paris 1952. (Dt. Rasse und Geschichte, Frankfurt am Main 1972.) Lowie, Robert H.: Primitive Society, New York 1920, 1947, Nachdr. 1970. Remotti, Francesco: »L’essenzialità dello straniero«, in: Maurizio Bettini (Hg.), Lo straniero, ovvero l’identità culturale a confronto, Rom/Bari 1992. Remotti, Francesco: Contro l’identità, Rom/Bari 1996. Rorty, Richard: »Method, Social Science and Social Hope«, in: Canadian Journal of Philosophy 11: 4 (1981), S. 569-588; auch als Kap. 11 in: Consequences of Pragmatism, Minneapolis, MN 1982, S. 191-210. Rorty, Richard: Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge 1989. (Dt. Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt am Main 1992.) Said, Edward W.: Orientalism, New York 1978. (Dt. Orientalismus, Frankfurt am Main 1999.) Simmel, Georg: »Exkurs über den Fremden«, in: G. Simmel, Soziologie, Leipzig 1908. Sumner, William G.: Folkways: A Study of the Sociological Importance of Usages, Manners, Customs, Mores, and Morals, Boston 1906, New York 1959, 2002.

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342 | Charles Taylor

Die Religion und die Identitätskämpfe der Moderne Charles Taylor

I. Zunächst möchte ich auf Verschiebungen und Tendenzen der letzten Jahrhunderte im »lateinischen« Christentum, also im »Westen« zu sprechen kommen. Beim Nachdenken über diese Entwicklung fällt einem wohl als Erstes der Begriff »Säkularisation« ein. Doch zugleich – und in einer Art dialektischer Wechselwirkung damit verbunden – war eine andere kontinuierliche Entwicklung zu verzeichnen: von religiösen Formen, die hauptsächlich Kollektivrituale betonen, zu Formen, bei denen persönliche Hingabe, persönlicher Glaube und/oder persönliche Frömmigkeit im Vordergrund stehen. Im speziellen Fall des lateinischen Christentums bedeutete das: a) eine stärker christozentrische Religion (die Tendenz, Christus immer mehr in den Mittelpunkt zu rücken, ist seit rund tausend Jahren zu erkennen); b) eine seit der Renaissance zu verzeichnende größere Verinnerlichung der Frömmigkeit (bei den Katholiken die heilige Teresa, Ignatius von Loyola, der heilige Franz von Sales, auf protestantischer Seite Puritaner und Pietisten); und c) eine zunehmende Entzauberung, eine größere Distanzierung vom Heiligen (konkretisiert in Ort, Zeit, Personen und Gesten) zugunsten von innerer Frömmigkeit, moralischem Handeln oder – in einem späteren Stadium – Kultivierung frommer Gefühle. (Dabei gingen und gehen auf protestantischer Seite die Puritaner am weitesten in die Richtung von Selbstprüfung und Pflicht zur Tat; bestimmte Formen innerer Frömmigkeit florieren besonders bei den Lutheranern, während im katholischen Bereich die Jansenisten die strenge moralische Selbstprüfung der Puritaner pflegten.) Jenseits dieser Eigentümlichkeiten des Christentums kann man auch bestimmte allgemeine Merkmale dieser Entwicklung extrahieren, die meiner Meinung nach für die moderne Welt von beträchtlicher Relevanz sind: die Betonung von persönlicher Verantwortung und persönlichem Engagement gegenüber einer einfachen Teilnahme an kollektiven Ritualen und, damit einhergehend, ein erhöhtes Bewusstsein der eigenen individuellen Identität. Man kann sogar die These vertreten, dass sich der Aufstieg des modernen Individualismus in erster Linie aus diesen Akzentverschiebungen im religiösen Leben der lateinischen Christenheit ergeben hat. Zunächst möchte ich jedoch die Revolution, die sich in den letzten Jahrhunderten in unserer Vorstellungswelt, in unserem Imaginären, vollzogen hat, in breitere kulturell-religiöse Entwicklungszusammenhänge einordnen. Das ganze Spektrum dieser Veränderungen im letzten Jahrtausend wird nämlich noch klarer, wenn wir uns zunächst auf einige Merkmale des religiösen Lebens in früheren, kleinräumigeren Gesellschaften konzentrieren, soweit wir dieses Leben heute noch nachverfolgen können. Es muss einmal eine Phase gegeben haben, in der alle Menschen in solchen Kleingesellschaften gelebt haben, auch wenn wir für weite Bereiche des Lebens in dieser Epoche auf Vermutungen angewiesen sind. Wenn wir uns auf das konzentrieren, was ich die »frühe Religion« nennen will und was teilweise jenen Bereich abdeckt, den Robert Bellah als »archaische Religion«

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Die Religion und die Identitätskämpfe der Moderne | 343 bezeichnet,1 dann sehen wir, wie tief und umfassend diese Formen des Lebens den jeweils Handelnden »einbetten« – und zwar auf dreierlei entscheidende Weise. Erstens, sozial: In altsteinzeitlichen und noch in bestimmten jungsteinzeitlichen Stammesgesellschaften war das religiöse Leben untrennbar mit dem gesellschaftlichen verbunden. Dies gilt – in einem bestimmten Sinn, der nicht nur der frühen Religion zu Eigen ist – für die elementare Sprache, die Kategorien des Heiligen, die Formen religiöser Erfahrung, die Arten ritueller Handlungen etc., die den Akteuren in diesen Gesellschaften und im gesellschaftlich etablierten religiösen Leben zur Verfügung standen. Es ist, als ob jede derartige Kleingesellschaft irgendeine gemeinmenschliche Fähigkeit auf ihre je eigene, ganz ursprüngliche Weise geformt und artikuliert hätte. Natürlich gab es auch Transfer in Form von Verbreitungsbewegungen und Übernahmen, doch die Unterschiede im Vokabular und das Spektrum der Möglichkeiten blieben außerordentlich vielfältig. Was nun diese gemeinmenschliche religiöse Fähigkeit ist, ob sie wesensmäßig zur Gänze in der Psyche menschlicher Wesen zu lokalisieren ist oder ob man davon ausgehen muss, dass die Menschen unterschiedlich auf eine den Menschen übersteigende spirituelle Realität reagieren, kann und muss an dieser Stelle offen bleiben. Ob etwas Derartiges eine unentrinnbare Dimension des menschlichen Lebens ist oder ob der Mensch imstande ist, solche Dinge letztlich auch hinter sich zu lassen, können wir hier ebenfalls offen lassen (obwohl der Verfasser natürlich zu beiden Fragen durchaus eine dezidierte Meinung hat). Was allerdings hervorsticht, ist erstens die universale Verbreitung von menschlichen Beziehungen zu Geistern, Kräften oder Mächten, die als in einem bestimmten Sinn höhere Mächte anerkannt werden und die nicht die normalen Kräfte oder – im Fall des Totemismus – Tiere des Alltagslebens sind. Die zweite Auffälligkeit ist, wie unterschiedlich diese Kräfte und Mächte konzipiert sind, wie unterschiedlich das Verhältnis der Menschen zu ihnen ist. Dabei geht es um mehr als nur um Unterschiede in »Theorie« oder »Glauben«. Vielmehr spiegeln diese Unterschiede sich in einer verblüffenden Vielfalt von Fähigkeiten und Erfahrungen wider, in einem großen Repertoire von Arten und Möglichkeiten, Religion auszuleben. So fallen bei manchen Völkern die Akteure in tranceähnliche Zustände, die als Besessenheit angesehen werden; bei anderen (manchmal auch denselben) Völkern haben bestimmte Leute mächtige, Unheil verkündende Träume; bei wieder anderen haben Schamanen das Gefühl, in eine höhere Welt versetzt worden zu sein; bei abermals anderen kommt es unter bestimmten Bedingungen zu Wunderheilungen; und so weiter, und so weiter. Alle genannten Erscheinungsformen liegen jenseits des Erfahrungsspektrums der meisten Menschen in unserer modernen Zivilisation, aber jede einzelne liegt auch jenseits des Erfahrungsspektrums anderer früher Völker, in deren Leben solche Fähigkeiten und Erfahrungen keinen Platz hatten. In manchen Völkern gab es ominöse Träume, dafür aber keine Besessenheit; in anderen Besessenheit, aber keine Wunderheilungen; und so weiter. Dass die religiöse Sprache, die religiösen Fähigkeiten und Erfahrungsweisen, die 1 Vgl. das 2. Kapitel, »Religious Evolution«, in R.N. Bellahs Buch Beyond Belief, New York 1970, Berkeley, CA 1991.

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344 | Charles Taylor jedem einzelnen von uns zu Gebote stehen, aus der Gesellschaft kommen, in die wir hineingeboren wurden, gilt gewissermaßen für alle Menschen. Selbst große innovative Religionsstifter müssen sich bei einem in ihrer Gesellschaft zuvor schon verfügbaren Vokabular bedienen. Diese Erkenntnis lässt sich verallgemeinern; sie mündet letztlich in die Erkenntnis, dass wir die menschliche Sprache immer von den Sprechergruppen erwerben, in denen wir aufwachsen, und dass wir das Gegebene nur transzendieren können, wenn wir uns darauf stützen. Heute indes bewegen wir uns in einer Welt, in der sich die spirituellen Vokabulare immer weiter verbreitet haben, in der jedem mehr als eines verfügbar ist und in der jedes dieser Vokabulare bereits von vielen anderen Vokabularen beeinflusst ist. Kurz, wir leben in einer Welt, in der die ziemlich abrupten Unterschiede zwischen dem religiösen Leben von weit auseinander lebenden Völkern erodiert sind und immer mehr eingeebnet werden. Für den Herauslösungsprozess der Religion aus ihrer ursprünglichen sozialen Einbettung noch relevanter ist ein zweites soziales Phänomen der frühen Religion: dass die soziale Gruppe als Ganzes Primärakteur bei wichtigen religiösen Handlungen ist. Dieser Aspekt kommt zum Tragen bei der Anrufung und Besänftigung der Götter oder Geister durch an sie gerichtete Gebete oder Opfer; bei der Annäherung an diese Mächte zum Erlangen von Heilung oder zum Schutz vor ihnen; bei der Wegweisung durch göttlich inspirierte Weissagung, und so weiter. Betrifft das Handlungsvermögen in solchen Fällen nicht die ganze soziale Gruppe, dann handelt eine speziellere Unterinstanz anerkanntermaßen für die ganze Gruppe. Denn in der frühen Religion setzt sich in erster Linie die Gesellschaft in Beziehung zu Gott. Beide Aspekte lassen sich in den rituellen Opfern der Dinka erkennen, wie sie vor einem halben Jahrhundert von Godfrey Lienhardt beschrieben wurden. Einerseits sind die wichtigsten Akteure des Opferrituals, die »Meister des Fischspeers«, sozusagen Funktionäre, weil sie für die ganze Gesellschaft handeln; andererseits wird die ganze Gemeinschaft einbezogen. Die Gruppe wiederholt die Anrufungen der Meister so lange, bis aller Aufmerksamkeit ganz auf die rituelle Aktion konzentriert ist. Auf dem Höhepunkt sind dann »die Teilnehmer der Zeremonie auf besonders handgreifliche Weise nur noch Glieder eines einzigen undifferenzierten Körpers«. Diese Art Beteiligung nimmt oft die Form einer Besessenheit von der angerufenen Gottheit an.2 Und dies gilt nicht nur in einer bestimmten Gemeinschaft. Denn kollektives Handeln ist für die Wirksamkeit des Rituals von entscheidender Bedeutung. Eine derart wirkungsmächtige Anrufung und Beschwörung der Gottheiten ist in der Welt der Dinkas dem Einzelnen nicht möglich. In dieser »Bedeutung der gemeinschaftlichen Aktion, bei der der Einzelne wirklich und traditionell nur noch ein Glied des Ganzen ist, liegt der Grund dafür, dass individuelle Dinkas [existenzielle] Angst verspüren, wenn ihnen fern von Heim und Verwandten ein Unglück zustößt.«3 Diese Art kollektiver ritueller Aktion, bei der die Hauptakteure im Namen einer Gemeinschaft handeln, die selbst auf ihre Weise gleichfalls Bestandteil der Aktion 2 Vgl. Godfrey Lienhardt: Divinity and Experience: The Religion of the Dinka, Oxford 1961, S. 233-235. 3 Ebd., S. 292.

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Die Religion und die Identitätskämpfe der Moderne | 345 wird, scheint in der frühen Religion praktisch überall vorzukommen, und in mancher Hinsicht gilt das bis zum heutigen Tag. Zweifellos behält sie einen wichtigen Stellenwert, solange Menschen in einer magischen Welt leben. Die Zeremonie einer Flurprozession in einem Dorf mit Landwirtschaft etwa bezog die ganze Gemeinde ein, und sie war auch nur wirksam, wenn dieses Ganze dabei kollektiv agierte. Eine solche Einbettung des Einzelnen und der Gemeinschaft in ein soziales Ritual war meistens noch mit einem weiteren Merkmal verbunden: Weil die wichtigste religiöse Handlung die des Kollektivs war und weil dabei bestimmte Funktionäre – Priester, Schamanen, Medizinmänner, Wahrsager, Häuptlinge, und so weiter – oft entscheidende Rollen auszufüllen hatten, galt die gesellschaftliche Ordnung, in der diese Rollen definiert waren, als unantastbar, sakrosankt. Dieser Aspekt des religiösen Lebens rückte bei radikalen Aufklärern natürlich ins Zentrum der Kritik. Das dabei aufgedeckte »Verbrechen« war die Verfestigung bestimmter Formen von Ungleichheit, Herrschaft und Ausbeutung durch Gleichsetzung mit der unantastbaren, heiligen Struktur der Dinge. Daher die Sehnsucht der Radikalaufklärer nach dem Tag, an dem »der letzte König vom Gedärm des letzten Priesters stranguliert« wäre. In Wirklichkeit ist die Gleichsetzung von religiöser und sozialer Ordnung schon sehr alt. Sie reicht in eine Zeit zurück, in der sich viele der späteren, krasseren, abstoßenderen Formen der Ungleichheit noch gar nicht herausgebildet hatten – in eine Zeit, in der es weder Könige noch Priesterhierarchien gab. Hinter dem Ungleichheits- und Gerechtigkeitsproblem liegt eine tiefere Dimension, die an das rührt, was wir heute als »Identität« der Menschen in diesen frühen Gesellschaften bezeichnen würden. Weil ihre wichtigsten Aktionen Aktivitäten der ganzen Gruppe waren (des Stammes oder Clans, der Stammesgruppe oder Sippe) und weil diese Aktionen auf bestimmte Weise abliefen (von Häuptlingen, Schamanen oder Meistern der Fischspeere angeführt), konnten sich diese Menschen gar nicht vorstellen, von der sozialen Matrix potenziell abgekoppelt zu sein. Sie hätten wahrscheinlich niemals auch nur daran gedacht, dergleichen zu versuchen. Um ein Gespür dafür zu bekommen, was das bedeutet, sollten wir einmal über Kontexte nachdenken, die sich auch für uns gedanklich nicht ohne weiteres eliminieren lassen. Zum Beispiel: Was wäre aus mir geworden, wenn ich in eine andere Familie mit anderen Eltern hineingeboren worden wäre? Als abstrakte Übung kann man mit dieser Frage durchaus zurechtkommen. (Antwort: Wir wären so geworden wie die tatsächlichen Kinder dieser anderen Eltern.) Wer sich jedoch intensiver mit solchen Fragen beschäftigen und den eigenen Identitätssinn erkunden will, könnte sich die Frage stellen: Was wäre ich, wenn ich diesen Beruf nicht ergriffen hätte? Was, wenn ich diese Frau/diesen Mann nicht geheiratet hätte? Bei solchen Fragen kann man schon eher ins Grübeln kommen und verunsichert werden. Irgendwann dringt man dann zu tief in die formativen Schichten der eigenen Identität ein, um solche Fragen noch rational beantworten zu können. Für die meisten Menschen gilt Ähnliches zum Beispiel auch, wenn sie ihr Geschlecht in Frage stellen. Worauf es mir hier ankommt, ist die Feststellung, dass in früheren Gesellschaften die Unfähigkeit, sich ein Selbst außerhalb eines speziellen Kontexts vorzustellen, auch für den Kontext einer essenziellen Gesellschaftsordnung galt. Dass dies bei uns heute nicht mehr so ist, dass viele dieser Fragen vom Schlage »Was wäre aus mir

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346 | Charles Taylor geworden, wenn ich … hätte?« bei uns nicht nur vorstellbar sind, sondern in praktischen Situationen auch zu akuten Fragen werden können (Soll ich auswandern? Soll ich zu einer anderen Religion konvertieren? Soll ich aus der Kirche austreten?), ist ein Gradmesser unserer fortgeschrittenen Individuation. Eine weitere Frucht dieses Entwicklungsprozesses ist unsere Fähigkeit, uns abstrakt mit solchen Fragen auseinanderzusetzen, selbst wenn wir sie in unserer Vorstellung nicht real werden lassen können. Was ich als soziales Eingebettet-Sein bezeichne, ist also zum Teil eine Identitätsfrage. Aus Sicht des individuellen Selbstgefühls heißt dies: Unfähigkeit, sich selbst außerhalb einer bestimmten Matrix sehen zu können. Man kann die Sache aber auch als soziale Realität sehen; dann geht es um das »gesellschaftliche Imaginäre« (Castoriadis),4 also darum, wie wir uns gemeinsam unsere soziale Existenz vorstellen – dass zum Beispiel unsere wichtigsten Handlungen die der ganzen Gesellschaft sind, die auf eine bestimmte Art und Weise strukturiert sein müssen, damit sie ausgeführt werden können. Das Aufwachsen in einer Welt, in der ein solches gesellschaftliches Imaginäres dominiert, setzt dem individuellen Identitätsgefühl natürlich Grenzen. Verbunden ist solche soziale Einbettung mit einer Einbettung in den Kosmos. In der frühen Religion sind die Geister und Mächte, mit denen wir Menschen es zu tun haben, auf vielfältige Weise in die Welt verwickelt. Noch unsere mittelalterlichen Vorfahren lebten in einer magischen Welt. Obwohl der Gott, den sie verehrten, die Welt transzendierte, hatten sie sich auch mit innerweltlichen Geistern auseinanderzusetzen. Sie hatten es mit kausalen Mächten zu tun, die dinglich eingebettet waren: mit Reliquien, heiligen Orten und Ähnlichem. In der frühen Religion werden sogar die hohen Götter oft mit bestimmten Merkmalen der Welt identifiziert. Und wo das als »Totemismus« bekannte Phänomen existiert, kann man sogar sagen, dass irgendein weltliches Phänomen, zum Beispiel eine Tier- oder Pflanzenart, für die Identität einer Gruppe von zentraler Bedeutung ist.5 Selbst ein bestimmtes geographisches Terrain kann für unser religiöses Leben sehr wichtig sein. Gewisse Orte sind heilig, oder die Landschaftsgestalt »erzählt« uns von der ursprünglichen Ordnung der Dinge in heiliger Zeit. Wir setzen uns dann durch diese Landschaft in Beziehung zu den Vorfahren oder zu dieser höheren Zeit.6 Neben den Beziehungen zur Gesellschaft und zum Kosmos ist in der frühen 4 Vgl. Cornelius Castoriadis: L’institution imaginaire de la société, Paris 1975. (Dt. Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt am Main 1984.) 5 Vgl. z.B. G. Lienhardt: Divinity and Experience, Kap. 3; Roger Caillois: L’homme et le sacré, Paris 1963, Kap. 3. (Dt. Der Mensch und das Heilige, München 1988.) 6 Über diesen Aspekt der Religion der australischen Aborigines (»Traumzeit«) ist viel geschrieben worden: vgl. Lucien Lévy-Bruhl: L’Expérience mystique et les symboles chez les primitifs, Paris 1937, S. 180ff.; R. Caillois: L’homme et le sacré, S. 143-145; W.E.H. Stanner, »On Aboriginal Religion«, sechsteilige Artikelserie in Oceania 30-33 (1959-1963). Dieselbe Verbindung zum Land wurde auch bei den Okanagan in British Columbia beobachtet, vgl. Jerry Mander/Edward Goldsmith (Hg.): The Case against the Global Economy, San Francisco 1996, Kap. 39.

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Die Religion und die Identitätskämpfe der Moderne | 347 Religion noch eine dritte Form der Einbettung in die existierende Realität zu erkennen. Hier liegt der stärkste Kontrast zu dem, was wir meistens für die »höheren« Religionen halten. Wenn die Menschen in der frühen Religion Gottheiten und Mächte anrufen oder besänftigen, dann erbitten sie Wohlergehen, Gesundheit, langes Leben und Fruchtbarkeit. Bewahrt werden wollen sie vor Krankheit, Dürre, Unfruchtbarkeit und frühzeitigem Tod. Hier herrscht ein gewisses elementares Verständnis von menschlichem Wohlergehen, das uns unmittelbar einleuchtet und, sosehr wir vielleicht noch anderes hinzufügen wollen, doch ganz »natürlich« erscheint. Was hier keine Rolle spielt, aber für die späteren, »höheren« Religionen zentral zu sein scheint, ist die Vorstellung, dass wir dieses normale Verständnis menschlicher Ordnung und menschlichen Wohlergehens radikal in Frage stellen und irgendwie darüber hinausgehen müssten. Damit soll freilich nicht gesagt sein, dass im frühen Weltverständnis menschliches Gedeihen das Ziel aller Dinge und Instanzen ist. Das Göttliche kann durchaus andere Ziele und Zwecke haben, von denen einige uns Menschen auch Schaden bringen. In den frühen Religionen herrscht immer ein Gefühl vor, dass das Göttliche den Menschen nicht nur wohlgesonnen ist; es kann auch in gewisser Weise indifferent sein. Es können sogar Feindseligkeit, Eifersucht oder Zorn im Spiel sein, die wir Menschen von uns ablenken müssen. Zwar könnte Wohlwollen letztlich die Oberhand gewinnen, aber es muss ein wenig nachgeholfen werden – durch Besänftigung oder gar durch die Aktionen trickreicher Helden. Wie dem auch sei, es bleibt festzuhalten, dass die gütigen Ziele der Gottheit als normales menschliches Wohlergehen definiert werden. Es mag natürlich auch Fähigkeiten geben, die das normale menschliche Maß weit übersteigen und die manche Menschen trotzdem erlangen können, zum Beispiel Propheten und Schamanen. Doch werden auch diese letztlich in den Dienst normalen menschlichen Wohlergehens gestellt. Dagegen gibt es, etwa im Christentum oder im Buddhismus, eine Heilsvorstellung, die über das normale menschliche Wohlergehen hinausgeht – ein Heil, dessen wir auch teilhaftig werden können, wenn uns dieses Wohlergehen versagt bleibt, ein Heil, das sogar erst durch völliges Scheitern erreichbar ist (etwa durch den Kreuzestod in jungen Jahren), oder wenn wir den Ort normalen menschlichen Gedeihens ganz verlassen (und den Zyklus der Wiedergeburt beenden). Gegenüber der frühen Religion liegt das Paradox des Christentums darin, dass es einerseits das bedingungslose Wohlwollen Gottes gegenüber den Menschen behauptet – in dieser Hinsicht ist die Ambivalenz der frühen Gottheiten völlig verschwunden –, aber zugleich das Ziel unseres Lebens so definiert, dass dieses über normales Wohlergehen hinausgeht. In dieser Hinsicht hat die frühe Religion einiges mit dem modernen Humanismus gemein. Das wurde von vielen modernen Menschen der Nachaufklärungszeit so empfunden und in ihrer Sympathie für das »Heidnische« zum Ausdruck gebracht. »Heidnische Selbstbehauptung« war, wie John Stuart Mill dachte, »christlicher Selbstverleugnung« deutlich überlegen. (Dieser Aspekt hat auch mit Sympathie für den Polytheismus zu tun, ist aber nicht identisch damit.) Präzedenzlos ist am modernen Humanismus jedoch der Gedanke, dass das Wohlergehen des Menschen keinerlei Bezug zu einem höheren Wesen voraussetze.

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348 | Charles Taylor Von »früher Religion« spreche ich hier natürlich, um die Unterschiede zu dem herauszuarbeiten, was viele Gelehrte die »nach-achsenzeitlichen« Religionen genannt haben.7 Dieser Begriff bezieht sich auf Karl Jaspers’ Begriff »Achsenzeit«8 für jene außerordentliche Epoche im letzten Jahrtausend von Christus, als verschiedene »höhere« Formen der Religion anscheinend unabhängig voneinander in unterschiedlichen Zivilisationen erschienen, vertreten durch Gründerfiguren wie Konfuzius, Gautama, Sokrates und die hebräischen Propheten. Das Überraschende an den achsenzeitlichen Religionen im Vergleich zum Vorangegangenen – anders gesagt: das, weshalb man sie in dieser Form kaum hätte voraussagen können – liegt darin, dass sie einen Bruch mit allen drei Dimensionen der Einbettung von Religion einleiten: Sozialordnung, Kosmos, Wohl des Menschen. Natürlich nicht in allen Fällen und nicht überall zugleich. Am weitesten geht in einigen Punkten vielleicht der Buddhismus, weil er die zweite Dimension radikal außer Kraft setzt: Die Ordnung der Welt selbst wird in Frage gestellt, weil das Rad der Wiedergeburt Leiden bedeutet. Im Christentum findet sich etwas Analoges: Unsere Welt ist in Unordnung geraten und muss erneuert werden. In einigen nach-achsenzeitlichen Weltsichten wird das Gefühl der Beziehung zu einer geordneten Welt bewahrt, was sich auf ganz unterschiedliche Weise bei Konfuzius und Platon zeigt. Dann wird aber auch hier ein Unterschied zwischen dieser idealen und der tatsächlichen, höchst unvollkommenen Sozialordnung aufgezeigt, sodass die enge Verbindung zum Kosmos im kollektiven religiösen Leben auf andere Weise problematisiert wird. Am grundlegendsten ist in den Achsenreligionen vielleicht der revisionistische Standpunkt zum Wohl des Menschen. Mehr oder weniger radikal stellen alle diese Religionen das herkömmliche, scheinbar außer Frage stehende Grundverständnis des menschlichen Wohlergehens in Frage – und damit unweigerlich auch die Strukturen der Gesellschaft und die Eigenschaften des Kosmos, durch die ein solches Gedeihen vermeintlich erreicht wurde. Der Kontrast lässt sich vielleicht so fassen: Anders als zur nach-achsenzeitlichen Religion gehörte zur frühen Religion eine Akzeptanz der Ordnung der Dinge in den drei erwähnten Dimensionen. In einer bemerkenswerten Artikelserie über die Religion der australischen Aborigines spricht W.E.H. Stanner von einer »Grundstimmung der Bejahung« (mood of assent), die für diese Spiritualität von entscheidender Bedeutung sei. Die Aborigines hätten noch nicht jene Art »Lebenskampf« (quarrel with life) begonnen, die sich aus den verschiedenen nach-achsenzeitlichen religiösen Initiativen ergebe.9 Diesen Kontrast kann man allerdings leicht übersehen. Denn die Mythologie der Aborigines enthält im Bericht, wie die Ordnung der Dinge in der 7 Vgl. z.B. Shmuel N. Eisenstadt (Hg.): The Origins and Diversity of Axial Age Civilizations, Albany, NY 1986; S.N. Eisenstadt (Hg.): Kulturen der Achsenzeit, 3 Bde., Frankfurt am Main 1999; Robert Bellah: Beyond Belief. 8 Vgl. Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Zürich 1949. 9 Vgl. W.E.H. Stanner: »On Aboriginal Religion«; das Zitat stammt aus dem zweiten Artikel der Serie in Oceania 30:4 (1960), S. 276. Vgl. auch W.E.H. Stanner: »The Dreaming«, in: Willam A. Lessa/Evon Z. Vogt (Hg.), Reader in Comparative Religion, Evanston, IL 1958, S. 158-167.

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Die Religion und die Identitätskämpfe der Moderne | 349 Traumzeit entstand (in der ursprünglichen Zeit außerhalb jeglicher Zeit, der »Traumzeit« oder »Jederzeit«), eine Reihe von Katastrophengeschichten – Katastrophen, die durch Trickserei, Täuschung und Gewalt herbeigeführt wurden und aus denen das menschliche Leben neu hervorging, aber jetzt in behinderter und geteilter Form, sodass die innere Verbindung von Leben und Leiden bestehen bleibt und Einheit von Teilung nicht mehr zu trennen ist. Derartige Geschichten erinnern vielleicht an andere Sündenfallgeschichten, einschließlich des Berichts am Anfang der Bibel (Genesis 1). Doch im Gegensatz zu dem, was das Christentum aus dem Sündenfall gemacht hat, bezieht sich der Imperativ der Aborigines, dem Traum zu »folgen« und durch Ritual und Einsicht ihren Kontakt mit der Ordnung der ursprünglichen Zeit wiederzugewinnen, auf diese gespaltene und behinderte Form des Lebens, in der das Gute und das Böse miteinander verwoben sind. Eine Heilung des ursprünglichen Risses in der Welt steht außer Frage, auch lässt sich weder die Spaltung kompensieren noch der ursprüngliche Verlust wiedergutmachen. Mehr noch, das Ritual und die damit verbundene Weisheit können die Menschen sogar dazu bringen, das Unausweichliche zu akzeptieren und »freudig zu feiern, was sich nicht ändern lässt«.10 Anders als in der Sündenfallgeschichte der Bibel trennt oder entfremdet uns hier die Urkatastrophe nicht vom Heiligen oder Höheren; vielmehr trägt sie dazu bei, die heilige Ordnung zu gestalten, der zu »folgen« wir versuchen.11 Die achsenzeitlichen Religionen beseitigten das frühe religiöse Leben indes nicht vollständig. Auf mancherlei Weise überdauerten dessen Merkmale in modifizierter Form, um noch Jahrhunderte lang das religiöse Leben der Mehrheit zu bestimmen. Anlass zu Modifizierungen gaben natürlich nicht nur die Formulierungen der achsenzeitlichen Religionen, sondern auch die Entstehung von großräumigeren, differenzierteren, oft in Städten zentrierten Gesellschaften mit stärker hierarchischer Organisation und embryonalen staatlichen Strukturen. Man hat sogar die These vertreten, diese Entwicklungen hätten ebenfalls Anteil an der Auflösung der elementaren sozialen Einbettung von Religion gehabt. Denn schon das Vorhandensein einer Staatsmacht bedinge Versuche, das religiöse Leben und die dafür erforderlichen Sozialstrukturen zu kontrollieren und umzugestalten; auf diese Weise werde jenes Gefühl der Unantastbarkeit unterminiert, das Leben und Strukturen der frühen Religion umgebe.12 Meiner Meinung nach spricht vieles für diese These und ich werde weiter unten Ähnliches vortragen, doch an dieser Stelle möchte ich mich ganz auf die Signifikanz der Achsenzeit konzentrieren. 10 W.E.H. Stanner: Artikel 6 der Serie, Oceania 33:4 (1963), S. 269. 11 Sehr hilfreich war für mich an dieser Stelle die wesentlich umfassendere Darstellung der religiösen Entwicklung bei Robert Bellah: Beyond Belief. Der elementare Kontrast, den ich hier anführe, ist gegenüber den diversen Stadien, die Bellah analysiert und entwickelt, wesentlich vereinfacht; in meiner Kategorie der »frühen« Religion fallen die Kategorien des »Primitiven« und »Archaischen« zusammen. Mir geht es in erster Linie darum, die zersetzende Wirkung der achsenzeitlichen religiösen Entwürfe auf die gesellschaftliche Einbettung der frühen Religion möglichst deutlich und plastisch herauszuarbeiten. 12 Vgl. Marcel Gauchet: Le désenchantement du monde, Paris 1985, Kap. 2. (Engl. The Disenchantment of the World: A Political History of Religion, Princeton, NJ 1998.)

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350 | Charles Taylor Veränderungen im religiösen Leben ganzer Gesellschaften, wie sie in der Achsenzeit stattfanden, ereignen sich weder schlagartig noch total. Doch es eröffnen sich neue Möglichkeiten für eine aus der Einbettung gelöste Religion – für die Suche nach einer Beziehung zum Göttlichen oder Höheren, die gängige Vorstellungen von menschlichem Wohlergehen ernsthaft revidiert und überdies von Einzelnen und/ oder in neuen Formen sozialer Gemeinschaft unternommen werden kann, ohne feste Verbindung zur etablierten heiligen Ordnung. In diesem Geiste begeben sich Mönche, Bhikhus, Sanyassins, Anhänger eines Avatars oder Gottes, auf ihren eigenen Weg. Und daraus erwachsen präzedenzlose Formen der Gemeinschaft: Initiationsgruppen, Sekten von Anhängern, Zen-Studienzentren (Sangha), Mönchsorden, und so weiter. In all diesen Fällen kommt es zu einer Art Abspaltung, einer Differenz zu oder gar einem Bruch mit dem religiösen Leben des größeren gesellschaftlichen Ganzen. Dabei kann die Gesellschaft bis zu einem gewissen Grad selbst differenziert sein, mit unterschiedlichen Schichten, Kasten oder Klassen. In einer davon könnte sich dann eine neue religiöse Weltsicht einnisten. Sehr oft erfasst eine neue Frömmigkeit aber auch alle gesellschaftlichen Schichten, zumal wenn es zu einem Bruch in der dritten Dimension kommt, wenn also eine »höhere« Idee vom Wohl des Menschen im Spiel ist. Unweigerlich kommt es hier zu Spannungen, oft aber auch zu Versuchen, die Einheit des Ganzen zu wahren und ein Gespür dafür zu entwickeln, dass und wie sich die verschiedenen religiösen Formen ergänzen. Dann werden jene, die sich ganz den »höheren« Formen verschrieben haben, zwar einerseits als lebendiger Vorwurf angesehen – als Kritik an denen, die, alten Formen treu geblieben, weiterhin die für das elementare menschliche Wohlergehen zuständigen Mächte anbeten –, doch andererseits auch als Agenten einer wechselseitig hilfreichen Beziehung gelten. Die Laien ernähren die Mönche und erwerben sich dadurch »Verdienste«, die man so deuten kann, als brächten sie die Betreffenden auf dem Weg zu »Höherem« ein Stück weiter; zugleich verdienen sie sich auf diese Weise eine Art Schutz gegen die Gefahren des Lebens, fördern ihre Gesundheit, ihren Wohlstand und ihre Fruchtbarkeit. So stark ausgeprägt ist der Hang zu einer derartigen Komplementarität, dass selbst wenn eine »höhere« Religion ganze Gesellschaften eroberte (wie im Falle von Buddhismus, Christentum und Islam) und wenn vermeintlich nichts mehr übrig blieb, was als religiöser Kontrast hätte dienen können – dass selbst hier der Unterschied zwischen hingebungsvollen Minderheiten religiöser »Virtuosen« (wie Max Weber sie nannte) und der Massenreligion des sozialen Heiligen (die sich weiterhin größtenteils am menschlichen Wohlergehen orientierte) erhalten blieb oder sich neu konstituierte. Dabei war dieselbe Grundkonstellation zu verzeichnen: auf der einen Seite Drängen und Druck, auf der anderen hierarchische Komplementarität. Aus unserer modernen Sicht, im überlegenen Rückblick, sieht es so aus, als wäre es den achsenzeitlichen Formen der Spiritualität niemals ganz gelungen, ihren loslösenden, »emanzipatorischen« Effekt (disembedding) vollständig zu entfalten, weil sie von der Kraft des mehrheitlichen religiösen Lebens sozusagen »umsäumt« wurden – eines religiösen Lebens, das fest in alten Bahnen verharrte. Die neuen Religio-

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Die Religion und die Identitätskämpfe der Moderne | 351 nen brachten eine bestimmte Form des religiösen Individualismus hervor, aber das war, wie es Louis Dumont nannte,13 nur die Charta für das »außerweltliche Individuum«. Anders gesagt, dieser Individualismus war der Lebensstil elitärer Minderheiten, in gewisser Weise marginal und zur »Welt« in Spannung stehend – wobei mit »Welt« nicht nur ein Kosmos gemeint ist, in den das Höhere, das Heilige einbezogen ist, sondern auch eine Gesellschaftsordnung mit Bezug auf den Kosmos und das Heilige. Diese »Welt« war weiterhin eine Matrix des Eingebettet-Seins, sie bot weiterhin den unausweichlichen Rahmen für gesellschaftliches Leben – auch für das gesellschaftliche Leben jener Individuen, die darauf aus waren, dieser Welt den Rücken zu kehren. Denn sie blieben ja gewissermaßen in Reichweite der Gesellschaft. Was jetzt noch fehlte, war die Transformation der Matrix selbst – derart, dass sie einigen Grundprinzipien der achsenzeitlichen Spiritualität entsprach. Erst danach war es möglich, sich diese »Welt« als eine aus Individuen zusammengesetzte Welt vorzustellen. Erst dies war – wiederum in Dumonts Begrifflichkeit – die Geburt des »innerweltlichen Individuums«, jenes Akteurs, der sich in seinem normalen »weltlichen« Leben als eigenständiges Individuum sieht. Mit anderen Worten, es war die Geburtsstunde des menschlichen Akteurs der Neuzeit. Dieses Transformationsprojekt ist der Versuch, die Gesellschaft von Grund auf nach den Forderungen einer christlichen Weltordnung neu zu organisieren, sie zugleich von ihren Verbindungen zu einem magischen Kosmos zu reinigen und alle Spuren der alten Korrespondenzen zu beseitigen: der Entsprechungen zwischen Spirituellem und Zeitlichem, zwischen einem Gott gewidmeten Leben und dem Leben in der »Welt«, zwischen Ordnung und jenem Chaos, aus dem Ordnung sich herleitet. Erst dieses Projekt löste die alten Einbettungen gründlich auf, dank seiner Form und Operationsweise – durch disziplinierte Neuordnung des Verhaltens und der sozialen Formen mittels Objektivierung und Instrumentalisierung. Auch in der intrinsischen Zielsetzung ging es um die Auflösung alter Einbettungen, was sich im Drang zur Entzauberung des Kosmos zeigte. Dabei wurde die zweite Dimension der Einbettung zerstört. Aber wir können die Sache auch im spezifisch christlichen Kontext betrachten, selbst wenn das Christentum in gewisser Hinsicht wie jede andere achsenzeitliche Spiritualität operierte, de facto sogar in enger Verbindung mit einer anderen Philosophie: dem Stoizismus. Im Neuen Testament wimmelt es geradezu von Aufrufen, Familie, Clan oder Gesellschaft zu verlassen bzw. sich deren Solidaritätssystemen zu entziehen und Teil des Himmelreichs auf Erden zu werden. Diese Aufrufe finden ernsthaften Niederschlag in der Praxis bestimmter protestantischer Kirchen, in die man nicht einfach hineingeboren werden kann, sondern in die man nur aufgenommen wird, wenn man einem persönlichen Ruf folgt und sich zu Gott bekannt hat. Dies wiederum bestärkt die Gesellschaftskonzeption vom Zusammenschluss auf der Grundlage eines Bündnisses oder Vertrages – und damit letztlich der freien Entscheidung freier Individuen. 13 Vgl. Louis Dumont: Essais sur l’individualisme: Une perspective anthropologique sur l’idéologie moderne, Paris 1983. (Dt. Individualismus: Zur Ideologie der Moderne, Frankfurt am Main/ New York 1990.)

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352 | Charles Taylor Diese Ableitungen sind naheliegend. Meine These lautet jedoch, dass die Auswirkungen der christlichen oder christlich-stoischen Versuche zur Umgestaltung der Gesellschaft noch über die Entstehung des modernen »innerweltlichen Individuums« hinausgehen, dass sie noch wesentlich umfassender und vielseitiger waren. Das Christentum trug dazu bei, zunächst das moralische und dann das gesellschaftliche Imaginäre in Richtung des modernen Individualismus zu bewegen. Dies wird zum Beispiel in der neuen Konzeption einer moralischen Weltordnung deutlich, deren Entstehung wir im Aufkommen der Naturrechtslehre verfolgen können. Diese Lehre war dem Stoizismus stark verpflichtet. Ihre Begründer waren die niederländischen Neostoiker Justus Lipsius und Hugo Grotius. Dennoch handelte es sich hier um einen christianisierten, modernen Stoizismus – in dem Sinne, dass eine willentlich herbeigeführte Neuordnung der menschlichen Gesellschaft einen zentralen Stellenwert hatte. Man könnte sagen, dass sowohl die »gepufferte« Identität als auch das christliche Reformprojekt zur »Entbettung« beitrugen. Soziales Eingebettet-Sein hat, wie schon gesagt, mit Identität zu tun – mit den kontextuellen Grenzen der Identitätsvorstellung –, aber auch mit dem gesellschaftlichen Imaginären: der Art und Weise, wie wir uns das gesellschaftliche Ganze denken oder vorstellen können. Die neue »gepufferte« Identität mit ihrem Beharren auf persönlicher Frömmigkeit und Disziplin verstärkte die Distanzierung von, ja die Feindseligkeit gegenüber älteren Formen des kollektiven Rituals und kollektiver Zugehörigkeit, während der Drang zu Reformen die komplette Abschaffung der alten Rituale ins Auge fasste. Sowohl mit ihrem Identitätsgefühl als auch mit ihrem Projekt zur Reform der Gesellschaft bewegten sich die disziplinierten Eliten auf die Konzeption einer sozialen Welt zu, die letztlich aus Individuen bestand. Doch nicht alle Merkmale dieses Individualismus sind in andere religiöse Traditionen sozusagen »weitergewandert«. Die christliche Betonung der Innerlichkeit zum Beispiel konnte die Kluft zu anderen religiöse Traditionen wohl nicht überwinden. Zweifellos wurde auch die Konzeption der Gesellschaft als Ansammlung von mit Individualrechten versehenen Einzelnen nicht überall akzeptiert. Doch die Wichtigkeit persönlichen Engagements und persönlicher Verantwortung ist anscheinend ein wichtiger Bestandteil auch der zeitgenössischen Formen islamischen Lebens geworden. So legt etwa Ugur Kömeçoglu in seinem Beitrag zum vorliegenden Band dar, dass einzelne islamische Cafés nicht mehr auf der etablierten islamischen Kleiderordnung und auf räumlicher Geschlechtertrennung beharren, sondern an die innere Überzeugung und Identitätsbildung der Besucher appellieren. Die »cartesianische Dichotomie«, von der Kömeçoglu spricht, ist genau das, was ich hier als die Idee der persönlichen Verantwortung eines Individuums beschreibe, das sich von allen äußeren Formen ablösen kann. Und wenn Moussa Khedimellah in seinem Beitrag den »aufgeklärten und puritanischen Islam« der jungen Tabligh-Prediger mit dem »traditionellen Routine-Islam« von deren Eltern kontrastiert, weist er meiner Meinung nach auf eine ganz ähnliche Akzentverschiebung zur individuellen, persönlichen Verantwortung hin. Diese Art engagierter Individuation kann manchmal zur Folge haben, dass bestimmte traditionelle Formen des Rituals oder der Frömmigkeit als »unislamisch« ^

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Die Religion und die Identitätskämpfe der Moderne | 353 abgewertet werden. So wollten islamische Reformer in jüngster Zeit wiederholt nicht nur zur rigorosen Strenge der Scharia zurückkehren, sondern sie betrachteten auch verschiedene – allgemein unter dem Stichwort »Sufitum« zusammengefasste – Formen mystischer Frömmigkeit mit unverhohlener Missbilligung. Ein Wandel in der Persönlichkeitsstruktur kann zur Folge haben, dass Menschen aus ihren vernetzten Identitäten in Familien, Clans und Dörfern herausgelöst werden – genau jenen Orten, wo oft ein »traditioneller Routine-Islam« praktiziert wird. Der Bruch mit der Netzwerk-Identität führt zum Hervortreten einer kategorialen Identität – als Muslime, »echte« Muslime und/oder Muslime, die den Islam in einer bestimmten strikten Form praktizieren. Natürlich besaßen die Betreffenden diese Identität in gewisser Weise auch vorher schon. Der Unterschied ist nur, dass in vielen Milieus der Islam etwas war, zu dem man durch die kollektive Praxis seines Dorfes oder Clans gehörte, während der besonders Engagierte seine Religion nun vielleicht losgelöst davon und gegen diese Traditionen lebt. Die Übernahme einer kategorialen Identität durch verantwortliches Eigenengagement ist es, die Menschen aus den alten Kontexten herauslöst und in eine Art öffentlichen Raum im modernen Sinne stellt. Damit meine ich einen Raum, der nicht – wie ein göttlich etabliertes Königreich oder Kalifat, wie ein seit unvordenklichen Zeiten existierendes Stammesrecht oder ein heiliger »Theaterstaat« oder Ähnliches – durch eine präexistente, individuelles Handeln übersteigende, transzendente Struktur definiert ist. Ein moderner öffentlicher Raum wird durch gemeinsames Handeln derer, die darin auftreten, ziemlich bewusst geschaffen. Es wird eine Vereinigung von Leuten gebildet, die mobilisiert werden oder sich selbst mobilisieren, die zu bestimmten Zwecken zusammenkommen und mit einem größeren Raum interagieren, der den gemeinsamen Zielen dieser Gruppe durchaus indifferent oder feindlich gegenüberstehen kann. Soll dieses weitere Umfeld jedoch nicht indifferent oder feindlich gesinnt sein, dann müssen die im öffentlichen Raum Engagierten selbst für Sympathien sorgen: durch Mobilisierung der Massen und durch kollektive Aktionen. So geschehen im Iran, beim Aufstand gegen den Schah und bei der Schaffung einer Islamischen Republik. Wir haben es hier also mit einer religiösen Identität zu tun, die zweifellos in einen öffentlichen Raum im modernen Sinne passt, ja die einen derartigen Raum geradezu voraussetzt. Eine solche religiöse Identität erfordert individuelles Engagement, darum oft auch eine Mobilisierung in Vereinigungen – ein Standardphänomen in modernen Gemeinwesen. Sie bedient sich zum Zweck der Selbstbehauptung und zur Gewinnung neuer Mitglieder oft auch massiv diverser Massenmedien. Dale Eickelman hat darauf hingewiesen, in welchem Umfang sich zeitgenössische islamische Bewegungen auf das gedruckte Wort stützen und sich darauf verlassen, dass ihre Mitglieder durch Lektüre an Überzeugung und Engagement gewinnen – wobei die Aktivisten sich oft zu Polemik gegen als feindlich angesehene Ideen hinreißen lassen, etwa gegen die Idee des westlichen Säkularimus.14 Dabei zogen doch einige intellektuelle Führer der Iranischen Revolution bei der Definition ihrer Gedanken 14 Vgl. Dale Eickelman/Jon Anderson (Hg.): New Media in the Muslim World: The Emerging Public Sphere, Bloomington, IN 1999.

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354 | Charles Taylor zum Teil französische Philosophen heran, deren Denken auch im Westen vielen vertraut ist. Überdies ist allgemein bekannt, wie sehr Ayâtollâh Khomeinis (Homeynis) Revolution von Kassettenaufnahmen seiner Predigten abhing, also vom Einsatz moderner Medien. Man beachte, dass Gott durchaus in modernen öffentlichen Räumen vorkommen kann, oft sogar in penetranter Form, dass die Bedeutung dieser Präsenz jedoch eine ganz andere ist als in vielen vormodernen Formen. Denn Letztere basierten auf dem Heiligen als einer mächtigen, lokalisierbaren Instanz – was ich als göttliche Fügung im alten Durkheim’schen Sinne bezeichnet habe, wie sie etwa im Gottesgnadentum des Ancien Régime in Frankreich zum Ausdruck kam. Es gibt allerdings auch ein neues Durkheim’sches Modell, das sich im Westen vorzugsweise am Beispiel der USA illustrieren lässt. In deren Gründungsideologie ist Gott gegenwärtig, weil man davon ausging, dass die amerikanische Republik auf den Plänen der göttlichen Vorsehung beruht.15 So gibt es trotz aller Unterschiede durchaus Analogien zwischen den Staatsideologien der USA und der heutigen Islamischen Republik Iran. Viele sehen einen inneren Widerspruch darin, dass einige der Bewegungen, die selbst in modernen öffentlichen Räumen operieren, behaupten, sie kehrten zu einer reineren frühen Form der Religion zurück; es handelt sich dabei um jene Bewegungen, die im Westen gemeinhin als »fundamentalistisch« bezeichnet werden. Ein solcher Widerspruch existiert allerdings nur, wenn man übermäßig vereinfachte Definitionen von »Moderne« und »Religion« zugrunde legt, als ob es sich um absolut statische und auf gegensätzlichen Prämissen beruhende Konstellationen handelte. Selbst das Paradebeispiel für »Fundamentalismus« im Westen, jene protestantischen Gruppen, die die Bibel ganz wörtlich nehmen, benutzen nicht nur die neuesten und fortschrittlichsten Massenmedien, sondern ihr Fundamentalismus ergibt in vielerlei Hinsicht überhaupt nur Sinn, wenn man moderne Annahmen zugrunde legt, zum Beispiel eine klare, umfassende Unterscheidung zwischen Wortsinn und übertragenem Sinn – eine Unterscheidung, die in früheren christlichen Jahrhunderten wahrscheinlich nur schwer zu fassen gewesen wäre. So gibt es zwar keinen inneren Widerspruch, aber trotzdem Spannungen zwischen moderner Öffentlichkeit und religiösem Aktivismus. Sich durch einen Appell an das individuelle Engagement mobilisieren zu lassen, noch dazu in einem oft indifferenten oder gar feindlich gesinnten öffentlichen Raum, erfordert ein hohes Maß an Verantwortungsbereitschaft, das dann aber mit bestimmten Merkmalen ebenjenes Verhaltenskodexes in Konflikt geraten kann, auf den das neue Engagement abzielt. Das wohl klarste Beispiel dafür sind, wie Nilüfer Göle und andere in vielen Forschungsbeiträgen gezeigt haben, Frauen in islamischen Bewegungen. Ein verantwortliches Engagement in einer auf Mobilisierung abzielenden Bewegung kann beispielsweise erfordern, dass man Führungspositionen übernimmt, als Sprecher fungiert und Ähnliches mehr. Solche Rollen und Funktionen indes können in Konflikt mit dem eher zurückhaltenden weiblichen Rollenmodell geraten, das der islamische 15 Vgl. Charles Taylor: Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt am Main 2002, S. 83f. (Engl. Varieties of Religion Today, Cambridge, MA 2002.)

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Die Religion und die Identitätskämpfe der Moderne | 355 Verhaltenskodex vorschreibt: Frauen sollen in der Öffentlichkeit anonym oder unsichtbar bleiben. Die neue Identität ist spannungsträchtig, doch sind gerade solche Spannungen oft eine wichtige Quelle für entwicklungsfördernde Konflikte.

II. Bislang habe ich davon gesprochen, wie eine mit starkem persönlichem Engagement verbundene religiöse Identität in die Öffentlichkeit drängt. Auch habe ich auf einige damit verbundene Spannungen hingewiesen. Nunmehr ist darauf hinzuweisen, dass die Religion an vielen zeitgenössischen Konflikten auch noch auf ganz andere, eher unheilvolle Weise beteiligt ist. Das wird besonders deutlich, wenn wir uns auf die Religion als Konfliktstoff konzentrieren. Bei näherer Betrachtung einiger dieser Konflikte wird schnell deutlich, dass sie gar nicht von Menschen mit starkem innerem Engagement für den betreffenden Glauben vorangetrieben werden. Und doch, aus einer bestimmten Sicht liegen die Quellen von Hass, Konflikten und Verfolgung anscheinend tief in unserem religiösen Erbe beschlossen. Nach dieser seit der Aufklärung weit verbreiteten Ansicht war die Neigung zu Konflikten und Repression in den Religionen, die sich aus dem jüdischen Monotheismus entwickelten, besonders stark ausgeprägt. Die Aufklärung sah – angesichts der schrecklichen Geschichte von Kreuzzügen und Inquisition – im Christentum einen ganz besonders Schuldigen. Oft erschien der Islam allerdings als ebenso schlimm, wenn nicht gar als noch schlimmer. Diese Meinung ist auf mancherlei Weise in liberalen, weltlich orientierten Kreisen des Westens nach wie vor anzutreffen: Dort begegnet man militanten Christen mit tiefstem Misstrauen, und der Islam wird praktisch dämonisiert. Allerdings geht es, wenn dem Monotheismus derartige Vorwürfe gemacht werden, nicht nur um Vorurteile. Es ist bemerkenswert, wie bereits in der Antike Juden und später Christen von ihren jeweiligen Nachbarn als »gottlos« (atheioi) verurteilt wurden, weil sie mit der üblichen Praxis brachen, die Götter der anderen wechselseitig stillschweigend anzuerkennen – eine Praxis, aus der sich übergreifende Verehrung und Synkretismus entwickelt hatten. Juden und Christen bestritten, dass es noch andere Götter geben könne, oder identifizierten sie mit Dämonen; derartige Gottheiten zu verehren, war den Gläubigen strikt verboten. Und diese klare Abgrenzung wurde mit Eifer verteidigt. Christentum und Islam ererbten diese Abgrenzung vom Judentum, ergänzten sie aber ihrerseits durch den Aufruf zur Mission; der eigene Glaube sollte der gesamten Menschheit übermittelt werden. Dieser Aspekt war zweifellos Ausgangspunkt vieler religiöser Eroberungskriege und häufig auch, besonders in der Geschichte des Christentums, Anlass für erzwungene Konversionen. Auch nach innen wurde die Grenze der eigenen Religion strikt gegen Abweichler verteidigt: Häretiker wurden streng bestraft. Wir können also das Bild einer bestimmten Art von Religion entwerfen, die zur Quelle von Gruppenkonflikten, Krieg, Verfolgung und erzwungener Konformität wurde. Als Gegenbilder dienten zum Beispiel die tolerantere Haltung des aufgeklär-

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356 | Charles Taylor ten Heidentums (bei Gibbon), die Weisheit der chinesischen Zivilisation (ein wichtiger Topos der Aufklärung) oder – in neuerer Zeit – die fließenden Grenzen des Hinduismus und der Pazifismus des Buddhismus. Historisch gesehen steckt in diesen Gegenüberstellungen eine Menge Wahrheit. Aber es ist zweifellos auch nicht die ganze Wahrheit über Religion und Hass im 20. Jahrhundert. So scheint gerade der Hinduismus Ausgangspunkt einer superchauvinistischen politischen Bewegung zu sein, die in Teilen Indiens die Macht errungen hat. In Sri Lanka wurden im Namen des Buddhismus schreckliche Gewalttaten verübt. Viele Menschen haben in diesen Vorkommnissen einen Verrat an den jeweiligen religiösen Traditionen gesehen,16 doch lässt sich die Verwicklung der Religion in die Gewaltaktionen nicht bestreiten. Ist das im Monotheismus angelegte Verfolgungspotenzial etwa ansteckend wie eine Art Virenerkrankung? Meine These lautet, dass die Dinge durchaus nicht so eindeutig liegen, wie sie zu sein scheinen. Denn oft war im 20. Jahrhundert bei gewalttätigen Auseinandersetzungen nicht wirklich die Religion Wurzel des Konflikts. Anders gesagt, die Religion wurde durch ganz andersartige Mechanismen in diese Konflikte hineingezogen – Mechanismen, die zur Religion als solcher keine innere Verbindung aufwiesen. Gewisse notorische Fälle, die auf ein etwas anderes Verhältnis zwischen Frömmigkeit und Gewalt verweisen, sollten uns als Warnung vor allzu schnellen Schlüssen dienen. In den schlechten alten Tagen der Inquisition etwa waren die Inquisitoren, wenn man das übliche Maß an Mitläufern und Opportunisten in Abzug bringt, gerade die Frömmsten und Engagierten unter den Christen; sie waren von glühendem Glaubenseifer durchdrungen. Wirft man dagegen einen Blick auf die heutigen Religionskonflikte in Nordirland, so ist gerade das nicht das Bild, das sich dem Betrachter bietet. Die Gewalttäter haben sich von den wahrhaft frommen Katholiken und Protestanten immer weiter entfernt; Letztere sind häufiger als tapfere Stimmen für den Frieden zu vernehmen. Reverend Ian Paisley, der extremistische protestantische Geistliche, wirkt mehr und mehr als anachronistisches Überbleibsel. Die Killer haben sicher ihren eigenen Eifer, der ihnen zweifellos auch heilig ist, aber dieser Eifer richtet sich nicht darauf, Gott zu dienen. Ein anderer krasser Fall sind die indische Hindu-Partei Bharatiya Janata Party (BJP) und ihre Mutterorganisation, die militante Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS). In welchem Sinne lässt sich diese Gruppierung, wenn überhaupt, durch hinduistisch-religiöse, nicht-weltliche Ziele definieren? Die Mörder Mahatma Gandhis warfen ihm nicht seine Frömmigkeit vor (wie hätten sie das auch tun können?), sondern dass er Pakistan dessen Anteil an den Goldreserven des Landes zurückgegeben und sich dem Militarismus widersetzt hatte. Seine hinduistischen Nachfolger haben inzwischen eines ihrer langfristig verfolgten Ziele erreicht: Indien ist Atommacht geworden. Ähnlich sehen die Ziele einer bestimmten Art von Nationalismus überall auf der Welt aus; aber was haben sie mit Religion, und speziell mit dem Hinduismus zu tun? 16 Vgl. zu Sri Lanka besonders Stanley J. Tambiah: Buddhism Betrayed: Religion, Politics and Violence in Sri Lanka, Chicago 1992.

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Die Religion und die Identitätskämpfe der Moderne | 357 Zwar hat sich die BJP vor nicht allzu langer Zeit durch eine Kampagne zur Zerstörung einer Moschee am Geburtsort Ramas hervorgetan, wobei anstelle der Moschee ein Hindu-Tempel errichtet werden sollte; die Mobilisierung der Bevölkerung zu diesem Zweck hat der Partei sicher letztlich auch zur Macht verholfen (obwohl die Zerstörung der Babri Masjid vielen Indern auch einen tiefen Schrecken eingejagt hat, woraufhin die BJP diesen Teil ihres Programms seither heruntergespielt hat). Die Realität ist also durchaus komplex. Doch was beim Blick auf die Kernorganisation RSS auffällt, ist eher die Ausbeutung von Strömungen der Volksfrömmigkeit durch eine Organisation, deren Ziele im Bereich der weltlichen Macht liegen. Jedenfalls ist wie in Nordirland auch in diesem Fall klar, dass die eifrigsten Agitatoren nicht unbedingt unter den Frömmsten zu finden sind. Was also wird hier gespielt? Meine These lautet, dass sich die Verwicklung der Religion in Gewaltaktionen im 20. Jahrhundert mit Identitätskämpfen erklären lässt. Solche Kämpfe kristallisieren sich normalerweise um Identitätsdefinitionen – Bestimmungen der eigenen Identität und der der anderen. Doch diese Definitionen sind nicht unbedingt religiöser Natur. Im Gegenteil, sie drehen sich oftmals um die gefühlsmäßig wahrgenommene Nationalität, Sprache, Stammeszugehörigkeit und dergleichen mehr. Mir kommt es hier vor allem auf den Hinweis an, dass sich die Antriebskräfte für solche Identitätskonflikte in verschiedenen Definitionsbereichen stark ähneln. Würde Religion anstelle von, sagen wir, Sprache in der Selbst- oder Alteritätsdefinition eine Rolle spielen, so würde sich oft an der Konfliktkonstellation kaum etwas ändern. (Dass diese Aussage natürlich nicht ausnahmslos zutrifft, werde ich weiter unten zeigen.) In Fällen wie Nordirland oder dem früheren Jugoslawien ist man versucht zu sagen, dass ursprünglich religiöse Unterschiede sich inzwischen zu einer Feindschaft zwischen »Nationen« verfestigt haben, die als solche empfunden und hemmungslos ausgelebt wird. Atheisten wie Milosevic treten als Vorkämpfer der orthodoxen Serben im Kampf gegen muslimischen Bosnier oder Kosovo-Albaner auf. Dabei spielen in diesem Konflikt Gott oder das kirchliche Leben der Orthodoxie so gut wie keine Rolle. Was zählt, ist die historische Identität der Menschen, und dabei dienen einige Klöster und traditionelle Stätten der Frömmigkeit als wichtige territoriale Markierungspunkte. Viel mehr hat die Religion in diesem Kontext eigentlich nicht zu bedeuten. Anders gesagt, selbst wenn die Religion in modernen Identitätskämpfen eine wichtige Definitionsquelle ist, kommt sie meistens unter einer Rubrik vor (zum Beispiel im Rahmen einer historisch bedeutsamen Tradition, die »unser« Volk definiert), welche die Aufmerksamkeit eher von dem ablenkt, was stets als wichtigster Punkt religiöser Verehrung und Praxis galt: Gott, Moksha, Nirwana. Und daraus ergibt sich dann die legitime Frage: Geht es bei diesem Kampf überhaupt noch um die Religion? Zum besseren Verständnis möchte ich kurz darlegen, was meiner Meinung nach den diversen Formen des Identitätskampfes zugrunde liegt, die in unserer Welt inzwischen weit verbreitet sind. In gewissem Sinne liegt ihre Wurzel, so erschreckend das sein mag, im Wesen der modernen Demokratie. Denn es liegt eine gewisse Paradoxie darin, dass die moderne Demokratie die inklusivste Regierungsform in der

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358 | Charles Taylor gesamten Geschichte der Menschheit ist und sein will. Sie geht darin noch über die antike Demokratie hinaus, in der Sklaven und Frauen von der Teilhabe ausgeschlossen waren. Gleichwohl entfesselt die Dynamik der Demokratie häufig Rivalitäten unter verschiedenen Gruppen, bis hin zum Ausschluss; hier liegt der Grund für die von mir so bezeichneten Identitätskämpfe.17 Woher kommt dieser Drang zur Ausgrenzung? Man kann es so sagen: Inklusiv wird die Demokratie dadurch, dass sie die Regierung des ganzen Volkes ist. Aber auch exklusiv wird sie, weil sie die Regierung des ganzen Volkes ist. Denn die Ausgrenzung bestimmter Individuen und Gruppen ist ein Nebenprodukt des Bedürfnisses nach einem hohen Maß an innerem Zusammenhalt in Körperschaften, die sich selbst regieren. Demokratische Staaten benötigen etwas wie eine gemeinsame Identität. Warum das so ist, wird klar, sobald wir darüber nachdenken, welche Implikationen die Selbstregierung hat und woher solche Staaten ihre grundlegende Legitimation beziehen: Sie sind auf Volkssouveränität gegründet. Doch ein Volk, das souverän sein will, muss eine Einheit bilden und eine Persönlichkeit haben. Im Zeichen der Revolutionen, die zu auf Volkssouveränität basierenden Regimes führten, wurde die Regierungsmacht von einem König auf eine »Nation« oder ein »Volk« übertragen. Dabei wurde auch eine neue Art kollektiver Handlungsmacht erfunden. Die Begriffe »Volk« und »Nation« gab es schon zuvor, doch was sie nunmehr beinhalteten, jene neue Art von Handlungsvermögen, war damals etwas unerhört Neues, zumindest im unmittelbaren Kontext des Europas der frühen Moderne. So ließ sich der Begriff »Volk« zweifellos auch auf die Gemeinschaft der Untertanen eines Königreichs anwenden oder auf die nichtelitären Schichten einer Gesellschaft; doch vor der Revolution war damit noch keine Einheit gemeint, die kollektiv zu entscheiden und zu handeln in der Lage war, eine Einheit, der man einen gemeinsamen Willen zuschreiben konnte. Warum benötigt diese qualitativ neue Einheit eine starke Form des Zusammenhalts? Ist nicht Volkssouveränität gleichbedeutend mit dem einfachen Willen der Mehrheit, mehr oder weniger eingeschränkt durch den Respekt vor Freiheit und Recht? Eine solche Entscheidungsregel kann jedoch in allen möglichen Gremien und Versammlungen zum Tragen kommen, selbst in ganz losen Zusammenkünften. Nehmen wir an, dass bei einem öffentlichen Vortrag einige Zuhörer das Gefühl haben, der Raum sei überheizt, und darum bitten, man möge die Fenster öffnen; andere widersprechen. Dann kann man die Frage leicht durch die Bitte um ein entsprechendes Handzeichen entscheiden, und alle Anwesenden würden die Entscheidung als legitim empfinden. Trotzdem kann das Publikum dieses Vortrags eine völlig disparate Ansammlung von Individuen sein, die einander nicht kennen, keine gemeinsamen Sorgen und Ziele haben, sondern lediglich punktuell aus Interesse an diesem Vortragsthema zusammengekommen sind. Unser Beispiel zeigt ex negativo, was demokratische Gesellschaften brauchen. 17 Ausführlicher habe ich diese Frage erörtert in: »Democratic Exclusion (and Its Remedies?)«, in: Alan C. Cairns u.a. (Hg.), Citizenship, Diversity and Pluralism: Canadian and Comparative Perspectives, Montreal 1999, S. 265-287.

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Die Religion und die Identitätskämpfe der Moderne | 359 Denn es leuchtet unmittelbar ein, dass sie eine stärkere Bindung benötigen als diese Zufallsgruppe. Wie lässt sich diese Notwendigkeit verstehen? Eine Erklärungsmöglichkeit besteht darin, die Logik der Volkssouveränität noch weiter voranzutreiben. Denn diese empfiehlt nicht nur bestimmte Entscheidungsprozeduren – die sich letztlich (mit Einschränkungen) auf die Mehrheit berufen –, sondern bietet dafür auch eine spezielle Rechtfertigung an. Unter der Herrschaft der Volkssouveränität sind wir frei – so frei, wie wir es etwa unter einem absoluten Monarchen oder in einer festgefügten Adelsgesellschaft nicht wären. Betrachten wir die Sache einmal aus der Sicht des Individuums. Ich bin zum Beispiel bei einer wichtigen Frage überstimmt worden und nun gezwungen, eine Regel zu befolgen, der ich eigentlich nicht zustimmen kann. Mein Wille geschieht nicht. Wie kann ich mich da noch für frei halten? Macht es gegenüber den Entscheidungen eines Monarchen einen Unterschied, dass ich jetzt durch die Mehrheit meiner Mitbürger überstimmt wurde? Warum sollte das entscheidend sein? Wir können unserer Beispiel sogar noch zuspitzen: Der abgesetzte Monarch, der nur darauf wartet, mit einem Staatsstreich die Macht zurückzugewinnen, würde in der betreffenden Frage mit mir übereinstimmen – gegen die Mehrheit meiner Mitbürger. Wäre ich dann nicht nach einer Gegenrevolution sogar freier? Schließlich würde dann doch mein Wille in diesem Punkte durch- und umgesetzt. Erkennbar ist diese Art Fragestellung nicht nur theoretischer Natur. Zwar wird sie nur selten im Namen von Individuen vorgetragen, doch wenn sie von Untergruppen aufgeworfen wird, etwa von nationalen Minderheiten, die sich unterdrückt fühlen, dann steht diese Frage regelmäßig im Raum. Vielleicht gibt es im konkreten Fall keine zufriedenstellende Antwort: Was immer man sagen mag, diese Minderheiten können sich einfach nicht als Teil dieses größeren souveränen Volkes sehen und betrachten darum dessen Herrschaft über sich als illegitim – sogar gemäß der Logik der Volkssouveränität. Hier zeigt sich die innere Verbindung zwischen Volkssouveränität und der Idee vom Volk als kollektivem Handlungsträger, das weit mehr ist als unser oben angeführtes Vortragspublikum. Diese Handlungsmacht ist etwas, bei dem man einbezogen sein kann, ohne wirklich dazuzugehören – und das ergibt für Zuhörer, die nur einen Vortrag hören wollen, keinen Sinn. Das Wesen der Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit erschließt sich vielmehr, wenn wir fragen, welche Antwort wir jenen geben können, die überstimmt wurden und jetzt das eben skizzierte Argument der illegitimen Macht verlockend finden. Natürlich gibt es extreme Vertreter des philosophischen Individualismus, die der Meinung sind, hier sei eine gültige Antwort unmöglich und die Berufung auf ein umfassenderes Kollektiv sei reiner Unsinn, allein dazu gedacht, jenen, die anders abgestimmt haben, die freiwillige Sklaverei schmackhaft zu machen. Auch ohne diese letztlich philosophische Frage endgültig entscheiden zu können, dürfen wir jedoch fragen: Welches Merkmal unserer »vorgestellten Gemeinschaft«, welches »gesellschaftliche Imaginäre« (Castoriadis) veranlasst Menschen sehr oft, bereitwillig zu akzeptieren, dass sie unter einer demokratischen Herrschaft frei sind, selbst wenn ihr Wille bei wichtigen Themen konkret nicht zum Tragen kommt? Die Antwort, die diese Menschen akzeptieren, lautet ungefähr so: Du bist, wie

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360 | Charles Taylor der Rest von uns, nur insofern frei, als wir uns gemeinsam selbst regieren und nicht von einer Instanz regiert werden, die auf uns keine Rücksicht nehmen muss. Deine Freiheit besteht darin, dass du bei Herrschaft und Entscheidung ein garantiertes Mitspracherecht hast; du wirst angehört und hast teil an der Entscheidungsfindung. Diese Freiheit darfst du genießen, weil es ein Gesetz gibt, das allen von uns das Wahlrecht zugesteht, und so ist dies unsere gemeinsame Angelegenheit. Deine Freiheit wird durch dieses Gesetz verwirklicht und verteidigt – unabhängig davon, ob du bei einer bestimmten Entscheidung auf der Gewinner- oder Verliererseite stehst. Dieses Gesetz definiert eine Gemeinschaft jener, deren Freiheit es kollektiv realisiert/verteidigt. Es definiert ein kollektives Handlungsvermögen – ein Volk, dessen gemeinsames Handeln nach dem Gesetz seine Freiheit bewahrt. Diese Antwort haben die Menschen in demokratischen Gesellschaften zu akzeptieren gelernt – egal ob sie philosophisch letztlich haltbar ist oder nicht. Und es leuchtet unmittelbar ein, dass Teil der Antwort auch eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl ist, das viel stärker bindet als im Fall der Zuhörer in einem Vortragssaal. Es geht um eine kontinuierliche kollektive Handlungsmacht, und die Teilhabe daran, die Mitgliedschaft in diesem Kollektiv, realisiert etwas sehr Wichtiges, eine Art Freiheit. Soweit dieses Gut, die Freiheit, entscheidende Bedeutung für ihre Identität hat, identifizieren sich die Menschen stark mit dieser Handlungsmöglichkeit; daraus ergibt sich dann auch eine enge gefühlsmäßige Bindung zu den Mitbeteiligten an dieser Handlungsmacht. Nur ein Appell an diese Art von Mitgliedschaft und Zusammengehörigkeitsgefühl kann die Antwort auf die Herausforderung des rebellischen Individuums in unserem Beispiel sein – jenes Einzelnen, der mit dem Gedanken spielt, ob er nicht im Namen seiner individuellen Freiheit und zur Durchsetzung seines individuellen Willens einen Staatsstreich des Monarchen (oder eines Generals) unterstützen sollte. Der entscheidende Punkt ist, dass das Legitimitätsprinzip der Volkssouveränität nur funktionieren kann, dass es allgemeine Zustimmung zu gemeinsamen Entscheidungen also nur sichert, wenn die Menschen – unabhängig von der philosophischen Richtigkeit – eine solche Antwort bereitwillig akzeptieren. Das Prinzip kann nur über diesen Appell an ein starkes kollektives Handlungsvermögen funktionieren. Wird die Identifikation mit diesem Kollektiv dagegen verweigert, so erscheint die Herrschaft der dazugehörigen Regierung in den Augen jener, die sich verweigern, als illegitim. Solches ist in zahllosen Fällen bei desillusionierten nationalen Minderheiten zu beobachten: »Herrschaft durch das Volk? Im Prinzip ja, aber wir können die konkrete Herrschaft dieser Bande da nicht akzeptieren, weil wir nicht Teil ihres Volkes sind.« Hier liegt die innere Verbindung zwischen Demokratie und einem starken gemeinsamen Handlungsvermögen. Sie folgt der Logik des Legitimitätsprinzips, das demokratischen Regimen zugrunde liegt. Gelingt es Demokratien nicht, diese Art Identität zu schaffen, zu fördern und zu bewahren, so droht für ihren Bestand ernste Gefahr. Mein letztes Beispiel bezieht sich auf eine wichtige Abwandlung des Appells an die Volkssouveränität – den Appell an die »republikanische Freiheit«. Diese Art Freiheit, inspiriert von den Republiken der Antike, beflügelte die Amerikanische wie die Französische Revolution. Schon bald danach aber nahm derselbe Appell nationa-

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Die Religion und die Identitätskämpfe der Moderne | 361 listische Formen an. Versuche, die Prinzipien der Französischen Revolution mit der Gewalt französischer Waffen zu verbreiten, führten in Deutschland, Italien und anderswo zu einer Reaktion: zu dem Gefühl, nicht Teil jenes souveränen Volkes zu sein, in dessen Namen die Revolution durchgeführt und verteidigt wurde, und nicht von ihm vertreten zu werden. In weiten Kreisen bildete sich als allgemein akzeptierte Meinung heraus, dass ein souveränes Volk, um die für kollektives Handeln erforderliche innere Einheit zu bilden, zuvor schon eine Einheit gewesen sein müsse – mit gemeinsamer Kultur, Geschichte und (dies vor allem in Europa) mit gemeinsamer Sprache. Hinter der politischen Nation musste also eine zuvor schon existente kulturelle (manchmal auch ethnische) Nation stehen. Der Nationalismus war in diesem Sinne eine Ausgeburt der Demokratie, ein gutartiger oder auch bösartiger Auswuchs. Im Europa des frühen 19. Jahrhunderts, als die Völker für ihre Emanzipation aus despotischen multinationalen Imperien kämpften, die sich zu einer Heiligen Allianz verbündet hatten, schien kein Gegensatz zwischen Demokratie und Nationalismus zu bestehen. Für jemanden wie Mazzini konvergierten beide Zielsetzungen perfekt.18 Erst in einem späteren Stadium warfen bestimmte Formen des Nationalismus im Namen nationaler Selbstbehauptung die Verpflichtung auf Menschenrechte und Demokratie wie Ballast ab. Doch schon bevor dieses Stadium des Nationalismus erreicht ist, verleiht der Nationalismus dem Begriff der Volkssouveränität einen neuen Zungenschlag. Die Antwort an den rebellischen Individualisten aus unserem Beispiel, »Etwas für deine Identität entscheidend Wichtiges ist in unsere gemeinsamen Gesetze eingebunden«, bezieht sich jetzt nicht mehr allein auf die republikanische Freiheit, sondern auch auf etwas, das man als kulturelle Identität bezeichnen könnte. Was im Nationalstaat verteidigt und realisiert wird, ist nicht einfach deine Freiheit als Mensch, sondern dieser Staat garantiert auch die Ausdrucksmöglichkeiten einer gemeinsamen kulturellen Identität. Man kann deshalb von einer »republikanischen« und einer »nationalen« Variante des Appells an die Volkssouveränität sprechen, obwohl in der Praxis beide Varianten oft zusammenfallen und obgleich in Rhetorik und Vorstellungswelt demokratischer Gesellschaften zwischen beiden oft nicht unterschieden wird. In der Tat haben sich auch die beiden Revolutionen aus der Zeit vor dem Nationalismus, die ursprünglichen »republikanischen« Revolutionen in Amerika und Frankreich, in gewisser Weise nationalistisch weiterentwickelt. Ziel beider Revolu18 Tatsächlich nahm das Streben nach Demokratie eine überwiegend »nationale« Form an. Logisch wäre es durchaus möglich gewesen, dass die demokratische Herausforderung an ein multinationales autoritäres Regime wie das Habsburger-Reich oder das Osmanische Reich die Form einer multinationalen Staatsbürgerschaft in einem panimperialen »Volk« angenommen hätte. In der Realität scheitern solche Versuche jedoch normalerweise. Die Völker suchen ihren je eigenen Weg in die Freiheit. So weigerten sich beispielsweise die Tschechen, Teil eines demokratisierten Deutschen Reiches zu werden, als 1848 in der Frankfurter Paulskirche verhandelt wurde. Und der Versuch der Jungtürken, eine osmanische Staatsbürgerschaft einzuführen, scheiterte; stattdessen entstand ein heftiger türkischer Nationalismus.

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362 | Charles Taylor tionen war das universale Gut der Freiheit, ungeachtet aller mentalen Vorbehalte, die die Revolutionäre de facto akzeptierten, ja sogar begrüßten. Ihre patriotische Loyalität galt jedoch dem spezifischen historischen Projekt, die Freiheit zu realisieren – in Amerika wie in Frankreich. Gerade der Universalismus wurde zur Basis eines heftigen Nationalstolzes – man sah sich als »letzte große Hoffnung der Menschheit« und die Republik als Träger und Garanten der allgemeinen »Menschenrechte«. Hier liegt der Grund, warum zumindest im Fall der Französischen Revolution die Freiheit zum Exportartikel werden konnte, den es mit gewaltsamen Eroberungen zu verbreiten galt, was dann, wie schon gesagt, anderswo schicksalhafte Folgen in Gestalt eines reaktionären Nationalismus heraufbeschwor. Kurz, wir haben es in der Moderne mit einer neuen Art von kollektiver Handlungsinstanz zu tun, mit der sich die Mitglieder der Gemeinschaft identifizieren – als einer Realisierungs- oder Verteidigungsinstanz ihrer Freiheit und/oder als dem Ort ihrer nationalen/kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten. Schon in vormodernen Gesellschaften »identifizierten« sich die Menschen natürlich oft mit dem Regime, mit heiligen Königen oder hierarchischen Ordnungen. Sie waren oft willfährige Untertanen. Im demokratischen Zeitalter identifizieren wir uns jedoch als frei Handelnde. Darum spielt der Gedanke des Volkswillens bei der Legitimationsidee eine derart zentrale Rolle.19 Das heißt, dass der moderne demokratische Staat allgemein akzeptierte gemeinsame Ziele oder Bezugspunkte hat – Merkmale, aufgrund deren er für sich beanspruchen kann, Bollwerk der Freiheit und Selbstverwirklichungsort seiner Bürger zu sein, ein Ort, an dem sich alle zum Ausdruck bringen können. Ganz gleich, ob diese Ansprüche tatsächlich eingelöst werden oder nicht, der Staat muss in der Vorstellung seiner Bürger so gesehen werden, damit er von ihnen als legitim empfunden wird. Daraus kann sich für den modernen Staat eine Frage ergeben, für die es in den meisten vormodernen Staatsformen nichts Analoges gibt: Wofür oder für wen ist dieser Staat da? Für wessen Freiheit? Für wessen Ausdrucksmöglichkeiten? Würde man diese Fragen zum Beispiel auf das Habsburger-Reich oder das Osmanische Reich anwenden, so ergäben sie keinen Sinn – es sei denn, man würde die Frage danach, für wen dieser Staat da sei, mit dem Hinweis auf die Dynastien der Habsburger und Osmanen beantworten. Aber eine solche Antwort würde kaum etwas über die Legitimitätsideen dieser Reiche aussagen. In diesem Sinne besitzt ein moderner Staat etwas, was ich als politische Identität 19 Rousseau, der die Logik dieses Gedankens schon sehr früh offen legte, sah, dass ein demokratischer Souverän nicht einfach eine »Ansammlung« von Menschen sein kann (wie in unserem Beispiel vom Vortragsauditorium). Es muss sich schon um eine »Vereinigung« handeln, eine starke kollektive Handlungsmacht, ein »corps moral et collectif« mit »son unité, son moi commun, sa vie et sa volonté«. Dem letztgenannten Begriff, dem gemeinsamen Willen aller (»Allgemeinwillen«), kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, denn erst die »volonté générale« verleiht dem Volkskörper eine Persönlichkeit. Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Du contrat social ou principes du droit politique, Amsterdam 1762, Kapitel 6 des 1. Buches. (Dt. Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, München 1981, Stuttgart 1983 u.a.)

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Die Religion und die Identitätskämpfe der Moderne | 363 bezeichnen möchte – definiert als allgemein akzeptierte Antwort auf die Frage »Wofür oder für wen ist dieser Staat da?« Diese Identität ist allerdings zu trennen von den individuellen Identitäten der Mitglieder des Staates, also von den vielen und vielfältigen Bezugspunkten, die für jeden Einzelnen definieren, was in seinem Leben wichtig ist. Natürlich sollte es zwischen diesen Identitätsbereichen eine gewisse Überlappung geben, wenn sich die Mitglieder mit ihrem Staat nachhaltig identifizieren sollen. Trotzdem werden die Identitäten der einzelnen Mitglieder und Teilgruppen des Staates im Allgemeinen reichhaltiger und komplexer sein, sich überdies recht oft deutlich voneinander unterscheiden.20 Es bedarf also einer gemeinsamen Identität. Und wie kommt es dann zu Ausgrenzungen? Dafür gibt es eine Fülle von Möglichkeiten, die wir in unterschiedlichen Umständen illustriert sehen können. Der tragischste, offenkundigste Fall liegt dann vor, wenn eine Gruppe, die sich nicht an den herrschenden Zusammenhalt assimilieren lässt, brutal ausgestoßen wird. Dergleichen nennt man heutzutage »ethnische Säuberung«. Es gibt jedoch viele andere Fälle, in denen man nicht zu derart drastischen Mitteln greift, in denen aber trotzdem diejenigen ausgeschlossen werden, deren Andersartigkeit die vorherrschende Identität bedroht. Dabei zähle ich Zwangseingliederungen auch zu den Ausgrenzungen, selbst wenn dies nicht ganz logisch erscheinen mag. So versuchte zum Beispiel die nationale Bewegung der Ungarn im 19. Jahrhundert (als das Königreich Ungarn Bestandteil der habsburgischen Doppelmonarchie war), Slowaken und Rumänen gewaltsam zu assimilieren; und heute geben die Türken nur ungern zu, dass im Osten der Türkei ein kurdische Minderheit lebt. Solche Fälle scheinen keine Ausgrenzung dieser Minderheiten zu bedeuten, aber aus anderer Perspektive gesehen läuft die Sache klar darauf hinaus. Denn letztlich wird diesen Minderheiten bedeutet: So, wie ihr seid oder wie ihr euch selbst seht, ist für euch hier kein Platz; darum müssen wir euch umerziehen. Die Exklusion kann auch die Form von Schikanen annehmen, wie im alten Apartheid-Regime in Südafrika, wo Millionen von Schwarzen die Bürgerrechte mit der Begründung verweigert wurden, sie seien ja in Wahrheit Bürger der »Homelands«, also exterritorialer Staatsgebiete. All diese Formen der Ausgrenzung sind durch die Bedrohung motiviert, die andere für die vorherrschende politische Identität darstellen. Und diese Bedrohung hat damit zu tun, dass die Volkssouveränität die vorherrschende Legitimationsidee unserer Zeit ist. Es ist schwer, eine offen hierarchische Gesellschaft aufrechtzuerhalten, in der die Gruppen untergeordnete Segmente bilden, von denen einige offen als minderwertige Untertanen gekennzeichnet sind – so, wie es zum Beispiel im MilletSystem des Osmanischen Reiches der Fall war. Da mutet es geradezu paradox an, dass frühere Eroberervölker damit zufrieden waren, mit riesigen Mengen andersartiger Untertanen zu koexistieren. Je mehr, desto besser. Die frühen muslimischen Eroberer des Umayyaden-Reiches bestanden 20 Ausführlicher erörtere ich dieses Verhältnis in »Les sources de l’identité moderne«, in: Mikhaël Elbaz/Andrée Fortin/Guy Laforest (Hg.), Les frontières de l’identité: Modernité et postmodernisme au Québec, Sainte-Foy 1996, S. 347-364.

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364 | Charles Taylor nicht auf der Konversion ihrer christlichen Untertanen, ja sie rieten sogar milde davon ab. Innerhalb der Grenzen dieser ungleichen Rahmenbedingungen verfügten frühere Reiche oft über hervorragende Bilanzen bei »multikultureller« Toleranz und Koexistenz. Berühmte Beispiele, die uns überliefert sind, wie das der indischen Moguln unter Akbar (im 16. Jahrhundert), sind belegen einen überraschend aufgeklärten und humanen Geist, dem gegenüber vieles, was heute in diesem Teil der Welt, aber auch anderswo geschieht, barbarisch anmutet. Es ist kein Zufall, dass das 20. Jahrhundert das Zeitalter der ethnischen Säuberungen war – beginnend mit den Balkankriegen, die in diesem Gebiet noch über den Ersten Weltkrieg hinaus andauerten, im Zweiten Weltkrieg epische Dimensionen erreichend und immer noch andauern. Dabei sind derartige Auseinandersetzungen bei weitem nicht auf Europa beschränkt. Das demokratische Zeitalter setzt der Koexistenz neue Hindernisse entgegen, weil es neue Problemkomplexe eröffnet hat, die Völker zutiefst spalten können – nämlich alle Fragen, die mit der politischen Identität des Staates zusammenhängen. In weiten Teilen des indischen Subkontinents etwa koexistierten früher Hindus und Muslime auf zivile Weise miteinander, sogar mit einem gewissen Maß an gegenseitiger Vermischung, während sie sich später bitter bekämpften. Was war geschehen? Zu den oft angeführten Erklärungen gehören der Versuch der britischen Kolonialherren, zu teilen und zu herrschen, sowie die britische Manie für Volkszählungsdaten. Erst nach dem Vorliegen von Zensusdaten sei es überhaupt relevant gewesen, wer sich wo in der Mehrheit befand. Nun gut, diese Faktoren mögen ihre Bedeutung gehabt haben, entscheidend wurden sie aber erst in einer Situation, in der die politische Identität zum Thema geworden war. Als die Bewegung anwuchs, deren Ziel es war, das Joch des fremden multinationalen Empires abzuschütteln und einen demokratischen Staat zu errichten, erhob sich die Frage nach der politischen Identität ebendieses Staates. Sollte es einfach die der Mehrheit sein? Strebte man ein Reich (Raj) der Hindus an? Die Muslime forderten Sicherheiten. Gandhis und Nehrus Vorschläge für eine panindische Identität genügten dem Führer der Muslime, Mohammad Ali Jinnah, nicht. Das Misstrauen wuchs, man forderte Garantien, und am Ende kam es zur Trennung. Beide Seiten wurden mobilisiert, in der jeweils anderen eine Bedrohung der politischen Identität zu sehen. Solche Ängste können manchmal – durch sozialpsychologische Mechanismen, die wir noch nicht ausreichend verstehen – transponiert und zu einer Bedrohung des Lebens werden. Die Reaktionen sind wütende Attacken und Gegenattacken, und es beginnt jene Spirale der Gewalt, die wir in all ihrer Schrecklichkeit inzwischen nur zu gut kennen. Bevölkerungszahlen können dann eine ominöse Bedeutung bekommen – aber nur, weil im Zeitalter der Demokratie dem Mehrheitsstatus entscheidende Bedeutung zukommt. Die Demokratie ist anfällig für Identitätskämpfe, weil das Zeitalter der Volkssouveränität neue Fragen aufwirft, vor allem die nach der von mir so bezeichneten politischen Identität des Staates. Wofür oder für wen ist dieser Staat da? Und bei jeder denkbaren Antwort auf diese Frage kann sich für mich/für uns die Frage erheben, ob wir uns mit diesem Staat »identifizieren« können. Sehen wir uns selbst in diesem

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Die Religion und die Identitätskämpfe der Moderne | 365 Staat reflektiert? Können wir uns als Teil jenes Volkes begreifen, das dieser Staat widerspiegeln und fördern soll? Diese Fragen können in die Tiefe gehen und heiß umstritten sein, weil sie am Kreuzungspunkt von politischer und persönlicher Identität entstehen, wobei mit »persönliche Identität« jene Bezugspunkte gemeint sind, die für den Einzelnen oder Teilgruppen definieren, was in ihrem Leben wichtig ist. Wenn es für mich wichtig ist, einer französischsprachigen Gemeinschaft anzugehören, dann wird ein Staat, der durch seine offizielle Sprache als englisch definiert ist, meine persönlichen Vorlieben kaum reflektieren; wenn ich nicht nur pro forma Muslim bin, dann kann ein Staat, der durch eine Politik der Hinduisierung (»Hindutva«) definiert ist, nicht völlig mein Staat sein; und so weiter. Wir sind nun im Kernbereich des modernen Nationalismus angelangt. Doch diese »nationalistischen« Konfliktthemen sind deshalb so belastet, weil die persönlichen und die Gruppenidentitäten, die um Beachtung in diesem Staat ringen, sich selbst oft im Stadium einer Neudefinition befinden. Eine solche Neudefinition wird oft durch die Umstände erzwungen und ist zugleich extrem konfliktbeladen und verwirrend. Wir können die Kräfte, die im Umfeld dieses Prozesses wirksam werden, erkennen, wenn wir den serienweisen Aufbruch der Nationalismen in der modernen Welt nachvollziehen. Warum entsteht ein Nationalismus denn überhaupt?21 Warum konnten sich die Deutschen nicht einfach damit zufrieden geben, ein Teil von Napoleons Reich zu sein, das ihnen die Freiheit gebracht hätte – so wie es Hegel gern gesehen hätte? Warum forderten die Algerier nicht einfach die volle französische Staatsbürgerschaft, auf die sie nach der Maxime »l’Algérie, c’est la France« ein Recht gehabt hätten – anstatt die Unabhängigkeit zu erstreben? Und so weiter, und so weiter. Derartige Fragen sind Legion. Zunächst ist es ganz wichtig zu erkennen, dass in vielen Situationen die ursprüngliche Verweigerung von bestimmten kleinen Eliten kommt, meistens von jenen, die mit der Kultur der von ihnen zurückgewiesenen Hauptstadt am besten vertraut sind. Später wird dann in einer erfolgreichen nationalistischen Bewegung die Masse des Volkes irgendwie dazu gebracht, sich der Sache anzuschließen. Daraus folgt, dass eine Darstellung der Quellen einer solchen Bewegung meistens zwischen zwei Stadien differenzieren muss. Beginnen wir also mit der ersten Phase: Warum weigern sich die Eliten, sich von der Metropole vereinnahmen zu lassen, selbst wenn, oder vielleicht gerade wenn sie bereits viele in der fremden Hauptstadt gültige Werte akzeptiert haben? Hier müssen wir uns einer weiteren Facette im sich entfaltenden Prozess der Moderne widmen. Aus einer gewissen Perspektive ist die Moderne wie eine Welle, die über die Ufer tritt und eine traditionelle Kultur nach der anderen verschlingt. Wenn wir unter »Moderne« unter anderem Entwicklungen wie die folgenden verstehen: Aufkommen einer markt-industriellen Wirtschaft, Entstehung eines bürokratisch organisierten Staates, Aufkommen der verschiedenen Formen von Herrschaft durch das Volk, 21 Ausführlicher erörtere ich diese Fragen in »Nationalism and Modernity«, in: Robert McKim/Jeff McMahan (Hg.), The Morality of Nationalism, Oxford 1997, S. 31-55.

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366 | Charles Taylor dann ist der Fortschritt der Moderne in der Tat wellenartig. Die beiden erstgenannten Veränderungen sind, anders als vielleicht die dritte, in gewissem Maße unwiderstehlich. Wer sich weigert, diese Errungenschaften oder ein gutes funktionales Äquivalent dafür zu übernehmen, wird im Machtspiel so weit zurückfallen, dass er reif für die Übernahme ist – und dass er diese Entwicklungen dann gezwungenermaßen nachvollziehen muss. Es gibt gute Gründe in den Machtverhältnissen, die dafür sorgen, dass eine so definierte Moderne ihren Siegeszug fortsetzt. Doch die sozusagen von innen erlebte Moderne ist etwas Anderes. Die eben beschriebenen institutionellen Veränderungen erschüttern und verändern immer die traditionelle Kultur. Das war schon bei der ursprünglichen Entwicklung im Westen so, und die Entwicklung ist auch anderswo so verlaufen. Doch abgesehen von jenen Fällen, in denen die ursprünglichen Kultur weitgehend zerstört wurde und die Menschen entweder ausgerottet wurden oder sich unter Zwang assimilieren mussten – leider hat der europäische Kolonialismus eine ganze Reihe solcher Fälle auf dem Kerbholz –, hat ein erfolgreicher Übergang stets damit zu tun, dass ein Volk in seiner traditionellen Kultur gute Ausgangspunkte für die Übernahme der neuen Praktiken findet. In diesem Sinne ist die Moderne dann aber keine einzelne, sich immer mehr ausbreitende Welle mehr. Man sollte lieber von vielfältigen Modernen sprechen, weil sich die in der Welt ausbildenden Kulturen, welche die institutionellen Veränderungen tragen, erkennbar in wesentlichen Punkten voneinander unterscheiden. So gibt es zum Beispiel eine japanische Moderne, eine indische Moderne und verschiedene Abstufungen der islamischen Moderne, die wohl neben das Spektrum der westlichen Gesellschaften treten – die ihrerseits alles andere als völlig gleichförmig sind. Aus dieser Sicht kann die Moderne – die sich ausbreitende Welle – als Bedrohung für eine traditionelle Kultur empfunden werden. Für jene, die sich im tiefsten Innern Veränderungen verschließen, wird diese Moderne eine äußerliche Bedrohung bleiben. Aber es gibt auch eine andere Reaktionsweise – bei denen, die irgendeine Form der institutionellen Veränderungen übernehmen wollen. Anders als die Konservativen verschließen sie sich den Veränderungen nicht grundsätzlich; und sie wollen natürlich das Schicksal jener Eingeborenenvölker vermeiden, die einfach überrollt und von den Veränderungen überwältigt wurden. Sie suchen nach einer kreativen Anpassung, bei der sie die kulturellen Ressourcen ihrer eigenen Tradition nutzen können, wodurch eine erfolgreiche Übernahme der neuen Praktiken gewährleistet wäre. Kurz gesagt, sie wollen nur das nachholen, was der Westen bereits getan hat. Aber sie sehen oder spüren, dass die Lösung nicht darin bestehen kann, einfach die Anpassungen des Westens zu kopieren. Doch eine kreative Anpassung unter Zuhilfenahme traditioneller Ressourcen muss schon per definitionem von Kultur zu Kultur unterschiedlich ausfallen. Eine reine Übernahme der westlichen Moderne könnte nicht die Antwort sein. Anders gesehen und anders gesagt: eine solche Antwort käme dem Verschlungenwerden gefährlich nahe. Da muss man schon seine eigene Lösung (er)finden. Darum gibt es bei den »modernisierenden« Eliten einen »Aufruf zum Anderssein«, wobei diese gefühlsmäßige Reaktion durchaus mit objektiven Bestandteilen ihrer Situation korrespondiert. Solche Reaktionen sind ein genuiner Hintergrund-

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Die Religion und die Identitätskämpfe der Moderne | 367 bestandteil des Nationalismus. Aber das ist noch nicht alles. Den Drang zum Anderssein können zwar alle spüren, denen es um das Wohlergehen des betreffenden Volkes geht. Gelebt wird diese Herausforderung jedoch von den betreffenden Eliten, und zwar ganz überwiegend in einem bestimmten Gefühlregister: dem der Würde und des Stolzes. Die westliche Moderne war und ist eine Eroberungskultur, weil die oben beschriebenen Veränderungen jenen Gesellschaften, die sie übernehmen, enorme Macht verleihen. Im Beziehungsmuster einer Eroberung entstehen unweigerlich anmaßende Haltungen bezüglich Überlegenheit und Minderwertigkeit – Annahmen, die der Eroberer nur allzu gerne akzeptiert, denen sich der Eroberte hingegen widersetzt, handelt es sich doch um einen Angriff auf seine Würde. In dem Maße, wie traditionelle Eliten sich abschotten können, mögen sie diese Herausforderung nicht so stark empfinden. Jene jedoch, die in die Modernisierung verwickelt sind, sei es in einer Kolonie, sei es in einem Land, das in den Schatten gestellt und bedroht wird, sind ständig damit konfrontiert: Ständig haben sie eine – von ihnen als solche empfundene – Rückständigkeit vor sich, um deren Ausgleich und Beseitigung sie sich nach Kräften bemühen. Die Frage ist nur, ob sie das können. So ist der Drang auf Seiten der Eliten, ihren eigenen Weg zu finden, nicht nur der Sorge um ihre Landsleute geschuldet. Er ist auch eine Sache der eigenen Würde. Solange die betreffenden Eliten nämlich ihren eigenen kreativen Weg der Anpassung nicht gefunden haben, einen Weg, der es ihnen ermöglicht, die institutionellen Veränderungen zu übernehmen und trotzdem sie selbst zu bleiben, bleibt die Abstempelung der Kultur, mit der sie sich identifizieren, als minderwertig und unterlegen bestehen. Genau dieser Abwertung indes gilt es sich zu widersetzen. Natürlich halten die Mitglieder der dominanten Gesellschaften ihr Überlegenheitsgefühl nicht allzu sehr im Zaum. Überdies haben ihre Worte (was irrational, aber verständlich ist) tendenziell mehr Gewicht, weil Erfolg und Macht auf ihrer Seite stehen. Die Vertreter der überlegenen Kultur werden zu wichtigen Gesprächspartnern, deren Anerkennung sehr viel bedeuten würde, wenn sie denn käme. Wird sie den Unterlegenen verweigert, so betonen diese oft, auf solche Anerkennung auch gar keinen Wert zu legen. Doch die Vehemenz, mit der solche Bekundungen dann vorgetragen werden, lässt sie suspekt erscheinen. Zur Erinnerung: Wir befinden uns auf der Suche nach den Quellen der modernen Hinwendung zum Nationalismus und der Weigerung – zunächst unter den Eliten –, sich von der Kultur der Metropole vereinnahmen zu lassen. Wir sind dabei auf das Bedürfnis, anders zu sein, gestoßen – als Reaktion auf eine existenziell gefühlte Herausforderung. Diese besteht nicht nur in dem Drang, etwas Wertvolles für die Allgemeinheit zu schaffen, sondern auch in dem intuitiven Gefühl, dass es um die Würde geht, dass das eigene Selbstwertgefühl auf dem Spiel steht. Hier liegen die Quellen dafür, dass der Nationalismus eine derart starke emotionale Macht entfalten kann. Deshalb auch spielen sich solche Konflikte so oft im Gefühlsregister von Stolz und Erniedrigung ab. Man kann also sagen, dass der Nationalismus modern ist, weil er eine Reaktion auf eine Problemkonstellation der Moderne ist. Doch die Verbindung von Moderne und Nationalismus ist sogar noch enger. Weiter oben habe ich bereits festgestellt, dass der Nationalismus meistens unter den für eine Moderni-

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368 | Charles Taylor sierung eintretenden Eliten aufkommt. Und dieser enge Zusammenhang ist durchaus nicht zufällig. Denn eine Facette des Nationalismus, so lautet meine These, ist die, dass er eine Reaktion auf die Bedrohung der eigenen Würde darstellt. Allerdings hat die Moderne auch die Rahmenbedingungen der Würde transformiert. Dieser Prozess war unausweichlich beim Wandel von hierarchischen Gesellschaften mit ihren Vermittlungsinstanzen hin zu »horizontalen« Gesellschaften mit direktem Zugang zu Entscheidungsprozessen. Das Konzept der Ehre, das in früheren Gesellschaftsformen eine wichtige Rolle spielte, war seinem Wesen nach hierarchisch. Es setzte, so Montesquieu, »Präferenzen« voraus.22 Um Ehre zu besitzen, musste man einen Status innehaben, den nicht jedermann teilte – wie es ja bei Ehrungen und Ordensverleihungen noch heute üblich ist. Gesellschaften, die auf gleichberechtigtem direktem Zugang beruhen, haben den modernen Begriff der »Würde« entwickelt. Dabei ist die Grundannahme, die diesem Begriff zugrunde liegt, der für den Begriff »Ehre« gültigen entgegengesetzt: »Würde« ist allen Menschen gleichermaßen zu Eigen. Wie etwa Kant den Begriff der »Menschenwürde« gebraucht, bezeichnet er etwas, das allen vernünftigen Wesen von Natur aus gegeben ist.23 Philosophisch können wir diesen Status vielleicht allen Menschen zubilligen, doch politisch wird das Gefühl gleicher Würde wirklich nur von Menschen geteilt, die gemeinsam einer funktionierenden Gesellschaft mit direktem Zugang angehören.24 Bei dieser für die Moderne typischen Konstellation beruht die Würde auf der gemeinsamen kategorialen Identität. Das Selbstwertgefühl basiert nicht mehr hauptsächlich auf Abstammung oder Zugehörigkeit zu einem Clan, sondern meistens zum guten Teil auf einer anderen kategorialen Identität. Indes, auch kategoriale Identitäten können bedroht, sogar gedemütigt werden. Je mehr wir in die moderne Gesellschaft hineingezogen werden, desto mehr ist dies die Form, in der sich für uns die Frage der Würde stellt. Der Nationalismus ist modern, weil er eine typisch moderne Art der Reaktion auf die Bedrohung durch die unerbitt22 Vgl. Charles-Louis de Secondat, Baron des Montesquieu: De l’esprit des lois, 2 Bde., Genf 1748. (Dt. Vom Geist der Gesetze, 2 Bde., Tübingen 1951.) Montesquieu ordnet bestimmten Staatsformen elementare Seelenzustände zu: der Despotie die Furcht, der Monarchie die Ehre und der Republik die – politisch definierte – Tugend. Für Montesquieu war die Republik der Antike gemäß; sie konnte nur in Städten oder kleinflächigen Staaten gedeihen. Die für Montesquieu »moderne« Staatsform war die aufgeklärte Monarchie. Daher die große Bedeutung der Ehre in seiner Staatstheorie. 23 Vgl. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Riga 1785 (in: Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, Bd. IV, Berlin 1903, Nachdr. 1968). Würde besitzt der Mensch nach Kant, weil er ein »Zweck an sich« und kein Mittel zum Zweck ist. Der Mensch bezieht seinen moralischen Status aus sich heraus. Dabei ist die Vernunft diejenige menschliche Eigenschaft, die seine Würde begründet. Das Grundprinzip der Menschenwürde besteht für Kant in der Achtung vor dem Anderen, der Anerkenntnis seines Rechts zu existieren und in der Anerkenntnis einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen. 24 Es muss nicht unbedingt eine politische Gesellschaft sein. Es kann sich auch um eine Religionsgemeinschaft oder eine ethnische Gruppierung handeln.

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Die Religion und die Identitätskämpfe der Moderne | 369 lich vordringende Welle der Modernisierung ist. Besonders die Eliten konnten immer schon einen dramatischen Verlust an Würde erleben, wenn sie sich einer Eroberungsmacht gegenüber sahen. Eine mögliche Reaktion bestand und besteht dann darin, zurückzuschlagen oder sich auf der Grundlage der unveränderten traditionellen Identität und eines unveränderten traditionellen Ehrgefühls mit den Eroberern zu arrangieren. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dem Träger der gesuchten Würde eine neue kategoriale Identität aufzuzwingen. Es ist eine Unterart dieser zweiten Reaktionsweise, die wir nationalistisch nennen. Aber im Grunde ist sie modern. Die Rebellion von 1857 in Indien etwa war zum Teil ein Versuch, diesen ewig gegenwärtigen Verlust an Würde in einem vormodernen Kontext auszumerzen. Darum handelte es sich hier – anders als im Fall der späteren Kongress-Partei – nicht um eine nationalistische Bewegung im engeren Sinn. Der moderne Kontext des Nationalismus ist es auch, der dessen Suche nach Würde nach außen kehrt. Keine Form der menschlichen Identität wird allein im Innern gebildet; immer spielt der oder das Andere eine Rolle. Diese Rolle kann einfach die einer Negativfolie oder eines Kontrastes sein – eine Möglichkeit zu definieren, was wir nicht sind, im Guten wie im Bösen. Diese Rolle spielten für die Europäer der Zeit nach Kolumbus zum Beispiel die Eingeborenen der neu »entdeckten« Welt. Der »Wilde« war das Andere, das der Zivilisation gegenübergestellt wurde – so definierten sich die Europäer, teils positiv (indem sie sich selbst als »zivilisiert« feierten), manchmal aber auch negativ (indem sie sich im Kontrast zum »edlen Wilden« als korrupt empfanden). Diese Art von Bezugnahme auf den oder das Andere erfordert keine konkrete Interaktion. Im Gegenteil, je weniger man miteinander zu tun hatte, desto besser, denn sonst hätten sich die Stereotypen nicht länger halten lassen. Der Andere kann im Prozess der Identitätsbildung aber auch eine sehr direkte Rolle spielen, wenn ich seine/ihre Anerkennung benötige, um mich meiner Identität zu versichern und selbstbewusst zu werden. Das ist uns aus unseren Beziehungen zu engen Bezugspersonen ganz geläufig, aber in den Beziehungen zu Außenstehenden war es in der vormodernen Zeit nicht so wichtig. Identitäten wurden unter Bezugnahme auf den/das Andere definiert, aber nicht aufgrund von Reaktionen dieses Anderen. Wo Letzteres jedoch der Fall ist, gewinnt natürlich die Art und Weise, wie wir interagieren, entscheidende Bedeutung. Vielleicht sollten wir korrekter sagen, dass die Art und Weise entscheidend ist, wie die Interaktion von den beteiligten Parteien gesehen wird, denn Illusionen spielen immer eine große Rolle. Zentral ist somit, dass der Interaktion von den Identitätsträgern selbst entscheidende Bedeutung beigemessen wird. Meine These lautet, dass Identitäten in der modernen Welt immer stärker in diesen direkten Beziehungen zu Anderen herausgebildet werden – in einem Raum, in dem allein die Anerkennung zählt. Ich kann diese Position hier nicht ausführlich erörtern,25 hoffe jedoch, dass der Fall für den modernen Nationalismus auch so evident ist. Moderne nationalistische Politik ist eine Art Identitätspolitik. Mehr noch, es 25 Vgl. meinen Aufsatz »The Politics of Recognition« in: Amy Gutman (Hg.), Multiculturalism and »The Politics of Recognition«, Princeton, NJ 1992, S. 25-73 (erw. Ausg., ebd. 1994; dt. Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt am Main 1993, S. 13-78.)

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370 | Charles Taylor ist sogar die ursprüngliche Art solcher Politik: Nationale Kämpfe sind der Ort, an dem sich ein Modell herausbildete, das dann auf den Feminismus, die Kämpfe kultureller Minderheiten, die Schwulenbewegung und andere Paradigmen angewandt wurde. Diese Verbindungen zeigen sich beispielsweise im Werk von Frantz Fanon,26 das im Kontext des Kampfes gegen den Kolonialismus entstand, dessen Themen jedoch in anderen Kontexten wieder aufgegriffen wurden. Starke Nationalgefühle kommen bei den Eliten meistens in der ersten Entstehungsphase des Nationalismus auf, weil eine Identität in ihrem Wert in Zweifel gezogen und bedroht wird. Diese Identität ist anfällig für Nichtanerkennung, zunächst seitens der Mitglieder dominanter Gesellschaften; später hat sich dann eine Weltöffentlichkeit herausgebildet, eine Art Bühne, auf der sich die Völker selbst stehen sehen – auf der sie sich auch bewertet und eingeschätzt sehen, und diese Einschätzung bedeutet ihnen viel. Diese Weltbühne wird von einem Vokabular relativer Fortschrittlichkeit beherrscht – sogar so sehr, dass man von Zeit zu Zeit neue Wörter erfinden muss, um die Unterschiede euphemistisch zu »verpacken«. Auf diese Weise wurden aus »rückständigen« Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst »unterentwickelte« Gesellschaften; dann schien selbst dieser Sprachgebrauch nicht mehr feinfühlig genug zu sein, und so sprechen wir heute von »entwickelten« und »in Entwicklung befindlichen« Gesellschaften. Der Gedankenhintergrund des modernen Nationalismus, dass es nämlich etwas aufzuholen gibt und dass jede Gesellschaft dies auf ihre eigene Art schaffen muss, findet seinen Niederschlag in diesem allgemeinen Sprachgebrauch – und das wiederum animiert die Weltöffentlichkeit. Der moderne Nationalismus speist sich aus etwas Immerwährendem. Eroberung, oder auch nur eine drohende Eroberung hat dem Selbstwertgefühl der Bedrohten noch niemals gut getan. Doch der gesamte Kontext, in dem dieser Nationalismus entsteht, der Kontext sukzessiver (institutioneller) Modernisierungswellen und die daraus sich ergebende Herausforderung für das Andersartige, der Kontext der Zunahme kategorialer Identitäten sowie die Schaffung einer Weltöffentlichkeit als Anerkennungsraum – all dies ist im Wesentlichen modern. Hier sind wir denkbar weit entfernt von frühen Stammesidentitäten, von atavistischen Reaktionen und urtümlichen Identitäten.

III. Ich habe versucht, Kontext und Hintergrund moderner Identitätskämpfe zu skizzieren, die sich an einem oft unentrinnbaren Ort abspielen: im modernen Staat. Dabei wird die Frage der politischen Identität aufgeworfen (Wofür oder für wen ist dieses Gemeinwesen da?), aber auch weitergehende Fragen wie: Habe ich/haben wir dort einen Platz? Diese Konfliktthemen können emotional besonders stark aufgeladen sein, weil es sich vielleicht um die erforderliche Neudefinition eines traditionellen Lebensstils handelt. In der Tat, schon die Formulierung eines Anspruches für »uns« 26 Vgl. besonders Les damnés de la terre, Paris 1961. (Dt. Die Verdammten dieser Erde, Reinbek 1969, Frankfurt am Main 1981.)

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Die Religion und die Identitätskämpfe der Moderne | 371 als Volk, das einen eigenen Staat fordert, oder der Aufruf, in einem bereits existierenden Staat, der »uns« ausschließt, über einen eigenen Staat nachzudenken, beinhalten oft eine Neudefinition dessen, was »wir« sind. Schließlich ist dies der entscheidende Schritt zur Statusbegründung als Volk im modernen Sinne. Das lässt sich am Beispiel Kanadas verdeutlichen. Die früher vorherrschende konservative und klerikale Definition der »nation canadienne-française« war nicht dazu gedacht, sich in erster Linie in politischen Institutionen zu verwirklichen, sondern sie diente zur Bewahrung eines Lebensstils, in dem die Kirche eine wichtige Rolle spielte. Die politische Strategie bestand darin, die nordamerikanische englischsprachige protestantische Gesellschaft auf Abstand zu halten – vor allem deren Konzentration auf wirtschaftliches Wachstum und deren Tendenz, Rolle und Einfluss des Staates bei der Regelung bestimmter gesellschaftlicher Aufgaben auszuweiten, besonders im Bildungs- und Gesundheitswesen. Diese Strategie erforderte ein eifersüchtiges Wachen über die Autonomie der Provinz Quebec, allerdings auch eine selbst auferlegte Zurückhaltung der Provinzregierung. Diese durfte ja nun nicht selbst jene Bereiche regeln, deren Regelung man der Zentralregierung verwehrt hatte. Der gegenwärtig geförderten Identität der Frankokanadier als »Québécois« liegt indes eine ganz andere Selbstdefinition zugrunde – eine, die manche Leute motiviert, einen eigenen, getrennten Staat für die Frankokanadier zu fordern. Natürlich beinhaltet dieser Schritt auch das Abrücken von einer religiösen Selbstdefinition. Ohnehin war in den letzten fünf Jahrzehnten eine rapide Laisierung und Verweltlichung der Quebecer Gesellschaft zu verzeichnen. Doch gehörte zur älteren Variante des Nationalismus auch ein kontroverser Standpunkt darüber, was es bedeutete, im mehrheitlich protestantischen Kanada und Nordamerika eine katholische Gemeinschaft zu sein – wie es der lange erbitterte Streit mit irischen Klerikern bezeugt. Worauf es mir hier ankommt: Die Lösung politischer Identitätsprobleme (Welcher Art soll unser Staat letztlich sein? Haben wir eine echte Wahl? Können wir selbst etwas bewirken? Sollten wir akzeptieren, dass wir uns assimilieren?) geht einher mit der Lösung wichtiger Probleme in der persönlichen wie in der Gruppenidentität: Wer sind wir wirklich? Was ist uns wirklich wichtig? In welchem Verhältnis steht diese Definition zu der älteren, in der wir festegelegt haben, was uns wichtig war? Wo liegt die entscheidende Kontinuität zu unserer Vergangenheit, die unser jetziges »wir« mit dem früheren »wir« verbindet? Konkret gefragt: Reicht es aus, dass auf diesem Territorium vier Jahrhunderte lang Französisch gesprochen wurde, oder gehört auch der Katholizismus zu unserer Kernidentität? Solche Selbstversicherungen oder Neudefinitionen sind deshalb besonders schwierig, weil sie aufwühlen und vielen Leuten das Gefühl geben, es habe ein Identitätsverlust stattgefunden oder es werde Verrat an der alten Identität begangen. Schwierig sind solche Prozesse aber auch, weil sie oft im Gefühlsregister der Würde ausgelebt werden. Befürchtet wird, die Identität, mit der wir am Ende dastehen, könnte uns irgendwie als zweitrangig brandmarken, als dem Rest nicht gewachsen, als eine Gruppe, deren Schicksal es ist, beherrscht und von anderen in den Schatten gestellt zu werden. Vielleicht werden wir von den mächtigen Anderen tatsächlich so gesehen, doch letztlich kommt es vor allem darauf an, wie viel davon wir uns selbst zu

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372 | Charles Taylor Eigen machen – wie sehr wir das Gefühl haben, dieses herablassende Urteil nur durch eine Änderung unserer selbst in eine bestimmtre Richtung widerlegen zu können (»Modernisierung« unserer Wirtschaft, Reform einiger unserer gesellschaftlichen Verfahrensweisen, Gewinn der eigenstaatlichen Unabhängigkeit oder wenigstens einer gewissen Autonomie). Wir wollen uns unter den anderen Nationen erhobenen Hauptes bewegen können. Nicht gerade erleichtert wird diese Aufgabe dadurch, dass die grundlegende Reform, zur Rettung der Würde unternommen, vom einen begrüßt, vom anderen aber möglicherweise als abgrundtiefer Verrat empfunden wird. Auch die Religion gerät in diesen Identitätskampf, in diesen Prozess der Neudefinition. Manchmal ist das Resultat negativ: Der alte Glaube wird beseitigt oder marginalisiert, wie es zum Beispiel bei den Identitäten der jakobinischen Nationalisten oder der Linken der Fall war. Manchmal jedoch scheint die Religion eine Wiederaufwertung zu erfahren. »Reformierte« Versionen einer alten religiösen Tradition treten in den Vordergrund – als Möglichkeit, das Gute an der Moderne zu umfassen und einzubetten. Oder man entdeckt dieses Gute sogar in einem vernachlässigten Bereich der eigenen Tradition. (Als Beispiel kann die Brahmo Samaj dienen, 1828 in Kalkutta gegründet und wichtiger Bestandteil des neuen Denkens im Indien des 20. Jahrhunderts.) Oder es wird lauthals die gegenteilige Position verkündet (die Anderen hätten das Wesentliche aufgegeben) und eine neue, noch rigorosere Rückkehr zu den Ursprüngen verlangt (Fundamentalismus). Auch letztere Bemühungen finden natürlich in einem modernen Kontext statt – sehr oft verbunden mit dem Versuch, den Anforderungen der Macht, der Staatlichkeit, der wirtschaftlichen und militärischen Durchführbarkeit Genüge zu tun, und unter extensivem Einsatz modernster Kommunikationstechnologien – ganz auf der Höhe der Zeit. Und so handelt es häufig um eine weniger eindeutige Rückkehr zu den Ursprüngen, als es oberflächlich aufgrund der Programmatik den Anschein haben mag. Dem Pathos diverser Fundamentalismen eignet stets eine gewisse Hybridität. Der heutige buchstabengläubige biblische »Fundamentalismus« einiger protestantischer Gruppierungen wäre im symbolischen Universum des mittelalterlichen Katholizismus undenkbar gewesen, wo alles und jedes als Zeichen gedeutet wurde; er setzt die Buchstabengläubigkeit des modernen wissenschaftlichen Zeitalters voraus. Frühere christliche Jahrhunderte lebten in einer Welt, in der die weltliche Zeit mit verschiedenen Ordnungen höherer Zeitformen verwoben war – mit verschiedenen Dimensionen der Ewigkeit. Aus einem solchen Zeitgefühl heraus lässt sich nur schwer erklären, warum es bedeutsam sein soll, ob mit »Tag« in der biblischen Schöpfungsgeschichte wirklich ein Tag von 24 Stunden Dauer, von einem Sonnenaufgang bis zum nächsten, gemeint ist. Früheren Christen hätte man nicht einmal die Frage verständlich machen können. Nehmen wir als weiteres Beispiel die Iranische Revolution und das daraus hervorgegangene Regime. Sie sind durch moderne Kommunikationsmittel, moderne Formen der Massenmobilisierung und moderne Staatsformen zutiefst geprägt (es handelt sich sozusagen um den Versuch, eine parlamentarische Theokratie zu errichten).

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Die Religion und die Identitätskämpfe der Moderne | 373 Aus einem bestimmten Blickwinkel lassen sich all diese Bewegungen als Versuche verstehen, den traditionellen Glauben unter zeitgenössischen Bedingungen kompromisslos und ohne Abstriche auszuleben. Immer ist dabei das letzte Ziel des Ganzen über alle Epochen der entsprechenden Tradition hinweg als solches erkennbar – im Fall des islamischen Fundamentalismus: ein Leben der Unterwerfung unter Gott im Lichte von Koran und Hadith –, selbst wenn einige Formen seltsam und neu erscheinen mögen. In dem Maße jedoch, wie sich das Ringen um Selbstbehauptung und/oder Neudefinition mit Identitätskämpfen verquickt, kommt es zu Verwerfungen und Entfremdungen. Dann drängen sich zwei andere Ziele oder Streitthemen allmählich in den Vordergrund, die das ganze Unternehmen aus der Bahn der religiösen Tradition werfen können: Macht und Würde eines bestimmten »Volkes«. Daraus können sich dann Zielsetzungen ergeben, die dem Glauben mehr oder weniger fremd sind – nicht nur dem historisch gelebten Glauben, sondern auch jenen Formen religiösen Lebens, die nach heutigen Maßstäben gerechtfertigt wären. Ein dominantes Volk zu schaffen, zumal eines mit der Macht, seinen Willen mit Hilfe von Massenvernichtungswaffen durchzusetzen, galt noch niemals als Forderung hinduistischer Frömmigkeit. Eher könnte, wie Gandhi gezeigt hat, genau das Gegenteil aus dem Hinduismus gerechtfertigt werden: ein radikaler Pazifismus. Gandhis brutale Eliminierung durch die geistigen Ahnen der heutigen Regierung in New Delhi unterstreicht diesen Konflikt nur allzu deutlich. Auch galt – dies im Hinblick auf den Kosovo-Konflikt – Völkermord noch nie als Ziel der orthodoxen Christenheit, nicht einmal in den schlimmsten Verdrehungen des Glaubens im Lauf der Geschichte. Viele der flagrantesten Fälle, in denen zeitgenössische Gewaltausbrüche »religiösen« Ursprungs zu sein scheinen, haben tatsächlich mit Religion wenig zu tun. Die Triebfedern liegen anderswo. Die Gewalt rührt aus Identitätskämpfen her, die von »Völkern« angezettelt werden oder die der Konstituierung von »Völkern« dienen. Es handelt sich um Gruppen, die um ihre Selbstdefinition ringen und eine politische Identität erlangen wollen, wobei die Religion als historisches Erkennungsmerkmal fungiert, während die religiösen Anforderungen der Frömmigkeit weitgehend verschwunden oder verkümmert sind: Gemeint sind militante »Serben«, die Killer der IRA und des protestantischen Oranier-Ordens, weite Teile der Führung der Bharatiya Janata Party (BJP). Weniger klar liegt der Fall bei der BJP-Bewegung als ganzer; hier wird eine unbestreitbar machtvolle Volksfrömmigkeit für die Zwecke einer Kampagne zur Erringung politischer Vorherrschaft eingespannt, etwa bei der Agitation rund um den Rama-Tempel in Ayodhya. Noch weniger klar sind die Verhältnisse bei verschiedenen militanten muslimischen Bewegungen unserer Tage. Viele von ihnen werden zweifellos von tief empfundener Frömmigkeit beflügelt. Das schließt aber nicht aus, dass ihre Formen und Wege trotzdem durch den Kontext eines Identitätskampfes stark beeinflusst sind. Es wäre absurd, den islamischen Integrismus27 auf eine einzige Erklärungsmöglichkeit

27 Unter religiösem »Integrismus« versteht man den Versuch, die säkulare Trennung von

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374 | Charles Taylor zu reduzieren; wir haben es hier mit einer komplexen, vielseitigen, facettenreichen, überdeterminierten Realität zu tun. Trotzdem möchte ich die These vertreten, dass diverse Erscheinungsformen dieses Fundamentalismus auch Züge jenes Profils aufweisen, das ich oben erläutert habe. Das Gefühl, im Register der bedrohten Würde auf einer Weltbühne zu operieren, ist ebenso unverkennbar wie die übermäßig heftige Zurückweisung des Westens (oder Amerikas, des »großen Satans«, der Quintessenz des Westens), die enorme Empfindlichkeit gegenüber Kritik von dieser Seite – selbst wenn man sich mit feindseligen Einstellungen nicht identifizieren mag und seine Indifferenz beteuert. Islamische Gesellschaften sind vielleicht wirklich viel anfälliger für Bedrohungen ihres Selbstwertgefühls durch Einflüsse einer überlegenen Macht. Denn das Selbstbild des Islam ist das der letztgültigen Offenbarungen Gottes für die Menschheit, dazu bestimmt, sich unkontrolliert auszubreiten. Das islamische Gefühl der Erwählung durch die göttliche Vorsehung – wenn ich diesen christlichen Begriff hier einmal verwenden darf – kann sich mit dem Status des Eroberers durchaus anfreunden; angesichts der Erfahrung von Machtlosigkeit und Niederlagen neigt es jedoch dazu, die Welt nicht mehr zu verstehen. Trotz aller Beteuerungen, letztlich nur den Ursprüngen treu zu bleiben, ist dieser Integrismus, wie bereits erwähnt, in mancherlei Hinsicht sehr modern. Er mobilisiert die Menschen auf moderne Weise, in horizontalen Bewegungen mit direktem Zugang, und hat darum auch kein Problem damit, sich des »modernen« institutionellen Apparats zu bedienen: gewählter Parlamente, bürokratischer Staaten, Armeen. Zwar würde der Integrismus die Lehre der Volkssouveränität zugunsten einer Art Theokratie zurückweisen, aber auch alle traditionellen Herrschaftsschichten hat er entlegitimiert. Die Iranische Revolution richtete sich gegen den Schah. Besondere Autorität genießen seither ausschließlich jene, die es im Hinblick auf Wesen und Ziele dieses Staates »vernünftigerweise« verdient haben: die Experten für das Recht Gottes, die Religionsgelehrten. Ganz zu schweigen von Ayâtollâh Khomeinis (Homeynis) medienorientiertem Missbrauch der Formen islamischer Rechtsprechung, als er seine Fatwa gegen Salman Rushdie verkündete. Und schließlich: Wie sehr wurde eigentlich die Abscheulichkeit von Salman Rushdies »Verbrechen« dadurch verschlimmert, dass er seine »Blasphemien« auf Englisch und für ein westliches Publikum veröffentlichte? Auch verstehen wir die enorme Bedeutung, die Kleidung und Auftreten der Frauen in zeitgenössischen islamischen Reformbewegungen beigemessen wird, nicht so umfassend, wie es möglich und wünschenswert wäre. Sehr oft scheinen die Forderungen in diesem Bereich jedes Maß und jede sinnvolle Verbindung zu Koran und Hadith verloren zu haben, etwa bei den Taliban in Afghanistan. Wir können diese Entwicklung, die Frauen zu »Kennzeichen« für die jeweilige Einstellung zur Moderne und zum Integrismus gemacht hat, allerdings zurückverfolgen. Es war Kemal Atatürk, der darauf bestand, dass sich Frauen auf westliche Weise kleideten, dass sie auf die Straße durften, dass sie gesellschaftlich aktiv sein und sogar mit Religion, Politik und Gesellschaft auf der Basis religiöser Werte und Normen rückgängig zu machen und alle Bereiche auf der Grundlage der Religion zu reintegrieren. (Anm. d. Übers.)

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Die Religion und die Identitätskämpfe der Moderne | 375 Männern tanzen durften. Die traditionellen Verhaltensweisen und Kleiderordnungen wurden als »rückständig« stigmatisiert. Vielleicht hat Atatürks Vorgehen ja Auswirkungen auf die außerordentliche Strenge gehabt, mit der Kleidung und Kontakte der Frauen heutzutage an vielen Orten überwacht werden. Diese Dinge sind zu international anerkannten Symbolen geworden, die Auskunft darüber geben, wo der oder die Betreffende steht. Man kann auf diese Weise seine Ablehnung der westlichen Moderne zum Ausdruck bringen. Der Kopftuchstreit in der internationalen Öffentlichkeit kann, viel mehr noch als das Gewicht der Scharia oder geheiligter Formen der Frömmigkeit, den weiteren Gang der Dinge diktieren.28 Der vielleicht auffälligste Fall, einer, der es mit dem Terroranschlag vom 11. September 2001 auf das New Yorker World Trade Center zu weltweiter Prominenz gebracht hat, ist das von Osama Bin Laden geführte Netzwerk Al-Qaida (al-qâ‘ida). Diese Gruppe hat eine Entwicklung, die in bestimmten islamistischen »Terror«-Bewegungen bereits deutlich vorgezeichnet war, auf die Spitze getrieben. Dazu gehören das Konzept des Dschihad (»Heiliger Krieg«) und der Status eines sahîd (»Zeuge«, »Märtyrer«, Selbstmordattentäter), um eine Aktionsform zu legitimieren, die weit außerhalb der traditionell erlaubten Grenzen zu liegen scheint, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen missachten diese Kämpfer die Unterscheidung zwischen Kombattanten und unbeteiligten Zivilisten, und zum anderen nehmen sie Zuflucht zu Selbstmordattentaten. Schon für sich genommen sind beide Punkte problematisch, ihre Kombination aber scheint klare Gebote des Islam zu verletzen. Entsprechend haben auch einige Mullahs klargestellt, dass jemand, der sich selbst tötet – nicht einmal, um feindliche Soldaten, sondern um wehrlose Zivilisten mit sich in den Tod zu reißen –, keinen Anspruch auf den Ehrentitel »Märtyrer« (sahîd) erheben kann. Überraschend ist jedoch, wie wenig Widerhall diese Klarstellungen in vielen muslimischen Gesellschaften gefunden haben. Sie werden nicht nur sozusagen auf der Straße völlig ignoriert, wo junge Palästinenser Selbstmordattentäter, deren einzige Opfer vielleicht Teenager in einer Disko waren, weiterhin als »sâhidîn« bezeichnen, sondern selbst viele der religiösen Autoritäten in diesen »heißen« Gesellschaften stimmen solchen öffentlichen Bekundungen zu, anstatt den besten Rechtsgelehrten Gefolgschaft zu leisten. Was ist hier los? Könnte es nicht sein, dass die »islamischen« Aktionen hier von dem Gefühl motiviert sind, »wir« würden von »denen da« verachtet und unfair behandelt – dass sie in dieser Hinsicht stark jenen nationalistischen Reaktionen ähneln, die uns inzwischen nur allzu vertraut sind? Nehmen wir doch ein Beispiel aus der Christenheit: Mit nur wenigen ehrenwerten Ausnahmen haben die Geistlichen aller am Ersten Weltkrieg beteiligen Nationen die Waffen ihrer jeweiligen Armeen gesegnet und Gottes Beistand für ihr Land erfleht. Aus gewisser Distanz ist dieser Missbrauch christlicher Lehre und christlichen Engagements nur noch peinlich, weil er so offensichtlich ist. Wenn wir im Nationalismus, im proletarischen Internationalismus und in den ^

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28 Bei diesem Thema, im türkischen wie im weiteren islamischen Kontext gesehen, verdanke ich vieles den interessanten Erörterungen von Nilüfer Göle. Vgl. ihr Buch Musulmanes et modernes: Voile et civilisation en Turquie, Paris 1993. (Dt. Republik und Schleier: Die muslimische Frau in der modernen Türkei, Berlin 1995.)

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376 | Charles Taylor verschiedenen Formen des religiösen Fundamentalismus bestimmte gemeinsame Gefühlsmuster erkennen, kann uns das überdies zum besseren Verständnis der Tatsache verhelfen, dass und wie diese Bewegungen interagieren; tatsächlich kämpfen sie oft um denselben Raum. Der arabische Nationalismus weicht dem islamischen Integrismus,29 so wie der abgedankte sowjetische Marxismus den Weg für alle möglichen virulenten Nationalismen frei gemacht hat. Die Suche nach einer kategorialen Identität als Antwort auf den Drang, anders zu sein und Träger der ersehnten Würde zu sein, kann viele verschiedene Formen annehmen. Auf jeden Fall ist verständlich, warum die Diskreditierung einiger die Attraktion anderer stärken muss. Im vorliegenden Beitrag wurde ein ziemlich gemischtes Bild gezeichnet. Wir dürfen »Religion« nicht einfach als klar identifizierbares Phänomen ansehen, das ein für allemal geklärt ist und nur einer einzigen inneren Dynamik folgt. Vielmehr müsste inzwischen klar sein, dass heutzutage in Verbindung mit Religion mehr als nur eine Dynamik am Werk ist. Dieser Tatsache müssen wir uns ganz besonders bewusst ein, wenn wir etwas gegen die Gewalt unternehmen wollen, die so oft mit religiösen Differenzen einhergeht. Ich habe hier die These vertreten, dass es eine spezifisch moderne Dynamik gibt, die zu »religiösem« Hass und Gewalt führen kann, jedoch mit Religion als Frömmigkeit und Gottesverehrung fast nichts zu tun hat. Es gibt eindeutige Fälle, in denen diese religionsferne Natur der Konflikte klar zutage liegt, aber es gibt auch recht gemischte Fälle, in denen sich religiöse Bewegungen mit verschiedenen anderen Forderungen überschneiden – Forderungen wie Treue zur Vergangenheit, Frömmigkeit, Wiederherstellung sozialer Disziplin und Ordnung, Wiederherstellung der Macht und Würde bestimmter »Völker«. In solchen Fällen ist nicht nur eine einzige Dynamik am Werk. Diese unterschiedlichen Motive auseinander zu halten, mag in der Praxis schwierig sein; es hat jedoch wichtige politische Konsequenzen. Wo die Dynamik von Identitätskämpfen eine wichtige Rolle spielt, ergibt es keinen Sinn, die Wurzeln des Konflikts in der Theologie zu suchen. Was hier vielleicht gefragt ist, ist das klassische Heilmittel in Fällen extremer Identitätskonflikte: Man sollte versuchen, komplexen oder »hybriden« Identitäten mehr Raum zu geben, damit sie sich ausbreiten und als Puffer fungieren können. Eine der großen Bedrohungen für den Erfolg der Mobilisierung hinduistischer Massen unter dem Banner »Hindutva« durch die BJP bilden die etablierten Kasten und alten »Seilschaften« Indiens, denen diese Art kastenübergreifender Solidarität verständlicherweise suspekt ist. Daraus entwickeln sich hoffentlich neue Arten von Allianzen, die dem Drang zur rigorosen Ausgrenzung Andersartiger die Schärfe nehmen. Auch könnte es in derartigen Fällen durchaus so sein, dass – entgegen den üblichen Ansichten weltlicher Liberaler – eine Schwächung des religiösen Glaubens und der Frömmigkeit durchaus nicht von Vorteil ist. Im Gegenteil, ein solches Vakuum würde nur abgehärteten Killern, die ihr Gewissen vollständig abgetötet haben, end29 Vgl. Martin Kramer, »Arab Nationalism: Mistaken Identity«, in: Daedalus 122:3 (1993), S. 171-206.

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Die Religion und die Identitätskämpfe der Moderne | 377 gültig das Feld überlassen. In anderen Fällen müsste man der brennenden, aber perversen Frömmigkeit eines Osama Bin Laden wenigstens teilweise durch eine echte Rückwendung zu den spirituellen Quellen entgegentreten. In all diesen Versuchen einer Rückkehr zu den Quellen liegt für die Religion eine Gefahr, geht es doch um ein Engagement für letzte Dinge, um etwas, das leicht in einen Glauben an das persönliche Engagement überführt werden kann. Beide Faktoren: die im Kampf um Anerkennung, Selbstachtung und Würde gefangene kollektive Identität und eine Religion des persönlichen Engagements, können eine unauflösliche Verbindung eingehen, wie es zum Beispiel bei vielen Menschen im Iran der Fall ist. Doch ein anspruchsvollerer religiöser Glaube könnte darin auch eine potenzielle Quelle für eine sehr gefährliche Korruption sehen – vor allem, weil im Kampf um Anerkennung dem Stolz, der Würde und dem Selbstachtung eine derart beherrschende Stellung eingeräumt wird und weil man überdies in einem solchen Kontext mit der Rechtfertigung von Gewalt sehr schnell zur Hand ist. Von »islamischer« Gewalt. Und dabei war noch gar keine Rede davon, inwiefern eine gemeinsame Identität auch als Rechtfertigung für Zwangsmaßnahmen gegen jene dienen kann, die anderer Ansicht sind. Es bleiben also Dissonanzen: Gandhi und die BJP, Sufi-Orden und die offizielle islamistische Bewegung, Protestanten und Katholiken in Nordirland, und so weiter, und so weiter. Das beste Gegenmittel gegen diese korrumpierende Inanspruchnahme der Religion für sehr weltliche Zwecke könnte in der Tat ein echter Glaube sein.

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378 | Charles Taylor Jaspers, Karl: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Zürich 1949. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Riga 1785 (in: Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, Bd. IV, Berlin 1903, Nachdr. 1968). Kramer, Martin: »Arab Nationalism: Mistaken Identity«, in: Daedalus 122:3 (1993), S. 171-206. Lévy-Bruhl, Lucien: L’Expérience mystique et les symboles chez les primitifs, Paris 1937. Lienhardt, Godfrey: Divinity and Experience: The Religion of the Dinka, Oxford 1961. Mander, Jerry/Goldsmith, Edward (Hg.): The Case against the Global Economy, San Francisco 1996. Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron des: De l’esprit des lois, 2 Bde., Genf 1748. (Dt. Vom Geist der Gesetze, 2 Bde., Tübingen 1951.) Rousseau, Jean-Jacques: Du contrat social ou principes du droit politique, Amsterdam 1762. (Dt. Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, München 1981, Stuttgart 1983 u.a.) Stanner, W.E.H., »On Aboriginal Religion«, in: Oceania 30-33 (1959-1963). Stanner, W.E.H.: »The Dreaming«, in: Willam A. Lessa/Evon Z. Vogt (Hg.), Reader in Comparative Religion, Evanston, IL 1958, S. 158-167. Tambiah, Stanley J.: Buddhism Betrayed: Religion, Politics and Violence in Sri Lanka, Chicago 1992. Taylor, Charles: Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt am Main 2002. (Engl. Varieties of Religion Today, Cambridge, MA 2002.) Taylor, Charles: »Democratic Exclusion (and Its Remedies?)«, in: Alan C. Cairns u.a. (Hg.): Citizenship, Diversity and Pluralism: Canadian and Comparative Perspectives, Montreal 1999, S. 265-287. Taylor, Charles: »Les sources de l’identité moderne«, in: Mikhaël Elbaz/Andrée Fortin/Guy Laforest (Hg.), Les frontières de l’identité: Modernité et postmodernisme au Québec, Sainte-Foy 1996, S. 347-364. Taylor, Charles: »Nationalism and Modernity«, in: Robert McKim/Jeff McMahan (Hg.), The Morality of Nationalism, Oxford 1997, S. 31-55. Taylor, Charles: »The Politics of Recognition« in: Amy Gutman (Hg.), Multiculturalism and »The Politics of Recognition«, Princeton, NJ 1992, S. 25-73. (erw. Ausg., ebd. 1994; dt. Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt am Main 1993, S. 13-78.)

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Herausgeberin und Herausgeber | 379

Autorinnen und Autoren

Kenan Çayır, geb. 1969, promoviert und unterrichtet Soziologie an der Bilgi University in Istanbul. Forschungsschwerpunkte: Islamische Bewegungen, türkische Modernisierung, Menschenrechtserziehung. Zuletzt erschien »Consciousness of Human Rights and Democracy in Textbooks«, in: D.T. Ceylan and G. Irzık (Hg.), Human Rights Issues in Textbooks: The Turkish Case, Istanbul 2004. E-Mail: [email protected] Shmuel N. Eisenstadt, geb. 1923 in Warschau, ist Rose Isaacs Professor Emeritus für Soziologie an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Träger zahlreicher internationaler Auszeichnungen. Zuletzt erschienen Explorations in Jewish Historical Experience: The Civilizational Dimension, Leiden 2004, Comparative Civilizations & Multiple Modernities, Leiden 2003, Die Vielfalt der Moderne, Berlin 2000, Fundamentalism, Sectarianism and Revolutions, Cambridge 2000 und demnächst Political Theory in the Search of the Political. Christian Geulen, geb. 1969, ist Juniorprofessor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Koblenz-Landau. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Nationalismus, Rassismus und Imperialismus, politische Ideengeschichte, Geschichtstheorie. Zuletzt erschienen Wahlverwandte: Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert, Hamburg 2004 und Vom Sinn der Feindschaft, hrsg. zusammen mit A. von der Heiden und B. Liebsch, Berlin 2002. E-Mail: geulen @uni-koblenz.de Elham Gheytanchi, geb. 1972, promoviert und ist Associate Professor für Soziologie am Santa Monica College und Publizistin. Forschungsschwerpunkte: Frauenrechte im Iran, Migranten aus dem Vorderen Orient in Kalifornien. Zuletzt erschienen »Civil Society in Iran: Politics of Motherhood and Public Sphere«, in: International Sociology Journal 16:4 (2001) und »Chronology of Events Regarding Women in Iran since the Revolution of 1979«, in: Social Research 67:2 (2000). E-Mail: [email protected] Moussa Khedimellah, geb. 1971, promoviert derzeit als Soziologe an der EHESS und GSRL in Paris. Forschungsschwerpunkte: Islamische Bewegungen in Europa und die weltweite Tabligh-Bewegung. Zuletzt erschienen »Aesthetics and Poetics of Apostolic Islam in France«, in: ISIM Newsletter 11 (2002) und »Corps et inconscient collectif voilés: Enjeux de la similitude et de l’alterité«, in: Cosmopolitiques 5 (2004). E-Mail: [email protected], Website: www.euro-islam.org Farhad Khosrokhavar, geb. 1948, ist Full Professor an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS) in Paris. Forschungsschwerpunkte: Islam in Frankreich, Iran, moderne Formen des Dschihad und Märtyrertums in Gruppen vom Typ der al-Qâ‘ida. Zuletzt erschienen L’islam en prison, Paris 2004, Les nouveaux

2004-09-13 19-27-29 --- Projekt: T237.gli.ammann.göle / Dokument: FAX ID 01d563122367806|(S. 379-381) T04_00 autoren.p 63122368790

380 | Autorinnen und Autoren martyrs d’Allah, Paris 2002, Iran: Comment sortir d’une révolution religieuse, Paris 1999, L’islam des jeunes, Paris 1997, Anthropologie de la révolution iranienne: Le rêve impossible, Paris 1997. E-Mail: [email protected] ^

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Ugur Kömeçoglu, geb. 1971, ist Assistant Professor für Soziologie an der Bilgi University in Istanbul. Forschungsschwerpunkte: Öffentliche Sphären in Iran und der Türkei, Volksglauben und Synkretismus in Istanbul, neue Konsummuster der islamischen Mittelschichten in der Türkei. Zuletzt erschienen »Gençlik, Gündelik . Yas¸ am, Beden-Mekan Siyaseti ve Iran« [Jugend, Alltag, Körper-Raum-Politik und . Iran], in: Dogu Batı 26 (2004) und »Toplumun Dıs¸ sallıgına Ilis¸ kin Bir Eles¸ tiri«, in: Sivil Toplum: Journal of Civil Society, 2:7 (2004). E-Mail: [email protected] ^

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Sigrid Nökel, geb. 1956, forscht als Soziologin am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Schwerpunkte: Moderne Islambilder, Religions- und Zivilisationstheorien, Islam und Europa. Zuletzt erschien Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam: Zur Soziologie alltagsweltlicher Anerkennungspolitiken, Bielefeld 2002 und demnächst Islam and Europe, hg. zusammen mit Levent Tezcan. E-Mail: [email protected] Mahnaz Shirali, geb. 1965, forscht am Maison des Sciences de l’Homme in Paris über Islam und Demokratie in Frankreich. Zuletzt erschien La jeunesse iranienne. Une genération en prise, Paris 2001. Simonetta Tabboni, geb. 1937, ist Ancien Professeur an der Universität von Paris 7 und lehrt Soziologie an der École des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS). Forschungsschwerpunkte: Zeitvorstellungen und die gesellschaftliche Figur des Fremden; zuletzt erschienen Norbert Elias: An Intellectual Portrait, Bologna 1993; »The Idea of Social Time in Norbert Elias«, in: Time and Society, Sage, 2001. Charles Taylor, geb. 1931, ist Professor Emeritus für Philosophie an der McGill University in Montreal. Forschungsschwerpunkte: Geschichtsphilosophie, Sozialwissenschaft, Sprache, Religion und einiges andere mehr. Zuletzt erschienen Modern Social Imaginaries, Durham 2004, Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt am Main 2002, und u.a. Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt am Main 1993 und Quellen des Selbst: Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt am Main 1994. Nikola Tietze, geb. 1965, forscht am Hamburger Institut für Sozialforschung zur Soziologie der Zugehörigkeit. Zuletzt erschienen »Islamismus: Ein Blick in die sozialwissenschaftliche Literatur Frankreichs«, in: Leviathan 31:4 (2003), »Muslimische Religiosität in Deutschland: Welche Perspektiven für die Forschung?«, in: Berliner Debatte Initial 14:4-5 (2003) und Islamische Identitäten: Formen muslimischer Religiosität junger Männer in Deutschland und Frankreich, Hamburg 2001.

2004-09-13 19-27-29 --- Projekt: T237.gli.ammann.göle / Dokument: FAX ID 01d563122367806|(S. 379-381) T04_00 autoren.p 63122368790

Herausgeberin und Herausgeber | 381 M. Hakan Yavuz, ausgebildet in Ankara, Milwaukee und Madison, WI sowie Jerusalem ist Associate Professor für Politologie an der University of Utah. Forschungsschwerpunkte: Transnationale ethnische und religiöse Netzwerke in Europa und der Türkei, türkischer und kurdischer Nationalismus, Bewältigung ethno-religiöser Konflikte. Zuletzt erschienen Islamic Political Identity in Turkey, Oxford 2003 und zusammen mit John Esposito Turkish Islam and the Secular State: The Gülen Movement, Syracuse 2003. E-Mail: [email protected]

Herausgeberin und Herausgeber Nilüfer Göle, geb. 1953, ist Full Professor für Soziologie an an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS) in Paris. Forschungsschwerpunkte: Islam, Geschlechtsrollendefinitionen, Vielfalt der Moderne, private/öffentliche Sphäre. Zuletzt erschienen die Neuausgabe von Musulmanes et modernes: Voile et civilisation, Paris 2003 (dt. Republik und Schleier: Die muslimische Frau in der modernen Türkei, Berlin 1995), »La Turquie: Un désir d’Europe qui dérange«, in: Critique Internationale 23 (2004), »Neue Muslime und europäische Öffentlichkeit«, in: Transit 26 (2003), »The Voluntary Adoption of Stigma Symbols«, in: Social Research 70:3 (2003). E-Mail: [email protected] Ludwig Ammann, geb. 1961, ist freier Publizist, Filmverleiher und Islamwissenschaftler. Forschungen am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen zum Geschichtsdenken von Muslimen und zeitgenössischen islamischen Bewegungen. Zuletzt erschienen Die Geburt des Islam, Göttingen 2001, »Islamwissenschaften«, in: Klaus E. Müller (Hg.), Phänomen Kultur: Perspektiven und Aufgaben der Kulturwissenschaften, Bielefeld 2003, und Cola und Coran: Das Wagnis einer islamischen Renaissance, Freiburg 2004. E-Mail: [email protected], Website: www.koolfilm.de/ammann

2004-09-13 19-27-29 --- Projekt: T237.gli.ammann.göle / Dokument: FAX ID 01d563122367806|(S. 379-381) T04_00 autoren.p 63122368790

Die Titel dieser Reihe:

Georg Stauth Ägyptische heilige Orte: Konstruktionen, Inszenierungen und Landschaften der Heiligen im Nildelta (I): ’Abdallah b. Salam Fotografische Begleitung von Axel Krause November 2004, ca. 120 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 22,00 €, ISBN: 3-89942-260-0

Nilüfer Göle, Ludwig Ammann (Hg.) Islam in Sicht Der Auftritt von Muslimen im öffentlichen Raum Oktober 2004, 400 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-237-6

Georg Stauth (ed.) On Archaeology of Sainthood and Local Spirituality in Islam Past and Present Crossroads of Events and Ideas (Yearbook of the Sociology of Islam 5, ed. by Georg Stauth and Armando Salvatore) Mai 2004, 228 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-141-8

Mechthild Rumpf, Ute Gerhard, Mechtild M. Jansen (Hg.) Facetten islamischer Welten Geschlechterordnungen, Frauen- und Menschenrechte in der Diskussion 2003, 319 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-153-1

Heiner Bielefeldt Muslime im säkularen Rechtsstaat Integrationschancen durch Religionsfreiheit 2003, 146 Seiten, kart., 13,80 €, ISBN: 3-89942-130-2

Levent Tezcan Religiöse Strategien der »machbaren« Gesellschaft Verwaltete Religion und islamistische Utopie in der Türkei 2003, 232 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-106-X

Gerdien Jonker Eine Wellenlänge zu Gott Der »Verband der Islamischen Kulturzentren in Europa« 2002, 282 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-933127-99-8

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

2004-09-13 19-27-29 --- Projekt: T237.gli.ammann.göle / Dokument: FAX ID 01d563122367806|(S. 382-383) anzeige gli 9.9.04.p 63122368798

Die Titel dieser Reihe: Georg Stauth Politics and Cultures of Islamization in Southeast Asia Indonesia and Malaysia in the Nineteen-nineties 2002, 302 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 3-933127-81-5

Sigrid Nökel Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam Zur Soziologie alltagsweltlicher Anerkennungspolitiken. Eine Fallstudie 2002, 340 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-933127-44-0

Georg Stauth Islamische Kultur und moderne Gesellschaft Gesammelte Aufsätze zur Soziologie des Islams 2000, 320 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-933127-47-5

Ruth Klein-Hessling, Sigrid Nökel, Karin Werner (Hg.) Der neue Islam der Frauen Weibliche Lebenspraxis in der globalisierten Moderne. Fallstudien aus Afrika, Asien und Europa 1999, 324 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-933127-42-4

Hans-Ludwig Frese »Den Islam ausleben« Konzepte authentischer Lebensführung junger türkischer Muslime in der Diaspora 2002, 350 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-933127-85-8

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

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