Weltenvielfalt: Eine romantheoretische Studie im Ausgang von Gabriel García Márquez, Sandra Cisneros und Roberto Bolaño 9783110289749, 9783110308242

This study, focusing on Latin American literature, discusses the motif of a variety of worlds as a key concept of the mo

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German Pages 568 [572] Year 2013

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Table of contents :
Inhalt
1. Autorenbilder lesen: Zur metaleptischen Logik des Romans
2. Paradigma Romantheorie
3. Paradigma Weltenvielfalt
4. Romantheorie nach der Romantheorie: Erster Ausblick und Zusammenfassung
5. Cien años de soledad: Zur Poetik der Überlagerung
6. Soledad, Macondo, Genealogía
7. Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung
8. Borges, Bolaño und der Roman
9 Roberto Bolaño: Zur Poetik der immanenten Überschreibung
10: Die neue und werdende Welt der Romantheorie: Zweiter Ausblick
11. Epilog: Verschobene Anfänge in Mexiko
12. Bibliographie
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Weltenvielfalt: Eine romantheoretische Studie im Ausgang von Gabriel García Márquez, Sandra Cisneros und Roberto Bolaño
 9783110289749, 9783110308242

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Pablo Valdivia Orozco Weltenvielfalt

Mimesis

Romanische Literaturen der Welt

Herausgegeben von Ottmar Ette

Band 56

Pablo Valdivia Orozco

Weltenvielfalt

Eine romantheoretische Studie im Ausgang von Gabriel García Márquez, Sandra Cisneros und Roberto Bolaño

Diese Publikation wurde gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem DFG-Graduiertenkolleg „Lebensformen und Lebenswissen“.

ISBN 978-3-11-028974-9 e-ISBN 978-3-11-030824-2 ISSN 0178-7489 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Dahlmann cerraba el libro y se dejaba simplemente vivir. Jorge Luis Borges, El Sur

Inhalt 1  1.1  1.2 

Autorenbilder lesen: Zur metaleptischen Logik des Romans   1 Diesseits der Bilder: Lesen  Jenseits der Bilder: Zur Metalepse   12

2  2.1  2.2  2.3  2.4 

Paradigma Romantheorie   37 Visionen von Romantheorie: Cervantes’ Erbe   37 Der Roman – das Besondere des Allgemeinen   51 Vorgeschichte der Romantheorie: Das Problem  der Integration   63 Nach der Integration   78

3  3.1  3.2  3.3 

Paradigma Weltenvielfalt   82 Die Welt – das Besondere des Allgemeinen   82 Weltenvielfalt als romantheoretischer Begriff   100 Die Welt des Romans: Diegese und Chronotopos   136

4 

Romantheorie nach der Romantheorie: Erster Ausblick und Zusammenfassung   159

5 5.1  5.2  5.3  5.4  5.5  5.6 

Cien años de soledad: Zur Poetik der Überlagerung   179 Macondo als Name: Zur Topologie des literarischen Ortes   179 Das Haus der Buendía und die Kammer des Melquíades   205 Wissen: Die andere Seite   222 Lesen: Macondinische Lektüren   238 Geschichte: Frauen und Männer   256 Leben: Die Fort-Setzung der Metalepse   272

6  6.1  6.2  6.3  6.4 

Soledad, Macondo, Genealogía   290 Lateinamerikanische Literaturgeschichte als Relektüre  Soledad: Zwischen Rhetorik und Theorie   298 Relektüren und Variationen der soledad   309 Macondo und Genealogie   317

7  7.1 

Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung   328 Von la nueva novela latinoamericana und anderen  Gespenstern   328 Reise und Übersetzung: Für eine relationale Logik von Differenz   333

7.2 

 1

 290

VIII  7.3  7.4  7.5  7.6  7.7  7.8 

 Inhalt

Geschichte als Übersetzung – Übersetzung als Geschichte  Caramelo: Hundert Jahre Soledad   358 Erzählen als Zitat   368  377 Transbiographische Bewegung  Only the story is remembered: Stimme, Narration, Perspektive   390 Der Roman zwischen expression und narration   401

 342

8 

Borges, Bolaño und der Roman 

9  9.1  9.2  9.3  9.4  9.5 

Roberto Bolaño: Zur Poetik der immanenten Überschreibung   426 Zur Ethik des Fragments   426 Lalo Cura: Zur Ethik der Réécriture (Präfiguration)   437 Explikation: Lalo Cura aus 2666   453 Estrella Distante: Réécriture als ästhEtisches Verfahren   467 Rhetorik und Ästhetik extraterritorialer und fraktaler Literatur   489

10 

Die neue und werdende Welt der Romantheorie: Zweiter Ausblick   501

11 

Epilog: Verschobene Anfänge in Mexiko 

12  A  B  C  D 

Bibliographie   533 Primärtexte Gabriel García Márquez  Primärtexte Sandra Cisneros   533 Primärtexte Roberto Bolaño   534 Sekundärliteratur   535

 406

 531

 533

Para Amalia, mi hija, con amor

1 Autorenbilder lesen: Zur metaleptischen Logik des Romans 1.1 Diesseits der Bilder: Lesen Drei Fotos: In dem ersten Foto sehen wir einen Mann mit einem in der Hälfte aufgeschlagenen Buch auf dem Kopf. Das zweite zeigt eine Frau. Ihr lächelndes Gesicht tritt in den Hintergrund vor einem den Vordergrund und die untere Bildhälfte besetzenden Arm, der am Oberarm tätowiert ist und am Unterarm bedeckt von den Enden einer Art Stola. Auf dem dritten Foto ist ein Mann abgebildet, der an einen Spiegel gelehnt, eine Zigarette raucht. All drei Fotos zeigen die Gesichter im Halbprofil, und alle Gesichter schauen in die Kamera. Das Halbprofil friert eine in beide Richtungen – hin und weg – deutbare Bewegung ein. Markiert ist, dass die Abgebildeten trotz des fotografischen Stillstands in Bewegung waren oder vielleicht noch sind.¹ Ein nicht einsehbarer Raum ist angedeutet und ein zweites, nicht minder ironisches Moment verstärkt diesen Eindruck des Auszugshaften. Denn selbst wenn der direkte Blick in die Kamera nahezulegen scheint, dass die Abgebildeten sich ganz der Kamera stellen, sich selbst ausstellen, nehmen die Accessoires und Zusätze – scheinbar bloß ornamentale Elemente wie Bücher, Tücher oder Spiegel – genau diesen Gestus unmittelbarer personaler Zuwendung wieder zurück. Ausgestellt ist auch ein Exzess, der im Falle einer echten Exposition diese Attribute einerseits ins Fetischisierte sich steigern lässt, andererseits dahingehend zu deuten ist, dass nicht nur das Porträt einer Person gezeigt wird, sondern eine Schwierigkeit des Zeigens selbst. Denn die nicht weiter geklärte Bedeutung und Rolle dieser Accessoires verweisen auf etwas Anderes als die Person und das doch mit der Person in einer nicht weiter einsichtigen Verbindung steht, die für das Porträt unverzichtbar scheint. Die Abgebildeten werden durch diese wie auch immer zu deutende Zitation zum Text, ja zu einer Art Palimpsest, das nicht

1 Vgl.: Bettina Gockel: Die Oberfläche bei Gainsborough und das Wissen ‚unserer gänzlichen Unwissenheit‘. In: Bredekamp, Horst/Werner, Gabriele: Bilderwelten des Wissens. Berlin: Akademie Verlag 2003, S. 95–103. Dort heißt es: «Das Halbprofil lässt die Möglichkeiten der Bewegung in beide Richtungen, vom Betrachter weg und hin zu ihm, in der Schwebe, so dass die paradoxe Relation einer Darstellung, die ein Objekt zeigt und zugleich die Beendigung dieses Zeigens impliziert, zur Bildstrategie der Instabilität wird.» (103) Zur Geschichte dieser Bewegung im Halbprofil siehe auch: Gesichter der Renaissance: Meisterwerke italienischer Portrait-Kunst. Katalog zur Ausstellung Berlin Bode-Museum 25.8.–20.11.2011, New York Metropolitan Museum of Art 19.12.2011–18.3.2012.

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 Autorenbilder lesen: Zur metaleptischen Logik des Romans

verrät, welche seiner Ebenen sich da zeigt und welche überdeckt wird. Doppelte Ironie also: Nicht nur ist den Porträts im Halbprofil an sich schon die Spannung von fotographischer Darstellung und Bewegung eigen; obendrein wird auch der Gestus des direkten und gegenwärtigen Zeigens zurückgenommen, da, sofern man die Accessoires nicht als symbiotisch der Person zugehörige Attribute ‘übersieht’, eine Logik des Zitats zugegen ist, die den Gestus des Zeigens wie auch den Ort des Gezeigten zu überschreiten scheint. Das Zitat verweist offenkundig auf etwas jenseits der bildlichen Rahmung; zumindest seine ‘Bedeutung’ lässt sich nicht ohne weiteres aus dem Bild selbst heraus erklären. Die textliche Assoziation des Palimpsests ist kein Zufall. Bei den drei Fotos handelt es sich um Porträts derjenigen AutorInnen – Gabriel García Márquez, Sandra Cisneros und Roberto Bolaño –, deren Romane ich in dieser romantheoretischen Studie lesen werde. Die Ironie dieser Halbprofile erschöpft sich deshalb nicht in der Ironisierung des Zeigens und Darstellens, sondern – den Romantext als untergründige Referenz im Blick – ruft noch zwei weitere Ebenen auf, die einerseits die Darstellung selbst (es wird noch etwas Anderes und anders dargestellt als ein Porträt) und andererseits den Status der Darstellung betreffen (es bleibt unklar, was Kontext, was Zitat ist). Dieser Verweis auf eine andere Ebene vertextlicht die fotographische Darstellung. Dies begründet sich nicht damit, dass überhaupt zitiert wird (das Bildzitat stellt eine eigene Qualität, die nicht textlich gedacht werden muss), sondern dadurch, dass die fotographische Darstellung aus Texten und textliche Strategien zitiert und vor diesem Hintergrund sprichwörtlich als Palimpsest lesbar wird. Die Eröffnung eines solchen Darstellungsraums, dieses Darüber-Hinaus der Darstellung, das zugegen, aber selbst nicht abgebildet ist, antizipiert eine Frage, die ich als eine am Roman zu entwickelnde Problematik der metaleptischen Lektüre entwickeln möchte und die Ausgangspunkt dafür sein wird, den Begriff der Weltenvielfalt als einen romantheoretischen Begriff zu diskutieren. Die Überlegung hierbei ist, wie dieses Zusammenspiel verschiedener ‘Text-Intentionen’ (hier: das Zeigen und das gleichzeitige Zeigen einer Art des Zeigens) und verschiedener Ebenen (hier: das Porträt als Präsenz einerseits und das verschiebende Zitat als Absenz andererseits) eine Darstellungslogik beschreibt, die eine mit dem Roman manifest werdende Lektüre der Kontext-, ja Weltenvielfalt voraussetzt. Der zweite, ‘lateinamerikanistische’ und auch ‘kulturtheoretisch’ lesbare Teil dieser These lautet, dass das, was sich hier als Kontextvielfalt zeigt, mehr benennt als ein strukturelles Phänomen des Romantextes und dabei dennoch integraler Bestandteil von Romantheorie ist. Es impliziert Theorien und Praktiken der Differenzierung, durch welche sich eine bestimmte Geschichte und eine bestimmte Konfiguration (nicht nur von Sprache) profilieren. So ist jeder Darstellung von Kontextvielfalt immer auch eine bestimmte Geschichte eingelassen, die jene gattungsrelevante

Diesseits der Bilder: Lesen 

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Figur mit einer kulturellen Geschichte versieht, deren grundlegende Signatur nicht ohne eine Geschichte oder auch: Erzählung einsichtig werden kann und die ich weiter unten als eine genuin neuzeitliche beschreiben werde. Wenn ich den Texten, die hier gelesen werden sollen, die Porträts, auf denen die AutorInnen zu erkennen sind, voranstelle, dann steht dies eben nicht für einen biografischen oder kulturellen Positivismus. Der Identifizierungszwang, dem gerade im Feld der so genannten Minderheitenliteratur oder auch peripheren Kulturen nach wie vor zu begegnen ist, läuft hier schon deshalb ins Leere, weil ich am inszenierten Selbstbild eine den Texten zu entnehmende Darstellungsproblematik nachzeichnen möchte, die jene für die Identifizierung so wichtige denotative und deiktische Funktion des Bildes zumindest destabilisiert. Gerade weil diese Selbstbilder, diese Bilder von Autoren als Darstellungen (und eben nicht als Abbildungen) lesbar werden, kann es hier nicht um eine schon zugrundeliegende Identität von Person, Text und Porträt gehen. Vielmehr stellen diese Fotos eine von ihren Texten her zu entziffernde Verweisfunktion aus, die sich über ein stabiles Verhältnis von Identität und Differenz hinwegsetzt und die auch die lebensweltliche Erscheinung der AutorInnen zum Zitat, zur Darstellung macht bzw. und genauer: ebenso diese als ein Darstellungsproblem verhandelt. Diese Umkehrung hat Gründe: Denn statt die Identität von Werk und Autor zu unterstreichen, lassen sich diese Fotos wie eine Illustration oder auch eine Vision des für die romanhafte Darstellung relevanten Themas eines Umschlags zwischen logisch unvereinbar differenten Kontexten lesen. Die Fotos zitieren ja nicht Attribute oder Charaktere ihrer Texte, sondern eine Interaktion mit den und der Texte(n), mithin die Darstellungsweise der Texte und eine vom Text nicht zu lösende ‘Autorfunktion’ (Foucault). Doch gerade weil eine Eigenschaft ihrer literarischen Texte am lebensweltlichen Portrait der AutorInnen inszeniert, wiederholt und affirmiert wird, ist mit dieser Darstellungsproblematik eine Frage angesprochen – und das wäre der Einsatz dieser inszenierten Porträts von Romanautoren –, die auch für die Lebenswelt eine Relevanz hat, ja mehr noch: nur in Bezug auf diese (und weniger als Symptom dieser) formuliert werden kann. Die Darstellung oder auch die Autorfunktion bzw. formaler formuliert: diese logisch äußerste Grenze des Textes² sind ebenso wie diese Fotos logisch ambivalent; die Fotos sind und sind nicht als Bilder der Texte lesbar, bezeugen und bezeugen nicht eine Sphäre, die außerhalb der Texte liegt. Ebenso gilt für die Autorfunktion, dass sie eine Positivität verbürgt und nicht verbürgt. Diese Ironisierung des Porträts ist zu einem guten Teil auch jene Ironie, die seit Hegel, Schlegel und Lukács romantheoretischer Allgemeinplatz ist. In den

2 Vgl. hierzu das Kapitel Die Welt des Romans: Diegese und Chronotopos

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 Autorenbilder lesen: Zur metaleptischen Logik des Romans

zitierten und ja selbst zitierenden Fotos zeigt sich die Ironie zunächst als ein negativ ironisierendes Moment der fotografischen Darstellung; das Bild rahmt etwas, was eine Rahmung wesenhaft ausschließt, in einer Rahmung nicht erfasst werden kann. Mit dieser Unmöglichkeit wiederholt das Foto eine des Romans; auch er kann dem Anspruch, eine eigene, von ‘Subjektivität’ (um es traditionell zu formulieren) nicht verstellte Welt vollends zu zeichnen, nicht einlösen: «Diese Subjektivität will alles gestalten und kann gerade deshalb nur einen Ausschnitt spiegeln.»³ Statt ein vollständiges Bild – Autor und Werk bzw. deren Interaktion – zu zeigen, ist unklar, welche Instanz die jeweils andere ironisiert. Die Bewegung ist in zwei Richtungen lesbar: Wird dem Werk ein ‘Gesicht’ gegeben, wird es also auf eine Person lebensweltlich bezogen oder aber wird die Person mit dem Werk verbunden, in dieses gar überführt? In jedem Falle ist der sehr spezifische Aspekt der ‘Autorfunktion’, der in der Subjektivität der Gestaltung zum Ausdruck kommen soll, ein Faktor – mal als Ausgangspunkt der Darstellung, mal als Effekt der Darstellung –, der auch die AutorInnen selbst betrifft und einholt, ganz so als wären sie nur ein weiterer ‘Held’ jener Darstellungsproblematik, die sie in ihren Romanen verhandeln. Die Tatsache, dass diese Krise der Darstellung sich auch dem Darzustellenden verdankt, macht verständlich, weshalb Lukács diese Darstellungsproblematik symptomatologisch deuten konnte. Jedoch lässt sich diese Ironie nicht nur als eine Form von darstellerischer Unmöglichkeit begreifen, sondern – in einem positiv ironisierenden Moment der Porträts – durchaus auf eine bestimmte, in und an dieser Literatur figurierte und materialisierte Kontextvielfalt von Geschichte beziehen, also auf eine zwar nicht restlos dargestellte, wohl aber (nach-)vollziehbare Bewegung, die mitnichten ein lediglich von einer subjektiven Autorschaft her zu begründendes Darstellungsproblem expliziert. Auch wenn der Bezug zwischen Text und Bild selbst nicht darstellbar ist, da er im Bild nicht als kontinuierlicher Bezug nachzuzeichnen ist, sich nicht rahmen lässt, reduziert sich die Ironie der Darstellung nicht nur auf ein negatives Moment der Darstellung von ‘Welt’ als uneinholbarer Totalität insgesamt. Sie markiert nicht minder ironisch ein positiv und bestimmt zu deutendes Moment dieser Negation im Dar-Stellen selbst. Dessen ausschnitthafte Qualität ist nämlich nicht nur Mangel angesichts einer (allenfalls) theoretisch anzunehmenden Totalität, sondern verweist auf eine bestimmte Geschichte, deren ausschnitthafte Zitatförmigkeit die Unmöglichkeit eines aus spezifischen Gründen unmöglich gewordenen ‹natürlichen› Umfelds betont und so eine selbst nur theoretisch zu denkende Totalität von Welt insgesamt in Frage stellt. Dies jedoch wird

3 Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Berlin: Paul Cassirer 1920, S. 41.

Diesseits der Bilder: Lesen 

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nur dann lesbar, wenn man eine allzu abstrakte und gleichzeitig zu sehr auf die Subjekt-Objekt-Problematik sich konzentrierende geschichtsphilosophische Deutung selbst nochmal als konkrete Erzählung problematisiert und sich fragt, was es – erneut mit Lukács gesprochen und den Begriff der Welt im Blick behaltend – bedeuten kann und was geschehen musste, damit «[…] das Unterscheidende zwischen den Menschen zur unüberbrückbaren Kluft»⁴ werden konnte. Erkennbar wird diese Doppelbewegung der negativen und positiven Momente der ironisierten Bewegung nicht mit einem sehenden Blick, der wahrscheinlich und vordererst in diesen Fotos Phänotypen eines exotischen Anderen erkennen würde. Vielmehr ist diese Konfiguration – jede für sich genommen und vor allem in der noch zu entwickelnden Konfiguration, die sich im Verhältnis dieser drei Fotos zueinander einstellt – angewiesen auf einen lesenden Blick, der nicht in der dann natürlich ausschnitthaften Identifikation (und ihrem Widerspruch) verharrt, sondern in der Lektüre die Diskontinuität dieser ironischen Darstellung als eine eigene Fragestellung mit nachvollzieht. Das Entscheidende an einer ausbleibenden Vermittlung ist ja nicht nur, dass ihr Vollzug nicht darstellbar ist bzw. nur widersprüchlich sein kann. Obendrein gilt es die Tatsache im Blick zu halten, dass die Darstellung gerade in ihrer auszugshaften Stilllegung sich auch selbst thematisiert und dabei – qua Darstellung – ein anderes Problem als das der nicht umfassenden Darstellung aufruft. Anders gesagt: Die Frage der Kluft ist mehr als eine Welt-Subjekt-Problematik, da die Kluft «zwischen den Menschen» auch deshalb schlechthin nicht darstellbar ist, da sie eine durch die konkrete Darstellung selbst geschaffene Kluft ist, statt bloß das «Nichthineindringen-Können der Ideen in das Innere der Wirklichkeit»⁵ zu verbürgen. Diese Darstellungsproblematik wiederum ist nicht nur als allgemeines Symptom einer neuzeitlichen Kontingenz gegenüber einer verlorenen epischen Totalität zu konstatieren, sondern durchaus zu befragen und historisch nachzuzeichnen und selbst eine Reaktion auf eine Veränderung im Weltbegriff, die mit dem Verlust von Sinnimmanenz nur unzureichend, wenn überhaupt, erfasst ist. Diese Verschiebung von der Welt hin zu einer Frage der Darstellung von Welt ist für den Roman insgesamt und speziell für die hier zu lesenden Romane eine bezeichnende, deren strukturelle Problematik also nicht nur als ein Problem der Subjektivität gedeutet werden kann. Ich möchte dies hier zunächst und etwas formaler am Beispiel einer metaleptischen Bewegung beschreiben, die schon in den Fotos zugegen war. In der Darstellung des Romans nämlich (eine Darstellungsweise, die mit dem in der Frühen Neuzeit durch Tasso etwa sich etablieren-

4 Ebd., S. 58. 5 Ebd., S. 75.

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den Begriff des Fingierens treffend umschrieben ist) werden zwei nicht vermittelte Kontexte in ein Verhältnis gesetzt. Dies rekurriert insofern auf eine metaleptische Logik, als damit einerseits nicht ein kontinuierlich vermittelter Bezug dargestellt ist und als andererseits damit noch lange nicht gesagt ist, welcher der jeweils andere Kontext zu sein hat, was aus welcher Position heraus ironisiert wird. Metalepse als Überschreitung meint eine spezifische Qualität der Bewegung, die sich formal leicht umschreiben lässt. Diese Bewegung ist von der Bewegung des Bezugs zu unterscheiden. Im Gegensatz zu dieser sprengt jene die Logik eines Codes dadurch, dass der metalpetische Bezug sich über irreduzibel differente Kontexte hinweg einstellt und diese in eine logisch nicht vermittelbare Relation bringt, ohne dafür einen neuen, nunmehr umfassenderen Code vorauszusetzen, der die Ebenenverletzung relativiert. Es ist diese Bewegung zwischen irreduzibel differenten Kontexten oder auch Ebenen, die ich weiter unten mit dem Begriff der Weltenvielfalt romantheoretisch entwickeln möchte. Denn in wohl keiner literarischen Form ist diese Vielfalt unvereinbarer Kontext dermaßen konstitutiv wie für den Roman. Dass es sich dabei um eine Frage handelt, die nicht direkt, aber strukturell auf die Lebenswelt zu beziehen ist, möchte ich an der weiter unten erfolgenden Lektüre dieser Fotos nachzeichnen, die ja allesamt eine Überlagerung von Text und Lebenswelt inszenieren und deren Pointe verkannt wäre, wenn man darin eine versöhnende Identität oder Entsprechung dieser beiden Instanzen erkennen würde. Stattdessen verstehe ich sie als eine sinnfällige Inszenierung einer in der Darstellung vorhandene und vollzogene, aber nicht vermittelte Kontextvielfalt. Doch inwiefern ‘realisiert’ der Roman ein Verhältnis von zwei nicht vermittelten Kontexten? Ein hierfür paradigmatischer Aspekt der metaleptischen ‘Natur’ des Romans ist sicherlich die in seiner Lektüre immer auch gewusste und bedachte Einsicht in das mitunter gespannte Verhältnis zwischen den Logiken des Darstellens und den Logiken des Dargestellten. Dabei handelt es sich um eine insofern gattungskonstituierende Spannung, als sie im Roman eben nicht mehr über die Logik einer Handlung versöhnt wird. Wie am Beispiel der Fotos nachzuvollziehen war, ist diese Spannung zumindest medial keineswegs auf den Roman zu beschränken, impliziert aber eine Art der ästhetischen Wahrnehmung, die mit der Lektüre und genauer: mit dem Bewusstsein um die Lektüre im Roman ihren wohl prominentesten und explizitesten Ausweis erfährt. Die zwischen dem ausstellenden Zeigen einerseits und dem verschiebenden Zitat andererseits sich ergebende Spannung inszeniert so schon auf formaler Ebene die multikontextuelle Dynamik einer Lektüre, welche die Sinne der Präsenz – hörendes Ohr und sehendes Auge – auf die multikontextuelle und mit Absenzen umgehende Logik des lesenden Auges verweist. Die Spannung der Romanlektüre verdankt sich nicht zuletzt der Vielzahl von räumlichen und zeitlichen Bezügen,

Diesseits der Bilder: Lesen 

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die nicht ausschließlich einer immanenten Handlungslogik verpflichtet sind. Nicht überraschend ist im modernen Roman die Lektüre ein bevorzugtes Thema seiner Darstellung, ein die Illusion einer unvermittelten Darstellung stets brechendes Thema. Entscheidend ist dabei, dass diese verschiedenen Bezugsebenen nicht oder nur partiell zur Deckung gebracht werden und in ihrer Differenz bestehen bleiben. Damit ist gesagt, dass hier nicht ein Verhältnis der Entsprechung vorliegen kann, dass also das Mittel der Aussage nicht in der Aussage aufgeht. Im Gegenteil und um es in Anlehnung an Erich Auerbach zu formulieren: Die hier als metaleptische Bewegung gedeutete Besonderheit der dargestellten Wirklichkeiten im Roman besteht darin, dass der Sinn dieser Darstellung nicht nur dem Dargestellten selbst zu entnehmen ist, sondern parallel dazu sprachliche Operationen und Verweise sich vergegenwärtigen, die eine die Erzählung stets überschreitende Lektüre motivieren. Statt durch einen immer nur punktuellen Kommentar die Darstellung und mit dem Dargestellten in einen (‘subjektiv’) einsichtigen Bezug zu setzen, wird diese Spannungsfigur, die Auerbach grundsätzlich für jede Darstellung von Wirklichkeit angenommen hat, in jenem Moment konstituierend und in ihrer Logik metaleptisch, da diese Bewegungen und Spannungen wie im Falle des Romans (und der hier gelesenen Romane) selbst Thema der jeweils dargestellten Wirklichkeit sind und dabei auf eine nicht mehr aufzulösende Inkongruenz verweisen bzw. diese Inkongruenz nur iterativ fortzusetzen erlauben. So wie auch Wirklichkeit dargestellt ist, kann auch Lektüre Darstellung nicht neutralisieren wie die Erzählung selbst nicht aufhört allem voran eine Darstellung zu sein. Was also diesen Fotos von RomanautorInnen zu entnehmen ist, ist auch diese Unvermeidbarkeit und Unabschließbarkeit der Darstellung im Roman. Mit einer Lektüre, die sich im Extremfall einerseits einem unlesbar werdenden Ereignis und andererseits der verstellenden Darstellung selbst zuwendet und das Eine aus der Sicht des Anderen relativiert, ist schon deshalb etwas anderes als die in der gadamerschen Hermeneutik transzendent genannte Bewegung des Sinns gemeint, weil es hier nicht in erster Linie um die Frage der Vermittlung von Sinn geht, sondern um eine Lektüreerfahrung, die in der Darstellung selbst angelegt ist, sich mit ihr und eben nicht nur mit der Subjektivität des Verstehens begründen lässt. Es geht vorrangig um Lektüre, nicht nur um Bedeutung, um Verhältnisse der Äußerlichkeit und nicht der Verschmelzungen, um Darstellungen und nicht um Symptome. Mit Blick auf die Romane von García Márquez (Cien años de soledad, 1967), Roberto Bolaño (Estrella distante, 1996; Amuleto, 1997; Los detectives salvajes, 1999; 2666, 2004) und Sandra Cisneros (The House on Mango Street, 1984; Caramelo, 2002) möchte ich drei unterschiedliche Aspekte der Äußerlichkeit diskutieren. Der Übersicht halber kann man sie mit dem bühlerschen Organon-Modell

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 Autorenbilder lesen: Zur metaleptischen Logik des Romans

relativ leicht als die drei äußerlichen Instanzen des sprachlichen Zeichens identifizieren. Wenn ich in dieser Einleitung an den Romanen von García Márquez das Problem der Referenz, an den Romanen von Cisneros das des Senders und an den Romanen von Bolaño das des Empfängers exemplifizieren werde, dann handelt es sich natürlich um eine höchst künstliche Zuordnung und allenfalls um eine Akzentuierung bestimmender Züge. Tatsächlich sind immer alle drei Momente zugegen und wirksam und müssen es auch sein, da das Problem der Darstellung immer alle drei Aspekte betrifft. Da es zudem nicht um eine Kommunikationstheorie des Romans geht, sondern um eine Theorie seiner Darstellung, sollte klar sein, dass diese Äußerlichkeiten nicht als tatsächliche Äußerlichkeiten diskutiert werden, sondern und mit Blick auf einen für den Roman konstitutiven Weltbegriff, sofern es um in der dargestellten Welt selbst markierte Äußerlichkeiten geht. Es wäre deshalb angebracht, die Begriffe des bühlerschen Modells umzubenennen und statt von Referenz (bzw. den Gegenständen) von der Äußerlichkeit der Darstellungswelt, statt vom Sender von der Äußerlichkeit des Schreibprozesses und statt vom Empfänger von der Äußerlichkeit der Lektüre zu reden, die in ihrem Zusammenspiel die Darstellung des Romans konstituieren. Da die Texte gerade nicht als Ausdruck dieser Biografien verstanden werden und somit die Texte, nicht die empirischen Biografien, die transgressiv-diskontinuierlichen Bewegungen entzifferbar machen, ist offenkundig, dass nicht die Differenz zu dem schon Gegeben, die ‘Verwandlung’ des Gegebenen in der Darstellung hier der Ausgangspunkt sein kann, sondern das, was sich als Außen in der Darstellung selbst markiert. Die Lektüre bleibt diesseits der Darstellung. Die Überlagerung eines García Márquez, Cisneros’ Einschreibungen und Bolaños Überschreibungen sind dabei nicht nur Kürzel für poetologische Fragen und literaturästhetische Verfahren; gleichzeitig handelt es sich um Metaphern eines bestimmten, an einer doppeldeutigen Ironie sich zeigenden Wirklichkeitsverständnisses, dem Wirklichkeit nicht nur das Gegebene oder Gewordene ist, wohl aber – wie im Falle des Palimpsests – eine diskontinuierliche Koinzidenz verschiedener Kontexte, ja Welten. Es ist diese den neuzeitlichen Wirklichkeitsbegriff (Blumenberg) auszeichnende Koinzidenz, die Romane figurieren, und nicht bloß eine unvollständig bleibende Wirklichkeit, und es ist diese in der Darstellung selbst ‘erzählte’ Koinzidenz von Welten und nicht die dargestellte Wirklichkeit, die diese Frage zu einer genuin historischen macht. Die Fotos des kolumbianischen und vor allem in Mexiko schreibenden Nobelpreisträgers Gabriel García Márquez, des in Spanien zum Romanautor gewordenen Exilchilenen Roberto Bolaño und der in Chicago geborenen und in Texas schreibenden Chicana Sandra Cisneros sind nur in diesem Sinne als Teil einer Bewegungslogik der Darstellung lesbar, nicht aber begründend. Inwiefern?

Diesseits der Bilder: Lesen 

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Die Romane von García Márquez, Cisneros und Bolaño machen je auf ihre Weise explizit, dass jedweder Versuch die eigene Geschichte zu erzählen, eine geradezu melancholische Ahnung provozieren muss, wenn man meint, auch die Erzählung als eigene zu begreifen. Der Erzählvorgang ist von einer solch grundlegenden Äußerlichkeit, dass die ‘eigene’ Geschichte nur jenseits des Eigenen lesbar ist. Geschichte wäre dann immer wieder neu zu erzählen und wäre am Ende genau jenes, was die Erzählung nicht erfassen kann. Um dies wiederum nachvollziehen zu können, um nicht nur den Verlust der Erzählung zu zeigen, ist es notwendig, dass die Erzählung nicht einfach eine Erzählung von etwas ist, sondern zugleich eine Erzählung der Erzählung selbst. Anders gesagt: Diese Fotos belegen nicht die Zugehörigkeit der Romane zu den Autoren, sondern die Zugehörigkeit einer Inszenierung zu einem Text, die selbst wiederum für eine Geschichte steht, die sich zwar am ‘Subjekt’ verdichten mag, aber nicht auf das Subjekt zu beschränken ist. Dies – und eben nicht der ‘autobiographische’ Gehalt – stellt die Frage der Autorschaft einer Erzählung. Diese Äußerlichkeit der Geschichte spiegelt sich in einem mit dem Roman sich etablierenden ‘Lesepakt’, sofern die Welt des Romans für die LeserInnen sowohl als äußerliche wie auch eigene auftritt: Es ist eine andere Welt mit ihrem Eigensinn, von der man liest und es ist eine Welt, an deren Konstruktion man selbst aktiv beteiligt ist und deren ultimative Alterität sich also immer wieder aufs Neue entzieht. Und doch liest man – und wahrscheinlich möchte man so lesen –, als wäre dem so. Dem Als-Ob der Romanfiktion ist somit von Anfang an sowohl ein negatives Moment wie ein positives Moment der Ironie eingelassen, die im Ereignis der Lektüre unauflöslich zusammenfallen. Im gleichen – negativen – Moment, da die Unmöglichkeit der Alterität offenbar wird, manifestiert sich das positive Moment durch die Relationierung der eigenen Lektüre, die nicht mehr vorgeben kann, sich allein der eigenen Lesekompetenz zu verdanken, wobei sich hier die Alterität nicht als Gehalt, sondern in der Lektüre selbst artikuliert. Diese Partizipation an der Evokation einer Welt ist somit ebenso Ausweis dessen, was sich im Sinne Blumenbergs⁶ als die formal angelegte Unmöglichkeit des Romans bezeichnen ließe, wie auch Ausweis seiner positiv-ironischen Möglichkeit. Dass damit nicht nur ein gattungstheoretisches Prinzip formuliert, sondern auch eine spezifische Geschichte, eine Erzählung gar impliziert ist, wird spätestens dann einsichtig, wenn man davon ausgeht, dass jede dargestellte Wirklichkeit eine jeweils anders motivierte und anders angezeigte Ironisierung ihrer

6 Vgl.: Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. In: Blumenberg, Hans: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Herausgegeben von Anselm Haverkamp. Frankfurt: Suhrkamp 2003 [1967], S. 47–73.

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Wirklichkeitskonstitution erfährt. Es genügt also nicht – und dafür plädiert diese romantheoretische Studie – die Ironie der Darstellung festzustellen, sondern es bedarf ebenso einer genaueren Untersuchung der Schauplätze und Motivationen dieser Ironie. Vor diesem Hintergrund sind die hier gelesenen Romane alles andere als zufällig Romane, die auf diese metaliterarischen Fragen rekurrieren, indem sie verschiedene narrative und kulturelle Bewegungsfiguren verhandeln. Dies lässt sich nicht nur an der selbstbezüglichen Behandlung der eigenen Lektüre nachvollziehen, sondern ebenso an einer aufschlussreichen Besonderheit, die das Zusammenspiel von positiven und negativen Momenten der Ironie unterstreicht und die metaleptische Logik dieser Romane (und auch des Romans) offenlegt: Alle hier zu lesenden Romane sind in einem para-biographischen Gestus gehalten und stellen dadurch implizit eine Frage, die zwar nicht hinter eine dekonstruierende Ironisierung des schreibenden Selbst zurückfällt, aber bei dieser Geste nicht verharrt und gewissermaßen, in aller Ironie, über diese hinausgeht. Von sich para- statt autobiographisch zu schreiben, verweist auf ein strukturell und historisch wirksames Moment in der Darstellung selbst und eben nicht nur auf die dem lebensweltlichen Subjekt verfügbaren Mittel der Selbstvergegenwärtigung. Oder anders gesagt: Es ist durchaus von Bedeutung, welche Geschichte wie ironisiert wird, wenn sie in einem Roman geschrieben ist und mit bzw. in welcher Sprache dies erfolgt. Dieser para-biographische Gestus vollzieht an der Figur des Autors als erzählendem Subjekt eine doppelte Ironisierungen: Einerseits ist dieses Subjekt notwendige Fiktion, um Wirklichkeiten, in denen wir leben, zu figurieren und erfassen. Andererseits ist diese Fiktion kein aus freien Stücken heraus entwickeltes heuristisches Modell und erst recht keines, das zu falsifizieren oder revidieren ist. Vielmehr vermag die (Roman-)Fiktion als «Fiktion der Realität von Realitäten»⁷ die Konstitution von symbolischen Ordnungen genau dann aus einer bestimmten Position heraus zu problematisieren, wenn sie die Möglichkeiten und Konditionierungen des subjektiven Diskurses selbst thematisieren. In dem Moment nämlich, da dem Subjekt angesichts dieser Konditionierung des erzählenden Diskurses (der in der Erzählung des Subjekts (s)ein begründendes Moment findet) lediglich ein immanentes Überschreiten der symbolischen Ordnung bleibt, wird eine Sprachpraxis notwendig und möglich, die nicht umsonst in der literarischen Sprache ⁸ als der zitatförmigen Sprache schlechthin ihr Paradigma findet. Das biografische Zitat, das Selbst-Zitat, wird zum ironischen Zitat

7 Ebd., S. 72, kursiv im Original. 8 Vgl.: Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005 [1974].

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– negativ ironisch, sofern es sich selbst ironisiert, nicht in dieser Sprache ‘ankommt’, positiv ironisch, sofern es einen bestimmten Diskurs des Subjekts aus ganz bestimmten Gründen ironisiert. In gleichem Maße, wie das Zitat das Selbst ironisiert, ironisiert es auch ein symbolisch autorisiertes Verfahren «Ich» zu sagen, mithin das «Sprachspiel» des «Ich-Sagers».⁹ Ironie als Nicht-Identität stellt sich hier als eine Form nicht nur von diskursiver, sondern auch von kultureller Praxis¹⁰ ein. Aus einer romantheoretischen Perspektive wird die Einheit des autobiografischen Paktes à la Lejeune im Roman schon dadurch gesprengt, dass der multikontextuelle Wirklichkeitsbegriff des Romans die Einheit des Paktes immer schon ironisiert. Das Subjekt des Romans kann seine Sprache nicht gesprochen haben und hat doch keine andere. Die Ironie markiert eine Diskontinuität, in der das für die Lektüre schon angesprochene Doppel von Exteriorität und Partizipation in der unversöhnlichen Spaltung von erzählendem Ich und erzählten Ich eine Entsprechung findet und die paradoxe Gleichzeitigkeit von einer ironisierenden Affirmation und einer affirmierenden Ironie inauguriert. Ausgehend von der Tatsache, dass die aporetische Poetik der Autobiographie einer «impossibility of closure and of totalization»¹¹ gleichkommt, scheint mir der entscheidende Aspekt hierbei, dass die Spaltung des schreibenden und des beschriebenen Ichs ein Moment der Ununterscheidbarkeit¹² und Gleichzeitigkeit produziert, das schon an den Porträts der Autoren nachzuvollziehen war und dass dies sich konstitutiv der metaleptischen Sprachsituation des Romans verdankt. Als These formuliert ließe sich das wie folgt pointieren: Die Geschichte eines Romans ist gekennzeichnet von ihrer eigenen Überschreitung, die im Ereignis der Lektüre Geschichte als eine grundsätzlich metaleptische Konstruktion bestätigt und fortsetzt. Geschichte als immer schon eine (neu) vernetzte, ja versetzte findet ihre Evidenz im Ereignischarakter der Lektüre von Romanen, die – so eine Anforderung, die García Márquez mal an seine eigenen Texte formulierte – dann einen guten Text darstellen, wenn sie nicht auf der letzten Seite enden. Die Unvermeidlichkeit der Darstellung ist auch ihre Endlosigkeit.

9 Andreas Dörpinghaus: Logik der Rhetorik. Zur Theorie einer argumentativen Verständigung in der Pädagogik. Würzburg: Königshausen und Neumann 2002, S. 180 10 Vgl.: Michel de Certeau: Die Kunst des Handelns. Berlin: Merve 1988 [1980]. 11 Paul de Man: Autobiography as De-facement. In: MLN, Vol. 94, No. 5, Comparative Literature (Dec. 1979), S. 922. 12 Zu dem Begriff der Ununterscheidbarkeit als narrativem Effekt vgl.: Pablo Valdivia Orozco: Lebensform und Narrative Form: Zur Epistemologie des Vollzugs und zum Lebensbegriff der Literaturwissenschaften. In: Asholt, Wolfgang/Ette, Ottmar (Hg.): Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm, Projekte, Perspektiven. Tübingen: Narr 2010, S. 113–126.

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1.2 Jenseits der Bilder: Zur Metalepse Das Buch, das Gabriel García Márquez auf dem Kopf trägt, ist die erste Ausgabe seines Welterfolgs Cien años de soledad (im Folgenden: CAS). Aufgeschlagen in vermutlich jene zwei sich spiegelnde Hälften, die beim Verschicken des Manuskripts verwechselt worden sind, präsentiert sich das Buch gerade nicht als ein abgeschlossenes und in sich geschlossenes Werk. In dieser Öffnung suggeriert das Buch seine Fortsetzung in der Lebenswelt des Autors wie auch umgekehrt die Lebenswelt ihre Grenzen erst am und im Buch verhandeln kann. Ohne dass damit die Natur dieser Überschreitung näher bestimmt wäre, hat das Buch im Bild selbst einen weiteren Effekt; das Bild wird horizontal in zwei Hälften oder genauer: in zwei Bereiche unterteilt. Während das offene Buch eine über sich selbst hinausweisende Erzählung allegorisiert, die mobil geworden ist und sprichwörtlich auf den im Halbporträt sitzenden Menschen lastet, steht der abgelichtete Autor für eine Existenz, die sich zwar unter, aber doch jenseits des Buches eine gewisse Eigenständigkeit bewahrt. Immerhin verschwindet der Autor nicht hinter dem Buch und auch ist sein Blick nicht gefangen in jenem offenen Buch. Damit ist eine Präsenz markiert, die jedweden radikalen narrativen Konstruktivismus unterläuft und ebenso jeden Versuch, Buch bzw. Narration und Autor bzw. Lebenswelt komplett zu identifizieren. Das aufgeschlagene Buch auf dem Kopf inszeniert keine sich verlierende Lektüre, der – wie im Falle von Quijotes schizophrener Lektüre – die (Um-)Welt abhandenkommt. Der Blick des Porträtierten schaut aus dem aufgeschlagenen Buch heraus. Nicht minder entscheidend ist die im Foto ausgestellte Materialität des Buches. Diese signalisiert, dass die im Buch enthaltene Narration in ihrer Alterität – qua Hermeneutik beispielsweise – nicht einfach aufzuheben ist. Aller Inszenierung zum Trotz bleibt die Erzählung als Erzählung äußerlich. Das Palimpsest ist hier deutlich zu erkennen, wenn auch nicht unmittelbar zu deuten, da die Grenze nicht so klar zu bestimmen ist wie die jeweiligen Ebenen. Inwiefern? Der Positivität menschlichen Lebens – so ließe sich das scheinbar bloß humoristische Element dieser Inszenierung deuten – ist für García Márquez stets ein nicht restlos herauszuschälender narrativer Überschuss eigen. Die im Buch sprichwörtlich gewordene Mobilität dieser Narration erlaubt eine stete Interaktion mit jener Lebenswelt, die außerhalb der eigentlichen Narration liegt. Es ist dieses transgressive Zusammenspiel von an sich unvermittelten und irreduzibel differenten Kontexten, durch die sich für García Márquez Wirklichkeit konstituiert und genauer: jene Art von Wirklichkeit, die – so García Márquez in seiner Nobelpreisrede – «nicht aus Papier ist, sondern mit uns lebt»¹³. Mobilität findet

13 Gabriel García Márquez: La soledad de Amérca Latina. In: «http://nobelprize.org/nobel_

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sich auch in einem weiteren Sinne und zwar als Zitat: Das aufgeschlagene Buch lässt sich leicht als die Form eines Giebels deuten, als ein erst Text und sodann mobil gewordenes Hausdach. Das erzählte Haus kann mitgenommen werden, sei es das großelterliche der Kindheit, sei es das Haus der Buendía, um es in anderen Kontexten als den angeblich angestammten auszusetzten – so ließe sich nicht viel verfälschend eine der entscheidenden poetologischen Fragen im Roman des Kolumbianers konkretisieren, dessen berühmte Familiensaga der Buendía von einer erst gelungenen und dann ausbleibenden Flucht gerahmt ist, wobei just das Ausbleiben einer weiteren Bewegung das Ende der Buendía besiegelt. So wiederholt und verstärkt das aufgeschlagene Buch die Bewegung des Halbprofils und verwandelt den fotografischen Stillstand in einen Bewegungsraum, der, obgleich seine Elemente scheinbar klar auszumachen sind, über keine klar auszumachenden, aber deshalb nicht aufgelösten Grenzen verfügt. Dieses Verhältnis lässt sich etwas allgemeiner in dem Sinne präzisieren, dass auch wenn die eine Sphäre in die andere übergehen kann, eine nicht klar lokalisierbare Differenz bestehen bleibt. Nicht Verschmelzung ist hier die passende Horizontmetapher, sondern das nicht aufzulösende Zusammenspiel, in dem sich einerseits keines der Elemente restlos auflöst und andererseits keines der Elemente ohne das andere mehr zu begreifen ist.¹⁴ Eine der grundlegenden magisch-realistischen Formeln kommt hier zu ihrem Recht: Unterschiedliche Wirklichkeiten können im menschlichen Leben nebeneinander und gleichzeitig existieren. Der (magisch-realistische) Roman hat deshalb unter anderem die Funktion inne, die Integrationskraft dessen zu erproben, was sich als gelebte Wirklichkeit bezeichnen ließe und was genau dann zu einer immer wieder zu befragenden Instanz wird, wenn Wirklichkeit selbst schon als eine nicht immer und als solche nicht erkennbare Darstellung erfahren wird, der ganz unterschiedliche Kontexte eingelassen sind. Dass mit den überschreitenden Bewegungen und Bezügen zwischen Lebenswelt und Textwelt eine speziell mit dem Roman zu verhandelnde Frage vorliegt, impliziert eine ebenso gattungstheoretische wie auch kulturhistorische These. Ihre Voraussetzung ist, dass die sehr allgemeine Frage nach der Beziehung von Zeichen und Referenz bzw. die nicht minder umfassende Frage, in wel-

prizes/literature/laureates/1982/marquez-lecture-sp.html» (letzter Zugriff: 12.05.2013), meine Übersetzung und Kursivierung. 14 Tatsächlich findet sich diese Konkurrenz der Modelle in dem hier angedeuteten Hauptwerk von Gadamer. In Wahrheit und Methode werden sowohl die Metapher des Spiels als auch – wesentlich prominenter – die Metapher der Horizontverschmelzung diskutiert. Jedoch versäumt es Gadamer, diese Bewegungen auch topologisch zu denken, da sich letztlich alle Ebenen im Ereignis des Sinns vermitteln und präsent machen.

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chem Sinne die referentielle Funktion von Literatur zu begreifen ist, wenn weder einfache Allegorie noch der deutende Kommentar gemeint sind, nicht losgelöst von dem Problem der Darstellung zu begreifen ist, das der Roman ‘darstellt’. Wenn die Darstellung des Romans der Ausgangspunkt dieser Studie ist, dann auch, um den Einsatz dieser Gattung nicht in einem allzu allgemeinen Sinne zu theoretisieren und dadurch als eine kognitive Leistung narrativ konstruierter Wirklichkeiten¹⁵ historisch zu entschärfen. Der Roman wäre dann nämlich nichts weiter als eines von vielen Medien des allgemeinen Konstruktivismus’ von Lebenswelt. In diese Denkfigur schreiben sich funktionstheoretische Ansätze ebenso ein wie literaturanthropologische¹⁶, systemtheoretische¹⁷ wie auch psychosoziale¹⁸ Theorien über die figurierende Sprache. Die hier passende Formel, die gleichzeitig die angesprochene Entschärfung zu thematisieren erlaubt, ist die Rede von den Metaphern, mit denen (und eben nicht: in denen) wir leben.¹⁹ Diese Formel ist vor dem Hintergrund dessen, was sich mit Blumenberg als der kontextuelle Wirklichkeitsbegriff des Romans bezeichnen lässt, mit einer entscheidenden Pointe zu versehen, die das anthropologische Dispositiv dieser Ansätze mit der historischen These der Neuzeit präzisiert, wenn nicht gar unterläuft. Der Roman als Gattung einer in der Neuzeit erst denkbar werdenden Darstellungsproblematik von Wirklichkeit spezifiziert das konstruktivistische Moment in dem Sinne, dass der Nachvollzug dieser Konstruktion und nicht die Konstruktion selbst eine neuzeitliche Figur ist. Dieser Nachvollzug verrät mehr als eine kognitive Operation, da sie einerseits Effekt einer bestimmten Darstellung ist wie sie andererseits einem bestimmten Bedarf entspricht. Diese Darstellung nämlich hat nicht nur die Funktion, eine Wirklichkeit zu vermitteln oder zu strukturieren; vielmehr erweist sie sich als die Instanz, durch die Wirklichkeit fragwürdig bleibt. Nicht dass Wirklichkeiten konstruiert sind, ist also der entscheidende Punkt, sondern die Frage, inwiefern der neuzeitliche Wirklichkeitsbegriff Überschreitungen immer schon voraussetzt,

15 Vgl.: Jerome Bruner: The Narrative Construction of Reality. In: Critical Inquiry, 18 (Autumn 1991), S. 1–12. 16 Vgl.: Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003 [1993]. 17 Vgl.: Siegfried J.Schmidt: Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Perspektiven, Kontroversen. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993. 18 Vgl.: George Lakoff/Mark Johnson: Metaphors We Live By. Chicago: University of Chicago Press 1980. 19 Das Hauptwerk einer kognitiven Metapherntheorie von Lakoff/Johnson Metaphors we live by wurde ins Deutsche mit Leben in Metaphern übersetzt.

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wenn der Bezug auf den «harten Kern»²⁰ von Wirklichkeit immer schon den Umweg einer «wiederholte[n] Wirklichkeit»²¹ voraussetzt. So ist das «mit», von dem auch García Márquez in der Wendung einer mit uns lebenden Wirklichkeit spricht, nicht dahingehend zu verstehen, dass es hier nur um einen (subjektiven) Zusatz geht, der einer gegebenen (objektiven) Wirklichkeit aufgesetzt wird bzw. um eine subjektive Konstruktionsleistung, sondern in dem Sinne, dass der vermeintlich «harte Kern» der Wirklichkeit für das menschliche Leben nur als retroaktiv verfügbare Instanz einer qua Darstellung vergegenwärtigten gelebten Wirklichkeit denkbar ist: «La vida no es la que uno vivió, sino lo que uno recuerda y cómo la recuerda para contarla.»²² Diese Überschreitung in der Wirklichkeit durch eine Darstellung von Wirklichkeit als Darstellung (und zwar, wie zu zeigen sein wird, maximal literal) ist nachvollziehbar zu halten, entstellt zu wiederholen, damit der Mensch an Wirklichkeit nicht nur auf mythische, sondern auch auf historische Weise teilhaben kann. Das ist, kurz gesagt, für García Márquez die entscheidende Aufgabe der «Poeten, die alles glauben».²³ Jedoch ist dies der Fall – und das ist entscheidend –, nicht nur weil eine Figurierung durch eine andere ersetzt wird, sondern vor allem dadurch, dass Figurierung, wie ein Palimpsest zur Lebenswelt, ein äußerliches, aber nicht bezugsloses, ein in diesem Sinne metaleptisches Verhältnis zur Geschichte der Ereignisse erlaubt. Näher an den Worten von García Márquez formuliert: Differenzen in der Figurierung erlauben nicht durch Ersetzung eine Entlastung von einer mythisch erfahrenen Geschichte (de facto affirmiert die veränderte Figurierung bloß einen ungebrochenen Figurierungsbedarf), sondern dadurch, dass Geschichte nicht durch oder auch in uns, sondern eben mit uns lebt. Die ironische Distanz bezieht sich also weniger auf die Geschichte selbst, sondern darauf, dass Geschichte, um eine historische zu sein, nicht die Ereignissumme eines angestammten Ortes ist. Nach-mythische Geschichte setzt einen Akt der Selbstvergegenwärtigung voraus, der sich außerhalb dieser Lokalität denken kann, ja muss. Der Ort einer solchen Geschichte funktioniert insofern wie eine Darstellung, ja ist Darstellung, als ihm stets ein Überschuss einer immer auch anderen Geschichte eigen ist, die weder allein von dem Gegebenen sich ableiten lässt noch einfach von einem erzählenden Subjekt zu organisieren ist. So gibt es einen Spielraum für eine Rekonfiguration, der insofern für mehr als eine subjektive Figurierung von Welt steht, als es nicht da-

20 Slavoj Žižek: The Rhetorics of Power. In: diacritics 31.1 (Spring 2001), S. 98. 21 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 20. 22 Gabriel García Márquez: Vivir para contarla. Bogotá: Editorial Norma 2002, o.A. 23 Gabriel García Márquez: La soledad de América Latina, o.A., meine Übersetzung.

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rum geht, die Welt qua Fiktion zu erschließen oder deuten, sondern zu erproben und als selbst unhintergehbares Darstellungsproblem sichtbar zu halten. García Márquez deutet dieses transgressive Moment auch in seiner Autobiographie Vivir para contarla explizit als die wechselseitige Transgression zwischen fiktiver Figuration und lebensweltlicher Konstruktion an. In diesem ganz speziellen Falle bleibt unklar, ob CAS die eigene Biografie präfiguriert, so dass nicht zu entscheiden ist, ob nun die Erinnerung die Erzählung oder die Erzählung die Erinnerung zitiert. Das Leben, immerhin Gegenstand der Biografie, kommt nicht selbst zum Ausdruck, sondern hat in seiner Selbstvergegenwärtigung zur Folge, dass Erzählung und Erinnerung ununterscheidbar werden. Dass dieser an der Narration nachvollziehbare Effekt nicht für ein radikal-konstruktivistisches Argument gehalten werden sollte, verdeutlicht die Tatsache, dass García Márquez sich die Frage narrativer Figurierung, diskursiver Konstruktion und manipulierter Wirklichkeit auch dann und vielleicht sogar gerade dann stellt, wenn der Verlust der eigenen Lebensgeschichte droht. Dieser Verlust – so die ironische Pointe – wird nicht einfach durch eine Konstruktion kompensiert, sondern erweist sich gerade beim Versuch, die Geschichte des Subjekts zu erzählen, als ein produktiver, als ein er-findender und gerade nicht als ein konstruierter Verlust. Denn so wie die Narration eines Lebens und wahrscheinlich das Überleben selbst ein Vergessen erforderlich machen, so kann sich umgekehrt das ‘Erlebte’ durch eine ‘falsche’ Erinnerung bewahren: «Tal como olvidamos cosas que vivimos nos podemos recordar de algo que nunca vivimos.»²⁴ Das wiederum wäre nicht die schlechteste Bestimmung des Romans und impliziert die wie mir scheint nicht unbegründete Frage, ob es sich bei Vivir para contarla tatsächlich um eine Autobiographie handelt. Diese in der Darstellung sich anzeigende Überschreitung verweist für García Márquez auf einen sehr spezifischen Zusammenhang, den ich hier als eine mögliche Ur-Szene einer neuzeitlichen Darstellungsproblematik deuten möchte. Die von García Márquez vielfach zitierte koloniale Situation nämlich stellt vielleicht die idealtypische Situation dar, in der sich – auch und nicht zuletzt sprachlich – Wirklichkeit als Überlagerung, ja Überschreibung erweist. Für García Márquez bedeutet das, dass die Sprache in der kolonialen Situation sich nicht von den Dingen ableitet und auch nicht einmal theoretisch abgeleitet haben kann, dass sie nicht – um es mit Verweis auf den Romananfang von CAS zu formulieren – jener Welt entstammt, die so jung ist, dass ihre Dinge noch keinen Namen haben. Eine solche Welt wiederum, die keineswegs die absolut erste sein kann, bleibt natürlich immer insofern ‘zu jung’, als die Namen und Worte der Men-

24 Gabriel Garciá Márquez: Memoria de mis putas tristes. Bogotá: Editorial Norma 2004. S. 53.

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schen hier immer älter sind als das jeweils ‘Gegebene’, das wiederum – wie die als «huevos prehistóricos»²⁵ beschriebenen Felsen in Macondo – immer nur ein prähistorischer, also historisch nicht einzuholender ‘Ursprung’ sein kann. So manifestiert der Name in der kolonialen Situation, dass er gerade nicht für die Dinge selbst steht und auch kein heuristisches Modell für die Welt ist; er steht für eine Geschichte von Sprache, die in der von Paz²⁶ und auch Ribeiro²⁷ angestrengten Metapher der Transplantation in ihrer überschreitenden Logik offenkundig wird und die nicht zufällig sowohl einen Akt der Gewalt wie auch eine Überlebensstrategie benennt. Die Darstellung von Welt ist deshalb immer auch von einer (alten) Äußerlichkeit betroffen, die mehr als das Verhältnis von Zeichen und Bezeichneten zu problematisieren hat und auch mehr als die subjektive Darstellung des ‘objektiv’ sich nicht Fügenden. Welt als Lebenswelt ist im Roman eine Frage, die als Weltenvielfalt formal umgesetzt wird. Am Ende erweist sich Welt (wie auch die Frage des ‘Autors’) im Roman als dasjenige, dessen «harter Kern» nichts weiter ist als eine formale Leerstelle, die nur überschrieben werden kann, um gelebt zu werden und lebbar zu bleiben. Sandra Cisneros’ Arm ist selbst ein mehrfaches Palimpsest und problematisiert das Thema der Überschreitung mit einer ganz anderen Art von Palimpsest, das sich dadurch auszeichnet, dass sehr wohl die verschiedenen Einschriften bzw. Zitate, nicht aber, zumindest auf den ersten Blick, die Ebenen zu trennen sind. Zunächst und ganz offenkundig stellt die Tätowierung ein kulturelles Palimpsest dar. Die orientalische Sitzposition des sitzenden Buddhas wird von der Virgen de Guadalupe, der mexikanischen Nationalschutzheiligen, eingenommen. Die von Cisneros Buddhalupe genannte und somit Buddha verweiblichende Tätowierung ist aber auch in einem ganz literalen Sinne Palimpsest. Es ist ihr ‘neues’ Tattoo, das ein anderes, älteres überschrieben hat. Diese Umschreibung nimmt die Endgültigkeit und die damit assoziierte Essenz der Einschreibung, für die ja die Tätowierung steht, zurück. Die nicht minder unauslöschlichen, aber gemachten und eben nicht gegebenen Einschreibungen der Tätowierung stellen so den Brückenschlag zwischen Körper-Geschichte als kontingenter Gegebenheit bzw. Zuschreibung einerseits und Körper-Geschichte als Effekt und Ort subjektivierter Praxis andererseits. Die Tätowierung ist Einschreibung auf einer Haut und macht aus dieser, indem sie zur Unterlage der Schrift wird, selbst

25 CAS, S. 9. 26 Vgl.: Octavio Paz: La búsqueda del presente. In: «http://nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/1990/paz-lecture-s.html», (letzter Zugriff: 02.06.2012). 27 Vgl.: Darcy Ribeiro: Las Américas y la civilización, Parte 2: Los pueblos trasplantados: civilización y desarrollo. Buenos Aires: Centro Ed. de América Latina 1970.

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einen Aspekt von Schrift oder zumindest zum bedeutungsgebenden Hintergrund, auf dem die Prozesse der Differenzen verhandelt werden. Haut und Körper wird so sprichwörtlich eine Geschichte eingeschrieben, die in der verletzenden Einschreibung erst die Prozesse der Zuschreibung explizit macht. Anders als es Octavio Paz²⁸ mal formulierte steht die Verletzung der Einschreibung oder genauer: des Sich-Einschreibens hier nicht für das Opfer eines (vormodernen) Selbst, sondern soll ein Prozess der rettenden Selbstbehauptung sein. Eine vergleichende Lektüre zu dem berühmten Essay El espejo indiscreto von Octavio Paz bietet sich hier insofern an, als die Referenz der USA als moderner Nation (und ihr entsprechender Begriff moderner Subjektivität) wie auch die Referenz auf das 19. Jahrhundert als einer der Wendepunkte in dieser Geschichte des Modern-Werdens der mexikanischen Nation auch für Sandra Cisneros eine Referenz sind, wenn auch aus einer denkbar anderen Position als der des mexikanischen Nobelpreisträgers. Doch findet sich eine entscheidende strukturelle Gemeinsamkeit: Wie auch bei Paz hat diese Fremdreferenz zur Folge, dass nach einem Selbst gefragt wird, das vom Verlust bedroht ist, wenn es stumm bleibt. Eine zumindest romantheoretische bedenkenswerte Pointe in Paz’ durchaus problematischer These der Selbstopferung²⁹ ist nun nicht eine vermeintliche Entfremdungsthematik, sondern die Tatsache, dass die Entscheidung, sich selbst als modern zu vergegenwärtigen, zu einer schier endlosen Suche nach jenem Selbst führt. Anders gesagt: Das Problem der Moderne ist hier (und wie schon die mexikanische Mimikry der US-amerikanischen Moderne es nahelegt) auch ein Problem der Explikation. Der Wille zur (Selbst-)Vergegenwärtigung und Selbstbehauptung ist, wie zu zeigen sein wird, eine für den Roman grundlegende, in sich aporetische und darin zutiefst neuzeitliche Figur. Doch zurück zu der Strategie der Einschreibung: Statt also opfernd in eine Moderne, deren strukturelle Bedeutung für den Roman noch zu diskutieren sein wird, sich einzutragen, soll diese Moderne im Akt des In-sich-Einschreibens pluralisiert werden. Das Mittel der Wahl ist hierfür eine semiotische Praxis, die eine

28 Vgl.: Octavio Paz: El espejo indiscreto. In: Ders.: México en la obra de Octavio Paz. El peregrino en su patria. Madrid: Fondo de Cultura Económica 1988, S. 413–435. Dort heißt es: «Al principiar el siglo XIX decidimos que seríamos lo que eran ya los Estados Unidos: una nación moderna. El ingreso a la modernidad exigía un sacrificio: el de nosotros mismos. El conocido resultado de ese sacrificio: todavía no somos modernos, pero desde entonces andamos en busca de nosotros mismos.» (419) 29 Ich kann hier nur die Pointe andeuten, dass Paz speziell in El laberinto de la soledad die (Selbst-)Opferung als eine ebenso alt-mexikanische wie auch national-mexikanische Figur deutet, so dass sich die Frage aufdrängt, inwiefern diese Moderne nicht auch fundamental ʻmexikanischʼ ist.

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Geschichte jenseits seines angeblich ursprünglichen Kontextes in den Darstellungen des Subjekts als ein sich selbst darstellendes Subjekt leb- und lesbar halten möchte. Statt bloß zu suchen und nicht zu finden, greift das Subjekt in den Prozess der Zuschreibung aktiv ein und macht so aus Zuschreibungen Einschreibungen, die das Subjekt sich selbst geben kann. Man kann hier leicht eine Form semiotischer Praxis identifizieren, die heute als Gender-Mainstreaming auch institutionelle Weihen erfahren hat. So lässt Cisneros ihre Protagonistin Esmeralda in The house on Mango Street ihre eigenen und nicht gender-konformen Habitus mit folgenden Worten kommentieren: «I have begun my own quiet war.»³⁰ Von hier ausgehend ließe sich an viele kultur- und diskurstheoretische Ansätze anschließen, die nicht nur die narrative Konstruktion von Wirklichkeiten diagnostizieren, sondern diese kulturelle Praxis (de Certeau) als eine von Machtverhältnissen durchzogene und bestimmte begreifen. Eine als ironische Bewegung sich zeigende Darstellung bezieht sich hier nicht in erster Linie auf die narrative Transformation der Welt als bloßer Positivität in eine immer schon bestimmte Wirklichkeit, also im weitesten Sinne eine über den Vollzug des menschlichen Lebens ermöglichte Interaktion zwischen Welt als (geschlossenmythischer) Natur und Welt als (immer schon gesetzter) Kultur. Das Zitat stellt hier eine Art der Überschreitung in den Vordergrund, die eine Art ironischer Distanznahme vollzieht. Dadurch, dass die Erzählung beständig in ihrem Fluss unterbrochen wird, sich wie in Caramelo ständig im Zitieren, Kommentieren und Übersetzen befindet, wird Sprache selbst zum Ort, an dem die Bedingungen und Möglichkeiten historischer Konstruktion verhandelt werden. Konstruktion ist dabei nicht ein Verfahren, eine schon vorhandene Geschichte ihrer amorphen Stummheit zu entreißen. Im Gegenteil: Konstruktion ist hier Ausweis von Diskontinuität, Zeuge einer Reise und ist grundsätzlich eine Arbeit an der Darstellung und ihrer Regime. Die Palimpsestmetapher macht so aus dem Subjekt einen Schauplatz einer solchermaßen verstandenen Ironisierung. Die Prosa der Chicana-Autorin Sandra Cisneros verdeutlicht dies mit der Praxis einer multifokal sich artikulierenden Stimme. Die Sprache des Romans zeigt die vielfachen Bezüge und Bedingungen jedweder kommunikativer Praxis auf, und insbesondere wird die Zuschreibung auch im Sinne einer kontextualisierenden Zuschreibung als ein Element sprachlicher Valenz offenbar und somit denaturalisiert. Eine ironisierende (weil die Sprache nicht direkt auf die Sache beziehende) Bewegung von Sprache wurde schon durch die von Bachtin diagnostizierte kul-

30 Sandra Cisneros: The House on Mango Street. New York: Random House 1991 [1984], S 89.

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turelle und soziale und nicht zuletzt: moderne bzw. neuzeitliche Dialogizität des Romans theoretisiert und stellt ein geradezu paradigmatisches Beispiel für die Kontexthaftigkeit und Kontextvielfalt von Sprache in modernen und dezentrierten Kulturen dar. Dialogizität ironisiert die Einheit der Sprache des monologischen Sprechens und die jedes autoritären Sprechens, das seine Zuschreibungen absolut setzen möchte und dabei dennoch auf eine nur relational einzuholende Ordnung und eine am Subjekt idealtypisch nachzuvollziehende relationale Logik rekurrieren muss. Dies aber wird nur dann sichtbar, wenn die Zuschreibung ihrer Zitatförmigkeit überführt wird. Die in diesem Sinne zu verstehende Karnevalisierung des sprachlichen Codes erlaubt es, sich der Logik des «Niederschlags»³¹ bzw. der Zuschreibung zu entziehen und zwar dadurch, dass «in einer bestimmten modernen Literatur»³², deren Form auch der Roman ist, die vermeintliche Natürlichkeit der sprachlichen Bezüge suspendiert und durch eine Einschreibung als eine neue und andere Bezüge aufweisende Praxis ironisiert wird. Das Subjekt – und dadurch wird es historisch – hat demnach nicht eine Sprache unmittelbaren Ausdrucks zur Verfügung, sondern eine immer schon zitierende und in diesem Zitat potentiell entstellende, rekonfigurierende Sprache. Doch betrifft dies nur eine Seite dieser semiotischen Praxis und würde verkennen, dass es hier nicht nur Umcodierung von Geschlechter- und sonstigen Rollen geht. Denn auch wenn die Einschreibung zweifelsohne ein Akt der Aneignung ist und das Palimpsest auch eine semiotische Praxis zum Ausdruck bringt, die sich in ein Kräftefeld ebenso einträgt wie es dieses in seiner Logik befragen will, so ist doch nicht unwesentlich, was und wie zitiert wird und inwiefern es problematisiert wird und welche Effekte es auch jenseits dieser Praxis eines «stillen Krieges» hat. Oder um es mit Kristeva zu sagen: Die Praxis des Semiotischen kann nur um den Preis der Psychose auf das Symbolische verzichten bzw. – sensu Paz – auf die Phantasie eines Selbst vor der Einschreibung. Dann jedoch ist nicht nur die Zuschreibung das, was das Subjekt zurichtet, sondern ebenso die Art und Weise, wie an der Darstellung selbst die Ökonomien und Ordnungen von Innen und Außen verhandelt werden – eine Operation, die auch für das, was ich weiter unten im Weltbegriff des Romans diskutieren werde, begründend ist. Auch wenn es so scheint, als könne das Subjekt in der Entstellung der hegemonialen Zuschreibungen zu seiner Geschichte finden, muss es doch, wenn man das Problem der Darstellung ernst nimmt, sich gleichzeitig und in einer geradezu metaleptischen Bewegung als eine selbst wieder zu rela-

31 Julia Kristeva: Die Revolution, S. 40. 32 Ebd., S. 42.

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tionierende Artikulation erkennen, die immer auch Teil einer anderen Geschichte ist. An dieser Stelle nun, so meine These, gewinnt für Cisneros das Darstellungsproblem des Romans an entscheidender Bedeutung. Speziell der Roman Caramelo macht nämlich deutlich, dass auch das Zitieren selbst eine Geschichte hat, mehr ist als Mittel und selbst seine Geschichte auch immer einfordert und sich einer letzthinnigen Aneignung verweigert. Diese Widerständigkeit des Zitats macht auf eine andere, immer vorläufige Geschichte aufmerksam, die, wie der Krieg, eine stille Geschichte ist, aber aus anderen Gründen als der Krieg: nicht sich zeigend, sondern fortwirkend, nicht eine Logik der Mittel verkörpernd, sondern eine Logik der stummen Persistenz vollführend, die in der Artikulation selbst zugegen ist. Ein anderer Aspekt der Haut wird offenbar, der auch, durchaus polemisch, begründend ist für den ChicanaFeminism und eine ihm vorgeworfene Esoterik³³, sofern diese Problematik sich nicht restlos in der Frage der Geschlechterordnungen auflösen lässt bzw. diese gleichzeitig in eine andere metatheoretische Frage überführt. Der Untergrund des Zitats, die Haut, lässt sich nicht einfach als Oberfläche der Einschreibung in die Logik der Mittel überführen; obendrein ist sie auf eine durchaus widerständige Weise präsent, sofern hier Geschichte sich sowohl einem sich emanzipierendem Subjekt als auch dem jeweils gegenwärtigen Kontext entzieht, so dass auch das Subjekt und der aufgerufene Kontext durch diese andere Geschichte selbst perspektiviert werden können. Der sichtbare oder besser: sichtbar gemachte Hautton stellt eine historisch kontingente und gleichermaßen ‘faktische’ (da widerständige) Existenzweise des Subjekts aus. So sehr damit auf die Tatsache referiert ist, dass sich Differenzen in einem bestimmten Kräftefeld auf eine relationale Weise zur Bedeutung gelangen und konkret: dass ein Farbton nicht aus sich selbst heraus zu einem solchen wird, so sehr scheint sich der Verdacht zu erhärten, dass dieser Farbton (vielleicht wie auch das Geschlecht) für die Erzählerin Lala nicht restlos zu relativieren ist. Die Übersteigerung des sinnlichen Eindrucks jedenfalls scheint hierfür ein starker Beleg: Until I met Candelaria I think beautiful is Aunty Light-Skin […] Candelaria […]. Her skin a caramelo. A color so sweet, it hurts even to look at her.³⁴

33 Exemplarisch hierfür ist die Debatte zwischen Cherrie Moraga und Judith Butler. Vgl.: Paula Moya: From Postmodernism, ‚Realism,‘ and the Politics of Identity: Cherríe Moraga and Chicana Feminism. In: Gilbert, Susan M./Gubar, Susan (Hg). Feminist literary theory and criticism: a Norton reader. New York: W. W. Norton 2007, S. 787–797. 34 Sandra Cisneros: Caramelo. Or puro cuento. London: Bloomsbury 2002, S. 34–37, kursiv im Original.

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Der Schmerz, den dieser Blick offenbart, mag viele Motivationen haben: die in Caramelo von der Familie Reyes mitunter schamvoll betriebene Verdrängung des Indigen in Mexiko und in der eigenen Familie oder aber ein nicht zugelassenes homoerotisches Begehren der Erzählerin Lala von etwas, was ihr schon längst entfremdet ist und auch bleiben wird und sich nur noch – quasi als eine Art memoire involontaire – über ein sinnliches Register vermittelt, ohne selbst artikulierbar zu sein. Inwiefern ist dies romantheoretisch relevant? Auch hier gilt es, auch wenn es die Diskurse der Chicana-Literatur mehr als anbieten, nicht nur Strategien und Prozesse der diskursiv-performativen Subjektivierungen zu erblicken und so die romantheoretische Implikatur zu verdecken. Die im Roman paradigmatisch werdende Logik einer multikontextuellen und auch selbst widerständigen Schrift lässt sich zwar hervorragend an einem Subjekt wie der schreibenden und sprechenden Autorin problematisieren, ist aber auch hier mehr als eine Frage des Subjekts, die dennoch nicht ohne den ‘Umweg’ eines problematisch werdenden Subjekts nachvollzogen werden kann. In diesem Sinne möchte ich eine andere These über diesen Schmerz lancieren: Schmerzhaft ist der Anblick dieser süßen Farbe, weil hier eine Geschichte material bleibt auf einer Ebene, die zuvor in der Strategie der Einschreibung nicht minder Gegenstand von Umschreibungen und Umdeutungen sein konnte als jedwede andere Symbolik. Die Haut wird lesbar als eine Sprachmetapher, in der Sprache – aller «healthy lies»³⁵ zum Trotz – nie nur Ort und Mittel einer (Selbst-)Behauptung ist. Etwas an Sprache ist der Symbolisierung vorgängig und markiert damit auch einen Widerstand einer anderen Geschichte, die zwar gegenwärtig wird in der Artikulation, aber eben nicht verfügbar. Das ist insofern ein romanästhetisch aufschlussreicher Aspekt, als hier eine für den Roman und seinen Weltbegriff unvermeidliche Darstellungsproblematik zum Tragen kommt. Die Darstellung bleibt gegenüber der Evokation resistent und das nicht, weil die Welt selbst resistent wäre oder weil das Subjekt sich in dieser nicht finden kann, sondern weil das Problem der Darstellung in ihm nicht vollends zu überwinden ist, sich einer Intention nicht beugt und gewissermaßen selbst eine Intention repräsentiert. Der Roman ist also auch aus Sicht des Sprechen machenden Subjekts eine Gattung, die ihre Welt nur unter dem Vorbehalt von Darstellung zu entwerfen erlaubt und damit immer schon eine sich entziehende, in Lektüre sich exemplarisch artikulierende Kontextvielfalt aufruft, in der das Zitat ein ebenso souveräner wie resignierender Akt sein kann. Diese Ambivalenz ist vermutlich auch einer der Gründe, weshalb Cisneros nach der Novelle einer Subjektwerdung (The House on Mango Street) mit Cara-

35 Sandra Cisneros, Caramelo, o.A.

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melo einen Roman der Historisierung verfasst hat, der vor allem die Geschichte der Geschichte fingiert und in dieser beständigen Selbstkommentierung und Selbstlektüre auch die Esoterik einer alten Geschichte³⁶ unterwandert. Diese Widerständigkeit des Zitats jedoch kann nicht Garant einer echten untergründigen Natur mehr sein; Renaturalisierung ist keine Option mit einer dem Roman nur gemäßen (Selbst-)darstellung, die Cisneros als eine spezifisch migratorische Logik deutet «[…] caught between here and there».³⁷ An dieser Spannung, die sich bei Cisneros an der Darstellung des Subjekts (in beiderlei Sinne) einstellt, deutet sich etwas an, was schon Lukács in seiner Romantheorie angedeutet hatte und was sich in deutlicher Spannung zur Politik und auch Geschlechtermetaphorik einer Sandra Cisneros lesen lässt, ohne dass dabei die grundsätzliche Problematik eine andere wäre. Denn der Kampf um die Positionen und Zuschreibungen mag zwar vor Resignation bewahren, aber das Unvollkommene auch einer angeeigneten Welt nicht wettmachen: Der Roman ist die Form der gereiften Männlichkeit; das bedeutet, daß das Abschließen seiner Welt objektiv gesehen etwas Unvollkommenes, subjektiv erlebt eine Resignation ist.³⁸

Der beständigen Selbstkommentierung der Erzählung in Caramelo – etwas, was in The House in Mango Street nicht in dem Maße, wenn überhaupt zugegen ist – ist schon formal die Resignation abzulesen, Geschichte nicht als etwas Vollkommenes zu erleben oder konstruieren zu können. Dies ist ein ‘Mangel’, über den auch der Prozess der Aneignung nicht hinwegtäuschen kann, ja, den er im Grunde noch weiter verstärkt und in dem sich sein kritischer Einsatz, wenn auch unter anderem Vorzeichen, gewissermaßen behauptet. Jenseits der Frage des Geschlechts und doch hier nur anhand einer problematisch werdenden Geschlechtermatrix nachzuvollziehen, bleibt die Frage der Welt, die ich hier in einer romantheoretischen Wende nicht als das Problem der Totalität, sondern speziell als das der romanhaften Darstellung von Wirklichkeit in der Neuzeit verstehe. Es ist die Form des Romans und der mit ihm auftretende Anspruch, nicht nur ein Subjekt, sondern auch eine Welt darzustellen, die das Zitat gewissermaßen gegen sich selbst ironisiert und in Cisneros’ Prosa eine weitere Problematik von narrativer Konstitution bringt. Unmittelbar vor der These der gereif-

36 Dafür steht in Caramelo mehr als augenfällig die «awful Grandmother», die der Erzählerin bei der Rekonstruktion ihrer Geschichte sekundiert. 37 Ebd., S. 434. 38 Georg Lukács: Theorie des Romans, S. 64.

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ten Männlichkeit hatte Lukács dieses Formproblem des Romans angesprochen und es als eines beschrieben, das nicht nur ein «reines Formproblem» ist: Die Dissonanz der Romanform, das Nicht-eingehen-Wollen der Sinnesimmanenz in das empirische Leben gibt ein Formproblem auf, dessen formeller Charakter viel verdeckter ist, als der anderer Kunstformen, das wegen dieser seiner scheinbaren Inhaltlichkeit ein vielleicht noch ausgesprocheneres und entschiedeneres Zusammenwirken von ethischen und ästhetischen Kräften erfordert, als es bei evident reinen Formproblemen der Fall ist.³⁹

Es scheint nur folgerichtig, dass sowohl für Cisneros wie auch für Lukács – eine denkbar ironische Koinzidenz – die reife Persönlichkeit mit einer geschlechtlichen Zuordnung ausgestattet sein muss, um erst dann – aller Differenzen zum Trotz – eine Erfahrung des Unvollkommenen machen zu können, durch die ein ansonsten «verdecktes» Form-Problem manifest wird. Verdeckt wie es ist, verweist dieses Problem (und die geschlechtliche Konnotation ist hierfür ein beredtes Zeugnis) auf ein «Zusammenwirken von ethischen und ästhetischen Kräften» bzw. auf ein Doppel von symbolischen und semiotischen Aspekten in der romanhaften Darstellung selbst. Dieses Doppel ist deshalb eine Dissonanz, da – wie es einer gereiften Persönlichkeit nur gemäß ist – die Darstellung einer Welt nie nur die eines Subjekts sein kann, nicht im Subjekt und sei es als Widerspruch versöhnt werden kann, da es sich stets in einer ihm auch äußerlichen ‘Rolle’ erfährt. Die Prozesse der Um- und Überschreibung, eine in den Tätowierungen grundsätzlich lokal entworfene Praxis der Präsenz, wird also sekundiert durch eine weitere Logik des Palimpsests, die ebenfalls im Foto anzutreffen ist und die gleichermaßen als produktionsästhetisches Paradigma von Cisneros’ Prosa gelten darf: das ‘echte’, da äußerlich bleibende Zitat. Das Zitat nun, das vor allem für eine sprachliche und kulturelle Mobilität steht, macht explizit, welche alte, andere Geschichte dies sein könnte, die sich da jenseits der gender troubles manifestiert: Das, was wie eine Stola halb über der rechten Schulter hängt und im Bildvordergrund um den linken Arm gewickelt ist, ist ein seit der spanischen Kolonialzeit des mexikanischen Vizekönigreichs üblich gewordener rebozo, ein ursprünglich vor allem von indianischen Frauen getragenes Kleidungsstück, das eigentlich dazu diente, beim Kirchenbesuch die freiliegenden Schulterpartien zu bedecken. Die kostbarsten dieser rebozos werden auch heute noch in San Luis de Potosí hergestellt und der Name eines solchen, rebozo caramelo, liefert

39 Ebd.

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den Titel und in einem gewissen Sinne auch den Stoff für Sandra Cisneros’ Roman. Der rebozo ist der Tätowierung strategisch⁴⁰ entgegengestellt: Nicht umsonst ist seine Funktion das Verdecken. Statt Effekt einer Sichtbarmachung und kontextuellen Zuschreibung und einer darauf (re-)agierenden Umschreibung qua Einschreibung zu sein, ist der rebozo insofern widerständiges Zitat, als es zwar Aneignung, nicht aber Einverleibung zulässt. So erweist sich in Cisneros’ Roman die Kompetenz des Zitierens einerseits als eine unverzichtbare Kompetenz, wenn das Subjekt sich bestimmen und behaupten möchte, selbst also in das Spiel der relationalen Differenzen eingreifen möchte und im Zitat die etablierten Relationen destabilisiert, sich ihnen entzieht und sie rekonfiguriert und so dem Verfahren der von außen erfolgten Zuschreibung das aneignende Zitat entgegensetzt. Nur so kann aus seiner historischen Kontingenz von Differenzen eine angeeignete Geschichte werden. Andererseits jedoch und einer ‘losgelösten’ performance widersprechend, scheint es, dass das Subjekt gerade beim Versuch die Geschichte und die Zitatförmigkeit der Zuschreibung aufzudecken und umzudeuten, auf eine im Zitat selbst verdeckte und verdeckende Geschichte stößt, die als ein «Nicht-eingehen-Wollen der Sinnesimmanenz in das empirische Leben» nicht unpassend beschrieben ist. Dieser Arm auf dem Foto ist ein Palimpsest, das verschiedene Artikulationen und Artikulationsweisen des Subjekts aufzeigt. Dadurch aber, dass dieses Palimpsest ein alles andere als konsistentes Zusammenspiel von Hautton, Tätowierung, überschriebener Tätowierung und Kleidung präsentiert, wird eine zwar vom Subjekt nicht zu trennende, aber eben nicht ausschließlich auf das Subjekt sich begrenzende Darstellungsproblematik offenbar. Die Oberfläche der Darstellung ist in ihrer Unvollkommenheit von einer eigenen Geschichtlichkeit, die nachzuvollziehen für Cisneros nur über die Frage des Subjekts geht. Nicht überraschend benutzt Sandra Cisneros Formen autobiografischen Schreibens in einer zweifelsohne ambivalenten Weise, die man mit Trigo als die Strategie einer «bifokalen Hermeneutik»⁴¹ bezeichnen könnte und die ich zuvor para-biographisch genannt habe. Das para-biographische Element in The House in Mango Street bezieht sich vor allem auf eine Spaltung, die sich darin anzeigt, dass dieser Roman einerseits als Ausdruck einer bestimmten Lebensgeschich-

40 Zum Begriff der Strategie in der feminist-chicana-Literatur, siehe: Anja Bandau: Strategien der Autorisierung. Projektionen der Chicana bei Gloria Anzaldúa und Cherríe Moraga. Hildesheim: Olms 2004. 41 Abril Trigo: General Introduction. In: Del Sarto, Ana/Ríos, Alicia/Trigo, Abril (Hg.): Latin American Cultural Studies Reader. Duke: Duke University Press 2005, S. 5, meine Übersetzung.

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te fungiert, also im Sinne eines kritischen Bildungsromans argumentiert und andererseits die Entfernung zu dem Ort dieser Geschichte zur Voraussetzung dieser Erzählung macht und damit im gleichen Augenblick den Duktus des unmittelbaren Ausdrucks zurücknimmt: «Mango says Goodbye sometimes.»⁴² In Caramelo besteht der para-biographische Zug darin, dass die Geschichte eines Mädchens, das der Autorin emotional, nicht aber empirisch entsprechen soll⁴³, statt zum Subjekt einer individuellen oder kollektiven Erfahrung, zum Fluchtpunkt einer sich über mehrere Jahrhunderte erstreckenden Migrationsgeschichte wird, die dieses Subjekts nur bedingt bedarf, sofern es nicht in diesem selbst eine privilegierte Explikation erfährt. In ihm und seiner Art, die verschiedenen Vergangenheiten und Gegenwarten zu erleben, verdichtet sich eine diskontinuierliche Geschichte kultureller Übersetzungen, die sich im ständig unterbrochenen Erzählfluss materialisiert, so dass im Subjekt der Erzählung sich das ‘Subjekt’ einer langen Geschichte artikuliert. Diese Stränge zusammenzuweben, kann sich zwar des Dispositivs des subjektiv-autobiografischen Narrativs bedienen, übersteigt dieses aber, sobald das Subjekt sowohl seine eigene Historizität wie auch die der ihm verfügbaren Sprache erlebt und die Eigengesetzlichkeit des narrativen Gedächtnisses⁴⁴ unter den Bedingungen einer de-essentialisierenden Migration anerkennt. So ist es zu verstehen, dass diesem Roman ein auf den ersten Blick konstruktivistisches Argument vorangeschickt wird – «After all and everything only the story is remembered.»⁴⁵ –, um ihm am Ende eine andere und sehr bestimmte Pointe zu verleihen. Denn Aneignung und Einschreibung führen im Falle einer Geschichte, die als Migrationsgeschichte gedacht wird, nicht nur in diesem konstruktivistischen Sinne zum para-biographischen Gestus, um sich eine Geschichte zu geben bzw. konstruieren. Das nämlich würde durchaus die Unterscheidung zwischen einer rhetorischen und einer empirischen Biografie ermöglichen und die Frage der Migrationsbiographie als eine genuin rhetorische und auf ein bestimmtes diskursives Kräftefeld bezogene Frage zu deuten erlauben. Stattdessen – und das wird in Caramelo unablässig betont – ist die in der Darstellung erfolgende Ununterscheidbarkeit zwischen rhetorischer Aneignung, lebensweltlicher Erfahrung und narrativer Figurierung deshalb von Bedeutung, da der (para-biographische) Roman schon selbst jenen Zwischenraum zwischen

42 Sandra Cisneros The house, S. 110 43 Sandra Cisneros: Conversation with Ray Suarez. In: «http://www.pbs.org/newshour/bb/entertainment/july-dec02/cisneros_10-15.html» (Letzter Zugriff 20.06.2013), o.A. 44 Vgl.: Jan Assmann: Religion und kulturelles Gedächtnis: Zehn Studien. München: C.H. Beck 2007. 45 Sandra Cisneros: Caramelo, o.A.

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Hier und Dort materialisiert, der für eine Migrationsgeschichte konstitutiv ist: «Like all emigrants caught between here and there»⁴⁶ ist deshalb nicht nur der letzte Satz des Romantexts, sondern die folgerichtige Ergänzung des narrativ-konstruktivistischen Arguments, das den Roman eröffnet und der auch auf die story selbst zu beziehen ist. Die Eigenlogik der story mit ihrem «between» unterläuft den organischen Zusammenhang einer biographischen Narration. Nicht überraschend tauchte dieses Zwischen schon in der Leitmetapher des Romans auf. Der rebozo, «made of ends and odds found here and there»⁴⁷, verweist auf die Unmöglichkeit, in dem Roman allein eine Erzählung zu lesen. Es ist gerade die Aneignung und das Suchen der Geschichte, die ihre Einheit entstellt und zwar weil schon die Logik des Erzählaktes und die der zu erinnernden story eine Vielzahl unvermittelter Logiken und Kontexte miteinander verzahnt. Ein nur scheinbar paradoxer Schluss könnte daher lauten, dass die Spezifik der migratorischen Geschichte und Biografie offenlegt, in welchem Maße jede Geschichte und Biografie als eine diskontinuierliche Bewegungsgeschichte zu begreifen ist. Dafür liefert nicht zuletzt die Geschlechterökonomie – stets zwischen externer Konstruktion und intern verhandelter Aneignung oszillierend – eine schlagende Evidenz. Das Zitat, Inbegriff sprachlicher Mobilität, erweist sich so als ambivalent: So wie es erlaubt, den Körper und die an ihm lesbar gemachte Geschichte nicht im Regime der Essenz zu denken und manifest macht, dass um anders zu zitieren, es lediglich einer anderen Relation bedarf als der gegebenen, es also der Fähigkeit bedarf, anders zitierend «not here»⁴⁸ zu sein, so sehr kehrt sich dieses «not here» des Zitats gegen eine restlose Einverleibung. Das ist die entscheidende Spannung, den Cisneros’ Familiensaga schon im Titel trägt: Caramelo, klare Referenz an den rebozo caramelo, ist zweierlei und das zugleich: sowohl die mexikanische Stola wie auch jener spezielle Hautton an dem Lala, die Erzählerin des Romans, ihre Phänomenologie von Differenzen entwickelt und der gleichzeitig eine Farbe beschreibt, die sich in ein schon präpariertes Feld der Differenz nicht integrieren lässt. Das Accessoire des rebozo caramelo wird zum überdeterminierten Zitat und kann so nur teilweise in die Praxis der Aneignung überführt werden. Sowohl indianischen als auch spanischen Ursprungs lässt diese Stola selbst mehrere Ursprungserzählungen zu, die sprachlich bzw. namentlich bis in die ersten kolonialen Berichte belegt sind und deren hauptsächlicher Effekt des Verdeckens (auch von Weiblichkeit) mir den oben zitierten Schmerz zu motivieren scheint. Ein Teil der Geschichte bleibt stumm, zumindest seit mit La Malin-

46 Ebd., S. 434. 47 Ebd., o.A. 48 Ebd., 3

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che jene Übersetzung in die Geschichte kam, die Paz⁴⁹ für Mexiko als die eines Verrats deutete – ein Vorwurf, den in Caramelo die «awful grandmother» an die Erzählerin richtet. Sollen diese vielfachen Bewegungen, die sich zwischen verschiedenen Diskursen bzw. Gattungen und kulturellen Codierungen beobachten lassen, innerhalb einer verwendeten Sprache als Spannung zwischen Sprache und Sprecher bzw. Sender romantheoretisch gelesen werden, dann unter der Maßgabe, dass die für Cisneros so wichtigen Politiken des Subjekts zwar eine mit dem Roman virulent werdende Frage der Vielfalt für eine Praxis der kulturellen Vielfalt einspannen, aber dabei das Problem der Darstellung nicht kassieren. Insbesondere in Caramelo zeigt sich, dass sich die Politik des Subjekts nicht trennen lässt von der Frage der Darstellung, sobald – und das ist romantheoretisch der entscheidende Punkt – die (und eben nicht nur seine) Welt zum Problem wird. Wie es das widerständige, immer auch äußerlich bleibende Zitat belegt, kann die Darstellung schon deshalb nie nur eine integrative Darstellung der Vielfalt von Welt selbst sein (also, jene kulturelle Vielfalt, die sich in den Tätowierungen findet), da das Zitat auch verdeckt, den Erzählakt selbst zum äußerlichen macht und somit auch für eine Desintegration steht. Dem Zitat ist als Darstellung (und eben nicht bloß als Praxis) eine ebenso desintegrierende Vielfalt eingelassen, die aus dem «not here» eine Figur des Verlusts und nicht nur des Widerstands macht. Der hyperbolisch zitierte Farbton von Candelaria steht für die materiale und doch nicht zu deutende Präsenz von Zitaten, die das Problem der (Roman-)Darstellung ausmacht. Diese Frage, diese Ambivalenz, ja dieser Widerspruch sind in Cisneros’ Romanwerk ständig zugegen und ‘stören’ den Erzählfluss in Caramelo ununterbrochen und machen den Willen zu einer souveränen Selbstvergegenwärtigung zu jener endlosen Suche, von der schon – wenn auch nur in einem strukturellen Sinne vergleichbar – Paz sprach. Die äußerlich bleibenden Zitate artikulieren auf der Ebene des sprechenden Subjekts eine für den Roman begründende Äußerlichkeit auch der angeeigneten Sprache und Darstellung. Romane sind – das wusste schon Cervantes – immer nur Stiefkinder, ihre leiblichen Väter oder wie bei Cisneros der Fall: ihre Großmütter sind immer nur (ironisch) im jeweiligen Roman selbst zu behaupten.

49 Vgl.: Octavio Paz: El laberinto de la soledad. México D.F.: Fondo de cultura económica 1981 [1950]. Dort heißt es: «Y del mismo modo que el niño no perdona a su madre que lo abandone para ir en busca de su padre, el pueblo mexicano no perdona su traición a la Malinche.» (90). Es ist eine nur am Rande, aber sicherlich bemerkenswerte Ironie, dass in Caramelo just der Vater ‘gefunden’ wird. Zur Figur der Malinche und der verräterischen Übersetzung siehe auch: Bolívar Echeverría: La modernidad de lo barroco. México D.F.: Ediciones Era 1998.

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Der Spiegel, an den sich Roberto Bolaño anlehnt, ist ebenfalls Zitat, aber ein anderes Zitat, eine andere Art Palimpsest, das statt Unvermitteltes in seiner Koinzidenz aufzuzeigen (García Márquez) oder Widersprüchliches zu verdichten (Cisneros), von sich weg weist. Man könnte meinen, der Spiegel verdopple Roberto Bolaño in sein narratives Alter Ego, das unter dem Namen Arturo Belano den Großteil seiner Bücher verfasst haben soll. Doch wie das Pseudonym dem eigenen Namen nur in seiner Silbenanzahl und -betonung entspricht, also in einem strukturell-morphologischen Sinne, so ist auch diese Spieglung keine, die Identität sichert, keine, in der sich das Subjekt zum Ich formt. Der Spiegel zitiert das literarische Motiv und die literarische Technik der Spiegelung. Wie die Bilder eines Borges, der von Bolaño immer wieder und immer anders zitierte Meister verwirrender Spiegel und Spiegelungen, es schon vermuten lassen, verliert selbst das abscheulichste Spiegelbild seinen Schrecken, wenn man sich fragt, was sich im Spiegelbild entzieht. Der Spiegel ist nicht umsonst einer der immer wiederkehrenden Alpträume des Argentiniers: Yo siempre sueño con laberintos o con espejos, salvo que en el sueño del espejo aparece otra visión, otro terror de mis noches: la idea de las máscaras. Las máscaras siempre me dieron miedo, sin duda sentí que si alguien usaba una estaba ocultando algo horrible. A veces en mi sueño –y éstas son las pesadillas más terribles– me veo reflejado en un espejo, pero me veo con una máscara. Tengo miedo de arrancar la máscara porque temo ver mi verdadero rostro, que es atroz. Ahí puede estar la lepra o el mal o algo más terrible que cualquier imaginación mía.⁵⁰

Der Spiegel spielt das Doppel von Zeigen und Verdecken voll aus. Im schlimmsten oder auch besten Falle – je nach Präferenz und Sachlage – zeigt der Spiegel das, was sowieso schon zu sehen bzw. nicht gut zu vergessen war. Das Spiegelbild wird zu einem verdeckenden Bild, das nicht zuletzt den Raum jenseits der Darstellung, in dem der Gespiegelte steht, aufzudecken verhindert. Eine solche Erfahrung des Raumes liegt auch dem Labyrinth zugrunde, das die mangelnde Übersicht in den Raum einerseits in eine beängstigende Verirrung sich spiegelnder Wege übersetzt, aber andererseits in dieser Beschränkung von einer schrecklichen Offenbarung entlastet oder diese zumindest aufschiebt: Yo diría que tengo dos pesadillas que pueden llegar a confundirse: tengo la pesadilla del laberinto, y esto se debe, en parte, a un grabado en acero que vi en un libro francés cuando era chico. En ese grabado estaban las siete maravillas del mundo y entre ellas el laberinto de Creta. Era un gran anfiteatro, muy alto […]. En ese edificio cerrado, ominosamen-

50 Jorges Luis Borges: Siete Noches. Buenos Aires/México/Madrid: Fondo de Cultura Económica 1980, S. 60.

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te cerrado, había grietas. Yo creía –o ahora creo que creía –, tan falible es nuestra memoria, tan inventiva es nuestra memoria, creía cuando era chico que si tuviera una lupa lo suficientemente fuerte podría mirar por una de las grietas del grabado y ver al Minotauro en el terrible centro del laberinto. Otra es la pesadilla del espejo. Pero no son distintas, ya que bastan dos espejos opuestos para construir un laberinto.⁵¹

Wo steht Bolaño? Eine Wand, wovon? Womöglich in einer modernisierten Bibliothek von Babel, die ja sowohl architektonisch ein Labyrinth ist als auch was die in ihr enthaltenen Bände betrifft, da diese nichts weiter als die entstellende, fast perfekte Spiegelung eines anderen, wer weiß wo sich befindenden Bandes sind? Gerade weil der Spiegel als Labyrinth und das Labyrinth als Spiegel schlussendlich keinen Raum preisgeben, sondern ein potentiell unendliches Ineinanderfalten der Darstellung, verweist die Verirrung im Spiegelbild auf nichts mehr als das Gespiegelte und bleibt Oberfläche, statt Tiefe zu produzieren. Was die Verirrung auslöst und was sich entzieht oder unauffindbar wird, ist die andere Seite der Dinge, mithin die letzte Gewissheit. Deren illusionäre Spur ist gerade dadurch markiert, dass sie jeder Darstellung stets eine Brechung einschreibt, die kein Durchbruch ist und deshalb nur ein weiteres Rätsel aufgibt. So auch der Rauch der Zigarette, die, obwohl am Mund auch von Zeige- und Mittelfinger gehalten wird und das linke Auge verdeckt; im Spiegelbild ist davon so gut wie nichts zu sehen. Gedoppelt in einem entstellenden und doch nichts Neues offenbarenden Spiegel, zeigt das Foto, dass der Mann, der den Betrachter da anschaut, nicht anschauen kann, dass es immer nur ein weiteres Bild ist, das überschreibt, spiegelt und verzerrt. Anders als bei García Márquez und anders auch als bei Cisneros operiert die Figur des Palimpsests nicht als Anzeige einer Überlagerung und auch nicht als Verfahren einer Reperspektivierung und Rekontextualisierung; Palimpsest ist bei Bolaño allenfalls ein Riss im Spiegel, der nicht auf etwas Bestimmtes verweist, sondern auf den Generalverdacht, dass sich nicht alles fügt. Die Identität jenseits eines bloß oberflächlichen Spiegels ist eine Leere oder aber die Verführung des Bildes. Die nur fast perfekte Spiegelung ist zweierlei: Widerstand gegen die Leere und Widerstand gegen das Bild der Identität. Dieser ‘Sprung’ im Spiegel, kein «espejo hablado»⁵² wie bei García Márquez und auch kein Spiegel der Inszenierung wie bei Cisnerors, ist minimaler Bruch und verharrt in diesem hermetischen Versprechen, gerade weil eine gewisse Ebene des Sichtbaren weder zu unterschreiten noch zu überschreiten ist.

51 Ebd., S. 59. 52 CAS, S. 469.

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Welchen Schrecken bewahrt der labyrinthische Spiegel bzw. das Spiegellabyrinth? Zum einen ist es der Schrecken der Spiegelung selbst, der Schrecken einer schier endlosen Wiederholung. Die vielleicht grausamste Metapher hierfür, die Bolaño in seinem Roman Estrella distante entwickelt, ist die der siamesischen Zwillinge, die sich gegenseitig und abwechselnd ad infinitum foltern. Zum anderen jedoch und anders als das Labyrinth der Einsamkeit ist dieses Labyrinth der Spiegel nicht eines, das ein Bild des Selbst in einer ihm wohlwollend begegnenden Welt sucht, sondern in der Suche selbst auch bewahren kann. Die lediglich fast perfekte Wiederholung dessen, was ist und war, ist die einzige Möglichkeit für Bolaño in der Darstellung nicht den Verlust der Übersetzung und Deutung zu erfahren. In den Worten Paz’ wird der hier natürlich romantheoretisch zu lesende Einsatz des Labyrinths wie folgt angesprochen: «La plenitud, la reunión, que es reposo y dicha, concordancia con el mundo, nos esperan al fin del laberinto de la soledad.»⁵³ Keine «reunión» bei Bolaño; stattdessen Fort-Setzungen, die eine undurchdringliche Oberfläche bleiben, weil nur eine SpiegelOberfläche Sprünge sichtbar werden lässt und nur das gesprungene Spiegelbild vor den Verführungen des Bildes schützt. Nicht umsonst sind die Erzählungen eines Bolaño immer auch sich selbst spiegelnde Erzählungen, sich selbst wiederholend. Roberto Bolaño erschafft sich mit Arturo Belano ein ihn spiegelndes literarisches Alter Ego. Welchen Effekt hat dieser Belano? Er ist kein figurierter Bolaño; eher scheint es, als würde Roberto verstummen und fast wie von Geisterhand zu Arturo werden, sobald er einen literarischen Text schreibt. Die Wahrheit des Subjekts und seines Lebens ist jenem nicht verfügbar und bleibt insofern stets implizit, als jede Explikation bereits unkontrollierbare Mutationen und Implikationen beinhaltet, die den Namen des Alter Ego notwendig machen und so jene uneinholbare Differenz markieren, die der traditionelle autobiografische Diskurs verdeckt. Wie bei Borges in Borges y yo führt diese Trennung jedoch weniger zu einer klaren Trennung des literarischen und lebensweltlichen Ichs, eines schreibenden und eines seienden Ichs oder gar eines schreibenden und eines beschriebenen Ichs, sondern steigert die Ungewissheit, die schon Borges bei der schriftlichen Explikation seiner beiden Ichs feststellte: «No sé cuál de los dos escribe esta página.»⁵⁴ Das vielfach gebrochene Echo hierzu findet sich 1996 in Bolaños ersten, bei Anagrama erschienenen Roman Estrella distante. Dabei handelt es sich um

53 Octavio Paz, El laberinto, S. 202. 54 Jorges Luis Borges: Borges y yo. In: Ders.: Obras Completas 2. Buenos Aires: Emece 2005 [1957], S. 231.

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einen Text, der eine intratextuelle Réécriture eines Kapitels aus seinem ersten Prosawerk, La literatura nazi de América Latina, ist. Dieser Text wiederum ist strukturell offenkundig auf Borges’ La Historia universal de la infamia zu beziehen, welche ihrerseits die Gattung der historischen Enzyklopädie parodiert. Wenn nun im pseudo-paratextuellen Vorwort von Estrella distante auf die Methode der Réécriture Bezug genommen wird, die Borges unter dem hier zitierten Namen Pierre Menard bekannt gemacht hat, jenem Autor einer scheinbar perfekten und doch unvergleichlichen Spiegelung des Don Quijote, dann handelt es sich bei diesem Text um einen Text, der nicht nur eine Réécriture neu schreibt sondern zudem noch die Réécriture selbst neuschreibt, also als narrative Technik und literarische Methode und das, indem er sich auf einen Text bezieht, der selbst schon eine Réécriture ist. Das Ergebnis ist eine Schreibweise, die das Motiv der treuen, aber doch zu unterscheidenden Kopie – so die Technik des Menard – in einem Text umsetzt, der selbst eine treue, aber doch zu unterscheidende Kopie darstellt und so ad infinitum. Die besondere Pointe ist hier, dass diese Logik des endlos aufgefächerten Palimpsests nicht einfach ein Fall extremer Selbstbezüglichkeit darstellt, sondern den Anfang dieses Romans und für Bolaño womöglich die nunmehr einzig verbliebene Möglichkeit einen Roman zu schreiben insgesamt stellt: Así pues, nos encerramos [Arturo Belano y Roberto Bolaño, PVO] durante un mes y medio en mi casa de Blanes y con el último capítulo en mano y al dictado de sus sueños y pesadillas compusimos la novela que el lector tiene ahora ante sí. Mi función se redujo a preparar bebidas, consultar algunos libros, y discutir, con él y con el fantasma cada día más vivo de Pierre Menard, la validez de muchos párrafos repetidos.⁵⁵

Das transgressive Moment der Wirklichkeit wird also nicht selbst thematisiert, sondern über den Umweg einer an der literarischen Sprache nachzuvollziehenden, aber nicht nur für die Literatur entscheidenden strukturellen Frage. Da schon die dargestellte Wirklichkeit die Überschreibung einer anderen Darstellung impliziert, lässt sich dieses in Bezug auf die Figuration konstant negierende Moment des endlosen Zitats nur dadurch auf eine positive Aussage bringen, wenn Wirklichkeit selbst nicht mehr als evident gegebene und nachträglich verstellte, sondern als eine von Anfang an überdeterminierte Instanz begriffen wird, die – paradoxerweise – solange zugegen ist wie sie verstellt bleibt, wie sie als verstellte, als rissige zu erkennen ist. Das Palimpsest, das man mit Bolaño hier beschreiben müsste, wäre ein Palimpsest seiner selbst.

55 Roberto Bolaño, Estrella distante. Barcelona: Anagrama 1996, S. 11.

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Schließlich ist die dargestellte Wirklichkeit im Roman nicht nur von der Äußerlichkeit der Darstellung und der Äußerlichkeit des Erzählaktes, sondern ebenso von der Äußerlichkeit der Lektüre durchkreuzt. Der Welt des Romans, die mithilfe einer relationalen Logik in der Lektüre nachvollzogen wird, ist als dargestellte prinzipiell auch durch ein radikal negatives Moment gekennzeichet, das in der Vereinnahmung als Beziehung neutralisiert wird. Die Darstellung kann sich demgegenüber nur behaupten, wenn sie Oberfläche bleibt, in diesem Widerstand einer sich selbst nicht vollends fügenden Darstellung das negative Moment zur letzten Spur einer positiven Geschichte umdeutet. Nur folgerichtig ist es da, dass in Roberto Bolaños Romanen die Erfahrung von Welt vor allem als Suche, ja als kriminologische Ermittlung beschrieben wird. Bei dieser kriminologischen Metapher nun interessiert weniger die Frage, ob und wie ein Fall gelöst wird – das ändert an der Suche nichts –, sondern zwei Konstanten, die sich auch als Konstanten der Lektüre von Romanen erweisen. Für Bolaño teilen die kriminologische Suche und die literarische Darstellung des Romans, dass sie beide immer verspätet auftreten und von einer (grundsätzlich) äußerlichen Position ihre ‘Rekonstruktion’ entwerfen. Erst nach dem Ereignis findet die Ermittlung bzw. die Lektüre immer nur durch Spuren vermittelt zu diesem einstigen Ereignis. In diesem Fortgang ist jedoch ein Grenzfall zu vermeiden, den Bolaño als eine infinitesimale Annäherung arrangiert, wonach die Suche sich genau dann kompromittieren kann, wenn sie selbst eingreift und den Fall fortsetzt, kurzum: ins Präsens des Ereignisses fällt. Bolaños Fälle, ähnlich auch wie seine Texte, werden auch aus diesem Grunde niemals ‘gelöst’, die Lektüre erreicht das Präsens der Ereignisse nicht. Bezeichnenderweise ist kurz vor der nicht explizit dargestellten ‘Lösung’ des Falles Carlos Wieder, jener Wieder, der die perfekte, ja mythische Wiederholung schon im Namen trägt, eine ironische, weil in Literatur selbst behauptete Absage an die Literatur zu lesen, die jene ‘Unlösbarkeit’ der Fälle nochmals unterstreicht: Esta es mi última transmisión desde el planeta de los monstruos. No me sumergiré nunca más en el mar de mierda de la literatura. En adelante escribiré mis poemas con humildad y trabajaré para no morirme de hambre y no intentaré publicar.⁵⁶

Die Verweigerung des Literarischen und man lese hier: des Romans als der Gattung einer Welt, die sich dem Planeten der Monster zuwendet, jener in uns selbst steckenden und auch handelnden Monster, findet ihren radikalsten Ausdruck in einer nicht publizierten Privat-Lyrik. Aus dem Horror eines Spiegels der Welt

56 Roberto Bolaño: Estrella distante. S. 138.

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scheint der Spiegel des Selbst zu entlassen. Und doch haben Belano/Bolaño seit Estrella distante kein Jahr verstreichen lassen, ohne ein Romanprojekt zu vollenden oder aber zu beginnen. Es scheint so, als hätten die Monster der Welt dem Spiegel, ja dem Selbst der Verweigerung endgültig seine Unschuld genommen, sofern sein Sprung auch der Sprung einer Welt ist, ja ihre Klage. Man sieht, in welchem Sinne hier man von einem Bezug zum Empfänger sprechen kann, der am Zeichen nicht etwa den Schlüssel zur Welt findet, der im Zeichen nicht die Geschichte eines Subjekts herauslesen kann, sondern eine Barriere, in der sich die Lektüre selbst im Weg steht, wenn sie – anders als die kriminologische Lektüre – die Darstellung nicht mehr als Oberfläche erkennt und stattdessen auf einer anderen Ebene zu erkennen glaubt. Gemeint ist hier insbesondere die Verführung der großen Synthese und der Offensichtlichkeit einfacher Wirklichkeits-Bilder – beides Momente, in der die Suche zum Stillstand kommt. Wirklichkeit – so ließe sich auch in einem romantheoretischen Sinne resümieren – ist für Bolaño in ihrer Darstellung nicht nur nie an sich und als Ganze zugänglich, sie ist vielleicht wesenhaft der Darstellung unzugänglich. Und doch, möchte man nicht ohne Zeugnis und Verständnis vom Planeten der Monster bleiben, werden Aspekte dieser Wirklichkeit intelligibel in einer fast perfekt wiederholenden Darstellung, die in diesem minimalen Mangel idealerweise eine Suche inauguriert, die sich endlos zerfasert, sich in sich selbst faltet. Diese Suche – und zwar gerade dank einer denkbar getreuen und umfassenden Nachbildung wie sie etwa in der Darstellung der hundertfachen Frauenmorde im Roman 2666 vorliegt – hat die Darstellung auszustellen und selbst auch zu forcieren. Nicht die Bilder selbst, die ja Sache des Serienmörders Carlos Wieder waren, ist Sache der Romane Bolaños. Oder um es mit einer kriminologischen Sprache zu sagen: Das ‘Motiv’ einer Tat sollte nicht dazu verführen, nur die Motive statt die Taten zu rekonstruieren. Tatsächlich erweist sich die nicht oder zumindest ungenügend motivierte Tat – etwas, das für Bolaño das Monströse in eine gefährliche Nähe zur Kunst rückt – als eines der Leitmotive in seinen Erzählungen. Das Motiv darf, wenn überhaupt, nicht zu früh gefunden werden und vor allem darf es nicht dazu verführen, auf einer anderen Ebene zu suchen, die Tat selbst vergessen oder auch unsichtbar machend. Für dieses ‘Bilderverbot’ steht auch die Tatsache, dass literarische und kriminologische Suche in Bolaños Romanen oftmals zusammenfallen und so die Suche einer Suche zum Thema wird – und gerade nicht das Finden wie die Offenbarung des Aureliano Babilonia oder jene Enden ihres imaginären rebozo, die Cisneros hier und da findet und zusammenwebt. Im Verlauf von Bolaños Suchen hingegen wird die Sprache zu einer Summe von Spuren und zu einer immer schon zitierten, deren ‘Fall’ natürlich nicht zu lösen ist. Speziell die Sprache des Romans ist deshalb für Bolaño eine Sprache, die jedweder einfachen allegori-

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schen Funktion zu widerstehen hat, so wie die Welt der Monster sich nicht für eine allegorische Bedeutung jenseits des Monströsen anbietet. Diese Bewegungsfigur der Spuren bezieht sich weniger auf etwas, was ein Ablesen kognitiver oder sozio-kultureller Wirklichkeitskonstitutionen betrifft. Hier geht es um eine Bewegtheit von Sprache selbst, die jeden Bezug über sich selbst hinaus zu einer aporetischen und setzenden Geste macht. Wie es eher dekonstruktive und schon strukturalistische Ansätze verdeutlicht haben, ist die Sprache (des Romans) dabei nicht einfach die Summe verschiedener Soziolekte und Sprachkulturen, sondern immer auch eine, die gerade in der Kombinatorik diverser Logiken ihre eigene, eher negativ-ironisch verfahrende Funktionsweise profiliert und zwar umso mehr, je genauer ihre Darstellung sein möchte. Fast scheint es, dass die literarische Sprache nur artikuliert, um das Gemeinte wieder zurückzunehmen bzw. um die Unmöglichkeit auszustellen, genau dieses oder jenes gemeint zu haben. Doch was bleibt jenseits dieses Widerstands, dieser Negativität einerseits und der bloßen Spiegelung des Monströsen andererseits? Ist das die finale Pointe aller Erzählung? Geht es hier um eine Kritik einer Darstellung als Instrument der Vereinnahmung durch eine Darstellung, die sich verweigert, so dass es im Grunde unerheblich ist, was, sondern nur wie (nämlich verweigernd) dargestellt wird? Wie ist zu verstehen, dass Sprache den Dingen nur in dem Moment eine Bedeutung verleiht, da auch das kassiert ist, von dem sich dieser Sinn ableiten lassen soll, so dass Geschichte – vom Sinn ganz zu schweigen – allenfalls ein sich fortsetzender Widerstand sein kann? Genau an dieser Stelle wird ein weiterer Aspekt der kriminologischen Metapher und seiner kasuistischen Logik deutlich. Die kriminalistische Ermittlung ist nicht zu lösen von ihrem Fall, ihre ‘Lektüre’ ist radikal kasuistisch und so auch die ‘Erkenntnis’ eines Falles. Wenn nun der Fall nicht beliebig sein kann, dann ist auch die Negation als eine bestimmte lesbar, so dass der negativ-ironische Gestus in einen positiv-ironischen umschlagen kann. Allerdings ist die Relation eine andere als in García Márquez’ und Cisneros’ Romanen. Nicht weil die Sprache im Roman die Überlagerungen unserer Wirklichkeit ausstellt oder weil sie im Zitat verschiedene kulturelle Bezüge ausstellt, sondern obwohl und auch gerade weil Sprache immerzu eine äußerliche Fläche bleibt, kann sie historisch sein – in ihren Sprüngen. Sie, nicht das Bild, machen den Fall aus. Nach ihnen haben sowohl die Leser als auch die Detektive zu suchen. Und diese Suche in den Spuren ist für Roberto Bolaño die einzige legitime Art, die tragische Grausamkeit der (lateinamerikanischen) Geschichte zu erkennen. *

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Als Thesen formuliert stellen sich die verschiedenen Verfahren und Schauplätze der eine Situation der Weltenvielfalt schaffenden Überschreitung der Romanwelt wie folgt und etwas schematisch beschrieben als eine auch auf die Lebenswelt beziehbare Frage dar: In García Márquez’ Texten wird Wirklichkeit als ein bestimmtes, in und durch die Erzählung konstruiertes und organisiertes Erleben figuriert. Dies macht es ununterscheidbar, welchen Zwängen und Logiken das Leben folgt, so dass eine nach-mythische Geschichte auf die Belastung durch die Romanfiktion (als die Weltfiktion schlechthin) angewiesen ist. Geschichte ist nur dann kein Mythos mehr, wenn erkennbar bleibt, wie wenig sich Sprache und Welt einander bedingen. Sprache ist eben kein Finger, der auf die Welt zeigt. Demgegenüber schreibt Cisneros’ Prosa der Wirklichkeitsdarstellung selbst eine nicht abstrahierbare Brechung ein, die sie einerseits an der unhintergehbaren Diskursivität von Subjektivität und Aussagefunktion⁵⁷ entwickelt und andererseits mit einem migratorischen Geschichtsbewusstsein begründet. Der Erzählakt ist historisch und wirkt historisch, erzählt also selbst eine Geschichte und bezeugt eine nicht einholbare Widerständigkeit, sofern die mit ihm aufgerufene Geschichte sich nicht vermitteln lässt mit der erzählten Geschichte. Bolaños écriture schließlich inszeniert Wirklichkeit als das, was immer schon und wirkungsmächtig vom Symbolischen überschrieben wird. Diesem Entzug – so Arturo Belano – kann nicht durch ein anderes und unmittelbareres Wort begegnet werden, sondern nur durch eine minimal abweichende Wiederholung von Wirklichkeit, die sich jedweder Allegorisierung erfolgreich verweigert. Die Lektüre erlaubt nur solange eine Erkenntnis des Monströsen ohne symbolische Sublimierung, solange sie Lektüre bleibt und die dargestellte Wirklichkeit in einer äußerlich bleibenden Lektüre als detailgetreue Darstellung und eben nicht als zweite Wirklichkeit selbst nachvollzieht.

57 Michel Foucault: Die Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 34ff.

2 Paradigma Romantheorie 2.1 Visionen von Romantheorie: Cervantes’ Erbe L’œuvre de chaque romancier contient une vision implicite de l’histoire du roman, une idée de ce qu’est le roman.¹

So lautet die erste und sicherlich auch grundlegende These, die der tschechische Romancier Milan Kundera 1986 in der Vorrede zu L’art du roman lanciert. Kundera – angeblich ohne jedwede theoretische Ambition und als Praktiker nichts weniger als seine eigene Vision auf Geschichte und Idee des Romans gestehend ² – verweist hier in nuce auf eine gattungsästhetische und auch gattungstheoretische Besonderheit des Romans, indem er mit Geschichte und Idee zwei gerade für und durch den modernen Roman problematisch werdende Begriffe nennt. Für sich genommen benennt jeder dieser beiden Begriffe, die zusammen nicht zufällig ebenso die Ideengeschichte wie die Idee der Geschichte umspielen, worum es Gattungslehre traditionell ging und geht: um die Explikation der Geschichte oder auch die Genese einer Gattung einerseits und die Explikation der Idee oder auch des Gesetzes einer Gattung andererseits. Idealerweise kreuzen sich diese Fragestellungen in einem Ursprung: Die Geschichte wäre nichts weiter als die Artikulation der Idee und hin zu ihr, die Idee wiederum hat auch eine historische Seite; sie ist plastisch genug, den Wandel der Geschichte und Kulturen mitzugehen. Im Falle des neuzeitlichen Romans jedoch – und um diesen soll es hier gehen und auf diesen hin hat auch Kundera seine These formuliert³ – darf man davon ausgehen, dass Geschichte und Idee dieser Gattung zumindest nicht unmittelbar und sei es als Implikatur einsichtig werden. Unbestritten scheint vielmehr, dass ein Gesetz des modernen Romans ebenso schwer zu formulieren sein wird wie seine Genese allein aus einer dem Menschen gemäßen mimetischen Tätigkeit zu begründen. Geht man hier wie Kundera mit dem Quijote als Gründungstext von einem grundsätzlichen und für den Roman unverzichtbaren Wandel in der Neuzeit aus, bedeutet die Emergenz des Romans immer auch

1 Milan Kundera: L‘art du roman. Paris: Gallimard 1986, S. 7. 2 «Dois-je souligner que je n’ai pas la moindre ambition théorique et que ce livre n’est que la confession d’un praticien ?» (ebd.) In der späteren Ausgabe findet sich dieses Geständnis abgekürzt als «Le monde des théories n’est pas le mien.» (7) 3 «Le roman accompagne l’homme constamment et fidèlement dès le debut des Temps modernes.» (15)

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mehr als eine Artikulation der Idee des mimetischen Menschen bzw. epischen Verhaltens⁴ in der Geschichte. Fast scheint es, dass man sagen müsste, die Geschichte dieser Gattung löst die Idee der Gattung ab. Mit dem Roman wird die Form zu wechselhaft, als dass man an der Konstanz einer Gattungs-Idee noch überzeugend festhalten könnte. Was bleibt, wäre eine mit jedem Roman spezifisch zu schreibende Geschichte; die Idee – so wie es im Zitat deutlich wird – wäre nur noch eine Idee des Romans, die große Geschichte wäre in viele kleine Visionen zersprungen. Doch auch das wäre eine allzu leichte Lösung. Die entscheidende Pointe in Kunderas These, eine Pointe, durch welche die Begriffe von Geschichte und Idee anders zu problematisieren sein werden als ein einfaches Realisierungs-, Annäherungs- oder auch Entwicklungsverhältnis bzw. ein Ausschlussverhältnis, scheint mir nämlich nicht nur, ja nicht einmal hauptsächlich im Implikationsverhältnis selbst zu liegen. Kundera hätte sonst auch schreiben können: contient implicitement l’histoire et l’idée de ce qu’est le roman. Wesentlich folgenreicher ist die Tatsache, dass ein Romanwerk stets eine Vision auf die Geschichte und lediglich eine Idee des Romans enthält oder schärfer formuliert: dass die Vision implizit bleibt, schließt eine unmittelbare Einsicht in die Idee und die Geschichte einer Gattung ohne den Umweg einer Vision grundlegend aus. Dennoch ist Vision hier mehr als die bloße Reduktion auf den Einzelfall. Immerhin ist ja der ausgestrichene bestimmte Artikel der Idee («une idée») in der Wendung «de ce qu’est le roman» wieder zugegen und zeigt an, dass eine gattungstheoretische Abstraktion nicht aufgegeben ist. Ohne einerseits das Eine (der Idee) im Namen des Anderen (einer Geschichte) aufzulösen (und umgekehrt), umschreibt diese Vision eine Brechung, die mehr ist als historische Konkretisierung und anderes als Spezialgeschichte. Vision, so scheint es, benennt eine nicht ohne den konkreten Roman einzunehmende Position, von der aus ein Blick auf Idee und Geschichte erst freigegeben wird, ohne dass (und deswegen ist die vision implizit und eben nicht die Idee oder die Geschichte der Gattung) diese Position endgültig zu überwinden oder relativieren wäre. Sie bleibt Vision und wird eben nicht Einsicht ⁵.

4 Eine solche ‘Anthropologie’ der Gattungen findet einen sicherlich prominenten Vertreter und Vorläufer in Emil Staigers Grundbegriffe der Poetik. Vgl. hierzu: Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. München: dtv 1971. 5 Ich verwende diesen Begriff im Sinne der Einsicht in die hier ja zweifelsohne angedachten platonischen Ideen, deren besondere Leistung unter anderem in einer Überwindung nicht nur der Position, sondern auch der sinnlichen Ebene besteht und dabei in dieser Negativrelation doch auf diese Ebene angewiesen bleibt. Zur Unterscheidung von Sichtbarem und Einsichtbarem siehe insbesondere die Kommentare von Rudolf Rufener in: Platon: Der Staat: Über das Ge-

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Wie ist das Problem der Vision gattungstheoretisch zu verstehen? Wie nachdenken über den Roman angesichts der Unvermeidbarkeit von etwas, das Sicht, Sichtweise, Fassung wie auch Traumbild meinen kann? Was bedeutet es, wenn von Idee und Geschichte nur noch in obendrein impliziten Visionen zu reden ist? Man kann auf diese Fragen vorläufig mit einem ‹Chiasmus der Unreinheit› antworten, der sich im ‘Geständnis’ von Milan Kundera schon andeutet: So wie der Roman sich als jene Form von Erzählung beschreiben lässt, die implizit immer auch eine Theorie bzw. eine Vision von Geschichte und Idee seiner Gattung mitproduziert, erweist sich Romantheorie als ein Theoriekomplex, der immer auch eine Erzählung impliziert, ja sich von Anfang an nur dank einer solchen Visionserzählung konstituieren kann. Damit wäre ein strukturell entscheidender Unterschied zur Regelpoetik ausgemacht, die für das Phänomen der Unreinheit insofern keinen Begriff haben kann, als eine Norm entweder erfüllt wird oder eben nicht. Im und durch den Roman jedoch rücken durch das Phänomen der Vision Theorie und Erzählung in ein wechselseitiges Begründungsverhältnis, wird das Eine zum stets spezifischem und historischem ‘Geständnis’ des Anderen, wird die Frage der Gattung eine, die sich nicht damit begnügen kann, gattungspoetische Differenzen festzustellen, da sie obendrein auch ihre Vision zu thematisieren hat. In dieser Studie soll die jedwede ‘reine’ Theorie verunreinigende Vision, die aus der Idee eine Idee macht und aus der Geschichte eine Vision von Geschichte macht, als das gattungstheoretische Paradigma der Romantheorie entwickelt werden. Die Vision steht für eine Wende im Denken der Gattung, die zwar exemplarisch und paradigmatisch am modernen Roman zu formulieren ist, dabei aber methodologische Fragen impliziert, die nicht nur auf den wie auch immer zu bestimmenden Roman der Moderne zu beschränken sind, sondern auch die Frage der Theorie selbst betreffen. Wenn es nämlich auch um einen Wandel im Denken der Gattungen geht, also einem Denken, das im Wesentlichen mit Unterscheidungen und auch Wertungen operiert, bedeutet das Phänomen der Vision gleichermaßen, dass (Roman)Theorie immer auch mit einem Überschuss einhergeht, der zwar am Gegenstand Roman verhandelt wird, sich aber nicht auf diesen beschränken kann. Als Gegenbegriff zur Einsicht trägt die Vision jeder Unterscheidung und Wertung einen historischen Index ein, der jene zwar nicht vollkommen relativiert, aber doch auf eine Weise bricht, die eben nur in einem konkreten Kontext nachzuzeichnen und behaupten ist.

rechte. Zürich: Artemis 1950, S. 543. Die Vision jedenfalls scheint mir hier sehr genau eine Sichtweise, die in einem wörtlichen Sinne ‘oberflächlich’ bleiben kann und auch muss.

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Das ist mit Blick auf den Roman auch denkbar konkret zu verstehen: Vision umschreibt das Problem einer vielleicht unhintergehbaren Perspektive oder auch Perspektivenvielfalt, die ebenso auf der Ebene seiner Poetik – der Roman ist die Gattung der Perspektivenvielfalt, ja -konkurrenz – wie auf der Ebene der Theorie anzutreffen ist, sofern diese Theorie selbst stets eine Begründungserzählung impliziert, die nie nur den Roman selbst betrifft und stets auch eine andere, mitunter sehr konkrete Geschichte im Blick hat, die von und für jemanden erzählt sein will. In dieser Eigenschaft dürfte dem Typus Theorie wie ihn Romantheorie darstellt nicht nur für die Gattungstheorie, sondern auch insgesamt eine paradigmatische Bedeutung zukommen. Denn mitnichten auf den Roman zu beschränken ist die Annahme, dass (Gattungs-)Theorie fortan auch die Frage nach der impliziten Vision ihrer Idee(n) und Geschichte(n) zu stellen hat. Jargonhafter gesagt: es stellt sich die Frage nach der sich im und am Roman exemplarisch artikulierenden, nicht immer explizit eingestandenen Geschichtlichkeit und Rhetorizität von Theorie und genauer: einer Theorie der Unterscheidung, sofern Theorie als Vision keine neutrale Schau auf eine Sache darstellt, keine Einsicht in die Sache, sondern eine immer auch, aber eben nicht restlos perspektivierte Ansicht. Als unvermeidliche, nicht mit einer ‘Subjektivität’ zu verrechnende Implikatur kann sie selbst Gegenstand von Theorie werden und steht wiederum für eine Geschichte von Theorie, die man gut mit dem Roman erzählen kann, aber wesentlich mehr impliziert als die Geschichte einer Gattung. Romantheorie bringt das Problem der Vision in die Gattungslehre und macht es zu ihrem zentralen Bestand, die Regelpoetik in diesem präzisen Sinne zur Theorie. So ist die Frage nach dem Roman auch die nach seiner Theorie oder genauer: die nach dem Status seiner Theorie. Diese These verlangt es zu präziseren, um welchen Typus Theorie es sich hier handelt bzw. warum der moderne Roman einerseits aus der Gattungslehre eine Gattungstheorie macht und andererseits das Problem der Vision in die Theorie bringt. Leichter fällt zu sagen, was diese Theorie nicht ist: Jene in jedem Roman mitproduzierte Theorie meint anderes als eine ‘implizite Poetik’ im Sinne von immer wieder mitproduzierten patterns – genau das ist ja gerade die Crux einer Gattung, die Schlegel mal treffend und zunächst auf die Rezension bezogen, aber gut auf den Roman zu übertragen⁶ als die Gattung der formlosen Form bezeichnet hatte. Gemeint und radikalisiert ist eine Eigenheit der Romanerzählung, welche trotz dieser paradoxalen Bestimmung und trotz der Verortung jenseits eines positiven strukturellen patterns – eben formlos – auch strukturell

6 Vgl. zu diesem Zusammenhang: Francesca Fantoni: Deutsche Dithyramben: Geschichte einer Gattung im 18. und 19. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 62ff.

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lesbar sein muss, da formkonstitutiv, da nicht schlechthin formlos. Dabei kann es sich offenkundig um kein im herkömmlichen Sinne positives und differentes Merkmal handeln, sondern um ein strukturell wirksames Moment, das sich allenfalls anzeigen kann – so wie seine Theorie oder seine Idee im Roman qua Vision enthalten sein mögen, sich aber nicht unmittelbar und als solche extrahieren lassen. Kurzum: Der Typus Theorie, den Romantheorie darstellt, ist nicht einfach eine Theorie über den Roman, sondern Theorie seiner Voraussetzungen.⁷ Die Tatsache einer nur in Visionen verfügbaren Geschichte und Idee macht aus der Theorie des Romans ihrerseits eine Erzählung, die den modernen Roman vorbereitet. Denn seine Theorie ist, wenn sie nicht gerade eine Beschreibung des Romans darstellt oder aber den im Roman entworfenen Menschen verhandelt, vor allem die Theorie seiner Genese, seiner Möglichkeit und Bedingung. Romantheorie als Theorie des modernen Romans hat diese Gattung insofern als eine genuin historische begriffen, als sie diesen unter anderem dadurch bestimmt, dass er in einem bestimmten Moment und aus anderen als genuin poetologischen Gründen auftaucht und notwendig wird und so selbst schon ein voraussetzungshaftes Narrativ zu bezeugen hat. Man könnte hier wieder obigen, hier eine Tautologie, ein double bind streifenden Chiasmus bemühen und sagen: Romantheorie meint einen Typus Theorie, der unter den Bedingungen des Romans gedacht ist und das meint: unter Bedingungen, in denen Theorie nicht frei ist von einer begründenden, vom Gegenstand sich nicht vollends herleitenden Erzählung. Das hat theoretisch-methodologische Folgen: Mit dem und im Roman ist Erzählung mehr als eine Struktur; sie ist vornehmlich und in einem sehr weiten Sinne als eine setzende, revidierende, schaffende oder auch iterierende, aber bist zum gewissen Grad immer auch implizite, weil nicht lückenlos zu explizierende und belegende Konjunktion⁸ zu verstehen. Das dem Roman Vorgelagerte, diese jedwede einfache Anthropologie⁹ oder auch klassische Narratologie überschreitende Vor-Geschichte der Geschichte als unverzichtbarer Kernbestand und Einsatz seiner Theorie und Erzählung, verdeutlicht, weshalb der Romantheorie (bzw. dem Roman) innerhalb der Gat-

7 Das hat in exemplarischer Weise Roland Barthes in seiner Vorbereitung des Romans ebenso dargestellt wie vollzogen. Vgl. hierzu: Roland Barthes: Die Vorbereitung des Romans. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008 [2003]. 8 Vgl. hierzu: Seymour Chatman: Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film. Cornell: Cornell University Press 1990, S 126ff. Dessen narratologisch begründender Begriff der conjunction verwende ich hier möglichst weitreichend und grundlegend. 9 Diese Romanerzählung ist aber deshalb – wie Isers Versuch einer literarischen Anthropologie dies überzeugend zu vermitteln sucht – natürlich noch lange nicht jenseits ‘anthropologischer’ Anlagen zu verorten. Allein: es ist damit keine Romantheorie im engeren Sinne zu formulieren.

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tungstheorie (bzw. unter den Gattungen) eine besondere Stellung zuzuweisen ist. Der Gegenstand von Gattungstheorie ist nun in einem viel grundlegenderen und gleichzeitig wesentlich präziseren Sinne zu formulieren. Dank dieser nunmehr immer auch historisch zu deutenden Implikation der Tatsache einer Voraussetzung – das ist es, was die Vision notwendig und möglich macht – lässt sich die (Gattungs-)Theorie des Romans hier nicht einfach als ein spezifisches Kapitel einer allgemeinen Theorie des Erzählens bzw. als eine ebenso allgemeine Theorie der Nachahmung, Dichtung, Kommunikation oder sprachlichen Akte entwerfen, die dann entsprechend gattungsspezifisch bzw. kulturhistorisch zu präzisieren wäre. Wenn eine allgemeine narratologische Theorie sowie eine ebenso allgemeine Theorie der (literarisch-poetischen) Kommunikation hier für zu unspezifisch befunden werden, dann sind sie dadurch nicht insgesamt disqualifiziert, sondern nur dahingehend relativiert, dass sich mit diesen Ansätzen eine für den Roman im engeren Sinne zu bestimmende Theorie nicht formulieren lässt bzw. dass sich das, was er an Theoriebedarf auslöst, damit nicht restlos einholen lässt. Der Roman nämlich ruft eine Gattungstheorie auf den Plan, die in der Verhandlung seiner Gattung, in dieser Vision immer überschüssig ist, ganz so wie sich der Roman nicht nur durch das erfassen lässt, was er wie erzählt, sondern eben auch das zu berücksichtigen ist, was er nicht einlösen und vergegenwärtigen kann, aber implizit in seine Konstitution hineinspielt. Der moderne Roman kann folglich auch nicht in dem Sinne Seismograph einer kulturhistorischen Veränderung sein, wonach im (formalen) Wandel der epischen Gattungen eine Kulturgeschichte sich unmittelbar anzeigt. Theoretisch wesentlich bedeutsamer als der formale Wandel selbst und gleichsam Konsequenz seiner formalen Unbestimmtheit scheint die Tatsache seiner Emergenz zu sein. Sie ist es, die eine Theorie erforderlich macht. Das unterscheidet ihn von Lyrik und Drama insofern, als deren formale Wandlungen traditionellerweise als kulturelle und historische Seismographen¹⁰ gelesen wurden und gelesen werden konnten, da das Moment einer in der Geschichte verorteten Emergenz hier kaum, wenn überhaupt, eine Rolle spielt. Wenn nun der moderne Roman einen Wandel durch seine bloße Emergenz und zwar als Emergenz belegt, ist die Frage nach der Gattung immer schon mit einer mehr als bloß gattungspoetischen, aber dennoch gattungsspezifischen These zu beantworten. Just dies, dass er eine Theorie jenseits der Merkmale erfordert, hat Lukács in seiner Theorie des Romans dazu veranlasst, den Roman

10 Exemplarisch für die Lyrik: Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Hamburg: Rowohlt 1962. Für das Drama: Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1964.

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geschichtsphilosophisch als die post-epische Gattung eines ‘Nicht-mehr’ einzuspannen. Diese symptomatologische Form der ‘Vermittlung’ von Gattung und Geschichte jedoch umgeht das Problem der Vision und muss ‘verdrängen’, dass die theoretische Herausforderung des Romans auch darin besteht, dass seine Erzählung ‘theoretisch’ und seine Theorie ‘narrativ’ zu lesen sind. Dies wiederum, wie ich zeige möchte, steht durchaus für ein immer höchst spezifisch zu entwickelndes und eben nicht nur ‘allgemein’ zu diagnostizierendes Formproblem. Die Frage der Vision bietet sich hier als eine Alternative zur geschichtsphilosophischen Verallgemeinerung des Romans an. Im Roman selbst wiederum ließe sich diese Voraussetzungshaftigkeit in einer für den Status literarischer Fiktion nicht folgenlos bleibenden Lektürehaltung ausmachen. Die Lektüre des Romans ist im besonderen Maße eine Lektüre, die sich auch immer selbst liest, im Text selbst vergegenwärtigt. Was in der Romantheorie die Frage der Voraussetzung ist, erscheint im Roman als das Phänomen einer immer auch selbstbezüglichen Artikulation, die eine entsprechend selbstbezügliche Lektüre motiviert. Dass eine nicht überschreitbare Implikatur überhaupt zum Problem werden kann, steht schon für eine Erzählsituation, die seit Lukács zum festen Bestand von Romantheorie gehört: Romanerzählungen ist es mehr als jeder anderen literarischen narrativen Form versagt, ‘unschuldig’¹¹ ansetzen, sie verweisen, «als etwas Werdendes, als ein Prozeß»¹², darauf, dass sie ihren Ort noch suchen müssen und nicht aus einer Ordnung heraus erzählen, sich nicht darauf verlassen können, dass wie im Epos «die Erscheinung durch die Zuweisung ihres Ortes in der Weltarchitektonik» sich in einer «vollendeten Immanenz»¹³ wähnen kann. Der Mangel an «vollendeter Immanenz» macht es dem Roman unmöglich, ein proto-natürliches Erzählen zu realisieren oder ernsthaft zu fingieren; er erzählt voraussetzungshaft, enthält implizit eine andere Geschichte, erzählt auch einen anderen Anfang als den erzählten, stellt nicht zuletzt auch sich selbst unter eine Vision und ist in seiner Anlage grundsätzlich metaleptisch entworfen. Der Roman erzählt in seinem Anfang also immer mehr als den Anfang seines plots. Gleichzeitig erzählt er – und dies hat schon fast den Status eines Bonmots – seinen eigenen Anfang, seine eigene Möglichkeit und auch Unmöglichkeit. Das ist insofern ein strukturell wirksames Moment, das dezidiert kein einfaches positives Strukturmerkmal ist, als dieser andere Anfang

11 Vor diesem Hintergrund ist alles andere überraschend, dass der «unreliable narrator» eine speziell am Roman diskutierte Figur ist. Vgl.: Wayne C Booth: The Rhetoric of Fiction. Chicago: University of Chicago Press 1961. 12 Georg Lukcás, Theorie des Romans, S. 65. 13 Ebd., S. 75.

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– anders als der konkrete Erzählvorgang und die positive Struktur der konkreten Erzählung – sich anzeigt, aber eben nicht erzählt, nicht in der Erzählung selbst eingeholt werden kann. Eine unter selbst nicht vollends zu vergegenwärtigenden Bedingungen ansetzende Romanerzählung macht, so Kundera, notwendigerweise aus der Sprache und der Welt eine Sprache und Welt «de relativité et d’ambivalence»¹⁴. Es ist vor diesem Hintergrund alles andere als überraschend, dass Italo Calvino, statt eine kontinuierliche Geschichte zu erzählen, seinen Metaroman Se una notte d’inverno un viaggiatore auf Romananfänge reduziert und dass die Kategorie des Anfangs wohl in keiner Gattung – wie es schon der Quijote vormacht – von solcher Prominenz und Bedeutung ist wie im Roman. Die Figur eines voraussetzungshaften Anfangs gibt eine deutliche Ahnung davon, in welchem Sinne jeder Roman eine Vision seiner Geschichte und Idee implizieren kann und in welchem Sinne Romantheorie dies strukturell mit ihm teilt. Es scheint also geboten, das Problem des Anfangs und des Anfangens sowohl im Roman als auch in der Romantheorie eingehender zu befragen und die darin angelegte «Relativität und Ambivalenz» seiner Sprache zu explizieren. Nun gibt Kundera eine sehr explizite Beschreibung (s)einer Vision der Geschichte des Romans und somit auch eine scheinbar klare Verortung des Romans: J’y ajoute encore ceci : le roman est l’œuvre de l’Europe ; ses découvertes, quoique effectuées dans des langues différentes, appartiennent à l’Europe tout entière. La succession des découvertes (et non l’addition de ce qui a été écrit) fait l’histoire du roman européen. Ce n’est que dans ce contexte supranational que la valeur d’une œuvre (c’est-à-dire la portée de sa découverte) peut être pleinement vue et comprise.¹⁵

Diese Geschichte des europäischen Romans, Gattung der Ambivalenz und Relativität, steht unter dem Vorzeichen einer bestimmten Idee, die in der schon zitierten Vorrede offen ‘gestanden’ wird: «C’est cette idée du roman, inhérente à mes romans, que j’ai fait parler.»¹⁶ Bevor ich auf die für meine Studie, die mit einem lateinamerikanistischen Korpus arbeitet, zumindest kommentierungsbedürftige These des Romans als europäischer Gattung zu sprechen komme, gilt es, nach dem «je» zu fragen, das hier diese Geschichte des europäischen Romans sprechen macht. Diese Frage ist deshalb von Bedeutung, da sie an einer konkreten Vision deutlich macht, wie das Phänomen der Vision auf eine äußerliche Positionalität rekurriert, die nicht

14 Milan Kundera: L’art du roman, S. 16. 15 Ebd., S. 16, kursiv im Original. 16 Ebd. S. 7.

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zufällig an die Lektüre von Romanen erinnert, sofern hier wie dort mit einer Vision keine ‘organische’ Geschichte erzählt wird, keine kontinuierlich vermittelte Einsicht, sondern eine Ansicht, keine echte Genealogie, sondern eine «succession», die immer auch mit Leerstellen umgehen muss. Es scheint ob der Formulierung faire parler offenkundig, dass hier das «je» eines Lesers spricht, der zwar sich selbst liest, aber in dieser Lektüre eine Vision artikulieren und ein Werk in eine genealogische Linie stellen möchte, als spräche er nicht und nicht nur vom eigenen Werk. Die sprechen machende Lektüre umschreibt eine äußerliche Position, die schon deshalb mehr leistet als eine Implikation zu explizieren, da nur sie es vermag, zwischen einer im Werk enthaltenen Idee – welche auch immer diese sein mag – und einer Geschichte zu vermitteln, die das einzelne Werk offenkundig übersteigt und das in ihm allenfalls als Vision herauszulesen ist. Wenn diese Explikation nun vorgibt nur das zu sagen, was in den Romanen schon angelegt ist, dann nicht nur, weil zwischen dieser Vision von Geschichte und der Idee, die ein Werk enthält, ein immer erst nachträglich und äußerlich zu schaffender Zusammenhang bestehen kann. Vielmehr unterstreicht es, dass die Geschichte dieser Gattung zwar immer auf eine bestimmte Vision dieser Geschichte angewiesen ist, aber zugleich mehr ist als eine ‘Perspektive’, sofern sie eine Idee sprechen macht, die nicht jenseits der Werke ist. Die Vision ist nicht ohne die Werke zu formulieren. Diese in sich widersprüchliche Bewegung eines double binds entspricht nicht zufällig ziemlich genau der Ambivalenz der Romanlektüre zwischen Realisierung und Partizipation, die gattungstheoretisch sich wiederfindet als die Ambivalenz von Vision als einer immer auch bestimmten Erzählung einerseits und Vision als einer theoretischen Arbeit an dieser Erzählung bzw. als eine Vision, durch welche eine Idee des Romans formulierbar wird, andererseits. Die Idee des Romans, die Kundera am explizitesten umschreibt, wenn er im Roman die Gattung der Ambivalenz und der Relativität erkennt, ist jedoch dermaßen abstrakt, dass der Europabegriff, der hier die Voraussetzung des Romans ist («der Roman ist das Werk Europas»), selbst zu befragen ist. Welche Voraussetzung meint dieses Europa? Welche Vision ist hiermit angesprochen? Keinesfalls ist für den Tschechen Kundera der Einsatz des Europäischen, verstanden als ein supranationaler Kontext der Literatur, eine Rhetorik eines hegemonialen Westens, sondern eine durchaus öffnende Geste. Europa, das ist eine Geschichte, die sich an ihren Entdeckungen («découvertes») konstituiert, nicht zuletzt an diesen «Ambivalenz und Relativität» erfährt. Dies wiederum, schon durch den Begriff der ‹Entdeckung›, ist nur schwerlich ohne einen Bezug auf Amerika zu denken. Ist dieses «entdeckende» Europa, das den Roman hervorbringt, ein Europa, das ohne ein Nicht-Europa gedacht werden kann? Europa, so meine ich, kann hier – und das wäre die Schnittstelle von Vision und Idee

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– auch als der Name einer historischen Situation gelesen werden, in der die Welt als eine multikontextuelle entworfen werden kann, in der die Welt selbst eine von Ambivalenz und Relativität geprägte ist. Diese sicherlich weitgehende Deutung möchte ich damit begründen, dass Kundera den modernen Roman mit dem Quijote beginnen lässt. Dieser mitnichten genuin europäische Roman¹⁷, der sich nur schwerlich dafür eignen dürfte, eine eurozentrische Geschichte des Romans zu erzählen, ist für Kundera der Gründungstext einer Gattung, der die Welt in einer zu einer Menge relativer und sich widersprechender Wahrheiten macht: «[…] un tas de vérités relatives qui se contredisent […].»¹⁸ «Comprendre avec Cervantes le monde comme ambiguité […]»¹⁹, diese Losung gilt nicht zuletzt auch für die eigene, eine im Quijote durch eine äußerliche Lektüreposition ja konstituierte Geschichte, da speziell dieser Roman ein Roman der post-genealogischen Geschichte ist. Die Geschichte des modernen Romans, von Kundera als die Geschichte einer in Verruf geratenen Erbschaft des Quijote beschrieben – «[…] l’héritage décrié de Cervantes»²⁰ –, ist schon deshalb ein nicht zuletzt durch Cervantes selbst in Verruf geratenes Erbe, da der Quijote eine Erbgeschichte erzählt, die nur Stiefkinder kennt, jedenfalls keine rechtmäßigen Erben. Ein unbequemes Erbe also: die Welt als Ambivalenz und obendrein winkt statt einer klaren Dynastie (die ja nicht zuletzt noch der von Lukács als letzter epischer Dichter bezeichnete Dante für sich in Anspruch nimmt) ein Erbe, das stets der Legitimierung bedürftig ist. Geschichte als eine stets diskontinuierliche Wende in der Geschichte (nicht zuletzt auch des Romans) ist also die Ausgangslage, die das Phänomen der Vision auf den Plan ruft. Geschichte – und das meint auch: Geschichte in einem neuzeitlichen Sinne – steht für Aneignungen und nicht für Kontinuitäten, für äußerliche Visionen statt esoterischen Einsichten und zwar nicht zuletzt aus dem romantheoretisch wie auch ‘geschichtsphilosophisch’ relevanten Grund, dass Geschichte einer immer auch äußerlich bleibenden Darstellung ihrer selbst bedarf. Und es ist in diesem Sinne, dass Kundera hier auch ein durchaus kritischer Europa-Begriff unterstellt werden kann, jedenfalls einer, der zumindest nicht so sehr als unmittelbare und naturgegebene Evidenz gelten darf, dass er – mit dem Quijote als Gründungsfigur – über jedwede Legitimierung erhaben wäre.

17 Vgl.: Diana De Armas Wilson: Cervantes, the Novel, and the New World. Oxford: Oxford Hispanic Studies 2001. 18 Milan Kundera: L’art du roman, S. 17 19 Ebd. 20 Ebd., S. 32.

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So ist es auch nicht im Sinne eines Erbfolgestreits zu verstehen, wenn ich hier der an Cervantes ausgemachten ambivalenten Welt des «homme moderne» ein anderes Stiefkind unterstelle und der Vision eines an seinen ‘Entdeckungen’ sich konstituierenden Europas nun die Vision der Neuen Welt beifüge. Cervantes’ Stiefsohn Don Quijote, dessen vermeintlich richtiger Vater der nicht-europäische Cide Hamete sein soll, ist ein Roman, den man ohne große Mühe auf das Ereignis der Neuen Welt beziehen kann. Nicht nur, wie es auch Vargas Llosa²¹ betonte, ist der Quijote in Amerika schon zur Zeit seiner Publikation als zensiertes Schmuggelgut vermutlich intensiver als in Europa rezipiert worden; er ist zudem selbst voll von Referenzen an das Ereignis der Neuen Welt, wie de Armas Wilson²² es ausführlich dargelegt hat. Dass also der Weltbegriff selbst ambivalent wird und dass auf diese Ambivalenz der Roman mit einer Weisheit des Ungewissen reagiert («sagesse de l’incertidue»)²³, referiert im Kontext dieses Ereignisses zwar auf eine von Europa aus realisierte Bewegung, lässt sich aber auf eine ‘Begegnung’ beziehen, die gerade weil sie die Grenzen der Welt aufs Neue zu befragen erlaubt, mehr ist als bloß europäische Entdeckung. Weder ist sie restlos europäisch noch eine Entdeckung, sondern am treffendsten noch als ein für die Neuzeit konstitutives Ereignis beschrieben. Die mit der Bewegung angesprochene Überfahrt des Kolumbus, die als Weisheit des Ungewissen passend beschrieben wäre²⁴ und die vielleicht die Reise ins Ungewisse par excellence ist, gibt so das ambivalente Modell ab für eine Erfahrung von Welt, die gerade weil sie das, was nicht ist, in die Welt projiziert, erfolgreich sein kann und dabei doch irrt. Auch Don Quijote sucht in und mit seinen Ritterromanen, die anders als er selbst und Cervantes von Amerika noch nichts wussten, eine Welt zu erklären, die seit der ‘Entdeckung’ Amerikas nicht mehr die alte sein kann und die – um Lukács prominente Formel erneut aufzunehmen und etwas anders zu pointieren – ihre sicher geglaubte Weltarchitektonik ganz wörtlich und mit einem Schlag zerfallen sieht. An dieser Stelle möchte ich eine erste Bestimmung dessen geben, was Vision als geschichtstheoretische Figur des Romans bedeuten kann. Geschichte in Visionen zu denken, bedeutet, dass die jeder Geschichte eingelassene Erzählung zwar zu spezifisch ist, um sich als eine allgemeine Geschichte zu deklarieren, dass sie aber gleichzeitig einen unverzichtbaren Aspekt, eine notwendige Be-

21 Mario Vargas Llosa: The Latin American Novel Today. In: World Literature Today, Vol. 63, No. 2, 250th Issue (Spring 1989 [1970]), S. 266ff. 22 Diana de Armas Wilson: Cervantes, S. 19ff. 23 Milan Kundera: L‘art du roman, S. 18. 24 Vgl.: Tzetvan Todorov: Die Eroberung Amerikas: Das Problem des Anderen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985 [1982].

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dingung dieser allgemeinen Geschichte, der Idee des Romans darstellt; wer wollte leugnen, dass der Roman ohne ‘Europa’ nur schwerlich zu denken ist? Der kritische, mitunter auch ironische Einsatz dieses ‘Zwischenbereichs’ liegt darin, dass die theoretische Reflexion nicht nur nicht auf eine Erzählung verzichten kann, sondern sie obendrein auch noch explizit und einsichtig hält. Wie der Roman kann Theorie genau dann eine auch kritische Position schaffen, wenn sie nicht nur eine Erzählung, sondern auch die Erzählung ihrer Konstitution darlegt und in diesem Moment natürlich auch andere Visionen denkbar macht. Um dies etwas zu vertiefen, lohnt ein erneuter Blick auf das Anfangszitat: Kundera spricht von einer Vision auf die Geschichte und einer Idee, die im Werk enthalten sind. Bemerkenswert ist, dass nur die Geschichte mit einem bestimmten Artikel versehen ist und dies auch schon deshalb sein muss, da Geschichte immer eine bestimmte Geschichte ist. Wohingegen die Geschichte schlechthin im Sinne einer allgemeinen Geschichte nur als eine Vision von der bzw. dieser bestimmten Geschichte denkbar ist. Dass es, wenngleich nicht nur von Spezialgeschichten die Rede ist, nicht die Geschichte des Romans geben kann, betont die Vision, die sich hier auf die Geschichte bezieht. Eine Idee wiederum, also jenes, was vom Anspruch her unbedingt mit dem bestimmten Artikel zu versehen wäre, verrät, dass die Idee nur eine Idee sein kann, da sie nicht von einer bestimmten historischen Vision zu lösen ist. Ambivalenz und Relativität sind dermaßen abstrakte Bestimmungen einer modernen Welt, dass sie nur zu verstehen sind, wenn man sie auf eine Vision der Geschichte bezieht, die sich mit und am Roman erzählen lässt. Wie aber kann man das Problem der Vision methodisch umsetzen und theoretisch fruchtbar machen? Stehen am Ende nur Visionen von Geschichte nebeneinander? Dieses Ergebnis, das für den «practicien»²⁵, dessen Welt nicht die Theorie ist, wohl hinnehmbar ist, dürfte für eine gattungstheoretische Arbeit ein etwas geringer Ertrag sein. Dass dem nicht so sein muss, möchte ich an dem, was die Vision von Romantheorie sein kann, darlegen. Zunächst wäre da die Frage der Niveaus: Wenn die Vision, die immerhin auf eine Idee des Romans rekurriert, doch mehr ist als nur spezifische Perspektive und Geschichte, dann wäre dieses ‘Zwischen-Niveau’ nicht in der Geschichte der einzelnen Romane, in exklusiven Einzelvisionen zu finden, sondern müsste sich begrifflich in einer Art und Weise umsetzen lassen, dass einerseits das Niveau einer Gattungs-Idee nicht durch eine allzu konkrete Bestimmung unterschritten wird und andererseits das Niveau einer Vision von Geschichte nicht dadurch überschritten wird, dass der Begriff nicht spezifiziert werden kann. Zweitens wäre das Problem des

25 Milan Kundera: L’art du roman, S. 7.

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prekären Status von Romantheorie im Blick zu behalten, sofern begrifflich nicht nur eine Gattung zu beschreiben wäre, sondern allem voran ein strukturell unverzichtbares Element der vorbereitenden Erzählung des Romans zu berücksichtigen. Als einen solchen Begriff, mehr als eine Vision und spezifischer als die Diagnose einer ambivalenten und relativen Welt bzw. kontingenten Moderne, möchte ich im Folgenden den Begriff der Weltenvielfalt entwickeln. Das begründet sich nicht nur mit der Tatsache, dass – wie zu zeigen sein wird – der Begriff der Welt ein romantheoretisch unverzichtbarer Begriff ist. Obendrein ist dem Begriff der Welt, sofern er vom Roman her unter neuzeitlichen Vorzeichen gedacht und problematisiert wird, ein Begriff, der selbst ein solches Zwischenniveau von Idee und Geschichte geradezu idealtypisch repräsentiert. Wenn also mit dem ohne jeden Zweifel lateinamerikanistisch zu nennenden Korpus dieser Studie das Problem der Vision für die Romantheorie begrifflich fruchtbar gemacht werden soll, dann stehen diese Romane für mehr als bloß eine repräsentative Auswahl der lateinamerikanistisch relevanten Stationen der Romanproduktion der letzten 50 Jahre. Der lateinamerikanistische Kontext soll nicht selbst kulturhermeneutisch ausgedeutet werden, sondern ist notwendige Voraussetzung dafür, dass die Geschichte des Romans und seiner Theorie als eine Vision seiner Geschichte und Gattung überhaupt problematisiert werden kann. Dieses Korpus kann folglich schon aus methodischen Gründen nicht für eine Setzung stehen, die nach der Identität eines Raumes als Grundlegung einer kulturellen Vision fragt. Vielmehr verhält es sich so, dass die mit dem Problem der Vision bereits angedeutete methodische Frage ein Korpus voraussetzt, das diesem für Romantheorie bezeichnenden Zwischen von Geschichte und Theorie, von Gattungs- und Kulturtheorie gerecht werden kann. Oder traditioneller formuliert: Es geht darum, das Doppel von Geschichte und Idee über eine kritische Lektüre einer bestimmten Vision zu vermitteln. Das setzt voraus, dass diese Romane einerseits unterschiedlich genug sind, um verschiedene Aspekte dieses Begriffs zu entwickeln und andererseits genügend aufeinander beziehbar sind, um die Vision ihrer Geschichte und Idee nicht nur auf einzelne Romane zu beschränken, sondern im Zusammenspiel der Texte auf ein Niveau zu bringen, das der Positionalität der Vision zwischen spezifischer Geschichte und gattungstheoretischer Abstraktion entsprechen kann. Weltenvielfalt rekurriert hier zwar stets auf das spezifische Ereignis der Neuen Welt, will sich aber doch als ein auch strukturell lesbarer Begriff verstanden wissen, der es ermöglicht, die Implikaturen der unterschiedlichen Visionen über die Explikationen eines Begriffs zu relationieren. So beschreibt dieser Begriff kein konkretes Strukturmerkmal einer bestimmten Romanproduktion, sondern ist auch eine theoretische Erzählung über die strukturellen Voraussetzungen des Romans. Romantheorie – anders als bloße Gattungslehre – hat es dann mit diesen impliziten Visionen zu tun und wird erst recht in einem lateinamerikanistischen

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Kontext auch als eine Theorie lesbar, die sich an ihrer Unreinheit und auch an der Explikation derselben geradezu besessen abgearbeitet hat, mal sie überwinden, mal sie begründen wollend. Geschichte als Vision und die Idee als eine Idee zu begreifen, führt am Paradigma (Roman)Theorie dazu, dass auch Theorie als Erzählung verstanden wird. Just diese Funktion fällt hier dem Begriff der Weltenvielfalt zu. Romantheorie hat also mehr zu leisten als eine Theorie des Romans als der Gattung der Neuzeit zu begründen, sondern obendrein Begriffe anzubieten, die statt das Allgemeine des Besonderen zu benennen, das Allgemeine dieser Erzählung in einer stets besonderen Vision verorten. Damit ist eine Situation benannt, in der das Eine erst mit etwas Anderen verstanden werden kann, das Eine erst durch ein Anderes unterschieden werden kann, in der – und das scheint mir eine in der Neuzeit sich paradigmatisch artikulierende Erfahrung zu sein – die Unterscheidung sich nicht nur anhand von Merkmalen ermöglicht, die mit dem Gegenstand wie von selbst gegeben scheinen, sondern die selbst erst ermöglicht werden müssen, selbst erst Bedeutung durch ein Anderes gewinnen. Dass die Geschichte des modernen Romans nur als Vision verfügbar ist, steht somit auch für einen Wandel im theoretischen Denken; es ist schon deshalb keine vollständige Schau möglich, da sich die Struktur des Romans und seine Voraussetzung sich nicht rest- und lückenlos vermitteln lassen. Diese Lücke stellt nicht einfach einen launischen Mangel einer «verwilderten»²⁶ niederen Gattung dar, sondern hat selbst stets eine ebenso spezifische wie begründende Bedeutung. Denn eine formlose Form, sobald es um diese Form selbst geht, kann nicht nur auf ihre Positivität hin befragt und sodann gedeutet werden. Stattdessen ist die immerzu verdeckte Frage nach der Voraussetzung eines gewissermaßen negativen Formbegriffs zu stellen bzw. und auf die Erzählung selbst bezogen: die Frage nach der Motivation einer der Erzählung selbst eingelassenen Erzählung und Erfahrung zu stellen, die sich am treffendsten noch als die spezifische Unmöglichkeit einer totalen Erzählung beschreiben ließe. Die in dieser Absenz thematisierte, sich als implizite Frage und gerade nicht als Struktur aufdrängende und eben nicht nur hingenommene bzw. einfach vollzogene Uneinholbarkeit der eigenen Anfänge²⁷ ist im modernen Ro-

26 Vgl.: Karlheinz Stierle: Die Verwilderung des Romans als Ursprung seiner Möglichkeit, in: H. U. Gumbrecht (Hg.): Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters, Begleitreihe zum GRLMA Bd. 1, Heidelberg: Carl Winter 1980, S. 253–313. 27 Dass diese Uneinholbarkeit auch als eine anthropologische Konstante gedacht werden kann, führt Blumenberg mehrfach aus, so etwa in der Einleitung zu den Höhlenausgängen oder auch in Arbeit am Mythos. Vgl. hierzu: Hans Blumenberg: Höhlenausgänge. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, sowie: Ebd.: Arbeit am Mythos. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. Das entkräftet noch nicht die hier neuzeitlich gewendete Deutung dieser Figur. Man könnte etwas verknappend sagen,

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man also nicht nur integraler Bestandteil sowohl seiner Poetik als auch seiner Theorie. Der moderne Roman artikuliert dergestalt eine immer nur spezifisch zu machende Erfahrung von Geschichte bzw. Wirklichkeit, die insofern grundsätzlich neuzeitlich ist, als die Neuzeit sich als jene Epoche beschreiben lässt, in der die Frage nach der Konstitution von Wirklichkeit – wie Blumenberg es am Wirklichkeitsbegriff des Romans entwickelt hat – mindestens ebenso wichtig ist wie die ihrer Vermittlung (wie im antiken Wirklichkeitsbegriff) bzw. ihre Absicherung (wie im mittelalterlichen Wirklichkeitsbegriff). Genau das erfordert eine für Literatur und Theorie relevant werdende Lektüre, die mehr leistet als Entzifferung und so selbst zum Ereignis wird. Das lässt sich auch wesentlich knapper dadurch sagen, dass die Idee des modernen Romans zwar immer nur eine, aber immerhin doch eine Idee ist.

2.2 Der Roman – das Besondere des Allgemeinen Im Zuge all jener Debatten, die hier einzeln aufzuzählen das Problem nicht wesenhaft klarer hervortreten ließen und die speziell (Roman-)Theorie im Namen seiner Erzählung²⁸ oder besser: seiner großen Erzählung (Lyotard) grundsätzlich unter Verdacht stellten, wurde insbesondere am Roman deutlich, dass Theorie, sofern sie ihre Erzählung, ihren Erzählungsbedarf und -charakter nicht kritisch reflektiert, problematisch wird, entweder zu unspezifisch oder aber zu spezifisch bleibt – je nach Sichtweise. Das hat Gründe. Denn der Einsatz dieser Erzählung, dessen also, was entweder nur zu spezifisch oder nur zu unspezifisch erfasst werden kann, ist im Falle des Romans kein geringer. Es dürfte keine andere gattungstheoretische Formation so sehr am Begriff einer wie auch immer zu denkenden und entwerfenden Moderne (und seines Subjekts) sich abgearbeitet haben wie die Theorie des Romans. Nun ist, so sehr der Verdacht einer natürlich normativ-kolonial wirkenden Subjektivität des ‘modernen Subjekts’ nicht zu leugnen ist, eine kritische Position verschenkt, wenn man die Genese des Romans, die Problematik der Neuzeit an das Schicksal eines ihr vermeintlich entsprechenden Subjekts koppelt. Die

dass die Funktion der Erzählung immer schon darin bestand, mit dieser Uneinholbarkeit umzugehen. Dass aber die Uneinholbarkeit selbst Gegenstand der Erzählung und mehr noch: selbst zu einer historischen Erfahrung wird, folgt daraus keineswegs zwangsläufig und darf folglich auch als Merkmal einer spezifischen historischen und neuzeitlichen Erfahrung gelten. 28 Siehe hierzu besonders: Margaret Doody: The True Story of the Novel. New Brunswick, New Jersey: Rutgers University Press 1996.

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Problemstellung des Romans ist nämlich auch abseits dieser sehr verkürzenden Erzählung von Relevanz. Sie bedarf dieser Engführung im Grunde auch nicht, wenn es darum gehen soll, ein Problem der (Gattungs-)Theorie als eines zu formulieren, das – um sich auf das vielleicht entscheidende Problem der Gattungsfrage zu beziehen – die Frage von Spezifik und Allgemeinheit dadurch auf produktive Weise problematisch macht, indem es diese zwei Aspekte unauflöslich aneinander bindet. Dies wäre ja unweigerlich dann der Fall, wenn es zutrifft, dass die Visionen des Romans eine strenge Trennung von Erzählung und Theorie nicht zulassen, wenn also jenes Allgemeine des Romans, seine Idee, eben nicht durch bestimmte und immer anzutreffende Merkmale zu bestimmen ist, nicht durch ein und sei es auch noch so abstraktes Gattungsgesetz oder Prinzip definiert wird, sondern grundsätzlich woanders verhandelt wird und sich allenfalls als Problem artikuliert. Man könnte also sagen, dass dieser steter und selbst immer nur spezifisch nachzuvollziehender Verweis auf etwas Anderes und nicht unmittelbar positiv Verfügbares, kurz: der Visionsbedarf seiner Theorie seinerseits zu einer Art Merkmal für die Zuschreibung einer Gattungszugehörigkeit wird. Wie sollte es auch anders sein, wenn schon die Form des Romans chronisch unbestimmbar bleibt? Soll nun der neuzeitliche Einsatz der Romantheorie im Folgenden den Fokus dieser romantheoretischen Studie darstellen, dann vermittelt sich das nicht über die Geschichte eines Subjekts, das sich im Roman ausdrückt, sondern über eine strukturelle Eigenheit, die von verschiedenen Subjektpositionen durchaus sehr verschieden erfahren werden kann. Eine solche Konzentration auf das Subjekt würde auch der methodologischen Pointe der Vision zuwider laufen. Was also ist jene strukturelle Eigenheit, über die sich der Roman mit der Neuzeit vermittelt, welche Rolle spielt das hier anhand der Vision entwickelte Phänomen für die Neuzeit? Zunächst: Auch der Anfang Neuzeit ist voraussetzungshaft und zwar in einem ganz bestimmten, in der Geschichte bis dahin ungekannten Sinne voraussetzungshaft. Es legt hier nämlich eine Situation vor, deren Bedarf an Erzählung nicht einfach der ja sowieso nur mythologisch-setzend einholbaren Problematik der absoluten Anfänge oder auch absoluten Umbrüche geschuldet ist (und der Roman ist der Prototyp einer historischen, weil irgendwann wesenhaft auftauchenden, irgendwann möglich, ja notwendig werdenden Gattung). Darüber hinaus gilt es, eine ganz konkrete historische Erzählung nachzuzeichnen, die vielleicht die historische bzw. geschichtliche Erzählung par excellence ist, sofern die Moderne im Sinne von Neuzeit als Epoche der Selbstbehauptung (Blumenberg) die Epoche einer in ihrem Anfang binnenweltlich aus sich selbst heraus generierenden Geschichte und Geschichtlichkeit ist. Es ist dabei von entscheidender Bedeutung, dass der an der Neuzeit ausgemachte Umbruch sich auch nachträglich nicht exogen zu begründen sucht, sondern aus sich selbst he-

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raus eine Vision seiner Genese zeichnet. Das zeigt sich unter anderem daran, dass die Neuzeit sich gerne mit selbstgemachten ‘Ereignissen’ unterschiedlichster Art – von wissenschaftlichen Gründungstexten hin zu politischen oder religiösen Umbrüchen – konstituiert, ohne dass damit dieser Anspruch, eine allen Umbruch umfassende Szene vorzufinden, befriedigt werden könnte. Denn, wie Hans Blumenberg geradezu lakonisch feststellt, […] was das geschichtliche Bewußtsein je in dieser Funktion ergriffen hatte, wurde von der historischen Vernunft aus seiner inaugurativen Rolle verstoßen. Historische Erkenntnis, wie sollte sie anders, ist dem Konzept absoluter Anfänge unhold.²⁹

Eines dieser in diesem Sinne zwar überforderten, aber in dieser Studie dennoch als Wendepunkt lesbaren Ereignisse, auf das ich hier eingehen werde, ist die Atlantiküberquerung des Kolumbus. Nicht das selbst ja schnell unverständlich werdende Ereignis selbst ist dabei der entscheidende Aspekt, sondern die Folgen, die es zeitigt. Die Begegnung, die am 12. Oktober 1492 sich ereignet, wird in der Folge auf geradezu paradigmatische Weise einen schier endlosen Prozess der Selbstauslegung auf beiden Seiten des Atlantiks nach sich ziehen. Das, nicht die Begegnung selbst, ist typisch neuzeitlich, denn, so Blumenberg weiter: Die Neuzeit […] ist, im Unterschied zum Mittelalter, nicht eher da als ihre Selbstauslegung, durch die sie zwar nicht hervorgetrieben wird, deren sie aber ständig zu ihrer Formierung bedarf.³⁰

Eine Spannung deutet sich an: Der Ereignischarakter des absoluten Anfangs ist von einer ganz anderen Valenz als der Aspekt des Selbstgemachten, der in der Selbstauslegung und Selbstbehauptung sich anzeigt. So absolut sich die Neuzeit als einen fundamentalen Wandel denkt und entwirft und gerade deshalb der Logik der ‘gnostischen’³¹ Umbrüche epochemachender Ereignisse verhaftet bleibt, so zeichnet sie sich doch dadurch aus, dass sie diesen Wandel aus und in sich selbst behaupten möchte – immer wieder und immer wieder von vorne und immer wieder sehr spezifisch, gewissermaßen in Visionen. Gerade darin jedoch, in dieser beständigen Formierung und Behauptung wird die Gründungserzählung zu einer dezidiert neuzeitlichen Geste, die das Phänomen der Vision insofern notwendigerweise mitproduziert, als die Geste der Selbstbehauptung immer

29 Hans Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974 [1966]: S. 22. 30 Ebd., S. 19. 31 Vgl.: Ebd.

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auch einer Selbstvergegenwärtigung bedarf, die jenes voraussetzen muss, was es erst zu belegen gilt. Die Erzählung der Neuzeit ist also darin ambivalent, dass ihr Gestus die Hypothek des Absoluten nicht ablegen kann, in ihrem Gestus stets auf eine andere als ihre eigene Geschichte verweist, um jedoch gleichzeitig in ihrer Artikulation eine relationale Logik ins Spiel zu bringen, die jene absolute zu überwinden sucht und sich dieser doch nicht ganz entledigen kann. Kurzum: Nicht das Subjekt an sich ist das Ziel dieser Selbstbehauptung, sondern die Frage des Subjekts ist sozusagen der prominenteste Kollateralschaden einer in sich widersprüchlichen und permanenten Anstrengung. Diese Art der Selbstvergegenwärtigung wiederum erinnert nicht zufällig an den Fiktionsbegriff des Romans. Seine Erzählung ist nicht einfach ein Bericht und Einbruch einer anderen Welt, sondern den Roman zeichnet aus, dass dieser Bericht und Einbruch selbst Thema sein können und dass seine Welt somit ebenso gesetzt ist wie sie eine auf Widerruf ist, sich also doch und nicht anders als mit und durch den Widerruf hindurch behaupten kann. Denn so sehr der Roman eine nach-mythische Erzählung, ja – wie Lukács es sagte – die «Epopöe der gottverlassenen Welt»³² ist, so sehr vermag er, aller Ironie zum Trotz, nicht auf den eigentlich mythischen, ja göttlichen Akt der aus dem eigenen Schöpferakt sich gründenden Welterzeugung zu verzichten. Der Anfang des Romans – im doppelten Sinne – verknotet unauflöslich das mythische und das selbstbehauptende Element der – ebenfalls im doppelten Sinne – neuzeitlichen Erzählung. Diese Ambivalenz ist es, durch welche die Konstitution von Wirklichkeit für einen ja in der Welt selbst verorteten Menschen zu einer problematischen Frage wird. Denn wenn Wirklichkeit als konstituierte und somit als potentiell revidierbare denkbar wird, entlastet dies noch lange nicht von der Unumgänglichkeit der Konstitution und Konstituiertheit selbst, die sich so als logisch vorgängig zu ihrem Akt erweist. Mit dem von Romantheorie üblicherweise in Anspruch genommenen Epochenwandel der Neuzeit ist folglich nicht nur irgendein historischer Wandel unter vielen für den und am Roman behauptet bzw. thetisch gesetzt, den der Roman einfach belegt, sondern – und auch das ist romantheoretisch aufschlussreich – ebenso ein konkreter Anfang einer neuen und zugleich eigentlicheren Geschichte in der Geschichte und aus der Geschichte selbst. Das verhält sich strukturanalog zu der Gattungsfrage des Romans. Die Romantiker hatten im Roman eine Überwindung der Gattungslehre aus der Gattungslogik selbst erblicken können, da er ihnen als jene Gattung galt, die alle Gattungen in sich aufnehmen kann, ohne dabei wieder in das Raster der Normpoetik zu fallen und

32 Georg Lukács: Die Theorie des Romans, S. 77.

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dabei die Unbestimmtheit und Offenheit einer immer anders ausfallenden Selbstkonstitution bereithält. Dass beide Aspekte der Erzählung – die mythologische Hypothek einer Erzählung des absoluten Anfangs einerseits und das immer auch spezifisch historische Moment einer selbst befragten Selbstsetzung und Selbstbehauptung andererseits – oftmals und insbesondere in Erzählungen der Neuzeit zur Deckung gelangen können, macht ihre Unterscheidung noch lange nicht hinfällig und rechtfertigt noch lange nicht, das eine als die eigentliche Wahrheit des anderen zu begreifen. Denn weder ist das setzend-mythische Moment vollends durch eine wie selbstbezüglich auch immer verfahrende Historisierung zu überwinden noch lässt sich diese historisierende Geste als ein nur scheinbar überwundenes Mythisches reduzieren. Kurz: Auch in dieser ‘Erzählung’ besteht die Lücke einer ausbleibenden Vermittlung, die es notwendig macht, aus der Dichotomie von absoluter und allgemeiner Setzung einerseits und stets relativer und spezifischer Szene andererseits im Sinne einer Vision auszubrechen, in der eben beide Momente – die Idee und die Geschichte des absoluten Anfangs – am Wirken sind. Daran erinnern nicht zuletzt die strukturell stets gedoppelten Romananfänge. Deren Ironie ist ja gerade dadurch wirksam, dass erzählt und auch nicht erzählt wird. In dieser Studie nun soll ausgehend von einer Konfiguration an Romanen, die man oberflächlich betrachtet als eine paradigmatische lateinamerikanistische Konstellation vom sogenannten boom bis heute bezeichnen könnte, diese doppelte Qualität der neuzeitlichen (Anfangs-)Erzählung anhand des Begriffs der Weltenvielfalt romantheoretisch entwickelt und das meint: nicht nur einfach gesetzt oder umgedeutet werden. Das ist schon deshalb angezeigt, da hier der Gestus einer neuen Art des Schreibens von Romanen sich nicht nur auf die Überwindung der unmittelbaren Vorgänger (und dabei, wie im Falle von García Márquez und Bolaño untereinander dieses Verhältnis der Überwindung eingehend) bezieht, sondern ebenso die Gründungsszene des Romans bzw. das, was den Roman ausmacht, befragt. Mit dieser Fragestellung im Blick sollte klar sein, dass es mir gerade nicht um eine kulturspezifische Deutung der Romanproduktion einer bestimmten Kultur geht, sondern um das lange Nachleben der soeben skizzierten Anfangsproblematik in einer bestimmten kulturellen Konfiguration. Das Textkorpus, in dessen Zentrum die Romane Cien años de soledad (García Márquez), Caramelo (Cisneros) und Estrella distante (Bolaño) stehen, hat zudem den kaum zu unterschätzenden Vorzug, dass durch eine kulturelle Erfahrung, die den historischen Umbruch der Neuzeit durch das Ereignis der Neuen Welt und dem ihm folgenden kolonialen Projekt als eine Figur einer longue durée denkbar konkret vor Augen hat, der doppelte Charakter der neuzeitlichen Wende besonders explizit ist. (Re-)Naturalisierung von Geschichte und ihrer Umbrü-

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che verbietet sich schon durch die Tatsache, dass in der kolonialen Begegnung zwischen den amerikanischen und den europäischen Kulturen der Umbruch im Grunde für beide Seiten ebenso unvermittelbar wie ‘faktisch’ ist, ebenso von geradezu mythisch gegebener wie verfügbarer, selbst gemachter und verwalteter Gewalt gekennzeichnet ist. Die mythische Wucht eines Ereignisses ist hier vielleicht mehr als in anderen Szenen nicht zu trennen von der selbstsetzenden Geste einer historischen Öffnung und Kritik hin zu einer nicht mehr mythisch zu erfassenden Geschichte, deren Selbstbehauptung und Selbstvergegenwärtigung eine zutiefst problematische Geste ist und bleibt. Zweifelsohne eine Pionierarbeit für diesen Doppelcharakter des kolonialen Projekts hat der mexikanische Historiker Edmundo O’Gorman³³ geleistet, wenn er statt von der Entdeckung oder Eroberung der Neuen Welt von ihrer Erfindung gesprochen hat. Die besondere Pointe ist hierbei nicht, dass – wie auch Stephan Greenblatt³⁴ es dargelegt hat – die europäischen Diskurse der Frühen Neuzeit die Wahrnehmung der Neuen Welt in einem bestimmten Sinne prädeterminierten. Entscheidend ist, dass diese ja zweifelsohne zutreffende Präfiguration das Ereignishafte, den konkreten Moment nicht restlos diskursiviert hat, sondern dieser auch seine eigene Dynamik entfalten konnte und so erst eine Erzählung auslöste. So sehr die Voraussetzungen der ‘Entdeckungen’, ja die Subjektposition der eroberten amerikanischen Sub-jekte im Grunde schon angelegt waren, also retroaktiv zu autorisieren waren³⁵, so sehr behält dieses Ereignis doch die Qualität eines epochemachenden Ereignisses. Denn tatsächlich als Ereignis entwickelt es eine Dynamik, eine Interaktion und einen Fragehorizont, die allesamt und quasi mit der ersten Landnahme durch Kolumbus die nachträglich ja leicht auszumachenden Voraussetzungen überschreiten, also tatsächlich und sehr konkret einen Wandel markieren, der die Frage der Konstitution von Welt aus ihrer Implikatur zwingt. Diese Anstrengung nun deckt sich nicht mit der Erzählung eines sich global universalisierenden westlichen Menschen, da sie immer angewiesen ist auf die Integration eines Ereignisses, dessen entscheidende erste Szene, die Erstbegegnung von Alter und Neuer Welt, in viele verschiedene und inkompatible Visionen zersprungen ist.³⁶

33 Vgl.: Edmundo O’Gorman: La invención de América: el universalismo de la cultura de occidente. México D.F.: Fondo de Cultura Económica 1958. 34 Vgl.: Stephen Greenblatt: Wunderbare Besitztümer: die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker. Berlin, Wagenbach, 1994. 35 Vgl.: Tzetvan Todorov: Die Eroberung Amerikas. Und ebenso: Anthony Pagden: European Encounters with the New World: From Renaissance to. Romanticism. New Haven: Yale University Press 1993. 36 Vgl.: Julio Ortega: Transatlantic Translations. In: PMLA, Vol. 118, No. 1 (Jan. 2003), S. 25–40.

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Die Erzählungen der hier zu behandelnden AutorInnen setzen aus ganz unterschiedlichen Kontexten an dieser Umbruchsituation an, die nicht nur in keiner anderen Gattung so präzise zu artikulieren ist wie im Roman, sofern er eine dem Roman strukturell entsprechende Problematik der aus sich selbst nicht vollends verfügbaren oder auch generierbaren Voraussetzung betrifft. Darüber hinaus legt sie die für den Roman ja so bestimmende Frage einer unhintergehbaren Vision offen. Diese als die Frage nach einer Identität zu verkürzen, hieße den entscheidenden strukturellen Ausgangspunkt zu verkennen. Das gilt nicht minder für die romantheoretischen Diskussionen des boom, welche hier ebenso zu berücksichtigen und der Ausgangspunkte dieser Studie sind. Die Debatten um den lateinamerikanischen boom herum, für den wohl kein Roman so steht wie Cien años de soledad, haben nämlich ausgehend von der Frage nach dem lateinamerikanischen Roman eine romantheoretische Debatte losgetreten, die jene Problematik des Ursprungs der lateinamerikanischen Romanproduktion jenseits von gattungsspezifischen oder typologischen Merkmalen auch und vor allem mit Blick auf eine historische Situation diskutiert hat, die nicht zu lösen ist von der kolonialen Erfahrung. Gleichzeitig jedoch – und das ist der Punkt, um den es mir hier zentral geht – hat diese Debatte keineswegs dazu geführt, die gattungstheoretische Frage kulturrelational aufzulösen. Nur so war das Dogma der chronischen Verspätung des Romans in Lateinamerika (Henríquez Ureña) zu überwinden. Juan Loveluck hat diesen Aspekt in der dritten Auflage einer seit 1962 aufgelegten romantheoretischen Anthologie zum lateinamerikanischen Roman, kurz nach Veröffentlichung von CAS, konzise formuliert. Er beschreibt dabei eine überreife theoretische und – so wird man in vielen späteren Studien lesen – mit CAS nur vollends, just in diesen Jahren zur Artikulation kommende Entwicklung, wenn er behauptet: Los críticos y estudiosos de la literatura narrativa de Hispanoamérica señalan, casi unánimenes, que ésta, en los últimos años, alza su categoría y a la vez se inserta en las direcciones más sobresalientes del relato moderno, en un esfuerzo de los autores por universalizar su problemática o sustituir sus mitos tradicionales.³⁷

Eine «Problematik zu universalisieren» als Alternative zu den traditionellen und immer nur lokalen Mythen entspricht dem, was in der Vision von Geschichte als Vorbedingung einer Idee des Romans schon angelegt war, wenn wie hier zweifelsohne angedacht und weiter unten von Loveluck³⁸ selbst angeführt nicht ein

37 Juan Loveluck: Introducción: Crisis y renovación de la novela hispanomaericana. In: Ders. (Hg.): La novela hispanoamericana. Santiago de Chile: Ed. Universitaria 1972, S. 11. 38 Ebd., S. 12ff.

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allgemeines Universales die Alternative zu den lokalen Mythen sein kann. Speziell auf den Anfang des Romans als neuzeitlicher Gattung bezogen meint dies: wenn der Roman ebenso wie die Neuzeit ganz unterschiedliche Gründungsvisionen zulässt, dann deshalb, weil ihnen – als Idee sozusagen – eine Problematik, nicht aber die konkrete Aussage gemeinsam sein muss. Es ist dies der Grund, dass der lateinamerikanische Roman für Loveluck und viele Theoretiker seiner Generation eine eigene Geschichte und Entwicklung aufweisen kann, die es erlaubt, ihn aus dieser heraus und eben nicht als Fortentwicklung der europäischen Linien oder mit einem Wort: als eine eigene Vision zu begreifen, ohne deshalb eine vollends andere Geschichte und somit eine vollends andere ‘Idee’ des Romans erzählen zu müssen. Von den vielen Texten, die auf dieses mehr oder minder deutlich sich anbietende Problem der Vision als Signum von Neuzeit und Roman reagieren und deshalb die Geschichte des Romans als eine, aber eben nicht einheitliche Genealogie³⁹ lesen, seien hier nur zwei Monographien genannt, die sich beide nicht zufällig die Frage nach dem Ur-Sprung des (lateinamerikanischen) Romans stellen: Arroms Imaginación del nuevo mundo⁴⁰ und González Echevarrías Mito y archivo⁴¹. Allen Differenzen zum Trotz ist beiden gemeinsam, dass sie die Frage nach dem lateinamerikanischen Roman bzw. seiner Narrativik auf andere ‘erzählende’ Diskurse beziehen und auch beziehen müssen. Diese ‘anderen’ Diskurse zeichnen sich dadurch aus, dass sie in einem streng literarästhetisch ausgelegten Kanon nicht auftauchen: Chroniken, Tagebücher, juristische Texte, Verwaltungsschriften oder auch ethnographische Berichte. Das entscheidende gattungstheoretische, in beiden Fällen schon angedachte, aber nicht weiter zu Ende geführte Argument ist dabei die Überlegung, dass diese diskursiven Vorläufer mehr als nur Motive, Stile, Fragen oder Dispositive für den (lateinamerikanischen) Roman liefern. Vielmehr handelt es sich dabei um diskursive Formationen, die den lateinamerikanischen Roman auch deshalb prägen, da sie mit dem Roman insgesamt eine gemeinsame Ausgangslage teilen. Wie der Roman stellt sich in diesen Texten das Problem, wie eine nicht vollends überschaubare Wirklichkeit so integriert werden kann, dass man von ihr einen Begriff gewinnen kann, dass von ihr als einer eigenen Wirklichkeit gesprochen werden kann.

39 Es sollte deshalb – so viel sei vorausgeschickt – nicht wundern, wenn in den hier zu behandelnden Romanen die Problematik der Genealogie und speziell der eindeutigen Genealogie eines der Zentralmotive ist. 40 Vgl.: José Juan Arrom: Imaginación del nuevo mundo: 10 estudios sobre los inicios de la narrativa hispanoamericana. México D.F.: Siglo Veintiuno Editores 1991. 41 Vgl.: Roberto González Echevarría: Mito y archivo. Una teoría de la narrativa latinoamericana. México D.F.: Fondo de cultura económica 1998 [1990].

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Arrom⁴² und auch Lienhard⁴³ gehen dann auch so weit, dass sie im Bericht des Jesuitenpater José de Acosta über die Konversion des Bartolomeo Lorenzo den ersten lateinamerikanischen Roman sehen, der – eine sicher nicht unbedachte Pointe – gut 20 Jahre vor dem Quijote erscheint und dabei nicht minder grundsätzlich, wenn auch nicht auf einem literarästhetisch vergleichbaren Niveau, die Frage der Wirklichkeitskonstitution durch eine Erzählung stellt, die sich als Erzählung auch selbst erzählt und konstituiert. Das Problem der neuzeitlichen Erzählung stellt sich demnach im Roman vielleicht am prominentesten und explizitesten, aber keineswegs auf exklusive Weise. Dass hier jedoch die Frage des Problems der Wirklichkeitskonstitution als eine am und mit dem Roman zu differenzierende, aber auf ihn nicht zu beschränkende Frage zu begreifen ist, steht bereits für eine wichtige gattungstheoretische Wende ein, sofern die Theorie des Romans hier immer mehr und an Anderem zu theoretisieren hat als den Roman. Zurück zu der Frage des Korpus: Das sehr allgemeine Problem des Anfangs in der Neuzeit mit einem solchen begrenzten Textkorpus zu verhandeln, scheint mir deshalb vom Anspruch nicht vermessen oder unangebracht, weil sich – und auch das ist für den Roman bezeichnend – das ja sehr allgemeine Problem des (ebenso historischen wie nur mythisch verfügbaren) Anfangs nur in höchst spezifischen Zusammenhängen erfassen lässt – als Vision eben. Wenn es zudem zutrifft, dass das Spezifische des Romans nicht über positive strukturelle Merkmale zu bestimmen ist, ist es zudem nicht mehr zwingend, möglichst alle Romane der Welt zu berücksichtigen, um daraus eine möglichst allgemeine Theorie zu verfassen. Vielversprechender scheint es, einer Vision genauer auf den Grund zu gehen und die Vision so auszuarbeiten, dass zwar nicht die Idee oder die Geschichte des Romans formuliert ist, aber doch die Anfangsproblematik mit der Figur der Weltenvielfalt derart beschrieben ist, dass sowohl der spezifische Zugang sichtbar bleibt als auch eine allgemeinere Reflexion nicht verstellt ist. Jene roman- und literaturtheoretischen Debatten, die vom boom ausgehend auch noch den so genannten Post-Boom prägen werden, scheinen mir hierfür eine geeignetes Feld, da sie gleich in mehrfacher Hinsicht gespannte Denkräume eröffnen: Neben der Spannung zwischen kulturtheoretischer und literaturästheti-

42 Vgl.: José Juan Arrom: Prólogo. In: Acosta, José: Peregrinación de Bartolomé Lorenzo. Ed. y pról. de José Juan Arrom. Lima: Petroleos del Perú 1982, S. 9.26. 43 Vgl.: Martin Liehnhard: Una novela hispanoamericana en 1586 (José Acosta, La peregrinación de Bartolomé Lorenzo). In: L. López Medina (Hg.): Miscelánea de Estudios Hispanoamericanos. Homenaje de los hispanistas de Suiza a Ramón Sugranyes de Franch. Montserrat: Publ. de l‘Abadia de Montserrat 1982, S. 175–187.

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scher Argumentation, zwischen philologischer und kritischer Arbeit, zwischen lokaler Referenz und ‘universalem’ Anspruch ist zweifelsohne die Spannung zwischen allgemeiner und spezifischer Theorie jene, welche die gattungstheoretische Frage des Romans dermaßen dynamisiert hat, dass an ihr auch das Problem der Geschichte als eine aus Visionen sich zusammensetzende zu verhandeln war. Das ist kein exklusiv lateinamerikanistisches Phänomen, auch wenn es sich hier geradezu aufdrängt. Wie es Benjamins Überlegungen aus der Erkenntnistheoretischen Vorrede zu seinem ja nicht zuletzt gattungstheoretischen Trauerspielbuch belegen, ist es Gattungstheorie eigen, ihre allgemeine Seite höchst spezifisch zu reflektieren. Gattungstheorie, sofern sie nicht auf ein Allgemeines verzichten und eine Alternative zu einem rein induktiven Verfahren sein will, hat in einer Konstellation (das wäre Benjamins Begriff für die Vision) zu denken, in der einerseits die Phänomene nicht verloren bzw. neutralisiert sind – das ist das geschichtskritische, immer wieder bewusst zu problematisierende und auszuspielende Potential der Gattungsbegriffe – und in der andererseits die Idee der Gattung jenseits der Phänomene errettet ist – das wäre der theoretische Anspruch der Gattungsbegriffe.⁴⁴ Diese Überlegungen sind methodisch weitreichender als es auf dem ersten Blick scheint. Es gilt nämlich, das durch die Tradition vorgegebene aristotelische und auch gattungstheoretisch wirkungsmächtige Diktum, wonach in der dichterischen Darstellung das Allgemeine eines Spezifischen zu erblicken sei, anders zu bewerten, ja umzukehren. Diese klassische Bestimmung der Dichtung, auf die viele Entwürfe der Ästhetik und Kulturwissenschaften mehr oder minder bewusst, aber doch zielsicher zurückgreifen, steht bei Aristoteles in einem größeren systematischen Zusammenhang. Von Interesse ist dieser hier, da er für die Geschichtlichkeit, um die es beim Roman geht, im Grunde keinen Begriff haben kann und folglich auch der Roman mit einer aristotelisch fundierten (Gattungs-)Poetik nur schwerlich zu erfassen sein wird. Zur Ausgangslage: Der am philosophisch anspruchslosesten Frage nach dem Spezifischen des Spezifischen in der tatsächlichen Geschichte folgt das schon wesentlich philosophischere Allgemeine des Spezifischen der Dichtung, das mit den Begriffen von

44 Vgl. hierzu: Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 1, I,1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980 [1927], S. 203ff. Ob es sich bei Benjamin hier um Nachwehen aus der der Romantik gewidmeten Dissertation zum Begriff der Kunstkritik handelt, kann hier nicht erörtert werden. Es liegt jedoch auf der Hand, dass diese Problematik des Allgemeinen und des Spezifischen auch für die deutsche Romantik ein zentrales Thema war, das nicht überraschend – namentlich bei Schlegel – insbesondere für den Roman in Anspruch genommen worden ist.

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Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit – gattungstheoretisch wirkungsmächtige Begriffe – das Problem des besonders im Roman virulent werdenden (Gattungs-)Gesetzes vorbereitet.⁴⁵ Dem überzuordnen wäre lediglich noch das Allgemeine des Allgemeinen der Metaphysik. Offenkundig bleibt rein vom logischen Katalog her noch eine vierte Option: das Spezifische des Allgemeinen. In der Gattungshierarchie von Geschichte, Dichtung und Philosophie ist sie vermutlich schon deshalb nicht belegt, da sie einen Abstieg suggeriert, nicht danach fragt, wie sehr das Allgemeine im Besonderen so angelegt ist, dass es dem Besonderen seinen Weg bahnt, sondern danach, wie sehr auch im vermeintlich Allgemeinen ein Besonderes ausharrt, wie sehr das Allgemeine sich seiner besonderen Signatur nicht vollends entledigen kann. Das – so viel sollte in einer geschichtsphilosophisch ja auf der Hand liegenden Deutung der Entelechie offenkundig sein – ist mitnichten lediglich eine Frage der Logik bzw. des Wissens, sondern auch und in einem sehr grundsätzlichen Sinne eine der durch keine absolute Idee mehr abgesicherten Geschichte und Geschichtlichkeit des Wissens und seiner Diskurse. Die Darstellung dessen, was qua Gattung, also Unterscheidung zu wissen ist, erhält somit eine mehr als illustrierende Bedeutung, indem sie für jenes Allgemeine einerseits immer auch eine konkrete Szene anbietet, ja nur dank dieser artikulierbar wird. Andererseits – und das scheint mir der zentrale Aspekt zu sein – bindet es die Erkenntnis der Idee und Geschichte einer Gattung an die Darstellung selbst, stellt also nicht nur eine (dann auch immer wieder zu revidierende) Szene zur Verhandlung, sondern unterstreicht, dass schon die Sprache der Erkenntnis auf eine Darstellung angewiesen ist, wenn sie unterscheiden möchte und gerade dadurch eine besondere Form der historischen und auch kritischen Erkenntnis ermöglicht. Der hier als Gattungstheoretiker sprechende Walter Benjamin stellt diese Problematik nicht überraschend an den Anfang seines Trauerspielbuchs. In der schon erwähnten Erkenntniskritischen Vorrede ist von einer Esoterik der Methode die Rede, von der ich meine, dass sie in Romantheorie ihr Paradigma findet. Denn es ist der Roman jene Gattung, welche die von Benjamin hier mit Blick auf das Barockdrama konstatierte Historizität der Gattungen in die Gattungstheorie bringt, also die Leistung der theoretischen Erkenntnis an eine Darstellung, an eine (sprachlich) vermittelte Vision im Sinne einer Selbstvergegenwärtigung bindet:

45 Es ist daher kein Zufall, dass Derrida das Gesetz der Gattung von einem Roman ausgehend oder besser: einer écriture, die sich dem Roman erst verdankt, problematisieren kann. Vgl.: Jacques Derrida: Marges de la philosophie. Paris: Edition de Minuit 1972.

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Es ist dem philosophischen Schrifttum eigen, mit jeder Wendung von neuem vor der Frage der Darstellung zu stehen. […] Wie deutlich es Mathematik belegt, daß die gänzliche Elimination des Darstellungsproblems, als welche jede streng sachgemäße Didaktik sich gibt, das Signum echter Erkenntnis ist, gleich bündig stellt sich ihr Verzicht auf den Bereich der Wahrheit, den die Sprachen meinen, dar. Was an den philosophischen Entwürfen Methode ist, das geht nicht auf in ihrer didaktischen Einrichtung. Und dies besagt nichts anderes, als daß ihnen eine Esoterik eignet, die abzulegen sie nicht vermögen, die zu verleugnen ihnen untersagt ist, die zu rühmen sie richten würde.⁴⁶

Diese Esoterik, deren implizite Wirkungsweise heute wohl eher (und die Sache wohl etwas entschärfend) die Diskursivität oder auch Poetologie des Wissens zu nennen wäre, wäre die eine vom Roman an (Gattungs-)Theorie herangetragene Herausforderung. Die andere besteht darin, dass die Ordnungsleistung des Gattungsbegriffs anders zu denken sein wird, sofern die Gattungskonstitution sich mit dem Roman gerade nicht auf eine sichere Gruppe von Merkmalen beruft. Gattungen – so wird es Walter Benjamin gegen Ende seines Trauerspielbuchs schreiben – sind als Ideen zu fassen, jedoch nicht als Gattungsideen, sondern als Ideen der menschlichen Existenz als geschichtlicher Existenz. Gattung hört auf lediglich ein Ordnungsbegriff zu sein, und behauptet sich als eine im strengen Sinne historische, wenn nicht gar geschichtsphilosophische Frage. Diese jedoch hat in einer Darstellungsweise (wie dem Roman) nicht einfach ein Symptom zu finden, sondern ist eine Frage, die sich in der Darstellung selbst artikuliert und von dieser nicht zu trennen ist. So wäre durchaus in pointierender Überzeichnung zu behaupten, dass Benjamin diese These zur Gattungstheorie nur folgerichtig nach dem Roman⁴⁷ aufstellen kann und dass diese Frage der Vision ein mit dem Roman explizit gewordenes, für (Gattungs)Theorie insgesamt notwendig gewordenes Paradigma gegenüber der traditionellen Gattungspoetik darstellt. Der Roman und seine Theorie machen deutlich, dass die entscheidende Frage der Erzählung nicht einfach ein Problem der Form ist, sofern es um die mögliche oder auch unmögliche Vermittlung eines Inhalts geht. Stattdessen geht es um ein Problem der Darstellung, das auch nach dem zu fragen verpflichtet, was nicht zugegen sein kann, sich wie jedwede Esoterik nicht restlos vermitteln lässt und folglich in einem setzenden, im Quijote vielfach gegenwärtigen Gestus verharrt, der sich im Erzählakt selbst anzeigt und anzeigen kann, sofern der Roman die Gattung ist, die ihn mehr als jede andere vor ihm explizit thema-

46 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 207. 47 Ich kann hier nur auf die offenkundige Pointe verweisen, dass das Gravitationszentrum Calderón de la Barca im Trauerspielbuch auf jenes Spanien des siglo de oro verweist, das mit dem Quijote den Prototyp des modernen Romans hervorgebracht hat.

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tisiert hat. Auch aus diesem Grund ist die im Roman virtuos entwickelte Problematik der Anfang der Erzählung eher als eine Vision denn als eine Version zu bezeichnen; auch wenn diesen Visionen eine strukturelle Problematik gemeinsam ist, wird sich der eine, allen Visionen gemeinsame Fixpunkt nicht finden lassen bzw. wenn, dann nur als ein Problem, das sich im Akt der Setzung auf eine Weise artikuliert, die es unmöglich macht, es aus der Vision ‘herauszudestillieren’.

2.3 Vorgeschichte der Romantheorie: Das Problem der Integration Die soeben historisch und nicht nur systematisch gewendete These eines mit dem Roman erfolgenden gattungstheoretischen Paradigmas bedarf einiger Kommentierung. Der Roman sowie die gattungstheoretische und -ästhetische ‘Problematik seiner Vision’ sind nicht ohne vorbereitende Debatten. Man kann in dem modernen Roman die expliziteste Artikulation einer gattungstheoretischen sich schon lange anbahnenden gattungstheoretischen Frage sehen. Auch wenn aus Gründen der Ökonomie diese Vorgeschichte nicht in der gebotenen Ausführlichkeit und Vielschichtigkeit⁴⁸ dargestellt werden kann, sollen doch einige wesentliche Aspekte diskutiert werden, die mir für die Romantheorie von grundlegender Bedeutung scheinen. Dabei handelt es sich keineswegs um eine Entwicklungsgeschichte, sondern um eine Vorgeschichte, die erst rückwirkend und vom Roman ausgehend lesbar wird. Sie steht unter der Annahme, dass die aristotelische und erstmals genuin poetologische Forderung nach der Integration (bei der Darstellungen von Handlungen) zu einem problematischen Thema wird, da die Forderung nach Integration im Laufe der hier nachzuzeichnenden Debatte zu mehr wird als einer genuin poetologischen Kategorie. Dass dabei die aristotelische Poetik eine unverzichtbare und wie ich meine bis heute kaum zu unterschätzende Rolle spielt, sollte offenkundig sein. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die erneuerte Rezeption und Diskussion der seither gattungstheoretisch kanonischen aristotelischen Poetik in der italienischen Spätrenaissance. Wie problematisch solch epochalen Zuschrei-

48 Vgl.: Karlheinz Stierle: Die Verwilderung des Romans als Ursprung seiner Möglichkeit, in: H. U. Gumbrecht (Hg.): Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters, Begleitreihe zum GRLMA Bd. 1. Heidelberg: Carl Winter 1980, S. 253–313. Ebenso: Friedrich Wolfzettel: Don Quijote: Ein deambulatorischer Roman. In: Strosetzki, Jürgen (Hg.): Miguel de Cervantes’ Don Quijote. Implizite und explizite Diskurse im Don Quijote. Berlin: Erich Schmidt 2005, S. 161–176.

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bungen⁴⁹ auch immer sein mögen – es mag für diesen Kontext genügen, wenn das, was die Renaissance ausmachen soll, hier eng anhand dieser Rezeption bestimmt wird. Denn an ihr wird mehr als mithilfe von Schlagworten einsichtig, dass sie schon deshalb eine das Problem der Vision vorbereitende Epoche ist, da sie – wie Curtius⁵⁰ es mal sagte – im Gegensatz zum Mittelalter mit einem Sinn für historische Relativität zu lesen wusste. Als die entscheidende Schwelle⁵¹ zur Neuzeit ist mit ihr gleichzeitig das mit diesem ‘Geschichtsbewusstsein’ gut zu vereinbarende Projekt eines universalen Wissens des und vom Menschen verbunden.⁵² Es ist vor diesem Hintergrund alles andere als überraschend, dass auch die Grundlegung bzw. Erfindung der Gattungstheorie (wie es Daniel Javitch formuliert) in diese Epoche fällt und hier insofern von Interesse ist, als diese Erfindung zu einer paradigmatischen Figur für die Frage von universaler Theorie und historischer Relativität werden kann. Denn so allgemein sich diese Gattungstheorie auch gibt, so konkret und spezifisch motiviert ist ihre Formalisierung. Die zuvor besprochene Spannung zwischen dem Allgemeinen und Besonderen als das Problem der Vision scheint hier schon angelegt und zwar als ‘methodisches’ Problem: The most important of these developments was that sixteenth-century writers and theorists built upon Aristotle’s theory of tragedy to define more fully as well as to distinguish all the relevant poetic genres. They maintained that such a comprehensive system of the genres had already been conceived by the Stagirite when, in fact, they were the ones who invented it. Aristotle’s treatise gained currency and authority in the middle decades of the sixteenth century precisely because its method and orientation eminently suited this new need to conceive of poetry in terms of the form and functions of its various genres.⁵³

49 Vgl.: Karlheinz Stierle: Renaissance. Die Entstehung eines Epochenbegriffs aus dem Geist des 19. Jahrhunderts. In: R. Koselleck/R. Herzog (Hg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, Poetik und Hermeneutik Bd. 12. Fink: München 1987, S. 453–482. 50 Vgl.: Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Heidelberg: francke Verlag 1993 [1948]. 51 Zum Begriff der Epochenschwelle siehe: Reinhardt Koselleck/Reiner Herzog (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, Poetik und Hermeneutik Bd. 12. Fink: München 1987. 52 Von den vielen Referenzen sei nur auf einige verwiesen: Ernst Cassirer: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance: Die Platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Band 14. Hamburg: Meiner 2000. Sowie: Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Ebenso: Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Aus lateinamerikanistischer Perspektive: Walter Mignolo: The Darker Side of the Renaissance: Literacy, Territoriality, and Colonization. Michigan: University of Michigan Press 2003 [1997]. 53 Daniel Javitch: Italian epic theory. In: Norton, Glyn P. (Hg.): The Cambridge History of Literary

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Bevor ich auf die Motivation («needs») und die konkreten Aspekte dieser gattungstheoretischen Wende zu sprechen komme, gilt es nachzuzeichnen, wogegen sich dieser poetologische Diskurs formiert und weshalb dies speziell an der Frage der Gattung erfolgt. Dafür bieten sich die von Javitch angeführten Begriffe Form und Funktion an, an denen sich eine Differenzierungsbemühung gegenüber der Rhetorik ausmachen lässt. Hierfür müssen die ‘methodischen’ Verschiebungen und Motivationen im Blick behalten werden, die ich auf drei ebenso literatur- wie auch gattungstheoretisch relevante Aspekte konzentrieren möchte. Die Frage nach «form and functions»⁵⁴ hat ausgehend von der sehr formalen (und auch kryptischen) aristotelischen Bestimmung derjenigen Aspekte, durch welche Gattungen unterschieden werden können, den poetologischen Diskurs erstens von der rhetorischen Hypothek der Wirkung, zweitens von einer allzu streng an den etablierten Mustertexten orientierten Poetik der imitiatio und drittens auch von der Frage der Referenz als Wertmaßstab entlastet. Um dies nur am prominentesten und auch entscheidenden Beispiel anzuführen: Wenn die Handlung hinsichtlich ihrer internen Konsistenz zu befragen ist, dann ist die berühmte und oft missverstandene aristotelische Kategorie der Wahrscheinlichkeit zumindest nicht in erster Linie eine Frage nach der Wahrscheinlichkeit des Dargestellten, sondern meint die Wahrscheinlichkeit der Darstellung selbst. Im Falle der dichterischen Darstellung steht die Form folglich nicht im Dienste einer Funktion außerhalb ihrer selbst oder um es konkreter zu sagen: steht die Form nicht direkt im Dienste der Funktion der Überzeugungsleistung der Aussage bzw. des Dargestellten. Vielmehr bleiben beide Begriffe, Form und Funktion, auf der gleichen diskursiven Ebene. Wenn eine dichterische Darstellung überzeugen kann, dann strenggenommen nur über den ‘Umweg’ des mythos, also dank einer Binnenkonsistenz, die – anders als die direkte Ansprache der Affekte – eine eigene und geradezu logische Anforderung darstellt. Eine eigene Reflexion über die dichterische Darstellung wird also nötig und möglich, sobald sich der Diskurs der Poetik gegen einen (freilich verkürzenden) Begriff der Rhetorik stellt, letztere auf die Frage von Wirkung oder auch Vermittlungsleistung reduzierend. Diese Opposition findet eine erste Begründung in der Annahme einer Dichtung eigenen Form des Wissens und der Erkenntnis, die in der aristotelischen Poetik deutlich formuliert scheint⁵⁵: Die Erkenntnis des my-

Criticism. VOLUME 3: The Renaissance. Edited by Glyn P. Norton. Cambridge: Cambridge University Press 1999, S. 58. 54 Ebd. 55 Ich meine ‘scheint’, weil man wie oftmals geschehen die aristotelische Rhetorik heranziehen kann, um die Poetik zu deuten. In dieser Doppellektüre wird freilich auch ein anderer Be-

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thos, so Aristoteles, ist das in der dichterischen Darstellung spezifische und sie philosophisch auch autorisierende Moment, da sie als das Allgemeine des Besonderen von einer höheren Dignität ist als das immer bloß konkrete Wiedererkennen oder die nicht minder konkrete Erregung. Von den vielen Belegen, die sich hierfür anführen lassen, soll der folgende Auszug aus Tassos Discorsi dell’arte poetica genügen, der in der Spätrenaissance diese ‘formalistische’ Wende in einer solch exemplarischen Dichte und Deutlichkeit auf den Punkt bringt, dass ein längeres Zitat gerechtfertigt ist: E se ben leggiamo nella Poetica d’Aristotele che le favole finte sogliono piacere al popolo per la novità loro, qual fu tra gli antichi il Fior d’Agatone, e tra noi altri le favole eroiche del Boiardo e dell’Ariosto, e le tragiche d’alcuni più moderni, non dobbiamo però lasciarci persuadere che favola alcuna finta in poema nobile sia degna di molta commendazione, come per la ragione tolta dal verisimile s’è provato, e con molte altre ragioni da altri è stato concluso; oltre le quali tutte si può dire che la novità del poema non consiste principalmente in questo, cioè che la materia sia finta e non più udita, ma consiste nella novità del nodo e dello scioglimento della favola. Fu l’argomento di Tieste, di Medea, di Edippo da varii antichi trattato, ma, variamente tessendolo, di commune proprio e di vecchio novo il facevano; sì che novo sarà quel poema in cui nova sarà la testura de i nodi, nove le soluzioni, novi gli episodii che per entro vi saranno traposti, ancorachè la materia sia notissima e da altri prima trattata; e all’incontra novo non potrà dirsi quel poema in cui finte sian le persone e finto l’argomento, quando però il poeta l’avviluppi e distrighi in quel modo che da altri prima sia stato annodato e disciolto; e tale per avventura è alcuna moderna tragedia, in cui la materia e i nomi son finti, ma ‚l groppo è così tessuto e così snodato come presso gli antichi Greci si ritrova, sì che non vi è nè l’auttorità che porta seco l’istoria, nè la novità che par che rechi la finzione. ⁵⁶

Die Textur («testura») einer Erzählung bzw. des Poems, bestehend aus Knoten («nodi») und Auflösungen («sciolimento») bzw. Lösungen («soluzioni»), beschreibt mit einer sehr strukturalistisch anmutenden Abstraktion die Neuigkeit einer Erzählung als die Neuheit der Verbindung ihrer Elemente untereinander.

griff der zumindest aristotelischen Rhetorik möglich und nötig, da sie mit Dialektik und Poetik eine Trias formt, deren Erkenntnisleistung eine Erkenntnis jenseits des unmittelbar Gegebenen erlaubt, also eine Art Metaerkenntnis, die nicht darauf angelegt ist, den Gegenstand zu ersetzen oder verdunkeln und auch nicht nur auf ihre Wirkung reduziert werden kann, sondern ihn in eine verstandesgemäße Form zu überführen hat. Anders gesagt: Diese an Poetik exemplifizierte Erkenntnis des Allgemeinen in Besonderen ist mitnichten eine nur auf Poetik zu beschränkende Erkenntnisleistung. Wie sehr die aristotelische Rhetorik durch die Konzentration auf die Erkenntnisleistung der Rhetorik schon eine Abwehr eines anderen Rhetorikbegriffs ist, hat unter anderen auch Ricœur diskutiert. In diesem Falle wäre es nun durchaus geboten, die Poetik nicht mit der Rhetorik zu deuten. Vgl. hierzu: Paul Ricœur: La métaphore vive. Paris: Seuil 1975. 56 Torquato Tasso: Discorsi dell'arte poetica. In: Ders.: Prose. Milano: Riccardini 1959 [1587], S. 352–353.

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Der auch und vielleicht gar grundsätzlich rhetorische Begriff des «argumento» wird hier nicht mehr verkürzt auf die Wirkung der Überzeugung oder Ansprache (wie im Falle des argumentum a foritori bzw. dem argumentum ad hominem), sondern benennt eine formale Struktur der Darstellung selbst. Man sieht, wie hier die Poetik jenen formalen Bereich der Rhetorik für sich fruchtbar macht und beansprucht, der in einer auf Überzeugung oder Erregung verkürzten Theorie der Rhetorik ‘frei’ geworden scheint. Dass zudem bei der Frage der Verknüpfung – um mit einer weiteren Metapher aus dem Feld der Weberei zu sprechen – ausgerechnet das potentiell problematische Motiv der Neuheit dazu dient, die Frage der Handlung von der Referenz zur Handlungslogik zu verschieben, die Frage der Dichtung als die Frage nach der Form zu formulieren, ist ebenfalls kommentierungsbedürftig und soll weiter unten erneut aufgenommen werden. Doch zunächst stellt sich die Frage, wie sich diese gewissermaßen formalästhetische, ja strukturalistische Wende in der Frage nach der Dichtung mit der gattungstheoretischen Frage verbindet. Hierfür bieten sich zwei Aspekte an, durch welche eine Spannung anlegt wird, die ich in Romantheorie vollends artikuliert sehe und die den Umbruch von Gattungspoetik zu Gattungstheorie vorbereitet. Erstens ließe sich ein dermaßen formales, ja abstraktes Beschreibungsniveau auch als das Versprechen und den Auftrag deuten, mit der aristotelischen Poetik eine allgemeine und umfassende Theorie für alle Gattungen und alle Dichtung zu formulieren, also die Poetik mitnichten auf die Tragödie zu reduzieren. Die in der aristotelischen Poetik ja kryptisch und wie es allgemein heißt nur ‘dunkel’ mitgegebenen formalen Merkmale haben genügend Spielraum gelassen für diesen Anspruch. Mit einem solchen Begriff von Dichtungstheorie wären Gattungen dann jeweils spezifische Artikulationen allgemeiner Merkmale von Dichtung und ließen sich entsprechend formal spezifizieren als unterschiedliche Prioritäten bezüglich der jeweiligen Merkmale. Gattungen wären die Fälle, mit und an denen es zu belegen gilt, inwieweit die Poetik tatsächlich eine universale Theorie der Dichtung anbietet und gewissermaßen die einzige Evidenz für die Existenz einer solch umfassenden Theorie der Dichtung, wenn denn alle Gattungen von einer und dieser Poetik her gedacht werden können. Dabei ist Frage der unterschiedlichen Formen in den Gattungen, die auch konkret anhand von unterschiedlichen Versmaßen erfolgen kann, nicht der entscheidende Punkt, sondern vielmehr eine möglichst abstrakte Beschreibung der Gattungen ausgehend von ihnen allen gemeinsamen Merkmalen, so etwa wenn die erzählenden und dramatischen Gattungen als unterschiedliche Sprecherpositionen in Bezug auf die Handlung bestimmt werden. Nicht minder gilt dies für die Unterscheidung der Funktion unterschiedlicher Gattungen, die ebenfalls mithilfe einer immanenten (Darstellungs-)Logik präzisiert wird. So beruft sich die hier paradigmatische Unterscheidung von Tra-

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gödie und Epos gerade nicht mehr auf das Dargestellte («le cose imitate»⁵⁷), sondern auf die Logik der Handlungsumbrüche und bricht so mit dem rhetorischen Paradigma der Funktion im Sinne der Überzeugung qua leidenschaftliche Erregung. Ohne deshalb auf eine Wirkung, auf Affekte zu verzichten, wird ihr Verhältnis umgekehrt. Die Affekte sind Folge der Handlungslogik und nicht umgekehrt diese auf jene hin entworfen ist. Erneut und etwas ausführlicher Tasso: Per queste cose, così dette da Aristotele con quella oscura brevità ch’è propria di lui, è stato creduto il tragico e l’epico in tutto conformarsi nelle cose imitate; la quale opinione, benchè commune e universale, vera da me non è giudicata, e la ragione che m’induce in così fatta credenza è tale. Se l’azioni epiche e tragiche fossero della istessa natura, produrrebbono gli istessi effetti, perochè dalle medesime cagioni derivano gli effetti medesimi; ma non producendo i medesimi effetti, ne seguita che diversa sia la natura loro. Che gli istessi effetti non procedano da loro, chiaramente si manifesta. Le azioni tragiche movono l’orrore e la compassione, e ove lor manchi questo orribile e questo compassionevole, tragiche più non sono. Ma l’epiche non son nate a mover nè pietà nè terrore, nè questa condizione in loro si richiede come necessaria; e se talora ne’ poemi eroici si vede qualche caso orribile o miserabile, non si cerca però l’orrore e la misericordia in tutto il contesto della favola, anzi è quel tal caso in lei accidentale e per semplice ornamento. Onde se si dice parimente illustre l’azione del tragico e quella dell’epico, questo illustre è in loro di diversa natura: l’illustre del tragico consiste nell’inespettata e sùbita mutazion di fortuna, e nella grandezza de gli avvenimenti che portino seco orrore e misericordia; ma l’illustre dell’eroico è fondato sovra l’imprese d’una eccelsa virtù bellica, sovra i fatti di cortesia, di generosità, di pietà, di religione; le quali azioni, proprie dell’epopeia, per niuna guisa convengono alla tragedia.⁵⁸

Doch diese allgemeinen Merkmale (und der Fall der im Englischen ja heute noch als romances bezeichneten Ritterromane der von Tasso so bezeichneten «romanzatori»⁵⁹ ist hierfür das Paradebeispiel) bedeuten – wie im Falle der Integration – immer auch und immer schon die Entscheidung einer wertenden Zugehörigkeit. So ist Integration auch eine Frage der Autorität. Die niederen, des Namens Dichtung kaum würdigen Gattungen sind demnach jene, die sich mit den allgemeinen Gesetzen der aristotelischen Poetik nicht vereinen lassen und das meint konkret: die den Anforderungen der Integration bei der Darstellung von Handlungen nicht nachkommen. Das ist zumindest auf zweierlei Weise möglich: Sie können an diesen scheitern, indem die Erzählung ihrer Gattung nicht gemäße Verknüpfungen vornimmt, also in der Epik eine der Tragödie entsprechende Handlungslogik verwenden und umgekehrt oder aber – und das wird noch von

57 Torquato Tasso: Discorsi dell’arte poetica. S. 359. 58 Ebd., S. 359–360. 59 Ebd., S. 358.

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Bedeutung sein – indem sie sich wie jene überwuchernden Ritterromane überhaupt einer Handlungslogik verweigern und damit ganz grundsätzlich der Integration ihrer Bestandteile. Warum ist dies von Relevanz? Man kann hier deutlich erkennen, dass die formale Deutung (nicht nur) der aristotelischen Poetik ebenso von der Motivation getrieben ist, eine Poetik der Autorisierung zu formulieren, mit der sich auch andere literarische Darstellungen bewerten lassen als die schon etablierten Beispiele. Formalisierung ist also nicht das Gegenteil von Historizität, sondern vermag auch eine Reaktion auf historische und auch kulturelle Veränderungen sein. Über den Umweg eines vermeintlich ‘universalen’ Denkens lassen sich konkrete Motivationen ebenso erfüllen wie mit einer bloß spezifischen Gattungslehre. Es ist an dieser der ‘formalen Poetik’ eingelassenen Spannung abzulesen, dass man sich in Epochenumbrüchen wahrnimmt bzw. epochal oder auch kulturell relativierend argumentieren kann, ohne – denn das wäre ein Anschlag auf die Autorität – auf das Allgemeine zu verzichten. Kurzum: Das Problem der Vision deutet sich bereits an, sofern dieses Allgemeine nicht an sich, sondern erst dank eines durch Verhandlungen der Zugehörigkeit präparierten Feldes verfügbar wird. Damit ist eine weitere Ebene als die vermeintlich genuin formalpoetologische Frage angesprochen. Diese Geste der Autorisierung hat sich zweifelsohne auch dem selbst zweifelhaften Anspruch einer allgemeinen oder zumindest allgemeineren Erkenntnis via Dichtung zu verdanken, so dass all das, was beispielsweise keine Handlung konstruieren kann, als misslungen zurückgewiesen werden konnte, da es – und darin der Geschichte entsprechend – scheinbar nur die konkrete Darstellung als Erkenntnis anzubieten hat, kein ‘Gesetz’ der Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit preisgibt. Ich werde weiter unten auf die offenkundige Pointe zu sprechen kommen, dass der Roman jene Gattung ist, dessen Erkenntnis – welche auch immer sie sein mag – sich jedenfalls nicht dem ‘Allgemeinen’ seiner Handlung verdankt. Doch zu dem zweiten Aspekt. Jene sprichwörtlich gewordene «oscura brevità»⁶⁰ des Aristoteles ist gleichzeitig das Einfallstor für eine Überlegung, die just diesen allgemeinen Anspruch unterwandert und aushöhlt bzw. deutlich macht, dass die vermeintlich lediglich formal sich begründende Unterscheidung nie nur formal sein kann. Dermaßen abstrakt wie sie sind, bedürfen diese Merkmale einer Vermittlung oder auch (und das auch schon in der aristotelischen Poetik) eines mehr oder minder klar umzäunten Feldes gelungener Beispiele. Solange

60 Ebd. S. 359.

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man die Beispiele lediglich als veranschaulichende Beispiele⁶¹ im Sinne eines rhetorischen Exemplum begreift bzw. herunterspielt, darf man auch davon ausgehen, dass ganz in der Art eines frühen Strukturalismus in den einzelnen Dichtungen historisch und kulturell spezifische Artikulationen dieser Merkmale vorliegen. In ihnen artikuliert sich die Idee der Gattung (hier: die jeweils verschieden ausfallende, aber doch stets integrierende Nachahmung von Handlungen) auf jeweils historische Weise. Auch wenn nicht primär intendiert, so hat es diese Überlegung ermöglicht, dass Gattungstheorie erstmals zu einer historisch und kulturell spezifisch argumentierenden Theorie werden konnte. Man kann leicht antizipieren – und die vielfachen Kommentierungen der Poetik in der Renaissance sind hierfür ein schlagender Beweis –, dass die immer auch deutende Vermittlung und immer auch autorisierenden Beispiele bzw. Aspekte der Dichtung zunehmend an die Stelle der vermeintlich allgemeinen und neutralen Merkmale treten und dass, wie es die vielen Dispute der Dichterphilologen der Renaissance belegen, diese Deutungen natürlich auch von spezifischen Interessen und persönlichen Präferenzen geprägt sind. Der für diese Studie entscheidende Aspekt ist nun nicht die ‘Versubjektivierung’ von Theorie. Von größerer Bedeutung scheint mir hier eine Frage, die dieses Problem ganz konkret und gleichzeitig als gattungstheoretisches Merkmal auf den Punkt bringt und erneut zur Frage der Integration führt. Was sie für die Dichtungstheorie bedeuten kann, wurde schon angesprochen. Zugehörigkeiten werden verhandelt: was ist Dichtung, was ist es nicht? Was jedoch diesem Aspekt des Integrationsbegriffs vorausgeht, ein Aspekt, der sich an einer kurzen Stelle in der aristotelischen Poetik entzündet, sei kurz kommentiert, da er geradezu idealtypisch belegt, wie die gattungspoetische Frage in eine gattungstheoretische umschlägt. Wenn etwa ein formales Merkmal wie die Integration dermaßen spezifiziert wird, dass es seine allgemeingültige Qualität einbüßt, wird explizit, dass an diesem Merkmal ein weiterer theoretischer Bedarf gebunden war (von Javitch «demands»⁶² genannt), der über die formale Beschreibung hinausgeht und nun nur noch als (Zweit-)Theorie und eben nicht mehr durch die eine Poetik gesichert werden kann. Das sicherlich prominenteste Beispiel für

61 Vgl.: Raymund Wilhelm: GESCHICHTENERZÄHLEN UND LEBENSPRAXIS: Funktionen des Erzählens im „Conde Lucanor“ und im „Decameron“. In: Romanische Forschungen, 110. Bd., H. 1 (1998), S. 37–67. 62 Daniel Javitch: The assimilation of Aristotle’s Poetics in sixteenth-century Italy. In: Norton, Glyn P. (Hg.): The Cambridge History of Literary Criticism. VOLUME 3: The Renaissance. Edited by Glyn P. Norton. Cambridge: Cambridge University Press 1999, S. 215.

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einen solchen nur ‘theoretisch’ und eben nicht nur deskriptiv zu sichernden Bedarf ist sicherlich die Frage des Kanons. ⁶³ Es lohnt, diesen Umschlag etwas detaillierter nachzuzeichnen: Wie schon an der Differenz von Epos und Tragödie dargelegt, ist Integration (als Integration von Handlung) ein gattungsspezifizierendes Merkmal, sofern sie einerseits Gattungen zu unterscheiden erlaubt und sofern sie andererseits durch die neuen, zumeist niederen Gattungen zunehmend in Frage gestellt wird, da sie für diese Art von Nachahmungen offenkundig kein bestimmendes Merkmal ist.⁶⁴ Die Tragödie – so steht es in der Poetik – hat ja idealerweise eine Handlung zu konstruieren und kann dabei stets nur einen Handlungsstrang zeigen. Integration ist hier eine Frage des jeweils konkreten mythos. Das Epos hingegen – so im Kapitel 24 der Poetik – darf sich eine Vielzahl von gleichzeitig verlaufenden Handlungssträngen erlauben und kann, sofern es eine erzählende und eben nicht zeigende Darstellung ist, auch für parallel verlaufende Handlungsstränge verkraften, sofern diese sich nicht von der Haupthandlung loslösen oder diese gar unterwandern. Dass Tasso zuvor auf das argumentum zu sprechen kam und nicht auf den mythos, schuldet sich, so meine ich, nicht nur der Übersetzung, sondern indiziert ebenso eine andere Ebene der Integration, die hier nicht mehr als die Integration einer Handlungslogik gedacht wird, sondern als die Integration von Handlungen selbst, die nicht mehr positiv auf eine konkrete Handlungslogik bezogen ist, sondern eher negativ als Grenzwert die Desintegration des Ganzen vor Augen hat. Das Argument nämlich verträgt anders als der Plot (mythos) mehrere Handlungen und verlagert die Frage der logischen Stimmigkeit auf ein abstrakteres Niveau. Diese Verschiebung auf einen weiteren und äußeren Rahmen – man darf eine Andeutung auf einen solchen äußeren Rahmen in Aristoteles’

63 Vgl. ebd.: «Important and pragmatic issues of exclusion and inclusion were at stake bearing not only on the status of one new poetic composition, but on the legitimacy of modern poetry generally. Conservative critics realized that genre theory, while pretending to offer a universal definition of a given genre, had to place definite limits on the body of texts and features it considered to arrive at that definition. They exploited such inherent selectivity in genre theory to exclude texts they sought to degrade or to disqualify. […] Ultimately then the debate between Pellegrino and Salviati not only revealed the exclusive potential of neo-Aristotelian genre theory, but also its capacity to be stretched according to the demands of an evolving literary canon.» 64 So führt Javitch aus: «The integration of episode to main plot was the principal consideration. The stricter theorists argued that the Iliad or the Aeneid had to serve as exemplars of such integration since no episode could be removed from either of those poems without deforming or doing notable harm to them. In general, the amplifying function of episodes received a good deal more attention and definition than in the Poetics, as well as exemplification from post-Aristotelian practice, especially Virgil’s.» (208)

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Bezug auf die Aufmerksamkeitsspanne erkennen – ist entscheidend, da sie eine Frageebene andeutet, die für das klassische Drama nicht in dem Maße relevant sein musste und die von Tasso vielleicht auch schon mit Blick auf die neuen niederen Gattungen gewählt wurde. Denn im Grunde stellt sich hier nicht mehr die Frage nach der Struktur der konkreten Darstellung, sondern die auf einer ganz anderen Ebene zu verortenden Frage des Verstehbaren, des beim Hören oder Lesen Erfassbaren. Welche Rolle spielt all dies nun für den Roman? Die Frage der Integration, nicht zufällig als Anspruch entwickelt in einem Text, der die Tragödie im Zentrum hat, wird im Epos und in der Entwicklung des Epischen und seiner Gattungen (an deren Ende der Roman stünde) zu einer problematischen, formal immer weniger zu bestimmenden und deshalb stets abstrakteren, wenn nicht gänzlich zu unterlaufenden Größe. Die Geschichte der epischen Gattungen lässt sich auch als eine Geschichte lesen, in der Integration in einem gleich mehrfachen Sinne irrelevant wird und vielleicht immer schon war. Wenn die Ritterromane (und speziell die Ritterromane, die Cervantes im Quijote anführen wird) sich durch eine ausbleibende Integration auszeichnen, da sie durch die bloße Anhäufung wundersamer Begebenheiten jedwede übergeordnete Handlungslogik torpedieren, dann sind sie, gemessen am Anspruch der aristotelischen Bestimmung, dass Dichtung die Nachahmung von Handlungen ist und Handlungen etwas sind, was einen logischen Anfang, eine logische Mitte und ein logisches Ende haben, schlicht und ergreifend keine Dichtung. Erst der Roman wird diesen Mangel positiv wenden, indem er wie keine andere Gattung zuvor auf einen anderen Begriff der Binnenkonsistenz verweist, der nicht mehr von der Handlung her entworfen ist. Stattdessen ist mit der bloßen Fülle seiner Darstellung, ja in der Darstellung einer Welt ein (wie sich erweisen wird freilich nie vollends einzulösender) Anspruch formuliert, der für einen anderen Typus von Fiktion steht und der neben der Handlungslogik eine weitere und ganz anders begründete Metaebene von Dichtung problematisiert. Denn nicht die Logik einer oder vieler Handlungen ist hier von Interesse, sondern vielmehr die Frage nach einer der Handlungslogik selbst vorauszusetzenden Instanz, die verstanden als Weltkonstitution nicht ohne den Umweg einer (wie im Falle des Quijote ja wahnhaften) selbstbezüglichen, sich in ihren Grenzen aushandelnden Fiktion zu formulieren ist. Dass also Integration nicht mehr auf der Ebene der Handlung zu erfolgen hat, verweist auf eine andere Valenz des Fiktionsbegriffs, für den eben jener Mangel an (Handlungs-)Integration keine unmittelbare Relevanz hat. Die Fiktion ist als Fiktion Thema des Romans und eben nicht als eine vom Konkreten entlastete Darstellung. Wenn den Ritterromanen nun die Einheit der Handlungen fehlt, so sind sie doch in dem Sinne kein moderner Roman, als dieser Mangel an Integration keine positive und explizite strukturelle Begründung findet. So lassen sie sich, so-

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fern man nicht mit einigem Aufwand und ungeachtet der tiefgreifenden Differenzen die Queste⁶⁵ mit dem aristotelischen Charakter zur Deckung bringt bzw. mit einer zielgerichteten Handlung eher gewaltsam verrechnet, allenfalls über das Versmaß (sofern gegeben) mit jenem Begriff des Dichterischen und Epischen vermitteln, den Aristoteles im Sinn gehabt haben soll, wenn er vom Epos sprach. Damit jedoch wäre auf einen materialen Formbegriff Bezug genommen, den Aristoteles, um die Handlung zum zentralen Gegenstand der Dichtung zu machen, gleich zu Beginn der Poetik explizit ausgeschlossen hatte für die Bestimmung von Dichtung. Eine solche Logik der konkreten Merkmale würde auch den umfassenden Anspruch einer Poetik unterlaufen, um dann doch wieder nur eine Gattungslehre anzubieten. Wie also darauf reagieren, wenn die Aussortierung aus dem Kanon der Dichtung nicht die einzige Option sein soll und die qua Formalisierung möglich gewordene historische Perspektive doch gerettet werden soll? Lediglich eine kulturspezifische und historisierende Lektüre der aristotelischen Poetik selbst könnte einen Ausweg weisen, indem es das Ideal der Handlungsintegration als einen spezifischen Zug der griechischen Dichtung begreift. Damit jedoch ist – offenkundig – eine weitere Theorie impliziert, eine die formale Dichtungslehre vorbereitende geschichtliche Theorie, die nach dem Ursprung der unterschiedlichen Bedürfnisse und Ideale der Dichtungsformen fragen muss. Man sieht leicht, wie die im Roman ja zur vollen Artikulation kommende Krise der formalen Bestimmung einen weiteren Theoriebedarf auslöst, das Problem der (vorbereitenden) Theorie in die Gattungstheorie trägt, sofern – wie anfangs gesagt – diese Theorie nicht einfach eine Theorie über diesen Gegenstand ist, also nicht die (ehe schwerlich zu bestimmende) Form des Romans formal beschreibt, sondern die Emergenz des Romans, die Motivation seiner Formlosigkeit befragt. Damit jedoch ist auch die Hoffnung auf eine bruchlose Vermittlung von allgemeiner Dichtungstheorie und konkreter Gattungstheorie endgültig zerschlagen. Wenn es nun stimmt, dass für den Roman eine im aristotelischen Sinne zu verstehende Integration der Handlungen nicht relevant ist, dann scheint es geboten, seine Vorgeschichte mit einer anderen Perspektive als die der Poetik darzustellen. Vorzugsweise handelt es dabei um eine Perspektive, in der der Mangel an Integration nicht nur (wie im Falle der Ritterromane) für einen Mangel steht, sondern auch eine positive Bestimmung erfahren kann und so vielleicht auch rückblickend einen anderen Blick auf den Mangel an Integration freigibt. An dieser Stelle lässt sich das von Tasso angeführte Element der Neuheit der Handlung wieder aufnehmen und mit Blick auf die Frage der Integration in ein anderes

65 Friedrich Wolfzettel: Don Quijote: Ein deambulatorischer Roman, S. 167ff.

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Licht stellen, nämlich unter das Licht einer (positiven) Desintegration. Diese Neuheit als Neuheit der Erzählungslogik statt die des Dargestellten scheint mir etymologisch nicht zufällig zurückzuweisen auf das novellare und vorauszuweisen auf die in den großen romanischen Sprachen übrigens exklusive Bezeichnung des Romans als novela im Spanischen. Das novellare, das in Boccaccios Dekameron seine etablierte Referenz findet, schreibt dem Roman noch eine andere strukturelle Vorgeschichte als die epische Breite und Handlungsfülle ein und auch diese ist eine, die Integration problematisch macht. Ein strukturell gemeinsamer wenn auch sehr weithergeholter Ausgangspunkt zu den Formalisierungstendenzen der aristotelischen Poetik scheint mir, dass auch das novellare die Frage der Erzählung nicht auf eine konkrete Form oder eine konkrete Darstellungsweise bezieht. Statt aber auf eine abstraktere Ebene wie das Verhältnis von Handlung und Darstellung zu verweisen, wird hier der Akt des Erzählens selbst von Bedeutung. Jenes toskanische novellare, das – so zumindest die Lehrmeinung – begründend für Boccaccios Dekameron ist, findet in diesem Buch der Hundert Novellen eine bedenkenswerte Würdigung: Noch unbetroffen von dem Schulenstreit um die aristotelische Poetik stellt Boccaccio im Vorwort zu jenem Buch, das als die erste erzählende Dichtung in ungebundener, fast möchte man sagen: formloser Form gelten darf, ein vermeintlich sehr traditionelles, oftmals nur als Vorwand gewertetes Argument für seine Dichtung in Aussicht: Diese Erzählungen sollen trösten, belehren und wenden sich vor allem an jene, die – wie Frauen – sonst kaum Handlungsmöglichkeiten haben, um anders als qua Lektüre Trost zu finden.⁶⁶ Diese Herausstellung der tröstenden Lektüre jedoch kann auch anders gelesen werden, gegen den Strich des horazschen Diktums und zwar gerade weil das, was folgt, sich nur schwerlich als eine moralische und tröstende Lehre integrieren lässt. Schon formal ist die eindeutige Absichtserklärung unterwandert und ironisiert: 100 Erzählungen sind für keine Lektüre dieser Welt auf einen Schlag zu einer tröstenden Moral zu formulieren, so dass vielmehr der Akt der Lektüre bzw. des Erzählens selbst zu jenem wird, der Trost spenden kann. Die Lust der Erzählung, ja des Textes, manifestiert sich in einer ungebundenen

66 Die geschlechterspezifische Pointe kann ich hier leider nur andeuten und verdient eine weitere, eigenständige Studie: Man darf davon ausgehen, dass im Bild der angeblich von allen anderen Praktiken ausgeschlossenen und meistens alleine im Hause sitzenden Frau eine auch für den Roman entscheidende Lektürehaltung vorbereitet ist, die sich – man denke an Madame Bovary – in Konkurrenz zur Lebenswelt denkt. Die hier mit der ‘Frau’ benannte ‘Gefahr’ einer solchen Lektüre dürfte auch in einem anderen prominenten Leser – Don Quijote – zugegen sein. Die Ritterlichkeit ist hier dermaßen ironisiert, dass er als verweichlichter Ritter der Lektüre natürlich im krassen Kontrast zum Ideal des hombre de letras y armas steht.

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Form, die Integration nur noch rhetorisch-moralisch behaupten kann und vielleicht auch möchte. Was also die Lust am Neuen betrifft, wäre hier nicht die neuartige Verknüpfung der Handlung das entscheidende, sondern, wie ich weiter unten mit Hans Blumenberg argumentieren werde, die Anstrengung des Erzählens selbst, die immer wieder neu behauptet wird, immer wieder neu ansetzt und auch nur in diesem Akt sich behaupten kann gegen die trostlosen Zwänge der Lebenswelt. Gerade die Entlastung von einem internen argumento bzw. einem mythos, also die Entlastung von einem abstrakten Formbegriff, der im Grunde doch auf eine Handlungslogik rekurriert, erlaubt in der Formlosigkeit die Artikulation eines Affekts, der, kein rhetorischer und nicht minder selbstbezüglich als die Frage des mythos, doch ein spezifisch ‘ästhetischer’ ist, nämlich die Zeit der Erzählung als die Zeit des Erzählens zu erleben und behaupten.⁶⁷ Offenkundig kann Integration für das absolute Präsens⁶⁸ der ästhetischen Zeit keine relevante Größe sein, eher noch ihr Aufschub. Doch damit noch nicht genug: Hinzu kommt eine dritte Krise der Integration. Die Distanz zur moralischen Rechtfertigung dieser Erzählungen wird nicht nur durch die Lust an der Erzählung offenkundig. Sie verdankt sich auch einem strukturellen Tatbestand: der Rahmenhandlung.⁶⁹ Diese ist noch nicht per se etwas, was sich dem Gebot der Integration widersetzt, aber doch ein Strukturelement, das dazu nötigt, Integration nicht mehr auf der Ebene der Handlung(en) zu verorten. Dringend wird vielmehr die Frage nach dem Umgang mit der Erzählung als Text und zwar, sofern der Text sich selbst thematisiert, sich selbst lokalisiert. So gilt auch hier, dass die Selbstbezüglichkeit den eigenen Bereich der Dichtung absichert, aber nun eine ganz andere Funktion als die der Konsistenz meint. Also nicht nur die sprichwörtlich gewordene epische Breite, sondern auch, sofern Ebenen im Text selbst unterschieden bzw. markiert und problematisiert werden, die, wenn man so sagen kann, epische Höhe ist ein Faktor der Desintegration. Man sieht leicht, wie jenseits des ‘logischen’ Impetus der aristotelischen Poetik in dieser «verwilderten» Epik ganz andere ästhetische Aspekte wie die Lust an der Erzählung oder die Selbstverortung der Fiktion sichtbar werden.

67 Natürlich finden sich hier noch andere, nicht minder bedeutsame Vorläufer dieses Motivs, so etwa 1001 Nacht oder La Celestina. Dass ich hier vom Dekameron ausgehe, erklärt sich im Folgenden von selbst. Ich danke Vicente Bernaschina Schürmann nicht nur für diesen Hinweis, sondern auch für die vielen Gespräche und Anregungen zu diesem Kapitel. 68 Vgl.: Karl-Heinz Bohrer: Das absolute Präsens: die Semantik ästhetischer Zeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. 69 Vgl.: Caroline Emmelius: Gesellige Ordnung. Literarische Konzeptionen von geselliger Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin/New York: de Gruyter 2010. S. 199ff.

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Nimmt man diese drei Krisen der Integration – zu viele Handlungen, die Lust des Textes selbst bzw. des Erzählaktes, die Auffächerung von Erzählebenen bzw. die Selbstverortung der Erzählung – sind, wenn auch noch reichlich formal und holzschnittartig, wesentliche Vorbedingungen der Formlosigkeit des Romans benannt oder auch: eine mit dem Roman anders zu denkende Frage der Form. Ich meine, dass – und auf Motivationen dieser Desintegration werde ich noch zu sprechen kommen – im Quijote sich in bisher ungekannter Weise diese drei Stränge der Desintegration auf paradigmatische Weise miteinander verweben und dass in dieser Trias nicht nur Teilaspekte des Romans veranschaulicht werden, sondern auch das ‘Formproblem’ des Romans sich konstituiert. Wie sehr dieses Bewusstsein einer paradigmatischen Wende dem modernen Roman von Anfang an eingelassen ist, zeigt sich daran, dass Cervantes – und hier schließt sich der aristotelische Kreis – im Quijote den Roman als die Gattung der Desintegration entwirft, wenn er über die Lektüre seines Ritters der traurigen Gestalt gleich zu Beginn feststellen kann: Con estas razones perdía el pobre caballero el juicio, y desvelábase por entenderlas y desentrañarles el sentido, que no se lo sacara ni las entendiera el mesmo Aristóteles, si resucitara para sólo ello.⁷⁰

Gleichsam als Klammer des ersten Teiles findet sich gegen Ende im 47. Kapitel die Erklärung für die vergebliche Sinnsuche des Aristoteles, für den Verlust eines Sinns in einer ebenso verlorenen Struktur. Am Phänomen des hier extrem ambivalent und ironisch zu lesenden Fabelkörpers («cuerpo de fábula»), der ebenso den aristotelischen mythos im Sinne einer wohlgegliederten Fabel wie das Monstrum Roman im Sinne eines Fabelkörpers meint, wird das Sinnlose dieser Romane an deren ausbleibender Integration ausgemacht, wenn es heißt, dass Anfang, Mitte und Ende nicht miteinander korrespondieren: No he visto ningún libro de caballerías que haga un cuerpo de fábula entero con todos sus miembros, de manera que el medio corresponda al principio, y el fin al principio y al medio; sino que los componen con tantos miembros, que más parece que llevan intención a formar una quimera o un monstruo que a hacer una figura proporcionada.⁷¹

Doch wäre hier die entscheidende Pointe verkannt, wenn dies lediglich als eine Parodie auf die Ritterromane gelesen wäre und man nur diese angesprochen wähnte, da von diesem desintegrierten Monstrum die Rede ist. Vielmehr ist es

70 Miguel de Cervantes: Don Quijote de la Mancha. Madrid: Cátedra 2004, S. 98. 71 Ebd., S. 553.

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der Text des Quijote selbst, der eine noch viel weitergehende Desintegration als die Ritterromane vollzieht und in einem viel grundlegenderen Sinne keinen Anfang und kein Ende hat. Im Quijote nämlich finden wir die drei genannten Aspekte der Desintegration in denkbarer Konsequenz umgesetzt und dermaßen miteinander verwoben, dass sie sich gar nicht mehr trennen lassen, in der Metalepse ihre radikalste Äußerung findend. Denn die Tatsache, dass der Quijote selbst ein Buch über Bücher, ja ein Buch der Bücher⁷² ist und ein Buch, das sich selbst liest, bereichert die quantitativ ehedem nicht zu integrierende Vielzahl der Handlungen um eine auch qualitativ nicht integrierbare Ebene, so dass das Leben in Lektüre zum Leben selbst werden kann, das Ende der Erzähllust dadurch überbietend, dass der Lektüreakt selbst sich zu realisieren sucht. Dass Quijote kein reifender Charakter, seine Handlungen keinem übergeordneten Sinn verpflichtet sind, ist deshalb mehr als ein von den Ritterromanen geerbtes Übel, sondern stellt nur noch grundsätzlicher aus, wie sehr diese Fiktion ganz in der Spannung von Lebenswelt und Lesewelt, von Schein und Sein verbleibt und die als Konflikt immer wieder von Neuem anbricht. Der Quijote qualifiziert sich also durch weit mehr als bloß durch den ironischen Gestus als Gründungstext des modernen Romans. Er vereint auf exemplarische Weise all die genannten Integrationskrisen in sich und macht endgültig das Paradigma der Handlung für die epischen Gattungen obsolet. Nur folgerichtig stellt sich Cervantes mit dem Quijote der alles entscheidenden Grenze immer wieder neu, nämlich jener von Lebenswelt und Romanwelt, deren unmögliche Integration das zentrale Motiv eines Romans ist, der, indem er sich selbst quasi im Entstehen⁷³ vorführt, genau diese Verschmelzung unaufhörlich behauptet und zu vollziehen vorgibt, um dann doch an der faktischen Endlichkeit des Romans zu scheitern. Dass die Krise der Integration mitnichten eine lediglich gattungstheoretische ist, also dass diese Ästhetik der Desintegration selbst eine andere Geschichte indiziert, scheint ebenso offenkundig wie es nur höchst spezifisch zu belegen ist. Soll es dabei weiterhin um Romantheorie gehen, dann sollte die Überwindung eines genuin formalistischen Gattungsbegriffs, also eines Gattungsbegriffs, der ohne eine weitere Geschichte bzw. Theorie auskommt, nicht durch eine Rhetorik der Epochalität, ja durch eine Geschichtsphilosophie ersetzt werden, so dass das Gattungsspezifische des Romans als Zeitdiagnostik aufgelöst

72 Vgl.: Gerhard Poppenberg: Das Buch der Bücher. Zum metapoetischen Diskurs des Don Quijote. In: Strosetzki, Jürgen (Hg.): Miguel de Cervantes’ Don Quijote. Implizite und explizite Diskurse im Don Quijote. Berlin: Erich Schmidt 2005, S. 195–204. 73 Vgl.: Tilbert Dídac Stegmann: Cervantes’ Musterroman «Persiles»: Epentheorie und Romanpraxis um 1600 (El Pinciano, Heliodor,«Don Quijote»). Hamburg: Hartmut Lüdke 1971.

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wird. Die mit dem Roman als Gattungstheorie manifeste Erklärungsnot kann und sollte nur durch eine andere Geschichte perspektiviert erfolgen (und darin gleicht Romantheorie dem Roman), aber deshalb noch lange nicht restlos verrechnet werden mit epochalen Großerzählungen. Es wäre die Pointe der Romanerzählung verkannt, wenn in seiner Theorie an eben jener Form von großen Erzählungen, also im Grunde an ‘epischen Theorien’ festgehalten würde, die der Roman als Gattung der Desintegration zuvor unmöglich machte. Vielmehr scheint es notwendig, bei der Beschreibung dieses Umschlags von Gattungslehre in Gattungstheorie das durch eine allgemeine Poetik veranschlagte Reflexionsniveau nicht dadurch zu unterbieten, dass nunmehr nur Spezialtheorien verschiedener Romanpoetiken einerseits und kulturhistorische Großtheorien andererseits möglich sind, also von kleinen Episoden zu reden, die sich dann symptomatisch in ein großes Ganzes fügen. Vielversprechender ist eine andere Art der Vermittlung, die freilich nie eine unmittelbare, absolut notwendige oder lückenlos belegbare ist, sondern eine Vision und die als Vision zu belasten und erproben ist und die deutlich vor Augen führt, dass auch die mit dem und am Roman belegte Neuzeit eine durch Erzählungen von Erzählungen konstituierte Wende meint. Entscheidend ist also weniger die bloße Tatsache der großen Erzählung an sich, sondern die potentiell endlose Selbstreflexivität der und dieser Erzählung wie auch die Tatsache, dass Erzählungen von nun an immer auch und immer wieder sich selbst erzählen müssen, wenn sie überhaupt erzählen wollen.

2.4 Nach der Integration Auch wenn sich die Kategorie der Handlung sich nicht als die allgemeine Kategorie erwiesen hat, mit welcher alle Gattungen bestimmt werden können, und auch wenn das Projekt einer umfassenden Gattungstheorie nicht zu realisieren ist, hat ein formales Beschreibungsniveau seine Berechtigung. Nicht um die Verschleierung von spezifischen Motivationen geht es dabei oder um das Fortleben ‘epischer Theorien’, sondern darum, die Vielfalt der Zusammenhänge in der jeweiligen Perspektivierung nicht auszuschließen und darum, die Geschichte der Geschichte lesbar zu halten. Das hier entwickelte und reichlich unterbestimmte Motiv der Desintegration scheint mir hierfür angemessen, da es einerseits spezifisch genug ist, um einen mit dem Roman relevant werdenden Paradigmenwechsel auch auf einer strukturell wirksamen Ebene zu bestimmen und da es andererseits offen genug ist, um Raum zu lassen für eine immer auch spezifische Geschichte dieses Wandels. Lukács’ Romantheorie, die für eine geschichtsphilosophische Wende der Romantheorie begründend ist, gibt hiervon eine Ahnung, auch wenn das Motiv einer nicht zu bewältigenden Totalität letztlich

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doch sehr abstrakt in der Spannung des Subjektiven und Objektiven verharrt und sich – altes Erbe der aristotelischen Poetik – doch sehr auf die Figur des Helden konzentriert. Wie sehr sich auch das Motiv der Desintegration schon in Lukács finden lässt und insbesondere in der Spannung zwischen Erzählung und Erzähler eine grundlegende Frage des Romans sich andeutet, so sehr lässt er die gattungspoetologischen Debatten selbst dermaßen außen vor, dass seine Theorie letzten Endes den Roman als Symptom begreifen und so die Romantheorie selbst als Vorgeschichte einer eigentlicheren und philosophischen Theorie der Geschichte erklären muss. Was aber – und am Begriff der Weltenvielfalt möchte ich dies darlegen –, wenn Romantheorie selbst das Paradigma einer anderen Art von Theorie gibt, die – wie der Roman – ihres Gegenstandes immer nur mit einer weiteren Theorie oder Geschichte habhaft werden kann und diesen ‘Umweg’ doch nicht zu überwinden weiß bzw. wenn, dann nur durch einen weiteren Umweg? Was, wenn mit Romantheorie ein Typus Theorie auftritt, der immer auf einer doppelten Ebene argumentiert und der – vielleicht ebenso vergeblich wie Quijote – zusammenzuführen sucht, was vielleicht als Vision, nicht aber als echter Nexus zusammengehen kann? Es wäre also eine Theorie zu denken, die jedwede Totalität nur gebrochen zu denken erlaubt, jede Erzählung immer schon als eine selbst schon zu perspektivierende entwirft, als eine in ihrer Konstitution befragbare denkt. Es wäre also eine unreine (Gattungs-)Theorie zu denken, eine einer selbst einzuklammernden Erzählung geschuldete Theorie, die – anders als die in der Integration ja implizierte Logik der Reinheit und Geschlossenheit – eine Vision anbietet, die immer auch ein Anderes miteinführt so wie Quijote stets ein Anderes in seine Lektüre der Welt einbrachte. Wie ich auch im folgenden Kapitel argumentieren werde, bietet sich (nicht nur) aus einer lateinamerikanistischen Perspektive als neuzeitliches Paradigma und neuzeitliche Motivation für eine Erzählung der Desintegration und Reintegration das ‘Ereignis’ der Neuen Welt an. Mehr als bloße Koinzidenz ist, dass dieses Ereignis eben jenem spanischen Kolonialreich widerfährt, das ebenfalls den Gründungstext des modernen Romans liefert. Es ist bekannt, dass dieses Ereignis im Quijote prominent thematisiert wird⁷⁴ und Cervantes selbst nachweislich⁷⁵ beschäftigt hat. Von größerem Interesse ist jedoch eine gemeinsame Ausgangsproblematik: auch die Neuheit der Neuen Welt hat alle etablierten Inte-

74 Vgl.: Bernhard Teuber: Der naturrechtliche Diskurs im Don Quijote und die Episode von den Galeerensträflingen. In: Strosetzki, Jürgen (Hg.): Miguel de Cervantes’ Don Quijote. Implizite und explizite Diskurse im Don Quijote. Berlin: Erich Schmidt 2005, S. 365–386. 75 Vgl.: Diana De Armas Wilson: Cervantes, the Novel, and the New World.

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grationserzählungen überfordert, die jeweiligen Akteure jeweils mit einer Welt konfrontiert, die in ihrer Weltkonstitution nicht zugegen war.⁷⁶ Die Tatsache der Begegnung zweier Welten, die voneinander nichts wussten und die nicht ohne einen gehörigen und immer spezifisch motivierten Aufwand auf eine übergreifende Geschichte zu bringen waren, ist vielleicht nur vergleichbar mit dem (im Quijote ja ständig vollzogenen) Übergang vom Leben in die Fiktion (und umgekehrt) qua Erzählung, sofern in diesem Übergang beide Ebenen destabilisiert werden. Es wäre nur allzu leichtfertig zu glauben, dass Don Quijotes Frage an die Wirklichkeit ebenso wahnsinnig sei wie er selbst. Wie die Fiktion des modernen Romans stellt sich auch mit dem Ereignis der Überfahrt des Kolumbus die Fragen nach der Weltkonstitution und den Grenzen von Welt(en). Als Ereignis bewahrt sich die Begegnung dieser beiden Welten eine gewisse Widerständigkeit, auf die eine Erzählung reagiert, die immer schon eine Vision voraussetzt bzw. in eine Vision setzt. Stets mehr als ein Bericht und auch ein mythos, liegt hier eine Form der Erzählung vor, die statt das Allgemeine des Besonderen anzuzeigen, also eine Logik der Ereignisse preiszugeben, immerzu das Besondere (Ereignis) eines Allgemeinen (einer historischen Wende) ausstellt. Was wäre das Allgemeine in diesem Falle, was das Spezifische? Wenn wie bereits angeführt für den Roman das Allgemeine nicht das Gesetz (der Handlung beispielsweise) sein kann, sondern die Frage nach seiner Konstitution, ja die Konstitution seiner Welt, sofern es das ‘Allgemeinere’ im Sinne einer selbst zu lesenden und deutenden Metaebene der Romanfiktion darstellt, ist auch das Spezifische anders zu denken. Die Geschichte, auch die erzählte und nicht qua Handlungslogik formalisierte Geschichte, ist jedenfalls nicht mehr ‘nur’ das Spezifische des Spezifischen. Soll die Konstitution ihr metatheoretischer Widerpart (im Sinne eines spezifischen Allgemeinen) sein, dann ist das Konkrete, die so unphilosophische Geschichte, jenes vermeintlich so unmittelbar und doch nur kontingent Gegebene, der privilegierte Ort, an dem, gerade weil sich die kontingente Geschichte einer Handlungslogik widersetzt, die immer perspektivierte, nach dem selektierenden Prinzip (und eben nicht nach einer formalen Logik) fragende Konstitution abzulesen ist. Anders gesagt: Das Allgemeine der Handlung, das Tasso noch von der konkreten Erzählung als Logik der Knoten und Auflösungen abstrahieren konnte, ist immer ein besonderes Allgemeines, sofern es erst aus der konkreten Erzählung folgt und nicht diese im Voraus gestaltet. Das Spezifische wiederum ist gerade in seiner Widerständigkeit als Spezifisches

76 Vgl.: John Huxtable Elliott: The old world and the new. Cambridge: Cambridge University Press 2000. Sowie: Anothony Pagden (Hg.): The Languages of Political Theory in Early-Modern Europe. Cambridge: Cambridge University Press 1987.

Nach der Integration 

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eines, das eine dem Roman gemäße ‘Erkenntnis’ ermöglicht. Es ist auch mit der Kontingenz von Welt, mit der die Romanfiktion in ihrem Anspruch auf ‘Totalität’ konkurriert. Möglich werden dadurch Fragen, die sich nicht nur auf das Gegebene und Vorhandene beziehen, sondern die umgekehrt auch nach demjenigen fragen können, was konstitutiv (und eben nicht nur einer Binnenlogik geschuldet wie im Falle eines bestimmten Charakters) abwesend oder ‘unmöglich’ ist. Es mag kein Zufall sein, dass (und um ein weiteres Mal mit Hans Blumenberg zu reden) das Lesen der Welt in der Neuzeit zu einer Frage der Autorität wird, die sich der Mensch selbst gibt.

3 Paradigma Weltenvielfalt 3.1 Die Welt – das Besondere des Allgemeinen Die Vernunft der Welt. – Daß die Welt nicht der Inbegriff einer ewigen Vernünftigkeit ist, läßt sich endgültig dadurch beweisen, daß jenes Stück Welt, welches wir kennen – ich meine unsre menschliche Vernunft –, nicht allzu vernünftig ist. Und wenn sie nicht allezeit und vollständig weise und rationell ist, so wird es die übrige Welt auch nicht sein; hier gilt der Schluß a minori ad majus, a parte ad totum, und zwar mit entscheidender Kraft. Friedrich Nietzsche, Der Wanderer und sein Schatten

Wie ließe sich nun die abstrakte Bestimmung des Besonderen des Allgemeinen, eine Formel, von der ich meine, dass in ihr die geschichtsphilosophische und literarästhetische Pointe des Romans auf den erkenntnistheoretischen Punk gebracht ist, konkreter fassen? Was kann das Allgemeine des Romans sein, das doch nur in der spezifischen Brechung einer Vision¹ verfügbar ist? Worauf kann sich ob der Krise der Integration von Handlungen die Darstellung des Romans noch beziehen? Was bleibt jenseits der Parodie, welchen positiven Erfahrungswert kann die Erfahrung der Desintegration haben? Mir scheint, dass man auf all diese Fragen nur schwerlich einen besser geeigneten Begriff finden wird als den der Welt. Nicht nur ist damit ein spezifisch romantheoretischer Begriff behauptet, sondern auch ein gattungstheoretischer Wandel, sofern die Frage nach der und die Konstitution einer Welt das Paradigma der Handlung ablöst. Dafür spricht nicht nur die Tatsache, dass sich kaum eine Romantheorie wird finden lassen, in der dieser Begriff nicht mehr oder minder prominent und mehr oder minder bewusst durchdacht auftaucht. Vielmehr liegt dies am Weltbegriff selbst. Ohne den Begriff jetzt hier erschöpfend zu kommentieren, möchte ich auf zwei grundlegende Aspekte des Weltbegriffs verweisen, die sich alles andere als zufällig mit der oben skizzierten neuzeitlichen Anfangsproblematik vermitteln lassen und die ihn dafür qualifizieren, das Paradebeispiel eines spezifischen Allgemeinen zu sein, eines Allgemeinen also, das statt Garant zu sein, sich (wie Theorie) einer dauerhaften Erprobung nicht entziehen kann. Sich auf Aspekte des Weltbegriffs zu konzentrieren, ist nicht nur aus Gründen der Ökonomie ratsam. Als dermaßen umfassender und gleichzeitig überdeterminierter, scheinbar selbstverständlicher und der Explikation ver-

1 Die offenkundig visuelle Metaphorik von Brechung und auch Konstellation als eine auf das Sternbild verweisende Begrifflichkeit nimmt das Problem der Vision beim Wort.

Die Welt als das Besondere des Allgemeinen 

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meintlich kaum bedürftiger Begriff ist er, wenn überhaupt, am ehesten noch hinsichtlich seiner Funktionsweise zu befragen. Soll ferner für den modernen Roman die historische Wende der Frühen Neuzeit begründend sein und der Weltbegriff gleichzeitig als sein theoretischer Grundbegriff fungieren, dann müsste sich diese Zeitenwende auch am Weltbegriff nachvollziehen lassen. Die Krise der Integration bzw. das Phänomen der Desintegration auf der einen Seite und das, was ich als die Erkenntnis qua Vision auf der anderen Seite diskutiert habe, all dies müsste sich zumindest strukturell auch im Weltbegriff als eine sich verändernde und mitunter widersprüchliche Valenz desselben wiederfinden lassen. Neuzeit und Roman wären also nicht über die großen Erzählungen eines Subjekts, der Säkularisierung oder der Kontingenzerfahrung zu vermitteln, sondern wesentlich konkreter über die Annahme, dass, so wie der Roman die Frage der Welt als Darstellungsproblem verhandelt die Neuzeit in einer permanenten Anstrengung sich als «Weltzeitalter»² definiert und sich nicht minder, im Akt der Selbstvergegenwärtigung, in eine Darstellungsproblematik einspannt. Diese gattungstheoretische und geschichtliche Koinzidenz im Weltbegriff hätte gleich mehrere Vorzüge: Zum einen ließen sich die schon besprochenen poetologischen Debatten auch als epistemische und historische Erfahrungswerte der (Roman-)Erzählung beschreiben. Zum anderen wäre der Roman nicht mehr nur als Mangelgattung bestimmt. Mit dem Weltbegriff wäre eine positive Bestimmung geleistet, die, wenngleich kein einfaches strukturelles Merkmal, dennoch eine den Roman auszeichnende Theorie vorbereitet. Schließlich wäre es möglich, die Frage der Vision ganz konkret als die Problematisierung einer immer auch ganz bestimmten Erfahrung von Welt zu entwerfen und eben nicht nur als ein ‘Strukturprinzip’ zu deuten. Wenn ich hier von Erfahrung spreche, dann auch weil es mir nicht in erster Linie um eine Deutung der jeweiligen und jeweils verfügbaren ‘objektiven’ Weltbeschreibungen geht, sondern vor allem um die Art und Weise, wie sich die Beschreibungen von Welt – und der Roman ist die Gattung der Weltbeschreibung schlechthin – ermöglichen und dabei selbst problematisieren. Die frühneuzeitliche Wende kann vor diesem Hintergrund als die Phase gelten, in der das Doppel von zwei verschiedenen Weltlogiken als eine widersprüchliche Spannung erfahren wird. Diese Logiken, die man durchaus zutreffend als zwei unterschiedliche Erzählstrategien deuten kann bzw. als zwei unterschiedliche Modelle der Integration, machen erst in ihrem Zusammenspiel aus der Desintegration einen eigenen Erfahrungswert von Welt. Die Desintegration steht hier nicht nur für einen Verlust, sondern auch für eine nunmehr sehr eigene Geschichte von

2 Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. S. 13.

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Welterfahrung, der auch ein Wandel in Funktion und Begriff von Fiktion entspricht und deren Anstrengung eine immer nur auf Widerruf zu leistende Reintegration ist. Somit wäre – anders als bei Lukács – die Desintegration eine begründende Erfahrung und nicht das Symptom sowie die Reintegration die mit Visionen reagierende Artikulation und nicht einfach eine vergeblich auf Totalität zielende Erzählung. Doch zunächst: Welche beiden Modi wären dies? Einerseits lässt sich Welt absolut denken, sofern sie Materialisierung bzw. Schöpfung ist und in diesem kosmologischen bzw. heilsgeschichtlichen Zusammenhang eine zur Transzendenz in Differenz stehende Entität ist, mitunter ihr Durchgang und dabei vielleicht gar die vollständige Realisierung der von der Transzendenz vorgegebenen Möglichkeiten. Die Welt ist somit, gerade weil Welt sich nicht aus sich selbst generiert, als solche und auch in ihren Möglichkeiten absolut begrenzt. Die besondere Rolle, welche die Frage der Begrenzung für den Weltbegriff spielt, wird verständlich, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass die Welt hier durch eine absolute Grenze bestimmt ist, die der Welt selbst unverfügbar ist, die sie nicht in sich integrieren kann, die nicht relativiert, sondern bestenfalls re-präsentiert und als endliche Brechung eines Nicht-mehr-Endlichen erfasst werden kann. Was auch immer Nicht-Welt sein mag – es ist von einer anderen als weltlichen Qualität, so dass das Modell dieser Welt-Ordnung am ehesten mit einer vertikalen Ordnung darzustellen ist. Es ist diese Weltarchitektonik, die Lukács als das noch epische Moment bei Dante ausmacht. Wenn nun die Konstitution der Welt nicht in der Welt selbst beschlossen liegt, diese Konstitution von absoluter oder auch transzendenter Qualität ist, so hat dies auch zur Folge, dass die Welt in diesem Verweis, in dieser Absicherung ihrer selbst als DIE Welt gelten kann, da sie absolut begonnen hat und absolut enden wird. Das bedeutet auch: Die Integration der Welt ist hier eine mit dem Absoluten vermittelte bzw. abgesicherte Welt, die sich auch als alternativlose und einzige Welt auszeichnen bzw. behaupten musste, jedwede relativierend wirkende Parallelgeschichte von Welt unterdrückend. Das Skandalon ist hier eine andere Welt. An historischen Beispielen hierfür mangelt es sowohl in den Umbrüchen von Antike und Mittelalter wie von Mittelalter und Neuzeit nicht, in denen jeweils die Behauptung DER Welt zur entscheidenden Frage wird.³ Anderseits ist Welt – und es ist die Frühe Neuzeit, in der dies nicht nur als Doppel oder Ambivalenz, sondern auch als Spannung, ja Widerspruch erfahren wird – ein relativ zu verstehender Begriff, der entsprechend relativ und binnenweltlich begrenzt wird. Welt wäre hier angemessen mit dem unbestimmten Arti-

3 Vgl. ebd.

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kel statt des bestimmten tituliert: eine Welt. Weltgeschichte ist überdies nicht notwendigerweise Schöpfungsgeschichte und auch nicht die des absoluten Endes bzw. Beginns. Ihre Begrenzung erfolgt nicht nur durch etwas, was absolut verschieden von Welt ist und kann eine genuin weltliche Geschichte meinen. Eine Welt ist zwar immer auch in DER Welt zugegen, kann sich im Sinne der Macht idealerweise in deren absolute Konstitution und Erzählung eintragen, muss aber in ihrer eigenen Konstitution deshalb noch lange nicht den wie auch immer ausfallenden Bestimmungen DER Welt unterworfen sein, sofern eine Welt sich aus sich selbst heraus konstituieren, in einem sehr grundsätzlichem Sinne historisch sein kann, ohne dass unmittelbar einsichtig sein muss, wann, wie und weshalb sie sich konstituiert bzw. ohne dass die Konstitution selbst vollends verfügbar wäre. Es ist offenkundig, dass hier eher an ein horizontales Modell zu denken wäre und dass eine Welt sich eher durch ihre (raumzeitliche) Extension denn ihre Verortung auszeichnet.⁴ Ebenso ist offenkundig, dass sich die Integration dieser einen Welt sich nicht einfach nur auf etwas ihr Äußerliches berufen kann, sondern einer Anstrengung bedarf, die sie aus sich selbst heraus in Form einer Selbstvergegenwärtigung leisten muss und die idealerweise eine Konsistenz ausweist. Natürlich ließen sich beide Aspekte durch ein Analogieverhältnis oder aber auch wie bei Kants Formel einer Welt von Welten streng begrifflich miteinander versöhnen. Entweder begründet sich eine Welt dadurch, dass sie das Gesetz DER Welt umsetzt, welches wiederum jenseits DER Welt zu verorten ist (und folglich im Recht ist, andere Formationen zu delegitimieren), oder aber man verlässt sich auf die kantische und wesentlich nüchterne Annahme, dass DIE Welt verschiedene Welten in sich vereint und zusammenhält. Jenseits der kosmologisch-metaphysischen Verweisung und auch jenseits eines qua translatio jeweils zu legitimierenden Weltreichs wird mit Kant (nicht zufällig schon lange nach der Entdeckung der Amerikas und der Etablierung des modernen Romans) DIE Welt zu einem recht unbestimmten Horizont der umfassenden Integration, der jedoch, sollten sich die jeweiligen Welten einer konsistenten Integration verweigern, am Ende nicht viel mehr leisten kann als ein rückwirkend etablierter summarischer Begriff. Diesem hat vielleicht nie eine Anschauung zu entsprechen,

4 Was die Architektonik angeht, die hier ja offenkundig einerseits vom antiken Kosmos bzw. der christlichen Schöpfungsgeschichte ausgehend und andererseits von der Neuzeit ausgehend modelliert ist, bietet sich, wie Jacques LeGoff es darlegt, die Erfindung Purgatoriums als Zwischenfigur an, sofern sie die strenge horizontale Architektonik außer Kraft setzt und zwar mit einem Ort, der selbst nicht zufällig eine neue Historizität ankündigt. Vgl.: Jacques LeGoff: La naissance du Purgatoire. Paris: Gallimard 1981.

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aber diese Summe stellt dennoch, sofern Zeit und Raum als begrenzende Universalien gedacht werden können – «alles hat einen Anfang und ein Ende» –, eine in sich stimmige Idee dar, von der uns allenfalls jene jeweils eine Welt einen Begriff geben kann, so dass es nun die eine Welt ist, die das Denken DER Welt ermöglicht. Nietzsche wird dies zum Anlass nehmen, in seiner grundlegenden Kritik auch der kantschen Philosophie auf die Bedeutung des Nächstliegenden zu verweisen, statt einer ‘vernünftigen’ Abstraktion zu huldigen.⁵ Diese weiter unten noch zu komplettierenden Ausführungen sollten genügen, um nachzuzeichnen, wie der erste Weltbegriff im Modus der mythologischen Setzung operiert und entsprechend auf jene absolute Begrenzung referiert und wie im Gegensatz dazu der zweite Weltbegriff als ein im engeren Sinne historischer Weltbegriff fungiert, der entsprechend relativ und spezifisch historisch, epistemisch oder auch kulturell begrenzt ist. Nicht minder von Bedeutung ist, dass sich nach der Wende zur Neuzeit die Autorisierung einer Welt zunehmend aus dem entlässt, was DIE Welt ist, um die Frage mit einer der menschlichen Vernunft gemäßen Einsicht in Welt, ja ihre Konstitution zu beantworten. Kurzum: Die Spannung zwischen den Weltvalenzen scheint durch eine ‘Zwischeninstanz’ der Vernunft befriedet oder zumindest aufgehoben. Wie zu erwarten war, findet sich diese Ambivalenz des Weltbegriffs auch im Roman und zwar in einer echten Spannung, ohne Aussicht auf jene begriffliche Befriedung, die Kant anbietet, sofern eine Vernunft der Welt für den Roman immer nur eine äußerlich bleibende Abstraktion bleiben muss.⁶ Die besondere Bedeutung des Weltbegriffs für diese romantheoretische Studie besteht also darin, dass diese beiden Aspekte im Roman ineinander übergehen, sein Weltbegriff ebenso letzthinnige Integration zu versprechen scheint wie er andererseits stets als spezifische Konstitution lesbar ist, welche eine ‘absolute’ Einsicht nicht vorsieht, ja nicht einmal zulässt. Denn der Roman – anders als die idealistische Philosophie – befragt die Anschauung der einen und seinen Welt stets bezüglich seiner relativen und spezifischen Konstitution und verharrt dabei in einer relationalen Logik, die von seiner Welt zumindest nicht in einem idealen Sinne der Vernunft (und darin dem philosophischen und nachkantschen Problem der Lebenswelt nicht unähnlich) zu abstrahieren erlaubt. Gleichzeitig jedoch ist die Welt des Romans als eine in ihrem Entwurf ja faktisch begrenzte eine, der das,

5 Vgl.: Friedrich Nietzsche: Der Wanderer und sein Schatten. In: Nietzsche, Friedrich: Kritische Gesamtausgabe IV, 3 Menschliches, Allzumenschliches II. Berlin: De Gruyter 1967. 6 Es ist vor diesem Hintergrund kein Zufall, dass es die auch gegen die Aufklärung sich konstituierende deutsche Romantik ist, die den Roman erneut thematisiert und ich würde sagen: auch aufgrund ihrer Weltproblematik zur paradigmatisch modernen Gattung erklären kann.

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was DIE Welt auszeichnete, also der Verweis auf eine letzthinnige Konstitution, aus diesem rückblickenden Außenblick doch zu entnehmen sein müsste, wenn seine Welt tatsächlich eine in sich geschlossene Welt sein soll. In diesem Sinne ließe sich der Roman als jene in der Neuzeit möglich und vielleicht auch unvermeidbar werdende Gattung bestimmen, deren Fiktionsbegriff die Ambivalenz des frühneuzeitlichen Weltbegriffs als Krisen der Integration ausbuchstabiert und in einer immer auch spezifisch erfahrenen Geschichte der Desintegration zur Gattung der reintegrierenden Vision und einer stets gebrochenen Einsicht wird: Im Gestus der Selbstverortung wird die vertikale, mit dem Anspruch einer umfassenden Darstellung die horizontale Grenze seiner Welt zumindest problematisch sowie die Ausstellung des Erzählgestus’ bzw. der Lektüre jedwede ideale und allgemein gebende Zwischeninstanz (der Vernunft etwa) notwendig relativiert. Doch nicht nur das: So wie der Erzählakt ein mit der Darstellung selbst unvermittelter Akt ist, so ist auch die Konstitution einer Welteinsicht selbst ein der einzusehenden Welt äußerlicher Akt. In der Gleichzeitigkeit dieser ‘Krisen’, die einer gegenseitigen Rücknahme und Relativierung gleichkommt, werden die beiden narrativen Integrationslogiken in ihrem Zusammenspiel zu einem Faktor der Desintegration. Wenn die epische Höhe, also das in der Metalepse am schärfsten formulierte Problem der (Erzähl-)Ebenen, die Möglichkeit einer letzthinnigen vertikalen Integration unterläuft (wie sie dem Epos gerade aufgrund der Nicht-Thematisierung seiner selbst noch zu unterstellen war) und so immer nur auf eine weitere eine Welt verweist, dann ist epische Breite, also die jedwede einheitliche Handlungslogik unterlaufende Dichte und Vielfalt der Darstellung, dafür verantwortlich, dass auch die Option einer Binnenkonsistenz zumindest fragwürdig werden kann. Somit liegt eine Situation vor, in der die eine Integrationslogik vergeblich auf die Integrationsleistung der jeweils anderen Integrationslogik verweist und in diesem wechselseitigen (Leer-)Verweis die Weltkonstitution des Romans zu einer grundsätzlich problematischen und stets auf den selbst endlichen Akt der Erzählung bzw. Konstitution verweisenden Frage wird. Es ist diese Widersprüchlichkeit des Weltbegriffs, die jene strukturelle Aporie stellt, die Romantheorie theoretisch aufzufangen hatte und die sie traditionellerweise mit dem Begriff der Ironie (seiner Welt) benannt hat. Wenn nun sowohl diese in der Romanerzählung zur Geltung kommende Ambivalenz als auch die sie verhandelnde Theorie als Visionen von Welten bzw. Gattungstheorie begriffen werden sollen, dann auch deshalb, da für den Roman als ‘unversöhnliche’ Gattung die ambivalente Funktionsweise des Weltbegriffs nicht einfach eine allgemein einsichtige Struktur darstellt, sondern stets neu und anders artikuliert und begründet werden muss, immer wieder an konkreten Grenzen, mit ‘neuen’ oder aber vergehenden Welten, mit anderen historischen und theoretischen Entwürfen artikuliert und erprobt werden muss.

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Um die Relevanz und die ambivalente Funktion dieser doppelten Valenz des Weltbegriffs für den Roman etwas detaillierter nachzuzeichnen, möchte ich zwei romantheoretische Studien diskutieren, die beide von Philosophen verfasst wurden, deren große, ja maximale Differenz sich nur über den Begriff der Welt vermitteln lässt: José Ortega y Gasset und Hans Blumenberg. Dass beides europäische Philosophen sind, entlastet von zwei Verdachtsmomenten: Weder ist das Weltmotiv als romantheoretischer Begriff ein spezifisch lateinamerikanistischer Begriff noch wird die romantheoretische Relevanz des Weltbegriffs mit lediglich gattungstheoretischem Jargon belegt. 1925 verwendet Ortega y Gasset in seinen Meditaciones sobre el Quijote den Weltbegriff folgendermaßen: «Nos complace […] sentirnos inmersos en su mundo […].»⁷ In die Welt des Romans einzutauchen, ist demnach der Ursprung einer mit dem Roman auf besondere Weise erfahrbaren ästhetischen Lust, sofern hier die affektive Ansprache nicht einfach Mitleid oder Furcht angesichts des Dargestellten meint, also einen lediglich affektiven Nachvollzug, sondern tatsächlich – und diese Begrifflichkeit scheint mir entscheidend – das Versinken in seiner Welt. Mit dem Possessivpronomen («su mundo») ist insofern und offenkundig eine spezifische Allgemeinheit dieser Welt behauptet, als das ‘Allgemeine’ einer Welt hier immer nur das Allgemeine der jeweils dargestellten Welt meinen kann, die über einen solch hohen Grad an Dichte (um den doch sehr handlungsbezogenen Begriff der Binnenkonsistenz zu vermeiden) zumindest andeutungsweise verfügt, dass es möglich wird, in dieser zu versinken, ohne in ihr das Gesetz DER Welt erschauen zu müssen. Und als solche, als das Spezifische des Allgemeinen wiederum, ist diese Erfahrung insofern auch auf die Lebenswelt beziehbar, als zwar die Eigengesetzlichkeit von Welt in der Lebenswelt zumindest nicht bewusst einsehbar oder gar formulierbar sein muss, wohl aber das Eingetaucht-Sein in dieser. Theoretisch wäre man hier im Verdacht bestärkt, dass jede Welt, also auch die Lebenswelt, nie mehr sein kein als eine Welt. Auch wenn Ortega y Gasset dies nicht weiter kommentiert und auch nicht weiter problematisiert, darf man festhalten, dass diese Erfahrung des «Eintauchens» sowohl eine ästhetische als auch erkenntnistheoretische Seite hat. Die von Lebenswelt entrückte Lektüre ist vielleicht eine der prominentesten ästhetischen Erscheinungen, die mit dem Roman geradezu Allgemeingut wird und die sich nicht zuletzt dank ihrer Qualität als niederer Gattung ermöglicht. Keine Ein-

7 José Ortega y Gasset: Meditaciones sobre el Quijote. Colección Austral. Madrid: Alianza Editorial 1964, S. 165.

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sicht, keine Erbauung, kein «tiefe Wahrheit»⁸ ist qua lustvoller und sinnlicher Anschauung vermittelt, sondern nichts als das Versunkensein selbst ist die Lust der Lektüre. Andererseits – und das ist der romantheoretisch entscheidendere Punkt – kann im Nachvollzug dieser Versenkung die Versenkung selbst auch Thema sein, so dass dieser Zustand, den man mit einiger Forcierung als eine Art ‘In-einer-Welt-Sein’ bezeichnen könnte, auch für die Lebenswelt seine Selbstverständlichkeit verliert. Die immer nur teilweise, narrativ und nie restlos vermittelbare Einsicht in die Konstitution von Welt kann so zu einer grundsätzlichen Frage, ja zum nicht mehr überbietbaren Thema werden wie es eindrücklich Prousts Recherche belegt. Hier nun wird nicht nur offenkundig, sondern auch erfahrbar, inwiefern dieses Allgemeine einer Welt, seine konstitutive Eigenlogik, im Grunde doch nur eine spezifische Allgemeinheit sein kann, da sie stets durchbrochen wird von einer sie konstituierenden Spezifik, die sich an eben dieser Spezifik abarbeitet usw… Welche Differenz, um das Argument aus dem vorigen Kapitel fortzusetzen, lässt sich hier zur aristotelischen Poetik formulieren? Würde man die Eigengesetzlichkeit der Romanwelt als aristotelischen mythos begreifen, ist natürlich mit Welt noch kein gattungsspezifisches Phänomen des Romans entwickelt und auch die entscheidende Pointe des Weltbegriffs verkannt. Jedoch – und hierauf zielt meine Argumentation – bedürfen das klassische Drama und insbesondere sein mythos des Weltbegriffs im Grunde nicht, so dass sich in diesem Falle Welt restlos mit mythos verrechnen lässt. Im klassischen Drama nämlich steht weder die möglichst vollständige Darstellung im Vordergrund (de facto und auch qua Gattungsnorm sind es vorzugsweise in der Handlung selbst verortete Umbruchsituationen, die im Drama interessieren und auch die Handlung sollte ja eine stimmige sein), noch ist die spezifische Konstitution dieser Welt eine zentrale Frage (sie wird vom Charakter bestimmt), noch ist die Begrenzung der Welt jenseits des Handlungszusammenhangs von Interesse (sie ist ein logisches Konstrukt).⁹ Diese drei Aspekte jedoch treten unweigerlich und genau dann in den Vordergrund, wenn weniger von einem Raum der Handlung die Rede ist als von einer Welt. Die Frage des Umbruchs ist dann und wie bereits zu sehen war nicht mehr eine Frage des Handlungsumbruchs, sondern fragt nach der Konstitution von Welt(en) selbst und zwar, die ‘Logik’ der Handlung ersetzend, bezüglich ihrer Dichte, ihrer Konstitution(en) und ihrer Grenze(n). Man sieht schon hier,

8 Francesco Petrarca: Secretum meum. Mein Geheimnis. Mainz: Dieterich‘sche Verlagsbuchhandlung 2013, S. 91. 9 Sehr prägnant findet sich die ‘Weltlosigkeit’ des klassischen Dramas ausgearbeitet in Barthes’ Beschreibung von Racines Theater. Vgl.: Roland Barthes: Sur Racine. Paris: Seuil 1963.

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wie der Begriff der Welt in einem romantheoretischen Zusammenhang den Begriff der Weltenvielfalt voraussetzt. Doch zurück zu Ortega y Gasset: Diese mit dem Weltbegriff explizit werdende Differenz zur aristotelischen Poetik lässt sich mit dem sich prominent auf den ja denkbar antiaristotelischen Quijote berufenden, aber selbst doch sehr aristotelisch denkenden Ortega y Gasset weiter präzisieren. Von Interesse sind die Ausführungen des spanischen Philosophen also weniger aufgrund seiner konkreten Thesen als vielmehr aufgrund dieser implizit hineinspielenden historischen Setzungen und gattungsästhetischen Implikationen. Denn neben der offenkundigen und auch für diese Studie relevanten Ausgangslage des Quijote ist der an diesem und dem Roman ausgemachte Wandel von Interesse, den Ortega y Gasset, gerade weil er den Weltbegriff nicht weiter problematisiert, im Grunde nicht mit einer eigenen, romantheoretischen Kategorie beschreiben kann. Dass die entscheidende ästhetische Lust sich dem Versinken in der Welt des Romans verdankt, nimmt Ortega y Gasset zum Anlass, diese ästhetische Lust im Sinne einer echten und direkten Ansicht auf diese Welt zu deuten, hier auf einen ganz anderen Visionsbegriff als den hier entwickelten abzielend. So ist es zu erklären, dass er just, da er den Begriff der Welt mit einem Possessivpronomen («su mundo») verwendet, die im Possessivpronomen angelegte Spannung nicht nur nicht bedenkt, sondern in der Vision von Welt auch nicht im Ansatz eine Brechung vermuten kann. Nur folgerichtig fährt er fort: De narrativo o indirecto se ha ido haciendo el género descriptivo y directo. Fuera mejor decir presentativo.¹⁰

«Presentativo», das ist für Ortega y Gasset eine Steigerung des Direkten und auch das, was den Roman im Gegensatz zu anderen mimetischen literarischen Gattungen ausmacht. «Presentativo» übertrifft das bloß indirekt Erzählende (also just das, was bei Aristoteles das Epos wäre) ebenso wie das direkt Beschreibende (also das Drama). Presentativo, das Präsentische ist aber – so möchte man entgegnen – eben nicht die Präsenz. Warum ist diese von Ortega y Gasset nicht weiter problematisierte Differenz von Bedeutung? Was bedeutet hier der Weg vom Indirekt-Narrativen über das Direkt-Beschreibende hin zum Präsentativen als eine Steigerung der Präsenz jenseits der direkten Präsenz? Ortega y Gasste dazu:

10 José Ortega y Gasset: Meditación, S. 166.

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Nada de referirnos lo que un personaje es: hace falta que lo veamos con nuestros ojos. […] Cervantes nos satura de pura presencia de sus personajes.¹¹

Es kann dem Henry-James-Leser¹² Ortega y Gasset nicht entgangen sein, dass er hier im Grunde das Prinzip der präsentischen Darstellung der dramatischen Gattung proklamiert und durch den Roman noch gesteigert wissen will. Bestärkt wird dies durch die Forderung, es gehe dabei gerade nicht um einen einfachen Tatsachenbericht, sondern um ein besseres Sehen des genuin Menschlichen¹³, eine Forderung, die sehr an das aristotelische Allgemeine der Dichtung erinnert und dabei gleichzeitig die für den Roman nicht in dem Maße relevante Frage der Handlung zugunsten einer gesteigerten Einsicht relativiert. Inwiefern? Vielsagend ist die sensorische Metaphorik, die Ortega y Gasset verwendet und die das Auge als ein sehendes entwirft, welches in seiner Implikatur das (wieder-) erkennende (der direkten Beschreibung) oder auch das bloß hörende Ohr (des indirekt Erzählenden) und natürlich und folgenschwer das lesende Auge (des Romans) ersetzt. Wenn Ortega y Gasset im Folgenden und notwendigerweise mit der impressionistischen Malerei auf eine visuelle, dem ‘In-eine-Welt-Eintauchen’ ja nicht so fern liegende Metaphorik sich bezieht und alles, was im Roman steht, stets sehen und besser sehen möchte (und folglich auch den groben Pinselstrich als eine Steigerung des Realismus des Indirekten bzw. Deskriptiven begreift), wird deutlich, dass die wie ich meine entscheidende Frage des Romans durch dieses Sensorik ebenso verstellt wie angeführt ist. Ziel eines solchermaßen verstandenen Romans ist die Steigerung der Sichtbarkeit seiner Welt und die zentrale Sorge um die Welt des Romans ist die für Ortega y Gasset schon im racineschen Theater gestellte Frage nach dem Thema. Anders gesagt: Für Ortega y Gasset ist die Welt des Romans gleichbedeutend mit ihrer (ein-)sichtbaren Überzeugungskraft bzw. mit der Konsistenz seiner Figuren und ihrer Konflikte. Der Roman wäre die Gattung, die sich ganz der Darstellung dieser Fragen verschrieben hätte. Auch wenn dieses visuelle Paradigma den Weltbegriff auf Kosten des Handlungsbegriffs in den Vordergrund rückt und damit teilweise meiner Argumenta-

11 Ebd. 12 Vgl.: Arturo Torres-Rioseco: Consideraciones sobre la novela española contemporánea. In: Revista Hispánica Moderna, Año 34, No. 1/2, Homenaje a Federico de Onís (1885–1966) Volumen I (Jan.–Apr. 1968), S. 453–456 und hier speziell: S. 453ff. Der Bezug auf Henry James ist dabei nicht nur aufgrund der ja sprichwörtlich gewordenen Bestimmung des Romans als «direct impression of life» von Interesse, sondern auch und gerade, was die Frage der Sichtbarkeit und die zum Verhältnis von Drama und Roman betrifft. 13 José Ortega y Gasset: Meditaciones, S. 167.

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tion entgegenkommt, wiegt doch schwerer, dass ein kleiner, aber wesentlicher Unterschied, der just diese Anstrengung einer gesteigerten Sichtbarmachung betrifft, vollkommen ausgeblendet ist. Die Anstrengung nämlich ist im Grunde stets äußerlich und das bessere Sehen – wie es die ja auch von Ortega y Gasset zitierte Recherche von Marcel Proust belegt – geht stets einher mit einem größeren Widerstand gegen ein Versinken in eine Welt, die vollkommen sichtbar und greifbar wäre. Auf der visuellen Metaphorik beharrend und somit auf einem Verständnis von Vision, dessen als ‘Realismus’ fungierende Ausgangspunkt wohl die theatrale Bühne ist und das von dort ausgehend ein diesen Realismus übertreffendes impressionistisches Bild der Romanfiktion entwirft und das Ortega y Gasset Autopsia¹⁴ nennt, muss der spanische Philosoph die Tatsache verschweigen, dass der Roman niemals literal ‘zeigen’ kann, gerade nicht eine ‘zeigende’ und auch nicht eine präsentische Gattung ist. Dies nämlich hätte zur Folge, dass die Vision des Romans nicht ausschließlich in der Sichtbarmachung der dargestellten Welt zu verorten wäre, sondern nicht ohne Bezug auf das auszuhandelnde Verhältnis zu dieser vermeintlich ‘gezeigten’ Welt. Vision von Welt ist eben nicht die unmittelbare (Ein-)Sicht in die Welt. Der Dreischritt von dem indirekten Bericht des Epos zum direkten Handlungsbild des Dramas hin zum ‘präsentischen’ Bild des Romans (mit dem entsprechenden Handlungsschwund verbunden) zeigt zwar einerseits an, dass die Handlung nicht das bestimmende Element des Romans ist, verharrt aber schlussendlich doch bei der aristotelischen Grundannahme, im ‘Realisierten’ die entscheidende ästhetische und eine Erkenntnis zumindest vorbereitende Kategorie zu erblicken, um sodann den letzten Rest des Dramas im Bild zu erretten. Es mag dies insofern eine geradezu systematische Notlösung sein, als Ortega y Gasset mit dieser Forderung an den Roman verkennen muss, dass gerade der Quijote seine Welt, also das von Ortega y Gasset sogenannte Material, seine Präsenz und sein Bild unter der Ironie der Lektüre präsentiert und damit eine ganz andere Ästhetik der Wahrnehmung ins Spiel bringt. Es ist diese Ästhetik und auch Positionalität der Lektüre, die das Primat der Einsicht durch das Phänomen der Vision ersetzt. Nicht umsonst findet sich in Romanen – so in Don Quijote, Madame Bovary oder auch in Cien años de soledad – eindrucksvoll dargelegt, was passiert, wenn man falsch liest, das Präsentative für Präsenz hält und die Romanwelt wirklich sieht. Die Vision des Romans als die seiner Lektüre (und eben nicht als die seiner Schau) zu begreifen, begründet sich als eine ebenso ästhetisch wie erkenntnistheoretisch zu deutende Begrifflichkeit: Einerseits thematisiert und provoziert Roman eine Lektüre, die sich als Lektüre vergessen kann, eine Sicht in Aussicht

14 Ebd., S. 164.

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stellen kann, ohne aber selbst echte Schau werden zu können. Zum anderen erweist sich als der eigentlich historische Schauplatz nicht das Bild selbst, das Aufgehen in der Präsenz – die LeserInnen Don Quijote, Madame Bovary und auch Aureliano Babilonia werden im Grunde geschichtslos –, sondern die jeweiligen Motivationen, die sich in der Differenz zwischen dem Präsentativen und der Präsenz artikulieren. Gerade weil der Roman im bildlichen Sinne doch nichts zu erkennen gibt, stellt er durch seine auf Welt bezogene Form(losigkeit) schon die Frage nach den Bedingungen einer stets ironisierten Präsenz, die – um erneut auf einen strukturell wirksamen Aspekt des Weltenvielfaltbegriffs zu verweisen – als etwas zu denken sein wird, was begrenzt wird durch das, was sie nicht mehr sein kann, durch eine andere Präsenz. Nicht (die vergebliche) absolute Binnen-, sondern stets relative Fremdbegrenzung ist der experimentell-krisenhafte Zug der Romanfiktion. Wie anfangs an der Lektüre der AutorInnenporträts schon dargelegt, sind Umbrüche oder Rahmen, nicht Bilder das Thema des Romans und seiner Visionen von Theorie. Dabei kann er offenkundig auf den Anspruch, Bilder zu zeigen oder eine Welt von vollkommener Binnenbegrenzung darzustellen, nicht vollends verzichten: Was könnte er sonst überschreiten, in Frage stellen, in Relation setzen, welche Lust bliebe der Lektüre? Kurz gesagt: Der Roman kann auf Welt nicht verzichten und sei es auf eine Welt, die nur noch Lektüre oder gar die der Lektüre selbst ist. Fast genau 40 Jahre nach Ortega y Gasset verwendet Hans Blumenberg in seinem Romanaufsatz zum Wirklichkeitsbegriff des Romans ebenfalls den Begriff der Welt an einer Stelle und auf eine Weise, die den Roman denkbar konzise und über den Umweg des Weltbegriffs definiert: «Eine Welt – nichts Geringeres ist Thema und Anspruch des Romans.»¹⁵ So deckungsgleich diese Ausführungen scheinen – sie sind grundverschieden. Das Doppel von Thema und Anspruch differenziert nämlich sehr präzise den Begriff der Realisierung der Romanwelt als die jeweiligen Verfahren zur Darstellung von Welt, also Thema einerseits, und als die eher einem (Sprech-)Akt gleichende Vorgabe von Weltkonstitution selbst, also Anspruch andererseits. Wie zu zeigen sein wird, ist der entscheidende Punkt, dass letzteres nicht im Dienste der Weltrealisierung aufgeht, sondern ein der Darstellung äußerlicher Anspruch bleibt.¹⁶

15 Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff, S. 61. 16 Man kann hier natürlich, aber doch entscheidend abgewandelt, die berühmte narratologische Trias histoire, récit und narration von Gérard Genette erblicken. Die entscheidende Veränderung, die mit dem Weltbegriff möglich wird und auf die ich noch weiter unten zu sprechen kommen werde, betrifft den récit als Umschlagsfigur zwischen Welt als Thema (histoire) und Welt als Anspruch (narration).

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Ebenso zeigen sich an dieser doppelten Aufladung des Realisierungsbegriffs jene Aspekte des Weltbegriffs, die im ‘Handlungsraum’ des klassischen Theaters nicht zugegen sind. Anders als bei diesem ist die an Illusionsmitteln arme Darstellung des Romans – Blumenberg spricht von «bloßen Bedeutungsund Zeichenmitteln»¹⁷ – dazu prädestiniert, immer wieder gekennzeichnet und durchbrochen zu sein von einer diesen Totalitätsanspruch unterwandernden Alterität, die eben dieser Anspruch selbst wäre und die als ein solchermaßen zu verstehender Erzählakt auch nicht unbedingt zu verdecken ist. Man könnte auch sagen: Die Romanfiktion kann es sich erlauben, ‘desillusioniert’ zu sein, so dass all das, was in der Darstellung der Romanwelt als Anstrengung äußerlich bleibt, von der sehr spezifischen Präsenz einer anderen, womöglich suspendierten Welt zeugt, zu der sich die dargestellte Welt hinsichtlich ihrer Konstitution, nicht aber ihrer Darstellung als Möglichkeit oder gar Konkurrenz verhält (und umgekehrt). Oder anders formuliert: Gerade weil eine Welt Thema und Anspruch des Romans ist, kann ihre Darstellung auf eine Weise ‘problematisch’ werden, die für den Roman spezifisch ist. An dieser Stelle ist auch der zum Erzählakt komplementäre Lektüreakt mit bedacht, der sowohl vom Hören des (epischen) Gesangs als auch dem (hörenden) Sehen der dramatischen Darstellung zu unterscheiden ist. Dass man in einem sehr grundsätzlichen Sinne Romane liest, bezieht sich auf eine ästhetische Wahrnehmung, die sich immer in einem anderen Kontext weiß und darin der Äußerlichkeit des Erzählaktes korrespondiert. Genau das spricht Blumenberg an, wenn er, nunmehr die Ambivalenz des Realisierungsbegriffs betonend¹⁸, ausführt: Der Roman ist in die Problematik seiner Realisierung so eingespannt, daß sein Gehalt an Realitäten gegenüber der Evokation der Realität von Realitäten sekundär bleibt, sowohl in der Anstrengung des Autors wie in der des Lesers.¹⁹

Dass dennoch evoziert wird, suggeriert bereits, dass es hier nicht nur um ein ironisch-destrukturierend und zersetzend wirkendes Strukturprinzip des Ro-

17 Hans Blumenberg: Diskussion. In: Jauß, Hans Robert (Hg.): Nachahmung und Illusion: Kolloquium Gießen Juni 1963, Vorlagen und Verhandlungen. München: Fink 1991 [1963], S. 219–246, hier: S. 244. 18 Auch wenn es der Aussage nach konsistent und offenkundig scheint, so ist die Betonung eines ambivalenten Realisierungsbegriffs nur der Kursivierung dieses Wortes zu entnehmen. Immerhin handelt es sich ja hier um ein Diskussionsprotokoll der achten Sitzung zu Nachahmung und Illusion der Gruppe Poetik und Hermeneutik. 19 Ebd., kursiv im Original.

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mans geht und dass der Roman mehr ist als eine ‘Schwunderscheinung’. Der Akt der Evokation als solcher stellt vielmehr den eigentlichen historischen Index des Romans, in dem sich mehr als ein Nicht-mehr (beispielsweise des Epos) anzeigt. Denn einerseits ist es diese Ironie produzierende Spannung zwischen Realisierung und Realität einer Welt, die ihn als die historische und neuzeitliche Gattung par excellence qualifiziert sowie Thema und Anspruch des Romans fundamental geschichtlich macht. Denn hier ist die Voraussetzung impliziert, dass die Welt als eine bzw. jemandes Welt, kurzum als Kontext verstanden und relativiert werden kann, der Weltbegriff selbst also schon eine andere als beispielsweise absolut-schöpfungsgeschichtliche Valenz innehaben kann, sofern sich das Gesetz DER Welt nicht mehr als letzthinniger Integrationsgarant eignet. All dies kann man wesentlich nüchterner als eine der Neuzeit entsprechende Kontingenzerfahrung bezeichnen. Andererseits jedoch – und das geht über die bloße Kontingenz hinaus – artikuliert sich in dieser gespannten «SchreibSzene»²⁰ ein Verhältnis, das – wie zu zeigen sein wird – den jeweiligen Roman auch in einem sehr konkreten Sinne historisch macht und mit einer sehr spezifischen Geschichte versieht und auf eine immerzu spezifische Motivation schließen lässt, diese Schere auszustellen und zu deuten. Mehr als in der realisierten Realität selbst, schreibt sich in dieses Verhältnis, welches Ergebnis einer immer bestimmten und recht genau zu situierenden Anstrengung der Realisierung ist, eine Geschichte ein, deren Spezifizität die grundsätzlich neuzeitliche Historizität des Romans noch weiter konkretisiert, die Vision von Welt ein weiteres Mal brechend. Diese beiden Aspekte – die (neuzeitliche) Idee von Welt als Kontext und die (stets spezifische) Geschichte der im Roman verfügbaren Erfahrung von Welt als potentiell gebrochener Geschichte – machen die Vision des Romans aus und erklären auch, weshalb der Roman – aller Ironie zum Trotz – auf eine Welt nicht verzichten kann. Er würde seine entscheidende Aussage, seine Idee und auch seine Geschichte (in jedem Sinne) einbüßen. Genau hier, an dieser Schere, so meine ich, behauptet sich auf einer strukturell wirksamen Ebene das Besondere, ist das Allgemeine der gesetzten Welt, das sich ja idealerweise als eine zumindest intuitiv erfassbare Binnenkonsistenz dieser Welt artikuliert, durch jene selbst schon spezifisch motivierte Anstrengung spezifisch gebrochen. Hier zeigt sich, in welchem Sinne der Weltbegriff als das Paradigma für das Spezifische des Allgemeinen gelten kann. Der trotz allem endliche Roman kann den an sich ja unendlichen Anspruch der Dichte einer

20 Vgl.: Rüdiger Campe: Die Schreibszene. Schreiben. In: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 759–772.

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Welt nur ironisch und unter der Maßgabe aufrechterhalten, dass diese Welt immer schon bloß eine bzw. eine mit einem Possessivpronomen²¹ versehene Welt ist, deren Begrenzung nicht absolut, also von außen vollständig einsehbar sein kann, sondern nur eine doppelt relative Begrenzung sein kann. Denn so sehr sie sich auch bemüht, sie ist als nur endlich darstellbare nicht vollends aus sich selbst heraus begrenzbar, so dass sie der Begrenzung durch eine selbst endliche Größe – des Erzählaktes bzw. der Lektüre – bedarf. Gleichzeitig jedoch bringt sich im bloßen Faktum ihrer Endlichkeit der Anspruch zur Explikation, eine Position zu simulieren, von der aus die absolute Begrenzung einer Welt einsehbar sein könnte. Dies jedoch wäre in letzter Konsequenz nur dann möglich, wenn diese äußerliche Position sich selbst als relative vergisst, also beispielsweise dann, wenn – und darauf spielt ja das Ende von Cien años de soledad explizit an – mit der Lektüre einer Welt auch die lesende Welt endet. Die Konstitution einer Welt ist also gerade, je mehr diese befragt wird, nicht zurückzubringen auf das, was der jeweiligen Welt als die letzthinnig umfassende Instanz selbst vorausgeht. In ihrer Äußerlichkeit ist diese in der Anstrengung sich markierende vorgelagerte Instanz und – angenommen, sie wäre als solche vollends verfügbar – selbst wiederum nur Ausdruck einer Welt, sprich selbst nur Ergebnis einer Anstrengung einer endlichen und endlich konstituierten Welt. Je mehr der Roman seine Welt als eigene, als eine, in der man versinken kann, behauptet oder auch nur behaupten möchte, umso mehr steht er in der Verlegenheit, sich zur stets äußerlich bleibenden Endlichkeit seiner eigenen Anstrengung zu verhalten. In letzter Konsequenz hat er diese Problematik auch mit Blick auf die Lebenswelt zu problematisieren, sofern diese – wie im Quijote – als das letztlich vergebliche Versprechen fungieren kann, in ihr die Konstitution der Konstitutionen vorzufinden. Stattdessen wird die Lebenswelt als der vermeintlich privilegierte Ort, an dem die Konstitution der Konstitutionen nachzuvollziehen wären, umso fragwürdiger, je mehr sie von und durch Fiktionen ‘belastet’ und befragt wird. So kann Don Quijote im zweiten Teil von sich lesen und so das schon im ersten Teil etablierte Gebot eines hinsichtlich ihrer Konstitutionen isomorphen Verhältnisses zwischen Lebens-, Roman- und Metaromanwelt unbeirrt und nunmehr um eine weitere Metaebene bereichert fortsetzen. Das verdankt sich nicht nur der wahnsinnigen Starrhalsigkeit des hidalgo, sondern steht auch dafür ein, dass die Frage nach der Wirklichkeit zu einer iterativen Frage geworden ist, dass auch das Allgemeine der letzthinnigen Integration spezifisch bleibt, dass die Konstitution der Konstitutionen selbst nur eine weiteres Mal die Frage nach einer Konstitution sein kann.

21 Vgl.: Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff, S. 52.

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Just in diesem und weniger im Sinne von possible worlds²² ist die Romanfiktion auch für das Verständnis von Lebenswelt nicht folgenlos.²³ Die im Roman manifest werdende Erfahrung einer nur ironisch zu behauptenden Weltkonstitution, kann auch dergestalt auf die Lebenswelt bezogen werden, dass auch die Konstitution dieser gegebenen, aber gleichzeitig auch gemachten Wirklichkeit nicht letzthinnig einsichtig ist. Dass die Einsicht in die Wirklichkeitskonstitution der Lebenswelt ebenso endlich und äußerlich sein soll wie die Anstrengung, die eine Romanwelt konstituiert, ist insofern eine zumindest kritische Einsicht, als die Lebenswelt genau dies im Grunde nicht sein müsste, ja nicht einmal dürfte, wenn man sie als das jeder (subjektiven) Konstitution vorläufige Gegebene denkt. Es wird offenkundig, dass die Formel einer Welt von Welten hier nicht beruhigen kann; die Konstitution der einen Welt ist zum Politikum geworden. Nicht nur DIE Welt, sondern allem voran eine Welt ist auch das Ergebnis eines (schöpferisch-narrativen) Aktes, der dieser einen Welt äußerlich bleiben kann und doch nicht bleiben darf, wenn es sich um eine historisch-relativ konstituierte und somit post-mythische, post-epische Welt handelt. Nahe an der Paranoia und doch Kritik, wird Welt zu der Frage, worin der Mensch eingetaucht ist und welches Aktes es bedarf, um dies sichtbar zu machen, ohne dass ein Ende dieses (wie man mit Blick auf Graciáns Criticón sagen könnte) desengaño contínuo abzusehen wäre. Ich werde auf diese nicht nur erkenntnistheoretische, sondern auch politische Dimension noch weiter zu sprechen kommen. Vorerst genügt die Feststellung, dass dieses anfangs skizzierte Doppel von Integrationslogiken im Weltbegriff für die Romanfiktion in einer Widersprüchlichkeit konstitutiv wird und ein Verhältnis der Weltenvielfalt markiert. Auch das hat seine Vorgeschichte. Karlheinz Stierle hat zu Beginn seiner monumentalen Petrarca-Studie das Welt-Motiv in einem ähnlichen Sinne prominent aufgenommen und an den Figuren Dante und Petrarca als eine genuin neuzeitliche Signatur entwickelt. Während in der «Dante-Welt» und inspiriert von Giotto ein Odysseus denkbar wird, «[…] der als erster zur Erkundung des Welt-

22 Vgl.: Ruth Ronen: Possible Worlds in Literary Theory. Cambridge: Cambridge University Press 1994. 23 Dass Weltenvielfalt im Sinne von possible worlds eher eine Modellbildung im Sinne hat, dürfte nicht umsonst vor allem in der Sci-Fi-Literatur zu finden sein. Diese Deutung von Weltenvielfalt verdankt sich einem in die Fiktion gebrachten wissenschaftlichen Begriff des heuristischen Modells. Dabei jedoch, so meine ich, ist die entscheidende fiktionstheoretische Frage verstellt, sofern das Problem der Fiktion im Roman nicht die Möglichkeit oder Unmöglichkeit ihrer Welt ist, sondern die Einsicht, dass unsere Einsicht in die Konstitution von Welt immerzu endlich ist.

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meeres gen Westen aufbricht»²⁴, am Ende doch noch und vielleicht ein letztes Mal die vertikale Ordnung der Welt zu retten war, sieht die Bewegungslogik bei Petrarca ganz anders aus: Die Vielfältigkeit einer offenen, von keiner essentiellen Seinsordnung mehr umgriffenen Welt ist bei Petrarca im Vergleich zu Dante eine grundsätzlich neue Erfahrungsdimension. Steht Dantes Commedia noch im Zeichen einer prinzipiellen Vertikalität der Welt, wie sehr Dantes Fragen auch schon beunruhigt ist von der Schreckensvorstellung einer kontingenten Welt, so ist Petrarcas Welterfahrung die einer prinzipiellen Horizontalität und in eins damit einer sich ins Unabsehbare ausweitenden Vielfalt innerweltlichen Verweisungen. […] Horizontalität der Welt und Unabschließbarkeit der Erfahrung werden zur Bedingung einer Schreibart im Zeichen des Fragments. […] Von nun an wird die moderne Kunst und Dichtung in unauflösbarem Widerspruch zwischen einer den Punkt und ihrer Vollkommenheit anstrebenden Kunst und einer reflexiven Kunst stehen, die die Uneinlösbarkeit dieses Anspruchs zu ihrer Voraussetzung macht und im Fragmentarischen und in der Selbstentzweiung ein Maximum an ästhetischer und reflexiver Intensität anstrebt.²⁵

Das Fragment wird bei Petrarca zunehmend zum Rest, zur Spur. Hier zeigt sich ein für meine Fragestellung höchst bedeutsamer Chiasmus: Während Dante die Bewegung in den Westen wagen konnte, da er sich vertikal abgesichert wähnte, kehrt Petrarca dies Verhältnis geradezu spiegelverkehrt um: Die Bewegung in die Horizontale und die Erfahrung «einer sich ins Unabsehbare ausweitenden Vielfalt innerweltlichen Verweisungen» waren möglich, da die ‘Absicherung’ des Petrarca über einen Rück- und Vorverweis auf das antike und zu erneuernde Rom verlief, also in der Welt selbst verankert war und somit vor einer allzu weiten Reise in den Westen wie von selbst bewahrte. Die «innerweltlichen Verweisungen» zentrieren sich um Rom und – etwas polemisch gesagt – vermeiden strukturell jenen Roman, der im Spanischen novela heißt und Rom folglich nicht im Namen führt. Inwiefern? Dass Petrarca – um eine auf den ersten Blick kühne, aber im Kontext dieser Arbeit doch naheliegende These zu wagen – auf diese Erfahrung mit dem Fragment reagiert und nun nicht mit dem Roman, darf man für den Kontext dieser Studie und jenseits einer philologischen Geschichte in dem Sinne deuten, dass der Mangel des Fragments sich noch in keine positive Form bringt. Petrarca vermeidet eine Form, die in sich selbst schon Fragment wäre und zieht – Roms Ruinen und Größe vor Augen – eine Form vor, die stets Fragment von etwas ist und

24 Karlheinz Stierle: Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14.Jahrhunderts. Hamburg: Hanser 2003, S. 11. 25 Ebd., S. 12.

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so das Versprechen einer Erfüllung noch in sich trägt. Dass erst das Spanien im frühen 17. Jahrhundert den Prototyp des modernen Romans hervorbringen wird, der diese Ambivalenz der Welterfahrung hinsichtlich vertikaler und horizontaler Kontingenzerfahrung auch formal umsetzt, mag auch daran liegen, dass Cervantes, anders als Petrarca und darin Dante näher, für die Erkundung der Welt mit einer Schiffsreise gen Westen nicht nur einen Sinn, sondern auch ein Ereignis vor Augen hatte. Etwas knapp gesagt: Dante hatte den Schritt zu Weltgeschichte als weltlicher Geschichte noch nicht gewagt, Petrarca, der dies durchaus zu wagen bereit war, hatte kein Amerika, das die Bewegung in der Horizontalen zu einer tatsächlich weltgeschichtlichen Bewegung hätte machen können und fand sich nur im Rückgang auf Rom bestätigt und gesichert. Weltgeschichte als weltliche Geschichte einerseits und eine echte ‘Entdeckung’ im Westen, dieses Doppel war erst dem Spanien eines Cervantes’ verfügbar, das nicht nur einen Disput über diese im Westen gelegenen Neue Welt als eine Frage an die bisherige Welt- und Schöpfungsgeschichte lostritt, sondern mit dem modernen Roman ebenfalls jene Gattung hervorbringt, deren Weltbegriff weder durch eine vertikale noch durch eine horizontale Integration abgesichert werden und jedweden Gründungsakt nur auf Widerruf zulassen konnte. Dieser Chiasmus lässt sich etwas formaler formulieren: Wenn der Begriff der Welt also einerseits dem absoluten Anspruch einer eigenen Realisierung gerecht werden möchte – ein Anspruch, an dessen Stelle nicht selten das (souveräne bzw. kolonisierende) Subjekt gesetzt wurde und das das Privileg der Transzendenz in eine weltliche Weltkonstitution zu übertragen sucht –, markiert der von Blumenberg ja verwendete Plural von Realitäten schon rein logisch einen sich relativ wissenden Weltbegriff und eine Konstellation der Weltenvielfalt, sofern diese eine Welt nur durch eine andere, nicht aber durch die Evokation selbst begrenzbar wird. Somit kommt eine relationale Logik²⁶ ins Spiel, die für eine bestimmte, nicht relational entworfene Erzählung des Subjekts durchaus problematisch werden kann, sofern hier eine binnenweltlich zu denkenden Äußerlichkeit unvermeidlich wird. Auch hier lässt sich ein vielsagender Chiasmus der anfangs skizzierten Ausgangslage ausmachen: Während der Akt der souveränen und weltlichen Weltkonstitution den eigentlich-transzendenten Anspruch in die Welt zu integrieren sucht, zeigt sich die relationale Logik des Weltbegriffs als jene, die die Äußerlichkeit der Konstitution von Welt in die Welt holt. Der Roman denunziert in seiner Form den ‘souveränen’ Akt der Weltkonstitution als Hybris und fordert durch die Erfahrung einer stets relativ-äußerlichen Konstitu-

26 Vgl. hierzu: Edouard Glissant: Poétique de la relation. Paris: Gallimard 1999. Und ebenso Édouard Glissant: Traité du tout-monde. Paris: Gallimard 1997.

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tion von Welt eine politische Dimension der Fiktion ein, macht die Belastung der Welt durch Fiktionen zum Dauerauftrag des Menschen, wenn diese Welt auch seine sein soll.

3.2 Weltenvielfalt als romantheoretischer Begriff Die Grundbestimmung des Romans als einer durch eine äußerliche ‘Anstrengung’ der Realisierung stets ironisierte Immanenz von Welt ist der theoretische Grundbestand, der den titelgebenden Begriff der Weltenvielfalt motiviert hat und der als ein grundlegender romantheoretischer Begriff im Laufe dieser Arbeit aus einem lateinamerikanistischen Kontext heraus weiter entwickeln werden soll. Der mitunter widersprüchliche Status der Romanwelt und seiner Fiktion lassen sich insofern als ein Verhältnis der Weltenvielfalt bestimmen, als die ironisierte Immanenz von Welt bedeutet, dass sich die Welt (des Romans) immer im Kontext einer anderen Welt weiß oder zumindest nicht nicht wissen kann. Inwiefern diese Einsicht sich iterativ auch für die Lebenswelt fortsetzen kann, habe ich mehrfach angedeutet. Hier soll dieser iterative Effekt an zwar eng miteinander verbundenen und hier aus Gründen der Darstellung zu trennenden Ebenen als verschiedene Aspekte der Weltenvielfalt beschrieben werden. Erstens findet sich im Weltbegriff des Romans – ein Weltbegriff, der auch seinen Fiktionsbegriff begründet – jene frühneuzeitliche Wende im Weltbegriff als ein Problem seiner Valenzen ausbuchstabiert. Das Absolute DER Welt und das relative EINER Welt sind dermaßen unauflöslich ineinander verschränkt, dass ein Stabilität, Gewissheit oder Entelechie verbürgendes Verweisverhältnis ausbleibt. Einerseits stellt die Romanwelt eine Integration ihrer Subwelten in Aussicht, so dass die Konstitution ihrer Welt auf den abgesicherten oder garantierten Modus DER Welt referiert. Andererseits jedoch ist sie und weiß sie sich in der Anstrengung dieser Konstitution immer nur als eine Welt, so dass die von ihr in Aussicht gestellte letzthinnige Integration allenfalls eine auf Widerruf ist. Anders gesagt: Die Integrationsleistung DER Welt wird in/von einer Welt gefordert, die durch die sich als unmöglich erweisende Trennung von Evokation und Realität nicht mehr auf eine versichernde, da von der evozierten Realität nicht absolut zu trennende Instanz zählen kann, der die vertikale Integrationsleistung zuzutrauen wäre. Gleichzeitig wird die horizontale Integration überfordert, sofern sie zu etwas immer erst noch zu Leistendem wird, ohne dabei sich in diesem Entwurfscharakter abgesichert wähnen zu können. So hat sie zumindest retroaktiv eine Bestätigung zu leisten und kann sich zugleich doch nur unter der Prämisse vergegenwärtigen, schon eine Welt zu sein.

Weltenvielfalt als romantheoretischer Begriff 

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Weltenvielfalt meint hier die Vielfalt der Welt-Aspekte, ihrer Valenzen und Logiken, die in ihrem Zusammenspiel auf keine Superlogik verweisen und eigentlich doch müssten. Das gilt auch für den selbstreflexiven Gestus, der eine solche Superlogik ermöglichen müsste oder zumindest eine souveräne Position. Idealtypisch wird dieser ‘Sturz’ am vermeintlich privilegierten Ort des Erzählers wie auch des Lesers deutlich, die beide im Roman jeweils als eine schon mitbedachte und vertikal ja eigentlich höher liegende Ebene auf eine Weise adressiert²⁷ werden, als wären sie auf der gleichen Ebene zugegen. So kann der Roman fingieren, dass er sich mit diesen logisch übergeordneten Instanzen immer nur um eine weitere horizontale Ebene bereichert, auch diese zu einer seiner Welten machen kann, sie aus seiner Welt heraus relativierend. Da nun diese Adressierung in einer Fiktion erfolgt, die sich immer schon als eine und eben nicht DIE Welt wissen muss, hat diese im Prinzip endlose Iteration horizontaler Integrationen zur Folge, dass auch die dem Roman übergeordneten Instanzen als eine Welt entlarvt werden. Roman- und Lebenswelt mögen sich hinsichtlich ihres ontologischen Status’ unterscheiden; was sie als erlebte Welten unterscheidet ist, dass die Lebenswelt jene Welt wäre, die einfach noch nicht weiß, in welchen Relationen sie steht und welche bzw. wie viel Fiktionen bzw. Evokationen in der Konstitution ihrer Wirklichkeit am Wirken sind. Zweitens erzählt der Roman von einer Welt auf eine Art und Weise, in der sich diese Welt stets auch im Kontext einer anderen Welt wissen kann, ja davon stets Zeugnis abgibt. Das gilt sowohl für die Darstellung wie auch für den Erzählakt selbst. Anders als im Falle des epischen Erzählen-Wollens und Gehört-Habens ist hier immer auch die Frage impliziert, wie und weshalb die Erzählung (im Sinne von histoire) zu ihrer Erzählung (im Sinne von récit, narration) gelangt, die Erzählung einer Welt zu der Form und dem Akt ihrer Erzählung kommt. Vom manuscrit trouvé bis zum versteckten Selbstzitat des Autors als Helden lassen sich hierfür vielfältige Beispiele für die Präsenz dieser kompromittierenden Frage zitieren. Weltenvielfalt meint hier neben der Spannung der Modi, also die Spannung zwischen vertikaler und horizontaler (Des-)integration, die Frage des Umschlags, der Überschreitung und des Verhältnisses von Welten, die dem Akt der Erzählung selbst schon eingelassen ist und die sich formal als die Frage nach dem Verhältnis von Erzählung und Erzählakt bzw. Darstellung expliziert. Weltenvielfalt steht sodann auch für eine konkrete Überlagerung von Welten, deren Beziehung als eine zumindest nicht kontinuierlich vermittelbare Umschlagsfigur beschreibbar ist.

27 Zum Begriff der Adressierung vgl.: Andrea Allerkamp: Anruf, Adresse, Appell. Figurationen der Kommunikation in Philosophie und Literatur. Bielefeld: transcript 2005.

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 Paradigma Weltenvielfalt

Für den Roman kann in dieser Umschlagslogik auch das Verhältnis von Roman- und Lebenswelt zum prominenten Thema werden. Wie ich mit Bezug auf den Quijote schon anführte, ist die Thematisierung dieser Grenze insofern eine auch für die Lebenswelt relevante Frage und mehr als ein spielerisches Selbstzitat, als sie sehr konkret (und eben nicht nur strukturell) die Frage danach stellt, wie Erzählungen Wirklichkeiten konstituieren. Dabei liegt die eigentliche Brisanz dieser Frage weniger im Akt der narrativen Setzung selbst oder in der Orientierung qua Narration, sondern in der Frage nach der Aushandlung dieser Überlagerung von Narration und Welt. Sie ist nicht einfach abzugleichen zwischen dem, was ist, und dem, was als narrative Perspektivierung davon unterschieden werden könnte, sondern kann nur selbst von einer anderen Narration, einer anderen Weltsetzung begrenzt werden. Anders gesagt: Nicht positive oder zumindest rückwirkend gesicherte Evidenz von Welt selbst, sondern die Frage nach dem, was sich in eine bestimmte Welterzählung nicht mehr integrieren lässt, begrenzt diese Welt rückwirkend. Weltenvielfalt setzt deshalb einen Begriff von Wirklichkeit voraus, der – sehr nahe an dem, was Lebenswelt in der Phänomenologie bezeichnet – Welt nicht vom (logisch äußerlichen) Akt der Welterzeugung zu trennen erlaubt. Wenn das ‘Verstehen’ einer (und eben nicht DER) Welt vom Akt der Weltkonstitution nicht zu lösen ist, dann bedeutet das auch, dass diese eine Welt durch einen relativ-äußerlichen (Erzähl-)Akt begrenzt ist, der kein Gesetz von Welt reproduziert, sondern eine formale und leere Stelle dessen, was diese eine Welt nicht mehr sein kann. Der Punkt, um den es mir hier geht, lässt sich in Differenz zur Perspektive verdeutlichen. Perspektiven – und es ist die Darstellung des klassischen Dramas, die dies idealtypisch umsetzt – sind stets auf einer gleichen Ebene präsent und werden aus diesem Grund vorzugsweise anhand einer Asymmetrie des Wissens nachvollzogen. Die entscheidenden Übergänge sind die vom Nicht-Wissen ins Wissen, ohne dass damit eine logische Tektonik verletzt wäre, so dass das Problem unterschiedlicher Niveaus oder auch Positionen hier in der Darstellung als Darstellung nicht explizit zugegen ist. Das Problem der Welt hingegen verschärft diese Asymmetrie als ein in die Handlungsebene nicht übersetzbares Problem von Positionalitäten, von der aus die Perspektiven eines Handlungsraums entworfen werden können, ohne deshalb auf eine unbetroffene Metaebene (beispielsweise die des Zuschauers des klassischen Dramas) verweisen zu müssen oder können, also ohne auf ein ‹echtes› Außen zu verweisen. Anders als ein anderer Kontext oder eine andere Perspektive ist mit der Metapher einer anderen Welt ein Umbruch beschrieben, der keinen gemeinsamen Fluchtpunkt zulässt, keine gemeinsame Welt bzw. Vermittlung als letzthinnigen Kontext zulässt, sondern die Frage nach der jeder Perspektive vorgängigen und doch nur perspektivisch einsehbaren Konstitutionen stellt. Der springende Punkt ist hier,

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dass die tektonische Logik des Romans im Grunde auf die Frage nach DER Welt abzielt, seine Darstellung aber nur und stets die Erfahrung einer Welt zulässt oder anders gesagt und das ironische und parodistische Potential des Romans offenlegend: Der Standpunkt der absoluten Integration wird (ironisch) relativiert, jedweder und nunmehr nur relativ denkbare ‘äußerliche’ Standpunkt (parodistisch) in eine absolute Position auf Widerruf gehievt. Das Phänomen des «unreliable narrator»²⁸ findet hierin zweifelsohne seine strukturelle Voraussetzung. Doch nicht nur diese roman- und fiktionstheoretischen Überlegungen haben den Begriff der Weltenvielfalt motiviert. Der zweite und im engeren Sinne historische Ausganspunkt ist das Ereignis der Neuen Welt als eines, das die vom Roman formal auszuformulierende Frage der qua implizierter Negation erfolgenden Weltkonstitution vielleicht in einzigartiger Radikalität und Faktizität gestellt hat. Der hier entscheidende Aspekt ist sicherlich die Tatsache, dass die Anstrengung einer integrierenden Welterzählung auch deshalb sekundär bleiben muss, da das factum brutum der Begegnung zweier Welten in eine immer nachträgliche Erzählung überführt wird, die auszugehen hatte von dem, was die eine Welt nicht mehr sein konnte. Weltenvielfalt ist ein Motiv, das folglich mitnichten auf die Frage des Romans zu beschränken ist, sondern selbst schon eine historische Erfahrung der Horizontoffenheit benennt, die ich idealtypisch an der kolonialen Konstellation der Amerikas nachzeichnen werde und die auch Bachtin – nicht zufällig einer der bedeutendsten Romantheoretiker – in der Beschreibung asymmetrischer Sprachsituationen zumindest auf formaler Ebene schon angedacht hat. Diese Sprachsituation darf insofern als eine (in der kolonialen Situation allemal) exemplarische Konfiguration von Weltenvielfalt gelten, als Sprache selbst eine Inkongruenz und ein Äußerlichkeitsverhältnis von Welt und Erzählung angesichts der ‘Wirklichkeit’ von einer in sich diskontinuierlichen Welt markiert. Der dritte und in einem ganz anderen Sinne romantheoretisch-methodologische Aspekt des Weltenvielfaltbegriffs bezieht sich auf die Valenz des Weltbegriffs innerhalb von Romantheorie selbst und speziell auch innerhalb jener Romantheorie, die hier exemplarisch an den Debatten des booms nachgezeichnet werden sollen. Um den Bezug zu den vorigen Punkten zu verdeutlich, mag ein Zitat aus der bereits genannten Anthologie von Juan Loveluck genügen, der den Begriff der Welt mit einer sehr vielsagenden, die Kolonialität einer ‘allgemeinen’, sich nicht als Vision problematisierenden Theorie deutlich anzeigenden Dichotomie versieht. Geradezu idealtypisch formuliert Loveluck hier die der ko-

28 Wayne C.Booth: The Rhetoric of Fiction. Chicago: University of Chicago Press 1961.

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lonialen Situation eingelassene Spannung von DER Welt («el mundo») als Referenzwert des Universalen bzw. der Weltliteratur auf der einen und einer Welt («mundos típicos») als Ausdruck einer beschränkten Lokalität auf der anderen Seite, so dass man leicht sehen kann, wie das Problem der Weltvalenzen in einer von Kolonialität geprägten Theorie ein munteres Fortleben feiert. Loveluck, hier Zeitzeuge des sich formierenden boom, schreibt über die «hispanoamerikanische Fiktion» folgendes: La ficción hispanoamericana se traduce hoy al inglés, al francés, al italiano, al alemán, porque en ella descubren otros aspectos de una forma de arte en que el hombre descifra al mundo y se descifra a sí mismo en su dramática contemporaneidad. Hace treinta años, el interés por trasladarla a otros idiomas tenía su fundamento en la representación de mundos típicos, propicios para cierta forma de turismo mental, o porque se tenía la ilusión – ilusión de regusto decimonónico – de que la novela puede considerarse como un elemento auxiliar del conocimiento histórico, sociológico y político.²⁹

Der Weg scheint klar vorgegeben: Von einer Welt gilt es den Weg zu finden zu DER Welt, die hier eine universale Moderne des «zeitgenössischen Menschen» ist. Gleichzeitig jedoch lässt sich in der Formulierung «otros aspectos» eine Überlegung herauslesen, die das Problem der Theorie und des Romans als das Problem der Vision eigentlich schon voraussetzt und eigentlich der Dichotomie von DER Welt und einer Welt widerspricht. Auch wenn diese drei Aspekte von Weltenvielfalt sich relativ isoliert betrachten lassen, ist es doch das methodologische Anliegen dieser Studie darzulegen, dass sie (speziell für den Fall dieses Korpus) keine isolierten Aspekte darstellen können. Vielmehr möchte ich in dieser Verschränkung an die anfangs mit dem Begriff der Vision vorbereitete Frage nach einem Verhältnis des Besonderen und Allgemeinen anknüpfen, um nachzuzeichnen, wie diese beiden Bezugsgrößen für all diese Aspekte von Weltenvielfalt ein unauflösliches Verhältnis eingehen. Wenn nicht die vermeintlich ‘kulturwissenschaftliche’ Frage der Realisierungen bzw. lediglich der ‘Gehalt’ der Darstellungen begründend sein soll, also so etwas wie ein Diskurs der Lateinamerikas in ‘den’ lateinamerikanischen Literaturen, dann gilt es, die hiermit verworfene Frage nach der Identität eines Kulturraums unter dem Paradigma der Weltenvielfalt anders aufzuspannen und das meint auch: die von Loveluck anvisierte ‘universale’ Frage des zeitgenössischen Menschen als eine in Visionen zu stellende Frage zu begreifen. Nicht nur wird so ein literatur- wie auch kulturtheoretisch problematischer Konnex von

29 Juan Loveluck: Introducción, S 11, jeweils meine Kursivierung.

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Sprache, Raum und Identität aufgebrochen, sondern die lateinamerikanische Romanproduktion überhaupt erst aus einem romantheoretischen (und deshalb noch lang nicht kulturwissenschaftlich irrelevanten) Kontext historisch befragbar. Ebenso wird das theoretische Paradigma des Romans als das einer Vision von Theorie aus einer bestimmten Konstellation heraus lesbar. Welche Rolle kann hier dem Motiv der Weltenvielfalt zukommen? Zum einen vermittelt sich das Motiv der Weltenvielfalt mit der sehr allgemeinen These, den Roman als eine neuzeitliche Gattung zu begreifen, ohne dabei eine klare Lokalisierung dieser Neuzeit vorzunehmen. Das begründet sich nicht zuletzt mit der Tatsache, dass auch wenn die Begründungserzählungen der Neuzeit vielfache und immer wieder zu leistende sind, sie – aus romantheoretischer Perspektive und auch darüber hinaus – doch auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen sind, der hier der Wandel im Weltbegriff wäre. Zum anderen ist auch darauf verwiesen, dass diese doch recht abstrakte These immer auf konkrete Erzählungen angewiesen ist und dass das Ereignis der Neuen Welt hier als eine exemplarische Vision dieses Wandels diskutiert wird. Weltenvielfalt ist hier ein Begriff, der die Dichotomie von «el mundo» und «mundos típicos» auch für die Theorie aufbrechen möchte. Das wiederum hat auch eine literaturtheoretische Implikatur: Wie bereits angedeutet, werde ich den boom – entgegen hartnäckiger Verkürzungen – nicht als einen Diskurs einer ‘endlich’ zu seiner Artikulation findenden lateinamerikanischen Identität lesen. Vielmehr eröffnet er eine Vision auf die Anfänge des modernen Romans aus einer sehr spezifischen kulturellen Konstellation heraus, ohne dabei eine kulturessentiell verkürzende Frage zu formulieren. So ist die Frage nach dem jedwede Gattungsgeschichte begründenden, selbst als Vision zu fassenden Kanon mitnichten eine nur durch den boom formulierbare. Wenn mit diesen Debatten die Romanproduktion als eine neuzeitliche Konfiguration von Fiktion und Fiktionswissen begriffen werden soll, dann aufgrund der Annahme, dass diese Konfiguration in der kolonialen Situation – und zwar als Sprachsituation verstanden – eine geradezu konstitutiv-exemplarische neuzeitliche Signatur vorfinden kann, ohne deshalb lediglich eine Spezialtheorie und Spezialgeschichte des lateinamerikanischen Romans zu erzählen. Diesen Aspekt gilt es zu bekräftigen, da die romantheoretischen Aspekte der Debatten um den boom auch heute noch subsumiert werden unter einem in der Lateinamerikanistik immer wieder auftauchenden und in einem recht unbedarften Sinne weltliterarischen Argument, wonach der Roman seine Erneuerung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus Lateinamerika erfährt. Insbesondere der Welterfolg von CAS scheint eine kraftvolle Alternative zum erschöpfenden und erschöpften nouveau roman zu stellen, der gerne als Kontrastfolie zitiert wird und dessen Erschöpfung in der Fassung des noueveau nou-

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veau roman noch offenkundiger scheint.³⁰ Statt eine mit dieser Romanproduktion verfügbar werdende Vision der Ursprungsproblematik des Romans anzugehen, wird sie kurzerhand in eine ‘allgemeine’ Geschichte des Romans überführt, also just in jenes Modell von allgemeiner Geschichte, das der Roman schon formal nicht zulässt. Die im Verkaufserfolg von CAS zum Ausdruck kommende Globalisierung des lateinamerikanischen Romans hat so leicht den Blick dafür verstellt, dass sich mit diesem Roman nicht nur die Erfolgsgeschichte des weltliterarisch kanonisierten Romans erzählen lässt, also wie Loveluck es formuliert: der Weg von einer ‘typischen Welt’ zu der Welt der zeitgenössischen Menschen, sondern vor allem eine Vision auf die Geschichte des Romans, die von den betreffenden Akteuren nicht minder angesprochen wird als die ‘Identität’ dieser Literatur. Ein zentraler, wenn auch nicht immer explizit angeführter Beleg hierfür findet sich im 1967 geführten Diálogo sobre la novela zwischen García Márquez und Vargas Llosa, zwei der wohl wichtigsten Vertreter des booms. In einer kritischen Lektüre dieses Dialogs soll nachgezeichnet werden, wie die Frage nach dem lateinamerikanischen Roman als eine Frage nach der lateinamerikanischen Identität zunehmend von einer anderen, im engeren Sinne romantheoretischen Frage überlagert wird, die – und das ist ja das Kennzeichen von Romantheorie –, gerade weil sie den Roman zum Gegenstand hat, auch stets mehr als eine romantheoretische Frage ist. Kurzum: Auf methodischer Ebene soll also mit dem Begriff der Weltenvielfalt ein romantheoretischer Begriff entwickelt werden, der sich nicht einer grundlegenden romantheoretischen Argumentation widersetzt, aber auch die spezifischen Zugänge zu seinen Vorgeschichten lesbar hält. Zurück zu dem ‘weltliterarischen’ Status der boom-Literatur: Dieses Argument eignet sich hervorragend, um den Unterschied zwischen einem unreflektierten Begriff von universaler Romantheorie bzw. Romangeschichte und einer mit Visionen arbeitenden Theorie des Romans herauszuarbeiten. Statt also die Globalisierung einer Gattung mit einer ganz bestimmten Bewegung – nämlich der weltweiten Rezeption und dem weltweiten Verkauf – gleichzusetzen, gilt es,

30 Beispiele aus der deutschsprachigen Romanistik liefern insbesondere: Gustav Siebenmann: Die wiedergewonnene Allmacht des Erzählers. Baustein zu einem kritischen Verstehen von Cien años de soledad, dem Meisterroman von Gabriel García Márquez. In: Körner, Karl-Hermann/ Rühl, Klaus (Hg.): Studia Iberica. Festschrift für Hans Flasche. Bern-München: Francke, S. 603– 623. Ebenso: Walter Bruno Berg: Lateinamerika. Literatur, Geschichte, Kultur. Eine Einführung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 1995. Paradigmatisch in vielerlei Hinsicht: Leo Pollmann: Der neue Roman in Frankreich und Lateinamerika. Stuttgart: W. Kohlhammer 1968. Für die US-amerikanische Rezeption nach wie vor eine unumgängliche Referenz: John Barth: The literature of replenishment. In: The Atlantic 233.1 (January 1980), S. 65–71.

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sofern Globalisierung ja nicht unwesentlich die widersprüchliche Valenz des Weltbegriffs betrifft, auch jene Globalisierungserzählung in den Blick zu nehmen, die sich an Literatur selbst darstellen und nachzeichnen lässt. Der blinde Fleck der ‘allgemeinen’ weltliterarischen Deutung wird besonders dadurch deutlich, dass sich eine eigentlich auf der Hand liegende Frage erst gar nicht stellt. Es ist nämlich alles andere als evident, dass die Lösung, die CAS bereithält, der diagnostizierten Krise des Romans³¹ entspricht. Diese Frage – so meine ich – wird deshalb erst gar nicht gestellt, weil die Gattung Roman als eine weltliterarische Gattung vor dem Hintergrund einer verallgemeinerten literarischen Praxis verstanden wird. Der reibungslose Transfer – Ideal der Freihandelszone – erlaubt es, den einen Roman mit dem anderen in Bezug zu setzen, ohne sich nach den Implikationen dieser Bewegung zu fragen. Wohlgemerkt: Nicht dass Bezüge hergestellt werden, sondern dass diese ohne eine Theorie ihrer Beziehbarkeit geschieht, ist zu kritisieren. Dabei geht es nicht einfach um eine Rezeptions- und Wirkungsgeschichte. Wesentlich entschiedener geht es mir dabei um ein Relationierungspotential von und durch Literatur und ihrer Theorie.³² ‘Allgemein’ ist die literarische Praxis des Romans ja durchaus, allerdings nur in dem Sinne, dass sie eine zweifelsohne globalisierte Form des Schreibens darstellt und so schon ‘faktisch’ an der Konstruktion einer Welt von Welten teilhat, aber weniger, weil diese Praxis selbst eine allgemeine wäre. So problematisch also das in die lateinamerikanische boom-Literatur projizierte und von Theile zu recht kritisierte und auf Günther W. Lorenz und teilweise auch Leo Pollmann bezogene Dispositiv «eines provinziellen ‚Regionalismus’, ja einer lateinamerikanischen Blut-und-Boden-Bewegung»³³ sein mag, es stellt sich die

31 Klassische Diagnosen der Krise präsentieren Wolfgang Kayser: Entstehung und Krise des modernen Romans. Stuttgart: J. B. Metzler 1963. Und aus französischer Sicht: Michel Raimond: La Crise du roman. Paris: Corti 1966. 32 Natürlich kann es nicht darum gehen, eine Internationalisierung des lateinamerikanischen Romans durch den boom in Frage zu stellen. Doch auch diesbezüglich wäre differenziert zu argumentieren. Zum einen wäre das zu berücksichtigen, was Fernández Retamar die «intercomunicación americana» nennt. Vgl. hierzu: Roberto Fernández Retamar: Intercomunicación y nueva literatura en nuestra América. In: Ders.: Para una teoría de la literatura hispanoamericana. Primera Edición Completa. Bogotá: Instituto Caro y Cuervo 1995 [1969], S. 194. Zum anderen ist auch die speziell aus Barcelona heraus organisierte Verlagspraxis zu bedenken, die es verstanden hat, den lateinamerikanischen Roman des booms prominent zu platzieren. Siehe hierzu: Mayder Dravasa: The Boom in Barcelona: Literary Modernism in Spanish and Spanish-American Fiction (1950–1974). New York: Peter Lang 2005. 33 Wolfgang Theile: Immanente Poetik des Romans. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1980, S. 7.

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Frage, ob die Alternative, diese Literatur «in einem weitaus größeren, weltliterarischen Zusammenhang wirklichkeitsbezogener ‹Bewusstheit›»³⁴ zu verorten, hier die eben genannte Spanne zwischen allgemeiner Theorie und lokaler Differenz nun zugunsten einer allgemeinen Theorie entscheidet.³⁵ Zumal wenn es – wie bei Theile ja der Fall ist – um eine «implizite Poetik des Romans» gehen soll, kann die Einheit des weltliterarischen Zusammenhangs zumindest nicht ohne weiteres angenommen werden, sondern müsste nach einer immer auch konkreten Implikatur fragen. So beachtenswert es ist, dass die deutschsprachige Romanistik schon 1980 das Dispositiv der kulturellen Differenz, sobald es als ein a priori wirksames Dispositiv wirksam wird, problematisch finden kann, so sehr verallgemeinert dieser ‘größere’ Zusammenhang die Frage der Wirklichkeit zu einer «internationalen»³⁶ poetologischen Frage und verstellt damit den Blick für die spezifischen Transgressionen, die sich zwischen einer bestimmten dargestellten Wirklichkeit und dem, was sich in jeweils spezifischer Relation dazu als Lebenswelt oder auch als Geschichte romanhaften Schreibens konstituiert. Mit der These, dass «lateinamerikanische Schriftsteller […], wenn sie als Künstler handeln, ihre Hauptaugenmerk auf das Phänomen des Literarischen richten, nicht aber das des Lateinamerikanischen»³⁷, wird dieser Dualismus zwischen (allgemeiner) Theorie und (lokaler) Kultur offenkundig – ein Dualismus, für den sich just der Roman nicht eignet. Nur so ist es zu erklären, dass Theile die Romane der jüngeren ‘Weltliteratur’ allein über ein sehr abstraktes strukturelles Moment bestimmen kann – durch den Widerstand der Wirklichkeit – und so in einen «weltliterarischen Rahmen»³⁸ bringt: Sie [die behandelten lateinamerikanischen Autoren Asturias, Cortázar und García Márquez, PVO] lassen sich in ihrem sprach- und formgestaltenden Bemühen mit einem international ablesbaren Erfahrungs- und Wissensstand über erzählerische Zurichtung und Vermittlung von Wirklichkeit verbinden, der den Vergleich mit der Reihe der großen Anreger Joyce, Faulkner, Gide, Uwe Johnson, den nouveaux romanciers beispielsweise zuläßt. Allen ist das theoretisch und künstlerisch artikulierte Wissen um die Identität von poetologischer und wirklichkeitspraktischer Erkenntnis gemeinsam, was sich in zunehmend exogener wie literaturimmanenter Behandlung poetologischer Fragestellung äußert. Sie nehmen teil an

34 Ebd., S. 130. 35 Zur Aporie, die durch die Dichotomie von National- und Weltliteratur produziert wird, siehe insbesondere: Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben: Literaturen ohne festen Wohnsitz. ÜberLebenswissen II. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2005. 36 Wolfgang Theile: Immanente Poetik, S. 129. 37 Ebd., S. 8. 38 Ebd., S. 160

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einem neuzeitlichen Wirklichkeitsbegriff, dem sich, wie Hans Blumenberg formulierte, „die Realität als das dem Subjekt nicht Gefügige […]“ darstellt […].³⁹

Offenkundig sehr eng an Blumenbergs in sehr allgemeinen Linien gezeichneten Chronologie sich orientierend, kommt Theile zu dem Schluss, dass diese Romane, die alle in eine Zeit nach Der Mann ohne Eigesnchaften fallen, also nach dem paradigmatischen Beispiel Blumenbergs für eine dem Subjekt nicht gefügige Realität, allesamt unter diese Problemstellung zu subsumieren sind. Abgesehen davon, dass es sich bei dem dritten und vierten Wirklichkeitsbegriff (Wirklichkeit als Kontext und Wirklichkeit als das dem Subjekt nicht Gefügige) sich nicht um Ablösungsformationen handelt, sondern um zwei Abstraktionen einer grundsätzlich neuzeitlichen Wirklichkeitsproblematik, deren Motivationen weiter zu differenzieren wären, stellt sich die Frage, ob das Argument einer sich nicht fügenden Wirklichkeit tatsächlich ausreicht, um ein weltliterarisches Korpus zu begründen. So hilfreich eine solch abstrakte strukturelle Figur wie die der Wirklichkeitsbegriffe auch sein mag, um jenseits von bloß lokalen Literaturgeschichten arbeiten zu können, scheint es mir in diesem Falle angebrachter, einen Schritt zurückzugehen und die Welt im Begriff der Weltliteratur weniger als einen allgemeinen Widerstand der Wirklichkeit zu denken als vielmehr sich zu fragen, in welchem Sinne und aus welchen Gründen Wirklichkeit oder wie ich hier vorschlage: Welt überhaupt problematisch werden kann. Mit dieser Frage im Blick wäre einsichtig, dass es durchaus eine Alternative gibt zu dem Dualismus zwischen Exotismus und einem restriktiv-literarischen Begriff von Weltliteratur. Diese positiv-kritische Kommentierung von Theiles Arbeit begründet sich auch damit, dass sie wie ich von Blumenbergs Wirklichkeitsbegriffen ausgehend, ebenso sich prominent auf CAS beziehend und sogar ebenfalls den Begriff der «Vision»⁴⁰ bemühend, zu methodisch etwas anderen Schlüssen kommt. Das mir ja nicht fern liegende, aber für den Roman nur einen Teilaspekt abdeckende Projekt einer «immanenten Poetik» des Romans zielt bei Theile auf eine Übersetzung der Formarbeit der «Dichter» in ein Strukturierungsprinzip von Wirklichkeit und belässt dabei die diesen Strukturprinzipien selbst eingelassene Geschichte außen vor. Kurzum: Theile begrenzt das Phänomen der Vision auf die Romane und entwickelt es nicht für eine auf diesen Gegenstand sich beziehende Theorie. Der sehr abstrakte «weltliterarische Zusammenhang»⁴¹ ist

39 Ebd., S. 130, kursiv im Original. 40 Ebd. 41 Hier ausführlich zitiert das Verständnis von «immanenter Poetik», das Theiles Arbeit zugrundliegt: «Sie [immanente Poetik, PVO] will das poetische Bewußtsein von Wirklichkeit

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gesichert durch jene von Blumenberg vorgelegten und nicht minder abstrakten Wirklichkeitsbegriffe der Neuzeit. Für eine philosophische Diskussion der Wirklichkeitsbegriffe mag dieses abstrakte Niveau durchaus angemessen sein. Das literaturwissenschaftliche Arbeiten mit diesen Begriffen erfordert doch eine spezifischere Perspektive, wenn es mehr sein möchte als die ‘Empirie’ der philosophischen Modelle. Dass CAS hier der Ausgangspunkt sein soll, um den Begriff der Weltenvielfalt romantheoretisch zu entwickeln, begründet sich damit, dass dieser Roman sowohl in seiner Darstellung wie auch in dem, was Theile die «immanente Poetik» des Romans nennt, es erlaubt, den ironisierenden Kontext und auch den Widerstand in der Wirklichkeitsdarstellung eben auch als eine kulturell-historische Frage zu stellen und das meint: die stets konkrete Motivation dieser doch sehr abstrakten Wirklichkeitsproblematik nachzuvollziehen. Damit ist weder einem Regionalismus oder gar einem essentialistischen Prinzip der unvermittelten Entsprechung von Literatur und Kultur das Wort gesprochen und auch nicht einem allgemein-systematischen «weltliterarischen Zusammenhang». Die entscheidende Verschiebung besteht nämlich darin, die Durchkreuzung und Überschreitung der dargestellten Wirklichkeit nicht nur als ein formales Problem eines kontextuellen oder auch widerständigen Wirklichkeitsbegriffs zu begreifen, sondern diesem transgressiven Moment vor dem Hintergrund einer kulturellen Geschichte lesbar zu machen und halten. Es ist auch diese kritische Position, die mit dem Begriff der Vision angesprochen ist. So kann die Widerständigkeit der Darstellung auch in einem anderen Sinne gedeutet werden als bloß die Teilhabe am «international ablesbaren Erfahrungs- und Wissensstand».⁴² Denn die

nicht sagen, sondern dingfest machen, d.h. gestalten; die Erkenntnis wird zum Stilmittel, zum Formprinzip des Werks. „Immanenz“ kann hierbei auch nicht mehr bedeuten, daß literarische Texte als freischwebende, sich selbst erzeugende Wesenheiten zu betrachten seien, denen für die Geschichte ihrer Rezeption die Eingeschaft historisch wirksamer Selbsterneuerung und Selbststeuerung angedichtet werden müßte. ‚Immanenz‘ in der Kunst besagt demgegenüber das wirkungspoetische, auf Dialog und Wechselbeziehung angelegte Vorhandensein eines für menschliche Verhältnisse höchst differenziert und kompliziert planenden Geistes, dessen Besonderheit, zum Zeitpunkt der Werkentstehung, darin bestanden hat, seine überlegene formgebende Kraft in historisch wirksame Kommunikationsmuster umzusetzen.» (3) 42 An dieser Stelle deutet sich bereits ein äußerst wirkungsmächtiges, bis heute durchschlagendes Dispositiv an, das ich weiter unten exemplarisch an Texten von Angel Rama und Jorges Luis Borges ausführen werde: Gemeint ist die selbst proto-koloniale Implikation, wonach die literarische Technik international ist (vielleicht gar westlich) und der Stoff gewissermaßen das Lokale, das – durch die Technik hindurch – zum Ausdruck kommt. Verstellt ist damit natürlich die Frage, ob sich in das ‘Internationale’ der Technik nicht auch spezifische und nicht minder ‘lokale’ Geschichten einschreiben.

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Teilhabe selbst steht ja durchaus für eine Geschichte wie auch die Formarbeit der AutorInnen nicht nur einen Blick auf die immanente Arbeit an der Wirklichkeit qua Darstellung freigibt, sondern immer auch die Frage, welche Geschichte der Tatsache der Formarbeit selbst eingeschrieben ist. Gerade der von Theile zitierte García Márquez bietet sowohl in seinem Roman CAS als auch in seinen spärlichen Texten zur Literatur (wie seiner Nobelpreisrede) eine mögliche und etwas anders ausfallende Ursprungerzählung einer problematisch werdenden Wirklichkeit. Gleich der Beginn von CAS wiederholt insofern die Erfahrung der und einer Neuen Welt in seiner Eröffnung, als dort einerseits von einer namenlosen Welt die Rede ist, aber andererseits und gleichzeitig die Unmöglichkeit dieser Neuheit behauptet wird oder genauer: diese Neuheit eben auf die selbst nicht neue Kontrastfolie einer schon existenten Sprache bezogen wird, in der die Neuheit dieser Welt erst artikulierbar wird – und zwar sowohl als Medium (es ist der spanischsprachige Text, der dies behauptet) wie als Struktur (es ist die spanische Sprache, die für die sie umgebende Welt keine Begriffe hat): El mundo era tan reciente, que muchas cosas carecían de nombre, y para mencionarlas había que señalarlas con el dedo.⁴³

Die hier offenkundig nur relativ erfolgende Konstitution einer obendrein nicht versprochenen Welt, die den göttlichen Akt der Benennung nun als radikal menschlichen entwirft, also den absoluten Anfang durch einen immer schon historischen Anfang in der Geschichte selbst ersetzt, ist auch und hauptsächlich der Erfahrung geschuldet, dass ein ‘natürlicher’ oder ‘ursprünglicher’ Konnex zwischen Welt und Sprache nur mit (in diesem Falle kolonialer) Gewalt zu haben ist. Die koloniale Sprachsituation markiert so ein besonders explizites Verhältnis der Weltenvielfalt, sofern die Sprache nicht jener Welt angehört, die sie zu bezeichnen sich vornimmt und doch als menschliche Sprache nicht die Macht hat, ‘göttlich’ zu benennen.⁴⁴ Die immer äußerlich bleibende Anstrengung in der Evokation einer Wirklichkeit ist hier denkbar literal. Schon hier wird deutlich, dass – wie von Theile behauptet – Wirklichkeit als das der Sprache nicht Gefügige nicht nur eine zu allgemeine Beschreibung ist (und etwas, das ich beispielsweise bei Roberto Bolaño wesentlich treffender umgesetzt sehe), sondern auch eine teilweise unzutreffende. Denn wenn es über-

43 CAS, S. 9. 44 Vgl.: Walter Benjamin: Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 4 II,1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980 (1916), S. 140–157.

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haupt Sinn macht von Widerstand in diesem Falle zu sprechen, dann nur mit der Einschränkung, dass es erstens um einen im Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit angelegten Widerstand geht und dass es zweitens um einen Widerstand geht, den Wirklichkeit in ihrer Vergegenwärtigung selbst anzeigt, sich also gerade nicht immerzu entzieht, sondern aufdrängt, in Sprache und phänomenologisch (und eben nicht ontologisch) als das Jenseitige der Sprache bzw. als das Wunderbare wiederkehrt. So überrascht wenig, dass García Márquez diese Erfahrung der Wirklichkeit als einer noch zu formulierenden in seiner auch deshalb klar utopisch ausgerichteten Nobelpreisrede auf die koloniale Chronik bezieht und dabei den Ursprung bzw. das poetologische Problem des Romans genau an dieser sehr konkreten Situation von Weltenvielfalt festschreibt: Este libro breve y fascinante [die Chronik von Antonio Pigafetta, PVO], en el cual ya se vislumbran los gérmenes de nuestras novelas de hoy, no es ni mucho menos el testimonio más asombroso de nuestra realidad de aquellos tiempos.⁴⁵

Die koloniale Chronik gibt hier ein Modell ab, wie Sprache und Wirklichkeit in der Neuen Welt, also nach der Begegnung zweier Welten, sich zueinander verhalten. Es ist genau jene Spaltung, die schon in der Eröffnung von CAS angesprochen wurde und die in der Folge die Erfassung des Wirklichen und weniger die inventio zur poetologischen Herausforderung macht. Der Ursprung des (magisch-realistischen) Romans ist also nicht nur in dem Sinne durch die koloniale Chronik präfiguriert worden, dass Wirklichkeit als wunderbare erfahren wird⁴⁶, sondern auch dadurch (und romantheoretisch entscheidender), dass in der Chronik auf geradezu idealtypische Weise die durch eine horizontale Bewegung erfolgte Überschreitung hin zu anderen Welten bzw. Wirklichkeiten die stummen Flecken einer Sprache aufgelegt werden, die aus ihrem angestammten Bereich entrückt ist. Anders gesagt: Das Wunderbare ist hier eher Sprachverhältnis denn Ontologie und das in einem durchaus politischen Sinne. Der Verweis auf «nuestra realidad» scheint mir nämlich eher in dem Sinne zu funktionieren, dass – sensu Blumenberg – «Wirklichkeit als sich konstituierender Kontext»⁴⁷ auf eine – so García Márquez – immer auch kulturell und politisch zu begreifende Verhandlung von Wirklichkeit und Sprache hinausläuft. Kontext gibt sich nicht von selbst, er ist nicht zuletzt auf einen mitunter schwer zu erlangenden Konsens angewiesen. Widerstand, wenn von «nuestra realidad» die Rede ist, ist also der Widerstand einer Wirklichkeit unter den Bedingungen einer bestimm-

45 Gabriel García Márquez: La soledad, o.A. 46 Vgl.: Stephen Greenblatt: Wunderbare Besitztümer. 47 Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff, S. 51.

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ten Sprache und den mit ihr implizierten Darstellungsmöglichkeiten von Wirklichkeit, aber nicht unbedingt ein quasi-formaler Widerstand von Wirklichkeit selbst gegen ihre Versprachlichung insgesamt. Man sieht, wie sich hier stets auch eine bestimmte Sprachsituation und Geschichte anzeigen. Nur in Berücksichtigung dieser, wird es möglich darzulegen, dass in einem grundsätzlich kontextuell entworfenen Wirklichkeitsbegriff auch Aspekte eines Wirklichkeitsbegriffs möglich sind, der die «Realität als das dem Subjekt nicht Gefügige» entwirft und dass literaturwissenschaftliches Arbeiten sich nicht damit begnügen kann, eine systematisch stimmige Unterscheidungen von Wirklichkeitsbegriffen auf Literatur anzuwenden, sondern diese selbst weiter differenzieren muss. 3 Jahre vor dem Erscheinen von CAS formuliert Blumenberg in dem schon mehrfach genannten Aufsatz zum Wirklichkeitsbegriff des Romans für den sogenannten dritten, kontextuellen (und den Roman begründenden) Wirklichkeitsbegriff diesen Grenzfall von Wirklichkeit – und das ist bezeichnend – als eine stets konkret zu deutende räumlich-perspektivische Problematik: Die Verbindung des Possessivpronomens mit dem Ausdruck Wirklichkeit ist für diesen [den dritten, PVO] Begriff charakteristisch. Der alle einzelnen Subjekte übergreifende und umgreifende Horizont der Zeit setzt das einzelne Subjekt mit ›seiner‹ Wirklichkeit entweder ins Unrecht oder gibt ihm die Noch-Zulässigkeit einer perspektivischen Position, eines topologisch zuordnungsfähigen Aspekts von Realität.⁴⁸

«Nuestra realidad» – das ist auch die Frage nach der «Noch-Zulässigkeit einer perspektivischen Position» und das denkbar konkret. Die hier angesprochene fundamentale Differenz von Sprache und Welt, die ohne die Globalisierung der Sprachen, die in der ersten Phase beschleunigter Globalisierung⁴⁹ sich ereignet, nicht zu verstehen ist, ist Folge einer horizontalen Bewegung, die den die «Subjekte übergreifende[n] und umgreifende[n] Horizont» grundsätzlich in Frage stellt. In eine Fußnote entrückt bezieht sich auch Blumenberg auf eine in Amerika zweifelsohne ihr Paradigma findende Erfahrung von Neuer Welt. «Mundus novus» ist Ausdruck einer Erfahrung des Neuen und Wunderbaren und zugleich Signatur des neuzeitlichen, den Roman erst ermöglichenden Wirklichkeitsbegriff: Der Wirklichkeitsbegriff des ›offenen Kontextes‹ legitimiert die ästhetische Qualität der novitas, des überraschend-unvertrauten Elementes, während die ›garantierte‹ Realität das Unvertraute und Neuheitliche nicht wirklich werden läßt, der Tradition und Autorität schon bewältigte, als Summa des Erkennbaren ausgearbeitete Welt zuschreibt und damit

48 Ebd., S. 52, meine Kursivierung. 49 Ottmar Ette: Wege des Wissens. Fünf Thesen zum Weltbewußtsein und den Literaturen der Welt. In: Hofmann, Sabine/Wehrheim, Monika (Hg.): Lateinamerika: Orte und Ordnungen des Wissens. Festschrift für Birgit Scharlau, Tübingen: Narr 2004, S. 169–184.

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zum Postulat des nihil novum dicere est […] führen muß. Der Wandel des Wirklichkeitsbegriffs nimmt dem Wandel sein Suspektes, die terra incognita, der mundus novus werden möglich und als Reiz menschlicher Aktivität wirksam.⁵⁰

Wenn man das Motiv der Kontextualisierung der einen (und sodann nie vollends eigenen) Welt durch eine Neue oder zumindest andere Welt als ein zentrales romanästhetisches Motiv ernst nimmt, dann ist auch jedwede proto-allegorische Verkürzung dessen, was die Welt des Romans sein kann, nicht mehr überzeugend. Dieser Einwand ist zumal in einem lateinamerikanistischen Kontext keine Selbstverständlichkeit und dringend zu explizieren. CAS und die weiteren hier schon genannten Romane werde ich folglich nicht daraufhin lesen, welche Kontextvielfalt einer lateinamerikanischen Wirklichkeit sie allegorisieren. Von größerer Bedeutung scheint mir, dass diese Romane die Bewegungen und Verhältnisse zwischen den Kontexten problematisieren, also, wenn überhaupt, Allegorien der Umbrüche sind. Dies wiederum – und das ist auch, aber eben nicht nur der Form des Romans geschuldet – geschieht aus einer Position, die sich selbst als ebenso äußerliche wie endliche weiß bzw. sich nie nur als eine vollkommen immanente Stimme artikuliert oder auf eine allgemeine Position referiert, sondern umgekehrt darum bemüht ist, diese Positionen der Äußerlichkeit selbst als historische Konstellationen zu begreifen, selbst im Vollzug der Erzählung zu erzählen, um der mythischen Wucht des ‘In-der-Welt-Seins’ kritisch begegnen zu können. Eine Lektüre jenseits der Allegorie steht für eine Verschiebung im Fiktionsbegriff, die nicht nur gegen die Allegorisierung der lateinamerikanischen Literaturen argumentiert und die ich mit kritischem Blick auf Isers Fiktionstheorie⁵¹ und vor dem Hintergrund des Weltenvielfaltmotivs kurz kommentieren möchte. Zentraler methodischer Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist erneut Blumenbergs Romanaufsatz, der mit einem verblüffend einleuchtenden Umkehrschluss die ästhetische Reflexion mit einer entscheidenden ontologischen Relevanz ausstattet: [G]erade dadurch, dass dem poetischen Gebilde von allem Anfang unser Tradition an seine Wahrheit bestritten worden ist, ist die Theorie von der Dichtung zu einem systematischen Ort geworden, an dem der Wirklichkeitsbegriff kritisch hineinspielt und aus seiner präformierten Implikation heraustreten muß.⁵²

Blumenbergs daran anschließende Arbeit am Roman macht deutlich, dass die Theorie der Dichtung im Falle der neuzeitlichen Gattung Roman vornehmlich

50 Ebd., S, 53, kursiv im Original. 51 Vgl.: Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. 52 Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff, S. 48–49.

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der Roman selbst ist und das meint: die dem Roman eingelassene ‘Theorie’ darüber, wie sich die als kontrafaktische inszenierte Welt lesen lassen soll und wie sie, als Lüge, ästhetischer Schein, Figurierung oder Negation sich zu jener Welt verhält, etwas über jene Wirklichkeiten aussagt, in denen wir leben. Diese mitnichten lediglich mit einer einfachen Allegorie zu beantwortende Frage kann er stellen, weil der Roman als Gattung des Kontextes das Problem der Konstitutierung von Welt und ihrer Grenze – immanentes Problem jedweden Kontextes – zum zentralen Thema seiner Darstellung macht und das in einem gleich mehrfachen Sinne. Inwiefern? Um das nachzuvollziehen, gilt es genauer zu bestimmen, was der Kontext sein kann, wenn man ihn vom Roman aus denkt. In welchem Sinne, jenseits des Konsistenzgebots, kann er problematisch werden? Ich meine, dass hier neben der ja nicht vollends zurückzuweisenden, aber mitnichten zentralen ‘allegorischen Funktion’, die den Kontext des Romans grundlegend auf den Kontext seiner ‘Kultur’ bezieht, für den Roman noch zwei weitere Aspekte von Bedeutung sind, die sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern gleichzeitig am Wirken sind und die eine andere Kontextualität meinen als die der produzierenden Kultur. Das Argument, das ich im Folgenden entwickeln möchte, geht dahin, dass eine kontextuelle Vielfalt konstitutiv ist für die neuzeitliche literarische Fiktion und mit dem Romantext eine Problematik der Lektüre aufgerufen ist, durch welche die hermeneutische Lektüre überfordert ist, wenn nicht gar ins Leere laufen muss, wenn sie sich auf eine Frage jenseits der ‘inhaltlichen’ Figurierung einlässt. Ein Jenseits dieser einfachen und hier ‘kulturell’ genannten Allegorie zeigt sich schon an der Tatsache, dass der Roman – so Iser – sich durch eine zunehmende fiktionale Selbstanzeige auszeichnet, deren ‘moderne’ Funktion darin besteht (um Isers griffige Formel zu zitieren), seine Mimesis in seine Performanz zu verwandeln. Statt die Wirklichkeit zu figurieren oder allegorisieren, behauptet der Roman im Wesentlichen seine Wirklichkeit. Kontext ist hier die in der Fiktion evozierte Welt. Bliebe es bei der reinen Evokation, dann bliebe die Welt des Romans beziehungslos. Dass dem offenkundig nicht so ist, begründet sich durch die auch von Iser angedachte Tatsache, dass auch diese Welt konstituiert werden muss und in diesem Akt durchaus beziehbar wird. Iser nimmt diesen eben nicht nur ‘inhaltlich’ entworfenen Aspekt der Figurierungsleistung anthropologisch unterfüttert zum Anlass, jenem Bereich, den man hier Lebenswelt nennen kann, einen ungebrochenen Bedarf an diesen Fiktionen zu unterstellen und zwar nicht nur als Weltflucht – das wäre der Fall, wenn der Roman nichts weiter als seine eigene Performanz wäre –, sondern umgekehrt als Medium der Welterkenntnis, die mehr ist als ‘kulturelle Allegorie’. Man verspricht sich vom Roman eine Vision auf etwas oder auch die Figurierung von etwas (nicht zuletzt jene von Blumen-

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berg entwickelte Systematik der Wirklichkeitsbegriffe), was nicht-figuriert unverfügbar bliebe. Der Kontext ist also jenes, was der Roman für den Leseakt als Bedeutungsrahmen bzw. als Welt evoziert und nur deshalb evozieren kann, weil er sich als von der Wirklichkeit differente Darstellung anzeigt und auszeichnet. Hier ist auch an Blumenbergs These zum Roman zu erinnern, wonach die mimetische Qualität des Romans schon deshalb jenseits der Allegorie funktioniert, da «[e]ine Welt […] Thema und Anspruch des Romans [ist]».⁵³ Was Iser als den Gang von der Mimesis zur Performanz umschrieb, lässt sich deshalb als eine Verschiebung im Fiktionsanspruch selbst umschreiben, die deutlich macht, wie ambivalent das Als-Ob der Fiktion funktioniert und sich jedenfalls mitnichten in der Figuration erschöpft. Erneut Blumenberg: Wenn es nun so etwas wie eine Eigenwirklichkeit ästhetischer Gegenstände geben kann, so stehen auch diese nicht nur unter dem Kriterium des Kontextes als Wirklichkeitsausweis, sondern auch unter der bestimmenden Notwendigkeit, hinsichtlich des Umfanges, der Weite, des Reichtums, der einbezogenen Elemente mit dem Kontext Natur zu konkurrieren, also zweite Welten zu werden – und das heißt: nicht mehr Wirklichkeiten aus der einen und einzigen Wirklichkeit nachahmend herauszuheben, sondern nur noch den Wirklichkeitswert der einen vorgegebenen Wirklichkeit als solchen nachzubilden.⁵⁴

Wenn andererseits und gleichzeitig die dargestellte Welt relevant bleibt und somit die Möglichkeit, sie als eine durch «Selektion» und «Kombination»⁵⁵ ermöglichte Rekonfiguration der «einen und vorgegebenen Wirklichkeit»⁵⁶ zu begreifen, ist die Folge eine paradoxe Gleichzeitigkeit von Immanenz und Äußerlichkeit im Lesevorgang. Just dieses Doppel jedoch verweist selbst auf einen anderen Kontext und eine andere Geschichte als den von dargestellter Welt und Darstellung selbst und soll hier mit dem Begriff der Weltenvielfalt umschrieben sein. Drittens ist der Kontext des Romans der seiner Form und Formen, also jene Geschichte impliziter Zitation qua Form, die sich – und das scheint ihn auszuzeichnen – mitnichten auf die eigene Gattung, ja nicht einmal auf Literatur beschränkt und auch in diesem Sinne eine formlose Form schafft. Kontext ist hier die fortwährend mitgelesene Beziehbarkeit des Textes als Text – eine Ebene, die sich nicht zuletzt dem mit dem Roman prominent werdenden Leseakt verdankt und der Tatsache, dass seine «Anstrengung» stets äußerlich bleibt und so eine eigene Referenz und Geschichte darstellt. Das deutete ich bereits in der oben explizierten Frage nach dem Verhältnis von Erzählung als Form und Erzählung als ‘Gehalt’ an.

53 Ebd., S. 61. 54 Ebd., S. 64, kursiv im Original. 55 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 24ff. 56 Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff, S. 64.

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Offenkundig wird dies an der selbst sehr ambivalenten Tatsache, dass der Roman das Fiktive seiner Wirklichkeitsdarstellung zunehmend bekräftigen muss, um sich eine Relevanz zu sichern, die nicht aufgeht in der illustrativen Darstellung einer Wirklichkeit und die mehr ist als die Paraphrase einer pseudoursprünglichen «Lebenseinheit»⁵⁷. Das hat zweifelsohne weitreichende Folgen für jedwede Theorie der ‘Mimesis’ im Roman. Die im Roman dargestellte Welt als eine eigene Performanz, die sich allenfalls über ihre Darstellung und Sprache relationiert, und die Welt, die man in der Darstellung zu erkennen meint bzw. die Welt, die man als eine in der Figuration entstellte oder endlich (in beiderlei Sinne) verfügbare Wirklichkeit erkennt, sind zwei differente Modi der Lektüre, die Iser in einem prozessualen Dreischritt durch die Ebene des Imaginären versöhnt, so das hermeneutische Projekt, einen letzten allegorischen Rest des Epischen noch einmal rettend.⁵⁸ Doch was, wenn man die Lektüre (wie beispielsweise in der Recherche angeführt) nicht als Arbeit am Imaginären, nicht als Nachvollzug der Konstitution versteht, sondern selbst zum Kontext wird? Was also, wenn der Roman nicht die Äußerlichkeit seiner Darstellung, sondern auch die seiner Lektüre voraussetzt und so einen Lektüreakt setzt, der selbst widerständig bleibt und nicht aufgeht in die Erkenntnis einer figurierten Welt bzw. in die Einsicht in die Verfahren der Figurierung selbst. Wenn also die fiktionale Selbstanzeige (also der Anspruch von einer Welt als DER Welt zu reden) nicht nur der Konsistenzbildung qua Figuration (einer, nämlich unserer Welt) dient, sondern ebenso das Phänomen der Kontextualität im Akt der Lektüre selbst exponiert, scheint es ratsam, statt auf eine Hermeneutik der Figuration zu setzen, die die Ebene der Darstellung und des Dargestellten im Bereich des Imaginären versöhnt, das Problem der Kontextvielfalt als Folge eines Kontextbegriffs zu denken, der Kontext ebenso als eine schon gesetzte wie auch immer noch erst herzustellende Instanz begreift. Es ist diese Ambivalenz, so meine ich, die der Roman als Gattung der Weltenvielfalt formal umsetzt. Der Roman ist in diesem Sinne als das Anti-Drama zu verstehen und nicht umsonst gilt der Einbruch des Außen in das Drama als episch – wobei episch hier schon lange nicht mehr die ehemals hohe Gattung des Epos meint, sondern schon die niedere des Romans. Der entscheidende Punkt ist der, dass der Roman als jene Gattung gelten darf, in der das Prinzip einer absoluten Handlung als Abwehr gegen transzendente Fremdbestimmung nicht mehr aufrechtzuerhalten nötig ist, da der mit Weltenvielfalt evozierte Konflikt nicht mehr nur die Frage der genuin menschlichen

57 Walter Benjamin: Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 4, II.1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (1980 [1915], S. 108). 58 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 23ff.

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Handlung ist, sondern die Frage, wie und in welchem Sinne der Mensch eine Welt haben kann. Diese Erfahrung ist dem Roman sowohl in seiner Sprache wie auch in seiner Darstellung eingelassen und nicht erst Krise der Handlung wie es Szondi⁵⁹ für das moderne Drama festhält. Die Frage der und einer Welt ersetzt die integrative Frage der Wahrscheinlichkeit von Handlung, wenn Welt nur noch durch ihre Grenzen bestimmt werden kann und genau aus diesem Grunde eine für den Menschen immer wieder zu leistende Aufgabe darstellt. Romantheorie lässt sich deshalb auch als der Versuch lesen, das nicht mehr evidente oder gesicherte Verhältnis der Romanwelt zu deuten und das meint: die Fiktion als die Figurierung nicht nur von Welt, sondern auch von Kontextvielfalt selbst zu begreifen. Doch statt dies auf allzu große Thesen wie die der Kontingenz zu beziehen, möchte ich diesen Punkt hier etwas konkreter am Einsatz der Lektüre entwickeln. Der Roman, um wieder auf den Ausgangspunkt dieser Studie zu sprechen zu kommen, nimmt für García Márquez auch aus dem Grund eine Schlüsselrolle ein, da er einerseits selbst schon immer mehr als einen Kontext voraussetzt wie er andererseits diese Überschreitung auch in seiner Lektüre selbst vollzieht und inszeniert. Nicht überraschend ist die finale Pointe von CAS eine metaleptische, die einen Umschlag der macondinischen Welt in die Lebenswelt des Lesers fingiert. Diese umschlagende Bewegung eines sich selbst lesenden Lesers, die schon im Quijote vorzufinden war und hier in die entgegengesetzte Richtung verläuft, stellt auf paradigmatische Weise die desintegrierende Erfahrung der Weltenüberschreitung dar, die nicht als kontinuierliche vermittelbar oder darstellbar ist und gleichzeitig einen Auftrag zur Reintegration formuliert.⁶⁰ Im gleichen Moment, da sich die Geschichte Macondos als die Offenbarung des sich selbst lesenden Aureliano Babilonia⁶¹ in sich selbst beschließt und so denkbar radikal den Anspruch, eine Welt zu sein, umsetzt, wird durch den externen Leseakt die Unmög-

59 Peter Szondi: Das moderne Drama. Es wäre im Übrigen leicht nachzuweisen, dass das «episch» genannte Moment in der Krise des klassischen und als ein Signum des modernen Dramas eine hier als Weltenvielfalt entworfene Struktur des Romans wiederholt, sofern in der Überschreitung des Handlungsraums die Handlungsdarstellung als Darstellung problematisch werden kann. 60 Es scheint mir vor diesem Hintergrund alles andere als Zufall, dass die metalpetischen Bewegungen auch in dem ersten als solchen titulierten lateinamerikanischen Roman, El Periquillo Sarniento von Lizardi, stets zugegen sind und die Transgression zwischen diesen Ebenen immer wieder andeutet. Ausführlich kommentiert findet sich dieser Aspekt unter anderem in: Ottmar Ette: Fernández de Lizardi: »El Periquillo Sarniento«. Dialogisches Schreiben im Spannungsfeld Europa – Lateinamerika. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte / Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes (Heidelberg) XXII, 1–2, (1998), S. 205–237. 61 Nur schwerlich ist die onomastische Andeutung zu überlesen. Babylon als gescheiterter Traum sprachlicher Einheit und Mark Aurelius, der insofern als ein Gründungsvater der Roma-

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lichkeit dieser inneren Erfüllung bestätigt. Dies ist nicht nur im Sinne einer einfachen Negation zu verstehen, sondern als die Inszenierung einer Fort-Setzung außerhalb dieser Welt namens Macondo. Denn der in einem gesprochenen Spiegel lesende Aureliano Babilonia – so viel sollte offenkundig sein – liest nicht jenen Text, den die Leser parallel mit ihm lesen, so dass über das Spiel eines fast identischen, zudem noch übersetzten Textes (das ‘Original’ der Manuskripte des Melquíades ist auf Sanskrit verfasst) die Äußerlichkeit der Erzählung als Akt durch die Lektüre eines material verschiedenen Textes erneut und auf einer weiteren, nunmehr explizit lebensweltlichen Ebene bekräftigt wird. Lektüre ist hier nicht rezeptionsästhetisch entworfene Realisierung einer Textstruktur, sondern wird maximal konkret als selbst zu lokalisierender und stets äußerlicher Akt thematisiert. Dass eine Welt sich nicht vollends aus sich selbst heraus vergegenwärtigen kann, jedwede Anstrengung der Vergegenwärtigung, die nicht tödlicher Mythos (der Einsamkeit) ist, immer eine relativ-äußerliche Position, ein nicht nur als Verlust zu deutendes ‘Nicht-Mehr’ dieser Welt voraussetzt, rekurriert auf die Erfahrung einer Welt, die sich nur in Relation zu einem relativen und eben nicht absoluten Außen, das sie nicht mehr ist, behaupten kann und muss. Wenn García Márquez also von nuestra realidad redet, dann meint das weder eine Idiosynkrasie noch eine von ihren Kontexten vollends unbetroffene Sprache. Vielmehr geht es ihm um den Auftrag, der in und durch eine Erzählung konkretisierten Sprache jenen Umschlag in eine andere Welt einzutragen und so auf jenen Umschlag zu reagieren, den Aureliano Babilonia für die Leser vollzieht, wenn er selbst zu Sprache wird. Einfach gesagt: Das Spanische wird Träger einer Geschichte, die nicht nur eine spanische ist. Oder um es mit den Worten aus CAS zu sagen: Das Spanische ist Träger eine Geschichte, die ihm niemand versprochen hatte und die eben nicht nur eine Geschichte seiner Texte, sondern auch seiner Sprecher und Leser ist, also seiner Begegnungen und Reisen. Die dem Roman eingelassene ‘historische’ These, die ich ausgehend von García Márquez formulieren möchte, ist die Möglichkeit zur Metalepse. Sie stellt eine Form von Bewegung dar, die 1492 in der Begegnung von Neuer und Alter Welt eine konkrete historische Szene findet und die selbst nicht anders als der metaleptische Umschlag von einer in eine andere Welt erfasst werden kann: Weltenvielfalt als Konkurrenz, als horizontal zu verortende Gleichzeitigkeit von zwei Wirklichkeitswerten. Vor diesem Hintergrund lässt sich die metaleptische Pointe des Romans durchaus auf eine bestimmte und neuzeitliche Problematik von Wirklichkeits-

nia gelten kann, da er – nunmehr mit machtpolitischem und protokolonialem Anspruch – die eigene Sprache als vulgata zur Verkehrssprache erklärt.

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konstitutionen beziehen, die wesentlich weiter reicht als der Kontext der «postmodern condition»⁶², die Malina in Breaking the frame: metalepsis and the construction of the subject wie folgt beschreibt: Metalepsis dramatizes the problematization of the boundary between fiction and reality […] More specifically, because it disrupts narrative hierarchy in order either to reinforce or to undermine the ontological status of fictional subjects or selves, it provides a model of the dynamics of subject construction in an age that has witnessed both the deconstruction of the essential self in favor of a subject constituted in and by narrative and the complication of a simple, teleological model of narrative with an emphasis on the form’s repetitive, self-undermining, and even violent aspects.⁶³

Wie sehr die koloniale Kondition⁶⁴ der Frühen Neuzeit (anders als die Kolonialität der Antike) diese hier ‘postmodern’ titulierte Kondition schon umsetzt, lässt sich an der horizontalen Qualität dieser Bewegung nachvollziehen. Malina selbst deutet diese an, wenn sie das Verhältnis der überschreitenden Grenzen in eine horizontale Ebene projiziert: But although the crossing or erasure of boundaries between universes may well flatten them into parallel realms or zones, part of the shock value of metalepsis derives from the fact that these universes are originally conceived as hierarchically ordered.⁶⁵

Diese Figur einer gewissermaßen immanenten und horizontalen Querung, einer Bewegung also, die ich im vorigen Kapitel als die ironische und parodistische Fassung jener vertikalen Absicherung im Weltbegriff des Romans bestimmt ha-

62 Debra Malina: Breaking the Frame: Metalepsis and the Construction of the Subject. Columbus: Ohio State UP 2002, S. 2. 63 Ebd. 64 In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass Hawes von einer Verdrängung oder auch Unterdrückung der metaleptischen Logik in der Rechtfertigung des kolonialen Diskurses spricht. Vgl. hierzu: Clement Hawes: The British eighteenth century and global critique. New York, NY [u.a.]: Palgrave Macmillan 2005. Dort führt er aus: «Metalepsis is an indispensable supplement for the influential concept of ‚the invention of traditions.‘ For a great deal of the fabrication that constitutes invented traditions is structured by a specific figurative logic: namely, that trope by which later effects covertly substitute for earlier causes. This metaleptic masquerade, while claiming to mediate the past, operates on and from the present.» (xvi) Dabei bezieht sich Hawes offenkundig auf die zeitlich-logische Bestimmung der Metalepse in der Rhetorik und nicht auf die erzähltheoretische Theorie der Metalepse. Diese Differenz kann jedoch insofern vernachlässigt werden, da es hier wie dort um eine Bewegung geht, die eine angeblich natürliche Kontinuität in Frage stellt. In dem Sinne wäre auch die Metalepse in CAS zu verstehen. Dies ebenfalls in einem transallegorischen Sinne gedeutet hat – gegen Jameson gerichtet – Jean Franco. Vgl. dazu: Jean Franco: The Nation as Imagined Community. In: Veeser, H. Aram (Hg.): The New Historicism. New York: Routledge 1989, S. 204–212. 65 Debra Malina: Breaking the Frame, S. 4.

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be, lässt sich in einem lateinamerikanistischen Kontext – über diesen romantheoretischen Umweg – noch weiter pointieren. In einem lateinamerikanistischen Kontext nämlich ist es geradezu unvermeidlich, die hier aufgestellte These eines den Roman ermöglichenden Wirklichkeitsbegriffs um ein Ereignis zu formieren, das strukturell dieses Moment von kontextueller und irreduzibel differenter Wirklichkeitskonstitution teilt, ja mehr noch: geradezu herausfordert. Die Genese und Logik der literarischen Fiktion im Roman als Anzeichen einer Genese eines neuzeitlichen Wirklichkeitsbegriffs legt nämlich nicht nur rückwirkend den Blick frei für die Bedingung seiner Möglichkeit und das meint: für die Krise sowohl antiker wie auch mittelalterlicher Wirklichkeitsbegriffe.⁶⁶ Ebenso wird ein Ereignis lesbar, das in der Überfahrt des Kolumbus ihr Emblem findet und an dem sich die schwelende (Welt-)Krise der Frühen Neuzeit explizit machen konnte. Dabei ist sekundär, was Kolumbus selbst darüber denken mochte; entscheidend sind vielmehr die Folgen seiner Überfahrt wie ich sie weiter unten am Beispiel der Naturgeschichte von José de Acosta kommentieren werde. Ich beziehe mich erneut auf dieses Ereignis, um davon ausgehend darzulegen, dass Weltenvielfalt – auch über den Roman hinaus – hier als eine binnenweltliche, horizontale und im Modus der Gleichzeitigkeit verfahrende Differenzoperation verstanden werden kann, die eben nicht mehr in eine hierarchisch-vertikale Tektonik einer transzendenten Bewegung (wie die Dantes) überführt werden kann bzw. nur mithilfe einer immer nur menschlichen⁶⁷ Gewalt, die sich anschickt, selbst eine Super- oder gar Heilsgeschichte (von Moderne etwa) zu setzen. Die geradezu verzweifelten Legitimierungsversuche⁶⁸ der Spanischen Krone, denen am Ende nur noch die heilsgeschichtliche Rechtfertigung als konsistente Begründung ihres Kolonialprojekts blieb, sind hierfür ein beredtes Zeugnis. Was sich als ein Rechtsdisput zeigt, war nichts Geringeres als die Verarbeitung einer Transgression der eigenen Wirklichkeit, die nicht von einer Welt in eine vollkommen andere, vertikal woanders lokalisierte führte. Statt einer transzendenten Bewegung hin zu einer jenseitigen Welt (sei es die der Ideen oder die der garantierenden Transzendenz), führte die horizontale Bewegung von Kolumbus’ Überfahrt und wider alle Theorien über zu heiße Gegenden und trotz aller Zurückweisung

66 Auf diese Veränderung der Bewegung referiert nicht zuletzt das Banner der spanischen Flagge, die im «PLUS ULTRA» genau auf jene Überschreitung anspielt, die im antiken Weltbild als Non plus ultra nichts weniger als die Welt, die im antiken Sinne kosmologische Welt begrenzte. 67 Vgl.: Walter Benjamin: Kritik der Gewalt. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Band 4. II,1. Frankfurt: Suhrkamp 1980 [1920], S. 179–204. 68 Vgl.: Anothony Pagden (Hg.): The Languages of Political Theory in Early-Modern Europe. Darin insbesondere: Richard Tuck: The „modern“ theory of natural law. In: Pagden, Anthony (Hg.): The languages of political theory in early-modern Europe, S. 99–120.

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der Antipoden als Navigationsprojekt in eine Welt, die eine absolute Grenze zu einer relativen macht und mit ihr auch die autorisierenden Erzählungen der Welt. Wie schon im Falle der metalpetischen Bewegungen wird das Andere dadurch zur herausfordernden Figur, indem es gerade nicht mehr letzthinnig als die Kenntnis und Erkundung einer anderen Sphäre aus einer selbst gesicherten Position bedeutet und auch nicht die Explikation von schon Angelegtem. Vielmehr wird das Andere erst in einer binnenlogischen Transgression begrenzt und erkannt – ein Vorgang, der nicht ohne Folgen für die eigene Situierung bleiben kann und welcher der vom Rezeptionsästheten Iser mit Blick auf die Figurierung aufgenommen Funktionen der Selektion und Kombination eine weitere Dimension jenseits der Darstellung einschreibt: die des konkret situierten Leseaktes, der sich zu fragen hat, wo er in Bezug auf was steht. In diesem Sinne verstehe ich den paradigmatischen und exemplarischen Einsatz der Neuen Welt, sofern die Begegnung von Neuer und Alter Welt (als Metalepse gelesen) ein säkular auszulegendes (nicht unbedingt ein säkularisiertes) und anthropozentrisches Denken von Weltenvielfalt als Kontextvielfalt erlaubt. Die Debatten um die Rechte der Indios in der juristischen Schule Salamancas sind hierfür ein prominenter Beleg. Man mag erste Spuren einer durch die Erfahrung der Neuen Welt notwendigen anthropologischen Wende, der auch die Frage nach der Kontextualität von Wirklichkeit eingelassen ist, in José de Acostas Histoira natural y moral de las Indias erblicken. Ich möchte diesen Text kurz kommentieren, um auch hier an einem konkreten Text nachzuzeichnen, wie das strukturelle Problem der Weltenvielfalt sich auf die historische Erfahrung der Neuen Welt beziehen lässt und dabei gleichzeitig eine neuzeitliche Vernunft und eine neuzeitliche Fiktion auf den Plan ruft. Die Frage, die Acosta Ende des 16. Jahrhunderts zu verhandeln hat, ist die, wie die Indios auf die Neue Welt gekommen sein mögen. Nicht die göttliche Allmacht wird ins Feld geführt, sondern eine Vernunft der menschlichen Dinge, die schon deshalb nicht die der Alten sein kann, weil Acosta nicht nur davon ausging, dass die Alten die Neue Welt nicht erreicht haben, sondern nicht einmal haben erreichen können. Was also die Frage der Indios betrifft, stellt Acosta fest: Porque no se trata qué es lo que pudo hacer Dios, sino qué es conforme a razón y al orden y estilo de las cosas humanas. Y así se deben en verdad tener por maravillosas, y propias de los secretos de Dios ambas cosas: una que haya podido pasar el género humano tan gran inmensidad de mares y tierras; otra, que habiendo tan innumerables gentes acá, estuviesen ocultas a los nuestros tantos siglos.⁶⁹

69 Jose de Acosta: Historia Natural y Moral de Las Indias. México D.F.: Fondo de Cultura Económica 2006 [1587], S. 51.

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Auch wenn man hier zweifelsohne eine schon bei Cusanus sich ankündigende Argumentation eines in und auf die Welt beschränkten legitimen Wissens der menschlichen Vernunft erkennen kann⁷⁰, ist doch die Ausgangslage eine ganz andere. Der Cusaner sah sich nicht mit einem konkreten Ereignis konfrontiert, mit keiner unmittelbaren Evidenz für die Existenz einer Sphäre, die von einer menschlich beschränkten Vernunft zu bewältigen war und die in dieser wissenden Selbstbeschränkung dem Wunder und dem Geheimnis der Allwissenheit Gottes gleichzeitig Referenz erweisen musste. Die Spannung ist hier insofern besonders ausgeprägt, als es nicht nur um die Frage nach einem dem Menschen gemäßen Wissen geht, sondern ebenfalls um ein Wissen über etwas, von dem alle Texte der tradierten Autorität nichts zu wissen scheinen und dabei dennoch damit versöhnt werden müssen. Relativiert ist damit zweierlei: Sowohl die Erklärungsmodelle der Antike und ihr Weltmodell – es fehlte ihnen der Kompass, was Acosta mit dem Mangel an einer griechischen Vokabel dafür belegt⁷¹ – und eine erklärte Nicht-Zuständigkeit der Heiligen Schrift, deren mögliche Erklärungen sowohl unvernünftig als auch unorthodox scheinen. Weder gab es eine zweite Arche Noah noch wurden die Indios wie der Prophet Habakuk von Engeln am Schopfe gepackt und in die Neue Welt verfrachtet. Das Problem der Neuen Welt ist ein binnenweltliches Problem: Cosa cierta es que vinieron los primeros indios por una de tres maneras a la tierra del Pirú. Porqué o vinieron por mar o por tierra; y si por mar, o acaso o por determinación suya. […] Fuera de estas tres maneras, no me ocurre otra posible, si hemos de hablar según el curso de las cosas humanas, y no ponernos a fabricar ficciones poéticas y fabulosas: sino es que se le antoje a alguno buscar otra águila, como la de Ganimedes, o algún caballo con alas, como el de Perseo, para llevar los indios por el aire.⁷²

«Ficción poética y fabulosa» wäre eine Fiktion die reine Phantasie wäre und rekurriert somit auf einen Fiktionsbegriff, der nicht das Problem der Konstitution stellt, sondern eine Version von Geschichte als kontrafaktische Geschichte setzt. Ich meine nun, dass die hier nicht genannte ficción novelesca auf einen anderen Fiktionsbegriff verweist Natürlich stellt die hier nicht weiter explizierte und auch nicht explizierbare ficción novelesca eine durchaus gewollte Implikatur dar. Dass sie aber nicht vollends etwas Hineingelesenes ist, lässt sich dadurch begründen, dass Acosta einer jener Chronisten ist, die mit La peregrinación de

70 Vgl.: Ernst Cassirer: Individuum und Kosmos. Und ebenfalls: Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. 71 Jose de Acosta: Historia Natural, S. 52. 72 Ebd.

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Bartolomé Lorenzo auch einen kleinen narrativen Text verfasst hat, der von Arrom⁷³, Cornejo Polar⁷⁴ und Lienhard⁷⁵ als der erste Roman der Amerikas gedeutet wird. Ohne jetzt eine detaillierte und ausführliche Analyse vorzulegen, erlaubt es mir dieser Text, das Spezifische der ‘ficción novelesca’ darzulegen. Mir geht es dabei weniger um die Frage, ob dieser Text ein Roman ist oder nicht, sondern vielmehr darum, romantheoretisch relevante Aspekte eines neuzeitlichen Fiktionsbegriff an diesem Text aufzuzeigen, die in einem narrativen Text noch expliziter zutage treten als in der Chronik. Mit diesem Text lässt sich die ficción novelesca einerseits in Differenz zur den Erörterungen der Vernunft bestimmen wie sie andererseits im Gegensatz zur «ficción poética y fabulosa» nicht als eine Fiktion der willkürlichen Begründung, sondern der Konstitution zu beschreiben sein wird. Sie entspricht dem, was Acosta hier Vernunft nennt, insofern, als sie die ja nicht an Kontrafaktizität gebundene Frage der Konstitution zulässt. Worin sie sich in dieser Frage aber von den Anstrengungen der menschlichen Vernunft unterscheidet, ist, dass es hier vor allem um den Nachvollzug der Konstitution selbst geht. Das setzt notwendigerweise ein Verhältnis zweier in sich differenter Kontexte, ja Welten voraus. Dies wiederum ist etwas, was die ‘Vernunft’ nicht artikuliert, sondern idealerweise in eine integrierende Erzählung aufgehen lässt wie es das Narrativ der Naturgeschichte bei Acosta belegt. Was sie wiederum mit der «ficción poética fabulosa» teilt, ist die Tatsache, dass die ficción novelesca durchaus eine andere Logik, eine andere, mithin faublöse Vision von Welt zulassen kann. Ein grundsätzlicher Unterschied zu dieser fabulösen Fiktion besteht darin, dass die Fiktion des Romans eine ist, die sich nicht durch eine bloße Kontrafaktizität begründet, sondern erst im Verhältnis der dargestellten Welt zu einer lesenden (Lebens-)Welt. Aus diesem Grund zeichnet die Romanfiktion eine grundsätzlich metaleptische Logik in der Frage nach der Begegnung dieser beiden Welten aus. Dass somit die Frage der Romanfiktion eher eine Frage der Positionalität voraussetzt und weniger die nach der Referenz, dass also mit einem anderen Begriff von Fiktion diese Fragen erst zu formulieren sind, zeigt sich auch in der Tatsache, dass der Text selbst für einen Wandel in der Gattungsfrage steht, die für den lateinamerikanistischen Kontext erst in der Folge des booms formulierbar war. So hat es bis 1982 gedauert, also bis zur Neuausgabe durch Arrom, dass dieser

73 Vgl.: José Juan Arrom: Prólogo. In: Acosta, José: Peregrinación de Bartolomé Lorenzo. Ed. y pról. de José Juan Arrom. Lima: Petroleos del Perú 1982, S. 9.26. 74 Vgl.: Antonio Cornejo Polar: Presentacíón. In: Acosta, José: Peregrinación de Bartolomé Lorenzo. Ed. y pról. de José Juan Arrom. Lima: Petroleos del Perú 1982, S. 1–8. 75 Vgl.: Martin Liehnhard: Una novela hispanoamericana en 1586.

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Text überhaupt als ein potentiell auch literarisch lesbarer Text diskutiert wurde und nicht nur als eine tatsächliche Heiligengeschichte. Wie findet sich das in Acostas Werk, was macht es möglich, diesen Text auch als einen Roman zu lesen? Zunächst geht es um den Status dieser Fiktion, die einerseits die Conquista als einen Heilsweg allegorisiert, die gleichzeitig die Frage danach stellt, wie mit einem bekannten Muster nicht nur ein koloniales Projekt autorisiert werden konnte, sondern – und hierauf legt Lienhard seinen Fokus – überhaupt erst durch ein Narrativ verfügbar wird. Die Erzählung weiß sich als eine immer schon äußerliche und es ist nicht verwunderlich, dass – wie anfangs auch Kundera mit seinem eigenem Text – nun Acosta es ist, der Sprechen macht. Um dies nachzuvollziehen, soll ein längeres Zitat aus dem Anfang dieses Textes genügen, der nicht überraschend die Problematik seines eigenen Anfangs thematisiert, das Verhältnis von Text und Erzählung explizit ansprechend. Dabei ist – wie Lienhard es betont⁷⁶ – die wesentliche Begründung die einer «romanhaften Suggestivkraft»⁷⁷ des Gegenstandes und gerade nicht ein erbauliches oder informierendes Erzählen. Ausganspunkt ist dabei eine die Dinge dermaßen grundsätzlich verändernde Reisebewegung von der Alten in die Neue Welt, dass der allegorische Bezug einer selbst ja auf eine Transzendenz verweisende Konversionsgeschichte der Pilgerreise gewählt wird. Oder anders gesagt: Die Geschichte der horizontalen Querung von einer Welt in eine andere wird mit dem allegorischen Schema eine vertikalen Weltordnung verfügbar gemacht: El primer año que vine de España al Perú, que fué el de quinientos y setenta y dos, vi en nuestro Colegio de Lima un Hermano Coadjutor, de cuya modestia, silencio y perpetuo trabajar me edifiqué mucho, y tratándole más, entendí de él ser hombre de mucha penitencia y oración, de la cual comunicó conmigo algunas veces. Y oyendo decir a otros, que aquel Hermano antes de ser de la Compañía, se había visto en grandes y varios peligros, de que Nuestro Señor le había librado, procuré entender más en particular sus cosas. El hombre era de pocas palabras y así por algún rodea le saqué alguna notica, pero poca y sin concierto. Al cabo de unos años, haciendo oficio de Provincial, le apercibí que deseaba que me contase su vida, para advertirle lo que yo sentía le estuviese bien. Y no entendiendo Bartolomé Lorenzo (que este era su nombre) mi fin, y por obedecer al Superior, me fue refiriendo algunos días su peregrinación, y yo apuntándola brevemente.

76 Vgl.: Martin Liehnhard: Una novela hispanoamericana en 1586. Dort heißt es: «La motivación narrativa de Acosta no se explica, como en la mayor parte de sus obras, por un interés histórico-científico […] o la militancia religiosa […], sino por la sugestividad novelesca de la vida de un aventurero no eclesiástico.» (178) 77 Ebd.

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De estos apuntamientos hice la relación que se sigue, sin añadir cosa alguna, antes dejando muchas, que a él no se le acordaron o que de propósito quiso callar. De la certidumbre de lo que aquí refiero, no dudo, ni dudará nadie que conociere la verdad y simplicidad de este Hermano. Parecióme enderezar a V.P. esta relación, pues el que la escribe, y de quien se escribe, son hijos de V.P. y ambos se encomiendan en los santos sacrificios y oraciones de V.P. aunque Lorenzo hasta el día de hoy no sabe que esto se haya escrito.⁷⁸

Die Erzählung weiß sich als eine stets nachträgliche und äußerliche narrative Konstitution («enderezar»), die im Akt der Verschriftlichung zwei Instanzen zusammenführt: den Schreibenden und denjenigen, über den geschrieben wird («el que la escribe, y de quien se escribe»). Dass die andere Instanz dabei stumm ist, ein Sein von «pocas palabras» ist, signalisiert jene in der kolonialen Situation angelegte Stummheit der Neuen Welt, auf die sich viele Jahrhunderte später noch García Márquez beziehen wird und die der Erzählung und ihrer Sprache eine grundlegende Äußerlichkeit einträgt. Es stellt sich die Frage, wie diese andere Welt sprachlich zu bewältigen ist. Arrom stellt noch einen weiteren Aspekt aus, der das allegorische Modell selbst nochmals doppelt, sofern Acosta mit dieser Geschichte im Grunde auch seine eigene erzählt. Dentro del proceso ficcionalizador se percibe, además, un desdoblamiento del autor. El peregrino portugués y el humanista del Alcalá – también de ascendencia portuguesa – han seguido los mismos rumbos desde la partida de la Península hasta el encuentro de ambos en el convento de Lima. Las aventuras que Acosta le atribuye a Lorenzo son, pues, una proyección imaginativa de las que pudieran haber sido sus propias andanzas. De modo que el autor deviene así relator, testigo y protagonista de la doble peregrinación: la real y la imaginaria.⁷⁹

Acosta, nicht nur selbst Portugiese, sondern auch einer Familie von conversos entstammend, autorisiert durch die Vortrefflichkeit des niederen Glaubensbruders auch seine eigene legitime Zugehörigkeit zu der christlichen Universalmonarchie. Hier wird das metaleptische Moment auch auf der Ebene der histoire deutlich. Acosta wird im Grunde zur Figur seiner eigenen Erzählung, indem die Erzählung den allegorischen Bezug ambivalent gestaltet: Neben einer Allegorie der christlichen Pilgerfahrt, einer Konversionsgeschichte geht es auch um die Allegorie einer anderen Geschichte der Conquista, einer, in dem der Pilger

78 José de Acosta: Peregrinación de Bartolomé Lorenzo. Ed. y pról. de José Juan Arrom. Lima: Petroleos del Perú 1982, S. 29–30. 79 José Juan Arrom: Prólog, S. 20.

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mit sich und der Neuen Welt einen Frieden schließen kann und von der Acosta meint, sie exemplarisch darzustellen zu können. Die metaleptische Bewegung wird hier deutlich, da der Chronist Acosta vom heterodiegetischen Erzähler zum eigentlichen Helden der Erzählung wird. In dem Moment, da sich Bartolomé Lorenzo und Acosta treffen, in dem Moment, da Acosta die Geschichte des Portugiesen verschriftlicht, just in diesem Moment stellt sich eine diskursive Ambivalenz ein, die Acosta nicht nur nicht auflöst, sondern geradezu verstärkt. Er selbst ist nicht nur derjenige, der die Notizen in eine Erzählung verwandelt, sondern der im Text einzig verbürgte Garant der Wahrheit der Erzählung. Kann er denn wirklich für eine Wahrheit bürgen, die ihm jemand vermittelt, der selbst kaum etwas preisgibt und erhebliche Erinnerungslücken aufweist? Kann Acosta folglich im Grunde nur seine eigene Wahrheit verbürgen, sofern die Wahrheit einer allegorisch so aufgeladenen Erzählung sich weniger an den ehe nicht mehr nachprüfbaren Ereignisse ausmachen lässt? Gilt dies nicht auch für die Intention und Deutung dieser Erzählung, sofern Bartolomé Lorenzo nichts von der Absicht des Schreibers Acosta weiß? Doch die Äußerlichkeit des Erzähleraktes und der Sprache, die ständig überfordert wird durch eine Wirklichkeit, für die sie keine Worte hat, macht einen selbst narrativen Akt des Beglaubigens notwendig, der nicht nur der «ordnende» Schreibakt selbst sein darf. Nicht überraschend ist auch dieser Akt einer, der von der Erzählinstanz in Anspruch genommen wird. Von einer Schiffsbruchepisode berichtet der Autor wie folgt: Y aunque Lorenzo y su compañero sabían bien nadar, mas no pudieran atinar con el paso donde habían de salir, por ser todo arcabuco y montaña tan cerrada, como sabemos los que lo habemos pasado.⁸⁰

Diese Stelle ist eine der wenigen, da ein narratives Wir («como sabemos») auftritt. Dieses bezeugende Wir ist unter anderem deshalb parallel zum ‘ordnend’ erzählenden Ich des Anfangs möglich, da hier im Grunde nichts zu sagen ist, sondern die exklusive Erfahrung der Neuen Welt zu bezeugen. Trotz der Übersetzungsleistung der spanischen Sprache und trotz des Rückgriffs auf ein bewährtes allegorisches Format wird hier das Problem einer Distanz explizit angesprochen, so dass auch den LeserInnen eine gewisse Äußerlichkeit signalisiert wird, die sie qua Lektüre nicht überwinden können. Acosta bleibt der ‘Autor’ seiner Erzählung.

80 José de Acosta: Peregrinación de Bartolomé Lorenzo. Ed. y pról. de José Juan Arrom. Lima: Petroleos del Perú 1982, S. 45.

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Vielsagenderweise nun – ganz wie es der Anfang von CAS zitiert – ist hier das Wunderbare nicht einfach das Unbeschreibliche, sondern auch das Undurchdringliche. Neben des Topos einer unzähmbaren Natur, der selva, ist hier vor allem unterstrichen, dass das entscheidende Wissen vor allem die Fähigkeit zur Transgression betrifft, der Überwindung und Überkreuzung, so dass dieser allegorische Weg der Pilgerreise gewissermaßen den Erzählakt selbst allegorisiert. Das Moment der Konversion und der Erfahrung einer Neuen Welt sind hier nicht zu trennen. Die Einheit einer in sich vielfachen Welt ist also nicht nur juristisch, sondern auch narrativ allein durch den Verweis auf eine transzendente Integration möglich. Schließlich – und damit käme ich zu dem letzten Aspekt der Äußerlichkeit – ist auch das Problem der Lektüre bedacht, sofern hier immer schon zugegen ist, dass an eine entfernte Leserschaft sich gerichtet wird, der ihre Überforderung immer wieder bestätigt wird. Dieser Aspekt ist dabei mitnichten an diesem Text auszumachen, sondern findet sich nicht minder prominent und wesentlich expliziter in der Chronik, wenn Acosta das Verhältnis von Schreibsituation und Gegenstand anspricht: Sólo resta advertir al lector, que los dos primeros libros de esta historia o discurso se escribieron estando en el Pirú, y los otros cinco después en Europa, habiéndome ordenado la obediencia volver por acá. Y así los unos hablan de las cosas de Indias como de cosas presentes, y los otros como de ausentes. Para que esta diversidad de hablar no ofenda, me pareció advertir aquí la causa.⁸¹

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Romanfiktion sich durch die Frage ihrer Konstitution und die Verhandlung ihrer Äußerlichkeiten auszeichnet. Das und weniger die Frage, ob dieser Text als Tatsachenbericht zu lesen ist oder nicht, also weniger (wie Lienhard es vorschlägt⁸²) eine durch Narrativieriung erfolgende Fiktionalisierung ist hier das Unterscheidungsmerkmal von Roman und Bericht. Dass die Interaktion zwischen den verschiedenen Instanzen – Erzähler, Helden, Schreibakt, Lektüre und Lebenswelt – überhaupt Thema ist, zeichnet diese Art von ‘Fiktion’ als einen romanhaften Text aus. Als Erzählung von Weltenvielfalt – und zwar sowohl im literalen wie auch im strukturellen Sinne – ist sie sowohl von den klassischen Heiligenerzählungen wie auch den Ritterroman zu unterscheiden, die als entweder stabile Allegorien oder aber als offenkundig kontrafaktische Erzählung die Frage der metaleptischen Ebenenverletzung und -interaktion erst gar nicht zulassen. Kurz: Die Frage einer Welt

81 Jose de Acosta: Historia Natural, S. 15. 82 Martin Liehnhard: Una novela hispanoamericana, S. 176.

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im Kontext einer anderen ist für die ficción novelesca die entscheidende Frage, die sich zum Teil mit der der ‘Vernunft’ deckt. Doch der Zusammenhang zwischen Roman und Neuer Welt lässt sich auch strukturell begründen. Eine strukturelle Ebene ist unter anderem auch deshalb angebracht, da in dieser Argumentation weniger ein Ableitungsverhältnis oder gar ein Begründungsverhältnis vorgestellt werden soll, als vielmehr eine an dieser Erfahrung nachvollziehbare, den Untergrund der neuzeitlichen Implikationen von Romanfiktion präzisierende Erzählung darüber, wie das Motiv der Weltenvielfalt aus einem lateinamerikanistischen Kontext heraus lesbar und formulierbar wird. Die nachmittelalterliche Spezifik dieser Schwellensituation von einem gesicherten zu einem kontextuellen Wirklichkeitsbegriff mag in dieser Überfahrt insofern zu Recht ihr Emblem finden, als dieses Ereignis ganz wörtlich ein «reflektiertes Wissen von der Unabgeschlossenheit der Welteinsicht»⁸³ zur Folge hat. Wirklichkeit selbst – und nicht nur das Wissen über diese – stellt sich dadurch als eine Instanz mit eigener Problematik dar. Diese überschreitet die Frage ihrer transzendenten Deutung und Beziehbarkeit, um als ein spezifisches Darstellungsproblem stets endlicher Weltdarstellungen zu erscheinen, das – so die These – nicht zufällig gleichermaßen neuzeitliche Methode wie auch die moderne Romanfiktion auf den Plan ruft: Bestand die Universaltopik in einer Inventur des Wissens, verlangt die Unabgeschlossenheit der Welterfassung eine Inventur der Wirklichkeit. […] Die Inventur des Wirklichen als einer Sicherung des Wissbaren, die das Wissen der Tradition grundsätzlich in Frage stellt und zu überbieten sucht, ist zu einem Langzeitprogramm der Moderne angesichts einer nicht notwendigen, kontingenten Wirklichkeit geworden. Diese Inventur droht die Vernunft stets zu überfordern, da das zu Wissende unbegrenzt scheint.⁸⁴

Dem Zurückweisen der antiken und christlichen Erklärungsmodelle entspräche auf der Ebene der Romantheorie das Problematischwerden von Lektüremodellen, die genau dieses binnentransgressive Moment verdecken, also verdecken, dass, wenn Wirklichkeit eine Frage des Kontextes ist, sich die Wirklichkeit der Lebenswelt zwar ontologisch, nicht aber was ihren Wirklichkeitsausweis betrifft von der Romanwelt absetzen kann und dass folglich die Differenzoperation nicht zwischen «poetischer Fiktion» und «menschlichen Dingen» verläuft, sondern viel prekärer als die Differenzierung von menschlichen Dingen als ein in Fiktion insinuierter und ein lebensweltlich sich begründender Kontext. Dieser

83 Jürgen Goldstein: Kontingenz und Rationalität bei Descartes: eine Studie zur Genese des Cartesianismus. Hamburg: Felix Meiner Verlag 2007, S. 135. 84 Ebd., S. 136–141.

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Grenzbereich der Transgression droht ständig und ruft eine zumindest temporär absichernde Vernunft auf den Plan und verschiebt die Frage von der Schöpfung zur Erfindung: ¿Quién pudo ser el inventor y movedor de pasaje tan extraño? Verdaderamente he dado y tomado conmigo y con otros en este punto por muchas veces, y jamás acabo de hallar cosa que me satisfaga. Pero en fin, diré lo que se me ofrece: y pues me faltan testigos a quien seguir, dejaréme ir por el hilo de la razón, aunque sea delgado, hasta que del todo se me desaparezca de los ojos.⁸⁵

So wundert es nicht, dass Hegel⁸⁶ sowohl für die Neue Welt keine Verwendung hatte als auch mit seiner idealistischen Ästhetik die Romanwelt neutralisiert hat, indem er deren irreduzibel eigenen und mit dem gleichen Wirklichkeitswert ausgezeichneten Kontext zur Anschauung degradierte, also immer noch auf eine außerhalb des Romans zu autorisierende Erkenntnis von Wirklichkeit bezog. Die idealistische Neutralisierung der Romanwelt besteht also nicht darin, dass sie diesem einen Erkenntniswert absprechen würde, als vielmehr darin, dass der Roman nicht als eine sich bezüglich ihres Wirklichkeitswertes auf gleicher Ebene befindende Wirklichkeit begriffen wird, da die ‘Wirklichkeit’ des Romans immer wieder nur auf die eine Wirklichkeit als deren ästhetischer Schein referiert. Die Einheitlichkeit dieser einen Welt ist natürlich nur eine mit ihrer Zentralisierung erkaufte. Negiert ist damit die nunmehr topologische Dimension des Weltzugangs im Sinne einer binnenweltlich sich einstellenden Weltenvielfalt, die als Signum eines neuzeitlichen, von der Romanfiktion her gedachten Wirklichkeitsbegriffs dezentral entworfen ist. Statt auf die Kraft eines Schöpfers oder auch auf ein höheres Ordnungsprinzip des Lebens zu verweisen, werden die Vielfalt und die prinzipielle Unendlichkeiten von gelebten und möglichen Welten als Folge menschlichen Lebens denkbar und das impliziert auch: als Folge menschlichen Scheiterns, sich auf Welt zu beziehen. Dieses ist zumindest implizit mitgedacht in der ebenfalls strukturell argumentierenden Theorie Kristevas zum Romantext, deren Bestimmung – nicht zufällig – auch auf ein ‘antitheologisches’ Argument verweist:

85 Jose de Acosta: Historia Natural, S. 48. 86 Es ist in diesem Zusammenhang eine mehr als erfreuliche Koinzidenz, dass Kristeva in ihrer Theorie zum Romantext im Roman eine dezidiert und als solche bezeichnete «posthegelsche Dialektik» anstrengt, die sich damit begründet, dass in der Abstraktion des romanhaften Textes alle Elemente und alle Terme, wenn auch in sich qualitativ verschieden, insofern gleich sind, als sie sich alle gleichermaßen zur Opposition eignen. Vgl. hierzu: Julia Kristeva: Le text du roman. Approche sémiologuque d’une structure discursive transformationnelle. The Hague/Paris/New York: Mouton Publishers 1970, S. 190.

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Structuralement, le roman serait le produit de l’incapacité du discours expressif d’intégrer la DISJONCTION sans la soumettre à une finalité théologique.⁸⁷

Kernthese ist also, dass sich mit der Figur der Weltenvielfalt ein neuzeitlicher, aus der Geschichte des Romans her genauer bestimmbarer Wirklichkeitsbegriff auf eine Formel bringen lässt. Damit soll sowohl der ästhetischen Spezifik der literarischen Fiktion als auch der bewegten Geschichte der Gattung Rechnung getragen werden, deren Gründungstext nicht zufällig der Quijote ist. Geschrieben in der Kolonialmacht Spanien und fernab jeder expliziten Säkularisierungsrhetorik antizipiert dieser Roman insofern auf einer strukturellen Ebene einen säkularisierenden Wandel von Welt und Weltenvielfalt, als Quijote gerade deshalb die Text- und Lebenswelt verwechseln kann, da sie als Kontexte strukturäquivalent sind. Nur weil Wirklichkeit ihren Wirklichkeitswert eben auch und als ein weiterer, der menschlichen Intention und Intervention bedürfender Kontext behaupten kann, ist die metaleptische Pointe möglich, dass Quijote im zweiten Teil Leser seiner selbst ist. Die Lektion des Romans könnte man also wie folgt formulieren: Die Lektüre eines Romans, möchte sie nicht in den Wahn führen oder bloß immer schon Gewusstes bestätigen, macht eine bewegte Lektüre erforderlich, eine Lektüre, die sich der Bewegung zwischen den Welten bewusst ist und ihren Bezug über ihre irreduzible Differenz herstellt. Hier deutet sich ein Motiv der Welt-Distanz als Ausgangslage an, das die Romantheorie vor allem als eine Distanz und mit dem Motiv der Einsamkeit des modernen Menschen umschrieben hat. Das Bewegungsmoment zwischen den Welten ist aber nicht nur ein posthermeneutisches Postulat, sondern auch ganz konkret als kulturtheoretisches und sprachphilosophisches Paradigma der Ästhetik des Romans lesbar. Gemeint ist ein Aspekt, der sich in Octavio Paz’ Behauptung andeutet, wonach Prosa – und erst der Roman etabliert diese als eine gattungsspezifisch literarische Sprache – keine gesprochene Sprache ist, keine, die wie die des dramatischen Textes noch verstimmlicht werden muss, keine, die wie die Lyrik para-oraler Ausdruck ist, sondern eine geschriebene ist.⁸⁸ Dieses Bewusstsein um seine eigene Materialität und Medialität war schon für Bachtin das entscheidende Signum des Romans und ist – so ließe sich Bachtins Gedanke reformulieren – die medienhistorische Grundlage dafür, dass der Roman – im Gegensatz zu den anderen Gattungen – eine nach wie vor im Entstehen begriffene Gattung ist und es womöglich auch

87 Julia Kristeva: Le text du roman, S. 189–190, Kapitälchen im Original. 88 Siehe hierzu insbesondere: Octavio Paz: El arco y la lira. Edición conmemorativa 50 aniversario. México D.F.: Fondo de cultura económica, 2006 [1956], S. 142ff.

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bleiben muss.⁸⁹ Denn der Schriftcharakter seiner Erzählung ironisiert nicht nur die Proto-Oralität des Epos, sondern – gattungstheoretisch entscheidend – wiederholt auf medienästhetischer Ebene ein Distanz- und Differenzverhältnis zu seiner Erzählung, das es unmöglich macht, ihn mit einer bestimmten Geschichte vollends aufgehen zu lassen. Der Text vermittelt sich alles andere als organisch mit seinem Signifikat. Der Text – so Bachtin in der weiter unten zu thematisierenden Chronotopostheorie – ist materialer Zeuge einer anderen, von der gelesenen zu unterscheidenden Welt, inszeniert schon auf materialer Ebene, dass das, was er erzählt, jenseits dieser Geschichte zu lesen ist. Der Romantext ist also auch deshalb immer schon ein ironischer, immer schon einer, der gleichzeitig und mindestens eine andere Erzählung materialisiert und in Differenz zu seinem Signifikat setzt: seine eigene Geschichte der Lektüre nämlich. Der Text als mit seinem Signifikat nur «unorganisch»⁹⁰ verbundener Exzess materialisiert somit schon selbst die These der Kontextvielfalt. Wenn zumal aus einer lateinamerikanistischen Perspektive diese Dynamik mit der Überfahrt des Kolumbus in Verbindung gebracht wird, dann bezieht sich dies nicht nur auf die binnenweltliche und horizontale Bewegung des Kolumbus, welche retroaktiv die Ur-Szene für die Querung irreduzibel differenter Kontexte und Wirklichkeiten stellt.⁹¹ Gleichzeitig liefert diese Art der Bewegung das kulturtheoretische Paradigma neuzeitlicher Kontingenz, da die Welten-Vielfalt  – getrennt geschrieben und mit Bindestrich und im christlichen Glauben noch auf eine vertikale Hierarchie von Welten bezogen – zunehmend zur zusammengeschriebenen Weltenvielfalt wird und zwar dadurch, dass nunmehr eine durch Bewegung sich globalisierende Welt den Weltbegriff nicht zuletzt auf eine selbstreflexive Weise dynamisiert. Eine an dieser Stelle zu formulierende, in ihrer Tragweite noch weiter zu belastende These ist dabei durch die Ausrichtung der Bewegung antizipiert, die auch ganz entscheidende sprachphilosophische und literaturtheoretische Folgen hat. An dieser Stelle markiert sich der wohl entscheidende Unterschied zwischen transarealen⁹² und transzendenten Denkfi-

89 Vgl. hierzu: Michail M. Bachtin.: Das Wort im Roman. In: Ders.: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. von Rainer Grübel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997 [1934–1935], S. 233f. 90 Georg Lukács: Die Theorie des Romans, S. 27 91 Damit wird eine Problematik virulent, die als das «Problem des Anderen» (Todorov) eine Hermeneutik der Differenz notwendig gemacht hat und eine «Topologie der Ränder» der Welt und genauer: in der Welt nunmehr kulturell und politisch entwirft. Vgl.: Robert Weimann: Ränder der Moderne: Repräsentation und Alterität im (post)kolonialen Diskurs. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. 92 Zum Begriff der Transarealität siehe: Ottmar Ette: Europäische Literatur(en) im globalen Kontext. Literaturen für Europa. In: Ezli, Özkan/Kimmich, Dorothee/Werberger, Annette (Hg.):

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guren. Es ist bezeichnend, dass die querend-horizontale Bewegung, wie sie von Goldstein weiter unten beschrieben wird, als die entscheidende Umorientierung im neuzeitlichen Denken festgemacht wird, wie es die Überschreibung der transzendenten durch die transareale Figur bei Descartes schon anzeigt: Der Mensch ist für Descartes als ein Mittleres zwischen Gott und dem Nichts gestellt. Spezifisch wird diese Metapher für den Cartesianismus erst, wenn man die mittelalterliche Seinshierarchie nicht mehr mitdenkt, die dem Seienden nicht nur den Rang durch den zugewiesenen Ort im vertikalen Gefüge zumaß, sondern auch die Ausrichtung vorgab. Descartes hingegen nimmt die vertikale Lesart allein zum Anlaß, die Irrtumsfähigkeit des Menschen zu überdenken – mehr nicht. Er wechselt gleichsam durch sein Inventarisierungsprogramm die Orientierung, indem er die Horizontale zum Spielraum des Menschen macht. Die horizontale Bewegung ist die des Odysseus und des Kolumbus. Sie übersteigt nicht mehr die bestehende Welt, sondern verbleibt in ihr. […] Nicht allein Gott, auch die Welt wird zu etwas unermeßlich Großem, das es zu erforschen gilt.⁹³

Sollen diese Bewegungen für den lateinamerikanistischen Diskurs begründend sein, dann scheint es angebracht, diese Unendlichkeit aus einer grundsätzlich relational-transarealen Logik heraus zu denken. Denn Unendlichkeit meint ja nicht nur, dass sich die Weite der Welt in der horizontalen Bewegung offenbart; ebenso und womöglich zuallererst lässt sich Unendlichkeit auch deshalb als Effekt dieser Bewegung denken, da sich die Inventur der Welt nur mit viel Gewalt durch die metaphorische Logik einer aus der Tiefe motivierten Ersetzung ordnen lässt. Die Vielfalt stellt eine einheitliche und organische Genese von Geschichte in Frage. Unendlichkeit – und das bedeutet die Rede von der Kontingenz – meint in Bezug auf die Geschichte eine Fülle von Konfigurationen, die sich durch ihre spezifische Bewegung konstituieren und jeweils anders übersetzen. Die Übersetzung verfährt dieser relational-horizontalen Bewegungslogik zufolge eher metonymisch als metaphorisch. Sobald nämlich Kontingenz und Relationalität auch bedeuten, dass eine bestimmte kulturelle Formation ihre Mustergültigkeit verloren hat, dann kann die Übersetzung der Vielfalt nicht eine echte Er-Setzung praktizieren – Politik der kolonialen Sprache – als vielmehr selbst eine transgressiv-ambivalente Bewegung vollziehen, die im Zitat ihr sprachliches Paradigma findet und im Palimpsest ihre textlich-kulturelle Metapher. Die der Sprache selbst eingelassene Bewegung als ein Zitat zu denken, hat natürlich auch Folgen für die Erzählungen zum Ursprung des Romans. Die Qualität seiner stets versetzten und immer auch anders kontextualisierbaren Spra-

Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur. Bielefeld: transcript Verlag 2009, S. 257–296. 93 Jürgen Goldstein: Kontingenz und Rationalität, S. 141–142.

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che legt es zumindest für einen lateinamerikanistischen Kontext nahe, nicht im Epos den Ursprung dieser Gattung zu erblicken, sondern in den Bewegungen der Sprache selbst, also jene Erfahrung von Geschichte und Sprache, die Octavio Paz mal als die Bewegung der «lenguas transplantadas»⁹⁴ bezeichnet hat und die ich weiter unten an dem Beispiel von Borges’ Theorie der Lektüre genauer thematisieren werde.⁹⁵ In dieses Panorama fügt sich García Márquez’ Behauptung ein, in der Chronik den Ursprung des heutigen (lateinamerikanischen) Romans zu erblicken – eine These, die schon Françoise Perus angedeutet hat, wenn sie sich – mit Blick auf Bachtins Romantheorie – fragt, […] si para la tradición americana […] la crónica no estaría desempeñando, en el plano de la poética al menos, el papel de ‘prehistoria’ del discurso narrativo hispanoamericano.⁹⁶

Aus dieser Perspektive wäre das Wunderbare der amerikanischen Wirklichkeit nicht nur eine Beschreibung einer Wirklichkeit, sondern auch und womöglich zu einem wesentlichen Teil die Erfahrung einer fundamentalen Inkompatibilität von Sprache und Welt, eine Erfahrung also, die Übersetzung und Überschreitungen notwendig macht und die der Roman in seiner Ironie stets wiederholt. Auch Cornejo Polar argumentierte schon 1977 in diese Richtung und benutzt dabei ganz explizit das Motiv der Weltenvielfalt, wenn er den Chronisten mit den folgenden Worten charakterisiert:

94 Octavio Paz: La búsqueda del presente. In: «http://nobelprize.org/nobel_prizes/literature/ laureates/1990/paz-lecture-s.html», (letzter Zugriff: 02.06.2012). 95 Tatsächlich versucht Paz hier eine lateinamerikanische Spezifik abzuleiten, die sich zu dieser Zeit – im Jahre 1990 – auf theoretischer Ebene schon auf eine postkoloniale Differenz beziehen lassen konnte. Vgl. ebd.: «Las lenguas son realidades más vastas que las entidades políticas e históricas que llamamos naciones. Un ejemplo de esto son las lenguas europeas que hablamos en América. La situación peculiar de nuestras literaturas frente a las de Inglaterra, España, Portugal y Francia depende precisamente de este hecho básico: son literaturas escritas en lenguas transplantadas. Las lenguas nacen y crecen en un suelo; las alimenta una historia común. Arrancadas de su suelo natal y de su tradición propia, plantadas en un mundo desconocido y por nombrar, las lenguas europeas arraigaron en las tierras nuevas, crecieron con las sociedades americanas y se transformaron. Son la misma planta y son una planta distinta. […] Para entender más claramente la peculiar posición de los escritores americanos, basta con pensar en el diálogo que sostiene el escritor japonés, chino o árabe con esta o aquella literatura europea: es un diálogo a través de lenguas y de civilizaciones distintas. En cambio, nuestro diálogo se realiza en el interior de la misma lengua.» 96 Françoise Perus: El dialogismo y la poética histórica bajtinianos en la perspectiva de la heterogeneidad cultural y la transculturación narrativa en América Latina. In: Revista de Crítica Literaria Latinoamericana, Año 21, No. 42 (1995), S.41.

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[…] situado en la intersección de dos mundos, tenso por la urgencia de fidelidad al referente y por el imperio del sistema de comunicaci6n al que se acoge, funciona como gozne de un proceso de traducción que decodifica una realidad para recomponerla en un código distinto y no siempre homólogo. En este proceso transcultural la nota de más relieve es el sometimiento de la realidad referida al orden conceptual que preside la enunciación cronística y su lectura; sin embargo, con intensidad y proyecciones muy variables, pueden advertirse también algunos signos inversos: los que señalan que el referente impone ciertas condiciones al proceso de su enunciación, al texto mismo que lo menciona. En este sentido, sería excepcionalmente provechoso definir mejor la distancia que separa a las crónicas españolas de las del Nuevo Mundo.⁹⁷

Der Effekt dieser Distanz ist eine dem Text selbst eingelassene Bewegung: En las crónicas se observa, entonces, un doble e inverso movimiento. Si por una parte funciona un principio de extrañeza y ajenidad, que marca los espacios vacíos que separan al referente, al cronista, al lector; por otra parte funciona también un proceso de comunicación que intenta ligar suficientemente aquella disgregada constitución. Esta índole contradictoria, profundamente inestable, es la que señala el carácter fundamental del género cronístico.⁹⁸

An dieser Stelle mag der Hinweis genügen, dass die Bewegung der Sprache nicht zuletzt auch für die Geschichte ihrer Globalisierung steht – eine Thema, das von so unterschiedlichen Theoretikern wie Serge Gruzinski⁹⁹, Walter Migonolo¹⁰⁰ oder Ottmar Ette¹⁰¹ behandelt worden ist. Deren durchaus diverse Beiträge ließen sich hier in dem Sinne zusammenfassen, dass insbesondere die spezifische Sprachsituation der ehemaligen iberischen Kolonien eine Erzählung darüber bereithalten, wie die Sprachen – allem voran die eigene – zur Übersetzung wurden.¹⁰² Die Unmöglichkeit, sie rückgängig zu machen¹⁰³ legt zudem nahe, dass diese Erzählung der Globalisierung keineswegs auf diese lateinamerikanistische Erfahrung beschränkt und mitnichten auf den globalen Verkaufserfolg von CAS reduziert werden sollte, sondern gerade in ihrer Spezifik ein sprachliches Paradigma zu formulieren erlaubt, das einen wesentlichen literaturästhetischen

97 Antonio Cornejo Polar: Para una interpretación de la novela indigenista. In: Casa de la Américas, n. 100 (enero-febrero de 1978), S. 41, meine Kursivierung98 Ebd., S. 41. 99 Vgl.: Serge Gruzinski: Les quatre parties du monde – Histoire d’une mondialisation. Paris: Seuil 2009 [2006]. 100 Walter Mignolo: The Darker Side of the Renaissance. 101 Ottmar Ette: Europäische Literatur(en) im globalen Kontext. 102 Es ließe sich gar behaupten, dass Spanien in diesem Sinne einer Vorreiterrolle einnimmt. Denn noch vor der Conquista hat sich das spanische Territorium in einer beständigen Übersetzungssituation befunden, die – nicht zufällig – als die lange Periode der convivencia in die Geschichte eingehen sollte. 103 Vgl.: Bolívar Echeverría: La modernidad de lo barroco.

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und sprachphilosophischen Beitrag einer in Visionen argumentierenden Romantheorie leistet.

3.3 Die Welt des Romans: Diegese und Chronotopos Wenn es stimmt, dass Weltenvielfalt im oben beschriebenen Sinne für den Roman begründend sein soll, dann müsste sich etwas davon auch an Romantheorie selbst entwickeln lassen. Statt nur auf das doch recht abstrakte Frageniveau des Wirklichkeitsbegriffs zu verweisen, müsste es gelingen, insbesondere an jenen Begrifflichkeiten, die sich der Frage zuwenden, was die Welt des Romans denn ist und wie sie sich konstituiert, nachzuweisen, inwiefern sich die Welt des Romans eben nicht nur aus sich selbst heraus begrenzt und gerade darin eine genuin neuzeitliche Frage stellt. Diese Frage ist präziser und fokussierter als sie auf Anhieb klingen mag. Es geht mir nicht um die Funktion des Weltbegriffs innerhalb der Rhetorik von Romantheorie – dies werde ich gesondert behandeln  –, sondern tatsächlich darum, jene Begrifflichkeiten zu diskutieren, die literaturtheoretisch zur Verfügung stehen, um die Welt des Romans zu bestimmen und – was noch entscheidender ist – ihre Grenzen. Dahinter steht auch die Absicht aufzuzeigen, dass der Begriff der Weltenvielfalt nicht einfach als eine kulturtheoretische Metapher zu begreifen ist, die ihre Notwendigkeit qua ausgewählter Gegenstände zum fait accompli macht. Im Gegenteil: Weltenvielfalt hat ihre literaturtheoretische Relevanz, da es sich hierbei um eine für den modernen Roman konstitutive Darstellungsproblematik handelt. Das Prinzip der überschreitenden Bewegung ist also auch strukturell an dem nachzuvollziehen, was man die Darstellung der Welt des Romans nennen kann. Eine weitere Präzisierung ist notwendig: Wenn hier von der Grenze der Romanwelt die Rede ist, dann meine ich damit die äußerste Grenze. Es geht mir also in der Folge weniger darum, wie der Binnenraum einer Romanwelt organisiert ist (auch hier sind natürlich überschreitende Bewegungsmuster von Bedeutung), sondern wie sich die Welt des Romans als Ganze beschließt und als Ganze relationiert. Wenn man nun sowohl von einem allzu allgemeinen Begriff von Mimesis (Ricœur) als auch von all den metaphorischen Verwendungen des Weltbegriffs absieht, die in keinem präzisen begrifflich-theoretischen Zusammenhang stehen und vor allem keinen klaren Grenzbegriff enthalten, dann bleiben im Wesentlichen drei theoretische Ansätze, die ein solches Vokabular zur Verfügung stellen und sich einer nach wie vor relevanten Verwendung erfreuen: Lotmans Theorie der literarischen Raumstruktur, Bachtins Chronotoposbegriff und der narratologische, auf Genette zurückgehende Begriff der Diegese.

Die Welt des Romans: Diegese und Chronotopos 

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Von diesen drei ist Lotmans Ansatz sicherlich derjenige, der am explizitesten wirklichkeitstheoretisch argumentiert und eine Brücke zu auch philosophischen Fiktionstheorien zu schlagen erlaubt. Darüber hinaus hat er den nicht zu leugnenden Vorteil, dass er eine topologische Dimension und den Begriff der Bewegung einführt, mithilfe welcher die Frage der Grenze der dargestellten Welt überhaupt erst zum Thema, ja mehr noch: «zum wichtigsten topologischen Merkmal des Raumes»¹⁰⁴ werden kann. Insbesondere die These «Bewegung heißt Verwandlung»¹⁰⁵ lässt sich – so viel sei antizipiert – mit dem, was Benjamin und García Márquez über dieses Begriffspaar aussagen, noch in einem ganz anderen Sinne als in dem von Lotman intendierten pointieren und zwar genau darauf bezogen, was die Grenze des Romans darstellen kann. Im Anschluss an Lotmans These, wonach die künstlerische Welt immer auch eine Ordnung des Raums impliziert, die entweder affirmiert oder aber verletzt werden kann, haben Martínez/Scheffel ihre grundsätzlich überzeugende Unterscheidung zwischen revolutionären und restitutiven Texten vorgenommen.¹⁰⁶ Damit ist zumindest ins Blickfeld gerückt, inwieweit ein narrativer bzw. «sujethaltiger Text»¹⁰⁷ auch an Verhandlungen des Raums teilhat. Trotz dieser vielen und zweifelsohne inspirierenden Impulse scheint es mir angebracht, mich mehr auf die anderen beiden Ansätze zu konzentrieren und zwar aus folgendem Grund: Zwar liefert Lotmans Ansatz ein differenziertes Instrumentarium zur Beschreibung seiner Raumordnungen; dadurch aber, dass er weder spezifisch am Roman diskutiert noch die Frage der Topologie¹⁰⁸ auch auf den Text selbst appliziert, ist er für die hier aufgeworfene Fragestellung nur bedingt von Interesse. Hinzu kommt, dass was die grundsätzliche Ausrichtung seiner Theorie betrifft, diese sich mit nicht übermäßigem Aufwand als eine Ausdifferenzierung dessen lesen lässt, was im Konzept der Diegese schon angelegt

104 Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München: Fink 1993 [1972], S. 327. 105 Ebd., 319. 106 Matias Martinez/ Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München: Fink 1999, S. 142. 107 Jurij M.Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 338. 108 Es wäre natürlich falsch zu behaupten, dass Lotman die Frage des Extratextuellen nicht behandelt. Entscheidend ist vielmehr die Tatsache, wie er sie behandelt. Wie es das Kapitel Text und extratextuelle Strukturen (81–83) belegt, versteht Lotman darunter vor allem die kontextuelle Einwirkung auf den Ereignisraumes des Textes. Das widerholt und bekräftigt er, wenn er vom Sujet spricht. Auch hier geht es um eine von Außen bzw. dem Interpreten herangetragene Eröffnung eines Valenzraums. So zutreffend und wichtig diese Beobachtung auch ist, es verrät doch recht wenig darüber, wie der Text selbst in seiner Organisation das absolute Außen qua Implikation figuriert und inszeniert.

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 Paradigma Weltenvielfalt

ist, sofern es hier in erster Linie um innere Ordnungen des Textes geht, dabei jedoch keine wirklich formale Tektonik dieser Ordnung entwickelt wird. Wenn ich also im Folgenden verstärkt auf die Begriffe von Diegese und Chronotopos eingehen werde, dann um jene Grenze des Textes zu problematisieren, durch die der Text sich zu dem verhält, was ihm eigentlich unverfügbar ist und was ich als das Moment der Lektüre deuten werde. Denn auch wenn diese beiden Ansätze sehr unterschiedlichen theoretischen Kontexten entstammen, rufen sie neben der Frage, wie die (äußerste) Begrenzung der Romanwelt zu beschreiben ist, die auch notwendigerweise auftauchende Frage der Lektüre auf bzw. fragen nach der Bedeutung der Lektüre für den Prozess der Begrenzung. Die klassische und für gewöhnlich am Roman argumentierende Narratologie nach Genette verortet die absolute Grenze der histoire im Zwischen oder auch Doppel von récit und narration¹⁰⁹, während Bachtins dezidiert romantheoretische Chronotopostheorie sich dadurch auszeichnet, dass sie obendrein den Akt der Lektüre als konstitutiven Teil der Begrenzung berücksichtigt und den récit folglich nicht nur als eine prinzipiell vollends in sich selbst organisierte Verweisstruktur entwirft, sondern ebenso – in einem maximal wörtlichen Sinne – als eine physische Materialität begreift, die sich als materialer Text-Körper in ein Zeit-Raum-Gefüge einordnet. Mit dem Faktor Lektüre stellt sich also nicht nur das Problem der Figurierung bzw. Realisierung von Textstrukturen, sondern auch die Frage, ob die Begriffe der Diegese und des Chronotopos statt als strukturale Ordnungs- und Klassifikationsbegriffe im Sinne von Interaktionsbegriffen dynamisiert werden sollten. Es wird also aufzuzeigen sein, dass es bestimmte Stellen der Strukturelemente in der Tektonik eines Romantextes gibt, die auf eine Interaktion und eine Überschreitung verweisen, sie notwendig machen und so eine topologische Konfiguration¹¹⁰ zur Folge haben, in der die Verhältnisse des Außen und des Innen auch die Erzählung als materialen Text betreffen und eben nicht nur die von ihr figurierte Welt. Topologie meint hier, anders als bei Lotman, folglich nicht die räumliche Logik innerhalb einer fiktiven Welt¹¹¹, sondern die Selbstverortung dieser Welt anhand ihrer äußersten Grenze, anhand jener Überschreitung, die in der Metalepse ihren wohl äußersten Ausdruck findet.

109 Vgl.: Gérard Genette: Die Erzählung. München: Fink 1998 [1980]. 110 Zum Begriff der Topologie vgl.: Stephan Günzel, (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. transcript: Bielefeld 2008. 111 Vgl. hierzu: Jörg Dünne: Geschichten im Raum und Raumgeschichte, Topologie und Topographie: Wohin geht die Wende zum Raum? In: Buschmann, Albrecht/Müller, Gesine: Dynamisierte Räume. Zur Theorie der Bewegung in den romanischen Kulturen. «http://www.uni-potsdam. de/romanistik/ette/buschmann/dynraum/duenne.html» (letzter Zugriff: 12.06.2013).

Die Welt des Romans: Diegese und Chronotopos 

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Soll also die Grundausrichtung dieses Arguments topologisch diese äußerste Grenze verhandeln, bietet es sich an, die Fragestellung anhand des Begriffspaares Diegese und discours zu entwickeln. Dieses Doppel stellt gewissermaßen den text- und romantheoretischen Kern jener Überlagerungsfigur dar, die auch parallel verlaufende, sich allenfalls kreuzende, aber nicht notwendigerweise vereinheitlichende Geschichten in Bezug setzen kann, sofern der discours zwar ungenauer ist bezüglich der Unterscheidung von Erzählakt (narration) und Erzähltext (récit), aber doch den Vorteil hat, nicht nur den strukturierten, sondern auch den materialen Text und somit auch seine konkrete Verortung zu subsumieren. Dieser Bezug ist umso wichtiger, als er verdeutlicht, dass es hier nicht nur um die semantischen Konfigurationen oder Verschiebungen eines intertextuellen Netzes (von verschiedenen Textsorten) geht. Deren semantische Kinetik wäre zwar Ausdruck eines zweifelsohne neu sortierten, aber doch im Semantischen verbleibenden «Archivs».¹¹² Die konkrete Verortung der Form bzw. des discours wäre als semantisierende Präfiguration nicht genügend berücksichtigt bzw. darauf reduziert, nur als Marker eines neu eröffneten Raums von Valenzen und Aussagen zu fungieren.¹¹³ Die tendentiell obdachlose Qualität (Bachtin) des Romans meint ja nicht nur die Aufnahme anderer Wissensformationen und -funktionen in Literatur und auch nicht nur die Darstellung und Figurierung von überschreitenden Bewegungen, sondern darüber hinaus eine sowohl im Schreib- wie auch im Leseakt zu vollziehende Überschreitung, die ein selbstreflexives Verstehen ihrer Form in der Begegnung inkompatibler Kontexte erfordert. Dies wiederum verdankt sich einer grundlegenden Reflexion darüber, ob Sprache wie ein Verweissystem funktioniert oder aber immer auch in ihrem materialen Kontext zu denken ist. Sollte Literaturtheorie also tatsächlich und über eine (selbst historische) Verhandlung semantischer Ordnungen hinausgehend auch «die Modalitäten der Produktion und Rezeption von Sinn und Wert»¹¹⁴ zu diskutieren haben,

112 Roberto González Echevarría: Mitov y archivo, S. 12, meine Übersetzung. 113 Von González Echevarría selbst nicht bemerkt, scheint es mir bedenkenswert, dass er mit dem lotmanschen Konzept des sujet eine echte Alternative zu dem literaturtheoretisch immer nur sehr problematisch einzulösenden Diskursbegriff Foucaults gehabt hätte. Das, was im lateinamerikanischen Roman zur Verhandlung steht, wäre eben gerade der Ereignisraum des sujet, innerhalb dessen eine Differenz und auch Geschichte sich eintragen lässt. Dies gilt umso mehr, da die von Echevarría aufgeworfene Frage vor allem danach fragt, in welches Dispositiv sich der ‹Raum› Lateinamerika eintragen lässt und aus welchem «(dangerous) textual environment […] the novel emerged and envolved.» Vgl.: Ebd. S. xi. 114 Paul de Man: Der Widerstand gegen die Theorie. In: Bohn, Volker (Hg.): Romantik, Literatur und Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 80.

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dann ist auch die formal angelegte, nicht auf einen bestimmten Superdiskurs zurückzuführende, nicht in eine bestimmte Semantik sich restlos übersetzende Kinetik der literarischen Sprache im Roman zu berücksichtigen. In den Blick zu nehmen wäre deshalb eine nunmehr doppelte, weil auf semantischen und formalen Aspekten beruhende Überschreitung literarischer Texte, die sich der sowohl semantisch wie auch formal zu deutenden Tatsache verdankt, dass die Sprache des Romans zu seiner Welt kein Verhältnis der Notwendigkeit unterhält. In diesem Sinne impliziert schon die bloße Exposition einer romanhaften Welt eine Überlagerung und Verknüpfung mit einer Geschichte, die der dargestellten Welt unverfügbar ist und die sich erst an ihrer Exposition profiliert. An dieser Stelle ist die Frage zu verorten, ob diese strukturell angelegte Spaltung auch am Begriffspaar von Diegese und Discours beschrieben werden kann.¹¹⁵ Sollen also die topologischen Metaphern der Überlagerung und die horizontale Bewegung der Metalepse narratologisch profiliert werden, dann muss dieses Verhältnis der Überlagerung und die Möglichkeit transgressiver Bewegungen aus der Logik dieser Begriffe selbst entwickelt werden. Ausgangspunkt dieser Ausführungen hierfür sollen zwei bereits diskutierte Aspekte sein. Die romantheoretisch traditionelleren Begriffe der Ironie und der Perspektivenvielfalt suggerieren bereits, dass sowohl der diegetische Raum ein diskontinuierlicher ist bzw. nur ironisch als kontinuierlicher behauptet werden kann als auch die Organisation der Perspektiven keineswegs auf eine stimmige Überperspektive zu bringen sein muss. Das ist von Bedeutung, da die Diegese nicht wie der mythos als binnenlogische Kategorie, sondern als formale Erzählkategorie definiert ist. Vor diesem Hintergrund meine ich mit dem Begriffspaar Discours-Diegese jene problematische Stelle in der klassischen Narratologie zu identifizieren, die sowohl eine Transgression von vorgeblich klaren Grenzen notwendig macht wie auch ein Verhältnis der Ebenen-Überlagerung nahelegt, indem es letztlich eine funktionelle Dopplung ihrer Instanzen zur Folge hat, namentlich des Discours. Inwiefern? Zunächst gilt es sich in Erinnerung zu rufen, dass das Begriffspaar Discours und Diegese gerade nicht synonym zu dem Gegensatzpaar Discours und Histoire zu verwenden ist. Vielmehr besteht eine logische und terminologische Kluft zwischen den Termini Discours und Diegese. Denn Diegese und Histoire (als Gegen-

115 Natürlich bin ich mir dessen bewusst, dass der Begriff der Diegese nicht gattungstheoretisch zu lesen ist, sondern vielmehr sich auf die Erzählung im Allgemeinen bezieht. Dies ist aber insofern sekundär, als der Begriff ja dennoch in romantheoretischen Arbeiten relevant ist. Andererseits – hier nur anzudeuten – wäre eine gattungstheoretische Pointierung auch deshalb zu begrüßen, da das Konzept der Diegese, sofern sie auch eine gewisse Welthaftigkeit impliziert, im Roman ihren wohl komplexesten literarischen Gegenstand findet.

Die Welt des Romans: Diegese und Chronotopos 

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begriff zu Discours) sind entgegen einem weit verbreiteten synonymen Gebrauch tatsächlich keine Synonyme und von daher auch nicht austauschbar. Wie es zumal die Tatsache verrät, dass sie bei Genette¹¹⁶ verschiedenen Taxonomien angehören, lassen sich Diegese und Histoire verschiedenen logischen Sphären zuordnen.¹¹⁷ Während nämlich Histoire wie der aristotelischen mythos-Begriff die Handlungslogik als Summe des Handlungsgeschehens in Differenz zur ihrer Darstellung (Discours) meint, bezieht sich Diegese nicht auf Handlung, sondern meint eine Abstraktion der erzählten Welt im Sinne ihre Grenzen und Ordnungsschemata, die eine logische Grenze beschreibt, in der auch partikulare Semantiken wie Werte und Normen impliziert sein können.¹¹⁸ Aber eben nicht nur das. Denn zugleich ist Diegese durch eine Erzählinstanz bestimmt. Zur diegetischen Welt verhält sich der Erzähler folglich entweder als darin vorkommender bzw. homodiegetischer oder als dieser Diegese äußerlicher, also heterodiegetischer Erzähler. Der entscheidende Punkt ist hierbei, dass die logische Tektonik aus dem jeweiligen Verhältnis der Diegese zu ihrer Erzählebene bestimmt wird. Dabei ist dieses Modell auf die vermeintlich natürliche Konstellation hin entworfen, dass diese Ebene, sofern sie nicht explizit auszumachen ist, eine übergeordnete narrative Instanz darstellt, in der eben jenes verortet wird, was man traditionellerweise den Erzähler nennt. Im Falle der Rahmenerzählung ist dieses tektonische Prinzip unmittelbar einleuchtend, da in einer Erzählung ein im Verhältnis zur Rahmenerzählung extradiegetischer Erzähler eine weitere Geschichte erzählt. Die Extradiegese ist hier positiv bestimmbar. Es liegt eine identifizierbare Erzählinstanz vor, deren intradiegetisches Universum in Differenz zum metadiegetischen Universum steht. Wie aber sieht es in einem nullfokalisierten Roman wie beispielsweise CAS aus? Auch hier müsste folgerichtig der binnenlogisch passende Begriff zur Diegese nicht die Darstellung (Discours) sein – zumindest nicht unmittelbar –, sondern die hierarchisch übergeordnete Extradiegese, die sich auf eine nicht auszumachende Erzählerwelt beziehen muss. Damit ist ein logischer Sprung in der terminologischen Tektonik angezeigt, wenn man davon ausgeht, dass die Extradiegese Teil der Erzählung, mithin des Textes sein soll, und gleichzeitig ein hierarchisches Verhältnis zur Diegese ausdrücken soll. Die Diegese eines nullfoka-

116 Gérard Genette: Die Erzählung, S. 45ff. 117 Decker argumentiert in eine ähnliche Richtung und spricht berechtigterweise gar von verschiedenen «Abstraktionsniveaus» Vgl. hierzu: Jan-Oliver Decker: Einführung in die Literaturwissenschaft. In: «http://www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de/veranstaltungen/einfuehrungsvorlesungen/2006/11_160604_web.pdf» (letzer Zugriff 02.09.2010). Hier: S. 26. 118 Vgl.: Juri M. Lotman: Die Struktur, S. 231.

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lisierten Romans wird aufgrund der unverfügbaren Positivität einer Extradiegese eine, die insofern negativ begrenzt wird, als sie durch etwas begrenzt wird, was zwar nicht mehr diegetisch ist, selbst aber nicht mehr auszumachen ist und sich gerade deshalb eher als diegetische Diskontinuität denn als positiv bestimmbare diegetische Grenze zeigt. Diese Eigenheit in Genettes Begriffsbildung hat Bal, die wohl prominenteste Interpretin seiner Narratologie, in einer Fußnote geradezu lakonisch kommentiert: «En fait, il y a ici un dangereux glissemement terminologique.»¹¹⁹ Die Gefahr, von der Bal hier spricht, findet sich in vielen Einführungen in die Narratologie wieder. Diese benennen die extradiegetische Position des «Erzähler[s] erster Stufe»¹²⁰ im Falle eines nullfokalisierten Romans kurzerhand mit dem Autornamen. Dies kann jedoch nur ein Platzhalter für eine eigentlich unverfügbare Instanz sein. Denn im Gegensatz zu dem, was der Autorname suggeriert, kann es sich dem Design einer genuin narratologischen Theorie zufolge gerade nicht um eine lebensweltliche Instanz handeln und erst recht nicht um den Horizont des Lesers. So sehr also Genettes Typologie der Erzählsituationen mit dem Anspruch auftritt, diese aus der logischen Tektonik der Texte selbst zu entwickeln, so sehr scheint der heterodiegetisch-extradiegetische Erzähler genau dann zwingerderweise auf den Autor und somit auf eine dem Text notwendigerweise äußerliche, weil lebensweltliche Instanz zu verweisen, wenn man die hierarchische Logik der Bestimmung extradiegetisch beim Wort nimmt und in einer Erzählung mit nicht auszumachendem Erzähler anwendet. Um genau dies zu vermeiden, spricht Bal, ebenfalls in einer Fußnote, dieses Problem als eine eigentlich doppelte Abwesenheit dieser übergeordneten Erzählinstanz an: Si le narrateur est absent du récit, Genette implique un niveau encore supérieur, comparable à celui où se situe le narrateur extradiégetique par rapport à un ‚méta-récit‘. Il serait donc, au fond, doublement extradiégetique si l’on suit le raisonnement de Genette.¹²¹

Ihre Lösung dieses Problems ist dem Ziel verpflichtet, diese Grenze doch am und im Text festzumachen und zwar am narrativen Text als Symbolsystem und nicht dem Text an sich, der als materialer Träger immer schon in jene andere, vom Text allenfalls adressierbare, aber nicht integrierbare und lebensweltlich genannte Sphäre hineinreicht. Bal geht folgerichtig davon aus, dass

119 Mieke Bal: Narratologie : essais sur la signification narrative dans quatre romans modernes. Paris: Klincksieck 1978, S. 57. 120 Gérard Genette: Die Erzählung, S. 162. 121 Ebd.

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[…] le narrateur « invisible » se situe quand même à l’intérieur de son récit, […] il doit être […], bien que d’une manière différente, présent dans son récit. Car comme lui, il a un objet : le narré.¹²²

Doch auch Bals (S. 34 u. S. 57) Einsicht in dieses Problem scheint mir die Ausgangslage nicht wesentlich zu verändern. Der tektonisch-logische Sprung, der in Genettes Verwendung von bloß negativ definierten und gleichzeitig hierarchisierenden Begriffen wie Extradiegese bereits angelegt ist (Abwesenheit impliziert eine höhere Ebene), durchkreuzt und doppelt den Discours auch in Bals Modell funktional: Denn disocurs bezeichnet nunmehr ebenso die Form einer Erzählung, die auch textlich-materiell zu begreifende Darstellung also, die zur Diegese prinzipiell keine logisch determinierte noch sonst wie vermittelte Relation unterhalten muss. Gleichzeitig, im Falle einer nicht auszumachenden Extradiegese, wird der Discours zu einer erzählerischen Instanz, die dann doch in ein logisches Verhältnis zur Diegese gezwängt wird, wenn er die Spuren der extradiegetischen Instanzen, eines extradiegetischen «narrateur» bzw. «focalisateur»¹²³, bereithalten soll. Der Text selbst, dessen Spuren von Textlichkeit eigentlich keine logische Beziehung zur Diegese implizierten, wird zum Ort, an dem das diegetische Außen ausgewiesen werden soll und somit, von dem Ärgernis einer unbestimmt bleibenden Exteriorität genötigt, zur Extradiegese einer nullfokalisierten Diegese, zur äußersten diegetischen Grenze. So ist es alles andere als überraschend, dass Bal Genettes Typologie um eine weitere Instanz differenziert und neben dem narrateur und fokalisateur auch noch den acteur setzt.¹²⁴ Wenn man letzteren als den in der Diegese aktiven abstrakten Konstrukteur der äußersten Diegese begreift, dann werden der Diegese noch zwei weitere Instanzen vorgelagert: Zum einen die Perspektivierungs- und zum anderen die Erzählinstanz. In ihrem Zusammenspiel können sie durchaus die Rolle jener extradiegetische Instanz markieren, die dennoch im récit anzu-

122 Ebd., S. 34. 123 Ebd., S. 38 124 Der Vollständigkeit halber sei darauf verwiesen, dass Bal diese dritte Instanz, die ja nur durch ein Zugeständnis des fokalisateur als eigener Instanz möglich ist, später zugunsten einer zweigliedrigen Instanz aufgibt. Vgl. hierzu: Mieke Bal: Narratology: Introduction to the Theory of Narrative. Toronto: Toronto University Press 1985. Dazu ebenfalls: Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin: de Gruyter 2003, S. 119. Dieser Aspekt ist aber für meine Kritik der Extradiegese insofern unwesentlich, als es mir weniger um die Stimmigkeit der Instanzen untereinander geht als darum nachzuzeichnen, wie die Transgression des Textes selbst innerhalb der klassischen Narratologie zum Problem wird und deshalb, nicht zufällig, in Bals Text vor allem in Fußnoten thematisiert wird.

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treffen ist und dank ihres Objekts – dem narré – keiner höher angesiedelten logischen Ebene bedürfen. Bezeichnenderweise gelangt Bal zu dieser Differenzierung unter anderem auch deshalb, weil sie die Theorie der Erzählung um ein topologisches Argument erweitert und so die Verhandlung und Konturierung von Positionalitäten zum integralen Bestandteil der Erzählung macht. Damit kann sie wesentlich stringenter als Genette zwischen Sicht und Stimme unterscheiden. Allerdings erlaubt es ihr streng narratologischer Ansatz nicht, die Topologie der Erzählung jenseits des Textes zu denken bzw. die Verortung der Lektüre als Teil der literarisch-narrativen Topologie zu begreifen, welche die interne Topologie des Textes noch ein weiteres Mal topologisiert bzw. zuallererst konturiert. Der theoretische Vorteil dieser Erweiterung liegt unmittelbar auf der Hand. Der Text als tektonisches Symbolsystem kann seine Extradiegese insofern enthalten und markieren, als er mit dem narré auch sein Objekt hat, das – recht zirkulär argumentiert – über seine Beziehung zum narrateur definiert ist und so diesen erst als äußere Instanz sichert: […] est narré tout ce qui se situe au niveau immédiatement inférieur à celui où se situe l’acte d’énonciation.¹²⁵

Es handelt sich um eine vielsagend zweifelhafte Evidenz in der sonst so stringenten Argumentation von Bal und die zu einem Perspektivenwechsel motivieren sollte. Es ist bei der Extradiegese eben nicht nur «mal accept黹²⁶ von eine höheren Ebene auszugehen, wenn man eben diese mit dem gelesenen discours identifiziert. Vielmehr scheint es, dass die Tätigkeit der Lektüre nicht von der Narration zu trennen ist. Es wäre auch alles andere als stringent, diese Tatsache auszublenden, wenn man sowohl an Genettes Trias von narration, récit und histoire festhalten möchte (wobei narration einen Akt bezeichnet) als auch an Bals signe-narration, das ja von auteur und lecteur gerahmt wird. Mit anderen Worten: Die Erzählung scheint ein Zusammenlaufen von Welten nötig zu machen, deren Grenzen sich erst in ihrer Interaktion bestimmen lassen. Diese Problematik möchte ich in dem Sinne deuten, dass der nullfokalisierte Roman (wie etwa CAS), in dem ja der Mangel einer positiven extradiegetischen Instanz besonders offenkundig wird, nicht einfach einen narratologischen Unfall darstellt, sondern eine für den Roman begründende Frage zur Explikation

125 Mieke Bal: Narratologie, S. 36. 126 Ebd.

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bringt.¹²⁷ An seinem Beispiel nämlich lässt sich nachvollziehen, dass zwar seine (und jede andere) Diegese durch eine Exteriorität begrenzt wird und begrenzt sein muss, wenn eine der grundlegenden Bestimmungen des Romans lauten soll, dass sich in ihm Geschichte nicht einfach gibt, sondern immer schon in einer Relation steht. Allerdings ist speziell im Falle jener äußersten Grenze fragwürdig, ob diese Exteriorität immer gemäß einer hierarchischen Tektonik zu denken ist und sich allein am Text nachzeichnen lässt; dieses Prinzip verstellt nämlich die Möglichkeit, die relationale Logik der Erzählebenen auch auf den Roman selbst zu beziehen und damit die Erkenntnis, dass der Roman sich nicht selbst vollends relationieren kann. Um dieses Argument narratologisch umzusetzen, ist es vonnöten, den Begriff des Discours zu differenzieren und so auch der funktionalen Dopplung zu entsprechen. Nicht der Text als Verweissystem wäre dann jener Aspekt des Discours, der sich auf eine diegetische Ordnung beziehen lässt, sondern der zu lesende Text, also der Discours im materiellen (und eben nicht bloß formalen) Sinne. Nimmt man diesen materiellen Textbegriff als die äußerste extradiegetische Instanz, lässt sich einerseits Genettes tektonischer Theorie von narrateur und Diegese folgen und andererseits von der Verlegenheitslösung absehen, eine abstrakte Oberinstanz zu behaupten oder gar Namen wie Homer oder García Márquez als den extradiegetisch-heterodiegetischen Erzähler erster Stufe zu bestimmen. Dieser Bezug auf das Materiale hat natürlich Folgen: Zunächst ist impliziert, dass der Text nicht in dem Sinne eine rahmende Oberinstanz bieten kann wie es die Rahmenerzählung im Verhältnis zu ihrer Binnenerzählung sein kann. Diese äußerste Rahmung durch den Text bedeutet immer schon eine Transgression, eine Präsenz des Textes in einer Lebenswelt und eine Interaktion des Textes mit dieser. Denn dass der Text überhaupt in seiner Materialität gedacht werden kann, setzt bereits voraus, dass er nicht als Verweissystem gedacht wird, sondern als Ganzes in einer eigentlich unverfügbaren Lebenswelt lokalisiert ist. Zweitens wird offenkundig, dass nicht alle Relation eine Frage des Bezugs ist, sondern bestimmte nur in einer überschreitenden, eben metaleptischen Bewegung möglich werden.

127 An dieser Stelle sei nur angemerkt, dass auch in gerahmten Erzählungen dieses Problem bestehen bleibt: Denn die Intradiegese bleibt ja selbst auch eine Diegese, der wiederum als äußerste Rahmung eine Extradiegese unterstellt werden kann. So verweist am Ende jede Erzählung auf jene seltsam unverfügbare Extradiegese, die ich hier als äußerste Grenze umschrieben habe. Die Frage ist jedoch, ob sie für jede Form von Erzählung problematisch werden muss.

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Im speziellen Falle von CAS liegt nun der glückliche Fall vor, dass der Text diese Lösung selbst schon suggeriert, da der Roman sich selbst in Form der magischen Manuskripte des Melquíades zitiert. Der Text wird so als materialer Text figuriert, der einmal die gesamte macondinische Welt ist und das andere Mal enthält. Deutlich zeigt sich eine Spaltung des Discours, in der der Text einmal als materiale Einheit und einmal als Verweissystem fungiert: Die Materialität des Textes wird im Falle der magischen Lektüre, einer Lektüre im espejo hablado transzendiert und wird so zum tödlich wirkenden, absoluten Symbolzusammenhang, der auch deshalb tödlich ist, da er keine weiteren Relationierungen für seinen Leser zulässt. Gleichzeitig affirmiert die literarische Lektüre die Geschichte der Buendía als material der Geschichte (histoire) äußerlichen Text, so dass der Text nicht der Ort ist, an dem sich die Zeichen eines schicksalhaften narrateur auffinden lassen, sondern eine Wiederholung, der – man sehe mir dies Wortungetüm nach – die Gewissheit eines Gelesen-Worden-Seins außerhalb seiner Selbst eingeschrieben ist. Nur folgerichtig ist, dass dieser in seiner Selbstlektüre kulminierende Roman bereits im ersten Satz diese dem imperfecto eingelassene Zeitenlogik des Futur-2 der Lektüre andeutet, Schicksal und Lektüre in eine eigentümliche Nähe rückend: Muchos años después, frente al pelotón de fusilamiento, el coronel Aureliano Buendía había de recordar aquella tarde remota en que su padre lo llevó a conocer el hielo.¹²⁸

Der Roman, indem er das Schicksal des Lesers Aureliano Babilonia erzählt, der in Macondo einen magischen Text liest, stellt somit auch die Frage danach, wie sich diese Geschichte über sich hinaus relationieren lässt. In diesem Sinne interpretiert ist die funktionale Dopplung des Discours nicht notwendigerweise als ein begrifflicher Mangel zu lesen. Im Gegenteil: Sie markiert den Einsatzort einer kulturhistorischen und -kritischen Lektüre des Romans, gerade weil sie so eine Überlagerung andeutet, die von der Lektüre her verstanden ist und sich auch metanarrativ und topologisch deuten lässt. So wird die Grenze und Perspektivierung des Dargestellten zu einer Frage, die weder allein dem fokalisateur der Diegese angelastet werden kann noch an einen bestimmten Erzähler oder eine bestimmte Weise des Darstellens (narrateur) gebunden ist, sondern ebenso an den Akt der (konkreten) Lektüre selbst. Erst dieser Akt garantiert, dass Lesbarkeit auch eine geschichtliche Operation ist bzw. dass Geschichte dank einer relationalen Logik auch jenseits ihres angestammten Ortes wirksam bleibt. Besondere Bedeutung kommt dabei der These

128 CAS, S. 9.

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zu, dass die Verstehensstruktur des Romans eine ist, die in ihrem Vollzug die Formsprache und -logik des Discours und das imaginäre Erleben der Diegese in Relation zu setzen vermag. Diese Relationierung ist dabei nicht nur und wie von Iser stringent dargestellt eine notwendige Operation literarischen Verstehens¹²⁹, sondern hat insofern als kulturspezifischer Index einer verschiedentlich globalisierten Welt zu gelten, als mit dem diegetischen Erfahrungsraum, also dem Chronotopos der dargestellten Welt auf der einen Seite und der Frage nach ihrer Lesbarkeit auf der anderen Seite, weniger eine Korrespondenzbeziehung von Inhalt und Form etabliert wird als vielmehr ein Raum kultureller Überlagerung und Vernetzung eröffnet wird, der sich material im literarischen Text als lesbaren und gelesenem Text niederschlägt. Die Kluft zwischen Diegese und Discours eröffnet deshalb weniger eine rein formale Leerstelle als vielmehr ein Moment des Umschlags und der Überlagerung, der auf eine bestimmte kulturhistorische Konfiguration verweist. Diese nun begründet, dass die in einem strukturellen Sinne begründete metaleptische Logik des Romans auch kulturtheoretisch lesbar ist. Dabei ist dieses Moment nicht mit einer rezeptionsbedingten Leerstelle zu verwechseln, die ja bei Iser vor allem der Sinnkonstitution der narrativen Binnenwelt dient, also stets auf der Ebene des imaginären Erlebens der Diegese in Differenz zur Leserwelt anzusiedeln ist. Stattdessen handelt es sich hierbei um eine weitere, diese ergänzende und qualitativ zu unterscheidende Stelle, die insofern nicht wirklich leer ist, als sie kulturell immer schon besetzt ist oder anders formuliert: immer schon ein kulturelles Palimpsest darstellt und zur Folge hat. Das Lesen von Romanen wird so zu einer doppelt reflexiven Praxis: Nicht nur weiß man, dass man liest, indem man ständig rückschließt auf die eigene Erfahrungswelt, sondern ebenso, dass das, was, wie und wo man liest, selbst noch einmal eine Geschichte hat, die nicht aufgeht in der erzählten Geschichte und doch erst dasjenige ist, was diese Geschichte ebenso begrenzt wie relationiert. Wenn man hierin die von Jauß schon formulierte Frage herausliest, ob Literaturgeschichte nicht immer schon Lesegeschichte war, dann nur, sofern diese These nicht um ihre metaleptische und kulturtheoretische Pointe gebracht wird. An dieser Stelle – ich komme zum zweiten Begriff – setzt gewissermaßen Bachtins Theorie des Chronotopos ein und erlaubt es, das hier gestellte Phänomen der Romangeschichte als Überlagerung weiter zu präzisieren. Um eine gewisse Kontinuität im Argument zu ermöglichen, bietet es sich an, auch für die folgende Diskussion des Chronotoposbegriffs vor allem am Beispiel von CAS zu argumentieren. So sehr der Begriff der Diegese dem bachtinschen Chronotopos

129 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 132.

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zu ähneln scheint, so folgenreich ist doch die logische Differenz zwischen beiden Termini. Anders als die Diegese wird der Chronotopos durch Raum-Zeit-Ordnungen verortet und nicht in Abhängigkeit von einer Erzählinstanz. Ob und inwiefern Macondo einen Chronotopos darstellt, soll dabei nicht voreilig mit Verweis auf einen vermeintlich gesicherten Chronotopos-Begriff für beantwortet erklärt werden. Dies gilt es gerade deshalb zu betonen, da dessen verkürztes Verständnis im Sinne einer Raum-Zeit-Relation zwar die beispiellose Mobilität eines Chronotopos Macondo gut erklären würde und es gewissermaßen auch in einem hier nicht angestrebten Sinne tut, diese Evidenz jedoch mit einer Unterschlagung bezahlt.¹³⁰ Denn mehr als ein Ordnungsprinzip stellt der Begriff des Chronotopos einen Interaktionsbegriff, der einerseits nicht nur auf der Ebene der Diegese operiert und der andererseits vor allem die Frage danach stellt, wie verschiedene Chronotopoi miteinander interagieren. Dass der Begriff des Chronotopos vor allem als ein klassifikatorischer Begriff Karriere gemacht hat, liegt zweifelsohne daran, dass der Aspekt der Interaktion erst im knapp 40 Jahre später verfassten Nachwort zur Chronotopostheorie explizit wird. Jedoch – und das scheint mir von eminenter Bedeutung – lässt sich im Rückblick klar erkennen, dass Bachtin diesen Aspekt zumindest auf struktureller Ebene schon von Anfang an impliziert hat. Wie folgenschwer die Verkürzung dieses Begriffs auf einen lediglich deskriptiven Begriff ausfällt, lässt sich leicht an der Ausgangsbestimmung einer mit diesem streng diegetischen Konzept arbeitenden Studie wie der von Araújo Fontalvo darlegen. Es heißt dort: La importancia del nivel cronotópico radica en la constatación de que la concepción del tiempo es rigurosamente correlativa con la concepción del mundo.¹³¹

130 Dies ist – ohne den Terminus selbst weiter zu spezifizieren – das zugrunde liegende theoretische Design, mit dem Rincón seine Límites de Macondo herausgearbeitet hat und kulturgeschichtlich appliziert. Siehe hierzu: Carlos Rincón: Mapas y pliegues: ensayos de cartografía cultural y de lectura del Neobarocco. Santafé de Bogotá : Colcultura, Inst. Colombiano de Cultura 1996, S. 17 u. 46. Rincón belässt den Begriff Chronotopos recht unbestimmt als «la aprehensión artísitca de las relaciones espacio-temporales» (ebd.: 46). Nicht minder unbestimmt wird der Begriff in Smethurst verwendet. Siehe hierzu: Paul Smethurst: The postmodern chronotope: reading space and time in contemporary fiction. Amsterdam [u.a.]: Rodopi 2000. 131 Orlando Araújo Fontalvo: Cronotopía y Modernidad en Cien años de soledad. In: Espéculo. Revista de estudios literarios. Revista Electrónica Cuatrimestral de Estudios Literarios. No. 23. Madrid: Universidad Complutense de Madrid (2003). , (letzter Zugriff: 23.05.2012), meine Kursivierung.

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Nur folgerichtig beschreibt die Studie Genesis, Blüte und Zerfall dieser literarischen Welt, dieses literarischen «microuniverso»¹³², deren allegorische Ausdeutung dann für eine andere Moderne stehen kann bzw. Ausgangspunkt für eine Politik einer anderen Moderne werden kann. Besonders problematisch scheint mir, dass Moderne hier konsequent als eine externe Kraft verstanden wird, die, auf Lateinamerika angewandt, eine «falta de auténtico progreso» bedeutet, gerade weil sie als eine externe Kraft den macondinischen «cronotopo del idilo» zersetzt, man möchte fast sagen, die Monade in ihrer natürlichen und das heißt: einsamen Entwicklung zerstört. So sehr nun eine Differenzierung und Kritik des immer auch normativ wirkenden Begriffs der Moderne vonnöten ist – und zwar nach wie vor –, so sehr wird mit Kritiken wie der eben zitierten das Moment der Interaktion, Vernetzung und die Beschreibung der zweifelsohne asymmetrischen Bewegungen vernachlässigt und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht: Literarisch wird die Interaktion und Differenzierung zwischen Textwelt und Lebenswelt unterschlagen, da der Text auf die Vermittlung einer Differenz reduziert wird. Genau dieser letzte Aspekt jedoch wird durch den Chronotopos ja eigentlich erst aufgeworfen, wenn er – so Bachtin – als anthropospezifische Erlebenskategorie zu gelten hat.¹³³ Historisch-begrifflich wird die metaleptische Aushandlung und Bewegung unterschlagen, die der Konstitution des Modernebegriffs eigen sind; Moderne etabliert sich nicht nur gegen, sondern ebenso an und mit den ehemals kolonisierten Regionen dieser Welt.¹³⁴ Das meint: Auch wenn sich die Moderne als die Epoche ausweist, in der sich eine westlich genannte Hegemonie zweifelsohne etabliert, heißt das noch lange nicht, dass Moderne etwas so genuin westliches sein muss, dass sie allen Nicht-Westlichen als notwendig äußerlich und wesensfremd erscheinen muss. Es handelt sich um einen Fehler mit System, der seine eigenen Stimmigkeiten produziert: Aus einem diegetisch-geschlossenen Chronotoposverständnis folgt ebenfalls ein ebenso geschlossener westlich-hegemonialer Begriff von Moderne. Nur die zahlreichen Interaktionen ausblendend kann Araújo Fontalvo schließlich den Chronotopos der Idylle mit der Intention des Autors zusammenfallen lassen, wenn diese am Chronotopos des Idylls sich ablesen lassen soll: «la

132 Ebd. 133 Michail M. Bachtin: Esthétique et théorie du roman. Paris: Gallimard 1978 [1938–1973], S. 393ff. 134 Vgl.: Walter D. Mignolo: Local Histories/Global Designs: Coloniality, Subaltern Knowledges, and Border Thinking. Princeton, NJ: Princeton Univ. Press 2000. Ebenfalls: Shalini Randeria: Geschichte und verwobene Moderne. Berlin. Das Arab. Buch 1999.

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toma de posición de García Márquez: examinar de nuevo el modelo de modernidad que se ha impuesto en Latinoamérica.»¹³⁵ So wird einer Rhetorik das Wort gesprochen, die eine selbstbestimmte Partizipation in der Moderne verspricht, wenn erst jene spezifisch lateinamerikanische und an Literatur herauszulesende Differenz berücksichtigt wird.¹³⁶ Die hier aufgegriffene Debatte um die Moderne und deren Blindheit für ihr konstitutives Verhältnis zum Kolonialismus kann hier nur angedeutet werden. Der entscheidende Punkt, um den es mir hier geht, ist folgender: Wenn man Literatur und speziell den Roman als eine globalisierte symbolische Praxis begreift, dann ist sie ein denkbar schlechter Garant für eine irreduzible kulturelle oder gar ontologische Differenz eines Lokalen. Zu berücksichtigen ist vordererst, dass Literatur nicht unmittelbar von lebensweltlicher lokaler Differenz erzählt bzw. diese abbildet, sondern, wenn überhaupt, vielmehr als eine symbolische und sprachlich materialisierte Vernetzung eines Lokalen lesbar ist. Dass Literatur aufgrund ihrer irreduziblen, aber deshalb nicht bezugslosen Differenz zur Lebenswelt ein eigenes Modell von Differenzen in Interaktion liefert und dadurch lebensweltliche Relevanz beanspruchen kann, all dies bleibt unberücksichtigt, wenn unmittelbar lebensweltlich applizierte und eben nicht literarästhetisch zu denkende Differenz das erste einzulösende Versprechen ist. Mit anderen Worten: Literatur eignet sich, zur Artikulation und Illustration von Differenzen und Interaktionen, wenn überhaupt, weil die sie auszeichnende Differenz jene zur Lebenswelt ist und weil es diese Differenz ist, welche sowohl Bedeutung sichert als auch erst eine Interaktion von Text- und Lebenswelt notwendig macht. Die literarästhetische Frage ist vergessen, wenn ausgehend vom Chronotopos des Idylls folgendes gesucht wird: […] a la luz de nuestra singularidad histórica y social, que respete nuestro mestizaje cultural y nuestro legitimo derecho a participar en la construcción de nuestro propio destino.¹³⁷

Das Missverständnis des Chronotopos betrifft hier gleich mehrere Aspekte, die explizit zu machen deshalb lohnt, weil sich damit der hier vorgeschlagene Ansatz deutlicher profilieren lässt. Einerseits soll die Angemessenheit des

135 Ebd. 136 Siehe zu der Frage von «modernity» und «alternative modernities» unter anderem: Fredric Jameson: A Singular Modernity: Essay on the Ontology of the Present. London: Verso 2002, S. 12ff. Ebenfalls: Slavoj Žižek: The Ongoing ‚Soft Revolution’. In: Critical Inquiry, Vol. 30, No. 2 (Winter, 2004), S. 292–323. 137 Orlando Araújo Fontalvo: Cronotopía y Modernidad, o.A.

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idyllischen Chronotopos in Frage gestellt werden (und zwar nicht nur, weil es der falsche Chronotopos ist, sondern weil er auch theoretisch falsch entworfen ist). Andererseits gilt es, Literatur in einen anderen Dialog mit der Welt treten zu lassen als das hier implizierte Modell einer zu übersetzenden Allegorie einer Gegenwelt, das Literatur aufs Semantische verkürzt. Damit ist vor allem die relationale Logik des Chronotopos verkannt bzw. auf die Funktion der einen Welt verkürzt. Relationalität meint eben nicht nur eine interne Relation, sondern das Zusammenspiel interner und externer Relationen. Zumal angesichts der metaleptischen Logik des Romans kann es nicht darum gehen, topographisch lediglich das interne Orientierungssystem einer Erzählung und der Geschichte zu analysieren, das dann eine Differenz zu welcher Alterität auch immer anzeigt. An dieser Stelle wiederholt sich strukturell genau jenes Problem, das schon der Diegese anzulasten war: Wie begrenzt sich ein Chronotopos? Ist Chronotopos überhaupt als Metapher einer Welt richtig verstanden und was heißt es für die Welt, wenn sie als Chronotopos gedacht wird? Bachtin selbst suggeriert in dem 1973 angefügten Nachwort seiner Ende der 30er Jahre verfassten Chronotopostheorie eine andere Logik, wenn er statt von Ordnungen von Werten oder auch Wertigkeiten spricht, die ja – anders als die Ordnung – immer schon doppelt relational sind und – wie im Falle der Größengleichungen – prinzipiell die Interaktion verschiedener Werte zulassen: «[…] l’art et la littérature sont imprégnés de valeurs chronotopiques, à divers degrés et dimensions.»¹³⁸ Dieser metaphorische Bezug auf die Physik ist schon in der frühen, Ende der 30er Jahre verfassten Einleitung angelegt. Dort behauptet Bachtin¹³⁹ gleich zu Beginn seines Textes, dass er von Einsteins Relativitätstheorie inspiriert worden ist: Der Begriff des Chronotopos ist «presque, (mais pas absolument) […] une métaphore de l’indissolubilité de l’espace et du temps».¹⁴⁰ Wie so oft geht die Metapher weiter als ihre Explikation. Die Unauflöslichkeit von Zeit und Raum, wie sie die Relativitätstheorie zu denken aufgibt, beschränkt sich nämlich nicht nur auf eine Beziehung zwischen Raum und Zeit, sondern bringt mit der Betonung von Beobachter bzw. Standpunkt noch eine weitere Instanz ins Spiel, die Bachtin erst im Nachwort in sein Theoriedesign aufnehmen wird. Auf die Literaturkritik

138 Michail M. Bachtin: Esthétique et théorie du roman, S.384, Hervorhebung im Original. Zum Zeitpunkt, da ich dieses Kapitel verfasst habe, lag die deutsche Übersetzung des ChronotoposAufsatzes noch nicht vor. Die französische Ausgabe ist – so weit ich sehe – die erste Übersetzung dieses Textes, gefolgt von der englischen (1984), spanischen (1989) und schließlich der deutschen Übersetzung. 139 Ebd., S. 237. 140 Ebd.

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übertragen, ist augenfällig, dass diese Rolle nur dem Leser zugeschrieben werden kann, da der Romantext sich nicht selbst zu einem externen Beobachter oder Standpunkt verhalten kann, auch wenn er – wie zu zeigen sein wird – diesen Bezug durchaus thematisieren und reflektieren kann. Wenn man also neben Raum und Zeit noch diesen weiteren Akteur berücksichtigt, wird auch die Frage dringlich, inwiefern ein Chronotopos immer schon auf einen anderen Chronotopos verweist, bzw. mit diesem in Interaktion steht, da nicht davon auszugehen ist, dass die Bedeutung des externen Beobachters und Standorts eine feste ist bzw. hier eine ideale Leserposition gemeint ist, von der aus alle anderen Chronotopoi folgenlos bestimmt werden können. Im Nachwort geht Bachtin explizit auf diesen Aspekt ein. Wie Wegner¹⁴¹ sicherlich treffend anmerkt, spricht aus diesem Nachwort Bachtins Absicht, «moderne rezeptionsästhetische Aspekte, die in den sechziger Jahren stark diskutiert wurden, für sein Chronotoposkonzept produktiv zu machen.»¹⁴² Dieses Nachwort, das von der Rezeption wohl auch deshalb nicht genügend gewürdigt worden ist, da ihm keine konkreten Analysen folgen, ist jedoch als bloß rezeptionsästhetische Ausweitung nur teilweise erfasst. Denn diese über jeden Formalismus hinausreichende Pointierung ist bereits in der frühen Fassung angelegt. Das kategorisierende Projekt einer literaturhistorischen Semantik des Menschen in seinem Kontext – also das, was Rincón «la aprehensión artísitca de las relaciones espacio-temporales»¹⁴³ bezeichnet hat – ist mitnichten auf eine ästhetische Wahrnehmung zu reduzieren, sondern hat durchaus einen allgemeinen erkenntnistheoretischen Anspruch, der an Literatur eben besonders gut aufzuweisen ist: […] le chronotope établie aussi (pour une grande part) l’image de l’homme en littérature, image toujours essentiellement spatiotemporelle.¹⁴⁴

So gesehen reagiert Bachtin im Nachwort nicht nur, sondern bekräftigt Gesagtes. Er wiederholt und expliziert den damals in einer Fußnote abgetauchten anthropologischen Grundsatz einer, wenn man so möchte, literarästhetisch und -historisch vermittelten Erkenntnistheorie des Menschen, die sich auf das kantische Paradigma der Apriorität von Raum und Zeit gründet:

141 Michael Wegner: Die Zeit im Raum. Zur Chronotopostheorie Michail Bachtins. In: Weimarer Beiträge, 35.8, (1989), S. 1357–1367. 142 Ebd., 1359. 143 Carlos Rincón: Mapas y pliegues, S 46. 144 Michail M. Bachtin: Esthétique et théorie du roman, S. 85. Dass hier ebenfalls der Begriff der Vision auftauccht, kann ich hier nur explizieren.

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Nous admettons le jugement kantien quant à la signification de ces formes pour le processus de la connaissance, mais, au contraire de Kant, nous le tenons non pas pour ‚transcendantales‘, mais pour formes de la réalité la plus vraie. Nous nous efforcerons de découvrir leur rôle dans le processus d’une connaissance concrète (d’une vision) de l’art littéraire.¹⁴⁵

Die erste Folge dieses umfassenderen Chronotoposbegriffs ist die, dass die Erkenntnis des Menschen in der literarischen Kommunikation insofern selbst chronotopisch ist, als die Identifizierung eines Chronotopos bereits die eines anderen Chronotopos’ voraussetzt. Die Grenzen eines Chrontopos’ sind also nicht eine intrinsische Qualität desselben, sondern ein Effekt einer relationalen Differenz. Im Gegensatz zu einer streng diegetischen Interpretation des Begriffs, halte ich es für angemessener, im Chronotopos mehr als eine begriffliche Metapher für die zeitliche Dynamik in einer bestimmen narrativen Raumformation zu erblicken. Diese streng topographische¹⁴⁶ Vorstellung würde es unmöglich machen, entscheidende Aspekte in Bachtins Theorie zu erkennen, die ich als eine Theorie der Topologie des Romans entwickeln möchte. Eine Topologie nämlich bezieht sich im Gegensatz zur Topographie weniger auf die Ordnung innerhalb eines Raumes als auf die Organisation der Beziehungen und insbesondere auf jene Beziehung des Innen und Außen, von der ausgehend erst transgressive Bewegungen als Überschneidungen und Kreuzungen beschreibbar werden. Ausgehend von der Feststellung, dass ein Chronotopos erst in eine Interaktion treten muss, damit er bestimmt werden kann, ist der Bereich einer bloßen Textästhetik schon überschritten. Ähnlich der Peirceschen Semiose (es ist kein Zufall, dass beide, Peirce und Bachtin, profunde Kantkenner waren), kommt denn auch Bachtin zu dem Schluss, dass ein Chronotopos nur von einem anderen Chronotopos verstanden werden kann: Dans les limites d’une seule œuvre […] nous observons quantité de chronotopes, et leurs interférences […]. Ils peuvent s’imbriquer l’un dans l’autre, coexister, s’entrelacer, se succéder, se juxtaposer, s’opposer, ou se trouver dans des relations réciproques plus compliqués. Le caractère général de ces interrelations apparaît comme dialogique. (…). Or, ce dialogue ne peut pénétrer dans l’image représentée, ni dans aucun de ses chronotopoes : il est en dehors, bien qu’il ne soit pas exclu de l’œuvre entière. Ce dialogue entre dans le monde de l’auteur, de l’exécutante, et dans celui des auditeurs et des lecteurs, mondes chronotopiques, eux aussi.¹⁴⁷

145 Ebd. 146 Zur Unterscheidung von topologischer und topographischer Vorgehensweise, siehe Stephan Günzel (Hg.): Topologie, S. 13–29. 147 Michail M. Bachtin: Esthétique et théorie du roman, S. 393.

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Deutlich klingt hier mit dem Motiv des Dialogs ein weiterer, im heutigen literakritischen Vokabular wesentlich bekannterer Zentralbegriff der bachtinschen Literaturtheorie an. Diese Assonanz ist folgenreich. Denn der Begriff der Dialogizität lässt sich auch in dem Sinne deuten, dass eine Theorie des Chronotopos, aller kantischen Bezüge zum Trotz, nicht als eine transhistorische oder auch transzendentale These darüber zu lesen ist, wie der Mensch seine Welt begreift. Das dialogische Prinzip, das Bachtin ja insbesondere an der Prosa des modernen Romans ausmacht, ist schließlich ein von Bachtin selbst historisiertes Phänomen, das eine nicht immer schon gegebene Dezentralisierung der Sprache voraussetzt. Sollte Sprachdezentierung implizit vorausgesetzt sein, dann bedeutet das im Umkehrschluss, dass es sich weniger um eine allgemeine Theorie des Lesevorgangs¹⁴⁸ handelt als vielmehr um die Einsicht, dass eine solche Lesetheorie erst unter bestimmten Voraussetzungen notwendig wird. Diese Folgerung liegt auf der Hand, da Bachtin sich in seiner späten Fassung dem Chronotopos des Lesers zuwendet. Zudem wendet sich Bachtin bei der Frage nach der Interaktion zwischen verschiedenen chronotopischen Verhältnissen genau dann dem Chronotopos des Lesers zu, wenn es gilt, das Thema der zeitlichen und auch räumlichen, mithin kulturellen Distanz zu behandeln.¹⁴⁹ Der Chronotopos erhält dadurch eine Wendung, die ihn speziell für jene Situationen interessant macht, in denen die Interaktion zwischen auch in einem kulturhistorischen Sinne differenten Kontexten erfolgt: De toute évidence, auteurs, auditeurs, lecteurs, peuvent se situer (et se situent fréquemment) dans des temps et des espaces différents, séparés parfois par des siècles ou des distances énormes, mais peu importe : ils sont tous réunis dans un monde unique, réel, inachevé, historique, séparé, par un frontière brutale et rigoureuse du monde représenté dans le texte. Nous pouvons donc parler de ce monde comme créateur du texte : tous ses éléments – tant le reflet de la réalité, que les auteurs, les exécutants (s’ils existent), enfin les auditeurs-lecteurs qui reconstituent et, ce faisant, renouvellent le texte, tous participent à part égale à la création d’un monde représenté. Des chronotopes réels de ce monde créateur, se dégagent les chronotopes reflétés et crées du monde dont l’œuvre (le texte) donne l’image.¹⁵⁰

148 Vgl.: Wolfgang Iser: Der implizierte Leser: Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. München: Fink 1995 [1972]. 149 Hier sollte keineswegs überlesen werden, das Bachtin selbst gezwungenermaßen in literarisch vermittelter Weltenvielfalt lebte und diese gar als Überlebensstrategie angesichts des staatlich verordneten Weltentzugs zu nutzen angeraten war. 150 Michail M. Bachtin: Esthétique et théorie du roman, S. 393–394, kursiv im Original.

Die Welt des Romans: Diegese und Chronotopos 

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Nicht überraschend und zwar in jenem schon erwähnten horizontalen Sinne umschreibt hier Bachtin das Motiv der Weltenvielfalt, wenn er zwischen einer schaffenden Welt des Lesers und einer bildgebenden Welt des Textes unterscheidet. Für diese horizontale Ausrichtung ist der Dialog das passgenaue Modell und ein metaleptisches Prinzip der Lektüre insofern angedeutet, als in dieser Interaktion von lesendem und gelesenem Chronotopos sich noch ein weiterer Chronotopos der Konfiguration einstellt. Dies ist nicht nur ein weiteres Indiz dafür, dass sich der Begriff des Chronotopos von einer textzentrierten zu einer rezeptions- und kulturtheoretischen Theorie entwickelt, sondern vollzieht eine Wende, die schon oben an der Grenze der Diegese zu beobachten war – dieser dritte Chronotopos jener künstlichen «Réunion» ist nichts anderes als die immer auch konkret zu lokalisierende Materialität des konkret gelesenen Textes selbst. Wie sehr Bachtin tatsächlich diese materielle Qualität anspricht, zeigt sich schon daran, dass er deutlich zwischen Text als Materialität und Text als Komposition unterscheidet: Comment nous sont transmis les chronotopes de l’auteur, et de l’auditeur-lecteur ? D’abord par le fait extérieur, matériel de l’œuvre, pas l’évidence de sa composition. Mais son matériau n’est pas inerte : il est parlant, signifiant (ou sémiotique). Non seulement le voyonsnous, touchons-nous, mais nous y entendons toujours des voix, même au cours d’une lecture silencieuse, ‘a par-devers soi.’ Un texte nous est donné. Il donc occupe une place précise dans l’espace, ce qui veut dire qu’il est localisé. Mais sa création, la connaissance que nos en avons, se déroulent dans le temps. Le texte, en tant que tel, ne se présente pas comme mort : que l’on parte de n’importe quel texte pour passer parfois par une longue suite de chaînons intermédiaires, on parviendra, en fin de compte, à la voix humain, on se cognera, si l’on peut dire, à l’homme. Or, un texte est toujours fixé dans un matériau inerte […] Mais quelle soit la forme des manuscrits et des livres, ils se trouvent déjà à la frontière entre la nature inerte et la culture. Et si nous les abordons comme porteurs de textes, ils entrent dans le domaine de la culture et, dans le cas présent, dans celui de la littérature. Dans le temps et l’espace tout à fait réels où retentit l’œuvre, où se situe le manuscrit ou ce livre, se trouve aussi, ainsi que les êtres vrais qui écoutent ou lisent les textes.¹⁵¹

Ganz abgesehen davon, dass sich diese Stelle geradezu unverändert als eine Deutung von CAS lesen lässt – tatsächlich inszenieren die Manuskripte des Melquíades just diese Schnittstelle der verschiedenen Chronotopoi –, verdient die Tatsache, dass er sich erst auf die Materialität des Textes bezieht und dann erst auf die Stimme des Textes, besondere Beachtung. Bachtin gibt hier einem literaturhistorischen Modell den Vorzug, das Texte nicht nur aus ihrer inneren Genese heraus

151 Ebd.

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 Paradigma Weltenvielfalt

aufreiht, sondern auch von ihrer konkreten Verortung her. Die Tatsache, dass der Text dem Leser erst gegeben sein muss, erlaubt es durch diesen starken Bezug auf die Materialität des Textes, die Geschichte des Romans auch als eine Geschichte seiner kulturellen Konfiguration zu entwerfen, die sich den horizontalen Bewegungen des Menschen verdanken. Die Pointe wäre dabei entschärft, wenn man dies mit seiner Rezeptionsgeschichte gleichsetzte. Diese literaturwissenschaftlich augenscheinlichste, aber nicht einmal wichtigste Konsequenz sollte nicht den Blick für die auch gattungstheoretische Relevanz dieses Arguments verstellen. Nicht umsonst hat Bachtin den Roman als jene Gattung bestimmt, die, erstens, inmitten einer Situation chronotopischer Vielfalt verfasst ist und die, zweitens, selbst diese Vielfalt ausstellt und sich deshalb wohl auf paradigmatische Weise für diese Art von versetzter, nur in Visionen verfügbarer Geschichte eignet. Auf diesen Aspekt, den ich weiter unten in einem Exkurs zu Borges erneut aufgreifen werde, lässt sich leicht erkennen, inwieweit die Frage nach der Topologie des Textes auch die Frage nach einer bestimmten Position gegenüber der Geschichte des Textes meint. Materialität wird im Roman deshalb zu einem zentralen Merkmal, weil sie vielleicht die einzig verlässliche Spur einer Geschichte ist, die auf keine durchgängige Tradition mehr setzen kann. Die Distanz, von der Bachtin hier spricht, lässt sich also auch mit einer Gesellschaft assoziieren, die es mit mehr als einer Geschichte und Sprache zu tun hat, die – um es mit Blumenberg zu sagen – von sich weiß, dass sie in mehr als einer Wirklichkeit lebt. An dieser Stelle lässt sich bereits festhalten, inwiefern Bachtin, auch wenn er nur den europäischen Roman behandelt, aufgrund dieses auch strukturell vorgetragenen Arguments für eine lateinamerikanistische Arbeit einen ungeheuren Wert hat. Bachtin unterscheidet in Das Wort im Roman zwei Konstellationen, in denen die «Dezentrierung der sprachlich-ideologischen Welt»¹⁵² unausweichlich wird. Neben der «[s]ubstantiellen Partizipation an fremden Kulturen»¹⁵³ beschreibt er auch eine Konfiguration, die ohne größere Änderungen auf die koloniale Sprachsituation zu übertragen ist: Ähnlich verhält es sich dort, wo die einheitliche und einzige Hochsprache eine fremde Sprache ist. Der Zerfall und der Sturz der mit ihr zusammenhängenden religiösen, politischen und ideologischen Autorität ist unumgänglich. Im Prozeß dieses Zerfalls reift das dezentralisierte Sprachbewusstsein, das sich auf die soziale Redevielfalt in der nationalen Umgangssprache stützt.¹⁵⁴

152 Michail M. Bachtin: Das Wort im Roman, S. 252. 153 Ebd., S. 253. 154 Ebd., S. 255.

Die Welt des Romans: Diegese und Chronotopos 

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Dieser strukturell motivierte Bezug auf die Lebenswelt meint also auch bei Bachtin gerade nicht einen Analogieschluss zwischen Literatur und Lebenswelt, sondern geht tatsächlich und zunächst von der chronotopischen Existenzweise des Menschen aus. Wenn es nämlich einerseits mehrere chronotopische Valenzen gibt und diese andererseits durch ihre apriorische Qualität einen neutralen und vermittelnden Fluchtpunkt ausschließen, dann lassen sich diese Valenzen nicht isoliert bestimmen, sondern nur in Bezug zueinander. Erst recht in einem dialogischen Roman verweist dies somit immer schon auf ein kreatives Moment der Lektüre. Nur diese kann dann retroaktiv diegetische Valenzen bestimmen, ja schaffen («créer»). Hier zeichnet sich die (chronotopische) Geschichte eines schöpferisch-historischen Menschen ab, für dessen Geschichte Bachtin die literarische Gattungsgeschichte des Romans zum Paradigma erklärt. Die methodologischen Folgen aus diesem Perspektivenwechsel lassen sich wie folgt zusammenfassen: Erstens und entgegen dem Korrelationsmodell, das einem verkürzten Chronotopos-Verständnis eigen scheint, ist weder davon auszugehen, dass notwendigerweise von einem korrelativen Zusammenspiel der beiden apriorischen Größen Raum und Zeit ausgegangen werden kann, noch dass der Chronotopos stets als eine Art impliziter Meta-Metadiegese fungiert. Stattdessen und auch um Chronos und Topos als Akteure einer Erzählung zu rehabilitieren und weniger als rahmende Funktionen zu neutralisieren, ist von einem diskontinuierlichen Interaktionsverhältnis zwischen Chronos und Topos auszugehen. Der Chronotopos lässt sich somit als eine literarisch vollzogene und angezeigte Performanz von Weltenvielfalt begreifen, in der der Roman nicht nur durch das, was er ausstellt, sondern auch was seine eigene Geschichte und Medialität betrifft, berücksichtigt werden kann. Andernfalls nämlich bliebe die hier entscheidende Frage nach der literarischen und das heißt im Roman immer auch: die Frage nach der das (Er-)Leben betreffenden Verhandlung der narrativ und logisch unverzichtbaren Kategorien von Räumen und Zeiten über den unausweichlichen und notwendigen Umweg der literarischen Form als einer Instanz mit einer eigenen Geschichte zwangsläufig unbeantwortet. Das hat zweitens zur Folge, dass das im Chronotopos implizierte Rahmenmodell zu revidieren ist und zwar aus sowohl kulturtheoretischen wie auch narratologischen Vorbehalten: Zum einen würde es von einem falschen Verständnis des Arealen ausgehen, da statt Bewegungs- und Interaktionsmomenten nur abgekapselte Regionen in Bezug gebracht werden. Zum anderen würde ein solcher Rahmen die oben getroffene Unterscheidung von Diegese und Discours als die Verschweißung und gleichzeitige Spannung unterschiedlicher historischer Stränge unterschlagen, da ein solches Modell die an der Form sich ereignende Geschichtlichkeit im Verhältnis zum Chronotopos nicht problematisieren kann, wie der repräsentierte Chronotopos durch die Präsenz seiner Form in einer ande-

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 Paradigma Weltenvielfalt

ren als der repräsentierten Welt begrenzt wird. Mit einem Wort: Das Rahmenmodell würde etwas als gegeben annehmen, das sich erst herstellen muss. Es liefert ein genuin lokales Modell von Literatur, das aufgrund seiner werkimammenten Logik ungeeignet ist, die auch horizontalen Bewegungen und Interaktionen beschreibbar zu machen. Sobald man drittens Literatur nicht als eine in sich beschlossene Gegenwelt versteht, sondern als Praxis einer Weltenvielfalt, dann scheint nicht nur strukturell, sondern auch kulturtheoretisch die Rede eines geschlossenen Chronotopos wenig sinnvoll. Wie an den Koinzidenzen der mobilisierenden Lesesituationen nachzuvollziehen war, ist eher von einer zwar durch Differenz vermittelten, aber imaginär dennoch stattfindenden Kontinuität zwischen literarischer Welt und Lebenswelt auszugehen. Erst hiermit wird eine topologisch verfahrende Lektüre von diversen und eben nicht nur werkimmanent festzumachenden Bewegungen relevant. Damit wird man auch dem von Bachtin anfangs erwähnten «fast-metaphorischen»¹⁵⁵ Gebrauch der Relativitätstheorie eher gerecht: Die Unauflöslichkeit von Zeit und Raum meint nämlich nicht eine feste Korrelation, sondern ein zu konstituierendes und deshalb auch veränderliches Verhältnis, für deren Verständnis eben auch die Betrachter- bzw. Leseposition zu berücksichtigen ist. Dass diese Einwände aus argumentativen Gründen getrennt vorgetragen werden, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich dabei um aufs engste miteinander verbundene Aspekte handelt. Es zeigt sich gerade an diesem Problemkontext, dass narratologisch-beschreibende Kategorien immer auch kulturelle und konzeptuelle Implikationen haben. Oftmals basieren literaturtheoretische Begrifflichkeiten auf konzeptuellen Metaphern, die ganze begriffliche Zusammenhänge ermöglichen. Während die konzeptuelle Metapher des Rahmens einen lediglich diegetisch und topogaphisch verstandenen Chronotopos zulässt, der sich durch die Trias von Korrelation, Rahmen und Gegenwelt auszeichnet, betont ein topologisch verstandener Chronotopos die Trias von Überlagerung, Metalepse und Weltenvielfalt. So bietet es sich an, die Trias von Überlagerung, Metalepse und Weltenvielfalt (die im Gegensatz zu der Trias von Figurierung bzw. Realisierung von Figurierung, Binnenlogik und absoluter Eigenbezüglichkeit steht), als den eigentlichen kulturhistorischen Index der Romanerzählung zu verstehen, der immer wieder neu zu verhandeln ist.

155 Ebd., S. 237.

4 Romantheorie nach der Romantheorie: Erster Ausblick und Zusammenfassung Es mag bloß eine Anekdote, ja Zufall sein: Im Fahrstuhl einer Philologischen Bibliothek findet sich ein Plan über die verschiedenen Bereiche der Bibliothek. In der Ordnung der etablierten Philologien finden sich neben der Germanistik, Anglistik und Romanistik und auch der Niederlandistik zwei weitere Sektionen, die durch ein fehlendes Suffix auffallen: Südasien und Lateinamerika. Es mag einleuchten, dass Südasiatistik, ein ähnliches Wortungetüm wie die Niederlandistik, dem flüchtigen Leser kaum zuzumuten ist und dass diese sperrige Bezeichnung, anders als die Südasienwissenschaften, auch sonst keine Verwendung findet. Doch man mag auch einen anderen Grund hierfür erahnen: Das Design der Regionalwissenschaften (wie es auch im Namen der Lateinamerikawissenschaften zum Ausdruck kommt) bezahlt seine inter- und transdisziplinäre Arbeitsweise mit einer Regionalisierung, deren Auftrag zur Differenz zum letzthinnigen Theoriehorizont wird. Der verschwiegene Name der Lateinamerikanistik verstärkt diesen Verdacht, dass Lateinamerika und auch Südasien bestenfalls Orte für Theorie benennen, aber nicht oder zumindest nicht ohne weiteres Orte von Theorie selbst.¹ Nicht-westliche oder im Falle meines Korpus zutreffender: nicht-nur-westliche Lokalität als noch-nicht-theoretisierte bzw. nur außerhalb ihrer selbst oder nur im Zuge allgemeiner Entwürfe zu theoretisierende Lokalität ist nur eine Spielart kolonialer Theorieordnungen, der als offenkundigstes Prinzip die Setzung eines westlichen Allgemeinen im Sinne eines historischen, politischen und kulturellen Maßstabs entspricht. Unmittelbare Folge ist eine Schere zwischen Lokalisierung als Differenz- und Relationstheorie einerseits und eigentlicher philologischer bzw. allgemeiner Theorie andererseits. Die hieraus resultierende koloniale Ordnung philologischer Theorie stellt dabei eine Verdichtung von zahlreichen literaturästhetischen Diskursen, kulturtheoretischen Modellen und

1 Diese Stoßrichtung dieser Kritik ist keineswegs neu. Innerhalb der Lateinamerikanistik hat sich insbesondere die sogenannte Latin American Subaltern Studies Group schon in den 90er Jahren dieser Frage gestellt und dabei – insbesondere von Walter Mignolo angetrieben – auch versucht, die lateinamerikanischen estudios culturales als eine Art vorzeitige Alternative zu den selbst schon hegemonial wirkenden postcolonial studies zu formulieren. Auf besonders konzise Weise geht hierauf Coronil ein. Vgl.: Fernando Coronil: Jenseits des Okzidentalismus. Unterwegs zu nichtimperialen geohistorischen Kategorien. In: Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus: postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2002.

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 Romantheorie nach der Romantheorie: Erster Ausblick

kulturkritischen Traditionen dar, die – wie ich meine – am Beispiel konkreter Romane und mithilfe einer kritischen Lektüre von Romantheorie aufgebrochen und differenzierter organisiert werden kann – auch und gerade weil Romantheorie selbst ein Bündel von ästhetischen, literarischen, kulturtheoretischen, medienhistorischen und auch sprachphilosophischen Aspekten ist. Schon um diesen methodologischen Einsatz nicht zu verstellen, sollte, auch wenn die Kritik einer kolonialen Wissensordnung hier einen wichtigen Ausgangspunkt stellt, diese Arbeit nicht darauf verkürzt werden. Dafür spricht nicht zuletzt die Tatsache, dass diese Problematik Romantheorie selbst eingelassen ist. Morettis Vorwort zu der wohl umfangreichsten Sammlung romantheoretischer Texte jüngeren Datums mag dafür ein beredtes Zeugnis ablegen. Der im Verhältnis zur italienischen Originalausgabe von fünf auf zwei Bände gekürzten, insgesamt fast 2000 Seiten starken englischen Ausgabe dieses Bandes, der den schlichten Titel The novel trägt, schickt er voran: Countless are the novels of the world. So, how can we speak of them? The Novel combines two intersecting perspectives. First, the novel is for us a great anthropological force, which has turned reading into a pleasure and redefined the sense of reality, the meaning of individual existence, the perception of time and of language. The novel as culture, then, but certainly also as form, or rather forms, plural, because in the two thousand years of its history one encounters the strangest creations, and high and low trade places at every opportunity, as the borders of literature are continuously, unpredictably expanded.²

Der Frage danach, wie man vom Roman sprechen kann, ist bereits ein bestimmtes Problembewusstsein eigen, das nicht unwesentlich mit einer Weltdimension zu tun hat. Nicht nur haben sich die Literaturwissenschaften selbst globalisiert; ebenso haben die Cultural Studies und die Tendenz, Literatur zum Evidenzlieferanten von Diskursformationen zu funktionalisieren, dazu beigetragen, den Bereich des Romans und seiner Theorie und das meint: seinen neuzeitlichen Einsatz praktisch aufzulösen. Angesichts dieser Wandelbarkeit

2 Franco Moretti: Introduction. In: Ders. (Hg.): The Novel. History, Geography and Culture. Princeton: Princeton University Press 2006 [2001], S. ix. Offenkundig referiert Moretti hier auf Roland Barthes‘ berühmte Feststellung, wonach die unendliche Anzahl, die transhistorische und transkulturelle Qualität der Erzählung ein anthropologisches Faktum ausstellt und deshalb ein deduktives Verfahren notwendig macht. Ganz entscheidend ist aber der Unterschied: Während Barthes sich auf die (strukturale) Tätigkeit des Erzählens bezieht, verkürzt Moretti diese Dimension folgenreich auf eine Gattung. Vgl. hierzu: Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988 [1966], S. 102.

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eines nunmehr fast transhistorisch gedachten Romans empfiehlt Moretti nur allzu nachvollziehbar, auf eine anthropologische Kraft zu setzen, die, durch ästhetische Lust von der mythologischen Funktion entlastet, einerseits universale Geltung beanspruchen kann, andererseits jedoch sich immer wieder wandelt, sich als Form immer wieder in neue Kontexte einschreibt. Die entscheidende Frage nach der Vermittlung dieser beiden Perspektiven wird offen gelassen, auch wenn die Anlage des Bandes eine andere als die anthropologische «force» erahnen lässt.³ Diese 2000jährige Geschichte des Romans war schon einige Jahre zuvor Anlass, Romantheorie nicht nur zu umgehen, sondern, mehr noch, insgesamt unter Verdacht zu stellen. Diese Kritik, die sich vor allem auf englischsprachige Theorien zur Genese des Romans und namentlich Watts Theorie zum Aufstieg des Romans bezieht, lässt sich im Prinzip auf alle Theorie anwenden, die vom modernen Roman spricht. Folgt man dem Argument in Margarete Anne Doodys umfangreicher Monographie The True Story of the Novel, dann deckt die ‘wahre’ Geschichte des Romans auf, dass die Genese des modernen Romans nur eine aus durchsichtigen, weil anglo- und eurozentristischen Gründen ideologisch aufgeladene Szene innerhalb einer 2000jährigen Geschichte des Romans stellt: This book is the revelation of a very well-kept secret: that the Novel as a form of literature in the West has a continuous history of about two thousand years. […] We seem to have had a large investment in producing the Novel triumphantly as the form of modern times, and as ultra-Western form too.⁴

Es scheint also, als müssten diejenigen, die wie Doody «continuities» und «connectedness»⁵ in den Vordergrund stellen wollen und das meint: eine globale Geschichte des Romans erzählen, sich von einer wie auch immer situierten Romantheorie verabschieden und erst recht von der Lehrmeinung, dass zwischen

3 Moretti selbst gehört eigentlich zu den Theoretikern, welche die beispiellose Karriere des Romans mit dem europäischen 19. Jahrhundert verbinden und in diesem Moment auch die entscheidende Wende erblicken, in der der europäische Roman den beispielsweise chinesischen Roman endgültig überholt. Dieses Paradigma deutet sich in der Anlage des Bandes an: Sobald von außereuropäischer Literatur die Rede ist, wird dies unter dem Titel The circle widens getan. Da Moretti die Moderne des 19. Jahrhunderts grundsätzlich europäisch denkt, hat er – um sich auf den ‘Rest’ zu beziehen – im Prinzip nur das anthropologische Dispositiv zur Verfügung. Grundsätzlich bleibt sein Begriff von den Romanen der Welt ein klar um das europäische 19. Jahrhundert zentrierter Begriff. 4 Margaret Doody: The True Story of the Novel. New Brunswick, New Jersey: Rutgers University Press 1996, S. 1. 5 Ebd., S. 9.

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 Romantheorie nach der Romantheorie: Erster Ausblick

Moderne und Roman ein wesentlicher Zusammenhang besteht. Der Blick aufs Globale führt bei ihr – nicht überraschend – zu dem wirkungsmächtigen Dispositiv der Anthropologie, das Romantheorie zur ideologiebelasteten und westliche Spezialtheorie erklärt und die Romane in ihrer Vielfalt zu geradezu transhistorischen Artikulationen jener allgemeinen anthropologischen Kraft, durch die Welt, die Phänomenologie mehr oder minder bewusst zitierend, zum Intentionalitätsbegriff⁶ wird: One of the many reasons why people read and reread novels is that the Novel (in its different individual forms) offers a model of coming-to-know-the-World. The World is represented not as vicious abstract, but as a multiplicity of places, activities, and – above all – persons.⁷

Dieser anthropologische Theoriewiderstand mag nur ein vorläufiger Höhepunkt einer Entwicklung sein, die ihre methodologische Vorbereitung in einer gattungstheoretischen Neutralisierung der poetologischen Arbeit gefunden hat und die Michael McKeon, zumindest für den englischsprachigen Raum, mit Nothrope Frye begründet sieht. Dabei wird auch hier interessanterweise die Figur des Allgemeinen und des Besonderen in ein Spannungsverhältnis gesetzt, um es – so McKeon – zu Ungunsten der zu spezifischen Romantheorie zu entscheiden: […] during the past few decades interest in the theory of the novel as a literary-historical genre has been replaced by interest in narrative or “narratology”, the study of verbal narrative technique as it cuts across the chronological and disciplinary divides of historical practice. Treated as a local instance of a more universal activity, the novel has been subsumed within narrative in such a way as to obscure or ignore its special, “generic” and “literary” properties.⁸

Es bedarf nicht weiterer Beispiele, um die Grundlage dieses Disputs zu verstehen (und zu dem diese Studie mit dem Begriff der Vision eine theoretische Alternative entwerfen möchte): Entweder ist der Roman mehr anthropologisch denn historisch begründeter Ausdruck eines im Menschen angelegten Bedarfs nach Figurierung in der Welt oder aber der Roman ist Folge eines bestimmten Wandels, ist Beleg dafür, dass bestimmte Voraussetzungen in einer Welt erfüllt

6 Vgl. hierzu: Christian Bermes: Welt als Thema der Philosophie: vom metaphysischen zum natürlichen Weltbegriff. Hamburg: Felix Meiner Verlag 2004. 7 Michael McKeon (Hg.): Theory of the Novel. A Historical Approach. Baltimore: John Hopkins University Press 2000. 8 Ebd., S. xiv.

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sind, und folglich «a historical phenomenon»⁹. Entweder also fungiert Welt als äußerliches und anthropologisch wirksames Faktum, auf das anthropospezifische Welterzeugung reagiert (Morettis «anthropological force» und noch vielmehr Doodys «model of coming-to-know-the-World») oder aber der Roman verrät eine bestimmte Qualität dieser verspäteten und auch prekären Entwürfe von Immanenz, die in dieser prekären Geste mehr verraten als die Praxis des Weltentwurfs. Immer jedoch ist Welt im Singular zugegen. Doch nicht nur das: Ironischerweise wird die selbst koloniale Wende verkannt, dass gerade die Anthropologie gegen die westlich-hegemoniale Theorie aufgerufen wird, um sich dem Roman jenseits des klassischen westlichen Kanons zu widmen. Folge ist eine fragwürdige Opposition, in der der Preis für ein anderes Korpus nichts weniger ist als die Möglichkeit, Romantheorie zu betreiben. Denn die 2000jährige Welt einer globalen Romangeschichte kennt nur (lokale) Welterzeugung, aber keine den Roman hervorbringende Welt, von der wiederum die überwunden geglaubten Romantheorien sprechen. So ist andererseits diese 2000jährige Welt als globaler Totalhorizont der Summe gerade nicht die neue Welt oder die gottverlassene, gegenläufige, kalte oder einfach auch die historisch gewordene Welt, von der Theoretiker wie Lukács, Benjamin, Blumenberg oder Watts ausgehen, wenn sie über den Roman sprechen und an diesem eine bestimmte Geschichte und genauer: einen bestimmten Wandel in einer bestimmten Geschichte festmachen. Unmöglich geworden ist damit – und ich werde darauf im Ausblick dieser Arbeit zu sprechen kommen – jene vermeintlich genuin westliche Romantheorie anders zu lesen als eine verkappt ethnozentrische Theorie westlicher Moderne, kurz: sie als eine Vision zu begreifen. Wird also einerseits das Globale verabsolutiert (und zwar, im Literalsinn, als losgelöstes Faktum verstanden, dessen Darstellung sich nur als Summe diverser Immanenzentwürfe begreifen lässt), so wird andererseits vom eigenen Standpunkt auf problematische Weise abstrahiert, indem die eine Geschichte zur allgemeinen Voraussetzung einer Gattung wird, die, da sie sich jedoch auch dort findet, wo diese Voraussetzungen nicht oder anders gegeben sind, sich nur über bzw. gegen dieses Zentrum theoretisieren lässt. Dabei sind im ersten Falle die Romane der Welt gemeint, während im letzten Falle die Welt des Romans zum Thema wird. Welt meint in diesem ersten Falle weniger die Frage danach, wodurch der Akt des Welt-Entwurfs möglich wird bzw. was er impliziert und wie sich zu ihm verhalten werden kann, sondern eine globale und historische Relationsgröße, die verschiedene und verschieden zu lokalisierende Praktiken des Romans generiert, deren Thema und Darstellungsauftrag eben eine kulturspezi-

9 Ebd.

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 Romantheorie nach der Romantheorie: Erster Ausblick

fische Differenz ist. Welt könnte hier problemlos durch Kultur, Horizont oder ein kulturelles Imaginäres ersetzt werden, während im zweiten Falle Welt stets schon einen bestimmten, historisch sehr spezifischen Problemkontext evoziert. Man kann sich leicht ausmalen, wie diese unterschiedlichen Gewichtungen auch zu unterschiedlichen Lektürepraktiken führen. Während im zweiten Falle die Frage nach dem Entwerfen selbst auch etwas über die Bedeutung und Möglichkeiten des Romans als Medium einer selbstreflexiven Welterschließung verraten soll, steht im ersten Falle vor allem die darstellende, wenn nicht gar die dokumentierende Funktion des Romans im Vordergrund. Nicht unbegründet scheint also die Annahme, dass mit dem Weltbegriff einer der besten Erkennungsmarken innerhalb dieses Disputs vorzuliegen scheint. Globale Romangeschichte als anthropologisch fundierte und Romantheorie als kulturgeschichtlich verengte Erzählung sind nicht einfach zwei Modelle; diese Dichotomie verhärtet vielmehr die Problematik und Widersprüchlichkeit eines Weltbegriffs, der – so Ette – zwischen den Dimensionen des Planetarischen und der Implikation einer bestimmten Erfahrung im Sinne einer Weltanschauung nicht zu vermitteln weiß¹⁰ und genauer: nicht vermitteln kann, solange beide Aspekte lokal gedacht werden, solange also die Problematik der Weltanschauung an einen westlichen Kontext delegiert wird und die Erfahrung des Planetarischen, ja die Welterfahrung ans Nicht-Westliche. Lokal begründete Selbstreflexivität und lokaler Ausdruck sind hier die Optionen. Eine Romantheorie, die hier aus einem lateinamerikanistischen Kontext exemplarisch für eine Romantheorie als eine Theorie in Visionen argumentiert, hat an dieser Stelle anzusetzen und nachzuweisen, dass der Weltbegriff des Romans gerade nicht lokal gedacht werden kann und mehr bzw. spezifischer zu denken ist als eine bloße Summe. Aus dieser Perspektive argumentiert ist es nicht zuletzt für Romantheorie selbst ein Ärgernis, wenn sie den hier ja deutlich hereinspielenden Begriff der Welt in einen vermeintlich allgemeinen, konzeptuellen oder auch metahistorisch wirksamen Horizontbegriff auf der einen und in einen lokalen, spezifisch historischen Differenzbegriff auf der anderen Seite unterteilt. Gegen eine solche Aufteilung spricht, dass der Roman sich als jene Gattung bestimmen lässt, in der die hier metaliterarisch und kulturtheoretisch verfügbar gemachten Begriffe von Welt immer schon zusammenlaufen bzw. einander voraussetzen. Vor diesem Hintergrund wird leicht nachvollziehbar, welchen theoretischen und auch kritischen Einsatz Weltenvielfalt als romantheoretischer Begriff leisten kann.

10 Vgl.: Ottmar Ette: Weltbewußtsein. Alexander von Humboldt und das unvollendete Projekt einer anderen Moderne. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2002, S. 93–94.

Romantheorie nach der Romantheorie: Erster Ausblick 

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Die mit dem Roman so oft verbundenen Metaphern und Allegorien sprechen hier eine deutliche Sprache. Wenn es heißt, der Roman sei eine radikal künstlerische Gattung¹¹, ein «género tardío»¹² oder das «Aschenputtel der Gattungen»¹³, dann ist das auch in dem Sinne zu verstehen, dass der Roman seine eine Welt – die dargestellte Welt also – nie nur einfach ausstellt, sondern immer nur als eine implizit schon überschrittene oder zumindest potentiell überschreitbare entwerfen kann, als eine, die sich selbst schon im Kontext, ja in einer anderen Welt weiß. Die Exposition einer Welt impliziert im modernen Roman immer schon, dass das Erschließen von Welt sowohl als metaliterarische wie auch als kulturtheoretische Frage zu stellen ist und – wenn man dieses Argument der Kontextualität von Welten ernst nimmt – mehr als eine Perspektive erlaubt. Anders formuliert: Die im Roman figurierte Welt ist nicht nur selbst eine, die in ihrem prinzipiell multiperspektivischen Entwurf die, seine Welt als eine «Welt von Welten»¹⁴ ausstellt, also auf der Ebene des Dargestellten eine relationale Logik impliziert. Gleichzeitig weiß sie sich selbst in einer öffnenden Bewegung auch als eine Welt in einer Welt von Welten und genauer: als eine dargestellte und entworfene Welt. In diesem Wissen um die eigene Darstellung und den eigenen Entwurfscharakter rekurriert die Welt des Romans im Akt der Lektüre immer auch auf die Frage der eigenen Relationierung. Romangeschichte hat deshalb ebenso die Darstellungen von Welt zum Thema wie auch deren Verhältnis zu der Welt als einer Welt von Welten, das durch die entwerfende Darstellung einer Welt erst verhandelbar wird und die Welt des Romans zu einer transallegorischen Figur macht. Dieses Verhältnis von Welten wiederum ist nie nur aus der Geschichte des Romans (in beiderlei Sinne) abzuleiten und bedarf doch seiner immer nur höchst spezifisch verfügbaren Geschichte, um überhaupt problematisiert werden zu können. Es mag dies einer der Gründe sein, weshalb Romantheorie chronisch in Kulturtheorie umschlägt. Gleichzeitig ist diese Figur eine, die den Roman zu einer genuin neuzeitlichen Figur macht, jedoch nicht notwendigerweise zu einer «ultra-western» Gattung. Das Doppel dieser Bezüge nämlich setzt bereits einen Begriff von Welten im Kontext voraus, der seine historischstrukturelle Entsprechung in jener Form von «Weltbewusstsein» (Ette) findet,

11 Michail M. Bachtin: Epos und Roman, S. 492f. 12 Alejo Carpentier: Problemática de la actual novela latinoamericana. In: Ders.: Los pasos recobrados: ensayos de teoría y crítica literaria. Caracas: Biblioteca Ayacucho 2003 [1964], S. 121. 13 Mario Vargas Llosa: The Latin American Novel Today. In: World Literature Today, Vol. 63, No. 2, 250th Issue (Spring 1989 [1970]), S. 267. 14 Hans Blumenberg: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Stuttgart: Reclam 2002 [1981], S. 4.

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das erst mit der so genannten «ersten Phase beschleunigter Globalisierung»¹⁵ möglich wird. Es gilt, vor diesem Hintergrund eines der poetologisch sicherlich zentralen und ertragsreichten Paradigmen des Romans zu begreifen, wonach ihm – anders als dem Epos und damit schon auf ein zentrales Argument der Romantheorie referierend – durch sein Formproblem eine Selbstreflexivität eigen ist, ein Wissen um die Konstruktion von Kontexten, die selbstredend über eine einfach verstandene «weltbildnerische Funktion»¹⁶ hinausgeht und von der Doody wie auch Moretti sprechen, wenn sie auf eine anthropologische Kraft anspielen. McKeon hat genau dieses selbstreflexive Moment als die eigentlich moderne Qualität des Romans identifiziert, es jedoch versäumt, diese Qualität auf einen selbst historischen Weltbegriff zu beziehen, um dann doch wieder auf die drei romantheoretischen Säulenheiligen Säkularisierung, Modernisierung und Kontingenz zu setzen: In fact, the novel is the great modern genre because it explicitly articulates a problem in “matching” that is only tacit, hence non-problematic, in traditional genre theory. The novel crystallizes genreness, self-consciously incorporating, as a part of its form, the problem of its own categorial status. What makes the novel a different kind of genre may therefore not be in its “nature” but in its tendency to reflect its nature – which of course alters its nature in the process.¹⁷

Bezieht man diese selbstreflexive Dynamik des Romans auf den Weltbegriff, wird deutlich, dass im Roman Fragen am Wirken sind, die sich in beide Dimensionen des Weltbegriffs deuten lassen. Allerdings operieren hier die Größen der Welt als von zahllosen Einzelperspektiven geschaffener Totalhorizont und der Welt als einer nicht mehr immanenten Welt nicht wie zwei statische Größen, sondern als sich gegenseitig ironisierende Bezüge. Gerade in der Ironisierung der eigenen Welt als gebrochener Immanenz mag sich ein nicht einsehbarer Totalhorizont der Welt ankündigen wie umgekehrt aus jenem unverfügbaren Totalhorizont diese Immanenz zumindest retroaktiv und zeitweise als echte Immanenz zu denken oder zumindest anzunehmen ist, wenn denn ihre Überschreitung überhaupt möglich gewesen sein soll. Mit anderen Worten: In der Gleichzeitigkeit von binnenlogischer Figurierung und selbstbezüglicher Relationierung ist

15 Ottmar Ette: Wege des Wissens. Fünf Thesen zum Weltbewußstsein und den Literaturen der Welt. In: Hofmann, Sabine/Wehrheim, Monika (Hg.): Lateinamerika: Orte und Ordnungen des Wissens Festschrift für Birgit Scharlau, Tübingen: Narr 2004, S. 169–184, S. 166. 16 Matthias Bauer: Romantheorie. Stuttgart: Verlag J. B. Metzler 1997, S. 1. 17 Michael McKeon (Hg.): Theory of the Novel, S. 4.

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am Ende keiner der beiden Weltbegriffe geeignet, den Welt- und Wirklichkeitsbegriff des Romans zu bestimmen. Weder lässt sich die aus Selbstreflexivität sich ergebende und diesem Weltbezug eingelassene Überschreitung ohne eine bestimmte Form von («konkret problematisch gewordener») Immanenz denken noch bedeutet diese Immanenz, dass man diese Überschreitung nur als bloße Negativität zu begreifen hätte. Was also sein Verhältnis zu der Welt betrifft, ist der Roman – und damit ist eine klare Differenz zum anthropologischen Dispositiv markiert – eben keine ‘allgemeine’ Gattung. Dementsprechend ist auch seine Theorie nicht als eine Theorie über die Natur des Menschen zu verstehen, wenngleich Romantheorie bestimmte Verhältnisse bisweilen bedenklich naturalisiert hat. Gegen ‘allgemeine’ Romantheorie wiederum ist einzuwenden, dass jene Formen der Überschreitungen konstitutiv eine Form der Immanenz voraussetzen, also nicht auskommen ohne ein wie ironisch und wie gebrochen auch immer ausfallendes Moment des Ausdrucks. Im Vollzug der Romanlektüre steht also implizit zur Debatte, wodurch sich eine Romanwelt konstituiert und in welches Verhältnis sie so zur Welt des Lesers treten kann. Dabei stellt sich, gerade weil die Ordnung der Romanwelt keine gegebene, sondern eine erst durch die Lektüre zu bestimmende ist, ein nicht formalisierbares Moment der Interaktion ein, das den Roman nicht nur zum wirklichkeitsillustrierenden Medium macht, sondern ebenso zu einem Medium, an dem Wirklichkeit als kontextuelle Verdichtung nachvollzogen und verhandelt werden kann. Der im Roman wirksame Weltbegriff ist so auf eine Weise bestimmt, die quer liegt zu den Ordnungen des Kulturell-Darstellenden einer Welt und der literarischen Erschließung bzw. dem literarischen Entwurf dessen, was die Welt sein kann. Es würde sich bei diesen Aspekten vielmehr um zwei komplementäre Aspekte handeln, die dementsprechend auch zusammengedacht werden sollten. Mit einer transarealen¹⁸ Geschichte des Romans soll dieser multirelationalen Figur sowohl auf konzeptioneller, kulturtheoretischer wie auch auf gattungstheoretische Ebene entsprochen werden. Dafür ist es notwendig, den Roman und seine Theorie vor allem daraufhin zu lesen, was die Funktionsweise des Weltbegriffs betrifft. Während Romantheorie diesbezüglich vor allem begrifflich bzw. funktional zu befragen sein wird, sollen die hier zu lesenden Romane von Gabriel García Márquez, Roberto Bolaño und Sandra Cisneros vor allem auf struktureller Ebene Antworten geben. Die noch zu spezifizierenden Leitfragen richten sich dabei einmal auf die Darstellung und die Inszenierung

18 Diesen Begriff führt – soweit ich sehe – erstmals Ottmar Ette in die Literatur- und Kulturwissenschaften ein. Ich werde auf seine Vorarbeiten aufbauen und sie für den speziellen Fall des Romans und der Romantheorie pointieren. Vgl.: Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben.

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der relationierenden Überschreitung einer Welt und andererseits auf die selbstbezügliche Problematisierung dieser Überschreitung als Möglichkeit, Effekt und gar als Notwendigkeit romanhaften Erzählens. Die Grundthese ist schnell formuliert – ihre Begründung und auch Konturierung hingegen nur höchst spezifisch einzuholen: Der Ort des Romans ist seine Überschreitung. Um diese Grundthese aus einem eben höchst spezifischen Kontext heraus zu entwickeln, ist eine zweite Forschungsperspektive vonnöten, die ich weiter oben mit dem Begriff der Vision entwickelt habe und hier noch etwas zu differenziren ist. Als spezifisch kulturtheoretisch-methodische These ließe sich nämlich formulieren, dass ein lokaler oder auch regionaler Bezug schon deshalb notwendig ist, um die Überschreitung auch in einem kulturtheoretischen Sinne nachvollziehen zu können. Vision unterscheidet sich also von Einsicht auch dadurch, dass ihre Erzählung keine unmittelbare Nähe umschreibt. An dieser Stelle wird deutlich, dass dies nicht ohne die anfangs am Beispiel der Metalepse erfolgte Differenz von Bezug und Überschreitung, von Einsicht und Vision möglich ist. Mit Blick auf ein Überschrittenes, auf eine Relation der Überschreitung also, soll anhand von drei paradigmatischen Beispielen nachvollzogen werden, inwiefern der Roman der Lateinamerikanistik (womit gerade nicht eine Spezialtheorie des lateinamerikanischen Romans gemeint ist) vom so genannten boom des Magischen Realismus bis heute sich besonders dafür eignet, diese auf poetologischer Ebene konstatierte Überschreitung des Romans auch in einem kulturhistorischen und kulturtheoretisch-strukturellen Sinne lesbar zu machen. Überschreitung als eine Form kultureller Praxis meint, dass die für den Roman so bestimmende Figur der Ironie auch als eine kulturgeschichtliche zu fundierende Dimension der Nicht-Identität von Sprache und Welt lesbar ist. Die Ironie des Romans – so die These – ist nicht unbedingt besser verstanden, wenn sie mit so abstrakten Größen wie Kontingenz oder post-epischer Kondition erklärt wird. Neu oder zumindest anders zu befragen wäre also zum einen die Romantheorie eingelassene ‘Ursprungtheorie’ und zum anderen seine metasprachliche Kritik. Was die Ursprungstheorie angeht, habe ich dargelegt, wie Blumenbergs Arbeiten zu dem, was das Neuzeitliche im Roman ausmacht, auch aus einem lateinamerikanistischen Kontext heraus zu perspektivieren ist. Insbesondere dass Blumenberg die auf Kant zurückgehende Formel der Welt von Welten in einer Aufsatzsammlung behandelt, die mit dem Titel Wirklichkeiten, in denen wir leben überschrieben ist, ist romantheoretisch aufschlussreich. Nicht von ungefähr hat Blumenberg die Figur der Weltenvielfalt im Romanaufsatz Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans erstmals als eine spezifisch neuzeitliche Figur entwickelt und vorbereitet. In dieser Genealogie kommt zum Ausdruck, dass zumindest für die Neuzeit und für den Roman Welt und Leben notwendige Komplementärbegriffe sind, in deren Zusammenspiel sich erst Wirklichkeit als

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eine Welt und genauer: als eine gelebte Welt oder auch Lebenswelt behaupten lässt. So wundert es wenig, dass die Begriffe des Lebens und der Welt zum Grundbestand jeder Romantheorie gehören und als Biographie bzw. als wiederholte Wirklichkeit auch zwei grundlegende gattungstheoretische Dispositive stellen. In ihrem wechselseitigen Bezug verraten diese Begriffe, dass Leben und Welt nunmehr ein Verhältnis eingehen können, dessen Inkommensurabilität eine Vielfalt von Welten und Lebensvollzügen inszeniert, die nicht mehr auf das Exemplarische des einen Lebens und auch nicht mehr ausschließlich auf das Gefüge der einen Welt bezogen werden kann. Der Interdependenz von Leben und Welt, möchte sie nicht in einen ontologischen Sollipsismus münden, entspricht andererseits die Einsicht, dass «wir in mehr als einer Wirklichkeit leben».¹⁹ Wenn also die Grenzen der einen Welt und des einen Lebens keine absoluten Grenzen sind, sondern nur vorläufig und retroaktiv durch ihre vollzogene oder ausbleibende Relationierung stabilisiert, aber auch revidiert werden, dann wird Wirklichkeit zum Scharnierbegriff. Einerseits sind Wirklichkeiten als dasjenige zu verstehen, das von Welten verfasst wird, also erst durch eine interne Relationierung bestimmbar wird und andererseits stellt sich mit der Frage nach der Wirklichkeit im Sinne von «einer Welt von Welten» die Frage nach dem Verhältnis dieser Welten zueinander, also eine Dimension, die auf eine bestimmte Gegebenheit reagiert und sich nur mittels einer externen Relationierung erfassen lässt. Der Lebensbegriff wiederum fungiert dabei als diejenige Instanz, durch die diese Kontextvielfalt der Wirklichkeiten erst sinnvoll bestimmbar wird, da erst mithilfe des Lebensbegriffs der Doppelcharakter von Wirklichkeit einsichtig wird. Nicht umsonst haben die philosophische Anthropologie und auch die Soziologie das Leben als ein autopoietisches, grenzrealisierendes Prinzip bestimmt, das sich durch die Bestimmung über die Grenze sowohl intern wie auch extern relationieren muss. Die These, die sich andeutet und die ich weiter unten etwas ausführlicher behandeln werde, lautet also, dass der Roman die Gattung ist, die diesen Prozess nicht nur auf komplexe Weise illustriert, sondern auch selbstreflexiv behandelt und artikuliert, so dass ihm berechtigterweise ein Wissen darüber zu unterstellen ist, wie sich dieses komplexe Verhältnis einer Welt von Welten ausgestaltet. An dieser recht formalen Formulierung sollte bereits deutlich werden, dass diese Problematik nicht nur auf nicht-westliche Kontexte ‘übertragbar’ ist, sondern vielleicht erst gar nicht richtig verstanden, wenn man nicht zumindest in einem konzeptuellen Sinne mit einer transarealen Perspektive arbeitet.

19 Hans Blumenberg: Wirklichkeiten, in denen wir leben, S. 4.

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Was die dem Roman eingelassene sprachliche Metakritik betrifft, lässt sich ein sehr ähnliches Argument entwickeln. Die Spannung zwischen den genannten Reflexionsebenen im Weltbezug ist nicht einfach einem ab einem bestimmten Moment möglich gewordenen Weltbegriff geschuldet, sondern lässt sich auch in einem strukturellen Sinne mit einer bestimmten sprachphilosophischen und auch sprachkulturellen Situation begründen, die mit der neuzeitlichen Wendung des Weltbegriffs zwar zu großen Teil koinzidieren kann, aber sich nicht restlos davon ableitet. So ist der Doppelbezug von Welt als einer Welt von Welten auch in dem angelegt, was Bachtin als die Sprache des Romans theoretisiert und genauer: als die «sprachliche Obdachlosigkeit eines literarisches Bewusstsein»²⁰ umschrieben hat und was Blumenberg, in einem anderem Zusammenhang argumentierend, den neuzeitlichen Wirklichkeitsbegriff von Welt als Kontextvielfalt beschrieben hat.²¹ Das meint: Die Sprache des Romans unterhält zu der von ihm dargestellten Welt kein immanentes Verhältnis, sondern stellt stattdessen eine Sprache aus, deren relationale Logik eben nicht nur der Binnenfigurierung, der Festigung der binnenlogischen Bezüge dient. Denn immerzu wirkt sich die relationale Logik der Sprache auf die Sprache selbst aus, so dass sie sich gerade durch ihren Bezug auf eine Welt als eine wenn nicht schon versetzte, so doch relationierte, noch zu relationierende Sprache erweist. Die Sprache des Romans ist nicht die derjenigen Welt, die sie fingiert. Das literarische Bewusstsein um diese Obdachlosigkeit, von der Bachtin spricht, geht dabei insofern über die Rekonstruktion «von konkreten Problemen und Verbindungen»²² hinaus, als es sich hier um eine Form von Wissen handelt, das eher einer Potenz gleicht, einer Praxis (de Certeau), die sprachlich Verfasstes immer wieder neu zu relationieren hat, statt in Sprache vermeintlich gegebenen Relationen nachzuspüren. Kurz gesagt: Es geht um Lektüre und es ist deshalb nur folgerichtig, dass der Roman wohl die Gattung schlechthin ist, die auf ihre (stille) Lektüre angelegt ist und somit dem imaginären Nachvollzug der dargestellten Welt immer schon eine andere Geschichte und Relation einschreibt. Lektüre jedoch – so werde ich mit Borges ausführen – ist nicht nur eine Frage des ‘Verstehens’ von Romanen, sondern auch ein (literatur-)historische Kritik. Wie sehr diese Art der Lektüre mit der Figur der Welt von Welten zusammenhängt, lässt sich nicht nur mit Bachtin und das meint: mit dem europäischen Roman begründen. Die sich auch selbst reflektierende Lektüre mag als eines der

20 Michail M.Bachtin: Das Wort im Roman, S. 252. 21 Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff, S. 57ff. 22 Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus: postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2002, S. 18.

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Momente gelten, in der ein Weltbewußtsein (Ette) zum Ausdruck kommt, das wiederum eine bestimmte, sich selbst auch reflektierende und problematisierende Erfahrung von Welt impliziert und die von Certeau nicht zufällig im kolonialen Kontext «[e]ine[r] brasilianische[n] ‚Kunst‘»²³ ausgemacht worden ist.²⁴ Diese aus verschiedenen Kontexten argumentierenden Beispiele – Humboldts Weltbewusstsein im Falle von Ette bzw. das Verhältnis von Kultur und Kolonialität bei Certeau und das romanhafte Bewusstsein bei Bachtin – haben gemeinsam, dass sie auf eine Erfahrung oder besser: auf ein Bewusstsein von Welt rekurrieren, durch welche die im Roman vollzogene «Dezentrierung der ideologischen Welt»²⁵ überhaupt erst nachvollziehbar wird. Diese Dezentrierung nämlich, so Bachtin, setzt eine «substantielle Partizipation an fremden Kulturen und Sprachen»²⁶ voraus und nur diese – man betone – substantielle Partizipation vermag es, den «absoluten Konnex zwischen dem ideologischen Sinn und der Sprache»²⁷ aufzubrechen. Die Verschiebung vom Konnex zum Kontext verdankt sich also einer im ganz literalen Sinne zu verstehenden Verweltlichung und Globalsierung als Dezentrierung, die wiederum für ein Bewusstsein steht, für das die Sprache des Romans der wohl einer der prominentesten Zeugen ist. Es ist nur folgerichtig, wenn der peruanische Literaturwissenschaftler Antonio Cornejo Polar in einer Polemik gegen die Identität als einer «terca persistencia de un ser inmodificable»²⁸ genau diese Sprachsituation ins Feld führt, um auf eine relationale Logik zu verweisen, die sich durch verschiedene Bewegungslogiken konstituiert. Ausgangslage ist dabei, dass die Sprache keinen absoluten Konnex zu ihrer Welt unterhält und stattdessen einem «disturbado orden discursivo»²⁹ gleicht:

23 Michel de Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 58. 24 Wie Ottmar Ette selbst es deutlich ausführt ist dieses selbstreflexive Moment in Humboldts Weltbeschreibung unter anderem auch der Tatsache zu verdanken, dass sich Humboldt überhaupt die Frage der Darstellung von Welt stellt. Mit Bezug auf de Certeau wird deutlich, dass es dieser darstellenden Ebene auch schon deshalb bedarf, um sich auch eine kulturelle Handlungsfähigkeit zu bewahren. So schreibt de Certeau im Kapitel über die «brasilianische Kunst»: «Ganz allgemein gesagt, eine Umgangsweise mit aufgezwungenen Systemen führt zum Widerstand gegen das historische Gesetz eines tatsächlichen Zustandes und gegen seine dogmatische Legitimation.» Michel de Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 59. Weiter unten wird de Certeau diese Form des Widerstands auch als eine Form der Lektüre umschreiben. 25 Michail M. Bachtin: Das Wort im Roman, S. 252. 26 Ebd., S. 253. 27 Ebd. 28 Antonio Cornejo Polar: Condición migrante e intertextualidad multicultural: El caso de Arguedas. In: Revista de Crítica Literaria Latinoamericana, Año 21, No. 42, (1995), S. 101. 29 Ebd.

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Dicho sin sutileza: si el sujeto mestizo intenta rearmonizar su disturbado orden discursivo, sometiéndolo a la urgencia de una identidad tanto más fuerte cuanto que se sabe quebradiza, el migrante como que deja que se esparza su lenguaje, contaminándolo o no, sobre la superficie y en la profundidad desde una deriva en cuyas estaciones se arman intertextos vulnerables y efímeros, desacompasados, porque su figuración primera es la de un sujeto siempre desplazado. Me atrevería a decir, desde esta perspectiva, que en un caso el sentido último es dialectico –tal vez su retorica interna sea sobre todo la de la metáfora – mientras que en el otro los términos serian los del dialogo abierto e inconcluso y su modo preferencial -presumiblemente- el de la metonimia. Aquélla establece su eficiencia en la solidez de un espacio clausurado dentro del marco de la similaridad y ésta, a la inversa, en la fragmentada pero continua indeterminación de su horizonte.³⁰

Bezeichnenderweise handelt es sich hierbei um Bewegungslogiken, die Cornejo Polar paradigmatisch an literarischen Texten und speziell an Romanen nachvollziehen kann. Das begründet sich ebenso einfach wie pragmatisch mit der Einsicht, dass diese Logiken weder in der Positivität lebensweltlicher Formationen noch in einem kurzen Fragment zu erfassen sind, sondern sich in ihrer jeweils anders ausfallenden, aber insgesamt auf Dauer angelegten Logik der Verknüpfung sich in einer Form anzeigen, die erst der Roman mit seinem Anspruch auf ‘Welthaftigkeit’ einlösen kann: Precisamente la naturaleza de tal continuidad hace difícil encontrar fragmentos breves que permitan observar el funcionamiento de este tipo de discurso que se advierte, con nitidez, en cambio, cuando se trata de desarrollos textuales más vastos.³¹

Schon allein um einem selbst aporetischen Dualismus zu entkommen, scheint es mir von größter Bedeutung, dass Cornejo Polar eine dritte Figur andeutet, die mir für das Romanwerk einer Autorin wie Sandra Cisneros zutreffender scheint und die ich mit dem Namen des/der viajer@ belegen möchte. Neben dem Verständnis von Welt als Integration (mestiz@) und von Welt als Zerfaserung (migrante) ist es nicht nur «begeisternd», sondern auch notwendig, Welt als dasjenige zu denken, dass sich durch diesen Doppelbezug formiert und diese Bewegungen ständig aufeinander bezieht, keiner der beiden das letzte Wort überlässt: […] me entusiasma la idea de cruzar de ida y vuelta el paradigma del mestizo y la transculturación y, su modelo en última instancia sincrético, de una parte, con la movediza sintaxis del migrante y su multicultura fragmentaria, de otra.³²

30 Ebd. S. 106. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 108.

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Dies jedoch impliziert eine Perspektive, in der Lateinamerika nicht mehr als territorialer Ausgangspunkt bestimmt wird, sondern – wie eben im Falle von Sandra Cisneros als eine noch herzustellende Relation. Nicht nur um eine romantheoretische Implikation darüber zu explizieren, was die Welt des Romans heißen kann, sondern auch, was die Unterscheidung der Politiken des booms im Verhältnis zu dem, was der Postboom darstellen kann, scheint mir die von Cornejo Polar unterbreitete Unterscheidung von mestiz@, migrante und viajer@ sehr hilfreich. Entscheidend ist hier, dass auch wenn der mestiz@ deutlich essentialisierender entworfen wird als der migrante, spätestens mit der Figur des viajer@ deutlich wird, dass es sich in allen drei Fällen um Bewegungsfiguren³³ handelt, die nicht nur unterschiedliche Kontexte queren, sondern im Prinzip auch nicht abzuschließende Bewegungen darstellen, also die Grundkonstellation einer sich immer wieder neu relationierenden Sprache nicht in Frage stellen. Und natürlich, so Cornejo Polar, handelt es sich dabei um Bewegungslogiken, die sich keineswegs ausschließen, sondern durchaus nebeneinander, nacheinander, sich abwechselnd, gleichzeitig und in verschiedenen Verhältnissen auftreten können. Diese Dimension der Bewegung ist umso wichtiger, als hier eine entscheidende Differenz zu jenem, strukturell sich hiermit teilweise deckenden Weltbegriff markiert wird, den Heidegger unter anderem bei der Frage nach dem Ursprung des Kunstwerks entwickelt hat. Zwar ist auch bei Heidegger Welt ein oszillierender Bewegungsbegriff, sofern er zwischen einer bestimmten Form von Positivität – dem «Vorhandenen» – und etwas Anderem unterscheidet, das, als «kein Vorhandenes»³⁴, sich dieser Positivität entzieht und sich in der Intentionalität eines Weltbezugs allenfalls als immer schon Vorgängiges andeutet.³⁵ Jedoch verrät sich in dieser Welt als das, «woraufzu der Überstieg erfolgt»³⁶, eine Bewegung, die für ein Denken des auch von Globalisierung gezeichneten Weltbezugs insofern vollkommen unbrauchbar ist, als sie – so wird es insbesondere im Aufsatz zum Ursprung des Kunstwerks deutlich – einen camouflierten Heimatbegriff des Lokalen umschreibt. Welt als «das Bezugsganze des

33 Ich werde nicht durchgehend auf diese Figuren zu sprechen kommen. Doch weniger die an sich problematisch personalisierenden Begrifflichkeiten interessieren hier als vielmehr die damit bezeichneten Bewegungslogiken und die Semantiken, mit denen Bewegungen belegt werden. 34 Martin Heidegger: Philosophie und Weltanschauung. In: Heidegger, Martin: Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen, Band 27, Göttingen: Vittorio Klostermann 2001 [1929], S. 296. 35 Etwas weiter im Text wird Heidegger diese sich schließende Figur als Erde bezeichnen. 36 Ebd., S. 240.

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Daseinsentwurfs»³⁷ – so Gadamer über Heideggers Weltbegriff – wird konsequent (und anders als bei Bachtin) in den Begriffen des Eigenen, im Modell einer zentrierten Welt gedacht. Bezug ist eben nicht Überschreitung. Wenn Kunst also auf Welt drängt – sei es die «Welt der Bäuerin» oder die Rede vom «eigenen Wesensraum»³⁸ und erst recht die Rhetorik der «Bestimmung»³⁹ –, dann handelt es sich bei dieser Art von Welthaftigkeit um eine Welt, deren durch Kunst ermöglichte «Welt-Anschauung»⁴⁰ in jedem Falle lokal entworfen ist. Könnte das Kunstwerk zumindest theoretisch einen multikontextuellen, ja transarealen Begriff des In-der-Welt-Seins preisgeben, da es «nur in den Bereich» gehört, «der durch es selbst eröffnet wird»⁴¹, mithin – so ergänzt Gadamer – «seine eigene Welt eröffnet»⁴², wird die hierdurch eröffnete Möglichkeit einer Mobilität und Rekontextualisieriung des Kunstwerkes, die Möglichkeit, am Kunstwerk eine bestimmte Form von Weltenvielfalt nachzuvollziehen, eine Möglichkeit von Konkurrenz und Kontakt zwischen Welten, die Bachtin in seiner Chronotopostheorie unermüdlich betont hat, schon im Keim erstickt: Das Kunstwerk eröffnet seine eigene Welt. Gegenstand ist etwas nur, wo etwas nicht mehr in das Gefüge seiner Welt gehört, weil die Welt zerfallen ist, der es angehört. So ist ein Kunstwerk ein Gegenstand, wenn es im Handel ist. Denn dann ist es welt- und heimatlos.⁴³

Doppelte Ironie: Nicht nur, dass das «Nicht-mehr-im-Gefüge-seiner-Welt-Sein» ziemlich genau das beschreibt, was den Roman ermöglicht (es wäre nicht die undankbarste Aufgabe nachzuweisen, dass Der Ursprung des Kunstwerks als eine Antiromantheorie lesbar ist); obendrein ist mit der Denunziation des Handels ein historisch-kritischer Welt- bzw. Globalisierungsbegriff kategorisch ausgeschlossen, der selbst wiederum keineswegs auf den Handel zu beschränken ist. Es liegt auf der Hand, dass dieser vermutlich zu ‘technische’ Begriff von Welt schon deshalb verleugnet wird, da er die ja unerwünschte Folge hätte, dass sowohl Welt als Bezugsgröße zu historisieren als auch die Einheitlichkeit dieser Bezugsgröße zu hinterfragen wäre.

37 Hans-Georg Gadamer: Zur Einführung. In: Heidegger, Martin (1999 [1960]): Der Ursprung des Kunstwerks. Stuttgart: Reclam 1999 [1960], S. 98. 38 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks. Stuttgart: Reclam 1999 [1960], S. 36. 39 Ebd., S. 37. 40 Hans-Georg Gadamer: Zur Einführung, S. 102. 41 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks, S 37. 42 Hans-Georg Gadamer: Zur Einführung, S. 105. 43 Ebd.

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Weltanschauung lässt sich also nur dann aus der vermeintlichen Heimat des Seienden entlassen, wenn sie auch «in die Serie von Weltgeschichte, Weltverkehr, Welthandel oder Weltbeschreibung»⁴⁴ gerückt wird. Diese Dimension von Welt, die Ette mit der «Verknüpfungsmetapher»⁴⁵ Weltbewusstsein umschrieben sieht und die so augenfällig erscheint, wenn von nicht-westlichen bzw. nicht-nur-westlichen Literaturen die Rede ist, verschwindet oftmals in jenen Romantheorien, die nicht einer in einem globalisierten Kontext verorteten lokalen Differenz verpflichtet sind, und das Phänomen des Weltentwurfs auf allgemeine Weise bzw. in einem sehr begrenzenden Sinne als ein modernes Phänomen befragen. Dabei ist es doch das Zusammenspiel dieser Dimensionen, die – so Ottmar Ette über Alexander von Humboldt – «ein Bewußtsein der Welt in ihren planetarischen wie galaktischen Zusammenhängen ebenso wie ein Bewußtsein der historischen Veränderungen dieses Bewußtseins selbst»⁴⁶ ermöglicht. Oder um es mit Heideggers Vokabeln zu formulieren: Auch die «Totalität des Vorhandenen»⁴⁷ hat eine Geschichte und zwar eine, die sich durch eine bisweilen unterschiedliche Kontexte querende Bewegung formiert, sofern sie immer auch der Darstellung bedürftig ist. Hierfür, so meine ich, ist der Roman nicht der schlechteste Zeuge. Wobei es mir in diesem Ausblick geht, der natürlich nicht einmal annähernd einen Überblick über die in Philosophie, Sozialwissenschaften und Literaturtheorie entwickelten Weltbegriffe leisten kann und möchte, sollte zumindest was die Grundintention betrifft klar geworden sein. Grundsätzlich und in einem strukturellen Sinne geht es mir darum, den romantheoretisch relevanten Begriff der Welt in seiner Ambivalenz zu erfassen. Funktional zwischen dem Dispositivs eines Differenzbegriffs (im Sinne von einer Welt) wie auch als Projektionsbegriff (im Sinne eines qua Entwurf verfügbaren und bisweilen in Frage gestellten Totalihorizonts) oszillierend, gilt es, diese Ambivalenz dahingehend zu spezifizieren, dass sich der Weltbegriff gleich in mehrfacher Hinsicht als ein Überschreitung implizierender Relationsbegriff dynamisieren lässt und in dieser Dynamisierung eine grundsätzlich neuzeitliche Qualität verrät. Der Roman selbst und nicht nur eine Rhetorik der Dekolonisierung machen es also notwendig, dass die jeweils verschieden ausfallende Erfahrung von Bewegung in der Welt (mithin Globalisierung) und die ästhetische Praxis des Weltenentwurfs im Sinne einer metaliterarischen Theorie der Welterschließung nicht getrennt be-

44 Ottmar Ette: Weltbewußtsein, S. 97. 45 Ottmar Ette: Wege des Wissens, S. 172. 46 Ottmar Ette: Weltbewußtsein, S. 94. 47 Martin Heidegger: Philosophie und Weltanschauung, S. 308.

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handelt werden bzw. zu einer nicht-westlich-regionalphilologischen einerseits und einer literaturtheoretisch-philosophischen Frage andererseits verkürzt werden. Wie lässt sich dieser Anspruch methodisch umsetzen? Von der Feststellung ausgehend, dass die dargestellte Welt insofern eine überschrittene ist, als schon ihre Darstellung zwischen binnenlogischer Figurierung und externalisierendrelationalisierender Erzählung oszilliert, werden zumindest folgende drei Aspekte zu berücksichtigen sein:⁴⁸ Erstens und auf fiktionstheoretischer Ebene zeigt sich die relationale Logik des im Roman implizierten Weltbegriffs dadurch an, dass er auf einen Wirklichkeitsbegriff (Blumenberg) rekurriert, der als ein kontextueller Wirklichkeitsbegriff immer schon eine selbst wandelbare Konstellation von Kontexten denkbar macht. Das hat unter anderem zur Folge, dass die Lebenswelt als vermeintlich ursprüngliche Gegebenheit zu einer Lebenswelt wird, die nur als «wiederholte Wirklichkeit»⁴⁹ und somit als potentiell versetzte verfügbar wird. Dadurch, dass «die im Fingieren wiederholte Realität zum Zeichen wird»⁵⁰, suggeriert der Roman einen transallegorischen Fiktionsbegriff, der zwar seinen Wirklichkeitsbezug nicht vollends zurücknimmt, diesen aber nur in dem Sinne gelten lässt, als Wirklichkeit selbst nur im Zuge einer durch Figuration ermöglichten Überschreitung retroaktiv und relational stabilisiert oder auch revidiert wird. Dieser Aspekt wird vorzugsweise von der Strategie des mestiz@ ausgestellt werden, dem Fiktion als eine Form von Überschreitung und Inszenierung deshalb willkommen ist, da an ihr die integrative Kraft der eigenen Wirklichkeit erprobt werden kann. Damit hängt zweitens und diskurstheoretisch eng zusammen, dass Welt im Roman auch deshalb ein Relationsbegriff ist, da er als nicht-autochthone Gattung selbst schon für ein (global) vernetztes Symbolsystem steht, in dem sich sowohl aus synchroner wie auch auf diachroner Ebene kulturelle Austauschprozesse nachvollziehen lassen. Der Roman als die Gattung, die mehr als alle anderen literarischen Gattung verschiedene Sprachen und andere Gattungen und Diskurse in sich aufnehmen kann, zeigt bereits in seiner potentiell multiperspektivischen und multidiskursiven, ja multilingualen Darstellung von Welt an, dass die dargestellte Welt eine Verdichtung von in sich sehr unterschiedlich mo-

48 Bei folgender Gliederung greife ich teilweise auf die von Blumenberg am Roman diskutierten Wirklichkeitsbegriffe zurück und versuche, sie mit den von Cornejo Polar entwickelten Bewegungstypen zu illustrieren. 49 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 20. 50 Ebd., S. 21.

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tivierten Verflechtungen ist und eben nicht der «Überstieg» auf ein «Bezugsganzes» im Sinne eines in sich konsistenten Ganzen. Der Roman ist also auch Ausdruck positiv feststellbarer Relationen, die sich nicht unter das Diktum einer integrativen Funktion stellen müssen. Hier kommt insbesondere die Strategie des viajer@ zu ihrem Recht, da diese, ohne dass ein Ort des Eigenen vollends aufgegeben werden müsste, diesen immer wieder neu relationieren kann. Da der Ort des Eigenen nicht durch seine integrative Funktion bestimmt ist, ist er als ein beweglicher Ort denkbar. Drittens und im engeren Sinne sprachphilosophisch widersteht der Roman auch aus einem geradezu gegenteiligem Grund dem «absoluten Konnex zwischen dem Wort und dem konkreten ideologischen Sinn»⁵¹, da seine Sprache eine immer schon zitierende ist und sich als solche immer wieder für andere Bezüge öffnet. Diese Qualität verschärfend kann die Welt im Roman als sich das ihm Entziehende erweisen und zwar in dem Sinne, dass seine Sprache nicht nur nicht der Schlüssel zu der Welt, nicht nur nicht Welt-Anschauung ist, sondern als bloße, immer schon verstellte und verstellende Sprachwelt den Widerstand der dargestellten Welt gegen ihre Darstellung materialisiert. Die Wirklichkeit einer Welt ist hier dasjenige, was nicht in ihren eigenen Begriffen darstellbar ist und sich allenfalls durch jene Verschiebungen anzeigt, die sie in einer Sprache auslöst, die längst keine Gewähr mehr für eine Welt ist. Am Ende, so resümiert ein lakonischer Bolaño, wird Sprache selbst zu einer melancholischen Geschichte. Im Gegensatz zum vorigen Aspekt markiert die Sprache des Romans hier Relation als Negation. Es ist leicht einzusehen, wie sehr diese Erfahrung vor allem der Bewegung des migrante entspricht, der weder in die integrative Kraft der Sprache vertrauen kann noch dazu in der Lage ist, das Eigene durch eine ständige Relationierung und Überschreibung im Sinne einer wie auch immer komplexen Positivität zu erfahren. Diese drei Dimensionen eines nunmehr dynamisch-relational verstandenen Weltbegriffs lassen bereits erahnen, inwiefern mit der zweifelsohne gut begründbaren Strategie einer allgemeinen Lokalisierung philologische Theorie nur scheinbar dekolonisiert wird bzw. ein zentraler Anspruch des Romans verstellt wird. Da Welt eben nicht vollends eine Welt sein kann, nicht restlos zu lokalisieren ist, sondern eben auch die Überschreitung der einen Welt hin zu einer anderen, wenn nicht der Welt impliziert, hat natürlich auch Folgen für das, was die entwerfende Überschreitung ausmacht. Es geht mir in der Folge deshalb nicht nur darum, eine koloniale Ordnung philologischer Theorie zu kritisieren (eine Ordnung, die wohlgemerkt nicht nur im so genannten Diskurs des Westens

51 Michail M.Bachtin: Das Wort im Roman, S. 254.

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reproduziert wird) und zu meinen, mit einer vermeintlich gleichberechtigten Reihe von Weltbegriffen und Weltentwürfen sei es durch eine generelle lokale Rückanbindung an diskursiver Gerechtigkeit getan. Im Vordergrund soll stattdessen stehen, dass mit einer Kritik dieses kolonialen Dispositivs eine Frage zugänglich wird, die philologischer Theorie selbst eingelassen ist. Insbesondere Romantheorie kann, wenn sie kritisch gelesen wird, als ein privilegierter Schauplatz der Differenz und der Differenzierung verstanden werden, da an ihr, wie schon im Roman selbst, ein Umschlag auszumachen ist, der philologische Theorie möglich macht und gewissermaßen auch auszeichnet. Gemeint ist die Überschreitung ihres eigenen Gegenstandes, ja ihres Ortes hin zu einer Theorie der Wahrheit (Heidegger), der postmythischen Geschichtlichkeit (Bachtin), der «gottverlassenen Welt»⁵² oder einem sich dem Menschen und seinem Lebenswissen zuwendenden kulturellen Bewusstsein («first hand knowledge of life»).⁵³ All diesen Diagnosen des romanhaften Weltentwurfs ist gemeinsam, dass sie, wie absolute Metaphern, auf Sachverhalte referieren, die anders nicht adressierbar sind und für deren Plausibilität der Roman bzw. seine Theorie als Unterpfand herhalten muss. In diesem Sinne ist der Roman ebenso die Gattung einer sich durch Überschreitung konstituierenden Welt, einer Welt, die nie nur aus sich selbst heraus das ist, was sie ist wie er auch, als Gegentand von Theorie, ein Beispiel für die überschreitende Bewegung von Theorie ist, für ein Drängen der Theoriewelt auf ein Jenseits der Welt des Romans. In beiden Fällen ist diese Bewegung insofern und in einem strukturellen Sinne metaleptisch, als diese Überschreitung auf ein Anderes nie kontinuierlich verläuft, keiner (auch nicht nachträglich auszumachenden) Logik der Notwendigkeit folgt, keine Logik des Bezugs darstellt, sondern Überschreitung impliziert. Der Roman produziert immer auch einen Diskurs.

52 Georg Lukács: Die Theorie des Romans, S. 84. 53 Mario Vargas Llosa: The Latin American Novel Today. In: World Literature Today, Vol. 63, No. 2, 250th Issue (Spring 1989 [1970]), S. 267.

5 Cien años de soledad: Zur Poetik der Überlagerung 5.1 Macondo als Name: Zur Topologie des literarischen Ortes Macondo ist mehr als ein Ort und mehr als ein Ort. Macondo lässt sich als ein Name lesen, der – als Name – ein ganzes Bezugsnetz lesbar macht, das räumliche, zeitliche und auch ästhetische Knoten, Verästelungen und Verknotungen spannt.¹ Am Netz des literarisch figurierten Namens zeigt sich vielleicht am deutlichsten, dass das Thema des Romans immer auch die Transgression seines eigenen, erzählten Ortes ist und dass er sich als literarische Erzählung erst durch die Vermessung seiner transgredierten Orte konstituiert, die Bezüge der erzählten Geschichte selbst in Bezug setzend. Macondo wird zum Namen, weil es in seinen Übersetzungen einer «Verwandlung» gleichkommt, und eben «nicht abstrakte Gleichheits- und Ähnlichkeitsbezirke durchmißt».² Die im Namen ermöglichte Verwandlung impliziert eine literarische Transgression, die insofern als eine Kunst-Einheit zu denken ist, als sie den erzählten Ort nicht minder mit dem Ort seiner Narration in Bezug setzt wie sie jenen Ort lesbar und adressierbar macht, den die Erzählung zu wiederholen vorgibt. Die Reichweite des Namens vermisst jenes Feld, das ich aufgrund seiner qualitativen Sprünge und Verwandlungen die Topologie des Romans nennen möchte. Gemeint ist damit die ganz grundsätzliche Frage, wie sich das Innen und Außen in diesem Roman organisieren und ob dieses Beispiel für eine gattungstheoretische Verallgemeinerung dienlich ist.

1 Eine erste und kürzere Fassung dieses Kapitels habe ich im November 2008 auf der Tagung Dynamisierte Räume. Zur Theorie der Bewegung in den romanischen Kulturen in Potsdam vorgestellt. Vgl. hierzu: Pablo Valdivia Orozco: La realidad de este mundo y del otro. Möglichkeiten und Herausforderungen einer literaturwissenschaftlichen Topologie am Beispiel der macondinischen Metalepse. In: http://www.uni-potsdam.de/romanistik/ette/buschmann/dynraum/valdivia.html. (letzer Zugriff: 02.07.2012) 2 Walter Benjamin: Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 4, II,1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980 [1916], S. 150. An dieser Stelle kann nur in aller Kürze darauf verwiesen sein, dass die alternative Logik des strukturalistischen Bezeichnungsparadigmas der Differenz bei Benjamin als Anagrammatik gelesen wird. Vgl. hierzu: Anselm Haverkamp: Latenzzeit. Wissen im Nachkrieg. Berlin: Kadmos 2004. Dieser Aspekt ist insofern wesentlich, als er eine gewisse Zeitstruktur der Entzifferungsarbeit verständlich macht: Dem Namen ist eine Geschichte eingelassen, die nicht die ihrer Herleitung ist, sondern jene, die sich erst zu erkennen geben wird.

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Die Logik des Namens hat den Vorzug, dass er nicht eindeutig einer Sphäre zuzuordnen ist. So kommt er von seiner Logik her meiner These entgegen, dass eine Topologie des Romans deshalb eine literaturwissenschaftlich lohnende Frage ist, weil der Roman an den Ordnungen des Namens immer auch die Frage verhandelt, ob und wie Text- und Lebens- bzw. die lesende Welt übereinkommen oder abstrakter formuliert: Statt bloß eine fiktionale Alterität zu markieren, dürfte der Bedarf an einer Benennung wie Macondo deshalb auch einem Bedarf der Lebenswelt geschuldet sein. Dieser Bedarf ließe sich als der Versuch umschrieben, in Erfahrung zu bringen, welche Namen auf welche Weise die Erzählungen des Lebens organisieren und inwiefern das Fort-Leben sich gemäß den Überschreitungen des Namens denken lässt. Am Namen – so die These – lässt sich Geschichte besser und das meint: vielschichtiger verhandeln als wenn man bloß die ‘Sache’ rekonstruieren wollte. Nicht nur setzt der Name im und durch den Roman verschiedene Sphären, ja Welten in ein noch auszuhandelndes und für die Welt konstitutives Verhältnis; gleichzeitig steht er für Verwandlungen, die offenkundig werden am Verhältnis von Leben und Erzählung. Dem literarischen Namen – so ließe sich mit Julia Kristeva argumentieren – fällt als «signifikante Praxis»³ die Funktion zu, eine echte Transformation der thetischen Setzung des Symbolischen zu ermöglichen. Anders als in den Benennungen der Signifikationen, die von Kristeva theologisch oder wissenschaftlich genannt werden, geht es bei der im Namen erfolgten «Vertauschung des sprachlichen Ausdrucks»⁴ – so Kristeva Freud zitierend – nicht nur um eine Verschiebung und Verdichtung innerhalb einer (symbolisch eingetragenen) Denotation, sondern – und das ist der romantheoretisch entscheidendere Punkt – darum, dass die signifikante Praxis des Namens in der Lage ist, in einer aufbrechenden Bewegung Zeichensysteme zu queren, eine DER Welt entrückte Instanz zu etablieren, die die Konstitution von Welt als etwas nachvollziehendes fingiert.⁵

3 Julia Kristeva: Die Revolution, S. 69. 4 Ebd. 5 Ebd.: «Der Terminus Intertextualität bezeichnet eine solche Transposition eines Zeichensystems (oder mehrerer) in ein anderes; doch wurde der Terminus häufig in dem banalen Sinne von ‚Quellenkritik‘ verstanden, weswegen wir ihm den der Transposition vorziehen; er hat den Vorteil, daß er die Dringlichkeit einer Neuartikulation des Thetischen beim Übergang von einem Zeichensystem zu einem anderen unterstreicht. Wenn man einmal davon ausgeht, daß jede signifikante Praxis das Transpositionsfeld verschiedener Zeichensysteme (Intertextualität) ist, dann versteht man auch, daß ihr Aussage‚ort‘ und ihr denotierter ‚Gegenstand‘ nie einzig, erfüllt und identisch mit sich selbst ist, sondern pluralisch, aufgesplittert und Tabellenmodellen zugänglich. Die Polysemie erscheint so auch als Folge semiotischer Polyvalenz, d.h. der Zugehörigkeit zu verschiedeneren semiotischen Systemen.» (69)

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Der Name Macondo benennt einen solchen, logisch diskontinuierlichen Raum, der sich durch eine Exteriorität, eine Diegese und eine Transformation konstituiert. Die Verschränkung dieser Ebenen wiederum eröffnet selbst einen weiteren, literarisch entworfenen und doch auch transtextuell zu querenden Raum, dessen drei Dimensionen der Erzählort als Exteriorität der Schrift, der erzählte Ort als Diegese und der in der Erzählung wiederholte Ort als das transformierte Aracataca stellen. All diese Orte werden im Namen zusammengehalten; in einen sinnhaften Bezug gesetzt werden sie aber erst durch das Ereignis bzw. den Ort der Lektüre, der diese Topologie um eine weitere Exteriorität erweitert, die im Roman und speziell in CAS immer schon mitbedacht ist. Ein solcher Raum der Querungen, um Ottmar Ette⁶ zu paraphrasieren, ist selbstredend in keinster Weise dem Weg entgegenzustellen, sondern, wie es schon Certeau⁷ formulierte, bedarf des narrativ organisierten Weges: «Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen.»⁸ Man vergesse an dieser Stelle nicht, dass der Weg bei Certeau eine Metapher des Lesens und der Narration ist und dass diese Praktiken sich dadurch auszeichnen, keinen eigenen Ort zu haben, sondern ihn erst in ihrem Vollzug zu produzieren als ein Verhältnis von Orten, ja Welten. Die Problematik, die sich hier andeutet, möchte ich im Sinne eines topologisch verfahrenden Arguments entwickeln und das mit der zentralen Frage nach dem Innen und Außen immer schon ein Verhältnis der Weltenvielfalt impliziert. Was das metaleptische Ende von CAS inszeniert – die Figur Aureliano Babilonia liest sich selbst in einem Text, den man für den Romantext halten könnte –, illustriert eine Qualität des Romans, die ihn vom Epos grundlegend unterscheidet. Zwar bedarf auch der Roman einer Begrenzung ‘seiner Welt’, um von einer anderen Welt als der Lebenswelt zu erzählen; jedoch sind diese aber nicht nur fragile und bewegliche Grenzen, sondern obendrein auch noch gewusste, mithin ironische Grenzen, also Grenzen, die nicht nur für eine binnenlogisch konsistente Darstellung notwendig sind, sondern, qua Metalepse etwa, selbst zum Thema werden, ja zur Disposition gestellt werden können. Die Metalepse, das narrative Beispiel, an dem ich dieses topologische Argument des Romans entfalten möchte, wäre in diesem Sinne in der Topologie des Epos, einer in sich geschlossenen Welt, undenkbar. Der Roman als sich selbst reflektierende Gattung inszeniert also schon auf dieser Ebene ein Moment von Weltenvielfalt, indem hier die Welt des Lesers und die Welt des Romans für einen kurzen Moment im Vollzug der Lektüre koinzidieren. Dieser zweifelsohne besondere Moment legt dabei einen

6 Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben, S. 26. 7 Michel de Certau: Die Kunst des Handelns, S. 215ff. 8 Ebd., S. 218.

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grundlegenden Sachverhalt offen, nämlich den, dass jede Topographie bzw. narratologisch formuliert: jede Diegese im modernen Roman erst in ihrer Transgression zur Geltung kommen kann. Seine Diegese wird also implizit begrenzt durch einen Bezug zu etwas, das binnenlogisch nicht verfügbar sein kann und das heißt: durch etwas, das auch durch eine endlose, aber tektonisch konsistente Erweiterung der Diegese nicht einzuholen ist. Dass also der Roman erst im Vollzug seiner Lektüre begrenzt wird, liegt daran, dass er wohl die narrative Gattung schlechthin stellt, die auf ihre Lektüre hin angelegt ist. Das ist eine folgenreiche Feststellung. Denn die bestimmende Beziehung, die der Roman zu seinem Außen einnehmen kann, wäre die einer Lektüre, die nicht nur versteht, sondern auch diese Überschreitung mitvollzieht. Benjamins Übersetzungs- und Namenstheorie als Ausgangspunkt zu nehmen, ist keine willkürliche Entscheidung. Seine Theorie der Verwandlung, etwas, was bei Kristeva Transpositionen genannt wird, stellt einen «Zusammenhang des Lebens»⁹ ins Zentrum, dem das wie auch immer zu denkende Wesen eines Lebens erst in der Übersetzung und erst in dieser Beziehung über-lebensfähig wird.¹⁰ Wie

9 Benjamin, Walter: Die Aufgabe des Übersetzers. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 10, IV,1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980 [1921], S. 10. 10 «In ihnen [den Übersetzungen, PVO] erreicht das Leben des Originals seine stets erneute und späteste und umfassendste Entfaltung.» (Ebd., meine Kursivierung). Zum Konzept begrifflicher Assoziation vgl.: Pablo Valdivia Orozco: Wiederholte Wiederholung. Assoziationen zu Cavells Kinotheorie. In: Thiele Kathrin/Trüstedt, Katrin (Hg.): Happy Days. Lebenswissen nach Stanley Cavell. München: Fink 2010, S. 292–297. Zum Zusammenhang von Benjamins Namenstheorie und topologischen Figuren vgl.: Jürgen Brokoff: Das Verhältnis von philosophischer und literarischer Sprache bei Hans Blumenberg und Walter Benjamin. In: Almut Todorow/Ulrike Landfester/Christian Sinn (Hg): Unbegrifflichkeit: Ein Paradigma der Moderne. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2004, S. 145–168. Den Zusammenhang von Lebenswissen und literarischer Ästhetik bzw. Roman hat jüngst Ette entwickelt, indem er einen Bogen spannt von strukturellen Fragen – «fundamental-komplexe Systeme» (ebd.: 12) oder auch (literarischen) Verdopplungsfiguren bis hin zu wissenschaftstheoretischen, -historischen. -ethischen und -politischen Aspekten. Vgl. hierzu: Ottmar Ette: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin: Kadmos 2004. Ebenso: Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Hier wird die angesprochene Über-Setzungsfigur ebenfalls als eine Frage des ÜberLebens pointiert, die im «narratologischen wie physischen Sinne» (ebd.: S. 237) die literaturästhetisch alles andere als banale und eindeutige Einsicht formuliert, dass «[u]m eine Geschichte erzählen zu können, […] man sie überleben [muss].» (ebd.) Genau an dieser ja eine gewisse Exteriorität voraussetzenden Stelle würde ich die Problematik des Lebenszusammenhangs verorten. Ebenfalls jüngeren Datums und für das Thema von Belang ist der Beitrag von Campe, der sich fragt, inwiefern das Thema des Romans nicht immer schon das Leben ist und die implizite Theorie des Romans eine des Lebens ist. Vgl. hierzu: Rüdiger Campe: Das Leben des Romans. ‚Leben’ als Thema und Horizont einer Theorie des Romans. Unveröffentlichter Vortrag am Graduiertenkolleg Lebensformen + Lebenswissen. Potsdam: 29.04.2008, S. 3.

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Benjamin in seinem Aufsatz zu Hölderlins Lyrik¹¹ ausführt, ist der Lebensbegriff für jedwede poetische Behandlung deshalb von Bedeutung – und in diesem Sinne soll die in CAS so augenfällige und beständige Thematisierung eines sich selbst überschreitenden Ortes verstanden werden –, da sich die poetische Verwandlung als «ein Übergang von der Funktionseinheit des Lebens zu der des Gedichts [erweist].»¹² Hier ist ein poetologischer Auftrag formuliert, den auch García Márquez differenziert hat, wenn er «una realidad» von «toda la realidad»¹³ unterscheidet. Diese Unterscheidung, die strukturanalog an Benjamins Differenzierung von «Lebenszusammenhang» auf der einen und «individuelle[r] Lebensstimmung»¹⁴ auf der anderen Seite anschließt, bekräftigt aufs Neue den transbiographischen Gestus dieser Frage. Benjamin geht gar so weit, darin einen Wertmaßstab des Poetischen zu erblicken: Es liegt nicht die individuelle Lebensstimmung des Künstlers zum Grunde, sondern ein durch die Kunst bestimmter Lebenszusammenhang. […] je unverwandelter der Dichter die Lebenseinheit zur Kunsteinheit überzuführen sucht, desto mehr erweist er sich als Stümper.¹⁵

Diese qualitative Differenz von Kunsteinheit und Lebenseinheit, diese Verwandlung einer Lebenseinheit in eine Kunsteinheit, wird Benjamin 21 Jahre später, 1936, in der Zeitschrift Orient und Occident, wiederaufnehmen. In Reminiszenz an das Trauerspielbuch ließe sich behaupten, dass er in dieser Verschiebung,

11 Tatsächlich lässt sich an dieser Stelle ein struktureller Zusammenhang zwischen Kristevas Theorie des Textes und Benjamins These der Kunsteinheit bzw. der Übersetzung erkennen. Beide sehen die Möglichkeit einer neuen Signifikation erst dann gegeben, wenn eine semiotische bzw. künstlerische Transformation die Praxis der Signifikation einer lebensweltlich gefestigten Evidenz unterläuft. Dies ist nicht mit dem Eigensinn ästhetischer Zeichenverwendung zu verwechseln, in dem Sinne, dass etwas anders oder ein anderer Aspekt oder gar ein andere Sache artikuliert wird. Vielmehr kommt etwas zum Vorschein, das seinen Bezug zum Leben nicht einbüßt bzw. nur ein ästhetisches Problem ist: das «innerliche Äußere.» Vgl.: Julia Kristeva: Die Revolution, S. 27. Kristeva folgt in diesem Sinne der in Benjamins Übersetzungstheorie behaupteten «Entfaltung». Just dieses Scharnier und vor allem die Bedeutung für eine Theorie der Weltenvielfalt deuten sich in der deutschen Übersetzung von Kristevas Text an: «[…] notwendig wäre […] die Entfaltung eines dialektischen Prozesses zwischen vielen und heterogenen Welten.» (Ebd., S. 28, meine Kursivierung) 12 Walter Benjamin: Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 4, II,1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980 [1915], S. 107. 13 Gabriel García Márquez/Plinio Apuleyo Mendoza: El Olor de la guayaba. Barcelona: Bruguera 1982, S 127. 14 Walter Benjamin: Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin, S. 108. 15 Ebd.

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dieser mehrfachen Verwandlung und durchaus unter dem Eindruck der Romantheorie von Georg Lukács ʽdie Idee des Romans’ erblickt. Das, was die unterschiedlichen Maßstäbe der rohen individuellen Lebenseinheit und der dieses Leben stets überschreitenden Kunsteinheit waren, klingt hier zumindest mittelbar als das Inkommensurable an und nach, indem es die Darstellung des Romans ist, die das «Inkommensurable» des individuellen Lebens ausstellt und schon voraussetzt: Die Geburtskammer des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit […]. Einen Roman schreiben heißt, in der Darstellung des menschlichen Lebens das Inkommensurable auf die Spitze treiben.¹⁶

Die Romanleser können folglich auch nicht einen Rat suchen im Roman, können sich nicht in seiner Geschichte wiederfinden, nicht wirklich eine vermeintlich ursprüngliche, schon vorhandene, nur noch qua Figuration aufzudeckende Lebenseinheit restaurieren: Der Roman […] kann nicht erhoffen, den kleinsten Schritt über seine Grenze hinaus zu tun, an der er den Leser den Lebenssinn ahnend sich zu vergegenwärtigen, dadurch einlädt, ein «Finis » unter die Seiten schreibt. (446)

Die Grenze, von der Benjamin hier spricht, bewahrt also schon strukturell vor jenem, was er die stümperhafte Deckung von Lebenseinheit und Kunsteinheit nennt und ebenso vor jener Deckung zwischen dargestellter Welt und Leseahnung. Und dennoch: so rigoros sich diese Grenze hier geben mag, ist sie doch eine zu überschreitende. Dabei ist jedoch nicht die Deckung dasjenige, was diese Bewegung ermöglicht, sondern eine Über-Setzung. So beschreibt Benjamin noch auf der gleichen Seite, aber schon im nächsten Abschnitt, die Überschreitung dieser Grenze auf eindrucksvolle Weise, das Motiv der Einsamkeit nun am Leser modulierend: Der Leser eines Romans ist aber einsam. […] In dieser Einsamkeit bemächtigt der Leser des Romans sich seines Stoffes eifersüchtiger als jeder andere. Er ist bereit, ihn restlos sich zu eigen zu machen, ihn gewissermaßen zu verschlingen. […] Nicht darum ist der Roman bedeutend, weil er, etwa lehrreich, ein fremdes Schicksal uns darstellt, sondern weil dieses fremde Schicksal kraft der Flamme, von der es verzehrt wird, die Wärme an

16 Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werke Nikolai Lesskows. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 5, II,2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980 [1936], S. 443, meine Kursivierung.

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uns abgibt, die wir aus unserem eigenen nie gewinnen. Das, was den Leser zum Roman zieht, ist die Hoffnung, sein fröstelndes Leben an einem Tod, von dem er liest, zu wärmen.¹⁷

Der Roman wird hier zu einer Wissensform, die zweifache Über-Setzung ist: von der Lebenseinheit in die Kunsteinheit und von dieser – als Lebenszusammenhang – in das Leben der Leser, so dass – quasi unter der Hand – im Zuge einer literarästhetischen Reflexion, das Leben als das bestimmt wird, was sich erst an einer vorzugsweise an Literatur nachzuzeichnenden Überschreitung schärft. Jedoch – und das ist entscheidend – wird diese Übersetzung nicht über den Gehalt eines dargestellten Lebens vermittelt, sondern über die es «verzehrende Flamme» und das meint: durch eine Ebene, die gewissermaßen erst durch die Grenze, ja durch das Ende eines Lebens verfügbar wird. Der Tod ist hier insofern eine logische Notwendigkeit der Lektüre, als es der Lektüre um den Nachvollzug einer Konstitution von Leben geht, die eine Äußerlichkeit zu diesem Leben immer schon voraussetzt. Diese zweifache Über-Setzung und zwar nicht nur sofern sie die ‘Idee des Romans’ ausdrückt, sondern sofern sie den querenden Raum des Romans problematisiert, scheint mir auch in CAS ein zentrales Thema zu sein. CAS hält in diesem doppelten Sinne einer zweifachen Übersetzung ein Wissen über eine von Aracataca her entworfene Welt bereit: Verwandelt in Macondo übersteigt der Roman deshalb das allegorische Wiedererkennen einer angeblich ursprünglichen Lebenseinheit in dem Moment, da das Roman-Macondo auf seine Lektüre und damit auf mehr als auf seinen selbst schon zu übersetzenden Gehalt hin entworfen ist. So lässt sich geradezu Punkt für Punkt das Ende dieses Romans begreifen: Aureliano Babilonias Tod, notwendige Folge der Selbst-Übersetzung des Romans, vermittelt nicht nur den Romantext, sondern trägt im metaleptischen Umschlag das ihn verzehrende Feuer auf denkbar radikale Weise in die Welt des Lesers. Damit ist eine bestimmte Form der Transgression angesprochen, die sich, so esoterisch sie hier klingen mag, literaturästhetisch und auch literaturkritisch sehr wohl bestimmen lässt. Ausgehend von García Márquez’ Selbstkritik an seinen früheren Werken, eine Kritik, die man mit gutem Grund auch als diejenige begreifen kann, die der Kolumbianer an die Poetik des costumbrismo richtet und die sehr an das erinnert, was Benjamin als «stümperhafte» Poesie bezeichnet hat, lässt sich diese Transgression auch als eine mit der Romangattung beson-

17 Ebd. S. 446–447.

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ders notwendig werdende beschreiben. So behauptet der Kolumbianer im Gespräch mit seinem Jugendfreund Plinio Mendoza Apuleyo: Por buenos o malos que parezcan, son libros que acaban en la última página. Son más estrechos de lo que yo me creo capaz de hacer.¹⁸

Diese Bestimmung, die sich wie eine Programmatik der Metalepse liest, bringt die Frage nach den Grenzen der fiktiven Welt ins Spiel oder genauer: die Frage nach dem Ort, an dem sie verhandelt werden. In welchem Sinne? Wenn man behauptet, dass ein gutes Buch nicht mit seiner letzten Seite endet, dann ließe sich dies einmal in dem Sinne deuten, dass sich die Konsistenz einer fiktiven Welt weniger der Tatsache verdanken kann, dass die Romanwelt sinnvoll ist, sondern vor allem der Tatsache, dass sie ein Moment der Schließung fingieren kann, das wiederum nur durch den Akt der Lektüre eingelöst wird und so gewissermaßen erst außer sich endet. Das verhindet schon strukturell, im Roman eine allzu einfache Figurierung der «individuellen Lebensstimmung» zu erblicken. Andererseits ist auch das genaue Gegenteil der Fall. Soll die Romanwelt nicht mit ihrer «letzten» Seite enden, dann bedeutet das, dass sie nicht nur nicht eine Figuration einer pseudo-ursprünglichen Lebenseinheit sein kann, sondern auch, dass sie keineswegs eine von allen Zwängen entlastete Welt sein kann, die allen Sinn der Lektüre überantwortet. Vielmehr hat das Buch selbst schon seine eigene Schließung zu fingieren. Nur in diesem schon im Text antizipierten BeSchluß, der wie im Falle von CAS durch die Selbst-Lektüre des Romans denkbar explizit wird, behauptet der Text einen gegen die Lektüre gerichteten Widerstand, der es nicht nur unmöglich macht, dass der Text mit seiner Lektüre aufgeht, sondern als sich entziehender Schluss gerade nicht auf der letzten Seite endet. Nicht «lehren» soll ja der Roman, sondern etwas Inkommensurables darstellen und in dieser Darstellung eine Ahnung des «Lebenssinns» ermöglichen. Auch hierfür findet sich ein passendes Zitat des Nobelpreisträgers. Nur wenige Seiten nachdem er gefordert hat, dass die Bücher über sich hinausreichen sollen, hält García Márquez eine innere Konsistenz der Roman-Welt für unverzichtbar: Con el tiempo descubrí, no obstante, que uno no puede inventar o imaginar lo que le da la gana, porque corre el riesgo de decir mentiras, y las mentiras son más graves en la literatura que en la vida real.¹⁹

18 Gabriel García Márquez/Plinio Apuleyo Mendoza: El Olor, S. 127. 19 Ebd., S. 133.

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Die innere Konsistenz der Roman-Welt ist also ebenso Effekt wie Voraussetzung einer bestimmten Art von Lektüre. Weder geht es um eine Lektüre, die eine komplett andere Welt erfasst, noch um eine, in der etwas wiedererkannt wird, noch eine, die einfach nur aufs subjektive Verstehen verkürzt werden kann. Stattdessen, in einer Verhältnisse befragenden Lektüre, wird Verwandlung das Thema dieser Lektüre. Genau um diesen Verwandlungen einen Ort zu geben, hat Benjamin – so meine ich – sowohl in seinem Hölderlin-Aufsatz als auch im Erzähleraufsatz den Begriff des Lebens ins Spiel gebracht. Ja mehr noch: Verwandlung ist für Benjamin nur als eine Funktion des Lebens denkbar und kommt womöglich erst im Roman zu einer ihr entsprechenden Darstellung. Nicht umsonst hat Walter Benjamin behauptet, dass [w]enn es eine Muse des Romans gibt – die zehnte –, so trägt sie die Embleme der Küchenfee. Sie erhebt die Welt aus dem Rohzustande, um ihr Eßbares herzustellen, um ihr ihren Geschmack abzugewinnen.²⁰

In einer außergewöhnlich vieldeutigen Stelle thematisiert auch García Márquez das Thema der Verwandlung. Die erste Verwandlung, von der die Rede ist, betrifft die der erinnerten Kindheit und Erzählungen in einen literarischen Stoff und in eine literarische Technik. Diese verweist selbst auf Die Verwandlung als Titel einer Erzählung und weist die Möglichkeit, die Fähigkeit zur Verwandlung als eine literarische Initialerfahrung aus: [P. Mendoza Apuleyo] – ¿Fue ella [la abuela, PVO] la que te permitió descubrir que ibas a ser escritor? [GGM] – No, fue Kafka que, en alemán, contaba las cosas de la misma manera que mi abuela. Cuando yo leí a los diecisiete años La metamorfosis, descubrí que iba a ser escritor. Al ver que Gregorio Samsa podía despertarse una mañana convertido en un gigantesco escarabajo, me dije: «Yo no sabía que esto era posible hacerlo. Pero si es así, escribir me interesa.».²¹

Das Motiv der Verwandlung ist gleich in mehrfacher Hinsicht interessant: Zunächst ist es als Motiv mindestens auf drei Aspekte beziehbar: Erstens, die Verwandlung des Erzählten durch den Ton der Großmutter, zweitens, die Verwandlung des großmütterlichen Tons durch die Lektüre Kafkas wie auch eine bestimmte (V)Erkennung und auch Veränderung der kafkaesken Prosa und drittens, die Profilierung all dieser Punkte an dem Motiv der Verwandlung selbst,

20 Walter Benjamin: Der Erzähler, S. 436. 21 Gabriel García Márquez/Plinio Apuleyo Mendoza: El olor, S. 41.

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also an der literal erzählten Verwandlung. Darüber hinaus und viertens evoziert diese Verwandlung noch ein weiteres Motiv, das die Präsenz oder auch – im weiteren Sinne – den Ort der Erzählung selbst betrifft. Gemeint ist das nicht unmittelbar aus dieser Stelle herauszulesende Motiv des Erwachens, mit dem ja Gregor Samsas Verwandlung beginnt. Dieses zitiert García Márquez explizit, wenn er im gleichen Interview behauptet, beim Aufwachen, besonders in Hotels, nicht zu wissen, ob er nicht wieder in dem Haus der der Großeltern ist, also in einem Haus, das dann womöglich selbst mobil geworden ist bzw. auch jenseits seiner Grundmauern fortlebt. Schließlich und fünftens erfährt das Motiv der Verwandlung noch eine weitere, sich auf eine dem Leben eingelassen Transgression beziehende Wendung, wenn García Márquez präzisiert, was dem erinnerten Aracataca im Namen Macondos, im Akt der narration (Genette 1998) also, als Funktion eingelassen ist: Siempre, en la buena literatura, encuentro la tendencia a destruir lo establecido, lo ya impuesto y a contribuir a la creación de nuevas formas de vida […]²²

Diese sprichwörtlichen Über-Setzungen des Romans und das Bekenntnis zur Verwandlung qua literarischer und lebensweltlicher Übersetzung, all diese Über-Setzungen werden in CAS – und zwar explizit – sowohl als metanarrative Pointe als auch (und der Metapher des «Eßbaren» zu ihrem Recht verhelfend) als eine Frage des (Über-)Lebens behandelt. Der Roman endet mit (s)einer Über-Setzung, d.h.: zum einen wird der Romantext durch Melquíades’ Manuskripte als ein sprichwörtlich zu übersetzender Text präfiguriert. Aureliano Babilonia, der diese schließlich übersetzt, zahlt dafür mit seinem Leben. Zum anderen ist damit eine tektonische Über-Setzung gemeint, indem die Metalepse den Umschlag in die Welt des Leser, sprich: eine jeweils andere Lebenswelt, inszeniert, wo dieser Tod vielleicht «wärmend» wirken kann. Wie zentral dieses Motivs eines sich übersteigenden Ortes ist und wie notwendig es ist, die «Welt aus dem Rohzustande» (und das meint hier: aus einem Zustand der Welteneinheit) zu entheben, kündigt sich leitmotivartig in der Geschichte von Cien Años de Soledad an. Schon in den ersten Entwürfen spielt der Ort der Erzählung eine zentrale Rolle. Der 18jährige García Márquez betitelte in den 40er Jahren ein Romanprojekt mit La casa, weil der Roman sich nur auf das Haus der Buendía beschränken sollte.²³ Die Familiengeschichte würde sich mit

22 Gabriel García Márquez/Mario Vargas Llosa: La novela en América Latina: diálogo. Lima: Milla Batres 1968, S. 8. 23 Gabriel García Márquez/Plinio Apuleyo Mendoza: El olor, S. 105.

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der des Hauses komplett decken und das gleich in einem doppelten Sinne: nicht nur als die Geschichte, die im Haus sich ereignet, sondern auch als die Geschichte eines totalen Raumes, der sich durch die sich ablösenden und in ihm zusammenlaufenden und vollendenden Geschichten konstituiert. Wenn auch nur entfernt, so deutet sich hier schon an, was am Ende in CAS seine endgültige Form findet und einen fundamentalen Schluss zulässt. Macondos Geschichte geht zu ihrem Ort, dem Haus der Buendía, ein offenbar symbiotisches Verhältnis ein. Hier wie dort verhandelt der Roman die Frage des sprichwörtlichen Lebenszusammenhangs (sym-bios) seiner Geschichte anhand der Ordnung eines Hauses. Umso entscheidender ist es, dass genau dies, die räumliche Ordnung des Hauses, jenes narrative Element ist, das die größten Veränderungen in den folgenden 20 Jahren erfahren hat und am Ende tatsächlich eine topologische Fragestellung zulässt. Die verschiedenen Etappen der (räumlichen) Entwürfe lassen sich so wie eine weitere, supplementäre Geschichte des Romans lesen. Diese erzählt von der Genese eines narrativen Raumes, die mit dem Thema bzw. der Sache der histoire nicht zu verstehen ist. Denn auch wenn diese andere Geschichte ohne die histoire nicht entzifferbar bzw. immer auf diese bezogen ist und folglich ohne sie auch nicht zu formulieren ist, also nicht ohne das auskommt, was Benjamin den Sachgehalt des (literarischen) Werkes im Unterschied zu seinem Wahrheitsgehalt²⁴ nennt, geht es bei der Frage des narrativen Raumes und seinen Über-Setzungen um Ansprüche, die García Márquez an die Ästhetik des Romans stellt und eben nicht nur an die Logik einer Erzählung. Der Raum nimmt hier also eine gewissermaßen metaliterarische Funktion ein, die er gerade dadurch einnehmen kann, da die jeweiligen Differenzen der Entwürfe für die histoire nicht von grundlegendem Belang sein müssen, sondern auf das Darstellungsproblem des Romans rekurrieren. In diesem literatur- und romanrästhetischen Sinne also kann die Genese dieses Raumes und seine Bedeutung für eine roman- wie auch kulturtheoretische Reflexion fruchtbar gemacht werden. Die Geschichte des récit, des Romantextes also, findet ihr Signifikat in der histoire, als Signifikant aber ist dieser Text nicht geschichtslos, sondern erzählt eine weitere Geschichte, die sich in seiner eigenen Genese und Struktur andeutet und die statt im Signifikat der histoire aufzugehen, dieser eine weitere Bedeutung verleiht. So sollten, auch wenn diese Vorgeschichte prägend gewesen ist und auch der Name Macondo schon des Öfteren in früheren Werken zu lesen war, vor allem die Unterschiede zwischen die-

24 Walter Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 1, I,1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980 [1924–1925], S. 127.

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sem Entwurf und dem Roman im Vordergrund stehen und weniger die Parallelen oder die Extrapolierung eines mythologischen Raum-Motivs.²⁵ Um also die Spezifik der macondinischen Topologie in CAS erfassen zu können, ist nicht eine genetische Herleitung herauszulesen, sondern vielmehr die Differenz der jeweiligen topologischen Verhältnisse zu deuten. Das lokal verdichtete Design von La casa hätte die Erzählung der Buendía zweifelsohne zu einer anderen, mit CAS nur schwerlich vergleichbaren Geschichte gemacht, sowohl was die kulturtheoretisch wie auch immer zu allegorisierende Diegese als auch was die Rezeptionsgeschichte und -wirkung des Romans betrifft. Ein so verkürztes und begrenztes Macondo wäre leicht als eine vollkommen in sich geschlossene Welt zu lesen, deren atmosphärische Dichte wohl eher an die allegorischen Parabeln eines Kafkas erinnern würde. Darüber hinaus würde der Text dieses Hauses den Lesern wie ein zeitloses Dokument gegenüberstehen, dessen kunstvolle Gestaltung auch nichts daran ändern würde, darin die Beschreibung einer Welt zu lesen, die mit der Welt des Lesers, falls überhaupt, nur als phantastische Allegorie einer geschichtslosen Existenz in eine kontrastierende Verbindung gebracht werden könnte. Mit einem Wort: Die Topologie von La casa hätte den Roman eher zu einem lokalen Mythos und Epos gemacht und – möchte man Bachtin²⁶ folgen – ihn aufgrund dieser Lokalität gar um seine Qualität als Roman gebracht und auch jenes, was ich mit Benjamin den Lebenszusammenhang genannt habe, binnendiegetisch verkürzt. Entgegen zahlreicher Lektüren des Romans, gilt es zu betonen, dass es García Márquez bei dieser Erzählung wohl nicht nur um ein Setting für seine phantastische Erzählung ging, sondern auch um die Frage, wie und ob sich der Raum zu (s)einer Geschichte und Umwelt verhält.²⁷ Dieser dem Ort selbst eingeschriebene translokale, das binnenräumliche Bezugsnetz übersteigende Aspekt wird

25 In diesem Sinne unterscheidet sich Dieter Janiks Fragestellung von meinem topologischen Ansatz grundlegend. Das Haus ist aus meiner Perspektive nämlich alles andere als ein konstanter, über alle Textsorten hinweg gleichermaßen profilierter mythischer Topos. Eine solche Annahme würde die Spezifizität des buendiaschen Haus nicht berücksichtigen können und auch nicht die romantheoretische bzw. poetologische Relevanz literarischer Topologien. Siehe hierzu: Dieter Janik: Gabriel García Márquez: ‘Cien años de soledad’. In: Volker Roloff/ Harald WentzlaffEggebert (Hg.): Der hispanoamerikanische Roman; Bd. 2: Von Cortázar bis zur Gegenwart. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1992. 26 So geht beispielsweise Bachtin gar so weit, einen zyklischen Chronotopos, der lokal begrenzt bleibt und in dieser Begrenzung zeitlose Wiederholungen zulässt, als strukturelles Prinzip eines Romans auszuschließen. Die besondere Ironie besteht nun darin, dass ein Großteil der Sekundärliteratur genau dies tut, also Macondo streng lokal liest oder zumindest als eine stabil begrenzte Örtlichkeit. 27 Vgl.: Gabriel García Márquez/Mario Vargas Llosa: La novela en América Latina, S. 49.

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einige Jahre später explizit, als García Márquez den Schauplatz um eine entscheidende Bewegung erweitert. In der 1950 verfassten Notiz La casa de los Buendía (Apuntes para una novela) ist es eine zurückkehrende Figur, die die Erzählung auslöst. Ähnlich dem fremden Sohn in Rulfos Comala löst nun der im Krieg fremd gewordene Oberst mit dieser Bewegung – anders als in La casa – eine Überblendung der zeitlichen Ebenen von Erinnerung und verfallener Gegenwart aus.²⁸ Durch diese Öffnung des Hauses wird die Raumgeschichte des Haus etwas komplexer und zwar nicht nur, weil verschiedene Zeitebenen sich überlagern. Darüber hinaus steht das Haus jetzt insofern in einem bestimmten Verhältnis zu seiner (Um-)Welt, als es nun einen Ort darstellt, in den man nur zurückkehren kann, selbst wenn aus ihm kein Weg mehr herausführt. Diesen Aspekt wird García Márquez auch noch für CAS betonen: «[…] para mí –no sé, espero que algún crítico lo descubra – Macondo es más bien pasado […]»²⁹ Doch auch die Verkürzung auf diesen Aspekt der macondinischen Geschichte stößt an ihre Grenzen, genauer: an die nach wie vor lokalen Grenzen eines Macondo, dessen Vergangenheit ebenso bezugslos zu einer transmacondinischen Gegenwart geblieben wäre wie das Haus von La casa zu dem, was außerhalb von ihm ist. In dieser Fassung, die anschaulich für ein so gut wie gar nicht vernetztes und vernetzendes Weltbewusstsein (Ette) steht, wäre La casa de los Bunedía durchaus dafür geeignet, die allegorische Vorgabe für das ethnologische Dispositiv³⁰ lateinamerikanischer Literatur zu liefern. Von außen in diese Welt kommend und schauend und sich selbst nicht verortend, ist der ethnologische Blick auf Suche nach den Mythen, welche diese andere Welt und das Leben in ihr bestimmen. Der Literatur fiele dann die Aufgabe zu, diesen mythologischen Text explizit zu machen, für eine Mythendeutung lesbar zu machen. Gegenstand der kritischen Lektüre wären solange und tatsächlich Mythen wie diese in ihrer apokalyptischen Isolation eine Alternativlosigkeit manifestieren, die Geschichte als Fort-Setzung von vorneherein ausschließt und das meint: wie die Frage der Weltkonstitution lediglich auf diese eine Welt beschränkt bleibt.³¹

28 Gabriel García Márquez: La casa de los Buendía (Apuntes para una novela). In: Ders.: Obra periodística 1: Textos costeños (1948–1952). México D.F.: Editorial Diana 1981 [1950], S. 702. 29 Gabriel García Márquez/Mario Vargas Llosa: La novela en América Latina, S. 54. 30 Roberto González Echevarría: Mito y archivo, S. 20f. 31 Auch wenn González Echevarría nicht stringent zwischen diskursiven und produktionsästhetischen Zusammenhängen unterscheidet, beschreibt er dieses Dispositiv auf sehr konzise Weise an einem lokalen Verständnis von Macondo: «El natural está en posesión de relatos inmemoriales para explicar su inalterable sociedad. Estos relatos, estos mitos, son como los de Occidente en el pasado distante, antes de que se transmutaran de teogonía en mitología. La novela latinoamericana moderna está escrita a partir del modelo de estos estudios antropológicos. […]

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Eine solche Lektüre verkennt den literarischen Text als Dokument, da sie jene unverzichtbare Bewegung, die erst das Außen des anthropologischen Blicks einzurichten erlaubt, nur dem Schauenden zuschreibt, nicht aber als eine vom Text inszenierte und auch ironisierte denken kann. Vor diesem nur knapp umrissenen literatur- und kulturtheoretischen Hintergrund ist es erst recht aufschlussreich, dass sowohl La casa als auch La casa de los Buendía nie über einen Entwurf hinausgekommen sind.³² Das topologische Design von La casa de los Buendía hinterlässt jedoch manifeste Spuren: 1954 wird La hojarasca, «el verdadero antecedente de Cien años de soledad»³³,

la novela latinoamericana moderna transforma la historia de América Latina en mito originario a fin de verse a sí misma como el otro que todavía habita el comienzo. La teogónica familia Buendía de Cien años de soledad debe su organización a este fenómeno, al igual que el concepto mismo de Macondo, que evoca los village studies comunes en la etnografía.» (Ebd., S. 39–40.) 32 Dass sich García Márquez gegen diesen ersten Entwurf entschieden hat, gilt es auch deshalb zu betonen, da viele Arbeiten zu dem Roman ihn so lesen, als wäre dem nicht so gewesen. Zuletzt hat im deutschsprachigen Raum Matzat mit einer implizit streng arealen Perspektive eine motivgeschichtliche Linie der «lateinamerikanischen soledad» gezogen. Trotz ihrer geradezu hemisphärischen Dimension enthält diese Studie keinen Verweis darauf, weshalb diese Einsamkeit stets auf eine raumtheoretisch wenig differenzierte und doch räumlich indizierende Anthropologie der «lateinamerikanischen soledad» zu beziehen ist. Vgl. hierzu: Wolfgang Matzat: Lateinamerikanische Identitätsentwürfe: essayistische Reflexion und narrative Inszenierung. Tübingen: Narr 1996, S. 85 ff. Die einzelnen Modelle städtischer oder tropischer Einsamkeit werden so zu Spielarten jener anthropologisierten Kategorie, die eine transareale oder transkontinentale Überschreitung als ein Kennzeichen literarischer Ästhetik nicht zu berücksichtigen erlaubt, somit eine alte Crux der Area Studies umsetzend. In der Lateinamerikanistik wiederholt Ainsa dieses Dispositiv, wobei er interessanterweise die Diagnose Echevarrías umkehrt, da er gerade im anthropologischen Diskurs den Eintritt in die Universalität und die Überwindung des Lokalen erkennt. Das Lokale wiederum macht er vor allem an der sozialistisch-realistischen Darstellung von Dörfern fest, die, unfähig eine Universalität qua eigener Mythologie zu beanspruchen, nur Verfall thematisieren kann. Vgl.: Fernando Ainsa: Macondo más allá de la geografía y del mito. In: Cobo Borda, Juan Gustavo (Hg.): «…Para que mis amigos me quieran más» Gabriel García Márquez. Testimonios sobre su vida. Ensayos sobre su obra. Bogotá: Siglo de Hombres Editora 1992, S. 81–86. Dort heißt es: «Salir, por fin de esos pueblos descritos por la narrativa realista y descubrir, detrás de las indiscutibles miserias y los problemas sociales que los afligían, la dimensión mítica antropológica que desbordará la visión restrictiva del economicismo, el ideologismo y el sociologismo reinante. Hacer participar al hombre de nuestra tierra de la condición humana universal a la que tenía derecho, más allá de la especificidad con que definía su identidad latinoamericana. […] Con la invención de Macondo […] resultó evidente que los pueblos de la ficción latinoamericana ya no podrían ser lo que habían sido hasta entonces: el simple receptáculo donde se condensaban, hasta transformarse en verdaderos estereotipos, los males del continente que había que denunciar –miseria, explotación, injusticia– en cuentos y novelas del llamado ‘realismo social’.» (Ebd., S. 81) 33 Gabriel García Márquez/Mario Vargas Llosa: La novela en América Latina, S. 47.

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die am Haus inszenierte Überschneidung narrativer Stimmen und Positionen im Inneren eines Hauses umsetzen. Allerdings ist es nicht mehr die Bewegung der Rückkehr wie noch in La casa de los Buendía, sondern die Bewegung von drei Generationen in das Haus des verstorbenen Arztes, vor dessen Anblick sich die inneren Monologe schließlich zusammenschließen. Doch selbst mit der diegetischen Erweiterung durch den zurückkehrenden Oberst bzw. durch die in ein anderes Haus eintretende Familie sah sich die Diegese des eigentlichen Romanprojekts vor zwei schier unlösbare narrative Herausforderungen gestellt: Zum einen sollte die gesamte Familiengeschichte, zentriert um die Hauptfigur des Oberst Aureliano Buendía, gleichzeitig zugegen sein, im Haus sich ereignen und das, obwohl die Geschichten Macondos bzw. die der Buendía alles andere als bloß lokale Geschichte sind. Zum anderen und womöglich folgenreicher bliebe diese Geschichte, die García Márquez schon als Jugendlicher verfolgt hat, in diesen Fassungen selbst bezugslos, etwas, was nicht über sich selbst hinaus zu problematisieren wäre, jene Transgression aussparend, die ich eingangs als eine für den Roman konstitutive angenommen habe. In dieser Bezugslosigkeit nun wäre die Geschichte der Buendía um eben jene Qualität gebracht, die García Márquez überhaupt erst dazu drängte, Macondos Geschichte aufzuschreiben. Gemeint ist die ständige Präsenz Macondos in jenem, was García Márquez ‘Wirklichkeit’ genannt hat und in welcher Macondo erst zu jenem, nunmehr mobilen «estado de animo» werden kann, «que le permite a uno ver lo que quiere ver, y verlo como quiere»³⁴. Und das meint selbstredend auch ‘desde donde uno quiere’. García Márquez löst dieses Problem, indem er die Einheit des Ortes aufgibt und das gleich auf mehreren Ebenen: Zum einen auf der Ebene der Handlung, indem er diese auch außerhalb des Hauses und auch außerhalb Macondos verlagert. Macondo wird so in einem bestimmten kulturellen und historischen Kontext lesbar wie es umgekehrt diesen auch erst lesbar macht. Dies geht insofern um eine bloße Kontextualisierung hinaus, als auch die Frage des Kontextes selbst zum Thema wird. Die Welt aus der Lokalität Macondos wahrzunehmen und gemäß seiner Phänomenologie zu strukturieren, ist eine Beschreibung und Erzählung der Welt, die nicht mit dem Verweis auf einen bestimmten Ort einzuholen ist ganz so wie die Perspektive nicht einfach eine Verzerrung von etwas eigentlich Vorhandenem ist, sondern manches überhaupt erst sichtbar macht.

34 Gabriel García Márquez: La realidad escondida. In: Wallrafen, Hannes: Una jornada en Macondo. Bogotá: Villegas Editores 1992. S. 1.

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Die histoire wird also selbst noch einmal auf etwas beziehbar, das ihr logisch äußerlich ist. Zum anderen erfolgt eine erzähltechnische Veränderung: García Márquez unterscheidet und trennt den Ort der Erzählung vom erzählten Ort.³⁵ Dabei – so die These – wird dieser Äußerlichkeit der Narration, also die Exteriorität des Erzählortes, nicht einfach implizit durch zum Beispiel eine intertextuelle Schreibweise angezeigt, sondern wird auch binnendiegetisch in ein bestimmtes Verhältnis zum erzählten Ort gesetzt, so dass die eigentlich unverfügbare Äußerlichkeit der Narration Teil der macondinischen Geschichte ist und anhand der Topologie des Hauses figuriert und verhandelt wird. Die zu entziffernden Manuskripte, ‘Grundlage’ des Romans, werden von Melquíades in seiner Kammer verfasst, einem besonderen Ort innerhalb des Hauses der Buendía. Die Erzählung des Romans setzt folglich nicht nur deshalb aus einem anderen als dem erzählten Ort an, da sie – anders als es die vermeintliche Oralität seiner Erzählweise mitunter suggerieren mag – irreduzibel an das Ereignis der Schrift gebunden ist und sich dadurch erst konstituiert. So liegt die besondere Pointe des Romans darin, dass er diesen der Erzählung notwendigerweise äußerlichen Ort des Erzählens in ein topologisch-positives und eben nicht bloß negativ-logisches Verhältnis zu set-

35 Erstmals greift das Begriffspaar Erzählerraum/erzählter Raum – inspiriert von Günther Müllers mittlerweile kanonischem Doppel von Erzählzeit und erzählter Zeit – Maatje auf. Vgl. hierzu: Frank Ch. Maatje: Der Doppelroman. Eine literatursystematische Studie über duplikative Erzähltrukturen. Groningen: J. B. Wolters 1964, S. 30. Dabei behandelt er einen hier sehr wichtigen Aspekt: die Logik des Romans ist stets gedoppelt. Allerdings bleibt wie in vielen weiteren Arbeiten zum Thema – so etwa in: Elisabeth Bronfen: Der literarische Raum. Eine Untersuchung am Beispiel von Dorothy M. Richardsons Pilgrimage. Tübingen: Niemeyer 1986; Ursula ReidelSchrewe: Die Raumstruktur des narrativen Textes: Thomas Mann Der Zauberberg. Würzburg: Königshausen & Neumann 1989; oder auch: Nicola Westphal: Literarische Kartografie: Erzählter Raum in den Romanen Uwe Johnsons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007 – die absolute Grenze des Textes insofern bestehen, als es stets um Figurationen von Räumen geht und weniger um die stets transgressive, also auf konzeptueller Ebene transareal wirkende Performanz und Allegorisierung von Erlebnisräumen und dem entsprechend auch Erlebniszeiten. So schreckt Maatje vor seiner eigenen Begrifflichkeit zurück, wenn er anmerkt: «Als ‚Erzählraum‘, als Raum, aus dem heraus erzählt wird, wäre allenfalls die Welt des wirklichen Erzählers, des Autors also, zu bezeichnen. Dieser ‚Erzählraum‘ liegt aber außerhalb des Werkes und deswegen außerhalb des Blickfeldes des Strukturforschers. Eine Spannung zwischen diesen beiden Räumen kann innerhalb eines Werkes nicht vorhanden sein, weil sie eine ganz verschiedene Seinsweise haben.» (Ebd., S. 30–31.) Dem möchte man fast entgegnen: Gerade weil es um zwei verschiedene Seinsweisen geht, ist innerhalb des Werkes eine Spannung angelegt. Dass ich andererseits den Terminus des Ortes vorziehe, liegt daran, dass ich – de Certeau folgend – den Raum erst in jenem sehe, was narrativ produziert wird, also in der Konstellation, welche durch verschiedene Orte vermessen wird.

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zen sucht. So gesehen ist es nur folgerichtig, dass der Roman mit seiner eigenen Entzifferung endet und damit den Moment seiner Lektüre ebenso antizipiert wie thematisiert, also jene zum Schreibakt komplementäre Äußerlichkeit. Das sich im Laufe der verschiedenen Entwürfe immer weiter ausdifferenzierende und expliziter manifestierende Thema der narrativen Exteriorität und damit das Motiv räumlicher Pluralisierung ist kein Einzelfall in García Márquez’ narrativer Prosa. Sehr aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass die Erzählung Un hombre viene bajo la lluvia, am 02.05.1954 in Bogotá publiziert und wohl 1952 geschrieben, eine ähnliche Lösung dieses narrativen Problems illustriert. Diese Erzählung ist eine spätere Fassung der am 19.05.1950 in Barranquilla veröffentlichten Erzählung El huesped. Während die erste Fassung sich auf einen Raum beschränkt und in diesen all jene Geschichten projiziert, die mit den gegenwärtigen Personen benannt sind, verteilt die zweite Fassung die Handlung auf mehrere Räume, denen auch andere Zeitlichkeiten zugeordnet werden.³⁶ In El huesped wird bezeichnenderweise der Weltbegriff in einem literarischen Zusammenhang verwendet und zwar als ein Begriff, der sich auf die Dimension der einen Welt bezieht. Das Haus, in das der Fremde tritt, wird über sein Wohnzimmer beschrieben, das einem «cuadro de silencio encerrado» gleicht und dessen Verschluss dazu führt, dass sowohl der Fremde wie auch der Leser in eine fremde Welt eintritt: […] un mundo distinto, un universo independiente del otro, suelto, desbocado, que estremecía los árboles en el camino»³⁷

El hombre que viene bajo la lluvia integriert dieses Verhältnis in die Erzählung, da nun in dem hinteren Zimmer eine andere Zeit vergeht als in dem Zimmer, in dem die Gegenwart, wenn auch anders als gedacht, einbricht. Leicht kann man hier die Präfiguration einer für CAS entscheidenden Gestaltung des Raums erkennen. Die Ordnung des narrativen Raumes allegorisiert verschiedene Zeitebenen – in diesem Fall die Zeit der Hintergrundhandlung und die Zeit des Ereignisses. In CAS wird diese Ordnung noch durch Melquíades’ Kammer um einen

36 Rincón entnehme ich diesen Vergleich. Allerdings thematisiert Rincón aufgrund seines mythologischen Zugangs die Differenz der topologischen Modelle allenfalls implizit. Vgl. hierzu: Carlos Rincón: Gabriel García Márquez – Mythologe und Wundertäter. In: Koenigs, Tom (Hg.): Mythos und Wirklichkeit. Materialien zum Werk von Gabriel García Márquez. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1985, S. 249–292. 37 Gabriel García Márquez: El huesped. In: Ders.: Obra periodística 1: Textos costeños (1948– 1952). Barcelona: Bruguera 1981 [1952], S. 219.

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Raum erweitert, der als metaliterarische Allegorie sich auf Schreib- und Lesezeit bezieht. Eine andere Genealogie für die Unmöglichkeit eines in sich geschlossenen Raums hat am übermächtigen Modell jener totalen narrativen Einheit anzusetzen, die sich in der Figur der Großmutter verdichtet. Ihren Erzählungen ist nämlich gleich eine mehrfache Vereinigung diverser Zeitstränge und Raumlogiken eigen. Nicht nur hat sie in ihrem eigenen Haus all jene Geschichten aufleben lassen, die García Márquez fortan mit dem großelterlichen Haus verbinden sollte und die eine von ihm oft erwähnte Quelle des Romans stellen. Darüber hinaus waren auch die Erzählungen selbst von zeitlichen und ontologischen Überlagerungen geprägt. Tote Verwandte hausten in verlassenen, nie wieder benutzten Zimmern und nachts verließen sie diese, so dass der junge Gabriel angehalten war, sich nicht aus seinem Zimmer zu wagen. Damit wird eine weitere Überlagerung einsichtig, die sich auf die Differenz von vertrauter Erzählung und erlebter Geschichte, von gelebter Erzählung und erlittener Geschichte bezieht, die also zwei Modi narrativen Erlebens oder auch: zwei Verhältnisse zu narrativen Welten präfiguriert: […] la zozobra nocturna. Era una sensación irremediable que empezaba siempre al atardecer, y que me inquietaba aun durante el sueño hasta que volvía a ver por las hendijas de las puertas la luz del nuevo día. No logro definirlo muy bien, pero me parece que aquella zozobra tenía un origen concreto, y es que en la noche se materializaban todas las fantasías, presagios y evocaciones de mi abuela. Esa era mi relación con ella: una especie de cordón invisible mediante el cual nos comunicábamos ambos con un universo sobrenatural. De día, el mundo mágico de la abuela me resultaba fascinante, vivía dentro de él, era mi mundo propio. Pero en la noche me causaba terror.³⁸

Anders als noch in El huesped wird die andere Welt dieses Mal in Bezug gesetzt, wird also nicht in einer absoluten Alterität präsentiert, sondern relational auf die eigene Welt («mi mundo propio») hin entworfen. Von Interesse ist, dass die Welt nur dann zur eigenen wird, wenn man gerade nicht – wie im Terror der Nacht – in ihr ist, sondern wenn man in ihr leben kann oder – wie es García Márquez mal in seiner Nobelpreisrede formuliert hat – mit dieser anderen Welt bzw. Wirklichkeit leben kann. Sie im Spiel zu beherrschen, in ihr gestaltend zu leben, ist eine Position, die sich deutlich von einer mythisch-magischen Geschichtserfahrung unterscheidet. Das Narrative von einer solchen mythischen Verfassung zu entlasten, ist für García Márquez der wohl entscheidende Einsatz von literarischer Praxis.

38 Gabriel García Márquez/Plinio Apuleyo Mendoza: El olor, S. 17.

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Allerdings hat dieser Austritt aus dem Mythos seinen Preis, einen Preis, der in der Romantheorie zu einem klassischen Topos gehört. So wie Rulfos Comala dadurch erzählbar wird, dass die Perspektive des mit dem Ort verwandten, aber doch ortsfremden Juan Preciado eingenommen wird, so schließt auch die literarische Erzählung Macondos eine Verlusterfahrung ein, die insofern nicht zufällig auf eine literarische Lösung rekurriert, als der Roman eine exzentrische Position zur erzählten Welt ebenso ermöglicht wie auch voraussetzt.³⁹ Anders als in Comala jedoch zeichnet sich die mit dem Ort Macondo benannte Geschichte nicht nur durch zeitliche-imaginäre Überlagerungen aus, die durch die Bewegung des fremden Rückkehres explizit werden, sondern darüber hinaus auch durch diverse Raumbezüge, die von lokalen, regionalen, nationalen bis hin zu arealen und transarealen Einbettungen und Querungen bestimmt werden.⁴⁰ Das Haus der Buendía – was auch immer dem in Aracataca entsprochen haben mag – ist spätestens dann nicht mehr Ausgangspunkt und Zentrum der Erzählung, sondern ein Ort, der nur noch literarisch adressierbar ist, der erzählt werden kann, gerade weil er nicht mehr unmittelbar «im Rohzustande» existiert, ja mehr noch, der als Ort nur noch in der Überlagerung mit anderen, real existierenden zugegen sein kann. Wenn der Kolumbianer also den Erzählton der Großmutter übernimmt, dann ist das schon eine zitierende Übernahme, eine, die dazu dient, diesen Ton, dieses Verhältnis zur Erzählung selbst in ein Verhältnis zu setzen bzw. diese Art von erinnerter und gelebter Geschichte selbst als Bezugspunkt zu etablieren. So ist für den Romanautor García Márquez die Erzählerposition der Großmutter schon deshalb keine Option mehr, da hier jene von Lukács schon beschriebene Verschränkung von lebensweltlicher Erfahrung – «einsam sein»⁴¹ – und literarischer Ästhetik – «immer wieder gekündigte Organik»⁴² – nicht möglich ist. Der vielleicht wärmende Tod der Großmutter sichert ein Überleben des Romanautors, der implizit für ein (negatives) Verhältnis von Erzählung und Welt steht, trauernd und überlebend zugleich.⁴³

39 Iser wie auch Ette übernehmen diese plessnersche Wendung, die sich auch als eine romantheoretische Frage reformulieren lässt. So ist beispielsweise die von Lukács und Bachtin geführte und seither klassische Debatte um das Verhältnis von Roman und Epos ohne diese positionale, ja topologische Bestimmung der Äußerlichkeit nicht zu führen. Vgl.: Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre sowie Ottmar Ette: ÜberLebenswissen. 40 Zu dieser terminologischen Differenzierung diverser Raumbezüge als Kennzeichen einer Literatur jenseits von National- und Weltliteratur siehe: Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. 41 Georg Lukács: Die Theorie des Romans, S. 28. 42 Ebd., S. 73 43 Auf einen Vergleich von Pedro Páramo und CAS insistiert vor allem Susanne Jil Levine. Allerdings versäumt sie es, die Erzählerpositionen in Bezug zu setzen, die insofern von größtem

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Die These von der verworfenen Einheit der Erzählung lässt sich an dieser Stelle weiter präzisieren. Die Erzählung Macondos ist deshalb unmöglich eine lokale, da sie nicht nur die Geschichte eines Ortes und dessen unterschiedlichen Bezüge zur Welt erzählt, sondern ebenso die Genese einer Erzählerposition, der ein Verlassen-Haben und ein Wiederkehren ebenso eingeschrieben ist wie das Erzählen, Erinnern und Lesen aus der Ferne. Diese Position ist insofern mehr als ein narrativer Exzess, der der eigentlichen Geschichte hinzugefügt wird, und geht auch insofern über die psychoanalytisch aufschlussreiche Verabreitung des Verlusts hinaus, als sie einen eigenen Erkenntniswert besitzt, der erst in der literarischen Figurierung manifest wird. Erst aus einer nur literarisch inszenierbaren Position werden jene vielfachen Überlagerungen des Erlebens und Erinnerns und auch die unterschiedlichen Raumbezüge auf sinnvolle Weise lesbar und aufeinander beziehbar, ohne dass sie deshalb in ein letzthinniges Ableitungs- und Abhängigkeitsverhältnis zu bringen sein müssen. Pointiert formuliert: Erst die literarische Narration und in diesem Falle meint dies auch: erst der metaleptische Roman setzt genuin formal eine Situation um, in der zeitlose Erinnerungen und historische Existenz, in der die erinnerte, erinnernde und auch eine transtemporale Welt koexistieren können, eine Form schließlich, dank der eine Erzählung mehrere Räume und mehrere Zeiten queren kann. Das Initiationsmoment dieser Position lässt sich im Falle von García Márquez ziemlich genau benennen und nun auch etwas besser verstehen: Nach seinen eigenen Angaben ist es der Moment, da er nach Jahren im Landesinneren seine Mutter in Aracataca wiedertrifft, um das Haus der Großeltern zu verkaufen.⁴⁴ Die Erfahrung, die García Márquez bei dieser Rückkehr zu jenem Haus «llena de muertos»⁴⁵ macht, beschreibt er nicht zufällig als eine poetische Verschiebung, oben genannte Verwandlungen schon antizipierend:

Interesse sind, als beide Erzählungen im Moment ihrer Performanz bereits den Tod ihrer Protagonisten implizieren. Vgl. hierzu: Suzanne Jill Levine: El espejo hablado: un estudio de Cien años de soledad. Caracas: Monte Avila Ediciones 1975. 44 Vgl. hierzu: Gabriel García Márquez: Vivir para contarla. Dort heißt es: «Ni mi madre ni yo, por supuesto, hubiéramos podido imaginar siquiera que aquel cándido paseo de sólo dos días iba a ser tan determinante para mí, que la más larga y diligente de las vidas no me alcanzaría para acabar de contarlo. Ahora, con más de setenta y cinco años bien medidos, sé que fue la decisión más importante de cuantas tuve que tomar en mi carrera de escritor. Es decir: en toda mi vida.» (12) 45 Gabriel García Márquez/Mario Vargas Llosa: La novela en América Latina, S. 27.

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Y llegamos a Aracataca y me encontré con que todo estaba exactamente igual pero un poco traspuesto, poéticamente. […] no había un alma en la calle y estaba absolutamente convencido que mi madre estaba sufriendo lo mismo que sufría yo de ver cómo había pasado el tiempo por ese pueblo.⁴⁶

Nicht nur erinnerter und historischer Raum überlagern sich hier, sondern obendrein die Erinnerung an ein Haus, das ja selbst, «llena de muertos», ein Ort der Überlagerung war. 15 Jahre später – und hier schließt sich der Kreis – vergleicht García Márquez das Erleben dieser überlagernden Topologie mit dem Erwachen aus dem Traum, ein Vergleich, der mit gutem Grund an Benjamins dialektisches Bild und das mit ihm aufgerufene Modell von historischer Überlagerung und Transgression erinnert. Aus einem Traum zu erwachen, ist ja als Bedingung seiner Möglichkeit die Präsenz an einem anderen als den geträumten Ort notwendigerweise eigen und wenn man so möchte: eine metaleptische Beziehung zum Ort des Erwachens, ohne dass deshalb ein kurzes Moment der Koexistenz ausgeschlossen wäre. Das ist unter anderem auch deshalb möglich, da dieser Ort des Erwachens im Gegensatz zum im Traum erinnerten gerade nicht zeitlos oder transtemporal ist, sondern sehr wohl verort- und datierbar. Diese Beziehung ist es, durch die sich die Erinnerung strukturiert: Mi recuerdo más vivo y constante no es el de las personas, sino el de la casa misma de Aracataca donde vivía con mis abuelos. Es un sueño recurrente que todavía persiste. Más aún: todos los días de mi vida despierto con la impresión, falsa o real, de que he soñado que estoy en esa casa. No que he vuelto a ella, sino que estoy allí, sin edad y sin ningún motivo especial, como si nunca hubiera salido de esa casa vieja y enorme. […] Todavía hoy, a veces, cuando estoy durmiendo solo en un hotel de cualquier lugar del mundo, despierto de pronto agitado por ese miedo horrible de estar solo en las tinieblas, y necesito siempre unos minutos para racionalizarlo y volverme a dormir.⁴⁷

Nimmt man diese Szene als Präfiguration des Chronotopos Macondo, lässt sich einsehen, wie sehr die Eröffnung des Romans diese Überlagerung von erinnerter Kindheit und erwachsener Wiederkehr im Akt der Narration zitiert. Aus der zeitlichen Vogelperspektive eines Erzählers, der um eine Notwendigkeit weiß, die er dennoch dem Leser vorenthält, heißt es dort: Muchos años después, frente al pelotón de fusilamiento, el coronel Aureliano Buendía había de recordar aquella tarde remota en que su padre lo llevó a conocer el hielo.⁴⁸

46 Ebd., S. 27–28. 47 Gabriel García Márquez/Plinio Apuleyo Mendoza: El olor, S. 17. 48 CAS, S. 9

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An dieser Stelle wird ein Thema offenkundig, das ich schon anfangs mit der Interpretation des fotografischen Halbporträts angesprochen habe und das zweifelsohne zu den zentralen Fragen dieses Romans, aber auch von Romantheorie insgesamt gehört: das Thema der Wirklichkeit und genauer, Wirklichkeit selbst als Überlagerung zu bgreifen. García Márquez selbst belegt diese Problematik mit der Formel der ganzen Wirklichkeit. Von besonderem Interesse scheint an dieser Stelle, dass die folgende Äußerung, anders als zu erwarten wäre, auf alles andere als auf einen paraontologischen Begriff ‘lateinamerikanischer Wirklichkeit’ rekurriert. Auch weil García Márquez das Modell der literatura comprometida zurückweist, die das Verhältnis von Wirklichkeit und Literatur nicht als Problem der Wirklichkeit selbst, sondern als Problem einer politischen Wirklichkeit von Machtverhältnissen entwickelt, stellt er in dieser Passage die Frage nach Wirklichkeit selbst als eine Frage der Weltenvielfalt: Una larga reflexión, para comprender al fin que mi compromiso no era con la realidad política y social de mi país, sino con toda la realidad de este mundo y del otro, sin preterir ni menospreciar ninguno de sus aspectos.⁴⁹

García Márquez bestimmt auch Macondo als einen Ort der ganzen Wirklichkeit und entwickelt dieses Argument – die Sache bisweilen vereinfachend – häufig an einem kulturell unterfutterten Wirklichkeitsbegriff. Dieser, von der Kritik leitmotivartig aufgenommen, exponiert zwar die Frage der Wirklichkeit als jener Instanz, an der sich der Romanschriftsteller abzuarbeiten hat. Allerdings ist damit noch recht wenig über die Qualität jener Wirklichkeit gesagt und ebensowenig über den Einsatz, den die literarische Verwandlung hierbei zu erbringen hat, wenn man Wirklichkeit sowohl als ganze wie auch nicht-ganze Wirklichkeit denken kann, als die Wirklichkeit der einen und der anderen Welt. Ich halte es deshalb für ertragreicher, sich zunächst auf das in seiner literarischen Ästhetik implizierte Wirklichkeitsverständnis zu beziehen als es mit einer ontologischen Rechtfertigung im Sinne einer ‘lateinamerikanischen Wirklichkeit’ gleichzusetzen. Das Besondere an dieser Formulierung nämlich besteht darin, dass diese ganze Wirklichkeit für García Márquez als ‘Problem’ zwar bloß ausgehend von Macondo zu erfassen ist, als Frage jedoch auf eine Problematik zielt, die nur jenseits von Macondo zu ihrer vollen Geltung kommen kann. Die besondere Pointe Macondos besteht nämlich darin, dass diese Frage schon deshalb alles andere als eine literarische Modulation einer eigentlicheren Frage ist, also mehr ist als

49 Gabriel García Márquez/Plinio Apuleyo Mendoza: El olor, S. 127.

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ein Verhandeln von Sinnangeboten, weil diese Jenseitigkeit im metalpetischen Umschlag schon von Macondo aus angeschrieben wird. In dieser Bewegung inszeniert der Roman eine Überschreitung, durch die die Grenze der Lebenswirklichkeit aus ihrer «präformierten Implikation heraustreten kann»⁵⁰ und der literarischen Inszenierung folglich nicht nur im Sinne seiner Illustrierung bedarf. Die Grenzfrage zwischen der einen und der anderen Welt, zwischen dem, was die eigene (erzählbare) und was eine fremde (im Extremfall als Terror erfahrene) Welt ist, meint folglich weniger ein skeptizistisches Destabilisieren des Gegebenen, sondern eher eine Erfahrung, die García Márquez mal mit der Formel «Vivir con», also Leben-mit umschrieben hat und die er im Gespräch mit Mendoza ganz explizit als eine Frage der Transgression konzipiert. Eine Folgerung hieraus könnte lauten, dass Wirklichkeit ‘selbst’ im Sinne einer gegebenen pseudo-ursprünglichen Lebenseinheit eine irreführende Autorität ist. Wirklichkeit im Sinne eines Lebenszusammenhangs, als das, was mit einem lebt, wird vielmehr erst dann verständlich, wenn sie im Plural jener kulturellen und historischen Überlagerungen und Überschreitungen gelesen wird, für die der Name das sprachphilosophische und der Roman das fiktionstheoretische Paradigma gibt. Dass sich Wirklichkeit an ihren Grenzen und Überlagerungen konstituiert, kommt folglich keinem Relativismus und auch keiner Wirklichkeitsverleugnung gleich, sondern expliziert lediglich, dass ein Sprechen über die und ein Leben in der Wirklichkeit ohne Transgressionen qua Darstellung nicht zu realisieren ist. Die Wirklichkeit dieser und der anderen Welt («de este mundo y del otro»), die auf diesen Problemkontext passgenau bezogene Formulierung, ist dabei zweifelsohne eine etwas hermetische Aussage; hermetisch auch, weil in dieser bloß relationalen Bezeichnung nicht klar wird, welche diese und welche die andere Welt ist und wie bzw. wodurch sie erkennbar begrenzt werden. Anders als es manche lateinamerikanistischen Diskurse und auch manche Kommentare von García Márquez selbst suggerieren, ist diese Hermetik nicht unbedingt kulturontologisch, also die lateinamerikanische Wirklichkeit betreffend aufzulösen. Statt also wie im 1973 gehaltenen Yale-Kongress von Otros mundos – otros fuegos: fantasía y realismo mágico en Iberoamérica zu sprechen und den Begriff der anderen Welt mit der Poetik des lateinamerikanischen Magischen Realismus gleichzusetzen, schlage ich vor, das Konzept von «toda la realidad» vom hier ja hereinspielenden Lebensbegriff her anzugehen. Die Frage nach der Wirklichkeit ist (nicht nur) bei García Márquez immer auch die Frage nach einer gelebten Wirklichkeit. Die gesamte Wirklichkeit wäre dann nicht mehr ein Begriff der

50 Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff, S. 57.

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Summe, also gerade nicht die empirische Wirklichkeit mitsamt all ihren anderen, sprich: magischen oder auch alltäglichen Elementen, sondern eben ein Prozess der Grenzbelastung. Spätestens hier ist jene zweite Verwandlung auf den Plan gerufen (die erste meinte die Transformation der Lebenseinheit in eine Kunsteinheit) und zwar als jene dynamischen Grenze des Textes selbst, der als Kunsteinheit nun wieder einen Lebenszusammenhang zu artikulieren erlaubt, der eben nicht auf die «unverwandelte Lebenseinheit» rekurriert und es auch nie hat tun können. Diese Transgression hat in einer etwas anderen Diktion auch Iser formuliert, beim Versuch, das literarische Imaginäre anthropologisch zu fundieren: Bezieht sich also der fiktionale Text auf Wirklichkeit, ohne sich in deren Bezeichnung zu erschöpfen, so ist die Wiederholung ein Akt des Fingierens, durch den Zwecke zum Vorschein kommen, die der wiederholten Wirklichkeit nicht eignen.⁵¹

Sollte dies zutreffen, dann hört die angebliche Referenz Aracataca auf, das vermeintlich unmittelbar Gegebene, das dem Figurierten Zugrundegelegte zu sein, um – und das ist eine wesentliche Differenz – zur «wiederholten Wirklichkeit» zu werden. Das proto-anthropologische Argument Isers kulminiert nämlich darin, dass die Referenz nur als wiederholte Wirklichkeit und das meint in letzter Instanz als symbolisch repräsentierte Lebenswelt den Blick für jene anderen Zwecke freigeben kann, die in der nicht-figurierten Unmittelbarkeit des Gegebenen allenfalls vollzogen, nicht aber gelesen werden können. An dieser Stelle geht die sogenannte «weltbildnerische Funktion des Romans»⁵² über ihren Darstellungsauftrag hinaus, indem sie überhaupt eine Relationierung von Welt ermöglicht – eine Relationierung, die wiederum nur möglich ist, weil die Grenzen zwischen Text- und Lebenswelt als nicht absolute inszeniert werden. In diesem Sinne stellt die im Roman inszenierte Weltenvielfalt auch eine lebensweltliche Frage, die umso drängender ist, je weniger selbstverständlich die Lebenswelt ist. Das hat natürlich Folgen für das, was die Funktion von Literatur sein kann. Solange die Formel der ‘Wirklichkeit selbst’ ohne den Bezug auf das Leben verstanden wird, scheint es, dass es die Aufgabe der literarischen Verwandlung sei, eine verarmte Sicht auf eine angeblich entzauberte Wirklichkeit aufzubrechen. Jeder Rede von Transformation und kreativer und eben nicht ‘dienender’ Übersetzung entgegengesetzt, ginge es bloß darum, ein schon Bestehendes, nur eben

51 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 20. 52 Matthias Bauer: Romantheorie, S. 4.

Macondo als Name: Zur Topologie des literarischen Ortes 

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nicht Sichtbares zur Geltung zu bringen. Unklar bliebe jedoch, wie ein solcher Wirklichkeitsbegriff der (literarisch) einzuholenden Totalität, eine Art summa culturae ⁵³, literaturästhetisch relevant sein kann, wie der Roman diese Aufgabe bewältigen soll und warum gerade ein Romanautor einen privilegierten Zugang zu dieser Totalität haben soll. Zu befürchten ist, dass diese Frage nur durch ein Sein beantwortet werden kann, das sich im Entwurf selbst vergegenwärtigt. Am romanästhetisch entscheidenden Aspekt der Weltenvielfalt, einer ästhetisch inszenierten Weltenkonkurrenz und Weltendifferenz zwischen Lebenswelt und Textwelt, zwischen dargestellter Welt und darstellender Welt wäre damit insofern vorbeidiskutiert, als der Entwurf hier nur der Explikation, nicht aber der Verwandlung dient. Diese fundamentalontologische Pointe ist zudem nur dann und auf äußerst problematische Weise literaturästhetisch zu fundieren, wenn die literarische als die einzige Sprache zu gelten hätte, die Verschüttgegangenem und Verdrängtem gerecht werden kann. Wenn man hingegen den Magischen Realismus als eine Poetik eines durch Überschreitung sich konstituierenden Lebens liest, lässt sich nicht nur die kulturontologische Assonanz vermeiden, da diese Frage nicht notwendigerweise mit dem Index des Lateinamerikanischen versehen werden muss. Dabei besteht die ‘allgemeine’ Dimension eines solchermaßen verstandenen Lebensbegriffs darin, dass er auch eine fundamentalontologische Verführung vermeiden hilft, die jede literaturästhetische Fragestellung letztlich aushebelt bzw. als medienanthropologische neutralisiert.⁵⁴ Will man also an dem Modell der Übersetzung und Verwandlung festhalten, so wäre davon auszugehen, dass die literarische Sprache Verschüttgegangenes und Verdrängtes («el otro mundo») nur deshalb zum Sprechen bringt, weil sich das Verstehen ihrer Sprache dieser Logik des Verschütteten und Verdrängten nicht versperrt. Das meint: Nicht das Verschüttete und Verdrängte selbst kommen zur Sprache; vielmehr kommt etwas allenfalls über den Umweg einer anderen Sprach- bzw. Signifikationspraxis und in einem von ‘der Wirklichkeit’ logisch differenten Zeichensystem zur Geltung. Erst durch die Übersetzung in «Kunsteinheit» können latente Kräfte als wirksame inszeniert, nicht jedoch die latenten Kräfte einer krypto-theologisch oder auch pseu-

53 Lotman prägte den Begriff der summa culturae, indem er ihm eine semiotische Operationalisierung entgegenhält, die den topologisch relevanten Aspekt des Standpunkts betont: Texte, wollen sie kulturell gelesen werden, produzieren demnach stets einen semiotischen Raum. Nur in diesem bleibt der zu lesende Text Text, während andere zu Kontext werden. Diese selbst topologische Ausrichtung einer Semiotik kann an dieser Stelle nur angedeutet werden. Vgl.: Jurij M. Lotman: Über die Semiosphäre, in: Zeitschrift für Semiotik 12, 4 (1990), 287–305. 54 Dieser Umschlag ist besonders in Isers Fundierung einer literarischen Anthropologie nachzuvollziehen.

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do-magisch aufgeladenen Lebenswelt selbst freigesetzt werden. In der Diktion eines allgemeineren Theoriedesigns ließe sich deshalb resümieren, dass das, was sich auf der formalen Ebene «als anderes Zeichensystem»⁵⁵ bezeichnen ließe und sich so als andere Welt anzeigt bzw. als eine solche gesetzt werden kann, sich zur Lebenswelt über seine Differenz (Adorno) bzw. seine Kunsteinheit (Benjamin) verhält. Durch das hiermit implizierte Moment der Interaktion zwischen der einen und der anderen Welt ist nicht nur der Anspruch einer getreuen Wiedergabe qua Modellierung revidiert, sondern auch – und vielleicht vor allem – die leichtfertige Annahme, dass Literatur unmittelbar unverfügbare Sinnhorizonte (Kernmode) einfach und jenseits der Frage ihrer Lektüre figurieren könnte. Mein Vorschlag zielt deshalb darauf ab, in der «anderen Welt» (otro mundo) etwas Anderes als bloß das von einer instrumentellen Ratio Ausgeschlossene zu sehen und sie auch anders zu begründen. Denn der Begriff der «ganzen Wirklichkeit» wird erst dann eine auch literaturästhetisch und romantheoretisch relevante Frage, wenn damit eine Transgression beschrieben wird oder genauer: die Möglichkeit einer Transgression, die sich durch den und am Text selbst ereignet und im Leben den Ort ihrer Erprobung findet. Bei dieser topologischen Metapher des Überschreitens geht es folglich weniger darum, ein vollständiges oder zumindest vollständigeres Abbild dieser Welt abzugeben – Paradigma des klassischen realistischen Romans – sondern eher darum, die Integrationsfähigkeit, aber auch das Inkommensurable von (gelebter) Wirklichkeit anhand diverser Transgressionen zu illustrieren und belasten. Wie es einerseits die Metapher des Erwachens und es andererseits die Umschreibung Macondos als einen Gemütszustand nahelegten, wird Wirklichkeit also erst dann in einer freilich immer nur spezifischen Gänze, im Sinne eines Besonderen des Allgemeinen erfasst, wenn sie mehr als das Gegebene verstanden wird. Wirklichkeit als gelebte Wirklichkeit zeichnet sich also dadurch aus, dass es auch jenes in sich aufnehmen kann, was gewissermaßen in sie hineinragt oder wie Benjamin es formulierte: dass sie sich am fremden Feuer wärmen kann. Es stellt gewiss keine Übertreibung dar, in dieser Inszenierung transtextueller Bewegungen und der damit zusammenhängenden Frage des Lebenszusammenhangs den Kern der modernen Romantheorie und auch -praxis zu erblicken. Es verwundert von daher nicht, dass der diegetische Autor des Romans bzw. der Manuskripte, Melquíades, darin dem Fährmann Charon gleichend, eine Figur ist, die ontologisch verschiedene Welten queren kann: vom Leben in den Tod und zurück, von der Figur zum Autor dieser Figur und zurück. Die nomadischen

55 Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 69.

Das Haus der Buendía und die Kammer des Melquíades 

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Bewegungen des Melquíades erhalten dadurch eine Dimension, die nicht nur die Vielfalt einer Welt, und das meint: ihrer unterschiedlichen Zeiten und Räume illustriert, sondern jene qualitative Querung unterschiedlicher Welten allegorisiert, die sich in diesem durch seine Lektüre konstituierten Raum ereignet. Einen guten Roman zu lesen, meint für García Márquez deshalb eine mehrfach übersetzende Figur und Praxis, die die Welt sowohl binnenlogisch differenziert wie auch ontologisch differente Welten zu durchqueren hat. Weltenvielfalt als romantheoretischer Begriff ist somit einerseits der inneren Konsistenz der histoire verpflichtet in dem Sinne, dass diese Geschichte anders als die gemeinhin bekannte Welt zu lesen ist, als wäre sie eine Welt für sich. Andererseits lässt sich die ästhetisch inszenierte Weltenvielfalt als Appell an die LeserInnen verstehen, dem Ort der Geschichte, (einen) Raum zu geben. Und zwar nicht nur, damit der Leser in der Lage ist, «sein fröstelndes Leben an einem Tod, von dem er liest, zu wärmen», sondern auch und vielleicht vor allem, damit «las estirpes condenadas a cien años de soledad tengan por fin y para siempre una segunda oportunidad sobre la tierra.»⁵⁶

5.2 Das Haus der Buendía und die Kammer des Melquíades Nadie había vuelto a entrar al cuarto desde que sacaron el cadáver de Melquíades y pusieron en la puerta el candado cuyas piezas se soldaron con la herrumbre. Pero cuando Aureliano Segundo abrió las ventanas entró una luz familiar que parecía acostumbrada a iluminar el cuarto todos los días, y no había el menor rastro de polvo o telaraña, sino que todo estaba barrido y limpio, mejor barrido y más limpio que el día del entierro, y la tinta no se había secado en el tintero ni el óxido había alterado el brillo de los metales, ni se había extinguido el rescoldo del atanor donde José Arcadio Buendía vaporizó el mercurio. En los anaqueles estaban los libros empastados en una materia acartonada y pálida como la piel humana curtida, y estaban los manuscritos intactos. A pesar del encierro de muchos años, el aire parecía más puro que en el resto de la casa. Todo era tan reciente, que varias semanas después, cuando Úrsula entró al cuarto con un cubo de agua y una escoba para lavar los pisos, no tuvo nada que hacer.⁵⁷

Die außerhalb des allgemeinen Zeitenlaufs stehende Kammer des Melquíades erzählt eine eigene Geschichte, die nicht mit dem macondinischen Familienroman von Aufstieg, Blüte und Zerfall der Buendía gleichzusetzen ist. Eine erste Evidenz hierfür ist zweifelsohne die Tatsache, dass noch bevor der Inzest am Ende sich erfüllt, die Kapitulation der handelnden Bewohner erst in dem Moment un-

56 CAS, S. 471. 57 Ebd., S. 213.

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abwendbar erscheint (und deshalb nie unmittelbar eine Folge des Inzests war), da selbst die bis dahin von allem Zeitenlauf verschonte Kammer des Melquíades dem Staub anheimfällt oder genauer: die Kammer aktiv – wie ein Handelnder geradezu – sich entscheidet zu ‘stauben’: Santa Sofía de la Piedad siguió luchando sola, peleando con la maleza para que no entrara en la cocina, arrancando de las paredes los borlones de telaraña que se reproducían en pocas horas, raspando el comején. Pero cuando vio que también el cuarto de Melquíades estaba telarañado y polvoriento, así lo barriera y sacudiera tres veces al día, y que a pesar de su furia limpiadora estaba amenazado por los escombros y el aire de miseria que sólo el coronel Aureliano Buendía y el joven militar habían previsto, comprendió que estaba vencida. Entonces se puso el gastado traje dominical, unos viejos zapatos de Úrsula y un par de medias de algodón que le había regalado Amaranta Úrsula, e hizo un atadito con las dos o tres mudas que le quedaban. Me rindo -le dijo a Aureliano-. Esta es mucha casa para mis pobres huesos.⁵⁸

Das sonst so effektiv sich gegen den Zerfall stemmende weibliche Putzen und Ordnen ist in der Kammer des Melquíades nicht von Belang; es ist entweder überflüssig oder vergebens. Der Kampf gegen das Schicksal, als Selbsterhaltung im Putzen und Ordnen allegorisiert und im von Ursula überwachten Inzesttabu noch bestärkt, wird hier von einer anderen Geschichte geradezu überrollt, von einer Geschichte, die sich in der Kammer vollzieht, dort ihre eigene Kulmination findet und die, scheinbar ein Mythos, den Handelnden unverfügbar ist. Hier möchte ich nach den erzähltheoretischen und literaturästhetischen Implikationen dieser Pointe fragen: Wie ist es zu verstehen, dass die Zeit in der Kammer einer anderen Logik als der der übrigen Geschichte verpflichtet scheint? Diese Feststellung und die hier angestrebte topologische Deutung dieser Differenz erlauben es, das damit angesprochene Problem der narrativen Tektonik weiter zu entwickeln. Der Rückgriff auf eine tektonische Dimension und Diskussion – selbst eine topologische Metaphorik der Erzähltheorie – ist leicht einzusehen. Denn mehr noch als in einem anderen Ort sieht die Erzählforschung in einer anderen Zeit innerhalb einer Erzählung ein sicheres Indiz dafür, dass eine weitere, andere Geschichte erzählt wird. Klassischerweise ist dieses Phänomen an Modellen wie der Mise-en-abyme bzw. dem von Rahmen- und Binnengeschichte illustriert worden.⁵⁹ Obschon diese Modelle Grundlegendes zu diesem

58 Ebd., S. 407. 59 Vgl. hierzu: Klaus Meyer-Minnemann. Un procédé narratif qui ‘produit un effet de bizarrerie’: la métalepse littéraire. In: Pier, J./Schaeffer, J.-M. (Hg.). Métalepses. Entorses au pacte de la représentation. Paris: Éd. de l’EHESS 2005, S. 133–150; Bernd Häsner: Metalepsen. Zur Genese, Systematik und Funktion transgressiver Erzählweisen. Dissertation: Freie Universität Berlin 2001;

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Phänomen zu sagen hätten und überhaupt die Frage der narrativen Tektonik begrifflich zu präzisieren erlauben, scheinen sie jener anderen Geschichte, die mit der Kammer des Melquíades aufgrund ihrer eigenen Zeitlichkeit auch zu verorten ist, nicht gerecht zu werden. Denn auch wenn hier eine andere Zeit eine andere Geschichte zu implizieren scheint, so ist diese nicht zu ignorierende andere Geschichte räumlich mitnichten so eindeutig bzw. fix begrenzt, als dass sie sich wie eine Binnennarration klar abtrennen ließe. Gleichzeitig ist der Raum dieser anderen Geschichte, obwohl er auf der Handlungsebene durchaus in einem unmittelbaren Verhältnis zu der außerhalb der Kammer verlaufenden Geschichte stehen kann, zu verschieden, als dass sich seine andere Geschichte restlos in die erste integrieren ließe. Neben der Frage nach der Tektonik ist auch die Frage der Handlungslogik betroffen. Auch wenn die Kammer sich zu sehr von den anderen Räumen unterscheidet, um bloß einen anderen Handlungsstrang darzustellen, ist sie doch zu sehr Teil der macondinischen histoire und Diegese, um beispielsweise bloß als allegorischer, der Handlung entrückter Raum gelesen zu werden. Die Figur der Überlagerung macht es notwendig, das Haus nicht bzw. nicht nur als Handlungsraum zu erfassen. Denn das Eingreifen eines speziellen Ortes markiert den Moment, da nicht nur eine strikte Unterscheidung von Handlungen und daraus resultierendem Handlungsraum fragwürdig wird. Nicht minder fragwürdig scheint umgekehrt, ob es so etwas wie ein einheitliches apriorisches raum-zeitliches Setting gibt, das als Rahmung gedacht werden und innerhalb welcher sich die eigentliche Handlung abspielen und das den diegetischen Raum zum mythisch-geschlossenen machen könnte. Schließlich wird mit diesem Moment der Interaktion fragwürdig, ob Handlung und Handlungsraum überhaupt ein sich gegenseitig bedingendes Verhältnis unterhalten können, wenn schon der Raum selbst diskontinuierlich ist. All dies zusammen mag die Annahme motivieren, dass der Roman weniger Handlungen nachahmt als eben eine Welt und die dynamischen Grenzen einer Welt. Diese sogar im Zeitenlauf sich anzeigende Parallelität, diese Überlagerung von verschiedenen Dynamiken ist ein Motiv mit weitreichenden Folgen. Nicht nur stellt sich Frage nach der Ordnung der macondinischen Welt und ihrer Grenzen. Ebenso eignet sie sich als ein gewichtiges Argument gegen die sich hartnäckig haltende Annahme, dass CAS eine in sich geschlossene Familiensaga er-

Manfred Jahn: Narratology: A Guide to the Theory of Narrative. English Department, University of Cologne 2005; David Herman: Toward a Formal Description of Narrative Metalepsis, In: Journal of Literary Semantics 26 (1997), 132–152.

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zählt und von Grund auf mythologisch strukturiert ist.⁶⁰ Überlagerung und Parallelität sind zwei strukturelle Elemente, die der Lokalität als Einheit des Ortes widersprechen und damit auch der mythologisch-zeitlichen Zirkularität. In Frage steht somit die einheitliche Erzählung des Mythos als das zeitlich-historische Korrelat eines lokalen und geschlossenen Raumdesigns. Wenn also die These eines metaleptischen, topologisch komplexen Macondos überzeugen soll, dann gilt es, die Annahme einer mythischen Grundstruktur zu revidieren, zumindest insoweit, als diese nicht mehr ohne weiteres als die allumfassende und grundlegende narrative Struktur zu gelten hat. Bevor ich dies im Einzelnen ausführe, möchte ich kurz auf die methodischen Ausführungen zur Grenze des Textes im Falle eines nullfokalisierten Romans und die im vorigen Kapitel aufgewiesene Genese eines Überlagerungsraums verweisen. Diese beiden Aspekte erlauben es, in ihrem Zusammenspiel einige Thesen zu formulieren, die hier entscheidend ins Gewicht fallen und in der schier endlosen Geschichte der Kommentare heftig umstrittene Fragen betreffen. Dabei handelt es sich um drei Thesen – so viel sollte abzusehen sein –, die eine für das Mythosmodell zumindest problematische Diskontinuität zu formulieren erlauben und gewissermaßen zwischen den bisher erarbeiteten literaturtheoretischen und -ästhetischen Zusammenhängen auf der einen und der konkreten Lektüre auf der anderen Seite vermitteln sollen. Erstens gehe ich davon aus, dass weder García Márquez noch Melquíades die Erzähler sind, sondern – wie ausgeführt – sich das Ereignis der Erzählung an der Figur des (doppelt) gelesenen Textes vollzieht. Mit dieser Perspektive lässt sich das zeitliche Doppel in der Erzählung als ein Doppel deuten, das die verschiedenen Modi des Texterlebens umschreibt. Zweitens und um die Frage von Perspektive bzw. Fokalisation dank einer solch formalen Bestimmung nicht unter den Tisch fallen zu lassen, schlage ich vor, im Haus der Buendía den entscheidenden und auch einzig relevanten fokalisateur des Romans zu sehen. Dies soll dazu dienen, die Grenzen Macondos differenzierter in ihren jeweiligen (Grenz-)Dynamiken zu beschreiben. Drittens und hieran anschließend sollen am Chronotopos Haus verschiedene Momente der Interaktion nachgezeichnet werden. Zusammen mit der zweiten These lässt sich so beschreiben, dass der diegetische Raum diskontinuierlich begrenzt ist. Das Haus wird von zwei qualitativ verschiedenen Grenzen begrenzt, die auch in sehr unterschiedliche Interaktionen mit ihm treten: Eine Grenze ist das Jenseits des Hauses, also das ganz

60 Nach wie vor eine der wohl stringentesten mythologischen Arbeiten ist die von Josefina Ludmer. Vgl. hierzu: Josefina Ludmer: Cien años de soledad. Una interpretación. Buenos Aires: Tiempo Contemporáneo 1972.

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wörtliche Außen, wenn man aus dem Haus der Buendía heraustreten und sich kontinuierlich entfernen würde. Mit der zweiten Grenze, der Kammer des Meqluíades, erfährt das Haus eine innere und logisch andere Begrenzung. Das Haus ist – wie schon der Text selbst – folglich weniger als ein Ort geschlossener Verdichtung zu denken, sondern ein dynamischer Kreuzungspunkt.⁶¹ Statt von der Logik einer macondinischen histoire auszugehen oder nach dem macondinischen Raum zu fragen, gilt es, die selbst gedoppelten topologischen Ordnungen des Innen und Außen nachzuzeichnen. Meine These: Das Haus ist als Bereich des Inneren funktional gedoppelt. Es ist einmal ein Innen in Bezug auf ein binnenlogisches Außen der histoire und es ist einmal ein Innen in Bezug auf das metaliterarische Außen der narration. Es empfiehlt sich also, vom Wandel der Kammer ausgehend die verschiedenen Relationen des Hauses gerade nicht mit einer großhistorischen Zeitenfolie⁶² zusammenfallen zu lassen. Macondos apokalyptisches Ende mag zwar als Allegorie imperialistischer Zerstörung von lokalen Kulturen nach wie vor überzeugend zu belegen sein; allerdings – und das ist entscheidend – vermag es nicht als das allumfassende Dispositiv dieser Familiensaga zu überzeugen. Anders gesagt: Selbst wenn am Ende der macondinische Zerfall mit dem der Kammer koinzidiert, ist damit die logische Möglichkeit einer anderen, die mythische Geschichte überlagernden und überschreitenden Geschichte nicht ausgeschlossen.⁶³ Die Überschreitung einer mythischen Grundstruktur, die ich durch die Herausstellung einer weiteren als der mythischen Grundlage dieser Geschichte begründe möchte, bezieht sich also vor allem auf eine Kritik der vermeintlichen Lokalität Macondos. Dies ließe sich vor allem auf zwei Ebenen vollziehen: Zum einen bietet es sich an, das Motiv der Einsamkeit und Isolation anders als mythologisch zu lesen. Die hierzu bereits vorliegenden Ausführungen legen nahe, diesen Sachverhalt in dem Sinne topologisch zu differenzieren, dass dieses Motiv

61 An diese Stelle zeigt sich, wie hilfreich es sein kann, den fokalisateur eben nicht als Personenperspektive zu denken. 62 Diese Lesart einer in sich geschlossenen mythischen Geschichte findet sich in zahlreichen und insbesondere in früheren Arbeiten zu dem Roman. Siehe hierzu etwa: Josefina Ludmer: Cien años de soledad sowie: Michael Palencia-Roth: Myth and the modern novel: García Márquez, Mann, and Joyce. New York: Garland Pub. 1987. 63 Zamora kommt zu einem ähnlichen Schluss, wenn sie im Ende von CAS nicht nur eine Apokalypse sieht, sondern auch ein Überleben qua Verschriftlichung. Allerdings greift ihre Arbeit insofern zu kurz, als sie diese Textgeschichte nur aus einer Apokalypse-Utopie-Dichotomie heraus versteht und nicht weiter darauf eingeht, inwiefern und weshalb ein literarischer Text dieses ÜberLeben gewährleisten kann. Vgl. hierzu: Lois Parkinson Zamora: Apocalypse and Human Time in the Fiction of Gabriel García Márquez. In: Bloom, Harold (Hg.): Gabriel García Márquez. New York: Chelsea House 2007, S. 183–216.

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nicht eines der Lokalität und des Mythos ist. Stattdessen und insbesondere wenn man diese Figur im Verhältnis zur ihrer Gegenspielerin, der Liebe, liest, wird einsichtig, dass Einsamkeit nicht notwendigerweise Lokalität meint (wie es die Kriege der wohl einsamsten Figur, des Oberst Aureliano Buendía, belegen), sondern eher eine bestimmte, ja ins Politische sich übersetzende Qualität der Bewegung, die sich durch ihre Bezugslosigkeit und mangelnde Kommunizierbarkeit auszeichnet. Zum anderen ließe sich – und darum geht es mir in diesem Kapitel – an der Topologie des Hauses seine strukturelle Inkompatibilität mit der Einheitsforderung des Mythos darlegen. Gerade die Einheit der Geschichte, Grundlage jedes Mythos, wird in Frage gestellt, sobald man die Apokalypse, eine der Kernelemente des mythischen Dispositivs, genauer betrachtet. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass – wie zitiert – gegen Ende des Romans die Geschichte der Familie offenbar von der eines bestimmten Raumes überlagert wird. Wie also ist diese ‘Parallelgeschichte’ zu deuten, wie lässt sich das hier zitierte Moment der Wende erklären? Schon eine Verortung dieses Umschlags stellt die mythologische Lektüre vor Schwierigkeiten: Was soll das für ein Mythos sein, der gegen Ende sich aus einem bestimmten Zimmer heraus erfüllt? Mit dieser Lokalisierung ist nämlich zumindest eine klassische Erzählung des mythischen Schicksals in Frage gestellt: Dieser Mythos, wenn es denn einer ist, figuriert alles andere als eine von Außen einfallende, nur metaphorisch zu zähmende Gewalt.⁶⁴ Eine erste Antwort wäre es, die Kammer als die Metapher eines anderen Mythos als den, wie oft angenommen, ersten, magischen Naturmythos der (im Inzest ja explizit werdenden) Un-Heim-lichkeit zu begreifen. Der Ort der ‘mythischen’ Wende bezieht sich auf die Kammer, die wiederum Werk der Handelnden ist und wie das Haus als Haupthandlungsort Teil der Familiengeschichte, welche material durch die vielen Veränderungen, Umbauten und auch die endgültige Zerstörung illustriert wird. Dieser Ort, wie die Gründung Macondos insgesamt, könnte folglich weniger für eine mythische, dem Menschen rätselhafte Natur- und Göttergewalt stehen als für ein aus den Fugen geratenes Menschenwerk. Die Handelnden würden den schicksalhaften Masterplan ihrer mythischen Verdammung auf tragische Weise erfüllen, da ihnen ihr eigenes Werk als zweite Natur entgegentritt und so ihren typisch zwingenden, beschränkenden

64 Hans Blumenberg thematisiert diese Figur als eine anthropogenetische, die sich topologisch gerade nicht auf ein Inneres bezieht, sondern an der Horizontmetapher argumentiert: Der aufrechte Gang lässt den Menschen in eine Weite blicken, die er gar nicht anders als ‘mythisch’ benennen und bändigen kann. Vgl.: Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 9–18.

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und vor allem auch entfremdenden Charakter annimmt, der doch in der Bändigung der ersten Natur aus der Welt geschafft werden sollte.⁶⁵ Diese Lektüre würde zumindest erklären können, weshalb der mythische Umschlag zuerst aus dem Inneren des Hauses erfolgt und gerade nicht eine externe, unbekannte und nicht zu bändigende Kraft aus einem unheimlichen Außen benennt bzw. die Umsetzung eines Fluchs, den mythische Götter beschließen und rätselhafte Orakel verkünden. Doch auch diese Differenzierung scheint ungenügend: Ist die Kammer wirklich nichts weiter als eine Metapher des Mythos in Gestalt der zweiten Natur? Die kapitalistische Transformation lässt sich in Macondo – so ließe sich topologisch einwenden – tatsächlich eher als ein von Außen einwirkender Mythos modellieren, da erst fahrendes Volk und dann die Eisenbahn der United Fruit Company die technische Modernisierung nach Macondo bringen.⁶⁶ Daraus folgt, dass die kapitalismuskritische Lektüre die mit «también» eingeleitete Wendung folglich nur dann in ihrer spezifischen Verortung nicht überlesen würde, wenn sie die Kammer als den Ursprung und den Ort identifizieren kann, der die fremdbestimmte Transformation der eigenen Kultur in eine zweite Natur einleitet.⁶⁷ Eine solche Lektüre, die womöglich in eine in der Sache gerechtfertigte Kapitalismuskritik münden würde, setzt allerdings eine problematische Synekdoche voraus, die eine Unterscheidung von Kammer und Werkstatt unterschlägt. In der Werkstatt des José Arcadio nämlich, die später dem Oberst Aureliano Buendía gehört, kann man durchaus eine Verkennung der alles andere als bloß emanzi-

65 Vgl.: Theodor. W. Adorno/ Herbert Marcuse: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M.: Fischer 1994 [1944]. 66 Eine solche technikkritische Lektüre, die einen Bogen von Magie und Technik spannt und die am Ende in einer totalen Ausbeutung Macondos gipfelt, schlägt unter anderem Conniff vor. Vgl. hierzu: Brian Conniff: The Dark Side of Magical Realism. Science, Oppression, and Apocalypse in One Hundred Years of Solitude. In: Bell-Villada, Gene H. (Hg.): Gabriel García Márquez’s One Hundred Years of Solitude. A Casebook. Oxford: Oxford University Press 2002, S. 139–152, 140ff. 67 Conniff betont, dass es die in der Kammer nie über die Magie hinausgehende Sicht auf die Technik ist, die der imperialistischen Ausbeutung zuarbeitet. Wie ich allerdings auch ohne ein topologisches Argument zu belegen glaube, ist es keineswegs evident, dass die Tätigkeiten der Kammer zu einem in Melquíades und José Arcadio personifizierten Technikunverständnis außerhalb der Kammer führen. Vor allem aber ist von Bedeutung, dass Magie schon deshalb nicht den Blick auf eine bestimmte Technik verstellt, da sie in ihrer Funktionsweise genau dann strukturell mit dieser ausbeuterischen Technik übereinstimmt, wenn Melquíades die instrumentelle Vernunft als den «espíritu de las cosas» umschreibt, also einen Geist evoziert, der den Menschen äußerlich ist und dem sie sich zu beugen haben. Siehe hierzu: Brian Conniff: The Dark Side of Magical Realism.

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patorischen Technik konstatieren. Diese Werkstatt jedoch liegt neben der Kammer des Melquíades. Mehr noch: Während die Werkstatt im Prinzip ein Raum wie jeder anderer ist, wird die Kammer des Melquíades schon bei ihrer Errichtung als ein «cuarto especial» bezeichnet, dessen Errichtung Ursula in Auftrag gibt: Cuando Úrsula dispuso la ampliación de la casa, le hizo construir un cuarto especial contiguo al taller de Aureliano, lejos de los ruidos y el trajín domésticos, con una ventana inundada de luz y un estante donde ella misma ordenó los libros casi deshechos por el polvo y las polillas, los quebradizos papeles apretados de signos indescifrables y el vaso con la dentadura postiza donde habían prendido unas plantitas acuáticas de minúsculas flores amarillas. El nuevo lugar pareció agradar a Melquíades, porque no volvió a vérsele ni siquiera en el comedor. Sólo iba al taller de Aureliano, donde pasaba horas y horas garabateando su literatura enigmática en los pergaminos que llevó consigo y que parecían fabricados en una materia árida que se resquebrajaba como hojaldres.⁶⁸

Dass Melquíades zum Schreiben in die Werkstatt geht, ist nicht notwendigerweise ein Indiz dafür, dass seine Schrift einer als Magie verkannten Technik zu entsprechen hat. Vielmehr antizipiert diese Verortung des Schreibens eine Qualität dieses Schreibens, die mit der Technik bzw. Magie zwar strukturelle Gemeinsamkeiten teilt (siehe unten: Macondinische Lektüren), aber deshalb noch lange nicht die gleiche Form von Praxis bedeutet. Die abgewandte Lage der Kammer – «lejos de los ruidos y del trajín doméstico» – verrät weiterhin, dass diese Schrift – anders als Magie und Technik – nicht auf eine unmittelbare Intervention in der Welt hin entworfen ist. Gleichzeitig, wenn auch etwas diskreter, antizipiert diese Beschreibung eine weitere und entscheidende Qualität dieser Schrift: Sie ist das einzige in Macondo angefertigte Werk, das seinen Weg in die und aus der Kammer findet, also zu einer wechselseitigen Transgression in der Lage ist, die das entscheidende Bindeglied zwischen den beiden Raumordnungen ist. Ihre Mobilität erlaubt Melquíades jenes Mit-Nehmen, das nicht zuletzt deshalb von Bedeutung ist, da es sich bei diesen Schriften um die Familiengeschichte der Buendía handelt. Oben genanntes «también», das Santa Sofía zur endgültigen Kapitulation zwingt, leitet also weniger die zeitliche Wende ein, in der sich des Menschen Werk gegen ihn selbst richtet, sondern beschreibt zunächst eine qualitative Veränderung eines bestimmten, dem Haus zugehörigen und doch seltsam entrückten Raumes, der nun ebenfalls, aber nicht in der gleichen Weise und nicht aus den gleichen Gründen, zu verfallen beginnt. Gegen die Logik einer allgemeinen

68 CAS, S. 88.

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Zeitenwende und damit gegen eine allumfassende Allegorisierung Macondos im Sinne einer nur kapitalistisch zu verstehenden Transformation spricht schon die Tatsache, dass der Raum bis zu seinem Verfall, der ja erst geraume Zeit nach dem Abzug der United Fruit Company einsetzt, außerhalb des sonstigen Zeitenlaufs zu sein scheint: «[…] allí siempre era marzo y siempre era lunes.»⁶⁹ Das Problem der Kammer ist also nicht der Zeitenlauf bzw. Zeit im Sinne von fortlaufender Geschichte, deren Telos in ihren Mythos umschlägt. Vielmehr wird die Zeit gebrochen, räumlich gespalten: «[…] también el tiempo sufría tropiezos y accidentes, y podía por tanto astillarse y dejar en un cuarto una fracción eternizada.»⁷⁰ Es handelt sich um eine andere Zeit, die zwar für einen bestimmten Moment verewigt scheint, aber wie es das wütende Stauben ja belegt, nicht vollkommen dem Zeitenlauf entzogen ist. Diese andere Geschichte wiederum zeigt sich in der mythischen Diegese als eine räumliche Diskontinuität, die solange mythisch überlesen werden kann, wie man sich im Unklaren darüber ist, was hinter der Tür der melquiadeschen Kammer geschieht und solange man konzeptuell nur innerhalb von kontinuierlichen diegetischen Grenzen denkt, die eine klar abgesteckte Innen-Außen-Relation voraussetzen. Sie zeigt sich aber auch als eine zeitliche Diskontinuität: Die Plötzlichkeit des Staubens verrät eine Zeitlichkeit, die nicht als eine kontinuierlich verlaufende und dann umschlagende Entwicklung zu denken ist. Vielmehr ist dieser Umschlag einer, der in beide Richtungen verlaufen kann, als ein ständiges Oszillieren zwischen den Modi des Verfalls und dem zeitloser Klarheit, ganz so wie die Manuskripte zwischen den verschiedenen Räumen pendeln. Die Kammer kann je nach Betrachter beides zugleich sein: La clausurada habitación, en torno a la cual giró en otro tiempo la vida espiritual de la casa, fue conocida desde entonces como el cuarto de las bacinillas. Para el coronel Aureliano Buendía, ese era el nombre más apropiado, porque mientras el resto de la familia seguía asombrándose de que la pieza de Melquíades fuera inmune al polvo y la destrucción, él la veía convertida en un muladar.⁷¹

69 Ebd., S. 396. Wenn man berücksichtigt, dass in dieser Kammer die codierten und die gesamte Familiengeschichte enthaltenen Manuskripte lagern und später auch gelesen werden, wird eine andere Herkunft dieses Datums wahrscheinlich. García Márquez ist an einem Sonntag im März geboren worden und ein Montag im März war sein Geburtstag im Jahre 1967, dem Jahr, als er den Roman vollendete. Freilich kann diese Genealogie nur Spekulation bleiben, wenn auch eine bedenkenswerte. 70 Ebd. 71 Ebd., S. 298–299.

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Angesicht der Tatsache jedoch, dass der Oberst die Kammer so sieht wie sie erste viele Jahre später sein wird bzw. wie sie auch den anderen erscheinen wird, erhält «otro tiempo» eine Dimension, die an die bereits zitierte räumliche Brechung der Zeit anschließt. Dass die Zeit gedoppelt scheint und diese Dopplung sich räumlich festmachen lässt, kann insofern als eine metanarrative Allegorie der Erzählens gelesen werden und auch des Verhältnisses, das erzählter Ort und Erzählort einnehmen können, als sich diese andere Geschichte und ihre in der Kammer ausgemachten Dynamiken auf das Erzählt- und Geschrieben-Sein von Geschichte bezieht. In diesem Sinne antizipiert der Blick des Obersts nicht nur eine Vision dessen, was bevorsteht, sondern ebenso die Tatsache, dass die Buendías bereits und nur noch als Erzählung existieren, dass also der Verfall und das Ende der Buendía nicht nur die Erfüllung des Mythos manifestiert, sondern gleichzeitig auch die Genese ihrer literarischen Bewahrung, die ihre Lesbarkeit auch in einer nicht-macondinischen Welt sichert. Die Kammer des Melquíades allegorisiert damit eine Problematik, die einen zentralen Stellenwert in der Poetik des Nobelpreisträgers hat. Es geht auch um die Frage, wie das Leben mit und durch eine Kopräsenz diverser Orte und Zeiten bestimmt wird. Die in der Kammer bereits konstatierte Oszillation zwischen den Modi einer unwiederbringlich verfallenen Vergangenheit und einer zeitlosen Gegenwart lässt sich demzufolge als der ambivalente Effekt narrativen Erlebens und Erinnerns begreifen und der auch für einen bestimmten, am Roman paradigmatisch auszumachenden Lebens- und Wirklichkeitsbegriff steht. Erzählungen halten ihre Leser stets in zwei Zeitlichkeiten gefangen, die zwischen zwei Polen pendelt: die Präsenz der Geschichte, wenn der Leser gewissermaßen raumlos und sich selbst irrealisierend liest, und andererseits das Bewusstsein, dass diese Geschichte erzählt ist, dass sie dem Leser in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort erzählt wird, die nicht die Zeit und der Ort der Erzählung sind. Kurzum: Erzählungen spalten und differenzieren das Jetzt der Geschichte und das Jetzt ihrer Lektüre und Performanz.⁷² Dass der Verfall sich auch als eine Geschichte der Text- und Literaturwerdung lesen lässt, entbehrt natürlich nicht einer gewissen Ironie, aber – und das ist entscheidend – einer Ironie des Über-Lebens. Man erinnere sich an die bereits

72 Vgl. hierzu: Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 33 ff. In Thomas Manns Zauberberg findet sich diesbezüglich eine schon kanonisch gewordenen Stelle. Vgl. hierzu: Thomas Mann: Der Zauberberg. Frankfurt: Fischer 1974 [1924], S. 748. Dort heißt es: «Die Erzählung hat zweierlei Zeit: ihre eigene erstens, die musikalisch-reale, die ihren Ablauf, ihre Erscheinung bedingt; zweitens aber die ihres Inhalts, die perspektivisch ist, und zwar in so verschiedenem Maße, daß die imaginäre Zeit der Erzählung fast, ja völlig mit ihrer musikalischen zusammenfallen, sich aber auch sternenweit von ihr entfernen kann.»

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ausgerufene Losung von García Márquez, wonach es Aufgabe der Literatur ist, den zu hundert Jahren verdammten Sippen eine zweite Chance auf Erden einzuräumen. Diese ließe sich in der Weise umschreiben, dass Literatur ein Medium ist, das wenn schon nicht eine Katastrophe zu verhindern in der Lage ist, so doch ihre Zementierung, das Weiter-So (nach Benjamin ja die wahre Katastrophe) zu verhindern. Literatur wäre das Medium der Wahl, um diesem Verfall eine andere Geschichte, eine andere Chance zu entnehmen. Diese Überlagerung und Dopplung ist schon in der Kapitulation von Santa Sofía de la Piedad angelegt. Unmittelbare Folgen hat ihre Resignation und vor allem die daran anschließende Flucht aus Macondo insofern, als mit ihr die letzte Frau geht, die in der Lage war das Haus effektiv vor dem Verfall zu bewahren, also gegen die Katastrophe anzugehen und damit das Präsens des Erzählten zu halten. Mittelbar ist sie aber auch für einen anderen Verfall oder besser: für eine andere Transformation verantwortlich. Sie war es nämlich, die Aureliano Babilonia jene Sanskrit-Grammatik hat zukommen lassen und die dazu führte, dass dieser den ersten Absatz der magischen und die gesamte Familiengeschichte enthaltenden Manuskripte übersetzen, wenn auch noch nicht dechiffrieren konnte. Indem Santa Sofía de la Piedad also Macondo verlässt, vereint sie in ihrer Bewegung diese beiden Stränge: Der Verfall Macondos wird unaufhaltsam und gleichzeitig wird durch das vage Ziel ihrer Flucht ein Außen angedeutet, das nicht einfach ein binnenlogisch verfügbares Jenseits von Macondo meint, sondern eher die Äußerlichkeit von jener Schrift und Lektüre, die auf das Präsens der Manuskripte verweist. Hier kündigt sich ein noch zu bestimmendes Schicksal an, jedenfalls kein mythisch determiniertes und auch kein narrativ wahrscheinliches: Aureliano le preguntó para dónde iba, y ella hizo un gesto de vaguedad, como si no tuviera la menor idea de su destino. Trató de precisar, sin embargo, que iba a pasar sus últimos años con una prima hermana que vivía en Riohacha. No era una explicación verosímil. Desde la muerte de sus padres, no había tenido contacto con nadie en el pueblo, ni recibió cartas ni recados, ni se le oyó hablar de pariente alguno. Aureliano le dio catorce pescaditos de oro, porque ella estaba dispuesta a irse con lo único que tenía: un peso y veinticinco centavos. Desde la ventana del cuarto, él la vio atravesar el patio con su atadito de ropa, arrastrando los pies y arqueada por los años, y la vio meter la mano por un hueco del portón para poner la aldaba después de haber salido. Jamás se volvió a saber de ella.⁷³

Die Ungewissheit des Schicksals ist nur dann sinnvoll zu deuten, wenn das apokalyptische Ende Macondos auch als seine literarische Fort-Setzung verstanden wird. So ist es nur folgerichtig, dass dieses Moment der Koinzidenz den nicht

73 CAS, S. 408.

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entziffernden, nicht lesenden Macondinern insofern als mythisch wirkendes Zu-Viel erscheinen muss, als sie diese Selbst-Entzifferung des Romans gar nicht anders als eine ihnen äußerliche Gewalt begreifen können, weil sie – anders als eben Aureliano Babilonia – sich selbst nicht als Personen einer bereits geschriebenen und in jener Kammer entzifferten Geschichte lesen können, den metaleptischen Sprung nicht vollziehen. Dass das Herausfallen aus der lokal-macondinischen Zeit im Falle der Kammer bis zum Ende des Romans unumkehrbar bleibt, motiviert eine weitere mythologische Verführung. Dieser Zusammenschluss nämlich wäre unterkomplex behandelt, wenn er ganz im Stile einer selbst mythenschaffenden self-fulfilling prophecy als ein in sich fallender und das meint: lokaler Zusammenschluss verkannt werden würde. Ein topologisch argumentierender Einwand würde lauten, dass es sich um ein Moment der Überlagerung, der paradoxen Gleichzeitigkeit und eben nicht um eine Synthese handelt. Dafür sprechen auch die Umstände und der Zeitpunkt dieser Überlagerung: Im Moment der Entzifferung und Zerstörung koinzidieren das innere Außen, also die zuvor zeitlose und abgeschottete Kammer, und das äußere Außen, als die binnenlogisch verfügbare Grenze Macondos. Die Koinzidenz dieser Stränge ist aber schon deshalb kein echter Zusammenfall, da sie nur dadurch möglich wird, dass der alles zerstörende Wind, diese tatsächlich von Außen kommende Gewalt, die macondinische Diegese bis auf die Kammer reduziert hat, die als letztes von ihm fortgeblasen wird und doch von ihm nicht erfasst werden kann, da auch er, der Wind, schon Zitat geworden ist bzw. gelesen wird. Das komplexe Verhältnis der Familien- und der Lesegeschichte war schon mit der Unterscheidung von erzählten Ort und Erzählort angedeutet und legt es aufs Neue nahe, den Text selbst als den Ort zu bestimmen, an dem sich der Umschlag ereignen kann. Das schwer zu begrenzende Verhältnis lässt sich nun etwas besser präzisieren und als These explizieren: Wie es schon die damit initiierte und sinnbildliche Entzifferungsgeschichte der Manuskripte nahelegt, ist diese andere Geschichte deshalb gleichermaßen innerhalb wie außerhalb der macondinischen Geschichte und Diegese zu verorten, weil sie sich auf die Geschichte der Erzählung selbst bezieht, auf ihre Möglichkeit und auf ihr Verhältnis zu dem Erzählten. Diese These findet eine weitere Evidenz, wenn man den Ursprung in der Brechung der Zeit und der Trennung des Raumes berücksichtigt. Dieser verweist auf den Moment, da Melquíades sich in der Zeit seiner Schrift verliert – «absorto en la redacción de sus versos»⁷⁴ – und wird folglich sich erst dann wieder mit der

74 Ebd., S. 88.

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erzählten Zeit zusammenschließen, wenn der Ort der Schrift gleich dem Macondos ist, wenn also Macondo zur gelesenen Schrift geworden ist. Unmittelbar bevor Melquíades zu schreiben beginnt, wird von ihm behauptet: Estaba perdiendo la vista y el oído, parecía confundir a los interlocutores con personas que conoció en épocas remotas de la humanidad, y contestaba a las preguntas con un intrincado batiburrillo de idiomas.⁷⁵

Der Verlust jener beiden Sinne, die wohl die kommunikativsten Sinne des Menschen sind – das Gehör und das Augenlicht – hindert Melquíades nicht daran, seine Aufzeichnungen anzugehen. Im Gegenteil: Es scheint so, als bestehe ein Zusammenhang zwischen der Abwendung von der macondinischen Welt und dem Beginn der Schrift. Ähnlich Amaranta, die ihr eigenes Totenkleid näht und dies in aller Kunstfertigkeit tut, weil sie weiß, dass sie, sobald diese Arbeit abgeschlossen ist, sterben wird, verfasst auch Melquíades mit den Manuskripten seinen eigenen Tod oder genauer: sich selbst als Figur einer noch ausstehenden ‘Offenbarung’ bzw. Lektüre. Anders als im Falle von Amaranta jedoch ist der Entzug Melquíades’ keine Verzögerungstaktik, sondern die Antizipation einer anderen Geschichte, die nicht mehr in seinen Händen liegt, sondern fremden Lesern überantwortet wird. Doch dieser Entzug hat noch eine andere Dimension. Melquíades, der in Macondo sesshaft und zum Autor wird, ist der erste Tote Macondos. Dass sich José Arcadio bis zum Ende seines Lebens weigert, den Tod seines Freundes anzuerkennen, hat insofern eine gewisse Berechtigung, als Melquíades sowohl den in den Manuskripten lesenden Nachfahren der Buendía als Geist erscheint wie auch einen alten, lange vor Kapitalismus, Macondo und selbst Sesshaftigkeit bereits angelegten Tod stirbt. Es ist nämlich die übermäßige, in langer Wanderschaft erworbene Weisheit, welche die Sippe des Melquíades hat sterben lassen: Pero la tribu de Melquíades, según contaron los trotamundos, había sido borrada de la faz de la tierra por haber sobrepasado los límites del conocimiento humano.⁷⁶

Ein schon bekanntes, theologisch nicht unbelastetes und mythologisch oft zitiertes Motiv klingt an, das sich am Ende in der mit allen ödipalen Assonanzen ausgestatteten Selbsterkenntnis des Lesers Aureliano Babilonia erneut festmachen lässt: Ein Übermaß an Wissen und vor allem das totale Wissen um sich selbst wirken tödlich oder genauer: führen dazu, dass man nicht mehr in der

75 Ebd. 76 Ebd., S. 50.

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 Cien años de soledad: Zur Poetik der Überlagerung

Welt sein kann, von der man so viel weiß als stünde man wie ihr Schöpfer gleichermaßen außerhalb von ihr. Die Opposition von Wissen und Welt, die sich hier andeutet, besagt, dass man entweder weiß oder in der Welt ist. Die Wissenden des Romans werden folglich allesamt aus dieser nicht mal paradiesischen Welt auf eine Weise vertrieben, die sich von den oft tragischen und gewaltvollen Todesarten der anderen Familienmitglieder unterscheidet: Melquíades wird zum Geist, seine Sippe von der Erde ausgelöscht, Aureliano Babilonia vergeht in der Entzifferung der Manuskripte. Das von Santa Sofía de le Piedad geäußerte und anfangs zitierte «mucha casa» ist somit mehr als ein Pars pro toto; gleichzeitig antizipiert das Zu-Viel aus «mucha casa» jene andere Geschichte, die weniger mit einer mythischen Vollendung von Geschichte zu tun hat als vielmehr mit der Entzifferung, die in diesem Raum stattfinden wird und so ein Zu-Viel an Wissen antizipiert. Das hier als zu viel zu übersetzende «mucha» beschriebe also nicht nur die Widerspenstigkeit des Hauses, sondern markiert vielmehr einen Moment der Koinzidenz und Überlagerung von macondinischer Binnen- und literarischer Entzifferungs- bzw. Textgeschichte, die ja ebenfalls in einem Zu-Viel enden wird: in einem Zu-Viel an Wissen, das insofern ein Zu-Viel ist, als es für Aureliano Babilonia den Tod bedeutet und für den Roman einen über ihn selbst hinausweisenden metaleptischen Sprung. Wenn also weder die kapitalistische Entfremdung bzw. eine mythische Geschichte die Genealogie dieses Todes ist – ohne dass damit deren jeweils nicht minder tödliche Wirkung relativiert oder negiert wäre –, sondern die Frage des Wissens, so lassen sich diese Geschichten auch deshalb verwechseln, weil sie im Roman de facto und nicht zufällig überlagert und miteinander verknüpft werden. Dies ist möglich, weil sie bezüglich des Wissens eine Problematik teilen, die sich mal als eine des Mythos bzw. der Moderne, mal als eine anthropologische ausgibt: Bedeutet der Biss in den Apfel der Erkenntnis immer eine Vertreibung aus dem Paradies und hier: der Welt? Kann der moderne Mensch nur auf eine Weise wissen, in der das Wissen ihm als äußerliches entgegentritt, weil sich das Wissen jenseits eines Nachvollzugs objektiviert und so entfremdend wirkt? Ist es unmöglich, gleichzeitig in einer, dieser Welt zu sein und ihr eine «Sinnimmanenz» (Lukács) abzugewinnen? Kann der Mensch überhaupt nur dann wissen, wenn er innehält, sich von seiner Welt abwendet, da «[…] er ist, sich aber nicht hat»⁷⁷? Kurzum: Ist Wissen nur jenseits der eigenen Welt möglich so wie es die aus dem Geschichtsfluss und dem Haus herausgefallene Kammer des Melquíades allegorisiert und gibt es wirklich keine andere Form des Wissens, als diejenige, die das Verlassen der eigenen Welt und gar den Tod als Unterpfand bereithält?

77 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 504.

Das Haus der Buendía und die Kammer des Melquíades 

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Diese Fragen sind klarerweise topologische, da nach einer bestimmten Positionalität gefragt wird, nämlich nach der von Welt, Wissen und Sein. Bevor jedoch zu klären ist, welches Wissen es ist, das ein tödliches Zu-Viel bedeutet und welche Alternativen sich topologisch möglichweise auftun, soll geklärt werden, innerhalb welcher These diese großen, unerschöpflichen Begriffe diskutiert werden können. Die These: Mit dem Schicksal der Buendía und doch über diese Geschichte hinausgehend werden auch und geradezu parallel verlaufend die Positionalitäten des Wissens problematisiert, die nur im Falle eines literarischen (poetischen) Wissens (des Romans) die scheinbar alternativlose Entscheidung zwischen immanenter Ignoranz oder entfremdeter Erkenntnis unterlaufen. Die besondere Komplexität ist dabei, dass diese Problematisierung nicht einfach als figurierte Theorie des Wissens herauszulesen ist, die sich dann eigentlich übersetzen und sagen ließe, sondern vielmehr insofern in einem hohen Grade selbstbezüglich und performativ ist, als sich Literatur sowohl im Verlaufe des Romans, also metanarrativ, wie auch im Vollzug der tatsächlichen Lektüre als jene Instanz zu erweisen scheint, die sich über dieses Innen-Außen-Schema stellt. Sie tut dies, indem sie die Positionalität des Menschen weniger als eine nur transzendent zu überwindende Exzentrik bestimmt, sondern dieses Bewusstsein innerhalb einer bestimmten und konkreten Geschichte von kulturellen Bewegungen verortet. Literatur kann so für García Márquez sehr wohl jene Poetik des Lebens liefern, die vor der Verdammung bewahren kann, von einer Welt nur dann wissen zu können, wenn man ihrer längst verlustig geworden ist oder besser: auch dann noch von ihr wissen und an ihr teilhaben zu können, wenn man auch woanders ist. Diesen Problemkomplex von Literatur und Bewegung hat García Márquez nach der Publikation des Romans mehrfach thematisiert. Sowohl in seinen Gesprächen mit Plinio Apuleyo Mendoza und Vargas Llosa, in seiner Nobelpreisrede La Soledad de América sowie nicht zuletzt in seiner Autobiographie Vivir para contarla, die das Verhältnis von Leben und Narration explizit im Titel nennt, bezieht sich García Márquez auf eine spezifische Szene – den Verkauf des großelterlichen Hauses –, in der sich diese Frage in aller Deutlichkeit stellt: Erst in der Rückkehr zeigt sich, ob Geschichte äußerlich bleiben muss oder eben «mit uns leben» kann. Diese rückkehrende Bewegung hat freilich etwas Restauratives und auch Utopisches. Ihr geht es gewissermaßen um eine Utopie, die «Bruch [ist] mit der schlechten Gegenwart und Wiederaufnahme einer gestörten Entwicklung.»⁷⁸ Damit lässt sie sich in einen Problemkontext einschreiben, den die

78 Cesare Cases: Einleitung. In: Matzner, Jutta (Hg.): Lehrstück Lukács. Franfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 9–43, S. 11.

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Romantheorie nicht erst seit Lukács, aber vor allem mit ihm «die Geburt des problematischen Menschen»⁷⁹ im Zeitalter der Moderne genannt hat. Zu revidieren ist jedoch aus der Sicht und Geschichte eines Romans wie CAS, ob der Verlust einer «menschlichen Totalität»⁸⁰ notwendigerweise in einem Umherirren des Geistes münden muss. Es ließe sich nämlich fragen, ob es nicht durchaus Lebensformen gibt, die der «Totalität der Welt»⁸¹ nicht aus Gründen einer von Welt abgekoppelten geistigen Produktivität entsagen, sondern gerade weil ihre Welt selbst eine vielfache ist und nur dies anzuerkennen, ihr Überleben sichert. Der Roman ist somit nicht nur Zeichen einer Entfremdung, sondern kann gerade dank seiner strukturellen Nähe zu einer nicht mehr spontan erfassbaren Welt mehr sein als eine Diagnostik der modernen Problematik. Es vermag, zumindest für García Márquez, auch Medium eben dieser Utopie zu sein, deren Bedarf ja angeblich erst die Verfallsform Roman anzeigt. Der Roman muss so lange Verfallsform bleiben wie man seine modernespezifische Weltenvielfalt aus der Folie der Geschichtsphilosophie heraus liest und eben nicht aus einer horizontalen und vernetzten Perspektive, für die eine an Literatur zu exemplifizierende Topologie des Textes sensibel machen kann. Die Frage nach der Topologie des Textes meint also nicht nur das ständige Konstituieren, Ausweiten und Überschreiten von diegetisch-kulturellen Grenzen, sondern ebenso und damit zusammenzudenken die Grenzen und Bewegungen des Romans und von Literatur selbst. Es handelt sich dabei um Grenzen, die relevant werden, sobald überhaupt erzählt wird, eine Welt qua Literalisierung relationiert wird. Die hieraus sich ergebende Grenzdynamik ist im Falle des Romans schon deshalb als eine literaturästhetische Figur ernst zu nehmen, weil sie wesenhaft mit seiner Qualität als nicht-autochthoner globalisierter Praxis des Schreibens zusammenhängt. Die Kopräsenz von Heterogenem ist im Roman nie nur mit einer diegetischen Positivität wie dem bunten karibischen Chronotopos beschrieben, in welchem sich Ratio und Magie angeblich vermengen, sondern meint ebenso und womöglich noch viel mehr eine nicht restlos explizierbare Heterogenität der literarischen Form. Diese Heterogenität wird in CAS nicht nur auf der Ebene des fiktiven Als-Ob vermittelt, sondern durch ein metaleptisches Moment, das Anlass gibt, die Lektüre des Romans im Verhältnis zu seiner Geschichte zu problematisieren. Der Roman ist somit gerade nicht notwendiger Ausdruck einer Realität oder einer Art des Erzählens, sondern insofern

79 Alberto Asor Rosa, Alberto: Der junge Lukács – Theoretiker der bürgerlichen Kunst. In: Matzner, Jutta (Hg.): Lehrstück Lukács, S. 68. 80 Georg Lukács: Die Theorie des Romans, S. 66. 81 Ebd., S. 69.

Das Haus der Buendía und die Kammer des Melquíades 

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in sich gedoppelt, als jener Ausdruck bzw. diese Erzählweise selbst noch einmal auf eine reflexive Verortung «dans un monde unique, réel, inachevé, historique»⁸² verweisen. Ich fasse zusammen: Der Roman CAS erzählt vom neuralgischen Punkt, an dem sich das Haus und die Kammer des Melquíades berühren und überlappen, zwei Geschichten, die beide an diesem neuralgischen Punkt in ein topologisch zu beschreibendes Verhältnis gesetzt werden. Einerseits wird die diegetische und genetische Geschichte einer Welt erzählt, deren Topographie bei ausbleibender Ironisierung sich auf ein für die Buendía letztlich vereinsamendes und tödliches macondinisches Hier reduziert. Diese diegetische Grenzdynamik des Romans, die ich weiter unten mit dem ontologischen Modus des Magischen verknüpfen werde, erzählt demnach die Genese eines Weltbewusstseins, das – so García Márquez – durchaus in einem ontologischen Differenzverhältnis zum «cartesianischen» Europa stehen kann und zwar weniger weil es (nicht nur) mittels Magie die Ordnung und Logik eines alles enthaltenden, von sich selbst abstrahierendem Hier überschreitet. Das macondinische Hier wird vielmehr sowohl durch die vielen binnendiegetischen Bewegungen und Migrationen wie auch durch die Lektürepraktiken in eine Diskontinuität gebracht, die jedweder Wirklichkeit das logisch problematische Moment der Gleichzeitigkeit einträgt. Dies für sich alleine genommen würde nicht vor einer Lokalontologie der Verschmelzung schützen und auch nicht vor dem später verfestigten Klischee der magisch-realistischen Tropen. Hinzu kommt, dass nicht zufällig innerhalb dieser internen Grenze die beiden Modi Magie und Literatur metanarrativ im Roman verhandelt, dargestellt und diskutiert werden. Dies geschieht durch die weiter unten und gesondert zu behandelnden Praktiken der Schrift, die in einem Raum ausgeübt werden, der, obschon in Macondo, vollkommen außerhalb des macondinischen Weltenlaufs zu sein scheint. Damit – und dies zeichnet CAS besonders aus – erzählt die innere Grenze anhand jener eigentümlichen Räume eine weitere Genese, nämlich die eines notwendigerweise von einer anderen als bloß temporalen Äußerlichkeit gekennzeichneten metanarrativen Bewusstseins. Dessen Geschichte überlagert sich sprichwörtlich im Moment der Lektüre mit dem diegetischen Macondo und wird so zu diesem diegetischen Hier gleichursprünglich. Letzteres wird somit einer unbestreitbaren Rhetorizität überführt und ironisiert. So ist zu keinem Zeitpunkt klar, ob und zu welchem Grad das Erzählte unabhängig bzw. vor seiner Erzählung und Lektüre existiert und noch weniger ist klar, welche Geschichte die bestimmende ist, welche tatsächlich erzählt wird und welche sich zu welcher als deren Explikation verhält. Das mythi-

82 Michail M.Bachtin: Esthétique et théorie du roman, S. 393.

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 Cien años de soledad: Zur Poetik der Überlagerung

sche Hier Macondos wird deshalb nicht nur durch eine unechte, weil stets inmitten anderer Geschichten ansetzende Genesis ironisiert, sondern ebenso überlagert, begleitet, erhalten, durchkreuzt und implizit kommentiert durch die nur außerhalb von Macondo denkbare und mögliche Bewusstwerdung dieser Geschichte als einer literarischen Geschichte. Die Genesis ist hier auch die Genesis der in ihr selbst reflektierten Literaturwerdung, die betont, dass am Anfang das Zitat steht. Der Roman ist so alles andere als eine Form ursprünglichen, lokalen und proto-oralen Erzählens und mehr als bloß Dokument oder Illustration einer anderen Welt. Er ist eine Reflexion über ein Leben in einer Weltenvielfalt, die Lokalität nur ironisch zulässt und die ihre Spezifik als poetische Utopie zu erretten sucht.

5.3 Wissen: Die andere Seite Aquel ser prodigioso que decía poseer las claves de Nostradamus, era un hombre lúgubre, envuelto en un aura triste, con una mirada asiática que parecía conocer el otro lado de las cosas.⁸³

Mit diesen Worten wird Melquíades in den Roman eingeführt. Gleich mehrere Aspekte werden genannt, die für eine macondinische Theorie der anderen Seite relevant sind: Seine Mehrprachigkeit und transkulturelle Bildung sowie die damit in einem inneren Zusammenhang stehende Wissensform. Seine metaleptisch-epistemologische Maxime lautet: Man weiß etwas immer nur dann, wenn man auch die andere Seite kennt. Diese andere Seite nun ist nicht einfach eine komplementäre, die sich in einer selbst theoretisch bleibenden Totalsicht mit der einen Seite zusammenführen ließe. Vielmehr ist sie den Dingen selbst eingeschrieben und in ihnen gegenwärtig. Sie ist – romantheoretisch nicht unwichtig – in der Ansicht selbst herauszulesen. Wenn Meqluíades diejenige Figur ist, welche auf paradigmatische Weise Macondo in eine transareal-metaleptisch zu denkende Geschichte einbettet, dann meint Transarealität nicht nur ein Verständnis von Kulturen, das über fest umgrenzte und kontinuierliche Bezugspunkte hinausgeht, sondern eben auch eine spezifische Wahrnehmung der Dinge, die sich am Beispiel der in Macondo immer gegenwärtigen anderen Seite der Dinge verdeutlichen lässt. Den Bezug zu der anderen Seite der Dinge als Teil der Dinge ist also nicht nur die Metapher des Wissens eines Weltenbummlers wie Melquíades, sondern ebenfalls Ausdruck einer bestimmten Welterfahrung, einer bestimmten Weise, sich die Phänomeno-

83 CAS, S. 14.

Wissen: Die andere Seite 

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logie der Welt zu erklären. So ist die andere Seite der Dinge selbst eine topologische Metapher für den macondinischen Wissensbegriff. Ebenso ist diese Fähigkeit eine, die sich auch einer ganz literal und erst in einer globalisierten Welt möglich gewordenen Praxis im Raum zu verdanken hat: Melquíades wird als ein Flüchtling beschrieben, ein endlos Reisender, der – bezeichnenderweise – erst schreibend in seiner Kammer den Ort seines Todes finden kann, eines Todes, dem er bis dahin stets erfolgreich zu entkommen wusste und der sich erst mit der Entzifferung der Manuskripte vollendet, damit weitere Bewegungen auslösend: Era un fugitivo de cuantas plagas y catástrofes habían flagelado al género humano. Sobrevivió a la pelagra en Persia, al escorbuto en el archipiélago de Malasia, a la lepra en Alejandría, al beriberi en el Japón, a la peste bubónica en Madagascar, al terremoto de Sicilia y a un naufragio multitudinario en el estrecho de Magallanes.⁸⁴

Mit Melquíades kommen sowohl die Welt und diverse topologisch deutbare Ordnungen wie Inseln, Archipele, Meere und Wüsten und nicht zuletzt auch der Tod und damit auch Geschichte nach Macondo. Erst dann (ihre eigene Verschriftlichung begründend) ist es für José Arcadio und die Macondiner überhaupt möglich, so etwas wie ein Weltbewusstsein zu entwickeln und gleichzeitig Macondo als einen Kosmos sui generis zu begreifen mit seiner eigenen Codierung der sichtbaren Welt. Melquíades präfiguriert damit die topologischen Verhältnisse, die Macondo zur Welt in der Folge einnehmen wird und das meint: die verschiedenen Sichtbarkeiten und Relationen Macondos, die sich mit seiner Unterscheidung von seiner Umwelt ergeben. Er bringt gewissermaßen nicht nur sich, sondern auch diverse Relationierungen nach Macondo und somit just jenes, was das auf der Flucht sich befindende Paar Ursula und José Arcadio ja vergeblich zu verdrängen versucht hat. Melquíades wird miterleben müssen, wie sich die bei ihm mit Krankheit und Naturkatastrophen verbundenen Topologien und Reisetätigkeiten in Macondo wiederholen, indem Macondo von nun an stets in mehrere Raum- und Bedeutungskontexte eingebunden ist: Abgeschnitten von der Welt wird es zur Insel, integriert in den Kapitalismus und zur Peripherie der Moderne wird es durch die Plantage und die Endstation der United-Fruit-Company-Eisenbahn, zur nationalen Krisenregion wird es durch den Bürgerkrieg, zur Wüste durch den Abzug der Plantagenwirtschaft, zum (ideellen) Küstenort durch die Einbettung in die transnationale Geschichte der karibischen Archipele und durch seine Literalisierung schließlich zu einer selbst transarealen und noch zu bestimmenden Geschichte des Überlebens qua Lektüre.

84 Ebd.

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 Cien años de soledad: Zur Poetik der Überlagerung

Diese Vielfalt ist insofern von Bedeutung, als sie für eine Geschichte der Moderne stehen kann, wenn man mit Koselleck folgenden Erfahrungskatalog als spezifisch modern begreift und diesen hier einige hundert Jahre (mit Beginn der iberischen Kolonisierung Amerikas) etwas rückdatiert sowie in eine andere Region versetzt: Die Dynamisierung und Verzeitlichung von Erfahrungswelt; die offene Zukunft, die planend anzugehen unsere Aufgabe bleibt; die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die das Geschehen auf unseren Globus pluralistisch differenziert; die daraus sich ergebende perspektivische Vielfalt, in der historische Erkenntnis gewonnen und abgewogen werden muß; ferner das Wissen, in einer Übergangszeit zu leben, in der es immer schwerer wird, die überkommenen Traditionen mit den notwendigen Neuerungen zu vermitteln.⁸⁵

Wenn man dem zustimmt, dann ist klar, dass eine transareal verstandene Geschichte Macondos insofern stets eine Geschichte der Moderne ist, als die damit beschriebene und vielfache Überlagerung von Erfahrungs-. Epochen-, und Raumkontexten in der Moderne eine Erfahrung von Transarealität voraussetzt, die ohne das Projekt der iberischen Kolonialisierung als eine der Moderne eingelassene andere Seite undenkbar wäre. Auf diesen räumlichen Aspekt zumindest aufmerksam machen lateinamerikanistisch-kulturkritische Arbeiten und auch philologische bzw. kulturtheoretische Arbeiten, die in anderen als nationalsprachlichen und binnenhistorischen Kontexten argumentieren. In der Lateinamerikanistik haben sich als Bürge für dieses Bewusstsein die schon vor den Postcolonial Studies kursierenden Formeln des Heterogenen, des Transkulturellen oder auch des Hybriden erwiesen. Diese begrifflichen Metaphern beschreiben auch topologische Zusammenhänge: Sowohl das Bild vom Fernseher, auf dem ein Kunstkatalog und ein folkloristisch-präkolumbinisch gestaltetes Kunsthandwerk liegt⁸⁶, wie auch das an lateinamerikanischen Gesellschaften beschriebene, in sich diskontinuierliche Überlagerungsmodell soziokultureller Ordnungen⁸⁷ oder auch die Beschreibung von Populärkultur als eine Lokales, Regionales, Nationales und Transnationales querende Praxis⁸⁸ und nicht zuletzt

85 Reinhart Koselleck: Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit. In: Ders./Herzog, Reinhart (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Fink, München 1987, S. 280. 86 Vgl.: Nestor G. Canclini: Culturas híbridas: estrategias para entrar y salir de la modernidad. Mexiko-Stadt: Grijalbo 1990. 87 Vgl.: Octavio Paz: México en la obra de Octavio Paz. Tomo 1: El peregrino en su patria. Madrid: Fondo de Cultural Económica 1988, S. 419. 88 Vgl.: Carlos Monsiváis: Los rituales del caos. México D.F.: Biblioteca Era 1998 [1991].

Wissen: Die andere Seite 

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die Zentrum-Peripherie-Modelle⁸⁹ verwenden ein topologisches Vokabular, das die Asymmetrien der Kulturen als eine Bewegung beschreibt, die – so Canclini im Untertitel von Culturas híbridas – ein ständiges Verlassen und Eintreten («salir y entrar») in die Moderne darstellen. Kurioserweise ist im Falle von CAS vor allem im Sinne jener Geschichtslogiken argumentiert worden, auch, und wie ich vermute, gerade weil Macondo als Macondismo⁹⁰ zu einer lokal gedachten und aufs Magische reduzierten Lateinamerika-Allegorie abgesunken ist, der die Reise und das Bewusstsein um Weltenvielfalt als Initiationsmoment nicht mehr anzumerken ist. So ist argumentiert worden, dass die Besonderheit des Romans darin liege, dass er eine mythisch-magische Welt mit den Mitteln des modernen Romans erzähle und sich so gleichsam die mythisch-regionale Welt in eine moderne globalisierte Welt hinüberretten lasse, die Heterogenität einer spezifisch lateinamerikanischen Moderne in Reinkultur exemplifizierend.⁹¹ Macondo verschränkt in dieser Lesart zwar unterschiedliche historische Stränge und ist somit auch eine geschichtstheoretisch bedeutsame Metapher, bleibt aber aufgrund der topologischen Blindheit dieser Lesart ein lokaler Entwurf, so dass auch die historische Heterogenität als kulturelles Differenzkriterium lokal bleibt, ja – so Brunner⁹² – zur letzten aristokratischen Geste verkommt. Nicht nur aus diesem Grund wird einsichtig, wie sehr eine andere als dem mythischen Substrat folgende Lektüre vonnöten ist, um für Macondo das in der Moderne so entscheidende Argument einer offenen Zukunft behaupten zu können und eben nicht nur die historische als gleichermaßen kulturontologische Hypothek zu affirmieren. Hierfür scheint mir das metalpetische Ende des Romans eine Perspektive zu figurieren, die den macondinischen Raum weniger anhand seiner immer auch relativen Grenzen, sondern auch anhand der diesen Raum kreuzenden Bewegungen zu verstehen sucht. Das von der Sekundärliteratur immer wieder diskutierte Phänomen einer mythischen Welt, die im Spannungs- oder Widerspruchsverhältnis zu modernen Erzählmitteln stehen soll,

89 Vgl.: Beatriz Sarlo: Una modernidad periférica. Buenos Aires 1920 y 1930. Buenos Aires: Edición Nueva Visión 1988. Bzw.: Nelly Richard: Interseeking Latin American with Latin Americanism: Academic Knowledge, Theoretical Practice, and Cultural Criticism. In: Del Sarto, Ana/ Ríos, Alicia/Trigo, Abril (Hg.): Latin American Cultural Studies Reader. Duke: Duke University Press 2005 [1997], S. 686–705. 90 Vgl.: José Joaquín Brunner: Tradicionalismo y Modernidad en la Cultura Latinoamericana. In: H. Herlinghaus, H./Walter, M. (Hg.): Posmodernidad en la Periferia. Enfoques Latinoamericanos de la Nueva Teoría Cultural. Berlín: Astrid Langer Verlag 1991, S. 59–81. 91 Ebd., S. 64. 92 Ebd.

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trifft zwar einen entscheidenden Aspekt – nämlich den einer sprachlich auszumachenden Weltenvielfalt –, greift aber doch zu kurz. Denn das Mythische in Macondo ist – als bereits Übersetztes – alles andere als ein unvernetzter, isolierter und vormoderner Ursprung. Vielmehr ist es, wenn (soziologische, ästhetische, kulturelle, historische und phänomenologisch begründete) Weltenvielfalt und Weltendifferenzierung als Merkmal der Moderne zu gelten hat⁹³, eine andere und anders artikulierte Seite der Moderne, die den Buendía gerade dadurch zum Verhängnis wird, da sie von diesen als lokale Geschichte gedacht wird. Die recht zweideutige Metapher der anderen Seite ist somit einmal in dem Sinne zu verstehen, dass die Erzählung einer Moderne nicht eine zentrierte und genuin westliche Geschichte, sondern eine, die sich in diachroner und synchroner Relation konstituiert. Das andere Mal ist damit auch eine andere Möglichkeit von Moderne angeschrieben, die ebenso in der utopischen Rhetorik des Kolumbianers zur Artikulation kommt. Auch wenn – wie am Beispiel von Araújo Fontalvo⁹⁴ angeführt – der Begriff des Eigenen in der utopischen Rhetorik des Kolumbianers auftaucht, so doch weniger, um eine andere und bessere, eigene und unbelastete Moderne zu fordern, sondern – und hierfür ist die Metapher der anderen Seite ein entscheidender Wink – Moderne von einer anderen Geschichte her als der einer kolonialen Zerstörung zu denken. Wie es das Motiv der zweiten Chance für die zu hundert Jahren Einsamkeit verdammten Sippen belegt, ist diese Utopie keine absolute, sondern eine historisch-restaurative. Eine Offenheit ist denkbar, weil es um eine zu machende Geschichte geht, die bei aller Projektion einer anderen Welt an einen anderen Ort gleichzeitig historisch bleibt, indem sie einen expliziten Bezug zur Lebenswelt herstellt.⁹⁵ Der Roman, indem er auch auf den utopischen Diskurs zurückgreift, fasst Moderne und Modern-Werden unter dem Konzept einer auch in diesem Sinne metaleptisch zu fassenden Weltenvielfalt (die Welt wird immer auch als eine Welt zu ‘entlarven’ sein, wenn sie ihres Entwurfscharakters überführt wird) und verschränkt mit der Ironisierung des Lokalen (das nicht mehr als Entwurf einer

93 Vgl. hierzu: Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. Konstanz: Universitätsverlag 1967, S. 14ff.; Jean Starobinski: Montesquieu par lui-même. Paris: Edition Seuil 1966; Georg Lukács: Ästhetik. (In vier Teilen). Berlin: Luchterhand 1972; Alberto Asor Rosa: Der junge Lukács – Theoretiker der bürgerlichen Kunst. In: Matzner, Jutta (Hg.): Lehrstück Lukács. Franfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 65–111; Theodor W. Adorno: Standort des Erzählers im modernen Roman. In: Ders: Noten zur Literatur I, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1958, S. 61–72. 94 Orlando Araújo Fontalvo: Cronotopía y Modernidad, o.A. 95 Vgl. hierzu: Horacio Cerutti Guldberg: Filosofía de la liberación latinoamericana. México D.F.: Fondo de Cultura Económia 1989 [1983], S. 162ff.

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einheitlichen Welt verstanden werden kann) zwei Momente unauflöslich miteinander, die doch differenziert werden sollten: Die Transarealität und Historizität des Artikulierten auf der einen und die des Artikulierenden auf der anderen Seite. Sie lassen sich literaturtheoretisch umschreiben als einerseits die positiv-diegetisch-kulturspezifischen und andererseits die intern-metaliterarischen, dem discours zugehörigen Grenzdynamiken des Romans. Diese Grenz- und Bewegungsdynamiken zusammenzuführen, ihre Bewegungen ebenso zu vollziehen – als die Geschichte Macondos – wie auch zu reflektieren – als die Geschichte einer Romanwerdung –, all dies verleiht diesem Roman seine modernespezifische und stets auch reflexive Dynamik und weniger die angebliche Spannung zwischen mythischem Inhalt und modernen Erzählmitteln. Der Roman und wie womöglich jede sprachbewusste Praxis der Moderne überhaupt erscheinen so aus lateinamerikanistischer Perspektive von Anfang an als jenes Medium, das die Schreibgeschichte im Verhältnis zum Erzählten auch topologisch problematisiert und somit auch um die räumlich-transareale Exteriorität und Vielfalt seiner Schreibpraxis weiß. Der entscheidende Punkt ist, dass diese Schreibpraxis für García Márquez nicht nur eine moderne ist, eine andere als die traditionelle, sondern sich auch als die einzig mögliche erweist, wenn es darum geht, eine selbst transareale Lokalität (wie die Karibik) zu erzählen. Sollte also die zuvor an Bachtin entwickelte Beschreibung der kolonialen Sprachsituation zutreffen, dann ist die Behauptung möglich, dass Weltenvielfalt durchaus ein Anfangspunkt der Wirklichkeitserfahrung sein kann (und nicht ausschließlich für einen Verlust steht). Die Erfahrung der kolonialen Sprachsituation führt die Erzählung einer lokalen und ursprünglichen und nicht immer schon weitgereisten Sprache ad absurdum und folglich auch die Erzählung ihres Verlusts. In diesem anderen, eher rhetorisch-logischen denn narratologischen Sinne einer metaleptischen Verschiebung (am Anfang war gerade nicht der Anfang) reiht sich auch die doch recht säkular wirkende Erzählung der macondinischen Geschichte ein. Die Genesis zitierend, ja persiflierend, ist Macondo, genuines Menschenwerk, ein Anfang, der mit allen Hypotheken einer menschlichen Geschichte belegt ist und die Geschichte einer Welt, «que nadie les había prometido».⁹⁶ Wie schon die (poetische) Utopie ist auch die macondinische Genesis keine absolute und auch keine totale Gegenerzählung einer vollends anderen, nicht vernetzten Welt. Denn dieser literarisch erzählten Genesis ist stets ein Bewusstsein um die Existenz anderer Welten eigen – sei es das in der Metalepse angedeutete Jenseits der Fiktion, sei es die von José Arcadio und Ursula zurückgelassene Welt. Weltenvielfalt wird so zur literarischen Initialerfahrung des Ro-

96 CAS, S. 28.

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mans, die sich formal in der literarischen, stets nachträglich und von woanders her erfolgenden figurierenden Praxis erneut niederschlägt und innerhalb dieser Figuration metaliterarisch sich noch einmal anzeigt. Mit diesem Herüberholen und Hinausweisen steht diese Struktur in einem radikalen Gegensatz zu der absoluten, alternativlosen, totalpräsenten Offenbarung des Aureliano Babilonia, der die mit dem Inzest allegorisierte Erbsünde der monokulturellen Einsamkeit zur Vollendung bringt. Umso entscheidender ist es, dass Melquíades und das mit ihm entstehende macondinische Wissen Macondo auch anders zu denken erlaubt. Macondo ist der Ort und Ursprung einer Welterfahrung, von dem aus erst die Genesis und die Komplexität eines modernen Weltbewusstseins nachvollzogen und schlussendlich auch auf eine eigene Weise geschrieben werden können. Macondo ist sowohl eine andere Seite als auch selbst ein Ort, der eine andere Seite kennt. Implizit revidiert dieser Anfang die verzweifelten Versuche der iberischen Eroberer, die Einheit der Schöpfungsgeschichte angesichts der Existenz anderer und Neuer Welten weiterhin behaupten zu können. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch die deutlichen Anleihen aus der Genesis wie ein Palimpsest lesen, von dem zu behaupten, dass diese in eine bestimmte Ethik der Form und der Sprache münden, wohl keine Übertreibung darstellt. Die Erzählung der Genesis ist ja bereits durch die Tatsache ironisiert, dass der macondinischen Genesis eine Geschichte der Flucht vorgelagert ist, sie also gerade nicht als göttliches Werk ex nihilo ansetzt, sondern mit dem menschlichen Exodus. Im Kontext verschiedener Globalisierungsphasen einerseits und der Profilierung des kolonialen Weltzugangs im Sinne einer setzenden, kolonialitäts- und kulturtheoretisch als Akkulturation bekannt gewordenen Einseitigkeit andererseits, wird einsichtig, aus welchem Kontext und mit welcher Perspektivierung diese Ironisierung erfolgt. In die Genesis als Motiv des absoluten Anfangs schreibt sich eine ironische Artikulation und Wiederholung ein, die nicht losgelöst ist vom Selbstverständnis und der Geschichte dessen, was unter dem Begriff der Neuen Welt bekannt werden sollte. Ausgehend von dieser phänomenologischen Koinzidenz von Genesis und Kolonialgeschichte wird die genetische Erzählung ihrer Gewalt überführt. Denn sowohl im Falle der Buendía wie auch im Falle der Kolonialgeschichte der Neuen Welt ist ein absoluter Anfang nur um den Preis der Verdrängung von Vorhandenem zu haben – eine Verdrängung, die sich in beiden Fällen als illusorisch erweisen wird: Der Inzest vollzieht sich schließlich, die Kolonisierung bringt nicht das versprochene Heil, sondern inauguriert eine Geschichte der Gewalt, die bis heute andauert. Sie findet auch durch die Unabhängigkeit kein Ende, sondern gipfelt in dem System der Bananenplantage, die ja in Absprache mit jenen nationalen Eliten errichtet wurde, die zuvor für die Unabhängigkeit im Namen einer neuen Humanität kämpf-

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ten. Auch in diesem Sinne als Wiederkehr des Verdrängten lässt sich die topologische Figur der anderen Seite begreifen. Vielsagend lesen sich in diesem Zusammenhang die Zeilen von Plinio Apuleyo Mendoza, der das Kapitel La formación, also die literarische Ausbildung des Nobelpreisträgers betreffend, mit dessen Reise ins Landesinnere einleitet, die er als «una especie de exilio que iba a ser definitiva en su vida»⁹⁷ beschreibt. Dieses Exil beschreibt Apuleyo Mendoza ganz explizit als eine Erfahrung von Weltenvielfalt, die er zu einer räumlichen Spezifik der lateinamerikanischen Kultur erhebt und die in dieser räumlichen Form den zeitbezogenen Europäern nur schwerlich bewusst sein soll: Un europeo, habituado sólo a los pacíficos cambios de las estaciones –cambios que se organizan en el tiempo y no en el espacio – no puede fácilmente imaginar el violento contraste que en un mismo país puede existir entre el mundo del Caribe y el mundo de la cordillera, de los Andes. Contraste geográfico, en primer término. […] Contraste humano, también. […] Nada podía resultarle más extraño y más duro a aquel muchacho de trece años, venido de la costa, que encontrarse de pronto obligado a vivir en un mundo tan distinto al suyo.⁹⁸

Die Metapher der Jahreszeiten, mit der die Differenz unterstrichen werden soll, erhält ihre Bedeutung nicht dadurch, dass Differenzen in Europa nicht denkbar sind – sie sind es möglicherweise umso mehr, wenn man die Metapher des an Wandel gewöhnten Europäers ernst nehmen will –, sondern dadurch, dass die Differenzen kopräsent zugegen sind. Differenz ist hier nicht eine Sache der Abfolge, Variation oder Veränderung innerhalb einer Ordnung, sondern wird in eine räumliche Vielfalt und Gleichzeitigkeit projiziert, die das Bewusstsein um eine andere Seite stets wach hält. Wenn demnach mit einer topologischen Lektüre gerade diese Verweisstruktur auf eine andere kopräsente Welt betont werden soll, die sich in diversen, also binnennarrativen, metanarrativen und biographischen Raumbezügen antreffen lässt, dann sollen damit insbesondere geschichtsphilosophisch inspirierte Lektüren zur Romantheorie ergänzt und revidiert werden. Diese neigen nämlich dazu, die ironisierenden Figuren des Risses bzw. des Außen und der Äußerlichkeit zur dargestellten Welt vor allem als eine zeitlich-hermeneutische Symptomatik zu deuten. Was sie produktiv herausstellen – ein nicht mehr unmittelbares Verhältnis zur Welt, das vielleicht nie möglich war und eine verlorene, möglicherweise gerade weil begehrte Absicherung und Gewissheit über die Welt – macht sie auf

97 Gabriel García Márquez/Plinio Apuleyo Mendoza: El Olor, S. 53. 98 Ebd., S. 54–55.

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der anderen Seite blind dafür, dass der Verlust von Unmittelbarkeit und einer Welt der Sinnimmanenz nicht nur eine Frage der modernen historischen, postepischen Existenz ist, sondern nicht minder und diese querend gleichzeitig eine Frage des transarealen Weltbewusstseins um eine in horizontaler Bewegung erfahrenen Weltenvielfalt.⁹⁹ Die «hermeneutische Funktion»¹⁰⁰ müsste ihre Legitimation dann nicht nur dank einer immer nachträglichen Vermittlungsarbeit erlangen, sondern sich auch horizontal als inter- und transkulturelles Raumverständnis von Welt(en) erproben. Letzteres wäre freilich weniger der «hermeneutischen Lizenz, eine dem aktuellen Verständnis verborgene Implikation zu entdecken»¹⁰¹ verpflichtet, als einer expliziten Problematisierung einer Topologie der Überlagerung, Grenze oder auch des Ausschlusses, also eine Spezifizierung ihres jeweils anderen Bezugspunkts. Denn die Ironie des Romans – unter diesem Terminus ist jener Riss traditionell behandelt worden – würde nun nicht nur die «Unmöglichkeit des Erzählens […] als Index eines unüberwindlichen Widerstandes der imaginären Wirklichkeiten gegen ihre Deskription»¹⁰² herausstellen und gerade diese Unmöglichkeit als jenen sodann ironischen «Realitätsbezug, den er [der Roman, PVO] weder aufgeben noch einlösen kann»¹⁰³, begreifen. Darüber hinaus würde Ironie im Kontext von Weltenvielfalt vor allem jene Ironie meinen, dass, wenn man in dieser Welt ist und diese auch noch beschreiben soll, auch deshalb auf einen Widerstand stoßen muss, weil man sich immer schon und zugleich auch in anderen und prinzipiell auf gleicher Ebene sich befindlichen Welten befindet. Der gerade in metahistoriographischen Arbeiten besonders betonte Aspekt der Perspektivierung von Geschichte wird hier manifest, indem die Geschichte dieser globalen Vernetzung von Macondo aus erzählt wird.¹⁰⁴ Sollte eine metahistoriographische Kritik nicht doch insgeheim auf das Modell einer zentrierten Geschichte rekurrieren, dann ist die Perspektive als lediglich perspektivische Brechung einer Sache falsch verstanden und damit auch die Metapher der anderen Seite. Im Sinne von nicht restlos vermittelbaren Kontexten ist eher davon

99 Das deutet zumindest an Honold, wenn er von dem «ethnographischen Dilemma» spricht, dass eine besondere Dialektik von Hier und Dort, von Nähe und Ferne zur Folge hat. Vgl. hierzu: Alexander Honold: Einleitung. In: Ders./Scherpe, Klaus (Hg.): Das Fremde: Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen. Berlin u.a.: Lang Verlag 2000. 100 Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, S. 25. 101 Ebd. 102 Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff, S. 69. 103 Ebd. 104 In diesem Sinne nimmt der Roman durchaus das später von Fuentes in Terra Nostra monumental umgesetzte Vorhaben vorweg, aperspektivische Geschichte perspektivisch zu erzählen.

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auszugehen, dass Perspektive etwas hervorbringt, das sich weder auf sie beschränkt noch ohne sie, aus neutraler Zuschauerposition sozusagen, einzuholen wäre. Perspektivierung bedeutet demnach nicht nur, eine andere Fokalisierung von Geschichte zu berücksichtigen, sondern hat auch jene impliziten und doch wesentlichen Revisionen zu beachten, die erst gar nicht als eine andere Darstellung der einen Sache erscheinen, sondern die eine Revision dadurch leisten, dass sie von einer anderen Sache sprechen und so über den Umweg einer implizit bleibenden Differenz eine Perspektivierung leisten. Diese Differenz findet in der Metapher der anderen Seite die passende Formel. So ist es – aller zitierten Genesis zum Trotz – von entscheidender Bedeutung, dass die macondinische Geschichte in ‘die’ Geschichte als eine schon gemachte Geschichte eintritt. Das meine ich in einem ganz wörtlichen Sinne: Der Moment, da Melquíades das Dorf kurz nach dessen Gründung erreicht, fällt in die Schwellenphase zwischen der zweiten und dritten Phase beschleunigter Globalisierung. Während dieser nun findet sich in Lateinamerika mit der Unabhängigkeit und Konsolidierung der jungen Nationalstaaten der wohl deutlichste Beleg für den unabwendbaren Niedergang der iberischen Vormachtstellung. So sehr nun diese Umbruchphase in vielen Werken von García Márquez das Thema ist, so sehr erstaunt es, dass hier von alledem nichts zu lesen ist. Macondo wird zunächst einmal scheinbar vollkommen unabhängig von dem durchaus konfliktreichen Selbstverständnis der jungen lateinamerikanischen Nation Gran Colombia gegründet, deren Anfänge ja nicht von den kolonialen Vizekönigreichen zu trennen sind. Macondos Geschichte schließlich reicht bis zur Sattelzeit der dritten Phase beschleunigter Globalisierung¹⁰⁵, der Hochzeit US-amerikanischer Imperialpolitik also und verführt in dieser Konstellation durchaus dazu, Macondos Geschichte als die eines verlorenen Idylls, einer vergebenen Chance zu verkennen. In dieser Lesart jedoch wäre nur der diegetisch auszumachende Zeitrahmen berücksichtigt und auch ein falsches, alles andere als modernespezifisch zu denkendes Bild von epochaler Abfolge und Ablösung suggeriert, das eben bloß die Kopplung von imperialistisch bedingtem Verfall und mythischer Verdammung herausstellen kann als würde es sich um ein und das gleiche handeln und als würde die Geschichte konstant und einheitlich verlaufen. Die entscheidende Pointe der macondinischen Geschichte besteht jedoch darin, dass das in ihr Dargestellte nicht von seiner Darstellung zu trennen ist. Unabhängig von dem, was über die referentiell auszumachenden Aspekte zu sagen ist, gehe ich deshalb davon aus, dass diese Überlagerungsstruktur auch für das Ineinandergreifen

105 Zum Konzept der vier Phasen beschleunigter Globalisierung vgl.: Ottmar Ette: Wege des Wissens.

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der verschiedenen Globalisierungsphasen anzunehmen ist. «Die Dynamisierung und Verzeitlichung von Erfahrungswelt» und «die perspektivische Vielfalt»¹⁰⁶, von der Koselleck spricht, wird also nicht nur durch eine positional zu denkende Relativierung ermöglicht, sondern auch durch die in der Erzählung selbst schon angelegten Überlagerungen der Epochen selbst. Im literarischen Text basiert dies auf zwei Verfahren: das Zitat und die Selbstbezüglichkeit. Dieser letzte Aspekt lässt sich insofern hervorragend am Zusammenspiel der diegetisch und textlich indizierten Bezüge verdeutlichen, als der diegetische Bezugsraum entscheidend erweitert und in eine weitere Konstellation gesetzt wird. Neben den bereits genannten Phasen beschleunigter Globalisierung werden auch die erste und die vierte Phase relevant. Erstens ist der Text (die Manuskripte des Melquíades) ja material und ästhetisch in der Schwellenphase zur vierten und aktuellen Phase beschleunigter Globalisierung zu verorten. Dieser Zusammenhang ist auch kein Zufall: Die im Roman selbst angelegte Überschreitung seiner Narration, drängt ja geradezu auf ein Fortleben in jener Welt, in der er material zugegen ist. In dieser nun, nicht in der erzählten Welt, mag es möglich sein, dass die zu hundert Jahren Einsamkeit verdammten Sippen eine zweite Chance auf Erden erhalten. Zweitens zitiert der Text bei der Darstellung der macondinischen Diegese die spanische Eroberung des Kontinents in gleich mehrfacher Hinsicht und auf mehreren Ebenen: als eine räumlich-metonymisch funktionierende Allegorie, die historisch, strukturell, ideen- bzw. mentalitätsgeschichtlich sowie sprachphilosophisch sich niederschlägt. Die Gründungsszenerie der frühkolonialen Erfahrung findet sich in der natürlich schon ironisierten, aus durchsichtigen Gründen angestrengten Überzeugung der Buendía, auf einen geschichtslosen, ja prähistorischen Raum zu treffen (die Felsen werden als «huevos prehistóricos»¹⁰⁷ beschrieben). Das mitunter latente und auch ruinöse Fortwirken kolonialer Strukturen findet ihre sinnfällige Allegorie als versackter und doch nach wie vor wirksamer Bewegung in der im Dschungel gestrandeten Galeere, die der Gründungsvater José Arcadio findet, als er vergebens versucht, die Insularität Macondos zu widerlegen. Damals noch in fast originaler Blüte, findet der Oberst Aureliano Buendía die Galeere ein weiteres Mal und viel Jahre später im Zuge seiner Bürgerkriegsmärsche. Sie ist nur noch ein verkohltes Gerippe, aber nach wie vor zugegen. Die Präsenz einer verdrängten (Kolonial-)Geschichte deutet sich mehrfach an und ist gerade mit solchen dichten, nur schwer zu übersetzenden Tropen ein entscheidendes Element der metahistoriographischen Kritik. Durch die säkular

106 Reinhardt Koselleck: Das achtzehnte Jahrhundert, S. 280. 107 CAS, S. 9.

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gewendete Erbschuld wird die nationalstaatliche Erzählung ihres vergeblichen Neuanfangs überführt und zwar nicht nur was die zeitlich paradoxale Figur des Neuanfangs betrifft. Ihr Gründungsmythos wird auch in einem kulturellen und räumlichen Sinne hinfällig, da Macondo, ohne direkt am atlantischen Ozean zu liegen, in den kulturellen Raum der Karibik projiziert wird, die im Falle Kolumbiens ehe schon prekäre Idee eines Nationalterritoriums weiter destabilisierend. Nur folgerichtig zitiert die Familiengeschichte der Buendia keine einzige Figur der Unabhängigkeit, wohl aber eine historische Figur wie Sir Francis Drake. Die damit zitierte Schwelle zu jener zweiten Phase beschleunigter Globalisierung, in die schließlich die Gründung Macondos fällt, bringt die Vergeblichkeit der nationalstaatlichen Einheit mit dem Verfall des alten Vizekönigreichs in eine direkte Beziehung. Mit Sir Francis Drake und Königin Elisabeth I. von England werden zwei historische Figuren zitiert, die den Verlust der iberischen Vormachtstellung illustrieren. An ihre Stelle – so wäre das Verschweigen einer glorreichen Unabhängigkeit zu deuten – tritt gerade keine neue und bessere Geschichte, so dass gerade nicht die eine Phase die andere ablöst. Die Gründung Macondos schließlich wiederholt jene schon für die iberische Kolonialphase so bezeichnende Unkenntnis des Territoriums, deren offenkundigstes Dokument ja der Vertrag von Tordesillas ist. Diese Wiederholung jedoch – und das ist entscheidend – ereignet sich aus einer entgegengesetzten Bewegung: José Arcadio Buendía ignoraba por completo la geografía de la región. Sabía que hacia el Oriente estaba la sierra impenetrable, y al otro lado de la sierra la antigua ciudad de Riohacha, donde en épocas pasadas – según le había contado el primer Aureliano Buendía, su abuelo – Sir Francis Drake se daba al deporte de cazar caimanes a cañonazos, que luego hacía remendar y rellenar de paja para llevárselos a la reina Isabel. En su juventud, él y sus hombres, con mujeres y niños y animales y toda clase de enseres domésticos, atravesaron la sierra buscando una salida al mar, y al cabo de veintiséis meses desistieron de la empresa y fundaron a Macondo para no tener que emprender el camino de regreso. Era, pues, una ruta que no le interesaba, porque sólo podía conducirlo al pasado.¹⁰⁸

Das Ergebnis ist bekannt. Macondo wird zur Halbinsel und zwar nicht nur aus geographischen Gründen. Denn der eine bekannte Weg soll verdrängt werden, weil er ein Weg in die Vergangenheit ist. Die Vergeblichkeit dieser Verdrängung zeigt sich im deplatzierten Fortbestehen der Galeere und lässt sich als Emblem dafür lesen, wie Verdrängtes, angeblich Überwundenes, eine koloniale bzw. inzestuöse Vergangenheit beispielsweise, sich dennoch eine eigene Sichtbarkeit schaffen. Genau aus diesem Grund ist das Scheitern eines Weges aus Macondo

108 CAS, S. 19.

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heraus, den José Arcadio einige Jahre nach seiner Gründung versucht, für den Gründungsvater so ärgerlich: El hallazgo del galeón, indicio de la proximidad del mar, quebrantó el ímpetu de José Arcadio Buendía. Consideraba como una burla de su travieso destino haber buscado el mar sin encontrarlo, al precio de sacrificios y penalidades sin cuento, y haberlo encontrado entonces sin buscarlo, atravesado en su camino como un obstáculo insalvable. Muchos años después, el coronel Aureliano Buendía volvió a travesar la región, cuando era ya una ruta regular del correo, y lo único que encontró de la nave fue el costillar carbonizado en medio de un campo de amapolas. Sólo entonces convencido de que aquella historia no había sido un engendro de la imaginación de su padre, se preguntó cómo había podido el galeón adentrarse hasta ese punto en tierra firme. Pero José Arcadio Buendía no se planteó esa inquietud cuando encontró el mar, al cabo de otros cuatro días de viaje, a doce kilómetros de distancia del galeón. Sus sueños terminaban frente a ese mar color de ceniza, espumoso y sucio, que no merecía los riesgos y sacrificios de su aventura. -¡Carajo! -gritó-. Macondo está rodeado de agua por todas partes. La idea de un Macondo peninsular prevaleció durante mucho tiempo, inspirada en el mapa arbitrario que dibujó José Arcadio Buendía al regreso de su expedición.¹⁰⁹

Macondo als Halbinsel ist eine ambivalente Figur: Einerseits schreibt es dieses Dorf in die transnationale Kultur der Karibik ein, ist also eine öffnende Topologie. Andererseits und dem widersprechend erscheint die Insularität einer Halbinsel als eine (ver-)schließende Topologie, die strukturell als das Emblem der Kolonialzeit schlechthin verstanden werden kann, wenn man nicht überlesen will, dass die Península aller Halbinseln ja das koloniale Mutterland Spanien war. Auch wenn man von der Kolonialmacht des spanischen Königreiches, abgesehen vom Fund der Galeere und einiger Konquistadoren-Helme, nichts weiter erfährt, so liegt mit dem Bild der Halbinsularität ein strukturell sehr dichtes Bild vor, das den gesamten Roman über in verschiedenen Fassungen auftaucht. Es zeichnet sich dadurch aus, dass die Halbinsel im Gegensatz zur Insel nicht viele und erst noch zu schaffende Wege und Richtungen aus ihr heraus entwickelt und entwickeln muss, sondern immer schon nur einen Weg bereithält bzw. aufdrängt: den Weg zurück. So kann die Halbinsel zum Bild der Abgeschiedenheit, Einsamkeit und natürlich auch des Inzests werden. So sehr die Kolonialmächte ihre Macht setzen können und auch symbolisch markieren, so sehr geht ihnen ein tieferreichendes Verständnis der jeweils unterworfenen Regionen ab. Topologisch etwas genauer ausgedrückt meint das Bild der Halbinsel, dass die Wege der Halbinsel stets als solche zu verstehen sind, die insofern nur den Weg zurück

109 Ebd., S. 21–22.

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kennen, als jeder Weg vom Zentrum aus entworfen ist, sich einseitig über das Zentraum relationiert. Besonders augenfällig wird das Fortwirken kolonialer Strukturen auch durch die bezugslose Anbindung an das vollkommen fremde Verwaltungszentrum des fernen Bogotá. In Macondo reduziert sich der politische Kampf zwischen Liberalen und Konservativen auf die Option, die Häuserdächer entweder rot oder blau streichen zu lassen. Bogotá und Madrid teilen als Machtzentren eine für koloniale Machtverhältnisse typische asymmetrische Beziehung und Austauschmomente zur Kolonie, die dazu führt, dass sie trotz ihrer großen Reichweite als geschlossene Gesellschaften erscheinen. Diese strukturelle Problematik, für die der Bürgerkrieg als ein weiteres Beispiel dieser Einseitigkeit gelten kann und in dem die Idee einer freien Nation und der Kampf für diese Idee unvermittelbar bleiben und der die Frage der politischen Gefolgschaft allein durch personale und familiäre Bindung begründet statt durch politische Überzeugung, transformiert die kolonialen Benennungen zur selbstbezüglichen Worthülse, die im am Ende nur noch sich selbst erhaltenden Krieg ein denkbar drastisches Bild findet. Der Oberst Aureliano Babilonia mag auch diese Einsicht gehabt haben, als er sich am Ende seines Lebens nur noch der Produktion von Goldfischchen widmet, die er allesamt einschmilzt, um seine Arbeit von vorne zu beginnen. An diesen Überkreuzungen verschiedener Bewegungslogiken wird deutlich, wie fruchtbar eine Unterscheidung und ein Zusammenlesen von binnennarrativen und form- bzw. sprachbedingten Bewegungsfiguren ist. So lässt sich nämlich nicht nur die gesamte historische Dimension der macondinischen Transarealität nachvollziehen. Ebenso kann strukturell an das bereits texttheoretisch herausgearbeitete Motiv der diegetischen und binnennarrativen Transgression angeknüpft werden: Sowohl dem diegetischen Raum als auch dem Handlungsverlauf ist mit der Flucht des Gründungspaares etwas vorgelagert wie ihnen gleichzeitig eine stets metanarrativ wirkende Metalepse nachgelagert ist, die die buendiasche Erzählung obendrein noch logisch-tektonisch überschreitet. Diese Momente verhalten sich strukturell wie die erste und vierte Phase beschleunigter Globalisierung zum Zeitrahmen der Familiengeschichte, die zwischen der zweiten und dritten Phase zu verorten ist. Während das vorgelagerte Moment frühkolonialer Strukturen nach wie vor und binnenlogisch fortwirkt, aus einem sich latent haltenden und stets verkleidenden Immergleichen wirksam sein kann, ist das nachgelagerte Moment eines, das radikal in eine andere Gegenwart umschlägt, quasi ein utopisches Versprechen andeutend. Ganz dem Prinzip der metaleptischen Lektüre folgend, transgrediert es die narrative Gegenwart, um auf ein Hier und Jetzt der Lektüre bezogen zu werden, das nun in seiner immer auch veränderbaren Gegebenheit zu befragen ist. Wenn man diese überlagernden, global differenzierenden und transgredierend wirkenden Mo-

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mente als eine modernespezifische Erfahrungsweise von Geschichte im Sinne von Übergangszeit begreift, wird einsichtig, dass García Márquez’ Format jener poetisch formulierten Utopie als ein neuzeitlich-modernes und gerade nicht restauratives Projekt zu begreifen ist und dass jenes Format strukturell bereits am Roman selbst festzumachen und nachzuvollziehen ist. In beiden Fällen nämlich handelt es sich dabei um alles andere als eine nahtlos anschließende Fortsetzung einer Geschichte. Wie literaturtheoretisch am chronotopischen Interaktionsmodell und produktionsästhetisch bzw. -historisch an der Reisegeschichte dieses Romans nachvollzogen werden konnte, kann es sich allenfalls um eine vermittelte Kontinuität handeln. Nur so ist man auch vor dem Schicksal des Aureliano Babilonia gefeit, in der Lektüre die Differenz zwischen Textwelt und Lebenswelt zu kassieren. Das Szenario der Interaktion hingegen macht eine Differenz kommunizierbar und zwar mit Literatur kommunizierbar, die jene Perspektivenvielfalt vollzieht, die für die moderne Lebenswelt so bezeichnend zu sein scheint. Vor diesem historischen, metahistoriographischen und kulturpolitischen Hintergrund ist der in CAS unternommene Versuch zu verstehen, die Geschichte von Macondo aus zu erzählen. Dies jedoch kann nicht unberücksichtigt lassen, dass die Verschriftlichung Macondos zwar in Macondo, aber doch vom ersten zugereisten Macondiner, Melquíades nämlich, in Angriff genommen wird. Es handelt sich folglich nicht einfach um eine Gegendarstellung, um eine schlichtweg andere Perspektive, die lediglich literarisch figuriert wird. Es kann sich – um an obige Diskussion anzuschließen – gerade nicht um ein anderes erstes und originaleres Wort handeln – dies würde unter anderen Vorzeichen strukturell nichts ändern. Es kann sich allenfalls um ein Wort handeln, das sich der in verschiedenen Facetten präsenten anderen Seite bewusst ist, sie eingesteht und zulässt. Die Fähigkeit zu einem anderen Sehen, zur grundsätzlichen Revision eines Blickes fällt nicht vom Himmel und ist auch nicht unbedingt eine Wesensfrage, sondern meint, wenn überhaupt, nur insofern eine ontologische Frage, als es um einen Wirklichkeitsbezug geht, der Wirklichkeit als eine bewegliche Gegebenheit begreift und dem ein Bewusstsein für eine andere Seite eigen ist, die nicht mehr theologisch gedacht wird, sondern als Geschichte binnenweltlicher Bewegungen im Raum und in einem vielfach differenzierten Epochenbewusstsein. Dass die andere Seite als eine epistemologische Metapher für das Wissen um Weltenvielfalt strukturell Bewegungen enthält und voraussetzt, lässt sich an einem vielsagenden Chiasmus modellieren, der von den diversen ‘Autorfiktionen’ des Romans ausgehend, sich auch für die Textstruktur und die vom Roman inszenierte Lektüre behaupten lässt. Melquíades Bewegungsgeschichte nämlich stellt gewissermaßen eine Inversion der Bewegungen von García Márquez dar.

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Während dieser erst Macondo (bzw. Aracataca) verlassen musste, um es schreiben zu können, fand jener erst dank seiner Sesshaftigkeit in Macondo zum Schreiben. Erst von der jeweils anderen Seite aus können beide ihre Texte verfassen. Dies ist insofern nicht weiter überraschend, als es in beiden Fällen und aus entgegengesetzten Richtungen den Zusammenhang von einem Wissen «del otro lado de las cosas» auf der einen und einem aus dieser Bewegung ansetzenden Erzählung auf der anderen Seite profiliert. Man sieht leicht, wie der Roman hier ein Außen impliziert, ohne es selbst voll anzuzeigen bzw. anzeigen zu können. Diese den Texten eingelassene Mobilität wird auch im Roman selbst angedeutet. Ich beziehe mich dabei auf eine angebliche Falle, die García Márquez den Kritikern gestellt hat, wenn in CAS die Werke Rabelais’ zitiert werden: Recuerdo, por ejemplo, que algún crítico creyó describir claves importantes de la novela al encontrarse con que un personaje, Gabriel, lleve a París las obras completas de Rabelais. A partir de ese hallazgo todas las desmesuras y todos los excesos panantagruélicos de los personajes se explicarían, según él, por esta influencia literaria. En realidad, aquella alusión a Rabelais fue puesta por mí como una cáscara de banano que muchos críticos pisaron.¹¹⁰

Tatsächlich wäre man auf die Bananenschale getreten, wenn man – wie es zumindest García Márquez behauptet – eine reine Einflussgeschichte betreiben würde. Der entscheidende Aspekt jedoch wird nicht revidiert, sondern implizit affirmiert. Denn wichtiger scheint doch, dass überhaupt von dem Einfall zu lesen ist, Bücher auf eine Reise zu nehmen. Rabelais’ Texte sind deshalb nicht das Modell des Romans, wohl aber die mit ihnen angedeutete Reise- und Bewegungsgeschichte. Von Macondo aus kommen Rabelais’ Werke gleichermaßen zurück wie auch erstmals nach Europa und werden gerade dadurch Teil einer kulturellen Geschichte, die ihnen äußerlich und doch ohne sie nicht zu denken ist. Die Reise dieser Bücher verdichtet und vereint somit den oben bereits angesprochenen Chiasmus der ‘Autoren’. So präfiguriert dieser Chiasmus zum einen jene interne Spaltung des Textes, der auf eine Interaktion mit einer anderen Seite, der Lesenden nämlich, angelegt ist und sich erst darin erfüllt. Zum anderen wiederholt sich der Chiasmus in der externen Spaltung des Textes, die mit dem Problem der transzendierten bzw. nicht zu überschreitenden und nicht zu negierenden Materialität des magischen bzw. literarischen Textes angesprochen wurde. Die andere Seite des magischen und in seiner Materialität ja transzendierten

110 Gabriel García Márquez/ Plinio Apuleyo Mendoza: El olor, S. 104.

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Textes ist der literarische Text des Romans, der im Gegensatz hierzu seine Materialität geradezu ununterbrochen signalisiert und somit seine Präsenz in einen anderen als den von ihm beschriebenen Kontext sichert und unterstreicht. Der transzendierten Materialität des sesshaft gewordenen Binnenautors Melquíades entspricht somit die mobile, gerade weil nicht zu transzendierende Materialität des literarischen Textes, geschrieben von einem, dessen Exil seit jenen Regentagen im Bogotá der 50er nie wieder enden sollte. Es geht hier darum, einen Zusammenhang sichtbar zu machen, der von der internen diegetischen Diskontinuität bzw. Offenheit und ihrem dadurch ermöglichten Bezug zu einer anderen Seite ausgehend nicht nur eine literaturtheoretisch-strukturelle Metalepse der Sprache im Roman beschreibt, sondern mit welchem der Roman ebenso als eine Wissenskonfiguration und -praxis zu begreifen ist, die sich allegorisch und diskurshistorisch als eine kulturelle Geschichte deuten lässt. Die immer auch revidierende Geste dieser Geschichte besteht darin, dass sie nicht umhin kann, die konstitutive, ja gleichursprüngliche Rolle ihrer wie auch immer ausfallenden anderen Seite anzuerkennen. Wenn hier von einem strukturellen Motiv die Rede ist, dann nicht in dem Sinne, dass es sich um ein tiefenstrukturelles Moment handelt. Denn die verschiedenen Ebenen teilen zwar strukturell die Figur der anderen Seite, ihr Verhältnis ist aber jeweils zu differenzieren. Es reicht von einer verdrängten anderen Seite des Kolonialismus bis zur anderen Seite der erzählten Geschichte, die mit der Geschichte der Geschichte selbstbezüglich umschrieben ist und durchaus eine bewusste literaturästhetische Figuration darstellt.

5.4 Lesen: Macondinische Lektüren Die internen und metapoetologisch funktionierenden Grenzen Macondos waren leicht auszumachen: Sowohl die Kammer des Melquíades wie auch die Werkstatt des Jose Arcadio Buendía sind innere Grenzen des Hauses, die sich gleichzeitig vom Außen des Hauses grundlegend unterscheiden. Ihre Grenzen schließen insofern an das Format der anderen Seite an, als sie im Sinne einer konzeptuellen Transarealität statt Angrenzendes zu markieren, eine an Lektüre zu exemplifizierende Überschreitung einleiten, die schließlich in der Metalepse des Romans gipfelt. Es sind außerdem beides Räume, die ausschließlich von den männlichen Nachfahren genutzt werden und stets von einer anderen Zeitlichkeit zu sein scheinen als alle übrigen macondinischen Orte. Diese andere Zeitlichkeit spezieller Räume, wenn sie meiner These folgend metapoetologisch gedacht wird, bezieht sich nämlich nicht auf die Familiengeschichte, sondern wird durch die Geschichte der Selbst-Entzifferung des Romans als Text- und Literaturwerdung

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bestimmt. Nicht umsonst sind dies Räume der Lektüre und nicht zufällig löst sich das abgewandte Lesen der Manuskripte am Ende in Text auf. Das legt die Vermutung nahe, dass es bei dieser Lesegeschichte auch um eine metanarrative Verortung von Literatur selbst geht und um die verschiedenen Verhältnisse, die man lesend zu Macondo und anhand welcher Zeugnisse einnehmen kann. Es handelt sich also bei der Geschichte der Buendía auch und immer schon um ein Lesbar-Werden dieser Geschichte. Diese Lesbarkeit nun ist nicht irgendeine, sondern meint – so heißt es über die Manuskripte des Melquíades – eine menschliche Lesbarkeit «en el tiempo y el espacio de los hombres».¹¹¹ Die Lesbarkeit Macondos in Zeit und Raum des Menschen – und das meint ja die Entzifferung der Manuskripte – ist durch diese anthropomorphe Wendung eine Frage, die, auch wenn sie in konkreten historischen Konfigurationen zu stellen ist, über die Frage nach der Darstellbarkeit Macondos hinausgeht. Für García Márquez nämlich ist diese Frage auch ein Merkmal des allgemein-menschlichen Mediums der poetischen Sprache. Diese anthropomorphe Lesbarkeit vermag nicht nur die Existenz des Menschen zu belegen («la única prueba que existió el hombre».¹¹² Gleichzeitig steht diese anthropomorphe Lektüre für eine Geschichte einer Entzifferung, die, am literarischen Text inszeniert und vollzogen, nicht minder für die lebensweltliche Wirklichkeit zur Aufgabe wird. Denn Raum und Zeit des Menschen sind grundsätzlich relationale Größen, in denen sich, im besten Falle, eine nicht minder relationale Realität manifestiert, «que no es de papel, sino que vive con nosotros […]».¹¹³ Es geht also darum, ob und wie die auf Papier gebrachte Wirklichkeit nicht nur dort zu verharren hat. Dieses Motiv lässt sich bei García Márquez häufiger vorfinden: In dem 1994 erschienenen Aufsatz Por un país al alcance de los niños beschreibt García Márquez ein weiteres Mal den schon in CAS entwickelten und metanarrativ verhandelten Zusammenhang von Leben, Papier und Lektüre. Der entscheidende Wink ist auch hier die These einer gedoppelten Existenz: «Pues somos dos países a la vez: uno en el papel y otro en la realidad.»¹¹⁴ Nun wäre die Opposition von Papier als die theoretische und die Lebenswelt als die reale Sphäre eine zu kurz greifende Interpretation dieser Aussage. Denn erstens wird von einer Überlagerung ausgegangen und zweitens lässt sich ja nicht von der Hand weisen, dass García Márquez selbst es sich ja zum erklärten Ziel gemacht hat, gerade im Namen jener

111 CAS, S. 469. 112 Gabriel García Márquez: La soledad, o.A. 113 Ebd. 114 Gabriel García Márquez: Por un país al alcance de los niños y un manual para ser niño. In: Ders.: Por la libre, Obra periodística 4, (1974–1995), Barcelona: Mondadori 1999 [1994], S. 327.

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lateinamerikanischen Realität zu schreiben, die eben von jenen papierenen Ländern, die aus einem anderen als dem literarischen Papier bestehen, hartnäckig geleugnet wird. In einem Wort: Nicht jedes Papier ist der Realität entgegenzustellen. In Zeit und Raum des Menschen lesen zu können, ist ein erster Hinweis darauf, dass auch eine bestimmte Lektüre ein Papier ins Leben holen, ja rufen kann. Denkbar werden so auch Realitäten, die zum Leben gehören und sich doch erst in Papieren und Manuskripten manifestieren. Das hängt zweifelsohne mit dem oft diskutierten und problematisch gewordenen Wirklichkeitsbegriff in García Márquez’ Poetik und dem des Magischen Realismus insgesamt zusammen. Hier möchte ich allerdings keiner ontologisierenden Lektüre folgen, die einen entzauberten Wirklichkeitsbegriff um das Phantastische einfach erweitert bzw. für diese Entzauberung entschädigt. Vielmehr sollen hier vor allem die metapoetologische Fundierung und die literaturästhetischen Implikationen jener Wirklichkeitsproblematik im Vordergrund stehen. Diese sehe ich an dem Zusammenhang von Leben und Papier verhandelt und an der Hoffnung auf eine Lektüre einer Realität, die auch nur auf lebendigen Papieren und von lebendigen Lesern erfasst werden kann. Realität ist dann etwas, das also gerade nicht ausschließlich die prä-symbolische, papierlose Flut des Realen meint und auch nicht die Summe aller alltäglichen und phantastischen Geschehnisse und auch nicht die symbolische Ordnung, die Realitäten schafft. Realität wird hier vielmehr zu einer Frage der lesenden Interaktion. Diese nun wird im Roman an eine Lebensmetaphorik angeschlossen, die, gerahmt durch die Pole Papier- und Lebenswirklichkeit, ihre Entsprechung in jenem Gegensatz findet, den die lebensfeindliche, weil indifferente und bloß mit sich selbst interagierende Lektüre eines immergleichen Logos auf der einen und die lebendige, weil Wirklichkeit lesbar machende Lektüre auf der anderen Seite vermessen. Die Lebendigkeit und auch die Frage des Lebens werden also verschiedenen Lektüremodellen folgend differenziert. Die allegorische Folie hierfür sind die diversen Schriftmodelle Macondos, denen auch jeweils eine bestimmte Lektüre entspricht. Aus dem bisher Gesagten lässt sich zumindest ein Anspruch an eine lebensbezogene Schrift und Lektüre formulieren: Sie müssen jenes leben mit zumindest nicht ausschließen, sich also auf eine zu lebende Wirklichkeit beziehen und vielleicht sogar selbst in Leben umschlagen können. Von hier aus ergibt sich eine Frage nach der Lektüre, die sich als die andere Seite des Textes ausmachen lässt. Nicht um alles allein der Lektüre bzw. einer bestimmten Lesehaltung anzulasten, geht es mir hier, sondern um die Einsicht, dass es durchaus auch ein strukturelles Moment im Text selbst ist, das bestimmte Lesbarkeiten präfiguriert. Wie also wird in Macondo gelesen, wie wird Macondo lesbar? Und schließlich: Was heißt es, von Macondo

Lesen: Macondinische Lektüren 

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zu lesen, wenn die literarische Lektüre notwendigerweise eine gewisse Äußerlichkeit impliziert? Bei der Beantwortung dieser Frage soll ein Blick auf die Orte des Lesens eine erste Typologie und Topologie der Lektüren ermöglichen. Da es besondere Räume sind, in welchen hauptsächlich geschrieben und gelesen wird, liegt es nahe, auch von einer besonderen Weise des Schreibens und Lesens auszugehen. Denn Schrift ist nicht gleich Schrift in Macondo. Außerhalb dieser Räume – der Werkstatt und der Kammer – finden sich zwei prominente Anwendungen der Schrift: Zum einen die an die Dinge gehefteten Zettelchen und zum anderen die Schrift der Verordnungen. Zu letzterer, die mit der Beschreibung als Papier sowohl für den materialen Träger wie auch für den Gesetzestext steht, stellt der Gründungsvater und leidenschaftliche Leser José Arcadio gegenüber dem Gesetzesvertreter (der mit «corregidor» einen seit dem Vizekönigreich gebräuchlichen Titel trägt und wie schon die bourbonischen Reformen als Maßnahme der Zentralmacht scheitert) recht lapidar fest: – En este pueblo no mandamos con papeles -dijo sin perder la calma-. Y para que lo sepa de una vez, no necesitamos ningún corregidor porque aquí no hay nada que corregir.¹¹⁵

Es mag verwundern, dass der so lesebegeisterte José Arcadio diese Antwort gibt. Sie wird einsichtig, sobald man die Funktionsweise dieser «papeles» berücksichtigt. Nicht dass die Papiere des Corregidor von außerhalb kommen, macht diese Papiere qualitativ anders – das gilt für die von José Arcadio so geliebten Schriften der Enzyklopädien, Weltkarten und Pergamente nicht minder –, sondern dass sie gleichzeitig nichts anderes als eine Handlungsanweisung enthalten und dass sie diese auch noch im Namen einer «autoridad decorativa»¹¹⁶ auszuführen haben. Eine prozessuale Lektüre im Sinne einer immer auch situierten Entzifferung ist damit ausgeschlossen. «Mandar con papeles» scheint durchaus eine Praxis zu umschreiben, die für jenes Land aus Papier bezeichnend ist, dem García Márquez das gelebte entgegensetzt. Den macondinischen Räumen der Schrift hingegen ist alles andere als überraschend gemeinsam, dass sie zwar nicht vollends abgeschnittene, aber doch Rückzugsräume sind. Sie stehen – im Gegensatz zu den anderen Papieren – nicht ‘mitten im Leben’ und machen das Lesen und Schreiben so zu einer sehr bewussten Tätigkeit, die sich der Automatisierung wie sie in Handlungsanweisungen ja denkbar wird, entgegenstellt. Der Zusammenhang von lebendiger und lebensfeindlicher Schrift wird dahingehend differenziert, dass nur abgewandt

115 CAS, S. 70. 116 Ebd., S. 119.

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vom Lebensfluss diese Schriften der magischen Offenbarung bzw. der hermeneutischen Korrektur ständiger Exegese und Relektüre statt geben können. Nur so kann eine Lesegeschichte möglich werden und mit ihr eine Wirkungsgeschichte des Gelesenen, die, anders als das bloß Verlesene, durchaus in ein zu verhandelndes Verhältnis mit dem gelebten Leben treten kann. Gerade aufgrund seiner Abgewandtheit kann hier ein Verstehensprozess ereignishaft an das Moment seiner Lektüre gebunden werden, statt auf einer Applikation allgemeiner Sätze und Bestimmungen zu gründen, die ja ihre Effizienz gerade dadurch sichert, dass sie unmittelbar im Leben zugegen ist, ein biopolitisches Wort sozusagen. Zusätzlich unterscheiden sich diese Schriften von denen des Gesetzes durch ihre Materialität: Statt bloß Papiere zu sein, ein dem Leben oder der Realität entgegenzusetzendes Papier, sind sie als Pergamente, alte Drucke oder auch Manuskripte von einer starken und Geschichte schon indizierenden Materialität. Indiziert ist damit, dass sie sich nicht als neutrales Speichermedium allgemeiner Sätze begreifen lassen und auch nicht als Vertreter einer fernen Autorität, sondern dass sie sich durch die an ihnen sich ereignende Arbeit auszeichnen, die sie material illustrieren. Ihre starke Materialität, der sich mit Melquíades sprechend wohl ein eigener Geist und eben nicht bloß eine kodifizierende Funktion unterstellen lässt, zeigt bereits an, dass sie nicht bloße Mittel sind. Als erst noch lesbar zu machende Schriften sind sie notwendigerweise von einer anderen Funktionalität als die Vorschriften und auch als die «papelitos», die Macondo vor der Krankheit der Amnesie retten sollen. Letztere inszenieren mit der Praxis des Anheftens ein kaum realisierbares Unterfangen, das nicht nur der unerfüllbaren Disziplin wegen, sondern auch des Vergessens eines notwendigerweise implizierten Vergessens wegen scheitert, das Vergessen, Übersehen oder auch Verdrängen nämlich, dass die explizite Benennung einer Sache stets auch eine Entscheidung erforderlich macht, die nicht der benannten Sache geschuldet ist. Damit illustriert das Anheften eben jene schon im Gesetz wirkende Kraft der Setzung und verdeutlicht damit, dass der Weg von Erkenntnis, Benennung und Handlung kein kontinuierlicher oder eindeutiger ist, keiner, der sich nur einem indifferenten Syllogismus verdankt, sondern stets eine Intentionalität voraussetzt bzw. in ihrem Vollzug entwickelt. Wirklichkeit ist eine Setzung, die verdeckt, dass sie ein Zitat ist: Ésta es la vaca, hay que ordeñarla todas las mañanas para que produzca leche y a la leche hay que hervirla para mezclarla con el café y hacer café con leche.¹¹⁷

Doch nicht nur als Handlungsanweisung scheint dieses epistemisch-zeichentheoretische Modell des Wörterbuchs – die epistemologische Figur des diziona-

117 Ebd., S. 60, (kursiv im Original).

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rio im Sinne Umberto Ecos – ungeeignet. Erst recht nicht eignet es sich zu einer relationalen Bestimmung einer Lebenswelt bzw. nur unter der Inkaufnahme der politischen Gewalt einer (Durch-)Setzung. Im Gegensatz hierzu steht die hermeneutische Arbeit an den Manuskripten als eine potentiell immer auch plurivalente und -relationale Arbeit in und mit den Texten. Die konzeptuellen Bewegungen zielen dabei auf eine horizontale Bewegung zwischen Text- und Lebenswelt und gerade nicht auf eine vertikale Bewegung, die vom Allgemeinen ins Besondere weist, vom Syllogismus zum Schluss. Anheften hat deshalb eher ein Anheften der Dinge an den Zettel zur Folge als eine immer auch Relationen verhandelnde Erkenntnis. Der Verlust dieser Fähigkeit zur Relationierung wird an selbst streng relationalen Figuren wie der des Vaters anschaulich illustriert, der «como el hombre moreno que había llegada a principios de abril» (CAS, S. 61) erinnert wird und so nicht mehr jemandes Vater sein kann, sondern – wie es eben im Modell des dizzionario üblich ist – scheinbar allgemein und scheinbar relationslos anhand von Merkmalen definiert wird. Schließlich kann auch das so einmal Bestimmte keine Relation entwickeln, nicht in ein Verhältnis treten. Es bleibt Papier und zwar lebloses Papier, das eindrucksvoll illustriert wie ein Leben in Papier aussehen mag, das nicht in der Lage ist, ein leben mit zu ermöglichen: Así continuaron viviendo en una realidad escurridiza, momentáneamente capturada por las palabras, pero que había de fugarse sin remedio cuando olvidaran los valores de la letra escrita.¹¹⁸

Der Lektüre der Zettelchen und auch des Gesetzestextes ist gemeinsam, dass sie setzende Repräsentation sind, die in ihrer Performanz das Dargestellte schlussendlich zu ersetzen vermögen und zwar unbeeindruckt von der Relation, die der Lesende zu dem Gelesenen und Erkannten unterhalten könnte und erst recht von jenem, was das Dargestellte als Darstellung an Relationen bereithält. Das ist an der Lektüre expliziert genau jene Sprachpraxis kolonialer Setzung, die sich in Macondo als eine lebensfeindliche erweist. Nicht zufällig kann erst der von den Toten zurückgekehrte Melquíades, der von José Arcadio nicht erkannt wird, die Macondiner vom Verlust des biographischen und letztlich sogar semantischen Gedächtnisses heilen und der ihr entgegneten Praxis der Zettelchen ein Ende bereiten. Melquíades schreibt dieses Vergessen klar dem ihm ja nicht unbekannten Tod zu und setzt es so in Opposition zum Leben:

118 Ebd.

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Se sintió olvidado, no con el olvido remediable del corazón, sino con otro olvido más cruel e irrevocable que él conocía muy bien, porque era el olvido de la muerte.¹¹⁹

In Macondo lässt sich neben diesen beiden Beispielen noch ein weiteres Lektüremodell finden, das auf eine Identität der Sache mit ihrer Repräsentation fußt und so nicht minder für eine Tatsachen schaffende Gewalt steht, nämlich das mythisch-magische Lektüremodell des Aureliano Babilonia. Zu fragen wäre allerdings, ob die Bestimmung des kolonialen Wortes auch der des mythisch-magischen Wortes gerecht wird. Was die magische Logik von der verordnend-politischen Setzung unterscheidet, deutet Melquíades an, wenn er diesem magischen Denken einen entsprechenden Dingbegriff beigibt, welches das Ding nicht nur als das begreift, was als geformter Stoff sichtbar erscheint und von dem man souveränen Gebrauch machen kann, sondern als etwas, das eine eigene Dynamik, ja eine eigene Intentionalität innehat und somit in einem aktiven Verhältnis zum Erkennenden steht: […] los objetos perdidos desde hacía mucho tiempo aparecían por donde más se les había buscado y se arrastraban en desbandada turbulenta detrás de los fierros mágicos de Melquíades. Las cosas, tienen vida propia -pregonaba el gitano con áspero acento-, todo es cuestión de despertarles el ánima.¹²⁰

Die Magie der «fierros mágicos de Melquíades»¹²¹ zielt der Erklärung des Melquíades zufolge weniger darauf, die Dinge gefügig zu machen. Der Magnet als magischer Apparat interveniert in der Welt vielmehr als ein Erwecken des dinglichen Geistes, der dem Menschen als die andere Seite des Dinges damit sichtbar und wirksam gegenübertritt. An dieser Erklärung zeigt sich – selbst wenn sie sich auf etwas phänomenologisch nicht zu Unterscheidendes bezieht – der Unterschied zwischen mythisch-erhaltender und kolonial-setzender Gewalt, die später an der von Mr. Hebert gegründeten Plantagen manifest wird. Genau diese bisweilen festzustellende phänomenologische Ununterscheidbarkeit macht eine genauere Lektüre der jeweiligen (Gewalt-)Narrationen notwendig. Selbst wenn beide Formen der Gewalt – Mythos/Magie auf der einen und monokulturelle Massenproduktion auf der anderen Seite – in die Welt, die Sphäre der Dinge also, aktiv eingreifen und gar verändern und somit eine Art Naturbeherrschung anstrengen, so gilt es doch die Narrationen der Gewalt topologisch zu differen-

119 Ebd. 120 Ebd., S. 9–10. 121 Ebd.

Lesen: Macondinische Lektüren 

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zieren. Nicht im setzenden Gestus, sondern, was die Bewegung betrifft, kann sich das mythisch-magische Wort vom kolonialen unterscheiden. Die Magie – so definierte sie Melquíades – erweckt ein den Dingen selbst innewohnenden Geist, sie ist in dem Sinne kein angeheftetes Wort, eher ein erweckendes. Unabhängig davon wäre aber zu fragen, ob sie tatsächlich jene Naturbeherrschung einlösen, die sie versprechen. Zweifelhaft ist dies in beiden Fällen. Im Falle der Magie scheint zwar im mit den Magneten der Geist der Dinge auf eine vom Menschen gesteuerte Weise erweckt. Jedoch wiegt folgenschwerer, dass überhaupt eine Intentionalität der Dinge und der Welt anzunehmen ist. Diese Annahme nämlich macht es möglich und vielleicht gar nötig, Geschichte als Schicksal zu denken, sei es, weil der Plan schon bestimmt ist, sei es weil die technische Naturbeherrschung gegen den Herrschenden sich richtet. Dieser Zusammenhang lässt sich weiter differenzieren, wenn man das Gegenmodell zu dieser Lektüre der unmittelbaren Identität betrachtet und dabei sowohl die Termini der Identität, Exteriorität oder auch der Korrektur als Differenzkriterien genauer bestimmt. Durch das allen gemeinsame Moment der Lektüre und die daraus sich ergebende Angewiesenheit auf eine Auslegung, Erfüllung oder Applikation werden diese Modelle vergleichbar und können aufeinander bezogen werden und bezeichnen verschiedene Verhältnisse zum Leben. Unabhängig von diesen strukturellen Merkmalen jedoch sind diese Verhältnisse insofern schon zumindest einer impliziten Prüfung unterzogen, als sie Teil einer Geschichte sind, die in einem Roman erzählt wird, der in besonderem Maße auch noch seine eigene Genese allegorisch problematisiert. Damit werden diese nicht-literarischen Lese- und Schriftmodelle stets durch die literarische Kontrastfolie unterwandert. Diese nämlich ist eine, die das Moment der sich unmittelbar gebenden Identität nicht ohne weiteres behaupten kann. Das deutet sich bereits in den Lektüren aus Kammer und Werkstatt an, in denen ja jener Text geschrieben und entziffert wird, von dem der Leser am Ende literarisch Kenntnis hat. Die Texte aus diesen Räumen stellen nicht nur eine andere Art von Texten dar – Manuskripte, alte Drucke oder auch Pergamente. Statt zu benennen, statt das Bezeichnete der schriftlichen Benennung zu unterwerfen, ja die Dinge gemäß ihrer Beschriftung zu korrigieren, zeichnet sich diese andere Lektüre dadurch aus, dass sie nicht auf Korrekturen der Welt, sondern auf Entzifferung und Lektüre des Textes selbst abzielt. Von der abgewandten Position der Textlektüre aus wird dann auch insofern eine Selbsterkenntnis und eine Relationierung zur Welt möglich, als diese Texte Wirklichkeiten lesbar machen statt die Wirklichkeit zu zwingen, sich ihnen anzupassen. Das macht sie, anders als das dizzionario, insofern zu historischen Texten, als sie im Sinne der enciclopedia eine Vernetzung und Relationen erlauben, ja erforderlich machen – Vernetzungen und Relationen, die prinzipiell keinen Abschluss kennen. Es

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geht also nie nur um das Verstehen bzw. ein Setzen der Sache an sich als vielmehr um das Verstehen der Sache durch jemanden und aus einer bestimmten Konstellation heraus. Der historische Effekt dieser Lektüre zeigt sich folglich nicht nur in ihrer Applikation, sondern weist sich in ihrer Lesbarkeit als Konfiguration schon selbst als historische aus und konturiert damit ein Verhältnis, das durchaus im Sinne von García Márquez’ leben mit umschrieben werden kann. Die starke Materialität nun ist ein erster Hinweis darauf, dass die damit markierte Konstellation nicht einfach im Namen eines Allgemeinen zu transzendieren, ihrer Partikularität, Ereignishaftigkeit und Relativität zu bereinigen ist. Die Vernetzungen dieser Lektüre sind nicht restlos systematischer Natur. Die Lektürepraxis an und mit diesen Texten ließe sich auch deshalb als produktives Moment begreifen, weil sie als hermeneutische Praxis sich im Gegensatz zu den Zettelchen die Fähigkeit bewahren muss, Heterogenes und nicht-Expliziertes in Beziehung zu setzen. Sich in diesem Sinne lesend zu erinnern bzw. erkennen heißt demnach auch, das Verstehen als die Koproduktion einer logisch nie zusammenfallenden Darstellungs- und Inhaltslogik zu begreifen, deren Aushandlung immer auch auf den Auslegenden selbst verweist, also partikular ist. Identität – und darin liegt durchaus ein ironisches wie auch kritisches Potential – ist immer auch vermittelt, ohne deshalb vollkommen äußerlich sein zu müssen. Umso aufschlussreicher ist die Tatsache, dass die Materialität sowohl im Falle des sich durchsetzenden Wortes des Gesetzes wie auch in der audiovisuellen Halluzination des Aureliano Babilonia transzendiert wird – es fällt mit dem Papier zusammen; einmal, weil das Papier die Realität kassiert, ein anderes Mal, weil die Realität im Papier sich auflöst. Das verordnende Logos ersetzt die Sache von außen, das magisch-mythische Logos wird zur Sache aus sich heraus. Ausgangspunkt dieser These ist José Arcadios geradezu monolithische Behauptung, dass es in Macondo nichts zu korrigieren gäbe. Sie lässt sich unter der Annahme einer Dopplung als zweideutige begreifen und erlaubt es, das Wort des Gesetzes in seiner Operation vom mythisch-magischen Wort zu unterscheiden, das zwar ebenfalls auf eine unvermittelte Identität zielt, diese jedoch als Erfüllung einer schon beschlossenen Sache umdeutend. Eine allgemein und extern daherkommende, vor allem aber abschließende Korrektur im Sinne einer wörterbuchartigen Form von epistemischer Totalität ist ebenso dem mythisch-magischen wie auch einem literarisch entworfenen Schriftverständnis fremd. Denn sowohl Mythos wie auch (literarische) Hermeneutik ist der korrigierende Terror eines angeblich seiner verstellenden Partikularität bereinigten Logos gegenläufig: Entweder weil der Mythos als ein von Außen korrigierter keiner mehr ist oder weil hermeneutisches Verstehen sich nie ganz der eigenen Partikularität und lebensweltlichen Einbettung entledigen

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kann oder genauer: weil diese Art von Verstehen eher als Manifestation denn als Überwindung einer partikularisierenden Erfahrungsqualität und eines Verstricktseins zu denken ist. Das macondinische Hier kann also nach den Worten seines Begründers nicht von einem nur extern lesbaren Papier bestimmt werden; dieses Papier muss äußerlich bleiben, gerade weil es statt Lektüre nur Applikation zulässt. Denn auch wenn es von seiner setzenden Gewalt her durchaus dem mythischen Wort gleicht, unterscheidet es sich von diesem wesentlich, da es ein von außen anzuwendendes ist, ungeachtet der eigenen Geschichte und so entscheidender mythischer Bezugsgrößen wie Schicksal oder Vollendung, vor allem aber eines vertrauten und sinnvoll lesbaren Namens entbehrt. Just dieser Namensmythos wird ja in Macondo auf die Spitze getrieben durch die hartnäckige Wiederholung der Namen, die aber gerade dadurch ihrer setzenden Gewalt überführt werden, die zwar macondinisch sein mag, aber dennoch unbeeindruckt vom Einzelnen: En la larga historia de la familia, la tenaz repetición de los nombres le había permitido sacar conclusiones que le parecían terminantes. Mientras los Aurelianos eran retraídos, pero de mentalidad lúcida, los José Arcadio eran impulsivos y emprendedores, pero estaban marcados por un signo trágico.¹²²

Das Wort der gesetzlichen Verordnung – anders als das literarische Wort – funktioniert nicht partikular und darf es ihrem Wesen nach auch nicht. Seine Applikation gleicht folglich eher einer Umsetzung und wird in Macondo als eine Praxis beschrieben, die prinzipiell keine interaktive Vermittlung zulässt, also all jenes, was an Rede und Gegenrede die juristische Rhetorik eigentlich auszeichnen sollte. Folgerichtig antwortet Don Apolinar Moscote auf José Arcadios Frage nach der tatsächlichen Autorschaft des Gesetzes – «¿Usted escribió este papel?» – mit einer Passivkonstruktion, die keiner Bestimmung bedarf und vollkommen deutungsfrei, unbestimmt und allgemein bleiben kann: «He sido nombrado corregidor de este pueblo».¹²³ Wenn man, das Ende antizipierend, sich vor Augen führt, zu welcher Auslöschung die Selbsterkenntnis per mythisch-magischer Lektüre führt und wenn man sich auch die Macondo von Anfang an inhärente Verdrängung und Einsamkeit bewusst macht, eine die Erbsünde umspielende narrative Rahmung, dann sollte klar sein, dass sich dieser Roman denkbar wenig für eine Apologetik des mythischen Urzustands, der unverdorbenen Idylle eignet. Was sich gegenübersteht, ist also nicht die Alternative von mythisch-lokaler-authentischer und ano-

122 Ebd., S. 211. 123 Ebd., S. 70.

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nymisiert-gesetzter-entfremdeter Identität und auch nicht die Dichotomie von heilem Mythos und entfremdendem Logos, da sie ja in ihrem setzenden Charakter durchaus Gemeinsamkeiten haben. Vielmehr ist durch die gedoppelte metanarrative Anlage des Romans bereits impliziert, dass der Roman im gleichen Atemzug jenes verhandelt und behauptet, was diese dichotomen Konstellationen erst figuriert: seine eigene Lektüre. Außen vorgelassen ist ja bei den bisherigen topologischen Interpretationen dieser Lese-Modelle bisher das Modell der literarischen Metalepse. Dabei ist es gerade dieses, durch welches die einzelnen Modelle sichtbar gemacht werden. Sie werden damit strukturell insofern ironisiert und ihrer willkürlichen Gewalt überführt, als diese Modelle in einer Sprache diskutiert werden – der literarischen nämlich – die mit beiden zwar bestimmte Eigenschaften teilt, aber eines definitiv nicht gewährleisten kann und konstitutiv ausschließt: Absolute und unmittelbar wirkende Identität, die intersubjektiv begründet wird. Denn dass Magie mythisch-begründend und die Verordnungen enthistorisierend-setzend wirken können, liegt auch daran, dass beide in Macondo stets eine öffentliche Praxis der Vorführung und Intervention implizieren. Diese wiederum gilt für die zu studierenden Schriften gerade nicht. So ist auch hier ein Chiasmus der Verortungen zu beobachten, der mit den Bewegungen der beiden Autoren übereinstimmt. Die Magie und auch die Schrift des Melquíades bringt die andere Seite ins macondinische Hier, macht sie sichtbar und präsent. Die Schrift der Enzyklopädien und vor allem die der Literatur hingegen ist eher eine Bewegung hinaus, eine Bewegung über die macondinischen Grenzen hinaus. Dabei handelt es sich von Anfang an um eine qualitativ andere Grenzüberschreitung als beispielsweise die bei der Expedition des José Arcadio oder die im Bürgerkrieg von dem Oberst Aureliano Babilonia vollzogenen. Die Grenzen, die hier zur Debatte stehen, sind nicht mehr und nicht weniger als die des mancondinisch Denkbaren. Das Denken dieser Grenzen, mit den Praktiken des Studierens und Lesens immer wieder aufs Neue verhandelt, wird in CAS jedoch in nicht-öffentlichen Räumen und auch nicht als Eingriff in die Welt exerziert. Denn hier geht es weniger darum, den Geist der Dinge zu erwecken, ihn unmittelbar zu machen, um ihn sichtbar zu machen bzw. wirken zu lassen, sondern um einen Rückzug aus der Unmittelbarkeit. Die Übung der Lektüre hat zum einen das Verhältnis zwischen dem Sicht- und Lesbaren und der anderen Seite, dem Vorstellbaren, zu erfassen und zum anderen die Welt jenseits von Macondo vorstellbar zu machen. Das Jenseits von Macondo erhält natürlich eine besondere Wendung, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass der literarische Text am Ende eine Identität mit einem Manuskript behauptet, die er nicht einlösen kann. Gerade dadurch wird das Denken eines dritten Modells von Identität notwendig, das sich als ein literarisch-ironisches Modell von romanhafter Identität umschreiben lie-

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ße, die stets historisch, relational und lokalisierbar ist und doch nie nur aus sich selbst heraus funktioniert, sondern einer Bewegung, einer Exteriorität und Reflexivität bedarf. Die Dichotomie der Pole von mythischer Lokalität und para-juristischer Ubiquität wird so durch Literatur ausgehoben, indem sie mit beiden Polen strukturelle Übereinstimmungen zeigt und doch keine der beiden einlösen kann und als ironische Figur auch nicht eine Versöhnung dieses Gegensatzes liefert. Was sich demzufolge gegenübersteht, sind die ironisierten Pole der Identität von Logos und Magie, welche die Identität von Sache und Repräsentation wiederum verschieden begründen, um damit im Gegenzug die für García Márquez so entscheidende Alternative des Romans und der Literatur zu profilieren. Zum einen meint die Identität der Schrift eine Lektüre im Sinne von Ausführung einer setzenden Gewalt, die genau dann als Identität erscheinen kann, wenn sie ihren Ursprung, ihren Willen zur Identität verschleiern kann. Damit nähert sich das das para-juristische Logos dem mythischen an, da es doch eines partikularen Willens bedarf. Dennoch ist es zu unterscheiden, da es zumindest dem Anspruch nach allerorten und allzeit gleichermaßen setzend wirken soll und so vor mythischer Willkür und Partikularität bewahren. Ihre Identität, ihr Fall wird als die Geschichte ihrer Anwendung und Durchsetzung gesichert. Nur diese einlösend kann die Mythenüberwindung letztlich in einer vollkommenen und überall identisch wirkenden Umsetzung gewährleistet werden. Damit wäre das Modell einer externen Korrektur im Namen eines allgemeingültigen Logos umschrieben, das sowohl die Zettelchen wie auch das verordnende Papier anschaulich umsetzen. Zum anderen und dem gegenüber steht das macondinische Modell einer mythisch-magischen Identität, das weder eine endgültige Korrektur vorsieht noch sich seiner Partikularität entledigt. Mit der korrekturimmunen magischen einerseits und einer hermeneutisch nicht absolut zu korrigierenden Schrift andererseits finden sich nämlich zwei Lese- und Verstehensmodelle, für die endgültige Korrektur irrelevant bzw. unmöglich ist. Dieser Aspekt macht wiederum eine strukturelle Gemeinsamkeit von literarischer und mythischer Lektüre sichtbar: Sowohl die wortgetreue Umsetzung der Magie wie auch die endlose Wiederholung und Zitation der Literatur verweisen mit ihren jeweiligen Lesemodellen auf ein anderes Verständnis von Identität: Diese meint im magischen Verständnis eine den Dingen eigene Umsetzung oder Manifestation, die es nur mit der rechten Lektüre und Ansprache zu erwecken gilt. Alles zu Verstehende und Umzusetzende ist also den Dingen selbst eingeschrieben. Diese Konzentration auf das Ding, die Unmöglichkeit seiner Transzendierung und seiner Auflösung in seine eigentliche Bedeutung, all dies findet sich in literaturtheoretischen und -ästhetischen Debatten immer dann, wenn von der

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Materialität, Textualität oder Sprachlichkeit von (literarischen) Werken die Rede ist und die nicht zuletzt Auswirkungen auf Theorien des literarischen bzw. ästhetischen Verstehens hat. Die Formel der Ereignishaftigkeit literarischen Verstehens ist, wenn schon nicht als Wahrheit, so doch als Erfahrung am Werk umschrieben worden: Sei es die Frage klassischer Werke¹²⁴, der nicht aufhebbare Formwiderstand ästhetischer Gebilde¹²⁵ oder auch die unkontrollierbare Rhetorizität des Verstehens, das letztlich in Unlesbarkeit mündet¹²⁶ – in allen Fällen ereignet sich das jeweils Theoretisierte aus dem Werk selbst heraus und immer wieder aufs Neue und doch nicht nur als das Werk selbst. Anders gesagt: Als hermeneutischer Vollzug gedacht ist diese Identität nie nur die mit dem Ding bzw. Werk, sondern meint ebenfalls die Ereignishaftigkeit von Verstehen selbst und nicht unbedingt die des zu Verstehenden. Dieser Aspekt ist insofern ein dem Ding äußerlicher, als er nicht dem Kontext des zu verstehenden Gegenstands entsprechen muss, ja nicht einmal kann. Dieses externe Moment unterscheidet mythisches und literarisches Verstehen, mythische und literarische Identität. In beiden Fällen jedoch ist Identität bzw. Identifizierung als ein magisch-totaler bzw. literarisch-provisorischer Gipfel des Verstehens alles andere als die totale und anonymisierte Umsetzung. Magie und Literatur teilen deshalb, dass ihr Verstehen und Wirken als die Geschichte einer immer auch konkret zu verortenden Lektüre und Entzifferung geschieht. Topologisch lassen sich Magie und Literatur aber klar unterscheiden: Im Falle des Mythos ist die Lektüre nur innerhalb einer bestimmten Welt möglich und verharrt in dieser, während im Falle von Literatur die Lektüre immer auch eine Relationierung mehrerer und differenter Welten bedeutet. Eine literarische vermittelte Identität von Sache und Repräsentation teilt mit der juristischen, die als Siegeszug gegen die «magische Idolatrie»¹²⁷ und gegen den stets partikularen und in der eigenen Welt verharrenden Mythos auftritt, strukturell gerade dieses externe Moment. Sei es die zu verstehende ‘Sache’ im Sinne Gadamers oder die zum Fall zu machende Geltung eines Gesetzes: in beiden Fällen konstituiert sich das Verhältnis nur dank einer der Sache äußerlichen Intervention. Im Gegensatz zum juristischen Logos jedoch kann bei einer litera-

124 Vgl. hierzu: Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Tübingen: Mohr 1960; Georg Lukács: Ästhetik. 125 Vgl. hierzu: Theodor W Adorno.: Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002 [1973]. 126 Vgl. hierzu: Paul de Man: Allegorien des Lesens. Mit einer Einleitung von Werner Hamacher. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003 [1979].; Werner Hamacher: Unlesbarkeit. In: de Man, Paul: Allegorien des Lesens. Mit einer Einleitung von Werner Hamacher. Frankfurt a.M. 2003 [1979]: Suhrkamp, S. 7–26. 127 Vgl. hierzu: Vilém Flusser: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? Frankfurt: Fischer 1987.

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risch-hermeneutischen Identifizierung diese Exteriorität nicht im Namen eines Allgemeinen verschleiert werden, indem es deren Bereich auf die konkrete und kasuistische Applikation eines Allgemeinen verkürzt. Vielmehr ist das externe Element im literarischen Modell ein dermaßen konstitutiver Bestandteil, dass es das ‘Verstehen’ dieser Identifizierung zum Ereignis macht und dennoch selbst unbestimmt bleibt bzw. seine Bestimmung darin findet, wenn es mit uns lebt. Die Abgeschiedenheit der Leseräume Werkstatt und Kammer erhält damit eine Funktion und Bedeutung, die sich auf dieses externe Moment bezieht, es geradezu exponiert. Gelesen wird nämlich nicht im Leben stehend, als Anleitung zur Handlung oder Identifizierung des Falles, sondern aus einer zurückgezogenen Position, der das Ereignis der Lektüre erst recht ein nach außen weisendes Ereignis werden muss – jedenfalls keines, das unmittelbar umzusetzen ist. Die Sache nämlich hat sich erst noch zu konstituieren und ist nicht als gegebene darauf zu untersuchen, ob für sie ein Fall zutrifft oder nicht. Für diese Annahme spricht auch die Tatsache, dass die Einsichten der Macondiner außerhalb dieser Räume immer verspätet sind wie es die fast zur Formel geronnene und insgesamt acht Mal verwendete Wendung «entonces comprendió» nahelegt. Wenn die hermeneutische Theorie des Verstehens zu Metaphern wie der des Horizonts zurückgreift, dann auch um zu unterstreichen, dass die externen und für das Verstehen unabdingbaren Eigenheiten wie Vorurteile, Prozessualität, Dialogizität und Partikularität eine Exteriorität bezeichnen, die weder an ein wie auch immer zu bestimmendes Allgemeines anschließt noch mit dem Kontext des zu Verstehenden vereinbar sein muss. Horizonte und daraus abgeleitete allgemeine Konstitutionen des Verstehens sind von daher wesensmäßig nur retrospektiv und nach der Erfahrung einer bestimmten Bewegung bestimmbar, jedoch nicht allgemein verfügbar. Verstehen, das sich in Sprache ereignet, ist immer mehr als ein Syllogismus und übersteigt bei seiner Applikation die Sache. Soweit die hermeneutische Theorie. Hier möchte ich den Akzent auf die horizontale Topologie dieser Metapher setzen. Dieses Verhältnis nämlich, das sich der Tatsache verdankt, dass der Dialog das Grundmodell hermeneutischen Verstehens abliefert, erlaubt es auch, an das Motiv der chronotopischen Interaktion anzuschließen, die sich ja als eine horizontal zu verortende Weltenvielfalt verstehen ließ, da sie entfernte Räume und Zeiten im Moment der Lektüre in Bezug setzt, den Moment der Lektüre damit anhand seiner Überkreuzungen bestimmt und nicht bloß über das Verstandene. Der Horizontbegriff soll hier deshalb weniger einer historisierenden Konturierung der Alterität dienen als vielmehr einer Pointierung des Moments, der die Konturierung ermöglicht. Es geht – in einem Wort – um die andere Seite, die entweder rückblickend oder auch von einem anderen Ort aus einsichtig wird und die so eine Reflexivität erfordert, die nicht nur historisch, sondern auch topologisch zu denken ist.

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Damit stellt sich die Frage, welche Wissensgrenzen diese Lektürepraxen implizieren. An Aureliano Babilonia wird klar, dass für die magisch-mythische Lektüre die Offenbarung die absolute Grenze ist, die gleichbedeutend mit einer tödlichen Selbsterkenntnis ist. Denn Aureliano Babilonia wird mit dieser – anders als Ödipus –vergehen.¹²⁸ Vollkommen kann ein solches, per Lektüre erworbenes Wissen von sich selbst deshalb sein, da das Verständnis und die Auslegung dieser Schrift nicht vom partikularen Sein getrennt ist und das heißt: als magische in dieses partikulare Leben nahtlos eingeht, wobei es diesem selbst entstammt bzw. der gleichen Welt angehört und in dieser in einsamer Idolatrie verharrt, gipfelt und vergeht. Wenn nun durch eine irreduzible Differenz zwischen Text- und Lebenswelt bedingt eine solche vollkommene Selbsterkenntnis verwehrt bleibt, dann ist dies nicht unbedingt ein Mangel. Aus dieser Äußerlichkeit kann sich nämlich für García Márquez eine ironische Totalität eines bestehenden Selbstverständnisses in Literatur ereignen, die durchaus dazu geeignet ist, bestehende Auffassungen «a fondo»¹²⁹ zu revidieren und tatsächlich eine ontologische und das meint hier: eine die Erfahrung und Profilierung von Wirklichkeit betreffende Frage zu artikulieren. Denn gemeint ist damit nicht nur eine Überschreitung vom Text in die Lebenswelt, sondern auch ein klassischer roman- und literaturtheoretischer Topos aus einer kulturkritischen und topologischen Perspektive reanimiert. Schließlich hält die literarisch ironisierte und nur provisorische Selbsterkenntnis nicht nur eine Reflexion und Artikulation des eigenen Verstricktseins bereit, sondern erlaubt auch eine gewisse, geokulturell zu wendende Erfahrung. Die Erfahrung einer sich äußerlichen Selbsterkenntnis und -erfahrung wird nämlich zur Grundlage dafür, Weltenvielfalt in dieser Welt selbst zu verorten und nicht bloß an der Differenz des ästhetischen Gegenstands. Nur deshalb kann die Rede von diversen Wirklichkeiten in dieser Welt überhaupt Bestand haben und nur deshalb verweist das Ereignis literarischer Selbsterkenntnis immer über den Text hinaus. Wenn also die in der Formel leben mit zum Ausdruck gebrachte Transgression die literarische Schrift und Lektüre besonders auszeichnen, dann ist für García Márquez das Leben selbst, als Hintergrund und als Entwurf jeder Lektüre verstanden, die auszuhandelnde Grenze der literarischen Lektüre. Entscheidend ist das damit implizierte Moment einer Überschreitung, das durch die Paradigmen der ästhetischen Autonomie und diskursiven Heterogeni-

128 Wenn ich hier die Differenz zum ödipalen Mythos betone, dann auch um die seit Ludmers Buch sich hartnäckig haltende These der ödipalen Superstruktur zu relativieren. 129 Gabriel García Márquez: La soledad, o.A.

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tät gesichert wird. Denn nur wenn man literarisch lesend einem Text begegnet, als würde er von einer Welt erzählen, die in ihrer Alterität irreduzibel bleibt, nie zur eigenen wird und die in ihrer Alterität nie nur eine schlichte allegorische Deutung zulässt, erst dann ist eine Überschreitung in die jeweilige Lebenswelt ein ebenso notwendiger wie auch kontigenter Effekt von Lektüre. Damit zielt diese literarische Lektüre auf einen Wissensbegriff ab, der insofern nicht als eine ästhetisch veranschaulichte Form propositionalen Wissens zu verkennen ist, als durch das heterogene und externe Moment dieser Lektüre ein Totalitätskonzept von Wissen und Verstehen denkbar wird, das nicht in einer letzten Setzung oder in einer Total-Explikation gipfeln muss. Sein Anspruch autorisiert sich vielmehr dank einer Produktivität über das Explizierte hinaus wie es just jener Aureliano Babilonia durchaus zweideutig antizipiert: Cuando Gastón le preguntó cómo había hecho para obtener informaciones que no estaban en la enciclopedia, recibió la misma respuesta que José Arcadio: Todo se sabe. (CAS: 433)

Das Modell dieser Enzyklopädie und auch das Konzept eines totalen Wissens sind hier offensichtlich nicht das der modernen enciclopedia, die sich als Sammlung eines konzeptuell kodifizierten Wissens der Welt begreift. Ebenso wenig handelt es sich hier um das Modell der gesetzlichen Setzung. Beiden ist ein Wissen über das Definierte bzw. über den Fall hinaus verschlossen. Und beide verschließen sich einer potentiell produktiven Interaktion im definierenden Text selbst. Denn über das Gesagte und Explizierte hinauszugelangen, kann eine Enzyklopädie nämlich nur dann, wenn sie entweder lesbar wird als das komplette Wissen der Welt, die dem mit einer Offenbarung oder einem hermeneutischen Vorwissen Gesegneten nichts bereithält, was nicht schon angedeutet wäre, nicht irgendwann zu einem Ende zu bringen ist. Das entspräche einem mythisch-magischen Szenario, das eine Welt und das ihr zugehörige Wissen am Ende eindeutig und total zusammenfallen lassen kann. Oder aber – und das macht diese mythische Deutung auch als eine teleologische Wissensgeschichte verkleidet problematisch – die Transgression über das Kodifizierte hinaus erklärt sich aus der Tatsache, dass die Enzyklopädie gerade nicht das Wissen der Welt enthält, sondern lediglich einer Welt zu der es sich zu relationieren gilt. Zu dieser Differenzierung motiviert die nicht unbegründete Annahme, dass die hier gelesene Enzyklopädie ja fast alles kodifiziert außer Macondo selbst. Das wiederum setzt von Anfang an eine Lektüre voraus, die man insofern eine literarische nennen kann, als sie eine Äußerlichkeit zum Text voraussetzt. Nicht überraschend findet sich folgende Beschreibung von Aurelianos Lesevorgang:

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[…] entre pergamino y pergamino había leído de la primera página a la última, come si fuera una novela, los seis tomos de la enciclopedia.¹³⁰

Nicht nur die Tatsache, dass an dieser Stelle im gesamten Roman das Wort novela zum ersten und einzigen Mal auftaucht und das auch noch als Lektüremodell für einen der kanonisierten Wissenstexte, sollte aufhorchen lassen. Nicht minder überrascht, dass Aureliano durchaus einer Lektüreform fähig ist, die er gerade am Ende, «impaciente por conocer su propio origen» (CAS, S. 470), nicht vollziehen kann, also genau dann, da er eine äußerliche Position aufgibt. Vor allem aber sollte der damit behauptete Zusammenhang von alles wissen und wie einen Roman lesen stutzig machen. Unzweifelhaft ist, dass dieses alles insofern nicht wörtlich zu nehmen ist, als ja auch die am Ende erfolgte Offenbarung sich auf eine macondinische, nicht auf eine neutralisierte oder allgemeine Totalität bezieht. Gerade dies jedoch mag ein Hinweis darauf sein, dass alles zu wissen nur im äußerlichen Bezug auf eine Welt möglich ist und das wiederum heißt: Dieses totale Wissen ist von einer partikularen Totalität, die in der betreffenden Welt verharrend wiederum nur auf desaströse Weise behauptet werden kann. Gleichzeitig bekräftigt der literarische Leser seine Äußerlichkeit, weil er statt sein Leben in dem gelesenen Text vergehen zu lassen, durchaus die Erkenntnis einer Welt anstrebt, die im Moment der Lektüre in seine eigene als eine mögliche Relation hineinragt. Dabei wird weder die Mediengebundenheit noch die jeweilige kulturell und historisch kontingente Konfiguration der Lektüre absolut transzendiert und auf den Begriff gebracht. Denn ihre jeweiligen Relationen sind systematisch nicht ableitbar. Mit einem Wort: Dieses Wissen soll mit dem Leser leben. Genau das unterscheidet ja eine wie ein Roman gelesene Enzyklopädie von einer statischen Enzyklopädie, die ihre Totalität ja nicht jenseits einer, sondern für die Welt behauptet und weniger auf Positionalitäten angewiesen ist als auf die Komplettierung ihrer Einträge. Dabei scheint mir weniger die Willkür des Alphabets der entscheidende Aspekt zu sein, der dazu führt, dass «Carlos V antes de Dios»¹³¹ steht. Vielmehr ist damit aufgeworfen, dass es nicht nur darum geht, Anderes zu wissen, sondern dass das Wissen unserer Welt durchaus verschiedenen organisiert werden kann, ohne deshalb ein enzyklopädisches Wissen komplett neuschreiben zu müssen. Mit anderen Worten: Wenn «Welthaftigkeit als Totalstruktur […] den modernen Roman [ausmacht]»¹³², dann ist auch das Wie-

130 CAS, S. 423. 131 Roberto Gonzalez Echevarría: Mito y archivo, S. 52. 132 Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff, S. 72

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in-einem-Roman-Lesen auf just jene Totalstruktur ausgerichtet und setzt damit alles positive Wissen in eine Relation. Diese nun überschreitet den rein denotativen Gehalt jedweder Enzyklopädie und ist selbst nur schwerlich kodifizierbar, sondern allenfalls als romanhafte Lektüre zu vollziehen. Ein Begriff dieser Relation schließlich macht den Anspruch einer Totalität verständlich und formuliert dabei durch die Verschränkung von Lebenswissen und Weltbewusstsein eine Kritik eines bloß propositionalen Wissens, das ja Papier bleibt und gerade nicht dazu in der Lage ist, die Position der Äußerlichkeit als eine bestimmte, gelebte und tatsächlich eingenommene zu denken. Denn die per Romanlektüre inszenierte Äußerlichkeit setzt zweierlei voraus: Zum einen bedeutet die der Fiktion gemäße Lektürehaltung des Als-Ob (Iser, Vischer zitierend), dass man einen Roman lesend zuallererst davon ausgeht, dass er seine Welt erzählt, die ihre eigene Dignität beanspruchen und die gerade deshalb in Differenz zur Lebenswelt des Lesers stehen kann. Zum anderen setzt dieses ‘Vorurteil der in sich stimmigen Welt’ wiederum eine Relationierung der eigenen Welt voraus. Diese nun ist in CAS nur mittels einer Lektüre zu erreichen, die in Abgeschiedenheit sich vollzieht. Weltwissen im Sinne von alles wissen ist damit sowohl im Kontext von literarisch inszenierter Weltenvielfalt wie auch als mythisch-magische Offenbarung ein Wissenstypus, der das Wissen der Welt immer nur als das Wissen einer Welt begreift. Gerade weil es kein neutralisiertes Verhältnis zur Welt einnimmt, ist dieses Wissen eines, das wie die Benjaminsche Monade ein «Bild der Welt in seiner Verkürzung (…) zeichne[t]».¹³³ Der literarische Leser kann um die Verkürzung wissen, der mythische und mit ihm der enzyklopädische Leser verwechseln die Verkürzung mit der Offenbarung bzw. absoluter, gerade nicht verkürztverzerrter Totalstruktur. In dieser Überkreuzung literarisch-relationaler und mythisch-magisch-absoluter Selbsterkenntnis lässt sich eine aufschlussreiche Verschiebung nachvollziehen, die Aureliano Babilonia und García Márquez in ein chiastisches Verhältnis setzt: Während jener sein Weltwissen zur Selbsterkenntnis nutzt und verkürzt und gerade deshalb in tödlicher Einsamkeit vergeht, transformiert dieser seine eigene Familiengeschichte in die Erzählung einer Welt, um auch außerhalb Macondos, der Welt seiner Kindheitserinnerungen, mit dieser Wirklichkeit zu leben.

133 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 228.

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5.5 Geschichte: Frauen und Männer Im Gespräch mit García Márquez bemerkt sein Jugendfreund Plinio Apuleyo Mendoza eine Auffälligkeit, die sowohl was den Roman als auch seinen Autor betrifft auf ein bestimmtes Geschlechterverständnis hindeutet.¹³⁴ Scheinbar – und wie zu zeigen sein wird tatsächlich nur scheinbar – wird hier das klassische Rollenverständnis – männliche Vernunft versus weibliche Irrationalität – umgekehrt: En el libro, las locuras corren por cuenta de los hombres (inventos, alquimias, guerras, parrandas descomunales) y la sensatez por cuenta de las mujeres. ¿Corresponde a tu visión de los dos sexos?¹³⁵

García Márquez bejaht diese Aussage implizit, indem er diese Beobachtung in eine metahistorische und geschlechtertheoretische These überführt: Creo que las mujeres sostienen el mundo en vilo, para que no se desbarate mientras los hombres tratan de empujar la historia. Al final, uno se pregunta cuál de las dos cosas sería la menos sensata.¹³⁶

Welt als das Weiblich-Bewahrende und Geschichte als das Männlich-Tätige sind zwei Markierungen, die – auch in ihrer sexuellen Konnotation – schnell deutlich machen, dass es hier um keine Kritik tradierter Geschlechterverhältnisse geht. Von Interesse ist diese Passage aber durchaus, wenn man diese Allegorie wörtlich als ein ‘Verhältnis’ liest und wenn man diese Allegorie gleichzeitig als eine der historischen Erfahrung und als eine des Lesens begreift. Diese Bezüge sind leicht zu begründen: Bewahren und Vorantreiben entsprechen den beiden Weltdynamiken, die ich anfangs genannt habe. DIE Welt ist immer auf ihre Bestätigung aus, eine Welt hat sich stets zu behaupten angesichts des Unerwarteten. In ihrem Zusammenspiel, ihrem wechselseitigen Verweis habe ich zuvor eine neuzeitliche Erfahrung von Welt ausgemacht. Was die Lektüre angeht: Es bedarf keiner allzu großen Gewalt, um mit dieser Aussage die phänomenologisch geschulte Theorie des Lesevorgangs von Wolfgang Iser zu assoziieren. Iser reformuliert die oben am Geschlecht explizier-

134 Apuleyo Mendoza bezieht sich hierbei auf die Beobachtung einer der wenigen Kritiker, die García Márquez mit Interesse verfolgt: Ernesto Volkening hat in einer der ersten Arbeiten zu dem Roman diese Auffäligkeit herausgestellt. 135 Gabriel García Márquez/Plinio Apuleyo Mendoza: El olor, S. 109. 136 Ebd.

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ten Modi des Bewahrens und Vorantreibens als eine Dialektik von Retention und Protention.¹³⁷ Diese Prozessualität hält er für wesentlich, wenn literarische Texte verstanden werden wollen. Iser selbst unterzieht diese Figur in seinem Spätwerk einer anthropologischen Wende im Sinne eines anthropospezifischen Bedarfs an Inszenierung.¹³⁸ Damit rekurriert er sowohl auf eine Lektürehaltung, die in ihrer Offenheit der sogenannten «weltbildnerischen Funktion» (Bauer) des Romans angemessen scheint, wie auch auf ein generelles lesetheoretisches Paradigma, das in der blumenbergschen Formel der Lesbarkeit der Welt die Lektüre zur Metapher von Welterfahrung erhebt. Eine dermaßen abstrahierte Formalisierung des Lesevorgangs soll nicht Gegenstand der folgenden Reflexionen sein und auch nicht eine Veranschaulichung der Iserschen Lesetheorie. Die beiden Momente bzw. Modi bloß als ein formales und logisches Verhältnis gegenseitiger Angewiesenheit zu denken und identifizieren, würde insofern zu kurz greifen, als damit im Falle einer Allegorie historischer Kinetik naturgemäß recht wenig gesagt ist bzw. die allegorische Folie irrelevant wird. Sobald man jedoch die allegorische Folie der Geschlechterverhältnisse als eine metahistorische Allegorie und eine Allegorie der Lektüre ernstnimmt, wird das formal-dialektische zu einem denkbar unterbestimmten Modell historischen bzw. literarischen Verstehens. So sehr also die Isersche Lesetheorie einen entscheidenden Hinweis auf eine mögliche Verschränkung von Lektüre, historischem (Welt-)Verstehen und metahistorischer Kinetik gibt, so sehr gilt es vordererst, anhand dieser metahistorischen Allegorie der Geschlechterverhältnisse mögliche Modelle von Sinnkonstitution zu präfigurieren und strukturieren. Ziel ist es, auf diese Weise diese Modelle präziser zu formulieren als es eine formale Dialektik kann und historisch etwas spezifischer als es eine anthropologische Deutung dieser Dialektik tut. Sich vordererst an der allegorischen Folie der Geschlechterverhältnisse als metahistorische Allegorie literarischen Verstehens zu orientieren, begründet sich mit der Tatsache, dass sich im Romantext selbst eine Korrelation sowohl von Geschichtsverlauf und Lektüregeschichte wie auch von Lektüre und Geschlecht finden lässt. Die Frage der Geschlechterverhältnisse ist auf gleich zwei Beschreibungsebenen zu verorten. Sie lässt sich einmal, im Text angelegt und literaturtheoretisch dem Iserschen Wink folgend, auf die macondinischen Lektüremodelle beziehen, indem diese nun auch metahistorisch zu deuten wären, die Retention als bewahrende, die Protention als eine antreibende Kraft nicht nur des Verstehens, sondern von historischer Praxis insgesamt lesend. Zweitens

137 Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wirkung. München: Fink 1976. 138 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 13ff.

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kann man die konkrete Ausgestaltung der Geschlechterverhältnisse als eine Narration darüber lesen, welche Möglichkeiten und Grenzen eine so figurierte metahistorische Logik zulässt, also wie sich die macondinische Geschichte selbst als Ergebnis dieses Antagonismus begreifen lässt und ihn problematisiert. In diesem Falle wäre weniger der Text literaturtheoretisch zu deuten als vielmehr die Narration der Allegorie auszubuchstabieren, um erst im Anschluss daran – möglicherweise – zu einer literaturtheoretisch relevanten Folgerung zu gelangen. Die metahistorische Allegorie der Lektüremodelle nun betrifft eine den Roman überschreitende Fragstellung und Problematik, die sich prinzipiell zu anderen metahistorischen Figurierungen und Modellen in Bezug setzen lässt. Die zentralen Fragen wären folgende: Wie äußert sich hier das weibliche Bereithalten gegenüber dem männlichen Antreiben und was sagen die macondinischen Lektüremodelle als metahistorische Allegorien über den Verlauf der macondinischen Geschichte und über den historischen Erfahrungsraum im Allgemeinen aus? Die strukturellen und schon besprochenen Differenzen der einzelnen Lektüre-Modelle zwischen mythisch-magischer, para-juristisch/logozentrischer und literarischer Lektüre sind vor dem Hintergrund der hier aufgeworfenen und geschlechtsspezifisch gewendeten Dynamik zwischen Bewahren und Vorantreiben, zwischen einer lokal ausgerichteten Retention und einer geradezu wörtlich nach Außen drängenden Protention als metahistorische Allegorien zu lesen und als Modelle von Weltlektüre genauer zu bestimmen. Wenn man nämlich die Topologie der jeweiligen Bewegungslogiken berücksichtigt, also jenes, was ich weiter oben das Interaktionsmoment der Lektüre genannt habe, dann wird klar, dass es entscheidend ist, innerhalb welcher topologischer Verhältnisse sich diese Prozesse von Weltlektüre vollziehen. Während die magisch-mythische Lektüre im Lokalen verharrt, im Grunde keine mediale Vermittlung und Distanz kennt und so erst die Voraussetzungen für das weibliche Prinzip des Bewahrens schafft, sofern das Bewahren hier stets auf ein Hier angewiesen ist, bleibt die para-juristische/logozentrische Lektüre der Welt immer nur äußerlich bzw. auf ein zur Durchsetzung bestimmtes Papier reduziert. Die äußerliche, entlokalisierte Medialität setzt das männliche Prinzip anschaulich um, dessen setzende, das Bestehende nicht berücksichtigende Gewalt mit der Wendung «empujar» ja bereits angedeutet ist. Während also der weibliche Mythos keine echte bzw. nur eine minimale Protention kennt und das meint: den Horizont minimal offen hält und so vor allem «gesättigte Anschauungen»¹³⁹

139 Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens, S. 256.

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produziert, ist dem männlichen Logos jeder Anschluss an bereits Verstandenem, Retention also, fremd und zwar in dem Sinne, dass seine Protentionen keinen Bezug zu dem zulassen, was sie eigentlich erst lesbar machen sollten und so im Verhältnis zu diesem stets «Leervorstellungen»¹⁴⁰ bleiben, die den Frauen wie Wahnsinn erscheinen. Dem Übermaß an (lokaler) Erinnerung begegnet das Übermaß an Entkopplung vom Leben. Dieses in beiden Fällen lebensfeindliche Fazit möglicher Geschichtserfahrungen und -praktiken hat bereits Nietzsche in ähnlicher Weise an der durch die Geschichtswissenschaften veränderten Erfahrungen und Erzählungen von Geschichte diagnostiziert. Dabei geht Nietzsche (wie auch García Márquez) von einem bestimmten Lebensbegriff aus, um diese Problematik zu konturieren und ein Maß zwischen dem «Überhistorischen» und «Unhistorischen» zu entwickeln.¹⁴¹ Die Aussage nun, dass nicht klar ist, welche der beiden Handlungen, «la menos sensata» ist, wird jetzt verständlich. Jedes Prinzip für sich genommen sieht die der literarischen Lektüre bescheinigte und lebenserhaltende Möglichkeit der Aushandlung und wechselseitigen Revision nicht vor. Die Möglichkeiten literarischer Lektüre sind zwar damit strukturell ex negativo umschrieben. Verständlich werden sie allerdings erst, wenn sie mit der allegorischen Folie der Geschlechterverhältnisse auf eine andere Beschreibungsebene gebracht werden. Denn das Zusammenspiel der beiden Prinzipien wird erst auf der Ebene der histoire verhandelt bzw. organisiert. Durch diese gleichzeitige Oberflächenpräsenz in der histoire bedingt sind sie auch Teil der macondinischen Geschichte selbst. Diese figuriert so zusätzlich ein Modell von historischer ‘Erfahrung’ durch jene, die diese Geschichte erleiden, machen und nicht zuletzt auch selbst reflektieren bzw. lesen. Die Deutung der Geschichte und ihrer Logik ist somit nicht nur eine Frage an den externen Hermeneuten. Die zentralen Fragen lauten hier, welches Verhältnis diese grundsätzlich antagonistischen Kräfte von Geschichte zueinander einnehmen können und inwiefern der Roman die Option eines Zusammentreffens im Vollzug seiner Lektüre selbst anzeigt. Die Verschiebung in der Beschreibungsebene wird spätestens an dieser Stelle einsichtig: Während ich zuvor nach der Deutung der Lesemodelle im Sinne metahistorischer Allegorien gefragt habe und diese im Prinzip mit schon etablierten Größen wie Mythos oder Logos benennen und begrifflich erfassen konnte, erhoffe ich mir nun Aufschluss über eine bestimmte historische Logik,

140 Ebd. 141 Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: Ders.: Sämtliche Werke: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Die Geburt der Tragödie; Unzeitgemäße Betrachtungen 1–4; Nachgelassene Schriften 1870–1873. München: dtv 1980, S. 330.

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wenn man der Logik der allegorischen Folie folgt, statt auf einen begrifflichen Vorrat zurückzugreifen. Sollte es stimmen, dass solche mehr als bloß systemische Logiken wie die der Geschichte durch Narrationen statt Superstrukturen¹⁴² organisiert bzw. lesbar werden, dann liegt es nahe, diesen sexuellen Index als Narration zu lesen und aus der Narration heraus das organisierende Prinzip eines so verstandenen Geschichtsverlaufs zu entwickeln. Hierfür bietet sich der von García Márquez so prominent platzierte Topos der Liebe bzw. des Begehrens an. Anders als Nietzsches bevorzugte Figur der unversöhnlichen Kräfte erlaubt diese Narrativierung auch ein (womöglich utopisches) Szenario einer erfolgreichen narrative closure. Wenn man nämlich das Verhältnis der Liebe als dasjenige begreift, das eine gelungene Begegnung der Geschlechter beschreibt und mit seiner Vereinigungsmöglichkeit das nietzscheanische Szenario des ‘gesunden’ Verhältnisses der Kräfte übersteigt, dann kann diese narrative closure den verschiedenen und hier implizierten Ebenen entsprechend sowohl auf die Lektüre bezogen wie auch als ein alternatives Modell von Geschichte verstanden werden.¹⁴³ Weniger ein In-Schach-Halten des Antagonismus – eine Figur, die Nietzsche und Freud zusammenbringt – als vielmehr ein freilich transformierendes Zusammenspiel der Kräfte wäre dann anzunehmen – etwas, was auch schon Starobinski in der Metapher einer glücklichen (und eben nicht neurotischen) Beziehung für eine gelungene kritischen Lektüre beschrieben hat.¹⁴⁴ Nicht weiter überraschend ist auch dem Topos der Liebe jene doppelte Dimension eingeschrieben: Einerseits ist er in zahlreichen Kommentaren des Au-

142 Michel de Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 220. 143 Dass mit einer topologischen und figurativen Analyse dieser metahistorischen Allegorie zunächst ein mehr als tradiertes Bild der Geschlechterverhältnisse reproduziert wird, ist nicht mit Affirmation oder Mangel an Kritik zu verwechseln. Im Gegenteil: Erst wenn man einen Begriff davon hat, wie weit und in welchen Kontexten Geschlechterdifferenzen sich äußern und relevant werden, kann eine Kritik ihrer jeweiligen Konstruktionen erfolgreich ansetzen. Dies berücksichtigend gilt es dennoch meine Fragestellung in Erinnerung zu rufen: In diesem Kapitel sollen diese tradierten Geschlechterverhältnisse als eine Allegorie metahistorischer Prinzipien gelesen werden. Relevant und möglicherweise kritikwürdig werden sie also nicht an sich erscheinen – dies steht außer Frage –, sondern nur insofern, als sie ein bestimmtes historisches Wissen und ein bestimmtes Verständnis von Geschichte kodieren. Der Bedarf an dieser Folie macht letztlich fraglich, ob es so etwas wie eine neutralisierte Formalisierung dieses Prozesses, den ich hier historisches Wissen nenne, geben kann. Denn soviel sollte bei aller terminologischer und politischer Korrektheit neutralisierter Begriffe wie Protention und Retention klar sein: Sie verfügen nicht ansatzweise über das Differenzierungs-, Anschluss- und Figurierungspotential, das historisch tradierten und kulturell kodifizierten Allegorien zu unterstellen ist. Deren Dichte ist es, die eine Rekonstruktion dieser Allegorien so unumgänglich und aufschlussreich macht. 144 Jean Starobinski: La relation critique. Paris: Gallimard 2001, S. 52.

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tors zu seinem Werk auf das Scheitern bzw. Gelingen von Geschichte bezogen worden und damit auf eine metahistorische Ebene gebracht. Andererseits ist er unverzichtbarer rhetorischer und das meint: expliziter Bestandteil einer narrativen utopischen Praxis, die dazu dienen soll, bestehende historische und das meint: ausschließlich antagonistische Narrationen zu umgehen und diesen Antagonismus seiner Historizität und Kontingenz zu überführen. Neben des für sozialutopische Diskurse unverzichtbaren Motivs der Selbstbestimmung wird – und wie ich zeigen werde nicht das einzige Mal – die Möglichkeit einer wahrhaften Liebe beschworen, in jener «nueva y arrasadora utopía de la vida, donde nadie pueda decidir por otros hasta la forma de morir, donde de veras sea cierto el amor […].»¹⁴⁵ Diese Leitfragen an den Text und die ihm unterstellte metahistorische Allegorie sind vor einem bestimmten theoretischen Hintergrund zu lesen, der diese Fragen relevant macht. Das Paradigma der Weltenvielfalt als eine durch die Differenz von Text- und Lebenswelt paradigmatisch illustrierte wird in CAS somit nicht nur metanarrativ als eine Frage kulturellen Überlebens bzw. Weiterlebens, sondern zusätzlich auch noch metahistorisch belegt. Dieses Paradigma gibt den Horizont ab, vor dem das männliche Vorantreiben, Eingreifen und Anschieben einerseits und das weibliche Bereithalten, die bewahrende Potentialität andererseits auch eine Form historischer Praxis und Wissensformation umschreiben, die Geschichte grundsätzlich als eine Verschränkung oder auch Überlagerung von divergierenden Strängen und Bedürfnissen zu entwerfen erlauben. Sinnbildlich, aber nicht exklusiv steht dafür in Macondo die anfangs topologisch konstatierte Überlagerung und Durchkreuzung von Lektüregeschichte auf der einen und die außerhalb der Kammer des Melquíades stattfindende, selbst schon vielfach durchkreuzte National-, Familien- und Lokalgeschichte auf der anderen Seite. Das Moment des Umschlags der einen in die andere Welt im Sinne einer Grenzerfahrung und ohne das ja eine Differenz von Welten nur schwerlich wahrzunehmen bzw. Weltenvielfalt überhaupt zu behaupten ist, wird somit nicht nur mit der Überlagerung diverser Raumlogiken illustriert. Vielmehr findet die Überlagerungsfigur jeder so verstandenen Geschichte in der literarischen Lektüre ihr prozedurales Paradigma und Modell, das sich, wenn auch verzerrt und verkürzt, ebenso in den Lektüren des weiblichen Mythos und des männlichen Logos finden lässt. Denn Lesen, zumal das Lesen «como si fuera una novela»¹⁴⁶, konturiert ein Modell von Sinnkonstitution, das, wie am Beispiel der Enzyklo-

145 Gabriel García Márquez: La soledad, o.A. 146 CAS, S. 423.

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pädie angezeigt, einer kodifizierten (Wissens-)Ordnung nur dann einen Totalitätsanspruch zubilligen kann, wenn diese weltbezogen gedacht wird, als das Wissen einer Welt. Die Offenheit des Verstehens erklärt sich also nicht nur durch die prozedurale Struktur des Verstehens, sondern vor allem durch die Tatsache, dass es sich erst in einem ihm äußerlichen, mal weiblichen, mal männlich genannten Weltbezug erfüllt und das meint: nie in einem absolut gesetzten propositionalen Gehalt der zu verstehenden Sache. Die Explikation und Illustration dieses relationalen Aspekts unterscheidet literarisches Lesen von den anderen Lektüremodellen. Es setzt nämlich eine Haltung voraus, die jene Relationierung einmal extern als Weltenvielfalt voraussetzt. Deren unverzichtbare Grundannahme ist das oben bereits genannte Vorurteil einer in sich stimmigen Welt. Nur so wird jenes überschüssige Ganze der gelesenen Welt verbürgt und lesbar – «todo se sabe» – und nur deshalb kann die literarische Lektüre eine bestimmte Weise historischer Erfahrung modellieren wie auch ein plurales Verständnis und Wissen von Welt illustrieren. Diese nicht-systemischen Relationen beschränken sich jedoch nicht nur auf dieses Vorurteil. Denn – und das ist der entscheidende zweite Schritt, den Mythos und Logos verdrängen bzw. verkürzen – darüber hinaus wird dieses Verstehen nicht bezugslos zu den eigenen Voraussetzungen reflektiert. Die gelesene Welt und die, aus der gelesen wird, können jenseits aller Stimmigkeitsimperative im Sinne einer Arbeit des «Imaginären»¹⁴⁷ in eine Relation gesetzt werden. Mythos und Logos hingegen, unabhängig davon, ob dies einer restriktiven Retention oder einer entkoppelten Protention zu verdanken ist, disiplinieren bzw. applizieren das Gelesene, statt es in eine Relation zu bringen. An dieser Stelle lässt sich das Verhältnis dieses literarischen Lese-Modells und der Annahme von Weltenvielfalt etwas genauer beschreiben, gewissermaßen von innen heraus und nicht nur von den konstitutiven Vorurteilen und Prozessen der Lektüre ausgehend. Die Lektüre, so könnte man argumentieren, wiederholt im Grunde jene Produktion von Relationen, die durch ein kontinuierliches Zusammenspiel des weiblich konnotierten Bereithaltens mit dem männlich konnotierten Antreiben schon in der historischen Entwicklung und Erfahrung von Welt angelegt sind. Angesichts der von den Männern neu eröffneten Horizonte, deren Reichweite nur durch die den Frauen zugeschriebene Fähigkeit beschränkt wird, das Bestehende angesichts dieser Erweiterungen weiterhin in Funktion und Bereitschaft zu halten, wird Geschichte allgemein, aber speziell die eines Ortes nur durch seine Überlagerungen und Relationen angemessen bestimmbar und nicht nur als die Summe einer angeblich leicht zugänglichen positiven Ge-

147 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 503 ff.

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schichte. Der nie klar herauszuschälende Überschuss der literarischen Lektüre im Verhältnis zur propositional verkürzten Lektüre gründet sich eben auf dieses Zusammenspiel, das ja jedem historischen Geschehen und Handeln immer auch einen bestimmten Bezug unterstellt.¹⁴⁸ In dem Moment jedoch, da sich die Bezugsformen als retrospektive und prospektive fundamental unterscheiden und sich nicht mehr vermitteln lassen, wird eine radikalere Überlappung ermöglicht. Diese nun gründet sich nicht nur auf die literarisch inszenierten, roman- und wissenstheoretisch fundierten oder auch am Chronotopos diskutierten Überlagerungen verschiedener Geschichten und Erfahrungskontexte, sondern zielt auf eine Diagnose der macondinischen histoire. Während die eben genannten Überlagerungsmomente erst aus einer Position der Äußerlichkeit einsichtig wurden und sich eher durch die Natur der Romangattung bedingt auf eine Welt jenseits von Macondo bezogen, verortet sich dieses Moment im Zentrum des macondinischen Handlungsgeschehens. Die macondinische Geschichte, von der hier die Rede ist, setzt also grundsätzlich mit dem Weltenvielfaltmotiv an und beschreibt in ihrem Fortgang eine Schere, deren zunehmende Öffnung sich gerade darauf gründet, dass «[l]os Buendía no eran capaces de amor.¹⁴⁹ Mit anderen Worten: Retention und Protention sind nicht aufeinander bezogen, sondern laufen parallel. Macondos Geschichte exponiert das Weltenvielfaltmotiv somit aus zwei Richtungen: einmal als ein begründendes im Paradigma der Neuen Welt bzw. einer Welt, die so jung ist, dass die Dinge eines Namens entbehren. Eine solche Diagnose ist ja nur möglich, wenn die Erfahrung einer alten, zurückgelassenen Welt bereits gemacht worden ist. Deren latentes Fortwirken illustriert die koloniale Sprachsituation dadurch, dass die in ihr sich ereignende Neubenennung der Neuen Welt vor allem eine Umbenennung ist. Im Falle der Buendía wird das Zurücklassen einer alten Welt und die Begründung einer neuen nicht nur als politisch-ideologische Latenz in der ausgebrannten Galeere allegorisiert, sondern auch psychoanalytisch gewendet: Die alte Welt ist verdrängt worden und bleibt als verdrängte wirksam. Dass sie somit nicht einfach vergessen ist, sondern aktiv zu verdrängen ist, wird zur Grundlage der weiblichen Retention. Insbesondere Ursula wird das verdrängte Erbe immer dann aufleben lässt, wenn sie das Verbot des Inzests von der eigenen Verstrickung entkoppelt verkündet und überwacht. Damit ist sie in der privilegierten Lage, das Geschehen Macondos stets auf einen Mord und insbesondere auf die Erbsünde des Inzests zu be-

148 Vgl. hierzu: Arthur C.Danto: Narration and Knowledge. New York: Columbia University Press 1985. 149 Gabriel García Márquez/Plinio Apuleyo Mendoza: El olor, S. 78.

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ziehen, von der die echten Macondiner, also die dort Geborenen, keinen Begriff, wohl aber das ‘Gesetz’ haben können. Ursula kann Macondos Geschichte deshalb als Wiederholung wie auch als Verdammung entziffern, so dass sie es ist, die bei aller Hartnäckigkeit, dem Schicksal entgegenzutreten, die Vergeblichkeit dieser Mühen einsieht. Ursula ist es folgerichtig verwehrt, anders als Melquíades und die von ihm unterrichteten Männer, auf prospektive Weise jenseits der eigenen Welt zu denken. Sie erkennt Strukturen Macondos aus Macondo heraus, weil sie alles Geschehen auf ein schon Vergangenes beziehen kann: «Ya esto me lo sé de memoria -gritaba Úrsula-. Es como si el tiempo diera vueltas en redondo y hubiéramos vuelto al principio.»¹⁵⁰

Nach ihrem Tod erfüllt sich der Inzest und wiederholt sich der Mord an einem Nächsten auf massive, aber ebenfalls verdrängte, aber dafür umso fatalere Weise, als die Bananenarbeiter von Soldaten ermordet werden, die mit ihnen teilweise befreundet oder gar verwandt waren. Der ‘weibliche Modus’ erlebt und versteht Geschichte in einem Rückblick auf eine geschlossene Welt, deren Sinnimmanenz schon gegeben ist und deren Diegese, aller männlichen Interventionen zum Trotz, kontinuierlich bleibt und klar begrenzt erscheint. Diese Persistenz von Vergangenheit wird versinnbildlicht an der Selbstverstümmelung Amarantas, die sich damit vor dem Vergessen der eigenen Schuld bewahren will. So wundert es nicht, dass die Aufgabe der Frauen ein Verbleiben in dieser lokal gelesenen Welt ist, ein Lesen dieser Welt aus ihrer verdrängten und sich stets wiederholenden Geschichte heraus. Diese Art der Weltlektüre eint die sonst so unterschiedlichen Charaktere Ursula und Pilar Ternera und es ist diese Weltlektüre, die erst dazu führen kann, dass sie die macondinische Welt zu bewahren haben. Die Frauen – mehr als naturgemäß «sensatas» – illustrieren die verschiedenen Facetten von Geschichte als Hypothek: Ursulas Verdrängung, Amarantas Schuld, Rebeccas Verbitterung oder auch Pilar Terneras sexuell-transgressive Klarsicht bezüglich der buendiaschen Mysterien. Sie alle scheinen, je länger sie leben und je weiter die macondinische Geschichte voranschreitet, um so mehr in einer Gegenwart zu leben, die sie aus einer ihnen stets gegenwärtigen Vergangenheit heraus wahrnehmen und verstehen. Die weibliche Zuständigkeit für Vergangenes und Verdrängtes wird geradezu ins Groteske gesteigert, als inmitten der Krankheit des Vergessens Petra Cotes die Vergangenheit aus den Karten liest wie andere die Zukunft. Deren Wissen über diese Welt ist nicht minder total als das Wissen der Männer wenn sie in

150 CAS, S. 225.

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den Enzyklopädien von einer anderen Welt lesen als wäre sie ein Roman. Folgende Charakterisierung von Pilar Ternera liest sich wie eine direkte Replik auf das «Todo se sabe» von Aureliano Babilonia: No había ningún misterio en el corazón de un Buendía que fuera impenetrable para ella [Pilar Ternera, PVO], porque un siglo de naipes y de experiencia le había enseñado que la historia de la familia era un engranaje de repeticiones irreparables, una rueda giratoria que hubiera seguido dando vueltas hasta la eternidad, de no haber sido por el desgaste progresivo e irremediable del eje.¹⁵¹

Die Schere tut sich in den Topologien der jeweiligen Totalitäten deutlich auf. Die weibliche Totalität des Wissens sieht nur die Wiederholung im Hier und weiß deshalb alles, die männliche bezieht sich mit alles auf das Wissen eines Dort, gleichzeitig geschlagen von Blindheit für die eigene Welt. Aureliano Babilonia vermag die Brotpreise Roms nennen, ohne je Macondo verlassen zu haben, ja einmal aus seiner Kammer getreten zu sein. So zeigt sich das andere Mal das Motiv der Weltenvielfalt prospektiv und überschreitend als die durch Reisen, Kriege und technische Modernisierung, aber vor allem in Texten erfahrene andere Seite der außermacondinischen Welt. Ihre radikalste, für Macondiner nicht einsehbare Alterität findet die andere Welt in der metaleptischen Transgression der macondinischen Lektüregeschichte, die Macondo in eine andere Welt katapultiert. Bezeichnenderweise für die Sexualisierung dieser prospektiven Dimension ist der paradigmatische Charakter hierfür nicht ein begründender, der seinen Ursprung kennt, sondern mit Aureliano Babilonia der letzte männliche Erwachsene der Sippe, der erst in der Stunde seines Todes seine wahre Identität zu erkennen hat. Der ‘männliche’ Modus, der ja im exklusiven Gebrauch der eigentümlich abgewandten Kammer des Melquíades eindrucksvoll veranschaulicht ist, drängt mit seiner vom Alltäglichen abgeschiedenen Haltung auf eine Vorwegnahme und Konstitution eines Erwartungshorizontes, der sich auch durch jenes konstituiert, was jenseits des Bekannten ist, den metaleptischen Umschlag geradezu herausfordernd. Nicht zufällig betreten die Frauen die Kammer oder die Werkstatt nur, um diese zu reinigen, ganz so als wären diese Räume der Lektüre Räume wie alle übrigen. Im gesamten Roman findet sich keine weibliche Figur, die in den Räumen der Lektüre lesen würde. Die Männer kümmert das kontinuierliche Zusammenfassen des Bisherigen nicht und nicht einmal ein anderer, nur retrospektiv erkennbarer Sinn der eigenen Welt. Das Bestehende, gar die eigene Welt wird vielmehr durch das Gelesene

151 Ebd., S. 448.

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apostrophiert, wenn nicht ersetzt. Dies ist möglich, gerade weil die Protention «nicht inhaltlich ist, sondern nur gerichtet ist auf ein unbestimmtes Kommendes.»¹⁵² Folgerichtig ersetzen die Männer Gedächtnis durch Wiederholung bzw. wie im Falle der Zettelchen durch Setzung. Was ihre wesentlich geringere Variation an Namen schon andeutet, die über 20 verlorenen Kriege des Oberst Aureliano Buendia vorführen und in seiner Goldfischchenproduktion sein Emblem findet, ist eben dies: eine Zirkelstruktur, die sich ergibt, wenn man einerseits ohne Gedächtnis lebt und andererseits ein Verständnis von Welt nur jenseits der eigenen erlangen möchte, doch nie erfolgreich auf die eigene beziehen kann. So ist es geradezu folgerichtig, dass das ständige Formen und das erneute Einschmelzen der Goldfischchen in Macondo zirkulär erscheinen mag, während diese Fischchen außerhalb von Macondo ein Vermögen wert sind und von einer Geschichte zeugen, die eine offizielle Geschichtsschreibung zu verdrängen sucht. So wundert es nicht, dass die Männer die Geschichte fast bewusstlos vorantreiben, weil ihnen das zur Bewahrung und zum Verstehen notwendige Gedächtnis schlichtweg abgeht. Wie wohl fälschlicherweise von Goldfischen angenommen, haben sie, nachdem sie die erste Runde gedreht haben, diese bereits vergessen, um von Neuem anzusetzen. Sie finden erst über den Umweg der Manuskripte nach Macondo, deren Entzifferung ja die Leser der Manuskripte zunächst vom Leben in Macondo entfremdete. Dafür spricht auch, dass eine verlässliche Selbsterkenntnis nur abgewandt von dieser Kriegsgeschichte möglich ist. Folgerichtig kann der Oberst, darin typisch Mann, den Grund für seine vielen Kriege erst sehr viel später erkennen und das auch weniger durch die Beobachtung seiner Welt, als vielmehr mithilfe eines ihn entrückenden Mediums, genauer: mithilfe seiner eigenen Verse: […] el coronel Aureliano Buendía evocó en la lectura de sus versos los instantes decisivos de su existencia. Volvió a escribir. Durante muchas horas, al margen de los sobresaltos de una guerra sin futuro, resolvió en versos rimados sus experiencias a la orilla de la muerte. Entonces sus pensamientos se hicieron tan claros, que pudo examinarlos al derecho y al revés. […] apenas ahora me doy cuenta que estoy peleando por orgullo.¹⁵³

Damit sind die großen Linien der weiblichen und männlichen Lektüre von Geschichte bzw. Welt umrissen. Auf der einen Seite liegt also die ‘weibliche’ Gruppe vor: Bereithalten, Retention, Kontinuität und Gesetz; auf der anderen die ‘männliche’ Gruppe Anstoßen, Protention, Diskontinuität und Überschreitung. Die je-

152 Paul Sailer-Wlasits: Die Rückseite der Sprache. Philosophie der Metapher. Wien: Edition VaBene 2003, S. 136. 153 CAS, S. 57.

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weiligen Positionen zur Geschichte können dank jener internen Äußerlichkeit verschiedener Weltlektüren differenziert werden. Gemeinsam ist den beiden, dass ihre Welterfahrung von einer pluralen Zeitlichkeit ausgeht, die strukturell nicht zufällig dem Jetzt der Lektüre gleicht: Dem Doppel gelebter auf der einen und verdrängter bzw. wiederholter Geschichte auf der anderen Seite entspricht das Doppel von gelebter und vergessener Geschichte einerseits und gelesener bzw. zu lesender Geschichte andererseits. Es fällt auf, dass in beiden Fällen die Gegenwart so gut wie unlesbar ist. Das bedeutet für die männliche Position, dass sie sich zwar innerhalb des Romans durchaus als der Motor der macondinischen Geschichte erweisen kann, aber einer Geschichte, die nicht notwendigerweise Macondos Geschichte sein muss. «Empujar la historia» verstehe ich deshalb nicht nur als ein Fortlaufen der Geschichte – dafür wäre kein Antrieb vonnöten –, sondern als eine in Macondo den Männern vorbehaltene Veränderung von Geschichte und zwar jenseits des lokal und notwendig Gegebenen, jenseits des im Lokalen bereits Wirksamen. Erstmals angedeutet und noch sehr räumlich gedacht wird diese Struktur der Protention, diese Art Entwurf, der sich vom Bekannten absetzt, am Beispiel der Magie und der alten Pergamente, die Melquíades nach Macondo bringt. Als Präfiguration der sich darauf gründenden und damit initiierten Lektürepraxis wird einsichtig, dass Protention nicht nur und recht abstrakt auf ein unbestimmtes Kommendes gerichtet ist, sondern auch als eine Figur verstanden werden kann, die insofern ein Bewusstsein für eine zumindest theoretische Weltenvielfalt ermöglicht, als die Geste des Entwurfs ja eine konkrete und bestimmte Einklammerung, Relativierung oder auch einen Bezug der eigenen Welt impliziert, ganz so als wäre man nicht mehr in ihr, die für literarischer Lektüre typische Figur der «Entpragmatisierung»¹⁵⁴ umspielend. José Arcadio setzt dies denkbar literal und an denkbar falscher Stelle um: Nach der ersten Lektüre der von Melquíades nach Macondo gebrachten Pergamente und Schriften wendet er sich von der eigenen Welt ab: – En el mundo están ocurriendo cosas increíbles -le decía a Úrsula-. Ahí mismo, al otro lado del río, hay toda clase de aparatos mágicos, mientras nosotros seguimos viviendo como los burros.- Quienes lo conocían desde los tiempos de la fundación de Macondo, se asombraban de cuánto había cambiado bajo la influencia de Melquíades. Al principio, José Arcadio Buendía era una especie de patriarca juvenil, que daba instrucciones para la siembra y consejos para la crianza de niños y animales, y colaboraba con todos, aun en el trabajo físico, para la buena marcha de la comunidad. […] Aquel espíritu de iniciativa social desapareció en poco tiempo, arrastrado por la fiebre de los

154 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 40.

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imanes, los cálculos astronómicos, los sueños de trasmutación y las ansias de conocer las maravillas del mundo. De emprendedor y limpio, José Arcadio Buendía se convirtió en un hombre de aspecto holgazán, descuidado en el vestir, con una barba salvaje que Úrsula lograba cuadrar a duras penas con un cuchillo de cocina. No faltó quien lo considerara víctima de algún extraño sortilegio.¹⁵⁵

Es ist dies das erste Mal, dass ein Macondiner das Wort «mundo» benutzt, nachdem es zuvor von dem Erzähler sehr prominent eingeführt worden ist: «El mundo era tan reciente […]».¹⁵⁶ Konnte dem literarischen Erzähler die Welt noch jung erscheinen und das meint: aus einer Exteriorität, der die Welt bereits nicht mehr jung ist, so wird nun von Macondo aus der Begriff Welt verwendet und zwar von jemandem, der sich von seiner ihn unmittelbar umgebenden Welt abwendet, um gerade so an den Wundern der Welt teilzuhaben. Welt ist hier also ein Terminus, der auf eine Wirklichkeit jenseits des macondinischen Hier verweist, der weniger eine alles enthaltende Totalität meint als vielmehr einen Horizontbegriff darstellt. Dieser antizipiert bzw. spiegelt die später qua Metalepse eingeholte literarische Lektüresituation insofern, als auch der literarische Leser seine Lektüre auf die Erschließung einer anderen Welt richtet. Die Figur des Horizonts wird in dieser Verwendung zu einer Figur, die auch und gerade vor dem Hintergrund einer ironisierten Genesis der Neuen Welt weniger eine Grenze des noch zu Überschreitenden darstellt, also positiv unbestimmt und nur in Anbindung an eine retrospektiv entwickelte Horizontbesetzung für eine Lebenswelt stehen kann.¹⁵⁷ Jedoch kann Horizont hier nie nur einen Raum meinen im Sinne eines jeweils historisch perspektivierenden Raumes. Vielmehr steht er hier gleichzeitig für das Bewusstsein, dass der Horizont eine Begrenzung figuriert, die über alle historisch bedingten Perspektivenvollzüge hinaus auch von der Existenz einer anderen Welt jenseits des Horizonts weiß. Die Grenze des Horizonts ist also eine beidseitige und verdankt sich nie nur der Historizität des eigenen Blicks. «Más allá» bzw. «al otro lado» wird in Macondo – wie auch schon die Figur der anderen Seite – zu einer topologischen Figur, die eine geographische wie auch konzeptuelle Dimension zusammenschließt. Sie wird zum Kennzeichen eines genuin männlichen Wissens und Wissensdrangs. Dieser Zusammenhang

155 CAS, S. 17. 156 Ebd., S. 9. 157 Vgl. hierzu: Phillip Stollger: Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont. Tübingen: Mohr Siebeck 2000. Dort führt Stolger aus: «Retrospektiv wie prospektiv umgrenzt er [der Horizontbegriff, PVO] damit unscharf den geschichtlichen Raum der Erwartung wie der Imagination.» (195)

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wird deutlicher, wenn man Genese und Geschichte dieser Figur im Roman nachzeichnet. Erstmals ist von dieser Figur als Charakterisierung des Gründungsvaters zu lesen: «José Arcadio Buendía, cuya desaforada imaginación iba siempre más lejos que el ingenio de la naturaleza, y aun más allá del milagro y la magia».¹⁵⁸ Mit der Überschreitung von Natur, Wunder und Magie sind natürlich die menschlichen artes genannt, die Literatur und speziell dieser Roman. Diese Charakterisierung liest sich vor dem Hintergrund einer macondinischen Lesegeschichte wie eine Antizipation der am Ende sich ereignenden Metalepse, die ja ebenfalls das magische Dispositiv überschreitet. Die Metalepse kann man in diesem Zusammenhang durchaus als eine Protention bestimmen, deren nicht vorhersagbares Eintreten den Status des qua Retention Gesicherten radikal in Frage stellt, indem nicht einfach eine andere Welt erfahren und gelesen wird, sondern die als eigene gesetzte Welt zur anderen Welt wird und zwar zur anderen Welt eben jener Welt, die anfangs und hypothetisch als andere tituliert und mit der Wendung «al otro lado» verortet worden ist. Wenn man so möchte, ist die Metalepse insofern die radikalste aller Protentionen, als sie die Äußerlichkeit dieses Lesevorgangs selbst exponiert und vollzieht. Dabei – wie an einem beidseitig gedachten Horizontbegriff schon angedeutet – setzt die metaleptische Umkehrung grundsätzlich voraus, dass auf der anderen Seite eine andere Welt ist, der das Hier zum Dort wird und in die der Umschlag erfolgen kann. Dieser an José Arcadio beschriebene Drang, «más allá» zu gelangen und zu denken, der ja zumindest in seinem Expeditionsprojekt von keinem Erfolg gekrönt wird, wird später von seinen beiden Söhnen ganz wörtlich umgesetzt. Beide verlassen Macondo in verschiedenen Rollen. Der Seemann José Arcadio erkundet die Karibik und Weltmeere – «había dado sesenta y cinco veces la vuelta al mundo»¹⁵⁹ –, während der Oberst Aureliano Buendía im Wesentlichen die Grenzen des ehemaligen Gran Colombia abschreitet, einen kaum verständlichen Bürgerkrieg führend «por ideales abstractos, por consignas que los políticos podían voltear al derecho y al revés según las circunstancias […]».¹⁶⁰ Sie präfigurieren damit zwei Bewegungslogiken und Topologien einer Interaktion mit der Welt, anhand derer ihre Nachfahren in Macondo das Außen der Welt erfahren werden und anhand welcher sich auch eine Geschichte ihrer Vernetzung schreiben lässt.

158 CAS, S. 9. 159 Ebd., S. 111. 160 Ebd., S. 199.

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Einerseits wird mit dem Bürgerkrieg die nationalstaatliche Eingliederung und daraus folgend die transnational-imperialistische Modernisierung Macondos initiiert. Diese in der Sekundärliteratur ja oft als Kontinentalallegorie gedeutete Wende leitet die politische, wirtschafts-, technik- und sozialhistorische Geschichte Macondos ein, die dann im Stile der lateinamerikanischen 60er Jahre einer dependenztheoretischen Kritik ihre Evidenz sichert und auch noch in den 90ern im Sinne «äußerer Fremdbestimmtheit»¹⁶¹ gedeutet wird. So treffend diese auch sein mag und so sehr sie ihre Gültigkeit, wenn auch unter veränderten Vorzeichen, in der Sache noch einfordern kann, so sehr betrifft diese Geschichte nur eine Seite der macondinischen Geschichte, nämlich die durch den Oberst Aureliano Buendía eingeleitete Relationierung Macondos zur außermacondinischen Welt. Auf der anderen Seite lassen sich aber auch von Macondo ausgehende Welterfahrungen ausmachen, für deren Bewegungslogik die vielfache Weltumseglung von José Arcadio das Emblem liefert. Die in Kammer und Werkstatt stattfindenden Praktiken der Schrift, Lesen, Entziffern, Schreiben, Interpretieren, Ausführen, Ausrufen und Auslegen entsprechen dem insofern, als hier ergänzend zur ersten Geschichte der historische Akteur Macondo im Vordergrund steht und nicht bloß das historische Objekt Macondo und seine Eingliederung in das, was kolonialitätskritische Arbeiten als das Welt-System bezeichnen. Macondos Relektüre eines mediavistischen Korpus, die Phänomenologie der Technik, all dies ist deshalb weniger als der «deseo de fundar un mito latinoamericano»¹⁶² zu begreifen als vielmehr als der Versuch eines macondinischen Weltentwurfs. Und doch sieht man leicht, wie dies solange ein vergeblicher und folgenloser Versuch bleiben muss, solange diese Bewegung nicht mit der ersten in Beziehung gesetzt wird. Diese Problematik hat García Márquez selbst angesprochen. Die für Macondo so sinnbildlich stehende historische Allegorie der Familiengeschichte ist eine, die ganz literal über das Geschlechterverhältnis den Fortgang von Geschichte ermöglicht. Verantwortlich dafür ist gerade nicht die vom Oberst Aureliano Buendía initiierte Linie: «[…] los Arcadios prolongan la estirpe, pero no los Aurelianos».¹⁶³ So überrascht es nicht, dass diese andere, binnenmacondinische Geschichte einer Globalisierung und eines von Macondo aus sich konstituierenden Weltbewusstseins, das sich in der Lektüre artikuliert, ausschließlich von den Nachfahren des Seemanns José Arcadio gemacht wird, während die Nach-

161 Wolfgang Matzat: Lateinamerikanische Identitätsentwürfe, S. 87. 162 Roberto Gonzalez Echevarría: Mito y archivo, S. 48. 163 Gabriel García Márquez/Plinio Apuleyo Mendoz: El olor, S. 108.

Geschichte: Frauen und Männer 

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fahren des Oberst die Welt nur als die eine von außen tretende Gefahr erfahren. Die Reise der Seemänner und der Lesenden stehen so im Gegensatz zu dem kolumbianischen Bürgerkrieg, der ja jegliche militärische Bewegung auf einen nationalen Konflikt bezieht, auch und gerade wenn er längst zu einem Konflikt geworden ist, der mit einer nationalen Bezugsgröße und als nationale Problematik nicht zu fassen ist. Gleich der Seefahrt hingegen sind die macondinischen Schriftreisen eine Reise in die Welt, die vor der nationalstaatlichen Einbindung Macondos ansetzt und folglich ein Bewusstsein um diese Welt nicht über den Umweg des Nationalstaats entwickeln muss. Das Ende des Romans oder genauer: damit dieser Roman überhaupt zu einem Ende kommen kann, setzt voraus, dass sich diese Stränge, die weibliche Retention, die verschiedenen männlichen Protentionen, miteinander verknüpfen. Ausgangspunkt dafür, dass am Ende alle Welt zu einem Text wird, ist nicht umsonst der von José Arcadio begründete Strang der Geschichte, sofern es hier um einen von Macondo aus ansetzenden Weltentwurf geht. Der weiblichen Retention entspricht dieser Entwurf, sofern es ja um einen Text geht, der ja «la historia de la familia escrita por Melquíades hasta en sus detalles más triviales»¹⁶⁴ enthält. Gleichzeitig schreibt sich auch die Bewegung der Aurelianos ein, da es Aureliano Babilonia ist, der diese Geschichte entziffert. Dieser Aureliano ist einer, der die Sippe zwar nicht wirklich fortsetzt, da sein Kind ein mit Schweinschwanz gebrandmarktes und dem Tode geweihtes ist, aber doch in dem Sinne fort-setzt, da die Entzifferung der Manuskripte ihn zum Teil einer anderen Geschichte macht. Das Los, gebrandmarkte Kinder zu haben, teilt er mit dem Oberst Aureliano Buendía, dessen 16 Kinder allesamt mit einem Aschekreuz auf der Stirn von ihren Jägern leicht auszumachen waren. Doch nicht nur das: Wie auch der Oberst erkennt er seine Wahrheit in einer Schrift. Was ihn aber unterscheidet, ist, dass er im Gegensatz zu seinen Vorfahren durchaus das Glück einer wenn auch inzestuösen Liebe kennengelernt hat: En el libro se advierte que el Aureliano con la cola de cerdo era el único de los Buendía que en un siglo había sido concebido con amor. Los Buendía no eran capaces de amor, y ahí está el secreto de su soledad, de su frustración.¹⁶⁵

Da Aureliano sowohl das Privileg der Offenbarung der Manuskripte wie auch das der Liebe zuteilwird, steht er vor einer Wahl, vor der kein anderer Buendía je gestanden hat. Er entscheidet sich, ganz ein Aureliano und vermutlich an-

164 CAS, S. 66. 165 Gabriel García Márquez/Plinio Apuleyo Mendoz: El olor, S. 108.

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ders als ein Arcadio und erst recht anders als die Frauen, für die Lektüre seiner selbst und lässt seinen Sohn von Ameisen davontragen; nicht von irgendwelchen Ameisen, sondern von «todas las hormigas del mundo»¹⁶⁶, Ameisen aus jener Welt, der er sich entzogen hat, um durch seine Lektüre als Text dem Leser sprichwörtlich in die Hände zu fallen.

5.6 Leben: Die Fort-Setzung der Metalepse Das Ende von CAS gehört – neben der mythisch-biblischen Folie und der zirkulär-gedoppelten narrativen Struktur – sicherlich zu den meistkommentierten Stellen und Besonderheiten des Romans. Wie eine Art selbstbezüglicher Exzess scheint es fast, als könnte man dieser finalen Pointe nur dann Herr werden, wenn das Ende zur Evidenz der anderen beiden Topoi wird. Zumindest spricht dafür, dass – soweit sich diesbezüglich die Sekundärliteratur überblicken und gruppieren lässt – dieses Ende entweder als die Klimax der apokalyptischen Auslöschung verstanden wird oder als eine romanspezifische Selbstbezüglichkeit, die Aufschluss über die Textualität des Romans geben soll.¹⁶⁷ Die Sekundärliteratur hat für beide theoretische Assoziationen zwei etablierte, nicht-westliche literarische Genealogien im Roman identifiziert, die sich stichhaltig belegen lassen, auch wenn damit noch nicht viel erklärt ist. Zum einen wären das die Anspielungen aus der Scheherezade als ein Erzählen gegen den Tod, der ja – so Zamora – in CAS gerade nicht abgewendet werden kann.¹⁶⁸ Zum anderen ist es die von Rodríguez Monegal am Aleph-Motiv dargelegte These einer poetologischen Verarbeitung von Borges’ Phantastik.¹⁶⁹ Letztere wird von González Echevarría, der bereits 1971 auf die Verbindung Borgs-García Márquez aufmerksam machte, noch dadurch bestärkt, dass er in Melquíades eine literarische Hommage an den

166 CAS, S. 468. 167 Um nur einige Beispiele zu nennen: Lois Marie Jaeck: Cien años de soledad: The End of the Book and the Beginning of Writing. In: Hispania, 74, (March 1991), S. 50–56; Emir Rodríguez Monegal: One Hundred Years of Solitude: the Last Three Pages. In: Books Abroad, Vol. 47, No. 3 (Summer, 1973), S. 485–489; Roberto González Echaverría: Mito y archivo; Ricardo Gullón: García Márquez o el olvidado arte de contar. Madrid: Taures Ediciones S.A. 1970. Josefina Ludmer: Cien años de soledad; Mario Vargas Llosa: Historia de un deicido. Barcelona: Seix Barral 1971; Michael Palencia-Roth: Myth and the modern novel. 168 Lois Parkinson Zamora: Apocalypse and Human Time, S. 189. 169 Emir Rodríguez Monegal: One Hundred Years of Solitude: the Last Three Pages. In: Books Abroad, Vol. 47, No. 3 (Summer, 1973), S. 489.

Leben: Die Fort-Setzung der Metalepse 

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argentinischen Erzähler¹⁷⁰ erkennt, an jenen Borges also, von dem García Márquez sagt, dass er ihn zwar täglich lese, aber nicht möge.¹⁷¹ Dass der Roman deshalb – so der romantheoretische «lugar común»¹⁷² – immer auch sich selbst erzählt, ist in CAS eine ebenso offensichtliche wie komplexe Einsicht, die schon vor dem Hintergrund der bereits zitierten Spannungen in den intertextuellen Genealogien angedeutet sein sollte. So sehr die Diagnose eines selbstbezüglichen Schreibens gesetzt ist, so sehr drängt sich doch die Frage auf, ob es sich hierbei um ein allein strukturell zu begründendes, intertextuell nur noch zu veranschaulichendes Moment handelt oder ob nicht vielmehr und zusätzlich die Metalepse als Ausdruck einer bestimmten Lektürehaltung zu differenzieren ist, die in engem Zusammenhang mit der macondinischen Geschichte steht. Für letzteres spricht nicht zuletzt, dass das Thema der Lektüre im Roman durchgehend gegenwärtig ist. Wie also fügt sich die Metalepse, die ja ohne das Moment der Lektüre undenkbar ist, in dieses Szenario verschiedener Lektüremodelle? Die strukturelle Grundlage der Metalepse ist schnell umrissen: Die Vervielfachung der narrativen Ebenen ist die Grundlage jeder Metalepse, für ihren Umschlag die Bedingung ihrer Möglichkeit. In CAS tritt der metaleptische Umschlag in dem Moment ein, da der Leser, einerseits, liest, wie Aureliano Babilonia liest, dass er sich selbst liest und andererseits jenes liest, was auch – möglicherweise – Aureliano Babilonia liest.¹⁷³ Der Umschlag betrifft also genau jene Grenze, die ich anfangs am Beispiel von Diegese und Chronotopos als die äußerste Grenze der Romanwelt bezeichnet habe. Damit ist noch recht wenig gesagt, sowohl was die Topologie der metaleptischen Bewegung als auch was die implizierten Positionalitäten betrifft. Nicht nur der Umschlag bzw. die Ebenenverletzung selbst ist nämlich von Interesse, sondern auch die Verortung der vom Umschlag betroffenen Positionalitäten: Welche Ebene schlägt nun wohin und wie um? Hinter dieser Frage steht die Annahme, dass mit der Metalepse eine Lektürehaltung, ja eine Ethos der Lektüre notwendig und verhandelbar wird, um den destabilisierenden Effekt dieser Bewegung überhaupt erst bestimmen zu können. Anders gesagt: Die Ambivalenz der Metalepse ist nur auf der Grundlage einer Entscheidung und Setzung aufzulösen. CAS hält zwei Beschreibungen be-

170 Roberto González Echeverría: Mito y archivo, S. 43ff. 171 Gabriel García Márquez/Mario Varagas Llosa: La novela en América Latina, S. 43. 172 Roberto González Echeverría: Mito y archivo, S. 57. 173 Zu den verschiedenen Interpretationen darüber, ob die Manuskripte und der Romantext identisch sein können, siehe: Victor García de la Concha: Gabriel García Márquez: En busca de la verdad poética. In: García Márquez, García: Cien años de soledad. Edición conmemorativa. Madrid: Alfaguara 2007, S. lix-xcvi.

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reit, die beide auf dieses Moment zutreffen: Als magische Schrift bedeutet die Metalepse den tödlichen Umschlag des Lebens in den Text und eine totale Identität mit sich selbst – das ist das Schicksal von Aureliano Babilonia. Als literarisch-zitierende Schrift ermöglicht der metaleptische Umschlag eine Überschreitung, die erst in einer spezifischen Interaktion zu einer Funktion des Lebens wird – das ist die Lektüre der lebensweltlichen Leser. Wie sehr diese Opposition die Präfiguration eines bestimmten Lektüreethos ist, lässt sich schon daran verdeutlichen, dass die eher umgekehrt verlaufenden Metalepsen eines Borges’ für García Márquez bloß spekulative Metalepsen sind und eine zumindest für García Márquez im schlechten Sinne literarische Selbstbezüglichkeit exemplifizieren. Genau diese Ausrichtung der metaleptischen Bewegung ist einer der Gründe, weshalb sich García Márquez von Borges so bestimmt abgrenzt und dabei die Unterscheidung zwischen falscher und richtiger bzw. wirklicher Unwirklichkeit entwickelt: La irrealidad de Borges es falsa también. No es la irrealidad de América Latina. […] la irrealidad de la América Latina es una cosa tan real y tan cotidiana que está totalmente confundida con lo que se entiende por realidad.¹⁷⁴

Für Borges hingegen ist die Metalepse eine Bewegung in den Text, eine Irrealisierung der Lebenswelt und gerade nicht der Einbruch des Narrativen in eine Lebenswelt, eine Bewegung also, die strukturell eher der magischen Lektüre des Aureliano Babilonia entspricht und doch mit diesem Modell nicht zu fassen ist: ¿Por qué nos inquieta que el mapa esté incluido en el mapa y las mil y una noches en el libro Las mil y una noches? ¿Por qué nos inquieta que don Quijote sea lector de Don Quijote y Hamlet espectador de Hamlet? Creo haber dado con la causa: […] si los caracteres de una ficción pueden ser lectores o espectadores, nosotros […] podemos ser ficticios.¹⁷⁵

Dass García Márquez an einer bestimmten Wirklichkeit festhält, belegt bereits, dass die Überschreitung für den Kolumbianer nur innerhalb einer bestimmten Wirklichkeit zu denken und verhandeln ist. Carlos Fuentes hat diese These bereits 1969 insofern antizipiert, als er mit dem Begriff der Simultaneität eine im macondinischen Sinne ‘literarische’ Verortung der Metalepse suggeriert: Esta liberación, a través de la imaginación, de los espacios simultáneos de lo real es, para mí, el hecho central de la gran novela de Gabriel García Márquez […]. Cien Años de Soledad

174 Gabriel García Márquez/Mario Varagas Llosa: La novela en América Latina, S. 40. 175 Jorge Luis Borges: Magias parciales del Quijote. In: Ders.: Obras Completas 2. Buenos Aires: Emece 2005. S. 47.

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[…] no se agota en esa primera lectura (diversión y reconocimiento); más bien, éstos exigen una segunda lectura que equivale a la verdadera lectura. Esa exigencia es el secreto medular de esta novela mítica y simultánea […].¹⁷⁶

Die Simultaneität der zweiten und angeblich wahrhaften Lektüre macht das imaginäre Erleben der ersten, mythischen Geschichte zu einer Sache der hier implizit affirmierten und gegebenen Lebenswelt, die in der Metalepse insofern direkt angesprochen ist, als ihr der Roman als Beweis einer Existenz zu erscheinen hat, die laut Fuentes von der offiziellen Geschichtsschreibung stets negiert worden ist: A través de este desdoblamiento, Cien años de soledad se convierte en el Quijote de la literatura latinoamericana. Como el Caballero de la Triste Figura, los hombres y mujeres de Macondo sólo pueden acudir a una novela –esta novela– para comprobar que existen. La creación de un lenguaje novelesco como prueba del ser. La novela como acta de nacimiento, como negación de los falsos documentos del estado civil que hasta hace poco encubrían nuestra realidad. Lenguaje-ficción-verdad contra léxico-oratoria-mentira […].¹⁷⁷

Auch wenn Fuentes die Problematik umgeht, dass der Widerstand gegen eine lügenhafte und politische Oratorik selbst nur mittels einer literarischen Rhetorik formulierbar ist, scheint mir der Mexikaner einen wesentlichen Aspekt anzusprechen, den García Márquez auch in seiner Nobelpreisrede aufgenommen hat: Die Frage der Existenz ist eine, die an ihren Grenzen verhandelt wird und ihre Grenzen sind das Politikum der Roman-Fiktion. Mit dieser fiktionstheoretischen Perspektivierung unterscheiden sich García Márquez und Fuentes aller rhetorischer Ähnlichkeiten zum Trotz auf einer romantheoretischen Ebene fundamental von jenem Fiktionsverständnis, das sich mit einer weiteren Interpretation eines prominenten Vertreters des booms begründen lässt. Vargas Llosa zieht 1971 in seiner CAS gewidmeten Doktorarbeit García Márquez: Historia de un deicidio das Szenario der radikalen Differenz zur und die Rebellion gegen die Wirklichkeit dem Motiv der Simultaneität vor.¹⁷⁸ Diese Interpretation rechtfertigt er mit einer sehr detailreichen Auslegung der Schlussszene, die er topologisch deutet:

176 Carlos Fuentes: La nueva novela hispanoamericana. México D.F.: Joaquín Moritz 1976, S. 58– 59. 177 Ebd., S. 65. 178 In diesem Sinne mag Baxós Vermutung, dass Vargas Llosa den Ausdruck der «realidad real» und «realidad ficticia» aus Fuentes ersten Kommentar zu CAS entlehnt, zwar ihre philologische Richtigkeit haben, ist aber angesichts der doch sehr unterschiedlichen Deutungen etwas missverständlich. Vgl.: José Pascual Buxó: Las fatalidades de la memoria: Crónica de una muerte

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¿Cuál es la relación espacial entre el narrador y lo narrado en la primera frase de la novela? […] La situación del narrador es clarísima: narra desde la tercera persona, está fuera del mundo narrado, habla desde una exterioridad. […] Ahora bien: ¿este narrador-dios, omnisciente, ubicuo, exterior e invisible sigue siendo el mismo que narra la última frase de la novela? […] Ya o se trata del mismo, aquel narrador que creíamos situado fuera del mundo narrado ha sufrido un muda o salto cualitativo y ha pasado a formar parte de la realidad ficticia, se ha convertido en narrador personaje. En un sentido no directo sino indirecto […], a cierto personaje le ocurre a final de “Cien años de soledad” lo que a algunos personajes de la segunda parte del Quijote: el haber leído la primera.¹⁷⁹

Da er weiter unten Melquíades folgerichtig als den Erzähler des Romans identifiziert, kann er die Metalepse dermaßen zirkulär deuten, dass sich am Ende die nunmehr in sich vollkommen geschlossene Textwelt – als «Forma Total»¹⁸⁰ – nur als Ganze der Wirklichkeit gegenüberstellen lässt: Este muda o salto cualitativo en el punto de vista espacial […] es sumamente sutil […], porque no se registra a través de un cambio de la persona gramatical, una muda del él al yo: el artilugio de los manuscritos permite al narrador-personaje narrar en la misma persona que lo hacía el narrador-dios. Es decir, esta muda espacial no consta al nivel de la escritura: […] toda la novela está narrada desde la tercera persona singular […], cuya existencia presupone por tanto una exterioridad, algo ajeno, distinto a la realidad ficticia, la existencia de otra realidad: eso es justamente lo que ha querido evitar “Cien Años de soledad” en su voluntad totalizante. Para eliminar ese presupuesto sobreviene esa muda en el punto de vista espacial mediante la cual lo narrado absorbe en las páginas finales del libro al propio narrador. […] Esa tendencia espacial de devorar al propio narrador […] reafirma […] esa voluntad de auto-suficiencia y de absoluto presente en la materia del libro. […] Así, una realidad ficticia se ha convertido en un mundo autosuficiente y soberano, no contenido dentro de ninguna otra realidad hasta agotarla, ser su propio principio y su fin.¹⁸¹

Die Erweiterung der Wirklichkeit um eine als fiktiv bezeichnete Geschichte ist hier ausgeschlossen, da die fiktive Welt für Vargas Llosa eine von dieser Lebenswelt und jeder anderen externen Referenz entkoppelte ist. Welt ist nur insofern das darstellerische Thema des Romans, als die im Roman repräsentierte Welt eine ist, «al que el novelista ha añadido algo: su resentimiento, su nostalgia, su crítica».¹⁸² Durch diesen Überschuss wird der «novelista» zum Demiurgen, dem

anunciada. In: Instituto Caro y Cuervo (Hg.): XX Congreso Nacional de Literatur, Lingüística y semiótica: Cien años de soledad, treinta años después. Bogotá: Instituto Caro y Cuervo 1998, S. 61. 179 Mario Vargas Llosa: Historia de un deicidio, S. 539–540. 180 Ebd., S. 538. 181 Ebd., S. 542–543. 182 Ebd., S. 87

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es vor allem um den Ausdruck seines «desacuerdo»¹⁸³ mit der Welt geht und der sich folglich stets auf der Suche nach einem widerständigen Solipsismus befindet. Die damit implizierte Weltflucht, die eher in Aureliano Babilonia denn in Melquíades das literarische Modell finden sollte, ist für Vargas Llosa auch Kennzeichen der schriftstellerischen Praxis, die hier bezeichnenderweise gegen das Leben gerichtet wird: Este [el novelista, PVO] es un disidente: crea vida ilusoria, crea mundos verbales porque no acepta la vida y el mundo como son (o como cree que son). La raíz de su vocación es su sentimiento de insatisfacción contra la vida; cada novela es un deicidio secreto, un asesinato simbólico de la realidad.¹⁸⁴

Es dürfte bezeichnend sein, dass Welten im Plural für Vargas Llosa nur in der literarischen Fiktionalität – «crea mundos verbales» – zu denken sind, während die Welt und das Leben im Singulär bleiben, jenes Symbolische sichernd, gegen das ewig anzurennen die Unzufriedenheit gegen das Leben schon genug Anlass geben soll und wird.¹⁸⁵ Der Kurzschluss, dem Vargas Llosa hier aufsitzt, erschließt sich erst bei genauerem Hinsehen und mit Bezug auf die von García Márquez getroffene Unterscheidung zwischen falscher und richtiger Unwirklichkeit. Zwar ist zutreffend, dass García Márquez von einer «función subversiva»¹⁸⁶ der Literatur spricht, die auch neue Realitäten und genauer: neue Lebensformen schaffen soll. Das aber ist nicht losgelöst von der im gleichen Interview geäußerten Aussage zum Wirklichkeitsbegriff und zur Ästhetik des Wirklichen zu lesen. Erst in diesem Zusammenspiel wird klar, dass diese andere ‘fiktive’ Realität weder auf demiurgische Weise anti-wirklich ist noch auf spekulative Weise falsch-unwirklich ist, sondern eher emanzipatorisch und auf ‘richtige’ Weise unwirklich zu denken ist. Die Auflösung einer symbolischen Ordnung, die Denunziation politischer Oratorik und Lexik ist noch lange nicht gleichbedeutend mit einer ‘Ermordung des Symbolischen’ tout court. Das Werturteil des Richtigen ist in Bezug auf Wirklichkeit für García Márquez ein nach wie vor gültiges.

183 Ebd. 184 Ebd., S. 85, meine Kursivierung. 185 Williams hat in dieser Rhetorik wohl zu Recht eine verhängnisvolle Verbindung gesehen: Die von Freud diagnostizierte Nähe von Kreativität und Neurose trifft auf eine nietzscheanische Destruktionsrhetorik. Diese jedoch – und da greift Williams Nietzsche-Referenz zu kurz – ist ja nicht zwangsläufig gegen das Leben gerichtet, sondern soll durchaus in dessem Sinne destruieren. Vgl. hierzu: Raymond L. Williams: Vargas Llosa: otra historia de un deicidio. México D.F.: Taurus 2001, S. 52 ff.) 186 Gabriel García Márquez/Mario Vargas Llosa: La novela en América Latina, S. 8.

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Die vollkommen zutreffende Diagnose von Buxó, wonach Vargas Llosas Lektüre in García Márquez’ journalistischem Werk, das nach CAS veröffentlicht wurde, nicht immer ein «sustento confiable»¹⁸⁷ findet, kann hier verschärft werden.¹⁸⁸ Diese textzentrierte Romantheorie, die mit der produktionsästhetisch verkürzenden Figur des Demiurgen-Autoren sich auch in einen genieästhetischen Diskurs einschreibt, übergeht die zentrale Stellung der Wirklichkeitsproblematik in García Márquez’ Poetik des Lebens als Überlagerung¹⁸⁹. Vargas Llosas Lesart antizipiert und begründet damit folgenreich all jene Lesarten der Metalepse, die zwar nicht notwendigerweise seine produktionsäthetisch-solipsistische Verkürzung übernehmen, aber doch das letztlich darin sich begründende, von hier sich ableitende Paradigma einer selbstbezüglichen Geschlossenheit des Textes. Der Text ist nur über seine Differenz auf welche Welt auch immer zu beziehen; er tritt gerade nicht in eine topologisch positive Relation und Konfiguration der Überlagerung. Die Implikationen des jeweiligen Metalepsenverständnisses sind weitreichend. Das regressive Verständnis führt dazu, im Roman ebenso die endlose Zirkularität seiner Textualität und Schriftlichkeit zu sehen¹⁹⁰ wie auch die Vertextlichung von Welt insgesamt.¹⁹¹ Der genieästhetische Solipsismus von Vargas Llosa wird zwar überwunden, wenn der endlose, sich selbst hervorbringende Text das Modell einer textlichen Simultaneität ist, in der die Wirklichkeit nur ein Text von vielen ist, wenn auch ein besonders mächtig verstellender, aber prinzipiell (z)ersetzbarer. Das kritische Potential des Romans, das bei Vargas Llosa noch der symbolische Mord an der Wirklichkeit war, liegt auch in diesen metaästhetischen bzw. metafiktionalen Revisionen im antagonistischen Bloßstellen des unausweichlichen Konstruktionscharakter von Realität begründet, also in einem grundsätzlich negativen Gestus. Auf struktureller Ebene bleibt das zentrale Argument, dass es diese totale Selbstbezüglichkeit ist, die etwas über den

187 José Pascual Buxó: Las fatalidades de la memoria, S. 61. 188 Ebd., S. 62. Dort schreibt Buxó: «No siempre, sin embargo, las declaraciones periodísticas arrancadas a García Márquez después del fulminante éxito de Cien años de soledad sobre la naturaleza o el origen de sus creaciones literarias y, en general, de su particular manera de concebir la tarea del escritor, permitirían dar algún sustento confiable a la drástica teoría de Vargas Llosa del novelista entendido como un enemigo de la realidad o, más aún, como un solapado deicida que intenta, mediante el ilusorio poder de las palabras, enmendarle la plana a las insatisfactorias evidencias del mundo real.» 189 Dass gerade der Bezug auf das Leben eine vollkommen andere Poetik der Lektüre implizieren kann, wird insbesondere das Beispiel von Roberto Bolaño belegen. 190 Lois Marie Jaeck: Cien años de soledad, S. 51. 191 Emir Rodríguez Monegal: One Hundred Years of Solitude: the Last Three Pages. In: Books Abroad, Vol. 47, No. 3 (Summer, 1973), S. 489.

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Konstruktionscharakter von Wirklichkeit bzw. von Wirklichkeit als Text verrät. Vernachlässigt wird die Option, die jene von García Márquez ja auf das Leben bezogene transgressive Metalepse bereithält. Deren Umschlag wäre vielmehr ein Modell der Simultaneitäten und würde das Bloßstellen der Konstruktion eher in dem Sinne verständlich machen, dass die Wirklichkeit und eben nicht der Text die Ebene ist, in die sich die Überschreitungen eintragen. Dass für Jaeck und Rodríguez Monegal die Formel des «vivir con» nicht relevant ist, bekräftigt den Verdacht, dass ihre Interpretationen nicht nur die Entscheidung für eine bestimmte, eine topologisch als genuin textimmanente zu beschreibende Lektürehaltung voraussetzen, sondern dass die Diagnosen in beiden Fällen den jeweiligen theoretischen bzw. poetischen Paten anzulasten sind – Derrida im Falle von Jaeck und Borges im Falle von Rodríguez Monegal. Diese Lesarten nun sind nur schwer mit García Márquez’ poetisch-utopischer Rhetorik zu vereinbaren, da diese nur schwerlich als bloße Gegenrede, als selbstgenügsame Negation der bestehenden Verhältnisse und erst recht nicht als eine Poetik der différance zu denken ist. Vielmehr betrifft das Problem der Wirklichkeit bei García Márquez eine noch nicht zur Gänze erfasste, aber durchaus konkret benennbare und lokalisierbare Wirklichkeit. Die Herausforderung an die Literatur sieht García Márquez folglich eher darin, das Unglaubliche dieser Welt so zu erzählen, dass es glaubwürdig wird und zwar als Realität. So sehr also eine bestimmte Konstruktion von Realität zweifelsohne Kritikpunkt der marquezschen Poetik und Rhetorik ist, so wenig hat dies zwangsläufig zur Folge, dass diese Kritik aufgrund eines streng dichotomen Oppositionsverhältnisses von Literatur und Wirklichkeit funktioniert. Auch wenn es einerseits ein zu kritisierendes «país de papel»¹⁹² gibt und andererseits Aureliano Babilonia «encastillado en una realidad escrita»¹⁹³ lebt, muss die Kritik und die Alternative der literarischen Schrift weder in jenen von Vargas Llosa beschriebenen Solipsismus münden noch eine letzthinnige Offenbarung bereithalten. Diesen Aspekt gilt es insbesondere deshalb zu betonen, da beide Lesarten die von González Echevarría zu Recht explizierte und auch unumgängliche Anmerkung berücksichtigen, wonach das Phänomen der Selbstbezüglichkeit nicht als «desconectado de la realidad o la historia»¹⁹⁴ zu denken ist. Angesichts der Tatsache, dass dieser Bezug zur ‘Wirklichkeit’ bzw. ‘Geschichte’ immer nur über

192 Gabriel García Márquez: Por un país, S. 327. 193 CAS, S. 420. 194 Roberto González Echevarría: Mito y archivo, S. 57.

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die fiktive Konstruktion sich vermitteln kann, lassen sich zumindest zwei Lesarten dieser Vermittlung ausmachen. Eine Sache ist es, Wirklichkeit zur Konstruktion zu erklären und so jene zu einer potentiell zu ermordenden zu erklären wie es in der von Vargas Llosa präfigurierten Deutung der Fall ist. Die in der Metalepse problematisierte Differenz von Text- und Lebenswelt wird hier zugunsten der Textualität bzw. angesichts der Historizität von jedweder Lektüre für den Roman letztlich irrelevant, da er nur als Gegendiskurs oder wie González Echevarría es sagen würde: als alternative Öffnung und Konstruktion aus dem Archiv sich zur Lebenswelt verhält. González Echevarría gelangt auf dieser implizit mitgeführten Annahme nicht zufällig zu einer foucaultschen Interpretation der Metalepse, deren Pointe die möglicherweise zentrale literaturästhetische Frage des Romans kassiert, wenn er die literarische Lektüre und die des Aureliano Babilonia gleichsetzt und darin das Transfermoment vermutet: La única solución para este enigma es decir que nuestra lectura, que cada lectura del texto, es el texto, es decir, una versión más sumada al Archivo. Cada una de estas lecturas corrige las anteriores y es irrepetible dado que es un acto distinto arrastrado por la propia temporalidad del lector. En este sentido, nosotros, como Aureliano, leemos el instante que vivimos, conscientes de que bien podría ser el último […] y cerramos el libro para dejar de existir como lectores, para ser, […], asesinados en ese papel.¹⁹⁵

Im Unterschied hierzu gehe ich davon aus, dass die Überlagerung von Lektürepositionen als poetologisches Problem des Romans bestehen bleibt. Die Frage der Begegnung, Berührung, Reibung und der jeweils neu zu deutenden Differenz zwischen Text- und Lebenswelt ist mit einem Hinweis der Historizität jedes Leseaktes nicht zur Gänze erfasst. Vielmehr ist die Bestimmung und Affirmation dieser Differenz unabdingbar für ein topologisches Verständnis der Metalepse. Eine andere Sache ist es nämlich, Wirklichkeit als Konstruktion zu kritisieren, weil Wirklichkeit selbst eine multipel formierte Konstruktion ist. In diesem Sinne verstehe ich auch Fuentes’ Kommentar, der am Beispiel der Zeitlichkeiten von Wirklichkeit CAS von bloß mythischen Gegenentwürfen unterscheidet und dabei nicht überraschend auf einen Lebensbegriff zielt, der durch Überlagerungen sich auszeichnet: Nueva disolución de las falsas disyuntivas y polémicas en torno a realismo y fantasía, arte comprometido y arte puro, literatura nacional y literatura cosmopolita, la obra de García Márquez destruye estos a-prioris idiotas para proclamar, y conquistar, un derecho

195 Ebd., S. 54–57

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a la imaginación que, ella sí, sabe distinguir entre mistificaciones en las que un pasado muerto quiere pasar por presente vivo y mitificaciones en las que un presente vivo recupera, también, la vida del pasado.¹⁹⁶

Vor dem Hintergrund der allegorischen Folie der Geschlechterverhältnisse kann die metaleptische Pointe des Romans ebenfalls als eine Errettung der Vergangenheit bestimmt werden und begründet ein weiteres Mal die These, dass die Metalepse im Sinne einer ‘Poetik des Lebens’ fungiert. Diese scheint – so die naheliegende These – nun darin zu bestehen, dass beide historischen Kräfte am Ende koinzidieren und aufeinander treffen, sich vereinen, aber nicht verschmelzen. Nur im Liebesakt finden sich die weiblichen und männlichen Kräfte vereint und vermögen als Folge davon ganz wörtlich neue Lebensformen zu schaffen und eine Lebendigkeit zu gewährleisten. Die hier manifest gewordene Vereinigungsfigur suggeriert eine produktive Möglichkeit, die mit der schier unerschöpflichen Fruchtbarkeit sexueller Vereinigungen im Roman mehr als angedeutet ist. Die Gleichzeitigkeit von Geburt und Entzifferung unterstreicht dabei, dass die Produktivität einer Lektüre nur unter der Bedingung anzunehmen ist, dass die Differenzen der Geschlechter und das meint auch: die Differenz zwischen Lektüre- und Familiengeschichte beibehalten werden, wenn auch nunmehr aufeinander bezogen werden. Das Ergebnis der Entzifferung ist gewissermaßen das Pedant, wenn nicht gar die Entschädigung für das von den Ameisen gefressene Baby. Dessen Tod, zusammen mit dem des Aureliano Babilonia, forciert und illustriert nicht nur ein Zusammenspiel und Ineinandergreifen der binnennarrativ wirksamen Kräfte, sondern auch eines von Text- und Lebenswelt und zwar über die bloße Lektürekoinzidenz hinaus. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, inwiefern die Metalepse eine Literaturwerdung inszeniert, die in ihrer Funktionsweise – und das meint: als Vereinigung der beiden Prinzipien des Lokal-Bewahrenden und Äußerlich-Transgressiven bzw. der weiblichen Retention und der männlichen Protention – so sehr auf die Folie der geschlechtlichen Liebe und ihrer Fruchtbarkeit rekurriert, dass damit insgesamt eine schöpferische Transgression figuriert wird, die sich auch auf den Status von literarischer Fiktionalität beziehen bzw. auch auf dieser Ebene als Transgression wiederholen lässt. Folgt man dieser allegorischen Ausbuchstabierung, wird zum einen einsichtig – als wirklichkeitstheoretische Folgerung sozusagen –, dass eine vollkommene Emanzipation einer der beiden Prinzipien immer in einem lebensfeindlichen Wirklichkeitsverlust mündet, da

196 Carlos Fuentes: La nueva novela hispanoamericana, S. 67.

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so entweder bloß lokale Mythen oder aber entfremdete Weltbegriffe möglich sind. Zum anderen ist mit der reflexiven Lektüre von Literatur überhaupt die Möglichkeit einer Überlappung von Text- und Lebenswelt gegeben; nicht weil – wie González Echevarría es annimmt – alle Lektüre unwiederholbar wäre, sondern weil literarische Lektüre sich immer auch als Lektüre weiß, sich selbst relationieren kann und in dieser Doppelperspektive die bloße Entzifferung übersteigt. Die Wiederholung des Liebesaktes ist, anders als die Wiederholung des Mythos, eine, die für Geschichte steht und für eine Wiedergabe der Geschichte, ja ihre Weitergabe. Diese wieder-holende, aber durch eine Verschiebung in Zeit und Raum sich auszeichnende und in diesem Sinne die Metalepse präfigurierende Logik deutet sich schon in den Variationen des Anfangssatzes an: «Muchos años después, ante el pelótón de fusilamiento, el coronel Aureliano Buendía había de recordar […]»¹⁹⁷ und «Años después, frente al pelotón de fusilamiento, Arcadio había de acordarse […]»¹⁹⁸ unterscheiden sich durch die schlichte Tatsache, dass im ersten Fall die Erschießung nicht erfolgt und im zweiten doch. Die nicht deckungsgleiche Wiederholung der Erschießungsszene ist in der Sekundärliteratur oft bemerkt worden.¹⁹⁹ Umso mehr überrascht es, dass es wohl zu den sich am hartnäckigsten haltenden Vorurteilen gehört, dass CAS vor allem Wiederholungen erzählt. Entscheidend ist doch, dass die Wiederholung immer mit einer kleinen Variation erfolgt oder diese zumindest nicht ausschließt. Diese minimale Abweichung – in Roberto Bolaños Texten, sich positiv statt revidierend auf Borges beziehend, wird genau diese Figur vollkommen anders begründet – ist eben jenem Kompromiss geschuldet, nicht mehr Mythos zu sein und gleichzeitig die Vergangenheit nicht verloren zu geben, nicht bloß überhistorische Existenz zu sein, sondern ein Überleben der Geschichte zu gewähren. Vor diesem Hintergrund erfährt auch das Inzestmotiv eine andere Wendung. Statt mythische Einsamkeit zu symbolisieren, ist es auch ein Motiv, das sprichwörtlich neue Geschichte schafft, Geschichte weitergibt. Am Anfang steht der in Liebe vollzogene Inzest des Gründerpaars Úrsula und José Arcadio – dem entspricht die Gründung Macondos. Am Ende wiederholt sich der ebenfalls in Liebe vollzogene Inzest zwischen Amaranta Úrsula und Aureliano Babilonia – dem entspricht die

197 CAS, S. 9. 198 Ebd., S. 82. 199 Vgl.: Josefina Ludmer: Cien años de soledad; Alfonso de Toro: Los laberintos del tiempo. Temporalidad y narración como estrategia textual y lectoral en la novela contemporánea. Frankfurt: Vervuert 1992.

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Übersetzung dieser Familiensaga in eine weitere Geschichte der Lektüre und Übersetzung jenseits von Macondo. Ebenso ist die finale und sich selbst erkennende Lektüre durch Aureliano Babilonia eine abweichende Wiederholung, die sich in das gleiche Bewegungsmuster einer erst lokal begründeten und dann überschreitend wirkenden Geschichte einschreibt. Als erstes, selten kommentiert von der Sekundärliteratur, hat ja der Oberst, die wohl entscheidende Figur in Macondos Binnengeschichte, die Erfahrung einer Selbsterkenntnis qua Literatur gemacht.²⁰⁰ Die Wiederholung dieser Erfahrung ist nun insofern eine besondere und vielleicht die bedeutendste, als sie nicht nur einen Akt unter veränderten Bedingungen wiederholt, sondern die Wiederholung selbst zum Thema hat, indem sie die erkennende Wiederholung des eigenen Lebens an die Lektüre eines der Welt entrückten Textes bindet, der wiederum diese Wiederholung wiederholt. An dieser Stelle sei nur angemerkt, dass diese beiden Personen den gesamten Roman rahmen: Der Oberst ist die zuerst und Aureliano Babilonia die zuletzt genannte Figur. Was nun die Gedichte des zur Liebe unfähigen Obersts und seine Form der Wiederholung zu einer singulären, nur retrospektiv erhellenden macht, liegt nicht nur in der Tatsache begründet, dass er lediglich seine eigene Geschichte in seinen eigenen Versen liest. In der Lektüre des Aureliano Babilonia radikalisiert sich die Zeitlogik. Da die Manuskripte in Gestalt einer Offenbarung das «absolute Präsens» (Bohrer) einer Lektüre inszenieren, ist eine andere Transgression der eigenen Welt möglich als die eines diegetisch-kontinuierlich beschreibbaren Exils und auch eine andere als das abgewandte Lesen von fernen oder vergangenen Welten und auch eine andere als der poetische Rückblick des Obersts. Die Metalepse ist anders, weil das Transgressive dieser Selbsterkenntnis in der nunmehr anders gelagerten Bewegungsrichtung der Protention liegt. Die metaleptische Selbsterkenntnis geht insofern über eine verspätete Selbsterkenntnis hinaus, als sie dem Außen der eigenen Geschichte einen eigenen, positiven Status zugestehen muss. Statt durch eine diegetisch beschreibbare Verschiebung in Zeit oder Raum bloß ein vom zu verstehenden Hier zu unterscheidendes Woanders zu sein, von dem aus das Hier neu oder anders verstanden werden kann, ist dieses Woanders auch ein Hier, dem wiederum Macondo das Dort sein kann. Das meint: In Aureliano Babilonias offenbarender Lektüre wird die eigene, also macondinische Welt gleichzeitig zu einer anderen, nämlich zum Teil einer Macondo lesenden Welt und es ist aus dieser Position heraus, dass die Einsicht in

200 Eines der wenigen Kommentare hierzu liefert Suzanne Jill Levine, die in ihrem Buch jedoch lediglich das verspätete Moment dieser Lektüre thematisiert. Vgl. hierzu: Suzanne Jill Levine: El espejo hablado.

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die gesamte Geschichte der Buendía möglich wird. Dafür spricht auch, dass Aureliano Babilonia sich nicht retrospektiv in einem selbstgeschrieben Text erkennt, sondern im absoluten Präsens eines fremden, noch zu entziffernden Textes. Nur dank dieser positionalen Veränderung der Protention driften die Bewegung der macondinischen Binnen- und Lektüregeschichte nicht mehr wie eine Schere endlos auseinander, sondern treffen sich in der Entzifferung. Weil in Aureliano Babilonias Lektüre alles gleichzeitig so verläuft wie es gelesen wird, decken sich erstmals und das einzige Mal das Macondo, in und von dem gelesen wird. Allerdings – und das erinnert an die in der geschlechtlichen Liebe ja evidente Unterscheidung von Vereinigung und Verschmelzung – ist die Wende in der männlichen Protention, die sich nun aus einer Macondo äußerlichen Position auf Macondo bezieht statt sich von Macondo aus auf das Außermacondinische zu beziehen, gerade nicht eine Zuwendung auf das unmittelbar gegebene Macondo bzw. nur insofern, als dieses ja selbst auf den Raum der Lektüre zusammengeschrumpft ist. Das in der abgewandten Lektüre eingeholte Macondo bleibt ein literalisiertes, bereits verschriftlichtes Macondo, dem die Ameisen der Welt schon Beleg einer ihm äußerlichen Welt sind. Dadurch, dass die metaleptische Protention nicht einfach nur für ein Abwenden vom Hier steht, sondern ein positives, nicht notwendigerweise abstrakt bleibendes Dort impliziert, zu dem das Hier in eine positive Relation treten kann, inszeniert sich Weltenvielfalt als Überlagerung. Die Geschichte dieses Umschlags ist in Macondo folgender: Je mehr sich die Leser ein anderes als das lokal-macondinische Wissen anlesen, das zur Entzifferung der Manuskripte notwendig ist, umso mehr ermöglicht der externe Weltbezug eine metaleptische Bewegung, umso mehr nähern sich die männlichen Leser der Manuskripte der eigentlich typisch weiblichen Selbst-Entzifferung an. Diese jedoch unterscheidet sich von der weiblichen Selbsterkenntnis, dass sie erst durch ein Herausfallen aus der macondinischen Welt möglich wird. Wie es auch Fuentes’ Interpretation nahelegt, findet Macondo erst hier, im Moment da seine Bewegungen zusammenlaufen, endlich die Antwort auf seine zentrale Frage: Cien años de soledad […], es ante todo una interrogación permanente: ¿Qué sabe Macondo de sí mismo? Es decir: ¿Qué sabe Macondo de su creación? La novela constituye una respuesta totalizante: para saber, Macondo debe contarse toda la historia “real” y toda la historia “ficticia” […].²⁰¹

Da sich dieser Moment nun als Metalepse vollzieht, ergeben sich gleich zwei Probleme: Zum einen gibt es in einem Macondo, das nunmehr bloß Text ist, kei-

201 Carlos Fuentes: La nueva novela hispanoamericana, S. 62.

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ne Instanz mehr, die diese Koinzidenz der Bewegungen bzw. der Geschichten attestieren könnte. Zum anderen ist Aureliano Babilonias Lesevorgang keiner mehr. Er ist stattdessen passives Spiegelbild eines anderen Textes – «un espejo hablado».²⁰² Das etwas paradoxe Ergebnis: Das Wissen und die Dialektik der Geschichte vergehen in einem transgressiven, ja transzendentalen Text, der freilich insofern unlesbar ist, als er selbst zum totgeweihten Leben wird. Entgegen der von Vargas Llosa schon früh lancierten und seither oft wiederholten, bisweilen leicht veränderten These wird aus diesem Argumentationszusammenhang klar, dass es sich beim Romantext nicht um Melquíades Manuskripte handeln kann wie auch Melquíades nicht der im Text verschwindende Erzähler dieses Romans sein kein. Vielmehr – und hier schließe ich an die bereits geführte Diskussion zur Grenze der Textes an – deute ich die hierbei exponierte materiale Präsenz des Romantextes als den Moment, da der Leser nicht umhinkommt, den Text selbst als die logische Schnittstelle zu begreifen, die sowohl die Diegese begrenzt als auch die Welt der literarischen Leser markiert. Die funktionale Leerstelle der literarischen Leser ist also in dem Moment angezeigt und vorausgesetzt, da Macondo Teil einer anderen, es lesenden und Macondo äußerlichen Welt wird. Das erste Problem wird dadurch gelöst, indem der Auftrag der Relation zu einer anderen Welt implizit an die literarischen Leser weitergegeben wird. Diese können anders als Aureliano Babilonia ihre Äußerlichkeit, die inszenierte Überlagerung, Umkehrung und Vielfalt von Welten reflektieren. Vor allem aber wird aus dieser äußerlichen Position die Koinzidenz zweier antagonistischer Kräfte nachvollziehbar. In diesem Sinne einer performativ bestätigten Differenz hatte ich ja weiter oben die Koinzidenz des literarischen Lesevorgangs mit dem von Aureliano Babilonia gedeutet. Nur dank dieser Differenz wird jenes leben mit möglich, das dem Entziffern versagt ist. Denn «descifrar el instante que estaba viviendo»²⁰³ ist eine Lektüre, die nicht über den intensiven und zweifelsohne unwiederholbaren Moment der magischen Narration und Lektüre hinausgehen kann. Diese entscheidende Differenzierung zwischen dem magischen Lesen, was man lebt auf der einen und dem literarischen Lesen, um damit zu leben auf der anderen Seite fand ihr Paradigma am literarischen Papier, das ja als eine Übergangsund Vereinigungsfigur allegorisiert wurde; leben mit meint somit sowohl die Überlagerung dieser beiden Momente und Referenzen wie auch eine Kulmination von emanzipatorischer Geschichte, die als utopisches Projekt allen Kulturen der Welt zugebilligt werden sollte.

202 CAS, S. 469. 203 Ebd., S. 442.

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Das von García Márquez so zentral behandelte Motiv der geschlechtlichen Liebe als einer Allegorie von Geschichte und Lektüre ist bei der Beantwortung des zweiten Problems behilflich. Die Synthese von Retention und Protention ist, wenn man dieser sexuellen Folie folgt, nicht als eine vermittelte Synthese zu denken und auch nicht als Kennzeichen zirkulärer Textualität, sondern als Vereinigung, als Gleichzeitigkeit, die jedoch die Differenzen der enthaltenen Elemente nicht auflöst, sondern erst recht unterstreicht, aber als nunmehr aufeinander bezogene entwirft. Erst in einem Modell der Koexistenz wird auch eine kulturelle Topologie jenseits lokal-mythischer Denkmodelle notwendig. Die Metalepse umschreibt damit sowohl auf konzeptueller Ebene wie auch auf politischer Ebene einen Auftrag zur bereits angesprochenen Utopie. Zweifelsohne eignet sich diese Präzisierung, um diese Utopie auf eine Fassung von Weltenvielfalt und -konkurrenz zu beziehen, deren Hauptanliegen die Auflösung einer vielfach durchzudeklinierenden dichotomen Crux ist. Diese bleibt nämlich solange Crux, solange das Verhältnis als dichotomer Ausschluss gedacht wird und ihr Zusammenführen nur auf Kosten eines der beiden Elemente geht: Lokalität und Welt, Mythos und Logos, narratives und propositionales Wissen oder auch Erinnerung und historische Offenheit. Indem also der Romantext Cien Años de Soledad diesen unlesbaren, offenbarenden Text als literarischen discours ironisch wiederholt, bleibt er lesbar, gerade weil er nicht an die Stelle des Lebens tritt. Vielmehr beansprucht er seine Gültigkeit im Leben der Leser und kann dies auch, da der Romantext eine nichttödliche Weltenvielfalt im Zusammenspiel des Materialen und Imaginären schon vollzieht. Damit ist das zweite Problem gelöst: Die Überlagerung bleibt lesbar und historisch, da Macondo im Stillstand seiner Selbstlektüre zu der Protention eines externen literarischen Lesers wird, damit die wohl entscheidende Vereinigung und Verschiebung anzeigend. Ohne nunmehr eine wörtlich zu lebende Protention vollziehen zu müssen, können die literarischen Leser Macondo als Retention genau dann in ihre Welt bringen, wenn die neue Protention im Sinne jener «nueva y arrasadora utopía» den Buendía eine zweite Chance auf ihrer Erde, der Lebenswelt also, gibt. Die sowohl konzeptuell wie auch deskriptiv zu verstehende literarische Transarealität sichert so ein Überleben einer sonst unwiederbringlich verlorenen Geschichte und bewahrt sie so vor dem typischen Schicksal lateinamerikanischer Geschichte, die für García Márquez nichts weiter ist als «una suma de esfuerzos desmesurados e inútiles y de dramas condenados de antemano al olvido.»²⁰⁴ Literatur kann für García Márquez folglich die Rolle eines erinnerungs-

204 Gabriel García Márquez/Plinio Apuleyo Mendoz: El olor, S. 104.

Leben: Die Fort-Setzung der Metalepse 

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kulturellen Korrektivs spielen. Dies begründet sich nicht nur mit einer alternativen Darstellung von Geschichte, sondern vor allem mit der Art der Darstellung. Denn Literatur ist für García Márquez eine bestimmte Form der Wiederholung, die, ohne in magische Einsamkeit verfallen zu müssen, auch nicht auf ein bloß äußerlich vermitteltes Wissen von Geschichte angewiesen ist. Dieses Motiv einer veränderten Wiederholung von Geschichte hat paradigmatischen Charakter für das Korpus dieser Arbeit: Sowohl in den Texten von Sandra Cisneros als auch in denen von Roberto Bolaño sagt die Abweichung in der Wiederholung etwas über das aus, was Geschichte ausmacht. Wenn also Literatur bei García Márquez ihre ästhetische und nicht zuletzt epistemologische Grundmetapher in der Liebe als der Vereinigung von aufeinander bezogenen Gegensätzen findet, dann setzt dies auch eine gewisse Intentionalität eines Begehrens voraus. Literatur gewährleistet nur deshalb eine Koinzidenz der beiden antagonistischen Prinzipien von selbstreflexiv-externen und mythisch-internen Wissensformen, da das als sexuelles allegorisierte Begehren der Literatur die jeweiligen Wissensformen insofern transformiert und überschreitet, als die jeweiligen Wissensformen sich nun nicht mehr auf ihre jeweiligen Referenzen zu beschränken haben, sondern sich nunmehr über den Umweg einer vertextlichten Referenz aufeinander beziehen können. Wirklichkeit – aller Evidenzrhetorik zum Trotz – ist zumindest aus diesem poetologischen Zusammenhang alles andere als das, was durch die rechte narrative Technik zu enthüllen ist. Vielmehr ermöglicht die narrative Technik erst die Form, in der sich ein solches Begehren in einer wirklichen Unwirklichkeit erfüllen kann. Gerade weil diese Form der Wirklichkeit nicht unmittelbar ist, drängt dieses Begehren auf einen Umschlag von einer bloß binnennarrativen Wahrscheinlichkeit zu einer lebensweltlichen Glaubwürdigkeit, da sich erst in der lebensweltlichen Lektüre die Formel des leben mit einlösen lässt.²⁰⁵ Die Figur der Vereinigung und des qua sexueller Folie aufgelösten Antagonismus beschränkt sich keineswegs auf CAS und wird von García Márquez nicht immer mit der Komplexität einer Metalepse illustriert. Dies findet sich auch im letzten narrativen Werk des Kolumbianers, dem von der Kritik einstimmig (und zu Recht) verrissenen Kurzroman Memoria de mis putas tristes. Hier wird nicht nur bereits im Titel die Erinnerung an Weiblichkeit gebunden. Darüber hinaus spitzt sich das Verhältnis von weiblichem Bereithalten, als wäre die Frau Papier,

205 So äußert sich García Márquez im Gespräch mit Fernandez-Braso: «A un escritor le está permitido todo, siempre que sea capaz der hacerlo creer.» Vgl. hierzu: Miguel Fernández-Braso: La soledad de Gabriel García Márquez: una conversación infinita. Barcelona: Ediciones Planeta, 1972, 31.

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und männlicher Transgression, als wäre der Mann Schrift, dermaßen zu, dass die narrative Grundkonstellation darauf verkürzt wird, eine jungfräuliche, des Schreibens kaum kundige, junge Prostituierte auf einen nur zum Schreiben fähigen, greisen Mann treffen zu lassen. Dieser diagnostiziert am Ende, als schließlich der Liebesakt zu vollziehen ist, den Beginn des wahren Lebens: Era por fin la vida real, con mi corazón a salvo, y condenado a morir de buen amor en la agonía feliz de cualquier día después de mis cien años.²⁰⁶

Wird hier dem Helden der Narration das Glück der Vereinigung zuteil, so ist dies in CAS insofern ausgeschlossen ist, als diese Vereinigungsfigur nur vom literarischen Leser nachzuvollziehen ist. Während für Aureliano Babilonia die Opposition der historischen Kräfte ja binnennarrativ bestehen bleibt, gilt dies für den über 100jährigen Journalisten gerade nicht. Die positionale Veränderung, durch welche die Wahl zwischen entfremdeter Welt oder mythischem Selbst sich erst gar nicht stellt, zeigt sich schon in einer erzählerischen Differenz, die eine Vereinigung schon strukturell versinnbildlicht. Dieser kurze Roman ist im Gegensatz zu fast dem gesamten narrativen Werk des Autors intern fokalisiert, Held und Erzähler sind ein und die gleiche Person. Die letzten Worte aus Memoria de mis putas tristes: «después de mis cien años» wird zu einer Andeutung, die ich hier als die glückliche, wenn auch wesentlich schlichtere Alternative zum Ende von CAS lese. Von Interesse soll hier aber weniger der recht gradlinige Plot dieses späten Romans als vielmehr das semantische Netz sein, das sich dank dieser sexuellen Folie sowohl um den Lebens- wie auch den Wirklichkeitsbegriff spannt. Beide sind ja mit der Formel «la vida real» aufgerufen. In dieser Fassung deckt sich das wirkliche Leben ja ganz offensichtlich nicht mit einer unmittelbar gegebenen Wirklichkeit, sondern benennt auch hier vor allem ein erfülltes Begehren. Es kommt in eine sexuelle Narration gebracht jener Wirklichkeitsbegriff des Lebens zum Ausdruck, den ich oben am Topos des lebendigen Papiers nur strukturell beschreiben konnte. Nun wird einsichtig, dass diese Lebendigkeit die sie auszeichnende Vereinigung, diese Verwandlung ihrer bloß papiernen Realität in eine gelebte, auch deshalb der schriftstellerischen Intervention bedarf, da erst in dieser eine anthropomorphe Intentionalität der Geschichte und Wirklichkeit lesbar wird. Denn lebendiges, wirklichkeitsbezogenes Papier kann Literatur ja nur dann sein, wenn sie – strukturell dem gleichend, was oben das wahre Leben in Liebe genannt wurde – qua Begehren, als begehrte mit uns lebt. Jedoch mag

206 Gabriel García Márquez: Memoria de mis tristes putas, S. 109,

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Aureliano Babilonia auch Kronzeuge dafür sein, dass wenn sich das Begehren der Lektüre und das der Liebe sich decken, keineswegs gesichert ist, dass nur der in diesem Sinne Liebende bzw. Lesende in der Lage ist, mit jener Wirklichkeit zu leben, die er begehrt, sondern dass mitunter die Erfüllung des Begehrens mit dem Verlust des Begehrten einhergeht. Oder genauer noch: Das Begehren hat sich zu entscheiden: Soll dem Bedürfnis der tödlichen Selbstoffenbarung nachgegeben werden oder der Überleben sichernden Einsicht, dass das Selbst sich stets in einem Anderen, ja in einer anderen Welt suchen muss?

6 Soledad, Macondo, Genealogía 6.1 Lateinamerikanische Literaturgeschichte als Relektüre La literatura hispanoamericana no es un mero conjunto de obras sino las relaciones entre esas obras. Cada una de ellas es una respuesta, declarada o tácita, a otra obra escrita por un predecesor, un contemporáneo o un imaginario descendiente. Nuestra crítica debería explorar estas relaciones contradictorias y mostrarnos cómo estas afirmaciones y negaciones excluyentes son también, de alguna manera, complementarias.¹

Mit diesen Worten hat 1979 Octavio Paz, sechs Jahre nach Harold Blooms Anxiety of Influence, eine literaturhistorische Problematik angesprochen, die sich gegen all jene Verfahren anführen lässt, die ein Korpus auf der Grundlange einer schon gegebenen Größe bestimmen. Jedoch bleibt Paz insofern auf halber Strecke stehen, als er lediglich eine zu dieser Zeit alles andere als selbstverständliche interne Relationierung der lateinamerikanischen Literatur in den Blick rückt. So wichtig diese auch sein mag, sie ist nicht nur eine problematisch lokalisierende, sondern insofern auch sachlich schwer durchzuführen, als – so unter anderem auch Fernández Retamar – eine solche Arbeit sich erst seit der im 20. Jahrhundert etablierenden «intercomunicación»² zwischen den lateinamerikanischen Autoren möglich sein dürfte. Von Interesse ist deshalb weniger der beengende Rahmen, den Paz vorschlägt, als der Begriff des Vorgängers, der durch die eher späte eintretende «intercomunicación» ja grundsätzlich eine transareale Logik an den Anfang lateinamerikanischer Literaturgeschichte setzt. Dabei handelt es sich beim Vorgänger um ein Konzept, das sich mit einer anderen Pointe versehen lässt, wenn man, Paz’ eigenem Vorschlag folgend, diesen Begriff auf einen anderen lateinamerikanischen Text bezieht. In den 50er Jahren hatte Borges im Aufsatz Kafka y sus precursores die Figur des Vorgängers als eine qua Übersetzung und Lektüre zu ermittelnde Figur bestimmt. Das ermöglicht zwei entscheidende Verschärfungen bezüglich dessen, was der Kritiker bei der Frage nach einer lateinamerikanistischen Literaturgeschichte zu berücksichtigen hat. Zum einen ist mit Übersetzung auch jene transareale, also nicht nur auf Lateinamerika zu beschränkende Bezugnahme möglich, die eine genuin interne Relationierung allenfalls implizit erlaubt. Damit, wenn man diese Linie weiter

1 Octavio Paz: Alrededores de la literatura hispanoamericana. In: Vuelta, Vol. 1, Nr. 5, (1977), S. 23. 2 Roberto Fernández Retamar: Intercomunicación y nueva literatura en nuestra América. In: Ders.: Para una teoría de la literatura hispanoamericana. Primera Edición Completa. Bogotá: Instituto Caro y Cuervo 1995 [1969], S. 194.

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verfolgt, expliziert Borges nur, was schon in Lateinamerikas ersten so deklarierten Roman Thema und Prinzip war.³ Zum anderen ist mit dem Motiv der Lektüre zumindest grundsätzlich eine (Re-)Konstruktion von Beziehungen möglich, die sich nicht nur durch eine produktionsästhetische Positivität autorisieren muss. Statt Kontinuitäten herauszuarbeiten, geht es vor allem um Konfigurationen. In noch sehr allgemeinen Begriffen gesprochen hat dies zur Folge, dass eine (lateinamerikanistische) Literaturgeschichte hier möglich wird nicht als die Geschichte einer Kultur, sondern als die Geschichte von Verfahren und Möglichkeiten einer relationalen Logik der Übersetzung, durch welche die Dynamik, aber auch die Gewalt lesbar gehalten wird, die jeder Übersetzung eingelassen ist. Während das dynamische Moment den produktiven Teil der Übersetzung und ihre Potenz zur Fort-Schreibung trotz mangelnder positiver Beziehungen und Kontinuitäten betont, verweist das gewalttätige auf eine unabwendbare Überschreibung und auf eine Distanz zu dem Vorigen – eine Distanz und Bezugslosigkeit, die nie nur eine selbsterwählte ist. Diese Ambivalenz wird insbesondere an den jeweiligen Dimensionen der Übersetzungspraxis nachzuvollziehen sein und das meint: an einer sich stets anders begründenden relationalen Logik. Diese – so ließe sich Paz’ Theorie der sprachlichen Transplantation einbeziehen und weiterdenken – ist spätestens dann Thema und Gegenstand, da mit dem Roman die vielleicht herausragende sprachliche Praxis vorliegt, die sich selbst und ihren Gegenstand immer schon versetzt und dabei diese doppelte Bewegung von Fort- und Zersetzung im literarischen Diskurs wiederholt, ausstellt und verhandelt. Damit sollte klar sein, dass die hier gelesenen Texte eine Konstellation zeichnen, in der Übersetzung nicht die Übersetzung eines originalen Ausgangspunktes meinte, sondern in der die Übersetzungen des Lateinamerikanischen im Sinne lateinamerikanischer Übersetzungen zu verstehen sein werden. Anders formuliert: Die literaturhistorische Erzählung, die sich von CAS ausgehend schreiben lässt, geht von einem Text aus, der als Ur-Sprung selbst schon Übersetzung ist und sich selbst als ein übersetzter Text präsentiert, gerade weil er einen Anfang thematisiert. Dieses Motiv begründet eine Lektüre dieser Texte, die auch die ihnen eingelassene Selbstübersetzung berücksichtigt. Diese Erzählungen sind also auch als implizite Theorien darüber zu lesen, wie sich diese

3 Zu der Bedeutung der Übersetzung in Lizardís Periquillo siehe: Ottmar Ette: Fernández de Lizardi: »El Periquillo Sarniento«. Dialogisches Schreiben im Spannungsfeld Europa – Lateinamerika. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte / Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes (Heidelberg) XXII, 1–2, (1998), S. 205–237.

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Geschichte als Erzählung vermitteln lässt in einer Ausgangslage, in der nicht nur Übersetzung notwendig ist, sondern obendrein eine übersetzende Reflexion dieser Übersetzung. Mit einer ständigen Neukonfiguration ist noch lange nicht behauptet, dass das Lateinamerikanische bzw. das aus der lateinamerikanischen Literatur heraus gedachte Lateinamerika zu einer Art lacanschem Realen erklärt werden müsste, dessen Symbolisierungen entweder für einen Verlust oder aber – als Positivität – nur für eine abgedroschene und phantasmagorische Verfestigung stehen. Diese Argumentation, die mit explizitem Bezug auf die lateinamerikanische Literatur seit und nach dem Magischen Realismus jüngst von Volpi⁴ angestrengt wurde, sitzt einem Kurzschluss auf, demzufolge die Tatsache, dass ein Sprechen über das Lateinamerikanische nicht ohne eine Form der Überschreitung, nicht ohne jene «doppelte und invertierte Bewegung»⁵ auskommt, allein auf den Gegenstand dieses Sprechens projiziert wird. Nicht nur kommt hier die problematische Annahme zum Tragen, dass – wäre der Gegenstand anders – man durchaus von ihm sprechen könnte; vor allem wird deutlich, wie das Ausblenden einer transarealen Perspektive dazu führt, dass eine Dichotomie zwischen exotisierend-essentialisierendem Regionalismus (und das meint bei Volpi: Magischer Realismus mit Copyright) auf der einen und Globalisierung (und das meint bei ihm: post-lateinamerikanische oder gar nicht-lateinamerikanische Kondition) auf der anderen Seite ein hierzu querliegendes (literarisches) Lateinamerika schlichtweg undenkbar macht und die Übersetzung nur dann – ironischerweise – erkennbar wird, wenn sie explizit Nicht-Lateinamerikanisches zitiert.⁶ Gerade, was den an CAS identifizierten Magischen Realismus betrifft, scheint es mir vielversprechender, vor dem Hintergrund eines literarischen Lateinamerikas die relationale Logik des literarischen Diskurses zu betonen und damit die beiden Figuren des Regionalen und des Globalen nicht als zwei Modi des Schreibens bzw. als zwei unterschiedliche Referenzen zu begreifen, sondern als zwei Pole, die von der Bewegung des Textes mittig durchkreuzt werden und

4 Jorge Volpi: El insomnio de Bolivar. Madrid: Debate 2010, S. 55ff. 5 Antonio Cornejo Polar: Para una interpretación de la novela indigenista. In: Casa de la Américas, n. 100, (enero-febrero de 1977), S. 41, meine Übersetzung und Kursivierung. 6 Mit Borges – so viel sei antizipiert – wird aufzuweisen sein, inwiefern die Literatur den idealen Gegenstand abgibt, sich quer zu der Bestimmung dessen zu verhalten, was noch lateinamerikanisch ist und was es nicht mehr ist. Es käme auf eine weitergehende Untersuchung an, um nachzuweisen, dass Borges die doppelte und invertierte Bewegung, die Cornejo Polar in den kolonialen Chroniken als das Doppel von Hinwendung zur und Verstellung von Wirklichkeit ausmachen konnte, als ein Spezifikum des Ästhetischen reformuliert, wenn er das Ereignis des Ästhetischen in der sich ankündigenden, aber ausbleibenden Offenbarung vermutet.

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immer nur im gegenseitigen Verweis zu denken sind. Speziell der Roman – Gattung der Kontextvielfalt – ermöglicht eine Lektüre des Ortes (und das meint im Roman: der Diegese), die im unauflöslichen Doppel von interner und externer Relationalität eine transareale Logik in nuce verdichtet. Es scheint deshalb alles anderes als Zufall, dass die Beschäftigung mit der Darstellung von lateinamerikanischer Wirklichkeit eine sprachphilosophische Reflexion dieser querenden Bewegung hervorgebracht hat, die sich auf die ein oder andere Weise auf das Ereignis der iberischen Kolonisierung bezieht, also auf ein Ereignis, das nicht nur sprachlich, sondern ebenso als lebensweltlicher Erfahrungswert das Denken des Raumes zu einer radikal relationalen Figur macht. Sei es die doppelte Bewegung der Sprache (Cornejo Polar), sei es der Dialog im Inneren der Sprache (Paz), sei es die Codigofagia (Echeverría), in all diesen Fällen werden multirelationale Prozesse beschrieben, die eine Ahnung davon geben, welche multirelationalen Logiken eine transareale Literaturgeschichte zu berücksichtigen hat. Die hierdurch implizierte Unmöglichkeit einer regionalen Sprache und, daraus folgend, einer regionalen Darstellung und regionalen Geschichte ist nicht die Apologetik des Offenen und Vielfältigen, ja der freien Konstruktion, sondern enthält die durchaus kritische Einsicht, dass der Verlust und der Gewinn von geschichtlichem Wissen als einem relationalen Wissen in der Lektüre dieser Geschichte unauflöslich miteinander gekoppelt sind. Diese historische Tiefendimension, in Volpis Essay mehr oder minder bewusst durch formale Referenzen auf den Quijote und die Rhetorik der Chroniken markiert, legt nahe, dass es hier nicht nur um eine Krise des 21. Jahrhunderts geht. Es ist gewiss kein Zufall, dass die von Volpi hervorgebrachten Kritiken – von diesem nicht weiter kommentiert – schon von den Autoren des booms an ihre Vorgängergeneration gerichtet worden sind.⁷ Die Sehnsucht nach einer

7 Programmatisch in diesem Sinne: Gabriel García Márquez/Mario Vargas Llosa: La novela en América Latina. Ebenso: Carlos Fuentes: La nueva novela hispanoamericana. Dort findet sich die berühmte Beurteilung der Vorgängergeneration durch Fuentes – «¡Se los tragó la selva!» (9) –, die auch hier auf eine zu sehr aufs Typische und Lokale sich beschränkende Wirklichkeitsauffassung referiert. Auch zeitgenössische Kritiker der boom-Autoren nehmen dieses Argument auf, selbst wenn dies mit bisweilen unterschiedlichen Wertungen geschieht: Collazos etwa wirft den boom-Autoren gerade das Gegenteil dessen vor, was Volpi diesen vorwirft, wenn jener behauptet, dass diese Romane, statt zu sehr auf eine lokale lateinamerikanische Wirklichkeit sich zu beziehen, diese nur für ein europäisches Publikum aufbereiten, also gerade nicht lokal genug schreiben. Natürlich ist dies nicht notwendigerweise ein Gegensatz: die typisierende Selbstexotisierung kann durchaus als eine lokale koloniale Praxis gelten. Dies jedoch ändert an der Grundanlage dieses Disputs insofern wenig, als hier ja die Figur des Lokalen in beiden Fällen im Gegen-

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universalen oder zumindest universaleren Literaturproduktion im Sinne einer Entregionalisierung der Literatur und die hierzu gegenläufige Position – die Forderung nach Lokalisierung und Authentizität im Ausdruck des Eigenen – verweisen in diesem beständigen Zusammenspiel darauf, wie früh schon in der lateinamerikanischen literarischen Praxis das Bewusstsein um die verschiedenen, seit Beginn der ersten Phase beschleunigter Globalisierung (Ette) manifest gewordenen Logiken der Relationierung ausgeprägt war. Selten ging es darum, eine der Positionen vollends umzusetzen, sondern darum, welche das letzte Wort haben würde, welche dem historischen Prozess einer immerzu im Entstehenden begriffenen Formation am ehesten einen historischen Sinn verleihen könnte. In genau diesem Sinne argumentiert auch Angel Rama, wenn er die Dichotomie von Kosmopoliten und Transkulturatoren diskutiert.⁸ Die Figur, an der er diesen Disput festmacht, ist die Frage nach dem Umgang mit der literarischen Technik, welche er bis in die Debatten der Modernisten zurückverfolgt. Zwar reproduziert Rama dabei eine problematische Dichotomie zwischen Universalität und Lokalität, verweist aber mit dem zweifelsohne nicht vollends überzeugenden Begriff der tecnificación in aller Deutlichkeit auf den Ort, an dem sich diese Frage entzündet. Aus der Perspektive einer transarealen Literaturgeschichte ist die Technik oder auch die Technifizierung der Literatur jedoch nicht notwendigerweise Signum einer kulturellen Universalisierung. Sie bezeichnet vielmehr eine grundlegende literaturästhetische und literaturhistorische Frage, die insbesondere in Literaturen, die sich von Anfang an sowohl intern als auch extern relationieren, auch als kulturelle Frage virulent wird. Genau diese doppelte Relation macht eine andere literaturhistorische Reflexion und auch eine andere Hermeneutik nötig als die von den Nationalphilologien vorgegebene. Diese methodische Bemerkung, die für die Lateinamerikanistik nicht auf postmoderne (und man lese hier für gewöhnlich: transnationale) Literatur beschränkt ist, sondern zweifelsohne eine ihrer Gründungsfiguren darstellt, ist natürlich mitnichten auf ein lateinamerikanistisches Korpus zu beschränken. Wie lässt sich dieser Problematik nun in einer konkreten Lektüre begegnen und wie kann sie in Bezug auf dieses Korpus operationalisiert werden? Wie lässt sich die bisher an CAS erfolgte literaturästhetische und –historische Reflexion auf die Texte von Cisneros und Bolaño beziehen?

satz zum Universalen entworfen wird. Vgl. hierzu: Oscar Collazos: Literatura en la revolución y revolución en la literatura: polémica. México D.F.: Siglo XXI Editores 1970. 8 Vgl. hierzu: Angel Rama: La tecnificación narrativa. In: Hispamérica, Año 10, No. 30 (Diciembre 1981), S. 29–82.

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Da weder das Wesen noch die Übersetzung desselben und methodisch die Geschichte von positiven Einflüssen und Wirkungen nur wenig und in dieser Konfiguration so gut wie gar nicht zu überzeugen vermögen, scheint es unumgänglich, dass Literaturgeschichte als Übersetzungsgeschichte ebenso eine Lektüretheorie voraussetzt. Was eine Theorie der Lektüre als literaturhistorisches Prinzip bedeuten kann und inwiefern sie gerade nicht die Geschichte einer Beliebigkeit preisgibt, kann ich hier nur andeuten; sie wird ausführlich an der hierfür zweifelsohne zentralen lateinamerikanischen Gründungsfigur Borges nachzuvollziehen sein. Hier soll die konkrete methodische Dimension im Vordergrund stehen. Ich meine, dass an dieser prekären Grenze zwischen Text- und Lesegeschichte, zwischen interner und externer Relationierung, zwischen lokaler und transarealer Geschichte die Metapher steht.⁹ In diesem konkreten Falle geht es nicht um irgendeine Metapher, sondern um genau jene Metaphern, an denen sich sowohl die überschreitende Bewegung nachvollziehen lässt als auch das, was überschritten wird. Von CAS ausgehend bieten sich drei Metaphern an: Erstens werde ich die Metapher der Einsamkeit besprechen. Diese werde ich, da es sich hierbei um eine – wie ich meine – metaliterarische Metapher handelt, am ausführlichsten diskutieren und auch explizit am poetologischen Diskurs von García Márquez entwickeln. Die beiden anderen Metaphern – die Metapher des Ortes (Macondo) und die der Geschichte (Genealogie) – werde ich vor allem im Rückbezug auf die jeweils erfolgten Revisionen behandeln. Da ich das Motiv der Genealogie noch einmal explizit in den jeweiligen Kapiteln zu Cisneros bzw. Bolaño aufgreifen werde, werde ich in diesem Kapitel also im Wesentlichen die Metapher Macondo problematisieren. Ohne weiter ins Detail zu gehen, lässt sich schon jetzt antizipieren, wie diese Metaphern in den jeweiligen Lektüren durch Cisneros und Bolaño eine entscheidende Veränderung erfahren und dabei aufweisen, dass, wie schon Paz es einforderte, sowohl positive als auch negative Verhältnisse zu beschreiben sind. Während Cisneros in Caramelo explizit auf das Format der Familiensaga zurückgreift, bezieht sich Bolaño auf diese Figur qua Negation, wenn er von der verlorenen Generation der um die 50er Jahre geborenen Lateinamerikaner spricht. Die Modifikationen sind deutlich: Während für Bolaño der in dieser Metapher mit-eingekaufte Mythos historischer Kontinuität verdächtig wird, ermöglicht der Bezug auf die Familiensaga im Falle von Cisneros eine transnationale Geschichte von Migration, Übersetzung und Fortsetzung. Dieses Doppel von positiver und negativer Bezugnahme wiederholt sich bei der Metapher des Raumes. Ma-

9 Vgl. hierzu: Anselm Haverkamp: Einleitung in die Theorie der Metapher. In: Ders. (Hg.): Theorie der Metapher. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgemeinschaft 1996.

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condo, als Metapher eines verdichteten Raumes, wird bei Cisneros insofern konsequent fortgeführt, als der gelesene Ort und der Ort der Lektüre nicht erst in einer Kulmination koinzidieren, sondern fortlaufend und immerzu in Bezug gesetzt werden, einen Prozess ständiger Selbstlektüre in der Erzählung selbst explizit markierend. Bolaño hingegen nimmt nicht nur strukturell auf diese Metapher Bezug. Wie ich weiter unten ausführen werde, lässt sich ein Auszug aus seinem posthum veröffentlichten Roman 2666 als eine Revision der Familiengenealogie lesen, die natürlich auch die Ordnung des Ortes Macondo revidiert. Weder Überlagerung noch Verdichtung, sondern schlicht und ergreifend Kontingenz zeichnen einen Ort wie Sonora (respektive Ciudad Juárez) aus. Die Motive Genealogie – Metapher der Geschichte – und Macondo – Metapher des Ortes – sind auch vor dem Hintergrund der jeweils problematisierten Transgressionen zu lesen. Narrativität als Lebensfunktion (García Márquez), eine stete und vielfache Diskursivierung von Subjekt und Sprache (Cisneros) sowie eine unablässig-überschüssige Überschreibung (Bolaño) stellen die Schauplätze dar, an denen Literatur eine problematisch gewordene Sprache ebenso inszeniert wie an ihr teilhat. Damit steht mehr zur Verhandlung als eine genuin gattungstheoretische Reflexion. Es geht auch um diverse Bewegungsfiguren narrativer Transgressionen, welche eine doppelte Perspektivierung nötig machen, die über die formale Feststellung eines allgemeinen sprachphilosophischen und rhetorischen Prinzips der Ironie hinausgeht. Statt im Sinne einer allgemeinen Theorie in Frage zu stellen, ob Wirklichkeit einen zugänglichen und zweifelsfreien «harten Kern»¹⁰ bereithält bzw. inwiefern die Annahme eines solchen Kerns jedwede Sprache immer schon ironisiert, zeigt sich der gleichermaßen literaturtheoretische, literaturhistorische wie auch lateinamerikanistische Einsatz in einem positiven Moment der Ironie. Mit dieser Wendung wird die Frage der stets ironisierbaren Wirklichkeitskonstitutionen überlagert und gebrochen von einer bestimmten Geschichte und bestimmten Bewegungen. Das meint: Der grundsätzliche Widerstand eines lateinamerikanischen Realen gegen seine Symbolisierung ist immer auch ein Widerstand gegen bestimmte Symbolisierungen, der sich nicht aus der inneren Krise dieser Symbolisierung motiviert, sondern ebenso als Effekt einer Bewegung oder auch Verschiebung einstellt. Aus der Sicht einer Disziplin, die sich den symbolischen Praktiken widmet, die einen wesentlichen Bezug zum Raum der (lateinamerikanischen) Amerikas und seinen diversen Relationen unterhalten, erweisen sich die positiv ironischen Bewegungen als ein zwar kontingentes, aber nichtsdestoweniger kulturhistorisches und kulturbegründendes

10 Slavoj Žižek: Welcome to the desert of the real. London: Verso 2002, S. xv, meine Übersetzung.

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Prinzip von (Lebens-)Wirklichkeiten. Warum aber – jenseits der schon genannten strukturellen Entsprechungen – sollen der literarische Diskurs und speziell der Roman hierfür aufschlussreich sein? In einer zweifelsohne etwas schematischen und recht abstrakten Art und Weise kann dies mit der Natur einer doppelten Sprach-Bewegung des Romans begründet werden. Es genügt hier womöglich der Hinweis, dass die ironischnegative Bewegung vor allem eine vertikal-metaphorische Bewegung andeutet. Die ironische Wiederholung verrät im Wesentlichen die Nicht-Identität des ursprünglich Wiederholten, wobei offen bleiben kann, ob und auf welcher Ebene diese Nicht-Identität gedacht werden soll. Die ironisch-positive Bewegung hingegen lässt sich eher als eine metonymisch-horizontale, im engeren Sinne transareal-metaleptische Bewegung begreifen. Die Bewegung der Verschiebung unterscheidet sich von der Bewegung der Wiederholung dadurch, dass sich bei ersterer der ironische Effekt der Nicht-Identität auf ein und der gleichen Ebene einstellt und gleichzeitig auf ein nunmehr immanentes Außen verweist. Eine erste Konsequenz hieraus ist, dass diese Nicht-Identität immer auch einen retroaktiv figurierten Zwischenraum einer überschreitenden Bewegung eröffnet. Damit ist eine grundsätzlich diskontinuierliche Verschiebung beschrieben, die insofern einer transarealen Logik folgt, als man darunter mit Ottmar Ette in einem strukturellen Sinne «Bewegungen zwischen unterschiedlichen […] Regionen»¹¹ verstehen kann und gerade nicht Bewegungen von einer Ebene auf die andere und auch nicht die Beschränkung auf die internen Dynamiken eines Raumes. Die vom Inzest belastete Gründung Macondos, Lalas kontinuierliche Übersetzung und Arturo Belanos ständige (Selbst-)Revisionen wiederholen und transformieren diese Doppel-Bewegung und rekurrieren dabei auf eine koloniale Sprachsituation, in der das Verhältnis von Sprache und Welt durch eine horizontale Bewegung ein immer wieder spezifisch zu denkendes Moment der NichtIdentität enthält, dem eine vorgelagerte Bewegung zugrunde liegt. Nicht überraschend präsentieren diese Romane problematische, prekäre und ambivalente Diegesen: Macondo, Chicago und Blanes sind keine fixen Orte, sind keine eindeutigen Allegorien ihrer lebensweltlichen Entsprechungen, sondern benennen Bewegungsräume, deren immanente Lokalität nur ironisch behauptet werden kann und denen eine überschreitende Bewegung sowohl vorgelagert ist als auch selbst eingelassen.

11 Ottmar Ette: Unterwegs zu einer Weltwissenschaft? Alexander von Humboldts Weltbegriffe und die transarealen Studien. In: HiN, VII, 13 (2006), S. 50, kursiv im Original.

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Nicht zuletzt aus diesem Grund ist es möglich und auch nötig, Cien años de soledad nicht nur vor dem Hintergrund einer Spezialentwicklung des lateinamerikanischen Romans zu lesen, sondern selbst schon als eine Übersetzung dieser Gattung und seiner transarealen Geschichte. Ebenso empfiehlt es sich, die Texte von Sandra Cisneros nicht nur als Teil der Chicana-Feminist-literature zu lesen, sondern auch als eine (implizite) Theorie darüber, wie sich Geschichte über eine sowohl angeeignete wie auch aufgezwungene Distanz hinweg jenseits ihres Ereignisorts übersetzt, wie Geschichte selbst immer nur in Visionen verfügbar ist. Schließlich sollten auch die Texte von Roberto Bolaño nicht nur als der dernier cri des lateinamerikanischen Romans, als der Versuch, qua literarischer Avantgarde dem Lokalismus zu entkommen, verkürzt werden, sondern ebenso als eine ihre Möglichkeiten auszreizende Reflexion darüber, wie eine immer schon verstellende Sprache – und es ist der Roman der dies in Bezug auf die Wirklichkeit nicht nur vollzieht, sondern auch nachvollziehbar hält – Geschichte erzählen kann.

6.2 Soledad: Zwischen Rhetorik und Theorie Soledad ist eines der diskursökonomisch sicherlich prominentesten Motive, das nicht zuletzt auch aus CAS kulturtheoretisch extrahiert worden ist und das in der Regel isolierend-lokal im Sinne einer soledad de América Latina ausgelegt worden ist.¹² Dieses Motiv ist insbesondere in mehr oder weniger kulturkritischen Ansätzen im Sinne einer «spezifisch lateinamerikanischen Psychologie der soledad»¹³ gelesen worden. Geradezu kanonisch ist der Versuch, mit Bezug auf Martínez Estrada und Paz eine Art Archäologie der lateinamerikanischen Einsamkeit anzugehen. Das Ergebnis einer solchen Arbeit wäre «eine spezifisch lateinamerikanische Komponente der Thematik der soledad».¹⁴ Mit einer gewissen mythologischen Hartnäckigkeit lässt sich diese soledad dann auch zum «Merkmal einer in Geschichtslosigkeit mündenden Existenz»¹⁵ für ganz Lateinamerika übersetzen.

12 Die Bibliographie, die sich dieses lokale Dispositiv einschreibt, ist schier endlos. An dieser Stelle genügt es insbesondere auf zwei Werke zu verweisen, die von diesem Motiv ausgehend eine literaturhistorische Reihe der Einsamkeit vorschlagen und darin ein Spezifikum der lateinamerikanischen Kulturen erblicken. Vgl.: Suzanne Jill Levine: El espejo hablado; Matzat, Wolfgang: Lateinamerikanische Identitätsentwürfe. 13 Wolfgang Matzat: Lateinamerikanische Identitätsentwürfe, S. 86, kursiv im Original. 14 Ebd. , S. 85. 15 Ebd., S. 88.

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Angesichts dieses doch höchst problematischen Kurzschlusses stellt sich ganz grundsätzlich die Frage, ob und wie sich das Motiv der Einsamkeit als kulturelle Allegorie aus einem literarischen Diskurs extrahieren lässt. Dagegen sprechen zumindest zwei Gründe: Zum einen handelt es sich bei diesem Motiv – zumindest im Falle von CAS – um eines, das nicht von seiner binnenlogischen Gegenfigur zu trennen ist, die bei García Márquez das Motiv der Liebe ist. Zum anderen ist auch zu fragen, ob es nicht auch eine Bedeutung hat, dass dieses Motiv literarisch behandelt wird. Wie ich schon ausgeführt habe, ist es durchaus möglich, im Zusammenspiel dieser Motive eine metaliterarische und metahistorische Allegorie zu lesen. Die Struktur des Romans wäre dann nicht qua unmittelbar zu dechiffrierender Allegorie auf die Erfahrung von Geschichte selbst zu beziehen (also die fragmentierte Erzählweise für eine fragmentierte Geschichtserfahrung zu nehmen). Ratsam wäre es vielmehr, zunächst danach zu fragen, wie sich Geschichte durch den literarischen Diskurs erfahren lässt und genauer: wie Geschichte im Ereignis der Versprachlichung trotz des sich damit einstellenden Entzugs durchschlägt. Mit anderen Worten: Statt also auf eine Art kultureller Pseudo-Geworfenheit hinzuweisen, die es letztlich unmöglich macht, dieser Metapher die ihr eingelassene metaliterarische Pointe zu entnehmen, gilt es nachzuweisen, dass Einsamkeit ebenso eine literarisch inszenierte und vor allem: literarisch inszenierbare Position verhandelt und benennt und als positionale Metapher mitnichten auf eine verkappte Ontologie der lateinamerikanischen Literatur zu reduzieren ist. Nachzuweisen wäre also, dass die Figur der Einsamkeit sowohl im Roman wie auch in der Nobelpreisrede, die ja die Formel der Soledad de América Latina im Titel trägt, eine anders begründete, kulturelle, ironischerweise eher auf den Überfluss von Geschichte verweisende und metasprachliche Problematik umschreibt. Insbesondere wenn man Bezug auf die sowohl im Roman wie auch in der Nobelpreisrede wirksame Gegenspielerin der Einsamkeit – der Liebe – Bezug nimmt, zeigt sich, dass die Metapher der Einsamkeit nicht eine lateinamerikanische Differenz artikuliert, sondern eine bestimmte Art der begrenzenden Relation beschreibt, die in CAS sowohl das magisch-mythische wie auch das technischimperiale Dispositiv auszeichnet. García Márquez selbst entwickelt diesen Zusammenhang von Liebe und Literatur in seiner Nobelpreisrede La soledad de América sehr deutlich. Im Folgenden, da ich den Roman auch diesbezüglich bereits kommentiert habe, möchte ich mich auf die Nobelpreisrede konzentrieren, die jedoch, wie es das folgende Zitat unmittelbar belegen sollte, sich leicht auf CAS beziehen lässt: Ante esta realidad sobrecogedora que a través de todo el tiempo humano debió de parecer una utopía, los inventores de fábulas que todo lo creemos, nos sentimos con el derecho de

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creer que todavía no es demasiado tarde para emprender la creación de la utopía contraria. Una nueva y arrasadora utopía de la vida, donde nadie pueda decidir por otros hasta la forma de morir, donde de veras sea cierto el amor y sea posible la felicidad, y donde las estirpes condenadas a cien años de soledad tengan por fin y para siempre una segunda oportunidad sobre la tierra.¹⁶

Die gegenläufige Utopie, das Gegen zur Utopie («la utopía contraria») relativiert nicht zufällig eine räumliche Figur. Die gegenläufige Utopie als eine Utopie des Lebens wäre in dem Sinne jener Diskurs, dem das Andere seiner Darstellung gerade nicht ein Nicht-Ort ist, sondern Teil eines sich nie nur in sich selbst erfüllenden Lebens und aus sich selbst heraus konstituierten Raumes. Für García Márquez spielt der literarische Diskurs nicht zuletzt deshalb eine so herausgehobene Rolle, da er als ein transarealer Diskurs quer zu der Lokalität der magisch-mythischen Welt und der scheinbaren Universalität der technischen Repräsentation liegt und somit quer zu den Polen einer absoluten Immanenz (von Differenz) und einer absoluten Exteriorität des Diskurses. Die soledad de América Latina ist deshalb eine Quasi-Allegorie, in der mit Einsamkeit weniger das Lateinamerikanische selbst beschrieben wird als eine Problematik, die sich bei der Beschäftigung mit dem und der Artikulation des Lateinamerikanischen einstellt. So fasst der Kolumbianer in seiner Nobelpreisrede zusammen: Poetas y mendigos, músicos y profetas, guerreros y malandrines, todas las criaturas de aquella realidad desaforada hemos tenido que pedirle muy poco a la imaginación, porque el desafío mayor para nosotros ha sido la insuficiencia de los recursos convencionales para hacer creíble nuestra vida. Este es, amigos, el nudo de nuestra soledad.¹⁷

Ohne das Konzept der Transarealität zu verwenden, hat jüngst Wehr die Problematik der Einsamkeit als eine interkulturelle Problematik gedeutet und dabei – sich auf die gleiche Stelle beziehend – vor allem einen kulturellen Konflikt ausgemacht: Die Einsamkeit erwächst aus einer kulturellen Kluft, die nicht nur im Zeichen okzidentaler Ignoranz steht. Sie ist auch geprägt vom Mangel an Tradition und dem schmerzhaft empfundenen Ungenügen der eigenen Überlieferungen. […] Auch Cien años de soledad steht letztlich im Zeichen einer solchen Diskrepanz. Zwar wird diese Deutung von Márquez nicht expliziert. Seine Argumente [in der Nobelpreisrede, PVO] legen jedoch nahe, daß der repräsentative Rang des Romans gerade in der exemplarischen Gestaltung jener Spannung begründet liegt, die seines Erachtens für die lateinamerikanische Literatur insgesamt charakteristisch ist. In dieser Hinsicht ist an ein grundlegendes Konstruk-

16 Gabriel García Márquez: La soledad, o.A. 17 Ebd.

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tionsprinzip zu denken, dessen interkulturelles Konfliktpotential bislang kaum Beachtung fand: Cien años de soledad erzählt die Geschichte der neuen in den Mythen der alten Welt.¹⁸

Wenn nun die Praxis der Literatur diese Erfahrung von Einsamkeit impliziert, dann heißt das noch lange nicht, dass Literatur selbst eine Praxis der Einsamkeit ist bzw. immer nur diese zur Folge hätte. Zu allererst stellt sich also die Frage, wie diese Wortlosigkeit zu verstehen ist und vor allem: wie sie überwunden werden kann bzw. welche Rolle der Roman dabei spielen kann. Die Sache ist bei weitem nicht so klar und einfach wie es scheint und meint mehr als den Zwang, in fremden Mythen den eigenen zu erzählen, der ja zumindest teilweise die Dichotomie des Eigenen und Fremden weiterhin reproduziert.¹⁹ Einen ersten Hinweis auf eine etwas andere Ausgangslage findet sich in der gegenüber Vargas Llosa geäußerten Überlegung von García Márquez, wonach die Einsamkeit – noch bevor sein peruanischer Gesprächspartner die Figur der Einsamkeit zu einer spezifisch lateinamerikanischen umdeutet – zu einer universalen menschlichen Erfahrung erklärt: En realidad no conozco a nadie que en cierta medida no se sienta solo. Este es el significado de la soledad que a mí me interesa. Temo que esto sea metafísico y que sea reaccionario […] pero creo que el hombre está completamente solo. […] es parte esencial de la naturaleza humana.²⁰

Dem Vorschlag von Vargas Llosa, in der «soledad» eine «característica del hombre americano» zu sehen, die Folge einer «incomunicación que existe entre los

18 Christian Wehr: Mythisches Erzählen und historische Erfahrung. Verfahren der Geschichtsbewältigung in Gabriel García Márquez’ Cien años de soledad. In: Romanistisches Jahrbuch 54 (2003), S. 383. 19 Die fehlenden Worte und Mythen ließen sich – so ist schon auf der ersten Seite von CAS zu lesen – mithilfe bildlicher Verweise und womöglich durch die Sache selbst überwinden, sofern diese Bilder Ausgangspunkt einer neuen Sprache werden könnten: «El mundo era tan reciente, que muchas cosas carecían de nombre, y para mencionarlas había que señalarlas con el dedo.» (CAS: 9) Man könnte dieses Projekt eines eigenen Mythos, das in CAS gerade nicht erfolgt, durchaus mit den mythologisch-literarischen Projekten eines Asturias oder auch eines Carpentier in Verbindung bringen. Für García Márquez hingegen ist die mythologische Reflexion immer eine der conditio humana – ein Aspekt, der ihm nicht zuletzt die scharfe Kritik von Oscar Collazos eingebracht hat, der ihm eine im schlechten Sinne zu deutende Universalität vorgeworfen hat. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass für García Márquez die einzige lateinamerikanische mythische Figur – die des Diktators – eine politisch-historische ist und gerade nicht eine ontologisch-wesenhafte. 20 Gabriel García Márquez/Mario Vargas Llosa: La novela en América Latina, S. 8.

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hombres» ist, und folglich ein Hinweis darauf, dass «el hombre americano […] está condenado a una especia de desencuentro con la realidad»²¹, begegnet der Kolumbianer zunächst ausweichend: No lo había pensado. Sucede que estos valores son totalmente inconscientes. Yo creo, además, que estoy metiéndome en terreno peligroso, que es el de tratar de explicarme esta soledad que yo expreso y que trato en distintas facetas del individuo.²²

Wenn er weiter unten dieser lateinamerikanischen Perspektivierung der Einsamkeit in Ansätzen zustimmend begegnet – «probablemente»²³ – dann bedeutet das nicht, dass er deshalb auf eine ‘universale’ Dimension der soledad verzichtet. Im Gegenteil: Das wie auch immer zu verstehende Universale ist als Horizontbegriff sowohl im allgegenwärtigen Diskurs des Mythischen als auch – für García Márquez wesentlich bedeutender – im metaphysischen Begriff des AllgemeinMenschlichen schon angelegt und impliziert. An dieser Stelle mag der Hinweis angebracht sein, dass die hier entworfene transareal-metaleptische Logik des Romans dieser Gleichzeitigkeit von Universalität und spezifischer Differenz insofern strukturell entspricht, als der lateinamerikanistische Zugang dieser romantheoretischen Studie nicht einer regionalphilologischen Differenz verpflichtet ist. Wenn es etwas gibt, das in der romantheoretischen Diskussion des booms einen paradigmatischen Wert für diese Studie beanspruchen kann, dann ist es die Einsicht, dass die ‘universale’ Perspektive nicht in Opposition zu einer kulturellen Spezifizität zu stehen hat. Vielmehr – und dafür spricht auch die soledad – scheint es ratsam, eine Art Zwischenposition einzunehmen, die ich anfangs mit Kundera am Begriff der Vision entwickelt habe. Man kann also den Diskurs der soledad (wenn er denn einer ist) und so wie er sich mit García Márquez entwickeln lässt auch dahingehend verstehen, dass ein solches Universales immer auch einer spezifischen und selbst schon eine Überschreitung implizierenden Nach-Erzählung bedarf.²⁴ Das Motiv der Einsamkeit nun operiert für García Márquez genau in diesem Sinne und wird

21 Ebd. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 9. 24 Wie insbesondere das Beispiel von Fernández Retamars Entwurf einer lateinamerikanische Literaturtheorie zeigt, erweist sich die immer aporetisch einstellende Dichotomie zwischen konkreter Literatur und universaler Theorie als der erste Hinweis darauf, wie sehr eine transareale Perspektive innerhalb der Lateinamerikanistik vonnöten ist. Nur mit dieser lässt sich Retamars Aporie auflösen, wonach eine allgemeine Literaturtheorie erst dann möglich sein wird, wenn es eine (wie ich meine, nicht einmal theoretisch denkbare) allgemeine Literatur gibt.

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in der Wendung «hacer creíble nuestra vida» auch literaturästhetisch expliziert. In diesem Wortlaut lässt sich nämlich weniger ein Darstellungsproblem von Wirklichkeit begreifen, das sich durch die Spannung von nicht-westlicher Lokalgeschichte und westlich-globaler Sprache begründet (es steht gerade nicht das von Wehr gelesene und schon von Angel Rama problematisierte «representar la realidad del nuevo mundo con mitos del mundo viejo» geschrieben), sondern ein rhetorisch-poetologisches Problem, das nicht ohne Grund auf das menschliche Leben insgesamt bezogen ist und das in diesem Bezug auf das Leben jedweder Frage nach dem Eigenen und Fremden noch vorgelagert ist. Das Leben stellt für den Autor von Vivir para contarla eine Frage, die über die Frage der entsprechenden Darstellung hinausgeht. Angemessener wäre es deshalb, Leben im benjaminschen Sinne als ein qua und in Literatur inszeniertes Fort- und Überleben zu begreifen und das meint: als ein Zusammenhang, der nur dann verstanden wird, wenn jener Zweck, auf den alle einzelnen Zweckmäßigkeiten des Lebens hinwirken, nicht wiederum in dessen eigener Sphäre, sondern in einer höheren gesucht wird.²⁵

Die am literarischen Text nachvollzogenen Transgressionen liefern (nicht nur) für García Márquez das beste Beispiel für eine solch höhere Sphäre, für eine solch gegenläufige Utopie des Lebens. In welchem Sinne ist dies zu verstehen? Seminarist, Rhetorik- und Lateinschüler in Bogotá, Student der Rechtswissenschaften und leidenschaftlicher Leser von Enzyklopädien, wählt der Kolumbianer sehr bewusst klassische Begriffe der aristotelischen Poetik und Rhetorik. So bezieht sich Glaubwürdigkeit einerseits im Sinne von Ethos auf den Sprecher und die von ihm aufgerufene Gemeinschaft als Lebensform («nuestra vida»); andererseits bezieht sich Glaubwürdigkeit als Effekt von Wahrscheinlichkeit auf eine poetologische Fragstellung, die García Márquez hier politisieren möchte und politisieren kann, gerade weil die «realidad sobrecogedora»²⁶ mehr als das Wunderbare, nämlich die Wirklichkeit eines Lebens meint. Etwas glaubwürdig machen zu können, bedeutet für ihn die Fähigkeit, an jenem «Allgemeine[n]» teilzuhaben, durch welches verständlich wird, warum «ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut».²⁷ Diese Schnittstelle von Poetik und Rhetorik findet im ‘Gegenstand’ Leben insofern sein grundlegendes Scharnier, als damit

25 Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 12 26 Ebd. 27 Aristoteles: Poetik. Stuttgart: Reclam 2005, S. 31.

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nicht die Wirklichkeit eines Lebens oder gar die allgemeine Wahrheit von Existenz überhaupt aufgerufen ist, sondern die an einem Leben nachvollziehbare Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit als jene Art spezifischer Allgemeinheit, die schon Aristoteles für die Dichtung gegenüber der immer nur spezifischen Spezifizität der Geschichtsschreibung betont hat. Der Roman – wie anfangs angeführt – qualifiziert sich in diesem Sinne als eine auch politische Gattung, sofern ihr dieses Allgemeine immer nur das Spezifische einer Welt sein kann, also weniger nach dem Allgemeinen des Spezifischen, sondern allem voran nach dem Spezifischen des Allgemeinen fragt. Mit den aristotelischen Begriffen der Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit sind zwei Elemente aufgerufen, die zwar an einem erzählten oder auch dargestellten Leben nachzuzeichnen sind, selbst aber auf eine nur rhetorisch adressierbare höhere Sphäre von Allgemeinheit referieren. Der rhetorische Einsatz in der Poetik besteht also darin, dass auch für die Poetik ein consensus vonnöten ist und das meint hier: ein consensus über jene Überschreitungen, die für ein Leben konstituierend und wahrscheinlich sein können. Die Allgemeinheit des Lebens, um die es hier ja geht, unterscheidet sich von der Allgemeinheit beispielsweise eines Syllogismus dadurch, dass hier nicht die Gültigkeit eines Schlusses zur Disposition steht, sondern die Frage nach dem, wie sich Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit eben immer auch spezifisch erkennen und verhandeln lassen. Da es erst diese Relationsbegriffe erlauben, Handlungen zu bewerten und auch auszuführen, also mithin leben zu können, muss sich ihre Begründung und ihr Verständnis auf eine zumindest provisorische Universalität beziehen können, auf eine Universalität also, die gerade in diesem provisorischen Charakter ein universales Verfahren der (rhetorischen) Einpassung des Menschen in seine Welt(en) offenbart. Es handelt sich also um eine Art Behelfsallgemeinheit, die immer wieder auf eine rhetorische Institutionalisierung angewiesen ist. Es sollte deshalb nicht weiter überraschen, dass Blumenberg diesen Zusammenhang konzise auf den Punkt bringt, wenn er die der Rhetorik implizierte Theorie «als eine Theorie des Menschen außerhalb der Idealität, verlassen von der Evidenz […]»²⁸ ebenfalls mit dem Motiv der Verlassenheit bzw. Einsamkeit expliziert. Dieser Bedarf nach einer Behelfsallgemeinheit wird – und hierauf gründet García Márquez’ Argumentation – natürlich dann besonders akut, da das Leben eine Tatsächlichkeit vorgibt, deren Notwendigkeit sich nicht unmittelbar er-

28 Hans Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Rhetorik. In: Ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Herausgegeben von Anselm Haverkamp. Frankfurt: Suhrkamp 2003 [1971], S. 408.

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schließt. Mit etwas Willen lässt sich diese Problematik mit einer Stelle aus Lausbergs Handbuch der literarischen Rhetorik präzisieren, wenn dieser, Quintilian paraphrasierend, auf das Problem einer unwahrscheinlichen Tatsächlichkeit Bezug nimmt und dabei durchaus Raum für die Spekulation lässt, ob der Vertrag des Fiktiven in der Literatur als eine Art implizite Erklärung von paradoxen Tatsächlichkeiten gelten kann: Ist der der Tatsächlichkeit entsprechende Inhalt der narratio unglaubwürdig, so ist oft eine künstliche Wahrscheinlichmachung unmöglich, so daß der Redner auf das Paradox hinweisen muß mit der Erklärung, daß eben die Tatsächlichkeit manchmal irrationalparadox ist […].²⁹

Wenn also auf der einen Seite im menschlichen Leben ein Rhetorikbedarf zwecks Universalisierung herrscht und auf der anderen die damit erschlossene Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit des Lebens immer nur als partikulare Projektion aus einem bestimmten Leben heraus möglich ist, dann meint dies einerseits, dass die Ordnungen des Universalen und Partikularen im Falle der literarisch-rhetorischen Verhandlung von Leben nicht voneinander zu trennen sind, sondern sich jeweils enthalten. Andererseits wird der politische Einsatz deutlich, den García Márquez an der Figur der universal-partikularen Einsamkeit festmacht. Dieser Einsatz wird insbesondere an der andernfalls durchaus etwas rätselhaften Formulierung des «Ausmaßes der Einsamkeit» («el tamaño de nuestra soledad») explizit. Diese Formulierung, die an die damals seit gut 13 Jahren bekannte, bis dahin erfolgreich unter Verschluss gehaltene Formel des jungen Borges erinnert – El tamaño de mi esperanza – und ähnlich wie dieser eine Position jenseits von progresismo und criollismo fordert³⁰, bezieht sich auf zumindest zwei Aspekte: Das Ausmaß der Einsamkeit meint zum einen das Ausgeschlossensein aus dem, was Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit bestimmt. Auf dieser Ebene lässt sich durchaus ein «interkulturelles Konfliktpotential»³¹ ausmachen. Zum anderen und von wohl größerer Bedeutung spricht García Márquez den Mythos und mythischen Terror (des Eigenen) an. Handlungsfähigkeit kann in einer widersprüchlichen Welt nur dann wiedererlangt werden, wenn ihre Widersprüche als eine wahrscheinliche Erzählung vermittelt werden und das meint: als eine paradoxe, menschlich und eben nicht mythisch geschaffene Tatsächlichkeit. Das Paradoxe einer (lateinamerikanischen) Wirklichkeit schlägt also genau dann in

29 Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. München: Hueber 1973, S. 180. 30 Jorge Luis Borges: El tamaño de mi esperanza. Barcelona: Seix Barral 1993, S. 14. 31 Christian Wehr: Mythisches Erzählen und historische Erfahrung, S. 282.

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ihren Mythos um, da die Notwendigkeit nicht mehr verhandelbar ist. In dem Sinne ist es zu verstehen, dass García Márquez darauf beharrt, im Verlauf der lateinamerikanischen Geschichte «injusticias seculares» zu sehen und eben nicht eine «confabulación urdida a 3 mil leguas de nuestra casa.»³² Das hier angesprochene und zu revidierende Motiv einer aus einer Distanz und Äußerlichkeit ausgebrüteten Verschwörung («confabulación urdida») bringt ein Verhältnis zur Geschichte zum Ausdruck, welches das mythisch-magische wie auch ein im schlechten Sinne zivilisatorisch-technisches Geschichtsverständnis gleichermaßen unter Verdacht stellt. In beiden Fällen nämlich ist der Ausgang dieser Verschwörung nicht verhandelbar, weil nicht einsichtig. An diesem Grundproblem würde auch ein lokaler Mythos eines durch das zivilisatorische Dispositiv disziplinierten Wesens nichts ändern; diesem wäre zwar die Distanz nicht vorzuwerfen, allerdings wäre damit der Verschwörungscharakter der Geschichte nicht überwunden. Hier wird deutlich, dass es García Márquez bei der Verhandlung dieser immer auch gemachten Einsamkeit schon deshalb nicht ausschließlich um eine Einsamkeit im Sinne «eines interkulturellen Konfliktpotentials»³³ gehen kann, da Literatur als eine Art des Austritts von der notwendigen (Lokal-) Geschichte selbst schon eine transkulturelle Logik impliziert. Die Metapher des Knotens («el nudo de nuestra soledad»), eine weitere, durchaus sperrige Formulierung, lässt sich vor diesem Hintergrund als die Metapher für eine Geschichte deuten, die keinen Ein- und Zugang ermöglicht. Auch hier artikuliert sich in der Insuffizienz der Mittel mehr als bloß ein Problem der Mittel. Der Mangel der «recursos convencionales» impliziert ebenso und vielleicht vordererst ein Problem, welches das Ethos der Erzählung als ein kommunikationspolitisches Problem präzisiert. Man könnte auch sagen, dass das Sprechen über das eigene Leben nicht nur das Problem zwischen Sache und Wort betrifft, sondern die Schwierigkeit das eigene Leben selbst zu artikulieren, im eigenen Diskurs (der kein Diskurs des Eigenen sein muss) glaubwürdig zu halten und eben nicht als Mythos oder als eine entfernte, schon woanders erledigte und beschlossene Geschichte. Politisch ist dieses Problem weniger dadurch, dass an bzw. in Lateinamerika die Grenzen des ‘allgemein’ gültigen Wirklichen gesprengt werden als vielmehr dadurch, dass die Fähigkeit, das eigene Leben glaubwürdig machen zu können, eine bestimmte Position des Sprechens voraussetzt, die weder im mythischen Niederschlag, dem bloßen Zeugenbericht also, noch in einer neutralisierten, entfernten Rede möglich ist. Wenn also García Márquez davon spricht, dass «[l]a interpretación de nuestra realidad con esque-

32 Gabriel García Márquez: La soledad, o.A. 33 Christian Wehr: Mythisches Erzählen und historische Erfahrung, S. 383.

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mas ajenos sólo contribuye a hacernos cada vez […] más solitarios»³⁴, dann ist dies weniger in einem ethnozentristischen Sinne zu deuten, sondern tatsächlich auf die für García Márquez unauflösliche und hierzu eine Alternative schaffende Beziehung von Literatur und Leben. Literatur entzieht dem Mythos seine tödliche Macht und hat dabei den kaum zu überschätzenden Vorteil, nicht notwendigerweise auf ein «esquema ajeno» zu rekurrieren. Literarisches Verstehen ist – anders als stummer Tod und technischer Fortschritt – ohne ein gelebtes Leben nicht denkbar: Sin embargo, frente a la opresión, el saqueo y el abandono, nuestra respuesta es la vida. […] En cada línea que escribo trato siempre, con mayor o menor fortuna, de invocar los espíritus esquivos de la poesía, y trato de dejar en cada palabra el testimonio de mi devoción por sus virtudes de adivinación, y por su permanente victoria contra los sordos poderes de la muerte. […] Es por eso que invito a todos ustedes a brindar por lo que un gran poeta de nuestras Américas, Luis Cardoza y Aragón, ha definido como la única prueba concreta de la existencia del hombre: la poesía.³⁵

Vor diesem Hintergrund ist es sicherlich kein Zufall, dass der Kloß im Hals – dieser besondere Knoten der Wortlosigkeit – in CAS insbesondere den Übersetzer und Leser der Manuskripte des Melquíades, Aureliano Babilonia³⁶, plagt – jene Figur also, an der sich die Motive der überwundenen Einsamkeit, der Liebe, der Selbsterkenntnis, der Literatur und auch des transformierten Todes vereinen. Anders als die anderen Buendía hat seine Wortlosigkeit, erstens, nur bis kurz vor seinem Tod Bestand. Zweitens handelt es sich um jenen männlichen Nachfahren, dem als einziger der Buendía in der Lektüre seiner selbst in einem nunmehr ganz literal lebendig gewordenen Text die ganze Wahrheit seiner Existenz offenbart wird und der durch seine Übersetzung die eigene Geschichte in einen literarischen Text transformiert und – paradoxerweise – in dieser Transformation sich einem endgültigen Tod entziehen kann. Drittens ist Aureliano Babilonia der einzige, dem das Glück der Liebe zuteil wird.³⁷ Diese Koinzidenz

34 Gabriel García Márquez: La soledad, o.A. 35 Ebd. 36 So ist zu in CAS zu lesen: «Fue [Aureliano Babilonia, PVO] dispuesto a desahogarse con palabras, a que alguien le zafara los nudos que le oprimían el pecho, pero sólo consiguió soltarse en un llanto fluido y cálido y reparador, en el regazo de Pilar Ternera.» (448) 37 So wird über das im Moment der Entzifferung geborene und von den Ameisen davon getragene Kind des Aureliano Babilonia aus der Sicht der gebärenden Mutter berichtet: «A través de las lágrimas, Amaranta Úrsula vio que era un Buendía de los grandes, macizo y voluntarioso como los José Arcadios, con los ojos abiertos y clarividentes de los Aurelianos, y predispuesto para empezar la estirpe otra vez por el principio y purificarla de sus vicios perniciosos y su vocación solitaria, porque era el único en un siglo que había sido engendrado con amor.» (465)

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ist kein Zufall, wenn man bedenkt, dass in allen Fällen eine überschreitende Bewegung konstitutiv ist. Alle drei Aspekte – die Selbsterkenntnis qua Übersetzung, die Lektüre des literarischen Textes und die Liebe – behaupten sich ja gerade dadurch, dass sie ihre Erfüllung erst in einem Anderen, in jedem Falle ‘außer sich’ finden und dabei – im Gegensatz zur Einsamkeit – keine fremde Erfüllung darstellen. Die entscheidende Pointe besteht also darin, dass das Wissen von sich selbst eine produktive Überschreitung voraussetzt, die im Leben und als Leben auf einer strukturellen Ebene am ehesten an den Überschreitungen von Literatur und Liebe nachzuvollziehen sind. Ohne die Differenz und vielleicht auch die Distanz in Frage zu stellen, wird die Geschichte des Anderen Teil der eigenen und der Knoten der Einsamkeit genau dann zerschlagen, wenn sich Literatur in das Leben eintragen kann: La poesía, en fin, esa energía secreta de la vida cotidiana, que cuece los garbanzos en la cocina, y contagia el amor y repite las imágenes en los espejos.³⁸

Die Poesie als die heimliche Energie des alltäglichen Lebens expliziert diesen eigentümlichen Doppelcharakter des literarischen Wortes. Geheim ist es, sofern es in unmittelbarer und das meint: nicht immer einsehbarer Nähe zum alltäglichen Leben steht, es mit ihm verwoben ist; ein öffnendes, die Einsamkeit überwindendes Wort ist es, sofern es das Bild als Spiegel wiederholt, also jenen Moment der Selbsterkenntnis erneut verfügbar und das Spiegelbild des Selbst als ein nie vollends sich fügendes Spiegelbild bewusst macht, das immer auch auf ein Anderes verweist, eines Anderen bedarf, der – liebend – keine Entfremdung in das Spiegelbild bringt. Wer nun meint, Liebe und Literatur seien in dieser Verquickung einer spezifisch lateinamerikanischen Sentimentalität geschuldet, der irrt: Zwei in Paris schreibende Theoretiker des Romans, in jenem Paris, das García Márquez (wie auch Octavio Paz) mehr mit Descartes als Rabelais assoziieren, haben bei ihren Theoretisierungen des Romans ebenfalls auf die Metapher der Liebe zurückgegriffen. 1972 hat Marthe Robert die doppelte – emotionale und soziale – Berufung des Romans auf eine Weise beschrieben, die sich geradezu nahtlos in das bisher Ausgeführte einfügt: Ce n’est pas sans raison qu’on lui [le roman, PVO] reconnaît une double vocation sentimental et sociale, sans toutefois démêler clairement la solidarité de ces deux sortes d’intérêt ; en effet il a besoin de l’amour comme du moteur puissant des grands transformations de l’existence qu’il transcrit prédilection dans ses pseudo-états civils  ; et il a

38 Ebd.

Relektüren und Variationen der soledad 

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directement affaire avec la société puisqu’elle est le lieu où s’élaborent toutes les catégories humains, toutes les positions qu’il se propose déplacer.³⁹

6 Jahre später hat Roland Barthes dieses Verhältnis, in dem Liebe ebenfalls zum Namen für eine besondere Art transarealer Beziehung wird, in seiner Vorbereitung des Romans in äußerster Verdichtung umschrieben, auch hier das Ontologische weniger im Sinne eines Spezialmythos, sondern im Sinne des Lebens und der Welt deutend: Lieben + schreiben = denen Gerechtigkeit wiederfahren lassen, die man gekannt und geliebt hat […] Der ROMAN liebt die Welt, weil er sie umfaßt und umarmt. Es gibt eine Großzügigkeit des Romans […]. Ich denke an eine Unterscheidung, die in die mystische Liebe eingeführt wurde […]: 1. entweder eine Liebe zu einem Anderen, mit dem man sich zu vereinigen sucht (monotheistische Mystik, Lyrik, Sprache der Liebe, [sic] 2. Oder eine tiefgründige, dunkle, unvermeidliche, «ontologische» Liebe (indische Mystik, Roman) […].⁴⁰

6.3 Relektüren und Variationen der soledad Diese Neukonturierung des Motivs der Einsamkeit hat den Vorteil, dass ihre literarästhetische Dimension sich auf die im Roman angelegte Darstellung (von Welt beziehen) und somit im Sinne einer in Visionen argumentierenden Romantheorie deuten lässt. Anders formuliert: Diese Metapher figuriert ein literaturhistorisches Motiv, mit dem Transarealität nicht nur auf eine extraliterarische Geschichte zu beziehen ist, sondern auch auf das, was Historizität als Effekt narrativer Praktiken impliziert. Die spezifische Ausgestaltung dieses Motivs innerhalb des hier zu untersuchenden Korpus kann somit auf eine Frage rekurrieren, die zwar nicht von einer positiv belegbaren Rezeption abhängig ist, aber doch spezifisch genug ist, um einen inneren und allem voran: literarästhetischen Zusammenhang erkennen zu lassen. Das Schreiben der Einsamkeit – in beiderlei Sinne – lässt sich als die Frage reformulieren, ob Geschichte (literarisch) zu figurieren und das meint: Geschichte zitieren zu können, nicht immer auch bedeutet, nicht mehr oder zumindest nicht mehr ganz in dieser zitierten Geschichte zu sein. Einsamkeit wäre dann vor allem eine positionale oder auch topologische Bestimmung, mithin

39 Marthe Robert: Roman des origins et origins du roman. Paris: Gallimard 2009 [1972], S. 38, kursiv im Original. 40 Roland Barthes: Die Vorbereitung des Romans, S. 48–49, kursiv und Kapitälchen im Original.

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eine Position, die sich – nicht überraschend – durch die diskontinuierlichen Bewegungen der Zitationsverfahren einstellt und gewissermaßen einen Grenzwert des Zitierens darstellt. Was dieses auf den ersten Blick vielleicht disparat wirkende Korpus zu formulieren erlaubt, betrifft folglich die Bewegungen eines auch kulturell lesbaren Übersetzungsverfahrens und nicht die Entwicklung eines Wesens oder einer Idee durch diese Übersetzungen hindurch.⁴¹ Diese Frage nach der Relation zur Geschichte ist in Cisneros para-biografischen Romanen ebenso prominentes Thema wie formales Prinzip. Sowohl in Caramelo wie auch The House on Mango Street lässt sich die Ambivalenz des Schreibens der Einsamkeit besonders gut veranschaulichen. Zum einen bedeutet es das Schreiben einer Differenz. Von Interesse ist hier, dass die Einsamkeit auch hier nicht ein Wesen zum Ausdruck bringt, sondern eine Erfahrung betrifft, die das Subjekt mit seinem Umfeld macht. Das Erkennen dieser Differenz ist dabei alles andere als ein einfacher und geradliniger Prozess der Selbstbehauptung. Stattdessen artikuliert sie sich gerade dadurch, dass eine Relation ausbleibt, dass also das Umfeld – so auch in The House on Mango Street – bestenfalls ein Umfeld der Gleichgültigkeit, oftmals gar eines der Gefahr ist. In einem Auszug aus dem Text From a Writer’s Notebook betont Cisneros ganz explizit, dass Einsamkeit Entzug ist: My parents would be hard-pressed to recall my childhood as lonely, crowded as the nine of us in cramped apartments where there were children sleeping on the living room couch and fold-out Lazy Boy, and on beds set up in the middle room, where the only place with any privacy was the bathroom. […] In retrospect, my solitary childhood proved important. Had my sister lived or had we stayed in one neighborhood long enough for a friendship to establish, I might not have needed to bury myself in books the way I did.⁴²

Doch auch hier erfährt das Motiv der Einsamkeit eine entscheidende metaliterarische Wendung. Während die Einsamkeit des Schreibens im Kontext eines mangelnden Interaktionsraums durchaus als ein ‘Selbstbegräbnis’ erscheinen kann, ist es – darin García Márquez fast im Wortlaut folgend –, ebenso geeignet eine «energía secreta de la vida cotidiana»⁴³ zu sein. Dies zumindest suggeriert die

41 Nicht zufällig – und darauf wird zurückzukommen sein – wird auf die eine oder andere Weise in all den hier zu lesenden Romanen die koloniale Begegnung als das Initiationsmoment der Übersetzung und der (literarischen) Erzählung zitiert. 42 Sandra Cisneros: From a Writer’s Notebook. In: Americas Review, 15, no. 1 (Spring, 1987). S. 69–70) 43 Gabriel García Márquez: La soledad, o. A.

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hier dem Begräbnis entgegengesetzte Metapher der ‘Ernährung’, die Cisneros in dem im gleichen Jahr erschienen Aufsatz Notes to a young(er) writer verwendet: But those years before that first college writing class, I was more a reader than a writer – an important step to becoming a writer. I was getting myself ready to be a writer with the book I borrowed from Chicago Public Library, the books I read instead of doing my household chores, instead of learning how to cook or taking care of my little brothers, instead of talking to the best friend I didn’t have nor the boys who never noticed me. I was reading, nurturing myself with books like vitamins, only I didn’t know it then.⁴⁴

Dadurch, dass der erste Entzug nicht einfach erzählt bzw. gezeigt wird, sondern anders und neu besetzt wird, erfährt die Metapher der Einsamkeit eine Umdeutung. Die Erzählung eines Entzugs macht einen weiteren Entzug notwendig, der das Motiv der Einsamkeit mit einer anderen, deutlich positiveren Valenz versieht. Einsamkeit beschreibt hier das Moment des Schreibens selbst im Sinne einer angeeigneten und nunmehr lebenserhaltenden Einsamkeit. Drittens – und das schreibt sich einerseits in die eigene Familiengeschichte ein wie es andererseits das durch Octavio Paz mexikanisierte Motiv der Einsamkeit anders und kritisch perspektiviert – wird an der Figur der Einsamkeit ein bestimmtes Geschlechterverhältnis thematisiert. Einsamkeit ist auch hier eine ambivalente Figur. Einerseits ist sie – wie es insbesondere die Darstellung des Frauenalltags in The House on Mango Street illustriert – eine spezifisch weibliche Einsamkeit: My great-grandmother. I would’ve liked to have known her, a wild, horse of a woman, so wild she wouldn’t marry. Until my great-grandfather threw a sack over her head and carried her off. Just like that, as if she were a fancy chandelier. That’s the way he did it. And the story goes she never forgave him. She looked out the window her whole life, the way so many women sit their sadness on an elbow. I wonder if she made the best with what she got or was she sorry because she couldn’t be all the things she wanted to be. Esperanza. I have inherited her name, but I don’t want to inherit her place by the window.⁴⁵

Andererseits kann Einsamkeit auch eine angeeignete sein, die sich gegen das wendet, was sich als vermeintliche Tradition autorisiert. «According to their perspective, to be alone, to be exiled from the family, is so anti-Mexican.»⁴⁶ Schreiben aus einer selbstbestimmten Einsamkeit, als «Nobody’s Mother and Nobo-

44 Sandra Cisneros: Notes to a Young(er) Writer. Americas Review, 15, no. 1 (Spring 1987), S. 74. 45 Sandra Cisneros: The House on Mango Street. New York: Random House 1991, S. 10–11. 46 Sandra Cisneros: Return to One’s House: An Interview with Sandra Cisneros. Interview with Martha Satz. In: Southwest Review 82.2 (1997): S. 182.

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dy’s Wife»⁴⁷ hat nicht unwesentlich mit der Einsamkeit der Literatur zu tun, die wiederum – schon auf das Motiv eines räumlichen Verhältnisses verweisend – einen eigenen Ort eröffnet, nicht – wie im Falle der Familienbeziehungen – einen schon zugewiesenen, schon gegebenen: «For a writer, for the solitude to write, you don’t need a room of your own, you need a house.» (Cisneros 2002: o.A.)⁴⁸ Diese Ambivalenz der Einsamkeit äußert sich auch in einer ständigen Selbst-Übersetzung, in der die Einsamkeit ebenso Chiffre einer unartikulierten Differenz ist wie auch die Möglichkeit einer erwünschten und zwar qua Literatur erwünschten Distanzierung, durch die «a story» «my story» werden kann. Roberto Bolaño zitiert das Motiv der «soledad de América Latina» ganz explizit und in einer Erzählung, die sich anschickt, die Geschichte eines «crimen atroz»⁴⁹ zu erzählen. Nicht zufällig koinzidiert das im Roman Amuleto (1999) erfolgte Zitat der «soledad latinoamericana» in der erzählten Zeit mit dem Erscheinen von CAS und nicht überraschend wird auch die Liebe anders problematisiert. Situiert auf das Jahr 1968, ein Jahr nach dem Erscheinen von CAS und zeitgleich zur Debatte zwischen Vargas Llosa und García Márquez über die Einsamkeit, lässt Bolaño seine Erzählerin Auxilio Lacourte die Motive der Einsamkeit und Liebe in einer denkbar anderen Situation zitieren als jene vermutlich bequemere der boom-Autoren, die mit der von Auxilio Lacourte nur die Tatsache gemein hat, dass beide Ereignisse sich an Universitäten ereignen. In der UNAM sitzend räsoniert Auxilio Lacourte: El amor nunca trae nada bueno. El amor siempre trae algo mejor. Pero lo mejor a veces es lo peor si eres mujer, si vives en este continente que en mala hora encontraron los españoles, que en mala hora poblaron esos asiáticos despistados. Eso pensaba yo encerrada en el lavabo de mujeres de la cuarta planta de la Facultad de Filosofía y Letras en septiembre de 1968. Pensaba en los asiáticos que cruzaron el Estrecho de Behring, pensaba en la soledad de América, pensaba en lo curioso que es emigrar hacia el este y no hacia el oeste. Porque yo soy tonta y no sé nada de este tema, pero nadie me va a negar en esta hora convulsa que emigrar hacia el este es como emigrar hacia la noche más negra. Eso pensaba. Sentada en el suelo, con la espalda apoyada en la pared y la vista perdida en las manchas del techo. Hacia el este. Hacia el lugar de donde viene la noche. Pero luego pensé: también ése es el lugar de donde viene el sol. Depende de la hora en que los peregrinos iniciaran la marcha.⁵⁰

47 Sandra Cisneros: Woman Hollering Creek and Other Stories. New York: Vintage Contemporaries 1991, S 68. 48 Sandra Cisneros: Interview From the September/October 2002 issue of Book magazine. In: «http://terpconnect.umd.edu/~cwbarks/caramelo.html». 49 Roberto Bolaño: Amuleto, S. 9. 50 Roberto Bolaño: Amuleto, S. 51.

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Während also García Márquez und Vargas Llosa über die neuen und revolutionären Utopien der Literatur diskutieren, darüber räsonieren, wie Literatur aus der wahlweise universal-anthropospezifischen (García Márquez) bzw. spezifisch lateinamerikanischen (Vargas Llosa) Einsamkeit führen kann, kündigt sich hier schon die Vergeblichkeit dieses Versprechens an. Das Motiv der Pilgerfahrt, das schon in CAS aufgerufen war als die Buendiasche Reise in ein Land, das dieser Sippe niemand versprochen hatte, wird in seiner Tragik noch verschärft. Die Reise ins Nichts, in die dunkelste aller Nächte, ist nicht nur Gestus einer durch die Neue Welt ironisierten Genesis. Diese Reise steht für Auxilio Lacourte, die schon in Los detectives salvajes (1998) ihre Geschichte zum Besten gab, am Anfang aller Reisen, sie ist einsam in einem ganz anderen Sinne. Statt den notwendigen Schritt zu inaugurieren, durch den dann am Ende in der Bewegung der Liebe der Mythos des Ereignisses zur Geschichte werden kann, meint Einsamkeit hier einsame Zeugenschaft und einsame Lektüre: Yo soy la única que aguantó en la Universidad en 1968, cuando los granaderos y el Ejército entraron. Yo me quedé sola en la Facultad, encerrada en un baño, sin comer durante más de diez días, durante más de quince días, del 18 de septiembre al 30 de septiembre, ya no lo recuerdo. Yo me quedé con un libro de Pedro Garfias y mi bolso, vestida con una blusita blanca y una falda plisada celeste y tuve tiempo de sobras para pensar y pensar.⁵¹

Leben und Literatur gehen auch hier ein enges, wenn auch durchaus gespanntes Verhältnis ein. Literatur ist ein Anderes des Lebens, das ebenso lebenserrettend sein kann wie es auch eine bestimmte Form von Leben zersetzt und auflöst. Die Funktion des Überlebens, die auch ein Überleben von Geschichte bedeutet, hat für Auxilio die Literatur genau dann, da sie eingeschlossen in der Damentoilette der UNAM nichts weiter als ihr Gegenüber weiß als den Gedichtband eines spanischen und während des Spanischen Bürgerkriegs nach Mexiko emigrierten Poeten. Bei diesem hatte sie bis zu dessen Tod, der auf das vorige Jahr (1967) und so mit dem Erscheinungsjahr von CAS zusammenfällt, als eine Art Hausangestellte gearbeitet. Diese Szenerie mag paradigmatisch sein, für das, was in Bolaños Werken die Einsamkeit der Literatur auszeichnet. In der Einsamkeit ihrer Lektüre gelangt Auxilio nicht zu einem besseren Verständnis von Wirklichkeit und auch nicht zu einer Ahnung, was der Raum des Eigenen sein könnte. Stattdessen hinterlässt die Literatur diesen verdichteten Monolog der Einsamkeit. Statt also ein Schlüssel zu sein, fungiert hier Literatur als jener Zugang zur Sprache, der es

51 Ebd., S. 114.

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erlaubt ihr Spuren einer anderen Geschichte einzutragen. Anders als bei Cisneros ist diese Eintragung der Spuren keine, die für ein sich bestimmendes Subjekt steht oder eine andere, neue Positivität produziert; es sind vielmehr Spuren eines nunmehr negativen Widerstands, Spuren in einer Sprache, die weder eine eigene noch angeeignete ist: Yo me dije: Auxilio Lacouture, resiste, si sales te meten presa (y probablemente te deportan a Montevideo, porque como es lógico no tienes los papeles en regla, boba), te escupen, te apalean. Yo me dispuse a resistir. A resistir el hambre y la soledad. Yo dormí las primeras horas sentada en el water, el mismo que había ocupado cuando todo empezó y que en mi desvalimiento creía que me daba suerte, pero dormir sentada en un trono es incomodísimo y terminé acurrucada sobre las baldosas. Yo tuve sueños, no pesadillas, sueños musicales, sueños de preguntas transparentes, sueños de aviones esbeltos y seguros que cruzaban Latinoamérica de punta a punta por un brillante y frío cielo azul. Yo desperté aterida y con un hambre de los mil demonios.⁵²

Der Einsamkeit zu widerstehen und auch dem Hunger – in dieser Kopplung schlägt durch, dass sich der Widerstand gegen die Einsamkeit selbst richtet, gegen eine bestimmte Einsamkeit, und sicherlich gegen jene Einsamkeit, die schon Octavio Paz auf einen Thron gesetzt hatte und die im boom eine Renaissance erfuhr. Die Revision der Sprache der boom-Rhetorik durch das implizite Zitat deutet sich klar an: Transparente ist eine Vokabel, die eine lange Geschichte (mexikanischer) Selbstdarstellung zitiert, die von Florencio María del Castillo (1864), Alfonso Reyes (1917) bis hin zu Carlos Fuentes (1958) einen zunehmenden Verfall der Schönheit beschreibt. Im Monolog von Auxilio ist die schon bei Fuentes vollzogene Umdeutung ins zumindest nicht uneingeschränkt Schöne dieser Stadt – «ciudad perro, ciudad famélica, suntuosa villa, ciudad lepra y cólera, hundida ciudad»⁵³ – noch weitergehend zersetzt: Luego leí a Pedro Garfias. Luego me quedé dormida. Luego me puse a mirar por el ojo de buey y vi nubes muy altas y pensé en los cuadros del Dr. Atl y en la región más transparente. Luego me puse a pensar en cosas lindas. […] Luego me desperté. Pensé: yo soy el recuerdo.⁵⁴

Die entscheidende Verschiebung sollte hier nicht überlesen werden. «Yo» – das meint im Falle von Auxilio Lacourte eine aus Montevideo stammende Frau, die ziemlich genau das Gegenteil von Fuentes’ Ixca Cienfuegos ist. Kein Mexico pro-

52 Ebd., S. 144–145. 53 Carlos Fuentes: La región más transparente. México D.F.: Fondo de Cultura Económica 1958, S. 9. 54 Roberto Bolaño: Amuleto, S. 145.

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fundo also, sondern eine subkontinentale Perspektive, in der aber Geschichte nicht einen neuen «lateinamerikanischen Nationalismus»⁵⁵ bedeutet, sondern Einsamkeit in die idealerweise literarische Lebensform des Exils rückt. Auch wenn sich Auxilio als unreliable narrator erweisen sollte – in diesem Sinne hat Manzoni diesen langen Monolog gelesen⁵⁶ –, die strukturelle Logik, die sie den zuvor sich so schlüssig ergänzenden Metaphern unterzieht, hat eine klare Richtung. Von einer anthropospezifischen Einsamkeit wird Einsamkeit zum Effekt einer mikrohistorischen Brechung, statt von einer Liebe, die als Modell für eine echte Vereinigung dient, wird Liebe zu einer Erfahrung, die zwar als Erzählung nicht aufgegeben, aber nicht in ihrer triumphalen Geste gezeigt wird: La mayoría fueron amores de una sola noche, jóvenes borrachos a quienes arrastré hacia una cama o hacia el sillón de una habitación apartada mientras en la habitación vecina resonaba una música bárbara que ahora prefiero no evocar. Otros, los menos, fueron amores desgraciados que se prolongaron más allá de una noche y más allá de un fin de semana, y en los que mi papel fue más el de una psicoterapeuta que el de una amante. Por lo demás, no me quejo.⁵⁷

Dieses Verhältnis ist auch ein literarisch begründetes. Auxilio Lacourte, die sich selbst als die Mutter der jungen Poeten Mexikos bezeichnet, lebt ein Leben, in der Literatur nicht in dem Sinne eine Erkenntnis bereithält wie es noch für García Márquez denkbar war, eine Entfernung, um sich dann wieder dem Eigenen zuzuwenden. Literatur und speziell die Poesie erweisen sich als eine Erfahrung des Lebens, die in eine teilweise nicht erträgliche Spannung mit dem Leben des Alltags eingehen können. Die Einsamkeit der Literatur, die schon mit der dunkelsten aller Nächte angedeutet war, ist konsequenterweise die genaue Gegenmetapher zur unbeweglichen, nur sekundenlang möglichen Transparenz des Alltags, ist also gerade nicht eine Wirklichkeit, die mit jemandem leben kann: Después volví al mundo. Basta de aventuras, me dije con un hilillo de voz. Aventuras, aventuras. Yo he vivido las aventuras de la poesía, que siempre son aventuras a vida o muerte, pero luego he regresado, he vuelto a las calles de México y la cotidianidad me ha parecido buena, para qué pedir más. Para qué engañarme más. La cotidianidad es una

55 Jorge Volpi: El insomnio de Bolivar, S. 167, meine Übersetzung. 56 Vgl. hierzu: Celina Manzoni (Hg.): Roberto Bolaño: la escritura como tauromaquia. Buenos Aires: Ed. Corregidor 2002. 57 Roberto Bolaño: Amuleto, S. 43.

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transparencia inmóvil que dura sólo unos segundos. Así que yo volví y la miré y me dejé envolver por ella.⁵⁸

Doch auch diese Einsamkeit ist nicht ohne Selbsterkenntnis: […] los jóvenes machitos que llegaban con sus folios doblados y sus libros sobados y sus cuadernos sucios y se sentaban en las cafeterías que nunca cierran o en los bares más deprimentes del mundo en donde yo era la única mujer, yo y a veces el fantasma de Lilian Serpas (pero de Lilian hablaré más adelante), y me los daban a leer, sus poemas, sus versos, sus ahogadas traducciones, y yo tomaba esos folios y los leía en silencio, de espaldas a la mesa en donde todos brindaban y trataban angustiosamente de ser ingeniosos o irónicos o cínicos, pobres ángeles míos, y me sumergía en esas palabras (me gustaría decir flujo verbal, pero faltaría a la verdad, allí no había flujo verbal sino balbuceos) hasta la médula, me quedaba por un instante sola con esas palabras entorpecidas por el brillo y la tristeza de la juventud, me quedaba por un instante sola con esos trozos de espejo trizados, y me miraba o mejor dicho me buscaba en el azogue de esa baratura, ¡y me encontraba!, allí estaba yo, Auxilio Lacouture, o fragmentos de Auxilio Lacouture, los ojos azules, el pelo rubio y canoso con un corte a lo Príncipe Valiente, la cara alargada y flaca, las arrugas en la frente, y mi mismidad me estremecía, me sumergía en un mar de dudas, me hacía sospechar del porvenir, de los días que se avecinaban con una velocidad de crucero, aunque por otra parte me confirmaba que vivía con mi tiempo, con el tiempo que yo había escogido y con el tiempo que me circundaba, tembloroso, cambiante, pletórico, feliz.⁵⁹

Diese Form der Selbsterkenntnis qua einsamer Lektüre ist eine denkbare andere als die des Aureliano Babilonia oder die in einer angeeigneten Einsamkeit erfolgte Selbstfindung einer Esperanza oder Lala. Und doch – Auxilio Lacourte erkennt in dieser Einsamkeit der Toilette, der Lektüre und der schlechten Poesie, in Teilen zerbrochener Spiegel eine Allegorie, die gerade jene andere, allgemeine Einsamkeit ihrer mythologischen Gewalt überführt. Einsamkeit ist für Bolaño nur in dem Sinne eine subkontinental tragbare Allegorie, wenn sie auf die Erfahrung einer verlorenen Generation bezogen wird, und auf eine bestimmte Geschichte. Einsamkeit meint nicht nur das Scheitern der Symbolisierung bzw. der Widerstand gegen diese, sondern letztlich auch ein Scheitern der Versprachlichung. So ist auch die Erkenntnis der Literatur in dem Sinne eine einsame, da sie sich nicht weiter vermitteln lässt und – wie in der kriminologischen Ermittlung – verspätet und entrückt eintritt. Auxilio ist insofern Detektivin, als sie erkennt, da alles schon zu spät ist. Dieses Scheitern zu inszenieren, wird paradoxerweise zum literarischen Ereignis schlechthin:

58 Ebd., S. 90. 59 Ebd., S. 26–27.

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Y los oí cantar, los oigo cantar todavía, ahora que ya no estoy en el valle, muy bajito, apenas un murmullo casi inaudible, a los niños más lindos de Latinoamérica, a los niños mal alimentados y a los bien alimentados, a los que lo tuvieron todo y a los que no tuvieron nada, qué canto más bonito es el que sale de sus labios, qué bonitos eran ellos, qué belleza, aunque estuvieran marchando hombro con hombro hacia la muerte, los oí cantar y me volví loca, los oí cantar y nada pude hacer para que se detuvieran, yo estaba demasiado lejos y no tenía fuerzas para bajar al valle, para ponerme en medio de aquel prado y decirles que se detuvieran, que marchaban hacia una muerte cierta. Lo único que pude hacer fue ponerme de pie, temblorosa, y escuchar hasta el último suspiro su canto, escuchar siempre su canto, porque aunque a ellos se los tragó el abismo el canto siguió en el aire del valle, en la neblina del valle que al atardecer subía hacia los faldeos y hacia los riscos.⁶⁰

6.4 Macondo und Genealogie Die Metapher Macondo als die Metapher einer Örtlichkeit operiert auf mehreren Ebenen. Dabei haben nicht nur die im Roman figurierten Bewegungen das Thema zu sein, sondern ebenso die Bewegungen, die sich im Akt der Erzählung selbst anzeigen. Dieses Doppel wird in den Romanen von Cisneros und Bolaño – nicht zuletzt aufgrund anderer und anders figurierter Bewegungsfiguren – ebenfalls anzutreffen sein, wenn auch anders ausgelegt. Darüber hinaus wird in diesem Raumbezug, dem Orte immer schon konstruierte, benannte, angeeignete, gegründete, jedenfalls nie immer schon dagewesene Referenzen sind, eine tiefenhistorische Dimension des heutzutage allzu leicht (aber der Sache nach zu Recht) verwendeten Terminus von globalisierter Literatur offenkundig. Globalisierung, aus einer transarealen Logik heraus gedacht, ist nicht einfach mit einem Jenseits von Lokalität gleichzusetzen. Vielmehr gilt es, grundlegende und auch für andere Texte relevante Figuren der Überschreitung und Übersetzung herauszuarbeiten, durch welche der Ort – so ließe sich im Sinne von de Certeau sagen – verräumlicht bzw. das Lokale in eine Konfiguration gebracht wird, innerhalb welcher sich Globalisierung als eine Spannung anzeigt.⁶¹ Innerhalb der Lateinamerikanistik lässt sich diese zum Universalismus und Regionalismus quer liegende Wahrnehmung des Raumes in einem durchaus literaturhistorischen Sinne festmachen: Kommt nämlich (spätestens und speziell für das 20. Jahrhundert) mit Borges die lokal-allegorische Funktion von narrativer Literatur im Sinne einer unmittelbaren und lokalen Figurierung an ihr offen-

60 Ebd., S. 153. Dieser Schlussmonolog – das kann ich hier nur andeuten – ist eine fast Wort für Wort zu nehmende und höchst ironische Réécriture von Elena Poniatowskas Einleitung zu La noche de Tlatelolco. 61 Vgl.: Michel de Certau: Die Kunst des Handelns.

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bares Ende, dann markiert dies eine nicht mehr zu unterschreitende Referenz für all jene AutorInnen, die wie die hier besprochenen sich auf die eine oder andere Weise auf Borges beziehen. Wie sich noch zeigen wird, impliziert die Chiffre des Un-Wirklichen bei Borges deshalb eine transallegorische Qualität, da die Fiktion von einer Immanenz und einem Eigensinn ist, die nicht restlos auf eine Wirklichkeit oder eine Kultur bezogen vermittelt werden kann, sondern vielmehr den Eigensinn der Überschreitung selbst ausstellt (und eben nicht einer ‘genuin’ literarischen Gegenwelt). Auf die in Romanen figurierten Orte Macondo, Chicago oder auch Blanes bezogen meint dies, dass diese Orte in ihrer literarischen Figurierung bereits überschrittene und zu überschreitende Orte sind (sofern sie angeschriebene Orte sind), nicht aber Orte des Sprechens. Diese Spannung zeigt sich ebenfalls und vielleicht in erster Linie daran, dass es ebenso um Orte geht, die durchzogen sind von einem Begehren, seiner Geschichte und seiner Unmöglichkeit: «Macondo es un estado de ánimo»⁶², «[…] a country I am homsick for [and that] I invented»⁶³ und auch ein Blanes, das sowohl der Autor Roberto Bolaño als auch das literarische Alter Ego Arturo Belano für «mi casa»⁶⁴ in Anspruch nehmen bzw. ein «Ciudad Juárez, que es nuestra maldición y nuestro espejo, el espejo desasosegado de nuestras frustraciones y de nuestra infame interpretación de la libertad y de nuestros deseos»⁶⁵ – all diese Beschreibungen geben einen ersten Eindruck davon, in welchem Sinne die Überschreitung im Bezug auf den Ort zu denken sein kann und inwiefern diese Orte immer auch auf den Moment und das Ereignis ihrer Darstellung und Verschriftlichung verweisen. Damit ist eine Fragedimension angedeutet, die sich als das durchaus gespannte und in der Literaturtheorie und Narratologie bisher wenig ausgearbeitete Verhältnis von Erzählort und erzähltem Ort formalisieren lässt. Diesen Aspekt hatte ich ja bereits im Kapitel zu CAS am Begriff der Topologie präzisiert. Topologie als eine raumtheoretische Reflexion, die nicht die Ordnung im Sinne einer Anordnung meint, sondern relationale Größen wie das Innen und Außen (und das meint hier: die prekäre Organisation eines Innen und Außen, das sowohl auf der Ebene des Textes selbst wie auf der Ebene der figurierten Orte bzw. der Diegese immer wieder auszutarieren ist). Die Bedeutung dieses Verhältnisses als eine ebenso auf formaler wie auch auf Ebene der histoire wirksame Relationie-

62 Gabriel García Márquez: La realidad escondida, S. 1. 63 Sandra Cisneros: Caramelo, S. 434. 64 Roberto Bolaño: Estrella distante, S. 6. 65 Roberto Bolaño: Final: Entrevista de Mónica Maristain. In: Ders.: Entre Paréntesis. Barcelona: Anagrama 2004, S. 339.

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rung hatte ich insbesondere am Beispiel des auktorialen Erzählers in CAS diskutiert. In diesem Roman wird das Verhältnis des erzählten Ortes Macondo sowohl binnendiegetisch zu seinem Erzählort – der Kammer des Melquíades – figuriert wie auch im Sinne seiner Überschreitung durch den Erzählort, indem Macondo zu einem woanders zu lesenden materialen Text wird. Doch nicht nur auf einer gleichermaßen roman- wie kulturtheoretischen Ebene (eine nicht schwer zu belegende und dieser Arbeit ja vorangeschickte These lautete, dass Romantheorie immer schon in Kulturtheorie umschlägt) eignet sich diese Reflexion über einen literarisch figurierten Ort für eine literaturwissenschaftliche Arbeit. Ebenso finden sich strukturelle und motivgeschichtliche Aspekte, die selbst als verschiedene Formen des Zitats und der Übersetzung verstanden werden können und die sich an jener Geschichte zeigen, die der Name Macondo zeichnet. Dazu gehört zweifelsohne, dass Macondo in mehr als einem Sinne die wohl entscheidende und schlechthin hemisphärisch oder zumindest subkontinental konzipierte Metapher des booms darstellt. Das entbehrt insofern nicht einer gewissen Ironie, als ja das, was laut García Márquez eine zweite Chance erhalten sollte, die Sippe der Buendía ist. Überlebt jedoch hat Macondo. Wenn Macondo als Allegorie eines kulturellen Raumes taugen konnte, dann – zunächst einmal – weil es wie ein Raum eines Amerikas in nuce funkioniert. Von seinem Autor selbst als ein Ort verstanden, der kulturell einem karibischen Raum zugehört und der den Norden Kolumbiens bis hin zu den Südstaaten der USA quert, erlaubt er nicht nur eine Verdichtung und Überlagerung verschiedener Migrations- und Gründungsgeschichten, sondern – ebenso auf literaturhistorischer Ebene – die Integration eines Autoren wie Faulkner in einen Diskurs der karibischen Amerikas. Diesen Diskurs, den García Márquez einige Jahre später mit seiner Hommage an Simón Bolívar, teilweise unter anti-US-amerikanischem Vorzeichen, erneuert, findet, wie ich meine, in der Nobelpreisrede La soledad de América seine deutlichste Explikation. Wie bereits ausgeführt, ist hier aus lateinamerikanistischer Perspektive besonders die Tatsache zu betonen, dass dieser Diskurs – anders als der US-amerikanische Diskurs der Amerikas – durch den expliziten Bezug auf die iberische Kolonialgeschichte die Amerikas als eine von der ersten Phase beschleunigter Globalisierung ausgehende Überlagerung von verschiedenen Globalisierungsphasen und -bewegungen entwirft. Macondo hat selbst noch in der verballhornten Fassung eines «Macondismo» (Brunner) die ebenso öffnende wie belastende Frage nach der lateinamerikanischen Literatur ermöglicht und drängend gemacht und steht somit wie kaum eine andere Metapher für ein transnationales Literaturverständnis der Lateinamerikanistik, da Macondo als Differenzbegriff immer schon doppelt relational funktioniert. Was den Effekt, sich in Macondo wiederzuerkennen betrifft, etwas, was laut Fuentes ja für jede lateinamerikanische Kultur gegeben scheint, be-

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schreibt er eine interne Relationierung.⁶⁶ In Bezug auf die Praxis der abweichenden Wiederholung leistet er insofern eine externe Relationierung, als diese Wiederholung sich in den von García Márquez als universal gedachten Diskurs der Literatur einschreibt. Der bestenfalls belastende, in der Regel aber entstellende Effekt einer solchen Lateinamerika-Allegorie ist Ausgangspunkt der Kritik, die Roberto Bolaño an dem festmacht, was in Macondo zur folkloristischen Allegorie geronnen ist. Für ihn fungiert dieser Raum zweifelsohne als Repräsentant (nicht unbedingt als Ausdruck) einer unmöglich gewordenen Darstellungsweise und einer inakzeptabel lokalisierenden allegorischen Lektüre, in welcher der Bezug außerhalb des eigenen Dorfes – Ideal der Ethnologen – nicht mehr gedacht wird. In seiner rhetorischen und stilistischen Zurückweisung des booms – «Aunque me estuviera muriendo de hambre no aceptaría ni la más mínima limosna del boom»⁶⁷ – verrät sich, wie sehr dieses Dorf zu einer Formel abgesunken ist, die nur eine para-mythische Lokalallegorie zulässt. Valeria de los Ríos hat dies zum Anlass genommen, von verschiedenen kognitiven Karten zu sprechen, innerhalb welcher Lateinamerika lesbar wird: El mapa cognitivo de Bolaño no es el Macondo de García Márquez, territorio exótico, utópico y de límites claramente establecidos, sino la aldea global marcada por viajes y un contraste permanente con lo local.⁶⁸

Es überrascht deshalb wenig, dass Alberto Fuguet, der fast der gleichen Generation wie Bolaño angehörende Landsmann des Chilenen, 1996 den Terminus McOndo entwickelt, um mithilfe der so titulierten Anthologie, die auch eine Erzählung des mit Bolaño eng befreundet gewesenen Fresán enthält, sich von einem folkloristisch gewordenen Begriff des Magisch-Realistischen abzugrenzen. Ja mehr noch: Die Wirkungsmacht Macondos zeigt sich gerade darin, dass – so darf wohl mit gutem Grund angenommen werden – weniger die mehr oder minder überzeugende Darstellung eines anderen Lateinamerikas für den schier unaufhaltsamen Erfolg dieses mittlerweile kanonisch gewordenen Begriffs verantwortlich ist, sondern eben sein geradezu anagrammatischer Bezug

66 Carlos Fuentes: La nueva novela hispanoamericana, S. 59. 67 Roberto Bolaño: Diccionario Bolaño. In: Herralde, Jorge: (2005): Para Roberto Bolaño. Colombia: Villegas Editores 2005, S. 85. 68 Valeria de los Ríos: Mapas y fotografías en la obra de Roberto Bolaño. In: Paz Soldán, Edmundo/Faverón Patriau, Gustavo (Hg.): Bolaño salvaje. Barcelona : Ed. Candaya 2008, S. 240.

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zu der lateinamerikanischen Amerika-Metapher schlechthin.⁶⁹ In Fuguets Entwurf – und das wird selten betont – erfährt das Macondo-Motiv aber nicht nur eine kritische Revision, sondern auch eine Fortentwicklung, da durch den Bezug auf eine im gesamten amerikanischen Raum auszumachende urbanisierte und massenmedialisierte Lebenswelt eine hemisphärische, mehr oder minder intern relationierende Perspektive beibehalten wird, die aber unter dem Namen Macondo nicht mehr lesbar ist. Dem entspricht die Tatsache, dass die Untauglichkeit dieser Metapher ja in einer Situation deutlich wurde, da sich das Lateinamerikanische (was auch immer es ist) aus einer externen Situation relationiert wurde. Einsichtig wurde dieses Lateinamerika-Bild für Fuguet in dem International Writer’s Workshop der Universität Iowa. Biographisch und auch literaturästhetisch näher am Werk Bolaños steht die mexikanische Gruppe des Crack. Wie sehr ihre Programmatik über einen Macondismo hinausgeht, lässt sich besonders klar an einem von Padilla geprägten literaturtheoretischen Ausdruck nachvollziehen, der im Manifiesto Crack die neuen, entlateinamerikanisierten Diegesen dieser Autoren beschreiben soll: Der «cronotopo cero»⁷⁰ soll unterstreichen, dass diese Werke einer neuen «nueva novela latinoamericana» nicht in Bezug auf eine bestimmte Lokalität hin zu lesen sind und sich auch nicht auf ein wie auch immer zu deutendes Lateinamerika beziehen müssen. Mit anderen Worten: Paradigma dieser Bewegung ist eine transallegorische Qualität, in der die Weltenvielfalt von Lebens- und Textwelt in

69 Vor diesem Hintergrund ist es auch zu verstehen, dass der Titel Von Macondo zu McOndo ein geradezu kanonischer Titel geworden ist und der in einem Großteil all jener Arbeiten zu finden ist, die den Wandel der jüngsten lateinamerikanischen Literatur zum Thema haben. In der deutschsprachigen Lateinamerikanistik benutzen diese ‘Metapher’ beispielsweise Michael Rössner, Anja Bandau und auch Gesine Müller. In der US-amerikanischen ist die Menge der Titel kaum überschaubar. Nicht unerwähnt darf in diesem Zusammenhang die wohl erste und von Diana Palaversich vorgelegte Monographie bleiben, die diese Formel im Titel trägt und die mit dem Untertitel Senderos de la postmodernidad latinoamiercana die Programmatik oder genauer: das diskursive Dispositiv dieser Metaphernverdichtung deutlich ausspricht. Vgl. hierzu: Michael Rössner: Latin Literatures’ ‚New Look‘ im ‚alten‘ Europa: zur Rezeption der neuesten lateinamerikanischen Literatur vor dem Hintergrund der alten Stereotypen aus der Boom-Zeit. In: SchmidtWelle, Friedrich/Römer, Diana von (Hg.): Lateinamerikanische Literatur im deutschsprachigen Raum. Frankfurt: Vervuert 2007, S. 113–131; Anja Bandau: Von Macondo zu McOndo. Literarische Reflexionen der Amerikas im 20. Jahrhundert. In: Rinke, Stefan; Lehmkuhl, Ursula (Hg.). Amerika, Amerikas. Beck: München 2008, S. 158–174; Gesine Müller: Die Boom-Autoren heute: García Márquez, Fuentes, Vargas Llosa, Donoso und ihr Abschied von den großen identitätsstiftenden Entwürfen. Frankfurt: Vervuert 2004; Diana Palaversich: De Macondo a McOndo: senderos de la postmodernidad latinoamericana. Barcelona: Plaza y Valdés 2005. 70 Ignacio Padilla: manifiesto crack. III. SEPTENARIO DE BOLSILLO. In: «http://www. circulolateral.com/revista/tema/070manifiestocrackIII.html» (Letzter Zugriff: 13.05.2013)

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ihrer Spannung beibehalten wird, wobei Padilla die Figur der Weltenvielfalt als die einer Welt jenseits der Welt umschreibt und gerade in ihr die Möglichkeit einer Art ultimativen Überschreitung hin zum Null-Chronotopos erblickt. An dieser Stelle sei nur angedeutet, dass Roberto Bolaño dieses paradoxe Doppel von aller und keiner Zeit-Raum-Relationen sowohl literaturästhetisch reflektiert als auch zum formalen Prinzip seines wohl bekanntesten Romans Los detectives salvajes macht. Padilla verschärft das Problem einer Welt als das einer Welt jenseits der Welt: Este mundo más allá del mundo no aspira a profetizar ni a simbolizar nada. Acaso hay a veces trampas para un efecto de extrañeza en homenaje a Brecht y a Kafka, algo para lo grotesco, algo para la paráfrasis caricaturesca; en realidad, lo que buscan las novelas del Crack es lograr historias cuyo cronotopo, en términos bajtinianos, sea cero: el no lugar y el no tiempo, todos los tiempos y lugares y ninguno.⁷¹

Gut zehn Jahr später relativiert Padilla die Rhetorik der Konfrontation. Sich auf McOndo beziehend wiederholt er mehr oder minder bewusst eine im 20. Jahrhundert klassisch gewordene (aber nicht auf dieses zu reduzierende) Debatte um das Spezifikum der lateinamerikanischen Literatur. Diese Debatte, die auch Borges in seinen Essays El tamaño de mi esperanza (1926) und etwas später in El escritor argentino y la tradición (1932) für das 20. Jahrhundert auf die Agenda setzte, sollte nicht zuletzt vom Magischen Realismus überwunden werden. Gemeint ist nicht nur die von García Márquez 1967 fast im Wortlaut verwendete Formel von «nuevas maneras de abordar la realidad»⁷², sondern die immerzu das Aporetische streifenden Oppositionen von Regionalität und Universalität, von ästhetisch-persönlicher Freiheit und ‘lateinamerikanischer Erfahrung’, von zwei Polen also, die in ihrem Zusammenspiel eine «visión del mundo» produzieren: Cuando Alberto Fuguet planteó en el prólogo a McOndo su desapego, o mejor, su despegue del universo marqueciano, no lo hizo porque éste careciera de valor, menos aun porque los autores antologados lo creyeran así, sino porque otros menos diestros que el escritor colombiano habían comenzado a caricaturizarlo creando por ello esperpentos no sólo de la literatura, sino del continente latinoamericano. Todo autor tiene derecho a inventarse o elegirse las realidades que le vengan en gana, pero los autores que formaban parte de la antología de McOndo querían evidentemente proponer nueva maneras de abordar la realidad, maneras más acordes con su visión personal de la literatura o con su experiencia de América Latina de hoy, con su visión del mundo. De manera similar, el manifiesto

71 Ebd. 72 Ignacio Padilla: McOndo y el Crack: dos experiencias grupales. In: Cabrera Infante, Guillermo. et al (Hg.) Palabra América. Barcelona: Seix Barral y Fundación José Manuel Lara, S. 45.

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del Crack insistió en su libertad para volver no sólo a los grandes maestros latinoamericanos, sino a los clásicos que los habían alimentado, a eso que hace que la literatura sea en verdad universal, no así monopolio de países, subcontinentes o colonias.⁷³

An dieser Stelle deutet sich bereits an, wie sehr eine romantheoretische Reflexion als eine stets in Visionen erfolgende Reflexion die Frage und auch das Problem der Lokalität präziser fassen könnte. Diese würde es erlauben, das NichtLokale nicht einfach als ein Jenseits zu denken, sondern eben jene querende Bewegung mit der Lokalität zusammenzudenken, die selbst durchaus unterschiedlich konnotiert sein kann und das meint eben nicht nur als Ausgangspunkt oder grundlegende Schicht wie es im folgenden Zitat über das McOndoProjekt noch angelegt ist: […] si por una parte se esgrimía el derecho del escritor a sentirse parte de la humanidad y deslindarse de los localismos, no por ello se dejaba de hablar desde un sentido profundamente latinoamericano ni se renunciaba a escribir sobre América Latina.⁷⁴

Eine solche Perspektive könnte auch vor der Verlegenheit bewahren, am Ende doch von einem ‘tiefen Lateinamerika’ zu sprechen bzw. das Lateinamerikanische auf den schon für den magisch-realistischen Diskurs sehr bezeichnenden Gestus des Sprechens-Über zu reduzieren. Mit anderen Worten: Der logische Katalog des Relationalen ist nicht auf eine Richtung der Relation festzulegen. Hier zeigt sich, inwiefern sich eine transareale Literaturtheorie von der Logik einer kulturtheoretisch geradezu klassischen Opposition unterscheidet, die in den Registern des Eigen- und des Fremdbildes operiert. Nicht unbedingt komplementär zu dieser von Innen nach Außen weisenden Bewegung, wohl aber aus einer anderen Richtung gedacht, stellt sich somit der Fall dar, wenn der lateinamerikani(sti)sche Bezug, bis zu einem gewissen Grad zumindest, sich zwar ebenfalls der Rhetorik des Eigenen bedient, aber eben nicht mehr in einem lokalen Sinne. Dies ist genau dann der Fall, wenn weder die Sprache noch die Biographie mit der Lokalität Lateinamerika zusammenfallen oder genauer: immer schon, im sprichwörtlichen wie landläufigen Sinne, eine Übersetzung impliziert. Anders gesagt: Eine transareale Geschichte des lateinamerikani(sti)schen Romans hat auch jene Literaturen zu berücksichtigen, die nicht nur eine Öffnung zu einem Jenseits von Lateinamerika gleichkommen und für die der vor allem von Barcelona aus sich globalisierende boom stehen mag, sondern auch eine Hinwendung zur lateinamerikanischen Literatur aus einem Kontext, der

73 Ebd., S. 46. 74 Ebd.

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 Soledad, Macondo, Genealogía

nicht oder nicht ohne weiteres ein lateinamerikanischer ist und dessen von Außen kommende Bewegung gleichzeitig – und das ist entscheidend – mit dem Dispositiv des fremden Blicks nicht angemessen verstanden ist. Vor diesem Hintergrund ist klar, dass bei der Verwendung des Namens Macondo durch Sandra Cisneros mehr impliziert ist als ein einfaches Zitat eines beliebigen literarischen Ortes. Macondo ist für Cisneros vor allem der Name eines in einem ganz literalen Sinne literarischen Ortes: es ist der Name ihres Writer’s Workshop The Macondo Workshop. Die Selbstdarstellung des Workshops ist hierbei nicht ohne Interesse. Nicht das Projekt einer kritischen Revision ist hier Ausgangspunkt, sondern eine Zitatationspraxis, vor deren Hintergrund Macondo anders und neu lesbar wird und zwar gerade weil diesem Zitat keine Hermeneutik des Begriffs zugrundeliegt. Wie schon zuvor die Einsamkeit, so wird auch Macondo zu einer metaliterarischen Metapher und genauer: Macondo, verstanden als ein «sleepy town»⁷⁵, wird zu einer Metapher für den zurückgezogenen Ort der Literatur, an dem ein «non-violent social exchange»⁷⁶ möglich sein soll. Man mag dies zu Recht als eine krasse Fehldeutung der macondinischen Geschichte nehmen, die ja weder «sleepy» noch «non-violent» ist, sondern im Gegenteil explizit von Schlaflosigkeit und maßloser Gewalt heimgesucht wird. Wenn man jedoch nicht das figurierte Macondo zum Bezugspunkt nimmt, sondern stattdessen Macondo als den Namen einer Schreibpraxis begreift – und darum geht es ja –, dann lässt sich diese Charakterisierung auf nicht unwesentliche Weise mit dem Roman in Einklang bringen. Denn die Schreibpraxis des binnendiegetischen Autors Melquíades, der zurückgezogen in seiner Kammer jene dem Roman zugrunde liegenden magischen Manuskripte verfasst, steht zweifelsohne dafür, wie das Schreiben einer besonderen Form des Rückzugs, einer bestimmten Distanznahme und auch eines mehr oder minder gewaltfreien Austausches bedarf. Dass dieser nicht immer gewaltfrei verläuft – die Manuskripte nehmen die Qualität einer mythisch-magischen Prophezeiung an, die sowohl das Ende Macondos als auch den Tod ihres Entzifferers bestimmen –, ist nur auf dem ersten Blick eine verwirrende Differenz. Wie ich ja soeben aufgezeigt habe, erweist sich im Gegensatz zum mythischen und technischen Diskurs gerade der literarische als eine Alternative, die das richtige Maß an Distanz und Nähe erlaubt, der die Gewalt der übermäßigen Nähe und auch die durch eine übermäßige Distanz bedingte zu umgehen erlaubt. Eine Voraussetzung für den literarischen Diskurs – so inszeniert es die Metalepse im Roman des Kolumbianers – ist jedoch eine Bewe-

75 «http://www.sandracisneros.com/macondo.php», o.A. (Letzter Zugriff 14.03.2012). 76 Ebd.

Macondo und Genealogie 

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gung, die sich passgenau zu Cisneros’ eigener Migrationsgeschichte verhält. Denn um das Manuskript nicht mehr als Manuskript, sondern als literarischen Text lesen zu können, darf man eben nicht mehr in Macondo sein und gerade nicht als Macondiner lesen. Man sieht leicht, wie sich in dieser Bewegung durchaus ein gültiger und für die Chicana-Autorin Cisneros wesentlicher Bezug zu Macondo herstellen lässt und wie diese Form des qua Literatur ermöglichten Austausches nicht zuletzt jener von García Márquez so beschworenen «nueva y arrasadora utopia de la vida» nahekommt. Zweifelsohne lässt sich mit der Verwendung dieses Namens eine andere Intention als der soeben vorgestellte metaliterarische Bezug ausmachen, und ohne jeden Zweifel ist die Signalwirkung dieses Ortes in einem US-amerikanischen Kontext weniger eine (transareale) Lektüre dieses Romans als vielmehr – so Barthes über die US-amerikanische Rhetorik der Differenz – «die ständige Vereinnahmung durch einen internen Code».⁷⁷ Der Name Macondo mag hier also auch wie ein Marker dafür fungieren, dass diese literarische Praxis einer bestimmten Differenz innerhalb eines schon gegebenen Rahmens verpflichtet ist. So treffend an dieser Stelle die Kritik an den Verkürzungen einer allzu sehr auf Markierungen bedachten Differenzrhetorik auch sein mag – sie sollte nicht dazu verführen, den literarische Diskurs funktional zu reduzieren bzw. den von Cisneros selbst explizierten und jedwede bloß interne Codierung überschreitenden hemisphärischen Bezug zu verkennen. Für Cisneros geht es nämlich nicht nur darum, ein Latin American heritage auszustellen, sondern in diesem Bezug auch eine Bewegung anzuzeigen, aus deren Perspektive die Verhandlungen mit den Codes einer symbolischen Mehrheitsgesellschaft nur ein Teil der Geschichte sind. Im speziellen Fall der mexikanisch-US-amerikanischen Migration geht es folglich nicht nur um den «internen Code» eines US-amerikanischen nationalkulturellen Selbstverständnisses von sich vermittelnden Differenzen, sondern darüber hinaus um eine hemisphärische Perspektivierung von (trans-)amerikanischer Geschichte. Nicht umsonst ist dem Roman Caramelo eine Chronology angefügt, in der die Geschichte nicht mit dem Projekt einer neuen Nation ansetzt, sondern mit der Begegnung zwischen Moctezuma und Cortés. Es ist eine gewiss aufschlussreiche Fügung, dass auch Cisneros zu ihrer Stimme in jenem Writer’s Workshop der Universität Iowa findet, den Fuguet, gute 15 Jahre später, besuchte und der ihn dazu motivierte, Macondo durch McOndo zu ersetzen. An dieser Koinzidenz lässt sich leicht nachvollziehen, wie verschieden die Dynamiken von interner und externer Relationierung verlaufen und dass sie mitnichten mit den Ordnungen des Lokalen zusammenfallen. Der

77 Roland Barthes: Die Vorbereitung des Romans, S. 43.

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 Soledad, Macondo, Genealogía

Chiasmus dieser Koinzidenz besteht ja darin, dass Fuguet, sich selbst als Lateinamerikaner begreifend, mit einer Fremdwahrnehmung konfrontiert wird, die er nicht annehmen kann und der er, als Reaktion auf diese externe Zuschreibung, eine gegenläufige interne lateinamerikanische Relationierung entgegensetzt. Wenn Sandra Cisneros hingegen Macondo zitiert und eben nicht überschreibt, dann auch, um ihre interne Relationierung als ethnische Minderheit nicht um eine externe Relationierung zu bringen. Während Macondo im ersten Fall festlegend und beschließend wirkt, wird es im zweiten Falle zu einer öffnenden Figur, die – so werde ich weiter unten ausführen – weitere und andere, mithin transareale Lektüremöglichkeiten eröffnet. Diese Perspektivierung wird möglich, da sich Cisneros der dritten der hier genannten Metaphern für die Narration ihres bisher letzten Romans bedient. Ohne allzu sehr vorauszugreifen, ist es doch von Bedeutung, dass die Familiengenealogie das Band liefert, durch das sich die verschiedenen Stationen dieser Migrationen und Übersetzungen verknüpfen lassen. Dieses Motiv kommt in seiner Funktionsweise der Funktionsweise der Geschichte der Buendía sehr nahe. Von besonderem Interesse ist dabei, dass beide Texte diese Geschichte auch metaliterarisch problematisieren und dies insofern an den Anfang der Erzählung setzen, als beide mit ihrem Bezug auf den kolonialen Anfang einer amerikanischen Geschichte als die Hypothek der Übersetzung und Migration deuten. In beiden Fällen wird sowohl die Behauptung einer Neuen Welt radikal ironisiert als auch das Projekt einer neuen Geschichte, die sich ihrer eigenen Geschichtlichkeit entledigen möchte. Am Anfang war die Übersetzung und die Übersetzung war gefährlich. Anders formuliert (und darauf werde ich zurückkommen): Macondo ist auch als implizites, ja hypertextuelles Zitat zugegen. In Caramelo etwa findet sich die so bezeichnende Verquickung der Hausproblematik und der Familiengenealogie, umrahmt von der Frage, wie dieses Haus überschritten wird und wie sich davon erzählen lässt. Neben den genannten literaturhistorischen Aspekten erlaubt es der Rückgriff auf diese Metaphern, diese Texte in einem eher problemorientierten, ja systematischen Zusammenhang zu lesen, der wiederum dem transarealen Paradigma des Romans insofern entspricht, als er diese Romane nicht nur als Lokalprodukte zu lesen erlaubt. Das meint: Die in CAS formulierten Überlagerungen sind auch, aber nicht nur vor dem Hintergrund des lateinamerikanischen Romans zu lesen; sie leisten vielmehr selbst schon eine Übersetzung dieser Gattung und seiner transarealen Geschichte. Ebenso wenig muss das Werk von Sandra Cisneros nur als ein (diskurspolitischer) Ausdruck der chicana-feminist-literature gelesen werden, sondern kann auch als eine implizite Theorie darüber verstanden werden, wie sich Geschichte über eine sowohl angeeignete wie auch aufgezwungene Distanz hinweg jenseits ihres Ereignisorts übersetzt und

Macondo und Genealogie 

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dabei vielfältige Bezüge ermöglicht. Schließlich können die Texte von Roberto Bolaño nicht nur als die jüngste Entwicklung des lateinamerikanischen Romans verstanden werden, deren alleiniger Auftrag die Überwindung und Ermordung der «padres putativos»⁷⁸ ist, sondern ebenso als eine bisweilen schwindelerregende Reflexion darüber, wie Geschichte in einer Sprache, die schon die schlechte Übersetzung einer falschen Übersetzung ist, bewahrt werden kann. Kurz gesagt: Diese Metaphern, verstanden als Metaphern einer im Roman ermöglichten Überschreitung von Erzählung (soledad), Ort (Macondo) und Geschichte (Genealogie) erlauben es mir, den systematischen Anspruch einer romantheoretischen Reflexion aufrechtzuerhalten, statt ihn durch das große Rahmendispositiv einer literarischen und kulturellen Entwicklungserzählung wieder zu neutralisieren.

78 Roberto Bolaño: Sevilla me mata. In: Ders.: Entre Paréntesis. Barcelona: Anagrama 2004, S. 314.

7 Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung 7.1 Von la nueva novela latinoamericana und anderen Gespenstern Gut 40 Jahre nachdem die Debatten um La nueva novela latinoamericana, literaturhistorischer Zweitname des Magischen Realismus, ansetzten, taucht dieser Begriff wieder und ebenso im Sinne einer sich neu verzweigenden, ja neu setzenden Tradition auf. Der nicaraguanische Schriftsteller Sergio Ramírez transponiert in einem Artikel aus dem Jahre 2008 ganz bewusst die transkulturelle Rhetorik des lateinamerikanischen Romans der 60er und 70er Jahre in das 21. Jahrhundert, wenn er unter dem Titel La nueva novela latinoamericana die Frage stellt: «¿Se escribirá la nueva novela latinoamericana en inglés?»¹ Man erinnere sich: Das Lateinamerikanische selbst war das Unterpfand all jener zwischen Literaturästhetik und Wirklichkeitstheorie angesiedelten Debatten um das Neue dieser Romane. Deren gemeinsamer Nenner ist vielleicht in Fuentes’ Bonmot benannt, wonach die Entregionalisierung der lateinamerikanischen Romanproduktion sich auch der (auch Borges zu verdankenden) Einsicht verdankt, dass «wir alle in dem Sinne zentral sind, wie wir alle exzentrisch sind».² Die Rede nun von einer weiteren nueva novela latinoamericana hat nun den besonderen Reiz, dass sie eine Perspektive eröffnet, die nicht nur auf das metahistorische Modell der zu übertreffenden Väter rekurriert. Stattdessen bietet es sich an, das schon sprachphilosophisch erarbeitete Motiv der Transplantation auch literaturund kulturhistorisch umzusetzen. Vor allem das noch weiter unten zu präzisierende Modell der (an Literatur geschulten) Lektüre, die vom steten Doppel einer internen und externen Relationierung gekennzeichnet ist, kommt als literaturhistorische Kategorie zu ihrem Recht. Als Frage formuliert: Welche Lesbarkeit setzt diese Übersetzung eines Begriffs wie der nueva novela latinoamericana frei, wenn sie auf einen Kontext bezogen wird, zu dem zwar ein Bezug irgendwie herzustellen ist, aber nicht mehr in einem evident lokalen Sinne und auch nicht durch das Argument einer positiven Wirkungsgeschichte?

1 Sergio Ramírez: ¿Se escribirá la nueva novela latinoamericana en inglés?. In: «http://www. sergioramirez.org.ni/articulos/la%20nueva%20novela%20latinoamericana.html», (letzter Zugriff: 28.06.2012). 2 Carlos Fuentes: La nueva novela hispanoamericana, S. 95, meine Übersetzung.

Von la nueva novela latinoamericana und anderen Gespenstern 

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Das Argument, das hinter dieser Frage und hinter der Figur der Transplantation steht, ist zu erahnen: Chicano-Literatur kann nicht einfach als Appendix der Lateinamerikanistik gelten. Sie ist nicht einfach die durch Migration entwickelte Erweiterung des Lateinamerikanischen, sondern eine Literatur, die jene schon mit der nueva novela latinoamericana gestellten Fragen neu und anders stellt. Anders formuliert: Diese Literatur ist nicht eine weitere PostBoom-Bewegung. Nicht historische Entwicklung und Veränderung ist das Modell, sondern jene relationale Logik, die am ehesten der Beziehung zwischen Übersetzung und ‘Original’ entspricht. Gleichzeitig ist mit dieser Perspektive angedeutet, dass diese Literatur ein Sinnpotential bereithält, das nicht aufgeht in dem US-amerikanischen Paradigma der Minderheitenliteratur und ihrem Begriff von (Welt-)Vielfalt. Diese Perspektive hat den Vorteil, dass die Übersetzungen dieser Literatur nicht nur als Funktionen einer binnen-US-amerikanischen Relationierung begriffen werden müssen. Man sieht leicht, wie sich diese Literatur bestens dazu eignet, eine doppelte Perspektive einzunehmen, die zwischen einer – paradox genug – als extern empfundenen internen Relationierung und einer als intern argumentierenden externen Relationierung zu vermitteln hat. In diesem Sinne – wie schon bei der Diskussion des Einsamkeitsmotivs angedeutet – soll also der Tatsache begegnet werden, dass in einer Arbeit, die sich in einen lateinamerikanistischen Kontext einschreibt, auch das Romanwerk der Feminist-Chicana-Autorin Sandra Cisneros behandelt wird. Strukturell ist obiges Argument schon in dem angelegt gewesen, was ich die Topologie des Romans bezeichnet habe: Wenn der Ort eines Romans seine Überschreitung ist und wenn speziell der Roman der Lateinamerikanistik sich dadurch auszeichnet, dass er die Überschreitung von dargestellten Wirklichkeiten vor dem Hintergrund eines lateinamerikanischen Bezugs behandelt, dann gilt es die mit García Márquez und Bolaño beschreibbar gewordenen Bewegungslogiken – rückkehrende Vereinigung und ständige Zerfaserung – zu komplementieren. An den beiden Romanen Caramelo und The House on Mango Street lässt sich gut nachvollziehen, welche Bewegungen weder in CAS noch in den Texten von Robert Bolaño vorkommen. Wie anfangs ausgeführt, werden die zusammenführende Logik des mestiz@ und die stets zersetzende des migrante durch die oszillierende Logik der viajer@ erst in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht. Ramírez’ kurzer Text enthält noch eine weitere beachtenswerte Pointe. Er benutzt bei der Beantwortung dieser Frage eine Kampfvokabel der 60er Jahre schlechthin und nimmt hierbei ein Motiv auf, das auch die von ihm nicht genannte Sandra Cisneros behandelt. Ihm zufolge schreibt sich la nueva novela latinoamericana auch deshalb im Englischen fort, weil auch die USA, wie gar die

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 Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung

gesamte Welt, von den «Gespenstern der lateinamerikanischen Wirklichkeit»³ heimgesucht werden.⁴ Das ist eine reichlich dichte Behauptung, die einer gewissen Erläuterung bedarf. Was heißt es und welches wir ist angesprochen, wenn es heißt, dass wir alle von diesen Gespenstern verfolgt werden? Auch hier bietet sich eine historische Perspektive an: Geradezu prophetisch von García Márquez als der Sündenfall der Neuen Welt (die etwas anderes ist als die white man’s burden) proklamiert, meint die Figur der Gespenster ein bestimmtes Verhältnis zur Geschichte. Nicht nur die zum Himmel schreienden Ungerechtigkeiten, von denen García Márquez in seiner Nobelpreisrede spricht; ebenso und vielleicht an erster Stelle ist damit eine Geschichtlichkeit von Sprache gemeint, die sich in dem Moment einstellt, da Sprache und Welt nicht mehr zu vermitteln sind, da die Sprache selbt schon für eine Geschichte steht, die nicht mehr unter das Dispositiv der Entwicklung (wie im Falle der vulgärlateinischen Sprachen) zu fassen ist. Indem nun Ramírez diese Figur auf einen nicht weiter begrenzten Kontext bezieht («todos»), wird es möglich, diese Figur auch als eine strukturelle zu denken, als ein bestimmtes Sprachverhältnis, das ich anfangs als die dem Roman eingelassene Darstellungsproblematik präzisiert habe. Die Globalisierung der Sprachen und die Sprachen in der Globalisierung sind zwei Motive, die eine Geschichte schreiben, die ohne die Geister der Übersetzung nicht zu schreiben ist und die gleichzeitig für diese Übersetzung keine verlässliche und allgemeingültige Metasprache zur Hand hat. Kurz gesagt: Die Gespenster der lateinamerikanischen Wirklichkeit sind von ihrer magisch-realistischen Fassung dazu übergegangen, eine Lektürehaltung zu werden, der die Erfahrung der Übersetzung eine unhintergehbare ist. In einem ganz ähnlichen Sinne äußert sich 1988 auch Sandra Cisneros in ihrem Aufsatz Ghosts and Voices: Writing from Obsession. Der Titel der Zeitschrift, in der dieser Text erscheint, unterstreicht ein weiteres Mal die hemisphärische Dimension einer solchermaßen entgrenzten und versetzten lateinamerikanischen Realität: The Americas Review (die den Untertitel: A review of Hispanic literature and arts of the USA führt): Instead of writing by inspiration, it seems we write by obsession, of that which is most violently tugging at our obsession. If I were asked what it is I write about I would have to say, I write about those ghosts inside that haunt me, that will not let me sleep, of that

3 Sergio Ramírez: ¿Se escribirá la nueva novela latinoamericana en inglés? 4 Vgl. ebd.: «[…] los fantasmas de la realidad latinoamericana que nos persiguen a todos […]»

Von la nueva novela latinoamericana und anderen Gespenstern 

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which even memory does not like to mention. Sometimes it seems I am writing the same story, the same poem, over and over.⁵

Vordergründig sind die Geister nur die Metapher für die Erfahrung der eigenen Armut, der Exklusion und Diskriminierung, der eine (symbolische) Minderheit zu begegnen hat. Die Scham der Erinnerung wäre so leicht erklärt und verständlich gemacht. Allerdings enthält die explizit genannte Spannung zur Inspiration noch ein weiteres Argument. Es ließe sich nämlich fragen, weshalb überhaupt davon ausgegangen werden sollte, dass diese Erfahrung sich nicht als Inspirationsquelle qualifizieren kann. Der Grund hierfür liegt nicht nur in der Scham. Einige Zeilen weiter unten präzisiert Cisneros, dass Inspiration eine produktionsästhetische Kategorie ist, die sich nicht historisch übersetzen lässt: Perhaps later there will be time to write by inspiration. In the meantime, in my writing as well as in that of other Chicanas and other women, there is the necessary phase of dealing with those ghosts and voices most urgently haunting us, day by day.⁶

Man sollte sich davor hüten, dieses Zitat, auch wenn es dies explizit anbietet, nur auf die spezifische Situation der Chicanas zu reduzieren. Vielmehr geben sie das nicht nur für Cisneros drängende Paradigma eines durchaus spezifisch-allgemeinen Sachverhalts: Die Zwischenzeit («in the meantime») ist die eigentlich historische Zeit, Index der neuzeitlichen Epochalität. Im Alltag manifestieren sich die Geister, nicht in der inspirativen Ausnahmesituation, in der sich etwa ein Faust befindet. Die Geister, um die hier es geht, sind keine Epiphanien; es handelt sich um die Geister der Übersetzung. Diese etwas hermetische Bestimmung wird etwas deutlicher, wenn man den zweiten, im Titel erwähnten Begriff berücksichtigt. Die Stimme (the voice), in der diese Geister verfolgen, kann Cisneros in ihrem Falle sehr genau benennen: As a young writer in college I was aware I had to find my voice, but how was I to know it would be the voice I used at home, the one I acquired as a result of on English-speaking mother and one Spanish-speaking father. My mother’s English was learned in the Mexican/ Italian neighborhood she grew up in on Chicago’s near south side, an English learned from playmates and school, since her own parents spoke Spanish exclusively. My father, on the other hand, spoke to us in a Spanish of mothers and children, a language embroidered with the diminutive. […] These two voices at odds with each other – my mother’s punch-you-inthe-nose-English and my father’s powdered-sugar Spanish – curiously are the voices that

5 Sandra Cisneros: Ghosts and Voices: Writing from Obsession. In: Americas Review, 15, no. 1 (Spring 1987), S. 73. 6 Ebd.

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 Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung

surface my writing. What I am especially aware of lately is how the Spanish syntax and words choice occurs in my word even though I write in English.⁷

Übersetzung steht am Anfang der Stimme. Besonders auffällig ist die Passivkonstruktion, die den Spracherwerb ihrer Eltern auszeichnet. Dass eine Sprache erlernt wurde, ist eine apersonale Wendung, die jene Leerstelle markiert, in die sich die Geister eintragen können. Die Durchkreuzung verschiedener Geschichten, ja verschiedener Geister in jener Stimme, die sie in ihrem Elternhaus erwarb – nunmehr aktiv formuliert – belegt die eigene Sprache mit einer Reflexivität und einer Dynamik, die auch auf all das zutrifft, was in dieser Sprache artikuliert wird. Wenn also Cisneros immer wieder das Gleiche zu schreiben scheint, dann auch deshalb, weil ihre Sprache immer wieder die gleichen Geister ruft und all jenes in eine dynamische Relation setzt, worauf es sich bezieht. Inspiration hingegen wäre einerseits die Stilllegung dieser Geister; andererseits wäre der Widerstand gebrochen zwischen dem, was die Stimme sagt, indem sie spricht und dem, was die Stimme tatsächlich ausspricht. Man sieht leicht, wie diese Spannung als eine Figur der Weltenvielfalt zu deuten ist und gewissermaßen das mit der Neuen Welt so augenscheinlich in die Welt getretene Problem der in Sprache eingelassenen Geister in einen anderen Kontext einschreibt. Bevor ich jedoch auf diese großen Formationen eingehe, möchte ich darlegen, inwiefern sich eine andere relationale Logik denken lässt als die der Differenz. Dafür bietet es sich an, dass, wenn Relation sich nicht nur intern bestimmen lässt, also nicht nur auf einen schon gegebenen Bereich, in dem Differenz ausgehandelt wird, sich bezieht, sondern ebenso eine externe, mithin transareale Beziehung ermöglicht, in der nicht nur der Raum der Differenz, sondern der Raum überhaupt in Frage gestellt wird, diese Logik der externen Relationierung an Bewegungslogiken nachzuvollziehen, die statt einen Ereignisraum zu affirmieren, den Raum selbst als einen durch Überschreitung konstituierten Raum entwerfen. Die externe Relationierung als eine besondere Form der Überschreitung war ja schon zentrales Thema dieser Arbeit und impliziert in diesem Kontext eine Reliteralisierung von Literatur bzw. die Extrapolation eines Relations- und Überschreitungswissen speziell des Romans.

7 Ebd., S. 71–72.

Reise und Übersetzung: Für eine relationale Logik von Differenz 

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7.2 Reise und Übersetzung: Für eine relationale Logik von Differenz We didn’t always live on Mango Street. Before that we lived on Loomies on the third floor, and before that we lived on Keeler. Before Keeler it was Paulina, and before that I can’t remember.⁸

Die Eröffnung von Sandra Cisneros’ Romanerstling, der 1984 erschienene Kurzroman The House on Mango Street, lässt keinen Zweifel. Für die Protagonistin Esperanza steht die Reise am Anfang – kein Kurzurlaub und auch keine Pauschalreise, ja nicht einmal eine Fernreise. Am Anfang steht die Reise ist vielmehr in dem Sinne zu verstehen, dass Reisen, zumindest bestimmte Formen davon, eben nicht nur vor dem vermeintlich natürlichen Hintergrund der Sesshaftigkeit zu denken sind. Reise als Prinzip, in der der Ort des Eigenen nicht der Ort des Angestammten ist, formuliert Programm und Ausgangslage einer Reise, die nicht auf das Pittoreske oder das Erbauliche einer Reise referiert; es geht stattdessen um eine Bewegungslogik, durch die, anders als in Migration und Exil, das originäre Zurücklassen nicht mehr als Ausgangspunkt nachvollziehbar ist. So präzisiert die mexikanische Autorin und Journalistin Elena Poniatowska, Übersetzerin der spanischen Ausgabe von The House on Mango Street: It was not only the language. Chicanos were living “on standby,” always in “transit,” always in a “meantime land,” like “maripositas” waiting to settle down, fluttering their “alitas” before getting their green card, before becoming residents.⁹

Diese Bewegung im Raum hat natürlich auch Folgen für das Erleben von Zeit und Geschichte; das Vorübergehende wird zur Zeitenlogik dieser Bewegung: «For the time being, Mama says. Temporary, says Papa. But I know how those things go on.»¹⁰ Das kumulative Weiter-So, nach Bhabha Kennzeichen einer gegen die großen Erzählungen sich richtenden Geschichtlichkeit und wie ich hier betonen möchte: Index der Neuzeit, produziert Bedeutung nicht als Kondensierung, sondern torpediert sie durch ständige Versetzung, durch eine in der Variation nichts

8 Sandra Cisneros: The house on Mango Street, S. 3. 9 Elena Poniatowska: Mexicanas and Chicanas. In: MELUS, Vol. 21, No. 3, Other Americas (Autumn 1996), S. 42. Mit «maripositas» und «alitas» bezieht sich Poniatowska auf ein von ihr angführtes Zitat von Tino Viallanueva: «Once upon a time a little mariposita was flying in the jardin, when de repente she fell cayó and then she dijo: ‘Ay, what brute am I, I forgot to open my alitas.’», zitiert nach: Ebd. 10 Sandra Cisneros: The house on Mango Street, S. 5.

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 Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung

preisgebende Verkettung: «the successive rather than the synchronic time of the signifier.»¹¹ Loomies, Keeler, Paulina sind Namen, die das, was auch immer sich in Mango verdichtet, in eine Reihe stellt, die nicht als beschließende Kulmination lesbar ist, sondern einen im Prinzip beliebig fortsetzbaren Durchgang bedeuten. Diese Namen verweisen nicht auf einen stabilen Bezugsraum, der seine Differenzen in eine Bedeutung überführen könnte; jeder Name erweitert den Raum, ohne deshalb neue Bezüge zu ermöglichen. Ist damit affirmiert, dass Sesshaftigkeit und Geschichte in einem begründenden Zusammenhang stehen bzw. Geschichte in der Bewegung nur eine Geschichte des Vorübergehenden sein kann, die sich einem historischen Sinn entgegenstellt? Keineswegs. Dafür spricht nicht zuletzt, dass der Ort des Eigenen – «A house of my own»¹² – noch lange nicht unmöglich sein muss, noch lange nicht sanktionierte Vokabel geworden ist. Allerdings ist das Eigene nicht Restauration des Verlorenen, sondern Zielprojektion. Ziel wiederum ist nicht die Ankunft, nicht Erfüllung eines Gegebenen, nicht doch die insgeheime Einschreibung in eine große Erzählung, die das Eigene mit dem Historischen vermittelt. Ziel bedeutet die Möglichkeit einer weiteren Reise. Diese jedoch unterscheidet sich von der Reise des Immer-Weiter-So, dass sie im Raum mehr erfährt als ein «For the time being», mehr ist als die vorübergehende Zeitlichkeit eines nicht erschlossenen, nicht erschließbaren Zusammenhangs. «A house of my own» steht für eine Geschichte, in der Bewegung auf eine Weise angeeignet werden kann, die sprichwörtlich Raum lässt für eine andere Logik der Verkettung. Geschichte als Eigene setzt nicht notwendigerweise den verdichteten Zusammenhang der Synchronie voraus. Bewegungsgeschichte lässt sich aneignen, wenn sie benannt werden kann, in einem ganz wörtlichen Sinne «zitierbar» (Benjamin) wird, ohne dass deshalb der Ort des Zitats auf notwendige Weise bestimmt wäre. Der eigene Raum soll von der Hypothek einer nicht sinnvoll lesbaren Kette von Namen entlasten und eine neue Bewegung eröffnen, eine, die eine Neuschreibung ermöglicht, in der neue Spuren möglich sind: A house all of my own. […] With my porch and my pillow, my pretty purple petunias. My books and my stories. My two shoes waiting beside the bed. Nobody to shake a stick at. Nobody’s garbage to pick up after. […] Only a house quite as snow. A space for myself to go, clean as paper before the poem.¹³

11 Homi K. Bhabha: Location, Intervention, Incommensurability: A Conversation with Homi Bhabha. In: Emergences 1 (1989), S. 86. 12 Sandra Cisneros: The house on Mango Street, S. 108. 13 Ebd.

Reise und Übersetzung: Für eine relationale Logik von Differenz 

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Die Nachträglichkeit der Bewegung, also jene Bewegung, die einem Anderen Müll hinterherräumt, die es impliziert, dass ein anderer zu verdrängen ist («to shake a stick at») ist von der Bewegung zu unterscheiden, die im Raum des ‘Eigenen’ möglich wird, sich dort andeutet. Eigene Bücher und eigene Geschichte und die Synästhesie des lautlosen Schnees, die wartenden Schuhe, all diese Elemente verweisen auf einen bevorstehenden Aufbruch. Dass der Aufbruch mit dem Ansetzen des Gedichtes verglichen wird, schreibt auch Sprache eine Geschichtlichkeit ein, die nur verkürzt verstanden ist, wenn sie auf die Aneignung einer eigenen Stimme verkürzt wird. Der Einsatz der poetischen Sprache ist genau diese Umdeutung der Bewegung vom Signifikantenmüll zu einer Geschichte, die auf diesem wie stiller Schnee liegt und nun unter einem Schutzdach («porch») ansetzen kann, ohne jedoch – so wird zu zeigen sein – die Reinheit als ein Auswaschen zu begreifen. Die dreifache Alliteration von «m» und «p» («my porch and my pillow, my pretty»), wiederholt von der dreifachen Alliteration, in »pretty purple petunias» deutet jene poetische Transformation an, die von Papier und Poem am Ende affirmiert wird. So erfährt auch das «Before» eine wesentliche Umdeutung. «Before» ist nicht mehr die Zeit, in der Erinnerung fehlt, sondern ist die Zeit einer Möglichkeit, einer Potenz. Ohne dies weiter auszuführen, sollte deutlich sein, dass hier die sehr ambivalente Problematik einer Welt aufgerufen ist, die ebenso gegeben wie gemacht ist. Nicht minder wird auch der Begriff des Eigenen differenziert. Das Eigene wird einmal rein negativ bestimmt: The house on Mango Street is ours, and we don’t have to pay rent to anybody, or share the yard with the people downstairs, or be careful not to make too much noise, and there isn’t a landlord banging on the ceiling with a broom. But even so, it’s not the house we’d thought we’d get.¹⁴

Eine Seite später wird der Begriff des Eigenen an der Diskrepanz des Gegebenen und des Erwünschten weiter präzisiert: They told us that one day we would move into a house, a real house, that would be ours for always, so we wouldn’t have to move each year. […] This was the house Papa talked about when he held a lottery ticket and this was the house Mama dreamed up in stories she told us before we went to bed.¹⁵

«Always», der ewige Besitz, ließe sich leicht und auch zu Recht als der Wunsch nach einer besseren Sesshaftigkeit begreifen, die mit dem sozialen Aufstieg

14 Ebd., S. 3. 15 Ebd., S. 4.

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 Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung

eine andere Qualität innehat als jene Sesshaftigkeit des Sich-Einrichtens. Entscheidender jedoch ist, dass dieses «always» des Eigenen hier ein bestimmtes Verhältnis aufruft. «Always» ist genauso unverfügbar und unmöglich wie das «real» – es ist Gegenstand von Wunschfantasien. Esperanza entwirft so in wenigen Strichen eine Spannung zwischen der Zeit des Vorübergehenden und des Immerwährenden, die sich in der Spannung des Wirklichen/Richtigen («real») als Wunschfantasie auf der einen und als bloß negativ bestimmte Gegebenheit auf der anderen Seite bekräftigt. Die entkoppelte Fantasie und der Widerstand des Prekären sind zwei Zeitmodi, in denen der American dream des selbst zu machenden Schicksals Lügen gestraft wird durch eine Geschichte, die nichts weiter verrät als die jeweilige Gegebenheit, die ihrerseits das Ergebnis einer Kette von Bewegungen ist, welche die Erinnerungen an ein Davor unmöglich gemacht haben. Dies auszustellen, produziert Scham; Geschichte – so die passgenaue räumliche Metapher – ist nicht die eigene, sondern wird zum zugewiesenen «there», zu dem Esperanza stehen muss, sofern es auf diese bestimmte Weise «real» ist: There. I had to look to where she pointed – the third floor, the paint peeling, wooden bars Papa had nailed on the windows so we wouldn’t fall out. You live there? The way she said it made me feel nothing. There. I lived there. I nodded. I knew then I had to have a house. A real house. One I could point to.¹⁶

Erneut die Rede vom «real house», das sich dem «real» des Gegebenen entgegenstellt. Auch hier geht es auf einer vordergründigen und deshalb nicht minder wirksamen Ebene um das Bedürfnis, vorzeigbar, repräsentierbar zu sein. Ebenso ins Gewicht fallen dürfte jedoch, dass die Wunschvorstellung erneut persönlich gewendet wird, eine Wunschvorstellung, in die sich eben eine eigene Geschichte einschreiben lässt. Dafür spricht auch schon die Veränderung des Zeigens. Während zu Beginn dieses Ausschnitts die Lehrerin auf das Haus zeigt – «where she pointed» – liest man am Ende von dem Entschluss von Esperanza, selbst und ohne Scham zu zeigen: «One I could point to.» Ein Zusammenhang deutet sich an: Poetische Transformation, die im Kampf des Alltags von Vater und Mutter zur Reichtumsfantasie und Wunscherzählung absinkt, gewissermaßen externalisiert wird, ist auch, aber eben nicht nur, Aufstieg und Verbesserung. Impliziert ist auch die Möglichkeit, die unlesbare Kette der Namen in die Bewegung eines sodann angeeigneten Namens zu überführen, so dass das vorige «not always» der Mango Street in ein «always» der eigenen Geschichte transformiert werden kann, zu einem Selbst.

16 Ebd., S. 5, kursiv im Original.

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Am Ende des Romans, in einer fantastisch anmutenden Szene einer Trauerfeier, begegnet Esperanza den «three sisters.»¹⁷ Hier deutet sich eine Transformation an, die zuvor undenkbar war und die just auf diese poetische Transformation verweist. «Mango» und «always» verbinden sich als persönliche Geschichte und nicht bloß als ein weiterer Name einer weiteren Zwischenstation: You will be always Mango Street. You can’t erase what you know. You can’t forget who you are. […] and I felt ashamed for having made such a selfish wish. You must remember to come back for the ones who cannot leave as easily as you. (105)

Wie sehr es hier tatsächlich um eine poetische Transformation geht – eine poetische Transformation eines Hauses, die schon für García Márquez Ausgangspunkt seines Romans gewesen ist –, zeigt sich wenig später in einem weiteren Gespräch, das Esperanza mit ihrer Freundin Alicia führt. Hier wiederholt sich diese Figur, in der ein weiteres Mal deutlich wird, dass die Aneignung der Geschichte nicht nur der Aufstieg ist und auch nicht nur eine Frage der Politik: You live right here, 4006 Mango, Alicia says and points to the house I am ashamed of. No, this isn’t my house I say and shake my head as if shaking could undo the year I’ve lived here. I don’t belong. I don’t ever want to come from here. You have a home, Alicia, and one day you’ll go there, to a town you remember, but me I never had a house, not even a photograph… only one I dream of. No, Alicia says. Like it or not you are Mango Street. Not me. Not until somebody makes it better. Who’s going to do it? The mayor? And the thought of the mayor coming to Mango Street makes me laugh out loud. Who’s going to do it? Not the mayor.¹⁸

Aufstieg und das eigene Haus bedeuten also nicht zwangsläufig Überwindung. Und gleichzeitig gilt es, Armut weder als Mal zu begreifen noch als das Pittoreske einer barrio-community zu verherrlichen. Die Frage, «Who is going to do it [better]» verdichtet diese Aspekte und antizipiert, dass es für eine bestimmte Art der Verbesserung nicht genügt, die eigene Armut durch einen externalisierenden Traum – «like the houses on T.V.» (4) – zu überwinden. Hierfür bedarf es einer weiteren Veränderung von Mango, damit Mango von einem Durchgangsbesitz zu einer Geschichte werden kann, die nicht bloß den Aufstieg verrät. Der Name wird anders besetzt. In der Erzählung, der das Verlassenhaben und nicht

17 Ebd., S. 103. 18 Ebd., S. 107.

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nur ein soziales Überwinden eingelassen ist, vermag der Name, nunmehr auf einem neu zu beschreibenden Blatt vermerkt, zu etwas werden, das – obgleich man es verlassen hat – immer sein kann. Mango wird aus der Reihe von Loomies, Keeler, Paulina entlassen. «Leave as easily as you» meint deshalb mitnichten die Versprechensrhetorik sozialer Mobilität, der zufolge allen alle Möglichkeiten offenstehen. «Leave easily» lässt sich vielmehr in dem Sinne deuten, dass ohne Widerstand, ohne Opfer des Selbst – beliebte und zentrale Metapher bei Octavio Paz und auch bei dem für Monolingualität eintretenden Chicano-Autor Richard Rodríguez – Geschichte möglich sein soll. In Cisneros’ Worten: Das saubere weiße Blatt Papier ist, wenn auch Bruch, so doch nicht Auslöschung – es ist ja eine Weißheit, die wie die des Schnees sich lautlos auf die Dinge legt, sie unter sich vergräbt, aber deshalb noch lange nicht geopfert hat. Geschichte als eine Form der Aneignung, die auf eine poetische Transformation rekurriert, erzählt hier durch den Bruch hindurch eine Geschichte. Deshalb – so ließe sich Kaup beipflichten – ist es kein Zufall, dass das Motiv des Hauses das Motiv der Erde, des Mutterlands überlagert, ja ablöst: With the transition from the heroic mode of Chicano nationalism of the early seventies to the more ironic and contingent mode of the present, a shift in symbols has occurred in which we find the focus has passed from land, a central symbol of Chicano nationalism indebted to the notions of tierra and Aztlán (the Chicano homeland), to houses. Whereas earlier the natural environment provided inspiration for the symbolic expression of collective identity, now the built environment has assumed that role. […] Unlike the natural environment houses can be torn down, modified, remodeled, and replaced.¹⁹

Auch wenn fragwürdig ist, ob es deshalb darum gehen soll, «to examine the range of architectural images in Chicano literature as keys to identity»,²⁰ ist doch ein wesentlicher Punkt angesprochen. Die Dynamiken eines Ortes – und gerade nicht das Begründungsverhältnis von Identität und Raum – lassen sich wie Präfigurationen einer Poetik der Bewegung lesen. Nicht welches Bild sich Identität gibt ist also von Interesse, sondern welche Grenzen auf welche Weise verhandelbar werden und wie sich auf einen durch diese grenzüberschreitenden Bewegungen konstituierten Raum bezogen werden kann. Anders formuliert: Der entscheidende Unterschied zwischen mythischem Mutterland und einem Haus ist weniger der, dass das Haus sich verändern lässt und das Mutterland keinen Handlungsspielraum lässt, sondern der, dass am Haus eine andere Form

19 Monika Kaup: The Architecture of Ethnicity in Chicano Literature. In: American Literature, Vol. 69, No. 2 (Jun., 1997), S. 363, kursiv im Original. 20 Ebd., S. 365.

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der Lektüre möglich wird, eine andere Art von Geschichte und eine Andere Art der Übersetzung. Nicht Ableitung, nicht das Zurückgehen, sondern tatsächlich Übersetzung ist der entscheidende Aspekt. Genau aus diesem Grund ist weniger die Stabilisierung der Identität das implizierte Modell – in Kaups Text schon durch den Verweis auf die Ironie angedeutet –, sondern eine Lesbarkeit von Geschichte, die – das Oxymoron sei erlaubt – eine prospektive Erinnerung ermöglicht: One day we were passing a house that looked, on my mind, like houses I had seen in Mexico. I don’t know why. There was nothing about the house that looked exactly like the houses I remembered. I’m not even sure why I thought it, but it seemed to feel right. Look at that house, I said, it looks like Mexico. Rachel and Lucy looked at me like I’m crazy, but before they can let out a laugh, Nenny says: Yes, that’s Mexico all right. That’s what I was thinking exactly.²¹

Dies wird schließlich das Verfahren sein, durch das sich Esperanza das am Anfang angesprochene Verlangen erfüllen kann, sich selbst einen neuen Namen zu verleihen: I would like to baptize myself under a new name, a name more like the real me, the one nobody sees. Esperanza as Lizandra or Moritza or Zeze the X. Yes. Something like Zeze the X will do.²²

Das «real me» – Dispositiv jener Subjektivierungen, die Esperanza im Fernsehen kennenlernt – wird hier ebenso zitiert wie revidiert. Sofern «Zeze the X» wie der recht geschlechtsneutrale Name eines Animationshelden klingt, kommt es dem Wunsch nach einer heldenhaften Allmacht nach. Das «X» jedoch präzisiert, um welche Macht es gehen kann. Etwas zu einem X zu erklären, das Echte («the real») als das Gegebene bzw. das Phantasierte mit einem X zu belegen, bedeutet auch, es offen zu halten für eine andere, mithin die eigene Einschreibung. Nicht darum geht es, die Reise als Prinzip abzulösen, sondern um die Frage, wie sich das Provisorische der Reise und die Geschichte (des Selbst) vertragen. Esperanza wird auf das Verfahren der poetischen Wiederholung zurückgreifen, auf diese spezielle Form der Reise. Dank dieser ist ihre Wirklichkeit einerseits wiederholbar und andererseits auch mit ihr selbst in Beziehung zu bringen. Die poetisierte Erzählung – und darauf werde ich zurückkommen – steht also genau in der Spaltung zwischen dem Begehren des Subjekts nach einer eigenen Geschichte

21 Sandra Cisneros: The house on Mango Street, S. 17–18. 22 Ebd., S. 11.

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und dem, was als bloße Gegebenheit nicht artikulierbar ist. Nicht Poetisierung und auch nicht bloße Dokumentation ist hier der Auftrag. 1987, im Aufsatz From a Writer’s Notbook, hat Cisneros diesen Aspekt deutlich angesprochen: At this time I began hearing a voice in my head, a narrator – just like the ones in the books, – chronicling the ordinary events that made up my life: “I want you to go to the store and get me a loaf of bread and a gallon of milk. Bring back all the change and don’t let them gyp you like they did last time.” In my head my narrator would add: …she said in a voice that was neither reproachful nor tender. Thus clutching the coins in her pocket, our hero was off under a sky so blue and a wind so sweet she wondered it didn’t make her dizzy. This is how I glamorized my days living in the third-floor flats and shabby neighborhoods where the best friend I was always waiting for never materialized.²³

Wenn es also darum geht, «to re-invent the world according to my own vision»²⁴, dann gerade nicht im Sinne einer Weltflucht, sondern um eine Vision von Welt mittels re-invention. In The House on Mango Street finden sich ganz andere Beispiele dafür, was es heißen kann, den Phantasieerzählungen des Begehrens ohne den Zwischenschritt der poetischen Wiederholung und Transformation nachzugeben; ohne diese ist das Begehren schließlich gar mehr zu artikulieren und somit – und das ist entscheidend – nicht zu einer Anerkennung zu bringen. In beiden Fällen ist Weltentzug die Folge. Zum einen wäre da das Schicksal von Marin, die ständig auf «a car to stop, a star to fall, someone to change her life»²⁵ wartet, oder auch von Sally, die frühreife Freundin, die jung heiratet, und dadurch all das von Esperanza Begehrte – ein Haus etwa – auf eine wenig wünschenswerte Weise besitzt: Sally got married like we knew she would, young and not ready but married just the same. […] She has her husband and her house now, her pillowcases and her plates. She says she is in love, but I think she did it to escape.²⁶

Marin und Sally haben gemeinsam, dass sie keine eigene «vision» der Phantasie haben. Ihre Lebensläufe reproduzieren nur die Diskrepanz zwischen dem Erträumten und dem, wodurch es erreichbar werden soll. Was ihnen bleibt, ist das Warten – entweder das Warten auf den fallenden Stern bzw. den Star oder aber das Abwarten im eigenen Haus.

23 Sandra Cisneros: From a Writer’s Notebook, S. 70. 24 Ebd. 25 Sandra Cisneros: The house on Mango Street, S. 27. 26 Ebd., S. 101.

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Im Fall von Sandra Cisneros’ ist die Figur der Einschreibung und der damit verbundenen Revision vor allem mit zwei Verfahren und Praktiken in Verbindung gebracht worden. Auf der einen Seite ist – so etwa bei Johnson González²⁷ – die Praxis der Übersetzung in den Vordergrund gestellt worden. Auf der anderen Seite ist ihre Prosa stets in den Kontext der US-amerikanischen Multikulturalismusdebatte gerückt worden. Diese Aspekte sind dabei nicht immer zu trennen – gewisse Übersetzungspraktiken sind natürlich auch vor dem Hintergrund der Multikulturalismusdebatte zu denken. Wenn man aber diese Figur der Einschreibung nicht nur im Sinne einer Vermittlung und einer Aneignung versteht, sondern auch als ein literaturästhetisches und genauer: ein für den Roman bezeichnendes Phänomen, dann eröffnet sich eine andere Fragestellung. Denn Vermittlung und Aneignung stellen im Grunde genuin lokale Figuren dar, solange sie lediglich in einem US-amerikanischen Kontext gelesen werden. Dabei liegt es mehr als auf der Hand, mit diesen Texten die Frage der Übersetzung und auch der Migration jenseits eines gegeben Kontextes zu problematisieren und sich, durchaus von einem bestimmten Kontext ausgehend, zu fragen, inwiefern sich Übersetzung und Vermittlung noch anders als im Sinne rhetorisch-diskursiver Funktionsträger denken lassen. Der Roman als die Gattung der Weltenvielfalt lässt sich auch in dem Sinne verstehen, dass das eine aus eine Welt einen unbestimmten Artikel meint und nicht eine numerische Angabe. Das meint: Die Frage einer Welt von Welten ist verkürzt, wenn man meint, innerhalb der einen Welt – in diesem Falle die US-amerikanischen Diskurse um den Multikulturalismus – alle Differenz der Welten verhandeln zu wollen. Der in diesem transareale Sinne verstandene Roman – so viel sollte klar sein – eignet sich nicht, lediglich eine Binnendifferenzierung zu leisten; vielmehr impliziert diese immer auch eine externe Relationierung. Konkret möchte ich diese These anhand von zwei Fragedimensionen entwickeln. Zum einen werde ich die literaturhistorische und kulturtheoretische Dimension der Übersetzungsfigur auch aus einem lateinamerikanistischen Kontext und mit speziellem Blick auf das Zwischen der Chicana-Literatur problematisieren. Übersetzung wird so eben nicht nur als Marker von Differenz bzw. was ihre Vermittlungsfunktion betrifft, lesbar; gleichzeitig und allem voran wird der US-amerikanische Schauplatz der Verhandlung von Differenzen selbst noch einmal relationiert, in eine andere Geschichte gerückt. Dem entspricht einmal das jetzt folgende Kapitel zur Übersetzung und ein anderes Mal das Kapitel Hundert Jahre Soledad, in dem ich darlege, wie sich eine vergleichende Lektüre zwischen

27 Vgl. hierzu: Johnson González, Bill: The Politics of Translation in Sandra Cisneros’s Caramelo. In: A Journal of Feminist Cultural Studies, Volume 17, Number 3 (2006), S. 3–19.

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CAS und Caramelo begründen lässt und weshalb dieser Bezug auch etwas über jene Geschichte der Transpositionen bereithält, für die der Roman in besonderer Weise stehen mag. Zum anderen möchte am Beispiel des wohl für diese Debatte am meisten eingespannten Begriffs – den der Stimme – nachzeichnen, inwiefern sich diese Problematik auch als eine gattungstheoretische umschreiben lässt. Die Debatte um die Stimme werde ich also nicht darauf lesen, inwiefern Literatur sich für einen Diskurs der Anerkennung eignet oder auch nicht. Von größerem Interesse scheint mir die Frage, inwiefern der literarischen Darstellung selbst schon eine Spaltung eingetragen ist, die im Doppel von Stimme und Diskurs eine augenfällige, aber nicht die reizvollste Ausbuchstabierung erfährt. Die Transarealität der Narration ist, wenn man so möchte, nicht restlos auf das erzählende Subjekt zu beziehen, sondern begründet sich vordererst mit der Transposition, die ein literarisch fingiertes Sprechen mit sich bringt. Dass sich in diese Spaltung eine konkrete Geschichte einträgt, dass sie überhaupt erst lesbar wird durch den Bezug auf eine höchst spezielle Geschichte der Artikulation, steht damit nicht in Frage. Diese Aspekte werde ich insbesondere in den Kapiteln Only the story is remembered behandeln und spezifischer am Text argumentierend in den Kapiteln zu Erzählen als Zitat und Transbiographische Bewegungen.

7.3 Geschichte als Übersetzung – Übersetzung als Geschichte Für den Begriff der Weltenvielfalt ist der Aspekt der Reise von größtem Interesse. Mit ihm werden zwei Perspektiven zu eröffnen sein, die zu bedenken schon deshalb lohnend ist, da sich mit dieser Ausgangslage eine ganz andere Logik der Überschreitung beschreiben lässt. Nicht zuletzt spricht dafür, dass die hier nicht minder prominente Problematik des Hauses eine ganz andere ist, die weder mit dem einem Haus zu beschreiben (García Márquez) noch mit der Abwesenheit von einem Haus als wesentlichem Handlungsort (Bolaño) einzuholen ist. Vielmehr wird die binäre Logik, die sich im Doppel von Restauration und Entzug andeutet, mittig durchkreuzt. Das ist zu präzisieren: Während in Roberto Bolaños Texten das Haus im katalanischen Blanes maximal ein Haus des Schreibens sein kann, also ein Haus, das sich ganz und gar im Akt des Schreibens konstituiert und so gewissermaßen zu dessen blindem Fleck wird, ist das Haus in Cisneros’ Texten durchaus auch als diegetische Größe zugegen. Anders jedoch als bei García Márquez ist die Bewegung des Hauses hier nicht die seiner Präsenz jenseits seiner Grundmauern bzw. die Möglichkeit in ihm außerhalb von ihm zu erwachen. Das ist deshalb schon nicht möglich, da das Haus eines des Durchgangs ist, das selbst zu verlassen ist, aber dabei anders zu bewahren als jener

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Index von Vergangenheit, von dem García Márquez spricht, wenn er sich auf das großelterliche Haus bezieht. Nicht wie sich das Ursprüngliche qua Übersetzung bewahrt, sondern wie sich das Gegebene ins Historische übersetzen lässt, ist also die Frage, an der Figur des Hauses eine entgegengesetzte Bewegung einfordernd. Diese Bewegungsmetapher, die sich am Haus-Motiv entwickelt, lässt sich hiervon ausgehend als eine disziplinäre Frage reformulieren. Es stellt sich nämlich die Frage, ob die beiden Modi – der Modus der Restauration und der des Verlusts – nur dann angemessen verstanden werden können, wenn die Referenz einer lateinamerikanischen Geschichte anders gedacht wird als ein originärer und dann entweder zu erneuernder oder aber in seinem Verlust zu dokumentierender Ausgangspunkt. Anders formuliert: Ist Lateinamerika immer schon aus einem Übersetzungsverhältnis heraus zu denken, dann ist nicht nur jene Bewegung²⁸ zu bedenken, durch die das Lateinamerikanische sich in der Übersetzung artikuliert, sondern auch diejenige, in der diese übersetzende Potenz selbst zur Debatte steht. Um es – bei aller Differenz – mit der technoiden Metapher von Angel Rama zu sagen, der vom Dispositiv der Maschine ausgehend, die Frage danach stellt, ob sich kulturelles Wissen dadurch übersetzt, dass die Maschine und Technik der Literatur nicht nur eine lokale Anwendung finden, sondern selbst generiert werden: Übersetzung betrifft als Verfahren nicht nur die Frage nach dem im Vollzug der Bearbeitung und Übersetzung sich ereignenden Schicksal jener «materia prima»²⁹, in der das vermeintlich Eigene aufgehoben ist, sondern ebenso ein Wissen, das auch jenseits dessen wirksam sein kann, was sich erst gar nicht als «materia prima» qualifiziert. Eine Sache ist es, das in der «materia prima» vermutete in der Übersetzung und Bearbeitung bewahrt zu wissen, eine andere Sache ist es, dies ausgehend von einer Materie zu tun, die keine primäre sein kann. Lateinamerikanische Übersetzungen meint also weniger die Übersetzungen des Lateinamerikanischen als vielmehr auch jene Übersetzungen, die sich durch einen lateinamerikanischen Bezug jenseits des Lateinamerikanischen ermöglichen. Übersetzung – so darf man getrost zuspitzen – wird zu der Zeit, da Cisneros’ Erstling erscheint, zur kulturpolitischen Grundlagenkompetenz der US-amerikanischen Sozialrhetorik. Jemand, der diese Koinzidenz betont, polemisch und mitunter problematisch kommentiert hat, ist der Essayist und Kulturtheoretiker Ilan Stavans, der selbst einen familiären Bezug zu Mexiko hat. Seine Ausführungen sind hier deshalb von Interesse, weil sie es erlauben, die Übersetzungspro-

28 Vgl.: Julio Ortega: Transatlantic Translations; Ottmar Ette: Fernández de Lizardi. 29 Angel Rama: La tecnificación narrativa, S. 44.

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blematik, bezogen auf Cisneros’ Romane, tatsächlich in diesen hemisphärischen Kontext zu setzen. So konstatiert Stavans: By the late eighties, multiculturalism had become a national obsession, and a spokesfigure for the brewing Latino minority was urgently needed. Richard Rodriguez, whose autobiography Hunger of Memory had appeared in 1982, was already an illustrious presence, but his antibilingualism, often confused for anti-Hispanism, seemed repugnant and xenophobic to the liberal establishment. Since Rodríguez stood alone, an unopposed male, a right-wing-intellectual, whose soul not even the devil could buy, a female counterpart was quickly sought. Cisneros seized the opportunity: Susan Bergholz, a Manhattan literary agent making a niche for emerging Latinos literati, took her as a client […] A sudden metamorphosis occurred. Talented and outgoing as she was, Cisneros la marginal became Cisneros la atractiva.³⁰

Übersetzung wird zur Politik. Stavans beißende Kritik lässt daran keinen Zweifel: Her artistic talents are clear but overemphasized. In fact, what truly attracts readers is not her compact prose, which she perceives as “English with a Spanish sensibility,” but her nasty, taboo-breaking attitude. Her works are pamphleteering. They denounce rather than move; they accuse rather than educate.³¹

Dieses rabiate Urteil sollte stutzig machen – nicht weil es nicht zulässig wäre, der Prosa von Cisneros keine ästhetische Befriedigung abzugewinnen oder weil eine bestimmte Attitüde aufstoßen mag. Was an dieser Polemik, die ja selbst gegen eine bestimmte Polemik angeht, überraschen sollte, ist die mit dieser Heftigkeit vollzogene Festschreibung einer Prosa. Wie ich meine, erklärt sich diese Heftigkeit einer durchaus kritikwürdigen Poetik der lediglich US-amerikanischen (Binnen-)differenzierung vor allem aufgrund der Tatsache, dass dieses «English with a Spanish sensibility» eine Übersetzungsfigur in eine Sprache einschreibt, die Stavans vor allem an anderen Sprachen zelebriert, im Englischen jedoch immer schon an diese Funktion der Binnendifferenzierung rückanbindet. Statt also in dieser «sensibility» eine andere Relationierung des Englischen zu erblicken, verkommt die «sensibility» zum Ethnozentrismus: Her forte lies in her articulation of words, not in her display and knowledge of ideas. She offers neither surprises nor profound explorations of the human spirit. The ethnocentrism that gives her legitimacy transforms her complaints into bourgeois mannerisms – transitory temper tantrums that society is ready to accept simply because they present no real

30 Ilan Stavans: Sandra Cisneros: Form over Content. In: Ders.: The essential Ilan Stavans. New York/London: Routledge 2000, S. 43. 31 Ebd., S. 42.

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subversive threat. Her tales are flat and unoriginal and thrive on revising moribund stereotypes.³²

Das Problem der Lektüre und der Übersetzung ist spätestens hier vollkommen ausgeblendet. Das ist insofern problematisch, als diese Frage ja im Prinzip unabhängig davon zu behandeln ist, ob Cisneros von ihrer Leserschaft verlangt, «to approach her as the star of a cross-cultural bildungsroman where mestizas, ignored and underrepresented for ages, end up baking the cake and eating it all.»³³ Dies jedoch ist keine Antwort darauf, ob eine bestimmte Rhetorik, die ja durchaus mehr oder minder fragwürdig sein kann, die Frage nach ihrer Prosa klärt. Genau an dieser Stelle, so meine ich, zeigt sich der Vorzug einer auch in diesem Sinne zu verstehenden transarealen Lektüre. Damit möchte ich vor allem verdeutlichen, dass die hemisphärische Pointe nicht darauf zu verkürzen ist, dass nun einfach der Bezugsrahmen erweitert wird. Vielmehr liegt der Gewinn einer solchen Perspektive darin, dass Querbezüge möglich werden, die das Problem der Lektüre und Übersetzung in einen anderen Zusammenhang stellen als den einer binnendifferenzierenden Positionierung. Vor diesem Hintergrund ist es äußerst aufschlussreich, dass Stavans in einem anderen und nicht minder ‘ethnozentristischen’ Kontext durchaus eine bestimmte Poetik der Übersetzung gutheißen oder zumindest als echtes Problem akzeptieren kann. Am Beispiel einer erstmals aus dem Nahuatl ins Englische übersetzten «sacred poetry»³⁴ wird deutlich, dass die uneinholbare Alterität das strukturelle Merkmal ist, das Übersetzung zu einer echten macht und eben nicht zu einer – so Stavans über Cisneros – immer schon von rhetorischen Strategien korrumpierte: […] I was struck by the obvious: the difficulty of making pre-Columbian people accessible to modern readers. Their poetry, an expression of their vision of time, their dreams and frustrations, has changed countless times in front of our very eyes; they are what we want them to be […]³⁵

Aber genau das – dass ein Werk das ist, was man möchte – fällt in Cisneros’ Fall nicht mehr ins Gewicht. Dabei handelt es sich um ein Problem, dessen sich Sandra Cisneros sehr wohl bewusst ist. So schreibt sie in einem 1987 publizierten

32 Ebd., S. 46. 33 Ebd., S. 41. 34 Ilan Stavans: Translation and Identity. In: Ders.: The essential Ilan Stavans. New York/London: Routledge 2000, S. 231. 35 Ebd., S. 232.

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und mit der Frage Do you Know me?: I wrote The House on Mango Street tituliertem Aufsatz: It [The House in Mango Street, PVO] is used in universities across the country from Yale to Berkeley, as well as in elementary, junior high schools. The House on Mango Street has been used in everything from Women’s Studies, Ethnic Studies, English, Creative Writing, Sociology, and even Sex Education classes.³⁶

Stavans kann diesen ‘Gebrauchswert’ bestimmter chicana-Literatur wohl auch deshalb als soziopolitische Rhetorik abtun, da er an Cisneros diesen Widerstand des Authentischen, der authentischen Alterität nicht mehr ausmachen kann. Anders formuliert: Die Übersetzung ist im Falle dieser sakralen Lyrik nicht korrumpiert durch einen soziopolitischen Bedarf, sondern meint die Frage danach, was an Authentischem in dieser Übersetzung noch durchschlägt. So wird ironischerweise das Problem der Übersetzung doch mit der Kategorie der Authentizität gelöst und bewertbar. Dabei stellt sich die Frage erst gar nicht, ob es tatsächlich darum gehen kann, dass – wie im Falle sakraler Lyrik – auch in Romanen eine echte Alterität das Thema sein kann. Das entbehrt insofern nicht einer gewissen Ironie, als Stavans sehr wohl für eine allgemeinere Übersetzungsproblematik sensibel ist und diese durchaus wohlwollend umschreibt: Translation, its delicious traps, its labyrinthine losses, was at the birth of the Americas, and I am often struck by the fact that to this day, the role language played during their conquest is often minimized, if not simply overlooked.³⁷

Diese Dimension der Übersetzung als sprachliche Grunddisposition der Amerikas und vielleicht als sprachphilosophisches Paradigma insgesamt jener neuen Welt, die, so Bachtin, den absoluten Konnex zwischen Sprache und Sinn verloren hat und den Roman hervorbringt, wird von Stavans – folgenreich – auf die lateinamerikanischen Amerikas begrenzt: In fact, we can even talk about a form of linguistic cannibalism: In order to be members of Western civilization, Latin Americans need to be initiated into, and then are forced to perfect, the language of the invader. Cannibalism, as a metaphor of the struggle to at once define and translate oneself to the rest of the world, is certainly not a new idea. It runs throughout the chronology of the whole hemisphere, acquiring different masks, being called by different names, depending on the context. […] Translation as anthropophagy. All this makes any translation from Spanish into English, or for that matter any other Eu-

36 Sandra Cisneros: Do You Know Me? I Wrote The House On Mango Street. In: Americas Review, 1, no. 15 (Spring 1987), S. 77. 37 Ilan Stavans: Translation and Identity, S. 231.

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ropean language, an attempt at removing what was already once removed. Translation in this metaphorical sense is ubiquitous in the so-called Third World.³⁸

Dass Englisch kurzerhand zur europäischen Sprache erklärt wird, sollte stutzig machen und erklärt vielleicht, weshalb ein «English with a spanish sensibility» ein solches Ärgernis ist. Dass nur in der südlichen Hemisphäre, Mutterland der Kannibalen, und schlimmer noch: nur in der so genannten Dritten Welt das Problem der kollektiven Identität virulent wird, heißt natürlich qua Umkehrschluss, dass die Erste Welt und ihre Sprachen – sprich die USA und ihr alle Differenzen der Welt verhandelndes Englisch – das Problem der kollektiven Identität durch eine Fokussierung auf das Subjekt nicht nur überwunden haben, sondern womöglich auch deshalb erst gar nicht hatten, da ihre Sprache keine geliehene ist, sondern eine immer schon angeeignete, für die eigene Geschichte passend gemachte: What kind of collective identity emerges from this act of losing and regaining oneself in translation? […] Spanish, no doubt, is spoken without the discomfort of knowing it is a borrowed language. And yet, the whole region lives in a permanent state of nostalgia, of longing for a past that is long gone, but could perhaps be rescued, relived, renourished. Identity, then, is a schism, a division, a wound – a sense that, in the translation processus, the original and the copy will never match.³⁹

Genau das, dass der englischen Sprache eine Geschichte eingeschrieben werden könnte, dank der auch in ihr die Suche einer lang verloren geglaubten Vergangenheit möglich wird, steht also zur Debatte. Verkannt wird dabei – wie schon die Ausführungen zu The House on Mango Street es verdeutlicht haben sollten  –, dass es bei dieser angeblich permanenten Nostalgie gerade nicht um Restauration geht, sondern um eine immer wieder neu, immer wieder anders auszuhandelnde Übersetzung von Geschichte. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Konstruktion einer Alterität, ja einer lateinamerikanischen Historizität der Übersetzung von Stavans deshalb zum para-ontologischen Sprachverhältnis erklärt wird, um sich eben jene «delicious traps» und «labyrinthine losses» vom Leib bzw. in sicherer Distanz zu halten. Denn was auf dem Spiel steht, ist der Status einer Sprachkritik, die, sobald sie auch sich selbst als geborgte zu erfahren hat, nicht nur mit einem historischen und kulturellen Index versehen wird – das wäre banal und es zu bestreiten vergeblich –, sondern – obendrein – dazu verpflichtet sieht, die eigene, vermeintlich lang zurückliegende, vielleicht auch nur machtvoll unterdrückte Vergangenheit offen zu halten für Übersetzungen, die

38 Ebd., S. 239, meine Kursivierung. 39 Ebd., S. 240.

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von Anderen und durch ein Anderes erfolgen. Ein vielsagender Chiasmus richtet sich ein: die «collective identity» einer Geschichte, die vergeblich ihre eigene Geschichte sucht und im Grunde keine andere als eine verspätete Sprache haben kann und die im lateinamerikanischen Spanischen manifest geworden ist, steht jener Geschichte gegenüber, die sich durch einen flexiblen, in die Zukunft gerichteten Konsens zwischen Subjekten konstituiert, die dann – als Subjekte des Konsens – durchaus heterogen sein können, da ihre Sprache ihre eigenen Bedingungen verhandelbar bereithält.⁴⁰ Identität und dazu noch kollektive scheint mir deshalb nicht das zentrale Problem zu sein bzw. eine Fragestellung, die es unmöglich macht, eine andere Dimension dieser Sprachsituation freizulegen. Ich hatte anfangs bei der systematischen Grundlegung des Begriffs der Weltenvielfalt versucht darzulegen, wie sehr die Erfahrung einer binnenweltlichen Differenz, die sich durch horizontale Bewegung einstellt, jene begrifflich so überdeterminierte Formation der Neuen Welt erst begründet und auszeichnet. Die besondere Pointe dieser von Stavans gewaltsam lokalisierten Sprachsituation bestünde ja gerade darin, dass sich an dieser speziellen Situation vielleicht mehr als an jeder anderen nachvollziehen lässt, inwiefern alle Sprache eine geliehene ist. Das Fortleben in gescheiterten Übersetzungen ist dabei nicht der Verlust von Geschichte bzw. Zeichen einer nur vergeblich adressierbaren Geschichte – das Gegenteil ist der Fall: Sprache wird nur als gescheiterte Übersetzung historisch. An dieser Stelle scheint es angebracht, die besondere Spezifik zu beschreiben, die sich durch die Tatsache einstellt, wenn diese Transformation des Englischen ausgerechnet durch Chicanos erfolgt. Denn hier – so hatte es schon Frances R. Aparicio mit dem Begriff der «linguistic tropicalization»⁴¹ angedeutet – kommt eine hemisphärische Dimension zum Tragen, die sich nicht nur auf die Frage einer nachträglich sich markierenden Varietät eines Dialekts reduzieren bzw. in das Dispositiv der Varianten eintragen lässt, «innerhalb deren alles gleich überlebenswert sein und unter Naturschutz stehen soll».⁴² Die entscheidende Pointe besteht vielmehr darin, dass diese vermeintliche Nachträglichkeit einer Kolonialgeschichte, die durch die Eintragung von Spuren einer anderen

40 Werner Sollor macht dies mehr als deutlich. Vgl. insbesondere: Werner Sollor: Beyond Ethnicity. Consent and Descent in American Culture. Oxford: Oxford University Press 1986. Dort schreibt er: «The language of consent and descent has been flexibly adapted to create a sense of Americanness among the heterogeneous inhabitants of this country». (259) 41 Frances R.Aparicio: On Sub-Versive Signifiers: U. S. Latina/o Writers Tropicalize English. In: American Literature, Vol. 66, No. 4 (December 1994), S. 796. 42 Anselm Haverkamp: Zwischen den Sprachen. In: Ders. (Hg.): Die Sprache der Anderen. Übersetzungspolitik zwischen den Kulturen. Frankfurt: Fischer 1997, S. 8.

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Sprache sich anzeigt, im Falle des Spanischen eine andere Lesart ermöglicht. Es ließe sich nämlich Cisneros’ Metapher des reinen und weißen Papiers ja auch in dem Sinne deuten, dass diese Eintragung – ich werde auf Beispiele zu sprechen kommen – offenbart, wie sehr diese Art der Übersetzung und Sprachgeschichte am Anfang steht, zumindest dann am Anfang stehen muss, wenn sich eine Neue Welt aus einem Kontext einer Welt von Welten bestimmt und eben nicht als das absolut Andere formuliert. Die spanische Eintragung ins Englische belegt, dass dieses Englische, das Stavans in die Reihe der europäischen Sprachen rückt, im gleichem Maße eine ‘geliehene Sprache’ ist wie das Spanische. Beide Sprachen tragen eine mehr oder minder nachvollziehbare Migrationsgeschichte. Auch in diesem Sinne kommt die von Stavans zitierte aber – Ironie der Geschichte – nicht weiter bedachte Formel von Borges zu ihrem vollen Recht, wonach das Original der Übersetzung untreu ist. Die entscheidende Pointe dieses Aphorismus’ besteht nicht bloß in der bloßen Umkehrung, sondern vor allem darin, dass eine positive und kausale Beziehung nicht das Maß ist, mit welchem eine Übersetzung beurteilt werden kann. Ein Original kann deshalb der Übersetzung untreu sein, weil die Übersetzung die Fehler oder besser: die vom Original unlesbar gehaltenen Implikationen ausstellen kann. Ein hierfür besonders einleuchtendes Beispiel findet sich in The House of Mango Street, jedoch nur, wenn man das Englische als eine Art schlechtes, aber historisches Original begreift und eben nicht auf die Funktion reduziert, eine Position der Differenz zum Ausdruck zu bringen, zu übersetzen. Im Kapitel Four Skinny Trees heißt es: When I am too sad and too skinny to keep keeping, when I am a tiny thing against so many bricks, then it is I look at trees. Four who grew up despite concrete. Four who reach and do not forget to reach. Four whose only reason is to be and be.⁴³

Auf den ersten Blick scheint alles nur eine Varation aus Dopplungsfiguren zu sein: Alliteration, Hendiadyoin und figura etymologica sind offenkundig die strukturellen Prinzipien dieses Absatzes: «too sad» und «too skinny», «tiny thing», «keep keeping», «reach and do not forget to reach», «to be and be». Dass dem nicht so sein muss, verrät schon die zweideutige Wendung «grew despite concrete». Im eigentlichen Wortsinn auf den Beton, auf das Durchbrechen des Betons bezogen, ist dieser Satz natürlich auch anders, literaler lesbar. Das Konkrete zu durchbrechen, als kleines Ding auch noch, die Betonung des Selbstreflexiven («keep keeping» und «whose only reason ist to be and be») fordert geradezu auf, diese Formulierung gegen den Strich des Konkreten, des Gegebenen, des Materials zu lesen. Nur dann, so meine ich, wird die am Ende erfolgte Dopplung von «to be

43 Sandra Cisneros: The house on Mango Street, S. 75.

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 Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung

and be» anders lesbar als das bloße Echo der schon genannten Dopplungsfiguren. «To be and be» ist als schlechtes Original lesbar, wenn man diesen Satz ins Spanische übersetzt, in eine Sprache also, die zwei Verben für das englisch «to be» kennt: Er könnte dann lauten cuya única razón es ser y ser, aber auch: cuya única razón es estar y estar oder – und diese halte ich für die treffendste: cuya única razón es ser y estar bzw. cuya única razón es estar y ser. Diese zwei verschieden Modi des Seins umschreiben nicht nur zwei verschiedene Zeitbezüge des Seins – das sich eher auf einen vorübergehenden Zustand sich beziehende estar auf der einen und das sich eher auf eine dauerhafte Eigenschaft sich beziehende ser auf der anderen Seite –, sondern umschreiben ziemlich genau jene Ambivalenz, die das Denken und vor allem: das Erzählen von Geschichte in Cisneros Texten auszeichnet. Während estar sich auf jene Kontextualität bezieht, durch die sich eine Sprache und ein Diskurs, ja selbst die Erzählung unmittelbar konstituiert und konkret ausformt, bezeichnet das ser des narrativen Diskurses eine historische Kontextualität, die durch die jeweils konkrete Konfiguration durchschlägt und die jene interne, synchrone Relationierung immer nur auf Widerruf zulässt. Diese besondere Dimension dieser spanischsprachigen Eintragung haben Juan Flores und George Yúdice schon 1990 thematisiert und, von der Spezifik der US-amerikanischen Latino-Community ausgehend, in diesem Kontext auch ganz entschieden das Dispositiv der Ethnizität revidiert: The fact is that Latinos, that very heterogeneous medley of races, classes and nationalities are different from both the “older” and the “new” ethnics. To begin with, Latinos do not comprise even a relatively homogeneous “ethnicity.” Latinos include native-born U.S. citizens (predominantly Chicanos – Mexican – Americans – and Nuyoricans – “mainland” Puerto Ricans) and Latin American immigrants of all racial and national combinations: white – including a range of different European nationalities – Native-American, black, Arabic, and Asian. It is thus a mistake to lump them all under the category “racial minority”, although historically the U.S. experiences of large numbers of Mexican-Americans and Puerto Ricans are adequately described by this concept. Moreover, both of these groups – unlike any of the European immigrant groups – constitute, with Native-Americans, “conquered minorities.”⁴⁴

Von hier aus ist es nur ein kleiner und folgerichtiger Schritt, der Figur der Grenze eine Kolonialgeschichte einzutragen, die nicht aufgeht mit der einer emanzipierenden Modernisierung:

44 Juan Flores/George Yúdice: Living Borders/Buscando America: Languages of Latino Self-Formation. In: Social Text, No. 24 (1990), S. 57.

Geschichte als Übersetzung – Übersetzung als Geschichte 

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If the “discovery” of “America” transformed the ocean into a frontier on whose other side lay a “new” world, and if that new world was subsequently defined by the westward movement and capitalization of the margin, under-writing “the record of social evolution” or modernity and providing a “‘safety valve’” for the discontent of a new industrial proletariat” largely comprised of European immigrants, then the latest reconceptualization of America, by Latinos, is a cultural map which is all border […]⁴⁵

Es scheint in diesem Zusammenhang alles andere als Zufall, dass Flores/Yúdice, mehr oder minder bewusst und wie schon García Márquez, eine alte koloniale Gattung rehabilitieren, deren Übersetzungspraxis und -gewalt das ebenso entstellendste wie auch unmittelbarste Moment von Übersetzung ausstellt: Ethnicity-as-practice is primordially genealogical, intent as it invariably is on a recapturing and re-constituting of the past. […] The “alternative chronicle” is more than merely recuperative: it is eminently functional in present self-formative practice and anticipatory of potential historical self-hood.⁴⁶

Man erkennt leicht, wie sich Esperanzas Aneignung einer Geschichte, die mit dem Namen eines Hauses begann, dessen Name anfangs nur ein weiteres Element in einer langen Reihe von Signifikantenmüll war, sich nunmehr anders lesen lässt. Dass hier mehr als eine ethnische Selbstaffirmation Thema ist, begründet sich sowohl mit der Tatsache, dass Esperanza ein mexikanisches Haus gerade nicht durch eine vermittelte Ähnlichkeit zu erkennen vermag, also gerade nicht auf eine genealogische Methode der Abstammung und Herleitung verweist, als auch durch jene Episode, in der die Auswüchse dieser genealogischen Politik als ein notwendiges Fortsetzen von Unwissen qua Reihung präzisiert werden: Those who don’t know any better come to our neighborhood scared. They think we’re dangerous. They think we will attack them with shiny knives. They are stupid people who are lost and got here by mistake […] All brown all around, we are safe. But watch us drive to a neighborhood of another color and our knees go shakity-shake and our car windows get rolled up tight and our eyes look straight. Yeah. That is how it goes and goes⁴⁷

Dieses Weiter-So, das nicht überraschend an jenes zuvor auf biographischer Ebene wirksame Weiter-So der Straßennamen erinnert, problematisiert die soziale Aporie der genealogischen Selbstaffirmation. Diese Art der Übersetzung

45 Ebd., S. 59. 46 Ebd., S. 75. 47 Sandra Cisneros: The house on Mango Street, S. 28.

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 Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung

produziert tatsächlich nichts weiter als inkommensurable «Doppelsprachen».⁴⁸ Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich nur im Kontrast zu einer vermeintlich selbst nicht von Spuren gekennzeichneten Sprache beziehen können bzw. dadurch, dass sie, indem sie die eigene Differenz fremdmarkieren, rückwirkend die Hegemonialsprache als das historisch maßgebliche Zentrum dieser Verhandlung affirmieren. Verstellt ist damit der Blick für all die Bewegungen, die sich zwischen den Sprachen ereignen können. Mit anderen Worten: Statt die Bewegung auf die Positivität ihrer Spuren zu reduzieren, geht es grundsätzlich darum eine «sensibility» (nun im maximal literalen Wortsinn) zu entwickeln, durch die jede Sprache immer wieder und immer wieder aufs Neue ein unbeschriebenes Blatt werden kann und als solches sich eben nicht zentralisiert relationiert. Dafür ist es notwendig, durch den Verzicht auf die genealogisch begründete Positivität die relationale Logik der Übersetzung dezentral zu begründen. Wenn also das Original der Übersetzung untreu ist, dann ist das für diesen Kontext nicht in dem Sinne zu deuten, dass das ‘geliehene Spanische’ sich ins ‘selbstbegründete Englische’ übersetzt bzw. umgekehrt, dass das Englische sich ins Spanische übersetzt. Eine andere Bewegung ist gemeint: Im Zwischen dieser Sprachen eröffnet sich gewissermaßen als Fluchtpunkt eine transareale Perspektive, in der Differenz und Anerkennung nicht nur auf einen Ort zu beschränken sind. Möchte man Flores/Yúdice Glauben schenken, dann ist dies gar eine Notwendigkeit, die vor Schizophrenie schützt: Latino affirmation is first of all a fending off of schizophrenia, of that pathological duality born of contending cultural worlds and, perhaps more significantly, of the conflicting pressures toward both exclusion and forced incorporation.⁴⁹

Nur wenn Differenz nicht als eine in einem schon gegebenen Rahmen funktionierende Positivität verstanden wird, bietet sie – so Flores/Yúdice – tatsächlich die Möglichkeit einer Verhandlung, die mit dem Leben zu tun hat (ethos) und nicht nur mit dem Kontrakt eines vermeintlich allgemein verhandelbaren Konsenses: Latino self-formation as trans-creation – to “trans-create” the term beyond its strictly commercialist coinage – is more than a culture of resistance, or it is “resistance” in more than the sense of standing up against concerted hegemonic domination. It confronts the prevailing ethos by congregating an ethos of its own, not necessarily an outright adversarial but certainly an alternative ethos. The Latino border trans-creates the impinging

48 Anselm Haverkamp: Zwischen den Sprachen, S. 9. 49 Juan Flores/George Yúdice: Living Borders/Buscando America, S. 60.

Geschichte als Übersetzung – Übersetzung als Geschichte 

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dominant cultures by constituting the space for their free intermingling – free because it is dependent on neither, nor on the reaction of one to the other, for its own legitimacy.⁵⁰

Diese Rede von der Transkreation ist, reichlich ironisch, noch zu verschärfen und stellt ein Paradebeispiel der schlechten, aber zutreffenden Übersetzung dar bzw. eines Originals, das tatsächlich der Übersetzung untreu ist. Transcreation wird in diesem Text auf einen Werbeslogan zurückgeführt («When translation isn’t enough, try ‘trans-creation’»⁵¹). Tatsächlich dürfte dieser Terminus nicht nur dem namentlich nicht erwähnten «publicity agent» in den Mund gelegt werden. Transcreation ist ein schon viele Jahre zuvor etablierter Begriff. Der brasilianische Poet und Übersetzer Haroldo de Campos hatte den Begriff der «transcrição» speziell für die Übersetzung von Gedichten verwendet, aber auch als eine bestimmte Einstellung gegenüber Geschichte und Kultur bestimmt und dabei einen Begriff der Übersetzung geprägt, der selbst schon eine übersetzende Deutung von Benjamins Übersetzer-Aufsatz stellt. Mit Borges, de Campos und der Chronik wird das Englische mit einer spanischen «sensibility» tatsächlich transareal lesbar. Die «sensibility» beschränkt sich hier mitnichten auf eine innerhalb von vielen «sensibilities» zu differenzierende Spezialsensibilität; diese «sensibility» impliziert vielmehr auch die Sensibilität für eine andere Geschichte der Differenz. Diese Fragen, die sicherlich eine weitere Berücksichtigung verdient hätten, sollen hier vor allem deshalb von Interesse sein, da sie an einer konkreten kulturpolitischen Situation ausstellen, die sowohl für die Rezeption und das Verständnis von Cisneros ebenso unabdingbar wie auch erschwerend ist als auch die Unterschiede zwischen einer mit dem Roman unvermeidbar werdenden transarealen Geschichtlichkeit und einer lokal entworfenen multikulturellen Ethik verdeutlicht. Auch hierfür bietet sich ein Zitat aus einem Text an, den der in New York mit zentralamerikanischem Hintergrund aufgewachsene Kunstund Kulturkritiker George Yúdice mit dem Titel We are not the world versehen hat: Is being the world – claiming to represent the numerous perspectives of peoples around the world –, however, a legitimate claim for New York (and by extension the United States) to make? Even if “we” could see things from the vantage point of all national formations,

50 Ebd., S. 74. 51 Ebd., S. 69.

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 Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung

there would still be the insurmountable challenge of taking into account the particularisms of region, race, class, gender, religion, and so on within those formations.⁵²

Weshalb das wie auch immer zu deutende US-amerikanische «we» nicht die Welt sein kann, wird ebenso einleuchtend wie auch folgenreich begründet. Die Bewegung, vor allem die Bewegung der Grenzüberschreitung schafft eigene Differenzen, die sich nicht eins zu eins rückübersetzen lassen auf das, was überschritten worden ist und die gleichzeitig – wie zuvor ausgeführt – nicht restlos in dem ‘neuen’ Kontext ausgehandelt bzw. in diesen übersetzt werden können.⁵³ Dass jedoch überhaupt die Frage möglich ist, ob denn ein US-amerikanischer Mikrokosmos eine verdichtete Miniatur der Welt sein kann, begründet sich mit mehr als einer Migration, die im Falle der großen Migrationszentren wie New York, San Francisco, Miami oder auch Los Angeles virtually keine Region dieser Welt auslässt. Nicht minder von Bedeutung ist, dass die Frage der Repräsentation überhaupt Thema sein kann und zwar eine Repräsentation, die sich mit einer bestimmten Wirklichkeit verbinden lässt, ihr gewissermaßen gerecht zu werden hat und die auch zur Verhandlung steht. Diese in einen verdichteten Binnenraum kopierte Repräsentation von Welt als einer Welt von Welten erfährt hier eine politisch-rhetorische Wendung, in der die Dispositive des Narrativen, der Stimme, der Selbst-Entdeckung, kurzum: die Politik der Partikularität die Voraussetzung für soziokulturelle Handlungsfähigkeit bzw. «political engagement» ist. Weltenvielfalt erfährt in dem US-amerikanischen Diskurs der Anerkennung, der auch um das Werk von Sandra Cisneros erbittert geführt wird, eine Wendung, in der die Weltenvielfalt des Romans als ein Medium der Konkurrenz bzw. als ein Medium des Widerstandes scheinbar aufgelöst wird zugunsten einer Weltenvielfalt im Sinne einer binnensozialen Frage. Die Welt des Romans ist soziopolitisches Medium in einer Sprachsituation, in der Vielfalt sich über Differenz reguliert. Es mag dies der hauptsächliche Grund sein, weshalb – um nur ein Beispiel zu nennen – Harold Bloom in seiner Einleitung zu The House on Mango Street von einer bestimmten literaturästhetischen Unmöglichkeit spricht: Rereading The House on Mango Street, some years after first encountering this book by Sandra Cisneros, is not for me a literary experience. What matters about this series of

52 George Yúdice: We Are Not the World. In: Social Text, No. 31/32, Third World and Post-Colonial Issues (1992), S. 202. 53 Vgl. ebd.: «[…] crossing borders still unleashes difference. We cannot show the world how to discover itself; we are not the world.» (215)

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linked narratives is social testimony, or the anguish of a young woman confronting the dilemmas of Mexican-American identity.⁵⁴

Schon 1992 hat Yúdice diese Problematik antizipiert, wenn er am Beispiel einer Künstlerin aus San Salvador anführt und auch jenseits der Literatur die Entkünstlichung von Kunst im Falle von Minderheitenkulturen nachvollzieht: From a mainstream perspective, she explained, her neo-abstract expressionist works were considered derivative, as if only “Americans” and Europeans could legitimately work in this style; but from a “multicultural” perspective, too, her work was found wanting because she did not wear her identity on her sleeve – or rather her canvas – thus not embodying the aesthetic ethos sought out by alternative art institutions.⁵⁵

Ich möchte diese Problematik etwas anders als hier angedeutet entwickeln und das meint konkret: nicht im Kontext von diskurstheoretischen Debatten, die ja, indem sie ausstellen, wie es möglich ist, etwas als künstlerische bzw. literarische Erfahrung einzuordnen, noch nichts darüber sagen, was denn diese Erfahrung auszeichnet. Es scheint mir, dass ein zur diskurskritischen Analyse komplementärer Ansatz den Begriff der Differenz selbst problematisieren sollte. Etwas vereinfachend formuliert: Ich meine, dass die Erfahrung des Künstlerischen im sozialen Text (und man lese hier: Text im weitesten Sinne) deshalb unmöglich ist, da diese Erfahrung nur als intern relationierte verstanden wird, als eine, die sich nur auf einen schon gegebenen Ereignisraum von Differenz beziehen kann und gewissermaßen keine Äußerlichkeit kennt, sich nicht jenseits dieses Ereignisraums relationieren kann. So zwingend also der Zusammenhang von Differenz und Vielfalt zu sein scheint, so zwingend soziale Vielfalt sich über soziale Texte und eben nicht über literarische Erfahrungen einzustellen scheint, so wenig ist doch jene Setzung ungefragt anzunehmen, wonach Vielfalt sich allein durch Differenz einstellt, durch die Konsistenz einer Differenz, durch das Repräsentative und Verlässliche einer Erfahrung, sondern ebenso (und vielleicht noch wesentlich grundlegender) als eine Relation. Dies zu erkennen jedoch wird nur dann möglich, wenn es gelingt, die multirelationale Logik des Textes gegen eine binäre Logik von Differenz lesbar zu halten. An dieser Stelle bietet es sich an, der Formel einer Welt von Welten eine andere Pointierung zu verleihen. Wie an den nachfolgend darzustellenden Debatten um Cisneros’ Werk deutlich werden sollte, ist es durchaus fragwürdig, wenn man Weltenvielfalt in dem Sinne

54 Harold Bloom: Introduction. In: Ders. (Hg.): Sandra Cisneros’s The House on Mango Street (Bloom’s Modern Critical Interpretations). Philadelphia: Chelsea House 2004, S 7. 55 George Yúdice: We Are Not the World, S. 206.

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 Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung

übersetzt, dass es tatsächlich um eine Welt von Welten geht. Anders formuliert: Eine Welt als numerische Angabe und eben nicht als unbestimmter Artikel verstanden, mag durchaus dazu verleiten, dass es einen letzthinnigen Horizont zu bestimmen gilt, vor dessen Hintergrund die Spezial- und Einzelwelten vermittelt werden müssen. Im Gegensatz dazu bietet es sich an, Weltenvielfalt insofern als einen Horizontbegriff zu begreifen, als nicht die Vielfalt der Welt selbst einzusehen ist (das setzt eine eigentümliche Metaposition voraus, die ja dennoch Welt ist), sondern die Vielfalt einsichtig wird am Bruch des Eigenen. Das meint die Problematik des (Welt-)Entwurfs, die Frage der Vision: Nicht die eine Welt wird entworfen, sondern eine Relation, durch welche Welt sich als potentiell überschrittene begreifen muss. Wäre dem so, dann wäre es folgerichtig, die Formel einer Welt von Welten in dem Sinne zu deuten, dass die eine Welt nicht DIE Welt meint, sondern eben nur die eine Spezialwelt, die sich als eine Welt von Welten begreifen muss und in dieser Relationalität noch nichts darüber sagt, ob sie deshalb auf einen letzthinnigen Horizont verweist. Geoffrey Sanborn hat dies in einem ähnlichen Sinne an der Eigensinnigkeit der Erzählerin von The House on Mango festgemacht. Deren Eigensinn («waywardness»,)⁵⁶ ist dabei weniger in dem offenkundigen Sinne zu deuten, dass der Text seine eigene Bedeutung gegenüber dem sozialen Diskurs behauptet als vielmehr in dem Sinne zu verschärfen, dass nur in diesem Widerstand gegen die kulturelle Allegorie ein tatsächlich von Überschreitung konstituierter Raum denkbar wird. Da Sanborn⁵⁷ diesen Aspekt konzise zusammenfasst, ist es angebracht, sein Argument etwas ausführlicher zu zitieren: With an extraordinary consistency, Cisneros’s critics have argued that the literary space of Mango Street is continuous with the lived space of Mango Street, that the imaginative and personal space of the novel is inseparable from the material and historical space of the barrio. Some, like Renato Rosaldo, have argued that these two spaces are ontologically identical, that Esperanza creates herself, „through imagination and whimsy, from within a living, changing tradition“ (92; emphasis added). Others, like Erlinda Gonzalez-Berry and Tey Diana Rebolledo, have argued that the spirit of the actual Mango Street so thoroughly suffuses the memories that supply the material of the novel that Mango Street is in effect “a part of her – an essential, creative part she will never be able to leave” (114–15). By minimizing the waywardness of Esperanza’s inner life, these critics turn Mango Street into an embodiment of what Iris Marion Young has described as the “com-

56 Geoffrey Sanborn: Keeping Her Distance: Cisneros, Dickinson, and the Politics of Private Enjoyment. In: PMLA, Vol. 116, No. 5 (Oct., 2001), S. 1336. 57 Natürlich ist dies ein pun, aber ein vielsagender: Sanborn ist auch der Name der in Mexiko so erfolgreichen Restaurant- und Kaufhauskette Sanborns, die von kalifornischen Einwanderern gegründet wurde.

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munitarian ideal”: a mode of social organization that has “no ontological exterior, since it realizes the unity of general will and individual subjectivity” and “no historical exterior, for there is no further stage to travel” […]⁵⁸

Hierfür ist nötig, die Schauplätze dieser Differenz zu bestimmen und sie in ihrer Verfestigung nachzuvollziehen. So geht es zum einen um den Bezug zu den Politiken und Rhetoriken des Multikulturalismus. Dabei ist weniger das Paradigma der Inklusion bzw. Exklusion die hier entscheidende Frage, sondern die, wie dieser Bezug überhaupt möglich wird. Anders gefragt: Welcher implizite Literaturbegriff spielt hier herein, wenn Literatur soziopolitisch instrumentalisiert werden kann. Dabei ist weniger die Tatsache, dass Literatur soziopolitisch wirksam ist zu kritisieren, als die Tatsache, was von Literatur bleibt, wenn sie darauf reduziert wird. Die entscheidende Figur dieser Debatte, so meine ich, ist hier die der Stimme und zwar in allen ihren Spielarten – Stimme haben, Stimme erheben, Stimmrecht einfordern, von Stimmung zeugen, verstimmlichen und bestimmen, aber auch verstimmen und abstimmen. Nicht nur als Konsequenz aus dieser semantischen Vielfalt von Stimme lässt sich die Frage begründen, inwiefern die hier wirkenden Dispositive von Diskurs und Sprache anders entworfen werden können als im Dienste einer Positivität von Differenz. Zum anderen – und gewissermaßen als eine Alternative zu einem wie von Taylor entworfenen US-amerikanischen Multikulturalismus⁵⁹, dessen aporetische Grundanlage Hamacher⁶⁰ dargelegt hat – möchte ich ausführen, dass sich Cisneros’ Romanwerk dafür eignet, das strukturelle Prinzip der Weltenvielfalt dadurch zu erhalten und deuten, dass sowohl die relationale Logik nicht durch das Regime der Differenz reguliert wird als auch das Prinzip der Konkurrenz zwischen Welten bestehen bleibt – eine Konkurrenz, die strukturell dem Modell des Konsenses über Differenz entgegensteht. Diese im engeren Sinne gattungstheoretische Debatte schließt insofern an den ersten Aspekt an, als die Figur der Stimme sich nun im Kontext einer Poetik beschreiben lässt, die mit dem, was ich das lyrische und das epische Dispositiv nennen werde, durchaus gegenläufige Momente in sich vereint und ausstellt.

58 Ebd., S. 1336. 59 Vgl. hierzu: Charles Taylor: Multiculturalism: Examining the Politics of Recognition. Princeton: Princeton University Press 1994. 60 Vgl. hierzu: Werner Hamacher: Heteroautonomien – On 2 many Multiculturalisms. In: Liebsch, Burkhard/Menisink, Dagmar (Hg.): Gewalt verstehen. Berlin: Akadmie Verlag 2003, S. 157- 202.

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7.4 Caramelo: Hundert Jahre Soledad Sandra Cisneros’ Caramelo, 2002 erschienen, ist in gleich mehrfacher Hinsicht ein bemerkenswerter Roman. Es ist der erste Roman der Chicana-Literatur, der zeitgleich auf Englisch und Spanisch erscheint und – soweit ich sehe – der erste Chicano-Roman, der diese inter- und transkulturelle Geschichte in Form einer Familiensaga erzählt und in eine weitreichende Geschichte der Amerikas einbettet. Die Zentralmetapher des Romans – der rebozo – ist Metapher einer vielfach verwobenen Geschichte, einer Geschichte, die es zwar anzueignen gilt, die aber – und das stellt der Roman pausenlos aus – eine von vielen Stimmen erzählte, eine in diesem (und allenfalls in diesem Sinne) kollektive Geschichte darstellt, die sich nicht restlos aneignen lässt und eigentümlich widerständig bleibt. Caramelo mag zu Recht als eine Allegorie der Geschichte als Migration begriffen werden, die am Paradigma der mexikanisch-US-amerikanischen Migration den Gestus der Saga nur deshalb bemüht, um ihn – wie schon in CAS – seiner strukturellen Unmöglichkeit zu überführen. Keine Geschichte – auch wenn sie dies behauptet – setzt unbedingt oder gar unbelastet an, jeder Geschichte ist schon ein Anfang vorgelagert, der jede Lokalität, jede Spezifizität und jede Erinnerung als Spur und Effekt einer anderen Geschichte zu denken nötig macht. Dass Ort und Zeitpunkt einer Geburt präzise bestimmbar sind, bedeutet noch lange nicht, dass die Geschichte damit beginnen kann. Geburt ist vielmehr ein Moment, von dem aus eine Geschichte sich perspektivieren und auch fortspinnen und verdichten lässt, nicht aber restlos einholen oder gar begründen. Wie der sich im Verlaufe einer Familiensaga sich wiederholende Liebesakt, aus dem eine neue Generation resultiert, so ist auch diese Metapher ebenso eine historiographische Metapher und – so wird im Laufe des Romans deutlich – auch Metapher der Erzählung selbst. Auch die Erzählung ist eben dies: kein absoluter Anfang, sondern Verdichtung und Fortsetzung, eine mit Variationen versehene Wiederholung. Dieser Aspekt ist Cisneros so wichtig, dass sie es sich nicht nehmen lässt, sowohl im Text als auch in einer der zahlreichen Fußnoten des Romans die Geschichte des rebozo im Sinne einer globalisierten Migrations- und Austauschgeschichte zu erläutern, einer sich verwebenden Migrationsgeschichte, deren Bewegungsgeschichte selbst vorzeitig ist. Dass Dinge, insbesondere seit der iberischen Kolonialzeit, mehrere Ursprünge haben und im speziellen Falle des rebozo sowohl transatlantische wie auch transpazifische Übersetzungen implizieren, ist dabei die grundlegende Einsicht. Allerdings führt dies noch lange nicht zu einer vereinigenden Figur, da die Transformationen ebenso eine Übersetzung bedeuten wie auch eine Destabilisierung der Ursprünge:

Caramelo: Hundert Jahre Soledad 

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The art of las empuntadoras is so old, no one remembers whether it arrived from the east, from the macramé of Arabia through Spain, or from the west from the blue-sky bay of Acapulco where galleons bobbed weighted down with the fine porcelain, lacquerware, and expensive silk of Manila and China. Perhaps, as is often the case with things Mexican, it came from neither both.⁶¹

In der unmittelbar dazugehörigen Fußnote wird diese Geschichte, nun nicht mehr durch die Erzählerin Lala fokalisiert, mit einem «quentessential Mexican» rebozo belegt, die bezeichnenderweise auch die Dichotomie des Eigenen und Fremden einführt. The rebozo was born in Mexico, but like all mestizos, it came from everywhere. It evolved from the cloths Indians women used to carry their babies, borrowed its knotted fringe from Spanish shawls, and was influenced by the silk embroideries from the imperial court of China exported to Manila, then Acapulco, via the Spanish galleons. During the colonial period, mestizo women were prohibited by statutes dictated by the Spanish Crown to dress like Indians, and since they had no means but clothing like Spaniards’, they began to weave cloth on the indigenous looms creating a long and narrow shawl that slowly was shaped by foreign influences. The quintessential Mexican rebozo is the rebozo de bolita, whose spotted design imitates a snake-skin, an animal venerated by the Indians in pre-Columbian times.⁶²

Ist dies nun ein rhetorischer Widerspruch? So sehr man dieser Diagnose zustimmen könnte, denke ich doch, dass die Tatsache, dass diese beiden Textstellen unmittelbar aufeinander folgen, kein rhetorischer Unfall ist, der Caramelo doch einer Ursprungsrhetorik überführt. Mit nicht minder gutem Recht lässt sich dieses Doppel als die Ambivalenz eines historischen Erbes begreifen. Im Akt der Narration wird ebenso deutlich, dass Geschichte konstruiert ist und dass andererseits diese Konstruktion keine unkonditionierte ist, so dass jedes Fortleben auch ein Vergessen, jede Fortsetzung auch ein Ende impliziert. Wie schon in CAS an den beiden, für die Kammer des Melquíades ausgemachten Modi intakter Gegenwart und vermüllter Vergangenheit, wird das Schreiben der Geschichte auch hier als eine ambivalente Erfahrung figuriert, die im Knoten ebenso das Bild einer Verbindung wie auch einer nicht weiter einsehbaren und auflösbaren Verknotung impliziert. Für diese Deutung spricht auch die Tatsache, dass diese ganz besondere Produktionsgeschichte in eben dieser Ambivalenz des Knotens explizit beschrieben wird. Lalas Ururgroßmutter ist einmal Anfangspunkt einer

61 Sandra Cisneros: Caramelo, S. 92. 62 Ebd., S. 96.

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 Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung

kontinuierlichen Weitergabe, deren Kontinuität letztlich auch das Verknotungspotential dieser Geschichte mit produziert: Guillermina’s mother had taught her the empuntadora’s art of counting and dividing the silk strands, of braiding and knotting them into fastidious rosettes, arcs, stars, diamonds, names, dates, and even dedications, and before her, her mother taught her as her own mother had learned it, so it was as if all the mothers and daughters were at work, all one thread interlocking and double-looping, each woman learning from the woman before, but adding a flourish that became her signature, then passing it on.⁶³

Die Erfahrung, die Soledad, die awful grandmother von Lala, macht, als sie selbst einen rebozo vollenden, eine Geschichte fortsetzen soll, ist hingegen die Erfahrung der Verknotung, nicht der Fortsetzung. Das Hinzufügen des Eigenen, das sich in der Ursprungserzählung so harmonisch in das Tradierte fügte, als Hinzufügung gerade nicht die Zersetzung des Tradierten implizierte, wird nun zu einer zumindest problematischen Figur: It is only right then, that she [Soledad, PVO] should have been a knotter of fringe as well, but when Soledad was still too little to braid her own hair, her mother died and left her without the language of knots and rosettes, of silk and artisela, of cotton and ikat-dyed secrets. There was no mother to take her hands and pass them over a dry snake skin so her fingers would remember the patterns of diamonds. When Guillermina departed from this world into that, she left behind an unfinished rebozo, the design so complex no other woman was able to finish it without undoing the threads and starting over. – Compadrito, I’m sorry, I tried, but I can’t. Just to undo a few inches nearly cost me my eyesight. – Leave it like that, Ambrosio said. – Unfinished like her life. Even with half its fringe hanging unbraided like mermaid’s hair, it was an exquisite rebozo of five tiras, the cloth a beautiful blend of toffee, locorice, and vanilla stripes, flecked with black and white, which is why they call this design a caramelo. The shawl was slippery-soft, of an excellent quality and weight, with astonishing fringe work resembling a cascade of fireworks on a field of sunflowers, but completely unsellable because of the unfinished rapacejo. Eventually, it was forgotten, and Soledad was allowed to claim it as a plaything.⁶⁴

Etwas als ein »plaything» einzufordern («to claim») ist eine nicht minder ambivalente Metapher als der Knoten. Natürlich ist damit einmal der Anspruch eingefordert, mit etwas spielen zu können, das die Schwere einer vorzeitigen Geschichte in sich trägt. Im Spiel lässt es sich immer wieder neu entwerfen. Zum

63 Ebd., S. 93. 64 Ebd., S. 94.

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anderen ist diese Befreiung auch ein Verlust, sofern die verwobene Geschichte nur noch als Spiel existieren kann und das meint: immer nur in jener Form des Als-Ob, von dem schon Freud überrascht feststellte, dass es sowohl das Kind als auch der Erwachsene so ernst nehmen. Im Falle von Soledad wird diese Transformation auch noch in einem anderen Sinne als Spiel zu deuten sein. Ihre Geschichte transformiert sie in ein Schauspiel, wenn sie ihre eigene Geschichte im Spiel und Format der telenovela wiederholt und so höchstselbst einen Anspruch an Geschichte als «plaything» stellt. Die fettgedruckte Type weist Soledad als Sprecherin der folgenden Worte aus: So this part of the story if it where a fotonovela or telenovela could be called Solamente Soledad or Sola en el mundo, or I’m Not to Blame, or What an Historia I’ve Lived.⁶⁵

Doch Geschichte bricht nicht ab – sei es, weil sie zum «plaything» absinkt oder aber neu verknotet wird: After Guillermina’s sudden death, Ambrosio felt the urge to remarry. […] He tied knot with the baker’s widow […] Because, to tell the truth, after remarrying, Ambrosio Reyes lost interest in his daughter the way one sometimes remembers the taste of a sweet but no longer longs for it. The memory was enough to satisfy him. He forgot he had once loved his Soledad […]⁶⁶

Wie schon bei José Arcadio, der ja «había olvidado porque la vida del mar le saturó la memoria con demasiadas cosas que recordar»⁶⁷ setzt Erinnerung ein Begehren voraus, genau jenes Begehren, das Ambrosio zu des Bäckers Witwe führte, jenes Begehren, weswegen der Erwachsene und auch das Kind ihr Spiel so ernst nehmen und genau jenes Begehren, das schon im zweisprachigen Epigraph des Romans steht: «Cuéntame algo, aunque sea mentira. Tell me a stroy, even if it’s a lie.»⁶⁸

65 Ebd., S. 95, kursiv und fett im Original. 66 Ebd. 67 CAS, S. 117. 68 Sandra Cisneros: Caramelo, o.A. An dieser Stelle ist auf Marthe Roberts Theorie des Romans zu verweisen. Wenn sie im Familienroman des Neurotikers und in seinem Versuch, die Enttäuschung und Scham über die eigenen Eltern zu verdrängen, den Urroman vermutet und davon zwei verschiedene Erzählungen ableitet – die Erzählung des Findelkindes oder aber die des Bastards –, dann scheint es nur allzu verführerisch, just dieses Doppel in diese Erzählung und auch in die von CAS zu projizieren. So reizvoll dies auch sein und als metahistorische These tragen mag, möchte ich hier Metaphern des Erzählens selbst erblicken. Dem Erzählvorgang ist ja insofern dieses Doppel schon eingelassen, als die beiden Zeitmodi – der Moment, da im Erzäh-

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 Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung

Was in CAS noch strukturell zum Ausdruck kam – die Geschichte vollzieht sich einmal als Ereigniskette des Begehrens und einmal als schon erzählte, wird einmal nacherlebt und einmal nacherzählt –, wird hier beständig explizit gemacht. Immerzu wird dieses Doppel von Erzählzwang und erzähltem Zwang miteinander verschränkt. Speziell in diesem Abschnitt – dem zweiten Abschnitt des Romans, in dem der Dialog zwischen der Erzählerin Lala und ihrer Großmutter fingiert wird, ist der Erzählfluss ständig unterbrochen von selbstbezüglichen Fragmenten, die danach fragen, wie sich Geschichte zitieren lässt und – wenn dem so ist – wessen Geschichte es dann noch ist. Just dieser doppelte narrative Zwang – es ist eine begehrte Geschichte und eine, die einer Form bedarf, da diese Geschichte als unfortsetzbarer Knoten auf keine natürlich entsprechende Vollendung mehr hoffen kann – kommt hier, wie in CAS, dadurch zum Ausdruck, dass auch in Caramelo die schicksalhafte Wendung des «SichErinnern-werden-Müssens» («[…] había de recordar el día en que su padre […]»)⁶⁹ mit Bezug auf den Vater zitiert wird. Der Bezug des Vaters ist in beiden Fällen, wenn man so möchte, der Grund dafür, dass die Geschichte unterbrochen ist, und in beiden Fällen wird eine Familiengeschichte verdrängt: José Arcadio gründet Macondo, um die Vergangenheit zu vergessen, Ambrosio Reyes eine neue Familie: The unfinished caramelo rebozo, two dresses, and a pair of crooked shoes. This was what she was given when her father said, Good-bye and may the Lord take care of you, and let her go to his cousin Fina’s in the capital. Soledad would remember her father’s words.⁷⁰

Diese Einführung war tendenziös, aber auch begründet tendenziös: Wenn CAS die Allegorie der Neuen Welt als hypothekenbelasteter Anfang aus der Sicht der südlichen Hemisphäre ist – wäre es dann vermessen zu behaupten, dass Caramelo die dem entsprechende Allegorie dieser Geschichte aus einer nunmehr anderen Perspektive ist, die sozusagen der nördlichen Hemisphäre der Amerikas – gegen die dort vorherrschende Fixierung aufs Neue – genau diese Art hypothekenbelasteter Geschichte einträgt? Ist auch Caramelo wie CAS ein Roman, der eine nationale Erzählung nicht nur revidiert, sondern auch ihrer Unmöglichkeit überführt?

len alles verfügbar wird und der Moment, da in gerade dieser Verfügbarkeit das schon Gegebene, das schon Verlorene und Unabänderliche ausstellt – immer schon die Möglichkeit der einen oder anderen Erzählung bereithält. Vgl.: Robert, Marthe: Roman des origins et origins du roman. 69 CAS, S. 9. 70 Sandra Cisneros: Caramelo, S. 95.

Caramelo: Hundert Jahre Soledad 

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Auf diese Fragen werde ich weiter unten eingehen. An dieser Stelle möchte ich zunächst auf einer strukturellen und textuellen Ebene die Assoziation mit dem Roman des Kolumbianers begründen. Caramelo erzählt – und zwar im Literalsinn des Namens – die Geschichte von hundert Jahren Soledad. Die Großschreibung markiert bereits, dass hier nicht die Einsamkeit zitiert ist, sondern ein Name. Soledad ist der Name der Großmutter der Erzählerin Lala. Der Roman behandelt eine Zeitspanne von ziemlich genau 100 Jahren. Die Geschichte beginnt, da die Familienerzählung ansetzt – also von dem Moment an, da sich Soledad Reyes und ihr späterer Ehemann Narciso Reyes im vorrevolutionären Mexico begegnen – und endet mit dem im Roman selbst immer wieder betonten Ereignis der Erzählung dieser Geschichte durch Lala, im Chicago der 70er Jahre. Diese Geschichte ist insofern die Geschichte von Soledad, als es, zumindest in gewisser Hinsicht, ihre Geschichte ist – wie es die zahlreichen, fingierten Dialoge der Erzählerin mit der Großmutter belegen –, die erzählt wird und sie jene Unterbrechung darstellt, durch welche die Geschichte einer neuen Erzählung bedarf. Sie erst löst ja insofern einen Bedarf an narrativer Wiederholung von Geschichte aus, als ihre Geschichte die erste ist, die Lala jener Zeit entreißt, da sie Staub war⁷¹ und da die Verkettung der Geschichte nicht mehr nachzuvollziehen war: When I was dirt is when these stories begin. Before my time. Here is how I heard or didn’t hear them. Here is how I imagine the stories happened, then.⁷²

Dieser narrative Konflikt ist so grundlegend, dass es lohnt, ihn mit einer längeren Passage zu belegen und dabei gleichzeitig aufzuzeigen, wie sich dieses Erzählen zumindest was die eigene Souveränität betrifft, ironisiert und problematisiert und das nicht zuletzt auch durch interlinguale Interferenzen. Diese waren ja schon im imaginären Titel für die Biographie der Großmutter «What an Historia I’ve lived» angedeutet. Dieses kurze Beispiel mag insofern als ein paradigmatisches gelten, als es auch die gesamte Strategie dieses Romans umschreibt. Der History soll eine Historia eingetragen werden und – darauf komme ich noch zu sprechen – nicht als Exzess oder als eine Form von Zusatz, sondern als die Wiederaufnahme eines älteren und doch nicht organisch fortzusetzenden Knotens:

71 Sandra Cisneros: Caramelo, S. 88. 72 Ebd., S. 88.

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 Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung

Celaya, why are you so cruel with me? You love to make me suffer. You enjoy mortifying me, isn’t that so? Is that why you insist on showing everyone this … dirt, but refuse me one little love scene? For crying out loud, Grandmother. If you can’t let me do my job and tell this story without your constant interruptions… All I wanted is a little understanding, but I see I was asking for too much. Just trust me, will you? Let me go on with your story without your comments. Please! Now, where was I? You were telling cochindas. I was not being filthy. And to tell the truth, you’re getting in the way of my story. Your story? I thought you were telling my story? Your story is my story. Now please be quiet Grandmother, or I’ll have to ask you to leave. Ask me to leave? Really, you make me laugh! And what kind of story will you have without me, eh? Well, for one thing, a story with an ending. Now calm down a little, and let me go on with the story. We were in the home of Excaltación, remember? Remember? After all these years, I’m still trying to forget.⁷³

Der Prozess und – durch die unterschiedliche Setzung der Schrifttype deutlich markiert – auch die Materialität der Erzählung ist nicht von dem zu trennen, was erzählt ist. In diesem Sinne ist auch die im letzten Satz geäußerter Ironie – «Your story is my story» – nicht aufzulösen. Natürlich ist sie auch ein Zeichen der Aneignung; diese Aneignung enthält jedoch das nicht restlos zu unterdrückende Moment einer Anerkennung, die darin besteht, dass diese Geschichte eben nicht nur die eigene ist, sich nicht willkürlich aneignen lässt, sondern immer auch auf einen Widerstand stößt, der hier mit der interferierenden Großmutter explizit gemacht wird. Deren Widerstand jedoch ist kein Widerstand des Wirklichen, des Zeugen bzw. einer Person, die es besser weiß, sondern auch und vor allem ein narrativer und genremäßiger Widerstand. Zum einen hat Lala damit umzugehen, dass eine ihrer Quellen, the awful grandmother, ihre Geschichte in ein bestimmtes Format pressen möchte – «Just like a good fotonovela or telenovela».⁷⁴ Alles, was davon abweicht, wird kurzerhand zur Lüge erklärt und zwar aus durchsichtigen Gründen, die in Lalas Version der Geschichte offenkundig werden. Eine durchaus komplizenhafte Qualität der von García Márquez ausgerufenen Formel des «vivir con» wird hier offenkundig und wird in Cisneros’ Texten eigentlich immer dann explizit, wenn es darum geht, die narrativen Dis-

73 Ebd., S. 172. 74 Ebd., S. 105.

Caramelo: Hundert Jahre Soledad 

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positive von Frauenleben zu zersetzen, die den betroffenen Frauen ja überlebensnotwendig sind: Lies, lies. Nothing, but lies from beginning to end. I don’t know why I trusted you with my beautiful story. You’ve never been able to tell the truth to save your life. Never! You must’ve been out of my mind…⁷⁵

Zum anderen hat Lala sich mit dem auseinanderzusetzen, was die Grenze ihres Verständnisses betrifft, des für sie Vorstellbaren. Denn dies, ihre Vorstellung (und gerade nicht eine bessere Kenntnis der Vergangenheit) ist das, was sie der großen Verdrängungsmaschinerie der großmütterlichen telenovela entgegensetzen kann: The less you tell me, the more I’ll have to imagine. And the more I imagine, the easier it is for me to understand you. Nobody wants to hear your invented happiness. It’s your troubles that make a good story. Who wants to hear about a nice person? The more terrible you are, the better the story. You’ll see.⁷⁶

Imagination hat hier also nicht nur die Funktion «to fill in the gaps»,⁷⁷ sondern ist auch jenes Mittel der Wahl, um die Geschichte ihrer genrehaften Verballhornung zu entziehen. «I imagine» ist nicht das, was ‘allgemeine’ Erzählungen vorzustellen vorschreiben. Auf diese Bedingtheit der eigenen Geschichte, auch der eigenen, angeeigneten Geschichte, bezieht sich die Erzählerin auch jenseits dieses fingierten Dialogs. Mit der so mythischen Zeitspanne von hundert Jahren kalkulierend und – obendrein – auf die ‘Verlängerung’ der Familiengeschichte qua Migration sich gründend, ist die Verknotung der Familiengeschichte eine, die ebenso spezifisch wie auch allgemein ist: But it is true. We are but an extension of our ancestors, our several fathers and many mothers, so that if one thinks about it seriously and calculates, at one time hundreds of years ago, thousands of people were relatives-to-be walking across villages, passing each other unknowingly in an out of tavern doorways or over bridges where barges rolled quite beneath, without knowing that in years to come their own lives and those of contemporary strangers would merge several generations later to produce a single descendant and twine them all as family. Thus, in the words of the old, we are all brothers.⁷⁸

75 Ebd., S. 188. 76 Ebd., S. 205. 77 Ebd., S. 188. 78 Ebd., S. 157. Auf die Tatsache, dass das Motiv der Familie innerhalb des Chicano-Diskurses von zentraler Bedeutung ist und gerade im Feminist-Chicana-Diskurs auch die Rede von anderen

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 Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung

Soledad als Name und hundert Jahre als Maßeinheit mag man noch als pun abtun. Es finden sich jedoch noch weitere Aspekte, die diese Assoziation zwischen dem Roman des Kolumbianers und der Chicana begründen und auf ein strukturelles Niveau heben und die in diesen Zitaten schon angedeutet waren. Zum einen lässt sich das erste Zitat als eine Antizipation einer bestimmten, auch in CAS inszenierten Kulmination lesen. Die Erzählung kulminiert mit ihrem eigenen Akt und erzählt dabei etwas, was sie gleichzeitig widerlegt. So wie CAS das Ende von Macondo nur deshalb behauptet, um es als literarische Erzählung zu wiederholen und zu erretten, das Ende von Macondo eigentlich gar nicht behaupten kann, sondern allenfalls eine Transformation, so endet auch Caramelo mit der eigenen Erzählung, die genau das vollzieht, was die Erzählung selbst ausschließt. Am Ende des Romans – auch wieder die Frage modulierend, wem Geschichte aus welchen Gründen gehört – fordert der Vater von der Erzählerin ein Versprechen ein: – But Lala, Father whispers in my ear, -these things I’ve told you tonight, my heaven, I tell them only you, Father says, adjusting the caramelo rebozo on my shoulders properly. – Only you have heard these stories, daughter, understand? Sólo tú. Be dignified, Lala. Digna. Don’t be talking such thinks like the barbarians, mi vida. To mention them makes our family look like sinvergüenzas, understand? You don’t want people to think we’re shameless, do you? Promise your papa you won’t talk these things, Lalita. Ever. Promise. I look into Father’s face, that face that is the same face as the Grandmother’s, the same face as mine. – I promise, Father.⁷⁹

Wie Aureliano Babilonia erkennt sich Lala – auch hier ganz literal – in einem sprechenden Spiegel wieder. Anders als dieser jedoch vergeht Lala nicht mit dieser Offenbarung und kann genau aus diesem Grund diese Geschichte selbst erzählen und auch anders als es die ancestors von ihr fordern. Das zweite Zitat nun, das eine generelle Verwandtschaft zwischen migrierenden Menschen behauptet, umspielt offenkundig auch das Motiv des Inzests. In Caramelo setzt die Geschichte mit genau dem gleichen Verwandtschaftsverhältnis an, das schon die Gründung von Macondo belastete. Soledad Reyes und Narciso Reyes, die Großeltern von Lala, sind miteinander verwandt. Als Lala die erste Begegnung der beiden erzählt, kommt sie unmittelbar darauf zu sprechen:

Chicana-Frauen als sisters hervorsticht, kann hier nicht weiter eingegangen werden. Dennoch möchte ich kurz auf die Verschiebung im Geschlecht verweisen, die im Falle einer Autorin wie Sandra Cisneros alles andere als unbewusst erfolgt. Während The House on Mango Street den Frauen gewidmet war – A las mujeres – ist Caramelo dem Vater gewidmet. 79 Ebd., S. 429–430.

Caramelo: Hundert Jahre Soledad 

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She was ashamed, she was ashamed. The house was throbbing with noise, bubbling over with unpleasant smells, and oh, such an elegant young man! Young man? But they were cousins. That is, cousins of cousins. They were related the way the llama and the camel are related, I suppose. Some wisp of Reyes-ness could be detached in their physiognomy, but they had long ago evolved into separate branches of being. So separate, they did not know they were familia. Because “Reyes” is a common enough name, this was easy enough. And even Narciso, a proud and vain boy who considered himself well educated, did not ever suspect that Aunty and her wolf cubs were Reyes too.⁸⁰

Anders als in CAS ist hier der Inzest nicht als bewusste Urschuld angenommen. Das Motiv der Verwandtschaft erfährt hier eine andere Wendung als die eines Gesetzes und ist von einem anderen Begehren durchzogen als das sexuelle. Sich darüber Gedanken zu machen, wird in einer weiteren Fußnote explizit vom Leser gefordert: My life. That’s what Father calls Mother when he’s not mad. –My life, where did you hide my clean calzones? Mijo, my son. What Mother calls him when she isn’t angry. –They’re in the walnut-wood armoire, mijo. Mijo, even though she isn’t his mother. Sometimes Father calls her mija, my daughter. –Mija, he shouts. Both Mother and I answering, –What? To make things even more confusing, everyone says ma-má, or !mamacita! when some delightful she walks by. ¡Ma-maaaaaaaa! Like a Tarzan yell. ¡Mamacita! like a hiccup. If the delight is a he, -¡Ay, qué papacito! Or, -¡papasote! for the ones truly delicious to the eye. A terrible incestuous confusion. Worse, the insults aimed at mother, Tu mamá. While something charming and wonderful is -¡Qué padre! What does this say about the Mexican? I asked you first.⁸¹

Würde man der Aufforderung Folge leisten, so meine ich zumindest eine mögliche Deutung dessen zu erblicken, was diese ‘inzestuöse Verwirrung’ über die Mexikaner sagt. Angesichts der Behauptung, dass «[…] we’re all brothers»⁸², wird Inzest so sehr als historisches Prinzip umgedeutet, dass die Geschichte des Anderen nicht wirklich eine andere Geschichte sein kann bzw. immer schon eine andere Geschichte ist, die aber nicht von einer relationslosen Alterität ist.

80 Ebd., S. 105. 81 Ebd., S. 307. 82 Ebd., S. 157.

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 Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung

Der Fall der mexikanisch-US-amerikanischen Verquickungen wäre hierfür das beste Beispiel und macht es möglich, jede Geschichte auch anders zu erzählen. Daraus folgend und zum anderen hat der Inzest einen semiotisch-sprachlich folgenreichen Effekt, der sich insbesondere an der Überdetermination von Relationsbegriffen erkennen lässt. Statt einer festen Position innerhalb einer Geschichte und einer Genealogie zu markieren, ist mit der Verwandtschaftsbezeichnung keine eindeutige Verortung mehr gewährleistet. Diese Überdetermination gilt ja nicht zuletzt für den literarischen Diskurs selbst. Es mag deshalb mehr als eine Koinzidenz sein, dass beide Romane, CAS und Caramelo, sowohl mit einen Inzest beginnen als auch mit einem solchen enden und dabei zwei Transformationen bekräftigen: Mit dem ersten Inzest wird der Anfang einer Geschichte aus einer Zeit des «dust» bzw. einer noch namenlosen Welt begründet und mit dem zweiten Inzest wird die Wiederholung der Geschichte außerhalb ihres vermeintlich ursprünglichen Zusammenhangs begründet. Während in CAS diese Koinzidenz von historischer Transformation und vollzogenem Inzest denkbar explizit ist, findet sich die inzestuöse closure in Caramelo wesentlich diskreter angedeutet: It hits me at once, the terrible truth of it. I am the Awful Grandmother. For love of Father, I’d kill anyone who came near him to hurt him or make him sad. I’ve turned into her. And I see inside her heart, the Grandmother, who had been so betrayed so many times she only loves her son. He loves her. And I love him. […] Him inside her, me inside him, like Chinese boxes, like Russian dolls, like an ocean full of waves, like the braided threads of a rebozo. When I die then you’ll realize how much I love you. And we are all, like it or not, one and the same.⁸³

Des Vaters Geschichte – gegen das gegebene Versprechen – als die eigene zu erzählen, vollzieht somit auf symbolischer Ebene jene inzestuöse Vereinnahmung, in die Lala in dem Moment treten kann, wenn auch sie für ihren Vater eine «mamá» sein kann.

7.5 Erzählen als Zitat Sandra Cisneros wählt für ihren Roman Caramelo, der im Untertitel den englisch-spanischen Titel «OR PURO CUENTO» führt, eine gleich mehrfach vermittelte und vermittelnde Eröffnung: Der Widmung «Para ti, Papá» folgt ein auf Spanisch und Englisch verfasster Epigraf, der den Bedarf an Geschichten von

83 Ebd., S. 425, kursiv im Original.

Erzählen als Zitat 

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der Frage nach der Wahrheit entkoppelt: «Cuéntame algo, aunque sea una mentira. Tell me a story, even if it’s a lie.»⁸⁴ Diesen zwei Seiten wiederum folgt auf der nächsten ein Hinweis («Disclaimer»), der die Wahrheit der Erinnerung konsequent narrativ denkt und so die zuvor aufgeworfene Frage der Wahrheit wieder aufnimmt, um sie endgültig zu revidieren: «After all and everything only the story is remembered, and the truth fades away […].»⁸⁵ Dem ersten Kapitel des mit dem Titel Recuerdos de Acapulco überschriebenen ersten Teils wird ebenfalls ein Epigraf vorangestellt, der den Imperativ zur Erinnerung – «Acuérdate de Acapulco»⁸⁶ – aus dem Text von dem Lied María Bonita von Augustín Lara zitiert. Dieser Epigraf schließlich wird – in kursiver Schrift – von der narrativen Stimme selbst kommentiert, indem der Geigenklang als «sweet, but very, very sweet»⁸⁷ beschrieben wird. Von Anfang an markiert dieser mehrfache Aufschub eine Vielstimmigkeit, die nicht die Vielstimmigkeit der Diegese ist, sondern die des Erzählens selbst. Das Erzählen verfängt sich in verschiedenen Instanzen, ohne zu sich zu kommen, ohne sie durch sich selbst organisieren zu können. Es kann sich nur sichtbar machen im Kommentar, der wiederum den Akt des Erzählens zumindest zeitweise stilllegt und im vielfachen paratextuellen Verweis die Erzählung immer neu einbettet. Die volle Ambivalenz von «Puro cuento» kommt hier zum Tragen und genauer: eine Form von Ambivalenz, die sich in Cisneros’ Texten schon deshalb ständig einstellt, da alle Redewendungen immer wieder und zwar möglichst literal rückübersetzt werden, sie so entstellend und verfremdend.⁸⁸ «Puro cuento» ist also ebenso als die bloße Lüge lesbar wie auch als das reine Erzählen, als ein Erzählen also, das nichts weiter als sich selbst zum Gegenstand hat und sich erst gar nicht durch den Gegenstand verführen lässt, eine andere Geschichte als die eigene zu erzählen bzw. den Gegenstand nur insofern sich aneignet, um sich selbst und in dieser Selbsterzählung eine andere als die erzählte Geschichte zu erzählen, die zwar nicht aufgeht mit der Geschichte des Erzählten, aber dieser doch bedarf. Man sieht leicht, worum es geht: Hier erzählt eine Stimme, deren Form sich nur behelfsweise ihres Gegenstands bemächtigen kann, nicht den Gegenstand selbst sprechen lassen kann.

84 Ebd., o. A. 85 Ebd. 86 Ebd., S. 3. 87 Ebd. 88 Vgl. hierzu: Bill Johnson González: The Politics of Translation in Sandra Cisneros’s Caramelo. In: A Journal of Feminist Cultural Studies, Volume 17, Number 3 (2006), S. 5ff.

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 Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung

Nur folgerichtig ist es, dass eine Hierarchie der Stimmen und Instanzen nicht auszumachen ist: Weder der Befehl zur Erinnerung («Acuérdate») noch die narrativ-konstruktivistische Position kontrollieren den Diskurs. Die Motivation ist eine andere: Das Erzählen selbst macht sich zum Teil der Erzählung. Die Situation ist eine paradoxe: Nie holt die Erzählung das Erzählen ein, nie vermittelt sich das Erzählen restlos mit dem Erzählten. Und doch: Entscheidend ist hier der Zusammenhang dieser beiden Ebenen. Denn nur im Zusammenhang wird eine besondere Position deutlich. Hin und her gerissen zwischen dem Begehren nach einer Geschichte und dem Wissen, dass diese Geschichte das Begehren nie vollends befriedigen wird, eröffnet die Erzählerin Lala ihre Geschichte. Der erste Satz des ersten Kapitels, das erste nicht-paratextuelle Element also, führt bezeichnenderweise und ebenfalls nicht in die Handlung ein, in einen diegetischen Raum, sondern bedient sich ebenfalls eines Mediums. Es wird ein Foto beschrieben, von dem ausgehend erst eine noch zu revidierende Erinnerung ansetzt: We are little in the photograph above Father’s bed. We were little in Acapulco. We will always be little. For him we are just as we were then.⁸⁹

Erst dann setzt die narrative Stimme ein und fingiert so etwas wie eine interne Fokalisierung durch die Beschreibung der Reise nach Acapulco, wo das Foto aufgenommen wurde und an welche es erinnern soll. Es ist gewiss kein Zufall, dass schon der erste Satz das Problem der vermittelten Perspektive anspricht («for him»), statt aus der nullfokalisierten Vogelperspektive die im Foto abgebildete Reise zu rekonstruieren. Der Anfang dieser Erzählung oder auch Erinnerung ist in dem Sinne auf den Text selbst zu beziehen, da auch der Text selbst die Grenze zwischen narrativen Text und Paratexte alles andere als evident gestaltet. Die mehrfachen Anfänge dienen als verschiedene, sich nicht fügende Rahmungen, welche die Frage danach, wie und an welcher Stelle dieser Roman beginnt, mithin seine histoire, zu einer nur qua Entscheidung zu beantwortenden macht. Die Vielfalt dieser Rahmungen legt es nahe, diese Paratexte anders als mit der Unterscheidung von histoire und discours zu begründen. Nur dann könnte man die ansonsten nur setzend zu beantwortende Frage stellen, wie sich diese Paratexte zueinander verhalten. Umgangen wäre damit die Verlegenheitslösung, einige der Paratexte der Ebene der histoire und andere dem discours zuzuordnen. Dieses Problem zeigt sich auch in einer weiteren zentralen narratologischen Kategorie: der Perspektive. In Cisneros’ Text ist Perspektive (selbst ein

89 Sandra Cisneros: Caramelo, S. 3.

Erzählen als Zitat 

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räumlicher und nicht nur, wie Bal argumentiert, ein vorwiegend visueller Begriff) mehr als ein Effekt der Ordnung im Diskurs, der in der inneren Logik der Geschichte reflektiert wird; sie ist vielmehr eine ständige und konfliktive Befragung von mindestens zwei verschiedenen perspektivischen Kräften im Text. Der focalisateur (eher in Bals denn in Genettes Sinne) scheint in diesem Fall gespalten zu sein zwischen dem tatsächlichen, vom eigentlichen narrativen Akt (narration) geschaffenen (Multi-)Fokus und jenem Fokus, den die Erzählung vorgibt zu reproduzieren bzw. die in diesem Falle ja selbst immerzu zitierende Stimme von Lala. Angesichts dieser Spaltung scheint es mir angebracht, erneut an das Konzept des Chronotopos anzuknüpfen, mithilfe dessen ja die Organisation der Relation von Innen und Außen relational und auch multidirektional zu denken möglich wurde. Vor dem Hintergrund von erst sich in Interaktion formierenden Chronotopoi wird deutlich, dass diese Ordnungen des Innen und Außen sich nicht ausschließlich im Text begründen lassen und mir scheint, dass Caramelo ein Roman ist, der dies besonders explizit markiert. Vor allem wenn man mit Bachtin davon ausgeht, dass die Sprache des Romans sich unter anderem dadurch auszeichnet, eine «Entzweiung von Intention und Sprache, von Gedanken und Sprache, von Expression und Sprache»⁹⁰ zur Folge zu haben, dann liegt hier eine mögliche Deutung dieser Entzweiung vor. Wie es schon zuvor die Metaphern der «Chinese boxes» und der «russian dolls»⁹¹ suggerierten, ist die Vielzahl möglicher Rahmen nicht in dem Sinne zu deuten, dass eine interne Welt vielfach perspektiviert organisiert ist, sondern eher in dem Sinne, dass jede einzelne die andere begrenzt, organisiert und relativiert, ja auch revidiert, dass also kein letzthinniger Horizont anzunehmen ist, der diese Ebenen final organisieren würde. Dies ist schon deshalb nicht der Fall, da diese Rahmungen sich immerzu in jener prekären Grenze zwischen dem Innen und Außen verorten lassen, zwischen dem, was Zitat im Text und den Text überschreitender Paratext ist, zwischen dem Akt der narration und einer Kommentierung dieses Aktes selbst. Diese kontinuierliche Aufspaltung des Erzählduktus, ermöglicht durch die ständige Bezugnahme auf ein qua Zitat aufgerufenes Anderes der Erzählung, markiert eine Spaltung, die nicht nur dem Erzählen eigen ist, sondern auch für eine in Sprache und Kultur eingetragene Spaltung steht. Im Text selbst wird die vielfache chronotopische Interaktion schon im ersten Satz angezeigt. Neben der Erzählperspektive wird eine mediale («in the photograph»), eine personale («for

90 Michail M. Bachtin: Das Wort im Roman, S. 253. 91 Sandra Cisneros: Caramelo, S. 425.

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 Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung

him») und eine zeitliche Perspektive («then») gewissermaßen zwischen den Akt des Erzählens und das Erzählte gestellt. Entscheidend hierbei ist, dass all diese Behelfsfokalisierungen offenkundig nicht identisch sind mit der Erzählperspektive. Durch die Kombination verschiedener Perspektiven verdichtet sich in der Erzählperspektive kein totalisierender Blick. Zur Geltung kommt vielmehr nur eine weitere Position, die eine multiple Konfiguration ebenso ermöglicht wie von dieser eingeholt wird. Die vielfältigen Anfänge, Paratexte, Fußnoten und Zitate antizipieren eine Erzählstrategie, die nicht Gegenstand einer festen sich verdichtenden Ordnung ist, sondern die personifizierte Drehscheibe vieler Stimmen, vieler Geschichten und Bruchstücke. Anders formuliert: Die Konfiguration dieser Zitate verweist nicht auf einen bestimmten Erzählort, um stattdessen dem Akt des Erzählens selbst einen Ort zuzuschreiben, der sich der Erzählerin immerzu entzieht. Genau dies scheint mir die These zu motivieren, dass der Ort des Erzählens in jedem Falle bereits ein Moment der Überschreitung bereithält. Was also bedeutet «here» im Text? Das erste Mal, dass das Wort „hier“ benutzt wird, scheint es eher ein dort zu meinen, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass dieses Hier den Ort des Fotos bezeichnet: Here are the Acapulco waters lapping behind us, and here we are sitting on the lip of land water. […] Here is Father squinting that same squint I always make when I’m photographed.⁹²

Die Fotografie, selbst eine gerahmte Darstellung, hängt über dem Bett von Lalas Vater. Am Foto also vollzieht sich bereits eine erste Bewegung, da jenes Hier, das sich ja hier auf Acapulco bezieht, in dem Moment ausgesprochen wird, da es – wie man wenige Seiten später erfährt – von einem anderen Hier aus, Chicago nämlich, zitiert wird. Hier ist also der Ort, auf den gezeigt wird, nicht der Ort, von dem aus das Zeigen erfolgt. Der zitierte Ort, nicht der Ort des Zitats ist Ausgangspunkt. Das zweite Mal, dass von einem Hier die Rede ist, benennt diese deiktische Vokabel eine Abwesenheit: I’m not here. They’ve forgotten about me when the photographer walking along the beach proposes a portrait, un recuerdo, a remembrance literally. No one notices I’m off by myself building sand houses. […] Then everyone realizes the portrait is incomplete. It’s as if I didn’t exist.⁹³

92 Ebd., S. 4. 93 Ebd.

Erzählen als Zitat 

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Das Hier des Fotos ist gleichbedeutend mit einem Nicht-Hier der Erzählerin. Gleichzeitig ist nicht von der Hand zu weisen, dass das, was wirklich im Prozess des Lesens gegenwärtig ist, nicht das Foto selbst, sondern die es zitierende Erzählstimme ist. Dann jedoch wäre das «not here» wiederum ein «here». Gerade weil die Erzählerin auf dem Foto nicht abgebildet ist, kann sie eine andere Art der Präsenz einfordern. Dieses Fehlen ist offenkundig die Position der Erzählerin, die mit der Position des Fotografen nicht nur gemeinsam hat, dass dieser wie jene «¿Un recuerdo?, A souvenir? A memory?»⁹⁴ anbieten kann, sondern vor allem, dass um eine Erinnerung anbieten zu können, sie gestalten zu können, man nicht nur Gegenstand dieser Erinnerung sein kann, sondern eben auch jene Instanz, die den Abzug anfertigt. Die Erzählerin deutet die Abwesenheit und das Vergessen-worden-Sein in eine privilegierte Position um, somit die als männlich konnotierte symbolische Machtposition einfordernd, indem – um es in in Lacans Begrifflichkeiten zu sagen – sie eine Geschichte hat, aber diese nicht sein muss. Am Ende des Roman erfährt jenes Hier der Erzählung eine weitere Wendung, eine andere Auflösung, die nicht konform geht mit dem Aneignungsgestus, den die Erzählerin bei der Eröffnung des Romans, aus der Not eine Tugend machend, noch behaupten konnte: This is the family photo from our trip to Acapulco when we were little. But I’m not here […] Same as always, they forgot about me. –What are you talking about? You weren’t making sand castles, Lala. You want the truth? You were mad, and that’s why when we called you over, you wouldn’t come. That’s the real reason why you’re not in the picture.⁹⁵

Das Hier der Narration, das ja auf dem Nicht-Hier der Abbildung sich gründete, wird nun selbst zum Gegenstand der Erzählung und dadurch Gegenstand einer anderen Erzählung, die auch noch vorgibt, es besser zu wissen. Fasst man die genannten Dimensionen dieses Hier zusammen, so lassen sich mindestens vier relationale Knoten ausmachen: «Here» bezieht sich einmal auf einen erzählten Ort (Acapulco), dann das material-medialisierte Hier des Fotos (Chicago), dann das Hier, von dem aus dieses erste Hier zitiert und kommentiert werden kann, und schließlich das Hier eines anderen Diskurses, der diesen Erzählakt selbst noch einmal revidiert. Hier verdichtet in sich die dem Roman eigene Weltproblematik. Mehr noch als in The House on Mango Street kann der Begriff der Vermittlung hier nicht mehr in dem Sinne auf den Ausdruck einer Stimme setzen, dass eine bestimmte Subjektposition unmittelbar artikuliert wird. Die Vielzahl von

94 Ebd., S. 4. 95 Ebd., S. 422.

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 Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung

unterschiedlichen Verweisen vermag zwar auch Hinweise auf eine bestimmte Subjektposition enthalten, ihr unmittelbarer Ausdruck ist aber nicht der Gegenstand dieser Collage. Sollte man also den vielen, in den zahlreichen Paratexten aufgerufenen Verweisen auf das semantische Feld der Lüge, der Erinnerungen, des Narrativen und der insgesamt dialogischen Verweise folgen, dann stellt sich nicht nur die Frage nach den all diesen genannten Signalworten immer schon eingeschriebenen subjektiven Brechungen. Vielmehr drängt sich die Überlegung auf, inwiefern die multirelationale Logik literarischer Narrationen – biographische-gattungstypische, sprachlich-diskursive, auf den Referenten bezogene, durch Kommunikation sich generierende und vom Begehren des Subjekts durchkreuzte Logiken – eine Vermittlung darstellt, die nicht in einer Gesamtschau mündet, in der alle Aspekte gleichermaßen zu ihrem Recht kommen und gleichzeitig klar voneinander zu trennen wären. Die sich stattdessen anbietende Art von Vermittlung wäre eher als eine zu denken, deren aporetische Vielfalt und Gleichzeitigkeit aus der Narration eine eigenständige Entität macht, die nur schwerlich voll und ganz von einem Subjekt beansprucht werden kann. Mit anderen und etwas polemisch argumentierenden Worten: Am Ende ist die Geschichte nicht Ausdruck eines Subjekts – auch wenn sie von diesem begehrt wird – und auch nicht Summe und Zusammenführung disparater Elemente, sondern allem voran eine eigene Geschichte oder – wie es der Roman schon ankündigt: «PURO CUENTO». Die bereits angedeutete These lässt sich weiter präzisieren: Vermittlung kann in Caramelo nur die des Erzählten mit dem Erzählen selbst meinen. An der Erzählung wird nicht nur eine Geschichte im Sinne von histoire explizit gemacht, sondern auch und vor allem die Geschichte des Erzählens selbst. Nicht restlos zu leisten ist diese Vermittlung aus gleich zwei Gründen: Zum einen erweist es sich als unmöglich zu entscheiden, welche der beiden Erzählungen die allegorische Folie der jeweils anderen abgibt. Zum anderen und daraus folgend, sind beides Geschichten, die einem Begehren gehorchen, das wiederum gegenläufigen Kräften folgt. Während der Wunsch, eine Geschichte zu haben – «Tell me a story, even if it’s a lie» –, ein prinzipiell externalisierbarer Wunsch ist, also tatsächlich das Begehren einer Geschichte betrifft, fordert das Begehren des erzählenden Subjekts als das Begehren der eigenen Geschichte – «I have invented what I do not know and exaggerated what I do» – eine Internalisierung dieser Lüge bzw. inventio. Das Bedürfnis nach Geschichte steht immer auch ein stückweit dem Bedürfnis der souveränen Aneignung entgegen, so dass es stets um zwei Geschichten des Begehrens geht, deren jeweilige Artikulation die jeweils andere ausschließt und die doch nur im Zusammenspiel dargestellt werden können. Nicht umsonst endet der Roman mit dem Eingeständnis, dass – anderes als in CAS – diese Kräfte gerade nicht zu einer Synthese oder zumindest in ein ausge-

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wogenes Verhältnis gebracht werden: «I am homesick for a country, that doesn’t exist anymore. That never existed. A country I invented.”⁹⁶ Über den narratologischen Allgemeinplatz hinaus, wonach Narrationen immer auch Konstruktionen sind, ist die entscheidende Frage hierbei, anhand welcher Medien sowohl die erzählten Ereignisse als auch die Aktivität des Erzählens selbst in eine bestimmte emotionale und kommunikative Konfiguration gebracht werden, die das Erleben dieser Erzählung in beiderlei Sinne (als Akt und als Objekt) ermöglicht. Geschichte bzw. story meint deshalb immer zweierlei und ist ein hochgradig reflexiver Begriff. Die folgenden Kapitel, in deren Duktus das Präsens des Erzählens und die Präsenz der Erzählerin stets markiert ist, setzen mit dieser Autofahrt von Chicago bis Mexiko-Stadt an, ohne jedoch das Verhältnis der beiden Zeiten – die erzählte Zeit und das Präsens des Erzählens – weiter explizit zu problematisieren. Die Erzählung, gerahmt vom Blick auf das Foto, findet einen ihrer ersten Höhepunkte zweifelsohne in der Ankunft, deren Schilderung der anfängliche Blick noch anzumerken ist: Green Impala, white Caddy, red station wagon. We hobble forward, each car filthier than the next – inside and out – dust and dead bugs and vomit. The road crowded with buses and big trucks lit like Christmas trees as we get closer. No one even tries to pass each other. Kilometers, kilometers… Then all at once, after we’ve forgotten ya mero… – ¡Ay, ay, ay, ay! There it is! A silence in the car. A silence in the world. And then… The rising in the chest, in the heart, finally. The road suddenly dipping and surprising us as always- There it is! Mexico City! La capital. El D.F. La capirucha. The center of the universe! The valley like a big bowl of hot beef soup before you taste it. And a laughter in your chest when the car descends.⁹⁷

Diese sehr emotionale Schilderung einer Ankunft in Mexiko Stadt sollte ihrem Überschwang zum Trotz nicht nur als ein unbeschwerter Ausdruck der Freude und des schließlich erreichten Ziels gelesen werden. Immerhin wird durch die alles andere als Euphorie hervorrufende Beschreibung der Fortbewegungsmittel eine Ambivalenz eröffnet, die eindrucksvoll eine metanarrative Problemstellung antizipiert, die sich des Öfteren in Cisneros Texten finden lässt. Gemeint ist das bisweilen verwirrende Zusammenspiel von Innen und Außen, das spätestes dann verwirrend wird, wenn es darum geht, die eigene Geschichte zu erzählen. Das Auto, das sowohl innen als auch außen voll bepackt ist, allegorisiert den Ro-

96 Ebd., S. 434. 97 Ebd., S. 25.

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 Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung

mantext Caramelo in gleich mehrfacher Hinsicht. Außen bzw. externalisierend vollgepackt ist dieser Text durch die vielen Fußnoten, Anmerkungen und Erläuterungen. Von innen her vollgepackt ist diese Geschichte, sofern sie, im Format der Familiensaga, eine Geschichte erzählt, die zwar angeeignet werden soll, aber doch immer über die Geschichte derjenigen hinausgeht, die sie aneignen möchte. «When I was dirt is when these stories begin»⁹⁸ impliziert genau diese Fülle, in der Lalas Geschichte und der Versuch, diese Geschichte zu erzählen, immer auch Gefahr laufen, vom Staub eingeholt zu werden. Das Auto ist aber noch in einem weiteren Sinne Sinnbild: Wie dem Auto scheinen sich auch beim Erzählen den Dingen, wie von alleine und doch durch die eigene Bewegung motiviert, Spuren und Bedeutungen anzuhängen, deren unzweifelhafte Faktizität nichts daran ändert, dass sie Spuren und Bedeutungen von Geschichten sind, bei denen eine klare Scheidung des Innen und des Außen nur schwerlich, wenn denn überhaupt möglich ist. Das Auto selbst ist ja ein Körper, der – als Automobil ja die Selbst-Bewegung ermöglichend – über einen in Bewegung sich befindenden Innen- und Außenraum verfügt. Die Verwirrung steigert sich aber noch in dem Moment, wenn man das sich Anfügende, aber auch das gezielt Angefügte näher betrachtet. Es sind Spuren in und an einem Körper, es handelt sich um Zeugen einer Verwandlung, die allesamt das Innen-und-Außen-Motiv umspielen: «dust and dead bugs and vomit». Die Reise ist eine Reise, die Veränderungen impliziert: Die Bewegung nach Mexiko-Stadt ist begleitet von Bewegungen, die das Leben hinaus in den Tod, das Verdaute hinaus zum Erbrochenen und das Material zum Staub führen und von dort wieder – als Erzählung – zurück in ein anderes Leben, das sich gegen Staub und den Tod der narrativen Vorzeitigkeit behaupten möchte. Wie schon die Transformation des Signifikantenmülls der Straßennamen in The House on Mango Street hat auch das Erzählen im Zitat mehr als eine weitere Perspektivierung von Geschichte zum Auftrag. Dieses Erzählen, welches das von Rama angeführte Konzept der «materia prima» dadurch grundlegend aushebelt, dass ihm das Material gerade nicht in einer ursprünglichen Reinheit gegeben ist, führt aus, dass Geschichte womöglich nur als eine Form des Zitats existiert. Verlust und Bewahrung sind hier unauflöslich miteinander verbunden, die Transformationen der Erzählung enthält in ihrem Inneren ebenso ein «rising of the heart» wie auch das Erbrochene.

98 Ebd., S. 89.

Transbiographische Bewegung 

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7.6 Transbiographische Bewegung This quite literal movement away from origins, a decisive component of the Spanish American autobiographer’s individual experience, should be seen in conjunction with a particular sense of history, the one leading, as I have mentioned, to privilege “last glimpses” of a personal past into which readers are lured. Both – distance from origins and catastrophic sense of history – seem to demand, on the part of the autobiographer, the creation of a solid common place for rememoration. The most frequent form of that common place of memory is of course the most obvious – the family house or casona. […] By a process of contagion the casona often extends beyond its limits; then it is a whole town that becomes a shrine for recollection, or a city, or a region, or even a country.⁹⁹

Mit diesen Worten bestimmt die in den USA lehrende und schreibende Argentinierin Sylvia Molloy, die in Frankreich studiert und in den USA ihre akademische Karriere gemacht hat, in ihrem seither kanonischen Buch über die spanisch-amerikanische Autobiographie einen in ihren Augen wesentlichen Zug dieser Form autobiographischen Schreibens. Der Zusammenhang von Ort und Erinnerung als eine Poetik des Raumes determiniert die allegorische und die vermittelnde Funktion des autobiographischen Schreibens. Der Ort steht als pars pro toto für eine größere Geschichte und der Autor des autobiographischen Schreibens vermittelt diese Geschichte in seiner Funktion als ein privilegierter Kenner derselben. Diese Theorie lässt sich für das autobiographischen Schreiben eines García Márquez¹⁰⁰ ohne größere Einschränkungen affirmieren, alle Elemente sind zugegen: Die Entfernung, das Haus, der letzte Blick, die Allegorisierung, die Vermittlung des Individuellen und des Kollektiven. Problematisch und fragwürdig wird diese Bestimmung, wenn Exil und Migration eine Dynamik annehmen, in der das Haus – wie im Falle von Roberto Bolaño – schlichtweg kein Erinnerungsort ist oder – wie im Falle von Sandra Cisneros – ein Ort ist, der den «solid common place» nicht mit der allegorischen Funktion eines mikrokosmischen Allgemeinen belegt (wie im Falle der casona), sondern mit der Bedeutung von ordinär oder gewöhnlich.¹⁰¹

99 Sylvia Molloy: At Face Value: Autobiographical Writing in Spanish America. Cambridge and New York: Cambridge University Press 1992, S. 169. 100 Ich beziehe mich hier insbesondere auf Vivir para contarla. 101 Vgl.: Sandra Cisneros: The house on Mango Street. Ich beziehe mich hier insonderer auf die schon zitierte Stelle: «The house on Mango Street is ours, and we don’t have to pay rent to anybody, or share the yard with the people downstairs, or be careful not to make too much noise, and there isn’t a landlord banging on the ceiling with a broom. But even so, it’s not the house we’d thought we’d get.», S. 7.

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 Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung

Selbstredend bedeutet die Abwesenheit eines festen Erinnerungsortes keineswegs den kompletten Verlust eines Gedächtnisses oder einer Vergangenheit. Was sich verändert – so die These – ist die Art und Weise, wie Vergangenheiten zu lesen sind und wie sie sich vermitteln. Nicht das Emblem, nicht die glücklichkontinuierliche Allegorie, sondern die Spur, die ruinöse Allegorie sind die Mittel der Wahl, wenn Bewegungen, statt dem Paradigma der Entwicklung zu folgen, vor allem Abwesenheiten produzieren. Erinnerungsort würde dann in dem Sinne zu verstehen sein, dass die Erinnerung selbst zu einem Ort wird, der nicht der Bewahrung dient, sondern ein alles andere als solider Ort ist, in dem alles verschwindet: Things had a way of disappearing in the garden, as if the garden itself ate them, or, as if with its old-man-memory, it put them away and forgot them.¹⁰²

Damit nicht genug. Wie die Metapher des alten Mannes hier schon suggeriert, hält ein solcher Garten die Möglichkeit bereit, dass der Ursprung einer Geschichte nicht von einem festen Ort ausgeht, sondern ein solcher Ort allenfalls das Ergebnis eines Wunsches nach einer Erzählung ist, die den ursprünglichen Verlust vergessen machen will. Denn wenn am Anfang der Ort des Verschwindens steht, dann ist Erinnerung nur als diskontinuierliche möglich und das, was angeblich der Blick zurück sein sollte, ein Blick nach vorne. Die zu erinnernde Geschichte erzählt sich demnach viel später und jenseits ihres angeblich originalen Ortes. Der Erinnerungsort wird zu einem Bewegungsraum: Somebody started the lie that the monkey garden had been there before anything. We liked to think the garden could hide things for a thousand years.¹⁰³

Die Frage, die sich hier stellt und die zweifelsohne eine ausführlichere Behandlung verdient, ist, inwiefern die Texte von Sandra Cisneros in das Korpus des spanisch-amerikanischen autobiographischen Schreibens integriert werden können. Immerhin schreibt sie weder auf Spanisch bzw. nicht hauptsächlich auf Spanisch und zum anderen erlaubt ein solches autobiographisches Schreiben einen Blick auf eine lateinamerikanische Vergangenheit, der immer schon durch die Erfahrung der Migration gebrochen ist. An dieser Stelle soll nur darauf verwiesen werden, dass das, was mit diesen Einwänden explizit wird, vor allem ein lokaler und monolingualer Begriff des Spanisch-Amerikanischen ist. Sowohl vor dem Hintergrund eines transarealen Paradigmas des Romans als auch

102 Sandra Cisneros: The house on Mango Street, S. 95. 103 Ebd., S. 96.

Transbiographische Bewegung 

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angesichts der Tatsache, dass es hier um erinnerte Geschichte geht, scheint es angebracht, darauf zu hinzuweisen, dass das von Molloy so genannte SpanischAmerikanische selbst schon eine Begrifflichkeit ist, die sich durch eine übersetzende Bewegung konstituierte. Auf diese Weise formuliert, scheint es deshalb nicht nur möglich, sondern auch angebracht, die von Molloy implizierten Bewegungen durch jene zu komplettieren, die anders verlaufen und auch außerhalb der Domäne des Spanischen.¹⁰⁴ Damit könnte das spanisch-amerikanische autobiographische Schreiben auf jene Formen des Schreibens hin geöffnet werden, deren spanisch-amerikanischer Bezug sich nicht nur in den Modus einer schon vollzogenen Entwicklung einschreibt, sondern sich durch eine Geschichte herstellt, die sich diskontinuierlich und versetzt artikuliert und das kann auch heißen: als Spur und Interferenz in einer nicht-spanischen Sprache. Diese Deutung lässt sich auch in Molloys Text selbst finden. So präzisiert sie in einem Aufsatz aus The Cambridge History of Latin American Literature ohne einen einzigen Bezug zum lejeunschen Pakt (auch wenn die Figur der Einheit immerzu gegenwärtig ist) recht formal und äußerst allgemein, dass die spanisch-amerikanische Autobiographie als eine Gattung zu bestimmen sei, die vor allem eine Frage der Autorisierung verhandelt:¹⁰⁵ […] autobiography appears in Spanish America as a genre when it becomes a subject of reflection, that is, when questions arise about the validity of self-writing in general, about the forms the exercise should take in particular, and about the purposes it should accomplish.¹⁰⁶

Autobiographisches Schreiben ist also von Anfang an ein verhandelndes Schreiben. Die Frage wäre dann die nach den Situationen und Konstellationen, in denen diese Verhandlung notwendig wird – ein formales Argument, das die in der Chicano-Literatur zu beobachtenden Verhandlungen einer spanisch-amerikanischen Geschichte definitiv einschließt. Diese sind zweifelsohne Bestandteil jener sich stets versetzenden Praxis des Verhandelns, die Molloy sowohl in der kolonialen Chronik wie auch in experimentellen Texten des 20. Jahrhunderts erkennt. Von besonderem Interesse ist zudem eine Entwicklung, die Molloy grosso modo für das spanisch-amerikanische autobiographische Schreiben feststellt.

104 Sylvia Molloy: At Face Value, S. 10. 105 Zum Begriff der Autorisierung, vor allem im Kontext von Chicana-Literatur, siehe: Anja Bandau: Strategien der Autorisierung. 106 Sylvia Molloy: The autobiographical narrative. In: González Echevarría, Roberto/Pupo-Walker, Enrique: The Cambridge History of Latin American Literature. The Twentieth Century. Cambridge: Cambridge University Press 1996, S. 458.

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Die insbesondere im 19. Jahrhundert am Beispiel von Sarmiento als unlösbar inszenierte Verschmelzung («conflation»¹⁰⁷) von individueller Exemplarität («individual bios») und kollektiver Allegorie («national ethos»¹⁰⁸) lässt sich im 20. Jahrhundert nicht mehr ohne weiteres behaupten. Es tut sich eine Schere auf: Sobald die Funktion der kollektiven Allegorie im Vordergrund steht, also das Ethos einer Gemeinschaft, wird deutlich, dass sich nicht nur die allegorische Folie dieses autobiographischen Schreibens verändert hat. Wenn nämlich statt von der phantasmagorischen Referenz der Nation von anderen Formen von Gemeinschaften gesprochen wird, dann wird die Individualität des bios insofern apostrophiert und stückweise zurückgenommen, als diese anderen Formationen nicht notwendigerweise jedwede relationale Logik zu leugnen haben. In dieser Verschiebung wird deutlich, dass Nation und Ich, wie sie sich in der Verdichtung des nationalen Ichs treffen, deshalb auf einen stabilen Ort rekurrieren, da sie auch sich selbst als stabile Entitäten, als echte Identitäten begreifen. Wenn aber das bios insofern lebensweltlicher wird, als es nicht mehr im Wert eines exemplarischen, sich selbst konstituierenden und dann zu verallgemeinernden bios aufgeht, sondern sich den erlebten Vernetzungen einer Lebenswelt verschreibt, dann ist die Figur der sich selbst generierenden Stabilität in Frage gestellt. Insbesondere am Beispiel der testimonio-Literatur, die für Molloy «strictly speaking»¹⁰⁹ keine Autobiographie stellt, wird diese Verschiebung deutlich: While ‚I‘ is no longer a synecdoche for the country itself, it may be understood as a synecdoche for a group, a community, a gender.¹¹⁰

Ohne dass Molloy dies weiter ausführen würde, ist das entscheidende Moment mehr als der bloße Ersatz des Rahmens. Eine Gruppe, eine Gemeinschaft und ein Geschlecht verhalten sich immer schon zu einer anderen Gruppe, einer anderen Gemeinschaft und einem anderen Geschlecht. Die Geschichte dieser Instanzen setzt folglich nicht mit einem Gründungsmythos an, sondern erzählt die Geschichte einer Differenz, einer Überlagerung, einer Spannung oder auch einer Wechselwirkung, um nur einige der offensichtlichsten relationalen Verhältnisse zu nennen. Damit wird die Bedeutung der Machtbeziehung wieder deutlich, die im Schreibgestus eines Sarmiento internalisiert worden ist und deren Präsenz Molloy schon im Grenzfall des autobiographischen Schreibens der Kolonialzeit beobachtet hat. Die Ausgangsproblematik, weniger die Politik des Schreibens in

107 Ebd., S. 460. 108 Ebd. 109 Ebd., S. 462. 110 Ebd.

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der Kolonialzeit, entspricht der Situation der chicana-feminist-literature insofern in einem strukturellen Sinne, als hier wie dort das bios in seiner Konditionierung behandelt wird und seine Artikulation nicht bloßer Selbstzweck ist: Nevertheless, the fact that the […] texts were conceived primarily for a privileged, institutional, reader […] and the fact that the narration of the self was more a means to achieve a goal than the goal itself, considerably modify the textual self-confrontation and crisis that we have come to recognize as the mark of autobiographical writing.¹¹¹

Hingegen scheint bei Formen autobiographischen Schreibens, die vor allem die Funktion des individuellen bios in den Vordergrund stellen, die Frage der Machtbeziehung weniger explizites Thema. Für diese Formen – so Molloy – lässt sich im spanisch-amerikanischen autobiographischen Schreiben eine Zunahme des Fiktionalen feststellen. Geradezu folgerichtig ist hier das relationale Moment im Sinne einer Existenz als kaum noch relevant, da die Fiktion bzw. der fiktionale Pakt bereits eine Lektüre determiniert, die sich einem Eigensinn verschreibt. Statt also einen stärkeren lebensweltlichen Bezug herauszustellen, geht es in diesen Texten vor allem darum, die Geschichte des Subjekts selbst («the story of the self ‚alone‘»¹¹²) auszustellen. Dadurch, so sollte man präzisieren, ist nicht notwendigerweise ein nach wie vor gültiger Anspruch auf eine exemplarische Existenz vollkommen in Frage gestellt. Hauptsächlich geht es darum, dass diese Texte sich einer allegorischen Lektüre und Aneignung verweigern. Ebenso wenig ist in ihnen die Frage der Machtbeziehung vollkommen obsolet. Wie es das Beispiel von Roberto Bolaño belegt, der ja leicht von der Autobiographie geprägte Formen des Schreibens bevorzugt («teñida ligeramente de autobiografía»¹¹³), kann die Immanenz, die Verweigerung der Allegorie im autobiographischen Schreiben eine Form von Widerstand darstellen, einen Widerstand, den das Individuum genau dann erfährt, sobald es sich selbst erzählen möchte und dabei auf schier unvermeidliche Verfestigungen in der Selbstdarstellung stößt. Wenn also die Bewegung der spanisch-amerikanischen Autobiographie eine Bewegung weg von den Ursprüngen sein soll, dann bieten sich mindestens zwei Deutungen an. Eine engere und literale Deutung, die von Molloy offenkundig bevorzugt wird, meint das Zurücklassen eines echten Ursprungs, der in dieser Qualität nicht weiter problematisiert wird. Eine etwas weitergehende Deutung, die ich hier im Folgenden entwickeln möchte und die nicht zuletzt auch

111 Ebd., S. 458. 112 Ebd., S. 464. 113 Roberto Bolaño: Catorce preguntas a Bolaño. In: «http://www.letras.s5.com/bolano010403. htm».

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 Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung

eine differenziertere Lektüre des autobiographische Schreibens erlaubt (auch was das von García Márquez betrifft), würde die Bewegung weg vom Ursprung als eine transareale Bewegung deuten, die sich durch und mit dem Roman von der Möglichkeit und, wenn man so möchte, vom Regime des Ursprungsdenkens selbst entfernt. Diese letzte Deutung hat nicht nur den Vorteil, dass sich dadurch der Begriff der «Rememoration», ein Begriff, den Molloy weniger Seiten zuvor mit Benjamins Begriff des Eingedenkens gleichgesetzt hatte, in einem Benjamin besser entsprechenden Sinne deuten lässt. In Molloys Deutung ist das Eingedenken insofern räumlich gedacht, als nur durch einen bestimmten Ort und genauer: durch einen «common place» das Eingedenken als das «ever renewed merging of the two memories, the communal and the individual, resulting in a ‘secularized’ relic»¹¹⁴ denkbar wird. Damit ist eine entscheidende Pointe in Benjamins Theorie des Eingedenkens verstellt. Mit Benjamin lässt sich damit eine Form der Erinnerung umschreiben, deren Pointe weniger in der Vermittlung des Individuellen und des Gemeinschaftlichen liegt, sondern sich vielmehr insofern durch eine transareale Logik auszeichnet, als sie sich außerhalb ihres Ortes und außerhalb ihrer Zeit artikuliert. Nur im schroffen Gegensatz zu der angeblich natürlichen Abgeschlossenheit einer Vergangenheit vermag die Erinnerung als Eingedenken den katastrophalen Geschichtsverlauf «zu einem Unabgeschlossenen»¹¹⁵ zu machen. Nur dann lässt sich auch trotz der Katastrophe und trotz des Verlusts wieder eine Handlungsfähigkeit propagieren, in der die Vergangenheit fortwirkt. Man sieht leicht, weshalb dieses diskontinuierliche Prinzip von Molloy übergangen worden ist: Es widerspricht dem epischen Kontinuum einer autobiographischen Narration, es macht eine andere Art der Bewegung und andere Orte denkbar als die von Molloy herausgearbeiteten. Vor allem aber ist auch die Position des Erzählens und Erinnerns selbst zu problematisieren, die ja in keinem Ableitungsverhältnis zu dem erzählten und erinnerten Ort steht. Im literarischen Diskurs ist diese Spaltung schon angelegt und ich habe sie bisher in dieser Arbeit als eine dem Roman bestimmende Spaltung gelesen, als eine Spaltung also, die nicht zwei eigentlich zusammengehörende Dinge trennt, sondern eine sprunghafte Bewegung voraussetzt. In einem scheinbar so zugänglich gehaltenen Text wie dem The House on Mango Street findet sich dieses Motiv nicht zufällig als die Rahmung der Erzählung. Ein metaleptisches Moment, das schon in García Márquez’ Roman zu beobachten war und das in Bola-

114 Sylvia Molloy: At face value, S. 165. 115 Walter Benjamin: Das Passagenwerk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 589.

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ños Texten geradezu konstant evoziert wird, ist auch hier zugegen. Am Ende transformiert der Text den Erfahrungsbericht in ein Zitat: I like to tell stories. I tell them inside my head. I tell them after the mailman says, Here’s your mail. Here’s your mail, he said. […] We didn’t always live on Mango Street. Before that we lived on Loomies on the third floor, and before that we lived on Keeler. Before Keeler it was Paulina, but what I remember most is Mango Street, sad red house, the house I belong to but do not belong to.¹¹⁶

Das teilweise wortwörtliche Zitat des Anfangs dieses Romans markiert den Preis des Zitats. Wem eine Geschichte zitierbar geworden ist, der ist nicht mehr in ihr und doch zitiert er oder sie, gerade weil es auch um seine bzw. ihre Geschichte geht. Die oszillierende Bewegung zwischen Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit manifestiert nicht nur die kulturelle Position einer Minderheit, wiederholt nicht nur die Migrations-Bewegung einer Lebensgeschichte, die ständig zwischen Mexiko und den USA pendelt, problematisiert nicht nur die Ambivalenz der geschlechtlichen Selbstbestimmung, sondern stellt zuallererst ein metaleptisches Prinzip des romanhaften Erzählaktes aus. Die Bewegung weg vom Ursprung kann für die spanisch-amerikanische Autobiographie – verstanden als eine literarische Gattung – mitnichten eine Begrenzung auf die Bewegungen von Lateinamerika weg bedeuten, sondern lässt sich eher als eine Bewegung des Lateinamerikanischen selbst begreifen, einer kulturellen Formation also, an deren Anfang immer schon die Übersetzung stand und gerade kein echter Ursprung: The day after the conquest, the postcolonial world began in the scripts of translation. In partial versions and overlaid readings of the event, the New World subjects who had to speak and read in the language of the Old World was already an interpreter, and from that moment onward translation would define this modern subject of the Americas.¹¹⁷

Sollte dies zutreffen, so kann gerade in einer Theorie über die spanisch-amerikanische Autobiographie, sofern man auch andere Lebenserzählungen berücksichtigt als die von Molloy behandelten, ein Blick auf Bewegungen notwendig werden, die nicht nur auf den archetypischen Ort eines Lebens bezogen sind und die sich nicht – so könnte man mit Echevarría González sagen – in das ethnographische Dispositiv der village studies einschreiben. Darüber hinaus gilt es, das autobiographisch mitnichten seltene Motiv der Deplazierung als eine kontinuierliche, sich nicht abschließende Bewegung zu denken. Wenn Sandra

116 Sandra Cisneros: The house on Mango Street, S. 110. 117 Julio Ortega: Transatlantic Translations, S. 39.

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 Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung

Cisneros am Ende von The House on Mango Street ihre Erzählerin behaupten lässt «One day I will say goodbye to Mango», dann ist schon deshalb ein anderer Blick als jener «last glimpse» gemeint, da Esperanza zurückkommen wird, «[f]or the ones I left behind.»¹¹⁸ An dieser Stelle bekennt sich das erzählende Ich als eines, das nicht mehr am gleichen Ort ist wie das erzählte Ich. Die zuvor im präsentischen Duktus gehaltene Erzählung fällt gewissermaßen auseinander. Anders formuliert: die Praxis autobiographischen Schreibens ist schon deshalb ein privilegierter Ort einer transarealen Geschichtlichkeit des Roman, als die in ihm angelegte Spannung zwischen mehreren Orten ein grundlegendes, wenn nicht gar ein es bestimmendes Merkmal ist: Indeed the notion of multiple locations, both as contexts of reading and positionings for the subject, becomes one of the ways autobiography has offered itself a site for new theoretical and critical insights.¹¹⁹

Es bietet sich also an, die kulturwissenschaftlichen Paradigmen, die zum Thema Erinnerungserzählungen zwischen Autobiographie und kultureller Erinnerung vor allem in den letzten 20 Jahren formuliert worden sind, vor dem Hintergrund einer transarealen Logik des Romans zu lesen. Dabei sollen insbesondere drei kommunikationstheoretische Perspektiven im Vordergrund stehen, in denen die Teilung von individuellem und kollektiven Gedächtnis sich als die Konstitution von Subjekt und Geschichte im Sinne einer «cultural memory»¹²⁰ vermitteln und bedingen. Diese drei Aspekte – und auch darum geht es mir – lassen sich gut als eine Reformulierung von romantheoretischen Paradigmen des Erzählens und Darstellens einer Welt beschreiben lassen und wären vielleicht auch besser und treffender erfasst, wenn sie mit dem im Roman ja schon angelegten Anfangsproblem assoziiert werden: a) Erinnerungserzählungen leiten sich nie nur von der erinnerten Erfahrung ab, sondern vollziehen sich stets innerhalb einer bestimmten diskursiven Logik, die sie mal mehr, mal weniger, affirmieren, unterlaufen, variieren oder auch ironisieren. Mit dieser Behauptung – so van Alphen – ist angedeutet, dass sich die Unmittelbarkeit der Erfahrung immer auch in ein kontingentes Moment der Erfahrbarkeit einschreibt:

118 Sandra Cisneros: The house on Mango Street, S. 110. 119 Linda Anderson: Autobiography. London: Routledge 2001, S. 16. 120 Mieke Bal: Introduction. In: Dies./Crewe, Jonathan/Spitzer, Leo (Hg.): Acts of Memory. Cultural Recall in the Present. Hanover (NH)/London: UP of New England 1999, S. i.

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[…] experience is not so direct and unmediated as it is usually assumed, but is fundamentally discoursive. Experience depends on discourse to come about; forms of experience do not just depend on the event or history that is being experienced, but also on the discourse in which the event is expressed/thought/conceptualized.¹²¹

b) Erinnerungserzählungen sind auch durch ihre Situation geprägt. In Erinnerungen verraten sich deshalb nicht nur begehrte oder aufgezwungene Formen der diskursiven Figurierung, sondern ebenso Relationen innerhalb eines bestimmten Feldes. Sie sind in diesem Sinne immer auch Funktionen der Gegenwart (Welzer) oder literaturtheoretisch formuliert: dialogisch. So wundert es wenig, dass im Falle eines totalen Ausbleibens dieser Dialogizität, wie im Extremfall der traumatischen Erinnerung, Mieke Bal von einer «non-memory»¹²² spricht: Traumatic (non)memory has no social component; it is not addressed to anybody, the patient does not respond to anybody; it is a solitary event, not even an activity. In contrast, ordinary narrative memory fundamentally serves a social function: it comes about in a cultural context whose frame evokes and enables memory. It is a context in which, precisely, the past makes sense in the present, to the others who can understand it, sympathize with it, or respond with astonishment, surprise, even horror; narrative memory offers some form of feedback that ratifies the memory. This is not to say, that such “normal” memories are by definition conveyed to others; the point is that they could be.¹²³

c) Erinnerungserzählungen sind nicht zuletzt Subjektivierungserzählungen. Das Subjekt findet in der Erinnerungserzählung nicht nur einen idealen Ausgangspunkt, um sich zu benennen, sondern auch und vor allem die Möglichkeit, sich in anderen und neuen Situationen zu behaupten. In diesem Zusammenhang hat sich insbesondere in der US-amerikanischen Kulturtheorie zum Verhältnis von Subjekt und Geschichte eine Rhetorik der Aneignung und Anerkennung entwickelt. Der von Marianne Hirsch lancierte Begriff der Postmemory spricht deshalb alles andere als zufällig von einer «powerful form of memory», die jedoch und kurioserweise in einem chiastischen Verhältnis zur Schwäche der Erinnerung selbst bzw. des Nachvollzugs dieser Erinnerung steht. Es mag, auch wenn das von Hirsch diskutierte Beispiel die Erinnerungskultur von Nachfahren von Holocaust-Überlebenden ist, von nicht geringer Bedeutung sein, dass dieser Begriff in einem US-amerikanischen Kontext entwickelt wird und das heißt: in einem

121 Ernest van Alphen: Symptoms of Discursivity. Experience, Memory, and Trauma. In: Bal, Mieke/Crewe, Jonathan/Spitzer, Leo: Acts of Memory. Cultural Recall in the Present. Hanover (NH)/London: UP of New England, 1999, S. 24. 122 Mieke Bal: Introduction, S. x. 123 Ebd.

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 Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung

Kontext, der nicht nur die Anerkennung zur politischen Frage erhebt, sondern in dem die Formulierung der Geschichte immer schon eine transareale ist, eine, die immer schon eine Migrationsgeschichte in eine bestimmte Gegenwart übersetzen muss: Postmemory is a powerful form of memory precisely because its connection to its object or source is mediated not through recollection but through projection investment, and creation. […] Postmemory characterizes the experience of those who grew up dominated by narratives that preceded their birth, whose own belated stories are displaced by the stories of the previous generation, shaped by traumatic events that they can neither understand nor re-create.¹²⁴

Es überrascht wenig, wie sehr das dem entspricht, was Jody Norton in einem Aufsatz über The House on Mango Street als den Auftrag zu einer Praxis des «rememorate»¹²⁵ bezeichnet. Die Aneignung einer Geschichte, die ja deshalb notwendig ist, da das Verhältnis zur Vergangenheit durch einen bisweilen traumatischen Bruch verstellt ist, beschreibt eine Grundfigur sozialer Subjektivierung. Eine Geschichte zu haben, die anders ist und die man als die eigene erzählen kann, ist neben den politisch-juristischen Grundlegungen die Voraussetzung dafür, dass eine «Politik der Anerkennung»¹²⁶ überhaupt ins Rollen kommen kann. Jedoch – und dieser Aspekt soll hier im Vordergrund stehen – stellt sich die Frage, ob die so zentrale Rolle des Mediums Literatur dazu berechtigt, der literarischen Problematisierung einer Vergangenheit, der inszenierten Übersetzung und Aneignung einer Geschichte bloß durch Anerkennung zu entsprechen. Denn das politische Argument läuft auf Glaubwürdigkeit hinaus, behandelt also eine genuin rhetorische Funktion, wohingegen die literarische Inszenierung speziell des Romans diese insofern überschreitet, als sie in ihrer apostrophierten Rede die Frage der Glaubwürdigkeit selbst problematisiert bzw. das Problem der Darstellung vollends ausstellt.¹²⁷

124 Marianne Hirsch: Projected Memories: Holocaust Photographs in Personal and Public Fantasy. In: Bal, Mieke/Crewe, Jonathan/Spitzer, Leo: Acts of Memory. Cultural Recall in the Present. Hanover (NH)/London: UP of New England 1999, S. 8. 125 Jody Norton: History, Rememory, and Transformation. In: Bloom, Harold (Hg.): Sandra Cisneros’s The House on Mango Street (Bloom’s Modern Critical Interpretations). Philadelphia: Chelsea House 2004, S. 59. 126 Vgl.: Charlos Taylor: Multiculturalism. 127 Vgl.: Linda Anderson: Autobiography. Dort heißt es: «[…] ‚intentionality‘ signals the belief that the author is behind the text, controlling the meaning; the author becomes the guarantor of the ‚intentional‘ meaning or truth of the text, and reading a text therefore leads back to the author as origin. […] Intention, however, is further defined as a particular kind of ‚honest‘ intention

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Wenn man sich diese drei Perspektiven des Erinnerten – Form, kommunikative Relation und subjektiver Ausdruck – vor Augen hält, fühlt man sich leicht an das Bühlersche Organon-Modell erinnert. Die erzählte Vergangenheit stellt die Referenz des autobiographischen Diskurses, der Diskurs die Sphäre des Zeichens, die Relationen die Sphäre des Empfängers und die Subjektivierung die des Senders. Auch wenn diese formale Identifizierung leicht fällt, sollte nicht der entscheidende Sprung übersehen werden, der beim Wechsel von der Zeichenebene auf die Diskursebene vollzogen wird. Was nämlich mit dieser Verschiebung beabsichtigt ist, ist nicht eine semiotische Formalisierung dessen, was die Erinnerung als kulturelle Praxis ausmacht, sondern das Herausstellen einer prekären Einheit, die sich mitnichten allein durch ihre referentielle Funktion organisiert, sondern vor allem durch einen auf sich selbst richtenden Bezug.¹²⁸ Es ließe sich also behaupten, dass wohl in keinem anderen Diskurs jene von Moreiras so anschauliche beschrieben Problematik des subjektiven Schattens virulent wird.¹²⁹ Die erlebte Vergangenheit ist keine Sache an sich und sie zu formulieren, bedeutet immer auch ein Vergessen oder zumindest eine unvermeidliche Auslassung. Anders formuliert: Das Erinnerte und das Erinnernde kommen nicht zu einer Deckung, so dass sich die kulturelle Einschreibung der Erinnerung nicht nur über das definiert, was sie wiedergibt, sondern ebenso dadurch, was sie auslässt und auslassen muss, wenn sie den hier betroffenen Sphären gerecht werden will. Die auf diese Weise gebrochene Beziehung zur Erinnerung – und das macht die Funktion der Perspektive in Cisneros’ Romanen so entscheidend – verkompliziert sich dadurch, dass sich das formulierte Erinnerte noch ein weiteres Mal selbstbezüglich problematisiert, indem auch eine mögliche Erinnerung erinnert und von dieser ausgehend eine dialogische Reaktion möglich wird, die sich auf jenes bezieht, was in einem bestimmten Umfeld vergessen oder aber anders dargestellt wird. Im Romanwerk von Sandra Cisneros kann man diese Problematik insbesondere am Umschlag von der erinnerten Fantasie des Begehrens in eine davon sich

which then guarantees the ‚truth“ of the writing. Trust the author, this rather circular argument goes, if s/he seems to be trustworthy.», S. 2–3. 128 Der hier nur angedeutete Verweis auf das von Roman Jakobson entwickelte Verhältnis von Linguistik und Poetik ist hier nicht nur als zeichentheoretische und literarästhetische Grundlage intendiert. Vor allem soll damit der Tatsache entsprochen werden, dass der Text The House on Mango Street als Genre zwischen poem und novel pendelt, so dass der Bezug auf die poetische Funktion des Textes durchaus als ein legitimes Instrumentarium dieser Lektüre erscheinen darf. 129 Alberto Moreiras: The Exhaustion of Difference: the Politics of Latin American Cultural Studies. Duke: Duke University Press 2001, S. 4.

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 Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung

abspaltende sexuelle Handlung nachvollziehen. Dieses entscheidende Moment, an dem die Erfahrung des sexuellen Realen zu einer kaum wiederzugebenden wird oder genauer: nur durch seine Differenz zu dem Phantasierten erzählbar wird, verdichtet sich in Cisneros’ Werk durch das selbst prekäre Ereignis, da sich ein Mädchen der eigenen Weiblichkeit bewusst wird. Auch dies – so wird man leicht sehen – ist eine diskontinuierliche Bewegung, deren Plötzlichkeit nur durch eine Erzählung der Entwicklung verdeckt wird. Weiblichkeit ist folglich nicht nur ein Moment der Selbstgewissheit, sondern bezeugt auch einen externen Eingriff, der, gerade weil er nicht mit der Vorstellung eines Imaginären zu vereinbaren ist, sich in der symbolischen Ordnung der Geschlechter sublimiert. In diesem Sinne lässt sich der inszenierte Vorwurf lesen, den die jugendliche Erzählerin Esperanza an die schon erfahrene, schon initialisierte Freundin Sally richtet, und der sich dann zu einem allgemeinen Vorwurf an die symbolische Sublimierung der weiblichen sexuellen Initiation ausweitet: Sally, you lied. It wasn’t what you said at all. What he did. Where he touched me. I didn’t want it, Sally. The way they said it, they way it’s supposed to be, all the storybooks and movies, why did you lie to me? […] You’re a liar. They all lied. All the books and magazines, everything that told it wrong. Only his dirty fingernails against my skin, only his sour smell again. The tilt-a-whirl. The red clowns laughing their thick-tongue laugh.¹³⁰

Es fällt auf, dass grammatisch komplette Sätze nur jene Sätze sind, die eine Negation feststellen («Sally, you lied», «It wasn’t what you said at all.», «I didn’t want it.», «[…] why did you lie to me?» «You’re a liar.» und «They all lied.»), während die beschreibenden Sätze elliptisch bleiben, ganz so, als würden sie vor dem Realen der sexuellen Handlung kapitulieren: «What he did. Where he touched me. […] all the storybooks and movies […] Only his dirty fingernails against my skin, only his sour smell again.»¹³¹ Die Erinnerungserzählung überschreitet hier ihre referentielle Funktion, auch ihre expressive und ihre konative Funktion, um in dem Widerstand der Sache ihre eigenen Grenzen auszustellen. Das am Ende erwähnte Tilt-a-whirl, der mit der Freundin ausgemachte Treffpunkt und Ort dieses Ereignisses, figuriert dabei ein weiteres Mal die Bewegung dieser Transgression. Diese schon Ende der 20er Jahre in US-amerikanischen Vergnügungsparks beliebte Form von fliegenden Bauten zeichnet sich dadurch aus, dass ihre Bewegungen dermaßen unabsehbar sind, dass sie nur als eine chaotische Unterbrechung wahrgenommen werden können, wobei die einwirkenden Kräfte teils von der Maschine selbst, teils durch das Gewicht

130 Sandra Cisneros: The house on Mango Street, S. 99–100. 131 Ebd.

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und die Bewegungen des Fahrgastes verändert werden. Man sieht leicht, wie diese Form der Interaktion jene Bewegungen figuriert, die das junge Mädchen Esperanza durch ihr körperliches Gegenüber erfährt und in dem ihr eigener Körper Teil eines Kräftefeldes wird, das ihr selbst nicht verfügbar ist. Umrahmt wird diese Szene vom weiten und verzerrten Lachen des roten Clowns, dem Maskottchen des Erfinders und Herstellers dieses Fahrgeschäfts. An seinem Gesicht, das sich nunmehr nicht mehr an das Mädchen Esperanza richtet, sondern an das sexualisierte Mädchen, wird eine folgenreiche phänomenologische Überdetermination deutlich. Diese zeigt sich als eine Form der Wiederholung, in welcher der erneute Blick auf etwas, das eine Sache ist und doch nicht mehr ist. Das soeben besprochene metaleptische Moment der Erzählung und die dabei aufgewiesene Ambivalenz der Zugehörigkeit präfiguriert sich im Anblick der eigenen Füße: I looked at my feet in their white socks and ugly round shoes. They seemed far away. They didn’t seem to be my shoes anymore. And the garden that have been such a good place to play didn’t seem mine either.¹³²

Das Ergebnis dieser Transgression vom mädchenhaften in einen von außen erzwungenen weiblich-sexualisierten Körper führt zu einem Wahrnehmungsverlust, der die Erzählung der Subjektivierung umkehrt: Wo ich war, ist Es geworden, wobei Es gerade nicht einen entsubjektvierten Trieb benennt, sondern jene subjektivierende Gewalt, die von außen einbricht und das meint: den Trieb der Anderen. So kulminieren die von Esperanza selbst erwünschten Reize der «nylons the color of smoke»¹³³ nicht in einer Aneignung des Sexualreizes, sondern lösen den unumkehrbaren Verlust einer ganzen Welt aus, die nicht mehr als die eigene adressiert werden kann. Diese durch die sexuelle Initiation ausgelöste phänomenologische Überdetermination eines Bildes, das einmal als Spur einer vergangenen Sichtbarkeit und Welt und einmal als Zeichen einer Spaltung fungiert, stellt eines der zentralen Motive in Cisneros’ Prosa dar. Diese kurze Lektüre sollte die Frage plausibel machen, inwiefern die Einheit des Zeichens in einem weiteren Sinne eine prekäre ist. Die genannten Sphären – Referenz, Diskurs, Adressat und Subjekt – können zwar in einem funktionalen Sinne durchaus zugleich zugegen sein; damit ist aber noch nichts oder nur wenig darüber gesagt, wie und ob sie in dieser Gleichzeitigkeit durchaus in ein ge-

132 Ebd., S. 97–98. 133 Ebd., S. 64.

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spanntes Verhältnis zueinander eingehen können. Es stellt sich also die Frage, ob die Einheit dieser Aspekte nicht durch die Einheit eines Sprechaktes erkauft ist. Demgegenüber erscheint die Frage legitim, ob dies ebenfalls zu gelten hat, wenn ein Diskurs seine Stimme als äußerliche erfährt, als etwas, das noch zu finden ist, als eine Stimme, die nicht dadurch zu sich kommt, dass sie in der richtigen Form in einer richtigen Situation zu einem richtigen Adressaten spricht, sondern in einer Position, die in sich gedoppelt ist und sich selbst als zitierte erfährt. Mit anderen Worten: Der Einsatz des literarischen Diskurses erfüllt hier ebenso eine literaturästhetische wie auch kulturtheoretische Funktion in dem Sinne, dass der erinnernde Diskurs ein gespaltenes Wort produziert. Das erinnerte bzw. erzählte und das erinnernde bzw. erzählende Subjekt stellen eine in im Roman immer schon wirksame Spaltung aus, die nicht aufgeht in einer diskurstheoretischen Behandlung des Problems.

7.7 Only the story is remembered: Stimme, Narration, Perspektive Anhand von Sandra Cisneros Texten lässt sich leicht nachvollziehen, wie sehr der an sich nicht spannungsfreie Akt der narration zu einer diskursiv-rhetorischen Einheit werden kann. Dies mag – wenn man sich in Erinnerung ruft, auf welch ambivalente Weise sich insbesondere in Caramelo der Akt der Erzählung darstellt – durchaus überraschen. Recht formal bestimmt, lässt sich die Grundlage dieser Operation schnell bestimmen: Insbesondere die Stimme wird auf eine Positivität, auf die Funktion des Markierens reduziert. Dazu mag nicht zuletzt auch Sandra Cisneros selbst Anlass gegeben haben. Als sie nämlich in der Einleitung zur 10jährigen Jubiläumsausgabe von The House on Mango Street an die ursprüngliche Motivation für die Veröffentlichung dieser «lyric novel»¹³⁴ erinnert, hat sie sicherlich durchaus bewusst eines der kulturtheoretischen buzzwords verwendet. Was sie antrieb, war die Artikulation einer «[…] anti-academic voice--a child’s voice, a girl’s voice, a poor girl’s voice, a spoken voice, the voice of an American-Mexican.»¹³⁵ Diese Aussage lädt ein, diesen Text auf eine genuin sozialpolitische und ethnokulturelle Allegorie zu verkürzen. Literaturtheoretisch wäre diesem Text mit einem (literatur-)ethischen Ansatz wie dem von Martha Nussbaum zu Genüge

134 Jane Juffer: Sandra Cisneros’ Career. In: «http://www.english.illinois.edu/maps/poets/a_f/ cisneros/career.htm» 135 Sandra Cisneros: The house on Mango Street, Houston: Arte Público Press 1984, S. xv.

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entsprochen. Und tatsächlich lassen sich Argumente dafür finden: So begründet Cisneros die Manifestation dieser Stimme mit einer Erfahrung, die sie – als weibliche Minderheit – während des University of Iowa Writers’ Workshops bei einer Bachelard-Lektüre machte und die sie auf das für sie seither bestimmende Motiv der Hausmetapher gebracht hat: During a seminar title “On Migration and the Imagination” when the class was heatedly discussing Gustav Bachelard’s Poetics of Space and the metaphor of a house – a house, it hit me. What did I know except third-floor flats. Surely my classmates knew nothing about that. That’s precisely what I chose to write: about third-floor flat, and fear of rats, and drunk husbands sending rocks through windows, anything far from the poetic possible. And this is when I discovered the voice I’d been suppressing all along without realizing it.¹³⁶

Wenn man davon ausgehen möchte, dass diese «voice» bei Cisneros zwar immer auch zwei «voices ad odds»¹³⁷ bedeutet, aber gerade dadurch (vermeintlich restlos) in eine Positivität der Vielfalt überführt werden kann, dann liefert Hurtado die passgenaue Deutung dieser unterdrückten Stimme: Like all feminist scholars, Chicana feminists have struggled with methods that avoid erasing women’s voices. Many of the methods they have developed are similar to those of other feminist scholars. However, unlike white and African American feminists, Chicana feminists strongly advocate and use different varieties of Spanish to increase the inclusion of all women. For many Chicanas, Spanish still remains the home language, which is critical in maintaining Chicano culture and which can, at times, serve as a barrier to keep the harshness of the outside world at bay.¹³⁸

Dem scheint Sandra Cisneros insofern zu entsprechen, als auch sie, wie in einem Interview mit Barbeto nachzulesen ist, das Verständnis ihrer Texte an einer bestimmten Sprach- und Kulturkompetenz koppelt: I’m very curious to see how they will be understood or misunderstood. The people they’re really for are the Latinos. They’ll get the subtext.¹³⁹

Die sicherlich leichteste, aber nicht unbedingt aufschlussreichste Art, diesen ‘Subtext’ zu deuten, ist der von Hurtado schon vorgeschlagene Bezug auf eine be-

136 Sandra Cisneros: Ghosts and Voices, S. 72. 137 Ebd. 138 Aida Hurtado: Chicanas Theorize Feminisms. In: Hypatia, Vol. 13, No. 2, Border Crossings: Multicultural and Postcolonial Feminist Challenges to Philosophy (Part 1) (Spring, 1998), S. 136. 139 Joseph Barbato: Latino Writers in the American Market. In: Publishers Weekly, February 1991, S. 20.

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stimmte Minderheiten-Erfahrung. Genau dies jedoch – Ironie der Widerstandsrhetorik – führt dazu, dass dieser ‘anti-akademische’ Roman heute zweifelsohne zum Kanon der universitären kulturkritischen Debatten über die US-amerikanische Multikulturalität gehört, die – so vermute ich – da wesentlich mehr Subtext verhandeln als jene Leute, für die der Roman angeblich ist. Es handelt sich deshalb um einen «ironic»¹⁴⁰ Aspekt, auf welchen auch Jane Juffer verweist, wenn sie bemerkt, dass sich Cisneros’ Werk und Karriere auch dazu eignen, «to study the advantages and disadvantages of ‘mainstreaming’.»¹⁴¹ Mainstreaming – das bedeutet hier die Eintragung in eine bestimmte Diskurspolitik, die Lesbarkeiten reguliert und zwar sowohl die von Literatur als auch die von Minderheiten. Diesen Schritt in eine Positivität hat Sugg konzise beschrieben: For better or for worse, though, the elevation of cultural practices into political practices occurs with regularity in US ethnic literatures, and is especially visible in the recent upsurge of interest in diaspora and “migratory” narratives and critical discourse. In a strong sense, the entire field of multi-ethnic literatures was founded on a matrix of conceptual “confusions” of culture and politics, most noteworthy in its intervention in the canon formation of US literary studies. As an alternative, and alternative genealogy, to the tradition of “American” literatures, multi-ethnic literary study refers to ethnic studies paradigms of racial formation and community identities as well as advocates the “depth and range” of the literatures that emerge from those communities. Therefore, the impasses and breaks in these field formations and their controversies reflect a foundational paradox in the study and criticism (and writing) of minority literatures in that the field’s existence predicates a political intention and value, though not always productively. Thus, the upswell of literary and cultural criticism that participates in both ethnic studies paradigms and in postcolonial theories of hybridity, metissage, and transnationality marks a current moment in disciplinary reformation across American studies, as well as the revivification of polemics about the proper places of aesthetics and politics.¹⁴²

Der eigentliche Einsatz hinter dieser Ironie ist eine besondere Autorisierung von Literatur im Kontext einer zunehmend kulturkritisch gelesenen Weltenvielfalt. Die Hoffnung, die dahinter steht und die es immer wieder neu zu problematisieren gilt, ist diejenige, dass die kritischen Diskurse ihre Instrumente am literarischen Diskurs entwickeln. Es geht also nicht darum, das in Literatur vermittelte Wissen in eine gesicherte Metasprache zu überführen, sondern diese Form des Wissens auch für das akademisch-disziplinäre Wissen stark zu machen. Eine

140 Jane Juffer: Sandra Cisneros’ Career, o.A. 141 Ebd. 142 Katherine Sugg: Literatures of the Americas, Latinidad, and the Re-Formation of MultiEthnic Literatures. In: MELUS, Vol. 29, No. 3/4, Pedagody, Canon, Context: Toward a Redefinition of Ethnic American Literary Studies (Autumn – Winter, 2004), S. 234–235.

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entscheidende Perspektive, die gerade für den Fall von Cisneros’ Prosa stark gemacht werden könnte, ist die grundsätzlich transareale Qualität ihrer Prosa. Eine erste Ahnung, wie leicht gerade dies stillgelegt wird, gibt Sugg, wenn sie genau diese hier ja manifest werdende transareale Perspektive etwas problembewusster anspricht, sich auf den Lateinamerikanisten John Beverly¹⁴³ beziehend: In fact, transnational cultural studies practices such as “Latino studies” operate as a corrective to exactly that impulse toward ethnic singularity, especially the appropriations of the commodified ethnic object that are “complicit in the construction and maintenance of subalterneity”.¹⁴⁴

Doch nicht nur eine falsche Singularität droht, wenn das Dispositiv der Stimme allzu leichtfertig in eine Politik übersetzt wird. Nicht minder weitreichend dürfte eine nunmehr explizit werdende und schon anfangs angedeutete Spannung zwischen philologischer Theorie und Kulturtheorie sein: But in calling for a more rigorous attention to the difference between literary production and specific conflicts in politics and social justice, Hallward seems to suggest returning to a model of literary study grounded in the modernist ideal of literary production’s specificity and status as a self-contained artistic enterprise. This vanguard concept of literature’s social role is a legacy of Euro-American modernism and actually is exactly the segregation of culture and politics that much criticism and writing of “ethnic literatures” originally formed to interrogate. The qualifier “ethnic” places these literatures in a relation to other, presumably nonethnic, literatures and the political and cultural histories of mainstream “America” that ethnic literatures challenge, and even transform. However, it is also true that the very adjective “ethnic” risks creating a self-constituent domain of cultural production that assumes another political history presumed to inhere in the terms of ethnicity. Oppositionality, difference, resistance, and hybridity have become the watchwords of those “singularizations” of ethnic identity in the US and thus of all its “cultural production” so that they (the watchwords) become a broad and sometimes unassailable paradigm of the cultural and political content of all “real” or authentic ethnic literature.¹⁴⁵

Diese Kritik, die gewissermaßen der rhetorikkritischen Arbeit von Hamacher¹⁴⁶ sehr nahe kommt, möchte ich eben um jene so problematische literaturästhetische und gattungstheoretische Perspektive ergänzen. Ich möchte dafür zunächst nachzeichnen, wie ein solcher kulturpolitisch-ethnischer Diskurs grundlegende

143 Vgl.: John Beverly: Writing in Reverse: On the Project of the Latin American Subaltern Studies Group. Subaltern Studies in the Americas. In: disposition. 19.46 (1994): S. 271–288. 144 Katherine Sugg: Literatures of the Americas, S. 273. 145 Ebd., S. 235–236. 146 Vgl.: Werner Hamacher: Heteroautonomien.

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Elemente des Romans für sich einnehmen kann und welche Transformationen des literaturästhetischen Diskurses dabei notwendig werden. Zu den Ironien dieser Geschichte gehört auch die Tatsache, dass sich diese Politik unter anderem auch auf literaturästhetische Konzepte beruft, um sie – im Namen einer kulturpolitischen Rhetorik – zu deliteralisieren. Dies lässt sich insbesondere an den in Erzähltexten ja unabdingbaren Begriffen der Stimme – narratologischer Grundlagenbegriff – und den narratologisch nicht minder prominenten Begriffen der Perspektive und Narration nachvollziehen. Diese Begriffe gehen im Kontext einer Diskursivierung von Literatur eine teilweise sich stützende, aber auch spannungsreiche Beziehung ein. Sie ließe sich formalisieren als die Beziehung zwischen Pragmatik (Perspektive) und Syntax (Narration). Stimme ist schließlich jener Begriff, der zwischen diesen beiden vermittelt. Um diesen Umschlag in eine Positivität nachzuvollziehen, der die Gleichung zugrunde liegt, dass ein Anders-Sprechen auch ein Sprechen des Anderen ist, bedarf es eines kurzen Rückblicks in die Rhetorik der Postcolonial Studies, an deren Anfang nicht umsonst die von Spivak gestellte Frage stand: Can the Subaltern Speak?¹⁴⁷ Eine mögliche Antwort auf diese Frage ist zweifelsohne die Art und Weise, wie der derridasche Begriff der «Dissémination» durch Homi Bhabhas Nation and Narration postkoloniale Karriere gemacht hat. Indem bezeichnenderweise das scheinbar passive Weiße des Papiers/der Leerstelle – ein anderes Weiß als das in Cisneros’ Metapher des schneeweißen Papiers – kolonial gewendet wird und somit in seinen vielen Erscheinungsformen konkret verräumlicht und benannt werden kann, werden auch Nationaldiskurse poststrukturalistisch lesbar: To study the nation through its narrative address does not merely draw attention to its language and rhetoric; it also attempts to alter the conceptual object itself. If the problematic “closure” of textuality questions the “totalization” of national culture, then its positive value lies in displaying the wide dissemination through which we construct the field of meanings and symbols associated with national life.¹⁴⁸

Man sieht leicht, wie hier mit dem durchaus bedenkenswerten narrativen Konzept der closure, das im englischsprachigen Raum von Frank Kermode literaturwissenschaftlich etabliert wurde, eine schon den Roman belastende Frage nun auf den Diskurs der Nation übertragen wird. Die Frage nach dem narrativen Sinn bzw. nach dem Sinn, den Narrationen lesbar machen oder auch aufzwängen, ist

147 Vgl.: Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak? In: Nelson, Cary/Grossberg, Lawrence (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture. Basingstoke, Hants: Macmillan 1988, S. 271–313. 148 Homi Bhabha: Nation and narration. London: Routledge 1990, S. 3.

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eine Frage, die ja wesenhaft mit der Frage zusammenhängt, wo und wodurch die narrative closure sich ereignet und in diesem Falle: durch wessen Geschichte. Alle aktiven und verdrängten Akteure der Nation tragen der Syntax der Nation potentiell Risse ein, die nur rhetorisch zu bewältigen sind. Inwiefern dies auch für den Roman von Relevanz sein kann, lässt sich an dieser Stelle dadurch begründen, dass, wie ich anfangs dargelegt habe, auch der Roman als eine narrative Gattung gelten kann, dessen closure eine Überschreitung (seiner Welt) erfordert. In diesem Kapitel nun kann in Bezug auf einen präzisen Kontext – Narration und Gesellschaft – der Frage nachgegangen werden, um welche Art der Überschreitung es sich hier handelt. Der entscheidende Unterschied – so viel sei antizipiert – betrifft den Raum, der durch diese Überschreitung affirmiert oder aber eröffnet wird. Der Zusammenhang zwischen Romantheorie und soziohistorischer (National-)Narration beschränkt sich nicht nur auf die Frage der closure. Ich meine darüber hinaus, dass sich diese Frage gerade in einem transkulturellen Kontext der Aushandlung konziser behandeln lässt, da die hier hereinspielenden Kategorien wie Perspektive, Stimme, Intra- und Intertextualität oder auch Ironie und Lokalität sich auf eine vor allem am Roman zu begründende Weise behandeln lassen, die eine diskurspolitische Reduktion von Literatur vermeiden hilft. Dafür ist es notwendig sich zu fragen, was eine Form Narrativen Wissens außerhalb der literarischen Diskurse zu leisten hat. An dieser Stelle soll der Bezug auf die verstreuende Dynamik der Narrationen und vor allem ihre prinzipiell vorhandene Integrations- und Anschlussfähigkeit als «narrative accrual»¹⁴⁹ genügen. Diese Debatte, für die ich hier exemplarisch die Arbeit des Sozialpsychologen Bruner zitiere, ist insofern komplementär zu der von Bhabha eröffneten Fragestellung, als sie vielleicht noch expliziter den Ort der Verhandlung benennt. Wenn Narrationen «a viable instrument for cultural negotiation»¹⁵⁰ sind, dann tut sich als Feld der Analyse nicht nur die Möglichkeit der poststrukturalistisch geschulten Um-, Neu- und auch Entdeutung auf. Parallel begleitet wird dies von einer immer auch konkreten, nicht zuletzt raumzeitlichen Einbettung von Diskursen: «[…] a narration cannot be realized save through particular embodiment.»¹⁵¹ Die hier gemeinte narrative Perspektivität ist deshalb irreduzibel und insofern eine ohne Zentrum, als sie weder restlos ableitbar noch mit anderen Perspektiven vermittelbar sein muss. Es gibt kein

149 Jerome Bruner: The Narrative Construction, S. 17. 150 Ebd. 151 Ebd., S. 9.

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aperspektivisches Zentrum, von dem aus Perspektiven vorhersehbar oder ableitbar wären und genau das begründet und destabilisiert alle Positionen gleichermaßen. Das trägt der narrativen Perspektivität eine performative Qualität ein. Mit anderen Worten: Das Lokale und Konkrete sind mehr als ein perspektivisch entstellter Appendix und können sich erst dadurch autorisieren, dass sie anerkannt werden. Die Überschreitung der Narration ereignet sich – ironisch genug – also an ihrer jeweils konkreten Einbettungen, an ihrem WeltProblem. Inwiefern diesem Paradigma einer sich seit den 80er Jahren in den USA etablierenden «polícita de la representación»¹⁵² entspricht, hat Yúdice dargelegt. Wenn nämlich Narration als «a viable instrument for cultural negotiation» gelten kann, dann darf man an sie auch den Anspruch stellen, dass «la injusticia social, basada en la subordinación racial, sexual o de clase, pueda corregirse discursivamente.»¹⁵³ Erster Schritt dieser Korrektur ist zunächst die Sichtbarkeit – oder der Stimme angemessener – die Vernehmbarkeit einer Differenz. Das hängt ganz konkret mit einer bestimmten Differenz- und Identitätspolitik zusammen, welche Yúdice wie folgt beschreibt: Los grupos de identidad estadounidenses, tal como se les conoce hoy en día, “entraron en escena” pública —es decir, desarrollaron estrategias de performance sociopolítica— inventándose, o mejor autoreándose, en el proceso. La identidad se hizo una práctica o performance necesaria para penetrar las instituciones que ahora tenían que dar cabida a grupos que se definían según diferencias culturales reconocidas jurídica y extrajurídicamente.¹⁵⁴

Weniger deskriptiv als politisch nimmt auch Bhabha darauf Bezug, wenn er – und dieser Schritt ist entscheidend – den kulturwissenschaftlichen Diskurs und künstlerische Praxis kurzschließt, indem er beide zu Agenten der Vermittlung nicht von Expertenwissen, sondern von kulturellen Differenzen macht: We have to build bridges between the “singular” and the collective, the private and the public, memory and history, the artist and the community-bridges that allow us to make our national culture an interchange of diverse inter-national interests.

152 George Yúdice: Contrapunteo estadounidense/latinoamericano de los estudios culturales. In: Mato, Daniel (Hg.): Estudios y Otras Prácticas Intelectuales Latinoamericanas en Cultura y Poder. Caracas: Consejo Latinoamericano de Ciencias Sociales (CLACSO) y CEAP, FACES, Universidad Central de Venezuela 2002, S. 354. 153 Ebd. 154 George Yúdice: Contrapunteo estadounidense/latinoamericano de los estudios culturales. S. 345.

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The arts and humanities contribute to such a national enterprise by developing the “right to narrate” – the authority to tell stories that create the web of history and change the direction of its flow.¹⁵⁵

Doch damit nicht genug: Durch diese immer auch performative Festlegung des Bedeutungsraumes (bei Lotman sujet genannt) ist es Narrationen eigen, dass sie gleichzeitig kanonisch und verändernd wirken können. So führt Bhabha im Gespräch mit Jonathan Rutherford aus: For me the importance of hybridity is not to be able to trace two original moments from which the third emerges, rather hybridity to me is the ‘Third Space’, which enables other positions to emerge.¹⁵⁶

In diesem Sinne leitet Bahbha zwei Rechtsansprüche ab. Erstens ist das «expressive right» gemeint – das Recht auf Narration –und zweitens das «enunciatory right»¹⁵⁷ – das Recht auf Perspektive. In ihrem Zusammenspiel wird eine Stimme artikulierbar, die als Werkzeug der Kritik und Gerechtigkeit gerade für «diasporic, refugees, migrant people» gelten soll: So what I’m interested in is the right to narrate as enunciatory right, not just an expressive right. Therefore, my notion of who is the subject of the right to narrate is not the individual who is narrating but a whole network of discursive, cultural, political, institutional, a network of events and enunciations and constructions and writings that construct the possibility of narration. It’s an enunciatory right. I also think that coming out of the great social movements of our times – diasporic, refugee, migrant – people and groups often have a kind of split mode of being.¹⁵⁸

So wenig dem zu widersprechen ist, so sehr stellt sich doch die Frage, ob diese «emergence», dieses Doppel von Ausdruck und Aussage im Grund nicht auf eine lokale Figur rekurriert, einen lokal gedachten Rahmen der Anerkennung voraussetzt. Nur folgerichtig expliziert Bruner bei der Analyse der «narrative accrual» das Lokale zur eigentlich diskursiv-historischen Dimension der Narration: What creates a culture, surely, must be a ‘local capacity’ for accruing stories of happenings of the past into some sort of a diachronic structure that permits a continuity into the

155 Homi K. Bhabha: The right to narrate. An interview with Homi Bhabha by Kerry Chance. Human Rights Project Lecture Series Bard Colleg, 2001. In: «http://www.bard.edu/hrp/resource_pdfs/chance.hbhabha.pdf» (letzter Zugriff: 22 November 2008). 156 Homi K. Bhabha: Interview with Homi Bhabha. The Third Space. In: Rutherford, Jonathan (Hg.): Identity, community, culture, difference. London: Lawrence & Wishar 1990, S. 211. 157 Homi K. Bhabha: The right to narrate, o.A. 158 Ebd.

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present – in short to construct a history, a tradition, a legal system, instruments assuring continuity if not legitimacy.¹⁵⁹

Während auf der einen Seite Bhabha eine Kritik der nationaldiskursiven Syntax anstrengt, expliziert Bruner die lokale Dimension dieser pragmatischen Wende. Damit sind die wesentlichen Dispositive der Verhandlungen angezeigt, die auch für Bhabhas Modell des Narrativen bestimmend sind. Wie sehr diese syntaktische Kritik der pragmatischen Dimension bedarf, belegt schon die Tatsache, dass Bhabha in der Folge selbst diese Dimension anspricht, wenn er sich der Narration annimmt. Die Betonung des narrativen Rechts hat auch einen ausdrücklichen Verweis auf eine Dimension jenseits des Linguistischen zur Folge: The right to narrate is not simply a linguistic act; it is also a metaphor for the fundamental human interest in freedom itself, the right to be heard, to be recognized and represented.¹⁶⁰

Von hier ausgehend wandelt sich dieses Recht zu einem Auftrag («must») an die Mehrheitsgesellschaft im Sinne einer etwas messianisch klingenden «new cosmopolitan perspective.»¹⁶¹ Entscheidend hierbei ist jedoch, dass konsequenterweise nunmehr die Perspektivität die zentrale Rolle spielt, denn es ist die Perspektivität, welche eine konkrete Relationierung anbietet, in der bezeichnenderweise wieder der Begriff der Welt auftaucht, wenn auch als ein summarischer Horizontbegriff: Stories of your people and your homeland must also be told from the perspective of those who may not be your compatriots, but are part of the citizenry of a ‘world’ that will become transformed in those very acts by which you strive to achieve your nation.¹⁶²

Dass Sprache zwischen Syntax und Pragmatik angesiedelt werden kann, setzt bereits die Figur eines Sprechers voraus und genauer eine «parole of the people».¹⁶³ Dabei – so meine romantheoretisch perspektivierte These zur Theoriegeschichte des kritischen Diskurses des Minoritären wie dem der Postcolonial bzw. Subaltern Studies – wird mithilfe eines Sprechers die dekonstruktive Kraft einer immer auch auf Rhetorik angewiesenen Syntax in eine Art dekonstruktive

159 Jerome Bruner: The Narrative Construction, S. 19–20. 160 Homi K. Bhabha: The right to narrate, o.A. 161 Ebd. 162 Ebd. 163 Ebd.

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Pragmatik überführt, in deren Namen zwar nicht die Rückkehr des souveränen Subjekts, aber doch eines Subjekts möglich wird, das im Anderen eine eigene andere Sprache und Stimme beanspruchen kann. Diese, wenn man so möchte, pragmatische Wende ist der Moment, da die Aporie einer syntaktischen Überdetermination in eine positive diskursive Position übersetzt wird. Anders formuliert: Der Widerspruch dessen, was ich weiter unten mit Kristeva die ZeichenFunktion («signe»¹⁶⁴) nennen werde, wird positiv in die Funktion des Ausdrucks («expression») überführt, die «auto-annihilation» der Sprache wird konvertiert in eine Annihilation des hegemonialen Diskurses. Zwei Probleme scheinen mir vor dem Hintergrund der romantheoretisch entwickelten Welt- und Darstellungsproblematik bedenkenswert: Zum einen stellt sich die Frage, wie Perspektivität organisiert wird. Zum anderen – und darauf komme ich weiter unten erneut zu sprechen – wäre die Formel des «right to narrate» auch in dem Sinne zu deuten, dass es auch ein Recht der Narration gibt, ein Recht darauf, gelesen zu werden und zwar gerade nicht im Sinne einer diskurspolitischen closure oder auch als Ausdruck einer bestimmten Geschichte, sondern als eine Geschichte von Lektüre und Lesbarkeiten selbst, ein Recht einer Widerständigkeit, die nicht para-subjektiv einzuspannen ist. Der Hintergrund dieser Einwände ist offenkundig. Angesichts der Tatsache, dass doch vordererst in Romanen Narrationen gefunden (und eben nicht gelesen werden) und vor dem Hintergrund des mit dem Roman entwickelten Visionsparadigma können weder der Raum der Perspektivenorganisation noch der Beschluss einer Geschichte lokal entworfen werden bzw. als eine lokale Aushandlung verstanden werden. Eine solch lokale Aushandlung widerspräche gleich zwei zentralen Aspekten in Cisneros’ Prosa, die sich vor allem der Tatsache verdanken, dass die in ihnen dargestellte Überschreitung nicht nur eine Revision der internen Relationierungen erlaubt, sondern ebenso eine Überschreitung hin zu einer externen Relationierung ermöglicht. So ist zum einen zu betonen, dass der narrative Beschluss gerade nicht nur in der erzählten Geschichte erfolgt bzw. im Bericht der histoire. Stattdessen erweist sich die Narration selbst als dasjenige, was Geschichte öffnet, sich beständig zwischen einem «here and there»¹⁶⁵ hält. Zum anderen lässt sich die Perspektivenvielfalt eines Romans wie Caramelo genau anders lesen. Perspektivierung steht nicht für eine Positivität der Aussage innerhalb eines festen Rahmens, sondern für eine relationale Logik, die auch der Raum der Aushandlung nicht vollends verfügbar machen kann.

164 Julia Kristeva: Le text du roman, S. 190. 165 Sandra Cisneros: Caramelo, S. 434.

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Bei diesen beiden Punkten handelt es sich durchaus um Aspekte, die sich in eine kulturtheoretische Debatte einbringen lassen. Inwiefern? Dass die Aushandlung von Narrationen immer auch an eine lokale Einbettung gebunden ist, ein Motiv, das auch in Globalisierungstheorien¹⁶⁶ immer wieder auftaucht, ist zweifelsohne zutreffend. Dennoch macht es nicht die Frage überflüssig, ob es Narrationen nicht vielmehr und umgekehrt auch darum gehen kann, die capacity des Lokalen dadurch zu belasten, dass sie neben der Kontinuität und Formation des Präsens auch die Diskontinuität derjenigen Geschichte in den Blick rücken, innerhalb welcher die Aushandlung stattfinden kann. Pointiert gesagt: Nicht nur die affirmative Rede ist eine Art closure. Nicht minder qualifiziert sich hierfür eine Figur wie die Metalepse. In diesem Falle hätten Narrationen vor allem die Funktion eines (mitunter latenten) Bereithaltens von Geschichte und eben nicht nur die der lokalen Sinnvermittlung. Dabei handelt es sich jedoch um eine Figur, die – wie ich meine – deshalb vernachlässigt wird, weil sie sich nicht in eine unmittelbare kulturelle oder auch soziopolitische Praxis übersetzen lässt, sondern eine Historizität ins Spiel bringt, die den lokalen Diskurs der Anerkennung zumindest destabilisiert, indem er die Frage drängend macht, wie und ob der Raum der Anerkennung gegeben sein kann. Oder anders gesagt: Mit Romanen eine closure zu verhandeln, setzt voraus, dass man den Weltbegriff nicht mehr als integrativen Horizontbegriff begreift wie er in diesen Diskursen ja grundsätzlich auftritt. Statt also die spezifisch neuzeitliche Pointe des Romans dadurch zu verdrängen, indem man wenig problembewusst im Grunde und vermeintlich auf ein Weltbild des realistischen Romans rekurriert, gilt es sich in Erinnerung zu rufen, dass mit dem Roman jedwede Welt sich im Kontext einer anderen wissen muss, von der sie – und das ist der Unterschied zwischen der Metalepse und der rahmenden closure – nicht mehr zu wissen vermag, als dass sie von dieser begrenzt wird. Man darf darüber spekulieren, ob die Welt als integrativer Horizontbegriff nicht auch eine historische Erfahrung der Weltenvielfalt verdrängt, wie sie in in der iberischen Kolonialzeit möglich wurde und hier ein protokoloniales Dispositiv der angloamerikanischen ‘Eroberung’ fortsetzt. Nicht dass ein koloniales Dispositiv besser als das andere wäre, ist hier der Punkt; vielmehr geht es mir darum aufzuzeigen, dass mit Texten wie denen von Cisneros ein Bezug auf eine frühneuzeitliche Ausgangslage sichtbar wird, die mehr oder minder verdrängt wird, wenn es heißt, es gehe hier um ein Phänomen spätmoderner Kulturen, um eine recht moderne Migration der «people».

166 Vgl. hierzu: Ulrich Beck: Was ist Globalisierung? Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004; Anthony Giddens: Konsequenzen der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996 [1991].

Der Roman zwischen expression und narration 

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7.8 Der Roman zwischen expression und narration Auch wenn Cisneros’ Postulierung einer anti-akademischen Stimme voller diskurspolitischer Implikationen ist und die prominente Positionierung einen ihrer Ursprünge eben gerade in jener zurückgewiesenen (nunmehr und vorgeblich nicht-hegemonialen) US-amerikanischen Akademie hat, welche zusammen mit den sozialen Bewegungen den Minderheiten ihren Weg für jene Politik der Repräsentation und der Rhetorik der Stimme ebnete, ist damit noch lange nicht behauptet, dass diese Stimme ebenso eindeutig ist wie die für sie reservierte Diskurspolitik. Zweifelsohne strengt Cisneros die Rhetorik einer ‘anti-akademischen’ Stimme an, um sich so mit Wissensformen und -beständen außerhalb der traditionellen Akademie autorisieren zu können bzw. deren Exklusionsmechanismen zu thematisieren. Jedoch ist die Figur einer irreduziblen Lebenserfahrung, die ja auch in die Politik der «scholars»¹⁶⁷ übersetzt wird, keineswegs so eindeutigerweise das Jenseits dieser Akademie. Ich meine also, dass es tatsächlich um mehr gehen kann als um die Artikulation einer anderen, bisher unerhörten und gleichzeitig tatsächlich gesprochenen (spoken) Stimme und um mehr als bloße Wortführerschaft. Auch wenn die «langue of the law» auf die Revision der «parole of the people»¹⁶⁸ trifft, ist Cisneros’ Prosa ein illustres Beispiel dafür, wie die «parole of the people» sich gerade nicht bruchlos in Literatur übersetzt und diese «parole» vielleicht selbst schon eine nicht minder problematische Abstraktion ist wie die Sprache des Gesetzes. Stattdessen gehe ich davon aus, dass diese Spaltung einer gesprochen und gemachten Stimme, einer schon gegebenen und erst noch zu artikulierenden Stimme ein Effekt dessen ist, was im Roman als Prinzip seiner Form schon angelegt ist und im Falle einer transarealen Geschichte noch verschärft wird. Zwei Argumente dürften hierfür folgenreich ins Gewicht fallen: Zum einen ist die Stimme ja keine einheitliche, sondern grundsätzlich dialogische. Sei es, dass der ‘eigenen’ Stimme «two voices at odds» eingelassen sind, sei es – wie in Caramelo –, dass die Darstellung selbst in Dialoge befangen ist.¹⁶⁹ Die Stimmen der Vergangenheit betreffen nicht nur die Erfahrung der Armut; die Stimmen der Vergangenheit artikulieren sich auch als verdichtete Zitatfetzen.

167 Frances R. Aparicio: On Multiculturalism and Privilege: A Latina Perspective. In: American Quarterly, Vol. 46, No. 4 (December 1994), S. 575. 168 Homi K. Bhabha: Introduction, S. 2, kursiv im Original. 169 So werden in Caramelo über viele Seiten hinweg (417–423) mehrere Stimmen zitiert, die sich nicht nur gegenseitig widersprechen, sondern auch teilweise das in Frage stellen, was die Erzählerin Lala behauptet.

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 Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung

Zum anderen ist die Ambivalenz des «discours romanesque»¹⁷⁰ genau in dieser Doppelfunktion der Stimme auszumachen. Hierfür hat schon Kristeva eine theoretische Grundlage herausgearbeitet, wenn sie auf sehr konzise Weise und auf einer strukturellen Ebene genau jene Problematik antizipiert hat, in die sich die Lesbarkeit einer Prosa wie der von Sandra Cisneros in einen US-amerikanischen Kontext einschreibt: Le caractère ambigu du discours romanesque est également dû au faut que le roman, étant une expression et une narration, reste toujours tourné vers le symbole et se laisse même très souvent submerger par son idéologème. Un roman-épopée résulte de ce fait, roman qui possède les propriétés symbolique que nous avons définies pour commencer : le discours est restrictif au UNIVERSAUX à exprimer […] ; la syntaxe narrative exclut le PARADOXE […]. L’idéologème du signe, que le roman a incarné à ses débuts avec Rabelais, Cervantes, Swift, se perpétue […] dans les tentatives modernes de dépasser la programmation close (expressive, représentative) du texte romanesque et d’accentuer son auto-annihilation.¹⁷¹

Worum es mir also geht, ist Folgendes: Die «auto-anihilation» des romanhaften Diskurses ist nicht nur im Sinne einer Minderheitenrhetorik zu denken, also in dem Sinne, dass die «auto-anihiliation» nur auf die Zersetzung eines hegemonialen Diskurses zu beziehen wäre. Es scheint mir jedenfalls mehr als eine glückliche Fügung, dass Kristeva hier mit Narration und Expression ziemlich genau jene Instanzen aufgreift, die Bhabha als das an Narrationen auszumachende Recht formuliert hatte und die hier keine sich ergänzende, sondern eine antagonistische Beziehung eingehen. Dass diese gattungstheoretische Ambivalenz auch in Cisneros’ Prosa auszumachen ist, ist zwar des Öfteren bemerkt, aber nicht weiter theoretisiert worden. So findet sich in Ganz’ Einführung zu dem Werk der Chicana-Autorin folgendes Resümee: Ever since the publication of The House on Mango Street, critics have debated the degree to which Cisneros embraces both forms simultaneously. […] It is unlikely that critics will ever reach a definitive agreement on the matter of whether Cisneros’s writing is poetic prose or prose-like poetry. I predict, however, that this question will persist throughout her literary career, continuing to arise in subsequent criticism of her work.¹⁷²

Dass dies ein Aspekt ist, der nicht nur in der immanenten Poetik der Texte zu finden ist, sondern für Cisneros eine grundlegende gattungstheoretische Frage

170 Julia Kristeva: Le text du roman, S. 190. 171 Ebd. 172 Robin Ganz: Sandra Cisneros: Border Crossings and beyond. In: MELUS, Vol. 19, No. 1, Varieties of Ethnic Criticism (Spring, 1994), S. 28.

Der Roman zwischen expression und narration 

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ist, die eben zwischen dem lyrisch-expressiven und dem zeichenhaften Exzess pendelt und die sich mit einer literarischen Referenz begründet, die doppelt vielsagend ist, mag das folgende Zitat mehr als deutlich belegen: I recall I wanted to write stories that were a cross between poetry and fiction. I was greatly impressed by Jorge Luis Borges’ Dream Tigers stories for their form. I liked how he could fit so much into one page and the last line of each story was important to the whole in much the same way that the final lines in poems resonate. Except I wanted to write a collection which could be read at any random point without having any knowledge of what came before or after. Or, that could be read in a series to tell one big story. I wanted stories like poems, compact and lyrical and ending with a reverberation.¹⁷³

Aus lateinamerikanistischer Perspektive ist neben Borges natürlich auch Cortázars Rayuela herauszulesen, wenn es heißt, die Lektüre könnte quasi zufällig von jedem beliebigen Punkt beginnen. Dieses Prinzip, das in The House in Mango Street wohl am deutlichsten umgesetzt ist, hat mit der doppelten Diskurslogik literarischer Prosa (also dem Roman) zu tun. Während das lyrische Dispositiv die absolute Nähe zu einer Stimme inszeniert, umspielt und fingiert, indem es auf die Konzentration und Verdichtung einer Aussage zielt, also seine Aussage gemäß des Modus der expression strukturiert, ist das epische Dispositiv genau dann und zugleich wirksam, wenn dieser Konnex durch den Nachklang («resonate») potentiell ironisiert werden kann. Der Nachklang stellt gewissermaßen jenen sprachlichen Exzess dar, der die Einheit der Stimme immer wieder in Frage stellt. Die closure der expression wird zurückgenommen, wenn der Nachklang auch jenseits der Binnennarration transtextuell wirksam ist. Die Grenze des Textes als lediglich intern relationiertes System – dem lyrischen Dispositiv entsprechend – wird in einem Text wie Caramelo schon auf formaler Ebene durch die vielen Paratexte unterwandert. Im gleichen Maße wie der Text versucht, so viel wie möglich zu integrieren, stellt er immer wieder die Unmöglichkeit aus, genau dies zu leisten. Diesen beiden Dispositiven entspricht auch ein Doppel an Bewegungsfiguren. Die Welt des Romans ist nicht nur eine Reise zu etwas, also ein Einlassen auf die expression, sondern immer auch eine Bewegung der Romanwelt in die Welt des Lesers, indem die Lektüre zu jenem Moment wird, da sich jede Geschichte auch selbst zersetzen kann, als inventio ausstellt. Mir scheint es kein Zufall, dass Sandra Cisneros in ihren Romanen vor allem diese Pendelbewegung beschreibt, die nicht nur zwischen Mexiko und den USA stattfindet, sondern ebenso zwischen Erzählvorgang und Erzähltem oder auch zwischen Affirmation und Rela-

173 Sandra Cisneros: Do You Know Me?, S. 78.

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 Sandra Cisneros: Zur Poetik der Übersetzung

tivierung. Auf diesen Aspekt hat Minrose Gwin aufmerksam gemacht, wenn sie den Raum weder als einen Ort der Identität noch als einen lokalen Raum der Aushandlung begreift, sondern als Reiseraum und Raumreise: “Space travel” paradoxically relies on a reader’s willingness to be her-self read, understood, and relocated at the same time she is reading, understanding, and locating a text-to become both active and passive. This does not mean the donning of the double lens of self and other in order to seek entry into an immobile text. It is rather a mutual encounter that offers the opportunity for cross-cultural inquiry. Reader asks text questions; text asks reader questions. Reader travels text; text travels reader. I suggest imaginative travel as a feminist reading strategy with an awareness of the limitations and complexities of cross-cultural inquiry and the problematic nature of the metaphor of travel. […] My question is: How is it possible to invent other conceptions of travel? What may be required is a sense of travel as movement in two different directions at once, a spatial fluctuation. A movement away from an arrogant failure of identification.¹⁷⁴

Sandra Cisneros’ Caramelo lässt sich als eine Antwort auf diese Frage begreifen. Wenn Lala – wie auch Gwin¹⁷⁵ – das Selbstreflexive einer solchen Reise im Akt der Erfindung ausstellt und eben nicht nur in dem, was sich qua Zitat und Lektüre aneignen lässt (und das nach gut 400 Seiten, vielen erklärenden Fußnoten und einer Vielzahl an Episoden), dann ist genau diese Pendelbewegung gemeint, deren Tragweite verkannt ist, wenn sie nur auf die Figur des Emigranten reduziert wird: And I don’t know how it is with anyone else, but for me these things, that song, that time, that place, are all bound together in a country I am homesick for, that doesn’t exist anymore. That never existed. A country I invented. Like all emigrants caught between here and there.¹⁷⁶

Lässt sich der oben zitierte Prozess der Stimmwerdung, den Cisneros 1991 als den Weg der Stimme zur Schrift dargelegt hat, auch anders lesen? Kann die Schrift, in und durch welche die Differenz ideal präsent ist, anders als «absolute Nähe der Stimme zum Sein»¹⁷⁷ verstanden werden? Vieles scheint dafür zu sprechen: It was not until this moment when I separated myself, when I considered myself truly distinct, that my writing acquired a voice.¹⁷⁸

174 Minrose Gwin: The Connective Politics of Feminist Reading. In: Signs, Vol. 21, No. 4, Feminist Theory and Practice (Summer, 1996), S. 882–883. 175 Ebd. 176 Sandra Cisneros: Caramelo, S. 434. 177 Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 21. 178 Zitiert nach: Jim Sagel: „Sandra Cisneros“. In: American Studies Newsletter 37 (September 1995), S. 30–32., hier: S. 31.

Der Roman zwischen expression und narration 

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Jedoch: «I seperated myself» ist eine Formulierung, die sich nicht nur im Sinne einer positiven Differenzoperation lesen lässt, sondern auch als eine bewusst rhetorische Operation, die als solche gerade nicht auf ein reibungsloses Entsprechungsverhältnis verweist. Das «truly distinct» wäre dann allenfalls die verspätete und vielleicht auch ironische Anerkennung. Aber wie «truly distinct» kann eine Stimme sein, die selbst von einem im Inneren der Sprache angesiedelten Dialog durchzogen ist, um auf die Wendung von Octavio Paz zurückgreifen? Kann sich «truly» überhaupt anders als rhetorisch und ironisch behaupten, wenn die Stimme selbst schon eine Durchkreuzung diverser Geschichten ist? Impliziert diese Stimme nicht vielmehr eine andere Deutung des «seperate myself» und zwar in dem Sinne, dass diese Stimme bereits eine Distanznahme zu jenem Ich voraussetzt, das sich als vermeintlich gegebenes und gelebtes ausgibt? Ist wirklich nur die Artikulation einer soziokulturellen Differenz dasjenige, was unterdrückt wird? Die eigene Stimme, so zumindest in Caramelo, steht in Spannung zu der immer nur partiell verfügbaren Summe des «talking», das als Gebrüll («roar») die Ordnung der Subjekt-Stimme im maximalen Literalsinn «irrevocable» zersetzt: And I realize with all the noise called “talking” in my house, that talking that is nothing but talking, that is so much a part of my house and my past and myself you can’t hear it as several conservations, but as a roar inside a shell, I realize then that this is my life, with its dragon arabesques of voices and lives intertwined, rushing like a Ganges, irrevocable and wild, carrying everything always in reach […] All, all, all of this, and me shutting the noise with my brain as if it’s a film and the sound has gone off, their mouths like snails against the glass of an aquarium.¹⁷⁹

Man sieht, wie das anfangs zitierte Doppel von Einschreibung und widerständigem Zitat im Roman sich ausspielt und gegen die ‘Subjekt-Stimme’ wendet. Am Ende steht der von Cisneros nur andeutungsweise Verdacht, den Bolaño explizit machen wird, dass es nicht das schlechteste Schicksal des Romans ist, wenn er am Ende «nothing but talking» ist. Von der Welt als etwas, dem die Sprache fehlt und die sich durch Darstellung ins Leben bringen will (García Márquez) zu einer Welt, die in ihrer Darstellung nie nur sie selbst sein kann (Cisneros) kommen wir mit Bolaño in eine Welt, die sich durch die Implosion ihrer Darstellung behauptet.

179 Sandra Cisneros: Caramelo, S. 424.

8 Borges, Bolaño und der Roman Dass Borges sich eignet, in das Romanwerk des Chilenen Roberto Bolaño einzuführen, ja hierfür vielleicht gar unabdingbar ist, spricht schon aus einem prominenten, weit verbreiteten, zur Anonymität abgesunkenen bonmot, wonach Roberto Bolaño mit Los detectives salvajes (1998) jenen Roman verfasst haben soll, den Borges hätte schreiben wollen. Borges und der Roman – das mag überraschen. Immerhin hat Borges selbst nie einen Roman geschrieben und auch war er kein sonderlicher Freund dieser Gattung.¹ Nun hat es der Autor dieser «inaceptable frasecita»² klugerweise vermieden, diese nur mühsam zu belegende Aussage weiter zu begründen und – angesichts der Tatsache, dass Bolaño immer wieder anempfiehlt, Borges zu lesen, ihn mehrfach in seinen Werken zitiert und zu den wenigen Autoren zählt, die «obras maestras absolutas»³ verfasst haben sollen – hat er dies womöglich auch deshalb vermieden, da die Aussage trotz ihrer nicht unwesentlichen gattungstheoretischen Schwierigkeiten unmittelbar einleuchtet. Dennoch scheint es mir eine lohnende Aufgabe, diese Behauptung beim Wort zu nehmen und sich zu fragen, was die Romane des Chilenen an sich haben, dass sie das Vermächtnis eines Autors für eine Gattung qualifizieren, die von diesem für eine in der Regel zu lang geratene Idee gehalten worden ist, eine Dummheit. Hier wird sich erweisen, dass diese an sich gattungstheoretische Frage nicht auf einer genuin literaturästhetischen Ebene beantwortet werden kann. Denn der Name Borges steht in Bolaños Werk und Reflexionen nicht nur für eine bestimmte Poetik, sondern ebenso für eine Reihe von literaturtheoretischen und sprachphilosophischen Überlegungen, mit denenen Bolaño den Roman mit und gegen Borges als (lateinamerikanische) Gattung rehabilitiert. Es geht also um eine Rhetorik, die – und darin ganz dem romantheoretischen Paradigma verpflichtet – im Bezug auf eine literarästhetische Frage immer auch mehr als das Literarische verhandelt.

1 So äußert sich Borges im 1974 veröffentlichten Gespräch mit Fernando Sorrentino mehr als deutlich: «[…] nunca pensé en escribir novelas. Yo creo que, si yo empezara a escribir una novela, yo me daría cuenta de que se trata de una tontería y que no la llevaría hasta el fin». Vgl.: Fernando Sorrentino: Siete conversaciones con Jorge Luis Borges. Buenos Aires: El Ateneo 1996, S. 219. 2 Ignacio Echevarría: Bolaño extraterritorial. In: Paz Soldán, Edmundo/Faverón Patriau, Gustavo (Hg.): Bolaño salvaje. Barcelona: Ed. Candaya 2008, S. 435. 3 Roberto Bolaño: La traducción es un yunque. In: Ders.: Entre Paréntesis. Barcelona: Anagrama 2004, S. 223.

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Denn gleichzeitig und nicht minder entscheidend jedoch funktioniert der Name Borges wie eine diskursive, mit globaler Überzeugungskraft ausgestattete Marke, mit der sich auf eine bestimmte diskursive Formation bezogen wird. Borges als Paten eines Romans zu nehmen, der von einem in Spanien schreibenden Chilenen verfasst worden ist, signalisiert auch, dass es noch eine andere und vermeintlich weniger lokale Geschichte des (lateinamerikanischen) Romans zu schreiben gilt, eine, die sich nicht vom Magischen Realismus herleitet, die sich weniger auf eine ‘Positivität’ wie ein ‘echtes’ Lateinamerika oder ‘echte’ Romanautoren beruft, sondern ‘irgendwie universaler’, weniger folkloristisch, vielleicht auch anspruchsvoller und experimenteller ist. Diese doppelte Ebene, die in dieser sowohl literaturästhetischen wie auch rhetorischen Relektüre einer bestimmten Gattungsgeschichte zum Ausdruck kommt, zeigt nur, was in so gut wie aller kritischen Literatur zu dem Werk des Chilenen zu beobachten ist. Bolaño ist nie nur eine literaturästhetische Frage, Bolaño steht auch für eine literaturhistorische und kulturtheoretische Polemik. Auch wenn oftmals der eine Aspekt leichtfertig mit den anderen erklärt wird bzw. die literaturästhetischen Fragen ausschließlich rhetorisch beantwortet werden und die rhetorisch-polemische Dimension seines Werkes allein auf jenen Bereich beschränkt wird, der im Verhältnis zu einer überlebten, magischrealistischen Poetik des Romans von Bedeutung ist, soll Bolaño hier nicht auf diesen Bedarf reduziert werden. Ein tatsächlich nachvollzogener Bezug auf Borges hat den Vorteil, dass mit ihm ein Bolaño freizulegen ist, der sich nicht nur – wie etwa die literarischen Gruppierungen McOndo oder auch El Crack – als Überwindung eines Vergangenen qualifiziert und mehr ist als bloß Post-Boom. So steht dieses Doppel von rhetorischen und literarästhetischen Aspekten nicht nur für eine bestimmte Eigenheit von Bolaños Werk, sondern auch für die diskursiven Implikaturen, der sich der Roman als Wirklichkeitsdarstellung zu stellen hat. Dass Gattungstheorie zu einem guten Teil auch eine rhetorische Dimension hat, wird hier offenkundig und hat speziell die gattungstheoretische Debatte des Romans von Anfang an begleitet. In diese nicht zuletzt literaturhistorische Polemik kann man mit John Barth einführen, wenn er von einer «literature of exhaustion» mit Bezug auf Borges sprach und mit Bezug auf García Márquez von einer «literature of replenishment». Die Literaturgeschichte, die Barth hierbei ausmacht, sind nicht echte Epochen, sondern Erfahrungswerte einer Nachmoderne und insbesondere ihrer Wirklichkeitdarstellungen. Während Borges den «dernier cri modernism»⁴ re-

4 John Barth: The literature of replenishment. In: Ders.: The Friday Book: Essays and Other Nonfiction. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1984, S. 205, kursiv im Original.

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 Borges, Bolaño und der Roman

präsentiert, ist García Márquez für Barth «that evitable succession: an exemplary postmodernist and a master of the storryteller’s art.»⁵ Für den konkreten Zusammenhang der Linie Borges-Bolaño stellt sich die Frage, ob nicht nunmehr eine umgekehrte Situation vorliegt und Bolaño die unausweichliche Folge des «replenishment» ist. Würde man die Sache verkennen, wenn man den diskursivrhetorischen efecto Bolaño als eine Einschreibung in einen postmodernen dernier cri begreift? Wird dem ein weiteres replenishment folgen? Man sieht leicht, um welches Prinzip es hier geht. Doch hier soll nicht mit Barth eine (lateinamerikanistische) Polemik erläutert werden, die er hatte vielleicht voraussehen können, sondern darum, an dieser Polemik eine romantheoretisch relevante Ambivalenz der Gattungstheorie aufzuweisen: Auf einer spezifisch gattungstheoretischen Ebene stellt sich die (mit dem von Barth verwendeten Begriff ficition ja nicht drängend werdende) Frage, was es auch über den Roman selbst sagt, dass Borges als eine Art Vorreiter für eine auf García Márquez folgende Romanpoetik fungieren kann. Denn wenn der Roman auf eine sehr spezifische Weise die Darstellung von Wirklichkeit zum Gegenstand hat, dann ist offenbar – und darin würde ich Barth folgen, der dies nicht zufällig an dem Paar Borges-García Márquez ausmacht –, dass die Geschichte des Roman nicht die eines Telos ist im Sinne einer sich immer genauer erweisenden Darstellung (das war das implizite Argument von Ortega y Gasset). Vielmehr ist seine Geschichte davon geprägt, mit seiner ‘Welt’, immer wieder die zwei in Spannung stehenden Pole Darstellung und Wirklichkeit auszuhandeln und das häufig von einer Polemik der Überwindung begleitet. Nicht zuletzt aus diesem Grund hat ein solchermaßen gedeuteter (Rück-)Bezug auf Borges den Vorteil, dass für Bolaño das vor allem durch eine bestimmte magisch-realistische Rhetorik besetzte Problem der lateinamerikanischen Wirklichkeitsdarstellung aus einer anderen Perspektive sich entwickeln lässt bzw. ausgehend von einer an Borges exemplifizierten Wirklichkeitsdarstellung, in der Wirklichkeit etwas ist, was sich als erschöpfte entzieht bzw. immer schon verstellende Darstellung ist und jedenfalls nicht eine Fülle, die sprachlich kaum zu bewältigen ist. Zu Beginn hatte ich die Figur der Überschreitung für den Roman ebenso in einem wirklichkeitstheoretischen, kulturtheoretischen und gattungshistorischen Sinne bestimmt und zwar dadurch, dass der Roman in all diesen Ebenen die Überschreitung seiner Welt impliziert. Mit dem Begriff der Weltenvielfalt wird es also möglich nachzuzeichnen, wie sehr auch Borges von einer im Roman beschlossenen Problematik ausgehet, wenn man davon ausgeht, dass es der mo-

5 Ebd.

Borges, Bolaño und der Roman 

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derne Roman ist, der das Verhältnis von Textwelt und Lebenswelt – und zwar von Anfang an – als Welten begreift, die insofern strukturanalog sind, als ihre Konsistenz sich ihrer Kontextualität verdankt. Somit werden zwischen diesen beiden Instanzen Überschreitungen in beide Richtungen möglich, so dass, verstanden auch als eine Instanzen-Konkurrenz, sowohl Textwelt sich in Lebenswelt trägt wie auch umgekehrt. Fülle wäre eine ‘Aufladung’ oder auch ‘Erweiterung’ von Lebenswelt durch Darstellung, Erschöpfung hingegen wäre Entzug von Lebenswelt, sofern Lebenswelt sich immer schon als eine von Darstellung überschriebene Welt erweist. Oder anders gesagt: Das Phänomen der Weltenvielfalt als die Spannung zwischen der Welt der Darstellung einerseits und der dargestellten Welt andererseits ist mit dem Roman unauflöslich verquickt und muss es auch, da es erst der Anspruch auf eine Welt ist, der eine besondere Spannung zur Darstellung schafft. Dass diese Bewegungsfiguren nun in diesem Zusammnhang nie einfach eine objektive Beschreibung sind, sondern auch erst durch eine Rhetorik der Positionierung einsichtig werden, zeigt sich daran, dass man dieses metaleptische Moment mit Borges’ Kurzgeschichten leicht assoziert, seltener jedoch mit den Romanen des Magischen Realismus. Wie es aber das Kapitel zu García Márquez deutlich gemacht haben sollte, ist diese metaleptische Logik eine dem Magischen Realismus mitnichten gegenläufige Logik. Wie explizit wiederum dieser Aspekt als eine Vorgeschichte auch in einer der prominentesten Selbsterzählungen des booms zugegegen ist, zeigt sich an den Ausführungen des boom-Autors Carlos Fuentes, der diese ‘Tradition’ einige Jahre vor John Barth beschrieben hat. Das will sagen: So sehr mit der Linie Borges-Bolaño scheinbar eine Gegengenealogie zum lateinamerikanischen Roman zum Ausdruck kommt, wird hier doch mitnichten eine komplett andere und komplett neue Geschichte erzählt. Auch wenn – wie ich zeigen werde – sich unterschiedliche Positionen hinsichtlich des Vorläufers Borges ausmachen lassen, so geht es bei der den boom aussparenden Linie Borges-Bolaño, vor allem um ein Aufbrechen einer verkrusteten magischrealistischen Identitäts-Rhetorik, die – wenn man ihre «constitución borgeana»⁶ ernst nimmt – nicht zuletzt dem Roman des booms selbst suspekt sein müsste. Mit explizitem Bezug auf einen post-mythischen Weltbegriff des Romans im Sinne eines Weltbegriffs, der sich immer schon mit einer anderen Welt konfrontiert weiß, erklärt Fuentes Borges zu einem Vorreiter, ja zur unabdingbaren Voraussetzung des modernen boom-Romans:

6 Carlos Fuentes: La nueva novela hispanoamericana, S. 24.

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 Borges, Bolaño und der Roman

En la literatura de ficción, es Jorge Luis Borges quien rescata este derecho para crear, a su vez, una narrativa mítica (y su mito es el de un segundo mundo que nos nombra, y nos sueña, y a veces hasta nos mira). […] De alli la necedad de los que acusan a Borges des ser «extranjerizante» o «europeísta»: ¿puede haber algo más argentino que esa necesidad de llenar verbalmente los vacíos, de acudir a todas las bibliotecas del mundo para llenar el libro en blanco de Argentina? Pero al hacerlo, Borges, además enfrenta a la totalidad de la lengua castellana con sus carencias y, por allí, con su relatividad. Esta prosa deslumbrante […] es la primera que nos relaciona […] que nos saca de nuestras casillas, que nos arroja al mundo y que, al relativizarlo, no nos disminuye, sino que nos constitutye. Pues el sentido final de la prosa de Borges –sin la cual no habría, simplemente, moderne novela latinoamericana– es atestiguar, primero, que Latinoamérica carece de lenguaje y, por ende, que debe constituirlo.⁷

Von den vielen Kommentaren, die man zu diesem doch bemerkenswerten Zitat machen könnte, möchte ich zwei Aspekte hervorheben: Zum einen die Sprachproblematik, die explizit an die Geschichte der Neuen Welt und ihrer Konstitutionen gebunden ist (und die folglich auch für Borges gilt) und zum anderen die Relativität, die gleichzeitig als eine durch literarische Weltenvielfalt erfahrbare Relationalität von Welt zu lesen ist: von den beengenden «Häusern» geht es in die Welt. Beides, der Mangel von Sprache auf der einen und das sich daraus herleitende Phänomen von Weltenvielfalt auf der anderen Seite, sind für Fuentes zwei Aspekte, die für die lateinamerikanischen Kulturen ‘konstituierend’ sind. Inwiefern lassen sich aber nun auch jenseits der Rhetorik positionale Unterschiede ausmachen und zwar im Sinne einer Präzisierung dieser Weltproblematik? Es ist sicher kein Zufall, dass in Fuentes’ Monographie La nueva novela latinoamericana, die vor allem sich dem Roman des booms widmet, auch Borges als jemand lesbar wird, der eine Leere auffüllt und somit zumindest nicht uneingeschränkt eine Literatur der Erschöpfung vertritt, sondern durchaus das unbeschriebene Buch Argentiniens schreiben möchte, also Lebenswelt qua Darstellung bereichern. So steht die Abwesenheit einer eigenen Sprache selbst für die Kritik aus einer konkreten Geschichte heraus: «La gran ausencia en la prosa de Borges, lo sabemos, es de índole crítica.»⁸ Hier lässt sich eine Differenz ausmachen, die dem Gegensatzpaar von Erschöpfung und Fülle, wenn auch präzisiert durch das dem Roman eingelassene Darstellungsproblem, eine gewisse Gültigkeit verleiht. Sich in einer Welt zu wissen, die – um auf die von Fuentes vorgelegte Bestimmung sprechen zu kommen und die geradezu idealtypisch die koloniale Situation vor Augen hat – von einer

7 Ebd., S. 25–26, kursiv im Original. 8 Ebd.

Borges, Bolaño und der Roman 

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anderen Welt «benannt, geträumt und manchmal auch geschaut» wird, kann als eine ex negativo sich artikulierenden Fülle gedeutet werden, gerade weil sich eine chronisch unpassende Sprache sich nicht der Welt gefügig macht, sondern selbst die Bruchstellen von Welt anzeigt und so die Konstitution einer qua Kritik anzueignenden Sprache in Aussicht stellt: Pero el paso de del documento de denuncia a la síntesis crítica de la sociedad y la imaginación no hubiese sido posible sin este hecho central [la gran ausencia, PVO], constitutivo, de la prosa de Borges.⁹

Ob diese neu konstituierte Sprache die des boom-Romans sein kann, ist hier nicht Gegenstand der Debatte, sondern lediglich die Tatsache, dass auch der boom sich der Frage einer widerständigen Sprache gestellt hat und mitnichten auf jene einfache Fülle reiner Erzähllust einer selbst übervollen Welt zu reduzieren ist. Borges ist auch für den boom der Gewährsmann für eine Überwindung der novela social und des costumbrismo. Wie sähe nun das Modell der Erschöpfung aus? Eine Welt als von einer zweiten benannte zu erfahren, kann insofern auf eine Erschöpfung der einen Welt rekurrieren, als diese sprachlichen Bruchstellen nicht auf eine sich ex negativo noch zu konstituierende Fülle verweist, sondern Bruchstellen bleiben und nur als Bruchstellen historisch sind. Zurück zu Borges heißt also im Falle von Bolaño nicht direkt eine Zurückweisung zumindest der ersten Generation des booms, sondern die Wiederaufnahme eines Problembestandes, der auch deshalb erfolgen muss, da die Erstarrung jedweder Kritik nur durch ihre Erneuerung aufgebrochen werden kann. Das Epigonentum, das Bolaño so verhasst war, macht, indem der Stil zur Identitätsmarke wird, vergessen – und deshalb bleibt der Roman die kritische Gattung dieser Frage –, dass jedem Stil und genauer: jeder Darstellungsweise auch ein Darstellungsproblem eingelassen ist. Es ist nur allzu leicht vorwegzusehen und wurde schon bemerkt, dass auch Bolaños écriture droht, ein ‘Stil’ zu werden. Bei Fülle und Erschöpfung handelt es sich also zwar um zwei in ihrer Rhetorik ganz unterschiedliche Dinge, beide aber rekurrieren auf eine gemeinsame und mit dem Roman bestens zu beschreibende Wirklichkeitsproblematik. Erschöpfung oder Fülle erscheint so vor allem als eine Frage der Positionierung angesichts der Bruchstellen jener Sprache, die Wirklichkeit darstellen soll. Das sollte nicht den Blick vor der entscheidenden Gemeinsamkeit verstellen, dass beiden Artikulationen der Rückweg ins Mythisch-Ursprüngliche schon sprach-

9 Ebd., kursiv im Original.

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 Borges, Bolaño und der Roman

lich verstellt ist. Erst unter dieser Maßgabe ist es zulässig, den Unterschied von der Linie Borges-boom und Borges-Bolaño im Gegensatz von Fülle und Erschöpfung auszumachen. Fülle und Erschöfpung sind nicht darauf zu reduzieren, Qualitäten von Welt selbst zu sein, sondern benennen zwei unterschiedliche Weisen, mit der Darstellung von Welt im Kontext von Weltenvielfalt umzugehen. Wenn Fülle sich als die Frage deuten lässt, welche Geschichte außerhalb ihrer selbst fortlebt, dann lautet die Frage die Erschöfpung, wie eine immer von einer anderen Sprache erzählte Geschichte sich nur dadurch behaupten kann, indem sich die Sprache der Darstellung gewissermaßen aus sich selbst heraus erschöpft. Um etwas spezifischer nachzuvollziehen, ob und wie Borges der Vorreiter von Bolaños Romanwerks sein kann und auch um hier nicht einfach eine Art literarhistorisches Naturgesetz zu behaupten, sondern auch eine konkrete Konfiguration nachzuzeichnen, bedarf es einer Figur, die einerseits abstrakt genug ist, um auf einer gattungs-, kultur- und literaturtheoretischen Ebene zu argumentieren und die gleichzeitig spezifisch genug, um sie an den zu besprechenden Texten und Polemiken als bestimmte und eben nicht nur logisch vorgegebene Positionalität nachzuvollziehen. Vor dem Hintergrund des schon in der Einleitung Angedeuteten scheint mir die Überschreitungsfigur des Exils jene Figur zu sein, mithilfe welcher sich die unauflöslich miteineinander verbundenen rhetorischen wie auch literarästhetisch-gattungstheoretischen Dimensionen benennen lassen und die es mir gleichzeitig erlaubt, einige Aspekte dessen zu beleuchten, was eine im Verhältnis zu García Márquez anders ausfallende metalpetische Logik des Romans ausmacht. Die Behauptung des Kritikers Echeverría werde ich also in dem Sinne entwickeln, dass sich ein Großteil der literaturtheoretischen Überlegungen des Argentiniers mithilfe eines gattungstheoretischen Beitrags nicht nur treffend reformulieren, sondern gar pointieren lassen und in den Romanen von Roberto Bolaño eine kongeniale Entsprechung finden. Dass dieser Transfer überhaupt möglich ist, liegt auch am metakritischen Reflexionsniveau, auf dem Borges diverse, an Literatur auszumachende Überschreitungen eines mitunter sehr abstrakten Exilbegriffs behandelt. Da diese Bewegungen das Literarische selbst entgrenzen, kann dies natürlich nicht folgenlos bleiben für eine gattungstheoretische Reflexion wie sie die Romantheorie darstellt, sofern auch und gerade der Roman es mit Überschreitungen und Entgrenzungen zu tun hat, in seiner obdachlosen Sprachlogik (Bachtin) durchaus für ein immer schon vollzogenens Exil stehen kann. Das ließe sich speziell an zwei Aspekten darlegen: Erstens – und dies gilt speziell für die hier zu lesenden Romane – ist Überschreitung selbst prominentes Thema des Romans und zwar so sehr, dass die Überschreitung des Romans selbst zum Thema werden kann. Die Doppeldeutig-

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keit dieser Formel lässt sich nun leicht und etwas schematisch explizieren: Während García Márquez in seinem Roman CAS Überschreitung als einen Umschlag der Literatur in die Lebenswelt beschrieben hat und somit stets die Frage einer bestimmten Wirklichkeit im Blick hat, ließe sich mit der Überschreitung des Romans im Falle von Bolaño (und Borges) eine andere Bewegung denken, die, umgekehrt, Literatur aus sich selbst heraus sich überschreiten lässt so wie das Exil die Absenz von einer bestimmten Wirklichkeit erzählt und gerade nicht ihre Präsenz. Der Roman wäre dann weniger das privilegierte Medium einer selbst durch Überschreitung sich konstituierenden Lebenswelt, sondern – wenn man die Überschreitung vollkommen selbstreflexiv, ja intransitiv begreift – die Figuration dessen, was sich seiner Figuration entzieht und die einer Art Trauerarbeit gleicht, die anders als die von García Márquez auf keine tröstende Positivität zählen kann. Zweitens materialisiert der Roman schon in seiner Form und Geschichte eine auch Kulturen eingelassene Exilbewegung. Damit ist zweierlei gemeint: Als Formprinzip impliziert der Roman insofern immer schon eine Überschreitung, als er die Totalität seiner Darstellung nur auf ironische Weise behaupten kann. Diese Ironie wiederum kommt nur schwerlich ohne eine meist implizite Kulturtheorie aus. Dass der Roman auch in einem globalen Maßstab als die späte Gattung gelten kann und das meint: dass er die Überschreitung einer unmöglich gewordenen Einheit figuriert, macht es erforderlich, die ihm eingelassene Theorie dieser Unmöglichkeit zu deuten. Bolaño wird diese Leerstelle mit Borges als eine der Literatur selbst eingelassene Qualität des Exils bestimmen. Diese Figur der Äußerlichkeit ist eine, die sowohl literaturtheoretisch als auch in Bezug auf Bolaños Werk von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. Die Art und Weise, wie Borges Lektüre und Sprache thematisiert, stellt gewissermaßen die Grundlage dafür dar, dass die Figur des Entzugs nicht im Verlust von Geschichte und auch nicht in den Verlust einer kulturell gedachten Geschichte münden muss und in diesem Sinne auch nicht angewiesen ist auf eine ihr folgende «kritische» Synthese wie es Fuentes formuliert hat. Aber auch in einem weiteren Sinne erweist sich Borges als eine paradigmatische Referenz für Bolaño: Der Argentinier mag insofern auch als Pate einer transarealen Kulturtheorie des Exils gelten, als er zeitlebens daran gearbeitet hat, eine zwar konkret motivierte, aber deshalb nicht lokal beschränkte Theorie und Poetik des Literarischen zu formulieren und zu praktizieren. Sich so vom double bind des Allgemeinen und Besonderen entlastend, hat Borges mehr oder weniger systematisch eine argentinische und lateinamerikanische Theorie der Literatur umrissen, die sich nicht auf die lokalisierenden Konzepte des Originalen, Eigenen oder Spezifischen beschränken muss und auch nicht auf eine Neukonstitution. Anders formuliert: Nicht eine qua Literatur evident gemachte

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Theorie des Lateinamerikanischen ist sein Thema, sondern eine unter anderem auch lateinamerikanistisch perspektivierte Theorie des Literarischen.¹⁰ Auch hier veranschaulicht das Gegensatzpaar von Fülle und Erschöpfung Wesentliches: Fülle wäre Lateinamerika als Darstellungproblem, Erschöpfung hingegen die Darstellungsproblematik als lateinamerikanisches Problem gelesen. Besonders deutlich wird dies in all jenen Texten, in denen Borges eine bestimmte Positionalität gegenüber (Literatur-)Geschichte umreißt, von der ausgehend alle Texte und alle Geschichte Übersetzungen sind und genauer: zu Übersetzungen werden müssen, wenn sie nicht verloren gehen sollen. Hier ist insofern immer schon eine Situation des Transarealen vorausgesetzt, als für Borges die Übersetzung weniger eine Vermittlung fremder Texte in den Bereich des Eigenen meint als eine Lektüre-Praxis, an der sich die eigene Geschichte im Anderen schärft. In diesem Sinne lässt sich auch ein kurzer Text lesen, der unter dem Titel Kafka y sus precursores am 19. August 1951 in der der bonaerensischen Tageszeitung La Nación veröffentlicht wurde. Zusammen mit weiteren zwischen 1937 und 1952 verfassten literaturkritischen Essays fand er Eingang in den Band Otras inquisiciones. In dieser illustren Gesellschaft sollte er zu einem literaturtheoretischen Klassiker werden, der immer dann zitiert wird, wenn es gilt, die literatur- und kulturästhetischen Allgemeinplätze einer postmodernen Dezentrierung zu belegen. So behauptet Borges in einem Ton zwischen Schlussfolgerung und auch Programmatik und in einem Duktus, der literarische Ästhetik und Kulturkritik ineinander übergehen lässt: En el vocabulario crítico, la palabra precursor es indispensable, pero habría que tratar de purificarla de toda connotación de polémica o rivalidad. El hecho es que cada escritor crea sus precursores. Su labor modifica nuestra concepción del pasado, como ha de modificar el futuro.¹¹

Selbst wenn die als postmodern bekannten und geltenden Kritiken der Geschichte als einer diskursiv und politisch konstruierten hier leicht eine literaturkritische Entsprechung finden, möchte ich Borges’ These in eine andere Richtung projizieren. Damit ist nicht in Frage gestellt, dass das Thema, um das es hier geht – das der Tradition und Geschichte nämlich – im Kontext einer postmodernen und auch einer postkolonialen Debatte besonders akut geworden und auch

10 Diese Verschiebung von einer Theorie des Lateinamerikanischen zu einer lateinamerikanisch motivierten Theorie findet sich deutlich in der Argumentationsstruktur des Aufsatzes El escritor argentino y la tradición. 11 Jorge Luis Borges: Kafka y sus precursores. In: Ders.: Obras Completas 2. Buenos Aires: Emece 2005. S. 109.

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besonders gut zu artikulieren ist. In diesem Durchschlag jedoch verweist es auf einen weitergehenden Ursprung. Die hier zu behandelnde Problematik vermag nämlich insofern mit einer historischen Tiefenschärfe versehen werden, als sie sich nicht einer wie auch immer zu bestimmenden Nachmoderne verdankt, sondern gewissermaßen an ihrem kolonialen Anfang steht. Diese Einsicht freilich mag postmoderne und auch postkoloniale Kritik im besten Sinne sein, wenngleich – so Aizenberg – dieser ‘periphere’ Aspekt gerne verdrängt wird: What is forgotten is the peripheric, ex-centric position. The “postmodern” characteristics of Latin American and Borgesian literature enthusiastically embraced by U.S. and European critics – self-reflexivity, indeterminacy, carnivalization, decanonization, intertextuality, pastiche, hybridity, the problematizing of time and space and of historical and fictional narration – are primarily a correlative of a colonized history and an uncohered identity, of incomplete modernity and uneven cultural development, rather than postindustrialization and mass culture. Their uncritical incorporation into a metropolitan repertoire indicates that the centering impulse of a “decentered” postmodernism is far from gone.¹²

Auch wenn dieser selbst dichotomen und in eine Ableitungslogik gleitenden Argumentation nicht in Allem zu folgen ist, so ist doch ein entscheidender Aspekt angesprochen. Die Probleme einer Form oder auch einer Sprache enthalten eine Geschichte. Das jedoch bedeutet noch lange nicht, dass Borges nur als peripherer Autor zu lesen ist. Inwiefern also ist Borges’ Exil-Text historisch-kulturell? Es scheint mir kein Zufall, dass am Anfang dieses Textes die Frage einer absoluten Differenz steht, die – zumindest auf struktureller Ebene – auf jenes lateinamerikanistische Gründungszenario von Sprachgenese rekurriert, das sich im Ursprungstrauma des von Wortlosigkeit gekennzeichneten und (falsche) Übersetzungen auslösenden ersten Kontakts mit einer Neuen und anderen Welt einstellte.¹³ Oben zitierte Folgerung stellt nämlich Borges’ Antwort auf die anfangs unmöglich scheinende Frage nach Kafkas Vorreitern dar. Unmöglich war die Frage, da Kafka (jener Kafka, den García Márquez als einen seiner literarischen Vorreiter nennt) vollkommen einzigartig schien und folglich nicht in eine verfügbare historische Reihe zu setzen war, aus der bisherigen Geschichte der Literatur nicht abzuleiten

12 Edna Aizenberg: Borges, Postcolonial Precursor. In: World Literature Today, Vol. 66, 1 (1992), S. 21. 13 Roberto Bolaño wird diese Figur der «tierra no-historiada» am Beispiel von Gombrowicz zu einer paradigmatisch argentinischen Figur erklären, die aber dadurch eine ‘universale’ Geltung beanspruchen kann, dass sie sich auch als eine literaturspezifische Exilerfahrung begreifen lässt. Vgl.: Roberto Bolaño: Exilios. In: Ders.: Entre Paréntesis, S. 53.

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war. Dennoch vermochte der ‘Konquistador’ Borges nach einer kurzen Weile («a poco de frecuentarlo»¹⁴), nicht weniger als Kafkas Stimme bzw. dessen Gewohnheiten («su voz o sus hábitos»¹⁵) auszumachen. Die ‘Methode’, Kafkas Spuren zu verfolgen, ihn in eine historische Reihe zu bringen und so seines Monadentums zu entreißen, ist literaturtheoretisch insofern von besonderem Interesse, als Borges – aus gutem Grund wie sich zeigen wird – die Frage der Textgeschichte grundsätzlich von der Lektüre her denkt. Kafka wird Borges nicht durch die Erforschung der an Kafkas Text auszumachenden Einflüssen vertraut, sondern durch die Frage, wie Kafka bestehende Lektürepraktiken derart verändert hat, dass man ihn in den unterschiedlichsten Texten wiedererkennt. Die erste beachtenswerte Pointe, deren kulturtheoretische Implikationen nur schwer zu überlesen sind, kulminiert darin, literarische Traditionen, deren Sinn und Sinnpotential an sich nicht in Frage gestellt werden, weniger als Ausdruck einer Genese zu denken, sondern vor allem als retroaktiver Effekt einer Lesekompetenz.¹⁶ Diese wiederum zeichnet sich durch einen verschiebenden Effekt aus: das Werk eines Autors kann nur dann Teil einer Tradition werden und das meint: der Name Kafka ist nur dann mehr als eine genieästhetische Chiffre absoluter Differenz, wenn man seine Eigentümlichkeit («idiosincrasia») jenseits seines Einzugsbereichs in komplett anderen Texten herauszulesen weiß. An dieser Stelle wird offenkundig, dass ein solcher Kafka natürlich auch ein Autor der argentinischen Tradition sein kann. Leistet man Borges’ Aufforderung Folge, wonach die Arbeit eines Autors das Verständnis des Zeitenlaufs verändern soll, dann ließe sich als metahistorische wie literaturästhetische These behaupten: Die Funktionsweise von literarischen Traditionen macht deutlich, dass sich historische Wirksamkeit und historischer Sinn nur in jener transgressiven Situation entfalten, da das Tradierte außerhalb seines angeblich angestammten Platzes eine neue Reihe zu formulieren erlaubt. Dies wiederum impliziert einen Geschichtsbegriff, der, erstens, sowohl ein organisches Werden der Geschichte ausschließt als auch und zweitens (so viel sei aus einem lateinamerikanistischen Kontext impliziert) die Praxis der kolonialen Benennung und Setzung ihrer Anamnese überführt: Im Grund hat sie sich das Benannte nie vertraut machen können. Die retroaktive Logik, die Borges

14 Jorge Luis Borges: Kafka y sus precursores, S. 109. 15 Ebd. 16 Eine ähnliche Pointe findet sich in Borges’ Aufsatz El escritor argentino y la tradición. Hier jedoch hat die Monade einen konkreten Namen: der Folklorismus. Diesen zu überwinden, setzt die Möglichkeit einer Aneignung voraus, durch welche sich Traditionen erst begründen, mithin als Traduktion behaupten können.

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hier veranschlagt, stellt schließlich und drittens auch einen dialektischen Geschichtsbegriff in Frage, da auch hier von einem bestimmten und a priori wirksamen Entwicklungsprinzip ausgegangen wird. Geschichte – so ließe sich resümieren – ist weder natürlich gegeben noch eine qua Setzung zu habende und auch nicht als Entwicklung zu begreifen, sondern wird erst dann zur Frage, da die Dinge nicht mehr bei sich sind. Man wird anmerken wollen, dass Borges’ Verfahren letztlich jede Form kultureller Tradition vollends und auf beliebige Weise zersetzt, ja mehr noch: dass es sich hierbei um eine Theorie der Geschichtslosen handelt oder schlimmer noch: eine Theorie jener, die es vielleicht aus guten Gründen vorziehen, an keine bestimmte Geschichte gebunden zu sein. Die Folge dieses Diskurses kann deshalb nur sein, dass ein jeder seine eigene Fassung der Geschichte hat und dass durch diese Vielfalt Geschichte als sinnstiftende und auch kritische Instanz unbrauchbar wird. Dies mag – sofern man den Begriff von Tradition und von historischem Sinn zu überdenken nicht bereit ist – wie ein gewichtiger Einwand erscheinen. Doch wäre dies ein voreiliges Urteil und zwar nicht nur aus dem Grund, dass man es im Falle von Borges mit einem Schriftsteller zu tun hat, der sich der Frage der Geschichte und vor allem der Frage der eigenen Geschichte sehr lange und ausgiebig gewidmet hat und dem es folglich nicht daran gelegen haben kann, seine eigene Geschichte durch eine inflationäre Vielfalt an Geschichten beliebig zu machen. Aus mindestens zwei weiteren Gründen ist dieser Einwand mit weitreichenden methodischen Folgen zu revidieren. Erstens liegt dieser Interpretation eine fragwürdige Gleichung zugrunde. Es ist nicht gesagt, dass eine rückwirkend etablierte und diskontinuierlich verfahrende Lektüre mit historischer Beliebigkeit gleichgesetzt werden muss. Immerhin wäre es denkbar, dass gerade das Verfahren einer versetzenden Lektüre historischen Sinn und historische Kritik produziert in einer Situation, da die Ursprünge und der Verlauf einer Geschichte unverfügbar bzw. nur schwerlich als Kontinuität zu artikulieren sind und umgekehrt ‘Kontinuitäten’ sicher Indizien dafür sind, dass Geschichte nicht mehr gelesen oder verstanden wird, sondern im wesentlichen erzählt. Damit ist bereits der zweite Einwand angedeutet: Es ist eine verfängliche Annahme zu meinen, Geschichte sei lesbar, wenn man ihrem Gesetz in wie auch immer feststellbaren Spuren folgt. Wäre dem so, dann bräuchte man tatsächlich nichts weiter als eine Hermeneutik ihrer Spuren. Dass das Problem für Borges anders zu liegen scheint, verdeutlicht schon seine Deutung des Verhältnisses von Kafkas Werk zu seinen rückwirkend bestimmten Spuren. Nicht deren Verhältnis zu Kafka ist das entscheidende, sondern das Verhältnis, das diese nachträglich benannten Vorreiter untereinander eingehen:

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Si no me equivoco, las heterogéneas piezas que he enumerado se parecen a Kafka; si no me equivoco, no todas se parecen entre sí. Este último hecho es el más significativo.¹⁷

Damit jedoch steht nichts Geringeres in Frage als der Gegenstand der (literatur-) historischen Arbeit. Ihr Gegenstand wäre nicht die Genese eines Textkorpus’, sondern die Möglichkeiten eines intentionalen Leseaktes, nicht die Übersetzung des Selbst, sondern ein Selbst der Übersetzung. Der Unterschied besteht darin, dass dieser Akt, auch sich selbst in seinem Vollzug historisierend, anders als eine reine Text- bzw. Spurengeschichte historisiert. Diese Verschiebung des historischen Ortes – von der Textgeschichte zur Leseintention – impliziert nämlich sowohl eine Veränderung eines kausalen Zeitenlaufs als auch eine andere Referenz für die Neuordnung desselben. Diese Verschiebung deutet Borges dadurch an, dass er zwar von einem Autor spricht, der sich selbst seine Vorreiter schafft. Dies jedoch tut er in vollem Bewusstsein, dass nicht der Autor selbst der Ursprung dieser Intention sein kann, sondern einzig und allein der immer schon versetzende, für den Autor ja nicht minder bedeutsame Akt der Lektüre. Die entscheidende Pointe in Borges’ Beitrag besteht darin, dass er diese schöpferische Intention zwar Kafka zuschreibt, aber de facto der Lektüre überantwortet und überantworten muss, wenn die entscheidendere Relation die einer nachträglichen Differenz und nicht die einer sich entwickelnden Ähnlichkeit ist. Geht also der Text in Lektüre auf? Ist Textgeschichte gleich Lesegeschichte? Während die zweite Frage nicht ohne weiteres zu beantworten sein wird, ist die erste Frage definitiv zu verneinen. Diese These möchte ich hier an dem zweifelsohne problematischen, aber dennoch erhellenden Begriff der Intention diskutieren. Weniger das durch ihn Bezeichnete ist dabei das Erhellende, sondern der durch ihn entstandene Explikationszwang: In welchem Sinne und von wessen Intention ist die Rede? Dass Borges von der Arbeit des Autors («labor del autor») spricht, ist durchaus als ein ernst gemeinter Hinweis darauf zu sehen, dass der Text und die Frage seiner Geschichte nicht vollkommen mit seiner Rezeption gleichgesetzt werden sollten. Nicht nur die Lektüre, auch der Text selbst (als der materiale Effekt der Arbeit des Autors), stellen eine Tätigkeit dar, die ohne ein Moment der Intentionalität nicht zu denken ist. Wie aber, so drängt sich die Frage auf, kann diese Arbeit eine schon vorhandene sein und gleichzeitig Effekt der Lektüre? Eine dialektische Synthese bietet sich als eine ebenso einfache wie schlüssige Antwort an: Der Text und seine Geschichte bewahren sich im intentionalen Akt der Lektüre. So wie erst die Lektüre den Text in seiner relationalen Logik ausformt, so

17 Ebd., S. 109.

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kann sich die Lektüre nur an dem ereignen, was der Text der Lektüre an Ereignisraum vorgibt. Diese Lösung jedoch kann hier nur dann überzeugen, wenn sie nicht im Sinne eines versöhnend-dialektischen Szenarios verstanden wird. Letzteres nämlich würde neben vielen anderen Problemen vor allem eine Frage unterschlagen, die man mit Paul de Man die Unendlichkeit des literarischen Leseprozesses nennen kann. Man könnte diese Unendlichkeit leicht für die Unendlichkeit einer dialektischen bzw. dialogischen Struktur und das meint: für die unendliche Annäherung hin zu einer hypothetisch geglückten Synthese nehmen. Dieses hermeneutisch-dialogische Modell von literarischerer Historizität rekurriert jedoch insofern auf einen nicht nur für Borges problematischen Geschichtsbegriff, als die Annäherung zwischen dem ‘historischen’ Text und seinem Leser sich allein über das Verstehen von Textbedeutungen vermitteln kann.¹⁸ Im Verlauf eines solcherart verstandenen Verstehensprozesses ist also durchaus eine direkte und sich selbst explizierende Vermittlung der Alterität des Textes denkbar. Mit anderen Worten: Die Intentionen von Text und Lektüre entsprechen sich mit Blick auf die Bedeutung als «immanente Sinneinheit» auf der einen und «transzendenter [weil vom konkreten Leser vollzogene, PVO] Sinnerwartung»¹⁹ auf der anderen Seite. Indem Borges nun die Geschichte eines Textes in einer versetzenden oder auch schaffenden Lektüre ausmacht, in deren Vollzug die Intention des Textes und die der Lektüre zwar zusammenfallen, sich aber dennoch nicht entsprechen können, deutet sich eine andere Unendlichkeit der Lektüre an als die der sich erschöpfenden Annäherung und auch eine andere historische Kategorie als die der Bedeutung bzw. des Bedeutungswandels. Es handelt sich dabei um eine dem Text zuwiderlaufende Intentionalität, deren Prozess deshalb unendlich ist, weil er sich in einer triadischen Struktur ereignet und das meint: sich ständig versetzt. Nicht das konstruktive Moment an sich und auch nicht die Subjektivität des Verstehens machen folglich eine in einem ganz literalen Sinne zu verstehende transareale Theorie der Lektüre und letztlich der Literaturgeschichte insge-

18 Besonders konzise hat gegen dieses hermeneutische Vorurteil de Man argumentiert: «If we no longer take for granted that a literary text can be reduced to a finite meaning or set of meanings, but see the act of reading as an endless process in which truth and falsehood are inextricably intertwined, then the prevailing schemes used in literary history (generally derived from genetic models) are no longer applicable». Vgl.: Paul de Man: Blindness And Insight: Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism. New York: Taylor & Francis Group 1983, S. ix. In der folgenden Diskussion der hermeneutischen Vorurteile beziehe ich mich hauptsächlich auf Gadarmers Hermeneutik, die sich auch mit der Bedeutung und dem Bedeutungswandel von Texten befasst. 19 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Tübingen: Mohr 1960, S. 299.

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samt notwendig, sondern eine unaufhörliche Spaltung, die in dieser Überschreitung auf ein Anderes und Drittes der Lektüre ihren historischen und kulturellen Index einträgt. Statt also die Implikationen des Verstehens offenzulegen, führt die Lektüre eines literarischen Textes zu einer überschreitenden, in einem strukturellen Sinne transarealen Exilbewegung, die sowohl in einem kulturtheoretischen Sinne als transkulturelle Bewegung zu verstehen ist als auch in einem methodischen Sinne als transhermeneutische und transstrukturale Bewegung. Literaturgeschichte – und darin liegt für Borges ihr paradigmatischer kulturtheoretischer Wert – konstituiert sich durch eine versetzende Lektüre jenseits dessen, was als das Umfeld des zu historisierenden Textes gilt. Literaturgeschichte ist folglich eine Lesekompetenz und gerade nicht eine wie auch immer begründete Summe von Texten, die ein letztlich beliebiges Merkmal zusammenhält. Damit ist gesagt, dass die Geschichte des Textes nicht als die Wirkung eines Textes und auch nicht als die Summe seiner Einflüsse zu begreifen ist, sondern tatsächlich als die Geschichte einer Lektüre oder genauer: seiner Lesbarkeit. Dieser Begriff von Lektüre unterscheidet sich als literaturtheoretische Kategorie und literaturästhetische Potenz vom positiven Akt der Rezeption dadurch, dass damit weniger eine konkrete Lektüre das zugrundeliegende Modell ist als vielmehr eine bestimmte Qualität von Literatur selbst, durch die die literarische Intentionalität als die ihrer Lektüre bestimmbar wird. An dieser Stelle verweist der Begriff der Lektüre wieder auf den Text und genauer: auf eine bestimmte Qualität von literarischen Texten, so dass der Begriff der Lektüre, ganz so wie ihr Gegenstand, in sich gespalten ist. So ist der literarische Text als ästhetisches Objekt nicht zuletzt deshalb ein nur durch eine eigene Intentionalität zu verstehende Entität, als er nicht nur über die Summe seiner Sinneseindrücke zu erfassen und bewahren ist, wie ein guter Wein etwa, und auch nicht über das Feld bzw. das Vorurteil (s)einer möglichen Bedeutungen wie ein Gesetzestext etwa. Wenn nun die Intention des literarischen Textes seine Lektüre ist und also nicht der einzuholende Sinn, dann macht er im Moment seiner Formation insofern seine eigene unbestimmte Überschreitung erforderlich, als diese Lektüre – vom Diktat eines in sich stimmigen Sinns entlastet – zu keinem Ende kommen kann. Nicht umsonst bezeichnete Borges mal das Ästhetische («el hecho estético») als «[…] esta inminencia de una revelación, que no se produce […].»²⁰

20 Jorge Luis Borges: La muralla y los libros. In: Ders.: Obras Completas 2. Buenos Aires: Emece 2005. S. 4.

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Dies lässt sich mit der von Benjamin²¹ ausgerufenen und von de Man bekräftigten Losung umschreiben, wonach die Sprache und ihre Geschichte in ihrer Intentionalität nicht auf den Menschen im Sinne eines übergreifenden Subjekts zu beziehen sind – ein Motiv, das auch Borges mehrfach thematisiert hat und das Bolaño mit der Metapher einer «gepanzerten Maschine» umschrieben hat: La literatura es una máquina acorazada. No se preocupa de los escritores. A veces ni siquiera se da cuenta de que éstos están vivos. Su enemigo es otro, mucho más grande, mucho más poderoso, y que a la postre la terminará venciendo. Pero ésta es otra historia.²²

Diese zweifelsohne etwas kraftvolle Aussage ist nicht in dem Sinne zu verstehen, dass die (literarische) Sprache dem Menschen nichts bedeuten kann, sondern dahingehend, dass sie nie vollends kongruent sein kann mit der Geschichte und dem Verständnis des konkret Lesenden und dass ihre Geschichte nicht den Pseudo-Subjekten der Geschichte (wie etwa Nation, Region, Kultur oder Ethnie etc.) entspricht. Daraus folgt, dass die Lektüre eines literarischen Textes (und wie sich zeigen wird, erst recht seine Übersetzung) der literarischen Intentionalität deshalb weniger im Sinne einer passgenauen Ausführung entspricht als vielmehr durch das in der Versetzung erfolgte Aufbrechen eines fälschlicherweise für natürlich gehaltenen (Bedeutungs-)Zusammenhangs. Tatsächlich – und Borges’ Kommentar zu Kafka bekräftigt dies – mag dieses Aufbrechen als die eigentliche Arbeit des Autors gelten, so dass sich die Intentionen des Textes und der Lektüre nicht über die Bedeutung vermitteln, sondern als selbst historische Bewegungsfiguren. Letztere, da die Lektüre zu einem Ende kommt und sei es

21 Walter Benjamin erklärt diesen Sachverhalt – nicht zufällig – in seinem Übersetzeraufsatz: «Nirgends erweist sich einem Kunstwerk oder einer Kunstform gegenüber die Rücksicht auf den Aufnehmenden für deren Erkenntnis fruchtbar.» Und weiter ist jeder andere anthropozentrische Bezug in Frage gestellt: «[Es] ist darauf hinzuweisen, dass gewisse Relationsbegriffe [Übersetzung als Lektüre ist vielleicht der Relationsbegriff schlechthin, PVO] ihren gute, ja vielleicht besten Sinn behalten, wenn sie nicht von vorne herein ausschließlich auf den Menschen bezogen werden.» Vgl.: Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 9–10. De Man kommentiert diesen Aufsatz ausführlich; doch auch unabhängig davon beschäftigt er sich von einem apersonalen, strukturell genannten Intentionsbegriff. So schreibt er in Form and Intent in the American New Criticism: «The structural intentionality determines the relationship between the components of the resulting object in all its parts, but the relationship of the particular state of mind of the person engaged in the act of structurization to the structured object is altogether contingent.» (Vgl.: Paul de Man: Blindness and Insight, S. 35.) Im Falle von Borges stellt die Bibliothek von Babel wohl die eindrucksvollste nicht-menschliche Sammlung von Texten dar. 22 Roberto Bolaño: Derivas de la pesada. In: Bolaño: Roberto: Entre Paréntesis. Barcelona: Anagrama 2004, S. 29.

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nur, um von Neuen anzusetzen, werden durch ein Moment der Bestimmung und Bestimmtheit historisch und kulturell gebrochen. De Man deutet diese Dopplung an, wonach der Text einmal als das zu Lesende gelten soll und gleichzeitig als das Gegebene einer Bewegung: To interpret an intent, however, can only mean to understand it. No new set of relationships is added to an existing reality, but relationships that were already there are being disclosed, not only in themselves […] but as they exist for us. We can only understand that which is in a sense already given to us and already known, albeit in a fragmentary, inauthentic way that cannot be called unconscious […] For the interpreter of a poetic text, this foreknowledge is the text itself.²³

So entfernt diese Texte auch sein mögen, beide – de Man und Borges – betonen eine gedoppelte retroaktive Logik des Textes und seiner Lektüre. Insbesondere jedoch eint diese beiden Denker, dass das ‘Vertrautwerden’ eines Textes seiner Versetzung gleichkommt und dadurch eine ‘Exilerfahrung’ impliziert und eben nicht oder genauer: nicht nur einem Verständnis verpflichtet ist. Diese recht abstrakte Problematik setzt eine Reflexion über die Beziehung zwischen zwei in Literatur zwar zu unterscheidenden, aber schwerlich zu trennenden Aspekten voraus. Die Beziehung von Lektüre- und Textgeschichte – so viel sollte klar sein – ist keine kontinuierlich vermittelte, sondern bezieht sich auf einen Sprung, eine Überkreuzung oder auch einen Umschlag und es ist der Roman, so meine ich, der dies mithilfe der ihm eingelassenen Weltproblematik extrapoliert. Diese Bewegung ist nur unzureichend verstanden, wenn man sie mit der Historizität oder auch Subjektivität des Verstehens bzw. des Verstehenden identifiziert, da an der Bewegung der (literarischen) Lektüre noch eine andere Relation verhandelt wird als die hermeneutisch verstandene Explikation einer Position bzw. eines Vorurteils. In diesem Sinne wäre auch die Frage nach dem, was schon gegeben ist, kritisch zu präzisieren in einer Situation, da das Gegeben-Sein (und das gilt erst recht in einem lateinamerikanistischen Zusammenhang) alles andere als eine unproblematische Frage ist. Borges hat die Frage nach dem, was gegeben sein kann, vor allem sprachphilosophisch beantwortet und liefert mit seinen Überlegungen – so die These – einen der methodologischen Ausgangspunkte für eine metaleptische Exil-Logik des Romans, die in den Romanen von Roberto Bolaño auf denkbar radikale Weise problematisiert wird.

23 Paul de Man: Form and Intent in the American New Criticism. In: Ders.: Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism. Minneapolis: University Minnesota Press 1983, S. 29–30.

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Berechtigt bleibt die Frage, inwiefern diese poetologische Frage es notwendig macht, vom Roman in einem lateinamerikanistischen Kontext aus zu argumentieren. Das lateinamerikanistische Element würde zum einen und durchaus offensichtlich im Moment der Positionalität bestehen, das schon damit zumindest angedeutet ist, dass Borges hier von einem bestimmten Vergangenheitsverständnis – «nuestro concepto de pasado»²⁴ – spricht. Entscheidender jedoch scheint hier eine diskursiv-disziplinäre Pointe, wonach die Romangattung – in diesem Sinne würde ich Borges’ literaturkritische Lektüre auf den Roman bezogen deuten – ebenso als eine transkulturelle wie auch als eine transallegorische Gattung zu denken ist, die – wie Cornejo Polar²⁵ es betonte – durch ihre Länge nicht nur eine transareale Ausgangslage affirmiert, sondern darüber hinaus ein Verhalten zu dieser erforderlich macht. Borges’ Verständnis von Literaturgeschichte als ein stets neu ansetzender und retroaktiv wirksamer Prozess verrät auf indirekte Weise seine Vorbehalte gegen ein bestimmtes Verständnis der Romangattung. Eine Literaturgeschichte à la Borges wendet sich notwendigerweise gegen jede einseitige kulturelle Vereinnahmung und gegen jedwede allegorische Reduktion des Romans. Entgegen einer verkürzenden Theorie des klassisch realistischen Romans und auch gegen jedwede biographisch-positivistische bzw. soziologisch-vulgärmarxistische Reduktion gilt es, in dieser Gattung weit mehr als Allegorien einer Biographie, Kultur oder Gesellschaft zu erblicken. Für den kritischen und das meint hier: den lateinamerikanistischen Diskurs ist dies umso drängender, als andernfalls eben jenes kreativ-retroaktive Moment verspielt wäre, das Borges unter anderem am Beispiel von Kafkas Romanprosa festmachen kann. Dieser Aspekt, der hier recht abstrakt daherkommt, lässt sich auf eine sehr konkrete Frage zurückführen, die ich im Folgenden mit der für den Roman zentralen Welt-Metapher erläutern werde. Wenn Borges ein Freund und Meister literarischer Prosa war, nicht jedoch des Romans, dann stellt sich die Frage nach einer Differenz, zumindest insoweit sie sich Borges stellt. Ein Blick auf das Spezifikum und durchaus auch auf das Faszinosum seiner Prosa macht diese Differenz leicht bestimmbar: Der implizite Pakt der Erzählung, des Traktats, des Essays und all der anderen kleineren Formen, die Borges bevorzugte, besteht im Gegensatz zum Roman gerade nicht im ja nie vollends einzulösendem Anspruch, eine in sich geschlossene Welt darzustellen. Im Gegenteil: diese Formen erlauben es Borges, nicht nur im gattungstheoretischen Sinne, sondern vor allem in dem, was die diskursive Verortung des narrativen Elements betrifft, ein Moment

24 Jorge Luis Borges: Kafka y sus precursores, S. 109. 25 Vgl.: Antonio Cornejo Polar: Condición migrante e intertextualidad multicultural.

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der Ambivalenz und vor allem der Transgression zu inszenieren. Das meint: Der Text und das, was er behauptet, interagiert mit der Welt des Lesers nicht nur auf der Ebene eines vermeintlichen und zu übertragenden Sinnes bzw. in dem Sinne, dass die fiktive aus Sicht der lebensweltlichen Welt zu deuten wäre. Dieses verkürzte hermeneutische Vorgehen wäre für Borges das Spezifikum des belanglosen Romans. Dem stellt er ein Begriff von Fiktion(en) entgegen, der nicht qua Sinn, sondern dadurch eine Wirkungsgeschichte auslöst, dass die Fiktionen (darin García Márquez sehr nahe) in der Welt des Lesers selbst wirksam sind.²⁶ Der für Borges so typische und häufige Rückgriff auf metaleptische Motive, irreführende Scheinzitate und natürlich fiktive Übersetzungen inszeniert eine Verflechtung zwischen Erzähl- und Lebenswelt, die sich gerade nicht über ihre Differenz vermittelt, sondern durch ihr Ineinandergreifen und letztlich gar durch ihre gegenseitig wechselseitige, die Absolutheit der Grenzen auflösende Relativierung. Damit lässt sich genauer bestimmen, was für Borges die Crux des lateinamerikanischen Romans gewesen sein muss und weshalb, einen solchen zu schreiben, ihm einem Zeitverlust gleichkäme. Der lateinamerikanische Roman wäre – freilich nur in diesem speziellen Kontext – eben jene Narration, die am Anspruch einer in sich geschlossene Welt festhält, die Probleme der Darstellung an einer Welt verhandeln möchte. Und da der Roman vor allem «eine Welt zum Thema» hat, läuft er Gefahr, die supplementäre Geschichte seiner Form nur in deren Dienst zu stellen. Dabei handelt es sich um einen oft implizit bleibenden literaturtheoretischen Aspekt, dessen kulturtheoretische Implikationen nicht zu unterschätzen sind. Eine in diesem Sinne fiktiv vermittelte Welt setzt gleich zwei Operationen voraus. Einerseits verweigert ihr vermeintlich eindeutiger fiktiver Status jede Art der Interaktion, die nicht über die hermeneutische Zensur des Sinnes verläuft. Andererseits und daraus geradezu folgerichtig folgernd, ist damit eine Form von kultureller Differenz entworfen, die sich durch den Text allenfalls als Allegorisierung einer schon gegebenen und essentiellen Differenz vermitteln kann. Mit anderen Worten: Die hermeneutische Übersetzung als ein mögliches Gesprächsmodell kultureller Differenzen verdeckt das stets retroaktiv wirksame und kreative Moment der literarischen Übersetzung. Letztere, als Prinzip literarischer Prosa verstanden, wäre so zugunsten des Diktums des Ausdrucks verspielt und mit ihr ein bestimmter, grundsätzlich relationaler Begriff von Differenz. Solange das Verstehensmodell lediglich von der Alterität des Anderen und der Implikation des Eigenen ausgeht, ist der Blick für die ebenso wirk-

26 An diese Stelle beziehe ich mich offenkundig auf die Übersetzungspraxis wie sie in der Erzählung Tlön, Uqbar, Orbus Tertius vorliegt.

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same eigene Alterität als Implikation des Anderen verstellt. Genau diese Umkehrung ist stets als Möglichkeit impliziert, wenn Borges, scheinbar universal, über einen westlichen Kanon urteilt und dabei, quasi en passant, das leere Buch der argentinischen Geschichte füllt. Der Roman, eine Welt darstellend, wäre für Borges bestenfalls eine zu lange geratene Idee in dem Sinne, dass er diese Welt nur evoziert, um sie dann zerfallen zu lassen. Wenn also tatsächlich nur dieses eine Umschlagsmoment entscheidend ist, wonach eine Geschichte sich als Teil einer anderen erfährt, scheint es tatsächlich sinnlos, eine Welt zu evozieren. Mit Bolaño und gegen Borges nun ließe sich der Roman in dem Sinne rehabilitieren, dass der Roman solange diesem poetischen Prinzip eines kritisch-dichten Umschlagsmoment verpflichtet ist – bei Bolaño ein Schreiben in der «intemperie»²⁷ genannt –, solange der Roman sich der Erklärung verweigert und so in der Potenz des Umschlags verharrt. Nicht das Auffüllen von Seiten wäre dann das Ereignis des Romans, sondern eben das, was sich nach Borges als das eigentlich ästhetische Ereignis bezeichnen lässt: das immer wieder sich ereignende Ausbleiben der Offenbarung.

27 Roberto Bolaño: A la intemperia. In: Ders: Entre Paréntesis, S. 86.

9 Roberto Bolaño: Zur Poetik der immanenten Überschreibung 9.1 Zur Ethik des Fragments Die Überschreitung der dargestellten Welt und die Welt als dasjenige, was sich als Widerstand zeigt, lauteten zwei zuvor entwickelte und recht abstrakte Formeln, die als grundlegende Paradigmen der metaleptischen Logik des Romans behauptet wurden. Im Romanwerk des 2005 verstorbenen Chilenen Roberto Bolaño spielen diese eine sehr präzise Rolle und erfahren dadurch eine bedenkenswerte Wendung, dass die Bewegung der Überschreitung und die des Entzugs quasi zusammenfallen. Die Überschreitung der dargestellten Welt entspricht dem Entzug von Welt insofern, als hier die Welt der Darstellung weniger eine sie überschreitende Relationalität hin zu einer anderen, eigentlich unverfügbaren Welt meint, sondern in der Darstellung selbst überschritten wird, im Sinne von überschrieben. Die Welt der Darstellung kann sich schon deshalb nicht zu der Welt verhalten, wie es noch die Positivität einer Welt tun kann, da der Exzess der Überschreitung sich nicht zuletzt gegen sich selbst richtet. Die Welt der Darstellung wird so als eine Formulierung lesbar, die den Doppelsinn des genetivus subjectivus und genetivus objectivus voll ausstellt und ein beständiges Spannungsverhältnis bezeichnet: Immer wenn eine Welt aus der Darstellung, also eine dargestellte Welt, zu entstehen scheint oder auch: zu entstehen droht, schlägt diese Darstellung in eine reflexive um, wird die dargestellte Welt zu einer Welt – wenn denn dieser Begriff dann noch passt –, die nichts weiter als den Akt der Darstellung selbst darstellt. Natürlich ist dies ein Doppel, das man auch bei García Márquez beobachten konnte. Allerdings ist das Verhältnis ein anderes wie man am hier ja zwangsläufig hereinspielenden Lebensbegriff – für den Roman konstitutiver Komplementärbegriff von Welt – nachvollziehen kann. Während in der von García Márquez veranschlagten Formel des «vivir con» auf eine narrativ und symbolisch mögliche, notwendige Verfassung von Lebenswelt rekurriert wird, also im Selbstbezug durchaus eine Überschreitung denkbar ist, betont Bolaño weniger die integrative Kraft des Lebens (und der Literatur) als vielmehr die ständig versetzende und widerständige Erfahrung von Welt. Weltenvielfalt untersteht hier nicht einer zusammenführenden, neue Positivitäten erschaffenden Bewegung, sondern benennt eine sich sternförmig ausweitende Bewegung der Suche. Dem Exzess des Fragments wird dadurch Ausdruck verliehen, dass Weltenvielfalt weniger echte Kreuzungen im Sinne tatsächlicher Koinzidenzen meint als vielmehr eine Reihe von Spuren, die aber als eine literaturimmanente Verzweigung allen-

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falls einen Verlust oder einen Entzug anzeigen, nicht aber das Verlorene oder Entzogene selbst. Die Vielfalt der Welt übersetzt sich in Literatur bestenfalls dadurch, dass Literatur einer schließenden Bewegung widersteht. Besonders explizit macht Bolaño diese Qualität von Literatur, wenn er im Exil als Lebensform – «el exilio […] como vida o como actitud ante la vida»¹ – auch das Signum jeder guten Literatur erblickt. Doch sollte man sich hüten, dieses Signum einfach als ein positives Signum zu bestimmen, um so insgeheim doch wieder einen in sich stimmigen Kontext von Kontext- und Weltenvielfalt anzunehmen. Es ist wohl gegen diese Verführung, gegen die der Chilene argumentiert, wenn er in seinem Aufsatz Exilios das Verhältnis von Literatur und Exil ebenso affirmiert wie revidiert: Toda literatura lleva en sí el exilio, lo mismo da que el escritor haya tenido que largarse a los veinte años o que nunca se haya movido de su casa. […] Probablemente todos, escritores y lectores, empezamos nuestro exilio, o al menos un cierto tipo de exilio, al dejar atrás la infancia. Lo que llevaría a conducir que el ente exiliado, la categoría exiliado, sobre todo en lo que respecta la literatura, no existe. Existe el inmigrante, el nómade, el viajero, el sonámbulo, pero no el exiliado, puesto que todos los escritores, por el solo hecho de asomarse a la literatura, y todos los lectores, ante el solo hecho de abrir un libre, lo son.²

Im Hinauslehnen des Autors («asomarse») und auch in der öffnenden Lektüre des Lesers («abrir un libro») zeigt sich eine (Text-)Bewegung an, die auf jene für das Leben und die Literatur gleichermaßen zutreffende Zentralmetapher Bolaños des abismo rekurriert und an der Bolaño einen ebenso literaturästhetisch wie auch literaturethisch zu verstehenden Maßstab entwickelt. Nicht zufällig erinnert Bolaño mit der Figur des exiliado der Literatur an die nicht minder literarische Figur des migrante, die Cornejo Polar entwickelt hat. Ohne dies weiter auszuführen, scheint mir vor allem der zersetzende Gestus, der Einblick in einer immer sich wieder einstellende Auflösung von Belang. In seiner Rede zum Rómulo-Gallegos-Preis – unter dem Titel Discurso de Caracas publiziert – spricht er dies explizit an: ¿Entonces qué es una escritura de calidad? Pues lo que siempre ha sido: saber meter la cabeza en lo oscuro, saber saltar al vacío, saber que la literatura básicamente es un oficio peligroso. Correr por el borde del precipicio: a un lado el abismo sin fondo, y al otro las

1 Roberto Bolaño: Literatura y exilio. In: Ders.: Entre Paréntesis, S. 40. 2 Roberto Bolaño: Exilios. In: Ders.: Entre Paréntesis, S. 49–51.

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caras que uno quiere, las sonrientes caras que uno quiere, y los libros, y los amigos, y la comida.³

Das in Literatur figurierte Leben, das aus dem Grenzbereich zwischen einem bodenlosen Abgrund und dem Bekannten angeschrieben wird, entspricht nicht einer figurierten Rekonstruktion, sondern behandelt es vielmehr als eine enigmatische Potenz, die nur retroaktiv und versetzt zu erkennen ist. Die besondere Ambivalenz dieser Potenz besteht darin, dass sie in dem Moment, da sie etwas affirmiert, auch etwas zerstört. Leben als Lebenszusammenhang (Benjamin) ist jedenfalls keine vollends zugängliche, weil immer von einer sich veräußerlichenden Komprimittierung des eigenen Zutuns geschlagene Pseudokausalität, die ebenso notwendig wie erschreckend ist. So jedenfalls beschreibt es Auxilio Lacourte, Protagonistin des Monologromans Amuleto (1999) und eine der vielen Stimmen in Los detectives salvajes (1998): Yo creo, y permítaseme este inciso, que la vida está cargada de cosas enigmáticas, pequeños acontecimientos que sólo están esperando el contacto epidérmico, nuestra mirada, para desencadenarse en una serie de hechos causales que luego, vistos a través del prisma del tiempo, no pueden sino producirnos asombro o espanto.⁴

Die Verwunderung und der Schrecken vor den «kausalen Tatsachen» enthalten die Frage nach dem Ursprung ihrer Verkettung, nach der Logik der Serie, die in der Kausalität nur eine ihrer verführerischsten Erklärungen findet. Diese Frage, so abstrakt sie hier daherkommen mag und so sehr sie – man denke etwa an die Verquickung von Ethik und Ästhetik in Musils Romanwerk⁵ – als eine ‘allgemeine’ erkenntnistheoretische Frage des Romans verstanden werden kann, ist nur unzureichend verstanden, wenn sie nicht auch als eine Frage verstanden wird, die sich der Problematik einer bestimmten Wirklichkeit verdankt. Dass Bolaño geradezu unaufhörlich (gebrochene) lateinamerikanische Allegorien produziert und wohl der Autor ist, in dessen Werk die zahlenmäßig häufigste Nennung des Wortes latinoamericano anzutreffen sein dürfte, verweist bereits darauf, dass dieses in sich strukturell zu beschreibende Problem auch für eine konkrete Geschichte steht. Auch wenn ich darauf noch zu sprechen kommen werde, gilt es, um einer leichtfertige Assoziation vorzubeugen, zu betonen, dass hier weder durch Bolaño noch in seiner kritischen Lektüre ein Diskurs der Dif-

3 Roberto Bolaño: Discurso de Caracas. In: Ders.: Entre Paréntesis, S. 36–37. 4 Roberto Bolaño: Amuleto, S. 21. 5 Vgl. hierzu: Sabine Döring: Ästhetische Erfahrung als Erkenntnis des Ethischen: Die Kunsttheorie Robert Musils und die analytische Philosophie. Göttingen: Mentis 1999.

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ferenz bzw. der Exklusivität angestrengt wird. Dafür lassen sich Gründe benennen, die Bolaño durch das, was für ihn der lateinamerikanische Kontinent, die lateinamerikanische Geschichte und genauer noch: das lateinamerikanische Trauma sind, zur Grundlage seiner Romanästhetik macht. Die Frage nach dem, was der Roman leisten kann, wenn es um die Geschichte eines Kontinents geht, wird dabei nicht in dem Sinne beantwortet, dass der Roman das ideale Medium dafür ist, eine Welt zu beschreiben, die sich durch Überschreitungen auszeichnet (García Márquez) und auch nicht dadurch, dass der Roman in seiner selbstbezüglichen Darstellung die Suche selbst dokumentieren und ausstellen kann (Cisneros). Der besondere Beitrag der romanhaften Aneignung von Welt besteht vielmehr darin, dass er ihre Geschichte dadurch gegen die Katastrophe behauptet, dass er den Verlust von Geschichte immer wieder aufs Neue nachzeichnet und sich so gegen die Verfestigung der Katastrophe wendet, gegen die Verkrustung des Sinns und gegen die Kollektivierung als Meinung. Statt um spezifische Positivität geht es um einen spezifischen Widerstand. Die ebenso literarische wie lateinamerikanische Kondition des Exils wäre demnach eine Erfahrung von Welt, bei der die Auflösung am Anfang und nicht erst als krisenhafte Kulmination steht. In dem bereits genannten Aufsatz über das Exil führt Bolaño dieses Phänomen am Beispiel des argentinischen Schriftstellers Gombrowicz deutlich vor: Gombrowicz supe ver en Argentina esa cualidad del exilio y para el exilio: una tierra en donde la Forma [sic] se deshace constantemente, tierra no historiada, es decir, tierra abierta a la libertad y la inmadurez.⁶

Die Unmöglichkeit, eine Welt im Sinne einer Form zu haben – die Großschreibung ist hier nicht ungewollt –, mithin der epische Gestus des ungebrochenen Berichts wird dadurch ausgestellt, dass jedes Wort eine verfälschende Wiederholung ist, was gleichermaßen für eine Freiheit von der Form steht wie für eine mangelnde Reife. In dieser Formulierung lässt sich leicht nachvollziehen, wie wirkungsmächtig die Verführung der Positivität ist. Lateinamerika als das Offene, als dasjenige, in dem absolut alles passieren kann, als natürliche Heimat des Utopischen wäre genau eine solche Lesart der Positivität, die im Namen des Möglichen, auf das ja auch García Márquez in seiner Nobelpreisrede referiert, die grundlegende Qualität und Ironie des Widerstands verkennt. Um diesen Aspekt etwas konziser zu fassen, ist es notwendig nachzuvollziehen, was Freiheit

6 Roberto Bolaño: Exilios, S. 54

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und mangelnde Reife hier bedeuten können – zwei Motive, die bei Bolaño immer wieder auftauchen und die in einem engen Zusammenhang stehen. Was den Begriff der Freiheit betrifft, folgt Bolaño seiner Dauerreferenz Borges, von dem er behauptet, dass er, der exzentrische, «el centro de nuestro canon»⁷ sein sollte. Freiheit kommt für Bolaño wohl nirgends so sehr zum Ausdruck wie in der Freiheit der verfälschenden Wiederholung, die in der (lateinamerikanischen) Übersetzung (die gerade keine Mimikry ist) ja ihr Paradigma findet. Wenn also das lateinamerikanische Ursprungsproblem ein paradigmatisches sein kann, dann nicht deshalb, weil es sich hierbei um ein exklusives Merkmal handelt. Vielmehr geht es um den paradigmatischen Stellenwert, den die Frage der Übersetzung in der lateinamerikanischen Geschichte einnimmt. Wie bei García Márquez ist auch bei Bolaño die Geschichte des Sprechens über die lateinamerikanische Wirklichkeit ein fast immer auch Gewalt implizierender Exzess. Im Gegensatz zu dem Kolumbianer jedoch formuliert Bolaño an die Sprache keinen utopischen Auftrag, um der gelebten Wirklichkeit des Subkontinents entsprechen zu können, mithin von den Flüchen zu befreien oder – wie es García Márquez im Gespräch mit Vargas Llosa mal erläutert hat – um neue Lebensformen zu befreien. Stattdessen stellt Bolaño mit der Frage nach der Freiheit die wesentlich ‘mutigere’ Frage – «la única patria de un escritor es su lealtad y su valor»⁸ –, inwiefern die lateinamerikanische Geschichte als diejenige Geschichte zu gelten hat, die gar nicht anders als in dieser sprachlichen Krise zu adressieren ist, offenbarend, dass Sprache, Literatur und womöglich auch das Leben selbst nichts anderes sein kann als falsche Übersetzung. Dieser Mut – und nur dieser ist für Bolaño zur Freiheit fähig – ist auch ein Mut, der aus der versetzenden Erfahrung des Exils sich begründet: «El exilio es el valor. El exilio real es el valor real de cada escritor.»⁹ Die Nähe, vielleicht gar die übermäßige Nähe und Evidenz, welche noch García Márquez betonte, wenn er sich auf die erzählte Vergangenheit bezog, wird abgelöst durch eine unwiederbringlich verspätete Erzählung, in der – anders als bei Cisneros – nicht einmal das Subjekt der Erzählung eine Vermittlung leistet. Dieser Widerstand gegen die Vermittlung findet eine augenfällige Umsetzung in der Tatsache, dass das multiperspektivische Prinzip des Romans dermaßen ausgeweitet wird, dass die Welt als eine nicht vermittelbare Vielfalt erscheint, von der nicht einmal sicher ist, ob sie sich in den Totalhorizont einer Welt von Welten eintragen lässt. Hierfür mag insbesondere der Roman Los detecitves salvajes stehen, der aus nicht weiter

7 Roberto Bolaño: Sevilla me mata. In: Ders: Entre Paréntesis, S. 312. 8 Roberto Bolaño: Discurso de Caracas, S. 37. 9 Roberto Bolaño: Exilios, S. 50.

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kommentierten Tagebucheinträgen besteht, die als eine Art Rahmenhandlung fungieren, die von dem deutlich längeren Teil aus nicht weiter kommentierten, sich über den gesamten Globus verteilenden Interviews unterbrochen wird. In diesen Interviews wird nach dem Verbleib von zwei Charakteren gefragt. Es wird nicht klar, wer die Interviews führt und auch nicht preisgegeben, von wem und warum die beiden am Ende nicht aufzufindenden Charaktere Ulises Lima und Arturo Belano gesucht werden. Am Ende? Dies ist eine leichtfertig geäußerte Redensart. Eine Geschichte, die nicht endet, kann nur fortgesetzt werden. Diese Fortsetzung jedoch, da das Fragment der ersten Geschichte keine innere Logik, keine Notwendigkeit der Verkettung freilegt, gerade nicht – wie von Auxilio Lacourte erlitten – eine ebenso überraschende und erschreckende Logik der Kausalität lostritt, kann nichts vervollständigen. So ist es zu verstehen, dass Bolaño mit der Hartnäckigkeit eines Wiederholungszwangs kleine Episoden immer anders schreibt, neu perspektiviert, ausweitet, revidiert und überarbeitet. Diese intratextuelle Dimension dient dabei gerade nicht (wie etwa bei Onetti) der Festigung einer eigenen erzählten Welt, eines inneren Kosmos, sondern destabilisiert zunehmend, indem sie gleichzeitig immer auch neue intertextuelle Verweise produziert, also gerade nicht das innere Bezugssystem beschließt. Anders noch als bei Cisneros geht es hier weniger um ein Offenhalten für Künftiges, sondern um einen Verschluss des Vergangenen, welches gerade weil es sich aktiv verschließt, noch nicht verloren zu geben ist. Bevorzugter Gegenstand dieser Verschiebungen ist auch hier der Name. Jedoch – und das ist entscheidend – ist der Name nicht mehr Garant, dass diverse Bezüge in einen Zusammenhang, ja einen Lebenszusammenhang gebracht werden, sondern Beleg für das Inkommensurable der Zusammenhänge. Joanna Silvestri, Lalo Cura, aber auch Namen von fiktiven Getränken wie die des Mezcal Los Suicidas sind Namen, deren Wiederholung in einem neuen Kontext einer Synthese widerstehen und gleichzeitig eine andere Äußerlichkeit markieren. Allem voran ist hier jedoch der Name des literarischen Alter Ego Arturo Belano zu nennen. Als metafiktionaler Autor soll er nicht nur für den Großteil von Bolaños Werken als Verantwortlicher zeichnen; obendrein ist er selbst ständig in der Doppelfunktion von Binnenautor und Charakter eingespannt. In dieser Doppelfunktion, die ja in gewisser Weise auch bei García Márquez und bei Sandra Cisneros zu beobachten ist, sofern Melquíades ja Autor und Figur in einem ist und sofern Lala ebenso Erzählerin wie auch Figur ist, fungiert der Name, der ja nur halbherzig den Namen Roberto Bolaño entstellt, eben nicht wie ein vermittelnder Name, sondern wie die Markierung einer Spaltung. Statt einen verdichteten Umschlagsplatz zu inszenieren, zeigt der Name, eine sternförmige Ausweitung, die sich prinzipiell unendlich fortsetzen lässt, mit weiteren nicht

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beschließenden Fortsetzungen und schlechten Übersetzungen – ein entfernter Stern also. Auch hier ist Borges als sein Gewährsmann impliziert, wenn Bolaño in diesen Zusammenhang die Übersetzung als jene sprachliche Praxis bestimmt, die sozusagen das Exil in nuce umsetzt und die in diesem versetzenden Mut eine Befreiung ermöglicht. So wundert es wenig, dass Bolaño die Übersetzung zum Maßstab erklärt, an dem sich Literatur zu erproben hat. In La traducción es un yunque führt er diesen Punkt aus und bringt ihn gleichzeitig mit dem Motiv der mangelnden Reife zusammen, die ja nur ein anderer Name für jene von Bolaño so oft und melancholisch angesprochene juventud latinoamericana bzw. die jóvenes poetas ist: ¿Cómo reconocer una obra de arte? ¿Cómo separarla, aunque sea sólo por un momento, de su aparato crítico, de sus exégesis, de sus incansables plagiarios, des ningueneadores, de su final destino de soledad? Es fácil. Hay que traducirla. Que el traductor no sea una lumbrera. Hay que arrancarle páginas al azar. Hay que dejarla tirada en un desván. Si después de todo esto aparece un joven y la lee, y tras leerla la hace suya, y le es fiel (o infiel, qué más da) y la reinterpreta y la acompaña en su viaje a los límites y ambos se enriquecen y el joven añade un gramo de valor natural, estamos ante algo, una máquina o un libro, capaz de hablar a todos los seres humanos: no un campo labrado, sino una montaña, no la imagen del bosque oscuro sino el bosque oscuro, no una bandada de pájaros sino el Ruiseñor.¹⁰

Das Fragmentarische der Übersetzung ist durch das Rausreißen der Seiten notfalls nachträglich herzustellen und ihre mangelnde Qualität – der Übersetzer soll gerade kein heller Kopf («lumbrera») sein – ein Gebot, das Übersetzung erst zu einem für die Kreation geeigneten Amboss («yunque») machen kann. Nur so hat man sich nicht mehr mit jener ohnehin zum Zerfall verdammten ‘Form’ («la imagen del bosque oscuro») zufriedenzugeben, sondern vermag in der Sache selbst zu stehen: im dunklen Wald. Am Ende also doch, wie schon in CAS, eine Offenbarung, eine Epiphanie gar, um eine Vokabel zu verwenden, die Bolaño des Öfteren nennt? Mitnichten. Es handelt sich – man lese genau – um eine Reise an die Grenze («su viaje a los límites»), an eben schon erwähnte Grenze zwischen dem bodenlosen Abgrund und dem, was einem lieb und teuer ist. Gefährlich ist dieser Ort, weil er nicht bewahren kann, nicht die Essenz des Vertrauten freilegt und stattdessen immer wieder offenbart, dass diese Welt sich auf einem leeren Abgrund gründet und dass ihre Formen sich auflösen. Die Bewegung ist eine ebenso komplexe wie paradoxe: Indem also der mit Mut ausgestattete joven – «Sólo los jóve-

10 Roberto Bolaño: La traducción es un yunque, S. 223.

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nes son valientes, sólo los jóvenes tienen el espíritu puro entre los puros»¹¹ – in der schlechten Übersetzung sich dem symbolischen Diktat einer ursprünglichen Bedeutung entzieht und gewissermaßen auf zu Signifikanten herabgesunkene Fragmente zurückgreifen muss, eröffnet sich ihm die Möglichkeit, ein winziges Gramm seiner selbst darin einzutragen. Jedoch ist diese Aneignung nur ein vorübergehender Moment und wird genau dann, da die Reise an ihre Grenze führt, in eine andere Ebene überführt, in der sich das zuvor gewonnene Gramm auflöst, wenn auch – und das ist nicht zu unterschlagen – als ein spezifischer Verlust. Nicht mehr von der Geschichte des joven ist die Rede, sondern von der – wie im vorherigen Kapitel thematisiert – für Bolaño so bezeichnenden Verquickung von Buch und Maschine. Im Verlust also reiht sich diese Aneignung in eine größere Geschichte ein, die ebenfalls mit einem Verlust endet – der Feind der Literatur ist laut Bolaño ein noch mächtigerer als ihre Autoren. Wie aber soll es zu verstehen sein und wie mit Borges’ Begriff der aufgeschobenen Offenbarung und Bolaños Poetik des ständig versetzenden Zitats (man denke an die schon zitierte Eröffnung von Estralla distante) in Einklang zu bringen, dass am Ende sich Universalität («todos los hombres»), Unberührtheit («montaña» im Gegensatz zu «campo labrado»), Unmittelbarkeit («bosque oscuro», statt «la imagen de un bosque») und Klarheit (Nachtigall statt Schwarm) ereignen? Auch hier, meine ich, lässt sich diese verdichtete Metaphernreihe in dem Sinne deuten, dass diesen Begriffen sowohl eine falsche und schlechte Übersetzung zugrundliegt als auch eine präzise Vergeblichkeit eingelassen ist. Klar ist jedenfalls nicht die Offenbarung, sondern das Ausbleiben der Metapher. Dafür spricht, dass diese Metaphern zueinander durchaus in einem gespannten Verhältnis stehen. Wenn der natürliche Wert («valor natural») ja nur in Grammeinheiten zugegen ist, dann ist auch die Unberührtheit des Berges zumindest zweifelhaft. Wenn die Unmittelbarkeit eine nicht sichtbare ist («bosque oscuro»), dann ist auch die Klarheit keine leuchtende. Und wenn dieser Widerspruch das Universale sein soll, dann ist der in Gramm abzuwägende natürliche Wert, den der joven einbringt, nicht die allgemeingültige Vollendung, sondern der verzweifelte Versuch, diesem Widerspruch, diesem Verlust und dieser Vergeblichkeit eine spezifische Geschichte einzuschreiben. Denn nur allzu groß ist die Verführung, diesen Nihilismus in eine Literatur der Verweigerung zu überführen, die alles andere ist als die Literatur, die sich dem Widerstand stellt. Dem echten Widerstand nämlich ist nicht mit der «Kloake» des Ichs gedient:

11 Roberto Bolaño: Ocho segundos con Nicanor Parra. In: Ders.: Entre Paréntesis. Barcelona: Anagrama 2004, S. 92.

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 Roberto Bolaño: Zur Poetik der immanenten Überschreibung

Una literatura del yo, de la subjetividad extrema, claro que debe existir. Pero si sólo existieran literatos solipsistas toda literatura terminaría convirtiéndose en un servicio militar obligatorio del mini-yo o en un rio de autobiografías, de libros de memorias, de diarios personales que no tardaría en devenir en cloaca, y la literatura también entonces dejaría de existir.¹²

Wenn man die Metaphern der Jugend, des Mutes und des Exils nun erneut zusammenliest, bietet sich ein Zusammenhang an, den Bolaño auf eine für ihn sehr typische, fraktal über verschiedene Texte verstreute Weise entwickelt hat. Kehrt man nun zu dem Text Exilios zurück, wird eine bestimmte Stelle besser lesbar. Bolaño hatte ja als die wohl allgemeinste Bestimmung des in Literatur bedeutsamen Exils das Zurücklassen der Kindheit bezeichnet («dejar atrás la infancia»). Das Zurücklassen der Kindheit (also jenes, was weder für García Márquez noch für Cisneros eine Option war) nun beschreibt ziemlich genau das Zeitalter der Jugend. Wenn nun die Jugend ein besonderer Mut auszeichnet, dann ist dies einmal als eine literaturästhetische Maxime zu begreifen: También hay que recordar que en la literatura siempre se pierde, pero que la diferencia, la enorme diferencia, estriba en perder de pie, con los ojos abiertos, y no arrodillado en un rincón rezándole a San Judas Tadeo y dando diente con diente.¹³

Eine spezifische Ausformung der lateinamerikanischen Geschichte, ja sein spezifisch lateinamerikanisches Gramm erfährt dieses Scheitern unter anderem durch diese mutige Jugend Lateinamerikas, die, wie Bolaño, um die 50er Jahre herum geboren worden ist und die – ebenfalls im vollen Bewusstsein um ihr sicheres Scheitern und bewusst schlechten Übersetzungen folgend – einen vergeblichen Kampf führte, aber – und das ist entscheidend – diesen Kampf für eine, wenn auch verlorene höhere Sache führte. Und nur dadurch unterscheiden sie sich von der Kloake rein ich-bezogenen Literatur: […] en gran medida todo lo que he escrito es una carta de amor o de despedida a mi propia generación, los que nacimos en la década del cincuenta y los que escogimos en un momento dado el ejercicio de la milicia, en este caso sería más correcto decir la militancia, y entregamos lo poco que teníamos, lo mucho que teníamos, que era nuestra juventud, a una causa que creímos la más generosa de las causas del mundo y que en cierta forma lo era, pero que en la realidad no lo era. De más está decir que luchamos a brazo partido, pero tuvimos jefes corruptos, líderes cobardes, un aparato de propaganda que era peor

12 Roberto Bolaño: Derivas de la pesada. In: Ders.: Entre Paréntesis. Barcelona: Anagrama 2004, S. 28. 13 Roberto Bolaño: Sobre la literatura, el Premio Nacional de Literatura y los raros consuelos del oficio. In: Ders.: Entre Paréntesis. Barcelona: Anagrama 2004, S. 104.

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que una leprosería, luchamos por partidos que de haber vencido nos habrían enviado de inmediato a un campo de trabajos forzados, luchamos y pusimos toda nuestra generosidad en un ideal que hacía más de cincuenta años que estaba muerto, y algunos lo sabíamos, y cómo no lo íbamos a saber si habíamos leído a Trotski o éramos trotskistas, pero igual lo hicimos, porque fuimos estúpidos y generosos, como son los jóvenes, que todo lo entregan y no piden nada a cambio, y ahora de esos jóvenes ya no queda nada, los que no murieron en Bolivia murieron en Argentina o en Perú, y los que sobrevivieron se fueron a morir a Chile o a México, y a los que no mataron allí los mataron después en Nicaragua, en Colombia, en El Salvador. Toda Latinoamérica está sembrada con los huesos de estos jóvenes olvidados.¹⁴

Diese antiutopische Polemik ist natürlich auch in einem spezifischen Kontext zu sehen und speziell auf den utopischen Diskurs zu beziehen, den sich auch die Vertreter der nueva novela latinoamericana angeeignet haben, wenn sie – wie García Márquez – auf die befreiende Kraft der Literatur setzten. Der Gestus der Durchhalteparole lässt sich – im Gegensatz zum jugendlichen Selbstmord – in zweierlei Sinne deuten: Bestenfalls ist das Festhalten ein «kindisches» oder auch ein «dummes», im schlimmeren Falle ein korruptes. Eines dieser «kindischen» und «dummen» Kinder des Magischen Realismus ist für Bolaño zweifelsohne Isabel Allende. Was sie mit der juventud á la Bolaño teilt, ist ein gewisser Mut, wie Bolaño in einem Aufsatz über den chilenischen Nationalliteraturpreis sich eingesteht. Dieser Mut, der zwar kein «valor real», sondern – wertloser – eine «valentía indudable» ist, besteht darin, dass auch sie sich jener schon von García Márquez angesprochenen «violencia y el dolor desmesurados de nuestra historia» stellt: Puesto a escoger entre la sartén y el fuego, escojo a Isabel Allende. Su glamour de sudamericana en California, sus imitaciones de García Márquez, su indudable valentía, su ejercicio de la literatura que va de lo kitsch a lo patético y que de alguna manera la asemeja, en versión criolla y políticamente correcta, a la autora de El valle de las muñecas, resulta, aunque parezca difícil, muy superior a la literatura de funcionarios natos de Skármenta y Teitelboim. […] Digamos que el poder, cualquier poder, sea de izquierdas o de derechas, si de él dependiera, premiaría a los funcionarios. En este caso Skármeta es el favorito de lejos. Si estuviéramos en el Moscú neostalinista, o en La Habana, el premio sería para Teitelboim. Me da miedo (y asco) sólo imaginármelo.¹⁵

Im Gegensatz dazu jedoch begegnen die jóvenes eines Bolaño, anders als die Kinder des Magischen Realismus, ihrem Scheitern mit offenen Augen. Diese Kindheit der Utopie jedoch – und das ist die eigentlich beißende Kritik – kann

14 Roberto Bolaño: Discurso de Caracas, S. 37–38. 15 Roberto Bolaño: Sobre la literatura, S. 102–104.

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 Roberto Bolaño: Zur Poetik der immanenten Überschreibung

durch den offenkundigen Verlust eines Traums in ein zynisches Alter umschlagen, das in den Figuren der Funktionäre (für die auch der immer noch pro— castristische García Márquez stehen mag) die sinnbildliche Metapher findet, in einem nicht zu rechtfertigenden Festhalten an einer bestimmten Idee, die als übergeordnetes Ziel auch bestimmte Ausfälle rechtfertigt. In diesem Zusammenhang ist sicherlich der Streit von Bedeutung, der sich um den Caso Padilla entwickelte. Hier war insbesondere García Márquez einer jener Fürsprecher, die behaupteten, dass aufgrund einzelner Verfehlungen das Gesamtziel noch nicht diskreditiert sei. Etwas davon klingt noch an, da Bolaño, selbst schwer erkrankt, die von dem damals unter Krebs leidenden García Márquez publizierte Autobiographie des Kolumbianers kommentiert: En estos días ha salido el primer tomo de las memorias de García Márquez. Todavía no lo he leído, pero se me ponen los pelos de punta sólo de imaginar lo que allí ha escrito nuestro Nobel. Más aún cuando lo imagino luchando contra su enfermedad, sacando fuerzas de donde ya quedan pocas fuerzas, y sólo para realizar un ejercicio de memoria y de ombliguismo.¹⁶

Die Jugend wäre also jene Haltung, in der die Vergangenheit nicht qua MemoriaDiskurs sakralisiert wird und das in der vergeblichen Hingabe auch der Nabelschau widersteht. Von der Vergangenheit sich zu befreien, um gerade dadurch die historische Katastrophe zu erkennen, ist eine Figur, die Bolaño insbesondere dann gegen den Magischen Realismus ins Feld führt, da die Geschichte der Gewalt eine stumpfe und doch stets spezifische Wiederholung ist und somit gerade nicht eine mythische: Somos hijos de la Ilustración, decía Rodrigo Lira mientras paseaba por un Santiago [de Chile, PVO] que más que nada parecía un cementerio de otro planeta. Es decir, somos seres razonables (pobres, pero razonables), no entelequias salidas de un manual del realismo mágico, no postales para consumo externo y abyecto disfraz interno. Es decir: somos seres que pueden optar en un momento histórico por la libertad y también, aunque resulte paradójico, por la vida.¹⁷

Paradox ist die Koinzidenz von Freiheit und Leben deshalb, weil Freiheit vor allem die Freiheit von der Notwendigkeit bedeutet und damit potentiell von jenem, was das individuelle Leben erst zu erhalten nötigt. Bolaño ist deshalb nicht falsch beschrieben, wenn man ihn als Chronisten dieses Verlusts bezeichnet,

16 Roberto Bolaño: Autobiografías: Amis y Ellroy. In: Ders.: Entre Paréntesis, S. 206 17 Roberto Bolaño: Los perdidos. In: Ders.: Entre Paréntesis, S. 97–98.

Lalo Cura: Zur Ethik der Réécriture (Präfiguration) 

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als jener, der den «suicidas ejemplares»¹⁸ Lateinamerikas ein Denkmal setzen will – nicht, um sie zu Helden zu erklären, sondern um das lesbar zu halten, was jenseits des Scheiterns und jenseits der Rhetorik des Kampfes an Über-Leben bleibt. Es mag dies der Grund sein, weshalb er den langen und vom Wahnsinn gekennzeichneten Monolog von Auxilio Lacourte mit den folgenden Worten enden lässt: Y aunque el canto que escuché hablaba de la guerra, de las hazañas heroicas de una generación entera de jóvenes latinoamericanos sacrificados, yo supe que por encima de todo hablaba del valor y de los espejos, del deseo y del placer.¹⁹

Mut (angesichts des Vergeblichen), Spiegel (angesichts der falschen Übersetzung), Begehren und Lust – vier zentrale Vokabeln, auf die ich noch eingehen werde – teilen, dass sie in dem Maße Verlust bedeuten wie sie etwas verfügbar machen.

9.2 Lalo Cura: Zur Ethik der Réécriture (Präfiguration) Im Erzählband Putas Asesinas taucht in Bolaños Werk erstmals der Name Lalo Cura auf. In dieser Erzählung, die bezeichnenderweise Prefiguración de Lalo Cura heißt, benennt dieser Name, der nur geschrieben eindeutig von La locura zu unterscheidet ist, einen männlichen Erzähler, Sohn eines lateinamerikanischen Priesters – «Mi padre fue un cura renegado. No sé si era colombiano o de qué país. Latinoamericano era»²⁰ – und einer kolumbianischen Pornodarstellerin: Mi madre, sin duda, era una soñadora. Se llamaba Connie Sánchez y si ustedes fueran menos jóvenes y más viciosos su nombre no les resultaría extraño. Fue una de las estrellas de la Productora Cinematográfica Olimpo.²¹

Lateinamerika als der Name eines verfluchten Abtrünnigen («un cura renegado») und Kolumbien als Index der Gewalt gehen hier im maximalen Literalsinn eine verhängnisvolle Affäre ein. Der Erzähler erzählt seine Biographie nicht als

18 Ebd., S. 97. 19 Roberto Bolaño: Amuleto, S. 154. 20 Roberto Bolaño: Prefiguración de Lalo Cura. In: Ders.: Putas Asesinas. Barcelona: Anagrama 2001, S. 97. 21 Ebd.

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Lebensbericht, nicht als die Genese eines Selbst, sondern vermittelt und genauer: vermittelt durch die pornographischen Filme der Mutter. In diesen Filmen, die der deutschstämmige Regisseur Helmut Bittrich mit dem Attribut «Todo falso»²² belegt, kann der Erzähler seine Lebensgeschichte durch die Darbietungen seiner Mutter auf eine sonst unverfügbare Weise nachvollziehen, die Mutter als Sexobjekt und die eigene Schwangerschaft betrachtend. In diesem Blick auf diese Filme und in dieser Betrachterposition, kurios genug, vermittelt sich – so Lalo Cura – nichts weniger als «El misterio de la vida en Latinoamerica.»²³ Spätestens an dieser Stelle drängt sich der Verdacht auf, dass es hier um mehr geht als eine Erzählung über die Niederungen pornographischer B-Movies. Eine allegorische Ebene ist aufgerufen oder genauer: präfiguriert. Dass dieser Name in dem posthum veröffentlichten Mega-Roman 2666 erneut auftaucht, hier jedoch einen mexikanischen Jungen benennt, dessen familiäre Genealogie sich vollkommen von der des Kolumbianers unterscheidet, ist zweifelsohne ein weiterer Beleg dafür, dass das Verfahren, eine Figur zu verändern, sie intratextuell zu ‘entwickeln’, keine Seltenheit im narrativen Werk des Chilenen ist. Allerdings ist in diesem speziellen Falle noch eine andere Dimension aufgerufen. Meine These lautet von daher, dass Bolaño hier nicht einfach das Verfahren intratextueller Réécriture anstrengt, sondern auch einen intertextuellen Verweis und genauer: eine intertextuelle Revision leistet. Dafür spricht erstens die Tatsache, dass die Veränderung hier sehr weitreichend ist, also nicht – wie noch nachzuvollziehen sein wird – als eine so gut wie perfekte Wiederholung lesbar ist, deren minimale Veränderung vor allem darauf abzielt, der korrumpierenden Absolutheit der eigenen Aussage zu widerstehen. Zweitens und entscheidender begründet sich diese Annahme mit dem Gegenstand der Veränderung. Verändert werden nämlich der Charakter mit einem selbst ambivalenten Namen und seine an ihm auszumachende Familiengenealogie. Damit – so meine ich – ist nicht nur eine in der Literatur häufig anzutreffende historische Allegorie zitiert, sondern, spezifischer noch, die in der hispanoamerikanischen Literatur wohl berühmteste aller Familien-Genealogien: die der Buendía. Nicht ein Charakter, sondern eine Allegorie wird ‘entwickelt’. Während in 2666 – wie ich zeigen werde – der Bezug zu CAS leicht herzustellen ist, erweisen sich die ‘präfigurierten’ Verweise in der Erzählung allenfalls als vorausweisende Spuren, die nur mit dieser These lesbar werden, einer These jedoch, die nicht aus dieser Erzählung heraus zu begründen ist, sondern rückwirkend aus dem Romantext. Bolaños Romane sind auch in diesem Sinne

22 Ebd., S. 100. 23 Ebd.

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Fragmente: Ihre Texte schreiben sich in anderen fort. So stellt sich die Frage, ob diese retroaktive Ästhetik und Logik der Spur erst recht ausstellt, ein ums andere Mal und gegen einen einnehmenden Darstellungsauftrag von Literatur gerichtet, dass die Sprache des Romans vor allem auf seine Überschreitung qua écriture bzw. Lektüre angelegt ist. Es ließe sich die These antizipieren, dass es diese Qualität der romanhaften Sprache ist, die es für Bolaño überhaupt möglich macht, ein selbst fragmentiertes Lateinamerika zu adressieren. Dies ist in dem Sinne zu verstehen, dass so wie der Roman nicht den Ort seines Geschehens enthält bzw. so wie seine Welt immer auch in Spannung zu seiner Darstellung steht und den Leser dazu zwingt, sich gerade dadurch, dass er sich der Welt des Romans annehmen will, die Bezüge seiner Lektüre auch jenseits einer fingierten Diegese zu verlegen, auch Lateinamerika weniger einen Ort darstellt, eine Welt, die man als solche erfassen kann, sondern – folgenschwere Bestimmung – der Name einer Verschiebung ist. Verschiebung meint jedoch nicht mehr – wie im Falle von García Márquez und gewissermaßen auch Cisneros – die Präsenz einer verlorenen Vergangenheit in einem anderen Jetzt, sondern den Nachvollzug eines spezifischen Verlusts von Geschichte im Singular – ein Verlust, der nicht in Geschichtslosigkeit mündet, sondern zu einem Exzess von Geschichte führt und in diesem Exzess lesbar zu machen ist. Um diese doch recht abstrakte Bestimmung etwas anschaulicher nachzuvollziehen, scheint es ratsam, es auf einen Versuch ankommen zu lassen und dieser Ästhetik der Spur zu folgen, sie auszustellen und damit aufzuzeigen, inwiefern hier die Geschichte des Romans statt im Akt einer Welterschließung zu gipfeln, in eine Geschichte der immer weiter versetzenden Lektüre umschlägt. Dem Exzess einer Welt begegnet Bolaños Prosa mit dem Exzess der Lektüre. Welche Spuren lassen sich also ausmachen, wenn dieser Text mit der These gelesen wird, er sei eine Replik auf CAS? Die Diegese Kolumbien ist sicherlich eine davon, auch wenn hier vor allem das Kolumbien des Landesinneren erzählt wird. Doch auch dies trifft die Beschreibung nur unzureichend. Der Zugang zu dem Kolumbien der späten 70er und frühen 80er ist ja gerade nicht der Zeugenbericht; die gesamte Erinnerung strukturiert sich vermittelt und medialisiert durch die pornographischen Filme der Mutter des Erzählers. Mit Blick auf diese – ein Anblick, dem er sich erst mit 19 Jahren stellt so wie García Márquez mit 19 Jahren ins Landesinnere gezogen ist – rekonstruiert er die eigene Genealogie, sieht er seine eigene Genese. So sehr die Selbst-Erkenntnis medienästhetisch dem zu gleichen scheint, was auch der letzte Buendía in den magischen Manuskripten des Melquíades als Selbstoffenbarung erfährt, könnten die Unterschiede nicht gravierender sein. Während Aureliano Babilonia seine eigentliche Herkunft in den Manuskripten in dem Moment erblickt –

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«Entonces vio el epígrafe»²⁴ –, da er in ihnen nicht mehr liest, sondern sich wie in einem sprechenden Spiegel erkennt, ist Lalo Curo in einem ganz literalen Sinne mit der audiovisuellen Darstellung seiner eigenen Herkunft und Genealogie konfrontiert. Doch die Bilder des Videos sind keine Bilder der Wahrheit, sondern selbst schon Inszenierung, in der das einzig echte die Schwangerschaft der mütterlichen Darstellerin ist. Aureliano Babilonia erfährt seine Offenbarung ganz im Zeichen der inneren Erleuchtung: Aureliano no había sido más lúcido en ningún acto de su vida que cuando olvidó sus muertos y el dolor de sus muertos, y volvió a clavar las puertas y las ventanas con las crucetas de Fernanda para no dejarse perturbar por ninguna tentación del mundo, porque entonces sabía que en los pergaminos de Melquíades estaba escrito su destino.²⁵

Lalo Cura hingegen wird weder sein Schicksal zuteil noch kann er sich seiner Schmerzen entledigen: La Fuerza está conmigo, me dije, la primera vez que vi la película, a los diecinueve años, llorando a moco tendido, haciendo rechinar los dientes, pellizcándome las sienes, la Fuerza está conmigo.²⁶

Sich selbst den berühmten Satz aus Star Wars zitierend, ist klar, dass hier eine audiovisuelle Erfahrung mit einer anderen verarbeitet wird, es von einer inszenierten Welt in eine fantastische geht. Alles andere als ein Zusammenschluss leistet das Zitat. Eine weitere, wesentlich zwingendere Spur stellt die Metapher des Hauses dar, die mit der Einsamkeit einen Zentralbegriff des magisch-realistischen Bestsellers verwendet. Das Haus, in dem die Filme in der Regel gedreht werden – «El chalet de las películas»²⁷ – wird beschrieben als «La casa de la soledad que luego se convirtió en la casa del crimen, en una zona perdida, llena de arboledas y de zarzas»²⁸. Diese sich überschlagende Allegorie – so viel sollte, auch ohne den Text hier in seiner Gänze zu zitieren, unmittelbar einleuchten – ist nicht entzifferbar mithilfe dessen, was die Erzählung bereithält. Es handelt sich um eine Allegorie, die eine thesengeleitete Lektüre geradezu herausfordert, eine Lektüre, die immer auch woanders ist, nicht versinkend, eher sich sternförmig auffächernd. Durch diesen Explikationszwang ist von vorneherein eine Lektüre ver-

24 CAS, S. 433, meine Kursivierung. 25 Ebd., S. 434. 26 Roberto Bolaño: Prefiguración, S. 99. 27 Ebd., S. 98. 28 Ebd.

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stellt, die eine in sich selbst ruhende Alterität erschließen möchte. So wird eine Lektüre notwendig, in der der Gang vom Haus zur Einsamkeit, von dieser zum Verbrechen und dann zum Verlust und bis hin zu der Fülle von Baumpflanzungen und Dornbüschen mithilfe einer anderen Geschichte lesbar wird. Der Weg von der Einsamkeit zur Gewalt ist auch der Weg der Metapher der (lateinamerikanischen) Einsamkeit zur Gewalt, die eine Gewalt der Wahrheit meint, ein Ausverkauf der Wahrheit durch die magisch-realistische Folklorisierung des Mysteriums, das im «lateinamerikanischen Leben» ja besteht, aber hier von Hohepriestern des Lebens para-religiös korrumpiert wird und letztlich zum Verlust von Geschichte führt. Bekräftigt wird dies durch das vermeintliche Hendiadyoin von Baumpflanzung und Dornbusch, die sich insbesondere im tiefkatholischen Kontext des kolumbianischen Landesinneren wie Anspielungen, wie Präfigurationen lesen lassen, wie zwei Allegorien dafür, was es heißt, wenn die mythisch-gewaltvolle Genealogie (selbst ein besonderer Baum) der Buendía und ihre Einsamkeit zum Kult der Selbsterkenntnis werden. Diese thesenhafte Lektüre zählt auf eine gewisse Evidenz, wenn man sich die Tatsache vor Augen hält, dass niemand geringeres als der Vater des Erzählers – García Márquez ist die Vatergeneration der generación Bolaño – ein lateinamerikanischer Priester war, ein Priester des Lateinamerikanischen womöglich, der – «el imbécil de mi padre»²⁹ – die Mutter schwanger zurücklässt und dazu zwingt, sich auch noch in diesem Zustand vor der Kamera des deutschen Regisseurs zu verdingen, um den europäischen Markt mit einer doch sehr eigenen sexuellen Fantasie zu bedienen, die in der Muttermilch eine durchaus zynische Umschreibung des naturhaften Exotischen und vor allem des Ursprünglichen findet: La fijación por la leche materna, otra característica europea. Cuando yo estaba dentro de Connie ésta seguía trabajando. Y Bittrich filmó películas de leche materna.³⁰

Die Religion des Magischen als literarisches Opium für das «lateinamerikanische Leben»? Durchaus. In Arboleda klingt nicht nur der Baum an, jene organische Form also, die mehr als jede andere für die sich natürlich gebende Genealogie, den genealogischen Baum, steht, sondern auch der Name des kolumbianischen Universalgelehrten Sergio Arboleda, der bei seiner Besprechung des Quijote die Literatur zum parareligiösen Palliativ erklärt, also zu genau dem, was Bolaño der metahistorischen Metapher der buendíaschen Familiengenealogie vorwerfen wird, nämlich ein Palliativ zu sein, das die Gewalt erträglich machen soll:

29 Ebd., S. 100. 30 Ebd., S. 99.

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Las grandes concepciones del espíritu, así como las altas virtudes, han sido fruto del desengaño y del dolor, y siempre la religión y su hermana menor la poesía fueron el refugio de las almas perseguidas por el infortunio.³¹

Nicht überraschend ist auch die zweite Metapher, ebenfalls im semantischen Feld einer organisch sich verzweigenden Figur bewegend, eine religiöse Anleihe. Zarza als der brennende Dornbusch – la zarza ardiente – macht endgültig klar, dass das Ereignis der Offenbarung und der Wahrheit in den Zuständigkeitsbereich der Religion fällt. Entscheidend ist dabei die Tatsache, dass Wahrheit gegeben wird, genauso wie das Schicksal gegeben wird und wie das Natürliche immerzu ‘gibt’. Die von Arboleda angesprochenen Enttäuschung und Schmerz («desengaño» und «dolor») als Einsicht in eine widrige Gegebenheit des Lebens wird durch die kleine Schwester der Religion, einer bestimmten Rhetorik der magisch-realistischen Literatur, im Sinne einer eigenen Sinnlichkeit rehabilitiert. Die mythische Grundstruktur einer anderen Rationalität, für die ja CAS als Pate des Macondismo (Brunner) sinnbildlich steht, kommt im affirmativen Rückzug auf eine besondere Sinnlichkeit zum Tragen und nicht umsonst sind Religion und Literatur in diesem katholischen Kontext, den Bolaño hier evoziert, verdrängende und sublimierende Sinnlichkeiten eigen, die Bolaño mit einer denkbar expliziten Pornographie überführt und entblößt, ihnen ihre Lust am Schmerz vorwerfend. Vor allem aber verstellt diese Lust am Schmerz des naturhaft erfahrenen Schicksals jenen nicht-mythischen Schmerz, um den es Bolaño bei dem lateinamerikanischen Kontinent eigentlich geht. Eine lange Passage aus der Erzählung mag das belegen, eine Passage, die sich vor dem Hintergrund des bisher Gesagten leicht als eine bissige Réécriture der in CAS mehrfach erwähnten übermäßigen Männlichkeit von José Arcadio («masculinidad inverosimil»³²) und von Aureliano («masculinidad inconcebible»³³) zu erkennen ist. Statt Bewunderung auszulösen wie in José Arcadios Fall bzw. ein Zeichen der eigenen Virtuosität zu sein, wie im Falle von Aureliano, wird der Exzess zum Rätsel und statt eine selbst magische Kulisse und Natur zu zeichnen, wird die Natur (hier mal als Landschaft, dann als Geschlecht) unmöglich, zur unmöglichen Inszenierung, zum Zeichen einer Amnesie:

31 Sergio Arboleda: o.A. In: Ardila, Hector (Hg.): Hombres y mujeres en las letras colombianas. Bogotá: Editorial Magisterio 2008, S. 59–61. 32 CAS, S. 78. 33 Ebd., S. 330.

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Jóvenes mestizos, negros, blancos, indios, hijos de Latinoamérica cuya única riqueza era un par de huevos y un pene cuarteado por las intemperies o milagrosamente rosado quién sabe por qué extraños vericuetos de la naturaleza. La tristeza de las vergas Bittrich la entendió mejor que nadie. Quiero decir: la tristeza de esas pollas monumentales en la vastedad y desolación de este continente. Ahí tienen a Óscar Guillermo Montes en la escena de una película que ya he olvidado: el actor está desnudo de cintura para abajo, el pene le cuelga fláccido y goteante. El pene es oscuro y arrugado y las gotas son de leche brillante. Detrás del actor se abre el paisaje: montañas, cañadas, ríos, bosques, cordilleras, cúmulos de nubes, tal vez una ciudad y un volcán y un desierto. Óscar Guillermo Montes está subido en un promontorio y un vientecillo helado le acaricia un mechón de pelo. Eso es todo. Parece un poema de Tablada, ¿verdad?, pero ustedes nunca oyeron hablar de Tablada. Tampoco Bittrich, en realidad no importa, ahí está la película, debo de tener el vídeo por alguna parte, ahí está la soledad a la que me refería. El paisaje imposible y el cuerpo imposible. ¿Qué pretendió Bittrich al filmar esa secuencia? ¿Justificar la amnesia, nuestra amnesia? ¿Hacer el retrato de los ojos cansados de Óscar Guillermo? ¿Enseñarnos simplemente un pene sin circuncidar goteando en la vastedad del continente? ¿Una sensación de grandeza inútil, de muchachos guapos y sin escrúpulos destinados al sacrificio: desaparecer en la vastedad del caos? Quién sabe.³⁴

Die Pornographie überführt mit dem Tod ihrer Darsteller – sie werden, so Lalo Cura, entweder erschossen oder sterben an AIDS – den Gründungsmythos der Vereinigung, den Mythos des mestizaje als Geburtsstunde einer neuen raza seiner tödlichen und krankhaften Gewalt. Das Schicksal des Opfers ist hier eine hausgemachte Heimsuchung. Der mexikanische Dichter José Juan Tablada – eine weitere Spur, diesmal eine, die in Bolaños eigene Initiation als Schriftsteller verweist – steht hier Pate für den exzessiven Gebrauch der Metapher. Nur der Exzess der Metaphern eröffnet Lalo Cura einen anderen Blick auf die Weite des Kontinents («vastedad»), auf die rätselhaften Wege der Natur («vericueto»), auf die Einsamkeit («soledad»), auf das eigene Vergessen («nuestra amnesia») und auf das Schicksal als Opfer («destinados al sacrificio»), um die Zentralbegriffe einer para-ontologischen lateinamerikanischen Geschichte implodieren zu lassen. Torpediert werden die Metaphern einer Geschichte, die sich nur schicksalhaft denken lässt und deshalb in der Familiengenealogie ihre passgenaue Allegorie findet. Was aber setzt diese Erzählung dem entgegen außer, dass sie diese Metaphern ins selbstzerstörerische Extrem überführt? Die «genealogía de Lalo Cura», nach der im Roman 2666 ganz explizit gefragt wird, ist eine Umschreibung, deren Zweideutigkeit sich nur schlecht überlesen lässt. Mehr als deutlich klingt hier an, dass der Wahnsinn mit einer

34 Roberto Bolaño: Prefiguración, S. 106–107.

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Genealogie versehen ist. Die Veränderung seiner genealogischen Herleitung ändert zwar nichts daran, dass es sich immer noch um einen Wahnsinn handelt; wohl aber wird die Frage möglich – und das ist entscheidend –, auf welche Art und Weise er zu erzählen ist. Die Rekonstruktion einer Famileingenealogie als einer Geschichte des Wahnsinn (und man lese hier: als einer Geschichte des lateinamerikanischen Wahnsinns) beträfe dann nicht nur die Frage, was genau wahnsinnig an einer bestimmten Geschichte ist, sondern wieso schon die eigene Herleitung prinzipiell ein Akt des Wahnsinns sein muss. Unbetroffen vom tatsächlichen Wahnsinn einer Geschichte geht es – so meine ich – auch darum, wie die Allegorie der Genealogie selbst und genauer: die Genealogie der Buendía zum Wahnsinn werden kann, wenn sie zu derjenigen Instanz wird, die eine Rhetorik des Selbst, eine Politik der Erinnerung und Historiographie sowie das Verständnis von der Funktion literarischer Darstellung ‘wahnsinnig’ determiniert. Diese hier noch recht losgelöst präsentierten Thesen lassen sich nicht vollends an einer weiter unten noch erfolgenden vergleichenden Lektüre von CAS und 2666 nachzeichnen. Denn nicht nur die Transformation ist entscheidend, sondern auch die ihnen eingelassene Ethik dieser Réécriture, deren Diskussion deshalb notwendig ist, um den revidierenden Gestus in einem konzisen Kontext zu erfassen. Es wäre nämlich verfehlt zu meinen, dass es sich hier um eine bloße Revision handelt, um den Versuch mit einer anderen Geschichte eine bessere Geschichte anzubieten. Auch wenn die Denunziation einer bestimmten Geschichte an sich Gültigkeit beansprucht, ist damit noch lange nicht gesagt, dass diese Denunziation sich selbst als eine endgültige autorisiert und als eine Art dauerhafter Fortschritt (des Wahnsinns) behaupten kann. Diese ganz besondere Art negativer Dialektik deutet Roberto Bolaño in Un narrador en la intimidad an, einem der sicherlich dichtesten Texte, die er über das eigene Schreiben verfasst hat: Por suerte, o por desgracia, todo ataque de optimismo tiene un principio y un final. Si no tuviera final, el ataque de optimismo se convertiría en vocación política.³⁵

Mir scheint, dass in diesem negierenden Gestus, den seine Witwe in einem Dokumentarfilm leichtfertig mal als die pure Lust an der Widerrede umschrieben hat, mehr steckt als Resignation. Die beständige Widerrede, das notwendige Ende des Optimismus verrät eine literaturästhetische, literaturhistorische und literaturethische These, die er weiter unten im gleichen Text eindringlich beschreibt:

35 Roberto Bolaño: Un narrador en la intimidad, S. 321.

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De hecho, la literatura es una larga lucha de redundancia en redundancia, hasta la redundancia final. […] Así que este punto queda claro: no se debe plagiar […] Aunque a los plagiarios, hoy en día, no los cuelgan. Por el contrario, reciben becas, premios, cargos públicos, y, en el mejor de los casos, se convierten en best-sellers y líderes de opinión. […] En mi cocina literaria ideal vive un guerrero, al que algunas voces (voces sin cuerpo ni sombra) llaman escritor. Este guerrero está siempre luchando. Sabe que al final, haga lo que haga, será derrotado. Sin embargo recorre la cocina literaria, que es de cemento, y se enfrenta a su oponente sin dar ni pedir cuartel.³⁶

Die erste wesentliche Unterscheidung betrifft zweifelsohne die hier sich förmlich aufdrängende Frage nach dem Unterschied zwischen Plagiat und Réécriture, zwischen verwerflicher Redundanz und ethisch scheiternder Redundanz. Es wäre eine vereinfachende Bestimmung zu meinen, diese bestehe darin, wie eigenständig ein Autor mit einem zitierten Material umgeht oder nicht.³⁷ Bolaño ist da wesentlich präziser: Das Plagiat ist eine Wiederholung ohne Widerstand, Réécriture hingegen das mithin vergebliche Ausstellen dieses Widerstands. Plagiat – um an die obige Lexik anzuschließen – wäre das schicksalhafte Opfer der Sprache und Réécriture das Opfer im Widerstand. Inwiefern? Nur aufgrund mangelnden Widerstands kann die Redundanz des Plagiats zur Meinung führen, zur politischen Berufung. Der Umschlag ins Politische ist dem Krieger (und eben nicht: ‘escritor’) Bolaño ein rhetorisch verdächtiger Akt, der ein Moment der Selbstparalyse suspendiert, um das Prekäre des eigenen Wortes zu verdecken. Das Sprechen als Folge dieses immer nur temporären Optimismus entspricht einem bewussten Vergessen der eigenen Sterblichkeit: Metido en estos trances generalmente hago lo que hace toda la gente: pierdo el equilibrio y pienso que soy inmortal. No quiero decir inmortal literariamente hablando, pues esto sólo lo puede pensar un imbécil y a tanto no llego, sino literalmente inmortal, como los perros y los niños y los buenos ciudadanos que aún no se han enfermado.³⁸

So überrascht es wenig, dass der verlorene Krieger mit einem Wort kämpft, das, anders als die öffentliche, die eigene Sterblichkeit vollkommen verdrängende Meinung, noch von einer Stimme herrührt, die einen Körper hat und Schatten wirft. Zwei bedeutungsschwere Metaphern, die gerade nicht für die Essenz des

36 Ebd., S. 322. 37 Für die verblüffenden Schwierigkeiten auch gestandener Literaturkritiker und -theoretikerInnen, mit diesem Thema umzugehen, mag in Deutschland die Debatte um Helene Hegemann ein besonders aufschlussreiches Lehrstück sein. Der Begriff der Intertextualität kam hier nie über einen deskriptiven Wert hinaus und war sowohl Grundlage für die Kritik als auch für die Zurückweisung der Kritik. 38 Ebd.

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Subjekts stehen und die eine Kritik am Politischen meinen, die über den Konflikt zwischen Individuum und Kollektiv hinausgeht. Körper und Schatten stehen für die Ränder des Subjekts, an denen es potentiell seine eigene Auflösung erfahren kann, Ränder, an denen das Symbolische porös wird. Der Körper wirkt disziplinierend wie eine fremde Kraft, die solange verdrängt werden kann, wie man wie «buenos ciudadanos que aún no se han enfermado» leben kann und anders als die an AIDS sterbenden Darsteller der Filme von Bittrich und anders auch als der an einer tödlichen Leberinfektion leidende Bolaño selbst. Der Schatten schließlich wird so als eine Metapher lesbar, die auf die notwendige Verkennung des Selbst rekurriert, das sich nur in seinem Schatten sehen kann, in einem Schattenwurf, von dem sich sagen lässt, dass er als Selbstbeschreibung und Selbstbenennung nicht weiter als «una sombra de una sombra»³⁹ sei. Jedoch – und das ist entscheidend – es ist kein anonymer Schattenwurf, keine anonyme Stimme, sondern ein Schattenwurf eines echten Kriegers, der in der literarischen Küche auf Zement trifft. Fernab der Konjunktur eines funktionalen Begriffs von kulturellem Gedächtnis geht es Bolaño darum, dass Literatur auch ihr eigenes Gedächtnis zu behandeln hat, wenn sie als Literatur relevant bleiben will. Nur so kann sie sich der Redundanz der bloßen Illustration entziehen. Dies ist in zweierlei Sinne zu verstehen: Einmal manifestiert sich das Gedächtnis der Literatur nicht nur in dem, was sie aus- und darstellt, sondern dadurch, dass sie selbst Evidenzen und Metaphern des Erinnerns schafft. Literatur hat also, wenn sie diesen vergeblichen Kampf gegen die Redundanz annimmt (alle «exhaustion» endet in «replenishment»), sich nicht auf jene Funktion zu reduzieren, dass sie bisher Unvermitteltes vermittelt, sondern hat sich in die durchaus privilegierte, jedoch gleichzeitig zum Scheitern verurteilte Position zu versetzen, das zu Vermittelnde auf eine Weise verfügbar zu machen, die immer schon der Metapher bedarf, einem Leben, das immer auch sterben muss.⁴⁰ Die Erinnerung der Literatur ist also die Erinnerung an ihre eigene Verführungskraft, an die eigene Kompromittierung in einer potentiell hegemonialen Erinnerungspolitik, wenn sie das Wissen verdeckt, dass hinter einer Metapher womöglich noch eine weitere lauert, keinesfalls jedoch das Eigentliche aufgehoben ist. Auf die Geschichte des lateinamerikanischen Romans bezogen – so könnte eine nicht allzu schwer zu belegende These lauten – heißt dies, dass er auch die Geschichte einer Rhetorik ist, die von dem Moment an notwendig wurde, da Sprache und Welt ihren Konnex verloren. Ausgangspunkt dieser Rhetorik ist der Verdacht, dass die vorigen Ro-

39 Roberto Bolaño: Ese extraño señor Alan Pauls. In: Ders.: Entre Paréntesis, S. 208. 40 Vgl.: Paul Ricœur: La métaphore vive. Paris: Seuil 1975.

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mane bzw. das bisher Gesagte genau das vorstellen, was sie darzustellen vorgeben. Die Crux, auf die Bolaño hier beharrt, besteht in dieser ständigen Überbietungsdynamik, die dazu verführen kann, dass diese Geschichte als eine zunehmende Emanzipation verkannt wird, ganz so wie noch von Rodríguez Monegal und Vargas Llosa am Beispiel der nueva novela latinoamericana die Geschichte des lateinamerikanischen Romans als die Geschichte einer zu sich selbst findenden Kultur bestimmt wird.⁴¹ Doch – so ließe sich Bolaños Argument explizieren – steht die Tatsache, dass diese Rhetorik zum Grundbestand der lateinamerikanischen Romangeschichte gehört, weniger dafür, dass sie tatsächlich zu einer immer besseren Erfassung von Wirklichkeit führt als vielmehr für die Tautologie, dass diese Rhetorik der Autorisierung selbst nur als eine rhetorische Kritik wirksam ist und die obendrein vergessen machen will, dass es sich hierbei selbst um ein rhetorisches Problem sich handelt. Also nur korrumpierte Metaphern allerorten? Ist die teleologische Fiktion nur qua dauerhafter Implosion zu stoppen? Mitnichten. Denn die Implosion ist nicht nur Unterbrechung der Überbietungslogik, sondern kann immer auch eine sehr konkrete Implosion sein, also in der Implosion selbst eine Geschichte lesbar machen, die sich dem Gebot der Überbietung entzieht. In einem zweiten und engeren literaturästhetischen Sinne meint die Erinnerung der Literatur eine geradezu materiale Qualität, also eine Geschichte, die das nicht immer bewusste Verhältnis der Texte zueinander betrifft.⁴² Es wäre womöglich nicht die falscheste Umschreibung, in diesem Gedächtnis eine Art Unbewusstes, eine Art memoire involontaire zu erblicken, die zwar selbst nicht freizulegen oder gar vollends zu bestimmen ist, also nicht vollends nach Außen zu kehren ist, aber doch durch ein allzu mächtiges Wort verdrängt werden kann. Die Grenze zu dem, was das implizite Zitat betrifft, dessen prekäre Sichtbarkeit in der Sprache des Romans wohl zuerst von Bachtin thematisiert worden ist und das Genette in seinem Palimpsestbuch als Hypotext theoretisiert hat, ist eine fließende Grenze, weil es hier um eine Relation geht, die weder eindeutig dem Bereich des Textes noch der Aktivität der Lektüre zuzuschreiben ist. Es betrifft vielmehr jenes, was ich hier die Ethik der Réécriture nennen möchte. Mit diesem Bezug auf eine Ethik – auch im Sinne eines Ethos⁴³ – wird deutlich, dass es

41 Vgl. hierzu: Mario Vargas Llosa: The Latin American Novel Today. Ebenso: Emir Rodríguez Monegal Rodríguez: La nueva novela latinoamericana. In: Magis, Carlos (Hg.): Actas del III Congreso de la Asociación Internacional de Hispanista. México D.F.: El Colegio de México 1968, S. 47–63. 42 Vgl. hierzu: Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur: Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990. 43 Vgl. hierzu: Bolívar Echeverría: La modernidad, 23 ff.

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nicht nur darum geht, den eigenen Text als eine entstellende Wiederholung zu inszenieren, sondern obendrein auch andere Texte rückwirkend zu Wiederholungen zu machen, zu Wiederholungen, die, indem sie diese Bewegung ruhigstellen, ihre historische Qualität einbüßen und zum affirmierenden Dokument absinken. Prefiguración im Sinne von Vorausdarstellung, ja ebenfalls als das religiöse Motiv der alttestamentarischen Präfiguration Christi, als (verzweifelter) Suche nach einer historischen Kontinuität, umschreibt diese Wirkungsmacht auf sehr konzise Weise. Es mag dies einer der Gründe sein, weshalb Roberto Bolaño von sich behauptet hat, beim Lesen glücklicher zu sein als beim Schreiben. Doch zurück zur Genealogie dieser Genealogie. Ihre Grundlage, der Kern dieser narrativen Strategie, lässt sich als die Strategie und Ethik des zitierten Namens umschreiben. Name als Zitat ist hier nicht Stellvertreter einer Präsenz, nicht Anrufung. Der Name ist vielmehr der erste und augenfällige Beleg dafür, dass die Dinge nicht bei sich sind und dass der Name in der eigenen Zitation die von ihm bewirkte Entstellung ebenso markiert wie verdeckt. Zitierende Namen verweisen deshalb auf keinen ersten Namen, ähnlich wie die Bände der Bibliothek aus Babel nicht auf den Katalog der Kataloge verweisen, sondern immer nur auf eine weitere, kaum merkliche Differenz, die nur mithilfe einer entsprechenden Rhetorik als Teilhabe an einem Restbestand der Essenz gedeutet werden kann. Die ersten beiden Sätze der Erzählung nehmen den Verdacht der Lüge, der auf jeder Herkunftserzählung (und insbesondere im Kontext des lateinamerikanischen Romans) lastet, direkt auf, ganz ohne Waffenstillstand also und in klarer Opposition zu jener Rhetorik der Bestimmung, die sich noch dem «había de» aus dem ersten Satz in CAS entnehmen lässt: Parece mentira, pero yo nací en el barrio de los Empalados. El nombre brilla como la luna. El nombre, con su cuerno, abre un camino en el sueño y el hombre camina por ese sendero. Un sendero tembloroso. Siempre crudo. El sendero de llegada o de salida del infierno. A eso se reduce todo. Acercarse o alejarse del infierno.⁴⁴

Die Grausamkeit der Pfählung, die hier ja deutlich im Namen des Viertels Empalados anklingt, ist Zitat und nicht zuletzt durch die Behauptung der scheinbaren Lügen («parece mentira»). Zeitgleich zu der Zeit, da in der Binnengeschichte die Pornofilme der Mutter des Erzählers produziert werden – Ende der 70er und Anfang der 80er – hat der im kolumbianischen Dschungel gedrehte Horrorfilm Cannibal Holocaust durch eine Szene ritueller Pfählung für eine heftige Kontro-

44 Roberto Bolaño: Prefiguración, S. 97.

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verse darüber gesorgt, ob die im Film dargestellte Gewalt wirklich nur special effects waren. Diese Kontroverse wurde nicht nur durch die Produzenten selbst angeheizt, sondern lag schon im Plot begründet. Das Filmmaterial wurde als bisher unveröffentlichtes Material einer US-amerikanischen Expedition in den lateinamerikanischen Dschungel ausgegeben und wird von Szenen unterbrochen, die in der Ästhetik des Dokumentarfilms gehalten sind. Dieser Schein, der am Anfang des Berichts von Lalo Cura steht, ist auch explizites Thema in einem der Filme von Bittrich, die besonders grausam und hermetisch eine kannibalische Orgie darstellen: Parece que Bittrich hizo esa película para competir con las cintas de porno caníbal que empezaron a causar sensación en aquella época.⁴⁵

Ohne dies weiter auszuführen, möchte ich eine besondere Verdichtung aufgreifen, die für Bolaño entscheidend ist: Eine Expedition nach Lateinamerika ist ein Weg, der eine seltsam exzessive Verquickung des Sexuellen und der Gewalt nach sich zieht und der, angesichts dieser Exzesse, die Frage motiviert, ob diese Wirklichkeit nicht eine Lüge, ja ein Wahnsinn scheint, jedoch nicht, weil diese Wirklichkeit eine wunderbare wäre, eine die Grenzen der Imagination überschreitende, sondern weil der Exzess selbst unlesbar ist und im Wunderbar-Mythischen womöglich nur eine gezähmte und palliative Fassung ihrer Dimension erfährt. Der Hölleneintritt – seit Dante kanonisches Motiv einer Literatur, die durchaus die kleine Schwester der Religion sein kann – wird hier jedweder allegorischen Ebene beraubt, indem er einerseits auf ein ganz konkretes (aber nicht existentes) Viertel im kolumbianischen Medellín verweist (statt Florenz) und indem andererseits die Tektonik von Hölle, Purgatorium und Paradies implodiert. Es gibt nur einen, den hiesigen Weg hin zum Hölleneingang, von dem man sich entweder entfernen oder dem man sich annähern kann. Der Durchgang hin zur Gnade und auch zur Wahrheit sind in einer solchen Topographie nicht vorgesehen. Natürlich ist hier implizit auch jenes Motiv im Spiel, das Bolaño vor allem in seiner Zeit in Mexiko nur schwer umgehen konnte: Die lateinamerikanische Ursprungserzählung als eine Erzählung auch der sexuellen Vereinigung, die neue lateinamerikanische Nation, die sich auch als neue Rasse versteht. So gesehen stellt, wie Bolívar Echeverría konzise denunziert, die Metapher des mestizaje eine nationalideologisch aufgeladene Verdrängung dar, die jedem Akt der Vereinigung eingelassen ist.⁴⁶ Es scheint mir jedenfalls kein Zufall, dass der hier

45 Ebd., S. 105. 46 Vgl. hierzu: Bolívar Echeverría: La modernidad.

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sicherlich unterkomplexe Titel des Cannibal Holocaust mit Blick auf die Kritik eines Bolaño und auch Bolívar Echeverría eine historiographische Wendung erhält. Wenn Bolívar Echeverría sein Konzept der codigofágia diskutiert, dann ist die Vernichtung des Anderen (Holocaust) durch seine Einverleibung (Cannibal) das semiotische Modell, das sich gegen das Szenario der Vereinigung und Verschmelzung wendet und das somit als eine durchaus verschärfte Version der antropofagia der brasilianischen Avantgarde gelten darf. In diesem kritischen Sinne ist auch die Tatsache zu verstehen, dass in dieser Erzählung ein heimliches und natürlich auch unheimliches Leitmotiv in Bolaños Romanen zitiert wird. Gemeint ist das Bestreben von in der Regel zweit- und drittklassigen Regisseuren, das Genre des Horrorfilms und der Pornographie zu vermengen, die in dem sexuell motivierten Ritualmord der Pfählung ihre wohl grausamste Explikation findet. Doch auch hier ist – wie der zweite Satz des obigen Zitats suggeriert – die Gewalt nicht nur die Gewalt der nationalpolitischen Meinung bzw. Kollektividentität als Prätext einer Politik der Homogenisierung qua Vereinigung. Gewalt zeigt sich auch und vielleicht am besten im Bereich des Wortes.⁴⁷ Was die codigofágia an Kopplung von Sprache und (kannibalischer) Gewalt enthält, ist bei Bolaño quasi strukturanalog in die Frage des Namens eingelassen, der in der zitierenden Entstellung seiner Gewalt überführt werden kann und genauer: jener Gewalt, die einen vermeintlich natürlichen und stabilen Konnex zwischen Namen und Namensträger suggeriert. An dieser Stelle wird auch einsichtig, weshalb der Name zwar in jedem Falle am Höllentor verharrt, aber in dieser Position zwei verschiedene Bewegungen enthält. Der Name, der in die Hölle führt («la llegada del infierno»), ist die magische Benennung des Exzesses, während und de facto an gleicher Stelle stehend, aber doch ganz anders ausgerichtet, der Name, der aus der Hölle verweist («la salida del infierno»), nur jener Name sein kann, der sich selbst zersetzt, einen Ausgang, nicht aber einen Ausweg weisend. Inwiefern? Ein Name, der im kalten Mondlicht strahlt (und um einen solchen Namen geht es hier), ist nicht der Name der Offenbarung, der die Wahrheit als das Licht der Helle aufzeigt, mithin die im bzw. durch das Sonnenlicht erstrahlende Wahrheit.⁴⁸ Die Wahrheit eines solchen Namens ist ein Zwielicht, das folgerichtig nur

47 Siehe hierzu beispielsweise: Jacques Derrida: Seelenstände der Psychoanalyse: Das Unmögliche jenseits einer souveränen Grausamkeit, Vortrag vor den Etats Généraux de la Psychanalyse am 10. Juli 2000 im Grand Amphithéâtre der Sorbonne in Paris. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 9ff. 48 Siehe hierzu den kanonischen Text von Hans Blumenberg zum Verhältnis der Lichtmetapher und der Wahrheit: Blumenberg, Hans: Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philo-

Lalo Cura: Zur Ethik der Réécriture (Präfiguration) 

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einen Weg in eine zwielichtige Offenbarung eröffnet. Die Eröffnung eines Weges im Traum – poetologisches Prinzip in Freuds Traumarbeit⁴⁹ – setzt eine Logik der Verschiebung in Gang, die – roh, aber auch verkatert (beides bedeutet hier «crudo») – eben nicht einer schon verdauten, verarbeiteten Logik folgt, sondern erst dadurch aufgebrochen wird, wenn der Name nicht als benennende Relation, sondern als Buchstabenanhäufung gelesen wird. Es ist also die Materialität des Namens, das Spiel seiner Buchstaben (insbesondere der Anfangsbuchstaben) oder auch das Anagramm, auf dem der Mensch im Traum den Weg ans Höllentor findet: La locura. Etwas weiter unten stellt sich der Erzähler dem Blick ins Nicht-Erleuchtete und stößt hier auf einen anderen Namen, leuchtend wie der Stern des Schicksals: He abierto los ojos en la oscuridad. Con extrema lentitud abrí los ojos en la oscuridad total y sólo vi o imaginé aquel nombre: barrio de los Empalados, fulgurante como la estrella del destino. Naturalmente, os contaré todo.⁵⁰

Auf ein Neues setzt die Erzählung mit dem Namen an, wieder werden Name und menschliches Schicksal in einen Zusammenhang gebracht. Der Name, leuchtend wie das dunkle Licht des Schicksals, ist Ausgangspunkt, um alles zu er-

sophischen Begriffsbildung. In: Ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Herausgegeben von Anselm Haverkamp. Frankfurt: Suhrkamp 2003, S. 139–171. 49 Vgl.: Sigmund Freud: Die Traumdeutung. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 2, Frankfurt a.M.: Fischer 1991 [1920], S. 296f. Um nachvollziehen, wie zutreffend dieser Querverweis ist, soll hieraus etwas ausführlicher zitiert sein. So findet Freud für die Traumarbeit eine bezeichnende Metapher in der Verstellung der Buchstaben und Silben, die ja beim Namen Lalo Cura ganz offenkundig der Fall: «Soll ich für die definitive Gestaltung des Traumes, wie sie sich unter der Mitwirkung des normalen Denkens ergibt, irgendwo ein Vergleichobjekt suchen, so bietet sich mir kein anderes als jene räthselhaften Inschriften, mit denen die „Fliegenden Blätter“ so lange ihre Leser unterhalten haben. Für einen gewissen Satz, des Contrastes halber dem Dialect angehörig und von möglichst scurriler Bedeutung, soll die Erwartung geweckt werden, dass er eine lateinische Inschrift enthalte. Zu diesem Zwecke werden die Buchstabenelemente der Worte aus ihrer Zusammenfügung zu Silben gerissen und neu angeordnet. Hie und da kommt ein echt lateinisches Wort zu Stande, an anderen Stellen glauben wir Abkürzungen solcher Worte vor uns zu haben, und an noch anderen Stellen der Inschrift lassen wir uns mit dem Anscheine von verwitterten Partien oder von Lücken der Inschrift über die Sinnlosigkeit der vereinzelt stehenden Buchstaben hinwegtäuschen. Wenn wir dem Scherze nicht aufsitzen wollen, müssen wir uns über alle Requisite einer Inschrift hinwegsetzen, die Buchstaben in’s Auge fassen und sie unbekümmert um die gebotene Anordnung zu Worten unserer Muttersprachen zusammensetzen. […] Diese Traumarbeit […] denkt, rechnet urtheilt nicht, sondern sie beschränkt sich darauf, umzuformen.» 50 Roberto Bolaño: Prefiguración, ebd.

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 Roberto Bolaño: Zur Poetik der immanenten Überschreibung

zählen. Das bedeutet jedoch nicht mit dem Schicksal anzusetzen – weder dem gegebenen noch dem vermeintlich selbst bestimmten –, sondern den Namen und seine Geschichte anders zu wiederholen, ihn so zu ent-stellen, das er in sich selbst auf ein Anderes verweist. Erneut: Lalo Cura ist La locura. Die Verwirrung des Opfers, die Verwechslung, kurz: das verwirrende Wort begleiten die Begegnung von Lalo Curas Eltern von Anfang an: Pobre como las ratas, apareció [el padre de Lalo Cura, PVO] una noche por Medellín dando sermones en cantinas y burdeles. Algunos creyeron que era un agente de los servicios secretos, pero mi madre evitó que lo mataran y se lo llevó a su penthouse en el barrio. Vivieron juntos cuatro meses, hasta donde yo sé, y luego mi padre desapareció en el Evangelio. Latinoamérica lo llamaba y él siguió deslizándose en las palabras del sacrificio hasta desaparecer, hasta no dejar rastro. […] Sé que estaba solo y que se movía entre las masas afiebrado y sin amor, lleno de pasión y vacío de esperanza.⁵¹

Das Evangelium, das Wort Gottes, spricht den para-religiösen Einsatz der Literatur deutlich aus und wird hier in einen Zusammenhang gebracht, der die Losung «Am Anfang war das Wort» (Joh 1,1) zu einem Anfang der Gewalt umdeutet, in der die Leidenschaft keine Hoffnung schafft und in der das Fieber keine Liebe bedeutet, die – in einem Wort – dem Wahn entspringt. Da es jedoch Menschen sind, die das göttliche Wort verkünden, ist auch ihre Ursprungs- und Anfangserzählung auf menschliches Maß abgesunken. Das menschliche Wort ist ohne Ausnahme Zitat eines anderen Wortes, so dass sich der Doppelsinn des Horns erschließt, mit dem ja das Wort sich seinen Weg schafft. Das Horn, diabolisches pars pro toto, ist gleichzeitig Andeutung des Füllhorns. Das menschliche Wort ist eine solche Fülle an Bedeutungen und Wegen oder genauer: Verzweigungen. Wie der Name im Traum so ist das Wort insgesamt überlagert von Bedeutungen und bestenfalls Marke in einer Kreuzung, keinesfalls jedoch absolute Positionsbestimmung. Ein Ursprung ist jedenfalls damit nicht zu statuieren, auch wenn die Kette – anders als die Verzweigung – durchaus dazu in der Lage ist – so Lacan –, ein Symbolisches zu stützen. Das liefert eine weitere Antwort auf die oben angesprochene Metaphernproblematik: Der Name ist hier Paradigma der toten Metapher, deren verhängnisvolles FortLeben nur unterbrochen werden kann, wenn er – roh – als reiner Name lesbar wird oder aber – verkatert – den Rausch seiner ‘Wahrheit’ eingebüßt hat: die sinnlichen Tropen sind keine Wirklichkeit, sondern ein trauriger Gewaltporno. Nicht die Metapher selbst ist das Problem, sondern ihr unausweichlicher Tod.

51 Ebd., S. 97.

Explikation: Lalo Cura aus 2666 

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9.3 Explikation: Lalo Cura aus 2666 Um eine Beziehung zwischen zwei Texten zu beschreiben, deren Bezug offenkundig ist, aber sich nicht auf ein explizites Zitat stützt und auch nicht die Form des Kommentars ist, hat Gérard Genette in seinem Palimpsestbuch das Begriffspaar von Hypo- und Hypertext geprägt, welches – wäre die digitale Revolution ihm nicht in die Quere gekommen – eine weitere Verwendung hätte finden können. So bestimmt Genette als Hypertextualität: Darunter verstehe ich jede Beziehung zwischen einem Text B (den ich als Hypertext bezeichne) und einem Text A (den ich, wie zu erwarten, als Hypotext bezeichne), wobei Text A Text B auf eine Weise überlagert, die nicht die des Kommentars ist. […] Wir gehen vom allgemeinen Begriff eines Textes zweiten Grades […], d.h. eines Textes aus, der von einem anderen, früheren Text abgeleitet ist. Diese Ableitung kann [so] geartet sein, [dass] B zwar nicht von A spricht, aber in dieser Form ohne A gar nicht existieren könnte, aus dem er mit Hilfe einer Operation entstanden ist, die ich […] als Transformation bezeichnen möchte, und auf den er sich auf eine mehr oder weniger offensichtliche Weise bezieht, ohne ihn unbedingt zu erwähnen oder zu zitieren.⁵²

Ich möchte zwei Bedingungen festhalten, welche den Hypertext etwa vom Metatext abgrenzen: Zum einen kann der Bezug manifest oder latent sein und zum anderen bleibt die Autonomie und somit die Lesbarkeit des Hypertextes unabhängig vom Hypotext bestehen, was beispielsweise im Falle der Minimalparodie nicht möglich ist. Hiervon als erste Abgrenzung ausgehend lässt sich nun die Transformation der Nachahmung selbst beschreiben, wonach jeder Text nicht direkt nachgeahmt wird, sondern lediglich sein Modell: Die Nachahmung […] stellt aber ein komplexes Verfahren dar, da sie zunächst die Erstellung eines Modells der Gattungskompetenz erfordert, das […], anderen Werken als einzelnen Performanzen entnommen, zur Erzeugung einer unbeschränkten Zahl mimetischer Performanzen fähig ist. Dieses Modell stellt somit eine Zwischenstufe, eine unerläßliche Vermittlung zwischen dem nachgeahmten und dem nachahmenden Text dar, die bei der einfachen und direkten Transformation fehlt.⁵³

Das generative Potential eines solchen Modells impliziert nicht, dass die Nachahmung eine unkreative Stilübung bzw. eine einfache Realisierung einer Superstruktur ist. Im Gegenteil: die transformierende Nachahmung schafft allein

52 Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt: Suhrkamp 2004 [1993], S. 14f. 53 Ebd., S. 19.

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 Roberto Bolaño: Zur Poetik der immanenten Überschreibung

schon deshalb etwas unvorhersehbar Neues, weil sie fundamental historisch ist. So ist spätestens seit Borges’ Pierre Menard bekannt, dass etwas neu schreiben eine besondere Art der Kreation darstellt, die Genette mit dem von Lévi-Strauss eingeführten Begriff des Bastelns vergleicht. Hier wie dort legt sich «eine neue Funktion über eine alte Struktur.»⁵⁴ Die neue Funktion nun löst die ursprüngliche nicht einfach ab, sondern gewinnt ihren Reiz gerade aus der «Dissonanz zwischen diesen beiden gleichzeitig vorhandenen Elementen.»⁵⁵ Entscheidend scheint mir hier nun die von Genette so gut wie gar nicht gestellte Frage, wie ein Text zu einem generativen Modell werden kann und weshalb er einer bestimmten Leserschaft als ein solches Modell erscheint. Genette gibt hier lediglich die reichlich tautologische Erklärung einer stilistischen Eigenheit der Texte. Diese Frage mag Genette deshalb ausgelassen haben, weil sie sich kaum strukturell oder binnentextlich beantworten lässt. Sie verweist nämlich unausweichlich auf einen bestimmten historischen Kontext, der für eine Rezeptions- und Wirkungsgeschichte steht, welche als Bedingung jedweder Modellierung auftritt: Ungelesene, nicht kanonisierte Werke taugen nicht zum Modell – wie augenscheinlich ihre stilistischen Eigenheiten auch immer sein mögen. Zumal – und wie zu zeigen sein wird – fragwürdig ist, ob eine solche Modellierung wirklich nichts weiter tut, als die stilistisch-strukturellen Merkmale zu akzentuieren. So wundert es nicht, dass Genette ein strukturelles und funktionales Modell entwickeln kann, das die Frage der Modellierung klar verortet. Die «Nachahmung»,⁵⁶ die Text B leistet, bezieht sich schon deshalb auf ein generatives Modell dieses Textes, da sie entweder eine Veränderungen des Textes zur Folge hat (die Transformation im engeren Sinne) oder aber eine Veränderung des Stils (die Nachahmung im engeren Sinne). Auch und wieder mit Blick auf Borges’ Pierre Menard und vor allem mit Bezug auf Borges’ Theorie zu den Vorreitern Kafkas scheint es eher so, dass der Versuch, dieses Modell positiv vom Hypotext ableiten zu wollen, notwendiger ein verkürzendes, wenn nicht gar ein aporetisches Verfahren bleiben muss. Immerhin ließe sich behaupten, dass der nachahmende Text den nachzuahmenden nicht nur in dem Sinne begegnet als sei er ein erster und originaler Text, sondern in der Nachahmung neu und anders relationiert, also offenlegt, dass die Charakteristik eines Textes zu einem gutem Teil auch die Geschichte seiner Lektüre ist.

54 Ebd., S. 532. 55 Ebd. 56 Ebd., S. 20

Explikation: Lalo Cura aus 2666 

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Ich möchte diesen Aspekt an der Ausgangsthese dieses Kapitels diskutieren, wonach Bolaño in einer fünf Seiten umfassenden Passage aus 2666 (S. 693 – S. 698) eine solche nachahmende Transformation und modellhafte Reduktion von García Márquez’ zweifelsohne kanonisiertem Hauptwerk vornimmt und dabei nicht einfach nur einen Roman parodiert, sondern – um es in Foucaults Worten zu sagen – eine bestimmte Aussagefunktion dieses Romans in Frage stellt. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass die Frage nach dem Modell auch eine rhetorische Dimension impliziert, die in Genettes Theorie allenfalls anklingt, wenn er das Absinken eines seriösen Stoffs in die niederen Gattungen bespricht. Um diesen kreativen Prozess nachvollziehen zu können, muss also zunächst geklärt werden, wie dieser Roman zu einem Modell werden konnte und weiter, wie ein solches generatives Modell – ein Marquezem sozusagen – aussehen könnte bzw. welche Elemente des Romans und seines Diskurses Bestandteile des Modells werden. Diesen Prozess der Modellierung möchte ich anhand einiger Stationen verdeutlichen. Dabei sollte diese Herleitung nicht als eine genetische Geschichte verstanden werden, sondern – und das macht ja die entscheidende Pointe der Hypertextualität aus – als eine Geschichte, die nur retroaktiv zu formulieren ist. Erwähnenswert scheint mir, dass durch eine rhetorisch-diskursive Erweiterung der Frage nach dem generativen Modell die transtextuelle Qualität nicht nur als Form der Beziehung zu anderen Texten denkbar wird, sondern auch und vielleicht an erster Stelle als eine Transformation, die sich auf die Frage der Wirklichkeitsdarstellung bezieht. Die Transformation eines Textes hat auch mit den Wirklichkeitsbegriffen und -rhetoriken zu tun, die sich bestimmten Texten unterstellen lassen. Was diese Frage betrifft, ist der Diálogo sobre la novela des späteren Nobelpreisträgers mit seinem nicht minder prominenten Gesprächspartner Mario Vargas Llosa eine sehr aufschlussreiche Quelle, um den Zusammenhang von literaturästhetischen, literaturethischen und auch wirklichkeitstheoretischen Debatten zu erhellen. García Márquez beschreibt das Rezept seiner Innovation, welche eine neue Art des Schreibens definieren soll und die wenige Jahre später unter dem Label Magischer Realismus einen weltweiten Siegeszug antreten sollte, mit dem Anspruch, sich der lateinamerikanischen Realität im direkten Angesicht anzunehmen: […] asumir la realidad de frente, que es una forma de realidad que puede dar algo nuevo a la literatura universal.⁵⁷

57 Gabriel García Márquez/Mario Vargas Llosa: La novela, S. 30.

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 Roberto Bolaño: Zur Poetik der immanenten Überschreibung

Bei der Deutung dieser Aussage, die hier ja vor allem der Frage nach dem Marquezem verpflichtet ist, soll vor allem die Frage nach dem Verhältnis von literarischer Repräsentation und lebensweltlicher Wirklichkeit bzw. die Frage nach der Referenzialität von Literatur im Vordergrund stehen. Diese Frage wird vor allem auf ihren rhetorischen Gestus und ihre diskursive Funktionsweise hin zu behandeln sein. Auch wenn hier der enge Zusammenhang von Referenzialität und Rhetorik im Vordergrund steht, gilt es sich gegen alle heutzutage oft leichtfertig geäußerten Festschreibungen daran zu erinnern, dass die Generation des booms mithilfe eines stark referentiellen Diskurses der literarischen Repräsentation eine Réécriture der offiziellen lateinamerikanischen Geschichte und Historiographie begründet hat. Das Konzept eines unmittelbaren Realitätszugangs ist deshalb nicht einfach ein naiver Glaube an die Repräsentation, sondern hat sowohl in politischer wie auch in ästhetischer Dimension tiefgreifende Implikationen. Sich der Dinge unmittelbar anzunehmen, ist nämlich erklärtes Gegenprogramm sowohl zu der Darstellungsweise des costumbrismo als auch zu den Modernisierungs- und Zivilisierungsdiskursen der nationalstaatlichen Eliten. Diese beiden Dispositive, die entweder das Typische oder aber ein Ideal zu illustrieren suchten, vermochten – so die Kritik – gerade nicht Wirklichkeit in ihrer Widersprüchlichkeit und Gänze zu erfassen. Die Frage der Wirklichkeit wurde entweder im Sinne eines pitoresken Lokalkolorits entschärft oder aber unter das Diktum nationaler Kohäsion gestellt. Die Grenzen der Wirklichkeit werden auch im Sinne ihrer diskursiven und lebensweltlichen Transformation Thema und Auftrag des Magischen Realismus, «la realidad descomunal de América Latina»⁵⁸ zu einem Projekt, das die Frage und Rhetorik der zutreffenderen Darstellung von Wirklichkeit zu einem ästhetischen und ethischen Maßstab macht. Aus diesem Repräsentationskonzept, ja -auftrag von Literatur ist schließlich der «compromiso del escritor»⁵⁹ zu begreifen, etwas, das in Europa am ehesten noch mit Sartres Engagement des Schriftstellers zu vergleichen ist. Der Schriftsteller (tatsächlich ist hier die männliche Form nicht unreflektiert angenommen) ist demnach insofern engagiert, als er eine Stimme hat, sie sich gibt und in diesem Akt jenen Akt des «hablar por» vollziehen kann, den Yúdice als ein bestimmendes Merkmal des kritisch-engagierten lateinamerikanischen Intellektuellen dieser Zeit ausgemacht hat.⁶⁰ Dadurch, dass die Erfassung und die Artikulation einer Realität der Auftrag ist, artikuliert sich auch eine literaturethische Komponente, die jenseits dessen, was literarische Technifizierung (Rama) bereithält,

58 Gabriel García Márquez: La soledad, o.A. 59 Gabriel García Márquez/Mario Vargas Llosa: La novela, S. 43. 60 Vgl.: George Yúdice: Yúdice, George: Contrapunteo estadounidense/latinoamericano, S. 340.

Explikation: Lalo Cura aus 2666 

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die Entwicklung und Verfeinerung der literarischen Mittel begründet und die bessere Erfassung der Wirklichkeit auch als eine Art des Zu-sich-Kommens inszeniert. Diese Konfiguration spiegelt sich nicht nur in einer bestimmten Ursprungsrhetorik, wie es die deutlichen Anleihen aus der Genesis in CAS (vermeintlich) belegen, sondern wird ebenso eine bestimmte Lektürepraxis nach sich ziehen, welche sich am ehesten als eine allegorische Lektüre beschreiben lässt und die all jene metaliterarischen Aspekte ausblendet, die ich anfangs an CAS entwickelt habe. Die in diesem politisch-rhetorischen Sinne realistisch-allegorisch geschilderte Familiengeschichte der Buendía, die an der kolumbianischen Atlantikküste spielt, wird so zu einer Welt in nuce und Macondo zur Allegorie des gesamten Kontinents. Macondo – das wahrhaftigere Aracataca – ist Lateinamerika. Etwas schematisch lässt sich das Diskursmodell CAS als eine kontinental gültige Allegorie bezeichnen, welche kollektiv bindend (im doppelten Wortsinn) ist und aufgrund ihrer Referenzialität unmittelbare Gültigkeit beanspruchen möchte. Die Figur der Unmittelbarkeit scheint mir dabei das entscheidende Signalwort zu sein, das dem historischen Bewusstsein nicht nur eine revolutionäre Dynamik verleiht, sondern sich ebenso als ein kritisches Dispositiv der Lektüre und Kritik behauptet. So formulierte der Uruguayer Hugo Achúgar 1978 und noch ganz im revolutionären Geiste der kubanischen Zeitschrift Casa de la Américas die Aufgabe des Kritikers auf eine Weise, die er heute sicherlich anders formulieren würde: […] a modo de conclusión vemos que el objetivo y la tarea del crítico literario latinoamericano no pueden ser otros que comprender y conocer Latinoamérica, nuestra realidad inmediata, como una forma de participar en el esfuerzo de transformar esta realidad y la visión que de ella nos han dado.⁶¹

Fast genau 20 Jahre später ist diese Form der Selbstfindung mithilfe eines unmittelbaren Wirklichkeitszugriffs verdächtig geworden: El gran tema de la identidad latinoamericana (¿quienes somos?) pareció dejar paso al tema de la identidad personal (¿quién soy?). Los cuentos de McOndo se centran en realidades individuales y privadas. Suponemos que ésta es una de las herencias de la fiebre privatizadora mundial. […] Si hace unos años la disyuntiva del escritor joven estaba entre tomar el lápiz o la carabina, ahora parece que lo más angustiante para escribir es elegir

61 Hugo Achugar: Notas para un debate sobre la crítica literaria latinoamericana. In: Casa de las Américas, XIX, 110, (1978), S. 18, meine Kursivierung.

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 Roberto Bolaño: Zur Poetik der immanenten Überschreibung

entre Windows 95 o Macintosh. […] Nuestro país McOndo es más grande, sobrepoblado y lleno de contaminación, con autopistas, metro, tv-cable y barriadas.⁶²

Im Kontext meiner Fragestellung interessieren mich weder die Frage, ob dies eine angemessenere Darstellung der lateinamerikanischen Realität ist noch die zweifelsohne etwas reißerische Beschreibung selbst, mit welcher der chilenische Autor Alberto Fuguet eine mit McOndo titulierte Anthologie einleitet. Stattdessen möchte ich stichpunktartig den Blick auf jenes richten, was sich von Referenzialität und Rhetorik des booms absetzt und mit bestimmten Dichotomien operiert, die verdeutlichen, zu welchem Modell die boom-Literatur, jeder Spannung beraubt, geronnen ist und weshalb sie – alles andere als subversiv wirkend – selbst zum hegemonialen Klischee wurde. Erst an dieser (rhetorischen) Opposition wird nachvollziehbar, wie ein Text zu einem Modell wird, eine Frage, die der Chilene Brunner schon mit dem Schlagwort des Macondismo angedeutet hat und dabei – anders als Genette, der ja nur die Ebene der Texte berücksichtigt – von dem, was den literarischen Text auszeichnet, sehr wohl unterschieden hat. Es geht also um eine transtextuelle Qualität des Marquezems, die es erlaubt, Transtextualität in einem anderen als dem von Genette gemeinten Sinne zu denken. Dies wird auch dadurch unmittelbar klar, wenn man sich vor Augen führt, dass die von Fuguet behandelten Punkte eben nur rhetorisch mit dem Text zu vermitteln sind. Wenn also «el tema de la identidad» angesprochen wird, dann um ein kollektiv bindendes, repräsentatives Identitätsmodell von einer das Unverbindliche betonenden persönlichen Identität abzulösen. Dem folgt unmittelbar der Begriff der „realidades privadas»: Eine allgemeingültige Wirklichkeitsauffassung bzw. ein qua Super-Allegorie für den lateinamerikanischen Kontinent gültig erklärtes Realitätskonzept, das sich durch eine unmittelbare Beziehung zur Wirklichkeit autorisiert, wird durch eine behauptete Inkommensurabilität individueller Lebensentwürfe revidiert. Die Opposition von «tecnología, tv-cable y contaminación» auf der einen und «magia tropical» auf der anderen revidiert das Unmittelbarkeitsparadigma nicht nur in dem Sinne, dass die Natur – und damit ist auch die Natur des eigenen Seins gemeint – eine vermittelte, wenn nicht gar verstellte ist, so dass auch die unmittelbare politische Aktion und Verpflichtung fragwürdig wird. So ist es jedenfalls zu verstehen, dass der Bereich des Politischen und somit auch der Einsatz des Rhetorischen sich durch «la herencia de la fiebre privatizadora» die Frage nach «el lápiz o la carabina» durch die nach «Mac o Windows» ablöst. Statt also den latein-

62 Alberto Fuguet/ Sergio Gómez: Presentación del país McOndo. In: Dies. (Hg.): McOndo. Barcelona: Mondadori 1996, S. 11.

Explikation: Lalo Cura aus 2666 

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amerikanischen Menschen in einer wunderbaren Einheit mit seiner Wirklichkeit zu wissen, werden die Realitätselemente der Lebenswelt als ein komplexes Netz konzeptionalisiert, das aus heterogenen, in ihrem Realitätsstatus qualitativ verschiedenen Knoten geknüpft ist. Rhetorik und Referenzialität werden jedoch – wie auch von der mexikanischen Gruppe Crack entschieden propagiert, auch wenn in dieser die Zurückweisung des Magischen Realismus nicht so fundamental ausfällt – nicht nur durch einen verstärkten (und durchaus neokonservativ deutbaren) Bezug auf das Private, Singuläre, Globalisierte, Entideologisierte und Heterogene verändert, sondern ebenfalls durch die sich daraus ergebende Tatsache, dass lateinamerikanische Autoren sich nicht mehr ausschließlich zu Lateinamerika äußern müssen bzw. der europäischen Leserschaft zu erklären haben, wie denn Lateinamerika sei. Macondos Grenzen sind nicht mehr bestimmbar und das Oszillieren findet nicht mehr zwischen realistischen und phantastischen Ebenen statt, sondern zwischen medial vernetzten Räumen und Zeiten. In dieses Panorama nun schreibt sich Bolaño nicht dadurch ein, dass er diesen Gruppierungen, ohne sich ihnen anzuschließen, nahesteht bzw. dieser Generation von Autoren angehört. Was diese Gruppen und Bolaño teilen, ist der Gestus der Zurückweisung: No me siento heredero del boom de ninguna manera. Aunque me estuviera muriendo de hambre no aceptaría ni la más mínima limosna del boom […]. La herencia del boom da miedo. Por ejemplo, ¿quiénes son los herederos oficiales de García Márquez?, pues Isabel Allende, Laura Restrepo, Luis Sepúlveda y algún otro.⁶³

Mit dieser Gemeinsamkeit – und das ist entscheidend – ist noch lange nicht behauptet, dass die Motivation und auch die literaturästhetische Lösung bzw. Konsequenz aus dieser Zurückweisung immer die gleiche ist. Tatsächlich scheint mir die besondere Ironie der Zurückweisung, die Fuguet hier anführt und von ihm – im Gegensatz zu Bolaño – nicht reflektiert wird, darin zu bestehen, dass er sich im Grunde der gleichen literaturästhetischen und -ethischen Argumentation bedient wie die boom-Autoren. In Frage gestellt wird lediglich, wie zutreffend die Darstellung der Wirklichkeit ist und nicht, ob es überhaupt problematisch ist, Wirklichkeit als einen literarischen Darstellungsauftrag zu begreifen bzw. wie dieser Auftrag überhaupt umsetzbar sein soll. Doch zurück zu Bolaño: Offenbar hat sich auch Bolaño mit der Frage des Erbes bzw. der Nachahmung beschäftigt. Er sieht in den genannten Autoren eine

63 Roberto Bolaño: Diccionario Bolaño. In: Herralde, Jorge (Hg.): Para Roberto Bolaño. Colombia: Villegas Editores 2005 [2000], S. 95.

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 Roberto Bolaño: Zur Poetik der immanenten Überschreibung

klischeehafte Fortführung der Erzählweise des Kolumbianers, welche ihm wahrscheinlich nicht nur aus ästhetischen Gründen Furcht einflößend erscheint. So ist der Bezug auf García Márquez’ Hauptwerk in diesem Sinne nicht unmittelbar, sondern vor allem diskursiv vermittelt, also auf jenes bezogen, was die offiziösen Erben und Kritiker aus dem Werk des Kolumbianers gemacht haben. Dass jedoch Bolaño sich gleichzeitig nicht damit begnügt, die Differenz seiner eigenen Schreibweise zu behaupten, sondern – wie zu zeigen sein wird – ebenfalls am Text von CAS sich abarbeitet, belegt bereits, dass es hier um mehr geht als eine rein rhetorische Zurückweisung, um sich selbst zu autorisieren. Im Zentrum des Interesses steht deshalb – so die These – eine literaturästhetisch komplexere Rekonstruktion. Die Frage, die sich mit Bolaño im Folgenden stellen lässt, ist die Frage nach dem Schicksal einiger Metapher und Allegorien. Ihr Weg zum kulturontologischen Kurzschluss ist prinzipiell Schicksal jeder Metapher. Ihre Rehabilitation ist somit nur im freilich tragisch-vergeblichen Akt ihrer Implosion möglich. An dieser Stelle wird deutlich, dass sich die Modellierung des Romans weder allein aus seinen strukturellen Merkmalen ableiten lässt noch durch die Rekonstruktion der ihn begleitenden Diskurse bzw. Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, sondern auch eine metaliterarische Reflexion über diesen Konnex erfordert. Die Annahme, dass Bolaño mit seiner Réécriture die Frage von Literatur und Wirklichkeit auf grundsätzliche Weise befragt, begründet sich auch damit, dass diese Frage nur im Widerstand bestehen kann, nur dann, wenn man die Versuchung torpediert, mit einer vermeintlich zutreffenderen Geschichte eine vermeintlich schlechtere zu ersetzen. Oder kurz gesagt: Nicht das Gemeinte ist das Ziel von Bolaños Metaphernkritik, sondern ihre verhängnisvolle Wirksamkeit. Im Folgenden möchte ich kurz auf einige textliche und stoffliche Entsprechungen bzw. Spiegelungen (das genaue Gegenteil ist ja auch eine Art des Zitats) eingehen, die auf der intertextuellen Ebene als strukturelle Scharniere unabdingbar bleiben, um den Bezug zwischen den Texten explizit herzustellen, jedoch mitnichten auf die Funktion von Markern reduziert werden sollten. Bevor ich auf die Passage en detail eingehe, möchte ich die Besonderheit dieser Passage begründen. Der Roman 2666 ist in insgesamt fünf Abschnitte gegliedert, wobei der umfangreichste und sicherlich bekannteste der vierte, mit La parte de los crímenes betitelte Abschnitt ist. In diesem Abschnitt wird insbesondere auf die vor allem seit Ende der 90er Jahre beängstigend zunehmenden Frauenmorde in Ciudad Juárez Bezug genommen; die Geschichte der Morde bestimmt auch den Erzählduktus dieses Abschnitts. Es sind in der Regel nur kurze Abschnitte, die in der Regel mit dem Fund einer Frauenleiche beginnen, ihre Verletzungen in einem rechtsmedizinischen Duktus beschreiben und den ein oder anderen Hinweis auf die Geschichte derer gibt, die an der Aufklärung dieser Fälle mehr oder minder engagiert beteiligt sind. Die sechs Seiten nun, in der die Geschichte von

Explikation: Lalo Cura aus 2666 

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Lalo Cura erzählt wird, fallen schon dadurch auf, dass sie die längste zusammenhängende Stelle darstellen, so dass hier erstmals eine Geschichte zu einem mehr oder minder echten Ende kommt. Die Geschichte dieses Lalo Cura, der in der Provinz Nordmexikos vom Leibwächter für Mafiosi zu einem Polizisten wird, beginnt – anders als die des präfigurierenden – mit einem Imperativ, ist also eine Geschichte, die nicht aus sich selbst heraus ansetzt. Wie in CAS beginnt die Erzählung ebenfalls mit einer Rückblende, die sich einer Lektüre bzw. einer Entzifferung verdankt. Doch nicht die Offenbarung des Aureliano Babilonia tritt hier dank magischer Manuskripte ein, sondern, wie schon in der ersten Fassung, eine die marquezsche Offenbarung negierende Traumarbeit, die von der Arbeit an einem kriminologischen «manual» ausgeht: Hábleme de su genealogía, decían los cabrones. Enuméreme su árbol genealógico, decían los valedores. Bueyes mamones de su propia verga. Lalo Cura no se encorajinaba. Volteados hijos de su chingada madre. Hábleme de su escudo de armas. Ya estuvo suave. Va a toser Pedrito. Pero sin encorajinarse. Respetando el uniforme. Sin abrirse ni sacarle al parche, pero con cara de no hay fijón. Algunas noches, en la penumbra del vecindario, cuando dejaba los libros de criminología (no se me frunza ahora, buey), mareado con tantas huellas dactilares, manchas de sangre y semen, elementos de toxicología, investigaciones sobre hurtos, robos con allanamiento, huellas de pies, cómo hacer bosquejos del lugar del delito y fotografías del escenario de un delito, semidormido, varado entre el sueño y la vigilia, escuchaba o recordaba voces que le hablaban de la primera de su familia, el árbol genealógico que se remontaba hasta 1865, con una huérfana sin nombre, de quince años, violada por un soldado belga en una casa de adobes de una sola habitación en las afueras de Villaviciosa.⁶⁴

Lalo Curas Familiengeschichte beginnt 1865, als ein fünfzehnjähriges, namenloses Waisenkind von einem Belgier in Villaviciosa, Mexiko, vergewaltigt wird. Wie auch in CAS setzt die Handlung mit einem sexuellen Motiv und zu einer Zeit an, da sich die erst seit wenigen Jahrzehnten erlangte Unabhängigkeit allmählich als nationalpolitisches Projekt zu konsolidieren scheint, so dass diese familiären Ursprungserzählungen in beiden Fällen durchaus die Funktion einer Gegenallegorie zu den Gründungsmythen innehaben (wobei im Falle von 2666 die Familienallegorie selbst noch einmal Thema ist). Der Belgier, wohl Soldat der zerschlagenen zweiten französischen Intervention und dessen landsmännisches Pendant in CAS erst am Ende auftaucht, vergewaltigt das Mädchen in einem Haus, das nur aus einem Raum besteht und das in dieser Reduktion keine weitere Geschichte als die dieses Verbrechens bereithält, also nicht ein Haus

64 Roberto Bolaño: 2666, S. 693.

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ist, in dem – wie García Márquez sich mal über La Casa äußerte – absolut alles passiert. Dieses namenlose Mädchen wird ein Kind mit dem Namen María Expósito gebären und wenig später sterben. Dieses Kind wird ebenfalls mit 15 Jahren von einem Waldarbeiter vergewaltigt und eine Tochter gebären, die den gleichen Namen erhält. Die dritte Maria Expósito – die in der Beschreibung ihrer wundersamen Art geradewegs eine Figur aus CAS zu sein scheint – wird schon bald für ihre Heilkräfte gerühmt. Eines Tages kehrt sie nach längerer Abwesenheit mit Verletzungsspuren zurück. 9 Monate später bekommt sie ein Mädchen mit dem Namen María Expósito – eine Häufung der Namen, die natürlich auf die vielfache Wiederholung der Namen in CAS rekurriert, mit dem Unterschied jedoch, dass die Wiederholung der Namen nun die Frauen betrifft und dass die Wiederholung der Namen ins Aberwitzige gesteigert wird. Diese weitere María Expósito zeichnet sich durch ein extrem infantiles Verhalten aus, und ihre einzige Tätigkeit besteht darin, ihre Mutter beim Kräutersammeln zu begleiten. Als der Coronel Sabino Duque für die Revolution im Dorf eine Mobilmachung organisiert – das offenkundige Pendent zu den tragischen Bürgerkriegen des Oberst Aureliano Buendía –, meldet sich ein Spielkamerad der infantilen María Expósito. Dieser – nachdem seine Liebeserklärung am Tag vor dem Abmarsch nur Gelächter hervorruft – vergewaltigt Maria und fällt sieben Monate später in den Wirren der Revolution. Neun Monate nach der Vergewaltigung wird die nächste María Expósito geboren. Als die infantile María Expósito von einer ihrer Ausflüge erneut schwanger zurückkehrt, wird die Regel gebrochen: Sie gebiert einen Sohn – Rafael – der mit seinen grünen Augen an seinen belgischen Ururgroßvater erinnert und von dem seine Mutter behauptet, dass er Sohn des Teufels und dessen Ebenbild sei. Sein Blick –so heißt es – hat den etwas befremdlichen Ausdruck der Waldarbeiter und die Intensität und Dichte von Mördern. Als Rafaels Schwester von einem Torero vergewaltigt wird, beschließt jener, seine Schwester zu rächen und geht in die für ihn vollkommen wundersame und übervolle Stadt Sonora, welche mit ihren Cabarets, Zirkussen, Schaustellern und Freudenhäusern an die Blütezeit Macondos erinnert. Dort macht Rafael (wie so viele Männer der Buendía-Dynastie in CAS) seine ersten sexuellen Erfahrungen mit einer Prostituierten, welche sich in ihn verliebt. Vier Tage später trifft er den Vergewaltiger seiner Schwester und erschießt ihn, woraufhin ihn dessen Freunde ebenfalls an Ort und Stelle erschießen. Er nimmt die Todeskugel mit offenen Augen entgegen. 1935 wird eine weitere María Expósito geboren, welche extrem groß gewachsen ist und als erste Lesen und Schreiben lernt. Mit 18 Jahren wird sie von einem Hausierer vergewaltigt und gebiert eine weitere María Expósito. Es leben nun 5 Marías unter einem Dach und das Haus, das wie in CAS von der Küche ausge-

Explikation: Lalo Cura aus 2666 

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hend beschrieben wird, wächst jedes Mal um ein angebautes Zimmer. Diese jüngste trifft 1976 in der Wüste einige, zwei sich auf der Flucht befindende Studenten aus Mexiko Stadt, welche ihr nicht nur erklären, dass Expósito ein Nachname für Waisenkinder sei – eine besondere Form der Einsamkeit –, sondern vor allem von einer Revolution erzählen, die sich möglicherweise gleich, in fünfzig Jahren oder 500 oder gar erst in 5000 Jahren erfüllen wird: Los estudiantes vivían dentro de su propio coche y uno de ellos parecía estar enfermo. Parecían como drogados y hablaban mucho y no comían nada, aunque ella les llevaba tortillas y frijoles que sustraía de su casa. Hablaban, por ejemplo, de una nueva revolución, una revolución invisible que ya se estaba gestando pero que tardaría en salir a las calles al menos cincuenta años más. O quinientos. O cinco mil. Los estudiantes conocían Villaviciosa pero lo que querían era encontrar la carretera a Ures o a Hermosillo. Cada noche hicieron el amor con ella, dentro del coche o sobre la tierra tibia del desierto, hasta que una mañana ella llegó al lugar y no los encontró.⁶⁵

Das Kind, das aus dieser orgiastischen Szenerie entstammt, erhält den Namen Olegario Cura Expósito. Der Name stößt auf den Widerstand der älteren Marias, welche natürlich Rafael bevorzugt hätten. Der Vorname Olegario aber behauptet sich, weil er auf einen katalanischen Schutzheiligen verweisen soll und der Nachname Cura, weil er den typischen Waisenkindernachname an zweite Stelle rückt. Fünfzehn Jahre später wird Olegario von Scouts der Polizei und der Drogenmafia abgeholt. Als sie ihn fragen, wie seine Freunde ihn nennen, antwortet er: Lalo Cura. Wer mit CAS einigermaßen vertraut ist, wird über die schon angedeuteten Analogien hinaus noch viele weitere und hier nicht explizierte finden. Die strukturell wohl auffälligste ist, dass beide Erzählungen eine Dauer von sechs Generationen umspannen und jeweils mit dem Bruch bzw. der Erfüllung eines sexuellen Leitmotivs enden: In CAS wird der sich stets andeutende Inzest schließlich vollzogen und in 2666 die stete Vergewaltigung durch eine zumindest nicht vollends fremdbestimmte weibliche Sexualität durchbrochen. Wenn ich mich im Folgenden auf dieses Motiv konzentriere, dann deshalb, weil die sexuelle Geschichte dieser Familien nicht nur ein strukturgebendes Element ist, sondern obendrein den gesamten Metaphern- und Allegorienbestand organisiert. Die Familiengenealogie ist nämlich nicht nur als Allegorie der Geschichte zu lesen, sondern – wie schon weiter oben angedeutet – auch als eine Allegorie der Verbindung und Verkettung. Dadurch, dass die Buendía immer wieder das Tabu streifen, immer wieder ein vermeintlich kulturbegründendes

65 Ebd., S. 697.

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 Roberto Bolaño: Zur Poetik der immanenten Überschreibung

Gesetz gefährden, erweist sich der Zusammenhang zwischen dem einen und dem anderen Ereignis, die gesamte Logik ihrer Geschichte als eine schicksalhafte, die entweder dem Gesetz folgt oder aber – so will es das Ende – mit der Übertretung desselben verschwindet. Genau diese Logik der Notwendigkeit und auch der schicksalhaften Wiederholung wird in der Geschichte der Expósito revidiert. Der Wiederholungszwang der sexuellen Gewalt steht hier nicht für einen Kampf gegen ein mythisches Gesetz, sondern stellt durch die Anonymität der jeweiligen Täter die Logik der Wiederholung selbst in Frage. Kein höheres Gesetz wird angeschrieben und wie schon bei der Ermittlung der Frauenmorde stehen diese Körper nicht für eine andere Geschichte (wie etwa in El general en su laberinto, wo rückwirkend von einer Leiche eine Geschichte rekonstruiert wird), sondern für nichts weiter als das Verbrechen selbst. Nur die Verweigerung einer allegorischen Folie erlaubt es, dass die Gewalt als solche zur Frage wird und – paradoxerweise – gerade durch diese Unlesbarkeit nicht mythologisch sublimiert wird. Hierfür mag mehr als alles andere vor allem die Bezugslosigkeit der Vergewaltigung stehen. In dieser, wenn man so möchte, Säkularisierung der Gewalt – ein Motiv, das beide Erzählungen durchgehend beschäftigt und das hier sowohl politisch als auch sexuell umgesetzt wird – findet sich auch ein Verweis auf zwei unterschiedliche historische Verortungen, zwei differente diskursive Positionen und zwei gegensätzliche rhetorische Strategien. Die Verschiebung vom absehbaren, ein gegebenes Gesetz übertretenden Inzest zur wiederholten, aber unvorhersehbaren Vergewaltigung und von der männlichen Genealogie, erzählt von dem Binnenautor Melquíades zu einer weiblichen Genealogie, erzählt von wirren und vielen Stimmen entspricht auch die Verschiebung in den Dispositiven der strukturellen Gewalt von der modernen hin zu zur postmodernen Gewalt.⁶⁶ Lalo Curas Erinnerungen sind eingebettet in die Schilderung des hundertfachen, anonymen und nicht aufgeklärten Mordes an Frauen in der Grenzstadt Sonora (bzw. Ciudad Juárez). In CAS hingegen wird das Massaker an den Arbeitern der US-amerikanischen Bananen-Kompanie United Fruit Company geschildert, deren Leichen in Güterwagons abtransportiert werden und deren Existenz geleugnet wird.

66 Diese Begrifflichkeit entnehme ich recht wörtlich den Arbeiten von Daniel Pécault, der vor allem über die kolumbianische violencia gearbeitet hat und dabei verschiedene Schichten der Gewalt ausfindig macht, die von der archaischen bis hin zu modernen reichen. Vgl. hierzu: Daniel Pécault: Estrategias de paz en un contexto de diversidad de actores y factores de violencia. In: Leal Buitrago, Francisco (Hg.): Los laberintos de la guerra. Utopías e incertidumbre sobre la paz. Bogotá: Tercer Mundo Editores 1999, S. 193ff.

Explikation: Lalo Cura aus 2666 

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Diese Schilderungen der Gewalt sind – wenn man so möchte – zwei unterschiedliche Szenen der imperialen, neokolonialen Gewalt. Die Szenen aus CAS waren jene, welche auch der Dependenztheorie vorschwebten. In diesem Sinne konnte CAS als eine kontinentale Allegorie funktionieren, als das Sprachrohr einer Realität, welche die nationalstaatlichen Eliten ungern publik gemacht sahen. Ganz anders sieht es mit den Frauenmorden aus. Diese Gewalt ist nicht minder strukturell, verweist aber auf ein komplexeres Zusammenspiel der Akteure, welches die analytische Unterscheidung zwischen bösem Multi bzw. korrupter Regierung auf der einen und dem Volk als Opfer auf der anderen Seite übersteigt. Hier gewinnt die Gewalt Facetten, welche sowohl den kulturell kodierten Wert der Frau in der mexikanischen Gesellschaft als auch die Verschränkung lokaler, regionaler, nationaler und transnationaler Dimensionen offen legen, wie es wohl kaum ein Raum besser als der Grenzraum zwischen den USA und Mexiko veranschaulicht. Das Problem besteht hier nicht mehr darin, eine verschwiegene, aber wahre Geschichte publik zu machen und für diese zu sprechen, sondern in der Komplexität dieser in einem anderen Sinne strukturellen Gewalt. Folgerichtig werden die Morde nicht aufgeklärt und nur viele, nicht sehr viel versprechende und willkürliche Spuren gelegt. Eine solche Szenerie nun erstickt jede Revolutionsrhetorik schon im Keim, da nicht klar ist, wo das Übel zu beseitigen und wer auf die Anklagebank zu setzen oder wovon auszugehen ist. Diese Unterschiede betreffen vor allem etwas, das ich die allegorische Lektüre nennen möchte: So leicht es (scheinbar) ist, die Allegorie CAS zu entziffern und ein politisches Engagement daraus abzuleiten, so unmöglich ist es, dies mit 2666 zu tun. Welches Engagement, mehr noch: welche kollektive Revolution kann sich von den Frauenmorden ableiten, welche allegorische Funktion kann die Schilderung dieser anonymen Morde und Vergewaltigungen haben? Wer kann hier für wen die Stimme erheben? Die Unmöglichkeit, diese Fragen klar zu beantworten, macht für Bolaño die Frauenmorde zum Endpunkt des Scheiterns eines Traums, eines Revolutionstraums, der schon 1968 mit Tlatelolco angefangen hatte zu bröckeln. Statt der großen und mythischen Gegenerzählung bleibt nur die Verzerrung eines uneinsehbaren Intertextes, den die Mikroerzählung andeutet. Dieser positionalen Verschiebung entspricht, dass die Verfahren des Selbstzitats in beiden Texten vollkommen verschieden ausfallen. In CAS ist das Selbstzitat offenkundig: Ein gewisser Gabriel Márquez taucht am Ende des Buches als einer der Freunde von Aureliano Babilonia auf (auch wenn, so García Márquez, dieses Zitat eine weitere Bananenschale für die Kritiker ist, ändert das ja am Zitat nichts). Dieser Gabriel folgt dem Rat des weisen Katalanen und verlässt Macondo. Damit folgt er jener Bewegung, die schon Macondo selbst auszeichnet: aus der Binnengeschichte

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hinaus zu einer offenen Geschichte jenseits Macondos. In 2666 hingegen ist nicht nur das Selbstzitat wesentlich diskreter, sondern auf die Bewegung invertiert: Einer der möglichen Väter von Lalo Cura ist ja einer der beiden Studenten. Einer davon war Arturo Belano, so dass Lalo Cura der Sohn des literarischen Alter Ego sein könnte. Das ist nicht ohne Ironie: Bolaño selbst hat immer wieder betont, dass er viel lieber Kriminalpolizist als Schriftsteller gewesen wäre. Statt seine Erzählung zu verlassen, hat das literarische Alter Ego Spuren hinterlassen. Statt von Außen über die Geschichte verfügen zu können, ist der Erzähler des Romans 2666 – denn dieser soll ja laut Nachwort Arturo Belano sein – auch eine von seinem eigenen Intertext eingenommene Figur. Während García Márquez seine eigene Familiengeschichte zur Geschichte einer Welt ausgeweitet hat, bewahrt sich Bolaño einen gewissen Widerstand gegen die Figurierung. Das Gegenteil der kollektiven Prosa ist nicht die Individualität, sondern eine leicht entstellte, nur autobiographisch gefärbte Wiederholung des Ichs, das einer Aneignung widersteht und somit auch jener allgemeinen lateinamerikanischen Wiedererkennung, von der Fuentes im Bezug auf CAS sprach: En cualquier caso yo prefiero la literatura, por llamarle de algún modo, teñida ligeramente de autobiografía, que es la literatura del individuo, la que distingue a un individuo de otro, que la literatura del nosotros, aquella que se apropia impunemente de tu yo, de tu historia, y que tiende a fundirse con la masa, que es el potrero de la unanimidad, el sitio en donde todos los rostros se confunden.⁶⁷

Die Aneignung der Geschichte ist natürlich ein Vorwurf an die Versprechen der linken Schriftsteller, über die Bolaño – wieder das Motiv des Verlusts andeutend – lakonisch feststellt: Siempre quise ser un escritor de izquierda, claro está. Pero los escritores de izquierda me parecen infames.⁶⁸

Das Ende der Allegorie ist der Grenzort – hier mit Ciudad Juárez ganz literal zitiert –, an dem sich die Literatur abarbeiten muss, jene Grenze also, die Bolaño auch den Abgrund oder auch die Hölle nennt. Die Methode ist die falsche Übersetzung, in die sich jenes Gramm einfügen lässt, durch welches eine Geschichte erkennbar wird, als der Spiegel der eigenen Verstricktheit:

67 Roberto Bolaño: Catorce preguntas a Bolaño, o.A. 68 Roberto Bolaño: Diccionario Bolaño, S. 98.

Estrella Distante: Réécriture als ästhEtisches Verfahren 

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Ciudad Juárez, que es nuestra maldición y nuestro espejo, el espejo desasosegado de nuestras frustraciones y de nuestra infame interpretación de la libertad y de nuestros deseos.⁶⁹

So antwortet Bolaño auf die Frage, was für ihn das treffendste Bild der Hölle sei. Vor diesem Hintergrund mag sich der doch sehr rätselhafte Titel des Buches erschließen und zwar – mal wieder – in einer ganz wörtlichen und doch falschen Lektüre: 2666 ist das Kürzel einer zweiten 666, einer zweiten Hölle. Es kann nur eine zweite Hölle sein, weil sie in einer schlechten Wiederholung und Übersetzung vermittelt ist, weil sie auch eine hausgemachte ist, weil die erste zu erkennen nicht nur unmöglich ist, sondern die endgültige Verirrung im falschen Original bedeuten würde. Dieser zweiten Hölle mit offenen Augen zu begegnen, ist der Mut der verlorenen Jugend.

9.4 Estrella Distante: Réécriture als ästhEtisches Verfahren Ahora que quizás, en un año de calma, piense: la poesía me sirvió para esto: no pude ser feliz, ello me fue negado, pero escribí. Escribe Lihn, Porque escribí ¿Qué hay detrás de la ventana? Roberto Bolaño, Los detectives salvajes DÉJENLO TODO, NUEVAMENTE LÁNCENSE A LOS CAMINOS Roberto Bolaño, primer manifiesto infrarrealista

Eine besondere Komplexität im gesamten Erzählwerk von Roberto Bolaño besteht in der vielfachen Multiplikation von Stimmen und narrativen Ebenen. In Estrella distante (1996), einem Roman, der dem Vorwort zufolge gemeinsam von Bolaño und seinem literarischen Alter Ego Arturo Belano verfasst worden sein soll, findet sich diese ständige inter- und intratextuelle Auffächerung von figurierter und zitierter Rede in besonders eindringlicher Form. Wie schon anfangs ausgeführt ist der Text selbst eine Réécriture einer Réécriture. Diese mehrfache Versetzung des Textes erweist sich als die Bedingung dafür, dass eine Erzählung überhaupt erst ansetzen kann und die in der treuen, aber sich unterscheidenden

69 Roberto Bolaño: Final: Entrevista de Mónica Maristain. In: Bolaño: Roberto: Entre Paréntesis, S. 335.

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 Roberto Bolaño: Zur Poetik der immanenten Überschreibung

Wiederholung ein weiteres Mal die Ethik und Ästhetik der Réécriture zum Thema macht.⁷⁰ Doch auch jenseits dieser halb paratextuellen Stelle findet sich im Roman dieses Verfahren. Ohne dass die Textebenen eindeutig zuzuordnen wären, ist etwa von der Autobiographie eines gewissen Julio César Muñoz Cano die Rede, die – ein weiteres Mal ein diskursiv unmögliches Doppel inszenierend – gleichzeitig kommentiert und zitiert wird. Julio César Muñoz Cano, eine periphere Figur des Romans, erzählt in seiner Con la soga al cuello titulierten Autobiographie, die von den Erzählern Belano/Bolaño als eine «narración autobiográfica y autofustigadora»⁷¹ bezeichnet wird, eine Episode aus dem Leben eines gewissen Carlos Wieder. Dieser Carlos Wieder alias Alberto Ruiz-Tagle, alias Carlos Ramírez Hoffmann, alias R. P. English, alias John Defoe, alias Octavio Pacheco wiederum erregt 1973 durch eine Fotoausstellung Aufsehen, die von Julio César oder auch vom Erzähler (das wird nicht deutlich) als eine «epifanía de la locura»⁷² bezeichnet wird und die – nun wiederum die Worte des Carlos Wieder zitierend – als eine Ausstellung von «poesía visual, experimental, quintaesenciada, arte puro»⁷³ angekündigt wird. Auf den Fotos dieser Ausstellung sind ausnahmslos weibliche und größtenteils zerstückelte Leichen dargestellt, die allesamt vom ‘Künstler’ ermordet worden sind. Die hierfür verwendete Technik der Polaroid-Fotografie war erst seit einem Jahr auf dem amerikanischen Kontinent für den Privatkonsumenten zu erhalten. Die medienästhetische Pointe, dass die Ausstellung sich des Mediums der Unmittelbarkeit schlechthin bedient, um ein Werk auszustellen, das angeblich «puro» und «quintesenciado» sein soll, ändert nichts daran, dass in dieser übermäßigen Explikation das Werk insgesamt zu einer unlesbaren und unsichtbaren Aus-Stellung wird: Muñoz Cano no descarta que en un treinta por ciento de los casos estuvieran vivas en el momento de hacerles la instantánea. […] El orden en que están expuestas no es casual: siguen una línea, una argumentación, una historia (cronológica, espiritual…), un plan. Las que están pegadas en el cielorraso son semejantes (según Muñoz Cano) al infierno, pero un infierno vacío. Las que están pegadas (con chinchetas) en las cuatro esquinas semejan una epifanía. Una epifanía de la locura.⁷⁴

70 Eine erste Fassung dieses Kapitels findet sich in: Pablo Valdivia Orozco: «La epifanía de la locura»: hacia una poética de lo real en la narrative de Roberto Bolano. In: Ette/Nitschak (Hg.): Trans*Chile. Cultura-Historia-Itinerarios-Literatura-Educación. Un acercamiento transareal. Frankfurt: Vervuert 2010, S. 147–168. 71 Roberto Bolaño: Estrella distante. Barcelona: Anagrama 1996, S. 93. 72 Ebd., S. 94. 73 Ebd., S. 87. 74 Ebd., S. 97.

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Wenn die Epiphanie, eine seit Kant erkenntnistheoretisch ausgeschlossene Option, die Erscheinung einer Sache in ihrem eigenen Bild ist, wie soll dann die Epiphanie des Wahnsinns zu verstehen sein? Erscheint der Wahnsinn selbst? Ist das Medium der Polaroid-Fotografie in diesem Sinne als ein Medium der Epiphanie zu begreifen, die den Betrachter quasi ohne Vermittlung und ohne Entwicklungszeit bzw. mit einem sich selbst verdunkelnden Medium zur Sache führt? Angesichts der Tatsache, dass nicht klar ist, wem diese Interpretation zuzuschreiben ist, scheint es naheliegend anzunehmen, dass auch diese Beschreibung selbst ambivalent ist. Zumindest zwei Interpretationen bieten sich an, die zusammen gewissermaßen eine weitere Vorgeschichte jenes Lalo Cura darstellen, sofern hier die locura selbst thematisiert wird: Die erste, die wohl jene ist, die Carlos Wieder für sich beansprucht, würde in der Tat davon ausgehen, dass ein Effekt vorherrscht, der mit der Epiphanie durchaus treffend beschrieben ist und die Wendung der Epiphanie des Wahnsinn als genetivus subjectivus fassen würde. Was sich ja zeigen soll, ist das Essentielle, eine andere, höhere Ebene, hier Wahnsinn genannt, die gerade dadurch einsichtig wird, da das Gezeigte sich in maximaler Explikation zeigt, es quasi bruchlos auf das Höchste verweist, es enthält. Dieser Zusammenhang bedarf einer Erklärung. Die Epiphanie bedarf und bedarf nicht der Fotos. Die Epiphanie, indem sie sich auch auf eine höhere Ebene beziehen lässt, auf eine transzendentale Erscheinung, die sich in der Suggestion eines geheimen Plans andeutet, steht im offenkundigen Widerspruch zu der visuellen Unmittelbarkeit der fotografischen Darstellung. Die Epiphanie, um die es hier geht, ist eine geheime, eine unlesbare, die dennoch eines sichtbaren Schlüssels bedarf. Anders gesagt: Die Epiphanie des Transzendenten und genauer: des Wahnsinns stellt sich nicht selbst aus, sondern vor allem eine der ‘reinen Kunst’ eingelassene Qualität. Diese doch sehr platonisch gedachte Kunst vermag dank eines hermetischen Diskurses und einer esoterischen Rhetorik die referentielle Funktion der Fotos zu überschreiten. Deren Funktion wäre somit in dem Sinne zu bestimmen, dass ihre mechanische Unmittelbarkeit zu garantieren hat, dass über das Dargestellte im vollkommenen Besitz und in absoluter Kontrolle verfügt werden kann. Dieser Schritt der Überschreitung ist also genau deshalb möglich, weil die Fotos alles Wesentliche zu enthalten scheinen und das meint: nicht nur das absolut Notwendige, um mithilfe ihrer Wirkung zwischen jenen unterscheiden zu können, die diesen geheimen Plan erkennen und ertragen, und jenen, die dazu nicht in der Lage sind. Ebenso enthalten sie alles Wesentliche im Sinne des Wesenhaften, das in diesem Fall nicht weniger als die absolute Grenze der Repräsentation und des Repräsentierbaren meint. Die unmittelbare Repräsentation der Polaroidfotos kann also transzendental sein und deshalb auf einen anderen, geheimen Plan verweisen, weil sie selbst keine Geheimnisse mehr bereithalten,

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 Roberto Bolaño: Zur Poetik der immanenten Überschreibung

die den Blick an die Repräsentation selbst fesseln könnten und die es notwendig machen würden, eine Lektüre anzustrengen. Eine Lektüre jedoch – so hat schon die Eröffnung des Romans es klar belegt – bedeutet immer auch eine Partikularität und den Einschluss in ein endloses Meer von Zitaten, Verweisen und Ersetzungen. Lektüre – so wird zu belegen sein – ist für Bolaño eine gegentranszendentale Figur und die ja wesenhaft auszugshafte réécriture ihre Absicherung dagegen. Diese Art von Kunst, mit denen sich die Besucher der Ausstellung besudeln («empapando»), ist, anders als ihre Rhetorik es vermuten lässt, mitnichten so neu und rein wie Carlos Wieder es glauben machen will. Das Gegenteil ist der Fall: Es handelt sich hierbei geradezu um eine Art Allgemeinplatz avantgardistischer Ästhetik und der mit ihr assoziierten Kritik, die in dem Setting des Chile der 70er Jahre in eine Konfiguration gebracht wird und das aus gutem Grund: Die Kunst als offenbarende Epiphanie ist nämlich nicht nur eine romantische Figur, eine Art säkularisiert-ästhetisierte Gnosis, die von Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts immer wieder aufgenommen und radikalisiert werden sollte, sondern auch eine, in die sich eine mythisch-magische Logik eintragen lässt. Es ist diese letztgenannte Logik, die nachvollziehbar macht, weshalb die Kunst von Carlos Wieder, alias Defoe, in Bolaños unmittelbar davor publiziertem Prosawerk und Pseudo-Enzyklopädie (à la Borges) La literatura nazi en América Latina einen Eintrag findet. Die mythische Bestimmung dieser Literatur, deren Anhänger zufolge «los poemas de una nueva edad de hierro para la raza chilena»⁷⁵ enthält, besteht darin, dass – so ihre Rhetorik – sie glauben macht, es handle sich tatsächlich um etwas absolut Neues und Wahrhaftiges (verdichtet in den verstümmelten Körpern) und die sich folglich vollkommen aus sich selbst heraus begründen kann, endgültig die Ruinen des Vergangenen überwindend. Die Politik und Rhetorik dieser Art von Kunst bedarf also auch deshalb der Gewalt, da nur mit ihr sich die eigene Historizität verdrängen lässt. In diesem Punkt wiederum trifft sich Wieders Kunst mit dem avantgardistischen Credo par excellence, wonach mit einer ultimativen Kunst auch deshalb das Ende der Kunst eingeleitet wird, da die Kunst zum Leben, zur Lebensform wird. Statt mit der künstlerischen Darstellung etwas unweigerlich Künstliches, Kontingentes und vom menschlichen Leben Ausgeschlossene auszustellen, bezweckt Wieder mit seiner Art Kunst eine vermeintlich dem Leben entsprechende Naturalisierung, um genau das Künstliche der Kunst zu eliminieren:

75 Ebd., S. 94.

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La revolución pendiente de la literatura, dice Defoe, será su abolición. Cuando la Poesía la hagan los no-poetas y la lean los no-lectores.⁷⁶

Diese Aktionskunst wäre ziemlich genau das Gegenteil von jener Kunst, die im Vorwort des Romans sich ankündigt: Wenn es heißt, dass «[…] Arturo deseaba una historia más larga, no espejo y explosión de otras historias sino espejo y explosión en sí misma»⁷⁷, dann weil nur auf diese Weise gesichert ist, dass keine Weiter-Verwendung von Kunst diese entkünstlicht, dass sie sich nicht naturalisiert und in ihrer (langen, «más larga») Widerständigkeit eine der Kunst vorbehaltene Geschlichtkeit bewahrt. Bolaños oder auch Belanos Poetik der Zitation als immanente Überschreibung hat zwar mit Aspekten des Lebens und dem Tod zu tun, kann zwar durchaus eine auf Leben und Tod hinauslaufende Frage sein, ist aber nicht selbst das Leben oder der Tod. Literatur – so steht es hier geschrieben – bewahrt sich eine eigene und besondere Art der Lebendigkeit, indem sie der Verführung widersteht, Teil jener «otras historias» zu sein, die, da sie die eigene Geschichtlichkeit verdrängen, als eine Quelle letztgültiger Autorisierung und Sinnvermittlung fungieren sollen. Der Offenbarung zu widerstehen und, schlussendlich, einer Revolution abzuschwören, die im Namen einer vermeintlich absolut neuen Poesie geführt wird, kann für Bolaño/Belano nur bedeuten, dass die literarische Praxis sich einer endlosen Suche ver-schreibt. Vor diesem Hintergrund wird aufs Neue deutlich, vor welchem ethischem Dilemma jede Narration, besonders aber die widerständige Narration steht. Da sie leicht Gefahr läuft, umzuschlagen in die Rhetorik und in den Mythos einer absolut neuen und anderen Rede, fühlt sich der Erzähler von Estrella distante (wer auch immer das sein mag) zu einem widersprüchlichen Bekenntnis genötigt: Esta es mi última transmisión desde el planeta de los monstruos. No me sumergiré nunca más en el mar de mierda de la literatura. En adelante escribiré mis poemas con humildad y trabajaré para no morirme de hambre y no intentaré publicar.⁷⁸

In dem Moment also, da die Geschichte einer verlorenen chilenischen Generation erzählt wird, versucht der Erzähler, ebenso verzweifelt wie melancholisch, die mörderische Geschichte von Carlos Wieder in einer nunmehr sich verweigernden Rhetorik nachzuzeichnen, quasi jene Geschichte zu erzählen, die Wieder in seinen vielen Pseudonymen zu verdrängen sucht. Er zeichnet sie gerade nicht als den großen Entwurf, als die neue Zeit einer stählernen neuen chileni-

76 Ebd., S. 143. 77 Ebd., S. 11. 78 Ebd., S. 138.

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schen Rasse, sondern als eine literarische Mikrogeschichte, die ihrerseits zur Explosion einer anderen Geschichte wurde und die nun als eine geschrieben werden soll, die ihre eigene Explosion ist, den Fortgang der verhängnisvollen ‘Verwertung’ von Kunst endlich unterbrechend. Diese Erzählung ist keine Gegenerzählung im einfachen Sinne, sondern ein Erzählung, die sich gegen die Revision qua Erzählung selbst stellt, indem sie in sich selbst explodiert – fast scheint es, als gälte es sich ein ums andere Mal zu vergewissern, dass die Erzählung von Bolaño/Belano – auch wenn sie das gleiche avantgardistische Erbe und gar die gleiche Geschichte der chilenischen Literarturwerkstätte teilt wie die eines Carlos Wieder – eine bestimmte Art von Selbstreduktion fordert, die in krassem Gegensatz zum Größenwahn eines Carlos Wieder steht. Nur auf diese Weise (die ja nicht minder rhetorisch ist als Wieders ‘Kunst’, aber im Gegensatz zu dieser ihre Rhetorizität nicht qua Wirkung verdrängen möchte) können die Erzähler aus Estrella Distante sichergehen, dass sie sich von Wieders Kunst unterscheiden. Nur der beständige Verweis darauf, dass ihre Geschichte kein absoluter Anfang, sondern eine beständige und vor allem: literarische Versetzung ist, erlaubt es ihnen, überhaupt einen narrativen Diskurs für sich in Anspruch zu nehmen – eine Narration freilich, die eine Explosion in sich selbst ist, gerade weil sie eine lange Geschichte literarischer Zitation belegt, deren Anfang nicht verfügbar und deren Ende nicht absehbar ist. Nicht «arte puro» oder «quintaesenciado», sondern parallele und uneinholbare Geschichtlichkeit zeichnet das literarische Wort aus. Weder tabula rasa noch die Offenbarung eines anderen Geheimnisses als die einer selbst nicht vollends lesbaren literarischen Offenbarung, die ja – so Borges – nichts anderes ist als ihr Ausbleiben und das Ästhetische selbst. So überrascht es wenig, dass im Verlauf seiner proto-faschistischen Revolution Wieder eine im Verhältnis hierzu vollkommen gegenläufige Ästhetik entwickelt als jenes Verständnis von post-avantgardistischer Kunst, die sich etwa in Adornos Ästhetischer Theorie findet. Speziell dieser Text von Adorno ist hier ein mehr als passender Text, da hier Adorno sich nach dem kritischen Einsatz einer post-avantgardistischen Kunst fragt, für die ja [z]ur Selbstverständlichkeit wurde, daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht.⁷⁹

79 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002 [1973], S. 9.

Estrella Distante: Réécriture als ästhEtisches Verfahren 

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Adorno hat ja gerade vor dem Hintergrund der Erfahrung der faschistischen Barbarei – und Wieder wird seine eigene Kunst als eine «Escritura bárbara»⁸⁰ beschreiben – darauf bestanden, dass die Kunst in der Post-Avantgarde, wenn sie eine soziale Relevanz beanspruchen will, mithin von einer «humanen Allgemeinheit» sein will, diese ebenfalls und notwendigerweise nur unter den Bedingungen der Arbeitsteilung beanspruchen kann, also gerade nicht die Kunst der Dillettanten: Kunst vermag einzig noch durch konsequente Arbeitsteilung hindurch ihre humane Allgemeinheit irgend zu realisieren: alles andere ist falsches Bewusstsein.⁸¹

Die Perversion der pseudo-demokratischen Kunst des Dilettanten oder genauer: des Nicht-Künstlers, so ließe sich Adorno paraphrasieren, besteht nicht nur darin, dass man genötigt ist, sich mit einer qualitativ anspruchsloseren Kunst zu begnügen, sondern auch und vielleicht vor allem darin, dass sie der faschistischen Fantasie Tür und Tor öffnet. Im Faschismus vermag nämlich die Kunst mehr als sonst wo zur Explosion einer anderen Geschichte zu werden. Gleichzeitig hat sie eine Essenz und Evidenz zu garantieren, deren in der Moderne ja angeblich schmerzlich erfahrene Abwesenheit nunmehr durch eine Rhetorik des Tiefen, Essentiellen, Geheimen und Unüberbietbaren gesichert wird. Jedoch handelt es sich dabei keineswegs um ein absolutes oder selbstbezügliches Geheimnis, das eher im endlosen literarischen Zitat zugegen ist, als in Wieders vermeintlich reiner Kunst. Als das Geheimnis einer anderen Geschichte handelt es sich hier um ein zu offenbarendes Geheimnis, um ein Geheimnis, von dem man ausgeht, dass es mit und in der auserwählten Rasse schon angelegt ist und vielleicht gar in allen Positivitäten ihres Seins. Darin liegt die Perversion einer völkischen Demokratisierung. Das Geheimnis von Wieders Kunst kann deshalb einen Anspruch auf Führerschaft und Epiphanie stellen, einen historischen Auftrag einfordern, der sich durch den Ursprung und das Ziel eines reinen und originalen Seins autorisiert. Die vermeintliche Rückbesinnung auf die Rasse ist also von der gleichen absoluten und mystischen Positivität wie die reine Kunst à la Wieder, wie jene Kunst, die Epiphanien des Wahn-Sinns erlaubt bzw. jener «locura», die im vorigen Kapitel schon dargelegt als eine der großen lateinamerikanischen historiographischen Verführungen drohte. Die Spaltung zwischen denen, die der künftigen (kriminellen) Elite angehören sollen und jenen, die in dieser Epiphanie das Neue nicht zu erkennen ver-

80 Roberto Bolaño: Estrella distante, S. 45. 81 Ebd., S. 349.

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mögen, wird unmittelbar im Anschluss an die Enthüllung der Ausstellung erzählt. Während die geradezu zwangsläufige und ambivalente Empörung über diese Fotos allgemein und ohne Spuren bleibt, finden sich doch vereinzelt Stimmen einer zunächst schüchternen Akzeptanz dieser Kunst, die im Ausstellen eines vermeintlich originalen Verbrechens eine der klassischen Fassungen der Ursprungs- und Begründungserzählungen bemüht. Diese Akzeptanz wiederum wird hoch ironisch erzählt. Der retrospektive und zweifelnde Gestus der Erzählung ironisiert die Intensität einer in der beschriebenen Gegenwart empfundenen ‘Brüderlichkeit’: […] una extraña sensación de fraternidad quedó flotando en el piso entre los que optaron por quedarse. […] Alguien recordó un juramento, otro se puso a hablar de discreción y del honor de los caballeros. El honor de la caballería, dijo uno que hasta ese momento parecía dormido.⁸²

Wie es schon Benjamin in seiner Kritik der Gewalt ausführte, setzt der soziomythische Kontrakt ein Verbrechen oder zumindest die Erfahrung einer «reinen Gewalt» voraus. Ohne Zweifel strebt Wieder genau diese Art Gewalt an. Die Pertinenz der benjaminschen Kritik reicht noch weiter. Nicht nur die mythisch-begründende Gewalt ist Thema, sondern auch die Einsicht, dass die menschliche Gewalt – Haverkamp spricht vom «Menschen-Mittel-Maß»⁸³ – die göttliche und reine Gewalt nur verzerrend, korrumpiert und aus durchsichtigen Gründen zitieren kann. Die menschliche Gewalt ist immer Mittel und Werkzeug und ihre größte Verfehlung besteht darin, die Spuren ihrer Geschichtlichkeit zu löschen und so ihren Akt in Epiphanie zu verwandeln. Adorno nun entwirft, nicht überraschend, einen vollkommen anderen Begriff der reinen Kunst, indem er von deren Negativität und gerade nicht von einer immer wieder zu affirmierenden Positivität ausgeht. So kann auch Adorno die Figur der Epiphanie für sich beanspruchen. Wenn dieser Epiphanie nun ebenfalls eine (sozial-)kritische Funktion zuteil wird, ist diese doch geradezu auf invertierte Weise begründet. Kunst ist Sozialkritik nur dank der Eigenlogik ihrer Form und Produktionsverhältnisse, die gerade nicht dafür sich eignen, eine mythisch begründende Rolle einzunehmen. Stattdessen handelt es sich um eine Epiphanie, durch die sich Adorno sowohl gegen einen kruden Materialismus – exemplifiziert in Lukács – als auch gegen jedwede Art von Idealismus und Mystizismus abgrenzen möchte. Indem Adorno darauf beharrt, dass die Epiphanie

82 Roberto Bolaño: Estrella distante, S. 94–96. 83 Anselm Haverkamp: Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz. Frankfurt: Suhrkamp 2002, S. 158.

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in der Kunst deshalb möglich ist, da Kunst ein konstitutiv negatives Moment enthält, meint er, sowohl einer einfachen Widerspiegelungstheorie wie auch der im besten Falle bloß Kitsch produzierenden Sackgasse des Mythos die Begründung entzogen zu haben. Für Adorno besteht die Wahrheit der Epiphanie in dem Sinne, dass die Überschreitung ihrer positiven Aussage sich einer Form schuldet, die sich dieser Aussage nie gänzlich fügt und erst recht nicht einer höheren Wahrheit oder Essenz entspricht. Oder wie Bolaño es sagen würde: Kunst ist nicht Teil einer anderen Geschichte, sondern Explosion der eigenen. Von besonderem Interesse scheint mir die Tatsache, dass Adorno bei der Thematisierung der Form geradezu systematisch all jene Formen von Wahrheitsmomenten ausschließt, die sich mit der Positivität der für Adorno immer nur verfälschenden Fotografie (ganz zu schweigen von den Polaroidfotos) irgendwie in Verbindung bringen ließen. Adorno, ganz Anti-Wieder, beharrt auf einer Opposition zwischen dem Sichtbaren und dem Ereignis einer Wahrheit, die er im Sinne einer vergessenen und negierten Geschichte bewahrt wissen will: Wohl impliziert Kunst, als eine Gestalt von Erkenntnis, Erkenntnis der Realität, und es ist keine Realität, die nicht gesellschaftlich wäre. So sind Wahrheitsgehalt und gesellschaftlicher vermittelt, obwohl der Erkenntnischarakter der Kunst, ihr Wahrheitsgehalt, die Erkenntnis der Realität als des Seienden transzendiert. Die epistemologische Kritik des Idealismus, die dem Objekt ein Moment von Vormacht verschafft, ist nicht simpel auf die Kunst zu übertragen. Objekt in ihr und von der empirischen Realität ist ein durchaus verschiedenes. Das der Kunst ist das von ihr hervorgebrachte Gebilde, das die Elemente der empirischen Realität ebenso in sich enthält wie versetzt, auflöst, nach seinem eigenen Gesetz rekonstruiert. Einzig durch solche Transformation, nicht durch ohnehin stets verfälschende Photographie, gibt sie der empirischen Realität das Ihre, die Epiphanie ihres verborgenen Wesens und den verdienten Schauer vor ihm als dem Unwesen. Der Vorrang des Objekts behauptet ästhetisch allein sich am Charakter der Kunst als bewußtloser Geschichtsschreibung, Anamnesis des Unterlegenen, Verdrängten, vielleicht Möglichen.⁸⁴

An dieser Stelle wird einsichtig, dass sowohl in Adornos Ästhetischer Theorie wie auch in der performance von Wieder es darum geht, entweder in der Transformation der Form selbst (Adorno) bzw. in der offenbarenden Qualität des künstlerischen Objekts (Wieder) dasjenige zu erkennen, was die Aussagefunktion der künstlerischen Repräsentation (des Objekts also) zu überschreiten erlaubt, um sie mit einer komplexeren ‘Wahrheit’ in Bezug zu setzen. Anders gesagt: Sowohl die negative Dialektik der Form (Adorno) wie auch die mythisch-positive performance (Wieder) gehen von einem spezifischen ästhetischen Erkennen aus,

84 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, S. 383–384.

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die zu den binnenlogisch doch sehr verschiedenen Verwendungen des Wortes Epiphanie führt, mal die Darstellung affirmierend, mal sie transzendierend. Unabhängig von der wesentlichen Differenz, dass diese einmal mittelbar (Adorno) und sich einmal unmittelbar (Wieder) einstellt, verspricht die Epiphanie ein Wissen und eine Lesbarkeit von etwas, das andernfalls unsichtbar und unzugänglich wäre. Während für Wieder die Kunst auf diese Krise mit neuen Sinnangeboten und einer vermeintlich ‘besseren’ Erneuerung des Sozialkontrakts reagiert, kann Adorno dieses Moment als Hypothek deuten: In der nach der Katastrophe auferstandenen Kultur vollends nimmt Kunst durch ihr schieres Dasein, vor allem Inhalt und Gehalt, ein Ideologisches an. Ihr Mißverhältnis zu dem geschehenen und drohenden Grauen verdammt sie zum Zynismus; noch dort lenkt sie davon ab, wo sie ihm sich stellt. Ihre Objektivation impliziert Kälte der Realität gegenüber. Das degradiert sie zur Spießgesellin derselben Barbarei, der sie nicht minder verfällt, wo sie die Objektivation drangibt und unvermittelt, wäre es auch durchs polemische Engagement, mitspielt.⁸⁵

Wenn sich also einerseits die Kunst der Post-Avantgarde – so Adornos Ästhetische Theorie –immer und notfalls als «Spießgesellin» auf die katastrophenhafte Auslöschung der künstlerischen und sozialen Avantgarde (sowohl im künstlerischen wie ganz literalen Sinne menschlichen Lebens) durch die Barbarei bezieht, bezieht sich Wieders Kunst unbeirrt auf die Möglichkeit einer höheren Bedeutung. Der negativen Epiphanie steht eine positive entgegen. Der Fall der chilenischen Katastrophe behandelt mehr als eine nationale Tragödie. An ihr behandeln Belano/Bolaño die Frage des Lebens unter den Bedingungen des Totalitarismus des Todes. Das Problem besteht also nicht nur in der Gewalt selbst, sondern darüber hinaus in einer Qualität der Gewalt, die in der lateinamerikanischen Tragödie eine besonders augenscheinliche Dimension einnimmt. Diese zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass auch hier Gewalt eine stets korrumpierte wäre. Darüber hinaus haben die Rhetoriken des Lateinamerikanischen auch noch geradezu kulturell sich begründende Unsichtbarkeiten dieser Gewalt produziert. Die chilenische Katastrophe, die in Bolaños Texten stets als der Verlust der Jugend allegorisiert wird, ist ein Verlust, der am Beispiel seiner ganzen Generation verdeutlicht, dass dieser Verlust nicht nur ein materialer ist, sondern auch ein symbolischer. Genau dieser an der chilenischen Katastrophe nachzuvollziehende Umschlag macht aus ihr eine Art falsches Original, eine Art originales Trauma, das sich ebenso in Schwarzafrika wie Tlatelolco wiederholen kann. Nicht nur der Kampf ist verloren, sondern auch die symbolische

85 Ebd., S. 347–348.

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Position, die einen anderen, einen neuen Kampf ermöglichen würde. Das Trauma besteht darin, dass von nun an «una lucha armada que nos iba a traer una nueva vida y una nueva época»⁸⁶ nicht mehr möglich ist und zwar aus dem einfachen Grund, dass jeder neue Kampf eine neue Niederlage enthält: Wer kämpft, hat schon verloren: […] pero que para la mayoría de nosotros era como un sueño o, más apropiadamente, como la llave que nos abriría la puerta de los sueños, los únicos por los cuales merecía la pena vivir. Y aunque vagamente sabíamos que los sueños a menudo se convierten en pesadillas, eso no nos importaba.⁸⁷

Die Lebensdimension, die hier hereinspielt, scheint fast ein lakonisches Echo aus jenem Manifiesto infrarrealista zu sein, das der junge Bolaño 3 Jahre nach dem Sturz von Salvador Allende verfasst hat: «Nuestra ética es la Revolución, nuestra estética la Vida: una-sola-cosa.»⁸⁸ Uneingeschränkt die Paradoxie einer kontinuierlichen Revolution am Leben durchbuchstabierend (Bolaño bekannte sich ja in seiner Jugend als ein Anhänger jener Gruppe von Trotzkisten, die um die Vergeblichkeit dieser Revolution wussten), ist auch die hier ausgesprochene und mit den Bindestrichen angezeigte Kontinuität der «una-sola-cosa» eine widersprüchliche. Da sich die Ästhetik des Lebens und die der Revolution decken sollen, kann diese Kontinuität eine nur höchst komplexe und vermittelte sein, in deren Verlauf jedenfalls die letztgültige Offenbarung ausgeschlossen ist. Im besten aller Fälle ist damit eine dauerhafte (revolutionäre) Unterbrechung gemeint, die, immer fragmentarisch, nur schwer, wenn überhaupt, mit etwas Anderem als dem Scheitern oder dem Tod zu vollenden ist. Der chilenische Militärputsch invertiert die revolutionäre Dauerunterbrechung, verwandelt den Traum in einen Alptraum und stellt im Totalitarismus den traumatisierenden Zwilling der Revolution aus, der, einmal von der Ästhetik des Lebens losgelöst, notwendigerweise auf einen festen Eigensinn beharrt, der die kontinuierlichen Metamorphosen des Lebens systematisch unterbindet, da er, anders als die infrarrealistas, die Unterbrechung selbst nicht als Leben anerkennt. Und doch geht es darum, die Ästhetik des Lebens auch unter den Bedingungen ihrer Auslöschung zu denken – eine Situation, die in mehr als einer Hinsicht der von Agamben so prominent thematisierten Ausnahmesituation ähnelt. Das Leben ist auch hier dasjenige, was, obwohl ausgeschlossen, im Innern

86 Roberto Bolaño: Estrella distante, S. 13. 87 Ebd. 88 Roberto Bolaño et al.: DÉJENLO TODO, NUEVAMENTE: primer manifiesto infrarrealista. In: «http://manifiestos.infrarrealismo.com/primermanifiesto.html», o.A.

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der politischen Praktiken nicht einfach verschwindet, sondern als untergründiger Haufen der Geschichte ‘bleibt’. Für die Generation Bolaño hat der Putsch nicht nur den Verlust einer potentiell besseren Welt zur Folge; erfahren wurde auch ein Verlust im Ego. Wie schon Freud in Trauer und Melancholie es ausführte, ist dieser Verlust einer, der sich sowohl in der Welt als auch als eine traumatische Verlusterfahrung des Selbst (des Imaginären) anzeigt, als eine Erfahrung der Gewalt, die auch ins Phantasmagorische reicht: Der Melancholiker zeigt uns noch eines, was bei der Trauer entfällt, eine außerordentliche Herabsetzung seines Ich-Gefühls, eine großartige Ich-Verarmung. Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst.⁸⁹

Dieser Wandel zeigt sich in einem kurzen Absatz, der eine Beschreibung enthält, in der die Wirklichkeit sowohl als Potenz wie auch als möglicher Ausgangspunkt einer neuen chilenischen, einer von Wieder sich unterscheidenden Poesie ausgeschlossen wird. Die entstellte Wirklichkeit zeigt sich als Auflösung («desbandada»), die in dieser amorphen Qualität jede Art positiver, aber auch negativer Epiphanie ausschließt: La poesía chilena, dijo Bibiano aquella noche, va a cambiar el día que leamos correctamente a Enrique Lihn, no antes. O sea, dentro de mucho tiempo. Pocos días después llegó el golpe militar y la desbandada. (Bolaño 1996: 26)

Was vom Leben bleibt, nach dem Militärputsch, ist nicht seine faschistische Neuerschaffung und auch nicht die simple Auslöschung. Was dieses Trauma anzeigt, ist die Tatsache, dass das Leben, jenseits der utopisch-revolutionären Diskurse und der faschistischen Mythen, ein Exzess bleibt, der weder mit der Rhetorik egal welchen Kampfes noch mit der Zeugenaussage zu fassen ist. In diesem Sinne wird das menschliche Leben zu einer Pseudo-Kontinuität, deren Komplexität allenfalls mit der ständigen Zitation der Literatur vergleichbar ist. Dies zumindest wäre eine der Möglichkeiten, Enrique Lihn «correctamente» zu lesen. Denn nicht zufällig bezieht sich hier der Text auf eine Problematik, die am deutlichsten in Lihns Essay Definición de un poeta stammt. 1966 hat Lihn, Lukács zitierend, in der «subjetividad inmediata»⁹⁰ der Avantgardepoesie we-

89 Sigmund Freud: Trauer und Melancholie. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 10, Frankfurt a.M.: Fischer 1991 [1917]. S. 295. 90 Enrique Lihn: Definición de un poeta. In: Anales de la Universidad de Chile (Enero – Marzo 1966), S. 64.

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niger eine Spur des originären Mythos erblickt als «una fuente permanente de investigación poética de lo real»:⁹¹ Con Lukács, el marxismo hace una distinción extraordinariamente eficaz y clara entre el reflejo científico y el artístico de la realidad objetiva. Se puede esperar, con todo, en mi modesta opinión, una noción de objetividad que no excluya, como material de desecho, la ‘subjetividad inmediata’, no sólo justificable en ciertas coyunturas históricas como la que vivió el surrealismo, sino fuente permanente de investigación poética de lo real, comoquiera que aquí es donde se trata de ‘liberar al hombre de sí mismo’ antes o después o por encima del problema social.⁹²

Offenkundig war auch für Lihn die Frage des (subjektiven) Lebens eine, die sich an der Differenz zwischen den Bedingungen des menschlichen Lebens und der Erfahrung derselben, zwischen dem konditionierten und dem gelebten Leben schärft. Genau deshalb kann auch die Poesie keine absolute und endgültige sein. Laut Lihn ist der Poet gerade nicht der «pequeño dios» seines Landsmann Huidobro, sondern, seinen ebenfalls chilenischen Freund Nicanor Parra zitierend, den auch Roberto Bolaño als Referenz anerkannt hat, «una pequeña república»⁹³ mit ihren eigenen kontingenten Konfiguration des Individuellen, Partikulären und Allgemeinen und vor allem, sich gegen alle Phantasmagorie des Nationalen richtend: eine Republik mit ihren Widersprüchen und eigenen Explosionen, die (wie der Text), im Sinne einer formalen, nicht-autochthonen Struktur und von konkreten Subjekten zitiert, die Frage des (Über-)Lebens stellt. Die poetische Partikularität ist folgerichtig mehr als das freie Spiel mit der Form, sie verdankt sich vielmehr der immer spezifischen Überkreuzung des Individuellen, Partikularen und des Allgemeinen, so wie es sich im menschlichen Leben manifestiert. Dies jedoch – und hier ließe sich eine Opposition zu Adorno festhalten – setzt voraus, dass der poetische Diskurs, bei aller Partikularität seiner Form doch ein Moment positiver Identifizierung ermöglicht. Damit ist nicht eine transzendentale Überschreitung gemeint, sondern die Aufgabe einer dauerhaften Suche, ja Recherche. Sollte diese ausbleiben – die Metapher des Lebens umkehrend –, würde auch die Poesie sterben: La poesía ha transformado, pero no ha perdido, como arte o medio de expresión separado, la vocación de su especialidad. Existe gracias a su propio lenguaje, intuitivo e imaginativo, de modo tal que toda subsunción bajo otras especies de escritura significa para ella,

91 Ebd. 92 Ebd. 93 Ebd.

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automáticamente, o una sensible pérdida de su libertad operacional o, simplemente, el suicidio.⁹⁴

Kurz: Der kritische Einsatz des Romans für Bolaño ist nicht nur seine Darstellung als endloses Zitat, sondern vor allem die Tatsache, dass dieses endlose Zitat auch auf eine Welt bezogen ist. Die poetische Revolution eines Wieder ist das genaue Gegenteil hierzu und beruht auf einem anderen Lebensbegriff (und natürlich auch Weltbegriff). Seine Art gleicht insofern der ultimativen Pervertierung dessen, was die chilenische Avantgarde mit ihrer Leitfigur Huidobro als den creacionismo der Poesie eingeführt hatte. In Wieders Werk kulminiert dieser Schöpfungsauftrag in der neuen chilenischen Rasse, die tatsächlich eine poetische Schöpfung wäre, die – wie von Huidobro gefordert – allein das Werk ihres poetischen Schöpfers wäre, DIE Welt. Seine Schöpfung ist absolut und damit das genaue Gegenteil der literarischen Schöpfung des Autorenpaares Bolaño/Belano, deren Werk ja von Anfang an und erklärtermaßen die Wiederholung einer Wiederholung einer Wiederholung ist. Es liegt also einerseits ein Weltbegriff vor, der – gegen den Roman gerichtet und deshalb immer um die Überwindung seiner Schriftlichkeit bemüht – aus einer Welt DIE Welt machen möchte, wie andererseits ein Weltbegriff vorliegt, der die Einsicht in eine Welt als eine (nur dann lebendige, wenn endlose) Arbeit begreift. Eine Welt als bloß eine immer schon eingeklammerte zu erkennen, verlangt eine schier endlose Destruktion von sich zur Selbstverständlichkeit erhärtetenden Verweisstrukturen, um – vermutlich vergeblich – von einer Welt auch abseits der bloß künstlerischen Transformation bzw. nicht nur in Bezug auf diese zu wissen. Es gilt noch einen weiteren Aspekt dieser neuen Kunst zu berücksichtigen und genauer: die politische Komponente ihrer Schöpfungsrhetorik und allgemeiner noch: die Möglichkeit, ihr eine politische Handlung zu entnehmen. Dass nämlich auch dies zur Debatte steht, wird spätestens dann einsichtig, da Wieder seine Luftschriften präsentiert. Diese mit einem Flugzeug in den Himmel gezeichneten Sprüche und Worte sind mehr als die bloße Réécriture der performance des chilensichen Performancekünstler Raúl Zurita, der eben eine solche performance in New York und gegen Pinochet gerichtet vorgeführt hatte. Thema ist hier nach wie vor die Komplizenschaft der ‘reinen Kunst’ mit dem totalitären System. In Estrella distante wird quasi en passant erwähnt, wie die chilenischen Eliten sich mit der Kunst von Wieder anfreunden können und das dank einer Blindheit, die unbestimmbar zwischen Absicht und Schicksal pendelt. Mit der Bolaño so eigenen lakonischen Ironie zeigt sich diese Blindheit als Koinzidenz,

94 Ebd., S. 42.

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ja fast als eine Kausalität, wenn Wieder seine bis dahin expliziteste und wortlastigste Kunst präsentiert. In den Luftschriften zitiert Wieder auf Lateinisch die Genesis und auf Spanisch, die verschiedenen Funktionen, die der Tod in einem totalitären System einnehmen kann. Die Ironie der Szene besteht darin, dass in dem Moment, da in der Luft und über den Köpfen just jene Wahrheit geschrieben steht, die eigentlich verhüllt sein soll – nämlich die, dass auch die absolute Schöpfung schon ein auf menschliches Maß abgesunkenes Zitat ist –, sie literal unlesbar wird: Fast so als wäre es Schicksal, entwickeln die Luftschriften aufgrund des nebligen Wetters eine mythische Kraft, die, statt die unleserlich zu haltende Wahrheit zu explizieren, sich auf das viel wirkungsmächtigere Andeuten berufen kann. Die ausgestellte Wahrheit und ihr Diskurs werden verdeckt und sogar gelöscht durch den chilenischen Herbst; und doch, die Anwesenden meinen zu wissen oder zu spüren, dass etwas Wesentliches im Himmel geschrieben steht. Dass die Worte sich in Luft auflösen, antizipiert und wiederholt jene Transzendenz, die schon die Epiphanien des Wahnsinns auszeichneten: La muerte es amistad. […] La muerte es Chile. […] La muerte es responsabilidad. […] La muerte es amor […]. La muerte es crecimiento. La muerte es comunión, pero ninguno de los generales y mujeres de generales e hijos de generales y altos mandos y autoridades militares, civiles, eclesiásticas y culturales pudo leer sus palabras. […] La muerte es limpieza.⁹⁵

Die ultimative Steigerung dieser neuen Kunst à la Wieder findet sich in einer theoretisch unendlichen performance und die gerade aufgrund dieser Unendlichkeit die immer unerreichbare reine Gewalt darzustellen vorgeben kann, jene Gewalt also, die für Wieder das ultimative Geheimnis des Lebens bereithält. Allein die kontinuierliche Wiederholung des Schmerzes, im Doppel des zugefügten und erlittenen Schmerzes, vermag – so Wieder – das Leben zu offenbaren und offenbart dabei mehr oder minder freiwillig, was die oben genannte ‘Brüderlichkeit’ im Grunde zusammenhält: La pieza es singular en grado extremo: transcurre en un mundo de hermanos siameses en donde el sadismo y el masoquismo son juegos de niños. Sólo la muerte está penalizada en este mundo y sobre ella -sobre el no-ser, sobre la nada, sobre la vida después de la vida— discurren los hermanos a lo largo de la obra. Cada uno se dedica a martirizar a su siamés

95 Roberto Bolaño: Estrella distante, S. 88–89.

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durante un tiempo (o un ciclo, como advierte el autor), pasado el cual el martirizado se convierte en martirizador y viceversa. Pero para que esto suceda «hay que tocar fondo». La pieza no ahorra al lector, como es fácil suponer, ninguna variante de la crueldad. Su acción transcurre en la casa de los siameses y en el aparcamiento de un supermercado en donde se cruzan con otros siameses que exhiben una gama variopinta de cicatrices y costurones. La pieza no finaliza, como era de esperar, con la muerte de uno de los siameses sino con un nuevo ciclo de dolor. Su tesis acaso peque de simple: sólo el dolor ata a la vida, sólo el dolor es capaz de revelarla.⁹⁶

Welche erklärtermaßen post-avantgardistische Alternative schlägt nun Bolaño vor? Eine vielversprechende Möglichkeit, dies zu beantworten, besteht darin, das Phänomen der Epiphanie anders und in einer Weise zu entwickeln, die dem nahekommt, was Enrique Lihn über das ästhetische Objekt ausgeführt hat. Statt das Ereignis der Epiphanie mit dem ästhetischen Objekt oder auch mit einer Theorie der ästhetisierten Sprache zu begründen, scheint mir Bolaño gerade auf das naheliegendste und doch unsichtbarste, ja hermetischste verweisen zu wollen. Das vollkommen Literale und Unmittelbare der Darstellung, das selbst in einer stets zitierenden Sprache durchschlägt, ohne die Darstellung zu transzendieren. Anders formuliert: Das Ereignis der Epiphanie begründet sich nicht mit der Tatsache, dass es sich um eine ‘reine Kunst’ handelt, die ihre Darstellung übersteigt, sondern im Gegenteil dadurch, dass die Verbrechen und die ihnen eingelassene Begehrensstruktur in ihrer Literalität unlesbar sind und das, gerade weil sie wahrhaftig sind. Dass die auch technische Seite dieser Reproduktionen zitiert wird, ist ein erster Hinweis darauf, dass für Bolaño das fotografische Moment durchaus seine ästhetische Legitimität hat. Es ist ein, wenn auch nicht der einzig wesentliche Aspekt jeder Darstellung. Anders als Wieder, der das Abgelichtete vollkommen in Besitz nimmt und anders auch als Adorno, der dem Fotografischen jedweden ästhetischen Wert abspricht, wird hier eine dritte Option formuliert: Ein Foto zu zitieren macht es möglich, sich so einer derart referentiellen Darstellung zu nähern, ohne sich auf die lediglich mimetische Qualität reduzieren zu lassen und das meint: ohne das außen vor lassen zu müssen, was diese Darstellung notwendig ausschließt. Es scheint so, als bestünde die dritte Form der Epiphanie – nicht die bloß positive und auch nicht die bloß negative – im zitierten Foto, dessen Offenbarung sich zwar dem Dargestellten verdankt, aber nicht in dessen Positivität bzw. Transformation aufgeht. Es sollte von daher nicht wundern, dass Bolaño den Begriff der Epiphanie ein weiteres Mal und in einem ganz anderen Kontext verwendet: Die negative Epiphanie («epifanía negativa») wird durch ein

96 Ebd., S. 103–104.

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anderes, imaginär zitiertes Foto möglich. Dieses Mal geht es um den Tod seines engen Freundes und von ihm bewunderten mexikanischen Poeten Mario Santiago: […] México Distrito Federal […] que hoy en día se asemeja […] a un infierno singular en grado extremo, y allí murió Mario, como mueren los poetas, sumido en la inconsciencia y sin papeles. Motivo por el cual cuando llegó una ambulancia a buscar su cuerpo roto nadie supo quién era y el cadáver se pasó varios días en la morgue, sin deudos que lo reclamaran, en una suerte de revelación final, en una suerte de epifanía negativa, quiero decir, como el negativo fotográfico de una epifanía, que es también la crónica de nuestros países.⁹⁷

Die endgültige Offenbarung ist hier natürlich die ausbleibende Offenbarung, ein weiteres Mal Borges zitierend. Das Negativ hingegen ist just die Umbesetzung und Umdeutung der Negativität in eine Negativität, der doch eine Darstellung enthalten ist. Im zitierten fotografischen Negativ erhält sich eine Chronik der Geschichte, die aber nicht selbst zu zitieren ist. Was bleibt, ist also die Ironie des Zitats einer ausbleibenden Offenbarung. Diese Ironie übersetzt Bolaño in Estrella distante dadurch, dass er, indem er Wieders Poesie zitiert, gleichzeitig sein eigenes Gegenmodell vollführt, ohne es selbst zu explizieren. Das hat auch noch einen weiteren Hintergrund, der jedoch nicht minder ethisch ist: Profunder Kenner des Horrorfilmgenres, weiß Bolaño wie auch sein Lehrmeister Borges sehr wohl, dass der größte Horror der ist, der sich dem Menschen entzieht und von dem er doch weiß, dass er da ist, dass er möglich ist und vor dessen Hintergrund alle Darstellungen des Horrors zu absoluten Metaphern werden. Um selbst diese noch ihrer Grenze zu überführen, beharrt Bolaño gerade bei den großen Begriffen und Metaphern auf eine Implosion ihrer Funktionsweise, die durch ein übermäßiges Zitieren erreicht wird. An dieser Stelle wird nun die Ambivalenz einsichtig, die in der Wendung der Epiphanie des Wahnsinns enthalten ist. Es ist nicht der Wahnsinn selbst, der erscheint; vielmehr geht es darum, dass jede Epiphanie schon einen Wahnsinn enthält, einen Wahnsinn, der, verstanden als eine Transgression innerhalb eines symbolischen Systems, gerade nicht dessen Überschreitung ins Absolute ermöglicht. Um jedweder Transzendenz zu widerstehen und auch jedweder allegorischen Instrumentalisierung zu entgehen, spricht Bolaño von diesen Fotos, ohne sie zu offenbaren bzw. zu entwickeln – im Spanischen mit «revelar» ein und die gleiche Vokabel bezeichnend. Doch nicht nur die totale Sichtbarkeit ist zu vermeiden; nicht minder gilt es, auch der totalen Zurückweisung des Visuellen zu

97 Roberto Bolaño: Literatura y exilio, S. 42.

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widerstehen. Dem entspricht Bolaño dadurch, dass er das Visuelle in einem vollkommen textlichen Medium zitiert und es vor allem anhand seiner Wirkungen beschreibt. Die entscheidende Wende besteht also darin, dass das Geheimnis, das offenbarende Moment eine Art zutreffender Illusion ist, eine richtige Lüge oder auch eine falsche Übersetzung. Auch wenn einerseits das Zitat in dem Maße Nähe schafft, wie es Distanz setzt, wird dabei offenkundig, dass es keine mythische und auch keine formale Logik gibt, die eine Überschreitung des Dargestellten vollkommen rechtfertigen würde. Es bleibt ein Widerstand der Positivität. Die negative Epiphanie eines Bolaño unterscheidet sich von der Adornos dadurch, dass die fotografische Beziehung zu ihrem Objekt auch abseits der Transformation notwendig bleibt. Nur deshalb ist es möglich nachzuvollziehen, wie sehr wir sehen, was wir nicht sehen können. Hiervon ausgehend erklärt sich, wenn auch nicht erschöpfend, so doch recht systematisch die beständige Präsenz von Figuren wie der Prostituierten, des Mordes und der Pornodarstellerin. Was diese Figuren mit den jungen Poeten gemeinsam haben, ist, dass in allen Fällen sich eine gewisse Verdichtung beobachten lässt, eine gewisse Überschreibung gar, die es unmöglich macht, eine klare Unterscheidung zwischen der Darstellung und dem Dargestellten zu treffen. Gerade angesichts ihrer übermäßigen Sichtbarkeit dessen, was sie auch sind, bleibt ein Geheimnis bestehen, das in seiner Ausstellung nur umso unsichtbarer wird. Es handelt sich also um Figuren, die, ohne schlichtweg fiktiv zu sein, ständig zwischen dem Phantasmagorischen und dem Wirklichen, genau genommen, vom Bruch des Imaginären vermittelt, zwischen dem Symbolischen und dem Realen pendeln. So wird verständlich, weshalb Bolaño mal behauptet hat, dass die Prostituierte jene ist, die dem Schriftsteller noch am nächsten kommt: Beide sind auch noch dann, was sie sind, wenn sie ihrem Beruf nicht mehr nachgehen.⁹⁸ Dieser Zusammenhang lässt sich am ehesten mit einer kurzen Passage aus der Erzählung Putas asesinas erläutern. Ein von einer Frau entführter junger Mann, an einen Stuhl gefesselt und geknebelt, wird offenkundig Opfer eines ritualisiert-sexuellen Verbrechens. Wie in klassischen Horrorfilmen und anders als im Snuff-Film, welche eher der Kunst eines Carlos Wieder entsprechen würde, liest man in dieser Erzählung nichts von der Ermordung. Vielmehr wird der Leser Zeuge, wie sich das tatsächliche Verbrechen in ein schon symbolisiertes Verbrechen verwandelt. Nachdem mit geradezu fotografischer Genauigkeit das

98 Ebd.

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Zimmer und die gesamte Szenerie beschrieben worden ist, fährt die Protagonistin mit ihrem Monolog fort: Tu rostro, que hasta hace poco sólo era capaz de expresar estupidez o rabia u odio, ahora se recompone y sabe expresar aquello que sólo es posible adivinar en el interior de un túnel, en donde confluyen y se mezclan el tiempo físico y el tiempo verbal. Avanzas resuelto por los pasillos de mi palacio deteniéndote apenas los segundos necesarios para contemplar las pinturas de los Reyes Católicos, para beber un vaso de agua cristalina, para tocar con la yema de los dedos el azogue de los espejos.⁹⁹

Die Erzählung endet und kulminiert mit der Fantasie der Frau: Sólo sé que por fin nos hemos encontrado, y que tú eres el príncipe vehemente y yo soy la princesa inclemente.¹⁰⁰

Hier wird ein für Bolaños Texte zentraler Aspekt deutlich. Auch wenn diese Darstellung klarerweise in den Gewaltporno abdriftet, unterscheidet sie sich doch entscheidend von den Fotos, die Wieder gemacht hat, und vor allem von jenen Filmen, die Wieder später selbst gedreht hat und für die sich der Genrename des snuff eingebürgert hat. Der Unterschied zwischen snuff und dieser Pornographie wiederholt und expliziert die Wiederholung zwischen der Postavantgarde eines Wieder und der Postavantgarde eines Bolaño.¹⁰¹ Diese so zentrale Unterscheidung betrifft die Tatsache, dass das snuff-Video es erlaubt, alle phantasmagorische Problematik auszublenden, indem es auf die absolute Dokumentationsqualität der Darstellung beharrt, die Darstellung in diesem Sinne als Darstellung überwindend. So lauert am Ende ein finales und perverses Versprechen: Das ausgestellte Bild des Verbrechens ist nicht nur die explizite Darstellung eines tödlichen Begehrens, sondern beansprucht ebenso das «real thing»¹⁰² zu sein, also jene letzte Grundlage, von der ausgehend sich vermeintlich alles Imaginäre, alle Geschichte, alle Gesellschaft und alle Relation erst ableitet. Bolaños Text begnügt sich nicht damit, ein Verbrechen zu denunzieren. Vielmehr werden gleichermaßen auch die ‘ästhetischen’ Grundlagen des snuff denunziert, zumindest jene, die es möglich machen, in dieser Art der Darstellung

99 Roberto Bolaño: Putas Asesinas. In: Ders.: Putas asesinas. Barcelona: Anagrama 2001, S. 126. 100 Ebd., S. 128. 101 Auf die gleichzeitige Verwandtschaft von Wieder und Bolaño hat insbesondere Gamboa aufmerksam gemacht. Vgl. hierzu: Jeremías Gamboa: ¿Dobles o siameses? Vanguardia y postmodernismo en Estrella distante? In: Paz Soldán, Edmundo/Faverón Patriau, Gustavo (Hg.): Bolaño salvaje. Barcelona : Ed. Candaya 2008, S. 211–236. 102 Vgl. hierzu: Slavoj Žižek: Welcome to the desert of the real.

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etwas Wesentliches zu erblicken. Die Bedingung der Möglichkeit des snuff ist nicht eine, die fernab im Untergrund des Perversen geschaffen wird. Vielmehr wird sie schon in jenem ‘durchsichtigen Alltag’ wirksam, an dem schon Auxilio Lacourte zerbrach. Der entscheidende Punkt, um den es hier geht, ist das Versprechen, dass die phantasmagorische Verstellung irgendwie und irgendwann zu überwinden wäre. Die Vergeblichkeit und nur qua Gewalt zu erreichende Überschreitung zeigt sich besonders deutlich, wenn sich dieses Versprechen aus dem Versuch einer poetischen Überbietung herleitet, gewissermaßen für den Versuch steht, durch den poetischen Entwurf hindurch und über diesen hinaus auf das absolute Reale zu treffen. Der entscheidende Unterschied ist also nicht der, dass Gewalt dargestellt wird, ja nicht einmal, dass die dargestellte Gewalt auch für eine tatsächlich erfolgte Gewalt steht – auch die poetische Transformation (um eine Wendung von García Márquez zu verwenden) kann ja genau dies, die erlittene und erlebte Gewalt zum Thema haben. Kapital ins Gewicht fällt vielmehr, dass snuff just jenen Abgrund des immer nur spezifisch sich einstellenden, in bestimmten Konfigurationen sich zeigenden Nichts umgehen möchte oder genauer: besetzen möchte, ein Abgrund, der ja für Bolaño die eigentliche Grenze der Literatur stellt. Wieder sucht im Gewaltverbrechen die Letztbegründung, als eine Art aus der Rolle gefallener Descartes der Avantgarde, der schon lange nicht mehr auf das Subjekt setzt, sondern meint, noch vor diesem anzusetzen, wenn er mit dessen Auslöschung beginnt. Die ironische Aporie stellt sich nun genau in dem Moment ein – und das wiederholt gewissermaßen die psychoanalytische Kritik an Descartes’ Cogito – dass in dem Moment, da das Verbrechen vollzogen wird, es mit einer Kamera festgehalten wird und so in seiner Echtheit ‘bezeugt’ wird, sich gerade nicht ein echtes Verbrechen, das ultimativ Reale zeigt, sondern eine Relation einstellt, die aber – und das ist die Kritik von Bolaño – nicht mehr verhandelbar, nicht mehr sichtbar ist. In dem Moment nämlich, da ein Zuschauer diese Bilder sieht, führt ironischerweise gerade die vermeintliche Wahrhaftigkeit der Bilder dazu, dass der Zuschauer vor allem eine Relation zwischen Täter bzw. Zeuge und Opfer etabliert, auf diese Weise den Blick aufs Unmittelbare verstellend. Dass der (ermordete) Körper aber gerade nicht ein found object ist, betont Bolaño immer wieder, wenn er statt des snuff die Pornographie zitiert. Genau dies, die Spur eines Begehrens zu sein und gerade nicht das Begehrte selbst, teilt die Pornographie mit der Literatur und dem Kriminalfall. Allesamt haben es mit Objekten zu tun, die ebenso maximal explizit wie auch von einer uneinholbaren Immanenz sind. Man sieht nie die ganze Szene und gerade dadurch werden die LeserInnen auf sich selbst, auf ihr eigenes Begehren zurückgeworfen. Das gilt auch für die Pronographie und sogar jene Art von Pornographie, die gewaltvolle Szenen enthält. Die Relationsfrage der Begehrensspur ist nicht nur auf die Frage nach Täter und Opfer verkürzt; darüber hinaus ist die Frage nach dem Verhältnis

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möglich, das sich zwischen expliziertem Begehren einerseits und dem Begehren als amorph empfundener Kraft andererseits einstellt. Statt nach absoluter Selbstgewissheit ist nach der eigenen Kompromittierung zu fragen, der man dann anheimfällt, wenn man die Ausgestaltungen des Begehrens nicht mehr verhandelbar hält und das meint: für die ganze Szene hält, als keine Darstellung mehr ‘liest’. Nicht die Wirklichkeit der Spuren wird also in Frage gestellt, sondern die Möglichkeit, auf alles enthaltene Spuren zu stoßen, deren immer weiter weisende Verkettung irgendwann sich fügen könnte. Nur folgerichtig scheint es, dass Bolaño in 2666 auf Santa Teresa, alias Ciudad Juárez, Bezug nimmt. Diese Stadt verdichtet diese Problematik, weil sie nicht nur die Stadt der Morde ist, also jener leblosen, vergessenen und nie eingeforderten Körper, die für Bolaño eine Chronik der lateinamerikanischen Geschichte darstellen, sondern auch und obendrein die Hauptstadt des snuff. Während Bolaño die Geschichte dieser Körper retten möchte, ist der noch viel größere Feind der Literatur, von dem Bolaño ja in seinem Discurso de Caracas sprach, zumindest hier und an dieser Stelle qua Umkehrschluss zu ermitteln. Der größte Feind der Literatur, gegen den sie schon verloren hat, ist, dass es ihr immer droht, vom Dispositiv des snuff eingeholt zu werden und so zu «el espejo desasosegado de nuestras frustraciones y de nuestra infame interpretación de la libertad y de nuestros deseos.»¹⁰³ Cervantes, für Bolaño Gewährsmann jener Art von Romanautoren, die sich für Literatur entschieden haben, weil die andere Option der Krieg (auch der Bilder) wäre, wird so nicht weiter verwunderlich als einer beschrieben, der diesen schon verlorenen Kampf annimmt. Das einzige Mittel, das noch bleibt, ist selbst erneut und wieder wiederholend zu erzählen, um nicht die Dinge vermeintlich selbst sprechen zu lassen. Sollte man jeweils geglaubt haben, dass die Literatur das Andere, das vom Symbolischen Ausgeschlossene artikulieren kann, so insistiert Bolaño darauf, dass die Wirklichkeit der Literatur, durchaus und vor allem als eine Ästhetik des Lebens, vielmehr jenes Medium ist, das genau diese Grenze zum Leben immer wieder ausstellt und affirmiert und es dadurch lebendig im Sinne von wi(e)derlesbar hält. Die Aufklärung eines Verbrechens und die Pornographie lassen sich so als immer ambivalente Chiffren einer literarischen Ästhetik lesen, die sich weigert genau das als gegeben und darstellbar anzunehmen, was eigentlich der Gegenstand des Romans ist: Wirklichkeit. Gleichzeitig – und darin bleibt Bolaño ganz Avantgardist – ist der Anspruch auf eine Wirklichkeit, ja auf ein Geheimnis des Lebens nicht aufgeben. Das Geheimnis seiner Wirklichkeit bestünde jedoch darin, dass es das Geheimnis des Lebens selbst, des Lebens im Sinne von Le-

103 Roberto Bolaño: Final, S. 335.

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 Roberto Bolaño: Zur Poetik der immanenten Überschreibung

bensvollzug ist. Nicht die Kunst soll zum Leben werden, sondern das Leben wie die Kunst sich behaupten können, wie die Kunst über-leben können, gerade weil beide, Leben und Kunst, immerzu deplatziert sind und in ständiger Bewegung. So formuierte es Bolaño schon 1976 in besagtem manifiesto infrarrealista: Los infrarrealistas dicen: Vamos a meternos de cabeza en todas las trabas humanas, de modo tal que las cosas empiecen a moverse dentro de uno mismo, una visión alucinante del hombre.¹⁰⁴

25 Jahre später, liest man in der Erzählung Dentista das Echo dieser halluzinierenden Vision des Menschen: El arte, dijo, es parte de la historia particular mucho antes que de la historia del arte propiamente dicha. El arte, dijo, es la historia particular. Es la única historia particular posible. Es la historia particular y es al mismo tiempo la matriz de la historia particular. ¿Y qué es la matriz de la historia particular?, dije. Acto seguido pensé que me respondería: el arte. […] Pero mi amigo dijo: la matriz de la historia particular es la historia secreta. […] ¿Y tú te preguntarás qué es la historia secreta?, dijo mi amigo. Pues la historia secreta es aquella que jamás conoceremos, la que vivimos día a día, pensando que vivimos, pensando que lo tenemos todo controlado, pensando que lo que se nos pasa por alto no tiene importancia. ¡Pero todo tiene importancia, buey! Lo que pasa es que no nos damos cuenta. Creemos que el arte discurre por esta acera y que la vida, nuestra vida, discurre por esta otra, y no nos damos cuenta de que es mentira.¹⁰⁵

Wesentlich nüchtener wäre dies mit der These formuliert, dass wenn schon die Konstitution einer Welt nicht auf die Weise einsichtig ist, dass über sie souverän zu verfügen ist, nichts weiter bleibt, als die Konstitutiertheit von Welt immer wieder sichtbar zu halten, sofern die eine Welt nie nur die eine ist. Weltenvielfalt – als Problem der Darstellung – ist für Bolaño die labile Grenze des Imaginären und des Realen, die mit dem Symbolsystem ‘Literatur’ gerade nicht eine symbolische Beruhigung oder Vermittlung erfährt, sondern stets kritisch, da immanent bleibt. Der ‘reinen Kunst’ setzt er die Verfahren des unreinen Textes (und der Roman wäre der Prototyp eines solchen) entgegen. Diese Kritik ist sicherlich nicht untreffend mit Adornos berühmten Aphorismus beschrieben, wonach gilt: «Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles.»¹⁰⁶

104 Roberto Bolaño et al.: DÉJENLO TODO, o.A. 105 Roberto Bolaño: Putas Asesinas, S. 178–179. 106 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 389.

Rhetorik und Ästhetik extraterritorialer und fraktaler Literatur 

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9.5 Rhetorik und Ästhetik extraterritorialer und fraktaler Literatur Dass Überschreibung in Bolaños Texten in mehrfacher Hinsicht Thema ist, lässt sich kaum leugnen und bedarf keiner weiteren Belege. Das Schreiben aus und über einer Grenze dessen, was geschrieben und erzählt werden kann, ist in diesen Texten ebenso ethisches wie ästhetisches Prinzip. In diesem Kapitel, in dem ich verstärkt auf die Rezeption Bolaños eingehen möchte (und auch auf den so genannten efecto Bolaño), soll vor allem nach den gattungstheoretischen, aber auch rhetorisch-literaturhistorischen Implikationen dieser Poetik der Überschreibung gefragt werden, einer immanenten Überschreibung, durch die das Ereignis Bolaño zur Marke einer veränderten (lateinamerikanischen) Autorfunktion wird. Exil als Lebensform, nicht-lateinamerikanische Diegesen, urban-populäre-intermediale Intertexte, postmoderne, vielfach medialisierte urbane Settings, transnationale und prekäre Identitätsentwürfe sowie politisch ernüchterte und skeptische Polemiken sind dabei die üblicherweise genannten Schlagworte, die das Anti-Natürliche und Post-Autochthone zu verbürgen scheinen und die gleichzeitig die Werke des Magischen Realismus zur anachronistischen Lokalfolklore erklären. Möchte man diesen Paradigmenwechsel mithilfe eines narrativen Merkmals begründen, qualifizieren sich als hierbei zweifelsohne einzubeziehende Aspekte die Dichte und Weite der intra- und intertextuellen Bezüge. Methodisch sind damit zwei Dimensionen angesprochen: Literaturtheoretisch geht es darum, wie sich literaturhistorische Argumente konstruieren lassen. Wie schon angeführt ist mit einer wie in Extrella distante praktizierten Zitationsweise, die sich sowohl vom absoluten und zirkulären Selbstzitat in CAS als auch von der übersetzend-kaleisdoskopischen Zitatverdichtung in Caramelo unterscheidet, eine andere Überschreitung angedeutet. Statt sich auf die Lebenswelt zu beziehen (García Márquez) und statt die kulturellen oder auch historischen Dimensionen und Implikationen des Sprechens zu problematisieren (Cisneros), wird in Bolaños Texten die Frage virulent, wie sich Sprache selbst und aus sich selbst heraus überschreitet (bzw. überschreibt) und zwar nicht, weil Sprache auch die Bewegung hin zu einer anderen Form von Positivität (Lebenswelt bzw. Geschichte) enthält, sondern weil die literarische Sprache aus immer auch spezifischen Gründen und Widerständen die eigene Überschreibung zu markieren hat, um in diesem Rückwurf auf sich selbst historisch zu bleiben. Anders formuliert: Gerade dann hat sich die literarische Sprache als eine widerständige zu erweisen, wenn sie etwas vermitteln oder zum Ausdruck bringen soll, das in keiner anderen Art und Weise oder Form zu sagen ist. Das hat zur Folge, dass die Frage der narrative closure fragwürdig wird.

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 Roberto Bolaño: Zur Poetik der immanenten Überschreibung

Gattungstheoretisch ist das Prinzip der Welthaftigkeit des Romans zumindest insofern destabilisiert, als ein Roman, dessen intra- und intertextuellen Bezüge nur verzweigen, nicht aber verdichten, eine Welt nicht einmal als ironische haben kann, sondern in der Behauptung derselben, diesen Anspruch vollkommen zurücknimmt. Und doch: diese Rücknahme motiviert sich bei Bolaño aus der Erfahrung einer Welt und ist nicht zuletzt Spur dieser Welt. Wenn man nun davon ausgeht, dass dieser Anspruch auf eine Welt immer schon ironisiert ist, da die eine Welt nur retroaktiv aus der Überschreitung heraus behauptet werden kann, als eine Welt von Welten also, wird es darauf ankommen, die verschiedenen Momente und Verfahren von Überschreitungen herauszuarbeiten. Die metalpetische Logik des Romans ermöglicht eine Differenzierung bezüglich des Ortes der Überschreitung. Begründet sich Überschreitung aus der dargestellten Welt (García Márquez), markiert sie sich in der Darstellung von Welt durch ein Subjekt (Cisneros) oder ist Überschreitung ein Effekt, den Literatur auf sich selbst und ihre Darstellung zurückwirft (Bolaño)? Ereignen sich die Oszillationen und Interferenzen folglich zwischen Fiktion und Lebenswelt (García Márquez), zwischen Erzählerin und Erzählung (Cisneros) oder eben in Literatur selbst als ein Pendeln zwischen Wiederholung und Variation? Ich meine, dass es romantheoretisch hilfreich ist, die offenkundigen topologischen Implikationen dieser Bewegungen vor dem Hintergrund des Motivs der Weltenvielfalt zu präzisieren. Was also bedeutet Weltenvielfalt in einer Poetik der Überschreibung und was unterscheidet sie von der Interaktionslogik von Überlagerung und Übersetzung? Weltenvielfalt meint in Bolaños Texten zunächst die Vielfalt der eigenen fingierten Welt in dem Sinne, dass jeder Text einen anderen revidiert und gleichzeitig wiederholt und dabei über eine bloße Perspektivierung und Konkretisierung hinausgeht. Weltenvielfalt steht also dafür, dass die erzählte Welt immer eingeholt und revidiert wird von der schier endlos weit verzweigten Welt der Darstellung. Dafür mag mehr als alles andere die Ethik und Ästhetik der ständigen Réécriture stehen. Zitat ist hier eine verschließende Geste, eine melancholische gar, der das Zitierte nur die Wiederholung einer anderen Wiederholung ist, keine Präsentmachung von etwas Anderem, das nicht immer schon eine Sprache wäre, die sich wenig bis gar nicht um ihre Sprecher kümmert. Gleichzeitig ist die Vielfalt dieser Welt, gerade weil Welt jenes ist, was als Thema und Anspruch nicht einholbar, aber auch nicht eliminierbar ist, etwas, das zwar in dieser Sprache nicht zum Ausdruck kommt, aber doch auch auf ein Außen der Literatur referiert, auf ein Außen, das die literarische Darstellung von Welt spezifisch problematisch macht. Die detectives salvajes sind ebenso Detektive einer sich verlierenden literarischen Spur – in Los detectives salvajes ganz konkret die Suche nach Cesária Tinarejo – wie auch «detectives latinoamerica-

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nos»,¹⁰⁷ auch wenn diese Identifizierung auf nichts weiter als den Widerstand und die Vergeblichkeit einer Suche sich gründet. Die strukturelle Entsprechung der unendlich weit versetzenden Zitationssprache Literatur mit einer ebenso sich immer weiter verzweigenden (lateinamerikanischen) Geschichte ist gerade nicht Gewähr für eine bruchlose Übersetzung in eine Positivität der Darstellung, gerade nicht Anlass dafür, in den Brüchen der literarischen Sprache unmittelbar die Brüche der Geschichte allegorisiert zu wissen. Stattdessen zeigt sich die Positivität der Darstellung immer auch als Beleg dafür, dass die Geschichte woanders beginnt, als die Spur eines widerständigen Entzugs des Konkreten wie es die Thematisierung der Frauenmorde in Ciudad Juárez drastisch veranschaulicht. Die in 2666 hundertfach angeführten und immer auch en detail beschriebenen Frauenleichen verdichten nichts, sondern sind immer nur einer weitere Spur, die sich ein weiteres Mal verliert und gleichzeitig den grauenhaften Verdacht schürt, dass eine solche Menge und Grausamkeit von Morden auf etwas zurückzuführen ist, eines Plans bedarf, für eine Intention steht. Auch wenn keine Positivität vollends wiedererlangt wird, so ist doch der Effekt der Zitation ein anderer: Sie ist hier eine öffnende oder besser: das Konkrete offen haltende, in eine nicht restlos lesbare Öffnung zwingende, gerade nicht offenbarende Praxis. Ohne das Motiv metaliterarischer Verschließung zu revidieren, erhält sich das Zitat als ein bestimmtes und historisches, ist also eine öffnende Figur, die der Wiederholung eine entscheidende, wenn auch nicht immer deutbare Deviation einschreibt. Der Kritiker Ignacio Echeverría, unumstrittener Bolaño-Experte unter den Literaturkritikern, selbst Figur in Los detectives salvajes und von Bolaño bestimmter Nachlassverwalter für seinen Megaroman 2666, hat diese beiden Aspekte mit zwei gattungstheoretisch bedenkenswerten Strukturbegriffen belegt und damit gleichzeitig eine These zu der gattungstheoretisch ja nicht anspruchslosen Frage formuliert, inwiefern Bolaño Romane geschrieben hat, die Borges zu schreiben akzeptiert hätte. Zum einen verwendet Echeverría den Begriff des Fraktalen¹⁰⁸:

107 Roberto Bolaño: Tres. Barcelona: El Ancantilado 2000, S. 77. 108 Drei Jahre nach Echeverría, der ja diesen Text erstmals 2002 vorgetragen hat, hat Ette die Figur der fraktalen Schreibweise behandelt, wenn auch an einem anderen Korpus diskutiert. Dabei wird einsichtig, dass sich dieser Begriff nicht nur auf abenteuerliche und unangemessene Weise auf die Literatur beziehen läst, sondern in einem sehr präzisen und pertinenten Sinne einer Selbstähnlichkeit. Vgl. hierzu: Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Einem Text von Dunia Gras lässt sich entnehmen, dass Bolaño den Begriff des Fraktalen auch selbst für seine Prosa verwendet hat. Allerdings war es mir nicht möglich, den genauen Beleg hierfür auszumachen. Wäre dem so, dann wäre gut vorstellbar, dass Ignacio Echeverría den Begriff des Fraktalen Bola-

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 Roberto Bolaño: Zur Poetik der immanenten Überschreibung

Este término, fractalidad, fue inventado por el matemático francés Benoît Mandelbrot en 1975 para designar la propiedad que ciertas figuras espaciales compuetas por una multitud de elementos tienen de preservar el mismo aspecto, cualquiera que sea la escala en que se observen. Trasladándola –de un modo sin duda improcedente y más bien aventurado – al terreno literario, la noción de fractalidad sirve bien para describir, por ejemplo, la forme en que Estrella distante amplía un episodio del que ya se ofrecía una versión reducida en el último capítulo de La literatur nazi en América. […] Este principio de fractalidad opera en toda la obra de Bolaño de una manera más o menos difusa. Como ocurre en tantos autores dueños de un mundo y de un estilo propios, si bien en él de un modo especialmente acusado, cualquiera que sea el libro de Bolaño por el que empiece ingresa el lector en un espacio común al que concurren todos los libros restantes. Dicho esto, tiene especial interés señalar, ligado a este principio de fractalidad, la forma en que la obra entera de Bolaño parece articular una especia de transgénero en el que se integran indistintamente poemas narrativos, relatos cortos, relatos largos, novelas cortas y novelones. […] La parte funciona como el todo, alcanzándose en cada ocasión una configuración nueva, en absoluto redundante pero sí desde luego insistentemente sondeadora de un mismo territorio mora, que determina unas constantes temáticas y estilísticas.¹⁰⁹

Die fraktale Anlage seiner Narrationen schafft demnach eine die Gattung überschreitende («transgénero») Bewegung, die – paradox genug – den Roman ebenso negiert wie ihn voraussetzt und in dieser Voraussetzung gewissermaßen gerade dann fort-setzt. Denn in dieser fraktalen Anlage realisiert sich, wenn auch nur als Ruine, eines der großen Romanprojekte schlechthin, mithin jener Totale Roman, den einst Vargas Llosa so euphorisch forderte. So notiert Echeverría: Exagerando los alcances de esta observación hasta un extremo casi delirante, cabría imaginar que Roberto Bolaño resolviera un día reunir su obra completa en una especia de continuo narrativo en el que sus distintos libros se yuxtapusieran sin organizarse genéricamente, sin interponer tampoco grandes marcas divisorias, dando lugar a una especia de novela total en la que cuentos, poemas y novelas propiamente dichas quedaran subsumidos. Esta noción de novela total […] se manifiesta también en este carácter de la obra en marcha, incesante y abarcadora, que adquiere su producción entera observada desde una cierta perspectiva integradora.¹¹⁰

ño selbst entnommen hat. Vgl. hierzu: Dunia Gras: Roberto Bolaño y la obra total. In: Manzoni, Celina/Gras, Dunia/Brodsky, Roberto (Hg.): Jornadas homenaje Roberto Bolaño (1953–2003): simposio internacional. Barcelona, ICCI Casa Amèrica a Catalunya 2005, S. 51–73. 109 Ignacio Echevarría: Bolaño extraterritorial. In: Paz Soldán, Edmundo/Faverón Patriau, Gustavo (Hg.): Bolaño salvaje. Barcelona : Ed. Candaya 2008, S. 432–433) 110 Ebd., S. 434.

Rhetorik und Ästhetik extraterritorialer und fraktaler Literatur 

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Auch wenn mehr als fragwürdig ist, ob diese «novela total» im Sinne einer von Weltenvielfalt gezeichneten Roman-Welt tatsächlich eine «perspectiva integradora» zum Ziel haben kann, ist doch in jedem Falle deutlich, wie sich hier die Wiederholung als schließende Figur erweist, weniger im Sinne eines stimmigen Schlusses als im Sinne einer Verschließung gegenüber dem, was außerhalb des Textes sein könnte. Diese Mutation des totalen Romans von einer in sich geschlossenen Welt hin zu einer immer wieder sich aufbrechenden nimmt Echeverría zum Anlass, ein literaturhistorisches Prinzip des Romans abzuleiten: En rigor, la novela misma no ha dejado de ser, desde su principio, un género mutante. Un género proteico, totalizador, que va en camino de devorar todos los géneros restantes, sobre los que tiene el ascendente que le confiere ser una género libresco, es decir, asociado por nacimiento a la existencia material del libro como objeto.¹¹¹

Dieses Argument hatte schon der Kubaner Alejo Carpentier in den 60er Jahren formuliert. Die Geschichte des Romans ist auch deshalb die Geschichte seiner Überschreitung, weil seine einzige formale Bestimmung – ein für die Lektüre geschriebenes Buch zu sein – immer wieder anders und neu zu begründen ist und in dieser Begründung die Negation einer vorigen Begründung romanhafter Weltenvielfalt enthält. Der Geschichte des Romans ist also insofern eine transareale Logik eingelassen, als er die mit ihm ja entstehende stille und selbstbezogene Lektüre auch auf ihn selbst zutrifft. Jeder Roman – und Bolaño macht diesen Aspekt denkbar explizit – ist die Lektüre eines anderen Romans und zugleich die Lektüre seiner selbst als eine Form, die – so Carpentier – retroaktiv die Form des Romans negiert: […] la novela empieza a ser gran novela […] cuando deja de ser parecerse a una novela, es decir: cuando nacida de una novelística, engendrando, con su dinámica propia, una novelística posible, nueva, disparada hacia nuevos ámbitos, dotada de medios de indagación y exploraciones que pueden plasmarse […] en logros perdurables. Todas las grandes novelas de nuestra época comenzaron por hacer exclamar al lector: “!Esto no es una novela!”¹¹²

Dieses Argument hat gegenüber dem von Echeverría den Vorteil, dass es dieses in der Binnenlogik des Romans angelegte Moment der Revision parallel zu jener Überschreitung denkt, durch die der Roman zu den ihm äußerlichen Welten und Geschichten sich verhält:

111 Ebd., S. 435. 112 Alejo Carpentier: Problemática de la actual novela latinoamericana, S. 124.

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 Roberto Bolaño: Zur Poetik der immanenten Überschreibung

La novela debe llegar más allá de la narración, del relato: vale decir: de la novela misma, en todo tiempo, en toda época, abarcando aquello que Jean Paul Sartre llama los “contextos”.¹¹³

Dass ich auf diese doppelte Überschreitungslogik des Romans eingehe, hat folgenden Grund: Diese strukturelle Transarealität hat nun – wie ich versucht habe darzulegen – zweifelsohne mit einer bestimmten Erfahrungsweise von Kultur zu tun und setzt gewissermaßen auch eine bestimmte Erfahrung des Kulturellen voraus wie es etwa in Bachtins Rede von der Dezentrierung zum Ausdruck kommt. Diese kulturelle Grundierung sollte jedoch nicht dazu verführen, dieses Prinzip in ein direktes Ableitungsverhältnis zu setzen. Eine Voraussetzung ist noch keine Erklärung. Diese Verwechslung deutet sich zumindest an, wenn Echeverría davon ausgeht, dass die transgenerische Logik des Romans eine genuin generational und lebensweltlich begründete ist: La condición transgénerica que caracteriza la obra entera de Roberto Bolaño, pues, acercaría una primera justificación al ascendente que en tan poco tiempo ha logrado este autor sobre los jóvenes autores latinoamericanos. Y lo haría por la vía de responder formalmente a uno de los problemas que delimita la situación literaria que les ha tocado vivir: el de la indeterminación o, mejor, todavía, la labilidad genérica con que la realidad reclama ser tratada en la actualidad.¹¹⁴

Damit wäre die entscheidende Pointe verstellt, die in Bolaños Texten gegenwärtig ist. Der Roman bewahrt über sich selbst hinaus eine Geschichte, gerade weil er nie nur seiner eigenen entspricht, dieser nicht entsprechen kann. In diesem Sinne ließe sich auch die Figur des Exils deuten, die ja bei Bolaño nur als ein literarisches und lebensweltliches bzw. subjektbezogenes Doppel richtig verstanden ist, deren strukturelle Koinzidenz zwischen diesen beiden noch kein Ableitungs- oder Begründungsverhältnis impliziert. Dies im Blick ist es nur scheinbar ein anderes Argument, wenn Echeverría meint, die fraktale Grundanlage dieser Literatur noch mit einem aus seiner Sicht noch überzeugenderen Argument zu begründen und dabei einen zweiten Begriff – den der Extraterritorialität – ins Spiel bringt: Otra justificación, más convincente todavía, podría aportarla lo que alguna vez se ha optado por calificar, en relación tanto a la figura como a la obra de Roberto Bolaño, como su extraterritorialidad. […] Sin necesidad de circunscribirla al ámbito estrictamente idiomático, lo cierto es que en el contexto del nuevo internacionalismo cultural bajo los efectos

113 Ebd., S. 121. 114 Ignacio Echevarría: Bolaño extraterritorial, S. 437.

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globalizadores de la cultura de masas, la noción de extraterritorialidad subvierta ya la anticuada y más complaciente de cosmopolitismo para sugerir aquellos aspectos de la literatura moderna en que ésta se perfila, en palabras del propio Steiner, como “una estrategia de exilio permanente”. Es en este sentido en el que esta categoría de extraterritorialidad conviene muy bien a la literatura de Bolaño, que refunda a través de ella una nueva forma de comprenderse a sí mismo y de comprender en general al escritor latinoamericano.¹¹⁵

Das Konzept der Extraterritorialität, das Echeverría von dem Heidegger-Exegeten Steiner übernimmt, betrifft eine Überschreitungsfigur, in der die Exteriorität von Literatur von einem ursprünglichen Ort (bzw. bei Steiner von der Muttersprache) her gedacht wird. Exterterritorialität ist also insofern grundsätzlich lebensweltlich und lokal entworfen, als am Anfang der angestammte Ort war und dann seine Überschreitung. Damit ist nicht nur ein Sprung in der Beschreibungsebene erfolgt; allem voran stellt sich eine problematische Dichotomie ein. Denn systematisch verstellt ist die Pointe, dass sich die Erfahrung des Extraterritorialen einstellen kann, gerade weil man – wie Auxilio Lacourte – die Geschichte einer «intemperie latinoamericana, que es la intemperie más grande porque es la más escindida y la más desesperada»¹¹⁶ erzählt. Nicht das ständige Exil als Lebensform ist der Ursprung der Spaltung, der «intemperie escindida», sondern die nicht nur im Falle von Auxilio Lacourte so augenfällige Ambivalenz und Unbestimmtheit dessen, was eine literarische Geschichte sein kann. Literaturgeschichte ist ebenso die Geschichte der Literatur wie eine durch Literatur gedachte Geschichte. Da aber Literatur für Bolaño letztlich auf sich selbst zurückgeworfen ist, kann sie nicht Geschichte illustrieren, ja nicht einmal die eigene Geschichte als die Explosion einer anderen Geschichte begreifen, sondern allenfalls den Prozess des Geschichtlichseins ausstellen. Diese selbstreflexive Figur, die leicht als ein Allgemeinplatz postmoderner Literatur gelten kann, ist hier in einem sehr präzisen Sinne gemeint und erlaubt es, das Phänomen einer fraktalen écriture noch anders zu begründen als durch das ständige Selbstzitat. Fraktal ist auch der Gegenstand: Schon in CAS war die Literaturwerdung Thema des Romans, die Wiederholung eine ersten Grades; in Caramelo (mehr noch als in The House on Mango Street) hingegen betrifft die poetische Wiederholung ein selbst schon Zitiertes (selbst schon eine Position oder auch Relation zitierendes Sprachspiel), also – der Stringenz halber – eine Wiederholung zweiten Grades. In Bolaños Texten nun wird die Figur wiederholter Wirklichkeit insofern verschärft, als nicht nur der Grad der Wiederholung kontinuierlich gesteigert wird,

115 Ebd., S. 437–438, kursiv im Original. 116 Roberto Bolaño: Amuleto, S. 42–43.

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 Roberto Bolaño: Zur Poetik der immanenten Überschreibung

sondern auch noch dadurch, dass diese wiederholte Wirklichkeit selbst schon die Wirklichkeit der Poeten meint. Die «intemperie latinoamericana» ist immer auch die «intemperie» der «poetas». Dass die Helden in Bolaños Texten selbst Literaten sind, deutet Literaturgeschichte in dem Sinne um, dass sie auch die Geschichte der Literaten ist. Die Wiederholung dieser Geschichte in Literatur ist das letzte und doch melancholisch-gebrochene Band, das Bolaños Prosa mit der Lebenswelt als zu wiederholender Wirklichkeit unterhält. Ich möchte diesen Aspekt vor dem hier entwickelten gattungstheoretischen Hintergrund und auch vor dem Hintergrund der These, dass Romangeschichte auch immer die Geschichte einer versetzenden Lektüre ist, kurz erläutern. Das von Steiner geäußerte Diktum, wonach «Faulkner and Dylan Thomas might one day be seen as among the last major ‘homeowners’ of literature»¹¹⁷ gilt es hier insofern zu revidieren bzw. ergänzen, als ein Zuhause in der Literatur – so wird es auch mit, aber nicht erst seit Bolaño mehr als deutlich – mitnichten einem «festen Wohnsitz»¹¹⁸ gleichkommt, sondern potentiell immer schon impliziert, dass die Literatur selbst ein eigener, flüchtiger und prekärer Ort ist, von dem aus andere Ort angeschrieben und relationiert werden können. Speziell der Roman ist also gerade nicht der Ausdruck einer Lokalität und auch nicht der Ausdruck ihrer Unmöglichkeit, sondern die Gewissheit, welche Lokalität auch immer in Konkurrenz, Gleichzeitigkeit oder auch Überlagerung mit einer anderen zu wissen und sie in einer Sprache zu erzählen, in der immer auch eine andere Geschichte enthalten ist. Ist es folglich nicht wesentlich angebrachter, den zumal literarisch figurierten Ort selbst schon als Ergebnis einer Überschreitung zu denken? Hierfür spricht die nicht unglückliche Fügung, dass eben jener von Steiner so charakterisierte Faulkner, nur ein Jahr (1967) zuvor, zur Referenz für einen Autors wie García Márquez werden konnte. Der Kolumbianer, der klarerweise ein «home-loser» war, einer, der vom Verlust eines Hauses erzählt, findet in den Texten des US-Amerikaners auch auf formaler Ebene eine Erzählung wieder, die es ihm erlaubt, aus dem Exil und durch das Exil die Geschichte der Buendía zu schreiben und zwar als die Geschichte einer Überlagerung von Narration und Leben. Auch wenn also das Fraktale und das Exterritoriale mitnichten Figuren sind, die exklusiv auf Bolaños Texte zu beziehen sind, haben sie den unbestreitbaren Vorteil, dass sie mal als Merkmal, mal als Rhetorik lesbar sind. Dieser rhetorische Aspekt, den ich im Folgenden kurz besprechen werde, ist – so die

117 George Steiner: Of Nuance and Scruple. In: Ders.: George Steiner at the New Yorker. New York: New Directions Books 2009 [1968], S. 181. 118 Vgl. hierzu: Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben.

Rhetorik und Ästhetik extraterritorialer und fraktaler Literatur 

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These – nicht minder eine literaturhistorische Frage als die danach, was und wie wiederholt wird. Genau in dieser Doppelfunktion findet sich ihre Beschreibung teilweise mit fast identischem Wortlaut in den Einleitungen der Bolaño gewidmeten Sammelbänden, die Autoren wie Celina Manzoni, Patricia Espinosa oder Fernando Moreno herausgegeben haben.¹¹⁹ Letzterer, in Frankreich arbeitender, zweifacher Herausgeber von Sammelbänden zu Bolaño, bringt die entscheidende Qualität dieses an Bolaño exemplarisch nachvollziehbaren Aspekts eines argumentativen double-binds von Poetik und Rhetorik auf den Punkt wenn er, durchaus das Oxymoron streifend und das Motiv der ewigen Wiederkehr spiegelbildlich umkehrend, von einer «novedad siempre sorprendente»¹²⁰ und einer selbstbezogenen Weltenvielfalt spricht: La reciente aparición de 2666, novela póstuma de Roberto Bolaño (Barcelona Anagrama 2004) no ha hecho sino confirmar lo que los lectores de su obra ya habían constatado desde la aparición de sus primeros textos, y en particular de La literatura nazi en América Latina (Barcelona, Seix Barral, 1966[sic]): la novedad siempre sorprendente, la extraordinaria pericia narrativa, la inagotable riqueza significativa de los mundos propuestos por el escritor chileno.¹²¹

Neuheit beschreibt auf geradezu exemplarische Weise ein Merkmal, das eine Rhetorik voraussetzt, die implizit ein zu überwindendes Altes setzt und dadurch ein Regime literaturhistorischer Lesbarkeiten verhandelt. Von nicht geringem Interesse ist ja, dass die Rhetorik des Magischen Realismus nicht minder und teilweise ähnliche Überwindungsrhetoriken angestrengt hat, als seine Vertreter behaupteten, einen lokal bzw. territorial verarmten Realismus des costumbrismo oder auch indigenismo zu überwinden. Wenn dem so ist, dann ergeben sich zumindest zwei Fragen: Worin besteht das Neue in Bolaño, wenn er vielleicht anders, aber deshalb nicht mehr oder weniger Exilant ist als die von Echeverría hier mal wieder als Kontrastfolie bemühten García Márquez, Vargas Llosa und Fuentes? Und zweitens: Ist die Rede von einer fraktalen und extraterritorialen Literatur insgesamt irreführend, also bestenfalls eine rhetorische Sackgasse?

119 Vgl. hierzu die jeweiligen Bände: Celina Manzoni (Hg.): Roberto Bolaño: la escritura como tauromaquia. Buenos Aires: Ed. Corregidor 2002; Patricia Espinosa H. (Hg.): Territorios en fuga: estudios criticos sobre la obra de Roberto Bolaño. Providencia (Santiago): Ed. Frasis 2003; Fernando Moreno (Hg.): Roberto Bolaño: una literatura infinita. Poitiers: Université de Poitiers/ CNRS 2005. 120 Fernando Moreno: Presentación. In: Ders. (Hg.): Roberto Bolaño: una literatura infinita. Poitiers: Université de Poitiers/CNRS 2005, S. 3. 121 (ebd.)

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 Roberto Bolaño: Zur Poetik der immanenten Überschreibung

Auch wenn die erste Frage die Beantwortung der zweiten voraussetzt, lässt sie sich thesenhaft beantworten. Ich meine, dass es zumal in einem lateinamerikanistischen Zusammenhang nicht darum gehen kann, aus einem Textkorpus wie das des Chilenen retroaktiv feste Lokalitäten zu behaupten. Vielversprechender scheint es, dass es hier um eine Form von Exil oder etwas abstrakter formuliert: um eine Form von Exteriorität geht, die in Literatur nie nur selbst zum Ausdruck kommt, sondern immer nur auf spezifische Weise lesbar zu machen ist. Damit ist behauptet, dass es sich beim Schreiben dieses (Doppel-)Exils immer und unausweichlich um Aneignungsfiguren handelt – sowohl García Márquez, Cisneros als auch Bolaño praktizieren eine spezifische Aneignung der literarischen Geschichte. Die oben explizierten Paradigmenwechsel sind nichtsdestoweniger aufschlussreich und führen genau dann nicht mehr in einen Zirkel bzw. in eine Polemik, wenn sie nicht bloß als Ausdruck dessen verstanden werden, was lediglich das literarische System, die disziplinär-regionalen Logiken verschiedener Philologien und deren jeweilige Rhetoriken betrifft, also als etwas vom Text angeblich zu Unterscheidendes, sondern auch als Ausdruck dessen, was die Poetik der Texte betrifft und zuallererst ermöglicht. Es liegt von daher nahe, sich dieser Rhetorik zu stellen, statt sie herauszuschälen aus dann vorgeblich genuin (literatur-)kritischen Begründungen. Damit ist zumindest expliziert, wenn auch noch nicht begründet, dass es im Folgenden nicht darum gehen kann, die eigentliche literaturästhetische Innovation isoliert von der Rhetorik zu trennen und in nuce herauszustellen, also den Weg vom Merkmal zur Rhetorik nachzuzeichnen. Vielversprechender scheint es, die formalistisch-literaturkritische Arbeit auf der einen und die kulturkritische Rhetorik auf der anderen Seite als zwei verschiedene und jeweils unverzichtbare Seiten der Lektüre literarischer Texte und jedweden literaturhistorischen Arguments zu begreifen. Die Grundthese wäre folglich, dass diese Rhetorik nicht eine literarische Qualität entstellt oder instrumentalisiert, sondern diese, von ihr ausgehend und sie gleichzeitig verändernd, erst mit ihr lesbar wird. So sehr sich also durch diese Rhetoriken hindurch eine literatur- und romanästhetisch ‘innovative’ Formlogik und -geschichte festmachen lässt, so sehr darf nicht verdrängt werden, dass die Ursprünge dieser Rhetoriken woanders als im Merkmal liegen und ironischerweise schon insofern im Roman selbst angelegt sind, als seine Geschichte sich auch als die Geschichte einer Polemik gegen sich selbst fassen lässt. Die hieran anschließende zweite Frage würde diesen Aspekt verschärfen: Kann sich eine neue Bewegung, eine neue Form der Extraterritorialität erfassen lassen, ohne deshalb andere Bewegungsformen zu lokalisieren, stilllegen zu müssen? Das meint: Sollte die Neuheit von Bolaños Romanpeotik sehr wohl gegeben sein und möchte sie auf einer Ebene jenseits literaturkritischer Rhetori-

Rhetorik und Ästhetik extraterritorialer und fraktaler Literatur 

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ken erfasst werden, dann muss gerade dieser Hintergrund ausgeblendet werden. Was methodisch hier zur Debatte steht, ist nicht nur die These, dass Bolaños Romane dieser fälschlicherweise festgelegten Lokalität des Magischen Realismus nicht nur nicht bedürfen, sondern vor allem, dass die Rhetorik des Romans selbst solange unlesbar bleibt wie man nur innerhalb der Rhetorik der Kritik argumentiert. Das im Roman ja selbst angelegte rhetorische Element ist just jenes, das sich am schwersten als solches zu erkennen gibt: «la realidad de la actualidad.»¹²² Nicht nur die Wirklichkeit hat sich verändert (eine letztlich entweder banale oder aber transzendentale Aussage), sondern die Rhetoriken der (literarischen) Exteriorität verändern die historisch gewordenen Unmöglichkeiten, über Wirklichkeit zu urteilen und sprechen. Der literaturhistorische Motor hinter dieser beständigen Verschiebung ist eine transareale Kondition, die sowohl die Literatur selbst als auch ihren regionalen Bezug betrifft. Solange aber von einer lokalen Logik des Wortes und auch des Ortes ausgegangen wird, scheint es sich notwendigerweise um ein Paradox zu handeln: Si la obra y la figura misma de Roberto Bolaño ha alcanzado […] tan rápida y tan importante notoriedad, se debe sin duda a la forma en que resuelve lo que entretanto se ha convertido en una paradójica condición: la de ser y no querer ser escritor latinoamericano. La de escribir y no querer escribir sobre un país –Chile, en este caso – y sobre una región – Latinoamérica – de los que entretanto se ha convertido en su bardo más caracterizado.¹²³

Innerhalb der deutschsprachigen Hispanistik lässt sich dieser Aspekt an der Debatte nachvollziehen, die insbesondere Rössner an der Figur Roberto Bolaño ausführt. Von Interesse ist seine Aufarbeitung jedoch weniger dank der Tatsache, dass er wie viele andere speziell in Bolaño einen Garanten für etwas Neues erblickt. Da tatsächlich so gut wie gar nichts von Bolaños angeblich paradigmenschaffenden Texten zu lesen ist, eignet sich dieser Beitrag dazu, eine bestimmte rhetorische Operation nachzuzeichnen. Gemeint ist ein vor allem rhetorisch fundierter Bedarf, der formal und kritisch jedoch hochgradig wirksam ist und auf eine substantielle Überwindung des Magischen Realismus zielt. Spätestens hier wird klar, dass es sich bei dieser Überwindung um keine von selbst sich ergebende Aufgabe handelt im Sinne einer binnenästhetischen Formgeschichte. Dass nämlich der Magische Realismus als erdrückendes Erbe erfahren wird, das nicht einfach abzuschütteln ist, setzt voraus, dass dieser überhaupt so gut wie ungefragt die wesentliche Bezugsgröße ist und zwar sowohl in ästhetischer, rhetorischer, personenbezogener und auch marktstrategischer Hinsicht. Genau

122 Igancio Echeverría: Bolaño extraterritorial, S. 437. 123 Ebd., S. 441.

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 Roberto Bolaño: Zur Poetik der immanenten Überschreibung

diese Struktur einer durchaus letztlich doch selbsterwählten oder zumindest aus internen Gründen nicht zwangsläufigen Hypothek deutet sich in Rössners ebenso einleuchtender wie auch bedeutungsreicher Einsicht an, dass aller Rede vom Paradigmenwandel zum Trotz «die Formeln des magischen Realismus […] noch immer zur Bestimmung, Benennung und Einordnung der Texte wenigstens ex negativo verwendet [werden].»¹²⁴ Doch bei dieser ersten Operation bleibt es nicht: Allein um schon literaturhistorisch nicht nur auf kulturkritische und paraphrasierende Paradigmen angewiesen zu sein, zitiert Rössner geradezu idealtypisch und wie fast alle einschlägigen Kritiken zu Bolaño die herausragende Bedeutung von Borges. Auch wenn Rössner in Borges einen einstigen «Außenseiter des booms»¹²⁵ sieht und auch nicht weiter ausführt, worin dieser Bezug zu Borges bestehen könnte, lässt sich der Beschreibung Bolaños als der «von Borges beeinflusste, kritische und spielerisch-intellektuelle Bolaño»¹²⁶ noch eine andere Pointe entnehmen: Die Zukunft lateinamerikanischer Literatur, so könnte man meinen, war nur als eine radikal diskontinuierliche möglich. Da alle Versuche, die vom boom und namentlich von García Márquez befestigten und ja nicht minder post-borgeanischen und im Falle von García Márquez teilweise anti-borgeanischen Wege fortzuführen, in einer Sackgasse endeten, blieb offenbar nur noch ein erneutes Zurück zu Borges. (Lateinamerikanische) Literaturgeschichte wäre somit nicht zuletzt die von García Márquez an und mit Borges explizierte Frage, welche Unwirklichkeit die richtige ist. Wenn Lateinamerika nur über diesen Bezug angeschrieben werden kann, dann ist seine Geschichte, sein Ort eine Verschiebung und sein Wiedererkennen nur ein temporäres oder – so heißt es über das Klagelied der Auxilio Lacourte – das Amulett der Geschichte. Borges selbst hat dieses Abarbeiten an einer Unwirklichkeit gewohnt konzise auf den Punkt gebracht und diese Art der entstellenden Wiederholung zu einem Prinzip der Universalgeschichte erklärt und das ich hier romantheoretisch wenden möchte: «Quizá la historia universal es la historia de la diversa entonación de algunas metáforas.»¹²⁷

124 Michael Rössner: Latin Literatures’, S. 127–128. 125 Ebd., S. 115. 126 Ebd., S. 126. 127 Jorge Luis Borges: La esfera de Pascal. In: Ders.: Obras Completas 2. Buenos Aires: Emece 2005. S. 16.

10 Die neue und werdende Welt der Romantheorie: Zweiter Ausblick Wer heute die Relevanz der mit dem Roman möglich und nötig gewordenen gattungstheoretischen Frage nach Ursprung und Spezifik einer Gattung ermessen möchte, würde mehrheitlich eine Situation vorfinden, in der sie überwunden scheint durch eine über der Gattung argumentierende Theorie der Erzählung oder aber durch abseits der Gattung verfahrende und oft auch kulturwissenschaftlich genannte Fragen eines Zusammenhangs. Ohne dass deren Bedeutung und Berechtigung auch nur im Ansatz zu bezweifeln wären, scheint es, dass Narratologie auf der einen und eine bestimmte kulturwissenschaftliche oder auch diskursanalytische Wende auf der anderen Seite eine genuin romantheoretische Fragestellung als Leerstelle hinter sich gelassen haben. Ich möchte dies kurz an den hier kulturwissenschaftlich genannten Forschungen verdeutlichen, die diese Frage ‘überwunden’ haben, indem sie ein schier unerschöpfliches Feld von Spezialpoetiken anbieten: Bildungsroman, Migrationsroman, aber auch das Verhältnis von Roman und Anthropologie oder von Roman und Mathematik sind nur einige wenige der vielen Variationen dieses Dispositivs. Dieses Arbeitsfeld, das naturgemäß kein geschlossenes ist, erlaubt eine grundsätzlich unbegrenzte und immer sehr spezifische Kontextualisierung des Romans. Hierbei, so meine ich, kommen nicht nur gut begründete Forschungsfragen zu ihrem Recht. Eine vielleicht nicht immer mitbedachte romantheoretische ʻHypothekʼ lässt sich ausmachen, wenn man davon ausgeht, dass diese Fragestruktur, mehr oder minder bewusst, die Voraussetzungshaftigkeit der Romangattung nach wie vor als These implizieren muss. Die gattungstheoretische Frage des Romans als eine immer auch den Roman überschreitende Frage nach seinem Ursprung und seiner Spezifik wird nun scheinbar ohne die Hypothek eines umfassenden, gar geschichtsphilosophischen Explikationszwangs möglich, der sich ja genau dann einstellt, da nach Ursprung und Spezifik des Romans in Sinne eines begründenden Wandels gefragt wird: Etwas ist nicht mehr wie es mal war. Vor diesem Hintergrund lassen sich die kulturwissenschaftlichen Forschungsdispositive als Theorien begreifen, die das von Romantheorie in die Gattungs- und Literaturtheorie gebrachte Problem der immer erst noch zu findenden Ursprünge in andere Kontexte aufgelöst und den Roman so zu einer jeweils anders motivierten Kulturtechnik umgedeutet haben. Deren erstes Ziel ist weniger die mit und am Roman verfahrende Selbstauslegung und Selbstexplikation einer Kultur – das sind die ja selten unerwünschten Nebenwirkungen von Begründungserzählungen, die mit der Figur des Nicht-mehr ansetzen –, sondern

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eher noch der Nachvollzug einer kulturellen Formation oder auch die Archäologie einer Kultur(technik). Die Plastizität des Romans erlaubt es dabei auf eine vielleicht privilegierte Weise, die Verhältnisse einer Kultur in ihrer Vielschichtigkeit darzulegen. Warum also die Frage des Ursprungs wieder aufnehmen, wenn davon auszugehen ist, dass der Weg zurück zu jenen monolithischen Theorien á la Lukács, die Peter Zima mal als «großen Synthesen» bezeichnet hat, die «weder nachahmbar noch nachahmenswert [sind]»¹, nicht mehr gangbar ist? Wozu wieder die «Obsession with Origins»² aufleben lassen? Was also kann von jener Theorie und Erzählung des Romans bleiben? Wie hat sich die durch diese Gattung aufgeworfene und sodann einzulösende Frage nach einem Datum und einer Differenz verändert? Was bleibt bedenkenswert an dieser genuin romantheoretischen Frage? Dass die romantheoretische Frage vielleicht methodisch gelöst, aber nicht wirklich aufgelöst ist, habe ich dadurch angedeutet, dass das, was ich hier behelfsweise die Archäologie des kulturellen Zusammenhangs genannt habe, nun strukturell (wenn auch nicht immer explizit reflektiert) an die Stelle der geschichtsphilosophischen Synthesentheorie tritt. Jedoch lässt sich ein nicht unwesentlicher Unterschied in dieser Verschiebung ausmachen: Der Roman ist tendenziell Seismograph einer anderen Problematik und weniger Ausgangspunkt derselben. Dabei ist diese stets sich ausweitende, ja übergriffige Bewegung für die Romanerzählung und seine Theorie eine begründende und schon deshalb als eine mit dem Roman prominent werdende Bewegung lesbar zu halten. Denn es ist der Roman jene Gattung, die mehr als jede andere die Frage nach dem Kontext stellt. Dessen Zusammenhang jedoch ist hier eine immer erst und durch eine gewisse exzentrische Positionalität (die in der Lektüre von Romanen idealtypisch zu ihrem Recht kommt) zu begründende Größe. Zusammenhang bzw. Kontext ist zumindest vom Roman aus gedacht keine kontinuierliche bzw. nachträglich nur nachzuzeichnende Gegebenheit. Kontext konstituiert sich im Roman und auch in der Romantheorie nicht als Kontinuität, sondern durch eine Grenze, durch ein Nicht-mehr. Diesen Aspekt möchte ich auch deshalb betonen, weil er das Problem der Voraussetzung nicht nur als eine theoretisches zu denken erlaubt. In dieser Problematisierung des Zusammenhangs wird auch die rhetorische Seite

1 Peter Zima: Roman und Ideologie. Zur Sozialgeschichte des modernen Romans, München: Fink, S. 9. 2 Massimo Fusillo: Epic, Novel. In: Moretti, Franco. (Hg.): The novel. Forms and Themes. Princeton: Princeton University Press 2006, S. 34.

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der in Romantheorie erfolgenden kulturellen Selbstauslegung und -explikation einsichtig, die mit gutem Grund explizit gehalten werden sollte. Rhetorisch meint hier erstens eine für die Frage des Kontextes begründende Darstellungsproblematik, die sowohl im Roman als auch in seiner Theorie virulent ist. Kontexte nämlich – so habe ich im Laufe dieser Arbeit argumentiert – bestimmen sich nicht durch ihre Konsistenz im Sinne einer inneren Logik. So sehr es auch erscheinen mag, dass die Darstellung eines Kontextes, ja einer Welt (als Inbegriff eines letzthinnigen Kontextes) wenn schon nicht auf eine innere Logik wie die Handlungslogik, so doch auf die Dichte einer Welt zählen kann, leistet die Darstellung von Welt schon deshalb wesentlich mehr als bloße Explikation oder Ausgestaltung. Denn Dichte, anders als eine Handlungslogik, ist nicht als eine positive logische Folge aus dem darstellenden Text abstrahierbar, sondern auf die Präsenz einer Negation angewiesen wie sie idealtypisch an der allenfalls metaleptisch und nur fingiert adressierbaren Instanz der LeserInnen einsichtig wird. Welt als Kontext konstituiert sich als Kontext durch das, was nicht mehr dieser Kontext sein kann. Dieses negative Moment jedoch ist nicht ohne Darstellung intelligibel verfügbar. Ein zweites, im üblicheren Sinne rhetorisch-kulturelles Moment betrifft weniger die Konstruktion von etwas sonst nicht Verfügbarem, sondern die konkrete Verortung jener Bedingungen, die den Roman erst ermöglicht haben sollen. Eine ja nicht unwesentliche und auch kulturell bzw. historisch zu deutende Voraussetzung des Romans als Gattung des begrenzenden Kontextes und der Romantheorie als Theorie eines Wandels ist ja die Tatsache, dass der Kontext problematisch geworden ist und deshalb überhaupt zu problematisieren ist. Entsprechend ist diese in Romantheorie erfolgende Selbstauslegung einer Kultur (die sich immer schon im Kontext anderer, zeitlich oder räumlich unterschiedener Kulturen wähnen und wissen muss) nie nur eine Explikation einer Gegebenheit, sondern immer auch eine relational zu lesende Konstitution gegenüber dem, was nicht mehr ist, nicht mehr zugehörig ist. Klar ist somit, dass eine Wiederaufnahme der romantheoretischen Frage nicht auf die nachzureichende Normpoetik zielt und auch nicht auf eine nun endlich und tatsächlich allgemeine Theorie des Romans. Vielmehr geht es darum, auch als theoretische Alternative zu ihrer ʻÜberwindungʼ verstanden, ihren Einsatz nochmals zu explizieren und alternativ zu formulieren. Die gattungstheoretische Frage des Romans ist als die durchaus kritische Frage nach dem Nicht-mehr zu rehabilitieren. Denn der Roman und seine Theorie wären nicht so ein prominenter (und oftmals bloß implizit bleibender) Gegenstand literaturund kulturtheoretischen Dispute, würde sein gattungstheoretischer trouble nicht doch etwas an dieser Gattung und ihrer Erzählung Auszumachendes verraten, das man zwar gut ohne den Roman behandeln, aber nur schlechterdings

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ohne seine Frage präzisieren kann. Wenn Bachtin geradezu lakonisch feststellt, dass «[a]lles in bester Ordnung [ist], solange es nicht um den Roman geht»,³ dann lässt sich das auch in dem Sinne deuten, dass der Roman auch ein besonderes Problem von Theorie inauguriert, ein Problem, das sich an der Frage nach seinem «immediate datum»⁴ entzündet. Nach «the late birth of the novel and the precocious death of the epic» zu fragen,⁵ nach einem Datum also, das den Roman zu einer historisch erst zu ermöglichenden Gattung bestimmt, lässt sich auch als die Frage nach dem vorzeitigen Tod der (Norm-)Poetik (bzw. der Logik der Merkmale) und der späten Geburt von Theorie begreifen. Oder anders: Es geht um die vor allem in einem logischen Sinne zu verstehende späte Geburt einer Positionalität, die ihre Voraussetzungen nur nachträglich behaupten kann. Das wiederum – so meine These – hat nicht unwesentlich mit der Veränderung der Erzählung durch den Roman zu tun. Dieser Erzählung eignet eine Verspätung, die mehr ist als der nachträgliche Nachvollzug bzw. die lediglich zeitlich verspätete Figurierung von etwas schon Gegebenem; sie ist in einem viel grundlegenderem, ja logischem Sinne verspätet, weil das «immediate datum» erst mit seiner Erzählung verfügbar wird. Wenn man sich nun eingesteht, dass die in diesem Sinne artikulierten Bedingungen des Romans nur an bestimmten Konfigurationen, in Visionen, nachvollzogen werden können, da sie stets schon eine Erzählung implizieren und folglich nicht ʻallgemeinʼ zu begründen sind, heißt das noch lange nicht, dass das Problem des Ursprungs und der Spezifik des Romans – nach Marthe Robert «essentiell»⁶ für die deutsch- und englischsprachige Literaturwissenschaft – obsolet geworden ist. Im Gegenteil: diese Brechung eines ja nur konkret nachvollziehbaren Nicht-mehr macht sie erst recht historisch und auch kulturkritisch relevant – und zwar sowohl was die Vielzahl, den Einsatz und die Kontexte der einzelnen Visionen betrifft als auch in einem theoretischen Sinne. In diesem Lichte besehen ist die Erzählung, dass der Anfang des Romans das Ende des Epos’ voraussetzt allenfalls in einem strukturellen Sinne und als nur nachträglich lesbar gemachte Relation zu verstehen, aber nicht als Tatsachenbericht zu nehmen. Würde man sie so lesen, wäre die entscheidende Pointe der romantheoretischen Frage verdeckt. Denn wenn Ursprung und Spezifik

3 Michail M. Bachtin: Epos und Roman, S. 495. 4 Massimo Fusillo: Epic, Novel, S. 35. 5 Ebd. 6 Marthe Robert: Roman des origins, S. 17. Es stellt sich die Frage, inwiefern diese beiden nicht-romanistischen Philologien der Germanistik und Anglistik nicht schon deshalb auf den Ursprung zu sprechen kommen, da sie jenseits einer absichernden translatio-Erzählung operieren.

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einer Gattung nur aus einer Voraussetzung zu bestimmen ist, die mit dem Roman selbst erst lesbar wird und doch nicht ganz aus ihm herzuleiten ist, dann kann es keinen im logisch einwandfreien Sinne echten Vorläufer des Romans geben, sondern eben nur retroaktiv wirksame, sich bestimmten Positionen verdankende Visionen dieser Geschichte. Der Roman – so wie es Borges für den ja ebenfalls Romane schreibenden Kafka ausmachte – ist eine Form, die sich ihre Vorläufer selbst schafft. Das lässt sich auch und zwar in einem sehr grundsätzlichen Sinne historisch und auch etwas abstrakter formulieren: Die romantheoretische Frage nach Ursprung und Spezifik zeichnet sich dadurch aus, dass sie jene für die Neuzeit so charakteristische Begründungsfrage auf eine exemplarische Weise vollzieht. Begründung bedeutet in diesem Zusammenhang einerseits, dass es derer viele gibt und andererseits, dass sie erst einzuholen ist, so wie die Welten des Romans viele sind und jene Konsistenz erst im ʻverspätetenʼ Leseakt einholen können, die sie eigentlich voraussetzen. Nicht nur die einzelne Begründung selbst, die Begründung im Sinne einer Diagnose, sind also das Entscheidende (und deshalb ist die klassische Erzählung des Vorläufers Epos nicht als echte historische Hypothese zu lesen), sondern nicht minder die genuin neuzeitliche Zeitlichkeit dieser (Begründungs-)Erzählung, ihre Spannung zwischen provisorischen und nachträglichen Momenten, zwischen einem Noch-Nicht und einem Nicht-Mehr.⁷ Mit einer Wiederaufnahme der romantheoretischen Frage, die ebenso auf das Problem der Ursprungsszene(n) wie auch auf diese hier neuzeitlich verstandene Zeitlichkeit eingeht, ist selbst wiederum eine Position eingenommen, die mehr leistet als eine diskurstheoretische Kritik, die selbst nicht minder obsessiv an den traditionellen Synthesen-Theorien nachzeichnen, inwiefern und weshalb Romantheorie in eine kulturtheoretisch exkludierende und westliche Erzählung von Moderne umschlägt. So notwendig diese Kritik auch ist, sie bleibt auf halbem Wege stehen. Denn es genügt nicht, eine andere Ursprungserzählung des Romans anzubieten bzw. jede Ursprungserzählung als eine nur spezifische zu entlarven.⁸ Diese Kritik bedarf auch einer hier an einem kritischen Begriff der Neuzeit ansetzenden These darüber, aus welchen Gründen diese Fragen in dieser Art und Weise problematisch werden konnten. Die Tatsache nämlich, dass diese Fragen überhaupt möglich sind, belegt, so meine ich, nicht nur

7 Das Doppel findet sich auch in Lukács’ Romantheorie, die ja von einem Nicht-Mehr (dem Epos) ausgeht und mit einem Noch-Nicht endet – dem neuen Roman, den er zwar ankündigt, aber nicht einholen kann. 8 Vgl. hierzu etwa: Hosam Abul-Ela: The Poetics of Peripheralization: Faulkner and the Question of the Postcolonial. In: American Literature, 77, (2005), S. 483–509.

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die Vielzahl möglicher Ursprungsszenarien, sondern auch, dass Theorien historischer Ursprünge und Differenzen wie eine Romanerzählung auf eine erst noch herzustellende und einzulösende Relation, auf eine Lektüre angewiesen sind. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Wenn Kristeva behauptet, dass «le roman est devenu aujourd’hui l’emblème specifique de notre civilisation»⁹, dann ist das nicht unbedingt als eine hegemoniale These zu verstehen, sondern darf ebenso als der Auftrag gelten, Zivilisation immer wieder neu und anders zu befragen und nicht nur hinsichtlich der Merkmale von Zivilisation (das wäre die ʻalteʼ Logik der Merkmalspoetik), sondern auch und vielleicht vor allem ausgehend davon, was implizit in der jeweiligen Bestimmung dieses Begriffs negiert ist: Was ist noch nicht, was nicht mehr, wenn von Zivilisation die Rede ist? Wer und was ist damit angesprochen? Diese Fragen sind erst dann sinnvoll zu stellen, wenn man sie auf eine Szene, ein Ereignis, eine Erzählung beziehen kann, ohne sie als bloß konkretisierenden Ausdruck zu verstehen, sondern vielmehr als spezifische Vision einer Problematik. Der Roman steht und stand auch in diesem Sinne für eine bestimmte historische und kulturelle Konfiguration, für eine bestimmte Sprachsituation, die ich in dieser Studie, an der Art und Weise von Welt zu reden und sie darzustellen, beschrieben habe. Die offenkundige Vorläufigkeit und Exteriorität des (romanhaften) Welt-Entwurfs ist darin – wie auch Rhetorik – ambivalent, dass der Mangel an vollkommener Immanenz gleichzeitig das Versprechen einer immer nur vorläufigen Freiheit enthält. Auf die Frage also, weshalb ein Zurück zu der romantheoretischen Frage lohnend ist, wäre zu antworten, dass mit dem Roman eine Erzählung und Erzählungsproblematik sich anzeigen, die jenseits der Frage nach narrativer Figurierung die Frage der (neuzeitlich-kolonialen) Konstitution von Welt virulent halten, sofern mit dem Roman und seiner Erzählung einsichtig wird, dass Konstitutionen immer auch eine narrativ-rhetorische Seite haben, indem sie etwas verfügbar machen, was ohne die Darstellung weder verfügbar noch revidierbar wäre. Soll also die romantheoretische Frage nach Ursprung und Spezifik anders als im Sinne der Groß-Synthese formulierbar sein, bieten sich zumindest zwei Argumentationsebenen an, um mit kritischen Visionen statt großen Synthesen zu arbeiten oder anders gesagt: um den Strohmann «Epos» zu umgehen: Zunächst ließe sich behaupten, dass die Theorie über den Ursprung und das Spezifische des Romans sich jenseits seiner mimetischen Aspekte auf ein strukturell derart abstraktes Niveau heben lässt, dass sie nicht mehr als verabsolutierte Spezialgeschichte zu denunzieren sein muss. Eine solche Theoriebildung,

9 Julia Kristeva: Le text du roman, S. 188.

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die insbesondere im Nachkriegsfrankreich anzutreffen ist, hat hierbei sich paradigmatisch auf andere Disziplinen berufen. Mit Soziologie (Goldmann), Psychoanalyse (Robert) und auch Strukturalismus (Kristeva) bzw. im Verbund dieser drei Disziplinen werden gewissermaßen ‘extraliterarische’ Grundlagen des Romans formulierbar,¹⁰ die im Gegensatz zu der auch von Bachtin monierten essayistischen Behandlung des Romans eine metatheoretische und auch metahistorische Grundlegung dieser Gattungsfrage ermöglichen. Ohne den Roman als historische Marke in einen anderen Kontext restlos aufzulösen, ohne also nur am statt mit dem Roman zu argumentieren, sind diese Theorien nicht mehr auf die Spezifik jener Geschichte angewiesen, die im Übergang von Epos zu Roman enthalten ist. In diesem Sinne habe ich auch den Begriff der Weltenvielfalt als eine auch abstrakt lesbare Strukturproblematik entwickelt, die nicht nur die konkrete Darstellung einer Vielfalt von Welt meint. Vielmehr geht es mir darum, dass die mit dem Roman auszumachende historische Wende sich auch an der Tatsache ablesen lässt, dass die Roman-Welt aller behaupteten Binnenkonsistenz zum Trotz nur durch eine andere Welt beschlossen und bestimmt wird und genauer noch: als eine Welt, deren Entwurf (wie die hier gelesenen Romane es deutlich belegen), ebenso ein Nicht-Mehr wie auch ein Noch-Nicht von ebendieser Welt impliziert. Was die oben genannten Theorien aller konkreten Differenzen zum Trotz gemeinsam haben, ist, dass die «späte Geburt» des Romans zwar eine mit dem Roman erst lesbare Problematik indiziert, jedoch nicht mehr aus diesem selbst abzuleiten oder herauszulesen ist. Auch wenn eine allzu spezifische, beispielsweise am Subjekt der Moderne argumentierende Erzählung der Neuzeit durch ein mitunter sehr abstraktes Theorieniveau überwunden worden scheint, wird doch die schon bei Lukács problematische Tendenz fortgesetzt, dass der Roman zum Symptom einer bestimmten Entwicklung, eines bestimmten Konflikts oder aber einer bestimmten Sprachpraxis wird, die selbst wiederum für eine problematisch gewordene Moderne bzw. Identität konstitutiv ist. Der zu entrichtende Preis für dieses hohe Abstraktionsniveau – und die jeweiligen theoretischen Entwürfe belegen dies in der Regel eindrücklich – ist kein geringer und betrifft allem voran die Lektüre und zwar in einem zumindest doppelte Sinne: Zum einen scheint die Theorie häufig entkoppelt von einer Lektüre, die sich mit konkreten Romanen entwickeln ließe, ihre These kaum einholbar mit der Lektüre. Zum anderen ist die Lektüre selbst, also das Lesbarmachen einer Voraussetzung, die nicht unmittelbar einsichtig und nur ‘woanders’ einzuholen ist und

10 Vgl. hierzu: Lucien Goldmann: Soziologie des modernen Romans. Berlin: Luchterhand 1970; Marthe Robert: Roman des origines; Julia Kristeva: Le text du roman.

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dabei doch auf den Roman angewiesen ist, nicht theoretisch weiter durchdacht. Um diese beiden Aspekte (ohne dabei auf Abstraktion verzichten zu müssen) berücksichtigen zu können, habe ich argumentiert, dass der Weltbegriff für den Roman ein grundlegender ist und das Verhältnis der Weltenvielfalt das konstitutive Moment seiner Artikulation. Zum einen handelt es sich beim Weltbegriff um einen Begriff, der sich am und mit dem Roman entwickeln, mit ihm problematisieren lässt. Zum anderen ist diese Problematik einer binnenweltlich problematisch gewordenen Erfahrung und Darstellung von Welt eine, die sich auch an konkreten Lektüren konkreter Roman nachzeichnen lässt, ohne die strukturelle Eigenheit einer Welt, die sich immer auch im Kontext einer anderen weiß, darauf zu beschränken, eine spezifische Eigenschaft eines jeweiligen Romans zu sein. Drittens ist der Begriff einer, der mit dem Problem der (Selbst-)Konstitution verschiedene Aspekte der neuzeitlichen Wende zu diskutieren erlaubt. Dass die Abstraktion der romantheoretischen Frage nicht unbedingt Lektüre ausschließt, ja immer auch auf sie angewiesen ist, lässt sich der jüngsten ‘großen’ Romantheorie entnehmen. Franco Moretti hat die sehr traditionelle These eines inneren Zusammenhangs zwischen widersprüchlicher Moderne und widersprüchlicher Romanform auf eine innovative Weise entwickelt und dabei immer auch spezifische Umbruch-Konstellationen im Blick. Der Roman ist für Moretti eine Gattung, in der die Frage der «späten Geburt» und seiner Spezifik auch dadurch konkret lesbar wird, weil die «Hegemonie» der Moderne sich nicht einfach im Roman wiederspiegelt bzw. manifestiert, sondern selbst schon auf ein spezifisches Verhältnis der Aushandlung verweist, sofern jede (Roman-)Erzählung einen für die kapitalistische Moderne unabdingbaren Konsens mit den «prämodernen Residuen» zumindest in Aussicht stellt: In finding distortion after distortion of core bourgeois values, my first reaction was always to wonder at the loss of class identity that this entailed; which is true, but from another perspective completely irrelevant, because hegemony doesn’t need purity—it needs plasticity, camouflage, collusion between the old and the new. Under this different constellation, the novel returns to be central to our understanding of modernity: not despite, but because of its premodern traits, which are not archaic residues but functional articulations of ideological needs. To decipher the geological strata of consensus in the capitalist world—here is a worthy challenge, for the history and the theory of the novel. ¹¹

Auch wenn zu befürchten steht, dass Moretti diese These vor allem auf die sehr inhaltlich entworfene Ebene der histoire verortet und dabei jene Problematik, in

11 Franco Moretti: History of the Novel, Theory of the Novel. In: Novel: A Forum on Fiction 43:1, (Spring 2010), S. 9.

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den Hintergrund rücken lässt, die ich im Begriff der Weltenvielfalt als Spannung auch der Weltendarstellung selbst bzw. der Form gelesen habe, scheint mir diese Überlegung eine begrüßenswerte Alternative zu den genuin symptomatologischen Romantheorien. In jedem Falle – und deshalb ist die Lektüre unverzichtbar – wird hier das Problem der Erzählung und zwar auch im Sinne von konkreten Erzählungen virulent sowie Konsens immer nur konkret zu ist erlangen und vielleicht auch immer nur ein wenig verspätet. Denn es ist, so meine ich, nicht die Romanerzählung selbst, die den Konsens vollzieht; vielmehr ist dieser immer an die Lektüre zu delegieren, die ihn nachträglich einholt. Daran anschließend und doch das Ganze noch etwas pointierend würde ein zweites Argument für die grundlegende romantheoretische Frage darin bestehen – und das ist auch das Anliegen dieser Studie – sich im Sinne einer Lektüre, die sich auch als historische und historisierende und immer auch sich selbst verortende und entäußernde Praxis begreift, zu fragen, ob es denn wirklich ein solches Ärgernis ist, nur anhand konkreter Konfigurationen und aus konkreten Visionen heraus zu argumentieren. Wie ich im Kapitel Weltenvielfalt als romantheoretischer Begriff dargelegt habe, muss sich die Frage nach dem Ursprung des Romans, wenn sie aus einem nicht-nur-westlichen Kontext argumentiert, keineswegs nur mit der bloßen Denunziation einer verabsolutierten Spezialgenese bzw. Spezialgeschichte bzw. mit einer bloßen Gegengeschichte begnügen. Man kann hierbei durchaus auf die wesentlich reizvollere Option einer Relektüre zurückgreifen, in deren Vollzug die Problematik von Ursprung und Spezifik sich auf eine paradigmatische Weise anzeigen und auch die ‘Verspätung’ sowohl des Romans wie auch seiner Theorie nochmals deutlich zutage tritt, selbst ein weiteres Mal vollzogen wird. Den das Ende des Epos und die späte Geburt des Romans verkündenden Erzählungen lassen sich nämlich mittels kritischer Lektüre eine Vielzahl von Geschichten und ʻUr-Szenenʼ eintragen, ohne deshalb die strukturell durchaus zu extrahierenden Aspekte mit dem kritischen Bade der theoretischen Entkolonisierung auszuschütten. Auch diese Dimension ist dem Begriff der Weltenvielfalt eingelassen, sofern er als Strukturbegriff immer auch auf eine spezifische Konstellation von Welterfahrung und -darstellung verweist. Der unter anderem schon von Perus angedachte, aber nicht weiter verfolgte Vorschlag, in der kolonialen Chronik das Epos, also den eigentlichen Vorläufer des lateinamerikanischen Romans zu erblicken, lässt sich in diesem Sinne begründen.¹² Wie schon am Beispiel von José de Acosta dargelegt, findet sich, wenngleich unterdrückt, auch in der Chronik jene schon von Bachtin beschriebene dezentrierte Sprachsituation, die für diese späteste der narrativen Gattun-

12 Vgl. hierzu: Françoise Perus: El dialogismo y la poetica histórica bajtinianos, S. 29–44.

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gen charakteristisch werden sollte. Und auch hier gilt: Nicht das Merkmal selbst ist die eigentliche Herausforderung, sondern wie sie als Geburtsdatum lesbar wird, als Anfang welcher Erzählung welchen Ereignisses. So konkret also mit den Chroniken eine für den Roman begründende Weltproblematik zu entwickeln ist, sie ist auch und vielleicht vordererst in einem strukturellen und erst nachträglich verfügbar gewordenen Sinne zu lesen. Es geht mir deshalb nicht darum, mit Peregrinación de Bartolomé Lorenzo den präzisen Anfangspunkt des (lateinamerikanischen) Romans zu isolieren, sondern – und das ist das verspätete Moment der Romantheorie – ein (Geburts-)Datum rückwirkend lesbar zu machen, von dem ausgehend die den Roman auszeichnende Weltproblematik in (s)einer Erzählung konstitutiv zugegen ist. So lassen sich die in der Chronik sich zeigenden Sprachverhältnisse, die ich auch mit Paz’ Metapher der «lenguas transplantadas» gedeutet habe, auch woanders und anders formulieren. Dies wiederum steht nun in keinem Widerspruch zu der Annahme, dass diese in den Chroniken spezifisch zum Ausdruck kommende Sprachsituation als ein Darstellungs- und Erzählungsproblem auch außerhalb der Amerikas von Relevanz ist und als eines der Geburtsdaten des Romans seine Berechtigung hat. Grundannahme ist hier, dass der Roman neben seinen wirklichkeitstheoretischen und sprachphilosophischen Implikationen auch für eine bestimmte Möglichkeit und auch Unmöglichkeit steht, in einem immer erst noch auszuhandelnden Verhältnis von Welt zu reden. Dabei – und das scheint mir mit diesem Korpus offenkundig zu geworden zu sein – geht es nicht nur und wie schon Moretti es zumindest suggeriert um einen Konsens mit der (kapitalistischen) Wirklichkeit der Moderne, sondern auch um ihre Befragung. Die hier erfolgten Lektüren sollten deutlich gemacht haben, dass diese Befragung mitnichten eine Restitution von prämodernen Elementen einer Gesellschaft meint und auch nicht eine Versöhnung dieser mit der kapitalistischen Moderne, sondern ein kritisches Fortbestehen all jener spezifischen Geschichten, die dieser «widersprüchlichen Moderne» eingelassen sind und die solange wirksam zugegen sind, solange diese moderne Welt immer wieder erzählt und dargestellt werden kann, solange auch der Erzählakt, das Verhältnis zur Erzählung sowie die Problematik der Form und nicht nur die Figurierungsleistung der Erzählung relevant sind. Oder kurz gesagt: Solange diese Welt eine werdende ist, ihr Präsens im Doppel eines Nicht-mehr und eines Noch-Nicht von Welt eingespannt ist. Was diese Dimension der Erzählung betrifft, gilt es die Tatsache im Blick zu behalten, dass die Erzählung des Romans und seiner Theorie nicht nur deshalb zum Schauplatz einer anderen Erzählung werden können, weil die späte Geburt des Romans ein voraussetzungshaftes Datum bedeutet. Der zweite und nicht minder entscheidende Aspekt im ‘systematischen’ Problem von Romantheorie ist der, dass der Roman eine bestimmte Art der Erzählung ‘ins Spiel’ bringt, die

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– und auch das war Gegenstand der hier gelesenen Texte – ebenso ihren eigenen Ursprung als problematischen entwirft, also gerade nicht mit der vielleicht beruhigend affimrativen Kraft einer epischen Erzählung aufwartet. Das ist das entscheidend und chronisch Krisenhafte der Romanerzählung und nicht nur die externalisierende Diagnose einer nicht mehr episch-geschlossenen Welt. Romanerzählungen machen deutlich, dass jede Erzählung auch mit einem Verlust, einer Ungewissheit, einem Verdacht einhergehen kann. Seine ganz grundsätzlich nachträgliche und verspätete Erzählung – und deshalb ist die koloniale Situation hierfür eine paradigmatische – steht im alles andere als unwahrscheinlichen Extremfall für eine Transformation (Kristeva), die das Transformierte nicht abseits der Transformation gekannt und verstanden haben kann. In dieser entziehenden Bewegung artikuliert sich eine Problematik, als deren gemeinsamer Nenner ich hier die Problematik des neuzeitlichen Weltbegriffs entwickelt habe. Dies ist nicht nur als These zu verstehen, sondern auch als metatheoretische Aussage in dem Sinne, dass die romantheoretische Frage nach Spezifik und Ursprung des Romans auch als theoretische Frage virulent bleibt. Das meint: Es gilt, diesen Entzug mit und durch den Roman selbst zu denken, die Überschreitung mit und aus dem Roman nachzuzeichnen, sofern der Roman und seine Theorie als neuzeitliche Problematisierungen von Welt(-Darstellungen) – wie Alejo Carpentier es mal formulierte – darauf angelegt sind, nicht mehr ein Roman zu sein bzw. nicht mehr vom Roman zu handeln.¹³ Statt also am Roman eine andere Problematik zu diskutieren, ist umgekehrt diese Bewegung von Roman aus zu beschreiben und den Geschichten, die sich in seine Formproblematik eintragen (lassen). Nun lässt sich im Kontext dieser Studie diese überschreitende Bewegung auch als eine Bewegung denken, die ihr Paradigma in der (horizontal-)kolonialen Bewegung findet. So hat auch Marthe Robert den Erfolg des Romans mit einer von mir natürlich wesentlich literaler verstandenen und ganz entschieden an der Frage von Weltdarstellungen teilhabenden kolonialen Praxis erklärt, die der Roman «[s]ans loi sans règle, ni frein, ouvert à tous les possibles, en quelque sort indéfini de tous côtes»¹⁴ vollzieht und die sich in jenen weiter oben kulturwissenschaftlich genannten Aspekt des Zusammenhangs nun als eine vom Roman ausgehenden kolonialen Bewegung deutet: La fortune extraordinaire qu’il a connue en si peu de temps, c’est vraiment en parvenu que le roman l’a gagnée, car, à y regarder de près, il la doit surtout à ses conquêtes sur les

13 Vgl.: Alejo Carpentier: Problemática, S. 124. 14 Marthe Robert: Roman des origins, S. 15–16.

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territoires de ses voisins, qu’il a patiemment absorbés, jusqu’à réduire presque tout le domaine littéraire à l’état de colonie. […] Semblable par bien des traits à la société impérialiste où il est né […,], il tend irrésistiblement à l’universel, à l’absolu, au tout des choses et de la pensée; par là sans aucun doute il uniformise et nivelle la littérature, mais d’un autre côté, il lui fournit des débouchés inépuisables puisqu’il n’y a rien dont il ne puisse traiter. […] De la littérature, le roman fait rigoureusement ce qu’il veut […]. ¹⁵

Die koloniale Bewegung (wie auch die Theorie) ist eine ambivalente. Sie ist einerseits uniformierend und verabsolutierend. Dadurch aber, dass der Roman eben nicht bestimmt ist, sich nicht aus selbst heraus bestimmen lässt, sondern nur durch seine Bewegung sich behaupten und so im Exzess seiner kolonialen Bewegung nie mit sich selbst identisch sein kann, öffnet sie andererseits immer neue Abzweigungen («débouchés») der Geschichte. Dies lässt sich als eine metaleptische Logik der kolonialen Expansion beschreiben, sofern die angestrebte Nivellierung ihres Territoriums in dieser Bewegung, statt eine stabile Identität zu setzen, eine fundamentale Nicht-Identität zum allgemeinen Zustand des Territoriums macht. Auch wenn der Roman am Ende alle Literatur besetzt haben wird, so wird er doch nicht sich selbst geworden sein. Seine koloniale Leistung ist also nicht nur in der Besetzung selbst zu sehen, als vielmehr dadurch, dass wenn tatsächlich keine Literatur unbetroffen sein kann vom Roman, Literatur insgesamt anders zu denken sein wird. Das meint: Literatur ist seit und mit dem Roman in Relationen zu denken und beschreiben, die sich horizontalen Bewegungen verdanken (und eben nicht auf die vertikalen Logiken verweisen wie in den Doubletten das Besondere und das Allgemeine bzw. Erscheinung und Idee). Konstituierende Erzählungen sind als Gattungen somit immer auch und immer wieder neu herzustellenden Abzweigungen, statt lediglich einer Merkmalslogik zu gehorchen. Aus diesem Grund sind Ursprung und Spezifik des literarischen Diskurses einerseits problematisch geworden wie andererseits sein Fiktionsbegriff und seine Narrative nunmehr immer auch auf eine Deutung dieser Bewegung angewiesen sind, das Dargestellte selbst stets einklammernd, das Figurierte überfordernd. Das Bild einer dem Roman eigenen Kolonialität ist nicht nur auf die ʻLiteraturʼ zu beschränken. Es lässt sich für die Theorie dahingehend deuten, dass das Problem der Romantheorie nicht zu genüge erfasst ist, wenn man nur nach seinen ʻKolonienʼ fragt bzw. lediglich danach, was sich im Roman alles wiederfindet. Entscheidend sind auch die Verhältnisse, die sich in dieser kolonialen Bewegung einrichten und die durchaus gegen den Strich der kolonialen Expansion lesbaren Abzweigungen. Kurz: Es stellt sich auch die Frage, in welchen Kontexten

15 Ebd., S. 13.

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sich der Roman im Zuge seiner kolonialen Expansion wiederfindet bzw. in welchem Sinne diese Bewegung noch eine andere Geschichte als die der Expansion preisgibt, welche Geschichte, gerade weil der Roman keinen angestammten Ort hat, sich in ihm fort-setzt, mit ihm ʻerzählbarʼ wird. Nicht zuletzt aus diesem Grund kommt dem lateinamerikanistischen Korpus dieser Arbeit ein paradigmatischer Wert zu und das nicht nur, weil mit dem hier stets expliziten Bezug auf das Ereignis der Neuen Welt dasjenige Ereignis zugegen ist, das die neuzeitliche Kolonialität begründet. Darüber hinaus verweist die nunmehr global mögliche und erstmals tatsächlich binnenweltlich begrenzte Darstellung von Welt (angesichts einer für die antike Kolonialität nicht in diesem Maße denkbaren Neuen Welt) schon deshalb auf eine koloniale Logik in der Darstellung selbst, da ihre «absorbierende» Qualität nicht zu überlesen ist, nicht abgesichert ist durch eine andere Instanz als die Darstellung selbst.¹⁶ Die Darstellung und Integration einer Neuen Welt ist in diesem Sinne paradigmatisch für die neuzeitliche Darstellung von Welt insgesamt. Durch die der Darstellung von Welt eingelassenen Kolonialität ist auch eine Relationalität in der Darstellung selbst unvermeidlich geworden, die mehr verhandelt als das Verhältnis von Darstellung und Dargestelltem. Dieser Konnex steht immer auch für eine weitere Geschichte, die sich über den Umweg dieser Nicht-Identität von Geschichte und ihrer Darstellung behauptet. Die Geschichte und Bewegung einer kolonialen Moderne sind hier deshalb nicht mit der bloß normierenden Seite diese Geschichte gleichzusetzen, sondern stehen für die genuin neuzeitliche Geschichtserfahrung einer nicht mehr zu renaturalisierenden Geschichte. Diese Tatsache – so habe ich an diesen Romanen dargelegt – steht nicht nur für einen Verlust, sondern auch für ein emanzipierendes Moment. In einer Welt, die sich auch als koloniale Moderne konstituiert, gibt es keine echten Ursprünge mehr, so dass die immer auch relationale Frage der Konstitution als eine kritische Frage möglich wird und bleibt. Diese nun löst sich zwar nicht durch die Darstellung, sie wird aber nur verfügbar als das Problem der Darstellung. Das findet sich strukturanalog als Darstellungsproblem des Romans wieder, sofern eine Welt Gegenstand seiner Darstellung ist: Der Roman nämlich – und das macht ihn ebenso zur modern-kolonialen, ja imperialen wie auch zu einer grundsätzlich kritischen Gattung – hat keinen angestammten Ort. Er muss sich immer wieder neu konstituieren, hat eine schier endlose Menge an Abzweigungen zu bewältigen, die seine Welt zu einer dauerhaft werdenden machen. Seine Darstellung kann auf keine seiende oder gewordene Welt zählen, seine Erzählung ist eine Relation.

16 Vgl.: Edmuno O’Gorman: La invención.

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Dies ist nicht der einzige kolonialitätstheoretische Aspekt, der für die Romantheorie fruchtbar zu machen ist. Diese durch Kolonisierung ausgelösten Krise einer auf Merkmale sich berufenden Gattungspoetik erlaubt eine andere Perspektive auf die Tatsache, dass seit dem frühen 20. Jahrhundert, parallel zur Romantheorie eines Lukács und quasi als Gegenreaktion auf eine ʻmethodischʼ problematisch werdende Theorie-Erzählung, eine gattungstheoretisch nicht immer, aber doch oftmals unbestimmt bleibende Erzähltheorie sich entwickelt hat. Warum ist das von Belang? Wie schon am weiter oben¹⁷ diskutierten ‘Anfang’ der mit und vom Roman aus entworfenen Entwicklung von Romantheorie als eine Krise der (Handlungs-) Integration vermag das durchaus dialektisch zu denkende Doppel von Formalisierung einerseits und umfassend erzählender, sich selbst autorisierender ‘Theorie’ andererseits Kennzeichen einer neu und umfassend historisierenden und eine die eigene Epochalität immer wieder behauptenden neuzeitlichen Situation sein, in der mit der Gattungsproblematik nicht zufällig die Kriterien der absoluten (sprich: formalen) und relativen (sprich: konkret ausgestaltenden und umsetzenden, sich selbst verortenden und positionierenden) Unterscheidung zu verhandeln sind. Dieses Doppel ist vor diesem Hintergrund nicht nur als das Kennzeichen eines Epochenumbruchs und genauer: des Epochenumbruchs der Neuzeit zu lesen, sondern auch als das Kennzeichen einer ebenso kolonialen Moderne zu lesen. Das Projekt der Kolonisierung ist nicht überraschend eines, das wie Gattungstheorie stets auf zwei Ebenen operiert: Es setzt ein konkretes Verhältnis voraus wie es, um dieses zu verarbeiten, auch eine strukturelle Abstraktion notwendig macht, in der ein immer auch konkretes Bedürfnis nach Normierung und Autorisierung steckt. Das Ergebnis dieser Abstraktion und theoretischen Explikation¹⁸ muss sich nicht auf die konkrete Situation beschränken, sondern kann auch jenseits dieser eine Gültigkeit beanspruchen, kann selbst wieder Gegenstand einer anderen Geschichte werden. So lässt sich die Emergenz der diskursiv-methodischen Formation des Formalismus insofern mit der Romantheorie in einen Zusammenhang lesen, als jene die großen Synthesen-Romantheorie (und auch Synthesen-Literaturwissenschaft) dadurch zu überwinden sucht, indem sie sich quasi als der formale und allgemeine ‘Gewinn’ abseits jeder Großerzählung darstellt. Denn indem die erzählende Theorie durch eine Theorie der Erzählung ersetzt wird, indem also narrative Verfahren zum Ausgangspunkt werden, ist auch das Problem der Erzählung von Theorie gelöst bzw.

17 Vgl. das Kapitel Vorgeschichte der Romantheorie: Das Problem der Integration. 18 Exemplarisch hierfür ist die Rechts-Debatte um die Rechte der amerikanischen Ureinwohner in der Schule von Salamanca. Vgl. hierzu: Bernhard Teuber: Der naturrechtliche Diskurs.

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verdeckt. In diesem Überwindungsgestus ist die Option einer selbst spezifischen Relektüre von historischer und auch geschichtsphilosophisch argumentierender Romantheorie verstellt wie auch ein Beschreibungsniveau formuliert, das prinzipiell an keinen konkreten Kontext gebunden sein muss. Die gattungstheoretische Frage des Romans, möchte sie als eine methodisch wie auch theoretisch kritische virulent bleiben, hat heutzutage beide Aspekte zu berücksichtigen und kann sich weder mit einer Kritik der Erzählung der traditionellen Romantheorie noch mit einer formalen und vermeintlich neutralen Abstraktion von Erzählung begnügen. Eine erste Evidenz hierfür findet sich in der Tatsache, dass ‘ironischerweise’ gerade das streng formalistische Design eine situierte Theorie notwendig macht. Strukturanalog zur anfangs genannten Denunzierung von Romantheorie als westlicher Modernetheorie und strukturanalog zu der Ersetzung der großen romantheoretische Frage durch Poetiken des Zusammenhangs wird nun der Übergang Towards a Cultural and Historical Narratology gefordert,¹⁹ deren theoretischer Überbau bzw. Begründung nicht mehr die gattungstheoretische bzw. strukturelle Frage selbst ist, sondern die Präsenz bzw. Funktion von Strukturen innerhalb jeweils zu bestimmender kultureller Kontexte. Kurz: das «koloniale» Moment des Romans wird offenbar. Bei der Besprechung der Begriffe Diegese und Chronotopos habe ich dargelegt, dass dieses zweifelsohne immer zugegen seiende ‘kulturelle’ Moment nicht nur in dem Sinne zu begründen ist, dass Erzählungen in Kontexte eingebunden sind und somit ‘historische Anwendungen’ sind, sich also so wie die parole zur langue verhalten, sondern – systematischer noch – dadurch, dass die narratologischen Klassifikationsbegriffe im Falle des Romans und seiner Welt nicht ohne eine Überschreitung seiner Erzählung und Welt zu begründen sind, sofern der Roman selbst schon darauf angelegt ist, (s)eine Struktur zu überschreiten und in eine fundamental relationale Positionalität zu treten. Die Klassifikationsbegriffe sind in ihrer Funktionsweise auf eine Ebene angewiesen ist, die binnenlogisch nicht verfügbar sein kann und so auf eine formale Leerstelle hinweisen, in der jenes Moment der Begegnung vorgezeichnet ist, das ich nun in einem auch logisch zu verstehenden Sinne als ein Moment der Weltenvielfalt bezeichnen möchte. Weltenvielfalt ist also weniger in dem Sinne zu verstehen, dass eine Struktur eine kulturelle Kontextualisierung erfährt; vielmehr geht es mir um die Beobachtung, dass strukturell konstitutive Aspekte wie das, was die Welt des

19 Ansgar Nünning: Towards a Cultural and Historical Narratology. A Survey of Diachronic Approaches, Concepts, and Research Projects. In: Reitz, Bernhard/Rieuwerts, Sigrid (Hg.): Anglistentag 1999 Mainz. Proceedings, Proceedings of the Conference of the German Association of University Teachers of English, Trier: Wiss. Verlag 200, S. 345.

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Romans sein kann, erst aus ihrer Überschreitung heraus les- und deutbar sind. Hier nun kehrt, als Kontext benannt, das ‘Problem’ der nun als Vision zu deutenden Ursprungs- und Synthesentheorie wieder, wenn erst in einer naturgemäß immer nur spezifischen Überschreitung eine vermeintlich schon gegebene Instanz wie die Welt des Romans konstituiert werden kann. Liest man diese beiden Theorieformationen auf diese Weise zusammen, lässt sich festhalten, dass es bei der Frage des Romans nicht nur um konkrete Bedeutungen (dieser und einer ʻanderenʼ Geschichte) bzw. Bedeutungsgebungen (als Verfahren) geht, sondern in erster Linie um Verhältnisse. Diesen wiederum eignet stets eine prä- und gleichermaßen transstrukturelle Qualität, ein Noch-Nicht und ein Nicht-Mehr. Als solche – und die Begegnung von Alter und Neuer Welt ist auch hierfür paradigmatisch für eine am Roman exemplarisch zu veranschaulichende Lektüresituation und -problematik – sind sie natürlich nicht ‘an sich’ zu erfassen, wohl aber in Visionen von ‘Struktur’ herauszulesen, als Widerständigkeiten in der Darstellung von Welt, die sich zwar auf privilegierte Weise in (romanhaft gelesenen) Erzählungen anzeigen, aber nicht ausschließlich aus diesen heraus zu begründen sind. Ist also, um es in Anlehnung an Robert zu formulieren, tatsächlich jeder Roman und folglich auch jede Ursprungstheorie ein Fall für sich?²⁰ Und was sagt das über den Roman? Ich möchte diese Frage an der in gleich mehrfacher Hinsicht paradigmatischen Rolle der Technik diskutieren. Innerhalb der Lateinamerikanistik stellt für diesen Problemkontext der uruguayische Literaturwissenschaftler Angel Rama eine sicherlich unverzichtbare, obgleich nicht immer unproblematische Referenz, wenn er seine begrifflich auf Fernando Ortiz zurückgehende Theorie der (literarischen) transculturación diskutiert.²¹ Sein Ansatz ist an dieser Stelle deshalb von Interesse, da er deutlich verrät, worum es bei dem Disput um die ‘Technik’ der Erzählung wirklich geht und in welchem Sinne hier eine der Struktur vorzulagernde Frage der Relation zu verhandeln ist. Das Grundproblem, das Rama hier anspricht, betrifft den Prozess der kulturellen Universalisierung oder auch Neutralisierung am Beispiel der literarischen Technifizierung. Er bezieht sich dabei offenkundig auf Dispositive, die sich nahtlos in das Projekt einer kapitalistischen und kolonialen Moderne eintragen lassen. Rama bedient sich hierbei des dependenztheoretisch gedachten Superdispositivs der ökonomischen Verhältnisse der lateinamerikanischen Volkswirtschaften und situiert

20 Marthe Robert: Roman des origines, S. 13. 21 Vgl. hierzu: Angel Rama: La tecnificación narrativa. In: Hispamérica, Año 10, No. 30 (Dec. 1981), S. 29–82.

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mithilfe der Metapher der Maschine die Frage der literarischen Technik in das Doppel von interner und externer Relationierung: La progresiva incorporación de las sociedades marginales al sistema económico mundial se ha hecho mediante adquisición de sus implementos técnicos que si inicialmente fueron directamente manejados desde el exterior, paulatinamente pasaron a mano de los nativos que desarrollaron evolucionadas capacidades para atender, como simples “operadores” y “mantenedores”, la maquinaria externa con la cual elaborar su materia prima. Aunque siempre a la zaga del avance tecnológico, fueron luego capaces de producir, en algunos puntos del continente, las máquinas necesarias para esos procesos y desde entonces han vivido en una doble tensión a medida que también se incorporaban nuevas invenciones técnicas: la de productores de artefactos retrasados y la de operadores de artefactos modernizados, lo que creo que define los niveles de medio desarrollo que singularizan la situación de América Latina dentro de la estratificación universal, pero también la situación del más reducido sector que está a cargo de las operaciones técnicas, sobre el cual se ejercen las influencias de las dos esferas secantes que en él se interceptan, la externa y la interna, consagrando esta demanda de alta eficiencia técnica en un nivel universal para operar instrumentos afinados de elaboración de la materia regional.²²

Das Verhältnis von allgemein-europäischer Theorie bzw. Technik einerseits und theorieloser außereuropäischer Lokalität andererseits ist insofern vorgegeben und material umgesetzt, als die europäische Maschine im Sinne einer (sich) universalisierenden Technik den lateinamerikanischen Rohstoff erst zu einer Verarbeitung und Artikulation verhilft, aber auch – und das wäre laut Rama das glücklichere Szenario – dazu beitragen kann, dass Lateinamerika selbst Technik entwickeln, selbst Maschinen zu produzieren kann bzw. Technik auch zur Verarbeitung einer eigenen Geschichte zu nutzen weiß. Auch wenn Rama die Frage der Technik im Falle der Literatur, jener «flor exótica y […] aislada»²³, anders wertet als im Falle der sozioökonomischen Integration, beharrt Rama auf das Motiv der Spaltung – «una escisión entre técnica y materia prima»²⁴. Diese Figur ist nun insofern von Bedeutung, als sie in diese technische Frage eine kulturelle und historische Konfiguration einträgt, die ohne ihre kolonialitätstheoretischen Implikationen nicht zu verstehen ist und die auch hier am Beispiel von Cien años de soledad verhandelt wird. Dieser Roman nämlich illustriert für Angel Rama ein ‘gutes’, sie aneignendes Verhältnis zur Technik. Sich der hier lauernden Aporie nur in Ansätzen bewusst, unterschei-

22 Angel Rama: La tecnificación narrativa, S. 49–50. 23 Ebd., S. 64. 24 Ebd., S. 45.

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det²⁵ Rama zwischen einer erstrebenswerten transkulturalisierenden²⁶ Praxis und einer angeblich in die Krise geratenen, sich im Gegensatz zu Cien años de soledad in Erschöpfung befindlichen universalitischen Praxis, für die – mal wieder – Borges einzustehen hat. Letzterer wirft er gar eine «Vergöttlichung des technisch-operativen Modells» («deificación del modelo técnico-operativo»²⁷) vor. Der offenbar selbst koloniale Zug von Ramas Theorie liegt nicht in der Frage, ob es eine richtige Weise gibt, mit Technik umzugehen; sie liegt vielmehr in der Dichotomie von tendenziell externer Technik («el almacén técnico externo»²⁸) und lokaler Materie («materia prima latinoamericana»²⁹) begründet. Oder anders gesagt: Die Ambivalenz der Romanerzählung zwischen Narration und Formalisierung, zwischen Einschreibung und Exteriorität entscheidet Rama zugunsten einer Art ‘Gegenerzählung’, in der das Formale der Technik seine entfremdende Kraft einbüßt. Jedoch – und deshalb ist das Doppel García Márquez & Borges unbedingt als Doppel zu lesen – ist in Hinblick auf die Darstellung der entscheidende Aspekt der Romanerzählung, dass stets beide Aspekte integraler Bestandteil seiner Theorie und Erzählung sind, da auch die aneignende Erzählung das Externe der Technik impliziert und die Technik Voraussetzung dafür ist, dass eine postepische Erzählung einer postepischen Welt erst möglich wird. Wenn sie nur im gegenseitigen Bezug zueinander zu problematisieren sind (und bis zu einem gewissen Grad tut dies Rama), dann ist das an sich ja nicht zu diskreditierende Projekt einer gegen Normierung sich wendenden Erzählung nicht ausschließlich mit einer «materia prima» zu begründen; nicht minder ist auch das Dispositiv der universalisierenden Technik zu befragen. Diese mit Borges ja durchaus artikulierbare Frage einer in und durch Technik selbst auszumachenden Geschichte hat Rama hier unterschlagen. Nicht nur, wie sehr Technik für eine eigene Geschichte verwendet werden kann, ist also zu berücksichtigen;

25 Ebd., S. 66f. 26 Eine ausführlichere Diskussion zu der von Rama favorisierten transculturación, die auch auf die ihr eingelassene Aporie Bezug nimmt, findet sich in: Alberto Moreiras: The Exhaustion of Difference, S. 184–207. 27 Angel Rama: La tecnificación narrativa, S. 63. Vgl. ebd.: «El reproche dirigido a la más exitosa novela del movimiento, los Cien años de soledad […] por evidenciar arcaísmo respecto a las orientaciones de la narrativa que en esa fecha estarían marcadas por libros como Cambio de piel de Fuentes o 62 modelo para armar de Cortázar (son ellos dos los jefes en vista de la tendencia modernizadora universalista), responde a una ingenua deificación del modelo técnico operativo cuyas insuficiencias no percibe y equivoca el punto de mira de la obra literaria.» (63) 28 Ebd., S. 77. 29 Ebd., S. 73.

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nicht minder entscheidend ist die Frage, welche Geschichte der Technik selbst eingelassen ist und welche sich dort eintragen lässt, wenn man sie nicht nur als neutrale Maschine versteht, sondern auch als materialer Träger einer Positionalität und Relation. Vor diesem Hintergrund wird fragwürdig, ob die lateinamerikanische «materia prima» (und das meint im Falle von Angel Rama: Macondo) als lokal-ursprüngliche überhaupt denkbar ist, wenn die Pointe ihrer Genese die ist, dass sie als schon zitierende keine primäre sein kann. Ebenso stellt sich die Frage, ob die Exteriorität von Technik immer eine universale oder auch westliche Exteriorität bedeuten muss bzw. nur für diese Geschichte stehen kann. Ich möchte diesen Aspekt, der in den Debatten zu dem lateinamerikanischen boom und speziell zu Cien años de soledad nochmals explizit wird, weiter kommentieren. Hält man an der von Vargas Llosa lancierten These eines immer auch spezifischen Gottesmordes fest, wird einsichtig, dass die Exteriorität der Technik mitnichten nur dann eine gute ist, wenn es um eine ‘eigene’ oder ‘gut angeeignete’ Technik geht. Der Exteriorität der Technik und ihrer vermeintlich universalen Qualität sind in einem ‘wünschenswerten transkulturalisierenden’ Gebrauch vielmehr spezifische Negativitäten eingelassen und genau deshalb kann Technik, als spezifisch negatives Phänomen verstanden, ‘universal’ oder besser: universalisierend sein, aber nicht unbedingt neutralisierend. Erst wenn Technik ebenso wie Naturalisierung Geschichtlichkeit bzw. Lektüre verstellt, also wenn sie als reine Struktur erscheint, wird sie problematisch. Hier wird einsichtig, welche Rolle die Möglichkeit einer bestimmten Positionalität spielt. Dies lässt sich jedenfalls auch Fuentes’ nicht zuletzt auf CAS zurückgehende Deutung der Exzentrik entnehmen, die ja auf ein durch «Technik» inauguriertes und deshalb auch kritisierbares Weltverhältnis rekurriert, das sich von der falschen Unmittelbarkeit des costumbrismo abzusetzen weiß und somit – einen weiter unten erneut aufzunehmenden und zu entwickelnden Aspekt der lukácschen Erzählung umdeutend – die Einsamkeit der genuin immanenten, also epischen Existenz überwindet: El fin del regionalismo latinoamericano coincide con el fin del universalismo europeo: todos somos centrales en la medida que todos somos excéntricos.³⁰

Für die exzentrische Existenz ist weder der lokale Mythos noch die Technik zu naturalisieren. Dass dies kein einfacher oder gar einmaliger Prozess ist, sondern immer wieder neu zu leisten ist, belegt schon die Tatsache, dass viele Jahre später Roberto Bolaño nun gegen den boom gerichtet just dieses technische Disposi-

30 Carlos Fuentes: La nueva novela, S. 95.

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tiv der Exzentrik erneuert wissen will und dass Sandra Cisneros ein Englisch als eine vermeintlich neutrale Sprache der Technik genau dann unterläuft, wenn sie dieses Englisch in eine andere Geschichte einträgt, statt in ihm lediglich den vermeintlich neutralen Ort einer Aushandlung von Differenz anzuerkennen. Der Dialektik von Formalismus und Selbstexplikation auf der Ebene der Theorie entspricht auf der Ebene der Erzählung die Dialektik von Exzentrik und Aneignung. Somit ist, anders als bei Rama, die Spaltung von Technik und Materie nicht aus einer sozioökonomischen Supermetapher abzuleiten, sondern diese selbst nochmal aus einer literaturtheoretischen und sprachphilosophischen Perspektive lesbar zu machen. Es ließe sich nämlich mit gutem Recht einwenden (und das ist für den Roman begründend), dass die Spaltung zwischen Technik und Materie, von discours und histoire sozusagen, ein generelles definies eines neuzeitlichen Literatur- und Fiktionsbegriff ist und einer Sprachsituation entspricht, die, so Rama, zwar exemplarisch an den lateinamerikanischen Literaturen nachvollzogen werden, aber, wie Fuentes es anführt, mitnichten kulturspezifisch ist. Was in dieser Technizität nämlich zum Ausdruck kommen kann, ist nur unzureichend verstanden, wenn man darin lediglich die formale Universalisierung, die entkoppelte Standardisierung erblickt. Die andere Seite dieser Technizität betrifft eine von Blumenberg mal neuzeitlich genannte Rhetorizität, die weniger zu Handlungen anstiften bzw. einen Handlungszwang setzen möchte, also gerade nicht sich dem Gebot der standardisierenden Effizienz verschrieben hat, sondern im Aufschub der ebenso verspäteten wie verfrühten «symbolischen Substitutionen»³¹ auch eine Konstitution befragbar hält. Diese Überlegung ist nun insofern für eine Theoretisierung des Lokalen bzw. der lokalen Welt von Interesse, als ein solchermaßen verstandenes Lokales immer schon eine Bewegung und Relationierung impliziert, eine symbolisch wirksame Befragung der Konstitution und eben eine nicht unmittelbar gegebene Konstitution darstellt, der nur der rechte Ausdruck fehlt. Just was diese relationale Logik betrifft, können der Roman und seine Theorie ein hervorragender Gegenstand sein, um Lokalität, jenseits der Register der Differenz, als immer wieder aufschiebende Befragung der Konstitution und nicht als das schlechthin sich Entziehende zu denken. Mit dem (neuzeitlichen) Weltbegriff als einer Entität, die sich als das Besondere eines Allgemeinen denken lässt, wird nicht nur – wie schon von Fuentes konstatiert – das Ende des europäischen Universalismus zu denken sein, sondern auch das Besondere anders zu theoretisieren sein als das bloße Gegenstück zum bzw. der allenfalls anfänglich notwendige Durchgang hin zum Allgemeinen. Unstrittig dürfte demnach sein, dass es mehr bedarf

31 Hans Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Rhetorik, S. 422.

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als des in einem kolonialitätskritischen Zusammenhang fast reflexartig zitierten Ansatzes, die koloniale Ordnung von Differenz- und Theoriewissen durch die Strategie einer generellen Lokalisierung aufzubrechen, mit einer «Poetics of Peripheralization»³² wie sie Abul-Ela am Beispiel von Faulkner andeutet. Diese Lokalisierung des Allgemeinen, die auch in dem Projekt zum Ausdruck kommt, «Europa [zu] provinzialisieren»,³³ ist, so notwendig sie auch sein mag, immer nur ein erster Schritt, wenn man sich nicht mit einer prinzipiell endlosen Differenzierung von bloßen Positivitäten begnügen will. Sie ist unverzichtbarer Ausgangspunkt für die Frage, wie das Lokale nicht nur in den Registern der Differenz und des Partikularen gedacht werden kann und das meint: für die nicht zuletzt durch die romantheoretische Frage möglich gewordene Option, ob und wie Theorie auch durch das Partikulare hindurch – als Vision – formuliert und begründet werden kann, ohne deshalb nur der zu artikulierenden Differenz verpflichtet zu sein. In diesem Sinne und auch im Sinne einer Relektüre klassischer Romantheorien lässt sich gleichfalls Vargas Llosas Beschäftigung mit der nueva novela latinoamericana lesen.³⁴ Gerade weil er auf die nicht unproblematische Deutung der Literatur als Gegendiskurs beharrt, hat seine grundsätzlich antimimetische Deutung den Vorteil, dass sie statt auf eine Anthropologie des mimetischen Menschen zu verweisen, immer auf eine bestimmte Situation sich bezieht, sofern die Widerrede immer nur spezifisch erfolgen kann. Wenn er mit dem von Doody³⁵ denunzierten und ‘allgemeinen’ Paradigma der Romantheorie ansetzt, wonach der Roman eine historische und ‘verdächtiger’ noch: eine moderne Gattung sei, dann um diese Erzählung als eine höchst spezifische Geschichte des Widerstandes zu erzählen, statt sie – wie Doody – im Sinne einer anthropologisch angelegten Welterzeugung zu ‘verallgemeinern’ und die Erzählung eines modernen Romans als bloß westliche Spezialgeschichte zu relativieren: Unlike poetry or drama, whose origin coincides with the origin of all civilizations, the novel is the most “historic” of all literary genres to the extent that it has a definite place and date of birth.³⁶

32 Vgl.: Hosam Abul-Ela: The Poetics of Peripheralization. 33 Dipseh Chakrabarty: Europa provinzialisieren. Postkolonialität und die Kritik der Geschichte. In: Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus: postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2002, S. 283. 34 Vgl.: Mario Vargas Llosa: The Latin American Novel Today. 35 Margaret Doody: The True Story of the Novel, S. 1. 36 Mario Vargas Llosa: The Latin American Novel Today, S. 269.

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Nun haben es Momente wie die Geburt an sich, dass sie wohl gelebt, nicht aber unmittelbar wahrgenommen werden können. In wuchtiger Prosa imaginiert Vargas Llosa eine deutlich an Lukács angelehnte und doch von diesem grundlegend sich unterscheidende Erklärung für diese Geburt, die wie alle Konstitutionen immer nur verspätet erzählt werden kann und folglich auch nicht natürlich mitgegeben ist, sondern auf eine immer erst noch zu leistende Ursprungserzählung verweist: God is assassinated and the cult of the imposter begins; reality is distrusted and faith is sparked in reality’s verbal manifestations. It is as if these reserves of faith which had been withdrawn from the real world were, in compensation, redirected toward the novels which the ruins of this world engendered. This is the phenomenon that is currently taking place in Latin America.³⁷

Es reicht also nicht, wie Lukács, Gottes Tod bzw. Abwesenheit festzustellen, sondern dieser Mord ist immer wieder mit neuen und anderen Akteuren nachzuvollziehen, immer wieder an einer höchstspezifischen Geburt einer bestimmten Welt («this world») festzumachen und – nicht zuletzt – ist es immer auch ein bestimmter Gott, der ermordet wird. So ist dieser Bewusstwerdung um eine gottverlassene Welt (Lukács), die mit Vargas Llosa als der Übergang von der einen in Gottes Namen verwalteten Welt zu den vielen Welten der Betrüger umschrieben werden kann, eine alte Hypothek und eine konkrete Geschichte eingelassen, die sich nicht nur auf die Romane des booms bezieht. Vielmehr erweist sich diese Geschichte, verspätet, als das lesbar gemachte Ergebnis durch den boom-Roman: Considered subversive by the Spanish authorities (and indeed it was), the novel was banned during the colonial centuries and did not come to life until the nineteenth century, after independence had been achieved.³⁸

Man kann diese Aussage mit und gegen Vargas Llosa etwas präzisieren. Soll das 19. Jahrhundert für eine lateinamerikanistisch argumentierende Romangeschichte das Ins-Leben-Kommen des Romans sein, dann ist damit nicht unbedingt die Geburt des lateinamerikanischen Romans gemeint. Der im 19. Jahrhundert zum Leben kommende und im 20. Jahrhundert zur Reife gelangende Roman der Lateinamerikas ist nur die Spitze eines Eisbergs, sofern dieses Ins-LebenKommen nur die sichtbare Seite ist, die sich mit der Genrebezeichnung schrei-

37 Ebd., S. 270. 38 Ebd., S. 266.

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ben lässt. Die andere, tiefenhistorische Seite dieser Romangeschichte, würde seine Geburt im Verbot des Romans datieren. Ohne dieses Verbot der kolonialen Gewalt, die darin bestehen würde, an der Einheit der einen Welt festzuhalten, ist der (kritische) Roman des Hochstaplers («imposter») nicht zu denken. Die Subversion des Romans wie sie Vargas Llose im boom-Roman vollendet sieht, beruft sich auf eine schon lange notwendig gewordene Infragestellung dieser einen Welt durch eine Transgression derselben, durch eine am Roman exemplarisch durchexerzierte Vielzahl von Welten und vor allem durch die Einsicht, dass eine Welt über ihre eigene Konstitution nie vollends verfügen kann, da sie immer nur von Ruinen ausgehen kann. Die Gottverlassenheit der modernen Welt ist nun auch mit einer konkreten Szene zu lesen: Es war das Ereignis der Neuen Welt, das – so Acosta – es zwingend notwendig machte, eine menschengemäße Vernunft und Erzählung anzustrengen, da die Neue Welt zwar nicht außerhalb des Einflussbereiches Gottes liegen darf (und deshalb konvertiert werden muss), aber mit den kanonischen Texten nicht zu begreifen ist. Die Erzählung der Neuen Welt ist in diesem Sinne eine immer schon vom Menschen gemachte, gottverlassene, ja Gott ermordende. Als eine vom Menschen geschaffene ist sie immer nur eine werdende, für deren ruinöse Gewalt – darin stimmen García Márquez, Cisneros und Bolaño überein – der Mensch verantwortlich zu zeichnen hat. Wenige Zeilen weiter unten entwickelt Vargas Llosa diesen Punkt weiter, wenn er die Unabhängigkeit von der Kolonialmacht in der «Reife» der Romanfiktion nachklingen lässt. Sich von einer Natur zu befreien, um zur Frage des Menschen zu gelangen und das Vermögen, sich durch ein regionales Thema hindurch zu universalisieren, all dies bezeugt eine «Reife» der literarischen Schöpfung, die nicht auf die eine universale Welt rekurriert, sondern, im Gegenteil, zunächst einmal die immer auch spezifisch motivierte Schaffung zusätzlicher («additionally [created] worlds») Welten voraussetzt: What constitutes maturity? Thanks to the new writers, it consists primarily of a thematic shift in the axis of Latin American fiction from nature to man. […] “Indigenous” themes have not been excluded but have been intensified and framed within a perspective that is no longer regional but rather universal. The literary worth of Guimarães Rosa’s Grande Sertão: Veredas and of Juan Rulfo’s Pedro Páramo does not reside in the fact that both novels accurately describe the rural worlds of Minas Gerais and of Jalisco, but rather in the fact that, drawing on firsthand knowledge of life in these regions, the authors have created additionally worlds which are soverign [sic] and autonomous, worlds endowed with their own significance and mythology, and with the verbal persuasion that allows readers of any country or language to recognize themselves and identify with the characters that populate this fictional world.³⁹

39 Ebd., S. 267.

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Weltenvielfalt als Entlastung vom Zwang der einen Welt ermöglicht – so Vargas Llosa – eine andere Globalisierung und Universalisierung, eine Globalisierung, die nicht auf einer asymmetrischen Vernetzung durch ein sich mit dem einem Gott autorisierendes Zentrum beruht und demgegenüber alles andere nur als «Natur» erscheinen kann. Wenig überraschen sollte, dass diese Autonomie erst durch eine metaleptische Bewegung möglich wird, die in Cien años de soledad denkbar literal umgesetzt wird. Voraussetzung ist nämlich, dass dieses Lebenswissen («knowledge of life») zwar aus erster Hand formuliert ist (und schon aus diesem Grunde nicht eine absolute Gegenwelt darstellen kann, sondern immer auch einer konkreten historischen Ruine verpflichtet ist); dies jedoch nicht als ein Wissen, das nur in diesem Leben vollzogen werden kann, sondern als ein Wissen, das im Moment der wortgeschuldeten Überzeugung («verbal persuasion») zu einem Wissen jenseits dieser Welt wird und so anderen Welten angehörige LeserInnen zu überzeugen weiß. Nicht die getreue, nur an sich selbst gewendete Bewahrung macht also das Wissen der Romanerzählung aus, sondern seine potentielle und global entworfene Weitergabe jenseits seiner Welten. Auch hier ist Exzentrik eine Entlastung vom Mythos der Immanenz. Auch wenn Technik stets mit einem Verlust einhergeht, ein Sein außerhalb der erzählten Welt bekräftigt und eine aus Ruinen ansetzende Erzählung erfordert, ist dieser Verlust noch nicht das Ende einer und der Geschichte. Für Vargas Llosa handelt es sich ja durchaus um einen rundum wünschenswerten Verlust. Zweifelsohne ist dieser Euphorie nicht vorbehaltlos zuzustimmen: Bolaños Trauerarbeit (aber auch die eines García Márquez oder die einer Cisneros) über eine verlorene Generation und Geschichte macht deutlich, dass es nicht nur um «souveräne» Gegenwelten geht und erst recht nicht um eine Identifizierung mit diesen Welten, sondern auch um die Ausstellung des Verlusts selbst. Aber was sich dennoch festhalten lässt, ist, dass Technik genau dann im ʻgutenʼ Sinne universal sein kann, wenn sie dazu führt, dass keine Relation mehr ungefragt sich fortsetzt, da, wie Fuentes es schon sagte, die Exzentrik eine allgemeine geworden ist. Mit diesen Überlegungen möchte ich abschließend auf die Frage zu sprechen kommen, wie umgangen werden kann, dass die Arbeit am nicht-nur-westlichen Roman auf Theorie verzichten muss bzw. dass diese nur hegemonial bzw. minoritär betrieben werden kann. Wie ist es möglich, das von der traditionellen Romantheorie Entwickelte für andere als die vermeintlich gemeinten und ʻursprünglichenʼ Kontexte fruchtbar und lesbar zu machen? Mit dem Begriff der Weltenvielfalt habe ich darlegen wollen, dass nicht nur die Erzählung, sondern auch das «formale Moment» dieser Theorien neu zu lesen ist, in eine Relation zu bringen ist. Um es noch einmal klarzustellen: Damit ist keine ‘Übertragung’ oder auch ‘Anwendung’ gemeint und auch nicht eine ‘Verallgemeinerung’ von

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spezifischen Verhältnissen. Die diese Annahme motivierende Lektürehaltung ist vielmehr die, dass Romantheorie ihre deskriptive Ebene überschreiten kann, ja muss und zwar nicht, weil sie ein vermeintlich allgemeines Problem anspricht, sondern weil sie immer auch auf einer strukturellen Ebene argumentiert, die erst in einer Selbstexplikation und historischen Positionierung verfügbar geworden ist. Das bedeutet auch: Romantheorie basiert zu einem gutem Teil auf strukturellen Paradigmen, die nicht nur für einen angeblich westlichen Kontext lesbar zu machen sind, sondern durchaus auch andere Zugänge erlauben und mehr noch, notwendig machen, um präziser beschrieben werden zu können. Gerade weil es sich dabei nicht um eine allgemeine Provinzialisierung handelt, geht es nicht um ein leicht identifizierbares und unmittelbar verfügbares, konkretes strukturelles pattern. Stattdessen ist mit dem Begriff der Weltenvielfalt eine Situation benannt, die das der Frage nach Ursprung und Spezifik eingelassene Moment der Relation explizieren soll, ohne damit jenes Moment selbst restlos zu formalisieren. Das wäre schon deshalb nur schwerlich möglich, weil es dieses Moment der Relation ist, das die nur in Visionen verfügbare Strukturproblematik der Weltenvielfalt erst lesbar macht. In einem ähnlichen Sinne ist auch das Problem der Technik zu verstehen, das dem Roman ja eine überdeutlich präsente ‘unnatürliche’ Qualität verleiht. Unnatürlichkeit nämlich ist kein positives Strukturmerkmal, sondern benennt eine immer anders zu deutende Relation historisch, kulturell oder auch sprachlich bewusst durchdachter und problematisierter Exzentrik, die sich strukturell durchaus niederschlägt. Ausgehend von diesen Überlegungen lässt sich für die Lateinamerikanistik, wie es schon Vargas Llosa versucht hat, in Lukács’ Romantheorie ein durch literale Präsenz unlesbar gehaltener Zusammenhang offenlegen. Neben dem Gottesmord – ein Begriff, der ja in Vargas Llosas 1971 erstellter Dissertation zu Cien años de soledad, Historia de un deicidio, eine zentrale Rolle spielt – findet sich auch der Begriff der Neuen Welt. Diese beschreibt auch bei Lukács eine epochemachende und transareale Figur, auch wenn sie hier eine (im idealistischen Sinne) psychologische und geistesgeschichtliche Prägung hat. So behauptet Lukács, dass, da das Feuer der menschlichen Seele nicht mehr dem der Sterne entspricht und dem Menschen so die Sinnimmanenz der Welt verweigert ist: «[…] in der Neuen Welt heißt Mensch-sein: einsam sein […].»⁴⁰ Für den lateinamerikanistisch vorbelasteten Leser (nicht nur mit Borges ließe sich behaupten, dass Lektüre stets Vorbelastung voraussetzt) scheint es unmöglich, ein bestimmtes misreading zu unterlassen. Mit den zentralen Termini dieser Diagnose – Neue Welt (zudem in der Großschreibung) und Einsamkeit –

40 Georg Lukács: Die Theorie des Romans, S. 19.

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sind prominente Begriffe der lateinamerikanischen Kulturgeschichte und -kritik aufgerufen, die nicht ohne das Projekt der Kolonisierung zu denken sind, dessen erste Expeditionen – ganz nebenbei – auf einen neuen Sternenhimmel stoßen sollten. Das Forschungsprojekt einer in Visionen argumentierenden Romantheorie lässt sich folglich auch als der Versuch begreifen, die Grundlage und Pertinenz dieser Lektüre zu erörtern. Es gilt, die Theorie selbst wieder auf eine Weise zu lesen, in der die Emergenz des Romans und seiner Sprachsituation in eine konkrete Relation gebracht, gewissermaßen in ihrer Achse verschoben werden. Es geht darum nachzuweisen, dass es einen substantiellen Zusammenhang zwischen der so beschriebenen Welterfahrung gibt und ihrer damit verwandten geschichtsphilosophischen These einerseits und der Erfahrung der Neuen Welt als Teil jener Geschichte, die heute mit dem sicher inflationär benutzten und hier sehr spezifisch verwendeten Begriff der Globalisierung benannt wird, andererseits. Mit Globalisierung ist in diesem Zusammenhang nicht nur ein gesamtgeschichtlicher Prozess gemeint, sondern vor allem eine Erfahrungsqualität von Welt als einer binnenweltlichen Relationierung von Welt selbst. Eine lateinamerikanistische Relektüre der lukácsschen Romantheorie könnte behaupten, dass die Erfahrung der Einsamkeit und das Bewusstsein einer Neuen, postepischen Welt nicht nur im semantischen Feld einer geschichtsphilosophisch ausgelegten Zeitlichkeit zu begreifen sind, sondern dass der damit angedeutete Riss auch und womöglich präziser als ein kulturell-räumlicher Riss zu verstehen ist, als die Folge einer Bewegung hin zu einer anderen, Neuen Welt. An die Stelle des vertikal-transzendenten Bezugs ist nunmehr die kolonial-horizontale Bewegung getreten. Mit Lukács formuliert: Die Sinnimmanenz von Welt ist unter anderem auch deshalb aus den Lebenswelten vertrieben worden, weil der Sinn selbst keiner gemeinsamen, allgemeinen und gleichermaßen geteilten und einsichtigen Welt mehr verpflichtet ist: Und das innere Licht gibt nur dem nächsten Schritt die Evidenz der Sicherheit oder – ihren Schein. Von innen strahlt kein Licht mehr in die Welt der Geschehnisse und in ihre seelenfremde Verschlungenheit.⁴¹

Mir scheint es alles andere als unangemessen, diese Erfahrung eines solchen Weges – wie es die Pilgerreise des Bartolomé Lorenzo, wenn auch mit versöhnlichem Ende, denkbar konkret umsetzt und wie es Cien años de soledad apokalyptisch wiederholt, wie die Reisen nach Mexiko-Stadt in Caramelo oder auch die

41 Ebd.

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Suche von Bolaños Detektiven es darlegen – als die bestimmende Erfahrung der Neuen Welt zu begreifen. Man kann noch weiter gehen: Nimmt man nämlich das Ereignis der Neuen Welt beim Wort, wäre Lukács These zu invertieren, wonach «die Welt […] griechisch geworden [ist], aber der griechische Geist […] immer ungriechischer.»⁴² Dass vielmehr die Welt selbst ungriechischer geworden ist, verschiebt das Problem vom Subjekt hin zur Welterfahrung. Welt ist keine Positivität, die sich vielleicht eigentlich sagen ließe, sich abgesichert weiß in einem Verweis oder einer Offenbarung, sondern als Lebenswelt nur als eine Welt von Welten denkbar ist. Der Roman ist dabei jenes Medium der Weltdarstellung, dass die immer auch rhetorisch vermittelte, da auf Darstellung angewiesene Wissbarkeit von Welt bewusst macht. Kunst, Synonym zur schon genannten Unnatürlichkeit, benennt bei Lukács den Wandel dieser Welterfahrung: Die visionäre Wirklichkeit der uns angemessenen Welt, die Kunst, ist damit selbständig geworden: sie ist kein Abbild mehr, denn alle Vorbilder sind versunken; sie ist eine erschaffene Totalität, denn die naturhafte Einheit der metaphysischen Sphären ist für immer zerrissen.⁴³

Kunst – so wäre zu ergänzen – setzt sich sodann nicht mehr nur gegen eine Natur-Welt; Kunst ist auch ein Mittel um sich gegen eine andere Kunst zu behaupten und Kunst als Kunst erkennbar zu halten. Eine «ungriechische» Welt ist eine These, die in Bachtin sicherlich einen prominenten Fürsprecher gefunden hätte, der sich ebenfalls für ein solches lateinamerikanistisches Misreading qualifiziert. Von besonderem Interesse ist dabei, dass Bachtin, nachdem er durch die formalistische Schule gegangen ist, die romantheoretische Frage weiterhin stellt und entwickelt, also exemplarisch den Schritt von der Struktur zur Position vollzieht. Nur scheinbar die Tautologie streifend, spricht Bachtin bei seiner Version der Geburt des Romans von einem «Romanhaftwerden»⁴⁴ der Welt in der Neuzeit: Der Roman ist eben deshalb zum Haupthelden im Drama der literarischen Entwicklung der Neuzeit geworden, weil er die Tendenzen des Werdens der neuen Welt am besten zum Ausdruck bringt, ist er doch das einzige Genre, das seine Entstehung dieser neuen Welt verdankt und ihr in allem wesensverwandt ist.⁴⁵

42 Ebd. 43 Ebd., S. 20. 44 Michail M. Bachtin: Epos und Roman, S. 494. 45 Ebd.

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Methodisch von höchstem Interesse scheint mir, dass Bachtin auf diese Herausforderung einer Veränderung in der Welt selbst denkbar konsequent mit einer «grundlegenden Umgestaltung der Genretheorie»⁴⁶ reagiert. Statt vermeintlich «stabile Gattungsmerkmale»⁴⁷ zu benennen, geht Bachtin davon aus, dass der Roman eine bestimmte Sprachsituation voraussetzt, eine «grundlegende[…] strukturelle[…] Besonderheit» aufweist, die sich durch ein «vielsprachiges Bewusstsein», eine veränderte «Zeitkoordination der literarischen Gestalt im Roman» und «eine Zone des maximalen Kontakts mit der Gegenwart (der zeitgenössischen Zeit) in ihrer Unabgeschlossenheit»⁴⁸ auszeichnet. Ohne es an dieser Stelle vertiefend auszuführen, sei hier angemerkt, dass alle drei Besonderheiten auf eine Veränderung in einer horizontalen Bewegung verweisen. Vielsprachigkeit, veränderte Zeitkoordination und erst recht die «Zone maximalen Kontakts» sind zweifelsohne Indizien dafür, dass sich ein Raum der Überschreitung und Überlagerung eröffnet hat bzw. der Sprache selbst eingetragen hat, der zuvor nicht verfügbar war. Darin ist sicherlich ein erster Verweis auf die Grundlegung einer metaleptischen bzw. kolonialen Logik des Romans zu erblicken, der – anders als das von Bachtin für die Renaissance stark gemachte Modell eines Wechsels von Oben und Unten –eine Dezentrierung voraussetzt, eine auch wechselseitig denkbare Relativierung der Sprachen. Dieses auch transareal deutbare Sprachbewusstsein hat Bachtin dazu veranlasst, den Roman als eine globale Gattung zu begreifen. Welt jedoch meint hier nicht eine Summe, sondern ein Bewusstsein um Welt, ein historisch erst noch zu ermöglichendes Weltbewusstsein einer «neuen Epoche der Weltgeschichte»: Der Roman ist das einzige Genre, das von der neuen Epoche der Weltgeschichte hervorgebracht und gespeist wurde und ihr deshalb zutiefst verwandt ist.⁴⁹

Diese «neue Epoche der Weltgeschichte» lässt sich ohne größeren Aufwand aus einem lateinamerikanistischen Kontext näher bestimmen und so aus einer vermeintlich genuin europäischen Erzählung entlassen (die bei Bachtin sowieso nicht ohne weiteres angenommen werden kann). Das Werden der postepischen Welt lässt sich auch als ein Werden der Neuen Welt (in beiderlei Sinne) denken und das Werden als Signum von (Welten-)Vielfalt. Es ist das Werden, das Ursprung und Spezifik zu immer wieder problematischen Figuren macht, die Erzählung ebenso wie die formale Beschreibung immer wieder überfordernd.

46 Ebd., S. 495. 47 Ebd., S. 498. 48 Ebd., S. 498–499. 49 Ebd., S. 491.

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Roman und Neue Welt – so belegen es die Titel von zwei einschlägigen Sammelbänden – sind beides Gegenstände eines Disputs, der begründend ist.⁵⁰ Ein Projekt, das ausgehend von einer auch kolonial gelesenen Moderne den Weltbegriff für den Roman problematisiert, ist – soweit ich sehe – bisher nur angedeutet und gefordert worden, aber nicht systematisch an einem Begriff entwickelt worden wie ich es hier mit dem Begriff der Weltenvielfalt versucht habe. Hierbei kommt den Arbeiten von Lynch/Warner, Burnham und insbesondere der daran anschließenden Arbeit von Eileen Julien sicherlich eine kaum zu unterschätzende Bedeutung zu und es ist sicherlich kein Zufall, dass allesamt die Überschreitungs- und Übersetzungsfigur genau dann für den Roman stark machen, da nicht-nur-westliche Literatur das Thema ist.⁵¹ Ich möchte an dieser Stelle nur Juliens These der «extroverted african novel»⁵² zitieren, um darzulegen, wie auch hier die geschichtsphilosophische Perspektive, bei ihr «diachronic» genannt, durch eine transareale, die Überschreitung in den Vordergrund stellende, bei ihr «synchronic»⁵³ genannt, ergänzt und revidiert wird: […] what insights might be gained by shifting emphasis from the diachronic account of a traveling genre to a synchronic account of novelistic contexts? […] Is it not the crossing of borders, […] that gives rise to the modern novel? Is it not the existence of empire – of colonies as a realm of possibility, in Said’s words – that enable the European novel? If the European novel arose in a context of a movement across borders – a motif fundamental to the genre itself – then it is not a parochially European genre on the basis of having been scripted first in Valladolid, Paris, or London but is indeed world historical. This is not to claim, then, for symmetry of influence on the basis of features from the far reaches of the empire or its literature showing up on the European literary canvas. Rather, it is a claim for a condition of possibility. The movement across border, regardless of the historical circumstances governing it – religious or political persecution, enslavement, economic promise, adventure – would seem to be the condition that enables the proliferation of the modern novel. In which case, it could be argued that the novel is world historical in its inception, not its spread. The modern novel is creole, a literary “forma

50 Vgl.: Antonello Gerbi: The Dispute of the New World. Pittsburgh: University of Pittsburgh Press 1973 bzw.: Michael Wegner (Hg.): Disput über den Roman. 51 Vgl.: Deidre Lynch/William B. Warner (Hg.): Cultural Institutions of the Novel. Duke: Duke University Press 1996; Michelle Burnham: Between England and America: Captivity, Sympathy, and Sentimental Novel. In: Lynch, Deidre/Warner, William B. (Hg.): Cultural Institutions of the Novel. Duke: Duke University Press 1996, S. 47–72; Eileen Julien: The Extroverted African Novel. In: Moretti, Franco. (Hg.): The novel. History, Geography and Culture. Princeton: Princeton University Press 2006, S. 667–700. 52 Ebd., S. 676. 53 Ebd., S. 674.

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franca” born from the contact of peoples and cultures. It may well be the first global cultural product.⁵⁴

An dieser Stelle kann eine hieraus explizierbare und umfassende These nur angedeutet werden. Es scheint eine lohnende Aufgabe dem Zusammenhang von Roman und Globalisierung bzw. Romantheorie und Globalisierung in einem weiteren als den hier entwickelten Rahmen auf den Grund zu gehen. Die These dabei wäre nicht nur, dass Globalisierung Romane produziert, sondern dass der Wirklichkeitsbegriff (Blumenberg) des modernen Romans seine strukturelle Entsprechung in einer Geschichtserfahrung von Welt findet, die sich selbst in einem globalen Kontext entwerfen muss und kann. Dieser auch machtpolitisch auszulotende Zusammenhang von Empire und Roman – von Morettti⁵⁵ nur angedeutet und von Moreiras⁵⁶ nicht wesentlich erweitert wieder aufgenommen – wäre zu präziseren: Verrät nicht die Tatsache, dass die jeweilige Blüte des Romans geradezu passgenau mit den verschiedenen Phasen und Verschiebungen in den Kolonialmächten korreliert (erst der spanische, dann der englische, dann der französische und schließlich – die beiden Supermächte antizipierend – der USamerikanische und russische Roman), dass es weniger um eine einfache Korrelation von Roman und Empire geht als darum, dass der Roman die historische Kompetenz und Möglichkeit eines Weltentwurfs und auch einer Theorie von Welt bezeugt, eine Position autorisiert, von der aus dies möglich wird? Im Falle der Romane des lateinamerikanischen booms wäre sicherlich die Kubanische Revolution das Ereignis, das einen weiteren Weltentwurf ermöglicht hat, einen Standpunkt autorisiert hat, von dem aus mit weltgeschichtlicher Relevanz erzählt und theoretisiert werden kann. Jedenfalls scheint es mir kein Zufall, dass sogar der selbst alles andere als revolutionäre Rodríguez Monegal am Ende seines berühmten Aufsatzes zu der «New Latin American Novel» diese zum Sprachrohr einer «emerging world»⁵⁷ erklärt. Die Welt des Romans ist in einem ebenso ethischen wie auch formalen Sinne die werdende und eine werdende Welt.

54 Ebd., S. 674–675. 55 Franco Moretti: Modern epic. The World System from Goethe to Garcia Marquez. London: Verso 1996, S. 245ff. 56 Alberto Moreires: The Exhaustion, S. 192. 57 Emir Rodríguez Monegal: The New Latin American Novel, S. 50.

11 Epilog: Verschobene Anfänge in Mexiko Am 5. September 2008 wird in Nuevo Laredo, im Nordosten Mexikos gelegen, ein alter Bahnhof feierlich wiedereröffnet. Er beherbergt ein Kulturzentrum, das sich insbesondere der Literatur widmet. Ziel dieser Maßnahme ist es, der von Gewalt und Drogenhandel gebeutelten Region eine andere Perspektive zu eröffnen. Hector Romero, Direktor des städtischen Kulturamtes, bringt es auf den Punkt: «Queremos ser referencia en el Noreste.»¹ Diese Eröffnung wäre vielleicht keine große Schlagzeile geworden, hätte sie nicht auf die Anwesenheit des kolumbianischen Nobelpreisträgers García Márquez zählen können. Aus gutem Grund: Der Bahnhof wird auf den Namen Estación Palabra Gabriel García Márquez getauft. Der Geehrte – so berichten die Medien – hält gar eine kurze Ansprache. Das ist ungewöhnlich, da er solche Auftritte in der Regel meidet. Der Grund mag darin liegen, dass diese Haltestelle keine beliebige ist. García Márquez selbst erklärt den Zusammenhang zwischen ihm und einer Region, die in den Arbeiten zum Nobelpreisträger keine Rolle spielt und die doch in dem Fach der Lateinanmerikanistik, das sich zeitgleich zu seinem Erfolg begründet, aus der Forschungsagenda nicht wegzudenken ist: «Hace 47 años llegué aquí de contrabando, venía huyendo.»² Diese Bewegung, die ganz entscheidend die Niederschrift von seinem berühmtesten Roman erst ermöglicht hat, nimmt die Dramatik der Flucht in Anspruch, verläuft aber in umgekehrter Richtung als die, für die diese Region heute so bekannt ist. 1961 reist García Márquez über die USA nach Mexiko ein, um über Nuevo Laredo jene Hauptstadt zu erreichen, die seither und zweifelsohne ein fester Bezugspunkt in seinem Leben geworden ist und in der er in 18 Monaten CAS geschrieben hat: Mexiko Stadt. Etwa zeitgleich überquert Sandra Cisneros als junges Mädchen mit ihrer Familie diese Grenze mit dem Auto, vollbepackt mit US-amerikanischen Konsumwaren, eine ganz andere Mobilität versinnbildlichend. Nach einigen Monaten in Mexiko-Stadt tritt die Familie Cisneros, nun bepackt mit unverzichtbaren Relikten, ihre Reise zurück nach Chicago an. Die doppelte Bewegung von Konsumwaren einerseits und Gegenständen des «recuerdo» andererseits manifestiert sich in einer Sprache, die ebenso Mittel des Ausdrucks ist wie tiefenhistorisches Material. Nur wenige, vielleicht 6 oder 7 Jahre später wird Bolaño seine wilden Detektive aus Mexiko-Stadt vor einem rachsüchtigen Zuhälter an diese Grenze flüch-

1 Zitiert nach: Abraham Vázquez: Abre Gabo su estación. In: Reforma. 04.011.2008, o.A. 2 Ebd.

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 Epilog: Verschobene Anfänge in Mexiko

ten lassen. Diese hoffen außerdem, die rätselhafte Gründerin ihrer literarischen Bewegung zu finden, die sie – wohl unabsichtlich – am Ende erschießen. Gute 25 Jahre später wird Bolaño diese Grenze erneut thematisieren als den Ort, an dem sich die lateinamerikanische Hölle materialisiert hat. Die Frauenmorde von Ciudad Juárez stellen für Bolaño das wohl radikalste Beispiel einer unlesbaren und komplizenhaft von einer Macho-Mythologie gedeckten Gewalt dar. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre Gabriel García Márquez, Roberto Bolaño und Sandra Cisneros zur gleichen Zeit, vielleicht auch nur wenige Tage, in Mexiko-Stadt waren. Noch wahrscheinlicher ist es, dass sie sich nie begegnet sind. Mexiko-Stadt ist hier keine einfache Lokalität, sondern steht für ganz verschiedene Grenzüberschreitungen. Dies meint mehr als eine Anekdote und eine lebensweltliche Fügung. Es ist als eine Allegorie eines Lateinamerikanischen zu lesen, das sich nur ausgehend von einer Grenzüberschreitung denken und schreiben lässt. Dass die mexikanischUS-amerikanische Grenze eine besondere Bedeutung einnimmt, liegt nicht nur an ihrer außergewöhnlichen Dynamik und äußerst vielschichtigen Grenzkultur (die immer auch den Terror einer Kulturgrenze vor Augen hat); sie ist paradigmatisch, weil sie wohl jene Grenze ist, die am deutlichsten expliziert, wie das Lokale einer lateinamerikanischen (Literatur-)Geschichte immer schon das mit dem Kolonialprojekt drängend werdende Doppel einer internen und externen Relationierung enthält und erforderlich macht. Das geschah nicht einfach so, sondern ziemlich genau von dem Tag an, da mit La Malinche – ebenfalls in Mexiko – die Übersetzungen und auch die (koloniale) Differenz in die vielen Sprachen nicht nur der Amerikas kam.

12 Bibliographie A Primärtexte Gabriel García Márquez García Márquez, Gabriel: Un hombre viene bajo la lluvia. In: Ders.: Obra periodística 1: Entre cachacos (1954–1955). Barcelona: Bruguera 1981 [1954], S. 87–89. García Márquez, Gabriel: La casa de los Buendía (Apuntes para una novela). In: Ders.: Obra periodística 1: Textos costeños (1948–1952). México D.F.: Editorial Diana 1981 [1950], S. 702–703. García Márquez, Gabriel: El huesped. In: Ders.: Obra periodística 1: Textos costeños (1948–1952). Barcelona: Bruguera 1981 [1952], S. 219–220. García Márquez, Gabriel (1982a): La soledad de Amérca Latina. In: «http://nobelprize.org/ nobel_prizes/literature/laureates/1982/marquez-lecture-sp.html» (letzter Zugriff: 12.02.2010). García Márquez, Gabriel: La realidad escondida. In: Wallrafen, Hannes: Una jornada en Macondo. Bogotá: Villegas Editores 1992. S. 1–3. García Márquez, Gabriel: Por un país al alcance de los niños y un manual para ser niño. In: Ders.: Por la libre, Obra periodística 4, (1974–1995), Barcelona: Mondadori 1999 [1994], S. 326–328. García Márquez, Gabriel: Cien años de soledad. Edición conmemorativa. Madrid: Alfaguara 2007 [1967]. García Márquez, Gabriel/Mendoza, Plinio Apuleyo: El Olor de la guayaba. Barcelona: Bruguera 1982. García Márquez, Gabriel/Vargas Llosa, Mario: La novela en América Latina: diálogo. Lima: Milla Batres 1968. Garciá Márquez, Gabriel: Memoria de mis putas tristes. Bogotá: Editorial Norma 2004. García Márquez, Gabriel: Vivir para contarla. Bogotá: Editorial Norma 2002.

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