Weltbühne Zürich: Kurt Hirschfeld und das deutschsprachige Theater im Schweizer Exil 9783161611636


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German Pages 208 [217] Year 2022

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Titel
Inhaltsverzeichnis
Danksagung
Raphael Gross und Daniel Wildmann — Einleitung
Andreas Kilcher — Zürich Transit: Szenarien der Passage. Kurt Hirschfeld und die Bedingungen des Exils in der Schweiz 1933 – 1945
Ursula Amrein — Humanistischer Realismus. Kurt Hirschfeld und das ‚andere‘ Deutschland im Schweizer Exil
Elisa Frank und Jacques Picard — Heimat Niemandsland? Kurt Hirschfeld zwischen Zürcher Exil und Domizil nach 1945
Werner Wüthrich — „This is Dr. Kurt Hirschfeld, chieftain of the courage Züricher Schauspielhaus . . .“ Bertolt Brecht, Kurt Hirschfeld und das Schauspielhaus Zürich – Eine Hommage
Julian Schütt — Dieses Gefühl der Unzugehörigkeit. Kurt Hirschfeld und Max Frisch
Wendy Arons — Das Zürcher Schauspielhaus als Welttheater – Kurt Hirschfeld als Weltdramaturg
Caroline Jessen — Bibliothek, Biografie und Geschichte. Kurt Hirschfelds Lektüren der Nachkriegszeit
Quellenanhang
Verzeichnis der Archive
Literaturverzeichnis
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Namensregister
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Weltbühne Zürich: Kurt Hirschfeld und das deutschsprachige Theater im Schweizer Exil
 9783161611636

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Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 82 unter Mitwirkung von

Michael Brenner  · Astrid Deuber-Mankowsky  ·  Sander Gilman Raphael Gross · Daniel Jütte · Miriam Rürup Stefanie Schüler-Springorum  ·  Daniel Wildmann (geschäftsführend) herausgegeben vom

Leo Baeck Institut London

Weltbühne Zürich: Kurt Hirschfeld und das deutschsprachige Theater im Schweizer Exil herausgegeben von

Raphael Gross und Daniel Wildmann

Mohr Siebeck

Raphael Gross ist Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum in Berlin. Daniel Wildmann ist Direktor des Leo Baeck Institute London und Senior Lecturer an der School of History, Queen Mary, University of London.

Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung Irene Bollag-Herzheimer. ISBN 978‑3‑16‑161162‑9 / eISBN 978‑3‑16‑161163‑6 DOI  10.1628 / 978‑3‑16‑161163‑6 ISSN 0459‑097X / eISSN 2569‑4383 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022  Mohr Siebeck Tübingen.  www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Gomaringen gesetzt und von Hubert & Co. in Göttingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Den Umschlag entwarf Uli Gleis in Tübingen unter Verwendung einer Fotografie von Rosemarie Clausen Hamburg (undatiert), © LBI New York. Printed in Germany.

Inhaltsverzeichnis Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Raphael Gross und Daniel Wildmann Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Andreas Kilcher Zürich Transit: Szenarien der Passage. Kurt Hirschfeld und die Bedingungen des Exils in der Schweiz 1933 – 1945 . . . . . . . . . .

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Ursula Amrein Humanistischer Realismus. Kurt Hirschfeld und das ‚andere‘ Deutschland im Schweizer Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Elisa Frank und Jacques Picard Heimat Niemandsland? Kurt Hirschfeld zwischen Zürcher Exil und Domizil nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Werner Wüthrich „This is Dr. Kurt Hirschfeld, chieftain of the courage Züricher Schauspielhaus . . .“ Bertolt Brecht, Kurt Hirschfeld und das Schauspielhaus Zürich – Eine Hommage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Julian Schütt Dieses Gefühl der Unzugehörigkeit. Kurt Hirschfeld und Max Frisch

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Wendy Arons Das Zürcher Schauspielhaus als Welttheater – Kurt Hirschfeld als Weltdramaturg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Caroline Jessen Bibliothek, Biografie und Geschichte. Kurt Hirschfelds Lektüren der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

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Inhaltsverzeichnis

Quellenanhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Archive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung Der vorliegende Band dokumentiert eine 2015 von den Leo Baeck-Instituten in London und New York im Schauspielhaus Zürich durchgeführte internationale Tagung zum Leben und Werk des Theaterintendanten Kurt Hirschfeld. Die Inspiration zu dieser Konferenz und ihre großzügige Finanzierung verdanken wir dem damaligen Präsidenten des Leo Baeck Institute New York, Bernard Blum, einem Neffen Kurt Hirschfelds. So ergab sich in dem Dreieck London – New York – Zürich eine dem Gegenstand angemessene internationale Diskussion um die Bedeutung Kurt Hirschfelds für deutsch-jüdische Geschichte und Kultur. Unser Dank gilt zunächst allen beteiligten Autoren und Autorinnen. Weiter möchten wir den Züricher Institutionen danken, die uns bei unserem Vorhaben unterstützt haben, insbesondere dem Schauspielhaus Zürich und dem Präsidialamt der Stadt Zürich. Dagmar Knellessen recherchierte in Archiven Materialien zur Vorbereitung der Tagung, die in verschiedener Weise in die vorliegenden Texte eingegangen sind. Kinga Bloch, Hans Christian Hönes und Mara Lachmann leisteten unverzichtbare Hilfe bei der Realisierung des Bandes. Christoph Leimbacher recherchierte Texte für die Lesung. Corine Mauch, der Stadtpräsidentin der Stadt Zürich, danken wir für ihr Grußwort. Peter Pulzer (LBI London) und Frank Mecklenburg (LBI New York) übernahmen die Moderation der Vorträge. Peter Haerle danken wir für die Unterstützung der Konferenz als Leiter der Kulturabteilung der Stadt Zürich. Gastgeber am Schauspielhaus Zürich war in großzügiger Weise die damalige Intendantin Barbara Frey. Ohne Bernard Blum wäre weder die Tagung noch dieser Sammelband entstanden. Ihm ist es daher zu verdanken, dass wir heute doch schon einiges über die Bedeutung von Kurt Hirschfeld wissen und hier dokumentieren können. Für die großzügige Unterstützung bei der Finanzierung der Druckkosten dieses Bandes danken wir der Stiftung Irene Bollag-Herzheimer. Raphael Gross und Daniel Wildmann

Einleitung Raphael Gross und Daniel Wildmann

Der Theaterintendant Kurt Hirschfeld prägte nicht nur das deutschsprachige Theater im Schweizer Exil, er zählte darüber hinaus auch zu den zentralen Persönlichkeiten deutsch-jüdischer Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die hier versammelten Beiträge dokumentieren erstmals die überragende Bedeutung, die dem Leben und Werk dieser vielschichtigen Person für das Verständnis der deutschsprachigen und internationalen Theaterwelt zwischen 1930 und 1965 zukommt. Den Züricher Transit-Raum dieser Biografie rekonstruiert Andreas Kilcher. In seinem Beitrag reflektiert er Kurt Hirschfelds Schaffen im Lichte der geopolitischen Erfahrung des Exils. Kilcher lokalisiert das Werk des Intendanten sowohl im literarischen Resonanzraum erzwungener Emigration als auch in den konkreten historischen Umständen des Exils in der Schweiz. Dabei bildet das Konzept des Transits sowohl in Anbetracht biografischer Erfahrung, literarischen Schaffens als auch im Kontext der Natur des ­Theaters per se einen Dreh- und Angelpunkt seiner Reflexionen. Im Spannungsfeld der vielschichtigen Dimensionen des Exils interpretiert Kilcher Hirschfelds Theater als „transitorischen Ort“ eines „bedrohten Daseins“ und erläutert, wie eben dieses Theater als „unbeständiges Medium dem Widerstand eine vielgestaltige und wandelbare Bühne bot“. Ursula Amrein nähert sich Hirschfeld im Rahmen des „anderen“ Deutschlands im Exil. Sie zeigt die historischen Gegebenheiten auf, mit denen sich Kurt Hirschfeld im Exil in der Schweiz konfrontiert sah. Amrein erläutert, wie zum einen eine rigide Einwanderungspolitik den Schaffensraum geflüchteter Intellektueller im Schweizer Exil prägte. Zum anderen zeigt sie in diesem Zusammenhang die Einzigartigkeit des Züricher Schauspielhauses als Exilbühne für das deutschsprachige Theater in der Zeit des Nationalsozialismus auf. Amrein rekonstruiert, wie diese Institution die Herausforderungen und Restriktionen der Zeit erfolgreich navigierte und somit eine zentrale Plattform für das deutschsprachige Exiltheater wurde. Elisa Frank und Jacques Picard fokussieren die Frage nach der „Heimat“ zwischen der Schweiz und Deutschland. In ihrem biografischen Artikel

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Raphael Gross und Daniel Wildmann

gehen sie der Frage nach, welche Heimaten für Kurt Hirschfeld im Züricher Exil der Nachkriegsjahre eine Rolle gespielt haben. Die Autoren beginnen ihre Analyse mit einer breit angelegten Reflexion über den Begriff Heimat. Hierbei zeichnen sie ein Bild des akademischen Diskurses zur spezifisch jüdischen Perspektive auf Heimat nach dem Holocaust und zeigen dabei auf, dass zum vollen Verständnis dieser Erfahrung ein modernes Konzept von Kultur herangezogen werden muss. Der theoretische Rahmen, über welchen die Autoren sich Kurt Hirschfelds Heimaten im Züricher Exil der Nachkriegsjahre nähern, basiert darauf, dass Heimat im Falle der jüdischen Exilanten zum Prozesshaften wird. Kurt Hirschfelds Heimat geht über das Geografische hinaus, sie umfasst gleichermaßen Menschen, Erinnerungen, Haltungen, Sehnsüchte, Sprache und, nicht zuletzt, auch Kultur. Am Beispiel Kurt Hirschfelds kommen die beiden Autoren zu dem Schluss, dass für die jüdische Generation der Exilanten Heimat nur noch portabel und mehr­ dimensional sein kann. Werner Wüthrich setzt sich mit dem komplizierten und doch produktiven Verhältnis zwischen Bertolt Brecht und Kurt Hirschfeld auseinander. Er zeigt, wie sehr sich beider Erfahrungsraum in der Schweiz ähnelte. Parallelen werden jedoch auch in ihrer Perspektive auf das Theater im Allgemeinen und auf spezielle Entwicklungen wie die erzwungene Schließung des Meyerhold-Theaters in Moskau beleuchtet. Darüber hinaus stellt Wüthrich dar, dass Kurt Hirschfeld eine Schlüsselfigur darin war, trotz anfänglicher Ablehnung in Zürich eine Plattform für Brechts Werk zu schaffen. Obschon ihre Zusammenarbeit nicht kontinuierlich verlief, waren beide Männer einander zeitlebens verbunden, was Wüthrich in seinen Reflexionen über Brechts Präsenz in Zürich zwischen 1938 und 1948 greifbar macht. Er belegt, wie fruchtbar und bedeutend die Zusammenarbeit der beiden sowohl in Zeiten des Nationalsozialismus als auch nach 1945 gewesen ist. Julian Schütt geht den Spuren der Freundschaft zwischen Kurt Hirschfeld und Max Frisch nach. Anhand ihrer Korrespondenz legt er dar, dass ihre Verbundenheit in einem Gefühl der Unzugehörigkeit verwurzelt war, welches sich signifikant in ihrer jeweiligen Schaffenstätigkeit niederschlug. Schütts Analyse folgt ihrem gemeinsamen Weg auf vielerlei Ebenen: im Theaterschaffen, persönlich, und auch politisch. Über Kurt Hirschfelds Beziehung zu Max Frisch erhalten wir einen Einblick in seine Persönlichkeit: Hirschfeld war Freund, Vertrauter und intellektuelle Anlaufstation für Frisch und damit Teil einer fruchtbaren Beziehung zwischen zwei außerordentlichen Denkern ihrer Zeit. Letzteres illustriert Schütt insbesondere anhand ihrer Zusammenarbeit bei der Uraufführung von Frischs Andorra am Schauspielhaus, welche beispielhaft verdeutlicht, dass Hirschfelds Umsichtigkeit und

Einleitung

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Eindringlichkeit die Voraussetzung und den Raum für diese Form von produktiver Gemeinsamkeit boten. Die Quelle dieses tiefen gegenseitigen Verstehens war ihr Gefühl der Unzugehörigkeit. Basierend auf einer quantitativen Analyse von Hirschfelds Nachlass, identifiziert Wendy Arons französische, britische und amerikanische Werke, die der Dramaturg selbst als wegweisend empfunden hat. Die Kanonisierung einer Vielzahl der Theaterstücke, die Hirschfeld nach Zürich importierte, belegt für Arons, dass Kurt Hirschfeld und das Schauspielhaus einen signifikanten Einfluss auf die deutschsprachige Theaterwelt nach 1945 ausübten. Nicht zuletzt spiegelt sich dies in den Impulsen wider, welche das Repertoire der Pfauenbühne dem von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt gab. Hirschfeld hat Zürich zum Welttheater gemacht und war selbst eine international einflussreiche Figur in der Entwicklung des Theaterschaffens während des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit. Sein Einfluss ging somit weit über den deutschsprachigen Raum und das Exiltheater ­hinaus. Entsprechend muss man Hirschfeld und seine Bühne auch als Weltdramaturgen an einer Weltbühne sehen. Caroline Jessen, deren Beitrag für diesen Band nachträglich verfasst wurde, nähert sich Kurt Hirschfeld über seine Lektüren an. Dabei erforscht sie nicht alleine den Literaturkonsum des Dramaturgen, sie zeigt anhand Hirschfelds Bibliothek vielmehr auch seine Kontakte, Perspektiven und auch die mitunter politischen Impulse auf, die der einflussreiche Intellektuelle der Literaturszene nach 1945 vermittelte. Sein Lektüreprofil wird dabei ebenso ausgeleuchtet, wie seine Lust am Austausch über Literatur. Jessen diskutiert hier, wie Hirschfeld sich im Spannungsfeld zwischen Kontinuität und Zäsur positionierte. Ein Anhang, der zwei bislang unpublizierte Originaltexte von Kurt Hirschfeld enthält, schließt sich an. Die Publikation der im Wesentlichen auf unserer Konferenz „Weltbühne Zürich: Kurt Hirschfeld (1902 – 1964) und das deutschsprachige Theater im Schweizer Exil“ basierenden Beiträge eröffnet einen facettenreichen Zugang zu einer bisher vergessenen zentralen Persönlichkeit der deutsch-jüdischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Das zeigt sich etwa in Kurt Hirschfelds Einfluss auf die Entwicklung der schweizerischen Literatur nach 1945. Welche Rolle er wiederum nach 1945 in der Bundesrepublik spielte, ist sicher noch weiter zu untersuchen.

Zürich Transit: Szenarien der Passage Kurt Hirschfeld und die Bedingungen des Exils in der Schweiz 1933 – 1945 Andreas Kilcher Theater und Transit (Zürich I) „Der Schauspieler ist freizügig. Er kann das Theater wechseln.“1 Mit diesem scheinbar beiläufigen Satz schrieb der 34‑jährige Dramaturg Kurt Hirschfeld im Jahr 1934 / 35 die Bahn des Exils in seine Analyse des Theaters im sowjetischen Moskau ein, über das er u. a. als Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung berichten sollte. Das damit angesprochene Trajekt des Exils ist bei genauerem Hinsehen doppelschichtig. Auf der primären Ebene des Spiels adressiert es eine theatrale „Existenz“, so die Zwischenüberschrift des Moskauer Manuskripts: die Existenz des Schauspielers. Flüchtig ist diese Existenz ex professo, insofern sie essentiell von einer Bühne auf die andere, von einem Ort zum anderen migriert. Der Schauspieler, so Hirschfeld, verfügt nicht souverän über seine Zeit und seinen Raum, vielmehr wird über ihn „disponiert, er muss immer bereit sein.“ Dementsprechend ist auch das vorgeführte Schauspiel stets flüchtig. Indem es nur für Momente Bestand haben kann, „geht“, so Hirschfeld, der Schauspieler förmlich „in der Luft seines Stücks [. . .] auf “.2 Dass die „Theaterpolitik der Sowjets“ jener genuinen theatralen Zeit- und Ortlosigkeit vermittels Langzeitstellen eine artifizielle Territorialisierung bewusst entgegenhalten wollte, schien dem exilierten Hirschfeld offensichtlich ein geradezu utopischer Gegenentwurf zu seiner eigenen historischen Realität zu sein: derjenigen des Exils. „Die Bedingungen, unter denen alle diese [sowjetischen] Theater arbeiten, sind allerdings für den westlichen

1   Kurt Hirschfeld, Die Existenz des Schauspielers, Moskau ca. 1934. Leo Baeck Institute New York, Kurt Hirschfeld-Collection, Series 10, Box 7, folder 10 / 1 „Soviet Theatre“, 59 (= Hirschfeld, Existenz des Schauspielers). 2  Hirschfeld, Existenz des Schauspielers, 59.

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Theaterfachmann märchenhaft und fast unbegreiflich.“3 Dessen ganz andere Bedingungen sind eben diejenigen des Exils, so im Fall Hirschfelds. Nach Moskau kam Hirschfeld bereits über exilische Umwege. Nachdem er bei der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten das Hessische Landesthea­ter in Darmstadt hatte verlassen müssen, wo er kurz zuvor als Dramaturg debütiert hatte, konnte er zunächst im Mai 1933 am Schauspielhaus Zürich unter Ferdinand Rieser weiterhin als Dramaturg arbeiten. Doch nach Differenzen mit jenem ging er 1934 von Zürich nach Moskau, wo er als Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung sowie als Assistent des russischen Theaterregisseurs Vsevolod Meyerhold arbeitete, bevor er 1938 wieder an das Zürcher Schauspielhaus unter der neuen Leitung von Oskar Wälterlin zurückkehrte. An dessen Neuformation als „Schauspielhaus AG“ mit einem Ensemble, in dem zu einem beträchtlichen Teil Flüchtlinge aus NS‑Deutschland arbeiteten und auch Stücke der Verfolgten aufgeführt wurden (u. a. Else LaskerSchüler, Ferdinand Bruckner, Bertolt Brecht), wirkte Hirschfeld wesentlich mit. Darauf bezog sich auch die 1945 erschienene Schrift Theater. Meinungen und Erfahrungen, die im Rahmen der „Flüchtlingszeitschrift“ Über die Grenzen – Dokumente des geistigen Schaffens der Emigranten in der Schweiz erschienen war, mit Beiträgen von Therese Giehse, Ernst Ginsberg, Wolfgang Heinz, Kurt Hirschfeld, Kurt Horowitz, Leopold Lindtberg, Teo Otto, Karl Paryla, Leonard Steckel und Oskar Wälterlin. In seinem Beitrag „Dramaturgische Bilanz“ der vergangenen zwölf Jahre der „Emigration“ macht Hirschfeld nicht nur deutlich, dass dieses einzige unkorrumpierte deutschsprachige Theater in einem politischen Umfeld von Verfolgung, Flucht und Krieg bestand, sondern dass es diesem entschieden auch etwas entgegenstellte: Ihre für uns entscheidende Grundhaltung war die Kampfstellung gegen den Faschismus in allen seinen Spielarten, war das Ethos, das materiale Lebenswerte enthielt, die das Theater wieder zur ‚moralischen Anstalt‘ machten. Das Theater und seine Schauspieler durften wieder fühlen und wissen, daß sie durch Interpretation solcher Texte sinnvolle Arbeit leisten konnten, daß sie da waren zur Unterstützung des Menschen im Kampf um die innere Existenz. Sie durften klärend wirken in der politischen, ethischen, religiösen Problematik. Sie konnten beitragen zur Rettung und Bereicherung des bedrohten Daseins.4 3  Hirschfeld, Existenz des Schauspielers, 62 (aus dem Text „Moskauer Theater-Festspiele 1934“). 4   Kurt Hirschfeld, Dramaturgische Bilanz, in: Theater. Meinungen und Erfahrungen. Von Mitgliedern des Zürcher Schauspielhauses: Th. Giehse, E. Ginsberg, W. Heinz, K. Hirschfeld, K. Horowitz, L. Lindtberg, T. Otto, K. Paryla, L. Steckel u. O. Wälterlin, Affoltern am Albis 1945, 12 f.

Zürich Transit: Szenarien der Passage

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In den zwölf Jahren der Verfolgung und der Emigration bis 1945 machte Hirschfeld das Theater zum historisch-politischen wie biografisch-existentiellen transitorischen Ort eines „bedrohten Daseins“. Gerade als denkbar unbeständiges Medium, mit seiner essentiell transitorischen Szenografik bot es dem Widerstand eine vielgestaltige und wandelbare Bühne.

Literarische Metamorphosen des Exils (Zürich II) Unter der Voraussetzung des Exils standen 1933 freilich nicht nur das Thea­ ter, sondern auch seine Schwestergattungen der Lyrik und der Prosa – mithin das literarische Schreiben überhaupt all jener, für die das NS‑Deutschland zu einem unmöglichen Ort wurde und zugleich die Unmöglichkeit von Orts- und Sesshaftigkeit zur neuen Normalität des Exils. In der Verhandlung und Verarbeitung dieses Dispositivs wurden Orte der Verwirrung und Vertreibung zu Szenografien eines neuen Exils, zeitgenössische wie geschichtliche und vorgeschichtliche Orte, an denen sich dieses neue Exil spiegeln ließ. Babylon beispielsweise tauchte auf, die mythische Stätte von Zerstreuung, an der in biblischer Vorzeit ein Gott die Sprachen der Menschen verwirrte (Gen 11.9), die historische Stätte aber auch einer antiken Diaspora, in die die Juden Palästinas 597 v. Chr. nach der Eroberung ihres Königreiches durch Nebukadnezar II. verbracht wurden. Mit biblischem Pathos beschrieb etwa der Münchner Trabant Stefan Georges Karl Wolfskehl in einer Reihe von Gedichten unter dem Titel Die Stimme spricht den neuerlichen „Aufbruch“ im Jahr 1933, Gedichte, die nach seiner Flucht in der Nacht des Reichstagsbrands am 28. Februar 1933 aus München über Basel in Meilen am Zürichsee, im Tessin und in Rom entstanden und vor allem in zwei Arbeitsheften aus den Jahren 1933 – 1934 überliefert sind.5 Die im Sommer und Herbst 1934 gemeinsam mit Margarete Susman wiederum in Meilen zusammengestellte, Anfang September über Martin Buber an den Schocken Verlag in Berlin übermittelte und im Oktober in 4000 Exemplaren gedruckte Gedichtauswahl enthielt Titel wie „Aufbruch“, „Ausfahrt“ und „Wir ziehn“, in denen jenes neue Exil eindringlich beschrieben ist: „Fraget nicht wohin? / Wir ziehn / Wir ziehn, so ward uns aufgetragen / Seit Ur-Urvätertagen. / Abram zog, Jakob zog, / Alle zogen, / Zogen ins Land, zogen vom Land. [. . .] Wieder drängt Er uns, / Wieder verhängt Er uns / Seinen ewigen Fug: / Den Weiterzug, / Den Weiterzug.“6 5   Vgl. Friedrich Voit, Karl Wolfskehl. Leben und Werk im Exil, Göttingen 2005, 101 – 105; 632 f., Anm. 18. In Meilen lebte Wolfskehl bei dem Orientalisten Gerbrand Dekker und seiner Frau. 6   Karl Wolfskehl, Die Stimme spricht, Berlin 1935, 38.

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Weitaus weniger stilsublim und pathoserfüllt als Wolfskehls biblische Exilgesänge „An den Alten Wassern“, wie ein unter dem Vorzeichen des Zionismus bereits um 1900 entstandener lyrischer Zyklus überschrieben ist („Wo die Alten Wasser flossen / Helle morgenblitze blinken“),7 sondern vielmehr ausdrücklich profanierend und selbstironisch ist sodann jenes Babylon, das Alfred Döblin 1933 fast zu derselben Zeit und fast an demselben Ort beschrieben hatte: Wie Wolfskehl floh Döblin unmittelbar nach dem Reichstagsbrand am 28. Februar 1933 aus Berlin, nachdem er vor seiner drohenden Verhaftung gewarnt worden war, über Kreuzlingen nach Zürich. In der überfüllten Studentenpension am Zürichberg, wo er wohnte, ließ es sich nicht arbeiten, und so saß er in den folgenden Monaten bis September 1933 – unerkannt – lesend und schreibend im Lesesaal der Zürcher Zentralbibliothek, umgeben von Büchern und Nachschlagewerken. Während ihm die Arbeit als Arzt behördlich untersagt war, schrieb er in der Bibliothek an einem höchst ungewöhnlichen Roman. Ungewöhnlich war dieser nicht nur in der Gelehrtheit, denn die Bücherwelt um Döblin floss in zahlreichen Zitaten und intertextuellen Bezügen in den enzyklopädischen Text ein, der mit Berlin Alexanderplatz (1929) auch das gleichsam nomadische Verfahren der Montage teilt. In den Roman gingen aber auch die Erfahrungen und Deutungen des Exils mit ein, wie schon der Titel Babylonische Wandrung nahelegt und die Zeichnungen von P. L. Urban zeigen. Erzählt wird die tragikomische Geschichte des alten babylonischen Gottes Marduk sowie zweier seiner Götterkollegen, die buchstäblich aus dem alten Himmel in die gegenwärtige götterferne Menschenwelt hinabfallen und – nun als Götter im Exil – durch das verfallene Babylon und von da aus über die weite Welt vom Orient in den Okzident wandern: über Bagdad und Konstantinopel u. a. bis nach Zürich und Paris. Die europäischen Stationen dieser Wanderung legen nahe, dass Döblin hier zugleich auch seine eigene Exil-Erfahrung beschrieb. Die Konvergenz von Schreibprozess und Exilerfahrung, von beschriebener und schreibender „Wanderung“ bestätigte er 1933 dem befreundeten, ebenfalls in die Schweiz emigrierten Journalisten Ferdinand Lion aus der Zentralbibliothek Zürich, indem er in einer nomadischen Poetik das Exil faktisch zum Kompass des Schreibens erklärte: „Eine große Hälfte ist überwunden, ich bin in Konstantinopel, und je nach dem Ort, an dem ich lande (ich meine real), wird das Buch enden in Berlin, Zürich, Paris, London, Straßburg. 75 % stehen auf Paris.“8 Tatsächlich zog Döblin im Herbst 1933 von Zürich wei7

  Karl Wolfskehl, Gesammelte Dichtungen, Berlin 1903, 127.   Alfred Döblin u. Ferdinand Lion, 28.4.1933, in: Heinz Graber (Hg.), in: Alfred Döblin, Briefe, Olten / Freiburg i. Br. 1970, 179. 8

Zürich Transit: Szenarien der Passage

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ter nach Paris, wo er den Roman, nunmehr in der Bibliothèque nationale, vollendete und die Geschichte auch enden ließ. Diesen Zusammenhang von Literatur und Exilerfahrung bestätigte Döblin auch im Nachhinein: „Es wurde mir erst beim Schreiben dieser babylonischen Wandrung klar: es war das Gefühl meiner eigenen verlorenen Situation“.9 Dennoch besteht der Gegenstand des Romans nicht so sehr in der historisch-biografischen Erfahrung des aktuellen Exils, sondern vielmehr in deren übertragener Deutung. Der Roman ist kein Geschichtswerk, sondern ein Erzählwerk. Die Historie ist in einer Story dargestellt, umgestellt, gebrochen, gedeutet. Das leistet schon die überraschend komische Disposition des Romans. Das Exil als Abstieg des „babylonisch-chaldäisch-assyrischen Weltherrschers, Besieger von und so weiter“10 in die Menschenwelt hat seine komische Logik, seinen Witz in der Profanierung des Sublimen. „Ein Umzug in meinem Alter“,11 lamentiert der vormals mächtige Schöpfergott Marduk, der nun unter dem gewöhnlichen Namen Konrad den elementaren Bedürfnissen des körperlichen Lebens in Raum und Zeit ausgesetzt ist: essen, wohnen, arbeiten – und das heißt: überleben in der Fremde, also die Lebens­ realität des Exils schlechthin. Gewissermaßen als Soziopsychologie des Exils werden die existentiellen Bedürfnisse thematisiert, auf die Flüchtlinge umso mehr zurückgeworfen sind, als sie nicht mehr zu befriedigen sind. Die komische Profanierung des Romans besteht in eben dieser Fixierung auf die Primärbedürfnisse des Lebens im Moment ihrer Not. Diese soziopsychologische Interpretation des Exils in Döblins Exilroman ist allerdings nur die naheliegendste. In eine ganz andere Richtung zielt eine überraschende physikalische Erklärung des Exils. So begründet Konrads Begleiter im Exil, der mephistophelische „Untergott“ Georg, den Fall in die Welt und durch diese hindurch, wie er sagt, „streng wissenschaftlich“, genauer mit Newtons Axiomata, den Bewegungsgesetzen, insbesondere mit dem zweiten Gesetz, das den Zusammenhang zwischen Kraft und Bewegungsänderung benennt (Kraft gleich Masse mal Beschleunigung): „Es verläuft alles streng wissenschaftlich“, erklärt Georg Konrad: „Jeder sich selbst überlassene Körper, der also keiner Kraft unterworfen ist, bewegt sich entweder geradlinig und mit konstanter Geschwindigkeit oder bleibt in Ruhe. Denn mutationem motus proportionalem esse vi motrici impressae et fieri secundum lineam rectam, qua vis illa imprimatur. Das ist lateinisch und  9

  Alfred Döblin, in: Ders., Schicksalsreise. Bericht und Bekenntnis, hg. v. C. Althen, Frankfurt a. M. 2014, 351. 10   Alfred Döblin, Babylonische Wandrung, hg. v. W. Muschg, Olten 1962, 12 (= Döblin, Babylonische Wandrung). 11  Döblin, Babylonische Wandrung, 29.

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heisst auf deutsch: die Bewegungsänderung ist proportional der wirkenden Kraft und hat mit ihr die gleiche Richtung [. . .].“12 Diese physikalische Ratio­ nalisierung hebt das Exil auf die Ebene eines Naturgesetzes. Kein blinder Irrgang ist das Exil, sondern eine natürliche und notwendige Bewegungsfolge von Körpern in Raum und Zeit. Diese Physik des Exils findet in Gesprächen mit einem Theologiestudenten in Zürich ihren wohl größten Gegensatz: in einer Theologie des Exils. Nicht zufällig ist diese Deutung im Zwinglianischen Zürich angesiedelt. Befeuert auch von spirituellen Getränken in Gaststätten, konfrontiert der Zwinglianer den sinnenfreudigen „heidnischen“ Gott in Menschenkörpergestalt mit einer dieser aufschreckenden christlichen Deutungen des Exils: das Leben überhaupt als Irrweg der erbsündigen Adamssöhne, aus dem nur Buße helfe. Sein Fall wird ihm so als urmenschlicher Sündenfall vorgehalten, sein Exil als Ausdruck von Sündhaftigkeit, wie der Student auf Konrads entsetzte Rückfrage: „‚Verflucht sind wir? Alle?‘“ unterstreicht: „‚Alle! Mit Adam und Eva. Unstät und flüchtig sollst du sein. Das liegt über uns. Wir haben zu büßen.‘“13 Konrad kann diese theologische Deutung freilich nicht aufnehmen, ohne sie zugleich zu verlachen, wenn er etwa zurückfragt: „Wie verteilen sie Sündigen und Bereuen und Sport über den Tag?“ Dennoch versetzt ihn diese Theologie des Exils in eine Depression, die allerdings wiederum durch eine komische Profanierung entschärft wird, indem die Theologie Zwinglis überhaupt als Effekt des wochenlangen Regenwetters in Zürich erklärt wird. Unter den Deutungsangeboten des Exils in Döblins Babylonischer Wandrung zielt der Roman schließlich auf ein weiteres, ein kosmologisches. Wenn der babylonische Schöpfergott auf seiner ungewöhnlichen Bildungs- und Irrfahrt durch die Welt zunehmend lernt, dass die gesamte Weltgeschichte eine Art Babylonische Wanderung ist, dass mithin nichts gesichert und gegeben, sondern alles in Bewegung und im Wandel ist, so zielt dies auf eine Art kosmisches Exil-Gesetz: das Walten einer „Hin- und Herbewegung“, wonach der ursprünglich mit der Welt vereinte Mensch aus der Ursubstanz – wie Konrad – förmlich herausfällt und sich mit der Lebensaufgabe konfrontiert sieht, zu einer Form von Einheit zurückzufinden, wie Döblin unmittelbar davor auch in seinem Essay Unser Dasein (1933) ausgeführt hatte. Wenn Konrad am Ende erkennt: „Es war eine lange, aber ergiebige Reise!“, dann weil dem Fall eines Herrschers am Ende die Rückkehr eines Verwandelten entgegensteht: „sein Aufstieg zu einem armen Menschen“14. 12

 Döblin, Babylonische Wandrung, 36.  Döblin, Babylonische Wandrung, 517. 14  Döblin, Babylonische Wandrung, 527. 13

Zürich Transit: Szenarien der Passage

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An Döblins Babylon-Roman bestätigt sich, was sich an Hirschfelds Konzeption des Theaters als Raum des Transit 1933 abzeichnete: Dass das Exil stets doppelt verstanden werden kann: auf der Ebene geschichtlicher Ereignisse – der Historie – sowie auf derjenigen ihrer vielgestaltigen Deutung und Verwandlung – der Literatur. Die Ebene der Historie erscheint bei D ­ öblin poetisch in die Szenografie einer altorientalischen Götterwelt verschoben und verwandelt, ohne aber dort zu verweilen, indem eben diese sich initial an den profanen Bedingungen eines im wörtlichen Sinne gefallenen Lebens an zeitgenössischen realen Exilorten wie Paris und Zürich bricht. Die Konfrontation von Mythos und Geschichte im Roman bildet dabei eine komische Fallhöhe aus, ein Spiel, das das Exil indirekt thematisiert und zugleich auch ironisiert.

Historisch-politische Konditionen des Exils (Zürich III) Nichtsdestoweniger – oder erst recht – stellt sich damit auch die Frage nach dem historischen Exil jenseits jener literarisch-szenografischen Inszenierungen, nach den geschichtlichen Gegebenheiten und Bedingungen des Exils an historischen Orten wie Zürich bzw. der Schweiz insgesamt. Erste Hinweise darauf können Darstellungen von Vertriebenen geben, etwa Klaus und Erika Mann,15 die in ihrem gemeinsamen Exilbuch Escape to Life (1939) das Leben im Exil zwar generell beschrieben, zugleich aber auch auf die spezifische Lage in der Schweiz anspielten: [Im Grunde] haben alle Emigranten in allen europäischen Ländern drei grosse Lebensaufgaben, drei Pflichten, denen sie nachkommen müssen, wollen sie nicht an Hitler ausgeliefert werden. Diese Pflichten heissen: (1) nicht arbeiten, (2) nicht der öffentlichen Wohlfahrt zur Last fallen, (3) und vor allem nicht bleiben.16

Tatsächlich waren die Bedingungen in den europäischen Exilländern sehr unterschiedlich.17 Mit der ersten Flüchtlingswelle 1933 flohen die meisten der aus Deutschland Vertriebenen in unmittelbar angrenzende Länder wie Frankreich, die Tschechoslowakei, die Schweiz, Österreich, Luxemburg, die 15   Während Klaus Mann zunächst vor allem die Literatur-Zeitschrift Die Sammlung edierte, setzte Erika Mann u. a. im Hotel Hirschen mit Therese Giehse ihr zuvor in München aufgebautes Programm der „Pfeffermühle“ fort. 16   Klaus und Erika Mann, Escape to life. Deutsche Kultur im Exil, München 1994, 14. 17   Vgl. den 2002 erschienenen Bericht der „Unabhängigen Expertenkommission zur Untersuchung der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg“. https://www.uek.ch / de / index. htm

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Niederlande und Belgien. Bis zum Herbst 1933 kamen rund 2000 Flüchtlinge in die Schweiz; bis Ende 1938 waren es 10.000 und bis zum Waffenstillstand am 8. Mai 1945 115.000, davon rund die Hälfte internierte Soldaten.18 Im Jahr 1933 waren unter ihnen rund 2500 bis 3000 Schriftsteller (was 15 % aller geflohenen Schriftsteller entspricht), neben Döblin, Wolfskehl und den Manns etwa Albert Ehrenstein, Else Lasker-Schüler, Ernst Bloch, Efraim Frisch, Max Herrmann-Neiße, Wilhelm Herzog, Arthur Holitscher, Ernst Toller, Margarete Susman und Hans Henny Jahnn, um nur einige weitere Namen zu nennen. Im Vergleich dazu gelangten rund 21 % der Schriftsteller nach Frankreich, 12 % nach Großbritannien und 9 % in die Tschechoslowakei. Eine zweite große Flüchtlingsgruppe kam 1938 / 39 nach den Novemberpogromen und dem sogenannten ‚Anschluss‘ Österreichs sowie der Besetzung und Aufhebung der Tschechoslowakei. Gleichzeitig sahen sich eine Reihe von kleineren neutralen Staaten wie die Niederlande, Belgien, Dänemark und die Schweiz unter zunehmendem Druck des expandierenden NS‑Deutschland, wobei sie diesen Druck an die Flüchtlinge weitergaben. Zu dieser Zeit kamen wiederum auch Schriftsteller in die Schweiz, unter ihnen Robert Musil, Fritz Hochwälder, Georg Kaiser, Alexander Roda Roda, Felix Salten, Friedrich Torberg, Hans Weigel, Carl Zuckmayer und Selig Schachnowitz. Eine dritte Emigrationsbewegung setzte nach dem Ausbruch des Krieges ein, insbesondere mit dem Einmarsch der Wehrmacht in die Niederlande, Dänemark und Frankreich im Sommer 1940. Dies zwang die dorthin geflohenen Exilanten zur neuerlichen Flucht – manche über Südfrankreich – vor allem nach Übersee, in die Staaten von Nord‑, Mittel- und Südamerika, nach Australien und Neuseeland. Gleichzeitig begannen die Deportationen der Juden aus Polen sowie 1941 in Deutschland, während für die verbliebenen Juden die Flucht spätestens mit dem Beschluss der „Endlösung der Judenfrage“ auf der Wannsee-Konferenz am 2. Januar 1942 zunehmend unmöglich wurde. Obwohl die Schweiz die Einreisebestimmungen nochmals verschärfte, kamen auch in dieser Phase des Exils Flüchtlinge ins Land, während umgekehrt seit 1938, auch unter dem Eindruck des expandierenden NS‑Deutschland, nicht wenige Exilanten die Schweiz verließen, u. a. nach Übersee und Palästina. 18   Insgesamt beherbergte die Schweiz, so die Zusammenfassung des Berichts, „während des Zweiten Weltkriegs während kürzerer oder längerer Zeit insgesamt knapp 300 000 Schutzsuchende. Darunter fallen jedoch so unterschiedliche Kategorien wie internierte Militärpersonen (104 000), temporär aufgenommene Grenzflüchtlinge (67 000), Kinder auf Erholungsurlaub (60 000), Zivilflüchtlinge (51 000), Emigranten (10 000) und politische Flüchtlinge (250).“ http://www.uek.ch / de / index.htm

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Die ab 1938 globalisierte Emigration ist der Gegenstand eines bemerkenswerten Nachschlagewerks, eines der letzten in Deutschland gedruckten jüdischen Bücher überhaupt: des Ende 1938 erschienenen Philo-Atlas, Handbuch für jüdische Auswanderung, so der Untertitel. Die Räume der deutschen Juden erscheinen hier nicht etwa als Lebensorte, sondern als Kartografie der Flucht. In diesem Atlas war die Schweiz mit ihren spezifischen flüchtlingspolitischen Bedingungen ein schwieriger Ort. Im Philo-Atlas wird sie als dasjenige Land vorgestellt, das bis 1938 „die mit Abstand härtesten Vorschriften“19 für bzw. gegen die Flüchtlinge erlassen hatte. Grundsätzlich betrieben alle Länder eine mehr oder weniger restriktive Flüchtlingspolitik; die Unterschiede waren graduell. Die von den Mann-Geschwistern genannten Restriktionen von Arbeitsmöglichkeit, politischer Tätigkeit und Aufenthaltsdauer waren überall die zentralen bürokratischen Mittel der Eindämmung der Einwanderung. Frankreich etwa verlangte ein Visum und vergab Quoten für ausländische Arbeitskräfte, verunmöglichte aber nicht Erwerbstätigkeit. In Großbritannien wiederum musste zu einem Visumantrag für Einwanderer eine Arbeitserlaubnis mitgeliefert werden. Das PhiloLexikon kommentiert dazu: „Aussichten vor allem für Industrielle mit Kapital [. . .] und weibliches Hauspersonal“20. Erkennbar weniger Restrik­tionen bestanden in den Niederlanden, die keine Visumspflicht hatten und Arbeit ermöglichten, sowie in der Tschechoslowakei; Prag wurde zu einer der wichtigsten Destinationen in der ersten Phase des Exils. Bis 1939 kamen rund 10.000 Exilanten nach Prag und Umgebung. Auffallend war die liberale Haltung der jungen Republik unter der Präsidentschaft des Philosophen Tomáš Masaryk – auch gegenüber Sozialisten und Kommunisten. So kamen namentlich Linksintellektuelle nach Prag, unter ihnen Schriftsteller wie Ödön von Horváth, Wieland Herzfelde und Bertolt Brecht. Hier formierte sich die kommunistische antifaschistische Opposition gegen Nazideutschland, und hier ließen sich der sozialdemokratische Parteivorstand sowie die Auslandsvertretung der deutschen Gewerkschaften nieder. In der Tschechoslowakei wurden nicht nur zahlreiche Exilzeitungen gedruckt, die in andere Exilländer verschickt wurden, sondern auch antifaschistische Tarnschriften und Flugblätter, die über die Grenze nach Deutschland geschmuggelt wurden. Und nicht nur Schriften wurden nach Deutschland geschmuggelt, sondern auch Flüchtlinge aus Deutschland aufgenommen. In seltenen Fällen wurden sie aufgehalten: Die tschechischen Behörden setzten liberale Einrei19

  Hans-Albert Walter, Europäisches Appeasement und überseeische Asylpraxis (Deutsche Exilliteratur 1933 – 1950, Bd. 2), Stuttgart 1984, 165 (= Walter, Europäisches Appeasement). 20   Philo-Atlas, Berlin 1938, 75 f.

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sebestimmungen. Eine Visumspflicht bestand nicht. Der Besitz eines gültigen Reisepasses genügte, um sich in der Tschechoslowakei aufzuhalten. Aber auch passlose Flüchtlinge konnten um Aufenthaltsbewilligung ersuchen, selbst wenn sie illegal einreisten. Kein Flüchtling, der aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen verfolgt wurde, sollte an Deutschland ausgeliefert werden. Politische Tätigkeit, so lange sie gegen Deutschland gerichtet war, duldete die Regierung. Schon diese knappe Skizze macht die Unterschiede zur Schweiz deutlich; sie waren auch den Zeitgenossen klar, wie zwei allerdings sehr unterschiedliche Beispiele zeigen: der Vorstand der SPD sowie Thomas Mann. Als der SPD-Vorstand 1938 gezwungen war, ein neues Asyl zu suchen – er sollte den Sitz nach Paris verlegen –, beurteilte er das fünfjährige Exil in der tschechoslowakischen Republik höchst positiv, um dagegen u. a. die Schweiz zu halten: Es muss hervorgehoben werden, dass sich das Verhalten der Tschechoslowakischen Republik von dem Verhalten der Regierungen anderer Nachbarländer Deutschlands vorteilhaft unterschied. Das gilt vor allem für die Schweiz und die Niederlande, die sich auf den Standpunkt stellten, dass jede politische Tätigkeit der Emigranten zu unterbinden sei, weil sie die Beziehungen zu dem großen und mächtigen Nachbar störe [. . .]. Wir haben dieses freiheitliche Land mit dem Gefühl tiefer Dankbarkeit für die uns gewährte Gastfreundschaft verlassen.21

Ganz anders zog Thomas Mann den Vergleich zur Schweiz, als er im Januar 1935 vom Züricher Exil aus auf eine Vortragsreise nach Prag, Brünn, Wien und Budapest fuhr. In Prag entstand u. a. sein Gruß an Prag, eine Laudatio an den offenen Exilort. Nicht zufällig wurde Thomas Mann im November 1936 auf seinen Antrag hin die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft verliehen (wie übrigens auch seinem Bruder Heinrich Mann, der sich vor allem in Nizza aufhielt, aber auch in Prag und Zürich weilte). Im Gruß an Prag stellte Thomas Mann die tschechoslowakische Republik als Vielvölkerstaat jedoch nicht gegen, sondern vielmehr neben die Schweiz, von der er hier sehr positiv als „mein Land“ spricht: In einer Zeit wie dieser, wo sich die Absonderung der Völker mehr und mehr in einer, wie ich gerade aus meinem deutschen Kulturgefühl heraus meine, unglücklichen Weise versteift, ist es die Aufgabe derer, die an die Notwendigkeit eines einträchtig zusammenwirkenden Europas glauben, diesen Gedanken hoch zu halten und für ihn einzustehen. Und eine Vortragsreise wie die, welche ich gerade absolviere, sei sie auch eines rein geistigen, künstlerischen, literarischen Charakters, hat 21

 Walter, Europäisches Appeasement, 18.

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immer doch den tiefern Sinn und die höhere Funktion, eine Berührung der Kultursphären herbeizuführen und damit auf eine zwar leise und indirekte, aber keineswegs unwirksame Weise die Annäherung der Völker und Volksgeister zu fördern. Sie wissen vielleicht, dass ich seit einiger Zeit in der Schweiz lebe, aus Sympathie für den friedliebenden Charakter dieses Landes, den es sich hoffentlich unter dem Druck und Ansturm einer verworrenen Zeit wird bewahren können, Ein Völkerstaat aber wie die Schweiz, in dem verschiedene Volksteile friedlich unter demselben staatlichen Dach zusammenwohnen, und ein Pfeiler der demokratisch-europäischen Staats- und Weltgesinnung ist auch die Tschechoslowakei unter ihrem ehrwürdigen Präsidenten, dessen Gestalt in der Tat das Ideal eines modernen Staatsoberhauptes erfüllt [. . .].22

Manns positive Beurteilung der Schweiz ist auch dem Umstand zu verdanken, dass er einen gegenüber den meisten Schriftstellerkollegen privilegierten Status genoss, indem ihm als einem der ganz wenigen Flüchtlinge eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung erteilt wurde. So erhielt er Ende 1933 zuerst eine befristete, später eine verlängerte Bewilligung der Fremdenpolizei nicht nur zur „Wohnsitznahme in der Gemeinde Küsnacht“, sondern auch zur „Betätigung als freier Schriftsteller“.23 Die allgemeine fremdenpolizeiliche Regelung sah jedoch anders aus. Im Philo-Atlas heißt es zur Schweiz: Grenzbehörden haben weitgehende Befugnis, Einreise Unerwünschter zu verhindern. Jeder in die Schweiz einreisende Ausländer hat sich innerhalb 8 Tagen nach Einreise anzumelden. Einwanderer müssen zugleich Gesuch um Aufenthaltsbewilligung einreichen, das befristet vergeben wird und das Recht verleiht, sich in einem bestimmten Kanton aufzuhalten. [. . .].24

Und mit Verweis u. a. auf Arbeitsgenehmigung steht lakonisch: „Wenig Möglichkeiten“. Tatsächlich sollte die Schweiz nach dem Willen der Behörden bestenfalls ein Durchgangsland sein. Nachdem der liberale Bundesrat Numa Droz im Jahr 1888 das Asylrecht noch als „eines der wertvollsten Souveränitätsrechte“ hochgehalten hatte, waren die Schweizer Behörden nach 1933 von einer grundsätzlich abwehrenden Haltung gegenüber den Flüchtlingen aus Deutschland geleitet. Schon Ende März 1933 antworteten die Schweizer Behörden auf den zunehmenden Flüchtlingsstrom mit Weisungen, die ein „Festsetzen“ in der Schweiz verunmöglichen sollten. Der Aufenthalt wurde nur für kurze Fristen von teils wenigen Monaten vergeben, wobei die Emi22

  Thomas Mann, Gruss an Prag, in: Ders., An die gesittete Welt. Politische Schriften und Reden im Exil, hg. v. P. de Mendelssolm, Frankfurt a. M. 1986, 124 f. 23   Vgl. Thomas Sprecher, Deutscher, Tschechoslowake, Amerikaner, in: Thomas Mann Jahrbuch 9 (1996), hier: 308. 24   Philo-Atlas, Berlin 1938, 174.

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granten immer neu um eine Verlängerung kämpfen mussten, wollten sie bleiben. Hinzu kam das Verbot jeglicher Erwerbstätigkeit, das u. a. auch der Schweizer Gewerkschaftsverbund forderte. Analog sah die Lage für Schriftsteller aus, deren Tätigkeit nicht nur durch die allgemeinen Weisungen der Fremdenpolizei eingeschränkt war, sondern zudem auch durch die lokalen Schriftstellerkollegen des „Schweizer Schriftstellervereins“. Dieser Vertreter der „Geistesarbeiter“ in der Schweiz, so sein Selbstverständnis, kooperierte nach 1933 mit der Fremdenpolizei. Er half bei der Prüfung der Asylanträge mit Gutachten, von denen 121 erhalten sind und manche negativ ausgefallen waren. Nicht bekannte Namen wie Thomas Mann, sondern vor allem die weniger bekannten wurden negativ begutachtet. Man wolle, so die Begründung, nicht „die kleinen Zeilenschreiber, [. . .] die verantwortungs- und charakterlosen Skribenten, die weder zu den Prominenten noch zu den politisch Verfolgten zu zählen sind, und die in die Schweiz kommen, weil sie glauben, hier ein etwas bequemeres Leben führen zu können.“25 De facto aber hatten auch bekannte SchriftstellerInnen wie Else LaskerSchüler mit der Fremdenpolizei zu kämpfen: Am 19. April 1933 floh sie von Berlin nach Zürich, nachdem sie im Völkischen Beobachter attackiert und Anfang 1933 auf offener Straße von „Nacis“ tätlich angegriffen worden war. „In Berlin war es für mich aus“26, schrieb sie wenige Tage nach Ihrer Ankunft in Zürich an Thomas Mann. Nach ihrer verspäteten Anmeldung musste sie der Fremdenpolizei am 14. November 1933 eine Erklärung unterschreiben, wonach ihr „die Erwerbstätigkeit als Dichterin (. . .) bis auf weiteres verboten“ sei; „im Falle der Zuwiderhandlung“ drohte eine „Busse bis 2000 Fr.“ Nicht nur das: Die Fremdenpolizei ließ sie durch einen „Kontrolldetektiv“ überwachen, nachdem sie im Juni 1933 gegen Honorar einen Vortrag gehalten und in der NZZ einen Text veröffentlicht hatte. Ihre Hoffnung blieb, sich wenigstens durch den Verkauf von Bildern versorgen zu können. Im Oktober 1934 stellte sie daher einen Antrag, Bilder an Personen schenken zu dürfen, die sie finanziell unterstützten. Die Fremdenpolizei jedoch lehnte auch dies mit der Begründung ab, „dass dies einer Erwerbstätigkeit gleichkäme“. Mehr noch: Sie zog eine erniedrigende Schlussfolgerung: „Die weitere Anwesenheit der Petentin ist weder notwendig noch erwünscht und stellen wir Antrag auf Verweigerung weiterer Aufenthaltsbewilligung.“ Damit war 25

  Vgl. Jeanne Lätt, Refuge et Ecriture, Neuchâtel 2003, 244.   Else Lasker-Schüler, Briefe, bearb. v. Karl Jürgen Skrodzki, in: Andreas Kilcher, Norbert Oellers, Heinz Rölleke, Itta Shedletzky (Hgg.), Else Lasker-Schüler, Werke und Briefe, Kritische Ausgabe, Frankfurt a. M. 2008, 10. 26

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Lasker-Schüler als Dichterin und Künstlerin zurückgewiesen und zur Almosenempfängerin degradiert, die zudem möglichst bald wieder verschwinden sollte. Die Verscheuchte lautete treffend eines ihrer Exil-Gedichte. Dass sie sich trotz dieser Bedingungen dennoch bis 1939 meist in der Schweiz aufhalten konnte, wurde nur möglich durch vielfältige Unterstützung Dritter, sei es künstlerischer Art wie durch Emil Oprecht, in dessen Verlag sie 1937 das Hebräerland verlegte, sei es ökonomischer Art wie durch Hugo May und Kurt Ittmann,27 sei es juristischer Art, wie sie der Nationalrat Max Gafner und der Berner Rechtsanwalt Emil Raas leisteten, die ihr im Kampf gegen die immer neu drohende Ausweisung durch die Fremdenpolizei mit politischen und juristischen Mitteln halfen. Die Flüchtlingspolitik der Schweiz wurde nach März 1938 noch restriktiver. So erwirkten die Schweizer Behörden beim deutschen Auswärtigen Amt, dass die Pässe „nicht-arischer“ Personen mit einem „J“ gekennzeichnet werden, um sie leichter identifizieren zu können. Im Oktober 1939 verschärfte der Bundesrat die Flüchtlingspolitik erneut, was in einer offiziellen Mitteilung folgendermaßen kommentiert wurde: Die Emigranten sollen einer besonderen kurzen Anmeldepflicht bei der Ortspolizeibehörde unterworfen werden. [. . .] [Man] hat erneut festgestellt, dass die Schweiz nur ein Durchgangsland sein kann für die Emigranten, ohne Ausübung einer Erwerbstätigkeit. [. . .] Um zu verhindern, dass Emigranten in irgendeiner Weise in das Erwerbsleben eintreten, soll auch die Möglichkeit geschaffen werden, ihnen bestimmte Aufenthaltsorte anweisen zu können oder sie in Lager oder Heime einzuweisen.28

Diesen verstärkten Restriktionen mussten sich Flüchtlinge in der Schweiz auch unterwerfen, wenn sie schon zuvor da waren. Kurt Hirschfeld war demgegenüber auch dank seiner öffentlichkeitswirksamen Arbeit im Schauspielhaus in einer etwas komfortableren Lage. Nichtsdestoweniger musste auch er sich in diesen Jahren immer neu um die Verlängerung des Aufenthalts bzw. um die „Erstreckung der Frist zur Ausreise aus der Schweiz“, wie das Papier nun lautete, bemühen. So erhielt er etwa am 31. Mai 1941, um nur ein Beispiel zu geben, eine Fristerstreckung bis zum 15. Juli 1941, verbunden mit der außerordentlichen „Toleranzbewilligung“ zur „Betätigung als Dramaturg am Schauspielhaus Zürich“, aber auch mit der einschränken-

27   Vgl. Else Lasker-Schüler, Gedichtbuch für Hugo May, hg. v. Andreas Kilcher und Karl Jürgen Skrodzki, 2 Bde., Göttingen 2019. 28   Mitteilungen an die BAS, 20.2.1939, zit. n. Kristina Schulz, Die Schweiz und die literarischen Flüchtlinge (1933 – 1945), Berlin 2012, 65.

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den Bemerkung: „Jegliche anderer Erwerbstätigkeit, insbesondere Erteilen von Unterricht, Betätigung am Radio und Mitwirkung an andern schweizerischen Bühnen oder an Veranstaltungen außerhalb des Theaters, ohne ausdrückliche Bewilligung der eidg. Fremdenpolizei in Bern untersagt.“29 In einem Begleitschreiben mit demselben Datum präzisierte die Fremdenpolizei, dass diese Ausnahme-Bewilligung nur für die Spielzeit 1941 / 42 gelte und eine weitere Verlängerung 1942 erneut zu beantragen sei. Die „Existenz“ des Dramaturgen blieb, wie die des Schauspielers, erst recht unter diesen verschärften fremdenpolizeilichen Bedingungen eine flüchtige, unsichere.

Discours, oder: von Zürich nach Babylon Diese Perspektive auf die doppelt flüchtige Existenz des Theaters im Exil führt wieder zurück von der Historie auf die literarische, darstellende und interpretierende Ebene des literarischen Discours, jenes stets laufenden Gesprächs (discurrere), das die Geschichte begleitet und überformt. Die realen historisch-politischen Bedingungen des Lebens im Exil blieben intellektuell und symbolisch zu verarbeiten und zu verhandeln. Babylon blieb dafür ein ‚altneues‘ Szenario, wie ein letztes markantes Textbeispiel zeigt: Robert Neumanns Roman An den Wassern von Babylon (1945). Der Text weist zwar keinen direkten Bezug zu Zürich auf, auch wenn Neumanns Bücher im Exil in der Limmatstadt verlegt wurden, u. a. im Humanitas Verlag Emil Oprechts, des Leiters der Schauspielhaus AG. Mehr noch: Neumann lebte von 1958 an in Locarno, nachdem er 1934 von Wien aus ins Exil nach London gegangen war. Die Rede ist von seinem zuerst 1944 in englischer Sprache erschienenen Roman By the Waters of Babylon, der ein Jahr später im Oxforder Exilverlag East and West Library unter dem Titel An den Wassern von Babylon auf Deutsch erschienen war. Neumann interpretierte hier das Raumverständnis des Exils in ironischer Übertreibung psychologisch: also „desperatio emigrantica“, „Zustände von heftig contagiösem Charakter, in denen der Patient entweder [. . .] die Einsamkeit sucht, oder [. . .] gleichartig Erkrankte aufspürend Amok läuft und die Einsamkeit meidet.“30 Von diesem Morbus ist der Protagonist des Romans besonders befallen, ein unpolitischer jüdi29   Leo Baeck Institute New York, Kurt Hirschfeld Collection, AR 1066, Personal Documents, folder II / 1. 30   Robert Neumann, An den Wassern von Babylon, Wien / München / Basel 1960, 216 (= Neumann, An den Wassern von Babylon).

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scher Schriftsteller namens W. M. (gemeint ist Werner Marcus), der sich als Deutscher versteht und an einem großen Werk über das Raum- und Zeitverständnis des Exils arbeitet: eine „Untersuchung über das Apokalyptische des Raumes“. Diese erweist sich als eine ebenso fragmentarische wie widersprüchliche und daher letztlich nicht zu bewältigende Aufgabe, und so heißt es: „Doch hat Privatmann M. nicht einmal diese Möblierte-Zimmer-Apokalypse auch wirklich ausgedichtet. Da bleibt es wieder bei Skizzen und Notizen.“31 Dies ist der Fall, weil der Raum sowie die in ihm verteilten Dinge dem Exilanten unverfügbar geworden sind. Der Raum als feste gegebene Größe löst sich auf; aus ihm wird nomadische, unstete, flüchtige Räumlichkeit. Orte werden zu Passagen des Transits: Bahnhöfe, Wartehallen, Hotelzimmer: Oh Raum, steht da, oh du Vierfensterzimmer damals in Paris mit jenem Blick auf jene Wipfel, oh Baderaum, Bett, oh Schreibtisch, oh Telefon! Oh anderer Raum, steht da, zu London in jenem Boardinghouse, im ersten aus der langen und funebren Reihe der Boardinghäuser, wechselnd so wie Menschengesichter wechseln und einander doch höllisch gleichen. [. . .] der nächste Raum ist höllischer! [. . .] die Seelen der Hiergewesenen werden in allen Winkeln lauern. [. . .] Oh Mensch, mit deinem Raum auf dieser Erde warst du zu prasserisch. Raumzucht – das war es.32

Was der Exilant an Raum verliert, gewinnt er gemäß dieser Psychophysik des Exils hingegen an Zeit. Dem Raumverlust korreliert ein Überfluss an Zeit: Ah, es war nicht so schlimm! Hatte der Raum die Schwindsucht – desto herrschaftlicher verfügte der von der Emigration Befallene über die Zeit. Blickte er in den Koffer – da lag die Zeit. Zog er die Lade des Schreibtischs auf – die Zeit. Griff er in seine Taschen – waren prall von ihr, Zeit-Münzen konnte er mit Geklimper um sich streuen wie ein Nabob. Er schloss sich ein – durchs Schlüsselloch, durch jede Ritze quoll sie zu ihm ins Zimmer, er konnte sich dieses prasserischen Überflusses gar nicht erwehren.33 Wenn denn von Zeitbestimmungen in diesem Raum noch die Rede ist, so lauten sie Niewieder und Nimmermehr.34

Der Begriff Transit mag eben diese prekäre, temporalisierte Räumlichkeit – als Auflösung des Raumes – benennen. Transit ist keine statische, positive, territoriale, verfügbare, gesicherte oder beherrschbare Größe, sondern vielmehr ein Unverfügbares, Dynamisches, Flüchtiges – und dabei dennoch das ganze Leben Bestimmendes. Transit ist auch, nun wieder mit Hirschfeld gedacht, die existentielle Disposition des Theaters: theatrum transit. 31

 Neumann, An den Wassern von Babylon, 221 f.  Neumann, An den Wassern von Babylon, 222 f. 33  Neumann, An den Wassern von Babylon, 224. 34  Neumann, An den Wassern von Babylon, 231. 32

Humanistischer Realismus Kurt Hirschfeld und das ‚andere‘ Deutschland im Schweizer Exil Ursula Amrein Theater ist kein Luxus! – An diesem Grundsatz hielt das Schauspielhaus kompromisslos fest, als es zu Beginn des Zweiten Weltkriegs unter Rechtfertigungsdruck geriet. Nicht die Verteidigung künstlerischer Privilegien stand dabei zur Debatte. Im Gegenteil: Mit der Aufführung klassischer und moderner Dramen wollte man auf der Bühne das Menschliche in allen seinen Facetten präsent halten, die Gegenposition schaffen zu einem Regime, das im Begriff war, die Grundwerte der Zivilisation und jegliche Form von Humanität auszulöschen. „Humanistischer Realismus“ lautete die Formel für diese Praxis. Sie wurde zur künstlerischen und politischen Maxime der wichtigsten deutschsprachigen Exilbühne.1 Kurt Hirschfeld hat diese Praxis maßgeblich geprägt. 1933 als Jude aus dem Hessischen Landestheater in Darmstadt vertrieben, fand er am Schauspielhaus ein Unterkommen als Dramaturg. Sein Mentor war der ebenfalls ins Exil gezwungene Darmstädter Intendant Gustav Hartung.2 Zusammen bauten sie in Zürich das später berühmt gewordene Emigrantenensemble auf, dem Therese Giehse, Leopold Lindtberg oder Wolfgang Langhoff angehörten. Während des Zweiten Weltkriegs brachte Hirschfeld die Uraufführungen von Bertolt Brecht nach Zürich. Als erstes Stück war die für alle weiteren Aufführungen wegweisende Inszenierung der Mutter Courage zu sehen (19. April 1941). 1   Zum Zürcher Schauspielhaus in der Geschichte und Nachgeschichte des „Dritten Reichs“ vgl. Ursula Amrein, „Los von Berlin!“ Die Literatur- und Theaterpolitik der Schweiz und das „Dritte Reich“, Zürich 2004, hier insbesondere Teil 3: „Von der ‚landesfremden‘ Bühne zum Theater der geistigen Lan­­desvertei­digung – Das Schauspielhaus Zürich in der Zeit des Nationalsozialismus“, 381 – 453 (= Amrein­, Los von Berlin). 2   Die Gleichschaltung der Darmstädter Bühne rekonstruiert Hannes Heer, „Kulturkampf, Vertreibung und Nazifizierung. Das Hessische Landestheater Darmstadt 1918 bis 1938“, in: Hannes Heer / Sven Fritz / Heike Drummer / Jutta Zwilling (Hgg.), Verstummte Stimmen. Die Vertreibung der Juden und „politisch Untragbaren“ aus den hessischen Theatern 1933 bis 1945, Berlin 2011, 13 – 264.

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Abb. 1: Szene aus Bertolt Brechts Mutter Courage und ihre Kinder mit Therese Giehse in der Titelrolle sowie Erika Pesch, Karl Paryla und Wolfgang Langhoff. Uraufführung am Schauspielhaus Zürich, 19. April 1941 (© Stadtarchiv Zürich: VII.200).

Später entdeckte er Max Frisch für die Bühne und ermöglichte ihm eine Karriere, von der dieser schon als Gymnasiast geträumt hatte.3 1961 erfolgte die Wahl zum Direktor des Schauspielhauses. Hirschfeld konnte jetzt von seiner langjährigen Aufbauarbeit profitieren. Schon die erste Spielzeit brachte sensationelle Erfolge. Das Theater zeigte nacheinander die Uraufführungen von Max Frischs Andorra (2. November 1961) und Friedrich Dürrenmatts Die Physiker (21. Februar 1962). Bei Andorra führte der neue Direktor selbst Regie. In den Physikern glänzte Therese Giehse als Irrenärztin Mathilde von Zahnd, die Rolle hatte Dürrenmatt speziell für sie geschrieben. 3   Ursula Amrein, irritation | theater. Max Frisch und das Schauspielhaus Zürich, Zürich 2013, 15 – 19, 32 – 38.

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Abb. 2: Kurt Hirschfeld und Max Frisch bei den Proben zu Andorra. Uraufführung am Schauspielhaus Zürich, 2. November 1961 (© Max Frisch-Archiv, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich).

Abb. 3: Therese Giehse als Irrenärztin Mathilde v. Zahnd in Friedrich Dürrenmatts Die Physiker. Uraufführung am Schauspielhaus Zürich, 21. Februar 1962 (© Stadtarchiv Zürich: VII.200).

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Das Schauspielhaus stand damit ebenso im Scheinwerferlicht der internationalen Theateröffentlichkeit wie die beiden Dramatiker, die fortan als Dioskurenpaar galten und zum Exportschlager der Schweizer Literatur wurden.4 Hirschfeld starb am 8. November 1964 im Alter von 62 Jahren. „Wie soll man einem Toten danken?“ – Es war Max Frisch, der diese Frage eine Woche nach Hirschfelds Tod anlässlich der Gedenkfeier im Schauspielhaus stellte. Seine Antwort: „Man kann ihn bewachen, seinen Namen schützen auch vor der sanften Geschichtsverfälschung durch Nachruhm.“5 Frisch trifft mit dieser Feststellung ein zentrales Moment der Erinnerungsarbeit. Mitte der 1960er Jahre ist die Geschichte der Exilbühne erzählbar geworden. Sie hat sich im Narrativ von der großen Vergangenheit verfestigt. Die aus der Position der Nachträglichkeit entworfene Erfolgsgeschichte aber tendiert zu Vereinfachungen. Sie lässt nicht nur die Schwierigkeiten vergessen, mit denen sich die Theaterschaffenden in der Zeit des „Dritten Reichs“ konfrontiert sahen, sondern glättet auch die Widersprüche in der Geschichte der Pfauenbühne.

Das Schauspielhaus Zürich – Theater im Exil Als Hirschfeld 1933 in die Schweiz kam, gehörte er zu jener großen Zahl von Flüchtlingen, die Deutschland unmittelbar nach der „Machtergreifung“ verlassen mussten und sich jetzt mit Behörden konfrontiert sahen, die darauf drängten, dass sich die Schweiz nur als Transitland anbot. Schon unmittelbar nach den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 hatte die Eidgenössische Fremdenpolizei festgelegt, eine Verfolgung aus rassischen Gründen nicht als politische Verfolgung anzuerkennen.6 Personen jüdischer Herkunft war es damit praktisch unmöglich, in der Schweiz Asyl zu bekommen. Das war ganz im Sinne der deutschen Regierung. Ernst von Weizsäcker, damals Deutscher Gesandter in Bern, wies in seinen Berichten an das Auswärtige Amt in Berlin auf diese Praxis hin und unterstrich mit Genugtuung die daraus resul4   Ursula Amrein, „Ästhetik der Distanz. Klassik und Moderne in der Dramaturgie von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt“, in: Dies., Phantasma Moderne. Die literarische Schweiz 1880 bis 1950, Zürich 2007, 149 – 166 (= Amrein, Ästhetik der Distanz), sowie Ursula Amrein, „Die Physiker“, in: Ulrich Weber, Andreas Mauz et al. (Hgg.): Dürrenmatt Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2020, 101 – 106. 5   Max Frisch, „Rede zum Tod von Kurt Hirschfeld“ (1964), in: Ders., Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Jubiläumsausgabe in sieben Bänden, Bd. V, Frankfurt a. M. 1986, 355 – 359, hier 356 (= Frisch, Rede Hirschfeld). 6  Amrein, Los von Berlin, 41.

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tierenden negativen Konsequenzen für die jüdische Emigration. „Israeliten“, so sein Kommentar, würden „mit Rücksicht auf die Lage des bestehenden Arbeitsmarktes und der bereits bestehenden Überfremdung des Landes“ nur vorübergehend aufgenommen. Da den Behörden „die Beobachtung der schlechten Lage des schweizerischen Arbeitsmarktes zur Pflicht“ gemacht werde, ließen sich, so die siegesgewisse Schlussfolgerung, „in der Praxis in aller Ruhe und Sachlichkeit ziem­lich leicht alle Emigranten“ abweisen.7 Hinzu kam, dass den Emigrantinnen und Emigranten jegliche politische Äußerung untersagt war. Allein schon öffentlich geäußerte Kommentare zur eigenen Situation ließen sich in dieser Weise interpretieren. Bei Zuwiderhandeln drohte seitens der Schweiz die Ausweisung. Deutschland seinerseits konnte darauf mit der Ausbürgerung reagieren. Das Dilemma auf den Punkt brachte Alfred Kerr, der scharfzüngige Berliner Theaterkritiker. Seine Schriften waren am 10. Mai 1933 wegen „dünkelhafter Verhunzung der deutschen Sprache“ verbrannt worden.8 Knapp einen Monat später nahm Kerr am Internationalen Welttheaterkongress in Zürich teil. Sehr zum Bedauern der Schweizer Organisatoren hatte Goebbels die Einladung aus angeblich terminlichen Gründen nicht wahrnehmen können. Als Mitglieder des Welttheaterbundes hatten Emigranten grundsätzlich Zugang zu den Veranstaltungen, als Redner aber waren sie unerwünscht. Kerr jedoch ließ sich das Wort nicht nehmen. Er hielt seine Rede ungeladen und konstatierte: „Der neue Zustand im Theater Deutschlands hängt zwar mit der neuen Politik zusammen: aber ich soll auf diesem Kongreß durch­aus nicht Politik reden.“ Seine Statements zur Gleichschaltung der Theater kommentierte er leitmotivisch mit dem Satz: „Ich fälle keine Urteile – das wäre Politik“, und er schob nach: „Ich muß es nur, wie für ein Archiv auf dem Kongreß festhalten“.9 Ironisch exponierte er damit das Tabu der politischen Rede und umging dieses zugleich mit seinem an die Nachwelt adressierten Kommentar. Dass es in Zürich eine Bühne gab, die sich in diesem Umfeld zu behaupten wusste, ist Ferdinand Rieser zu verdanken. Als Privatunternehmer hatte er das Pfauentheater 1924 erworben und eine Sprechbühne geschaffen, die ohne öffentliche Gelder auskam. Aus dieser Position heraus war es ihm 1933 7   Deutsche Gesandtschaft an das Auswärtige Amt in Berlin, 7.6.1933, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin. 8   Zit. in: Gerhard Sauder (Hg.), Die Bücherverbrennung. Zum 10. Mai 1933, München 1983, 78. 9   Alfred Kerr, „Der Zustand im deutschen Theater. Rede, gehalten auf einem Kongreß – in Zürich“, in: Klaus Mann (Hg.), Die Sammlung. Literarische Monatsschrift unter dem Patronat von André Gide, Aldous Huxley, Heinrich Mann, Heft I, Amsterdam 1933, 33 – 35, hier 33 f.

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möglich, mit Gustav Hartung und Kurt Hirschfeld die Vorgänge im „Dritten Reich“ auf die Bühne zu bringen. Bereits am 30. November 1933 zeigte das Schauspielhaus Ferdinand Bruckners Drama Die Rassen, das erste im Exil überhaupt entstandene Theaterstück.10 Weder die großen Theater in Wien noch in Prag hatten es gewagt, dieses Stück aufzuführen, das den Boykott jüdischer Geschäfte vom 1. April 1933 vergegenwärtigte. Dass dem privat geführten Schauspielhaus nach der Gleichschaltung der Theater im „Drit­ten Reich“ eine historische Aufgabe zufallen würde, darüber hatte man sich in Theaterkreisen schon früh verständigt. Franz Theodor Csokor­etwa schrieb im Vorfeld der Aufführung an Bruckner: Das Zürcher Schauspielhaus erhält jetzt eine große Aufgabe, die „substitutio vicaria“, die stellvertretende Genugtuung für die ausfallenden Bühnen im Dritten Reich zu leisten, die sich fortab auf linientreuen Dreck beschränken müssen. Hoffentlich zeigt sich die Direktion Rieser dieser neuen Aufgabe gewachsen.11

Bruckner ließ in seinem Stück mit Nathan Siegelmann einen jüdischen Studenten mit abgeschnittenen Hosen und dem Schild um den Hals „Ich bin Jude“ auftreten (siehe unten, Abb. 4). Die Szene bezog sich auf die in der Presse gezeigte Demütigung des jüdischen Anwalts Michael Siegel, der von den Nationalsozialisten anlässlich des „Judenboykotts“ in dieser Weise der Münchner Öffentlichkeit vorgeführt wurde. Das Interesse an der Aufführung war groß. Mit Nobelpreisträger Thomas Mann, Stardirigent Bruno Walter und vielen anderen saß die Exilprominenz im Publikum. Das Theater rechnete mit einer Störung der Aufführung, zumindest aber einer Intervention der Deutschen Botschaft, doch es blieb für alle Beteiligten geradezu gespenstisch ruhig. Er tue alles, so hatte Regisseur Gustav Hartung im Vorfeld an Bruckner geschrieben, um mit Hirschfeld „den Boden richtig vorzubereiten. Ich inszeniere vorher ein Stück des Theaterkritikers der Neuen Züricher Zeitung“.12 Der gefürchtete Kritiker gab sich denn auch moderat, monierte aber reichlich unbedarft, Bruckner finde für das „Rassenproblem“ keine „Lösung“.13 Kompromisslose Unter-

10   Zu Ferdinand Bruckner und der Uraufführung seines Dramas Die Rassen am Zürcher Schauspielhaus vgl. Amrein, Los von Berlin, 404 – 420. 11   Franz Theodor Csokor an Ferdinand Bruckner, 25.11.1933, in: Franz Theodor Csokor, Zeuge einer Zeit. Briefe aus dem Exil 1933 – 1950, München / Wien 1964, 35. 12   Gustav Hartung an Ferdinand Bruckner, o. J., Archiv Akademie der Künste Berlin, Nachlass Ferdinand Bruckner. 13   Jakob Rudolf Welti, „Die Rassen. Uraufführung im Schauspielhaus“, in: Neue Zürcher Zeitung, 2. Dezember 1933.

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stützung hingegen gab es von der Exilpresse. So schrieb Klaus Mann in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Sammlung: Das Stück ist sehr scharf; man wundert sich beinah, daß die sonst so wachsame und empfindliche deutsche Vertretung keinen Einspruch erhoben hat. [. . .] es gab starken Beifall, der demonstrativ das Spiel unterbrach, als auf der Bühne der Satz gesprochen wurde: „Es ist heute undeutsch, die Wahrheit zu sagen.“ Die anwesenden Nazispitzel mögen zusammengezuckt sein.14

Und solche waren tatsächlich anwesend. Unter ihnen Vertreter des Deutschen Generalkonsulats, die das Auswärtige Amt in Berlin detailliert informierten. „Meldung über das im Schauspielhaus Zürich [. . .] aufgeführte Greuelpropagandastück ‚Die Rassen‘“, war einer der Berichte überschrieben, der festhielt: „Der jüdische Besitzer des hiesigen Schauspielhauses, Generaldirektor Rieser, hat sein Unternehmen in letzter Zeit mehrfach zum Sprachrohr seiner aus Deutschland ausgewanderten Glaubensgenossen gemacht.“15 „Ohne die Ueberjudung Deutschlands zu erwähnen, die zu jenem Boykott [‚Judenboykott‘] Anlass gegeben hat“, verletze das Theater mit dieser Aufführung das „Gefühl“ vaterlandsliebender Deutscher. Ein „Verbot“, so der Bericht weiter, „wäre nur aus Gründen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung [. . .] möglich“, doch weil das „Schauspielhaus ein reines Privattheater ist, keine öffent­li­chen Subventionen erhält und infolgedessen unter keinem moralischen Einfluss hiesiger öffentlicher Stel­len steht“, sei es aussichtslos, gegen die „antideutsche“ Tendenz am Schauspielhaus vorzugehen.16 Rieser selbst, und das illustriert gleichermaßen die Problematik wie die Paradoxie seiner Situation, versicherte nach außen, seinem Ensemble sei jede politische Betätigung strikt untersagt, gleichzeitig aber ließ er in den Verträgen die Klausel einfügen, die Verweigerung einer Rolle aus politischen Gründen werde nicht toleriert. Bruckner seinerseits berief sich mit seinem Stück auf die „wahrheitsgetreue Wiedergabe“ von Tatsachen, erklärte Die Rassen zum „rein historischen Stück“, betonte das Dokumentarische seiner Arbeit, distanzierte sich von der in diffamatorischer Absicht geäußerten Unterstellung, Tendenz- und Agitationstheater zu betreiben, und konstatierte: 14   Klaus Mann, „Bern und Zürich“, in: Klaus Mann (Hg.), Die Sammlung. Literarische Monatsschrift unter dem Patronat von André Gide, Aldous Huxley, Heinrich Mann, Heft V, Amsterdam 1934, 272 – 274, hier 237. 15   Deutsches Generalkonsulat Zürich an das Auswärtige Amt Berlin, 15.12.1933, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Berlin (= Generalkonsulat Zürich, 15.12.1933). 16   Generalkonsulat Zürich, 15.12.1933.

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Noch nie ist uns so schmerz­lich­bewusst geworden, dass Geistigkeit und Zivilisation nichts miteinander zu tun haben. In einer ungeheuren Erschrockenheit vor uns selbst müssen wir in unsre zivilisierte Gegenwart hineinfragen wie in die frühesten Jahrtausende zurück: was ist der Mensch?­17

Nicht nur in Deutschland, auch in der Schweiz stand das Schauspielhaus unter argwöhnischer Beobachtung. Der neue Kurs der Bühne löste bereits im Sommer 1933 einen heftigen Streit aus. Der Schweizerische Schriftstellerverein verlangte von Rieser ultimativ, acht Werke von Schweizer Autoren aufzuführen, „und im kommenden Jahr die dramaturgische Leitung seiner Bühne in die Hände eines mit den nötigen Befugnissen versehenen Schweizers zu legen“.18 Diese Forderung zielte direkt auf Kurt Hirschfeld. Als Rieser darauf nicht einging, veranstaltete der Schriftstellerverein am 1. November 1933 eine öffentliche Kundgebung zur Frage: „Städtische oder private Schauspielbühne Zürich?“ Die Autoren verlangten von der Stadt, die Privatbühne zu übernehmen, und Rieser sah sich als Schweizer Jude unversehens mit der Behauptung konfrontiert, als jüdischer Geschäftsmann die nationalen Interessen der Schweiz nicht wahrnehmen zu können.19 Vorerst widerstand er den Angriffen. Hirschfeld hingegen musste das Schauspielhaus bereits nach der ersten Spielzeit wieder verlassen. Rieser hatte ihm gekündigt. Die Hintergründe sind unklar. Es soll zu einem Streit zwischen dem Direktor und seinem Dramaturgen gekommen sein, nachdem sich dieser personellen Entscheidungen Riesers widersetzt hatte. Ob dieser Streit in Zusammenhang mit der schwierigen Beziehung zwischen Rieser und Hartung stand, oder ob der Intendant unausgesprochen nicht doch den Forderungen des Schriftstellervereins nachgegeben hatte, darüber lässt sich bloß spekulieren. Hirschfeld ging zunächst nach Moskau und arbeitete danach als Lektor bei Emil Oprecht.20 Wie das Schauspielhaus gehörte Oprechts Verlag an der Zürcher Rämi­strasse zu den wich­tigen Zentren des literarischen Exils. In Moskau wohnte Hirschfeld anfänglich bei Friedrich Wolf, dessen Drama Professor Mannheim das Schauspielhaus am 8. November 1934 in der deutschsprachigen Erstaufführung zeigte. Zusammen mit Bruckners Die Rassen gehörte dieses zu den umstrittensten Zeitstücken der Ära Rieser. Vom 17. August bis 1. September 17   Ferdinand Bruckner an den PEN-Club, 4.6.1934, Archiv Akademie der Künste Berlin, Nachlass Ferdinand Bruckner. 18  Protokoll der Vorstandssitzung des Schweizerischen Schriftstellervereins vom 19. Oktober 1933, Archiv Autorinnen und Autoren der Schweiz, Schweizerisches Literaturarchiv Bern. 19   Vgl. Amrein, Los von Berlin, 386 – 404. 20   Vgl. Peter Stahlberger, Der Zürcher Verleger Emil Oprecht und die deutsche politische Emigration 1933 – 1945, Zürich 1970, 305 – 306.

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1934 fand in Moskau der Erste Sowjetische Schriftstellerkongress unter dem Vorsitz von Maxim Gorki und mit zahlreicher Beteiligung aus dem Ausland statt. Hirschfeld besuchte sowohl diesen Kongress als auch die im September folgenden Moskauer Theater-Festspiele, über die er in der Neuen Zürcher Zeitung berichtete. Neben den ästhetischen Prinzipien Stanislawskis, an denen sich Hartungs Zürcher Inszenierungen orientierten, interessierte sich Hirschfeld insbesondere für die „klassischen Meyerhold-Aufführungen, die, nicht nur für Russland, zu den besten, interessantesten und problemreichsten gehören, was man im Theaterleben gegenwärtig sehen kann“.21 Für Hirschfelds Reflexion auf das Theater im Exil bestimmend waren weiter die Betonung eines gegen den Expressionismus gewendeten Realismus sowie die Orientierung an den Leitbegriffen „Humanismus“ und „Kulturerbe“, wie sie der Erste Internationale Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur in Paris vom 21. bis 25. Juni 1935 ins Zentrum seines Kampfs gegen den Nationalsozialismus rückte. Auf vergleichbaren Prämissen beruhte schließlich die von Thomas Mann und Konrad Falke im Verlag von Emil Oprecht herausgegebene Exilzeitschrift Mass und Wert, deren erste Ausgabe 1937 erschien.

Theater und Politik – Widerstand im Zeichen der Klassik 1938 kam es am Schauspielhaus zu einem folgenreichen Eklat. Rieser nämlich gab unverhofft seinen Rücktritt bekannt. Auch hier sind die Gründe nicht restlos geklärt. Sicher aber ist, dass die „Zürcher Theaterfrage“ nach der Kundgebung des Schriftstellervereins weiter schwelte und in den Fokus einer Kulturpolitik rückte, die der Bundesrat 1938 als geistige Landesverteidigung institutionalisierte.22 In dieser Politik hatte Riesers Emigrantentheater keinen Platz. Zur sichtbaren Manifestation der geistigen Landesverteidigung wurde die 1939 in Zürich eröffnete Schweizerische Landesausstellung. Als nationales Identitätsprojekt unterstand auch sie der bundesrätlichen Kontrolle. Damit geriet das Schauspielhaus definitiv in Schieflage. Für die Ausstellung geplant war ein Theater, das ausschließlich von Schweizern betrieben wurde. Als angeblich „landesfremde“ Bühne war das Schauspielhaus von der Teilnahme explizit ausgeschlossen. Rieser protestierte umge21

  Kurt Hirschfeld, „Moskauer Theater-Festspiele“, Teil I, Neue Zürcher Zeitung, 19. September 1934; Kurt Hirschfeld, „Moskauer Theater-Festspiele“, Teil II, Neue Zürcher Zeitung, 23. September 1934; Kurt Hirschfeld, „Theater in Russland. Nachlese“, Neue Zürcher Zeitung, 16. Dezember 1934. 22   Vgl. Amrein, Los von Berlin, 88 – 100.

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hend, er blieb chancenlos, sah sich nach dem „Anschluss“ Österreichs in der Schweiz nicht mehr sicher und emigrierte in die USA.23 Die Existenz seines Ensembles war damit ernsthaft in Frage gestellt. Propagandaminister Goebbels setzte alles daran, um das Emigrantentheater zu zerstören, und plante mit dem Direktor des Zürcher Stadttheaters, dem heutigen Opernhaus, die verdeckte Übernahme der Bühne.24 Der Plan misslang, denn um den Verleger Emil Oprecht bildete sich ein privater Interessentenkreis, der das Theater nach aufreibenden Verhandlungen weiterführen konnte. Hirschfeld, als Lektor bei Oprecht tätig, war im Hintergrund an dieser Lösung beteiligt und stand auch als künftiger Direktor zur Diskussion. Aus politischen Gründen aber kam das nicht in Frage. Die Fremdenpolizei drängte auf die Wahl des Baslers Oskar Wälterlin. Damit war der Forderung nach einer personellen „Verschweizerung“ Rechnung getragen. Die von Oprecht präsidierte Neue Schauspiel AG konnte im Gegenzug die Verträge mit dem Ensemble verlängern. Und: Hirschfeld kam als Dramaturg und Regisseur ans Theater zurück. Von den Nationalsozialisten und den Emigranten gleichermaßen misstrauisch beobachtet, gelang Wälterlin das schier Unmögliche. Auf der Basis von Klassikerinszenierungen begründete er eine prekäre Balance zwischen Schweizer- und Emigrantentheater, ohne jedoch die Nationalisierungspolitik des Schriftstellervereins zu bestätigen.25 Exemplarisch für diesen Kurs steht seine legendäre Inszenierung von Friedrich Schillers Wilhelm Tell im Januar 1939. Mit der Darstellung des Innerschweizer Freiheitskampfes gegen eine fremde usurpatorische Macht wurde diese Aufführung zur Manifestation gegen das nationalsozialistische Deutschland schlechthin. Hitler sah sich in Gessler als tyrannischer österreichischer Gauleiter angegriffen und verbot das Drama in Deutschland, nachdem er die­ses 1933 noch zum vorbildhaften völkischen Werk erklärt hatte. Tell sei „kein Held, sondern ein hinterlistiger Heckenschütze“, ließ er aus Berchtesgaden verlauten, auch wolle man mit der Aufführung des Wilhelm Tell nicht Tourismuswerbung für die Schweiz be­trei­ben.26 In der Schweiz stieß die Inszenierung auf begeisterte Zustimmung. Sie begründete eine neue Haltung gegenüber dem Theater, das in dem Moment akzeptiert war, als sich der Kampf gegen das „Dritte Reich“ von der expliziten Kritik des Nationalsozialismus auf die Rede von den Idealen eines freiheitlichen Staates verschoben hatte. 23

 Amrein, Los von Berlin, 469 – 472.  Amrein, Los von Berlin, 483 – 491. 25  Amrein, Los von Berlin, 510 – 520. 26   Martin Bormann an Hans Heinrich Lammers, 3.6.1941, Abschrift mit dem Vermerk „Streng vertraulich“, Bundesarchiv Berlin, NS 18 / 305. 24

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Unmittelbar einleuchtend ist dieser Vorgang in seinen Implikationen und Konsequenzen, wenn man sich die Inszenierungen von Ferdinand Bruckners Die Rassen und Friedrich Schillers Wilhelm Tell vergegenwärtigt (Abb. 4 und 5). Bezog sich das Theater mit Bruckner dokumentarisch auf die Rassenverfolgung, indem es das Schicksal einer jüdischen Figur ins Zentrum rückte, so verdankte Wilhelm Tell seine visuelle Prägnanz ganz Heinrich Gretler, der den nationalen Freiheitshelden spielte. Bereits das Werbeplakat zeigte ein großformatiges Bild des wohl beliebtesten Schweizer Schauspielers und verzeichnete mit dessen Namen auch jenen Oskar Wälterlins, der Regie führte. Emigranten jedoch blieben unsichtbar, so zum Beispiel Wolfgang Langhoff in der prominenten Rolle Gesslers. Dieser unterschiedliche Zugang zur Visibilität hat mit Sicherheit auch die Beziehung zwischen Wälterlin und Hirschfeld, dem Schweizer Direktor und dem jüdischen Dramaturgen, belastet. Offen austragen jedoch ließen sich solche Konflikte nicht. Die Anstrengungen mussten sich auf die gemeinsame Zusammenarbeit richten. Und hier fanden Hirschfeld und Wälterlin eine tragfähige Lösung. Mehr noch: Sie entwickelten in Bezug auf Spielplan und Inszenierungsstil eine Ästhetik, die das Schauspielhaus zur wichtigsten deutschsprachigen Exilbühne machte und die entscheidend auch die Nachkriegsmoderne prägte. Mit Friedrich Schiller orientierte sich diese Ästhetik ganz am Humanitätsideal der deutschen Klassik.27 Schiller forderte eine Literatur, die sich von der Tagespolitik fernhält und in Distanz dazu das Ideal einer freiheitlichen und humanen Gesellschaft aufzeigt. Ausdrücklich analogisierte Oskar Wälterlin dieses Unabhängigkeitspostulat der Klassik mit der Neutralitätspolitik der Schweiz und erklärte das Schauspielhaus so zum Schweizer Theater. Mit der Klassik war zugleich das ‚andere‘ Deutschland angesprochen. Und hier setzte Hirschfeld an. Mit der Idee des ‚anderen‘ und ‚besseren‘ Deutschland verband sich die Überzeugung, dass es die Pflicht der ins Exil vertriebenen Künstler sei, die deutsche Kultur vor dem Zugriff eines Staates zu retten, der sich höhnisch vom Begriff der Humanität verabschiedet hatte. In der Bewahrung des kulturellen Erbes lag damit auch ein Akt des Widerstands begründet. Hirschfeld führte dazu aus: „Es galt, das Bild des Men­­schen in seiner ganzen Mannigfaltigkeit zu wahren und zu zei­gen und damit eine Position ge­gen die zerstörenden Mächte des Faschismus zu schaf­fen.“28 27

  Vgl. Amrein, Los von Berlin, 522 – 530.   Kurt Hirschfeld, „Dramaturgische Bilanz“, in: Theater. Meinungen und Erfahrungen von Therese Giehse, Ernst Ginsberg, Wolfgang Heinz, Leopold Lindtberg, Teo Otto, Karl Paryla, Leonard Steckel, Oskar Wälterlin, Affoltern am Albis 1945 (Über die Grenzen, Schriftenreihe 4), 11 – 16, hier 15 (= Hirschfeld, Dramaturgische Bilanz). 28

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Abb. 4: Szene aus Ferdinand Bruckners Die Rassen mit Ernst Ginsberg als Nathan Siegelmann. Uraufführung am Schauspielhaus Zürich, 30. November 1933 (© Schweizerische Theatersammlung Bern).

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Abb. 5: Plakat zur Wilhelm Tell-Inszenierung von Oskar Wälterlin mit Heinrich Gretler in der Titelrolle. Premiere am Schauspielhaus Zürich, 26. Januar 1939 (© Plakatsammlung, Museum für Gestaltung Zürich).

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Der reale Ort der Pfauenbühne avancierte innerhalb dieser Konzeption gleich mehrfach zum symbolischen Ort: Er war autonomer Raum der Kunst, neutraler Ort der Schweiz und zugleich Asyl des ‚anderen‘ Deutschland. Was das heißen konnte, erwies sich im Mai 1940, als sich die Schweiz angesichts des deutschen Westfeldzugs in höchste Alarmbereitschaft versetzt sah und das Theater vor der Schließung stand. Einer solchen Kapitulation widersetzte sich das Schauspielhaus. Es beharrte auf der Notwendigkeit seiner Arbeit, kämpfte gegen das Verstummen und die Auslöschung einer Sprache an, der die restlose propagandistische Vereinnahmung drohte. Mit der geplanten Aufführung von Goethes Faust I. und II. Teil hielt es an einer Inszenierung fest, die als Manifestation des ‚anderen‘ Deutschland überhaupt begriffen wurde. Hirschfeld schrieb später: [. . .] als für die Schweiz der Höhepunkt der Kriegsgefahr war und das Wort auch der großen Dichter zu ersterben drohte, konnte nichts anderes gespielt werden als Goethes „Faust I. und II. Teil“, in dem alles, was in deutscher Sprache außerhalb Deutschlands zu sagen war, sich manifestierte.29

Vom Exil zur Nachkriegsmoderne – Zeittheater, zeitlos Das Zitat stammt aus einem Text, den Hirschfeld im Rückblick auf die Kriegsjahre verfasst und 1945 unter dem Titel Dramaturgische Bilanz veröffentlicht hatte. „Es war immer der Mensch, um den es ging“, bilanzierte er und verwies gleichzeitig auf die „außertheatralische Realität“, aus der sich die Verpflichtung des Theaters ableite.30 In der Formel „Humanistischer Realismus“ fasste er diese beide Momente zusammen.31 Sowohl Klassiker als auch moderne Autoren konnten diesem Programm entsprechen. Hirschfeld setzte sie auf den Spielplan, wenn sie Grundfragen der menschlichen Existenz zur Anschauung brachten und in ihrer „Grundhaltung“ gegen den „Faschismus in allen seinen Spielarten“ gerichtet waren. Er zeigte amerikanische und europäische Werke, die an den deutschen Bühnen als ausländische generell verboten waren. Namentlich nennt er an dieser Stelle John Steinbeck, Paul Claudel, Thornton Wilder, Jean-Paul Sartre, Jean Giraudoux oder Federico García Lorca.32 Auch Bertolt Brecht passte mit seinem epischen Theater perfekt in diese Konzeption. 29

 Hirschfeld, Dramaturgische Bilanz, 12.  Hirschfeld, Dramaturgische Bilanz, 13, 15. 31  Hirschfeld, Dramaturgische Bilanz, 15. 32  Hirschfeld, Dramaturgische Bilanz, 14. 30

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Hirschfelds Dramaturgische Bilanz war nicht nur als Rückblick angelegt, sondern formulierte auch Perspektiven für die Zukunft. Künstlerisch setzte das Schauspielhaus ganz auf Kontinuität, im Wissen darum, dass sich mit Kriegsende der Kontext seiner Arbeit entscheidend verändert hatte. Die Aufgabe des Theaters aber sollte dieselbe bleiben, nämlich die eigene Zeit kritisch zu reflektieren. Im Sinne der Klassik ging es darum, die Grundbedingungen menschlicher Existenz zu befragen, nicht aber die direkte politische Auseinandersetzung zu suchen. Hirschfeld gehörte damit zu den Intellektuellen, die das deutschsprachige Theater bis in die Mitte der 1960er Jahre prägten. Beispielhaft dafür stehen die Parabelstücke von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt. Sie verdanken sich ganz der am Schauspielhaus über die Exiltradition vermittelten Ästhetik. Zeit­geschichte ist hier an die Modalität einer Darstellung gebunden, die nicht das geschichtlich Singuläre, sondern das zeitlos Gültige zur Sprache bringen will. In dieser Interpretation des Zeitstücks geht es nicht um die Abbildung realer Schauplätze und Personen, sondern um eine ästhetische Transformation, die zur eigenen Gegenwart eine reflektierende Distanz schafft. Die Dynamik dieser Dramaturgie lässt sich im Paradoxon des zeitlosen Zeittheaters fassen.33 Die auf Enthistorisierung zielende Ästhetik des Zürcher Schauspielhauses konnte in der Nachgeschichte des Nationalsozialismus und im beginnenden Kalten Krieg indes auch zu konfliktreichen Situationen führen. Gegenüber der Remigration verhielt sich das Schauspielhaus distanziert, suchte mit Heinz Hilpert und Gustaf Gründgens gleichzeitig die Zusammenarbeit mit Intendanten und Regisseuren, die im „Dritten Reich“ führende Positionen innehatten und ihre Arbeit nachträglich über die Trennung von Kunst und Politik zu legitimieren suchten. 1952 unterschrieb Hirschfeld Gründgens umstrittenes Düsseldorfer Manifest, das sich gegen ein zur Willkür erklärtes Regietheater richtete und dabei Regisseure wie Bertolt Brecht, Fritz Kortner oder Erwin Piscator im Auge hatte. Sowohl Kortner als auch Piscator hatten sich nach der Rückkehr aus dem Exil vergeblich um eine Anstellung am Schauspielhaus bemüht. Zur offenen Auseinandersetzung kam es, als sich Hirschfeld weigerte, Rolf Hochhuths umstrittenes Stück, Der Stellvertreter, am Schauspielhaus zu zeigen. Regisseur der Uraufführung in Berlin vom 20. Februar 1963 war Piscator. Die Aufführung provozierte heftige Debatten. Als Direktor des Schauspielhauses distanzierte sich Hirschfeld von einer direkt anklägerischen Haltung und der simplifizierenden Darstellungsform eines Stücks, das die Frage nach der Mitverantwortung des Papstes an der Ermordung der europäischen Juden aufwarf. 33

  Vgl. Amrein, Ästhetik der Distanz, 160 – 162.

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Max Frisch ist einer der wenigen Zeitgenossen, der Hirschfelds Persönlichkeit und seine Arbeit im Spannungsfeld solcher Auseinandersetzungen und mit Blick auf dessen ungesicherten Ort im Schweizer Exil zu würdigen wusste: Kurt Hirschfeld hatte es nicht leicht bei uns. Ein deutscher Jude, herangewachsen in den legendären zwanziger Jahren, jung im Romanischen Café, Rationalist vom Wesen her oder geworden aus Widerspruch gegen den Ausbruch einer plebejischen Mystik, geprägt durch ein frühes Exil, was manches heißt: Verlorensein, Namenlosigkeit mit befristeter Niederlassung, Dankbarseinmüssen, Korrektseinmüssen, Geduldetsein [. . .].34

Vor diesem Hintergrund und angesichts eines Kriegs mit damals nicht absehbarem Ende habe sich am Schauspielhaus ein spezifischer Darstellungsstil entwickelt. Frisch spricht von einem „Ton“, der auch ihn inspirierte, und er hält dazu in seiner Gedenkrede fest: [D]ieser Ton war die einzig mögliche Würde in der Ohnmacht, entstanden aus zwei Elementen, so scheint mir: aus der geschärften Wachsamkeit der Vertriebenen, die auf der Hut sein müssen, und aus dem Helvetischen, aus der Kleinstaatler-Idiosynkrasie gegen Großmäuligkeit. Es ist der Ton derer, die sich nicht berauschen dürfen, sondern wissen müssen, was wirklich los ist in der Welt und im Text der Klassiker. In diesem Ton hat Kurt Hirschfeld auch inszeniert.35

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 Frisch, Rede Hirschfeld, 355 – 356.  Frisch, Rede Hirschfeld, 356.

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Heimat Niemandsland? Kurt Hirschfeld zwischen Zürcher Exil und Domizil nach 1945 Elisa Frank und Jacques Picard* Gestern Abend ist Albert Bassermann tot in Zürich angekommen, und ich habe die halbe Nacht bei ihm und seiner Frau verbracht. Es war erschütternd und grossartig zugleich. Auf der Rückkehr nach Europa ist er in 7000 Meter [sic!] Höhe eingeschlafen. Ein wunderbarer und symbolischer Tod, im Niemandsland.1

Ob Kurt Hirschfeld das Bild dieses Niemandslandes, auf 7000 Metern Höhe über dem Atlantik, für den deutschen Schauspieler Albert Bassermann und dessen Leben und Sterben so treffend fand oder ob er darin auch seine eigene Situation symbolisiert sah, lässt sich nicht schlüssig sagen. Aber die Bemerkung verweist auf die für einen Juden nach 1945 zentrale und nicht einfach zu beantwortende Frage nach der eigenen Verortung und Beheimatung, nach dem Verhältnis zur „alten“ Heimat Deutschland und zu den „neuen“ Exil-Heimaten. Eine Antwort kann sich nicht begnügen mit der vielzitierten Formel von Ernst Bloch, der Heimat als Dialektik von Kindheit und Utopie auffasste, aus der sich „reale Demokratie“ ohne Entfremdung und Entäußerung gewinnen lasse.2 Viel eher mag die Einsicht von Yosef Hayim Yerushalmi greifen, dass in der jüdischen Erfahrung „das Heimatgefühl im Exil“ auszumachen sei und deshalb Exil und Domizil nicht im Widerspruch miteinander stehen, sondern koexistieren würden.3 Exil als Hölle und Exil als Heimat sind diesem Autor die Vektoren, um eine Beschreibung von spe*  Die Autoren danken Anja Hammerich und Hans Christian Hönes herzlich für die Durchsicht und die Korrekturen des Textes. 1   Kurt Hirschfeld an Hans Emil Hirschfeld, 16.5.1952, LBI, NY, KHC. 2   Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 5 Bde., Frankfurt a. M. 1982, 5. Bloch schrieb zwischen 1938 und 1947 auf den Stationen seines Exils in der Schweiz, in Frankreich, in der Tschechoslowakei und in den USA an seinem Hauptwerk. Besagte Stelle lautet: „Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“. 3   Yosef Hayim Yerushalmi, Ein Feld in Anatot. Versuche über jüdische Geschichte, Berlin 1993, 23 (= Yerushalmi, Feld).

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zifisch jüdischer Erfahrung von Heimat zu verstehen4 und sie als These in der Deutungstradition des jüdischen Säkularismus auszuformulieren.5 Und George Steiner verknüpft die Vorstellung von Heimat mit der Kategorie der Zeit durch die Frage, ob es denn ein „besseres Domizil“ geben könne als die Zeit, die der „Pass zur Wahrheit und ihr heimischer Boden“ sei.6 Dieser Konnex bildet den Ausgangspunkt für unseren biografischen Beitrag, der sich der Frage widmet, welche Heimaten für Kurt Hirschfeld im Zürcher Exil der Nachkriegsjahre eine Rolle spielten und welche Formen von Beund Entheimatung bei ihm sichtbar werden.

Beheimatung und Entheimatung als Prozess: Begriffsgenesen und Befragungshorizonte „Heimat“ – um einige notwendige theoretisch-konzeptionelle Bemerkungen zu machen – ist ein vielschichtiger und stets umstrittener Begriff mit politischen Implikaten.7 Er ist im deutschen Zusammenhang zeitweise kontaminiert durch Diskussionen um die Flucht und Vertreibung von Millionen Deutschen aus den ehemaligen Reichsgebieten, die nach 1945 als „Heimatvertriebene“ bezeichnet worden sind.8 Dass Heimat oft „erst als verlorene zum Problem“9 wird, wie das auch die Reflexion von Yerushalmi vorträgt, hat Anlass zu einer historisch-kritischen Aufarbeitung der Begriffs- und Komplexgenese gegeben, die erstmals 1972 von Ina-Maria Greverus und danach von Hermann Bausinger geleistet worden ist.10 Die Problematisierung des 4

  Die tiefere Motivbildung für Exil und Domizil entnimmt Yerushalmi dem Marranen Samuel Usque: „Ach Europa, Europa, du meine Hölle auf Erden“ und „Europa, das mich verschlang [. . .], erbrich mich nun wieder!“ Vgl. Yerushalmi, Feld, 38. 5   Dazu David Biale, Traditionen der Säkularisierung. Jüdisches Denken von den Anfängen bis zur Moderne, Göttingen 2015, 161 – 205 (= Biale, Traditionen). 6   George Steiner, „Unser Heimatland: der Text“, in: Ders., Der Garten des Archimedes, München 1997, 246 – 279, hier 279 (= Steiner, Heimatland Text). 7   Vgl. Jens Korfkamp, Die Erfindung der Heimat. Zu Geschichte, Gegenwart und politischen Implikaten einer gesellschaftlichen Konstruktion, Berlin 2006. 8   Vgl. Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Flucht, Vertreibung, Integration, Bielefeld 2005; Andreas Kossert, Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008. 9   Ina-Maria Greverus, „Wem gehört die Heimat?“, in: Wilfried Belschner u. a. (Hgg.), Wem gehört die Heimat? Beiträge der politischen Psychologie zu einem umstrittenen Phänomen, Opladen 1995, 23 – 39, hier 24 – 25. 10   Ina-Maria Greverus, Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen, Frankfurt a. M. 1972; Ina-Maria Greverus, Auf der Suche nach Heimat, München 1979; Hermann Bausinger, „Heimat und Identität“, in: Ders. / Konrad Köstlin

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Begriffs hängt mit den unterschiedlichen Deutungen und Ingebrauchnahmen zusammen, die er im Verlaufe seiner Geschichte erfahren hat: Neben Heimat als Besitz und Recht trat im 19. Jahrhundert die Heimat als bäuerlichländliche Idylle und Gegenwelt zu Urbanisierung und Industrialisierung, die sich alsbald mit der Idee des Nationalen verband. Seitdem der Terminus juristisch obsolet geworden war, fand der Heimatbegriff Eingang in die Alltags- und Umgangssprache, wo er die idyllischen Vorstellungen einer „heilen“ Welt und romantisierende Naturbeschreibungen bediente. „Heimatkunde“ spielte im deutschen Bildungssystem der Weimarer Republik, das gerade den Sozialisationsmodus deutscher Juden wie Hirschfeld deutlich geprägt haben dürfte, eine wichtige Rolle; dies belegt u. a. Eduard Spranger in seinem programmatischen Aufsatz Der Bildungswert der Heimatkunde (1923), der päda­gogische Aufgaben an den Heimatbegriff knüpfte.11 Durch die dem Heimatbegriff inhärente „Wurzelmetaphorik“ aus dem 19. Jahrhundert konnte er in den 1930er Jahren von den Nationalsozialisten in eine rassistische Blutund-Boden-Ideologie eingefügt werden. Die Nachkriegszeit brachte zuerst „Heimat“ als eine Art Konsumgut hervor, ab den 1970er Jahren war dann die Rede von der „aktiven“ und „partizipativen“ Heimat als Kampfbegriff der neuen Sozial‑, Umwelt- und Ökobewegungen. Die jüngste Heimat-Konjunktur wiederum wird gemeinhin als Reaktion auf Globalisierung und Virtualisierung sowie als Folge von Individualisierung und Pluralisierung erklärt.12 Als Einsicht kann gelten, was die Berliner Kulturwissenschaftlerin Beate Binder formuliert hat: Dass die Vorstellung einer Heimat, wie sie die Moderne erfunden hat, immer zwiespältige Gefühle auslösen muss. Sie bedeutet nicht nur Glück und Geborgenheit, sondern war und ist auch ideologisch aufgeladener Ausgangspunkt für Vertreibung und Vernichtung.13 In diesem Sinne (Hgg.), Heimat und Identität. Probleme regionaler Kultur. 22. Deutscher Volkskunde-Kongress in Kiel vom 16. bis 21. Juni 1979, Neumünster 1980, 9 – 24 (= Bausinger, Heimat und Identität); Hermann Bausinger, „Heimat in einer offenen Gesellschaft. Begriffsgeschichte als Problemgeschichte“, in: Jochen Kelterer (Hg.), Die Ohnmacht der Gefühle. Heimat zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Weingarten 1986, 89 – 115 (= Bausinger, Heimat in Gesellschaft). 11   Eduard Spranger, „Der Bildungswert der Heimatkunde“, in: Otto Friedrich Bollnow / Gottfried Bräuer (Hgg.), Gesammelte Schriften, Bd. II: Philosophische Pädagogik, Heidelberg 1973 [1923], 294 – 319. 12   Vgl. zur Geschichte des Heimatbegriffs Bausinger, Heimat in Gesellschaft, 89 – 115; Simone Egger, Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden, München 2014, 16 – 69 (= Egger, Heimat); Konrad Köstlin, „Heimat denken. Zeitschichten und Per­ spektiven“, in: Manfred Seifert (Hg.), Zwischen Emotion und Kalkül. „Heimat“ als Argument im Prozess der Moderne, Leipzig 2010, 23 – 38 (= Köstlin, Heimat). 13   Beate Binder, „Heimat als Begriff der Gegenwartsanalyse? Gefühle der Zugehörigkeit und soziale Imaginationen in der Auseinandersetzung um Einwanderung“, Zeitschrift für Volkskunde 104 (2008), 1 – 17, hier 5 (= Binder, Heimat); vgl. Egger, Heimat, 300 – 301.

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erscheint der Heimatbegriff neuerdings als Möglichkeit, Beheimatungsprozesse deutscher Juden in Israel kulturanthropologisch zu untersuchen, wofür auf den in den 1990er Jahren postulierten Begriff der „Multi-Sited Ethnography“ rekurriert wird.14 Am Beispiel deutscher Juden in Israel zeigt Katharina Hoba, dass Vertreibung, Flucht und Shoah die spätere Auseinandersetzung mit der alten Heimat nicht etwa obsolet machen, sondern für das Verständnis der neuen Heimat eine ausschlaggebende Rolle spielen.15 Und Corinne Susanek stellte ihre Untersuchung der von jüdischen Exilanten verfassten Autobiografik zur Shoah unter den Titel „Neue Heimat Schweden“, da Migranten- und Shoah-Literatur erst im Dialog mit der kulturellen Umgebung des Aufnahmelandes entstehen konnte.16 Nicht zuletzt die Ambivalenz und die Mehrdeutigkeit des Heimatbegriffs machen es notwendig, mit einem Konzept zu arbeiten, das nicht normativ vorgibt, was als Heimat zu gelten hätte, sondern stattdessen danach fragt, was Heimat für Menschen bedeutet und mit welchen „Beheimatungspraxen“ sie diese im Alltag sowie in der Erinnerung herstellen.17 „Heimat“ wird von der Kulturanthropologin Simone Egger so offen wie möglich definiert als „Formen des Bezugnehmens auf etwas, was ihnen [den Menschen] wichtig erscheint“18. Heimat bezeichnet die als intakt wahrgenommene Beziehung zu etwas – seien dies Orte, Landschaften, Menschen, Gegenstände, Emotio­ nen, Ideen oder Einrichtungen –, das dem Einzelnen das Empfinden von Orientierung, Sicherheit, Verlässlichkeit, Zugehörigkeit, Angenommensein und Übereinstimmung verleihen kann.19 Richard Ford hat zum Beispiel 14   Zu diesem Begriff siehe: George E. Marcus, „Ethnography in / of the World System: The Emergence of Multi-Sited Ethnography“, Annual Review of Anthropology 24 (1995), 95 – 117; James Clifford, „Travelling Cultures“, in: Nelson Grossberg u. a. (Hgg.), Cultural Studies, New York 1992, 96 – 116. 15   Katharina Hoba, Generation im Übergang. Beheimatungsprozesse deutscher Juden in Israel, Köln / Weimar / Wien 2016. 16   Corinne Susanek, Neue Heimat Schweden. Cordelia Edvardsons und Ebba Sörboms Autobiografik zur Shoah, Köln / Weimar / Wien 2008. 17   Dabei muss immer mitbedacht werden, dass der individuelle Heimatbegriff auch von diskursiven Bildern, Redeweisen und Repräsentationen von Heimat überlagert wird. Vgl. Egger, Heimat, 19; Manfred Seifert, „Das Projekt ‚Heimat‘ – Positionen und Perspektiven. Zur Einführung“, in: Ders. (Hg.), Zwischen Emotion und Kalkül. „Heimat“ als Argument im Prozess der Moderne, Leipzig 2010, 9 – 22, hier 20. 18   Egger, Heimat, 298. 19   Vgl. Bausinger, Heimat und Identität, 19; Hermann Bausinger, „Heimat und Globalisierung“, Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LV / 104 (2001), 121 – 135, hier 130 (= Bausinger, Heimat und Globalisierung); Egger, Heimat, 31, 78, 298; Binder, Heimat, 11 – 12. Insofern wird auch die Diskussion um „Heimat als deutsches Gefühl“ und um die Unübersetzbarkeit von „Heimat“ obsolet: Der Begriff habe im Deutschen zwar – aufgrund der

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bekannt, dass Heimat dort sei, wo seine Frau zu Hause ist; eine Aussage, die sich auch beim deutsch-jüdischen Philosophen Hermann Levin Goldschmidt mit Blick auf Zürich findet.20 Damit ist der Prozess der Beheimatung, wie Beate Mitzscherlich aus einer psychologischen Perspektive ausführt, eine individuelle Leistung: Heimat muss gefunden, errungen, gestaltet werden, im Sinne einer lebenslangen Konstruktion.21 Wo dies aber prekär, ungesichert, angegriffen oder verleumdet erscheint, wird Heimat zum Problem und zur Deutungsfrage, die zur Auseinandersetzung zwingt: Wenn Heimat aus Not und Drangsal anderswo, anderswie von Neuem konzipiert werden muss, erscheint das Antonym zu Vergessen vielleicht in der Tat nicht Erinnern, sondern Gerechtigkeit zu sein: ein Verhältnis, das erst nach Aufarbeitung und Erinnerung an erlittene Untat ruft und dann allmählich von Neuem zur Wiedergewinnung von verlorenem Vertrauen führen kann.22 Aus ihren Erfahrungen in der Arbeit mit jüdischen Exilanten und Opfern der argentinischen Militärjunta hat Ruth Schwarz, die sich selber der Verfolgung durch Flucht nach Frankreich und der Schweiz entziehen konnte und dann 1952 nach Buenos Aires gelangte, deutlich gemacht, dass in der Welt der Idolatrie, welche Diktaturen charakterisiert, Heimat und Erinnerung nicht gewonnen werden können; erst im Vertrauen auf eine Welt des Wiedererkennens von Freiheit kann sich Heimat, als Zu-Hause-Sein, ereignen und so der Mensch zu sich kommen.23 Heimat kann dann in der Erinnerung als ein Wiedererkennen im geografischen Raum lokalisierbar sein, aber sie muss nicht: kulturelle, soziale, politische und moralische Aspekte sind mindestens ebenso damit verknüpft, ganz im Sinne von Heinrich Heine, der ein Buch gar als portative Heimat bezeichnete – womit nicht zuletzt die Frage interessant bleibt, welche Bücher Exilanten mit sich nahmen, als sie die alte Begriffsgeschichte – gewisse Nuancen, die er in anderen Sprachen nicht habe, aber das Gefühl „Heimat“ sei universell. Vgl. Bausinger, Heimat und Globalisierung, 133; Egger, Heimat, 31. 20   Interview mit Richard Ford, Neue Zürcher Zeitung (9.12.2015), 47, und Tages-Anzeiger (21.1.2016), 35; Hermann Levin Goldschmidt, „Stoa Heute“, in: Ders., Aus den Quellen des Judentums. Aufsätze zur Philosophie (Werkausgabe in neun Bänden), Bd. IV, hg. v. Willi Goetschel, Wien 2000, 21 – 83, hier 79. 21   Beate Mitzscherlich, „Heimat ist etwas, das ich mache“. Eine psychologische Untersuchung zum individuellen Prozess von Beheimatung, Pfaffenweiler 2000. 22   Dies berichtet Yerushalmi, Feld, 19, über seinen Freund Pierre Birnbaum, der diese Gegenüberstellung – oubli et justice – einer Umfrage in Le Monde vom 2. Mai 1987 zum Prozess gegen Klaus Barbie entnahm. 23   Ruth Schwarz, Idolatría del poder o reconocimento. Dos modos de vivir y relacionarse, Buenos Aires 1996, 34 ff. Zu Ruth Schwarz vgl. Jacques Picard, Gebrochene Zeit. Jüdische Paare im Exil, Zürich 2009, 143 – 218 (= Picard, Zeit).

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Heimat zu verlassen sich gezwungen fanden.24 Gegen G. W. F. Hegel, für den das angeblich heimatlose, sich rätselhaft stets erneuernde „Volk des Buches“ lediglich eine unheimliche Erkrankung darstellte, moniert George Steiner: „Der Text ist das Zuhause, jeder Kommentar eine Heimkehr“ – indem der exilierte Jude liest, kommentiert, aufführt und solcherart den Dialog praktizierend „unser Heimatland“ als ein „lebensspendendes Echo“ hervorbringt.25 Es gilt deshalb als weiteres Fazit die Pluralität, die unterschiedlichsten Formen von Beheimatungen, denen wir in der sozialen und imaginierten Wirklichkeit begegnen, bewusst zu halten: Wie richten sich Menschen an neuen Orten, zum Beispiel einer Berufsstätte wie dem Schauspielhaus, und in neuen Situationen ein? Wie eignen sie sich diese an? Wie stellen sie Zugehörigkeit her und bauen ein Zuhause auf? Wie verleihen sie ihrem Leben in einer neuen Situation Sinn? Kurzum: wie schaffen sich Menschen immer wieder neue Heimaten? Und wie gehen sie dabei mit ihren alten Heimaten um?26 Die in solchen Fragen implizierte Pluralität des Heimatbegriffs muss mithin auch im Kontext des in den 1920er und 1930er Jahren in Nordamerika ausformulierten Kulturbegriffs verortet werden – etwa bei Horace Kallen aus der Schule des philosophischen Pragmatismus oder bei Franz Boas und der kulturrelativistischen Schule der Cultural Anthropology.27 Beide weigerten sich, den Kulturbegriff als einen epistemisch festgefügten, semantisch abschließbaren Container zu verstehen, vielmehr rückten sie Wirkungen und Dynamiken von Kulturen und Kontaktzonen in den Vordergrund.28 Nicht 24   Genauer: Heinrich Heine bezeichnete die Tora als „portatives Vaterland“, das die Juden vor der Zerstörung des Zweiten Tempels gerettet hatten und im Exil „mit sich herum­schleppen“. Heinrich Heine, „Geständnisse, geschrieben im Winter 1854“, in: Ders., Sämtliche Schriften, Bd. VI, Erster Teilband, hg. v. Klaus Briegleb, München / Wien 1985, 443 – 501, hier 483. 25   Steiner, Heimatland Text, 251. 26   Vgl. Binder, Heimat, 9 – 12. Gerade im Alltagsverständnis ist die Vorstellung von Heimat als „territorialisierter Essenz“, d. h. dass Heimat an einem – und zwar nur an einem – bestimmten, geografisch lokalisierbaren Ort stattfindet, jedoch weiterhin sehr verbreitet. 27   Horace M. Kallen, „Democracy Versus the Melting Pot: A Study of American Natio­ nality“, The Nation (18.2.1915), 190 – 194, The Nation (25.2.1915), 217 – 220, 1924 unter demselben Titel als Buch veröffentlicht; Franz Boas, Anthropology and Modern Life, New York 1962 [1928]; Franz Boas, Aryans and Non-Aryans, New York 1934. 28   Vgl. Gelya Frank, „Jews, Multiculturalism, and Boasian Anthropology“, American Anthropologist 99 (1997), 731 – 741; Herbert S. Lewis, „The Passion of Franz Boas“, American Anthropologist 103 (2001), 447 – 467; Herbert S. Lewis, „Boas, Darwin, and Anthropology“, Current Anthropology 42 (2001), 381 – 406; Werner Kummer, „Franz Boas und die antievolutionistische Wende in Anthropologie, Ethnologie und Linguistik“, in: Volker Rodekamp (Hg.), Franz Boas 1858 – 1942. Ein amerikanischer Anthropologe aus Minden, Bielefeld 1994, 39 – 54; Bernd Weiler, Die Ordnung des Fortschritts. Zum Aufstieg und Fall der Fortschrittsthese in der „jungen“ Anthropologie, Bielefeld 2006, 296 – 365.

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zufällig waren beide deutsche Juden, die in jungen Jahren nach New York migrierten.29 Heimat wird man in dieser Tradition heute immer als prozessual, bewegt und aktiv denken müssen, sie tritt immer nur im Plural auf. So verstanden ist Heimat begriffsgeschichtlich der Kultur ähnlich, insofern einst Kultur im Singular als höfisches Attribut der „Menschheit“ schlechthin, hingegen Heimat als zumeist volkskundliches Attribut der lokalen religiösen oder ethnischen Ab- und Herkunft verstanden wurde. Dem hat die Per­ spektive von Boas, mit seiner Matrix einer Vielzahl jeweils eigentümlicher, selbstredender Hervorhebungen von Kultur, ein Ende bereitet, auch wenn spätere Epigonen den Kulturbegriff (ähnlich dem enggeführten Heimatbegriff) wieder zu homogenisieren versuchten. Nicht weniger gepriesen haben die Vielfalt von Menschen, Gruppen, Kulturen und Heimaten bereits Isaiah Berlin, der dafür Giambattista Vico und Johann Gottfried Herder als Zeugen aufruft30, und besonders Hannah Arendt, die in Paris auf das Hiob-Fragment von Bernard Lazare zurückgreifen konnte: „Nichts scheint mir für die Menschheit so wichtig wie Vielfalt [. . .]. Der menschliche Reichtum ist auf Vielfalt begründet [und] trägt dazu bei, Schönheit in die Welt zu bringen; sie ist eine Quelle von Formen, Gedanken und Bildern.“31 Alle diese Plä­ doyers erkennen auch den gravierenden Vorteil, nicht jene alten Antinomien zwischen Heimat und Zivilisation oder Kultur und Zivilisation als jeweils homogene Entgegensetzung zu bedienen, die seit dem späten 18. Jahrhundert so lange den Abgrund zwischen dem Ideal gebildeter Bürgerlichkeit oder dann mittelständischer Biederkeit einerseits und der Idee eines expansionistischen Fortschritts andererseits, welcher in alle Ecken der Welt zu tragen war, terminologisch eingekleidet hat.32 Die Idee der „Kultur“ und die darauf gegründete Kulturwissenschaft nimmt deswegen in der europäischjüdischen Geschichte eine herausragende Stellung ein.33 Georg Brandes, 29

  Vgl. Jacques Picard, „Horace Kallen (1882 – 1974): Pragmatic Modernism“, in: Ders. u. a. (Hgg.), Makers of Jewish Modernity. Thinkers, Artists, Leaders, and the World They Made, Oxford / Princeton 2016, 220 – 232. 30   Isaiah Berlin, The Crooked Timber of Humanity. Chapters in History of Ideas, London 1990, 59. 31   Bernard Lazare, Le fumier de Job. Fragments inédits précédés du portraits du Bernard Lazare par Charles Péguy, Paris 1928; deutsches Zitat nach Biale, Traditionen, 146; Hannah Arendt, The Human Condition, Chicago 1958 (dt.: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München / Zürich 2002), hat diesen Gedanken prominent aufgenommen. 32   Dazu Philippe Descola, Jenseits von Natur und Kultur, Berlin 2011, 7 – 50, 120 – 138; Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. I, Frankfurt a. M. 1980, 7 – 50. 33   Dazu die Beiträge zum deutschen Sprachraum in Bernhard Greiner / Christoph Schmidt (Hgg.), Arche Noah. Die Idee der ‚Kultur‘ im deutsch-jüdischen Diskurs, Freiburg im Breisgau 2002.

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der 1927 verstorbene dänisch-jüdische Literatur- und Kulturwissenschaftler, dem eine wichtige Rolle bei der Ablösung der alten normativen Poetik durch den Vergleich von Methoden und Feldern zukommt, hat diese seit den 1920er Jahren vermehrt einsetzende Theorietradition der Pluralisierung mit dem Satz auf den Punkt gebracht, es handle sich um jene „Eigenschaft, uns das Fremde solchergestalt zu nähern, dass wir es uns intellektuell aneignen können, und uns vor dem Eigenen solcherart zu entfernen, dass wir es zu überschauen vermögen“.34 Was also auch mit dem Begriff Heimat als Plural auf die Bühne des Welttheaters tritt, ist der Versuch, eine lange geübte Trennung zwischen autonomisierten Epistemen und eine entsprechende Engführung des alten Heimatbegriffs aufzulockern, zu vermeiden oder aufzuheben. Welche Heimaten für Kurt Hirschfeld im Zürcher Exil der Nachkriegsjahre in welchen Formen eine Rolle spielten, kann aus den andauernden Auseinandersetzungen, wie sie bei Kurt Hirschfeld aus den Quellen greifbar sind, hier nachfolgend abgelesen werden. Das Ringen um die eigene Beheimatung erscheint darin geradezu als der Normalfall einer Suchbewegung nach differenten Möglichkeiten. Heimat wird zum Prozesshaften, und ein Exilant wie Hirschfeld wird im Verlaufe seines Lebens aus politischen, beruflichen oder privaten Erwägungen „von einer Situation in eine andere“ geraten können und vor der Herausforderung stehen, sich von Neuem das anzueignen, was Heimat genannt werden kann.35 Die Umstände, ob und wie man den Wohnort oder den Arbeitsplatz freiwillig gewechselt hat oder, im Gegenteil gemobbt, vertrieben und auch noch enteignet wurde, liegen wie ein Schatten auf dem Umgang mit alten und neuen Heimaten.

Bleiben oder Zurückkehren? Lockungen aus einer unheimlichen Heimat Die Zeugnisse über Hirschfelds Haltung zur Schweiz und der Frage des Bleibens und Zurückkehrens nach Deutschland sind nicht sonderlich umfangreich. Doch was wir kennen, verweist auf eine ambivalente Haltung, auf ein Ringen mit sich selber. Hirschfeld tat sich immer wieder schwer zu bestimmen, wohin er gehörte, wo er wirken wollte, wo er sich niederlassen würde, wo er dereinst sterben möchte. 34   Georg Brandes, Hauptströmungen der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. I, Charlottenburg 1900, 1; dazu Sandra Pott, Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke, Berlin 2004, 198. 35   In diesem Sinne Egger, Heimat, 298.

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Bezüglich der Flüchtlinge und sogenannten „Emigranten“, die den Häschern der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik entflohen waren, blieb die schweizerische Politik auch nach 1945 harsch eingestellt. Es galt das Transitprinzip: Man hatte sich um Weiterwanderung zu bemühen, nach 1945 auch um Rückwanderung. Die meisten der jüdischen Flüchtlinge sind tatsächlich seit 1944 weitergewandert. Ihre Wunschziele waren hauptsächlich die USA und das damals britische Palästina bzw. Israel, wie eine Erhebung der in Genf domizilierten Aides aux Emigrés 1944 ergab.36 Europa, hauptsächlich Frankreich oder Belgien, galten nur einer geringen Anzahl als wünschbare Alternativen. Ein Dauerasyl in der Schweiz nach dem Krieg wurde durch die Behörden nur jenen zugestanden, die krank und gebrechlich und älter als 52 Jahre alt waren, jenen also, die biologisch kaum reproduktionsfähig waren und so keine demografische Kontaminierung darstellten. Um 1952 wurden die letzten Flüchtlinge ihres Status, der sie zur Weiterreise verpflichtete, enthoben, indem sie eine Niederlassung erhielten. Wer wie Kurt Hirschfeld als verdienstvoll galt – hier nicht im materiellen, sondern im kulturellen Sinn – mag nicht den gleichen Druck verspürt haben. Doch auch für die deutschen Exilanten am Theater war die Aussicht, nach Möglichkeit zu bleiben oder nach Deutschland zurückzukehren, eine sehr konkrete, oft disputierte Frage. Das wohl ernsthafteste Angebot aus Deutschland erhielt Hirschfeld 1950: das Schiller-Theater in Berlin zu leiten. Hirschfeld war nicht von vornherein abgeneigt, machte aber gleich auch klar, dass er nicht derart leicht aus Zürich wegzulocken sei: „Dass ich Holterdipolter die Sitzgelegenheit, die sich meinem Hintern bietet, ändere, kommt nicht in Frage, und das wissen die Leute in der Hauptstadt.“37 Ende April reiste er nach Berlin, um das Angebot vor Ort genauer unter die Lupe zu nehmen. An seine Schwester Else Blum und deren Mann Paul berichtete Hirschfeld, die Reise sei „ausserordentlich interessant“ gewesen und für mich persönlich sehr erfolgreich, was einem nach den langen Jahren hier sehr gut tut. Ich glaube allerdings nicht, dass ich den Ruf dorthin annehme. Es sind zu schwierige Verhältnisse, und es spricht auch sonst allerhand dagegen. Ich will Euch aber nicht verschweigen, dass auch sehr viel dafür spricht.38

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  Vgl. Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK), Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Schlussbericht, Zürich 2002, 160; Jacques Picard, Die Schweiz und die Juden 1933 – 1945, Zürich 1994, bes. 356 – 364. 37   Kurt Hirschfeld an Gody Suter, 18.3.1950, LBI, NY, KHC. 38   Kurt Hirschfeld an Else und Paul Blum, 3.5.1950, LBI, NY, KHC.

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Doch was genau meinte er mit „schwierige Verhältnisse“? Sicherlich als ­Erstes die kulturelle Zäsur und intellektuelle Zerrüttung, in der sich die Stadt und ihre Bewohner nach zwölf Jahren NS‑Herrschaft befanden. Die vormalige Fülle an kreativen und kritischen Geistern, die Berlin belebt hatten, war durch die Politik der Drangsalierung, Enteignung, Vertreibung, Deportation und Ermordung vernichtet worden. Die Folgen waren in den Jahren nach 1945 kulturell spürbar als Absenz und Leere, die offenkundig nicht zu kaschieren waren, wie aus einem Brief an Eva Landsberg in New York hervorgeht: Eigentlich sollte ich Dir ausführlich über Berlin berichten, aber ich habe heute so gar keine Lust dazu. Es war im Grunde scheusslich. Die Stadt ist völlig provinzia­ lisiert. Hungernde und vollgefressene Bürger. Das Theater ist von einem höchst provinziellen Niveau, [. . .]. The people of the city ist nicht wiederzuerkennen, und der Wind, das heisst die Berliner Luft, die noch zu Deiner Zeit die Ruinen umwehte, scheint abgestorben, und übrig geblieben ist eine Atmosphäre, die für jemand, der von draussen kommt, schwer zu ertragen ist. Ich sollte eigentlich im Herbst nächsten Jahres dorthin übersiedeln, um höchst erlöblich [sic!] mit Pauken und Trompeten – die sich wahrscheinlich in späterer Zeit dann in Militärmärsche verdichten werden – die Intendanz des Schiller-Theaters zu übernehmen. Ich glaube, ich werde nicht. Der embarras de risches [sic!] scheint mir zwar in Berlin nicht so gross zu sein wie wo anders, aber mir [langts] hier schon.39

Dasselbe Bild Berlins und der Berliner findet sich auch in einer Mitteilung an seinen in die USA emigrierten Freund, den Journalisten, Schriftsteller und Übersetzer Hans Sahl: Berlin ist ungeheuer provinziell geworden, nicht nur in den Darbietungen der Thea­ ter [. . .], sondern auch im Publikum. Das, was früher Berlin anziehend machte, die Fülle netter und amüsanter Leute, ist dahin. Hingegen ist der Oberbürgermeister Reuter eine Figur, über die zu reden sich lohnt, wirklich ein Kerl. Und ich sage das nicht nur, weil er Zeit fand, viele Stunden an mehreren Tagen mit mir nicht nur über die Aufgaben und die Reorganisation der Berliner Theater zu sprechen, sondern ich finde auch seine Haltung bewundernswert und ausgezeichnet. Dazu ein wirklich gebildeter und kluger Mann. – Sonst war Ebbe, grosse Ebbe. [. . .] Die Stadt war ausserordentlich deprimierend. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mich dort besonders wohlfühlen würde.40

Oberbürgermeister Ernst Reuter, der 1935 in die Türkei ins Exil gegangen war und über den Hirschfeld sich hier bewundernd als Ausnahme­ figur äußert, meldete sich nach dem Besuch in Berlin denn auch nochmals 39

  Kurt Hirschfeld an Eva Landsberg, 10.6.1950, LBI, NY, KHC.   Kurt Hirschfeld an Hans Sahl, 19.5.1950, LBI, NY, KHC.

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schriftlich bei Hirschfeld und gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass dieser sich bald an der Gestaltung der Stadt beteiligen werde.41 Reuter steht für jene Kreise des aufrechten Ganges in Deutschland, die darauf drängten, dass die Exilanten zurückkehren, wohl in der Hoffnung, die Leere und Öde aus der Zeit des Nationalsozialismus überwinden zu können. Hirschfelds Schweizer Freund in Berlin, der Tages-Anzeiger-Korrespondent Gody Suter, riet ihm eindringlich von einer Annahme des Angebotes ab: Berlin ruft. Lassen Sie es um Gottes Willen rufen! [. . .] Abgesehen von der unerfreulichen Theatersituation (die einen vielleicht sogar reizen könnte), sind auch noch andere Seiten zu bedenken [. . .]. Als vor ein paar Monaten der Telegraf das Bild eines jüdischen Kindes veröffentlichte, das bei einem Flugzeugunglück als einziges gerettet worden war, erhielt er eine ganze Reihe von Zuschriften, die diese Rettung bedauerten; es gebe immer noch zu viele Juden auf der Welt!42

Er war nicht der einzige, der Hirschfeld aufgrund von weiterhin verbreiteten antisemitischen Haltungen vor einer Rückkehr nach Deutschland warnte. Insbesondere Hirschfelds Schwester Else, die in die USA emigriert war, zeigte sich sehr besorgt: Kurt, willst du wirklich ernstlich nach Berlin?! Du kennst ja meine Einstellung! Lebe lieber ein bescheidenes Leben in der Schweiz, als Luxus in Berlin. Wenn es den Schweinehunden eines Tages mal wieder nicht passt, geben sie dir einen Tritt. Und die Kriegsgefahr!! Ich wünschte, Du würdest in Zürich bleiben!! Musst Du dich den Russen auf die Nase setzen? – Warum kommst Du nicht hierher? Ich denke, dass das vernünftiger ist, als nach Deutschland zurück zu gehen zu den Verbrechern.43

Was hier zum Ausdruck kommt, ist das Dilemma des Juden: Rückkehren hieß, in ein Land kommen, das man als Land der Beraubung und des Todes erfahren musste, und Rückkehren war gleichzeitig eine Suche nach einer verlorenen Heimat, die in der deutschen Landschaft und Kultur lag und in der Erinnerung an glückliche, aber gebrochene Zeiten eingefaltet war. Mit der Epoche des Nationalsozialismus war das lebendige Erbe, das von der Atmosphäre und der Spannung kultureller Anstrengungen deutscher Juden geprägt gewesen war, eine nunmehr verlorene, vernichtete Geschichte. Das 41   Vgl. Ernst Reuter an Kurt Hirschfeld, 5.5.1950, LBI, NY, KHC. Dass Reuter ihn – trotz seiner Absage an Berlin – tief beeindruckt hat, geht aus einer Äußerung hervor, die Hirschfeld in einem Brief an Hans Hirschfeld anlässlich des Todes von Reuter 1953 macht: „Ich wusste ja immer und habe es Dir oft gesagt, dass diese Begegnung mit Reuter zu den schönsten der letzten Jahre gehört. Das war eben ein Mann, und deren gibt es nicht sehr viele.“ Kurt Hirschfeld an Hans Emil Hirschfeld, 23.11.1953, LBI, NY, KHC. 42   Gody Suter an Kurt Hirschfeld, 3.3.1950, LBI, NY, KHC. 43   Else Blum an Kurt Hirschfeld, 21.5.1950, LBI, NY, KHC.

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Haus des deutschen Judentums wurde zerstört, die jüdische Kultur in Europa zu Asche. So lässt sich hier von „Unheimlicher Heimat“ sprechen, vom Unheimlichen in der Geschichte, wie es Susanne C. Knittel mit dem Begriff einer Historical Uncanny am Beispiel von Triest postuliert hat.44 Diese Stimmung wird in einer Erfahrung von Hermann Levin Goldschmidt, der 1938 von Berlin nach Zürich geflohen war und nach dem Krieg selber um Bleiben und Rückkehr rang, am Beispiel von Berlin exemplarisch fassbar: Er suchte dort 1953 während eines Besuches das Haus seiner Kindheit und fand in der Hausecke, diagonal unter seinem Geburtszimmer, wo einst ein Blumenladen gewesen war, eine neu eingerichtete Buchhandlung vor, in deren Schaufenster ein einziges Buch, doch in zahlreichen Drucken, ausgestellt wurde – es trug den für ihn chiffrehaltigen Titel: Bin ich noch in meinem Haus? Fortan wollte Goldschmidt in der Schweiz bleiben, für die er sich trotz Hindernissen als „Heimat Zürich“, als „menschliche Landschaft“, auch als „deutschsprachige Siedlung“ für die eigene philosophische Arbeit begeistert hat.45 Die für seine Entscheidung symbolhafte Episode mag deutlich machen: Bleiben hieß, diese Sprache und Kultur weiterhin leben zu können, aber in der Enge zu sein. Nicht weil Zürich geistig als eng empfunden wurde – das war es auch, manchmal auch nicht, wie die Briefe an und von Hirschfeld zeigen – oder weil es in Luftlinie von Zürich bloß zwanzig Kilometer nach Eglisau nahe der reichsdeutschen Grenze waren. Vielmehr weil es für einen Juden eine innere Grenze gab, die trotz Lockungen nach 1945 nicht so leicht zu überschreiten war. Selbst bei einem so autochthon zürcherischen Juden wie Kurt Guggenheim lässt sich dies nachvollziehen, wenn er gegenüber Max Frisch, Adolf Muschg und weiteren darauf beharrte, schweizerische Literatur zu machen, weil ihm seit 1933 und erst recht nach 1945 nach Deutschland zu gehen innerlich verwehrt blieb: „Für uns Juden in der Schweiz [. . .] ist die Schweiz keine Selbstverständlichkeit, sondern die Gnade einer echten Heimat, einer Heimat der Geächteten, Verspotteten und Verfolgten.“46 Dieses 44   Susanne C. Knittel, The Historical Uncanny: Disability, Ethnicity, and the Politics of Holocaust Memory, New York 2014. 45   Hermann Levin Goldschmidt, „Heimat Zürich“, in: Ders., Jüdisches Ja zur Zukunft der Welt. Eine schweizerische Dokumentation eigener Mitverantwortung, Schaffhausen 1981, 161 – 173; vgl. Picard, Zeit, 110. Beim Buch im Geburtshaus handelte es sich um Gerhart Pohl, Bin ich noch in meinem Haus? Über Gerhart Hauptmann, Berlin 1953. Der Umschlag zeigt eine Porträtzeichnung von Otto Linnekagel. 46   Tagebuch vom 6. November 1980, in: Charles Linsmayer, „Nachwort“, in: Kurt Guggenheim, Werke VIII, hg. v. Charles Linsmayer, Frauenfeld 2014, 262 – 268, hier 266 (= Linsmayer, Nachwort).

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Empfinden spricht bei Hirschfeld beispielsweise aus seiner Zeitungslektüre: „Die politischen Kurse in Deutschland sind alle nicht erspriesslich, und ob Du [Hans Sahl] für eine SPD-Zeitung, eine DP‑Zeitung oder eine CDUZeitung fährst, ist wohl wurscht. Sie sind alle gleich widerlich und alle gleich nationalistisch.“47 Für Hirschfeld war vor allem die Verbindung, jene „Gnade einer echten Heimat“, die auch er mit Zürich als moralische Verpflichtung fühlte, ausschlaggebend für seine Absage an Berlin, wie er an Sahl schreibt: Berlin habe ich heute sozusagen abgexchrieben [sic!]. Ich habe es nicht leichten Herzens getan, die Aufgabe hatte mich gelockt, aber ich kann hier nicht weglaufen. Ob es richtig ist, was ich gemacht habe, liegt im Schoss der Zeit, aus dem noch nicht viel Gutes erwachsen ist. Ich glaube, ich hätte es tun müssen, aber der Mensch kann nicht über seinen Schatten springen und die moralische Verpflichtung, die ich hier spüre, ist so stark, dass ich nicht dagegen zu handeln vermag.48

Deutlich wird, dass Heimat auch eine ethische Komponente hat, also nicht nur meint, „sozial eingebunden, sondern auch verantwortlich zu sein“.49 Dies kommt etwa im Brief an Hans E. Hirschfeld zum Ausdruck, Kurt Hirschfelds Berliner Namensvetter, der 1949 einem Ruf Reuters als Leiter des Presseund Informationsamtes nach Berlin folgte50 und mit dem Hirschfeld eine langjährige, regelmäßige Korrespondenz pflegte: Ich habe immer betont, ich kann hier nur fortgehen, wenn ich die wirkliche Zustimmung  – und zeichne sie sich auch nur durch Passivität aus  – meiner hiesigen Freunde habe. Das Gegenteil ist eingetreten. Man beschwört mich, nicht zu gehen. Man bekniet mich von allen Seiten, und das Gewissensdilemma, in das ich hineinkomme, ist so, dass ich mich für hier unter den gegebenen Umständen entscheiden muss. [. . .] Ich weiss, Ihr werdet das verstehen, und ich hoffe, Ihr werdet es so sehr bedauern, wie ich es bedaure; aber ich kann es nicht ändern. [. . .] Mich hätte die Aufgabe gelockt; mich hätte eine Zusammenarbeit mit Reuter und Dir gelockt; aber ich kann und vor allem ich darf nicht tun, was gegen eine moralische Verpflichtung, die ich nun einmal hier habe, verstösst. [. . .] ich bitte Euch um Verständnis; man kann nicht über seinen eigenen Schatten springen.51

Das Gefühl der Zugehörigkeit und des guten Lebens verpflichtet – eine Verpflichtung, die Hirschfeld insbesondere dem Zürcher Verleger Emil Oprecht 47

  Kurt Hirschfeld an Hans Sahl, 3.9.1953, LBI, NY, KHC.   Kurt Hirschfeld an Hans Sahl, 14.10.1950, LBI, NY, KHC. 49   Egger, Heimat, 157. 50   Dies dokumentiert sich auch in der Herausgabe von Reuters Schriften durch Hans Hirschfeld; vgl. Hans E. Hirschfeld / Hans J. Reichardt (Hgg.), Ernst Reuter. Schriften und Reden, 4  Bde., Frankfurt a.  M. / Berlin / Wien 1972 – 1975. 51   Kurt Hirschfeld an Hans Emil Hirschfeld, 29.6.1950, LBI, NY, KHC. 48

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gegenüber empfand, der eine wichtige Anlaufstelle für Hirschfeld, wie auch für viele weitere Migranten, dargestellt hatte und der überdies Gründungsmitglied der Neuen Schauspiel AG war und dieser bis zu seinem Tod 1952 als Verwaltungsratspräsident vorstand.52 Als im Juli 1950 die definitive Entscheidung gefallen war, schrieb Hirschfeld noch einmal an seinen Namensvetter in Berlin53, wobei deutlich wird, dass er innerlich zwischen dem von ihm bewunderten Ernst Reuter einerseits und Emil und Emmie Oprecht andererseits stand, denen er sich menschlich zutiefst verpflichtet fühlte, insbesondere angesichts der schweren Zeit, die das Schauspielhaus damals durchlebte.54 Dass für Hirschfeld damit die Frage „Zurückkehren oder Bleiben?“ nur für den Moment geklärt war, zeigt sich im Postscriptum eines Briefes an Hans Hirschfeld ein halbes Jahr später: „P. S. Ich höre, dass inzwischen die Theaterfrage entschieden ist und dass Ihr aus guten Gründen Barlog nehmt. Nun, das muss nicht so schlecht sein, und nach Ablauf seines Vertrages wird man wieder reden können.“55 Seinen Entscheid für Zürich verstand Hirschfeld durchaus als vorläufig, wie auch aus einer Bemerkung zu seiner Bekannten Ellen Bernkopf hervorgeht: „Die deutschen Theaterpläne habe ich sozusagen zerschlagen und ich bin zunächst weiter hier.“56 In den folgenden Jahren folgten denn auch weitere Angebote oder auch nur Gerüchte, in leitender Stellung nach Berlin, Hamburg, München oder Darmstadt zu gehen. Im Herbst 1952 bekundete Hirschfeld selbst das Bedürfnis nach Veränderung: „Ich muss einmal Luftveränderung haben und ich muss nach 20 Jahren Arbeit in Zürich endlich einmal raus [. . .]. Ich muss ja nicht weg, sondern ich möchte.“57 Auch einige Monate später merkte Hirschfeld an, seine Position in Zürich weiterhin als vorläufig zu verstehen: „Ich werde nun wohl auch das nächste Jahr hier verbringen. Was wird, weiss ich nicht.“58 Als er Anfang 1955 vom Gerücht Wind bekam, dass der Direktor des Kurfürstendamm-Theaters nach Düsseldorf wechseln soll, ließ Hirschfeld Gody Suter sein Interesse wissen und bat darum, dieses in

52   Diese AG pachtete 1938 das Schauspielhaus vom ehemaligen Direktor Ferdinand Rieser und übernahm den Theaterbetrieb. Vgl. Ute Kröger / Peter Exinger, „In welchen Zeiten leben wir!“. Das Schauspielhaus Zürich 1938 – 1998, Zürich 1998, 31 – 42 (= Kröger / Exinger, Zeiten). 53   Vgl. Kurt Hirschfeld an Hans Emil Hirschfeld, 6.7.1950, LBI, NY, KHC. 54   Vgl. Kröger / Exinger, Zeiten, 152 – 156. 55   Kurt Hirschfeld an Hans Emil Hirschfeld, 1.12.1950, LBI, NY, KHC. 56   Kurt Hirschfeld an Ellen Bernkopf-Catzenstein, 27.2.1951, LBI, NY, KHC. 57   Kurt Hirschfeld an Heinz Hilpert, 6.10.1952, LBI, NY, KHC. 58   Kurt Hirschfeld an Karl Heinrich Ruppel, 6.1.1953, LBI, NY, KHC.

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Berlin bekannt zu machen.59 Bezüglich der Schweiz beklagte Hirschfeld die „Öde der Zürcher Kritik“60 und wusste sich mit Rolf Liebermann über die stumme und alles andere als kleine Rolle des Antisemitischen einig.61 Dennoch blieb Hirschfeld in Zürich, auch wenn Regiearbeiten in Düsseldorf, Hannover und Tel Aviv ihm Luft verschaffen mochten. 1960, als sich abzeichnete, dass der Direktorenposten am Landestheater Darmstadt frei würde, setzte sich Hirschfeld ein letztes Mal mit der Frage des Zurückkehrens oder Bleibens auseinander.62 Hirschfeld hatte das Gefühl, dass ein allfälliges Angebot aus Darmstadt aufgrund seines Alters die wohl letzte Option wäre, doch noch von Zürich wegzugehen, wie er dem Schriftsteller Kasimir Edschmid gegenüber kundtat: „Nun wissen Sie also, ich bin 58, also nicht mehr der Jüngsten einer. Wenn also Darmstadt doch noch etwas von mir will, muss es jetzt sein.“63 Den Spekulationen um ein mögliches Angebot aus Darmstadt wurde aber ein jähes Ende gesetzt, als sich abzeichnete, dass der bisherige Schauspielhaus-Direktor Oskar Wälterlin nach Basel gehen und Hirschfeld Kronfavorit auf dessen Nachfolge sein würde.64 Wieder und ein letztes Mal scheint Hirschfeld mit sich zu ringen, wohin er will und wohin er gehört. Der Ausgang dieses Ringens ist bekannt: Hirschfeld wurde im Juli 1960 zum Direktor des Schauspielhauses ernannt und sollte das Theater bis zu seinem Tod 1964 leiten. Der Entscheid für Zürich erscheint in der Darstellung Hirschfelds weniger als bewusster Entschluss seiner selbst, als ein Ergebnis des Laufs der Dinge: „Nun ist alles ganz anders gekommen als ich vermutet und erwartet habe. Ich dachte immer, die Endstation würde ausserhalb Helvetiens liegen und ich habe mir oft Vorwürfe gemacht, dass sie nicht doch Berlin hiess. Aber nun ist es so und ich soll es hinnehmen.“65 59   Vgl. Kurt Hirschfeld an Gody Suter, 21.1.1955, LBI, NY, KHC; Gody Suter an Kurt Hirschfeld, 2.2.1955, LBI, NY, KHC; Gody Suter an Kurt Hirschfeld, 19.2.1955, LBI, NY, KHC. 60   Kurt Hirschfeld an Gody Suter, 18.3.1950, LBI, NY, KHC. 61   „Gestern soll eine entscheidende Sitzung im Stadttheater stattgefunden haben, von der ich auch nichts weiss. Ich kenne nur das Thema der Sitzung und weiss, dass man alle Vorschläge diskutiert hat. Die Vorschläge sind: Liebermann, Generalintendanz Wälterlin, Rennert, [. . .]. Die Sache zieht sich aber wieder, und es scheint doch so, als ob das Antisemitische keine kleine Rolle spielt; etwas, was ich ja immer befürchtet habe.“ Kurt Hirschfeld an Rolf Liebermann, 13.1.1956, LBI, NY, KHC. 62   Vgl. Kurt Hirschfeld an Kasimir Edschmid, 5.3.1960, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld an Hanns Wilhelm Eppelsheimer, 25.2.1960, LBI, NY, KHC; Kasimir Edschmid an Kurt Hirschfeld, 27.2.1960, LBI, NY, KHC; Kasimir Edschmid an Kurt Hirschfeld, 8.4.1960, LBI, NY, KHC. 63   Kurt Hirschfeld an Kasimir Edschmid, 12.4.1960, LBI, NY, KHC. 64   Vgl. Kurt Hirschfeld an Kasimir Edschmid, 12.4.1960, LBI, NY, KHC; Vgl. auch Kurt Hirschfeld an Hanns Wilhelm Eppelsheimer, 23.4.1960, LBI, NY, KHC. 65   Kurt Hirschfeld an Hans Emil Hirschfeld, 11.8.1960, LBI, NY, KHC.

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Abschiede von alter Heimat: Friedhof, Restitution, Gastspiele, Preise, Festschrift Eine andere, persönliche Verbindung mit Deutschland, die Hirschfeld nicht wenig beschäftigte, war Lehrte, der Ort seiner Geburt, Kindheit und Jugend, in der Nähe von Hannover. In dem zu Lehrte eng benachbarten Burgdorf ruht auf dessen jüdischem Friedhof seine Mutter Selma Hirschfeld (geb. Auerhahn; 1877 – 1926). Dass die letzte Ruhestätte für einen Juden von Bedeutung war, zeigt beispielhaft Max Horkheimer, der nicht in Frankfurt, sondern in Bern begraben sein wollte und es auch ist, weil dort schon seine Eltern liegen.66 Hirschfeld verwendete viel Energie auf die Wiederinstandsetzung und Pflege des Grabes, nachdem er im Sommer 1950, auf einer Reise nach Hamburg, zum ersten Mal seit Kriegsende wieder in Lehrte und Burgdorf Halt gemacht hatte.67 Er berichtet an seine Schwester: Ich war also in Burgdorf am Grabe von Mutter. Es war nicht in Ordnung. Nun habe ich den Friedhofsgärtner von gegenüberliegenden [sic!] Friedhof engagiert, der für 25 Mark im Jahr wenigstens das Grab in Ordnung halten wird. Ich habe ihm zwei Jahre vorausbezahlt, denn wer weiss, wann wieder jemand in die Gegend kommt. Darnach bin ich auf das Bürgermeisteramt gegangen und habe furchtbaren Krach geschlagen; denn der Friedhof selbst ist so im Verfall, und niemand hat die Kompetenz, sich zu kümmern, d. h. niemand will sie haben; denn der Friedhof müsste vollkommen neu eingefasst und vollkommen neu gemacht werden, was tausende von Mark kosten würde. Ich habe mich nun meinerseits an das Innenministerium gewandt und dorthin geschrieben, dass man die Sache unbedingt in Ordnung bringen muss, dass eine zentrale Regelung dieser Frage nötig sei. Dem Bürgermeister in Burgdorf habe ich erklärt, dass wenn die Kosten nicht in die Tausende gehen, wir selbstverständlich bereit wären, etwas für den Friedhof zu tun. Man müsste in dem Fall die paar überlebenden Burgdorfer auch anfragen, ob sie bereit wären dazu; denn wenn nach und nach etwas gemacht wird, ist der Friedhof wenigstens vor dem Verfall gerettet.68

Der Bürgermeister von Burgdorf kann Hirschfeld mitteilen, dass das Land Niedersachsen für die Wiederinstandsetzung des Friedhofes aufzukommen hat, die jüdische Gemeinde danach die Unterhaltskosten übernehmen muss.69 66   Vgl. Dan Diner, „Am Grab von Max Horkheimer“, in: René Bloch / Jacques Picard (Hgg.), Wie über Wolken. Jüdische Lebens- und Denkwelten in Stadt und Region Bern, 1200 –  2000, Zürich 2014, 413 – 415. 67   Ankündigung der Reise an seine Schwester in: Kurt Hirschfeld an Else Blum, 19.6.1950, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld an Else Blum, 5.7.1950, LBI, NY, KHC. 68   Kurt Hirschfeld an Else und Paul Blum, 14.8.1950, LBI, NY, KHC. 69   Vgl. Kurt Hirschfeld an Stadtdirektor Röhrig (Burgdorf), 13.12.1950, LBI, NY, KHC; Stadtdirektor von Burgdorf (Name nicht entzifferbar, wohl aber Röhrig) an Kurt Hirschfeld, 24.11.1950, LBI, NY, KHC.

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Immer wieder versicherte sich Hirschfeld in den folgenden Jahren mit einem persönlichen Augenschein, dass der Friedhof in gutem Zustand ist: In Briefen an seine Schwester zeigt er sich zufrieden – „es ist einer der gepflegtesten Friedhöfe, die ich kenne und wir können sehr froh darüber sein“70 – und er bedankt sich schriftlich beim Bürgermeister von Burgdorf.71 Sein Herkunftsort, die Gegend rund um Lehrte, dann Hannover, auch Hamburg, scheinen für Hirschfeld seit 1945 immer wieder wichtiger Bezugsraum zu sein: Er reist wiederholt nach Lehrte, korrespondiert mit Jugendfreunden von dort (Heinrich Rust, Albert Heine), tauscht sich mit dem Schauspieler und Regisseur Kurt Horwitz aus, dessen Mutter ebenfalls auf dem Friedhof Burgdorf liegt, lässt in Lehrte nach einer Haushaltshilfe für sich in Zürich suchen, beschafft sich Bücher über Lehrte.72 Dass gerade die erste Heimat, jene der Geburt, der Kindheit und des Aufwachsens, einen derart starken und auch bewusst aufgesuchten Fluchtpunkt darstellt, ist nicht außergewöhnlich: Diese Heimat gleicht einem Album mit vielen Abbildungen und Versatzstücken, die puzzleartig auftauchen, wenn man an eine bestimmte Zeit zurückdenkt. Die erste Heimat liegt für viele Menschen in der Vergangenheit und ist in der Erinnerung oft vollkommener, als sie in Wirklichkeit war.73

Zu diesem Album dürfte gewiss auch gehören, dass Tetta Scharff, die 1951 Hirschfeld heiratete, die Tochter des Künstlers Edwin Scharff war, auch er ein von den Nazis Verfemter, der aus Ulm stammte und nach 1945 in Hamburg lebte, nicht unweit von dort, wo Hirschfeld einst zu Hause war.

70   Kurt Hirschfeld an Else und Paul Blum, 9.7.1958, LBI, NY, KHC; vgl. weiter Kurt Hirschfeld an Else und Paul Blum, 6.1.1961, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld an Else Blum, 7.11.1953, LBI, NY, KHC. Hirschfeld lässt das Grab seiner Mutter in der Folge von Helene Sturm, wohl einer alten Lehrter Bekannten, pflegen. Kurt Hirschfeld an Helene Sturm, 11.1.1957, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld an Helene Sturm, 30.3.1957, LBI, NY, KHC. 71   Vgl. Kurt Hirschfeld an Bürgermeisteramt Burgdorf, 7.11.1953, LBI, NY, KHC. 72   Vgl. Kurt Hirschfeld an Kurt Horwitz, 30.10.1953, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld an Heinrich Rust, 19.3.1963, LBI, NY, KHC; Heinrich Rust an Kurt Hirschfeld, 6.4.1963, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld an Heinrich Rust, 9.4.1963, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld an Else Blum, 8.6.1963, LBI, NY, KHC. Seine Schwester Else, die von einer alten Freundin aus Lehrte von seiner Suche nach einer Haushaltshilfe erfährt, findet dies „ulkig“ (Else Blum an Kurt Hirschfeld, 1.6.1963, LBI, NY, KHC). Die Bücher bekam er vom damaligen Stadtdirektor Gerhard Falke zugeschickt (Gerhard Falke an Kurt Hirschfeld, 30.3.1964, LBI, NY, KHC). Es sei, so Hirschfeld in seinem Dankesbrief, „der erste Gruss, den ich ausser von meinen wenigen überlebenden Freunden aus Lehrte erhalten habe, und er hat mich deswegen umso mehr berührt“ (Kurt Hirschfeld an Gerhard Falke, 3.6.1964, LBI, NY, KHC). 73   Egger, Heimat, 110 – 111; vgl. zur Kindheitsheimat auch Köstlin, Heimat, 30 – 31.

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Offensichtlich prägten sich Hirschfeld die Verbindungen zu Menschen und Orten in seiner ersten Heimat Lehrte besonders tief ein. Als Hirschfeld 1960 zum Direktor des Schauspielhauses berufen wird und er zahlreiche Gratulationsschreiben erhält, schreibt er aus den Ferien im Wallis seinem alten Lehrter Bekannten Heinrich Rust und bittet, dies zu Hause und beim Bürgermeister bekannt zu machen: „Lehrte geht im Augenblick durch die Weltpresse, und ich nehme an, dass man es in Lehrte nicht weiss“; ihm aber würde „aus reiner Sentimentalität wenigstens [ein Glückwunsch] aus Lehrte“ besonderes Vergnügen bereiten.74 Um Anerkennung in der alten Heimat bemüht sich Hirschfeld auch anlässlich seines 60. Geburtstages, als er die 1962 erschienene Festschrift via seinen Lehrter Jugendfreund Albert Heine, der eine Buchhandlung betreibt, in seiner Geburtsheimat zu verbreiten wünscht.75 Das ersehnte Stück Anerkennung aus seiner Geburtsheimat erfährt Hirschfeld dann 1963, als ihm der Niedersächsische Kunstpreis verliehen wird. In den Quellen ist allerdings wenig darüber zu erfahren, wie Hirschfeld darüber dachte. Einzig an seine Schwester Else Blum berichtet er von der „ziemlich aufregenden“ und „anstrengenden“ Preisverleihung.76 Hirschfeld war sich selbst durchaus bewusst, dass dieses Suchen nach Zustimmung der Geburtsheimat Sentimentalität war. So berichtet er 1962, als er in Hannover Die Physiker von Dürrenmatt inszeniert, an seine Schwester und seinen Schwager in den USA: „Ihr könnt Euch denken, mit welchen Gefühlen ich fahre, aber was sollte ich machen? Die Hannovraner [sic!] waren anlässlich meines Geburtstages so ungewöhnlich nett und haben mich so schön und grosszügig bedacht, dass ich diese Quittung wohl abliefern muss.“77 Und als er dann da ist, vermeldet er: „Es ist schrecklich in Hannover, und ich wünschte, ich hätte es nie gemacht. Blöde Sentimentalitäten!“78 Hirschfeld suchte offenkundig diese Emotionen auf, um sich zu konfrontieren, um sich über sein Verhältnis zur ersten Heimat – einer Heimat der Kindheit und Jugend ebenso wie des Todes und der toten Mutter – klar zu werden. Es war gewissermaßen ein Ort seiner Kraft, den Hirschfeld zum Sprechen brachte. So mag hier gelten, was Idith Zertal schreibt: 74   Kurt Hirschfeld an Heinrich Rust, 17.7.1960, LBI, NY, KHC. Rust gratuliert ihm dann tatsächlich (Heinrich Rust an Kurt Hirschfeld, 24.7.1960, LBI, NY, KHC). Eine Reaktion des Bürgermeisters findet sich in den Gratulationsordnern jedoch nicht. In Hirschfelds Nachlass füllen diese Gratulationsschreiben zwei extra Korrespondenz-Ordner (KHC 1 / 7 und 1 / 8). 75   Vgl. Kurt Hirschfeld an Albert Heine, 11.4.1962, LBI, NY, KHC. 76   Kurt Hirschfeld an Else Blum, 5.11.1963, LBI, NY, KHC. 77   Kurt Hirschfeld an Else und Paul Blum, 19.10.1962, LBI, NY, KHC. 78   Kurt Hirschfeld an Else Blum, 27.10.1962, LBI, NY, KHC.

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Der Tod ist niemals eine definitive Angelegenheit, die Toten bevölkern die Gegenwart und übernehmen darin eine Rolle, je nachhaltiger sie durch die Lebenden, die ihr eigenes Leben auf die Toten projizieren und aus deren Tod persönliche Lehren ziehen, erinnert und zum Sprechen gebracht werden.79

So lassen sich Friedhöfe, wie sie Hirschfeld aufsuchte, aber auch die gelegentlichen Gastspiele, sein Bemühen um Gratulationen aus der alten Heimat sowie Preise und selbst einzelne Inhalte aus der Festschrift durchaus als Indizien für einen langen Abschied aus Deutschland interpretieren. Mit seiner alten Heimat hatte sich Hirschfeld überdies auch anlässlich verschiedener Restitutions- und Wiedergutmachungsverfahren, die die elterlichen Grundstücke in Lehrte und Bassum, Berufsentschädigung, Kapitalentschädigung sowie diverse weitere Wiedergutmachungsansprüche betrafen, zu konfrontieren. Diese Verfahren scheinen Hirschfeld dermaßen zuwider gewesen zu sein, dass er sie zu erledigen möglichst seiner Schwester und seinem Schwager in den USA sowie seinem Freund Heinrich Rust in Lehrte überließ, besonders als es um das elterliche Grundstück in Lehrte ging, mit dessen Verkauf die Geschwister Rust beauftragten.80 Je länger sich das Verfahren um die Restitution des elterlichen Grundstückes in Lehrte hinzog, desto mehr empfand Hirschfeld es als eine „leidige Sache“, die es „aus der Luft zu schaffen“ gilt.81 Offenkundig fühlte sich Hirschfeld dabei in einer ihn zutiefst irritierenden Schütterzone, die seinem Empfinden für die alte Heimat zuwiderlief. Mit dem Verkauf des elterlichen Grundstücks nahm Hirschfeld, der akkulturierte deutsche Jude, der auch Weihnachten feierte,82 sicherlich ein Stück weit von deutschem Boden und seiner Geburtsheimat Abschied. Auch wo es um Entschädigungen für Berufsausfall und materielle Verluste ging, konnte Hirschfeld sich auf den Rat seines Schwagers verlassen. Von ihm wurde er jeweils auch prompt gemahnt, keine Fristen zu verpassen.83 Und seine Schwester redet ihm ins Gewissen: „Paul ist im Moment 79   Idith Zertal, Nation und Tod. Der Holocaust in der israelischen Öffentlichkeit, Göttingen 2003, 9. 80   Vgl. etwa Kurt Hirschfeld an Else und Paul Blum, 4.5.1950, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld an Else und Paul Blum, 14.8.1950, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld an Paul Blum, 28.4.1952, LBI, NY, KHC. Verkauf des Grundstücks: Kurt Hirschfeld an Else Blum, 18.1.1956, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld an Else Blum, 9.4.1956, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld an Else und Paul Blum, 10.4.1956, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld an Else und Paul Blum, 19.6.1956, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld an Else Blum, 18.9.1956, LBI, NY, KHC. Vgl. zudem auch die weitere Korrespondenz mit Heinrich Rust. 81   Kurt Hirschfeld an Else und Paul Blum, 16.3.1951, LBI, NY, KHC. 82   Vgl. Kurt Hirschfeld an Else und Paul Blum, 23.12.1958, LBI, NY, KHC. 83   Vgl. Paul Blum (und Else Blum) an Kurt Hirschfeld, 1.10.1955, LBI, NY, KHC; Else Blum (und Paul Blum) an Kurt Hirschfeld, 20.1.1958, LBI, NY, KHC.

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mit der Wiedergutmachung beschäftigt! Tust Du irgendetwas für Dich u. Tetta in diesen Sachen? [. . .] Schenken soll man diesen Seges [sic!] auf keinen Fall etwas.“84 Sie gesteht zwar ein: „Sicher geht alles sehr langsam voran, aber trotzdem darf man ihnen doch nichts schenken. Es ist furchtbar viel Arbeit u. nimmt Zeit.“85 Der Brief seines Schwagers Paul, der Hirschfeld Anweisungen erteilte, lässt die Mühsal im bürokratischen Umgang mit Heimat ermessen: Ich werde sehen, dass ich fuer Else und Dich Nachlassantraege nach dem B. F. G. und BRueG. gemeinsam vor dem 31. Maerz, 1958 Fristablauf stelle. Gehe zum Deutschen Konsulat in Zuerich und lass Dir Antragsformulare geben, die einfach auszufuellen sind. Dann ist die Frist gewahrt. Nachtraege und Beweismittel koennen spaeter eingesandt werden. Du hast erhebliche Geldansprueche fuer Schaden im beruflichen Fortkommen, besonders fuer die Jahre 1933 – 1948, nach dem Bundesentschaedigungsgesetz. Diesen Antrag musst Du selbst stellen. Ein Anwalt wird es fuer 10 % Gebuehren gerne fuer Dich spaeter bearbeiten, der Mantelantrag muss jetzt eingereicht werden. Das Geld koennt Ihr sicher gut gebrauchen. Du brauchst es nicht an Deutschland verschenken und den Schaden haben Dir die Nazis zugefuegt. Ich weiss, es bedarf bei Dir wie bei mir eines besonderen Anstosses und jetzt ist die Zeit.86

Hirschfeld kam den Anweisungen geflissentlich nach, merkte indes sarkastisch an: „Seit 5 Jahren läuft mein Schadenersatzantrag in Darmstadt. Aber bis heute habe ich davon nichts gehört. Ein Anwalt ist schon darüber gestorben. Hoffentlich erlebt es der zweite noch.“87 Die unterschiedlichen Wiedergutmachungsverfahren haben sich lange hingezogen. Es ist zu beobachten, dass Hirschfeld je länger desto bitterer, lethargischer und emotionsloser gegenüber der Angelegenheit wird, die er als absurd und monströs bürokratisch empfindet: Wie soll ich meine Umzugskosten aus dem Jahre 1933 noch zu Papier bringen? Ich weiss es einfach nicht mehr. Da ich ja als junger Mensch keine eigene Wohnung hatte, sondern nur einige Koffer, wird es ja kein Betrag sein, der sich für Sie [Heinrich Müller, Rechtsanwalt] oder mich lohnt, und ich habe keine Lust, mich mit den Behörden herumzuschlagen.88

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  Else und Paul Blum an Kurt Hirschfeld, 7.3.1958, LBI, NY, KHC.   Else und Paul Blum an Kurt Hirschfeld, 23.3.1958, LBI, NY, KHC. 86   Else und Paul Blum an Kurt Hirschfeld, 7.3.1958, LBI, NY, KHC. 87   Kurt Hirschfeld an Else und Paul Blum, 12.3.1958, LBI, NY, KHC. 88   Kurt Hirschfeld an Heinrich Müller, 14.10.1961, LBI, NY, KHC. 85

Heimat Niemandsland?

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Sein Schwager kümmerte sich schließlich um die weiteren Schritte, es blieb Hirschfeld nur mehr für dessen Mühen zu danken.89 So lässt sich alles in allem eine ambivalente Haltung Hirschfelds, der sich angewidert fühlte, zu den Wiedergutmachungsverfahren feststellen, ein notwendiges Übel, sich darum zu bemühen, was ihm in seiner alten Heimat vorenthalten und weggerissen worden war. Wenig ist in der Korrespondenz Hirschfelds zu vernehmen über den Holocaust und die Verfolgungsmaßnahmen des NS‑Regimes, aber dennoch Bezeichnendes. Zu einer Veranstaltung in Darmstadt im April 1963 – es geht um das Gedenken der Ausstoßung von Juden und seine eigene Entlassung am Theater dreißig Jahre zuvor – wollte Hirschfeld mit einigen Worten über jene Jahre beitragen, sie aber nur „so schildern, wie es war, nämlich komisch“. Kasimir Edschmid, sein Darmstädter Freund, musste ihn davon abhalten, auf komisch zu machen, „denn wir nagen ja immer noch an dem Knochen, und man vergisst von Tag zu Tag mehr“. Hirschfeld bedankte sich daraufhin „für den kleinen Warnschuss“.90 Hirschfeld zog es vor, jene zu bewundern, die über die unmenschlichen Auswirkungen der NS‑Politik zu berichten begannen, wie der Anarchist, Schriftsteller und Kunstschmied Georg Glaser und der Filmemacher Max Ophüls.91 An Erich Kästner, der 1958 in Hamburg auf dem PEN-Kongress über die Bücherverbrennung von 1933 sprach, schrieb er: Wie soll man Ihnen das danken. Ich habe es zweimal hintereinander gelesen und bin – wie soll man es sagen – also ich bin erschüttert und umgeworfen von der Präzision, mit der Sie das Ungeheuerliche sagen können. Das ist ein grosses Dokument. [. . .] Ich weiss nicht, wie man Ihnen das danken soll.92

Hirschfeld selber gelang es nicht, dies zu tun – er unterzeichnete den Brief als „Sprache-loser“, damit gleichsam als Heimatloser. In seinem Todesjahr noch ist Hirschfeld nach Frankfurt gereist, um einen Tag einem der – von Fritz Bauer angestoßenen – Auschwitz-Prozesse beizuwohnen und sich dort 89   Vgl. Kurt Hirschfeld an Paul Blum, 9.4.1958, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld an Heinz Foerstner, 25.5.1959, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld an Else und Paul Blum, 11.4.1963, LBI, NY, KHC. 90   Zitierte Stellen: Kurt Hirschfeld an Kasimir Edschmid, 17.4.1963, LBI, NY, KHC; Kasimir Edschmid an Kurt Hirschfeld, 20.4.1963, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld an Kasimir Edschmid, 23.4.1963, LBI, NY, KHC. 91   Vgl. Kurt Hirschfeld an Henry Goverts, 2.2.1954, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld an Henry Goverts, 7.10.1953, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld an Henry Goverts, 22.10.1953, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld an Henry Goverts, 29.10.1953, LBI, NY, KHC. 92   Kurt Hirschfeld an Erich Kästner, 12.5.1958, LBI, NY, KHC. Auch Kästners Antwort findet sich im Nachlass, Erich Kästner an Kurt Hirschfeld, 16.5.1958, LBI, NY, KHC.

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das „Fürchterliche“ und die „Ungeheuerlichkeiten“ anzuhören.93 Wie schon bei Kästner bedankte sich Hirschfeld bei den berichtenden Redakteuren der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dolf Sternberger und Bernd Naumann, dafür, dass sie für das Verbrechen Worte finden – eben jene Worte, die dem sonst begnadeten Redner Hirschfeld fehlten: „Ich kann mir denken, dass solche Ausführlichkeiten auf manchen Widerstand stossen könnten. Bitte mache so weiter.“94 Auch die Vergangenheit verschiedener Exponenten der deutschen Thea­ terwelt ist Gegenstand in Hirschfelds Korrespondenz. Mehrmals ist er um Auskunft angefragt worden, ob jene oder diese Person als durch den NSStaat affiziert oder kontaminiert zu erachten sei, so bezüglich Harald Kreutzberg, einem deutschen Tänzer, Schauspieler und Choreografen, der in Israel auftreten sollte95, oder Gustav Rudolf Sellner, nach dem sich das SchillerTheater und ebenfalls Hans J. Rehfisch erkundigten.96 Hirschfeld empfahl, die „Sache sollte man ruhen lassen“.97 Als 1950 gegen seinen Frankfurter Freund, den Bibliothekar und Literaturwissenschaftler Hanns Eppelsheimer, ein Nazi-Vorwurf erhoben wurde, setzte sich Hirschfeld vehement für ihn ein.98 Umgekehrt erkundigt sich auch Hirschfeld selbst über die Vergangenheit einer Person, deren Namen und Identität fraglich war.99 Die Festschrift für Hirschfeld von 1962 schließlich steht für das Netz an Beziehungen, vorab in seiner Heimat, der Welt des Theaters und der Dramaturgie, welches von Hamburg bis Jerusalem, von Hannover bis Neuenburg reicht. Es sind die alten Freunde aus der Zeit der Weimarer Republik und die wenigen jüngeren Dramatiker in der Schweiz, die Hirschfeld Reverenz erweisen, nicht aber die Zürcher Kulturwelt, die offenkundig ihm gegenüber

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  Kurt Hirschfeld an M. Moos-Herger, 3.6.1964, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld an Dolf Sternberger, 21.4.1964, LBI, NY, KHC. 94   Kurt Hirschfeld an Dolf Sternberger, 21.4.1964, LBI, NY, KHC. 95   Vgl. Kurt Hirschfeld an Ernst Mandowsky, 19.3.1951, LBI, NY, KHC. 96   Vgl. Kurt Hirschfeld an Alfred Bessler [?], Chefdramaturg Schiller-Theater Berlin, 5.8.1953, LBI, NY, KHC; Hans J. Rehfisch an Kurt Hirschfeld, 19.1.1960, LBI, NY, KHC. 97   Kurt Hirschfeld an Hans J. Rehfisch, 27.1.1960, LBI, NY, KHC. 98   Vgl. Hanns Wilhelm Eppelsheimer an Kurt Hirschfeld, 26.1.1950, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld an Hanns Wilhelm Eppelsheimer, 1.2.1950, LBI, NY, KHC; Hanns Wilhelm Eppelsheimer an Kurt Hirschfeld, 15.2.1950, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld an Hanns Wilhelm Eppelsheimer, 22.2.1950, LBI, NY, KHC. 99   Vgl. Kurt Hirschfeld an Hans Sahl, 23.6.1950, LBI, NY, KHC. Es ging um einen Richard Peters, der im Oprecht Verlag ein Buch herausgegeben haben soll. Dort existiert jedoch als Autor ein Otto Peters. Den Anlass zu Hirschfelds Anfrage gaben Ernst Reuter und dessen Ehefrau, die ihm berichtet hatten, ein Peters hätte in Ankara sich als „hässlicher Nazi“ geriert. Namen und Identität sind somit ungeklärt.

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Kälte zeigte.100 Um nur wenige Beiträger zu nennen: Theodor W. Adorno widmet ihm die für die Festschrift erweiterten Beiträge aus den Blättern des Hessischen Landestheaters, die er einst eben dort, in Darmstadt, für dessen Leiter Kurt Hirschfeld geschrieben hatte. Peter Szondi wendet sich der Dramaturgie im Schiller-Jahr zu, Helmuth Plessner den Akten der Imitation. Leopold Lindtberg, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Peter Löffler sind mit Reflexionen auf die Arbeit und das Wesen der Bühne vertreten. Gershom Scholem ist einer der wenigen, die nicht dem Theater zugehören; er veröffentlicht in der „Freundesgabe“ erstmals in deutscher Sprache seinen Aufsatz über die 36 Gerechten, welcher später in den ersten Band seiner Judaica-Reihe einfließen sollte.101 Carl Zuckmayer schließt mit den Worten, dass Zürich und das Schauspielhaus Glück gehabt hätten: die Folgen der politischen Umstände der dreißiger Jahre, als das Schauspielhaus die einzige freie Sprechbühne von Format im deutschen Sprachraum geworden sei, „schenkte[n] dem Schauspielhaus einen Leiter, der wie wenige ein Theater aus dem Geist der Dramaturgie führen kann.“102 Hirschfelds Ringen erforderte nicht nur Strategien für die Aneignung der neuen Situation, sondern gleichzeitig für den Umgang mit der alten Heimat. Was anhand der Angebote und Gerüchte, an ein deutsches Theater zu wechseln, und ebenso in seinem Ringen, die alte Heimat hinter sich zu lassen, zum Ausdruck kommt, sind nicht nur das Prozesshafte und Dynamische von Heimatpluralität, sondern auch die inneren Mühen des Protagonisten mit sich selbst: die stete Bewegung, die vom Dilemma aus Exil und Domizil, von inneren und äußeren Gründen, den antagonistischen Bildern einer kontaminierten Landschaft und der neuen deutschen Wirklichkeit nach dem Ende der NS‑Herrschaft geprägt ist und ihn als Juden nicht zur Ruhe kommen lässt. Hirschfeld verstand seine Entscheide für die Schweiz – bis auf den letzten im Jahr 1960 – immer als vorläufig. Vor allem bedeutete das Bleiben in Zürich nicht, dass Hirschfeld sich nicht dennoch mit seiner alten Heimat auseinandersetzte und versuchte, einen Umgang mit ihr zu finden, der nicht exkludierend zu denken ist: „Ein Mensch kann nicht nur eine Heimat, sondern kann – gleichzeitig oder im Laufe seines Lebens – eine, zwei, drei oder

100   Theater – Wahrheit und Wirklichkeit. Freundesgabe zum 60. Geburtstag von Kurt Hirschfeld am 10. März 1962, Zürich 1962 (=  Theater).  – Die Festschrift nennt keinen Heraus­geber; gemäß den abschließenden Worten von Emmie Oprecht (S. 180 – 182) war es Peter Löffler, der die Schrift zusammengestellt hatte. 101   Gershom Scholem, „Die 36 verborgenen Gerechten in der jüdischen Tradition“, in: Ders., Judaica, Frankfurt a. M. 1963, 216 – 225. 102   Carl Zuckmayer, „Für K. H. zum 60. Geburtstag“, in: Theater, 32 – 35, hier 34.

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noch viel mehr Heimaten haben.“103 Eine neue Heimat löscht die alte Heimat nicht aus, das Exil nicht das Domizil und das Domizil nicht das Exil. Dass Heimat nie ein „problemloser Harmonieraum“, sondern immer „ein soziales und kulturelles Spannungsfeld“ ist, wie Hermann Bausinger angemerkt hat, lässt sich an Hirschfelds Ringen angesichts einer unheimlich gewordenen deutschen Heimat exemplarisch nachvollziehen.104 Dass ein persönliches Zuhause oft genug auch schutzlos gekündigt werden kann, hat Kurt Guggenheim in seinem letzten Roman Das Zusammensetzspiel thematisiert. Es mag ein gewisser Zufall sein, dass in Zürich der schmale Kurt-HirschfeldWeg heute entlang jenes Gebäudes führt, in dem sich das damalige Institut für Volkskunde befindet, dessen einstigen Leiter, Arnold Niederer, Guggenheim zur Hauptfigur seines letzten Romans gemacht hat.105

Unantastbare Heimat: Deutsche Sprache und das Theater als Weltbühne Hirschfeld gehörte einer epochalen Zeitschwelle an, die nicht – wie seit den 1980er Jahren – schon voraussetzungslos die „Erinnerung“ als moralisches und politisches Paradigma auf den Schild hob, sondern noch dem „segensreichen Akt des Vergessen“ nachlebte, den Winston Churchill in seiner Zürcher Rede von 1946, den Worten William Ewart Gladstones entnommen, der Welt empfohlen hatte.106 In der klassischen Welt der Friedensschlüsse bestimmten Jahrhunderte lang Vergeben und Vergessen bzw. Oblivions- und Amnestieformeln auf Gegenseitigkeit das politische Handeln, wie sie auch Immanuel Kant als begriffsimmanent und selbstverständlich erachtete.107 103

  Egger, Heimat, 79. Zur Notwendigkeit, Ortspolygamie und Heimatpluralität anzuerkennen, vgl. auch Bausinger, Heimat und Globalisierung, 133 – 134; Wolfgang Lipp, „Heimat in der Moderne. Quelle, Kampfplatz und Bühne von Identität“, in: Katharina Weigand (Hg.), Heimat. Konstanten und Wandel im 19. / 20. Jahrhundert, München 1997, 51 – 72, hier 61. 104   Bausinger, Heimat und Globalisierung, 134. 105   Guggenheims Roman zeugt auch von seiner Kenntnis der Methoden der empirischen Kulturwissenschaft. Der Autor war mit Niederer befreundet oder zumindest gut bekannt. Die entsprechende Romanfigur trägt den Namen Hiersinger, was Charles Linsmayer auch als eine Allusion auf den Namen Bausinger deutet. Vgl. Linsmayer, Nachwort, 353 – 359. 106   Winston Churchill, „Rede in der Universität Zürich“, 19.9.1946, in: http://www.eiz. uzh.ch / fileadmin / Daten / Dokumente / 2010 / Churchill_Speach.pdf (letzter Zugriff 30.1.2016). 107   Vgl. Jörg Fisch, Krieg und Frieden im Friedensvertrag. Eine universalgeschichtliche Studie über Grundlagen und Formelemente des Friedensschlusses, Stuttgart 1979. Zum Friedensschluss von 1648 im Besonderen vgl. Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg, Frankfurt a. M. 1992, 200 – 201. – Zu Kants Auffassung: „Daß mit dem Friedensschlusse auch die Amnestie verbunden sei, liegt schon im Begriffe desselben.“ Immanuel Kant, „Die

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Erst seit dem Versailler Vertrag von 1919, der erstmals eine Kriegsschuld in den Raum stellte, und danach mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges setzte sich die Auffassung durch, dass ein Neubeginn nur durch die ungeschönte Vergegenwärtigung der zerstörerischen Macht in der soeben durchlebten Vergangenheit und durch die Bestrafung der für die Verbrechen verantwortlichen Täter herzustellen wäre; diese Auffassung brach sich Bahn im sogenannten „Londoner Statut“ mit seinen Straftatbeständen des Kriegsverbrechens, des Verbrechens gegen die Menschlichkeit bzw. Menschheit und der Vorbereitung eines Angriffskriegs, welche dann den Nürnberger Prozessen, entsprechenden völkerrechtlichen Voraussetzungen und der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs durch die Vereinten Nationen zugrunde lagen.108 Die Opfer und Überlebenden mochten – und dies geht aus dem Quellenbestand von Hirschfeld deutlich hervor – im ersten Jahrzehnt nach 1945 so wenig ihre schmerzhaften Erinnerungen mitteilen wie die ihr Kriegserleben beschwichtigenden Heimkehrer oder die ihre Morde kaschierenden Täter. Gleiches gilt teils für jene, die als Sieger mit einem infernalen Bombenkrieg soeben noch Vergeltung geübt hatten. Justiz und Friedenspolitik, so scheint es, war mit gewolltem kollektivem Vergessen behaftet, und nur unwillig verließ man in den 1950er Jahren die Amnesie, die überlieferter Haltung entsprach. Auf der Zeitschwelle 1945 erscheint deswegen die Idee der Gerechtigkeit zunächst als Antonym von Vergessen und nicht als das Resultat von Erinnern. Für eine gewollte Kultur des Beschweigens spricht einiges auch aus den intellektuellen Moden der unmittelbaren Nachkriegsjahre, so der Existenzialismus in Frankreich – Die Fliegen Sartres, in deutschsprachiger Erstaufführung im Herbst 1944 im Schauspielhaus auf die Bühne gebracht, ist geradezu ein Drama des Neuanfangs aus dem Vergessen – oder der Vitalismus Ortega y Gassets, in dem der Blick zurück und eine Selbstanklage für Untaten der Vergangenheit als eher hinderlich für den Neuanfang ausgegeben werden.109 Der gedächtnispolitisch erst allmählich eingeübte Wandel Metaphysik der Sitten“, in: Ders., Werke in sechs Bänden, Bd. IV, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1956, 308 – 493, hier 472. 108   Siehe die zahlreichen Beiträge in: Gary Smith / Avishai Margalit (Hgg.), Amnestie oder Die Politik der Erinnerung in der Demokratie, Frankfurt a. M. 1997. Zur aktuellen Diskussion vgl. auch Mandana Biegi, Die humanitäre Herausforderung. Der International Criminal Court und die USA, Baden-Baden 2004. 109   Der Königsmörder Oreste will in Jean-Paul Sartres Drama von 1943 mit seiner freiwilligen Tat, der Beseitigung der Fliegenplage, Reue und Schuld überhaupt ausrotten und hofft so, endlich wieder in seiner Heimatstadt leben zu können; vom Volk aber nicht anerkannt, verlässt er schließlich Argos. – Zu Ortega y Gasset vgl. Helmut König, „Ortega und die Bundesrepublik“, Die Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte 35 / 3 (1988), 242 – 247.

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gilt auch für die von Krieg und Zerstörungen verschonte Schweiz. Alfred A. Häslers Buch Das Boot ist voll, das den Ludwig-Bericht von 1959 und die reichliche Fülle an Dokumenten von Benjamin Sagalowitz öffentlichkeitswirksam enthüllt und popularisiert hat, sollte erst 1967 erscheinen.110 Eine entsprechende Aufarbeitung und durchgesetzte Erinnerungspolitik als „anthropologisches Ideal und politisches Programm“ und eine Dokumentation jüdischer Zeit- und Heimatgeschichte „als einem helvetischen lieu de mémoire“ waren damals noch lange nicht in Sicht.111 Erst in den letzten 25 Jahren hat sich der Gedächtnis- und Erinnerungsbegriff von einer nicht weiter beachteten Bezeichnung für einen alltäglichen Vorgang zu jener „zentralen Kategorie der kulturellen Theoriebildung und des kulturpolitischen Diskurses entwickelt“, unter der er heute in seinen Ausformungen von Ritualen, Museen, Gedenkstätten und weiteren Erinnerungsorten diskutiert wird.112 Insofern sich dann auch gesetzgeberische Willensbildungs- und Entscheidungswege für den Beobachter nachvollziehen lassen, etwa mit dem Blick auf das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin, treten neuartige Gedächtnisparadigmen erst relativ spät in das Bewusstsein der Öffentlichkeit. Wie Identitätsfragen und ebenso wie der Heimatbegriff, mit denen alle diese Gedächtnisfragen unzweifelhaft verknüpft sind, laufen sie jedoch zuerst und vorgängig „unterhalb der Schwelle politischer Entscheidungsprozesse ab: sie nehmen aber indirekt Einfluss auf das politische System, weil sie den normativen Rahmen der politischen Entscheidungen verändern“.113 Diese angedeuteten Zeitumstände können vielleicht verständlich machen, weshalb Hirschfeld sich 1963 weigerte, Rolf Hochhuths Der Stellvertreter auf

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  Alfred A. Häsler, Das Boot ist voll. Die Schweiz und die Flüchtlinge 1933 – 1945, Zürich 1967. Die Schweizerische Flüchtlingspolitik und die Metapher des vollen Bootes wurden bereits im Zusammenhang mit Hochhuths „Stellvertreter“ öfters angesprochen; vgl. etwa Walter Lüthi, „Überwindung der Resignation“, in: Hans Hasler (Hg.), Hoffnung für unsere Zukunft. Deutschschweizer. evang. Kirchentag. Berichte u. Dokumente, Basel 1963, 24 – 28, hier 26. 111   So Zsolt Keller, Abwehr und Aufklärung. Antisemitismus in der Nachkriegszeit und der Schweizerische Israelitische Gemeindebund, Zürich 2011, 36 – 46. 112   Ulrich Borsdorf / Heinrich Theodor Grütter, „Einleitung“, in: Dies. (Hgg.), Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum, Frankfurt a.  M. / New York 1999, 1 – 20; vgl. auch Nicolas Pethes / Jens Ruchatz, „Zur Einführung – anstelle der Stichworte ‚Gedächtnis‘ und ‚Erinnerung‘“, in: Dies. (Hgg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdiszi­plinäres Lexikon, Reinbek bei Hamburg 2001, 5 – 19. 113   Jürgen Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt a. M. 1976, 116. Zur politikwissenschaftlichen Sicht dieser Vorgänge vgl. Helmut König, „Erinnern und Vergessen. Vom Nutzen und Nachteil für die Politik“, Osteuropa 58 / 6 (2008), 27 – 40.

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die Bühne des Schauspielhauses zu bringen. Dokumentartheater war Hirschfelds Sache nicht, und ein Stück über die Schuld des Papstes an Auschwitz verhieß viel grobe Polemik und wenig Theaterkritik für eine Bühne, die sich zwischen Staatstheater und Kammerspiel situieren ließ. Die Basler Erstaufführung im Jahre darauf sollte dort Tumulte und vielerorts judenfeindliche Äußerungen provozieren und wirkte sich auf die gesamte Rezeption von Hochhuths Stellvertreter in der Schweiz aus, dessen Autor dann im baslerischen Riehen auch Wohnsitz nahm.114 In Zürich ließ sich Hirschfeld auch politisch nicht zwingen. Ihm dürfte solche Polemik so widerwärtig wie die Bürokratie der ‚Wiedergutmachung‘ in Deutschland vorgekommen sein. Im Gemeinderat entbrannte eine Debatte, die sich durchaus komisch liest: Die Sozialdemokraten verlangten vom Stadtrat, das Haus anzuweisen, das Stück zu spielen; die Freisinnigen betonten, dass es eine Schuld der Schweiz und jedes Schweizers gäbe angesichts der zurückgewiesenen Flüchtlinge und nicht nur eine Schuld des Papstes;115 die Christlich-Sozialen appellierten an den Religionsfrieden, denn man habe als Schweizer „mit dieser Mohrenwäsche nichts zu tun, die Deutschen mögen sich vorgaukeln, was sie wollen“.116 Hirschfeld musste sich wegen des von seiner Bühne ferngehaltenen Stellvertreter vorwerfen lassen, seine kompromisslose Haltung komme den „Spezialisten im Vergessen“ entgegen.117 Das zeigt, um einige Worte von Max Frisch auszuleihen, wie er, ein deutscher Jude, herangewachsen in den zwanziger Jahren, geprägt durch ein frühes Exil, durch Namenlosigkeit mit befristeter Niederlassung, umlauert von Vorurteilen, sein Verhältnis zur Schweiz von anderen Dingen abhängig machen wollte als von den Stimmen und Stimmungen einer Debatte auf der zürcherischen Politbühne.118 Hirschfeld hinterlässt hier den Eindruck, zwischen irritierenden Fronten und Gräben beharrlich seinen Weg zu gehen. Die damaligen Erklärungen, Zürich sei kein Pflaster für avantgardistisches Theater gewesen, greifen allerdings zu kurz.119 Hirschfeld zählte nüchtern zusammen, wie viele 114

  Vgl. Nadine Ritzer, Alles nur Theater? Zur Rezeption von Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“ in der Schweiz 1963 / 1964, Fribourg 2006, 115 – 119 (= Ritzer, Theater). 115   Vgl. Ritzer, Theater, bes. 85 ff. 116   Zitiert nach Kröger / Exinger, Zeiten, 176 – 177. 117   Kirchenbote für den Kanton Zürich 50 / 3 (1964), 2. 118   Max Frisch, „Gedenkrede“, in: Hans Rudolf Hilty (Hg.), Dank an Kurt Hirschfeld (Quadrat-Bücher  44), St. Gallen / Stuttgart 1964, 30 – 31 (Reden bei der Gedenkfeier im Schauspielhaus Zürich vom 15. November 1964 von Samuel Bächli, Harry Buckwitz, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Peter Löffler, Erwin Parker, Jean Rudolf von Salis, Richard Schweizer, Gody Suter, Jakob Teichman, Anna Katharina Wyler-Salten). 119   Elisabeth Brock-Sulzer, Die Tat (13.12.1963), zitiert nach Kröger / Exinger, Zeiten, 177.

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Stücke in den letzten zwei Jahren von jungen Schweizern, zeitgenössischen Dramatikern und Gegenwartsautoren stammten – es waren weit mehr als die Hälfte –, und notierte leicht sarkastisch in einer Aktennotiz: „Der Ruf nach Avantgarde dürfte befriedigt sein“. In diese Stoßrichtung weisen auch seine Aussagen zur Dramaturgie in seinen Reden: „Das Theater als Kunstform ist eine Art Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt, in der er existiert“, was nach Hirschfeld moralische Festigkeit erfordert.120 Das waren zurückhaltende Statements, die jedoch implizit die enorme Bedeutung des Schauspielhauses für die deutschsprachige Theaterwelt in diesen Jahren, als Deutschland noch unter der Öde und den Folgen einer zerstörten kulturellen Topografie litt, kundtaten. Hirschfelds Rolle in der internationalen Theaterwelt beruht, wie Wendy Arons im vorliegenden Band zeigt, auf der deutschen Sprache, in die er zeitgenössische Bühnenstücke („Avantgarde“) aus dem Englischen, Französischen und Italienischen einführte und als deutschsprachige Erstaufführungen in Zürich auf die Bühne hob. Das Zürcher Schauspielhaus geriet zum glücklichen Einfallstor in den deutschen Sprachraum, zum ersten Ort der Beheimatung der aus fremden Kulturräumen stammenden Werke. Diese Heimat, die Hirschfeld sich, dem Theater und seinen Autoren aus aller Welt geschaffen hatte, wollte er unangetastet wissen. Anfangs 1959 reiste Hirschfeld nach Israel, um am Cameri-Theater Nora des Norwegers Henrik Ibsen zu inszenieren – in Hebräisch, dessen Modernisierung das junge Cameri-Theater sich als Teil der israelischen Avantgarde verschrieben hatte. Gegenüber seiner Schwester und seinem Schwager sowie verschiedenen Freunden brachte er seine große Vorfreude zum Ausdruck.121 An Karl Heinrich Ruppel, einen Darmstädter Theaterkritiker, schrieb er in diesem Zusammenhang: Wäre ich zwanzig Jahre jünger, würde ich die mir schon zweimal übertragene Leitung der Habima [das renommierte Tel Aviver Theater] übernehmen, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber ich bin wohl zu alt, um noch in einer mir völlig fremden Sprache leben zu können und zu wollen.122 120   Aktennotiz Kurt Hirschfeld, versehen mit handschriftlichen Bemerkungen, o. J., vermutlich März 1964, in: Kröger / Exinger, Zeiten, 178; Kurt Hirschfeld, „Probleme der Dramaturgie“ [Rede], Zürich 1961, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld, „Das Theater als Forderung“, mit Bemerkungen zum Theater als moralische Anstalt [Rede], Wien 1961, LBI, NY, KHC. 121   Vgl. Kurt Hirschfeld an Else und Paul Blum, 23.12.1958, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld an Karl Heinrich Ruppel, 23.12.1958, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld an Karl Heinrich Ruppel, 27.12.1958, LBI, NY, KHC; Kurt Hirschfeld an Hanns Wilhelm Eppelsheimer, 30.12.1958, LBI, NY, KHC. 122   Kurt Hirschfeld an Karl Heinrich Ruppel, 27.12.1958, LBI, NY, KHC.

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Zum Ausdruck kommt hier, wie sehr die deutsche Sprache für Hirschfeld eine weitere, sehr zentrale Heimat darstellte, die seine berufliche Tätigkeit im Theater wesentlich ausmachte. Im Theater – und hier im Zürcher Schauspielhaus in der Schweiz – hatte er Gelegenheit, diese Beheimatung in der Sprache zu erfahren und auszuleben. Deutsche Sprache war für Hirschfeld eng an das Theater als Weltbühne, die hier zur Heimat gemacht wurde, gekoppelt. Indem Hirschfeld die internationale Theaterwelt durch seine Aufführungspolitik bei sich im Zürcher Schauspielhaus beheimatete, schuf er für seine jüdische Identität ebenso wie für das Zürcher Schauspielhaus jene, allmählich Grenzen überwindende Kosmopolis in der schweizerischen Nachkriegszeit. Diese Kosmopolis war sein Zuhause, sein Heimatland. Dass Hirschfeld die deutsche Sprache – das Wort, der Text, die Bühne – als eine Möglichkeit, sich Heimat zuzuschreiben, empfand, zeigt – nahezu paradox – auch sein Flair für Schweizer Dialekte: Ähnlich wie da oder dort in Briefen an und von Freunden englische oder deutsch-jüdische Wörter, Wendungen oder Sätze einflossen, streute er auch gerne schweizerdeutsche Wörter ein.123 Bei Gody Suter etwa interessiert ihn, „was in dem chaiben Berlin vorsichgeht“124, und erklärt ihm mit Blick auf die Volksabstimmung über den Pfauen-Kredit 1951, dass sie nun wohl „weiter im Pfauen bleiben werden, und zwar als Aftermieter von Irgendöpper.“125 Und bei Rolf Liebermann beklagt er sich über die „städtischen Böggen“, mit denen er sich herumzuschlagen habe und „die den Feufer und das Weggli wollen und am liebsten beides nicht bezahlen.“126 Solche Beispiele können andeuten, dass Hirschfeld viel Sinn für lokale Färbungen und sprachliche Eigenheiten hatte. 123   Es sind nur wenige Schweizer Freunde, mit denen er schriftlich verkehrt; dies darf nicht dahingehend interpretiert werden, dass Hirschfeld wenige Schweizer Bekanntschaften und Freundschaften gepflegt hätte. Vielmehr hat er sich mit diesen aufgrund der geografischen Nähe wohl weniger schriftlich, sondern mündlich ausgetauscht. 124   Kurt Hirschfeld an Gody Suter, 4.1.1951, LBI, NY, KHC. – „Chaibe Berlin“ meint hier etwa das „olle Berlin“ oder das „verrückte Berlin“. „Chaib“, im Sinne von ungestümer „Kerl“, ist ein alemannisches Sprachidiom, das sowohl verächtlich wie auch bewundernd gemeint sein kann. 125   Kurt Hirschfeld an Gody Suter, 4.10.1951, LBI, NY, KHC. – Ein „Irgendöpper“ heißt ein „Irgendwer“; gemeint ist damit auch oft eine unbekannte Figur oder ein „nobody“. 126   Kurt Hirschfeld an Rolf Liebermann, 13.1.1956, LBI, NY, KHC. – Der „Böögg“ ist in Zürich eine Figur des Sechseläutenfestes, er sieht einem Schneemann ähnlich, dessen Verbrennung das Ende des Winters symbolisiert; öfters erscheint „Böögg“ auch, wie hier als Redewendung, auf die städtischen Behörden gemünzt. Die in der deutschsprachigen Schweiz geläufige Redewendung „De Feufer und s’Weggli ha welle“ meint „das Fünf-Rappenstück und das Brötchen haben wollen“. Sie bedeutet, sich nicht zwischen zwei Dingen entscheiden zu können, sondern beide haben zu wollen. In besonderen Fällen wie im vorliegenden Zitat verweist dies zuweilen auch auf den Geiz, ein Brötchen haben zu wollen, ohne dafür gut zu zahlen.

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Nochmals Niemandsland: Heimat im Plural Aus der Sicht von Emmie Oprecht war der Ort von Kurt Hirschfelds Heimat das engere Dreieck von Hirschengraben, Heimplatz und unterer Rämi­ strasse, mit dem „Pfauen“ (das heißt dem Schauspielhaus) als Epizentrum eines politischen Kampfes in einer Zeit, als „auf einmal alles anders“ – eben unheimlich  – wurde: „Die Welt fing an zu zittern, Scheusale wollten sie beherrschen“.127 Heimat als Territorialität, aber stets begründet in dichter Semantik, die eine Vielzahl und Mehrdeutigkeit aus der Topografie bezieht: Kurt Hirschfeld kannte verschiedene Heimaten und sein Beispiel macht deutlich, dass auch geografisch verortbare Heimaten – Lehrte, Darmstadt, Hannover, Tel Aviv, Zürich – sich wesentlich als Beziehungen zu Menschen, Erinnerungen, Haltungen, Sehnsüchten, Sprache und Kultur offenbaren. Zu all diesen Heimaten war Hirschfelds Beziehung eine dynamische: Die Beziehung zu ihnen hatte sich immer wieder neu zu formieren, sei es aufgrund der von außen herangetragenen Fragen, Angebote, Bitten oder aber aufgrund einer eigenen, bewussten Konfrontation mit den Fluchtpunkten, die seine Exilierung und Domizilierung bestimmten und gerade seine Aktivität als Kosmopolit des Theaters, als „Theaterbesessenen“128, beeinflusst haben, wenn er, wie etwa im Fall des Stellvertreters, seine Weltbühne verteidigte. Hirschfeld selber hätte indes kaum von Heimat gesprochen, für ihn ging es, wie einer seiner Freunde im Duktus jener Jahre formulierte, um „Dienst am Theater“ als einer wirkenden Institution.129 Damit zeigt die Biografie von Hirschfeld, dass es – wenn wir ein dynamisches und offenes Heimatkonzept verwenden, das Kultur im Plural auf die Weltbühne hebt – möglich ist, den Heimatbegriff auch für Exilierte in Anspruch zu nehmen und fruchtbar zu machen. Nicht zuletzt lässt sich dadurch in Frage stellen, ob die Formulierung „Exil in Zürich“ für eine Person wie Hirschfeld ein Stück weit unzureichend ist, wenn nicht das Gegenstück, das „Domizil“ im Sinne von Yerushalmi und Steiner, in Rechnung gestellt wird. Hirschfeld war Teil einer Generation und auch einer Kultur, die es in NS‑Deutschland nicht mehr gab, jenes bürgerliche, von Bildung durchdrungene deutsche Judentum, das in einer langen Tradition des jüdischen Säkularismus stand.130 Die Generation der Exilanten tat sich nach Vertrei127

  Emmie Oprecht, [Brief ohne Titel], in: Theater, 180 – 182, hier 181 (= Oprecht, Brief).   Oprecht, Brief. 129   Richard Schweizer, „Geleitwort“, in: Theater, 7 – 8, hier 7. 130  Vgl. Hermann Levin Goldschmidt, Das Vermächtnis des deutschen Judentums [1957], Werke 2, erstmals 1957 und bis 1965 in drei Auflagen erschienen, Wien 1994. Zum jüdischen Säkularismus vgl. Biale, Traditionen. 128

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bung und Vernichtung schwer, den kulturellen Verlust hinzunehmen und fortan mit der Leere und der Öde zu leben – ob sich nun die eigene individuelle Existenz als Verschonte und Überlebende in der Schweiz, in Israel, in Nordamerika oder im Deutschland der Rückkehrer verkörperte, wenn die Vertriebenen sich dort neu domizilierten. Heimat konnte als Denkfigur nur noch portabel sein, in einem Niemandsland zwischen Lüften und konkreten Orten, in einem Schauspielhaus, in einer Sprache, in Gestalt von Freunden, als Erinnerungen oder mittels Sehnsucht nach etwas Verlorenem. Heimat war dann „überall ein bisschen und je nach Situation“131 oder wie es ein Exilant und Domizilant in säkular gemeinter Diktion formulierte: „Heiliges Land ist überall“.132 Wenn der Text, und mit ihm das Theater, „das Heimatland ist, selbst dann, wenn er nur in der präzisen Erinnerung und in dem Suchen einer Handvoll von Wanderern verankert ist, von Nomaden des Wortes, kann er nicht ausgelöscht werden“.133 Diese Condition humaine ließ jene Generation deutscher Juden in manchen Fragen von Alltag und Politik so verloren denkend wie treffsicher urteilend erscheinen. Dass sie als Zeitgenossen dies sehr unterschiedlich durchlebten – sie konnten sich bald übergangen, vergessen oder stehen gelassen fühlen, sie wendeten sich dem Trend nach deutschen Zentren und deren Wiedergewinn an Ausstrahlung zu oder verweigerten gerade dies –, ist eine Tatsache. Sie sagt uns etwas von der Empfindlichkeit, was Überleben den Überlebenden bedeutet haben mag. Hirschfeld ist nicht in 7000 Metern Höhe in den Lüften gestorben. Seine Rollbahn war Tegernsee, immerhin auf deutschem Boden. Er ruht in Zürich, wo ein kleiner Weg nach dem nie Eingebürgerten benannt ist. Sein Vermächtnis ist im Schauspielhaus angelegt, sein Nachlass in New York aufbewahrt. All dies hat seine Gründe – oder wie Friedrich Dürrenmatt seine Notizen in der Freundesgabe für Kurt Hirschfeld von 1962 schließt: „Denn wie der Stoff, ist auch die Wirklichkeit nie eindeutig; ein Gleichnis, das sie zu bannen versuchte, müsste mehrdeutig sein.“134

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  Bausinger, Heimat und Globalisierung, 130.   Hermann Levin Goldschmidt, „Heiliges Land ist überall“, in: Ders., Jüdisches Ja zur Zukunft der Welt. Eine schweizerische Dokumentation eigener Mitverantwortung, Schaffhausen 1981, 149 – 160. 133   Steiner, Heimatland Text, 279. 134   Friedrich Dürrenmatt, „Notizen“, in: Theater, 123 – 128, hier 128. 132

„This is Dr. Kurt Hirschfeld, chieftain of the courage Züricher Schauspielhaus . . .“ Bertolt Brecht, Kurt Hirschfeld und das Schauspielhaus Zürich – Eine Hommage Werner Wüthrich Kurt Hirschfeld und Bertolt Brecht, zwei Vertriebene zwischen den Welten, ohne Papiere und Pässe, ausgebürgert aus Deutschland, hatten stets, wo immer sie sich aufhielten, die gleiche „Heimat“ – das Theater. Sprechen wir daher vom deutschsprachigen Theater im Exil, Fluchtpunkt Zürich 1933 und dem Exilland Schweiz im vergangenen Jahrhundert. Erinnern wir uns in einer kurzen Chronik an Theaterdebatten, Richtungskämpfe um das Schauspielhaus Zürich. Wie Hirschfelds und Brechts gemeinsame „Heimat auf Zeit“ erst erstritten werden musste. Mit viel List, gegen Zensur, Geistige Landesverteidigung und später gegen Ideologien im Kalten Krieg. Dank ihrem Können, ihrer Ausdauer und einem unterstützenden Umfeld gelang es Brecht und Hirschfeld, das Werk eines „Klassikers der Vernunft“ – nicht nur in Zürich – durchzusetzen. Im Theater ähnliche Auffassungen einer zukünftigen Theaterkunst zu haben, bedeutete ein gänzlich neues Theaterverständnis: nicht mehr das Herstellen von Illusionen, sondern ein „Théâtre Populaire“, eine Art neues Volkstheater, das für alle Besucherschichten verständlich ist. Ein fröhliches Forum, das öffentlich unentwegt Fragen an die Gesellschaft stellt. Eine vergnügliche Stätte der spielerischen „Anregung und Aufreizung zur Diskussion“,1 die, so Brecht, „dadurch, dass der Zuschauer, statt [. . .] sich in den Ablauf der Handlung hineinzuversetzen, sich mit ihr auseinander zu setzen“ hätte.2 Kurz: Für Kurt Hirschfeld wie für Bertolt Brecht sollte das epische Theater in Experimenten und Theaterlabors neu entwickelt, ständig aktua1

  Kurt Hirschfeld, „Probleme des modernen Theaters“, National Zeitung, Basel (1.12.1944).   Karl Götting / Kurt Hirschfeld, „Geleitwort“, in: Bertolt Brecht, Die Mutter. Mit Anmerkungen des Dichters und Geleitwort von Karl Götting (d. i. Kurt Hirschfeld), Basel 1946, 21 (= Brecht, Mutter). 2

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lisiert und in aller Sinneslust mittels einer Vernetzung sämtlicher Künste zu einem „Diskussionstheater par excellence“3 werden.

Berlin, Darmstadt – 1928 bis 1933 Bertolt Brecht begriff sich auf allen Gebieten, der Theaterarbeit und der Produktion von Dichtung und Literatur als Typus eines neuen Autors und einer neuen Zeit, des 20. Jahrhunderts, das er als „das wissenschaftliche Zeitalter“4 glaubte bezeichnen zu können. Im März 1927 begann für den experimentierfreudigen Jungautor, offen für neue Medien, eine Zusammenarbeit mit dem Berliner Rundfunk. Kurt Hirschfeld, nach Studien in Heidelberg, Frankfurt am Main und Göttingen, wurde in der Theatermetropole Berlin ebenfalls Mitarbeiter des Berliner Rundfunks, freier Publizist des Berliner Börsenkuriers, Korrespondent der Gewerkschaftspresse5 in der Schweiz und Lektor bei verschiedenen Verlagen. Es ist durchaus denkbar, dass sich Brecht und Hirschfeld in Berlin bereits vor der Spielzeit 1932 / 33 begegnet sind. Beide hatten zudem zur Zeit der Weimarer Republik erste Kontakte zum Nachbarland Schweiz, ihrem zukünftigen Exilland. Brecht hatte seit dem Welterfolg der Dreigroschenoper 1928 an einigen Schweizer Bühnen Aufführungen.6 Hirschfeld kannte durch seine Korrespondentenberichte den Zürcher Verlag Oprecht & Helbling und die beiden Brüder Emil und Hans Oprecht als aufgeschlossene Verleger. Nach der Weltwirtschaftskrise 1929 verließen Theaterleute die Hauptstadt Berlin. Kurt Hirschfeld folgte 1928 / 29 dem jungen Intendanten Gustav Hartung7 als Dramaturg an das Hessische Landestheater. Mit der Uraufführung von Erich Kästners Leben in dieser Zeit gab der 28‑jährige Hirschfeld in Darmstadt auch gleich sein Regiedebüt und postulierte, dass die damalige Theaterlandschaft nicht länger in Gruppen von Provinztheatern aufgeteilt 3

  Kurt Hirschfeld, „Diskussion um Theaterfragen“, Basler Arbeiter-Zeitung (5.12.1944).   Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. Werner Hecht / Jan Knopf / Werner Mittenzwei / Klaus-Detlef Müller, Berlin / Weimar / Frankfurt a. M. 1988 – 1997, hier: Brecht, Werke, Bd. 23, Berlin / Weimar / Frankfurt a. M. 1993, 65 (= Brecht, Werke Bandnummer, Jahr). 5   Kurt Hirschfeld publizierte vor 1933 Beiträge in der Zeitschrift Die Arbeit. Später erschienen Artikel von Kurt Hirschfeld, vermutlich durch die Vermittlung von Hans Oprecht, in der VPOD-Zeitung Öffentlicher Dienst. 6   Werner Wüthrich, Bertolt Brecht und die Schweiz, Zürich 2003, 13 – 23. 7   Gustav Hartung, eigentlich Gustav Ludwig May (* 30.1.1887 in Bartenstein, Ostpreußen; † 14.2.1946 in Heidelberg), Regisseur und Theaterleiter. 4

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werden sollte, sondern neu in „Theaterprovinzen“, die schon bald „zu einem wahren Fest des deutschen Theaters“ werden.8 Im Winter 1932 / 33 gelang es Hartung und Hirschfeld, den neuesten Brecht, das Schauspiel Die heilige Johanna der Schlachthöfe, aus Berlin nach Darmstadt zur Uraufführung zu holen. An konkreten Beispielen werde darin „der Kampf zwischen Kapital und Arbeit in all den möglichen Phasen gezeigt“. Für Hirschfeld war dies Brechts „dichterisch und ideologisch bedeutsamstes Werk“.9

Fluchtpunkt Zürich Am Schauspielhaus Zürich engagierte der Leiter und Besitzer der Pfauen­ bühne, Generalintendant Rieser, das Darmstädter Führungsduo Gustav Hartung als „Oberspielleiter“ und Kurt Hirschfeld als Dramaturg.10 Unter ihrer beratenden Stimme wurde für die Spielzeit 1933 / 34 ein hochkarätiges Ensemble aus politischen Flüchtlingen verpflichtet. Bertolt Brecht glaubte zunächst wie Hartung und Hirschfeld, ebenfalls in der Schweiz Zuflucht finden zu können. Sein Fluchtweg führte im Frühling 1933 über Prag, Wien nach Zürich, traditionell eines der Zentren der deutschen Emigration. Nach einem Aufenthalt im Tessin – seine schwärmerische Begeisterung für die Gegend um Lugano hatte sich rasch abgekühlt – reiste Brecht mit seiner Familie nach Paris weiter, um sich später in Dänemark niederzulassen – mit einer dem Fremdenverkehr nicht sehr dienlichen Erkenntnis: „Die Schweiz ist zu teuer, hat keine Städte – eine Theaterdekoration (aber ohne Bühnenarbeiter).“11 Mit den Neuengagements hatte sich das Direktionsehepaar Ferdinand und Marianne Rieser-Werfel einen grundsätzlichen Richtungswechsel ihres Theaters am Zürcher Heimplatz eingehandelt. Neben Boulevardstücken und Klassikern setzten Hartung und Hirschfeld aktuelle und erste antifaschistische Stücke auf den Spielplan, ohne gleich ihr Darmstädter Konzept an das größte und wichtigste Privattheater in der Schweiz zu verpflanzen. Das Verlegerehepaar Emil und Emmie Oprecht stellte den Gegnern Nazi 8

  Egon Viëta (Hg.), Darmstädter Gespräche, Darmstadt 1955, 272 ff.   Karl Götting / Kurt Hirschfeld, „Geleitwort“, in: Brecht, Mutter, 20. 10   Der frühere Generalintendant des Hessischen Landestheaters Darmstadt wurde in Zürich als leitender Regisseur fest engagiert, der in Absprache mit seinem Dramaturgen auch über Engagement und Besetzung mitentscheiden konnte. 11  Brecht, Werke 28, 1998, 474.  9

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deutschlands – unter ihnen Kurt Hirschfeld – Büros und eine Infrastruktur zur Verfügung. In ihrer Zeitschrift information12 erschien im Herbst 1933 der Aufruf, in Zürich die Stücke Dr. Mamlocks Ausweg von Friedrich Wolf und Brechts Die heilige Johanna der Schlachthöfe aufzuführen.13 Der Autor der Dreigroschenoper hatte gleich zu Beginn seiner langen Exilzeit mit Gustav Hartung und Kurt Hirschfeld zwei seiner wichtigen Mentoren am Schauspielhaus Zürich. Zunächst war Generaldirektor Ferdinand Rieser ebenfalls an neuesten Brecht-Stücken interessiert. Sie alle wollten baldmöglichst die abgesetzte Darmstädter Heilige Johanna-Uraufführung nachholen. Das Vorhaben der Spielzeit 1934 / 35 scheiterte ebenso wie ein Jahr später die Uraufführung der Rundköpfe und Spitzköpfe, die in der Regie von Erwin Piscator und mit der Musik von Hanns Eisler angekündigt war.14 Nach genauer Kenntnis des Inhaltes nahm Rieser als Pfauen-Besitzer und allein bestimmender Intendant von Brechts neuesten Werken Abstand. Sein wenig mutiger Entscheid war geradezu exemplarisch für die Auseinandersetzung um das Gesicht der Pfauenbühne. Als Privattheater ohne öffentliche Unterstützung vermochte sie keine Heimstätte zeitkritischer oder gar antifaschistischer Brecht-Aufführungen zu werden.15 Kurt Hirschfeld schilderte dem Bühnenbauer Teo Otto seine Vision eines neuen Zürcher Schauspielhauses, das „in seiner Grundstruktur entscheidend zu verändern sei, wenn es [einmal doch] zu einer Art Heimat für uns werden sollte“.16 12

  Die Initiative einer antifaschistischen Kulturzeitschrift ging vom italienischen Autor Ignazio Silone aus, der damals in Davos und Zürich im Exil lebte. Vgl. Ettore Cella-Dezza, Nonna Adele, Zürich 2001, 183 f. und Werner Wüthrich, Bertolt Brecht und die Schweiz, Zürich 2003, 28 – 32 und 261 – 263. 13   Professor Mamlock, das bekannteste Werk von Friedrich Wolf, erschien in Zürich unter dem Titel Dr. Mamlocks Ausweg 1935 als Buch im Verlag Oprecht & Helbling. Die Uraufführung fand unter dem Titel Professor Mannheim am 8. November 1934 am Schauspielhaus Zürich statt. Emil Oprecht (* 1895; † 1952 ebenfalls in Zürich) eröffnete 1925 an der Rämistrasse 5 in Zürich die Buchhandlung Oprecht & Helbling (später Dr. Oprecht AG), der ein Verlag mit hauptsächlich literarischem Programm angegliedert war. Emil Oprecht gründete 1933 zusätzlich den Europa Verlag zur Veröffentlichung politischer, antifaschistischer Literatur. Zwischen 1933 und 1945 unterhielten Emil Oprecht und seine Frau Emmie (1899 – 1990) in ihrer Wohnung eine Anlaufstelle für Emigranten; mit persönlichem und finanziellem Engagement stand man zahlreichen verfolgten Künstlern aus Deutschland und Italien zur Seite. Emil Oprecht gilt als wichtiger Schweizer Verleger von Exilautoren wie Else Lasker-Schüler, Ernst Bloch, Heinrich Mann, Ignazio Silone, Bernard von Brentano. 1938 gründete Emil Oprecht gemeinsam mit Kurt Hirschfeld und sozialdemokratischen Freunden die Neue Schauspiel AG, der er als Verwaltungsratspräsident bis zu seinem Tod vorstand. 14   Werner Wüthrich, Bertolt Brecht und die Schweiz, Zürich 2003, 48 – 51. 15   Vergleiche hierzu auch den Beitrag von Ursula Amrein in diesem Band. 16   Teo Otto, „Zürich“, in: Peter Löffler (Hg.), Theater – Wahrheit und Wirklichkeit. Freundesgabe zum sechzigsten Geburtstag von Kurt Hirschfeld am 10. März 1962, Zürich 1962, 163 f.

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Nach der Zürcher Spielzeit 1933 / 34 – Exiljahre am Meyerhold-Theater Moskau Kurt Hirschfeld wurde wegen angeblicher Kompetenzüberschreitung im Winter 1933 / 34 von Ferdinand Rieser vor die Türe gesetzt. Darauf übernahm Hirschfeld im Auftrag von Emil und Emmie Oprecht eine vielfältige Berater- und Lektortätigkeit für den Oprecht & Helbling Verlag (später Verlag Dr. Oprecht AG) und den Europa Verlag.17 Hirschfeld wurde in Zürich für viele Emigranten fortan ein „ebenso verständnisvoller wie einfühlsamer Freund“.18 Zudem baute Kurt Hirschfeld unter Oprechts schützender Hand mit dem Koordinationsbüro des Internationalen Revolutionären Theaterbundes (IRTB) ein Netzwerk der Bühnenkünstler in der ganzen Welt auf mit dem Ziel, eine „Volksfront der Theater gegen den Vormarsch der faschistischen Kräfte in Europa zu eröffnen“.19 In Kontakt mit avantgardistischen Regisseuren wie František Burian in Prag und Leopold Lindtberg besuchte Kurt Hirschfeld 1934 den einflussreichen Erwin Piscator im Exil in Moskau und die von der IRTB jährlich organisierten „Moskauer Bühnenfest-Spiele“. Bis zu den stalinistischen Schauprozessen galt Moskau weltweit als internationales Theatermekka.20 Als Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung und der Gewerkschaftspresse war der Theatermann Hirschfeld tief beeindruckt, wie reich an Experimenten und wie vielfältig an Themen die Spielpläne der Sowjettheater damals noch waren, als er nach Zürich schrieb:21 17

  Kurt Hirschfeld war in den Verlagen von Emil Oprecht Herausgeber so unterschiedlicher Werke wie des Bestiarium theatrale 1943 und 1944 der Sammlung Abschied. Briefe und Aufzeichnungen von Epikur bis in unsere Tage. Vgl. Peter Stahlberger, Der Zürcher Verleger Emil Oprecht und die deutsche politische Emigration, 1933 – 1945, Zürich 1970; Peter Löffler (Hg.), Theater – Wahrheit und Wirklichkeit, Freundesgabe zum sechzigsten Geburtstag von Kurt Hirschfeld am 10. März 1962, Zürich 1962; Hans Rudolf Hilty (Hg.), Dank an Kurt Hirschfeld, St. Gallen 1964; Peter Bichsel (Hg.), Bibliothek Kurt Hirschfeld (1902 – 1964). Widmungsexemplare, Autographen, Zürich 2007. 18   Martin Dreyfus, „Vorwort“, in: Peter Bichsel (Hg.), Bibliothek Kurt Hirschfeld, Zürich 2007, 6 – 7. 19   Vgl. dazu „Dokumente 1“ bis „Dokumente 6“, in: Peter Diezel (Hg.), „Wenn wir zu spielen – scheinen“. Studien und Dokumente zum Internationalen Revolutionären Theaterbund, Bern / Berlin / Frankfurt a.  M. / New York / Paris / Wien 1993, 251 – 542. 20   Berliner Freunde in den frühen 1930er Jahren sagten zu Brecht, als er zum ersten Mal nach Moskau reiste: „Sie gehen ins Theater-Mekka“. Vgl. dazu: Peter Diezel (Hg.), „Wenn wir zu spielen – scheinen“, Bern 1993. 21   Kurt Hirschfeld besucht unter anderem in Moskau 1934 im Wachtangow-Theater und Meyerhold-Theater Prinzessin Turandot von Carlo Gozzi; Intervention von Robert E. Slavin; Was ihr wollt von William Shakespeare; und Jegor Bulytschow und andere von Maxim Gorki, LBI, NY, KHC (Box 7, 10 / 1 Material about the Soviet theater).

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„Im Lande der strengsten künstlerischen und politischen Kontrollen sehen wir die größte Mannigfaltigkeit, eine Buntheit des Repertoires, eine Vielfalt ästhetischer Auffassungen und Stile, wie sie keine andere Theaterstadt der Welt zu bieten vermag.“22 Durch eine „Kameliendame“-Inszenierung von Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold, einem der bedeutendsten Theaterregisseure des 20. Jahrhunderts, sollte Hirschfeld – wie ein Jahr später auch Brecht – ein anderes, von Piscator und Brecht in Deutschland entwickeltes Theater der Gegenwart verwirklicht sehen: „Meyerhold ist ein ewiger Experimentator. Er wandelt sich von Stück zu Stück. Heute noch spielt er in einem alten Hause, das eher einer Garage gleicht als einem Theater.“23 In seinem Bericht zeichnete der Moskauer NZZ-Theaterkorrespondent das Wesentliche einer neuen Theaterkunst auf: Man hatte das Gefühl, dass jede Nuance, jede kleinste Bewegung von Notwendigkeit diktiert war. [. . .] Wir würden in der bei uns gebräuchlichen Terminologie diese Aufführung, die Meyerhold selbst als realistisch bezeichnet, eher surrealistisch nennen. Denn nicht nur die Wirklichkeit, [. . .] zeigt er durch die Regie, sondern er geht hinter diese Wirklichkeit zurück und weist die letzten Hintergründe von Zeit und Menschen auf. Er gibt die Totalität des gesellschaftlichen, psychischen und Bewußtseinzustandes einer Epoche. Das kann Meyerhold nur gelingen, weil er auf jedes Stimmungs- und Illusions-Element der alten Bühne verzichtet. Zuschauer und Schauspieler sollen nicht einen Moment vergessen, dass hier ‚Theater gespielt‘ wird.24

Eine weitere Beobachtung begeisterte hier, die später einmal die Theaterarbeit von Hirschfeld am Schauspielhaus Zürich wie von Brecht am Berliner Ensemble prägen sollte: „Ein Grundgesetz der russischen Theaterkunst scheint bei allen Bühnen zu herrschen: Mittelpunkt des Interesses und Mittelpunkt der Arbeit ist der Schauspieler oder besser gesagt das Ensemble.“25 Ähnlich wie Oberspielleiter Hartung versuchte nun auch Hirschfeld, nach einem längeren Aufenthalt in der Sowjetunion wieder zurückgekehrt in die Schweiz, als Gast-Regisseur am Berufstheater Fuß zu fassen und inszenierte 1936 am Stadttheater Bern den Sommernachtstraum. Die Berner Presse war begeistert von Hirschfelds Arbeit. So schrieb die Berner Tagwacht: „Eine 22   Kurt Hirschfeld, „Moskauer Theater-Festspiele“, Teil I, Neue Zürcher Zeitung, 1670 (14.9.1934). 23   Kurt Hirschfeld, „Moskauer Theater-Festspiele“, Teil II, Neue Zürcher Zeitung, 1700 (23.9.1934). 24   Kurt Hirschfeld, „Moskauer Theater-Festspiele“ Teil II, Neue Zürcher Zeitung, 1700 (23.9.1934). 25   Kurt Hirschfeld, „Moskauer Theater-Festspiele“ Teil II, Neue Zürcher Zeitung, 1700 (23.9.1934).

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Aufführung, die zum Besten gehören dürfte, was man bei uns diesen Winter zu sehen bekam.“26 Die Zeitung Der Bund kam über Kurt Hirschfelds Neuinterpretation geradezu ins Schwärmen: „Was Shakespeare sich erträumt hat, wird hier ‚unwirkliche Wirklichkeit‘“, ein „Glückfall sondergleichen“, vor allem, weil die Regie es wagte, die Musik von Felix Mendelssohn Bartholdy einzusetzen: Wird nicht etwa in später Zeit einmal drüben überm Rhein so manchem die Schamröte aufsteigen, wenn ihm einfällt, dass diese Musik einmal von den reichsdeutschen Bühnen verbannt wurde, weil der Komponist im Jahre 1826 den Anforderungen des Arier-Paragraphen von 1933 nicht entsprochen hat!27

Nach der Gastinszenierung am Stadttheater in Bern und stets auf der Suche nach experimentellen Theaterarbeiten und einer Theaterkunst der Gegenwart wurde Kurt Hirschfeld in Moskau Mitarbeiter und Assistent von Thea­ terleiter und Regisseur Wsewolod Meyerhold.28 Doch wenig später schon wurden die Versuche dieses Labor-Theaters von Stalin verboten und das Meyerhold-Theater in Moskau geschlossen. 1938 sah sich der aufgeschlossene Theatermann gezwungen, nach Zürich in seine erste Stadt des Exils zurückzukehren.29 Kurt Hirschfeld arbeitete nun zunächst wieder für Emil und Emmie Oprecht und ihre beiden prosperierenden Exil-Verlage. Bertolt Brecht notierte im dänischen Exil, ebenfalls über die politische Entwicklung der Sowjetunion und ihre Theater-Schließungen tief enttäuscht, in sein Journal: [. . .] Meine letzte russische Verbindung in Moskau verhaftet. Meyerhold hat sein Theater verloren, [. . .]. Literatur und Kunst scheinen beschissen, die politische Theorie auf dem Hund, es gibt so etwas wie einen beamtenmäßig propagierten blutlosen proletarischen Humanismus.30

Zürich war lange Zeit kein Ort für Brecht-Aufführungen. Zweimal wurde 1929 Die Dreigroschenoper, der Berliner Serienerfolg, nach wenigen Aufführungen vom Spielplan genommen. Bei der Neugründung eines zweiten Sprechtheaters im Zürcher Volkshaus wurde das Stück bereits nach fünf 26

  „Stadttheater: Der Sommernachtstraum“, Berner Tagwacht (3.3.1936).   „Der Sommernachtstraum“, Der Bund (3.3.1936). 28   Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold, ursprünglich Karl Kasimir Theodor Meiergold (* 1874 in Pensa; † 1940 in Moskau), russischer Schauspieler, Regisseur und Theaterleiter. Meyerhold, entwickelte mit seinem eigenen Ensemble seit 1923 am Moskauer WsewolodMeyerhold-Theater eine radikal antirealistische Bühnenkunst. 29   Kurt Hirschfeld, in: „Lexikon deutsch-jüdischer Autoren“, Bd. 12, München 2008, 72 – 76. 30  Brecht, Werke 26, 1994, 326 f. 27

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Vorstellungen abgesetzt. Die als Operette inszenierte Dreigroschenoper am Stadttheater wurde nach fünf Vorstellungen nicht weiter aufgeführt. Es folgen Zuschauerboykotte. Brechts Werke waren noch ganz unerwünscht. Tageszeitungen sprachen mit viel Ironie von der „einzigartigen Begeisterung der Zürcher“, die „unlängst kühlen Blutes“ diesen Brecht / Weill hätten abblitzen lassen, über den bald „kein Hahn mehr krähen“ werde.31 Als die experimentell-avantgardistische Burian-Inszenierung der Dreigroschenoper aus Prag im Juni 1935 im Schauspielhaus gezeigt wurde, protestierten Frontisten32 und Hitler-Anhänger wiederholt äußerst lautstark und gewalttätig gegen die „‚Drei-Schweine-Oper‘ des vermeintlichen ‚Juden Brecht‘“, bis das Gastspiel vorzeitig abgebrochen wurde.33 Aufführungen von Brechts aktuellen Stücken wie die Szenenfolge Furcht und Elend des Dritten Reiches waren auf Schweizer Berufsbühnen nicht möglich. Vorerst blieb Brecht ein Autor der Arbeiterbühnen. Wichtige Erstaufführungen fanden im Volkshaustheater statt: 1938 Die Gewehre der Frau Carrar und 1940 Die Mutter nach Gorki.34 Doch da war der Theatermann Kurt Hirschfeld, bereits wieder nach Zürich zurückgekehrt; ein Weggefährte Brechts, mit dem ihn ein neues Verständnis von Theater verband. „Wenn alles Leben, wie die Alten wussten, aus vier Elementen entstanden ist“, erinnerte sich der ebenfalls zur Emigration in die Schweiz gezwungene Erwin Parker, Schauspieler am Schauspielhaus, „so kam Kurt Hirschfelds Grundkraft aus dem Feuer. Er war der Feuerkopf dieses Hauses, der Wissenschaftler und Alchemist des Theaters, den es nicht auf ausgetretenen Pfaden litt, den es – experimentier- und entdeckungsfreudig – zu immer neuen Versuchen hinriss, auch auf die Gefahr hin, mit einem noch unerprobten Zündstoff eine Explosion auszulösen.“35 Ohne den Kunstverstand, die gesellschaftliche Weitsicht und ohne Kurt Hirschfelds persönliche Theaterbesessenheit, so Erwin Parker weiter, hätte es allerdings auch 1938 den Schritt vom Privattheater zur „Neuen Schauspiel AG“ niemals gegeben, und das legendäre Schauspielhaus Zürich in seiner einmaligen und einzigartigen Form hätte so nie existieren können.

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  Werner Wüthrich, Bertolt Brecht und die Schweiz, Zürich 2003, 20 – 22.   Frontisten oder Fröntler bildeten in der Schweiz seit 1933 eine Parallelbewegung zum Nationalsozialismus in Deutschland. 33   Werner Wüthrich, Bertolt Brecht und die Schweiz, Zürich 2003, 48 – 51. 34   Werner Wüthrich, Bertolt Brecht und die Schweiz, Zürich 2003, 51 – 54 und 291 – 314. 35   Erwin Parker, Mein Schauspielhaus  – Erinnerungen an die Zürcher Theaterjahre 1933 – 1947, Zürich 1983, 139. 32

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1938 bis 1948: Die großen Zürcher Brecht-Uraufführungen Nach der Spielzeit 1937 / 38 überließ Ferdinand Rieser das Theatergebäude Pfauen wie auch die gesamte Theaterleitung dem Personenkreis um Emil Oprecht und Kurt Hirschfeld.36 Mit der Gründung der „Neuen Schauspiel AG“37 blieb das Ensemble der Emigranten erhalten. Oskar Wälterlin wurde bewusst als schweizerischer Direktor nach Zürich berufen und Kurt Hirschfeld als erster Dramaturg verpflichtet. Wie schwierig die Lage der Vertriebenen war, wie abweisend und letztlich antisemitisch die Stimmung im Gastland, zeigen Inseratenkampagnen, die unter dem Slogan „Die Schweizerbühne dem Schweizer-Künstler und -Schauspieler“ zu Protestkundgebungen aufriefen.38 Die neue Leitung vermochte sich letztendlich gegen diese Aktionen durchzusetzen. Allerdings boykottierte fortan ein Großteil der Zürcher die Aufführungen ihres Thea­ ters am Pfauen.39 Die neuen Spielpläne spiegeln mal mehr und mal weniger die offizielle Doktrin einer Geistigen Landesverteidigung wider. Im Sommer 1938 schlug Kurt Hirschfeld im ersten Entwurf des Spielplans Brechts frühe Stücke vor: Eduard II, Trommeln in der Nacht und Mann ist Mann.40 Zu einer Erstaufführung kam es zwar noch nicht, aber es gelang Chefdramaturg Hirschfeld, als wichtigsten Wegbereiter von Brecht in der Schweiz, den verfemten Exilautor erstmals am Schauspielhaus Zürich ins Gespräch zu bringen; zusammen mit Unterstützung von Brechts neuem Bühnenverlag, dem Kurt Reiss-Verlag in Basel. In zwei neuen Stücken, dem Radiospiel Das Verhör des Lukullus und der Anti-Kriegs-Chronik Mutter Courage und ihre Kinder, hatte Brecht allerdings sein revolutionäres Theaterverständnis in eine Ästhetik des Widerstandes umgesetzt, um mit viel literarischem Geschick, sehr pointiert im Aufsatz Die fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit formuliert, „die Wahrheit unter vielen Lügen“ überhaupt noch verbreiten zu können.41 36

  Vgl. Werner Wüthrich, Bertolt Brecht und die Schweiz, Zürich 2003, 54 – 63.   Ute Kröger / Peter Exinger, „In welchen Zeiten leben wir!“ Das Schauspielhaus Zürich 1938 – 1998, Zürich 1998, 31 – 42. 38   Ursula Amrein, Los von Berlin, 265 – 273. 39   Ute Kröger / Peter Exinger, „In welchen Zeiten leben wir!“ Das Schauspielhaus Zürich 1938 – 1998, Zürich 1998, 31. 40   Kurt Hirschfeld, Erster Repertoire-Entwurf an den Verwaltungsrat, Neue Schauspielhaus Zürich AG (4.7.1938); Typoskript, Stadtarchiv Zürich; Archiv Schauspielhaus Zürich (Akten des Stadtpräsidenten), V.B.c·53·5‑4‑3. 41  Brecht, Werke 22, 1993, 74 – 89. Bertolt Brecht schrieb in Dänemark den Essay „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“. Der Text wurde 1935 auf dem Ersten Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur in Paris verbreitet. 37

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Die Uraufführung des neuen Brecht-Stückes Mutter Courage und ihre Kinder am Schauspielhaus Zürich im April 1941, angeblich und vordergründig eine historische Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg, kam durch eine beispiellose Hartnäckigkeit und mit viel List im Umgang mit der Zensurbehörde zustande. Die Zürcher Direktion und Brechts Bühnenverlag in Basel, der Theaterverlag Kurt Reiss, erfuhren durch die Stadttheater Basel und Bern direkte Schützenhilfe.42 Brecht besaß 1939 im dänischen Exil nun schon genügend Kenntnisse über die Schweiz und wusste, dass dort aktuelle politische Stücke wie Die heilige Johanna der Schlachthöfe, Die Gewehre der Frau Carrar und Furcht und Elend des III. Reiches unmöglich aufgeführt werden konnten.43 Aus genau dem Grund versuchte der Exilautor einen aktuellen Zeitbezug, den jedermann verstand, in vorzeitliche Epochen zu verlegen und alte, zum Teil bekannte Stoffe zu Hilfe zu nehmen. Ein Verfahren übrigens, das während Diktaturen zu allen Zeiten von den Theatern oder anderen Künsten angewendet wurde. Die wieder aufgefundenen Dokumente der Zensurbehörden – die Schweiz hatte von 1939 bis 1945 eine massive Einschränkung der Publikations- und Pressefreiheit eingeführt – dokumentieren, wie mit dieser List umgehend eine erste Hürde genommen werden konnte. In sämtlichen Berichten verwiesen die Zensoren der Armeeführung in beruhigender Weise auf „die Historie und den alten Stoff “.44 Man stellte von offizieller Seite nicht einen einzigen Bezug vom Tod der Feldherren Lukullus im alten Rom oder Tilly im Dreißigjährigen Krieg zu Hitler, dem Weltkrieg und zur Gegenwart her.45 Ursprünglich entwickelte Brecht diese Methode für eine ganz andere Aufgabe; zur Erschaffung einer neuen Theaterästhetik für das „wissenschaftliche Zeitalter“. Diese hatte in seinem epischen Theater der „Verfremdung“ zu dienen, alltägliche Vorgänge nämlich sollten in ferner und fremder Umgebung vom kritischen Zuschauer dann besser durchschaut werden können.46 Jedoch zur Zeit des Nationalsozialismus und des Faschismus in Europa und der rigorosen Pressezensur erhielten Verfremdungseffekte und andere Attribute seines experimentellen Theaters in bemerkenswerter Weise eine 42

  Werner Wüthrich, Bertolt Brecht und die Schweiz, Zürich 2003, 56 – 61 und 220 – 222.   Brecht beklagte sich später, das Schauspielhaus habe es weder vor, während, noch nach dem Zweiten Weltkrieg gewagt, die Szenenfolge Furcht und Elend des III. Reiches zu zeigen. Siehe dazu Werner Wüthrich, Bertolt Brecht und die Schweiz, Zürich 2003, 51 – 54 und 291 – 314. 44   Werner Wüthrich, Bertolt Brecht und die Schweiz, Zürich 2003, 58. 45   Werner Wüthrich, Bertolt Brecht und die Schweiz, Zürich 2003, 56 – 61. 46   Vgl. dazu Bertolt Brecht, „Kurze Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst, die einen Verfremdungseffekt hervorbringt“. Brecht, Werke 22, 1993, 641 – 659. 43

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zusätzliche Funktion. So ermöglichten erst der ursprünglich entwickelte Verfremdungseffekt und andere epische Attribute des Brecht-Theaters die Uraufführungen seiner großen Stücke am Schauspielhaus Zürich. Ein Schulbeispiel erster Güte für das Unterlaufen der Pressezensur war 1940 die Ankündigung der Erstausstrahlung Das Verhör des Lukullus in der Schweizerischen Radio-Zeitung. Man bat den renommierten Künstler Heinrich Danioth aus Altdorf im Kanton Uri um eine Art Uraufführungsplakat, das an Deutlichkeit und drastischem Bezug zur Gegenwart nichts zu wünschen übrigließ. Auf diese Weise konnte Radio Beromünster sogar auf die übliche Inhaltsangabe und eine textlich verfängliche Interpretation des Hörspiels in der offiziellen Ankündigung verzichten.47 Da die Schweiz zwischen 1933 und 1945 bei sämtlichen Aufführungen, Radiosendungen und Bücherpublikationen von deutschen Exilautoren auf das politische Umfeld ihrer Nachbarn Rücksicht zu nehmen hatte, hatten es hier die neueren Werke Brechts ganz besonders schwer. Umso erstaunlicher ist es, dass durch die Zeitumstände im 20. Jahrhundert das Exilland Schweiz als Ort mit den meisten Ur- und Erstaufführungen von Brecht gilt. So bedurfte es oft eines ausgefeilten taktischen Manövers, dass Aufführungen wie Mutter Courage und ihre Kinder 1941 am Schauspielhaus Zürich oder das Hörspiel Das Verhör des Lukullus 1940 aus dem Studio Bern die Nationalsozialisten im „Dritten Reich“ nicht provozierten – und doch die Aussage gegen das Hitler-Regime von jedermann verstanden wurde. Das neue Brecht-Hörspiel passierte ohne Abstriche die Radio- und PresseZensur, denn schließlich war Das Verhör des Lukullus im antiken Rom angesiedelt oder vielmehr in dessen Schattenreich.48 Während Hitlers Armeen zu Pfingsten 1940 in den Niederlanden und Belgien einmarschierten, teilte das Berner Hörspiel-Ensemble den Radiohörern mit, wie der römische Feldherr Lukullus, der „Größte Feldherr aller Zeiten“ soeben gestorben sei und in jener Mai-Nacht im Reich der Toten erwartet werde. Die Presseberichte über die Erstausstrahlung zeigen, wie gut damals die aktuellen Anspielungen verstanden wurden: „Wir haben dazu wenig zu sagen. Wer es hörte, weiß genau, um was es ging. Es bleibt uns nur die angenehme Pflicht, Autor, Regisseur und Darsteller [. . .] zu der famosen Leistung zu beglückwünschen.“49

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  Werner Wüthrich, Bertolt Brecht und die Schweiz, Zürich 2003, 339 – 361.  Brecht, Werke 6, 1989, 87 – 143; und Werner Wüthrich, Bertolt Brecht und die Schweiz, Zürich 2003, 339 – 361. 49   Die Radiowoche, Korrespondenz der Schweizerischen Arbeiterbildungszentrale, Bern 18.5.1940; vgl. Wüthrich, Brecht, 354 – 375. 48

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Allerdings durfte mitten im Zweiten Weltkrieg selbst dieser angeblich „historische Stoff “ nicht aus der Feder eines Exilautors stammen.  – Zur Zeit der Geistigen Landesverteidigung und aus Angst vor NS‑Deutschland wurde Brecht kurzerhand zu einem „Schweizer Autor“ erklärt. Mit der Lukullus-Erstausstrahlung war das Eis zwischen Brecht und dem Schweizer Berufstheater gebrochen. Brechts neue Werke wurden in den folgenden Spielzeiten zum ersten Mal auch außerhalb des Arbeitertheaters und der Volkshäuser gespielt. Das Zürcher Schauspielhaus, das als die „letzte geistige Provinz der deutschen Dichtung noch Asyl zu bieten vermochte“,50 so die Worte des Mutter Courage-Regisseurs Lindtberg, setzte den im fernen Kalifornien logierenden Brecht in Erstaunen. Er vertraute seinem Journal 1942 an: „Nach dem Erfolg der Mutter Courage (die etwa 800 (eingefrorene) Schweizer Franken gebracht hat) will das Züricher Schauspielhaus jetzt den Guten Menschen von Sezuan aufführen. [. . .] In diesem Winkel der Erde gibt es das noch . . .“51 Im Kriegsjahr 1943 kam es durch die Uraufführung des Guten Menschen von Sezuan zu einer ungeahnten Wende. Es ist unglaublich, aber ausgerechnet mit Brecht erreichten Kurt Hirschfeld und Oskar Wälterlin das Ende des Zuschauer-Boykottes gegen ihr als „jüdisch-marxistisch“ verschrienes Ensemble.52 Das Parabel-Stück wurde bei Publikum und Presse zu einem der größeren Erfolge des Schauspielhauses – und dies auf Grund einiger Falschmeldungen. Der Exilautor habe seiner Weltanschauung abgeschworen und die Gesinnung geändert, behaupteten Zeitungsrezensenten, was sein neuestes Stück deutlich zeige: „Ein guter Mensch muss hart sein, um nicht zu Grunde zu gehen. Der stürmische Anspruch des Proletariats auf Glück wird zugunsten des charitativen Besitzes fallen gelassen: der Kommunist Brecht entpuppt sich als Apologet des bürgerlichen Kapitalismus.“53 Brecht war über diese Nachricht hell entsetzt und begann sich gegen Missverständnisse aller Art, Falschinterpretationen seines epischen Theaters und gegen jede derartige „Verhunzung“ seiner Stücke vorzubereiten.54 Das Zürcher Schauspielhaus wurde in der Folge nun eine Hochburg der Brecht-Pflege, die einzige damals in Europa und im deutschen Sprachraum, 50

  Leopold Lindtberg, „Wendepunkt“, in: Vorwärts, Zürich 8.1.1946.  Brecht, Werke 27, 1995, 122 f. 52   Ute Kröger / Peter Exinger, „In welchen Zeiten leben wir!“ Das Schauspielhaus Zürich 1938 – 1998, Zürich 1998, 31. 53   Peter Schmid, „Uraufführung des Guten Menschen von Sezuan“, Die Weltwoche 483 (12.2.1943). 54   Werner Wüthrich, Bertolt Brecht und die Schweiz, Zürich 2003, 125 – 131; und Werner Wüthrich, 1948 – Brechts Zürcher Schicksalsjahr, Zürich 2006, 9 – 18. 51

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und eröffnete mit Brechts Leben des Galilei die Spielzeit 1943 / 44. Das war die dritte große Brecht-Uraufführung des Theaters. Ein Raunen ging durch den Zuschauerraum, so auch im Spitzelbericht der Deutschen Botschaft nach Berlin, als in der Premiere mit dem Schlusssatz, „Nimm dich in acht, wenn du durch Deutschland fährst und die Wahrheit unter dem Rock trägst!“55, das Publikum ermahnt wurde. Brecht wurde dank seinem Mentor Kurt Hirschfeld, trotz eingeschränkter Pressefreiheit und Militärzensur, fortan auf den Zürcher Bühnen gespielt. Nach Kriegsende 1945 wurden die uraufgeführten Brecht-Werke in anderen Städten – und bald in ganz Europa – nachgespielt. Die meisten Bühnenkünstler des Schauspielhauses kehrten – oft mit Brecht und seinen Werken im Gepäck – in ihre Heimatländer Österreich und Deutschland zurück. Der Nachholbedarf an eben noch verbotener Literatur und Bühnenwerken war überall groß. Neben dem Schauspielhaus liefen die Vermittlungen über die Exilverlage in der Schweiz. Mit Brechts Bühnenverlag zusammen bauten die Direktoren Hirschfeld und Wälterlin am Zürcher Schauspielhaus, ermuntert durch zahlreiche Anfragen, ein Verbreitungsnetz für Stücktexte und Autoren auf.

Brecht kommt im November 1947 für ein Jahr in die Schweiz Als Brecht nach seiner langen Exilzeit in den USA in die Schweiz zurückkehrte, stürzte er sich sofort in eine neue Theaterproduktion. Doch nicht am Zürcher Schauspielhaus, wo Kurt Hirschfeld alles für ihn bestens vorbereitet hatte und für die neue Spielzeit zwei Uraufführungen angekündigt waren: Die Neufassung der Dreigroschenoper und das eben fertig gestellte Stück Der kaukasische Kreidekreis. Brecht suchte im November 1947 nach der amerikanischen Uraufführung Galileo mit Charles Laughton,56 nach der dänischen die zweite Fassung des Leben des Galilei, sogleich eine neue Heraus55  Brecht, Werke 5, 1988, 106; vgl. Werner Wüthrich, „Bertolt Brecht und sein ‚Einstein /  Galilei‘-Stoff “, in: Volker Issbrücker / Christian Hippe (Hgg.), Brecht und Naturwissenschaften, Berlin 2017, 245; und Werner Wüthrich, Bertolt Brecht und die Schweiz, Zürich 2003, 60 – 63. 56   Werner Wüthrich, „Bertolt Brecht und sein ‚Einstein / Galilei‘-Stoff “, in: Volker Issbrücker / Christian Hippe (Hgg.), Brecht und Naturwissenschaften, Berlin 2017, 225 – 249; Werner Wüthrich, Bertolt Brecht und die Schweiz, Zürich 2003, 60 – 63; Werner Wüthrich, Bertolt Brecht und die Schweiz, Zürich 2003, 195 – 207; Werner Wüthrich, 1948 – Brechts Zürcher Schicksalsjahr, Zürich 2006, 19 – 36; und Werner Wüthrich, „‚Hallo, dear Brecht . . .‘. Charles Laughton demonstriert Bertolt Brecht episches Theater. Ein Bericht über die Schellackplatten ‚Laughton to Brecht‘“, Neue Zürcher Zeitung (27.2.2006).

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forderung: Anstatt wie erwartet an das Schauspielhaus Zürich und zu Kurt Hirschfeld zurückzukehren, inszenierte Brecht seine Antigone des Sophokles am Stadttheater Chur.57 Wie konnte es dazu kommen, dass der Hausautor des Schauspielhauses Zürich nicht zu seinem Theater zurückkehrte? Nachdem sich das Schauspielhaus Zürich und sein nun schon legendäres Ensemble, trotz größter Widerstände der Zürcher Fremdenpolizei und der Bundesanwaltschaft in Bern, des Staatsschutzes in der Schweiz,58 erfolgreich für einen Aufenthalt Brechts eingesetzt hatten, entschied sich dieser mit seinem Bühnenbauer Caspar Neher für eine Zusammenarbeit mit dem Musikdramaturgen und Regisseur Hans Curjel. Obschon Kurt Hirschfeld und sein Ensemble am Schauspielhaus Zürich seit 1938 unermüdlich für Brecht und für Aufführungen seiner Werke stritten und kämpften, ihn als großen Hoffnungsträger in Zürich begrüßten und in der Spielzeit 1947 / 48 zwei Uraufführungen bereits angekündigt hatten, wendete Brecht ihnen den Rücken zu, um mit Hans Curjel zusammenzuarbeiten. Hans Curjel, seit 1933 wie Kurt Hirschfeld in Zürich im Exil, war seit 1942 künstlerischer Direktor der florierenden „Thea­ ter- und Tournée-Genossenschaft Zürich“. Er hatte Anfang 1946 zudem die Direktion des Stadttheaters Chur übernommen und dieses rasch zu einem viel beachteten Theater, einem eigentlichen „Theaterwunder“ geführt.59 Curjel ermöglichte Brecht mit dem Churer Antigonemodell 1948 die erste Modellaufführung seit 1933, die in der Folge viel zum Entstehen von Brechts eigener Truppe beitrug und heute als „Urzelle des Berliner Ensembles“ gilt. Der Bruch mit dem Schauspielhaus Zürich lässt sich auf Brechts Überzeugung zurückführen, man mache in Europa oder zumindest in der Schweiz noch immer „das älteste Theater, was man sich nur denken“ könne.60 Im Vorwort seines Antigonemodell 1948 lesen wir: „Die machen ja weiter, als hätte nie ein Weltkrieg stattgefunden und wären 1945 nie Atombomben abgeworfen worden . . .“ 61 Brechts Vorwürfe – er spricht von einem „Goebbels-Theater“ – richten sich nicht nur an die Adressen der Theater in 57   Werner Wüthrich, Die Antigone des Bertolt Brecht. Eine experimentelle Theaterarbeit, Chur 1948, Zürich 2015; Werner Wüthrich, 1948 – Brechts Zürcher Schicksalsjahr, Zürich 2006, 37 – 52. 58   Vgl. dazu das Kapitel „Als kommunistischer Agent im Visier des Staatsschutzes“, in: Werner Wüthrich, Bertolt Brecht und die Schweiz, Zürich 2003, 206 – 249. 59   Werner Wüthrich, Die Antigone des Bertolt Brecht. Eine experimentelle Theaterarbeit, Chur 1948, Zürich 2015. 60   Caspar Neher, handschriftliche Tagebuch-Aufzeichnungen in Zürich um 1947 bis 1949, in: Klaus Völker, Bertolt Brecht. Eine Biographie, München 1976, 357. 61  Brecht, Werke 25, 1994, 73 – 81; Werner Wüthrich, Die Antigone des Bertolt Brecht. Eine experimentelle Theaterarbeit, Chur 1948, Zürich 2015, 18 – 29.

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den besetzten Zonen Deutschlands (dort hatte er gar keine Aufführungen gesehen), sondern hauptsächlich an die „historische Mission“ des Zürcher Schauspielhauses, die deutsche Schauspielkunst und künstlerische Theatertradition vor 1933, etwa eines Max Reinhardt, zu pflegen und zu bewahren.62 So arbeitete Bertolt Brecht, der noch immer als der zeitgenössische „Dramatiker des revolutionären Theaters“ galt,63 zu Beginn des Jahres 1948 am Stadttheater Chur und nicht, wie erwartet, bei Kurt Hirschfeld am Schauspielhaus Zürich. Brechts 50. Geburtstag am 10. Februar 1948 fiel in die Woche der Endproben zur Antigone-Uraufführung. Der Jubilar erhielt in Chur Briefe und Glückwunschtelegramme, unter anderem von Direktor Oskar Wälterlin, Bühnenbildner Teo Otto und seinem Basler Bühnenverlagsleiter Kurt Reiss.64 Man wundert sich über das Fehlen eines Glückwunsches von Kurt Hirschfeld. Gibt man sich mit dem Inhalt der Mappe „50. Geburtstag“ im BertoltBrecht-Archiv nicht zufrieden, entdeckt man in Brechts Nachlass-Bibliothek auf einmal einen Hegel-Band mit einer beigelegten Briefkarte und aufgedruckten Initialen „K. H.“: Lieber und Verehrter, eigentlich hätte es sich wohl gehört, den 50. jährigen [sic] mit einiger Lautstärke öffentlich zu feiern. Aber ich weiß ja wie abhold Sie solchen Dingen sind. So tue ich es ‚privat‘. Nehmen Sie meine besten Wünsche für eine schöne, wirksame und fruchtbare Arbeit. Erhalten Sie mir ein wenig die freundlichen Gedanken, die ich in der kurzen Zeit Ihres Aufenthaltes in Zürich spüren durfte. lch lege Ihnen Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘ bei, in der Annahme, dass sie sich nicht mehr unter ihren Büchern befindet. Sonst ist sie leicht gegen etwas Anderes, dass [!] Sie haben möchten, umzutauschen. Am Sonntag sehen wir uns in Chur. Schonen [!] Dank für Ihren Brief. Mit guten Grüßen für Sie und Helly Weigel Ihr Kurt Hirschfeld65

Bei den beiden Theaterarbeiten in Chur und in Zürich wollte Bertolt Brecht das Theater wieder „als kulturelles und gesellschaftliches Labor“ verstan62   Vgl. dazu das Kapitel „Die ‚historische Mission‘ des Zürcher Schauspielhauses“, in: Werner Wüthrich, Die Antigone des Bertolt Brecht. Eine experimentelle Theaterarbeit, Chur 1948, Zürich 2015, 22 – 24. Ute Kröger / Peter Exinger, „In welchen Zeiten leben wir!“ Das Schauspielhaus Zürich 1938 – 1998, Zürich 1998. 63   Karl Götting / Kurt Hirschfeld, „Geleitwort“, in: Brecht, Mutter, 9 f. 64   Vgl. dazu im Bertolt-Brecht-Archiv Berlin die Mappe „50. Geburtstag“; auch das Kapitel „Brechts stiller Geburtstag“, in: Werner Wüthrich, Die Antigone des Bertolt Brecht. Eine experimentelle Theaterarbeit, Chur 1948, Zürich 2015, 196 f. 65   Die Bibliothek Bertolt Brechts. Ein kommentiertes Verzeichnis, bearbeitet von Erdmut Wizisla, Helgrid Streidt und Heidrun Loeper, Frankfurt a. M. 2007; siehe Anhang Supplement Zürich, 543.

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den wissen.66 Doch damit rechnete, mit Ausnahme von Kurt Hirschfeld, am Schauspielhaus wohl niemand. Er wollte einmal mehr eine grundsätzliche Debatte über den Sinn und die Aufgaben der Theaterkunst auslösen. Eine produktive Diskussion um die Theaterkunst, die auf der Höhe ihrer Zeit ist; und die das Vergnügen, die Avantgarde und sogar das Anliegen einer moralischen Anstalt nach Friedrich Schiller zu vereinen versucht. Und zwar in einer realistischen Spielweise, die vor allem auch „eine Schau-Lust“ nicht ausschließt. So postulierte der Regisseur-Autor Brecht für seine Theaterarbeit „ein Theater der Neugierigen!“ und setzte dabei unermüdlich und mit aller Konsequenz seinen programmatischen Satz um, ein Theater, in dem man nicht lachen könne, sei nur ein Theater, über das man zu lachen habe. 67 Ein exemplarisches Beispiel für dieses neue Theaterverständnis sollte die Uraufführung des Volksstückes Herr Puntila und sein Knecht Matti im Juni 1948 werden. Die entscheidende Voraussetzung dabei war, dass Brecht und Caspar Neher,68 trotz ihrer künstlerischen Einwände gegen den Spielplan, die politische Ausrichtung und den traditionellen „Zürcher Darstellungsstil“,69 die großen Verdienste des Zürcher Schauspielhauses um Brechts Dramen aus der Exilzeit stets anerkannt hatten. Der Widerspruch aber zwischen großer Wertschätzung und heftiger Ablehnung bezog sich auch auf die Doppeldirektion Wälterlin und Hirschfeld. Aus Brechts Nähe zu Kurt Hirschfeld blieben später, sogar über die realen und ideologischen Grenzen des Kalten Krieges hinaus, die guten Kontakte zwischen dem Berliner Ensemble in Ostberlin und dem Pfauentheater in Zürich erhalten. So wünschte sich Brecht ausdrücklich Kurt Hirschfeld als Co-Regisseur.70 Es wurde für diese Schauspielhaus-Produktion, den offiziellen Beitrag zu den internationalen Zürcher Juni-Festwochen, dann eine unterstützende und sich ergänzende Mitarbeit auf gleicher Augenhöhe, die ganz und gar Brechts Vorliebe ent-

66   Vgl. dazu Kapitel „Antigone-Proben – ein Theaterlabor auf Zeit“, in: Werner Wüthrich, Die Antigone des Bertolt Brecht. Eine experimentelle Theaterarbeit, Chur 1948, Zürich 2015, 141 – 191. 67   Im „Vorwort“ zum Antigonemodell 1948, Brecht, Werke 25, 1994, 73; siehe auch Werner Wüthrich, Die Antigone des Bertolt Brecht. Eine experimentelle Theaterarbeit, Chur 1948, Zürich 2015. 68   Caspar Neher (* 1897 Augsburg; † 1962 Wien), bedeutender Bühnenbauer und, als Jugendfreund, lebenslange Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht. 69   Vgl. dazu das Kapitel „Prinzip Bewahren“, in: Ute Kröger / Peter Exinger, „In welchen Zeiten leben wir!“ Das Schauspielhaus Zürich 1938 – 1998, Zürich 1998, 119 – 121. 70   Diese Aussage entspricht der Sichtweise von Bertolt Brecht. In Wirklichkeit hätte das Schauspielhaus Zürich den Autor aus politischen und fremdenpolizeilichen Gründen weder als Gast verpflichten noch offiziell als Regisseur nennen können.

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sprach. Chefdramaturg und Vizedirektor Kurt Hirschfeld gab einmal darüber Auskunft: Brecht saß im Zuschauerraum, ich leitete die Proben. Brecht machte sich Notizen. Nachher, gegen vierzehn Uhr, trafen wir uns. Brecht kritisierte, lobte, diskutierte, wie dies und jenes zu ändern sei, machte Vorschläge, um diese und jene Szene auf ihren Kern zu bringen. Wir überlegten, ob die Schwierigkeiten beim Stück, bei der Regie oder im Text zu suchen waren. Trotz dieser gründlichen Arbeit ging es schnell. Nach drei Wochen waren wir am Ziel. [. . .] Gutes Theater beruht nicht nur auf zwei Augen. Es beruht auf mehreren mit gleicher Sehschärfe.71

Kurt Hirschfeld unterstützt 1949 Brechts Gründung des Berliner Ensembles Trotz den erwähnten künstlerischen Vorbehalten gegen das Schauspielhaus Zürich bemühten sich Kurt Hirschfeld und Bertolt Brecht, ihre Zusammenarbeit fortzusetzen. Unermüdlich war zu der Zeit auch Kurt Hirschfelds Einsatz für Brechts Rückkehr nach Berlin und Deutschland.72 Erst recht war die Unterstützung aus Zürich bei den Vorbereitungen von Brechts lange ersehnter, eigener Theatertruppe, dem Berliner Ensemble, hilfreich und wichtig. Noch während Brechts Aufenthalt in der Schweiz versicherte Kurt Hirschfeld Ende 1948 in einem Brief an Caspar Neher: „Selbstverständlich werden wir alles tun, um Brecht zu helfen.“73 Vor allem bemühte sich der Zürcher Chefdramaturg im Frühjahr 1949 mit dem Stückeschreiber zusammen, die Uraufführung Die heilige Johanna der Schlachthöfe, einst vor 1933 in Düsseldorf verboten und in der Spielzeit 1934 / 35 am Privattheater Pfauen in Zürich geplatzt, unter ganz neuen Vorzeichen endlich nachzuholen. Das belegen etwa die Auszüge aus ihren Telegramm-Depeschen mit dem Schauspieler-Intendanten Gustaf Gründgens in Düsseldorf:74

71   „Kurt Hirschfeld“, in: Arthur Joseph Neher, Theater unter vier Augen. Gespräche mit Prominenten, Köln 1969, 126. 72   Werner Wüthrich, 1948 – Brechts Zürcher Schicksalsjahr, Zürich 2006, 91 – 102. 73   Unveröffentlichter Brief von Kurt Hirschfeld, Zürich, Ende 1948 an Caspar Neher; in: Nachlass Caspar Neher, Theatermuseum Wien, „Briefe an Caspar Neher, von A – Z“. 74   Als Intendant der Preußischen Staatstheater leitete Gustaf Gründgens von 1935 – 1945 das wichtigste deutsche Theater. Nach 1945 übernahm er fast bruchlos die Intendanz von bedeutenden deutschen Bühnen. In Hirschfelds Korrespondenz wird sein Name oft genannt, und er stand persönlich mit Gründgens in losem Briefkontakt.

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Sehr geehrter Herr Gründgens! Sie fragten mich 1932 um die Erlaubnis, Die heilige Johanna der Schlachthöfe aufführen zu dürfen. Meine Antwort ist ja. Ihr Brecht.75 Düsseldorf, Gustaf Gründgens: „Über Brief zu Tode erschrocken – Freue mich aber sehr, dass Sie sich noch daran erinnern und bitte mir Buch umgehend zukommen zu lassen. Besten Gruß, Gustaf Gruendgens76 Herrn Gustaf Gruendgens Duesseldorf Zuerich 1. Maerz 1949 Zürich, Schauspielhaus: Brecht erfreut, erwartet Besetzung Gruss Hirschfeld77 Düsseldorf, Gustaf Gründgens: „Lieber Herr Hirschfeld! Würden Sie so freundlich sein und Brecht sagen, dass ich in Frage kommendes Stück herrlich wie am ersten Tag finde und mir Uraufführung für erste Hälfte nächster Spielzeit erbitte.78

Doch Bertolt Brecht konnte seine Jeanne d’Arc-Adaption, die während der Weltwirtschaftskrise in den Schlachthöfen von Chicago spielt, in BerlinOst nicht auf den Spielplan des Berliner Ensembles setzen.79 In Düsseldorf vereitelte dann das Klima des Kalten Krieges in der neu gegründeten BRD eine erste Aufführung zu Brechts Lebzeiten. So kam Die heilige Johanna der Schlachthöfe, das Kurt Hirschfeld stets für Brechts bedeutendstes Thea­ terstück hielt,80 erst 1959 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg zur Uraufführung; und nochmals zehn Jahre später erfolgte dann 1968 am Schauspielhaus Zürich die Erstaufführung in der Schweiz. Bertolt Brecht, der gern in Feldmeilen bei Zürich die kleine Dachwohnung und seinen Arbeitsplatz als „staatenloser Deutscher“ für einen Zweitwohnsitz außerhalb Deutschlands behalten wollte,81 musste im Mai 1949 75

  Brief Nr. 1352, Brecht, Werke 29, 1998, 487.   Monika Wyss, Brecht in der Kritik. Rezensionen aller Brecht-Uraufführungen. Eine Dokumentation, München 1977, 452. 77   Monika Wyss, Brecht in der Kritik. Rezensionen aller Brecht-Uraufführungen. Eine Dokumentation, München 1977, 452. 78   Monika Wyss, Brecht in der Kritik. Rezensionen aller Brecht-Uraufführungen. Eine Dokumentation, München 1977, 452. 79  Beispielsweise bezeichnete Ernst Schuhmacher, ein Brecht-Spezialist der DDR, die Titelperson Johanna als „Abbild des bürgerlichen und kleinbürgerlichen Menschen“; zitiert aus: Monika Wyss, Brecht in der Kritik. Rezensionen aller Brecht-Uraufführungen. Eine Dokumentation, München 1977, 375; vgl. auch Jan Knopf (Hg.), Brecht Handbuch, Bd. 1 „Stücke“, Stuttgart 2001, 285 – 287. 80   Vgl. dazu Karl Götting / Kurt Hirschfeld, „Geleitwort“, in: Brecht, Mutter, 20 – 24. 81   Vgl. Werner Wüthrich, 1948 – Brechts Zürcher Schicksalsjahr, Zürich 2006, 9 – 18 und 129 – 141; und Werner Wüthrich, Bertolt Brecht und die Schweiz, Zürich 2003, 141 – 153. 76

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die Schweiz verlassen und übersiedelte, neu mit einem österreichischen Pass versehen, nach Ost-Berlin. Nach der Gründung des Berliner Ensembles im Spätherbst 1949 und der Berliner Puntila-Erstaufführung an seinem Theater blieben Helene Weigel und Brecht mit dem befreundeten Kurt Hirschfeld und seiner jungen Familie in Zürich in Kontakt.82 Bereits unter deutlichen Anzeichen des Kalten Krieges in Europa reiste Kurt Hirschfeld im Oktober 1950 zur Münchner Premiere von Mutter Courage und ihre Kinder, die der Autor-Regisseur Brecht mit Therese Giehse in der Titelrolle an den Kammerspielen inszenierte. Unter der Schlagzeile „Internationale Begeisterung für Brecht“ hielt neben anderen prominenten Theaterfachleuten auch Kurt Hirschfeld, der Förderer und große Kenner des epischen Theaters, in der Münchner Abendzeitung Brechts neueste Theaterarbeit für ein „europäisches Ereignis“ und sagte: Diese authentische Inszenierung war und ist einer der wenigen Glücksfälle des Theaters. Was sollen da alle politischen Fragen, wenn das deutsche Volk eine solch dichterische Potenz besitzt? Sollte Brecht heute oder morgen deswegen im Westen abgelehnt werden, so möchte ich in einem Vergleich sagen: Es geschieht euch ganz recht, erfriert ihr eure Finger, warum habt ihr die Handschuhe weggeschmissen.83

Die beiden Direktoren des Zürcher Schauspielhauses, Kurt Hirschfeld und Oskar Wälterlin, hielten trotz antikommunistischer Kampagnen und westlicher Brecht-Boykotte zunächst an einer kontinuierlichen Zusammenarbeit mit dem Autor und an ihrer Brecht-Pflege seit dem Kriegsjahr 1941 fest. Auf der bereinigten Liste der Stückvorschläge für die Spielzeit 1950 / 51 stand erneut die Erstaufführung des Kaukasischen Kreidekreises. Ein Austausch zwischen dem Schauspielhaus Zürich und dem neuen Berliner Ensemble war zu den Juni-Festwochen 1951 ebenfalls fest in Planung; unter „Gastspiele fremder Truppen“ sollte die viel beachtete Brecht-Inszenierung Der Hofmeister nach Lenz in Zürich gezeigt werden.84 Doch längst schlug auch in der Schweiz die öffentliche Stimmung gegen Brecht und ein Theatergastspiel aus der DDR um. Gleichzeitig wurden so bekannte Ensemble-Mitglieder des Schauspielhauses wie Therese Giehse und Leonard Steckel, die sich 82   Der Autor stand mit Frau und Tochter von Kurt Hirschfeld mehrfach in Kontakt; die Aussage wird unter anderem durch einen Brief von Tetta Hirschfeld vom 27.7.1973 und die mündliche Aussage von Ruth Hirschfeld im Gespräch am 14.1.2007 belegt. 83   Münchner Abendzeitung (10.10.1950), zitiert aus Therese Giehse „Tagebuch 1950“; in: Renate Schmidt, Therese Giehse – H. – german actress, München 1995. Vgl. auch das Kapitel „Die Courage der Giehse“, in: Therese Giehse, „Ich hab nichts zum Sagen“. Gespräche mit Monika Sperr, München / Gütersloh / Wien 1973, 108 – 118. 84   Kurt Hirschfeld, Typoskript mit handschriftlichen Notizen, LBI, NY, KHC.

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von Brecht nach Ostberlin engagieren ließen oder sich im Westen noch für das Werk von Brecht einsetzen wollten, in der Schweiz teils mit Arbeitsverbot belegt, oder es wurde ihnen eine fristlose Entlassung angedroht.85 Kurt Hirschfeld und Bertolt Brecht waren sich wichtig und tauschten immer wieder Briefe und Mitteilungen aus, etwa in Anlehnung an die Churer Geburtstagskarte. Im September 1954 verschickte Brecht eine Einladung: Lieber Hirschfeld Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie zu der deutschen Erstaufführung meines Stückes Der kaukasische Kreidekreis ins Theater am Schiffbauerdamm am 27. oder 28. September 1954 19.00 Uhr kommen könnten. Bitte lassen Sie uns doch wissen, ob wir Karten reservieren dürfen. Im Falle Ihrer Zusage liegen die Karten auf Ihren Namen an der Abendkasse. Mit den besten Grüssen (Bertolt Brecht)86

1955 wären sich die beiden Deutschen, Kurt Hirschfeld und Bertolt Brecht, anlässlich der Darmstädter Theater-Gespräche beinahe in ihrem Herkunftsland noch einmal begegnet. Brecht ließ sich dann aber in letzter Minute durch einen Mitarbeiter seines Berliner Ensembles vertreten, der Brechts berühmt gewordenen Diskussionsbeitrag zu verlesen hatte, beginnend mit dem Satz: „Mit Interesse höre ich, dass Friedrich Dürrenmatt in einem Gespräch über das Theater die Frage gestellt hat, ob die heutige Welt durch Theater überhaupt wiedergegeben werden kann.“87 Wie selbstverständlich ergriff Kurt Hirschfeld seinerseits damals auf diesem Forum das Wort und versuchte in Darmstadt einmal mehr für den in der BRD verfemten Stückeschreiber, sein Werk und seine Theaterarbeit eine Lanze zu brechen: Meine Damen und Herren, ich fasse gern heißes Eisen an. Ich finde es schön, dass Brecht uns eine Botschaft schickt. [. . .] Ich möchte aber von mir aus sagen und unterstreichen [. . .]: Dass Brecht hier an dem Tisch fehlt, ist ein Unglück. Dass Brecht dem westeuropäischen Theater fehlt, ist das weitaus größere.“88

In den schwierigen Fünfzigerjahren ging Kurt Hirschfeld, der Brecht in Zürich spätestens 1945 als wichtigen Gegenwartsautor durchgesetzt hatte, der politischen Grosswetterlage im Westen entsprechend auf Distanz. In einen Vortrag über „Das moderne Theater“ erklärte er 1957 öffentlich, Brecht 85

  Vgl. dazu das Kapitel „Kalter Krieg – Der ‚Fall Giehse‘“, in: Ute Kröger / Peter Exinger, „In welchen Zeiten leben wir!“ Das Schauspielhaus Zürich 1938 – 1998, Zürich 1998, 100 – 104. 86   Korrespondenz Kurt Hirschfeld, Privatarchiv Zürich. 87  Brecht, Werke 23, 1993, 340 f. 88   Egon Vietta (Hg.), Darmstädter Gespräch – Theater, Darmstadt 1955, 279.

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sei zurzeit nicht mehr ein „schauspielhausfähiger“ Autor.89 Doch bereits zwei Jahre später, in der Spielzeit 1959 / 60, inszenierte Leopold Lindtberg mit Therese Giehse in der Titelrolle Mutter Courage und ihre Kinder, nach der Brechtschen Modellbühne und seiner Uraufführungsinterpretation.90 Mit insgesamt 57 Aufführungen war es für das Schauspielhaus eine der erfolgreichsten Produktionen. Im November 1960 brachte Kurt Hirschfeld, als neuer Direktor des Zürcher Schauspielhauses, das Brecht-Stück Im Dickicht der Städte zur Schweizer Erstaufführung, sagte aber nach dem Berliner Mauer­bau den geplanten Brecht-Zyklus der frühen Theaterstücke ab.91

Bertolt Brecht, Kurt Hirschfeld und das Schauspielhaus Zürich Wer über experimentelle Theaterarbeit und über Exiltheater im 20. Jahrhundert forscht, stößt früher oder später auf vergessene Namen. Es sind nicht selten die Namen von emigrierten Theaterschaffenden jüdischer Herkunft. Ob sie Hans R. Curjel oder Kurt Hirschfeld hießen, als Person im Exil hatten sie im Hintergrund zu bleiben. Der eine als „inoffizieller Theaterleiter“ am neuen Corso Theater Zürich, der andere, wie wir wissen, am Schauspielhaus in Zürich. Ohne sie und ihre künstlerischen Intentionen wäre bei uns damals vieles anders verlaufen. Der große Oskar Wälterlin hatte Teo Otto freimütig gestanden: „Du glaubst nicht, wie ich Hirschfeld brauche. Erstens, weil er dem Theater erstaunlich dient, zweitens menschlich und künstlerisch, und drittens als freundschaftlich-kritischen und gescheiten Widersacher. Wir sind ohne einander nicht zu denken.“92 Bertolt Brecht hätte dies wohl auch so sagen können. Nie verlegen um die genaue Bezeichnung nannte er Kurt Hirschfeld einen „chieftain of the courage [sic] Züricher Schauspielhaus“.93

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  LBI, NY, KHC; vgl. auch das Kapitel „Kein Interesse an Brecht“, in: Ute Kröger / Peter Exinger, „In welchen Zeiten leben wir!“ Das Schauspielhaus Zürich 1938 – 1998, Zürich 1998, 114 – 119. 90   Vgl. dazu das Kapitel „Kein Interesse an Brecht“, in: Ute Kröger / Peter Exinger, „In welchen Zeiten leben wir!“ Das Schauspielhaus Zürich 1938 – 1998, Zürich 1998, 114 – 119. 91   Werner Wüthrich, Bertolt Brecht und die Schweiz, Zürich 2003, 469. 92   Teo Otto, „Zürich“, in: Peter Löffler (Hg.), Theater – Wahrheit und Wirklichkeit. Freundesgabe zum sechzigsten Geburtstag von Kurt Hirschfeld am 10. März 1962, Zürich 1962, 167. 93   Das Zitat von Bertolt Brecht stammt aus einem undatierten englischen Empfehlungsschreiben, das dieser im Jahr 1949 in Zürich für Kurt Hirschfelds Reisen in die Besatzungszone nach Deutschland ausgestellt hat; Korrespondenz Kurt Hirschfeld, Privatarchiv Zürich.

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Kurt Hirschfeld und Bertolt Brecht, zwei Vertriebene zwischen den Welten, hatten am Zürcher Schauspielhaus das Theater als „Heimat“ gefunden. Sie schienen aber Ähnlichkeiten auch anderer Art zu haben. „Wenn alles Leben, wie die Alten wussten, aus vier Elementen entstanden ist“, erinnerte sich ein emigrierter Ensemble-Kollege am Schauspielhaus, „so kam Kurt Hirschfelds Grundkraft aus dem Feuer. Er war der Feuerkopf dieses Hauses, der Wissenschaftler und Alchemist des Theaters, den es nicht auf ausgetretenen Pfaden litt, den es – experimentier- und entdeckungsfreudig – zu immer neuen Versuchen hinriss, auch auf die Gefahr hin, mit einem noch unerprobten Zündstoff eine Explosion auszulösen.“94

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  Erwin Parker, Mein Schauspielhaus, Zürich 1983, 139.

Dieses Gefühl der Unzugehörigkeit Kurt Hirschfeld und Max Frisch Julian Schütt Es ist eine Liebesgeschichte. Ohne Sexuelles zwar, aber intellektuelle Erotik war jede Menge im Spiel: Max Frisch zog Kurt Hirschfeld an, Kurt Hirschfeld seinerseits Max Frisch. Frisch sprach, wenn es um Männer ging, ganz selten von Liebe. Beim Verle­ger Peter Suhrkamp tat er es. Und bei Kurt Hirschfeld. Der sprach ebenfalls von einer Liebe zu Frisch, einer „Primavista-Liebe“. Dabei begann die Beziehung unter unguten Vorzeichen.1 Der dreiundzwanzigjährige Frisch sah 1934 noch eine „große Gefahr“ darin, wenn das Schauspielhaus Zürich, „indem es unsere schweizerische Weltoffenheit übertreibt oder einseitig missbraucht, sich zum Ableger verbotener Autoren macht, zum Emigrantentheater.“2 Damit wandte er sich, wenngleich nicht explizit, gegen Kurt Hirschfeld und andere geflüchtete Künstlerinnen und Künstler am Schauspielhaus, das ihm nach dem Zweiten Weltkrieg zu seinen Büh­nen­erfolgen verhelfen wird. Frisch (und nicht nur er) störte sich ganz besonders an einem Drama in der Saisonvorschau: Professor Mannheim von Friedrich Wolf; er witterte ein anti­nazistisches Politstück, wie es in der Spielzeit zuvor Ferdinand Bruckners Werk Die Rassen gewesen war. Tatsächlich begründete das Schauspiel­haus Zürich genau mit diesen beiden Insze1

  Die Beziehung zwischen Kurt Hirschfeld und Max Frisch kann hier nur ansatzweise dargestellt werden. Vor allem lasse ich Brecht beiseite, dem sich Hirschfeld wie Frisch verbunden fühlten, vgl. dazu den Beitrag von Werner Wüthrich in diesem Band. Die erhaltene Korrespondenz zwischen Frisch und Hirschfeld im Max Frisch-Archiv an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und im Leo Baeck Institute New York umfasst 44 Briefe und Karten; 13 Briefe oder Karten stammen von Hirschfeld, der den direkten Austausch oder das Telefon eindeutig bevorzugte. Die Mehrzahl der Frisch-Dokumente hat Tetta Hirschfeld noch zu Lebzeiten dem Max Frisch-Archiv an der ETH Zürich (MFA) in Kopien übergeben. 2   Brief Max Frisch an Käte Rubensohn, 26.8.1934, zitiert nach: Julian Schütt, Max Frisch. Biographie eines Aufstiegs, Berlin 2011, 176 f. Frischs Brief lässt sich allerdings nicht im Wortlaut überprüfen. Käte Rubensohn hat Auszüge aus ihrem Briefwechsel mit Max Frisch seinerseits dem Autor und Dramaturgen Urs Bircher für sein Buch Max Frisch 1911 – 1955 (Zürich 1997) vorgelesen. Seither ist der Briefwechsel für die Forschung unzugänglich.

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nierungen seinen Ruf als wichtigste Bühne des deutschen Theaters im Exil, aber unter Verächtern ebenso den Ruf eines „Emigran­ten-Juden-MarxistenTheaters“, wie Frisch sich später erinnerte.3 Zu den Ver­äch­tern dieses Emi­ granten-Juden-Marxisten-Theaters zählte er einst selber. Und mit ihm zahlreiche Kulturleute und Publizisten, auch die Neue Zürcher Zeitung (NZZ), für die er damals vor allem schrieb und die in einem ungezeichneten Kommentar „Mehr Takt!“ verlangte – nicht von den gewalttätig-faschistoiden Schweizer „Fron­tisten“, die gegen das Schauspielhaus Zürich randalierten, vielmehr vom Schauspiel­haus selber. Die Zeitung rügte „das taktlose Hervortreten politischer Emigranten in unserem Lande“.4 Man duldete keine ausdrücklich politische Stimme des Exils. Auch Frischs Zürcher Literaturprofessoren Emil Ermatinger und Robert Faesi dachten wie er über das Schauspielhaus, und sogar der linke Autor und Drama­tiker Jakob Bührer sprach den Exilierten damals die Fähigkeit ab, „Menschen von unserer Art und unserem Blut auf die Bühne zu stellen. Sie machen Deutsche aus uns Schweizern.“ Im Zürcher Stadt- und Kantons­parlament wehrten sich immerhin linke und linksliberale Politiker gegen die geforderte „Leisetreterei“; es verdiene Respekt, wenn die Geflüchteten auf den Bühnen Widerstand leisteten gegen ein Deutschland, das sich von einer „Mörder­bande“ regieren lasse. Man wolle sich nicht mit Auftritts- oder Redeverboten vor der ganzen Welt blamieren. Der ganz junge Frisch bewegte sich in dieser Hinsicht im Mainstream der konservativen Deutschschweizer Geisteselite und eben besonders seiner Universitäts­lehrer und journalistischen Mentoren. Die vertriebenen Kulturschaffenden wurden nach 1933 als doppeltes Ärgernis empfunden, zum einen weil sie im Binnenmarkt den Einheimischen Konkurrenz machten und weil sie zum anderen in den Augen dieser Einheimischen mit antinazistischen Inter­ventionen die Publikationsmöglichkeiten der Schweizer auf dem deutschen Markt gefährdeten. In der Folge setzte ein Natio­nali­sierungs­schub im Kulturleben ein, damals schon be­schrie­ben unter dem Etikett „Geistige Landesverteidigung“. Dabei griff man auf völkisch-nationale Denkmuster zurück, um die schwei­ zerische „Eigenart“, das typisch Schweizerische zu profilieren und gegen alles „Aus­län­dische“ und „Artfremde“ abzugrenzen. Über die Emigran­ten äußerte man sich häufig diffamierend, als ob diese tatsächlich nicht mehr zu Deutschland gehörten. So verinnerlichte man die Ausgrenzungs­logik der Nazis.5 3

  Max Frisch, „Rede zum Zürcher Debakel“, Theater heute 9 (1970), 500.   „Mehr Takt!“, Neue Zürcher Zeitung (19.11.1934). 5   Zitate aus: Amrein, Los von Berlin, 396, vgl. auch Julian Schütt, Germanistik und Politik. Schweizer Literaturwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus, Zürich 1996, 166; Julian Schütt, Max Frisch. Biographie eines Aufstiegs, Berlin 2011, 178 ff. (= Schütt, Frisch Biografie). 4

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Seit dem „An­schluss“ Österreichs im März 1938 war in der Schweiz die Angst vor einem deutschen Einmarsch allgegenwärtig. Politische Flüchtlinge und Juden fühlten sich nicht mehr sicher. Thomas Mann berei­tete die Übersiedlung in die Verei­nig­ten Staaten vor. Der Zürcher Schauspiel­haus­ direktor Ferdinand Rieser trat zurück, zermürbt, weil fanatische geistige Landes­verteidiger (in vorderster Reihe Exponenten des Schweizerischen Schriftsteller­vereins) ihn, den Landsmann, da er Jude war und viele geflohene Bühnen­künstler aufgenommen hatte, als „landesfremd“ stigmatisierten. Auch Frisch, inzwischen Architekturstudent, wehrte sich 1938 gegen eine „fremde Bühne“, auf der sich „fremde Ideen tummeln oder sich gegenseitig auf unserem Boden bekämpfen“. Mit den fremden Ideen meinte er nun aber hauptsächlich das Gedankengut, das im NS‑Staat propagiert wurde. Und wenn er sagte, der Spiel­plan des Schauspielhauses müsse „in schwei­­ zerischen Händen bleiben“, damit man „kein trojanisches Pferd in die Stadt holt“, spielte er damit auf die mögliche Installierung eines nazifreundlichen neuen Theater­direktors an­. Die Unabhängig­keit des Zürcher Schauspiel­ hauses schien ihm am ehesten gewahrt, wenn die Stadt die Bühne übernähme.6 Im Verwaltungsrat der Neuen Schauspiel AG, wie das Schau­spiel­ haus Zürich nun offiziell hieß, saßen neben dem Stadtpräsidenten sowohl der Verleger Emil Oprecht, der Rieser und den Emigranten nahestand, als auch ein Vertreter des Anti-Rieser-Lagers. Künstle­rischer Direktor wurde Oskar Wälterlin, zuvor Oberspiel­leiter an den Frank­furter Bühnen, ein in Deutschland wie in der Schweiz (aber anfangs nur bedingt am Schauspielhaus Zürich) akzeptierter Mann. Die Geflüchteten band er geschickt ein, Kurt Hirschfeld wurde Dramaturg und schließlich seine rechte Hand. Was das Schauspielhaus anging, wollte Frisch nun nichts mehr wissen von „kleinbürger­lichem Ausländer­hass“. Er missbil­ligte „vater­län­dischen Weihrauch, der uns mit dem Gefühl ent­lässt, dass wir eigentlich ein Völklein sind, das sich gar nicht mehr bessern muss“. Weiter distanzierte er sich von einem Theater, in dem der Heimatschein entscheide, nicht die künstlerische Begabung. Außerdem nahm er Ferdinand Riesers Ära explizit gegen Tadel in Schutz. Zwar wünschte auch er sich den Spiel­plan mitunter anders, aber es seien immer wieder Glanzleistungen ge­bo­ten worden. Zudem wollte er neben dem Klassischen auch das „künstlerische Gegen­warts­ringen“ gezeigt bekommen. Vor allem jedoch sollte im Schauspiel­haus von Kunst, ja sogar von „großer Ge­sin­nung“ die Rede sein, nicht aber „von politischer Tendenz“. 6

  Max Frisch, „Ist Kultur eine Privatsache? Grundsätzliches zur Schauspielhausfrage“, zuerst in: Zürcher Student (Juni 1938), später in: Max Frisch, Gesammelte Werke, Bände I – VI, Frankfurt a. M. 1976 (= Frisch, Gesammelte Werke), Band I, 98.

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In seinen Anfangsjahren als Autor und Feuilletonist stand für Frisch die Politik schlecht­hin, egal ob rechts oder links, unter Verdacht.7 Angst vor einem deutschen Einmarsch machte die meisten Landesverteidiger und anfangs auch Frisch kleinlich, kurzsich­tig und recht­haberi­sch gegenüber den wenigen öffentlich sich aussetzenden Nazigegnern. Da­raus zu folgern, er selbst habe das „Dritte Reich“ nicht genauso klar abge­lehnt, wäre jedoch falsch. Es fiel ihm zunehmend schwer, den eigenen Hass auf die Nazis zu unterdrücken.

Die geschärfte Wachsamkeit der Vertriebenen Die wichtigste Reaktion auf Frischs Werke der späten dreißiger und frühen vierziger Jahre kam 1944 dann ausgerechnet von einem deutschen Emigranten, der seit langem in der Schweiz lebte: von Kurt Hirschfeld. Bevor Hirschfeld 1938 an die Bühne des Zürcher Schauspielhauses zurückgekehrt war, hatte er als Lektor im exilfreundlichen Verlag Oprecht gearbeitet. Ein Vierteljahrhundert lang gab es dann kaum eine Stunde, in der er nicht in seinem Theater anzutreffen war. Er war der intellektuelle Kopf und das Gewissen des Hauses, zudem der Vordenker der Neuen Schauspiel AG. Der neue künstlerische Direktor Oskar Wälterlin und sein Chefdramaturg Hirschfeld positio­nierten das Schau­spiel­haus bewusst als schweizeri­sche Bühne. Hirschfeld suchte unentwegt nach einheimischen drama­tischen Begabungen und spielbaren Stücken. Er realisierte von allen Ensemble­mitgliedern am wachsten, wie man jenen Kreisen, die gegen „Über­frem­dung“ wetterten und das Schauspielhaus als „Emigrantentheater“ diffamierten, den Wind wegnehmen musste: nicht offen politisch, sondern im Gegenteil, indem man sich gegen außen als Hort der geistigen Landesverteidigung profilierte. Die Theaterleute appellierten an das Humanitäts­ideal, priesen die schweizerische Neutralität und hielten sich an die Werte und Worte der Klassik, statt frontal gegen Nazi-Deutschland zu oppo­nieren. Ganz im Sinne und Stil Thomas Manns, mit dem Kurt Hirschfeld ebenfalls verbunden war, trat er für die Kunstautonomie und für das gute „andere Deutschland“ ein – die echte antina­zis­tische deutsche Kultur sollte gleichsam Schweizer Asyl erhalten. Hirschfeld sprach in seiner Dramatur­gischen Bilanz nach dem Krieg von einem „humanistischen Realismus“. Zwei „Auf­ga­ben­kreise“ sah er vor allem: einmal die „Wahrung und die Verwaltung des klassi­schen Erbes“, zum andern die Aufführung moderner Stücke, die gerade zu der Situation, in der 7

  Max Frisch, Gesammelte Werke I, 100 f.; genauer dazu Schütt, Frisch Biografie, 231 ff.

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sich Mensch und Gesellschaft in diesen äußerst kritischen und gefah­ren­ vollen Jahren befanden, etwas zu sagen hätten.8 Einige Hoffnungen setzte er hierbei in Max Frisch. Auf ihn wurde Hirschfeld in der NZZ aufmerksam, als dort Auszüge von Frischs Soldatentagebuch Blätter aus dem Brotsack erschienen. Hirschfeld blieben die in „schöner, erhellender, kluger Sprache“ verfassten Skizzen haften. Der stille Protest gegen den Militarismus faszinierte ihn, und er wunderte sich, dass sie 1940 / 41 noch veröffentlicht werden durften. In Hirschfelds und Frischs Erinnerungen fand als nächstes eine zufällige Begegnung beim Schauspielhaus statt. An der Kreuzung Rämistrasse-Zeltweg traf man sich ein erstes Mal, ging gemeinsam zum Bellevue hinunter, Frisch stieß sein Fahrrad neben sich her. Es war das erste Gespräch, und man verstand sich auf Anhieb. Hirschfeld las nun J’adore ce qui me brûle oder Die Schwierigen; ihm blieb nicht verbor­gen, wie gekonnt geschildert der 1943 erschienene Roman war, und er ermunterte den Autor schriftlich, es einmal mit einem Theaterstück zu versuchen. Die persön­liche Begegnung und die „paar Zeilen“ Hirschfelds mussten Frisch elektrisiert haben, denn wenige Monate später reichte er sein erstes Stück Santa Cruz ein, geschrieben im August und September 1944. Hirschfeld konnte nicht wissen, dass Frisch seit der Mittelschulzeit Stücke verfasste; inzwischen war er über Dreißig und Architekt, einer, wie er sagte, „der nicht seine Lust am Theater, aber seine Hoffnung, die Bühne zu seinem Bauplatz machen zu können, längst begraben hatte.“ Im Werkstattgespräch mit dem Schriftstellerkollegen Horst Bienek erinnert sich Frisch, wie wichtig diese Ermunterung Hirschfelds und des Schauspielhauses war: „Man ließ mich zu den Proben von Brecht, Sartre, Lorca, Giraudoux, Claudel, unter der einzigen Bedingung, im Dunkeln nicht zu rauchen und nicht zu husten. Proben, Sie wissen es, sind unwiderstehlich. Zwei Monate später – ich hatte mein Architektur-Atelier und tagsüber keine Zeit – brachte ich mein erstes Stück fertig.“9 Hirschfeld wurde der wichtigste Kontaktmann für den Theaterautor Frisch. Durch ihn wurde Frisch in die Emigrantenszene eingeführt, die er zuvor allzu schematisch wahrgenommen hatte. Kurt Hirschfeld kam ihm als „ziemlich einsamer Mann“ vor, selbst als „Hirschi“, wie man ihn nannte, künstlerischer Direktor des Zürcher Schauspielhauses war. Oft kam er nicht vor vier oder fünf Uhr morgens nach Hause. Der „Ton“, für den Hirschfeld am Schauspielhaus sorgte und der den Schauspielerinnen und Schauspielern abverlangt wurde, sei während 8

  Kurt Hirschfeld, „Dramaturgische Bilanz“, in: Amrein, Los von Berlin, 528 f.   Horst Bienek, „Werkstattgespräch mit Max Frisch, Sommer 1961“, in: Horst Bienek, Werkstattgespräche mit Schriftstellern, München 1965, 25. 9

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des Krieges die einzigmögliche Würde in der Ohnmacht gewesen, so Frisch, entstan­den „aus der geschärften Wachsamkeit der Vertriebenen, die auf der Hut sein müssen, und aus Helvetischem, aus der Kleinstaatler-Idiosynkrasie gegenüber Groß­mäulig­keit“. Es sei der Ton derer gewesen, die sich nicht berauschen dürften, „sondern wissen müssen, was wirklich los ist in der Welt und im Text der Klassiker“.10 Auch wenn die Romanze Santa Cruz das erste Stück war, das Frisch schrieb, war es doch nicht das erste, das aufgeführt wurde. Hirschfeld hatte es zwar akzeptiert, aber als er ein halbes Jahr später Nun singen sie wieder angeboten bekam, entschied er sich für dieses brisantere Zeitstück. Er meinte: „Die selten gewordene Freiheit, gerecht zu bleiben, ist der Tenor dieses ersten aufgeführten Stücks.“ Frisch lernte nun in wenigen Wochen Schwergewichte des deutschen Theaters kennen, neben Hirschfeld auch Kurt Horwitz, den Bühnenbildner Teo Otto oder den Schauspieler Wolfgang Langhoff. Die Auseinandersetzungen mit ihnen, besonders aber mit Hirschfeld hinterließen in seinen Texten Spuren, nun kam vermehrt politisches Gefälle hinein. Im Stück Nun singen sie wieder und vor allem in dem fürs Programmheft geschrie­­benen Essay Über Zeit­ereig­nis und Dichtung (März 1945) rieb er sich die Augen über die eigene Naivität, suchte in eben dieser Zeit, die viel zu langsam in eine Nachkriegszeit überging, einen eigenen Standort. Kurt Hirschfeld gefiel das Stück, das keine Anklage sei, sondern eine Klage. Für ihn trat darin erstmals die Frage der politischen Verant­wortung in den Vordergrund. Nun singen sie wieder war der „Versuch eines Requiems“. Beklagt werden die Toten, ermordet von „scheinbar Kultivierten“. Das Stück handelt von Wehrmachtsoldaten, die während des Krieges in der Sowjetunion einundzwanzig Geiseln erschossen haben. Singend haben die Geiseln die Todesschüsse erwartet. Bei jedem neuen Verbrechen singen sie wie ein mahnender Chor. Erst als Tote kommen schließlich die feindlichen Lager zusammen. Im Programmheft zur Uraufführung von Nun singen sie wieder am Schauspielhaus Zürich entwirft Frisch auch in der Schweiz eine Position jenseits der kämpfenden Fronten, jenseits der Rachegefühle.11 Die allzu lyrische Romanze Santa Cruz ist dagegen ein zeitloses Stück und zugleich dasjenige, auf dem seine Zeit am meisten lastet. Es ist mit sei10   Hans Rudolf Hilty (Hg.), „Dank an Kurt Hirschfeld“, in: Quadrat-Bücher, Bd. XLIV, St. Gallen / Stuttgart 1964, 31 (= Hilty, Dank); vgl. auch Kurt Hirschfelds Brief an Max Frisch, 15.5.1961, Max Frisch-Archiv (= MFA). 11   Vgl. Max Frisch, Nun singen sie wieder. Versuch eines Requiems (1945 / 46), in: Max Frisch, Gesammelte Werke II, Frankfurt a. M. 1976, 81 – 137; vgl. auch den Aufsatz „Über Zeitereignis und Dichtung“ im Programmheft zur Uraufführung von Nun singen sie wieder, in: Max Frisch, Gesammelte Werke II, 286.

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nem Reiz des Fremden noch ein typisches Produkt aus einem abgeschotteten Land. Kurt Hirschfeld und Oskar Wälterlin schoben Santa Cruz so lange auf die lange Bank, bis das Stück auch Frischs eigenen Ansprüchen nicht mehr genügte und er es im Herbst 1945 umarbeitete. Das poetisch Entrückte darin war schwer zu spielen, nichts für die politische Fraktion des Zürcher Schauspielhauses, die von den Gegenwarts­autoren aktuellere Stoffe erwartete. In einem Vortrag erinnert sich Hirschfeld, warum er dem Frühwerk nur zögernd seine Zustimmung gegeben hatte. Santa Cruz lebte für ihn noch „aus einer Konvention, die sich dem réalisme mythique verschrieben hat und die in der Tradition Hofmannsthals und Claudels steht“. Wenn in der Schweizer Literatur früher das Heimweh im Mittelpunkt gestanden habe, so sei es bei Frisch nun das Fernweh.12 Schließlich fand sich mit Heinz Hilpert doch ein Regisseur, der Santa Cruz sehr gerne und sehr wortgetreu am Schau­spielhaus Zürich inszenieren wollte. Er hätte wohl jedes angebotene Stück gemacht, war als belaste­ter Deutscher, der dem Präsi­dial­rat der nationalso­zialis­tischen Reichstheater­ kammer und über­dies dem Reichs­kultur­senat an­ge­hört hatte, schlicht glück­ lich, an der Exil­bühne des deutschen Raums arbeiten zu dürfen. Das hatte er den befreundeten Dra­ma­turgen Kurt Hirschfeld auch brieflich wissen lassen. Hilperts geplantes Engage­ment in Zürich und am Theater Basel löste eine Grundsatz­diskussion über die Integrität der in Deutschland gebliebenen Theaterleute aus, was Frisch aber seltsamerweise keine Notiz wert war. Er erwog zwar ein Porträt über den Regisseur, doch außer dem Namen notierte er nichts. Vermutlich vertraute er hier ganz auf Hirschfeld, der Hilpert gegen Anschuldi­gungen verteidigte, was zu dessen Entlastung beitrug.13 Die Uraufführung von Santa Cruz unter Hilperts Regie konnte im März 1946 termingerecht stattfinden.

Auf Hirschfelds Spuren Ende der 1940er-Jahre begann Frisch eine Liebesbeziehung mit Tetta Scharff, Tochter der Schauspielerin Helene Ritscher und des Bildhauers Edwin Scharff, die später Kurt Hirschfelds Frau wurde. Frisch und Tetta waren spätestens seit dem Frühjahr 1949 ineinander verliebt. Sie war die meiste Zeit unglücklich auf der Suche nach einem schauspielerischen Enga12

  Kurt Hirschfeld, „Frisch, Dürrenmatt und das moderne Theater“, [Vortrag], Hannover, o. J., LBI, NY, KHC. 13   Michael Dillmann, Heinz Hilpert: Leben und Werk, Berlin 1990, 54 ff.

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gement. Frisch war verheiratet, Vater von drei kleinen Kindern, Architekt im Hauptberuf mit eigenem Büro, und er hatte gleichzeitig eine Liebesbeziehung mit der Schauspielerin Helga Roloff, die damals am Schauspielhaus engagiert war. So bereute Frisch einmal, Tetta so viel von sich erzählt zu haben. „Man sollte sich doch niemals preisgeben, niemals, auch wenn man liebt.“14 Anfang September 1949 bedankte er sich dann aber für den vollen, „glücklichen Sommer“ mit ihr. Er dachte immer wieder an gemeinsame Tage in Kampen zurück, an den Strand, das Silberlicht, das Gras in den Dünen. „Ohne Dich, Tetta, wäre das alles nur eine Landschaft; jetzt ist es ein Stück eignes Leben, eines von den glücklichen Stücken.“15 Kurz darauf schickte ihm Tetta einen verzweifelten Brief in sein Architekturbüro. Und er war in Sorge, weil sie sich unwohl fühlte. Sie dürfte schwanger gewesen sein; jedenfalls schreibt Frisch in der autobiografischen Erzählung Montauk von vier Abtreibungen, die er bei drei Frauen erlebte, und einmal eben: „weil ich verheiratet bin, und sie möchte meinen Freund heiraten“.16 Der Freund war Kurt Hirschfeld. Aber nicht einmal diese dramatische Konstellation vermochte Hirschfeld und Frisch auseinanderzubringen. Im Gegenteil, die Freundschaft und künstlerische Beziehung vertiefte sich in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre noch. Zuweilen erhielt Hirschfeld nun scherzende Postkarten von Frisch, einmal aus Paris: „Lieber Hirschi / Après une jolie soirée avec Sartre, Aragon et Claudel, touts poètes, on a parlé beaucoup du Schauspielhaus Zürich – nos pensées s’occupent comme d’habitude de vous, comme toujours  – amitié Max Frisch, auteur.“ Eine persönliche Begegnung Frischs mit Sartre, Aragon und Claudel ist nicht verbürgt; von den drei Autoren kannte Frisch primär, was Hirschfeld ihm in Gesprächen zuvor vermittelt hatte. Außerdem erwähnte er, wie ihm in Paris der grassierende Katholizismus auf die Nerven ging („un embarras de catholicisme, une mer de Claudel et Montherlant“).17 In seiner Ehe mit Trudy von Meyenburg kam sich Frisch manchmal vor „wie ein Don Quixote; ich habe die belletristischen Wörter und Werte des Bürgertums mal für bare Münze genommen, und versucht, sie zu leben.“ So drückt er sich in einem Interview mit Heinz Ludwig Arnold aus. „Ich merkte natürlich mehr und mehr, dass ich der einzige war, der das ernst nimmt und dran glaubt. Und merkte, was alles nicht stimmt, wie schal es ist, wie verlo14

  Max Frisch an Tetta Scharff, undatiert, wahrscheinlich vom Sommer 1949, MFA, ETH. 15   Max Frisch an Tetta Scharff, 1. und 2.9.1949, MFA, ETH. 16   Max Frisch, „Montauk“, in: Ders., Gesammelte Werke VI, 688 f. 17   Max Frisch an Kurt Hirschfeld, 15.7.1948, LBI, NY, KHC.

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gen – also all das, was wir wissen.“ Hatte Frisch folglich mit seiner „Posse nach dem Muster des Don Quixote“, an der er arbeitete, eine Ehe-Satire vor? Oder handelte es sich um eine Vorstufe des 1954 fertig gestellten Hörspiels Eine Lanze für die Freiheit? Das lässt sich nicht mehr entscheiden. Im Tagebuch 1946 – 1949 denkt er in den Abschnitten über Lustspiele darüber nach: Don Quixote sei komisch, weil alles, was er redet und tut, unverhältnismäßig ist; er hat zuviel gelesen, der Gute, und nun sehen wir ihn, ausgestattet mit feudalen Redensarten, hinausreiten in eine ganz und gar bürgerliche Welt, ein Opfer der Belletristik, die zu allen Zeiten aus antiquarischen Redensarten besteht; alles ist anders als seine hehren Gespinste, nützlicher, hässlicher, minder großartig, aber lebbar und lebenswert.18

Frisch gab das neue Stück Herr Quixote, eine Posse in vier Akten den Leuten vom Schauspielhaus zu lesen. An Kurt Hirschfeld schrieb er Ende September 1949: „Ich finde es ganz gut, zwischenhinein etwas Lustiges (wenn es das ist!) und etwas Harmloses (dafür garantiere ich!) aufzuführen. Jedenfalls: ich biete es also dem Schauspielhaus Zürich an!“ Kurz darauf sah er selber ein, dass es ein misslungenes Stück war. Zwei Wochen machte die Posse ihm eine „Riesenfreude“, aber es war eine „Todgeburt“ und landete in der Schublade.19 So arbeitete er am Graf Öderland und vor allem am ersten Tagebuch weiter. Hirschfeld hielt sich derweil in den Vereinigten Staaten auf. Ihm schrieb ein etwas vereinsamter Frisch: „Don’t forget it, Zurich is a very little Town! (Sauklein!)“20 Zwei Jahre später weilte Frisch selber für ein Jahr in den USA, eingeladen von der Rockefeller Foundation, mit manchen Kontakten, die er Hirschfeld verdankte. So schrieb Frisch dem Freund, „ich bin Dir auf den Spuren“. Durch Hirschfeld lernte er zum Beispiel die Schauspielerin Uta Hagen oder Benno Frank, Gründer des Karamu Theatre in Cleveland / Ohio kennen. Aus Zürich erreichten ihn nur wenige Neuigkeiten. Hirschfeld lebte inzwischen mit Tetta Scharff zusammen, und sie erwarteten ein Kind. Frisch schrieb ihm: „Ohne Kind kennt man nur die Hälfte unsrer wunderlichen condition humaine, glaube ich.“ Seine eigenen Kinder tauchen in den Notizen und Briefen jener Zeit kaum einmal auf. Als er ein Bild seiner Familie bekam, mittendrin seine Frau, studierte er es und schrieb nicht ihr, sondern 18   Max Frisch, Tagebuch 1946 – 1949, in: Max Frisch, Gesammelte Werke II, Frankfurt a. M. 1976, 507. 19   Max Frisch an Tetta Scharff, 14.10.1949, MFA, ETH; Max Frisch an Kurt Hirschfeld, 28.9.1948, Kopie, MFA, ETH. 20   Max Frisch an Kurt Hirschfeld, 28.9.1949 (Der Brief ist irrtümlicherweise vom 28.9.1948 datiert, Hirschfeld weilte 1949 in den USA), LBI, NY, KHC.

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an Hirschfeld, wenn jemand käme und sagte, seine Frau und seine Kinder wüssten nichts von ihm, würde ihn das überzeugen.21

Der Mensch: keine Rechnung, die aufgeht Um Kurt Hirschfelds Bedeutung für die Schweizer Nachkriegsliteratur einschätzen zu können, ist ein Blick auch auf den anderen Großen, Friedrich Dürrenmatt, hilfreich. Letztlich war das ebenfalls eine Freundschaftsgeschichte. Dass sich davon vielleicht noch weniger Nachlassspuren erhalten haben als bei Frisch, spricht nicht gegen die Intensität. Einmal sagte Dürrenmatt, dass beinahe alle, denen er als Theaterautor Entscheidendes verdanke, Juden waren; an erster Stelle nannte er Hirschfeld.22 Dürrenmatts Gedenkrede auf Hirschfeld mag das illustrieren. Sie geht von der Forderung „Erkenne dich selbst“ aus, auf die sich die Aufklärer (und auch Hirschfeld und Frisch) bezogen. Dürrenmatt aber stellt die Formel in Frage. Der Forderung „Erkenne dich selbst“ sei schwer n ­ achzukommen, da sich ein jeder über sich selbst am leichtesten täusche. Es gebe das Theater „nur aus der Not des Menschen heraus, dass er sich so wenig und den andern gar nicht kennt“. Der Mensch, so Dürrenmatt weiter, der Mensch ist „keine Rechnung, die aufgeht, keine Formel, die sich ­niederschreiben liesse, er ist ein Geheimnis, und weil er als Geheimnis angelegt ist, sind wir genötigt, so zu tun, als ob der Mensch darstellbar wäre.“ Man spiele auf der Bühne aus einem Mangel heraus, sei zur Fiktion gezwungen, so Dürrenmatt, „auf diesem Zwang ruht unser Theater, jedes­Theater, unsere Kultur, jede Kultur, ja, sehen wir genauer, unsere­Gesellschaft, jede Gesellschaft. Die Wahrheit lässt sich nicht spielen, wir ­können nur wahr spielen­ . . .“23 Diese Gedenkrede Dürrenmatts für Kurt Hirschfeld ist aufschlussreich, weil sie etwas zu verallgemeinern und systematisieren bemüht ist, was auffällt, wenn man Hirschfeld zu porträtieren versucht: Seine Leistungen und sein Kontaktnetz waren imposant, aber als Persönlichkeit ist er schwer zu fassen. Er hat sich vergleichsweise selten schriftlich geäußert, hat nicht wie andere Leuchtfiguren des legendären Zürcher Schauspielhauses Memoiren verfasst. Er bleibt ein Geheimnis. 21

  Max Frisch an Kurt Hirschfeld, Berkeley 15.8.1951, in: Max Frisch, Jetzt ist Sehenszeit, Briefe, Notate, Dokumente 1943 – 1963, hg. von Julian Schütt im Auftrag der Max-FrischStitung, Frankfurt a. M. 1998, 115 f. 22   Friedrich Dürrenmatt, Theater, Werkausgabe Bd. 30, Zürich 1998, 220. 23  Hilty, Dank, 20 ff.

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Als Max Frisch ein erstes und einziges Mal Kurt Hirschfeld eingehender porträtierte, war das wie bei Dürrenmatt zugleich die Gedenkrede. Für Frisch war es außerdem das Ende einer Epoche. Die Epoche der Emigranten, die das Schauspielhaus Zürich zu dem gemacht hatten, was es war. Hirschfeld blieb für ihn im Grunde bis zuletzt Emigrant. Ein Emigrant, der es nicht leicht gehabt habe mit den Schweizern. Ein „Mann, der sich von Vorurteilen belauert weiss“, ein Staatenloser, der nur noch „Weltbürger“ sein kann, dessen „Existenz nur provisorisch“ ist und das „Gegenteil zum Hiesigen“. Mit Deutschland, das ihn einst ins Exil zwang, hatte Hirschfeld auch nach dem Krieg seine Mühe. Frisch sagt in einem Brief an ihn: Du bist auch so ein hoffnungsloser Fall wie ich, scheint es, Du würgst an dem Ewigdeutschen wie ich, man weiss nun, wie es schmeckt, und jedesmal, wenn man es schmeckt, sind wir entsetzt und enttäuscht und angewidert, dass es genau so­ schmeckt, wie man es gewusst hat.24

Hirsch­felds einzige Heimat war das Schauspielhaus. Frisch erinnert sich, je näher er ihn gekannt habe, desto unsicherer erschien er ihm, ein „Ver­ schwiegen-Unsicherer“. Dieses Profil vor Augen, fällt es nicht ganz leicht, die andere unbestrittene Tatsache zu sehen, nämlich dass Hirsch­feld der Chefintellektuelle des Zürcher Schauspielhauses war und das deutsch­sprachige Theaterleben seit den dreißiger Jahren und bis zu seinem Tod 1964 mitprägte.

Gegen die Macht gewisser Cliquen Das Schauspielhaus befand sich nach dem Krieg in einer heiklen Umbruchphase. Etliche Emigranten verließen die Bühne, und es kamen jene, die sich mit den Nazis mehr oder weniger arrangiert hatten und nun in der Schweiz gutes Geld verdienen wollten. Die Probezeiten waren fahrlässig kurz, das Ensemble zunächst schmal­, Premieren waren am Fließband zu liefern, was nicht ohne Improvisation ging. Der Regisseur Jürgen Fehling lag nicht völlig daneben, als er die Pfauenbühne einmal eine „geniale Schmiere“ nannte.25 Dürrenmatt äußerte 1950 nach den Proben zu Romulus der Große seine Verzweiflung. „Die Kläglichkeit der Aufführung, die Missachtung, die mir das Schauspielhaus entgegenbrachte, die Notwendigkeit, das alles fressen zu 24

  Max Frisch an Kurt Hirschfeld, 4.12.1952, LBI, NY, KHC.   Ich verdanke den Hinweis Peter Rüedi, Dürrenmatt-Biograf und in den frühen 1980er Jahren Dramaturg am Schauspielhaus Zürich. 25

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müssen, verdüstert mich.“26 In generösen Momenten gelang ihm allerdings ein Standort­über den Niederungen. Dann sah er das Schauspielhaus als Institution zur Verhinderung der ihm verhassten Perfektion: „So glaube ich kaum, dass es ein zweites Theater gibt, in welchem sich die Dramatik aller Zeiten besser widergespiegelt sieht als im Schauspielhaus, gezwungenermaßen, gilt es doch, jede Saison an die zwanzig Stücke herauszugeben [. . .]. ­Perfektion ist unmöglich.“ Und er schließt daraus: „Das Zürcher Schauspielhaus ist gerade durch seine Unvollkommenheit ein vollkommenes Theater, und ich liebe es deshalb auch mehr als andere Häuser.“27 Frisch liebte das Haus ebenfalls, besonders die kollektive Arbeitsatmosphäre während der Proben. Doch er urteilte ungnädig über die notorischen oder strukturbedingten Defizite. Das tat er vor allem nach der Uraufführung seines liebsten­Problemwerks Graf Öderland, dessen er sich immer wieder annahm und das er sich öfter als andere eigene Stücke anschaute. Die Tatsache, dass Graf Öderland schon einen Monat nach der Uraufführung wieder vom Spielplan verschwand, führte im März 1951 zu einer heftigen Auseinandersetzung mit der Direktion, indirekt also auch mit Hirschfeld. Frisch verfasste ein Kleines Memorandum, beschwerte sich über die viel zu knappe Probenzeit. Dahinter witterte er Arroganz. Er ärgerte sich darüber, dass an der Pfauenbühne noch immer so gearbeitet werde, als sei man das einzig verbliebene Theater, das sich neue Stücke annehme. Aber das „Recht des Notbehelfes“ ließ sich längst nicht mehr anführen, um unausgereifte Inszenierungen zu rechtfertigen. Der „Glücksfall für Zürich“, nämlich die Emigration aus Deutschland, werde sich hoffentlich nicht so rasch wiederholen. Um eine führende Bühne zu bleiben, müsse sich das Schauspielhaus künftig mehr anstrengen. Frisch befremdete der von ihm so konstatierte Geist der „flinken Kapitulation“; er fragte sich und die Direktion, „ob sich ein Theater, das eine Uraufführung bekommt und übernimmt, nicht zu einem ganz anderen Einsatz verpflichtet, als er hier geleistet worden ist. Man kann den Ruf, wagemutig zu sein, so billig nicht einkaufen [. . .].“28 Unterschlagen wir nicht die politische Stoßrichtung, die Frischs Memorandum hatte: Das Schauspielhaus, so meinte er, müsse sich in Acht nehmen vor jenen mächti­ gen konservativen Zürcher Kreisen, die schon in der NS-Zeit die menschlichen und politischen Gegner der Emigranten und des Theaters gewesen 26   Peter Rüedi, „Fast eine Freundschaft“, Nachwort zu: Friedrich Dürrenmatt / Max Frisch, Briefwechsel, Zürich 1998, 54. 27   Peter Rüedi, Dürrenmatt, oder Die Ahnung vom Ganzen, Biographie, Zürich 2011 (= Rüedi, Ahnung), Zürich 2011, 687 f. 28   Max Frisch, „Kleines Memorandum zu Graf Öderland“, in: Max Frisch, Jetzt ist Sehenszeit. Briefe, Notate, Dokumente 1943 – 1963, hg. v. Julian Schütt, Frankfurt a. M. 1998, 99.

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seien. Die Animo­sität, die Frisch nach 1945 aus diesen Gegenden der Gesellschaft zu spüren bekam, werde auch dem Schauspielhaus noch zu schaffen machen, wenn es nicht versuche, den Einfluss und die „Macht gewisser Cliquen“ zu brechen. Das war eine Drohung, die wirkte. Frisch und Dürrenmatt, je erfolgreicher sie wurden, konnten nun ihre Forderungen vor jeder neuen Uraufführung stel­len.29 Weder Frisch noch Dürrenmatt machten Hirschfeld persönlich verantwortlich für die zum Teil prekären Produktionsbedingungen am Schauspielhaus. Eher blieb ihnen sein Mut in Erinnerung, gekämpft zu haben gegen jene Mentalität, jeder Aufgabe glatt gewachsen zu sein, und gegen jene noch fatalere Mentalität, vor einem rechtskonservativen Zeitgeist zu kapitulieren.

Gehör für Stilfragen Sein nächstes Stück Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie (1953) wollte Frisch nach den Erfahrungen mit Graf Öderland auf keinen Fall in Zürich allein starten lassen. Das sei für ihn ein „steriler Platz“ geworden, „weil die Reaktion auf das Stück, wie immer es sein mag, von vornherein im Rahmen einer familiär-wohl­wol­len­den Indifferenz bleiben wird, und diese für alle Teile unersprießliche Indif­fe­renz würde durch den Umstand, dass wir wie bisher in Zürich starten, nur verstärkt.“30 Hirschfeld unternahm vieles, um Frisch zu halten. Er versuchte wie schon bei Graf Öderland den Star Gustaf Gründgens als Regisseur zu gewinnen, ohne Erfolg. Am Ende inszenierten gleichzeitig Hans Schalla am Berliner Schillertheater und Oskar Wälterlin am Zürcher Schauspielhaus; die Kammerspiele München folgten kurz darauf. In Zürich spielte Will Quadflieg den wie auf ihn zugeschnittenen Don Juan, als Kupplerin Celestina glänzte Therese Giehse. Im Premierenpublikum saß fast geschlossen die Zürcher Regierung und Prominenz wie Gustaf Gründgens und Thomas Mann, der das Stück ein „oft reizvolles, aber etwas leeres Spiel mit dem Theater und ungewichtige­Parade in hübscher Aufführung mit Gästen“ fand. Trotz „Flauheit nach der Pause“, stellte Thomas Mann mit Kennerblick fest, sei es ein Erfolg geworden.31 Die maßgebenden 29   Max Frisch, „Kleines Memorandum zu Graf Öderland“, in: Max Frisch, Jetzt ist Sehenszeit. Briefe, Notate, Dokumente 1943 – 1963, hg. v. Julian Schütt, Frankfurt a. M. 1998, 94 ff. 30   Brief Max Frisch an die Direktion des Schauspielhauses Zürich, 1.10.1952, Durchschlag, MFA, ETH, in: Max Frisch, Jetzt ist Sehenszeit. Briefe, Notate, Dokumente 1943 – 1963, hg. v. Julian Schütt, Frankfurt a. M. 1998, 103 f. 31   Vgl. Thomas Sprecher, Thomas Mann in Zürich, Zürich 1992, 120 f.

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Blätter urteilten weniger ablehnend als bei Graf Öder­land. Dem deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel war der Autor Max Frisch 1953 bereits eine Titelgeschichte wert. Eine Podiumsdiskussion über Don Juan in Zürich, an der Kurt Hirschfeld zusammen mit Max Frisch und Friedrich Dürren­matt teilnahm, war bis auf den letzten Platz gefüllt. Frisch und Dürrenmatt marschierten mit dampfenden Zigarren ein. Aus dem Publikum kamen Voten, die abwechselnd die Würde der Frau, die Würde der Ehe, die Würde des Don-Juan-Mythos, sogar die Würde der Institution Bordell gegen das Stück verteidigten. Für Dürrenmatt stand Frischs Don Juan außerhalb der Frage von Recht oder Unrecht, er sprach von einem unschuldigen Paradieskind, das auf die Erde stößt.32 Kurt Hirschfeld stellte fest, Frisch sei inzwischen ein gewichtiges „literarisches Faktum“. Er bat das Publikum, doch auch Gehör zu haben für „Stilfragen, die ein dichterisches Werk stelle, und nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen durch Bekundung von Sorgen hinsichtlich der morali­schen An­wendung des Stücks auf das reale Leben.“33 Man wundert sich immer, wie gut Max Frisch damals über aktuelle Entwicklun­gen der Literatur und des Theaters Bescheid wusste, obwohl er stets beteu­erte, ein schlechter Leser zu sein. Vieles kannte er vom Hörensa­ gen, und sein vielleicht versiertester Informant war zweifellos Kurt Hirschfeld, der oft Texte und Theorien bereits vor der Buchveröffentlichung kannte. Nur ein Beispiel: Peter Szondis wegweisende Studie über die Theorie des modernen Dramas erschien erstmals 1956: Hirschfeld las schon 1955 das Manuskript. Allgemein profitierte Frisch von den Kenntnissen und Thea­ tererfahrungen des Freundes enorm. Hirschfeld war für ihn eine ideale intellektuelle Anlaufstation. Jedes Mal, wenn er von einer Auslandsreise zurückkehrte, zog es ihn so­gleich ins Schauspielhaus und zu „Hirschi“. Erst dann war er wieder rich­tig angekommen. Sie unternahmen auch gemeinsame Reisen nach Deutschland. Und das Zürcher Schauspielhaus hatte es in erster Linie Hirschfeld zu verdanken, dass fast alle Uraufführungen von Frischs Stücken dort stattfanden. Hirschfeld durfte Frisch ab und zu auch um einen Gefallen bitten. So plante er 1952 / 1953 zusammen mit Max Brod eine Bühnenadaption von Kafkas Das Schloss. Verschiedentlich sprach er mit Frisch darüber, auch während eines gemeinsamen Aufenthalts in Kampen. Frisch war der Meinung, es gebe doch wenig, was „zur Transponierung von einer Gattung in die andere“ dränge. Heute, da fast häufiger die Prosawerke 32

  Friedrich Dürrenmatt / Max Frisch, Briefwechsel, hg. v. Peter Rüedi, Zürich 1998, 145.   Rudolf Jakob Humm, „Max Frisch steht Rede“, Die Weltwoche (22.5.1953), in: Luis Bolliger / Walter Obschlager / Julian Schütt (Hgg.), jetzt: max frisch, Berlin 2001, 84 f. 33

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Frischs als seine Stücke inszeniert werden, eine bemerkenswerte Aussage. Er hatte darum auch grundsätzlich Mühe mit dem „dramatisierten Kafka“.34 Dennoch las er Hirschfeld zuliebe die Kafka-Adaption. „Nicht sagen, sondern spielen“, lautet sein Haupteinwand. Das Hauptproblem war für Frisch das Monologische von K.’s Existenz. Es müsse im Gegensatz zum Roman für ein rascheres Gefälle gesorgt werden. K. müsse als Han­delnder gefasst werden, nicht als Redender.35

„. . . man ist sehr rasch ein Emigrant“ Versuchen wir den dramaturgischen Ansatz Kurt Hirschfelds genauer zu fassen, wie er sich in der Zusammenarbeit mit Max Frisch zeigte. Für Frisch scheint Hirschfeld die Epoche, wie bereits angedeutet, gerade darum geprägt zu haben, weil er sie als Emigrant miterlebt hatte und nach 1945 im Grunde Emigrant blieb. Eine heikle Aussage, die aber an Plausibilität gewinnt, sobald wir Frischs eigene Position einbeziehen. Er selber brauchte, wie er sagte, „das Unzugehörige“ oder „Emigrantische“, das Ausländerdasein. Er brauchte es nicht nur zum Leben, sondern vor allem zum Schreiben. Schon in der ersten Hälfte des von Hirschfeld geliebten Tagebuchs 1946 – 1949 sagt Frisch den Satz: „. . . irgendwie ist man immer ein Ausländer“, nämlich wenn man beschreibt, was man nicht persönlich erlebt hat; und in den Schlussabschnitten steht der Satz in radikalisierter Form wieder da: „. . . man ist sehr rasch ein Emigrant.“36 Frischs Rede zur Verleihung des Büchner-Preises von 1958, die Hirschfeld lektorierte, nimmt sich dann dieses „Gefühls der Unzugehörigkeit“ umfassend an. Es ließe sich darüber diskutieren, ob die positive Bewertung des emigrantischen Standpunkts den Zwangscharakter jeder Exilierung nicht vernachlässigt. Spannend sind die literarischen Resultate allemal, die Art und Weise, wie Max Frisch die Entfremdung des Menschen in der Nachkriegsgesellschaft gestaltet hat: im Tagebuch 1946 – 1949, in Graf Öderland (1950 / 51) und Stiller (1954), in Homo faber (1957) und Andorra (1961). Hirschfeld hat Frischs Gefühl der Unzugehörigkeit nicht nur nachvollziehen können, er kannte es selber auch aus seinem Beruf als Regisseur 34

  Vgl. Max Frisch an Kurt Hirschfeld, 4.12.1952, Kopien, LBI, NY, KHC.   Max Frisch, Lektoratsentwurf zu Das Schloss, MFA, ETH. Der Regisseur Rudolf Noelte inzenierte Das Schloss 1953 erfolgreich im Berliner Schloßparktheater. Dürrenmatt sah sich die Aufführung an und war fasziniert „trotz meines Widerwillens, Kafka auf der Bühne zu sehen (ich halte ihn nicht für dramatisierbar)“. Dazu Rüedi, Ahnung, 481. 36   Max Frisch, Tagebuch 1946 – 1949, in: Max Frisch, Gesammelte Werke II, Frankfurt a. M. 1976, 742. 35

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zwischen Autor und Schauspielern. Doch das Emigrantische war bei ihm viel existentieller, was Frisch durchaus bewusst war. In einem Briefentwurf an Alfred Andersch schreibt Frisch in den 1970er-Jahren: Ich hatte einen langjährigen Freund, Kurt Hirschfeld, der, obschon durch Hitler staatenlos, nicht Schweizerbürger werden wollte, als die behördlichen Bestimmungen es schliesslich zugelassen hätten, und obschon er in diesem Land gearbeitet hatte [. . .] sich heimisch zu fühlen nicht mehr zutraute. Ein sehr andrer Fall, ich verstand ihn, er war deutscher Jude und wäre auch hier ein Jude gewesen, geduldet.37

War Kurt Hirschfeld im Theaterleben nach 1945 eher ein Bewahrer oder engagierte er sich für einen kulturellen Aufbruch? Eine dickleibige Geschichte des Schauspielhauses Zürich, erschienen 1998, hakt Hirschfelds Ära als Direktor (1961 – 1964) unter dem tödlichen Titel Beharrliches Bewahren ab, obwohl immerhin die Uraufführungen von zwei der meistbeachteten Stücke des deutschsprachigen Theaters nach 1945 in die kurze Ära Hirschfeld fielen, nämlich Frischs Andorra und Dürrenmatts Die Physiker, und sagen wir es klar und deutlich: Zumindest die Uraufführung von Andorra fand nur wegen Kurt Hirschfeld am Schauspielhaus Zürich statt.38 Schon die zeitgenössische Zürcher Presse urteilte 1961 ent­täuscht, mitun­ ter hämisch über Hirschfelds Ernennung zum Direktor. Er habe sein Amt nur in „jahrelanger Bewährung erses­sen“. Dem Verwaltungsrat warf man vor, damit die dringend notwendige Verjüngung und Erneue­rung zu verhindern, ein „sachlich durchaus gerechtfertigter Vor­wurf “, wie die beiden Theaterhistoriker Ute Kröger und Peter Exinger meinen.39 Das Argument der Jugend sticht im Theaterbetrieb im­mer. Hirsch­feld selber hat ja unermüdlich nach jungen dramati­schen Begabun­gen und spielbaren neuen Stücken Ausschau gehalten und wünschte sich für die neue Aufgabe die Intensität und Leidenschaft zurück, wie er sie vor zwanzig Jahren gehabt habe. Ein revolutionärer Akt war seine Ernennung zum Direk­tor ganz bestimmt nicht. In einer entscheidenden Hinsicht war Kurt Hirschfeld als Direktor des Schauspielhauses Zürich aber genau der richtige Mann. Er konnte mit seinem Hintergrund und seiner Erfah­rung einen geschichtspolitischen Prozess in Gang bringen, der fällig war, der dem Thea­ter deutscher Sprache zwar zugegebenerma­ßen kaum ästhetische Neuerungen brachte, dafür eine neue Glaubwürdigkeit gab. Man war Ende der 1950er- und Anfang der 1960er37

  Alfred Andersch / Max Frisch, Briefwechsel, Zürich 2014, 98.   Ute Kröger / Peter Exinger, „In welchen Zeiten leben wir!“ Das Schauspielhaus Zürich 1938 – 1998, Zürich 1998, 161 ff. 39   Ute Kröger / Peter Exinger, „In welchen Zeiten leben wir!“ Das Schauspielhaus Zürich 1938 – 1998, Zürich 1998, 163. 38

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Jahre noch fixiert auf die beiden Konzeptionen „episches“ versus „absur­ des“ Theater. Hirschfeld dachte grundsätzlich in denselben Katego­rien, aber er hielt darüber hin­aus stoisch am Begriff der „moralischen Anstalt“ fest. Theater hatte eine politische Wirkung, und diese Wirkung galt es auch nach Brecht immer neu zu suchen, freilich nicht in der, wie Hirschfeld sagte, „alber­nen“ Art als Instrument der politi­schen Erziehung oder als Propaganda wie im sozialistischen Realis­mus. Das moderne Theater hatte vielmehr ein Forum zu sein, um Diskussionen zu provozieren. Hirschfeld wie Frisch setzten auf ein zeitkritisches und geschichtsbewusstes Theater, ohne aber mit Andorra ein bloßes Thesen- oder Dokumentarstück zu bieten. War Hirschfeld also wirklich nur ein biederer Bewahrer?

Das Ganze im Auge behalten Frisch und Hirschfeld wollten mit Andorra nicht nur, aber auch das Schweizer Publikum treffen, und das gelang ihnen. Meine These ist: Andorra war nicht zuletzt ein Stück für Kurt Hirsch­feld. Das Stück und die Inszenierung waren, so Frisch, eine „Attacke gegen das pharisäerhafte Verhalten gegenüber der deutschen Schuld“, eine Attacke gegen den tendenziellen Antisemitismus auch in der Schweiz, eine Attacke wie übrigens schon Biedermann und die Brandstifter gegen die Schuld der Schuldlosen. In den frühen Sechzigerjahren forderte noch kaum jemand lautstark die Aufarbeitung der Vergangenheit während der NS-Zeit. Schon gar nicht in der verschont gebliebenen Schweiz. Kurt Hirschfeld aber, der die Vorurteile und Härten gegenüber Emigranten direkt erfahren hatte und weiter erfuhr, war imstande, Andorra so zu inszenieren, dass das tabuisierte Thema des Antisemitismus genauso wie die Schuldproblematik zum Gegenstand einer längst fälligen Auseinandersetzung wurde, die über das Theater hinauswirkte. Diese Auseinandersetzung war damals nicht mit revolutionärer Zertrümmerungsarbeit zu erreichen, sondern nur mit Umsicht und Eindringlichkeit. Nicht zuletzt aus diesem Grund setzte sich Frisch auch für Hirschfeld als Nachfolger von Schauspielhausdirektor Oskar Wälterlin ein. In einem Brief an den Verwaltungsrat des Schauspielhauses hielt er fest, der Ruf, den die Pfauenbühne genieße, sei schon seit einiger Zeit im Begriff, ein historischer zu werden. Es sei leicht möglich, „dass unser Schauspielhaus sehr geschwind absackt“. Die Chance, ein radikal neues Schauspielhaus in Zürich zu installieren, sei gering, so Frisch, wenn es den Ruhm des alten Schauspielhauses gegen sich habe. Der Neuanfang müsse also scheitern, falls jene, die einst aus Deutschland vertrieben wurden und in Zürich das Schauspielhaus

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maßgeblich aufgebaut hatten, nun abermals vertrieben würden, diesmal aus dem Schauspielhaus. Die Ansätze, für welche die Künstler der Emigration einstanden, galt es vielmehr weiter zu entwickeln. Nicht ein Regisseur unter Regisseuren sollte das Haus betreuen, nicht einer, der sich über das Erbe leichtfertig hinwegsetzte, auch nicht einer, der nur konservativer Bewahrer blieb, sondern es sollte einer Direktor werden, der dieses Erbe als Herausforderung für Neues, für Experimentelles verstand. Hirschfeld bot für Frisch die Gewähr, dass er „das Ganze im Auge behält“.40 Natürlich hatte Frischs Stimme Gewicht. Sein Eintreten für Hirschfeld war mehr als nur ein Freundschaftsdienst. Frisch sah sein Stück Andorra in der Tradition und Epoche, in der für ihn die Emigranten und besonders Kurt Hirschfeld standen. Und nachdem dieser dann zum Direktor ernannt worden war, konnte Frisch Andorra guten Gewissens dem Zürcher Schauspielhaus „in alter Freundschaft und Dankbarkeit“ widmen. Die Arbeit an Andorra war für beide der Höhepunkt ihrer Zusammenarbeit, vielleicht auch ihrer Freundschaft. An den Kunsthistoriker Werner Schmalenbach schrieb Hirschfeld im Juni 1961, Max Frisch sei aus Rom gekommen, und sie hätten vier Stunden lang am neuen Stück gearbeitet. „Es war einfach schön, und man hat wieder gewusst, weshalb man auf der Welt ist.“ Frisch sei „wirklich ein grossartiger Bursche, sachlich, klar, knapp und wissend.“41 Eine der seltenen spontanen Mitteilungen Hirschfelds über Frisch. Sonst äußerte er sich, zumindest in der Öffentlichkeit, nicht selten eine Spur zu feierlich. So als er Frisch 1961 zum 50. Geburtstag wünschte, dass dessen Arbeit weiterhin der Mitwelt zeigen möge, „dass am Kunstwerk Wahrheit zu erfahren ist, die man auf anderem Wege kaum gewinnen kann. Möge sie beitragen zur Erhellung unseres Daseins [. . .].“42 Er verwies gerne auf Frischs „aktive und aufklärerische Position“; ihm gehe es um die Erforschung der Wahrheit, aber er biete keine Lösungen an, sondern stelle Fragen. „Frisch experimentiert mit der Frage so lange, bis sich Schicht um Schicht abdeckt und sich eine Wahrheit zeigt oder zumindest das sichtbar wird, was ihr mehr zugehörig ist als die geläufigen Tatsachen.“43 Hirschfeld kannte selbstverständlich den ideologischen Überbau, der Begriffe wie Wahrheit, Freiheit, Moral oder Aufklä40   Max Frisch an Willi Dünner, Delegierter des Verwaltungsrates des Schauspielhaus Zürich, Mai 1960, LBI, NY, KHC. 41   Kurt Hirschfeld an Werner Schmalenbach, 12.6.1961, LBI, NY, KHC. 42   Diverse Autoren, Zum 50. Geburtstag von Max Frisch am 15.5.1961, Sonderpublikation, MFA, ETH. 43   Kurt Hirschfeld, „Frisch, Dürrenmatt und das moderne Theater“, [Vortrag], Hannover, o. J., LBI, NY, KHC; vgl. W.M. [d. i. vermutl. Werner Meier], „Autoren gesucht! Ein Gespräch mit Kurt Hirschfeld, dem neuen Direktor des Zürcher Schauspielhauses“, Schweizer Illustrierte Zeitung (6.11.1961), 16 – 17, 81.

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rung zu Kampfbegriffen machte und belastete. Er hielt dennoch daran fest, auch wenn man diese Begriffe in den 1960er-Jahren als immer pathetischer empfand. Frisch wiederum wusste, wieviel dunkle Erfahrung jeden dieser Begriffe konkretisierte, wenn Hirschfeld sie verwendete.

Politisches Theater? Zurück zu Andorra: Es war für Frisch ein „Juden-Stück für die Nichtjuden“. Während der langen und schwierigen Arbeit hatte er „oft Sorge, nicht dass die Mörder es mir nicht abnehmen, das ist nicht mein Verlangen, aber dass die Juden (die ja von sich aus mehr sind als nur eine Fiktion der Nichtjuden) sich dagegen verwahren.“44 Juden musste nicht gezeigt werden, wie Antisemitismus anfängt. Ihnen hörte Frisch vor allem zu, um sein Stück schreiben zu können. Zu nennen wären der Maler Varlin und manche Mitglieder aus dem Ensemble des Schauspielhauses, besonders eben Kurt Hirschfeld, von dem er am Genauesten wusste, was es heißt, ein Emigrant zu sein. Andorra war ein Stück gegen eine Gesellschaft und gegen eine Kultur, in der ein Kurt Hirschfeld sich auch nach 1945 als Emigrant fühlen musste. Deshalb war es für Frisch nur folgerichtig, dass Hirschfeld der Regisseur der Uraufführung von Andorra sein sollte. Wie Frisch glaubte auch Hirschfeld sehr wohl an den politischen Einfluss des Theaters; sie lieferten beide mit Andorra einen wesentlichen Anstoß zum sogenannt „Politischen Theater“ (der Begriff setzte sich in den frühen sechziger Jahren durch).45 Aber Hirschfeld ebenso wie Frisch, beide an Brecht geschult, misstrauten jeder Imitation der (politischen) Realität, jedem Naturalismus, auch dem Dokumentarischen Theater, das dank Rolf Hochhuth und Peter Weiss bald Furore machte. Illusionismus galt es zu vermeiden. Darum insistierte Frisch: Andorra sei „der Name für ein Modell“. Das Modell fordert allerdings mehr als jede andere Verfremdungstechnik vom Zuschauer eine Distanz zu realen Zuständen. Vorerst klingt das wie ein Widerspruch: Provozierten Frisch / Hirschfeld genau den Dispens vom Zeitgeschehen, den sie beide seit 1945 oft beklagten? Das wäre so, wenn Distanz zwangsläufig Dispens bedeuten würde. Wie Brecht brauchten Frisch und Hirschfeld aber Fremdheit und literarische Verfremdung, um zu eigenen Aussagen über die Gegenwart zu gelangen. 44

  Max Frisch an Fritz Kortner, 2.3.1962, MFA, ETH.   Ernst Wendt, „Ein Blick auf Andorra 1975 und Fragen an Max Frisch“, in: Walter Schmitz / Ders. (Hgg.), Frischs Andorra, Frankfurt a. M. 1984, 12, 18. 45

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Frisch (und genauso Dürrenmatt) lernten auch dank Kurt Hirschfeld, „mit der Bühne zu schreiben“, wie Frisch einmal sagte. Die Zeit der Parabelund Lehrstücke, der Fabeln, der geschlossenen Formen allgemein, die allzu leicht aufgehen, mag inzwischen definitiv vorbei sein und insofern auch Andorra als Stück auf heutige Bühnenstürmer antiquiert wirken, aber all die Einwände gegen das Stück und gegen die Art, wie Hirschfeld es inszenierte, verblassen doch angesichts dessen, was Andorra damals im Theater auszulösen vermochte: nämlich eine längst fällige Debatte über Antisemitismus, Schuld, Feigheit, Korrumpierbarkeit. Nach der triumphalen Uraufführung des Stücks hatte Frisch eigentlich wenig zu klagen, aber über eines klagte er doch heftig in der Korrespondenz mit Hirschfeld, und zwar über das „infantile Verhalten“ von Dürrenmatt, der keinen Abend vergehen lasse, ohne die Schwäche von Andorra zu analysieren. Immer von neuem hetze er gegen das Stück. Tatsächlich endete die Andorra-Premiere in einem Desaster, was die Freundschaft zwischen Frisch und Dürrenmatt betraf. Schon an der Premierenfeier zog es Dürrenmatt vor, hinter dem Rücken Frischs der versammelten internationalen Presse die dramaturgischen Mängel von Andorra darzulegen. Um genau zu sein: Dürrenmatt hatte ursprünglich durchaus die Absicht, den Kollegen persönlich über seine Vorbehalte zu unterrichten. Schon früh. In seinem Nachlass haben sich drei Briefentwürfe erhalten, in denen er Frisch im Mai 1961 zum 50. Geburtstag gratulieren wollte.46 Damals schon hatte er eine frühe Version von Andorra „mehrmals“, wie er schreibt, gelesen, beeindruckt vom Elementaren und Exemplarischen, aber er hatte Mühe damit, wie Frisch das Problem des Antisemitismus mit jenem des Kleinstaates verband, also ein „Weltproblem“ mit dem besonderen Kleinstaaten-Problem koppelte, wie es sich in der Schweiz zeigte. Zweifellos hätte Frisch diese Kritik nachvollziehen, da und dort sogar für die Überarbeitung nutzen können. Leider ist davon auszugehen, dass Dürrenmatt den Brief nicht abgeschickt hat. Als Frisch sich dann 1964 erstmals öffentlich darüber wunderte, wie wenig die schweizerische Vergangenheit während der Nazi-Zeit in der Literatur der Schweiz präsent sei, verschwieg er sowohl sein eigenes Stück Andorra als auch Dürrenmatts Besuch der alten Dame, worin es ebenfalls um Schuld und Korrumpierbarkeit geht. Das schweizerische Dilemma habe den Schweizern ein Ausländer, ein Emigrant in Theaterform zeigen müssen: Er meinte Brecht und dessen Stück Der gute Mensch von Sezuan. Das passte in seine emigrantische Disposition. Dürrenmatt antwortete später auf dieselbe Frage nur: 46

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  Max Frisch / Friedrich Dürrenmatt, Briefwechsel, hg. v. Peter Rüedi, Zürich 1998, 155 – 

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„Der Grund, weshalb die Schweiz keine Theaterstücke über ihre unbewältigte Vergangenheit besitzt, liegt einfach darin, dass die Schweiz keine unbewältigte Vergangenheit aufweist.“ Genauso entschieden stritt Dürrenmatt im Übrigen ab, dass Andorra ein Stück über die unbewältigte Schweizer Vergangenheit sei.47 Und da kommt eine weitere Qualität von Kurt Hirschfeld zum Vorschein. Nach dem Bruch zwischen Frisch und Dürrenmatt teilte sich der gemeinsame Freundeskreis wie nach einer Kampfscheidung: Entweder blieb man mit Dürrenmatt befreundet, oder mit Frisch. Weiter mit beiden befreundet zu bleiben, schaffte fast keiner. So richtig eigentlich nur einer: Kurt Hirschfeld. Als er 1964 schwer erkrankte, las er, obwohl geschwächt, Frischs neuen Roman Mein Name sei Gantenbein gleich zweimal hintereinander. Nur die „Spitalmoral“ brachte ihn dazu, das Buch um zwei Uhr morgens beiseitezulegen. Er schrieb anderntags an Frisch: „Sicher bin ich befangen, ich liebe Dich nun einmal und Deine Arbeit.“ Der Roman sei „intellektuell aufregend und ungeheuer provokant“. Was ihn freue, „ist die unentwegte Apologie der Freiheit gegen die Hörigkeit, gegen die Tabus der von Menschen und der Gesellschaft gesetzten, keineswegs endgültigen, sondern höchst bedingten Situation.“48 In einem späteren Brief, nach der zweiten Lektüre, meinte Hirschfeld, er finde es von allen Prosabüchern Frischs „das Reifste und Beste und Richtigste, weil es eigentlich die in den andern Büchern angelegten Linien in extremis weiterführt.“49 Frisch antwortete ihm aus Rom. Hirschfeld sei immer für andere da, für alle, die mit ihm arbeiteten. „Ich kenne viele, die Dich lieben, aber sie zeigten es unter den gewöhnlichen Umständen vielleicht wenig, vielleicht weil Du deinen Bedarf nicht zeigst. So sag ich es Dir jetzt: dass ich Dich sehr lieb habe.“ Gleichzeitig gestand er ihm, es erschrecke ihn, wenn Hirschfeld in seinem Zustand ausgerechnet dieses Buch lese. Denn erst jetzt, so Frisch, als er sich den Freund lesend im Spitalbett vorstellte, sei ihm aufgefallen, wie sehr dieser Roman seinerseits „aus dem Krankenhaus kommt“. Hirschfeld werde die „lustig getarnte Trostlosigkeit“ in dem Buch entziffern. „Es ist ja verwurzelt in der Zeit, da ich krank war, in einer Erfahrung, die sich mit der Genesung nicht aufhebt“. So sei Hirschfeld gewissermaßen der „ideale Leser“, insofern es ideal ist, „wenn 47   Friedrich Dürrenmatt, Zur Dramaturgie der Schweiz, Werkausgabe, Bd. 34, Zürich 1998, 60 ff. 48   Kurt Hirschfeld an Max Frisch, 4.7.1964 und 23.7.1964, MFA, ETH. 49   Max Frisch an Kurt Hirschfeld, 2.7.1964, MFA, ETH; Kurt Hirschfeld an Max Frisch, 4.7.1964, MFA, ETH; Kurt Hirschfeld an Max Frisch, 7.7.1964, MFA, ETH; Max Frisch an Kurt Hirschfeld, 16.7.1964, LBI, NY, KHC; vgl. Kurt Hirschfeld, Einführung zu Mein Name sei Gantenbein, 11.8.1964, LBI, NY, KHC.

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Not und Not sich in die Augen schauen, so dass Literatur aufhört, Literatur zu sein.“50 Der ideale Freund jedenfalls war Kurt Hirschfeld für Frisch ganz bestimmt gewesen. Und umgekehrt traf das genauso zu. Hirschfeld plante noch eine Reise nach Israel, und Frisch sagte ihm finanzielle Unterstützung zu, aber dazu kam es nicht mehr. Bis fast zuletzt sprachen sie über Theaterfragen. Frisch musste an einer Dramaturgentagung auftreten, und so diskutierte er mit Hirschfeld am Krankenbett und brieflich über die alte Frage, ob Theater eine politische Wirkung habe und zur Veränderung der Wirklichkeit beitragen könne. Hirschfeld schrieb ihm hinterher: „Du hast selbst in Andorra ein großartiges Beispiel gegeben. Denn da haben wir eine Realität und zwar eine, die zu verändern ist.“ Und dann erinnerte Hirschfeld an die Jahre nach 1933. „Wie weit Theater Einfluss auf Geschichte hat, haben wir ja ein bisschen selber erlebt.“ Und schließlich fügte er hinzu: „Ohne Glauben, dass Theater einen politischen Einfluss hat, wären, glaube ich, viele Stücke nicht geschrieben worden.“51

50   Max Frisch an Kurt Hirschfeld, 2.7.1964, Durchschlag, MFA, ETH (Max Frisch an Kurt Hirschfeld, 16.7.1964, LBI, NY, KHC; vgl. Kurt Hirschfeld, Einführung zu Mein Name sei Gantenbein, 11.8.1964, LBI, NY, KHC). 51   Kurt Hirschfeld an Max Frisch, 23.7.1964, MFA, ETH.

Das Zürcher Schauspielhaus als Welttheater – Kurt Hirschfeld als Weltdramaturg Wendy Arons1 Außerhalb der Schweiz, und vor allem in den USA, ist das Zürcher Schauspielhaus besonders für die Rolle berühmt, die es dabei spielte, die Karriere des deutschen Dramatikers Bertolt Brecht während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zu fördern. In der US‑amerikanischen Theatergeschichte wird das Schauspielhaus oft hauptsächlich als Brechts europäische Zuflucht charakterisiert: als der Ort, wo seine Stücke Mutter Courage und ihre Kinder, Der gute Mensch von Sezuan und Leben des Galilei Premiere feierten, während er im Exil lebte. Es wird auch als der Ort referenziert, an den er flüchtete, nachdem er vor dem U. S. House Un-American Activities Committee ausgesagt hatte.2 Theaterhistoriker loben das Schauspielhaus auch manchmal für die Qualität der Arbeit, die dort geleistet wurde: Zum Beispiel erwähnt der prominente US‑amerikanische Theaterhistoriker Oscar Brockett das Zürcher Theater beiläufig „als eines der besten in Europa während des Nazi Regimes, weil so viele Flüchtlinge sich in der Schweiz niederließen.“3 Aber was von Historikern außerhalb der Schweiz nicht genug erkannt wird, ist die entscheidende Rolle, die sowohl das Schauspielhaus als auch sein Dramaturg, Kurt Hirschfeld, dabei spielten, ein internationales Repertoire in Europa am Leben zu erhalten, als der Kontinent zum größten Teil von NS-Deutschland besetzt war. Ein Blick auf die Liste der Kriegs- und Nachkriegsproduktionen des Schauspielhauses offenbart ein wahres Who’s Who des modernen westlichen Theaterkanons: Produktionen der Werke von Dramatikern wie Karel Čapek, Thornton Wilder, Jean Giraudoux, Jean-Paul 1   Dieser Essay wurde von Naomi Shulman ins Deutsche übersetzt. Die Autorin dankt Bernard Blum und dem Leo Baeck Institut London für die finanzielle Unterstützung der Übersetzung. 2   Brechts Biograf Stephen Parker beschreibt das Schauspielhaus als „the last major European theatre that was prepared to perform a Brecht play.“ Stephen Parker, Bertolt Brecht: a Literary Life, London 2014, 428. 3   Oscar G. Brockett, History of the Theatre, Boston 1977, 553 (= Brockett, History of the Theatre).

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Sartre, Paul Claudel, Federico García Lorca, T. S. Eliot, Arthur Miller, Tennessee Williams, Luigi Pirandello und vielen, vielen – sogar vielen Dutzend – anderen. Als solches ist die zum größten Teil noch nicht erzählte Geschichte des Schauspielhauses die eines isolierten Theaters, dem es gelang – mitten während eines Krieges, der Theateraufführungen im Rest Europas ein vorläufiges Ende bereitete – mit der übrigen Welt verbunden zu bleiben. Letzteres geschah hauptsächlich durch die Anstrengungen eines Dramaturgen, der seinen Finger am Puls der internationalen Theaterszene hatte. Darüber hinaus zeigen Kurt Hirschfelds Archive, dass es auch die Geschichte eines Visionärs ist, eines Mannes, der durch seine ästhetischen und intellektuellen Entscheidungen geholfen hat, das zu etablieren, was in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg der internationale Kanon der deutschen Bühne werden würde. Im Folgenden möchte ich das Repertoire der internationalen Werke des Schauspielhauses sowohl mit den historischen Bedingungen, unter denen Hirschfeld und die anderen Mitglieder des Ensembles der Pfauenbühne arbeiteten, als auch mit der dramaturgischen, ästhetischen und sozialen Mission, die Hirschfeld über seine gesamte Karriere hinweg für das Theater artikulierte, verbinden. Obwohl das Repertoire des Schauspielhauses eine eklektische Mischung sowohl klassischer als auch moderner, einheimischer und ausländischer Werke während und nach dem Krieg darstellte, werde ich mich in diesem Kapitel auf den internationalen Aspekt konzentrieren, auf das Schauspielhaus als Welttheater. Aber bevor wir uns dieser Geschichte zuwenden, würde ich gerne die Schwierigkeit ansprechen, die dem Versuch innewohnt, eine Grenze um dieses Thema zu ziehen. Für einen von außerhalb der Schweiz kommenden Zuschauer scheint der Status des Schauspielhauses als eine Weltbühne während und nach dem Krieg hauptsächlich durch die Reichweite und Vielfalt der inszenierten Werke definiert, die ursprünglich in den USA, Frankreich, Großbritannien, Spanien, Italien, Russland, usw. geschrieben wurden – d. h., Stücken, die aus nicht-deutschsprachigen Ländern importiert wurden. Aber natürlich sind Stücke, die von deutschen oder österreichischen Autoren geschrieben wurden, der Schweiz auch fremd. In Anbetracht der Tatsache, dass es vor Frisch und Dürrenmatt im Grunde genommen kein schweizerdeutsches Theaterrepertoire von erwähnenswertem Verdienst gab, konnte die Reichweite der Programmgestaltung von Theaterstücken auf einer schweizerdeutschen Bühne außerdem kaum etwas Anderes, als „international“ sein. Trotzdem scheint es, dass man zwei miteinander verbundene Geschichten über die Programmgestaltung an der Pfauenbühne während

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und nach dem Krieg erzählen kann: die relativ bekannte Geschichte ihrer Rolle als die einzig verbleibende unabhängige Bühne für die Werke deutscher und österreichischer Exilschriftsteller und die weniger bekannte Geschichte ihres Engagements, neue Werke von Schriftstellern aus der ganzen Welt in Übersetzung aufzuführen. Ich werde mich auf die zweite dieser Geschichten konzentrieren, und ich hoffe, dass ich dabei nicht den Eindruck erwecke, vergessen zu haben, dass die deutschsprachigen Stücke, die an der Pfauenbühne uraufgeführt wurden, auch zum Internationalismus ihres Spielplans beitrugen. Da das Theater zudem die Werke so vieler einzelner Autoren – als ich das letzte Mal versuchte, sie zusammenzurechnen, habe ich bei 60 aufgehört zu zählen – aus so vielen Ländern – unter anderem England, Frankreich, den USA, Spanien, Irland, Schottland, Neuseeland, Italien, Dänemark, Norwegen, Russland und der Tschechoslowakei – inszenierte, wäre es unmöglich, die Reichweite des Internationalismus des Schauspielhauses in diesem relativ kurzen Kapitel vollständig auszuloten. Anstatt zu versuchen, einen umfassenden Bericht zu erstellen, habe ich mich stattdessen entschieden, mich auf die Autoren und Stücke zu konzentrieren, von denen es scheint, dass sie Hirschfeld selbst am meisten bedeutet haben. In den Nachkriegsjahren schrieb Hirschfeld eine Reihe von Reden und Artikeln, in denen er seine Gründe dafür darlegte, die Werke wesentlicher französischer, britischer und US‑amerikanischer Autoren in den Vordergrund gestellt zu haben. Sein Nachlass enthält diese Reden zusammen mit Zeitungskritiken, Korrespondenz und anderen Schriften, die uns helfen, das Vorhaben und die Auswirkung besonders wichtiger Inszenierungen aus dem modernen internationalen dramatischen Repertoire zu verstehen. Indem ich mich auf die Autoren und Werke konzentriere, über die Hirschfeld am meisten schrieb, als er auf seine Arbeit am Schauspielhaus zurückblickte, finde ich nicht nur einen natürlichen Rahmen, um dieses Material auf eine überschaubare Dimension zu begrenzen. Ich kann so auch seine eigenen Worte nutzen, um zu erklären, warum er sich so sehr der Programmgestaltung eines internationalen Repertoires während und unmittelbar nach dem Krieg verpflichtet hat. Die Listen der Stücke während Hirschfelds Anstellung als Dramaturg des Theaters weisen mehrere allgemeine Muster auf:4 4   Eine Liste der Spielpläne der Jahre 1933 – 1987 findet man auch in Curt Riess, Das Schauspielhaus Zürich: Sein oder Nichtsein eines ungewöhnlichen Theaters, München / Wien 1988, 397 – 437 (= Riess, Das Schauspielhaus Zürich); (obwohl die dortige Angabe, ob eine bestimmte Produktion eine Weltpremiere, deutschsprachige Premiere oder Schweizer Premiere darstellte, an vielen Stellen den Angaben, die in den Hirschfeld-Archiven zu finden sind, widerspricht).

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Anhang Auswahl von seit 1933 im Schauspielhaus Zürich gespielten Stücken in chrono­ logischer Reihenfolge 1933 / 34: Shakespeare: Maß für Maß – Viel Lärm um nichts – Julius Cäsar – König Richard III.; Schiller: Don Carlos; Molière: Der eingebildete Kranke; Kleist: Der zer­ brochene Krug; Grillparzer: Medea; Raimund: Alpenkönig und Menschenfeind; Ibsen: Hedda Gabler – Nora; Shaw: Der Kaiser von Amerika – Blanco Posnets Erweckung – Ländliche Werbung; Werfel: Juarez und Maximilian; Pirandello: Sechs Personen suchen einen Autor; von Arx: Der Verrat von Novarra. 1934 / 35: Shakespeare: König Heinrich IV. (I  und  II)  – König Lear; Gryphius: Herr Peter Squenz; Schiller: Wilhelm Teil – Die Räuber – Maria Stuart; Büchner: Leonce und Lena; Tschechow: Der Bär – Der Heiratsantrag; Gogol: Die Spieler; Strindberg: Rausch; Wilde: Bunbury; Shaw: Man kann nie wissen; Kingsley: Men­ schen in Weiß; Zuckmayer: Katharina Knie – Der Schelm von Bergen; Raynal: Die Marne; Horvath: Hin und Her; Wolf: Professor Mannheim. 1935 / 36: Shakespeare: Othello – Sommernachtstraum; Goldoni: Der Lügner; Schiller: Don Carlos – Kabale und Liebe; Goethe: Clavigo; Tolstoi und Schtschte­ golew: Rasputin; Ibsen: Peer Gynt; Molnar: Liliom; Langer: Reiterpatrouille; Somin: Attentat; Rice: Juristen; Lavery: Die erste Legion; Winsloe: Mädchen in Uniform; Lesch: Cäsar in Rüblikon; von Arx: Der heilige Held. 1936 / 37: Shakespeare: Der Widerspenstigen Zähmung  – Hamlet; Lessing: Nathan der Weise; Goethe: Faust I – Egmont; Schiller: Fiesco; Ibsen: Die Stüt­ zen der Gesellschaft; Schnitzler: Fräulein Else; Gorki: Nachtasyl; Shaw: Pygma­ lion; Lavery: Die erste Legion; Lasker-Schüler: Arthur Aronymus und seine Väter; Čapek: Die weiße Krankheit; Smith: Der erste Frühlingstag; Götz: Dr. med. Hiob Prätorius; Birabeau: Das Paradies; Giraudoux: Es kommt nicht zum Krieg. 1937 / 38: Shakespeare: Macbeth; Grabbe: Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung; Lessing: Minna von Barnhelm; Schiller: Wallenstein-Trilogie; Haupt­ mann: Die Weber – Der Biberpelz; Rostand: Cyrano de Bergerac; Čapek: Die Mut­ ter; Shaw: Der Arzt am Scheidewege; Wedekind: Musik; Fodor: Märchen von der Gerechtigkeit; Csokor: Dritter November 1918; Booth: Frauen in New York; Wer­ fel: In einer Nacht; Bruckner: Napoleon der Erste; Frank: Sturm im Wasserglas; Pagnol: César; Hart-Kaufmann: Freut euch des Lebens (You can’t take it with you). 1938 / 39: Sophokles: König Oedipus; Shakespeare: Troilus und Cressida; Molière: Tartuffe – Die Schule der Frauen; Lessing: Nathan der Weise; Goethe: Götz von Berlichingen; Schiller: Wilhelm Tell – Die Jungfrau von Orleans; Dostojewsky (Tri­ vas-Schdanoff ): Schuld und Sühne; Tolstoi: Die Macht der Finsternis; Dumas-fils: Die Kameliendame; Shaw: Frau Warrens Gewerbe – Helden; Hauptmann: Han­ neles Himmelfahrt; Ibsen: Die Wildente; Zuckmayer: Bellman; Kesser: Talleyrand und Napoleon; Goetz: Die tote Tante; Hare: Fräulein Dr. med. Lawrence; Horne:

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Ja und Nein; Wilder: Eine kleine Stadt; von Arx: Der kleine Sündenfall; Haggen­ macher: Die Venus vom Tivoli; Gehri: 6. Etage; Lesch: Jedermann 1938; Guggen­ heim: Bomber für Japan; Gertsch: Sir Basils letztes Geschäft. 1939 / 40: Sophokles: Antigone; Shakespeare: Komödie der Irrungen – Viel Lärm um nichts; Calderon: Der Richter von Zalamea; Lessing: Emilia Galotti; Goethe: Faust I und II; Scribe: Ein Glas Wasser; Büchner: Dantons Tod; Grillparzer: Weh dem, der lügt; Hebbel: Judith; Nestroy: Lumpazivagabundus; Ibsen: Ein Volks­ feind; Molnar: Spiel im Schloß; Hofmannsthal: Das große Welttheater; Shaw: Die heilige Johanna; Mc Cracken: Friedliche Hochzeit; Lagerlöf: Der Kaiser von Por­ tugallien; Sherwood: Lincoln; Priestley: Die Zeit und die Conways; Williams: Die Nacht wird kommen; Giraudoux: Undine; Mäglin-Haug: Gilberte de Courgenay; Bührer: Pioniere; Welti: Steibruch. 1940 / 41: Shakespeare: Die lustigen Weiber von Windsor – Romeo und Julia – Julius Cäsar; Calderon: Dame Kobold; Goldoni: Das Kaffeehaus; Beaumarchais: Figaros Hochzeit; Goethe: Iphigenie auf Tauris; Schiller: Maria Stuart – Don Car­ los; Raimund: Der Bauer als Millionär; Chesterton: Magie; Ibsen: Gespenster; Hauptmann: Die Ratten; Wilde: Bunbury; Bahr: Das Konzert; Feiler: Heinrich VIII. und seine sechste Frau; Kaiser: Der Soldat Tanaka; Shaw, Irwin: Feine Leute; Götz: Der Lügner und die Nonne; Brecht: Mutter Courage; Faesi: Die Fassade; Guggen­ heim-Ramuz: Frymann; Gertsch: Die Ehe ein Traum; von Arx: Romanze in Plüsch. 1941 / 42: Aischilos: Orestie; Shakespeare: König Johann – König Heinrich IV. – König Richard III. – Der Sturm; Lope de Vega: Der Ritter vom Mirakel; Molière: Heirat wider Willen; Courteline: Mimensiege – Ein ruhiges Heim; Goethe: Torquato Tasso; Schil­ ler: Die Braut von Messina; Nestroy: Einen Jux will er sich machen; Ibsen: John Gab­ riel Borkman; Hauptmann: Fuhrmann Henschel; Tolstoi: Der lebende Leichnam – Er ist an allem schuld; Tschechow: Onkel Wanja; Schnitzler: Liebelei; Hofmannsthal: Elektra; Shaw: Man kann nie wissen – Major Barbara; Wedekind: Frühlings Erwa­ chen; Ardrey: Leuchtfeuer; Goetz: Ingeborg; Bourdet: Das schwache Geschlecht; Hodge: Regen und Wind; Hart-Kaufmann: Hier schlief George Washington; Pagnol: Marius; Frank-Lenz: Mira Bell; Widmann: Maikäfer-Komödie. 1942 / 43: Sophokles: Aias; Shakespeare: Wie es euch gefällt – Timon von Athen; Goldoni: Der Diener zweier Herren; Schiller: Fiesco – Kabale und Liebe; Kleist: Penthesilea; Grillparzer: Ein Bruderzwist in Habsburg; Ibsen: Der Bund der Jugend; Hauptmann: Schluck und Jau; Anzengruber: Das vierte Gebot; Gogol: Der Revisor; Hofmannsthal: Der Turm; Shaw: Cäsar und Cleopatra; Williams: Der Morgenstern; Kesser: Professor Intermann; O’Neill: Trauern muß Elektra; Rapha­ elson: Jugend im Herbst; Brecht: Der gute Mensch von Sezuan; Treichlinger: Göt­ tin, versuche die Menschen nicht; Guggenheim: Der sterbende Schwan. 1943 / 44: Shakespeare: Othello – Maß für Maß; Lope de Vega: Wer kam denn da . . . ins Haus?; Molière: Der Misanthrop; Schiller: Wallenstein-Trilogie; SchillerRacine: Phädra; Nestroy: Der Zerrissene; Tolstoi: Und das Licht leuchtet in der

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Finsternis; Strindberg: Königin Christine; Kaiser: Zweimal Amphytrion; Coward: Weekend; Brecht: Galileo Galilei; Claudel: Der seidene Schuh; Wilder: Wir sind noch einmal davongekommen; Lorca: Bluthochzeit; Giraudoux: Sodom und Gomorrha; Steinbeck: Der Mond ging unter; Gehri: Neues aus der 6. Etage; von Arx: Land ohne Himmel; Keller: Camping. 1944 / 45: Shakespeare: Der Widerspenstigen Zähmung – Perikles von Tyrus; Les­ sing: Minna von Barnhelm; Goethe: Egmont; Hebbel: Maria Magdalene; Nestroy: Zu ebener Erde und im ersten Stock; Raimund: Der Verschwender; Ibsen: Nora; Hauptmann: Rose Bernd; Shaw: Kapitän Braßbounds Bekehrung; Tschechow: Der Kirschgarten; Hofmannsthal: Christinas Heimreise; Synge: Der Held des Wester­ landes; Cronin: Jupiter lacht; Sartre: Die Fliegen; Claudel: Der Bürge; Munk: Niels Ebbesen; Werfel: Jakobowsky und der Oberst; Silone: Und er verbarg sich; Eliot: Die Familienfeier; Schwengeler: Rebell in der Arche; Frisch: Nun singen sie wieder. 1945 / 46: Shakespeare: Was ihr wollt; Goethe: Pandora; Grillparzer: Des Meeres und der Liebe Wellen; Hauptmann: Florian Geyer; Gorki: Nachtasyl; Brecht: Mut­ ter Courage; Adam: Sylvia und das Gespenst; Coward: Fröhliche Geister; Bruck­ ner: Die Befreiten.5

Wie zu erwarten, zeichnete zunächst ein steter Wechsel klassischer Stücke des westlichen Kanons das Repertoire aus. Zusätzlich zu den gelegentlichen griechischen Tragödien wurden dem Publikum stets Stücke von Shakespeare, Goethe, Lessing und Schiller geboten. Der europäische Kanon des 16. und 17. Jahrhunderts war auch gut vertreten, mit Stücken von Molière, Racine, Calderón, Lope de Vega und Goldoni. Zusätzlich griff die Programmgestaltung nicht nur stark auf deutsche und österreichische Autoren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurück – Kleist, Grillparzer, Hofmannsthal, Büchner, Wedekind, Hebbel, Nestroy und Hauptmann –, sondern präsentierte auch regelmäßig Stücke der wichtigen europäischen und britischen Dramatiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, wie Gogol, Ibsen, Tschechow, Wilde, Tolstoi, Scribe, Strindberg, Pirandello, Shaw und Synge. Schon bevor wir die Premieren von welt- und deutschsprachigen Stücken berücksichtigen, sehen wir also ein Engagement für Internationalismus und Eklektizismus in der Auswahl der klassischen Werke und in der Breite der vertretenen Zeitperioden und nationalen Literaturen. Wenn wir uns auf die neuen und zeitgenössischen Werke konzentrieren, die am Schauspielhaus inszeniert wurden, können wir aus der Übersicht 5   Transkript einer Liste der Spielpläne der Jahre 1933 – 1946 aus: Therese Giehse / Ernst Ginsburg / et al., Theater: Meinungen und Erfahrungen, Affoltern am Albis 1945, Kurt Hirschfeld Collection; AR 7066 / MF 608; X / 2; Leo Baeck Institute. http://www.archive.org / stream /  kurtkirschfeld_01_reel13#page / n1021 / mode / 1up (Letzter Zugriff 17.8.2021), 59 – 61.

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der Angaben vier Verallgemeinerungen ableiten. Die erste ist ein Trend zur Einbeziehung neuer europäischer und ausländischer Werke, vor allem aus Frankreich und den USA. Die Unterlagen in den Archiven sind unvollständig, aber man kann aus ihnen ersehen, dass zwischen 1933 und 1964 mindestens 115 zeitgenössische, aus einer anderen Sprache übersetzte Werke auf der Pfauenbühne aufgeführt wurden; ungefähr drei Viertel davon waren deutschsprachige Uraufführungen, und in einigen Fällen stellte die Zürcher Produktion die allererste Inszenierung außerhalb des Heimatlandes des Dramatikers dar. Tatsächlich glich in vielen dieser Jahre die Anzahl neuer Stücke in Übersetzung der Zahl neuer deutschsprachiger Stücke – wenn sie nicht sogar darüber hinausging. Das zweite beachtliche Merkmal ist die Aktualität vieler dieser Produktionen; in vielen Fällen fand die Zürcher Produktion sehr kurz nachdem das Stück geschrieben oder in der Originalsprache uraufgeführt worden war statt. In Verbindung mit der Tatsache, dass das Schauspielhaus während des Krieges und direkt danach auch Welturaufführungen von Stücken führender deutscher und österreichischer Schriftsteller wie Ferdinand Bruckner, Friedrich Wolf, Georg Kaiser, Carl Zuckmayer und Bertolt Brecht sowie der Schweizer Schriftsteller Frisch und Dürrenmatt vorstellte, rückte diese Programmgestaltung Zürich ins Zentrum internationaler Theatertrends. Ein drittes allgemeines Muster, das wir aus dem Überblick dieser Spielpläne ersehen können, ist ein Trend zur Einbeziehung herausfordernder und formal und thematisch diverser Werke. Nur eine Handvoll der internationalen, in Zürich produzierten Stücke würde in die Kategorie der „populären Unterhaltung“ fallen, und unter den ausländischen Werken sind einige der anspruchsvollsten Stücke der dramatischen Literatur ihrer Zeit – zum Beispiel Claudels Le Soulier de Satin (Der seidene Schuh), der, in voller Länge aufgeführt, elf Stunden dauern würde, oder Sartres philosophisch anspruchsvolles Stück Les Mouches (Die Fliegen). Eine letzte, vierte Bemerkung kann man zur Programmgestaltung an der Pfauenbühne während und kurz nach dem Krieg machen, nämlich, dass die Auswahl fast ausschließlich Werke europäischer und amerikanischer Autoren umfasste. Keine der Listen, die ich gefunden habe, führte auch nur ein einziges nicht-westliches Werk auf oder ein Stück eines Schriftstellers nichtweißer Hautfarbe; zudem wurde nur ein winziger Bruchteil – vielleicht vier oder fünf – der vielen hundert inszenierten Stücke von Frauen geschrieben. Dies ist kaum erstaunlich oder besonders bemerkenswert, wenn man die historische Zeitspanne bedenkt. Ich mache nur aus folgendem Grund darauf aufmerksam: Obwohl – wie ich unten noch eingehender besprechen werde – die Auswahl der internationalen Werke darauf abzielte, um Hirsch-

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feld zu zitieren, „den Menschen als Menschen und in der Totalität seiner psychischen und soziologischen Bindungen“ auf die Bühne zu bringen, zeigt die mangelnde ethnische und geschlechtliche Vielfalt unter den vertretenen Schriftstellern aus der heutigen Perspektive die Grenzen dieser Totalität auf.6 Es ist eine bemerkenswerte Bandbreite an Werken, umso mehr, wenn wir bedenken, dass das Schauspielhaus vor 1930 – laut Theaterhistoriker Werner Mittenzwei – eine „bedeutungslose Boulevardbühne“ war.7 Die Geschichte, wie sich das Zürcher Schauspielhaus so schnell in einen internationalen kulturellen Leitstern entwickelte, hat viele Fäden, von denen die meisten zu Kurt Hirschfeld, dem ersten Dramaturgen des Schauspielhauses, zurückführen. Als Ferdinand Rieser 1926 zuerst die Leitung des Theaters übernahm, hatte er weder selbst die Expertise noch – eine sehr wichtige Tatsache – unter seinen Künstlern das Talent, die Angebote des Theaters über das h ­ inaus, was Hirschfeld „Unterhaltungsstücke beliebigen Niveaus und beliebiger Herkunft“ nannte, zu erweitern.8 Hirschfelds Engagement im Jahr 1933 trug dazu bei, die Entwicklung des Schauspielhauses auf zwei wichtige Weisen zu formen und zu beeinflussen. Erstens auf der Personalebene: Hirschfeld war maßgeblich beteiligt an der Auswahl exilierter Künstler, die in der Lage waren, ein anspruchsvolleres Repertoire an der Pfauenbühne zu verwirklichen. Mittenzwei erzählt, dass Rieser zu dem Zeitpunkt, als Theaterkünstler anfingen, aus Hitlers Deutschland zu fliehen, die Gelegenheit ergriff, exilierte Schauspieler, Regisseure und Designer zu Tiefpreisen zu engagieren, und er verließ sich beim Anwerben der Talente sehr auf Hirschfelds Expertise und Verbindungen.9 Mittenzwei schreibt, „Als Glücksfall kann [. . .] bezeichnet werden, daß als erster Flüchtling Kurt Hirschfeld nach Zürich kam. [. . .] Hirschfeld war derjenige, der Rieser sehr gezielt auf bestimmte Schauspieler aufmerksam machte, die Deutschland verlassen hatten oder im Begriff 6   Kurt Hirschfeld, „Probleme der modernen Dramaturgie“, [Rede], n. d. (ca. 1950); Kurt Hirschfeld Collection; AR 7066 / MF 608; IV / 18; Leo Baeck Institute, http://www.archive.org /  stream / kurtkirschfeld_01_reel09#page / n883 / mode / 1up (Letzter Zugriff 11.7.2016), 22. 7   Werner Mittenzwei, Das Zürcher Schauspielhaus 1933 – 1945, Berlin [DDR] 1979, 31 (= Mittenzwei, Das Zürcher Schauspielhaus 1933 – 1945). Siehe auch Riess, Das Schauspielhaus Zürich, 23 – 56. 8   Kurt Hirschfeld, „Anspruch und Funktion des zeitgenössischen Theaters“, Kurt Hirschfeld Collection; AR 7066 / MF 608; IV / 20; Leo Baeck Institute. http://www.archive.org /  stream / kurtkirschfeld_01_reel09#page / n925 / mode / 1up, (Letzter Zugriff 11.7.2016),  2. Siehe auch Mittenzwei, Das Zürcher Schauspielhaus 1933 – 1945, 33 – 35; und Riess, Das Schauspielhaus Zürich, 111. 9   Kröger und Exinger bestreiten Riesers Ruf, geizig gewesen zu sein: „[. . .] ein Ausbeuter war Rieser nicht. Es ist nachweisbar, dass er die besten Gagen in der Schweiz zahlte, welche weit über dem damaligen Durchschnitt lagen.“ Ute Kröger / Peter Exinger, „In welchen Zeiten leben wir!“ Das Schauspielhaus Zürich 1938 – 1998, Zürich 1998, 25.

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waren, es zu tun“.10 (Am Rande sei erwähnt, dass diese Bekanntschaft mit Hirschfeld vielen dieser Schauspieler das Leben rettete: Ernst Ginsberg zum Beispiel, ein Berliner Schauspieler, der mit Hirschfeld in Darmstadt arbeitete, schrieb später: „Kurt Hirschfeld war es, dem ich meine Rettung nach Zürich zu verdanken haben sollte“).11 Zu den Menschen, die Hirschfeld nach Zürich brachte, zählten einige der besten Schauspieler, Bühnenbildner und Regisseure der deutschsprachigen Welt, und sie besaßen nicht nur das Können und die Kunstfertigkeit, die für ein erweitertes Repertoire nötig waren, sondern hatten auch starke politische und moralische Überzeugungen. Sie arbeiteten in dem Glauben, so drückte Hirschfeld es aus, „dass sie [. . .] sinnvolle Arbeit leisten konnten, dass sie da waren zur Unterstützung des Menschen im Kampf um die innere und äussere Existenz. Sie durften klärend wirken in der politischen, ethischen, religiösen Problematik. Sie konnten beitragen zur Rettung des bedrohten Daseins.“12 Für diese fähigen, erfahrenen Künstler bestand die Aufgabe des Theaters nicht einfach darin, Unterhaltung und Ablenkung zu bieten, sondern als eine moralische Institution zu fungieren, als der Ort, wo, um noch einmal Hirschfeld zu zitieren, „das Bild des Menschen in seiner ganzen Mannigfaltigkeit, mit allen ihm geschenkten Möglichkeiten, aus allen nur möglichen Perspektiven gesehen, immer wieder zur Diskussion gestellt [wurde].“13 Die zweite Weise, in der Hirschfeld einflussreich war, hing natürlich mit seiner Stellung als Dramaturg zusammen. Aus seiner Zeit in Darmstadt und seiner dortigen Ausbildung unter Gustav Hartung brachte Hirschfeld ein ausgeprägtes Verständnis der Rolle des Theaters in der Gesellschaft mit nach Zürich, ein Verständnis, das sowohl von seiner ästhetischen Neigung zum „Realismus“ im Theater als auch von seiner links-humanistischen politischen Orientierung beeinflusst war. Hirschfeld besaß ein breites Wissen 10   Huonker bestätigt Hirschfelds Rolle als Riesers Berater bei Anstellungen: „Fest steht, dass Hartung, Hirschfeld und Lindtberg ihm eine Reihe früherer Kollegen empfahlen, die im Reich nicht mehr auftreten konnten.“ Gustav Huonker, „Emigranten – Wege, Schicksale, Wirkungen“, in: Dieter Bachmann / Rolf Schneider (Hgg.), Das verschonte Haus: Das Zürcher Schauspielhaus im Zweiten Weltkrieg, Zürich 1987, 109 (= Huonker, Emigranten – Wege, Schicksale, Wirkungen). Siehe auch: Riess, Das Schauspielhaus Zürich, 58. 11  Mittenzwei, Das Zürcher Schauspielhaus 1933 – 1945, 37; er zitiert nach Ernst Ginsberg, Abschied. Erinnerungen, Theateraufsätze, Gedichte, Zürich 1965, 130. Siehe auch Riess, Das Schauspielhaus Zürich, 58 – 94, für weitere Geschichten zur Rolle, die Hirschfeld dabei spielte, bedrohten Künstlern zu helfen, Nazideutschland zu verlassen. 12   Hirschfeld, „Dramaturgische Bilanz“, in: Therese Giehse / Ernst Ginsburg / u. a., Theater: Meinungen und Erfahrungen, Affoltern am Albis 1945, 11 – 14. Kurt Hirschfeld Collection; AR 7066 / MF 608; X / 2; Leo Baeck Institute. http://www.archive.org / stream / kurtkirsch feld_01_reel13#page / n1021 / mode / 1up, (Letzter Zugriff 11.7.2016), 12 – 13. 13   Hirschfeld, „Dramaturgische Bilanz“, 13.

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über das zeitgenössische Theater und ein wachsendes Netzwerk an Bekanntschaften unter Schriftstellern und anderen Theaterkünstlern.14 Nachdem er mitgeholfen hatte, eine Gruppe gleichgesinnter Kollegen in Zürich zu versammeln, arbeitete Hirschfeld nun mit ihnen daran, die Aufgabe des Theaters zu verwandeln. Der Schauspieler Wolfgang Heinz beschrieb im Gespräch mit dem Historiker Werner Mittenzwei, wie bestimmte Mitglieder des Ensembles während Riesers Amtszeit sich wöchentlich mit Hirschfeld trafen, nicht nur um zu lesen und Theaterstücke für die Saison vorzuschlagen, sondern auch um zu diskutieren, wie man am besten sowohl klassische als auch moderne Stücke besetzen und interpretieren könne, all dies mit dem ausdrücklichen Ziel, eine antifaschistische Perspektive auf die Bühne zu bringen. Hirschfelds beträchtliche Kenntnisse der Theaterliteratur waren zu diesem Zweck unentbehrlich. Aber sein kulturpolitisches Geschick, die ausgewählten Stücke ins Repertoire aufzunehmen, war vielleicht noch wichtiger. Der Bühnenbildner Teo Otto erinnerte sich später: Das Schauspielhaus huldigte damals der leichten Form des Theaters, dem Boulevardstück. Das zu ändern, verlangte eine Strategie und Taktik, die sich sowohl auf das Publikum bezog, das es zu gewinnen galt, als auf die Direktion, die es umzustimmen galt. Hier lagen Hirschfelds unbestreitbare Verdienste. Verdienste, die ungeheure Anstrengungen, tägliche Sorgen, Unstimmigkeiten und misshellige Probleme einschlossen.15

Mittenzwei betont die Bedeutung von Hirschfelds Bemühungen, das Ziel der Pfauenbühne zu verwandeln: „Für Hirschfeld ergab sich dann die schwierige Aufgabe, die Vorschläge gegenüber Rieser durchzusetzen. [. . .] Die Hauptaufgabe bestand jedoch darin, [. . .] politische Stücke in den Spielplan hineinzudrücken und die Boulevardstücke auszusondern.“16 Solch eine „Politisierung“ des Repertoires war ein kompliziertes Unterfangen in der neutralen Schweiz, denn trotz der theoretischen „Freiheit“ der 14

  Hans Mayer beschrieb Hirschfeld als „vielgestaltig, in allen Stilen und dramatischen Formen beheimatet.“ (Hans Mayer, „Eine Stimme aus dem Zuschauerraum“, in: Therese Giehse / Ernst Ginsburg / u.  a., Theater: Meinungen und Erfahrungen, Affoltern am Albis 1945, 54 – 58. Kurt Hirschfeld Collection; AR 7066 / MF 608; X / 2; Leo Baeck Institute. http://www.archive.org / stream / kurtkirschfeld_01_reel13#page / n1021 / mode / 1up [Letzter Zugriff 11.7.2016], 54); Kröger und Exinger bemerken: „Der Spielplan ist zu einem guten Teil den vielfältigen persönlichen Beziehungen zu verdanken, die im und über das Schauspielhaus geknüpft werden. Kurt Hirschfeld und Emil Oprecht sind es, die ganz wesentlich dieses Netz zusammenhalten.“ Kröger / Exinger, Zeiten, 78. 15   Theater – Wahrheit und Wirklichkeit: Freundesgabe zum sechzigsten Geburtstag von Kurt Hirschfeld am 10. März 1962, Zürich 1962, 166 – 167. 16  Mittenzwei, Das Zürcher Schauspielhaus 1933 – 1945, 69.

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Schweizer Theater sah die Realität anders aus: Da die Theater zu den zivilen Institutionen gehörten, waren die politischen Positionen, die bezogen werden konnten, ohne die Grenzen der offiziellen Neutralität zu überschreiten, beschränkt.17 1945 bemerkte der Schweizer Schriftsteller Jean Rudolf von Salis, „niemand ha[be] das Recht, durch unvorsichtige Handlungen oder sogar Worte dem vom Staate festgesetzten politischen Kurs entgegenzuwirken.“18 So bedeutete der Rückgriff des Theaters auf ein klassisches und internationales Repertoire vor und während des Krieges gewissermaßen eine praktische und taktische Umgehung des Mandats, „Neutralität“ zu wahren. Während das Schauspielhaus zwar einige eindeutig antifaschistische Stücke inszenierte, äußerte es häufiger linksgerichtete politische Stellungnahmen durch gezielte Neubearbeitungen klassischer Stücke. Dies geschah auch durch die Einführung eines internationalen Repertoires zeitgenössischer Stücke, die dem Faschismus entgegentraten, indem sie einerseits eine große Bandbreite von Perspektiven der menschlichen Verfassung darstellten und andererseits eine freie und offene Diskussion der jeweils repräsentierten politischen und sozialen Themen förderten. So war der Internationalismus, den Hirschfeld an der Pfauenbühne förderte, zugleich eine strategische, taktische Antwort auf politische Einschränkungen und Ausdruck des „humanistischen Realismus“, den Hirschfeld später als beherrschendes ästhetisches Prinzip darstellte. Eben in der internationalen Arena fand Hirschfeld moderne Stücke, „die gerade zu der Situa­ tion, in der sich Mensch und Gesellschaft in diesen äußerst kritischen und gefahrvollen Jahren befanden, etwas zu sagen hatten.“19 Dieses „etwas“, das sie zu sagen hatten, war natürlich nicht nur eine Sache: Es gehörte zu Hirschfelds innerster Überzeugung, dass es die Aufgabe des Theaters sei, nicht dem Publikum zu sagen, was es zu denken hatte, sondern schwierige Fragen zu stellen und es zu konzentriertem Zuhören und lebhafter Diskussion anzuregen. „Das Theater ist Forum und nicht Kanzel“, behauptete Hirschfeld in der gleichen Rede: Das Theater ist Forum, weil Meinungen demonstriert werden, die vermeintliche Wahrheiten und problematische Aussagen enthalten, einmal weil wenige Autoren glauben, eine Wahrheit zu haben, dann aber auch, weil es zum Wesen der Dramatik gehört und zu jeder echten Dialogik, Fragen zu stellen. [. . .] Wenn wir die ForumFunktion des Theaters so in den Mittelpunkt stellen, tun wir es vor allem deshalb, 17

  Siehe Louis Naef, „Theater der deutschen Schweiz“, in: Hans-Christof Wächter (Hg.), Theater im Exil: Sozialgeschichte des deutschen Exiltheaters 1933 – 1945, München 1973, 257 (= Naef, Theater der deutschen Schweiz). 18   Zitiert von Naef, „Theater der deutschen Schweiz“, 257. 19   Hirschfeld, „Anspruch und Funktion des zeitgenössischen Theaters“, 2.

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weil in Diktaturzeiten oder Nach-Diktaturzeiten oder in von Diktatur bedrohten Zeiten das verlernte Sprechen wieder gelernt werden muss. Man muss die Menschen das Hören lehren und sie zum Sprechen erziehen.20

Das internationale Repertoire war also ein Mittel gegen die Tyrannei der Kanzel, mit ihrer einzigen und einheitlichen Wahrheit. Es war ein Tadel des faschistischen Beharrens auf ideologischem und kulturellem Konformismus. Es bot stattdessen die Möglichkeit für demokratische Diskussion, die auf gemeinsamer intellektueller Erkundung und Zweifel gründete. Ich wende mich nun einigen der internationalen Schlüsselstücke zu, die auf der Zürcher Bühne aufgeführt wurden, und analysiere, was sie Hirschfeld und dem Publikum des Schauspielhauses bedeuteten. Wie bereits zu Anfang erwähnt, beruht meine Auswahl der Stücke auf Hirschfelds eigenen Schriften, in welchen die gleichen Namen und Stücke wiederholt auftauchen, Namen die, wie er unterstrich, „zugleich auch Bestätigung jener Mannigfaltigkeit menschlicher Existenz sind, die zu erhalten oder gar zu erweitern zum Bilde des Menschen gehört, das der Zerstörung durch die faschistischen Ideologien und Taten entgegenzuhalten war.“21 Darunter befanden sich die französischen Schriftsteller Claudel, Sartre und Giraudoux, der Spanier García Lorca und der Italiener Pirandello, die britischen Autoren Eliot und Fry sowie die amerikanischen Schriftsteller Steinbeck, Wilder, Williams, O’Neill und Miller. Unter den soeben erwähnten französischen Autoren war Jean Giraudoux der erste, dessen Werke am Schauspielhaus produziert wurden, und mehr seiner Stücke als die irgendeines anderen modernen französischen Dramatikers hatten ihre deutschsprachige Uraufführung am Schauspielhaus. Schon 1930 produzierte Rieser sein Stück Amphitryon 38, und im Januar 1937 stellte das Theater Giraudouxs La guerre de Troie n’aura pas lieu (Es kommt nicht zum Krieg) vor, nur ein Jahr nach der Pariser Uraufführung. Es kommt nicht zum Krieg, später in Der trojanische Krieg findet nicht statt umbenannt, nutzt die Legende des trojanischen Krieges, um ein fatalistisches Bild menschlichen Konflikts zu entwerfen. Das Stück vergleicht den Krieg mit einem schlafenden Tiger, der hungrig aufwachen wird, bereit, alles was er vorfindet, zu verschlingen. Giraudouxs pessimistische Vision der Nichtigkeit von Diplomatie und der Unumgänglichkeit des Krieges traf 20

  Hirschfeld, „Anspruch und Funktion des zeitgenössischen Theaters“, 5 – 6.   Kurt Hirschfeld, „Perspektiven des deutschen Theaters“, [Rede], n. d. (ca. 1945 – 46); Kurt Hirschfeld Collection; AR 7066 / MF 608; IV / 15; Leo Baeck Institute. http://www.ar chive.org / stream / kurtkirschfeld_01_reel09#page / n758 / mode / 1up, (Letzter Zugriff 11.7. 2016), 4. 21

Das Zürcher Schauspielhaus als Welttheater – Kurt Hirschfeld als Weltdramaturg 125

bei einem deutschen Nachkriegspublikum auf weit größere Resonanz als bei dem Zürcher Vorkriegspublikum; wie Mittenzwei feststellt, bewunderten die Kritiker Giraudouxs offensichtlichen Pazifismus, aber „die dringliche Frage, die nach 1945 in der Diskussion um das Stück eine so große Rolle spielte, wie Kriege gemacht werden, wurde hier gar nicht gestellt.“22 1940, weniger als ein halbes Jahrzehnt später, stellte das Theater einem deutschsprachigen Publikum Giraudouxs Ondine (Undine) vor, knapp ein Jahr nach der Premiere in Paris, und im Januar 1944 präsentierte es die deutschsprachige Uraufführung von Sodom et Gomorrhe (Sodom und Gomorrha), nur drei Monate nachdem das Stück in Paris zum ersten Mal aufgeführt worden war. Beide Stücke sind Geschichten einer gescheiterten Liebe – das erste stellt die Geschichte einer zum Scheitern verurteilten Beziehung zwischen einer Nixe und einem mittelalterlichen Ritter dar; das zweite jene der Herausforderung, ein Paar wahrer Liebender zu finden, um die Städte Sodom und Gomorrha zu retten. Viele halten Undine für Giraudouxs bestes Werk und laut einem Historiker, „gelang [Direktor Leonard Steckel] mit Undine [. . .] eine der poetischsten Aufführungen des Pfauentheaters.“23 Sodom und Gomorrha ist ein schwierigeres und pessimistischeres Stück, das weniger Anklang fand; Hirschfeld engagierte sich jedoch trotzdem weiter für Giraudouxs Werke. Für Hirschfeld war Giraudouxs Pessimismus ein grundsätzlicher Ausdruck der europäischen Erfahrung, und seine Theaterstücke, so dunkel und hoffnungslos sie auch waren, stellten die wichtigen und schmerzhaften Fragen, die die wesentliche Aufgabe des Theaters ausmachten. „Die Grösse dieses Dramas besteht eben nicht in der Antwort, sondern in der Frage“, schrieb Hirschfeld später über Giraudouxs Stücke.24 Unmittelbar nach Kriegsende, im Juni 1946, zeigte das Schauspielhaus die deutschsprachige Uraufführung von Giraudouxs bekanntestem Werk, La Folle de Chaillot (Die Irre von Chaillot), einer komischen Fantasie, die eine Gruppe gieriger Ölunternehmer gegen eine exzentrische Gräfin, die „Irre“ des Titels, ausspielt. Während Sodom und Gomorrha mit der Zerstörung der zwei Städte endet, lässt Die Irre von Chaillot eine Gruppe schrulliger Idealisten Paris vor dem endgültigen Ruin bewahren. In seiner Ansprache „Per­spektiven des deutschen Theaters“ erklärt Hirschfeld, weshalb er dieses Stück nach Zürich brachte: „Aus dem Stück spricht ein revolutionärer Konservatismus, der das Problem der Anonymität in der modernen Welt, das Problem des Kapitalismus, die Probleme der Erinnerung, der Angst, der 22

 Mittenzwei, Das Zürcher Schauspielhaus 1933 – 1945, 135.  Mittenzwei, Das Zürcher Schauspielhaus 1933 – 1945, 136. 24   Hirschfeld, „Probleme der modernen Dramaturgie“, 15. 23

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Zerstörung und des Rettens, der Freundschaft und der Liebe zur Diskussion stellt.“25 Wie in so vielen seiner Entscheidungen hat Hirschfeld hier auf bemerkenswerte Weise vorausgeahnt, welchen Wert dieses Stück für ein modernes Publikum haben würde: Die Irre von Chaillot spielt bis heute weltweit eine wichtige Rolle im dramatischen Repertoire, da ihre Darstellung eines Konflikts zwischen habgierigen Kapitalisten, die die Auswirkungen ihrer Gier auf die Umwelt nicht beachten, und den „irren“ Menschen, die sich zusammentun, um sie zu besiegen, vor dem Hintergrund aktueller Umweltkrisen neue Bedeutung gewinnt. In den fünfziger Jahren trat das Schauspielhaus auch nach Giraudouxs Tod für seine Werke ein und präsentierte 1950 die Schweizer Premiere von Siegfried von Kleist, und 1955 die deutschsprachige Premiere von Pour Lucrece (Um Lucretia) und Intermezzo. Ein zweiter wichtiger französischer Dramatiker, der dank Hirschfelds Bemühungen einem deutschsprachigen Publikum vorgestellt wurde, war Jean-Paul Sartre, eine der vorherrschenden Figuren des französischen intellektuellen Lebens des 20. Jahrhunderts. Im Oktober 1944 präsentierte das Schauspielhaus die deutschsprachige Premiere der Fliegen, Sartres Umarbeitung der Elektra-Orestes-Geschichte aus der griechischen Mythologie. Sartre schrieb das Stück 1943 im besetzten Paris und beabsichtigte, eine Allegorie des Widerstands gegen den Faschismus zu schaffen. In dem Stück wird Orestes als das absolute Idealbild des Widerstand gegen Autorität Leistenden dargestellt: Er tötet nicht nur die Tyrannen Ägist und Klytämnestra, sondern befreit auch das Volk von Argos von Reue und Schuld und von ihren Verpflichtungen gegenüber den Göttern; als er geht, nimmt er die Furien (die „Fliegen“ des Titels) und die Sünden der Menschen mit. Sartres existentieller Philosophie gemäß verurteilt das Stück Konformität und Autoritätshörigkeit und plädiert für die Verantwortung jedes Individuums, die eigenen Werte zu bestimmen und ihnen entsprechend zu leben. Obwohl das Stück vom Zürcher Publikum und den Kritikern nicht besonders gut angenommen wurde, sah Hirschfeld es als eines der zentralen Stücke, die während des Krieges am Schauspielhaus aufgeführt wurden, weil es sich unter anderem mit dem Problem auseinandersetzte, was après la guerre kommen würde. In seiner Nachkriegsrede „Probleme der modernen Dramaturgie“ beschreibt Hirschfeld die Bedeutung dieses Stücks: Dieses Faktum des Nichts, in dem sich die Menschen ohne bindende Idee, ohne Glauben, ohne Aufgabe plötzlich befinden, dieses Nichts, das für uns erst jetzt realisierbar geworden ist, wenn wir daran denken, dass Menschen ohne die selbstverständlichsten und normalsten Grundlagen, die eine Gesellschaft ausmachen, zu 25

  Hirschfeld, „Perspektiven des deutschen Theaters“, 7 – 8.

Das Zürcher Schauspielhaus als Welttheater – Kurt Hirschfeld als Weltdramaturg 127

leben gezwungen sind. [. . .] Dieses Stück ist für ein neues Publikum geschrieben, neu insofern, als es weiss, dass nichts selbstverständlich ist als die Ungewissheit der Zukunft, ein Publikum, das zugleich wissen will, welche Gefahren ihm drohen. Ein Publikum, das trotzdem bereit ist, sein Schicksal auf der Grundlage dieses seines erfahrenen Wissens selbst zu gestalten.26

Zudem passten Die Fliegen sowohl in Form als auch im Inhalt zu Hirschfelds Verständnis des Theaters als ein Forum, als derjenige Ort, der Dialog und Auseinandersetzung anregt. Hirschfeld verteidigte die Schwierigkeit des Stücks: Das Publikum kann da nicht auf eine einfache Art ‚mitgehen‘, es sieht sich immer wieder vor Situationen gestellt, die Fragen aufwerfen. Und dadurch erfüllt das Thea­ ter seine Aufgabe, Forum zu sein. Es stellt Meinungen zur Diskussion, die Form zwingt zur Auseinandersetzung, die Inhalte attackieren das Publikum und wollen besprochen sein.27

Und obwohl das Stück nur sieben Aufführungen erlebte, erzielte es bei denen, die es sahen, den erwünschten Effekt. Günther Schoop berichtet: Der sorgsam gepflegte Kontakt zwischen Bühne und Publikum wurde durch die Aufführung des Stückes aktiviert [. . .]. Selten hat eine öffentliche Versammlung das Für und Wider so gleichmässig verteilt, wie der am 19. Oktober vom rührigen Zürcher Theaterverein [. . .] einberufene Diskussionsabend. Sartres Problem der Freiheit [. . .] besass vieldeutige und umstrittene Ausblicke.28

Auch Sartre war weiterhin Bestandteil des Schauspielhaus-Repertoires der Nachkriegszeit. Sein Stück Les mains sales (Die schmutzigen Hände), ein politisches Drama, das oft als Ausdruck einer antikommunistischen Einstellung verstanden wird, hatte 1948 in Zürich seine deutschsprachige Premiere, knapp ein halbes Jahr, nachdem es in Paris uraufgeführt worden war, und Le Diable et le bon Dieu (Der Teufel und der liebe Gott), sein Stück über die menschliche Natur und die Frage, ob die Menschen des Guten fähig sind, debütierte im November 1951 auf Deutsch an der Pfauenbühne, weniger als sechs Monate nach der Pariser Premiere. 1952 hatte Sartres Szenario L’engrénage (Im Räderwerk) auf der Zürcher Bühne seine Weltpremiere, und 1960 präsentierte das Schauspielhaus die erste deutsche Produktion von Sartres vorletztem Stück, Les Séquestrés d’Altona (Die Eingeschlossenen von Altona). Insgesamt debütierten in Zürich fünf von Sartres Stücken für ein deutschsprachiges Publikum. 26

  Hirschfeld, „Probleme der modernen Dramaturgie“, 8 – 9.   Hirschfeld, „Probleme der modernen Dramaturgie“, 10. 28   Günther Schoop, Das Zürcher Schauspielhaus im zweiten Weltkrieg, Zürich 1957, 136 (= Schoop, Das Zürcher Schauspielhaus im zweiten Weltkrieg). 27

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Der dritte bedeutende französische Dramatiker, dessen Werke zum ersten Mal auf Deutsch an der Pfauenbühne inszeniert wurden, war Paul Claudel. Sein Stück Der seidene Schuh wurde dort im April 1944 in einer Übersetzung von Hans Urs von Balthasar uraufgeführt, nur fünf Monate, nachdem es zum ersten Mal in Paris unter der Regie von Jean-Louis Barrault aufgeführt worden war. Dieses lange und komplizierte Drama über Liebe und Rettung, das eine Vielzahl von Handlungen hat und vielen Charakteren über vier Kontinente und über ein Jahrhundert lang folgt, wird erst seit kurzem in voller Länge aufgeführt; Regisseur Kurt Vorwitz folgte Barraults Beispiel, indem er den Text für das erste Zürcher Publikum kürzte. Der seidene Schuh, welches wie ein Stück des Goldenen Zeitalters Spaniens in vier journées oder „Tage“ aufgeteilt ist, nutzt eine eklektische Mischung dramatischer Formen und Konventionen. Um es mit den Worten John O’Connors, Claudels erstem englischen Übersetzer, zu sagen: Die ganze Welt, vor allem das Meer, ist die Bühne, und die Konstellationsdecke [das] Theater. Filme, Sprechfilme, Pirandello-Umkehrungen, Engelseinflüsse, Schauspieler-Autor-Regisseur-Eingriffe, hohe Spannung, die von niedriger Komödie entlastet wird: alle diese Mittel werden genutzt [. . .] Das Werk verkörpert Weitläufigkeit.29

Konstellationen werden zum Leben erweckt, die Hemisphären unterhalten sich, Symbole mutieren zu Menschen und umgekehrt, und am vierten Tag ist das Meer „der Hauptdarsteller des ganzen Dramas.“30 Die These des Stücks ist, dass alle Dinge einem göttlichen Zweck dienen, und dass sogar Schwächen auf lange Sicht zur Rettung führen. Für Hirschfeld bedeutete Claudels tiefe Verpflichtung gegenüber dem katholischen Glauben ein Gegenmittel sowohl zu Sartres Existenzialismus als auch zu Giraudouxs Pessimismus; als Kontrapunkt zu anderen Werken des Repertoires stimulierte es die Art Diskussion und Auseinandersetzung, die er als Grundstein der Funktion des Theaters sah. Außerdem bewunderte er Claudels formale Innovationen in diesem Werk sehr: „Formal gesehen,“ schrieb er, „ist wohl Claudels Der seidene Schuh die sprachkräftigste Dichtung des neuen Frankreich.“31 So schwierig und herausfordernd Claudels Stück technisch wie in Bezug auf seine Erzählkunst auch ist: Die ursprüngliche Zürcher Produktion führte ein Stück in das deutsche dramatische Repertoire ein, das seitdem auf deutschsprachigen Bühnen außerordentlich beliebt ist. Während Claudels 29   John O’Connor, „Claudel and his Satin Slipper“, New Blackfriars, Vol. 12, No. 139 (Oktober 1931), 603 – 604 (= O’Connor, Claudel and his Satin Slipper). 30   O’Connor, „Claudel and his Satin Slipper“, 613. 31   Hirschfeld, „Probleme der modernen Dramaturgie“, 11.

Das Zürcher Schauspielhaus als Welttheater – Kurt Hirschfeld als Weltdramaturg 129

Stücke in Frankreich in den letzten sechzig Jahren nur recht sporadisch aufgeführt wurden, ist Der seidene Schuh seit 1944 in der Schweiz, Deutschland oder Österreich von Dutzenden verschiedener Theater fast jährlich produziert worden. Laut der Theaterhistorikerin Chistèle Barbier gab es allein 1985 zwanzig Produktionen des Stücks auf Deutsch (im Gegensatz zu nur sechs in ganz Frankreich in dem Jahr). Sie spekuliert, dass der Reiz dieses Stücks für ein deutschsprachiges Publikum in der Darstellung einer Welt ohne Schwerpunkt gelegen haben mag, in welcher der Held dazu gebracht wird, Eroberung und Besitz aufzugeben – eine Moral, die in Westdeutschland und in Österreich in den Nachkriegsjahren auf große Resonanz getroffen sei. Dies mag auch erklären, warum Hirschfeld Claudels Stück so fesselnd fand, obwohl der Katholizismus des Stücks nicht seine eigenen religiösen oder ideologischen Sichtweisen widerspiegelte.32 Zusätzlich zum Seidenen Schuh setzte Hirschfeld 1945 auch Claudels umstrittenes Stück L’Otage (Der Bürge), welches unter vielen Zuschauern Einwände gegen seine Aufwertung der völligen Unterwerfung vor der Autorität der Kirche hervorrief, auf das Programm, 1946 sein Le père humilié (Der erniedrigte Vater) und 1953 L’histoire de Tobie et Sara (Die Geschichte von Tobias und Sara). Von den zeitgenössischen englischsprachigen Werken, die in deutscher Übersetzung während und kurz nach dem Krieg Premiere hatten, kamen viele aus dem Vereinigten Königreich, darunter viele Komödien oder sentimentale Theaterstücke, die in Vergessenheit geraten sind. 1939 feierten der psychologische Thriller Night Must Fall (Die Nacht wird kommen) des britisch-walisischen Dramatikers Emlyn Williams, J. B. Priestleys Stück Time and the Conways (Die Zeit und die Conways) und Esther McCrackens leichte Komödie Quiet Wedding (Friedliche Hochzeit) Premiere. 1942 führte das Schauspielhaus Emlyn Williams’ sentimentales Drama The Morning Star (Der Morgenstern) nur eine Woche, nachdem es am Broadway geschlossen hatte, zum ersten Mal auf, und 1944 fand die Premiere der sentimentalen Liebesgeschichte Jupiter Laughs (Jupiter lacht) des schottischen Autors A. J. Cronin statt. All diese Theaterstücke waren zu ihrer Zeit beliebt, werden aber nicht mehr regelmäßig aufgeführt. Unter den bedeutenden Figuren des Theaterwesens war George Bernard Shaw der beliebteste britische Autor in Zürich; neun seiner Stücke wurden zwischen 1933 und 1964 produziert, unter anderem 1935 die deutschsprachige Premiere von You never can tell (Man kann nie wissen) und 1934 bzw. 1948 die Weltpremieren von Village Wooing (Ländliche 32

  Chistèle Barbier, „L’année du Soulier de satin: Le Soulier de satin au théâtre et au cinéma“, http://www.paul-claudel.net / actualite / lannee-du-soulier-de-satin#theatre, (Letzter Zugriff 3.1.2015).

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Werbung) und von Shaws letztem Stück, Buoyant Billions (Zu viel Geld). Aber Shaw war zu diesem Zeitpunkt kaum ein „moderner“ Schriftsteller; seine Werke reflektierten eine Form und Ästhetik des frühen 20. Jahrhunderts. Der experimentellste und modernste der zeitgenössischen britischen Autoren, die an der Pfauenbühne inszeniert wurden, war T. S. Eliot. Die deutschsprachige Uraufführung seines Stücks The Family Reunion (Die Familienfeier) fand 1945 in Zürich statt; Murder in the Cathedral (als Der Mord in der Kathedrale übersetzt) wurde zum ersten Mal 1947 in Zürich aufgeführt.33 Die Familienfeier, ein Stück, das den Orestes-Mythos durch die Geschichte einer britischen Familie neu erzählt, experimentiert mit Blankversen, expressionistischen Bewusstseinsverlagerungen und der Nebeneinanderstellung mythischer Figuren und des modernen Lebens. Der Mord in der Kathedrale ist ein Versdrama, dessen Handlung sich mit der Ermordung des Erzbischofs von Canterbury im 12. Jahrhundert, Thomas Becket, befasst; thematisch handelt das Stück von individueller Integrität und der Verantwortung, die mit der Macht einhergeht – Themen, die nach dem Krieg besonders angemessen erschienen.34 In seinen Reden und Schriften zum Theater erwähnt Hirschfeld Eliot im Zusammenhang mit anderen modernen fremdsprachigen Schriftstellern als einen Dramatiker, dessen formale Experimente immer den Zweck haben, die Aufmerksamkeit des Publikums zu erregen: „Ihr Anliegen ist immer aufmerken zu lassen, zum Nachdenken zu zwingen, die Bereitschaft des Publikums zum Einfühlen, zum Mitgehen, zu unterbrechen, um ein Denken zu provozieren. Ihre Funktion ist, das Publikum aktiv zu machen.“35 Sogar noch mehr als die britischen Schriftsteller spielten die amerikanischen Autoren eine prominente Rolle im Repertoire des Schauspielhauses, und tatsächlich ist Hirschfeld und Wälterlin der Verdienst zuzuschreiben, viele der bedeutendsten amerikanischen Dramatiker des 20. Jahrhunderts ins europäische Blickfeld gerückt zu haben. Einer der frühesten „Importe“ 33   Die erste deutsche Produktion von Murder in the Cathedral basierte auf Rudolf Alexander Schröders Übersetzung des Stücks, Mord im Dom, 1939 in Basel. Die Zürcher Produktion hatte im Deutschen einen anderen Titel und stammt vermutlich von einem anderen Übersetzer. Vier Monate nach der Zürcher Produktion behauptete Der Spiegel (fälschlich), dass Produktionen in Köln und Göttingen die Ehre der „deutsche[n] Erstaufführung“ zukomme. („Vierfache Versuchung“, Der Spiegel, 43 / 1947 (25.10.1947), 16, in: http://www.spiegel.de / spiegel / print / d‑41123371.html [Letzter Zugriff 11.7.2016]). 34   Zudem wurden Eliots spätere, zugänglichere Stücke The Cocktail Party, The Confidential Clerk und The Elder Statesman in der Schweiz auch zum ersten Mal an der Pfauenbühne aufgeführt, jeweils 1951, 1954 und 1960. 35   Kurt Hirschfeld, „Probleme der neueren Dramaturgie“, [Rede], n. d.; Kurt Hirschfeld Collection; AR 7066 / MF 608; IV / 19; Leo Baeck Institute. http://www.archive.org /  stream / kurtkirschfeld_01_reel09#page / n884 / mode / 1up, (Letzter Zugriff 1.7.2016), 19.

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aus den Vereinigten Staaten war Thornton Wilders Stück Our Town. Dieses Stück wurde ursprünglich im Januar 1938 in New Jersey uraufgeführt und zog einen Monat später nach New York City; dann hatte es eine erfolgreiche zehnmonatige Laufzeit am Broadway, und Wilder gewann 1938 den Pulitzer Prize for Drama dafür. Aber Our Town hatte schon lange eine Verbindung zu Zürich, bevor es im März 1939, nur drei Monate, nachdem es in New York beendet worden war, dort eröffnet wurde. Wilder schrieb einen Großteil – und vielleicht den ganzen letzten Akt –, während er im Herbst 1937 in einem Hotel in Rüschlikon logierte.36 Bekanntlich hatte Wilder gute Beziehungen zu den literarischen und künstlerischen Berühmtheiten der Zeit: Er war mit Gertrude Stein, Alice B. Toklas und dem deutschen Regisseur Max Reinhardt befreundet, durch den er mit Thomas Mann bekannt wurde, der 1937 noch in der Nähe von Zürich lebte und das soziale Umfeld mit Hirschfeld teilte.37 Möglicherweise kam es durch Mann dazu, dass Wilder und Hirschfeld eine freundschaftliche und lang andauernde professionelle Beziehung entwickelten; 1950, nach dem Krieg, stellte Hirschfeld Wilder seinem Freund Hans Sahl vor, der Wilders Stücke sowie die Werke vieler anderer bedeutender amerikanischer Dramatiker, unter ihnen Tennessee Williams und Arthur Miller, alle noch einmal ins Deutsche übersetzte.38 Die Version jedoch, die 1939 am Schauspielhaus produziert wurde, wurde von Wilfried Scheitlin übersetzt, einem der Schauspieler der Kompanie und manchen Quellen zufolge Oskar Wälterlins Lebenspartner.39 Wilders Our Town ist ein beliebter Klassiker des heutigen amerikanischen Kanons; fast jeder Oberschüler im ganzen Land liest es, und es wird noch immer regelmäßig aufgeführt, in Schulen, kommunalen Theatern, professio­ nellen Regionaltheatern und, erst 2002, auf dem Broadway, mit Film­idol Paul Newman als Stage Manager (Bühnenmanager). In seiner Darstellung von, wie Wilder es formuliert, „allen großen Themen“ des Lebens in einem „kleinen Stück“, formuliert das Drama fesselnde Fragen von allgemeingültiger 36

  Penelope Niven, Thornton Wilder: A Life, New York 2012, 442 (= Niven, Thornton Wilder); Schoop, Das Zürcher Schauspielhaus im Zweiten Weltkrieg, 129. 37   „‚Mit K. und Medi zum Abendessen bei Oprechts. Silone, Kahler, Hirschfeld, später die Giehse und Kalser,‘ liest man in Thomas Manns Tagebuch vom 26.5.1937.“ Huonker, „Emigranten – Wege, Schicksale, Wirkungen“, 117. 38   Siehe Briefwechsel zwischen Kurt Hirschfeld und Hans Sahl, 7. Februar 1950 – 6. März 1950, Kurt Hirschfeld Collection; AR 7066 / MF 608; I / 1; Leo Baeck Institute. http://www.ar chive.org / stream / kurtkirschfeld_01_reel01#page / n629 / mode / 1up, (Letzter Zugriff 11.  Juli 2016). 39   Brief von Kurt Hirschfeld an Hans Sahl, 7. Februar 1950. Kurt Hirschfeld Collection; AR 7066 / MF 608; I / 1; Leo Baeck Institute. http://www.archive.org / stream / kurtkirschfeld_ 01_reel01#page / n630 / mode / 1up, (Letzter Zugriff 11.7.2016).

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Bedeutung.40 Hirschfeld und Wälterlin waren vorausschauend, indem sie diesen Reiz erkannten: Die Produktion am Zürcher Schauspielhaus war eine der ersten außerhalb der USA. Es war auch eines der ersten Stücke, bei denen Wälterlin am Schauspielhaus Regie führte. Das Stück, welches Wälterlin als „ein bürgerliches Mysterium von heute“41 bezeichnete, lässt den Zuschauer in die sehr gewöhnlichen, sehr undramatischen Leben der Bewohner einer kleinen Stadt in New England im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eintauchen. Was dem Material Größe verleiht, ist die Freiheit, die sich Wilder mit der dramatischen Form nimmt: Er präsentiert die Handlung des Stücks auf einer leeren, nur mit Stühlen und Leitern ausgestatteten Bühne und einem Erzähler, dem Stage Manager, der die Handlung einführt, unterbricht und leitet (sowie in Schlüsselmomenten dazu dient, uns daran zu erinnern, dass wir einem Theaterstück zuschauen). Das Stück wurde vom Zürcher Publikum relativ gut angenommen, obwohl, einem Essay in den HirschfeldArchiven zufolge, „[das] Werk [. . .] durch Form und Inhalt die Zuschauer im ersten Augenblick verblüfft [hat].“42 Doch fährt der Autor dann fort: Wer sich aber mit ihm eingehender befasste, war hingerissen von seiner schlichten und doch durch seine Mannigfaltigkeit packenden Ausdrucksweise und tief beeindruckt von den dargestellten Erkenntnissen des menschlichen Lebens, seiner Grenzen und seiner Verbindungen mit einem Übermenschlichen.43

Auf jeden Fall hatte das Stück den erwünschten Effekt, Diskussion unter den Zuschauern anzuregen: In einem für das Schweizer Monatsmagazin Du geschriebenen Artikel erinnert sich Wälterlin, dass die Theaterleitung einen neuen Raum für die Diskussion des Stücks finden musste, einen, der groß genug war, um alle diejenigen unterzubringen, die teilnehmen wollten.44 Und obwohl das Stück nur zehn Aufführungen hatte, gewann es einen materiellen Einfluss, der über den psychosozialen Effekt auf das Publikum, 40

 Niven, Thornton Wilder, 440.  Mittenzwei, Das Zürcher Schauspielhaus 1933 – 1945, 134. 42   „Zu Thornton Wilder’s Werk Wir sind noch einmal davongekommen (The Skin of Our Teeth)“, Autor unbekannt, n. d.; Kurt Hirschfeld Collection; AR 7066 / MF 608; VI / 9; Leo Baeck Institute. http://www.archive.org / stream / kurtkirschfeld_01_reel10#page / n1103 / mo de / 1up, (Letzter Zugriff 11.7.2016), 1. Es scheint, dass dieser Essay für das Programm der 1944er Zürcher Produktion von Wir sind noch einmal davongekommen geschrieben wurde, und es ist möglich, dass er von Hirschfeld verfasst wurde. Alternativ kann es sein, dass dies der Text der Rede ist, die Wälterlin vor dem Zürcher Theaterverein am 6. März 1944 hielt, welche Schoop auf S. 128 beschreibt; die Zitate dieser Rede, die Schoop erwähnt, erscheinen allerdings nicht in diesem Dokument. 43   „Zu Thornton Wilders Werk“, 1. 44   Siehe Schoop, Das Zürcher Schauspielhaus im Zweiten Weltkrieg, 129 und 209 Anmerkung 377. Der zitierte Aufsatz ist: Oskar Wälterlin, „Die letzte Probe“, Du Nr. 10 (1942), 66. 41

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das es gesehen hatte, hinausging: Laut Nivens Wilder Biografie, suchte er, als NS-Deutschland im September 1939 Polen besetzte, „nach einer selbst noch so kleinen Art zu helfen [. . .] und traf Vereinbarungen, seine Schweizer Our Town Tantiemen einem Austro-deutschen Exilfonds zu geben“, ein Akt der Großzügigkeit, der Hirschfeld und dem Rest der Zürcher Exilgesellschaft nicht unbekannt geblieben sein kann.45 Eine größere Wirkung auf das europäische Theater (und die europäische Kultur) entfaltete Wilders zweites bedeutendes Stück, The Skin of Our Teeth (Wir sind noch einmal davongekommen), welches gleichfalls seine deutschsprachige Uraufführung an der Pfauenbühne hatte, im März 1944, nur sechs Monate, nachdem das Stück am Broadway abgesetzt worden war. Das Stück machte in den USA ziemlich Furore, und Wilder gewann 1943 seinen dritten Pulitzer-Preis. In einer Radiosendung, die auf die Geschichte des Schauspielhauses zurückblickte, beschrieb Hirschfeld 1963 die Anstrengungen, die er unternehmen musste, um eine Kopie von Wilders Stück zu bekommen. Die stichwortartigen Notizen zu dem Interview lauten wie folgt: „1944. Im Krieg keine direkte Postverbindung mit Amerika. Leg. Rat Amerikanischer ließ Stück über Schweden nach Bern Botschaft schicken. Kleine photografierte Platten, die erst abgeschrieben werden mussten.“46 Das Schauspielhaus gab dieses Stück Gentiane Helene Gebser (Frau des Exilpoeten und Philosophen Jean Gebser) zur Übersetzung, und wieder führte Oskar Wälterlin Regie. Sowohl der Form als auch dem Inhalt nach ist Wir sind noch einmal davongekommen weit komplizierter und herausfordernder als Our town. Die Handlung folgt einer gewöhnlichen amerikanischen Familie – der Familie Antrobus, Bewohner der Vorstadtenklave Excelsior, New Jersey –, die drei anachronistische, verheerende Ereignisse überlebt: die Eiszeit im ersten Akt, die Sintflut im zweiten Akt und einen katastrophalen Krieg im dritten Akt. Das Stück handelt vom menschlichen Überleben und sieht die menschliche Befähigung, mit Konflikten und Krisen umzugehen, zugleich aus einer hoffnungsvollen und einer zynischen Perspektive. Im Essay zu Wilder in Hirschfelds Nachlass heißt es dazu: Wir sind noch einmal davongekommen zeigt uns in Mr. Antrobus unser Abbild, unsere Wirren und unsere Verstrickungen in die heutige Katastrophe, unsere Verhaftung in Vergangenheit und Tradition, unsere Auflehnung gegen sie, den Kampf 45

 Niven, Thornton Wilder, 478.  „25 Jahre Schauspielhaus“, [Radiosendung Abschrift], Kurt Hirschfeld und Gert Westphal, 1963; Kurt Hirschfeld Collection; AR 7066 / MF 608; IV / 17; Leo Baeck Institute. http://www.archive.org / stream / kurtkirschfeld_01_reel09#page / n854 / mode / 1up, (Letzter Zugriff 11.7.2016). 46

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und die Schuld, die daraus entstehen, den ewigen Aufbruch, diesen zu entkommen, und den unerschütterlichen Glauben an den Wiederaufbau.47

Die offene Form des Stücks, das Elemente von Farce, Burleske, Satire, Commedia dell’arte und von Pirandello und Brecht stiehlt, erlaubte dem Drama, die Geschichte auf eine distanzierte Art zu reflektieren, die ein Zürcher Publikum 1944 besonders ergreifend ansprach. Der Autor des Essays bemerkt, mit diesem Stück sei es Wilder wohl als Erstem gelungen, den nötigen Abstand zu halten, von den uns erdrückenden Ereignissen und die über uns hereingebrochene Katastrophe aus dem menschlichen Wesen abzuleiten. Er distanziert sich dabei nicht nur von der von Tag zu Tag zur Geschichte werdenden Gegenwart, er reflektiert die Gegenwart rückwärts auf bekannte Begebenheiten der Geschichte und Vorgeschichte und er projiziert umgekehrt die Vergangenheit auf das, was wir heute erleben.48

Vielleicht wurde Wir sind noch einmal davongekommen aus diesem Grund zu einem der beliebtesten amerikanischen Theaterstücke im deutschen Nachkriegsrepertoire und half, Wilders Status als einer der zu seinen Lebzeiten am höchsten angesehenen amerikanischen Autoren in Deutschland zu verfestigen. Dass das Schauspielhaus dieses Stück einem deutschsprachigen Publikum in der Schweiz vorstellte, diente also dazu, der Theaterkultur Nachkriegsdeutschlands eine wichtige Stimme zuzuführen: die Stimme von einem der „bedeutendste[n] Vorkämpfer für ein [. . .] Theater, in dem wir uns zusammenfinden, um den Weg anzutreten, der uns wegführt von Spaltung und Trennung zu einer erlösenden Klarheit, zu einer unentwegten Bejahung von allem, was im wahren Sinne Leben heisst [. . .].“49 Etwas überraschenderweise war der amerikanische Schriftsteller, dessen Werke während des Krieges auf die größte Resonanz beim Schweizer Publikum trafen, John Steinbeck, der seinen Roman The Moon is Down (Der Mond ging unter) 1942 für die Bühne adaptierte; das Stück wurde im Oktober 1943 auf Deutsch in Basel uraufgeführt und im Dezember des gleichen Jahres an der Pfauenbühne präsentiert.50 Es erzählt die Geschichte des Widerstands der Bewohner einer kleinen Stadt im Norden Europas gegen militärische Besatzung und ist eine kaum verhüllte Darstellung der nationalsozialistischen Unterdrückung, so dass es einem Verstoß gegen die Schwei47

  „Zu Thornton Wilders Werk“, 5.   „Zu Thornton Wilders Werk“, 2. 49   „Zu Thornton Wilders Werk“, 16 – 17. 50   Ursprünglich wurde Steinbecks Roman auf eine Bitte des US Foreign Information Service als Propaganda-Antwort geschrieben. Siehe Donald Coers V., John Steinbeck Goes to War: The Moon is Down as Propaganda, Tuscaloosa, Alabama 2006. 48

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zer Neutralität gefährlich nahe kam; durch einen Glücksfall, so schildert Curt Riess die Geschichte, hielt General Guisan das Stück für „geradezu die ideale geistige Landesverteidigung“ und stimmte seiner Produktion zu.51 Der Mond ging unter war ein sensationeller Erfolg; es wurde 47 Mal in Basel gespielt und hatte in Zürich 91 Aufführungen – mehr als jedes andere Stück während des gesamten Krieges. Der Historiker Günther Schoop bemerkt: „Nicht ein einziges Schauspiel hat während der sechs Kriegsjahre auch nur annähernd die Aufführungsziffern von Der Mond ging unter erreicht“; und weil das Stück auch im ganzen Land auf Tournee ging, oft ohne Eintrittsgeld, erreichte es, was Guisan sich wünschte: „[es leistete] einen der bedeutendsten Beiträge zur geistigen Landesverteidigung der Schweiz während des zweiten Weltkrieges.“52 Später spielte Hirschfeld oft auf den fast universellen Reiz des Stückes für ein heterogenes und oft schwer zu befriedigendes Publikum an; in seinem Essay „Dramaturgische Bilanz“, zum Beispiel, bemerkte er, dass es einfach war, bei Der Mond ging unter einen Konsens zu finden, auf dem man die Diskussion aufbauen konnte, denn „[i]m Beispiel eines realen Schauspiels zeigte sich Wirkung und Gegenwirkung, zeichnete sich der Sieg der guten Kräfte gegen die Macht, die mehr als böse war, ab.“53 Dass das Stück begeistert aufgenommen wurde, leitete sich teilweise aus der Stärke der Inszenierung ab, die Heinrich Gretler, der beim einheimischen Publikum für seine Darstellung Wilhelm Tells beliebt war, in der Hauptrolle als den aufrechten Bürgermeister, der am Ende des Stücks den Märtyrertod stirbt, zeigte.54 Aber mehr noch wurde das Stück plötzlich thematisch brennend aktuell, als die nationalsozialistische Obrigkeit in Norwegen am Tag, bevor es in Zürich Premiere hatte, fast alle Studenten und Professoren an der Osloer Universität – zwischen 1200 und 1500 Menschen – festnahm und die Universität schloss. Die Nachrichten rüttelten Studenten an der Zürcher Universität auf, die vereint ihre Solidarität mit ihren norwegischen Kommilitonen ausdrückten. Wie Schoop feststellt, war „das enge Verhältnis von Spielplan und Zeitgeschichte [. . .] nie deutlicher spürbar als in diesen Dezembertagen, da das Schauspielhaus mit Steinbecks Drama kündend und mahnend in leidvollster Gegenwart stand.“55 Während Steinbecks Stück 51

 Riess, Das Schauspielhaus Zürich, 195.  Schoop, Das Zürcher Schauspielhaus im Zweiten Weltkrieg, 120 – 121. 53   Hirschfeld, „Dramaturgische Bilanz“, 14. 54   Gretler, bemerkt Schoop, „[hat] sicher niemals reiner sein Volksschauspielertum unter Beweis stellen können als in der Rolle des [. . .] Bürgermeisters.“ Schoop, Das Zürcher Schauspielhaus im Zweiten Weltkrieg, 122. 55  Schoop, Das Zürcher Schauspielhaus im Zweiten Weltkrieg, 123. Siehe auch Riess, Das Schauspielhaus Zürich, 194 – 198. 52

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seitdem in Vergessenheit geraten ist, lebt es in der Geschichte als eines der bedeutendsten und politisch gezieltesten Produktionen des Schauspielhauses während des Krieges weiter. In den Nachkriegsjahren nahm Hirschfeld weiter eine Auswahl an internationalen Theaterstücken in das Programm auf, sowohl aus praktischen als auch aus philosophischen Gründen. Auf der praktischen Seite enthüllte das Ende des Krieges nicht nur die materielle, sondern auch die kulturelle Zerstörung, die die Nationalsozialisten angerichtet hatten. In seiner Rede „Perspektiven des deutschen Theaters“, die er, wie es scheint, unmittelbar nach Kriegsende schrieb, erklärt Hirschfeld: „Wir haben einmal geglaubt, dass, wenn dieser Krieg zu Ende ist und der Nationalsozialismus erledigt, werden sich die Schubladen auftun, und es wird manches Gute aus ihnen herauskommen, das in den Jahren der Bedrückung geschrieben worden war. Bis jetzt haben wir leider noch nichts davon zu spüren bekommen.“56 In der Zwischenzeit, versprach er, würden sie weiter im Ausland nach modernen Autoren suchen, deren Stücke „die Grundlage von Gespräch und Diskussion bilden können.“57 Hirschfelds Briefwechsel aus den Nachkriegsjahren zeigt, dass er unermüdlich seine Kontakte mit Bekannten in New York, Paris und London pflegte, um Empfehlungen für neue Stücke zu bekommen und die Rechte für die Uraufführungen ausländischer Werke an der Pfauenbühne zu sichern. In den Jahren nach Kriegsende zeigte das Schauspielhaus weiter Uraufführungen neuer Stücke der französischen Autoren Sartre, Claudel und Giraudoux und nahm zusätzlich Jean Cocteau, Jean Anouilh und Albert Camus in das deutsche Theaterrepertoire auf.58 Außerdem hatten in den Nachkriegsjahren neue Stücke der britischen Schriftsteller Christopher Fry und Peter Ustinov, der italienischen Dramatiker Luigi Pirandello und Silvio Giovaninetti und der spanischen Dramatiker Alejandro Casona und Federico García Lorca, unter anderen, Premiere in deutscher Sprache. Aber der vielleicht größte Dienst, den die Pfauenbühne den europäischen Nachkriegstheatern leistete, erwuchs aus seiner Einführung einer Reihe neuer amerikanischer Stücke und Autoren, Werke von Dramatikern wie William Faulkner, Eugene O’Neill, John Osborne, William Saroyan und insbesondere Tennessee Williams sowie Arthur Miller. Der deutsche Übersetzer aller dieser amerikanischen Dramatiker war Hirschfelds lebenslanger Freund Hans Sahl, der 1942 nach New York emigriert war. Er half Hirschfeld oft dabei, 56

  Hirschfeld, „Perspektiven des deutschen Theaters“, 10.   Hirschfeld, „Perspektiven des deutschen Theaters“, 8. 58   Unter den deutschsprachigen Premieren waren 1946 Jean Cocteaus Der Doppeladler, 1947 Jean Anouilhs Eurydike und 1950 Albert Camus’ Stück Die Gerechten. 57

Das Zürcher Schauspielhaus als Welttheater – Kurt Hirschfeld als Weltdramaturg 137

die deutschsprachigen, und in manchen Fällen europäischen, Rechte an den Premieren der amerikanischen Theaterstücke zu bekommen. Im Januar 1947 war das Zürcher Publikum unter den ersten Europäern, die Williams’ Stück The Glass Menagerie (Die Glasmenagerie) sahen, und im November 1949 fand am Schauspielhaus die deutschsprachige Uraufführung von A Streetcar Named Desire (Endstation Sehnsucht) statt, einen Monat vor der letzten Vorstellung des Stücks am Broadway in New York.59 Arthur Millers Death of a Salesman (Tod eines Handlungsreisenden) wurde in der gleichen Saison uraufgeführt, in einer der allerersten Produktionen, die Millers Meisterwerk einem nicht-englischsprachigen Publikum vorstellten.60 Aus Anhaltspunkten in seinem Archiv lässt sich ableiten, dass Hirschfeld selbst kein großer Bewunderer von Williams oder Miller war: Er betrachtete beide als „zweitrangig.“61 In einem Brief erinnert er seinen Freund Hans Sahl an eine gemeinsame Unterhaltung, in der „Ich [. . .] Dir hier ziemlich genau entwickelt [habe], was ich gegen ‚Death of a Salesman‘ habe“62, und in einem anderen Brief bemerkt er, sich auf Williams beziehend: „Wir sind keine grossen Liebhaber von diesem Autor.“63 Trotzdem erkannte Hirschfeld den Wert der Werke dieser beiden Autoren; in seinem Vortrag „Probleme der modernen Dramaturgie“ bemerkt er, man finde in ihren Stücken eine

59   Die deutschsprachige Premiere von Die Glasmenagerie fand am Basel Stadttheater am 17. Oktober 1946 statt. 60   Die deutschsprachige Premiere von Millers Stück fand im frühen März 1950 in Wien statt, in einer von Ferdinand Bruckner übersetzten Version (siehe „Kunst und Kultur: Der Tod des Handlungsreisenden“, Arbeiter-Zeitung, Wien, 4. März 1950, S. 5, http://www.arbei ter-zeitung.at / cgi-bin / archiv / flash.pl?year=1950&month=3&day=1&page=08&html=1 [Letzter Zugriff 11.7.2016]); die Zürcher Produktion feierte ungefähr zwei Wochen später Premiere. In den fünfziger Jahren fanden in Zürich auch die ersten deutschsprachigen Produktionen einiger von Eugene O’Neills bedeutenden Stücken statt, unter anderem The Iceman Cometh (Der Eismann kommt), A Moon for the Misbegotten (Ein Mond für die Beladenen) – bei beiden führte Hirschfeld selbst Regie – und Desire Under the Elms (Gier unter Ulmen). 61   Fragment einer Rede, n. d. Kurt Hirschfeld Collection; AR 7066 / MF 608; IV / 15; Leo Baeck Institute. http://www.archive.org / stream / kurtkirschfeld_01_reel09#page / n752 / mo de / 1up, (Letzter Zugriff 11.7.2016). 62   Brief von Hirschfeld an Hans Sahl, 23. Dezember 1949. Kurt Hirschfeld Collection; AR 7066 / MF 608; I / 1; Leo Baeck Institute. http://www.archive.org / stream / kurtkirschfeld_ 01_reel01#page / n634 / mode / 1up, (Letzter Zugriff 11.7.2016). 63   Brief von Hirschfeld an Hans Sahl, 13. März 1959. Kurt Hirschfeld Collection; AR 7066 / MF 608; I / 14; Leo Baeck Institute. http://www.archive.org / stream / kurtkirschfeld_ 01_reel05#page / n287 / mode / 1up, (Letzter Zugriff 11.7.2016).

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brutale Realität, vielleicht für unseren Geschmack etwas zu brutal. Aber die amerikanischen Schriftsteller wissen, dass manche Dinge, die zu sagen sind, selbst auf Kosten des Aesthetischen deutlich gesagt werden müssen. [. . .] Wir dürfen uns durch die Deutlichkeit dieser Stücke nicht beirren lassen. Hier wächst eine dramaturgische und theatralische Kultur, die überwuchert und überdeckt ist von vielem Negativen, aber die in ihren wenigen Vertretern Möglichkeiten zeigt, denen wir uns bei einer Uebersicht über die internationale Dramaturgie nicht verschliessen dürfen.64

Sicher ist das ziemlich schwaches und zweideutiges Lob; aber, wie sich herausstellt, sowohl scharfsinnig als auch prophetisch. Und das bringt uns zu den abschließenden Bemerkungen, die ich zum Status des Schauspielhauses als „Welttheater“ und Hirschfelds Rolle als „Weltdramaturg“ machen möchte. Erstens lässt sich ihr Einfluss auf das europäi­ sche Nachkriegstheater kaum überbewerten. Indem Hirschfeld moderne internationale Werke im Programm aufnahm, erhielt er eine künstlerische und philosophische Kontinuität am Schauspielhaus aufrecht, die es dem Theater als Kunstform erlaubte, sich in Europa fortzuentwickeln, trotz der Tatsache, dass fast jedes andere europäische Theater auf dem Kontinent entweder geschlossen oder unter faschistischer Kontrolle war.65 Schweizer und deutsche Theaterhistoriker haben den Einfluss des Schauspielhauses auf das deutsche Nachkriegstheater seit langem erkannt. Wie Henning Rischbieter 1984 bemerkte, wurde in Zürich im Kriege und in den ersten Nachkriegsjahren vorformuliert, was nach 1945 den Anteil der zeitgenössischen internationalen Dramatik an den Spielplänen der deutschen Bühnen bildete, jedenfalls der drei westlichen Besatzungszonen. [Kurt Hirschfeld] hat eine aus Not geborene, einmalige Dramaturgenchance gesehen und grandios genutzt; er hat die Spielplanstruktur des westdeutschen Nachkriegstheaters entscheidend vorgeprägt.66 64

  Hirschfeld, „Probleme der modernen Dramaturgie“, 16 – 17.   Cf. Christopher Innes, „Theatre after Two World Wars“, in: John Russell Brown (Hg.), The Oxford Illustrated History of the Theatre, New York 2001, 420 (= Innes, Theatre after Two World Wars): „Of all Europe, only Switzerland, secure in its neutrality and still prospering, continued the line of development that had flourished in the 1930s.“ Siehe auch HansRudolf Hilty, „Schauspielhaus Zürich 1939 – 1945: Leuchtende Kiesel im Flussbett der Erinnerung“, in: Dieter Bachmann / Rolf Schneider (Hgg.), Das verschonte Haus: Das Zürcher Schauspielhaus im Zweiten Weltkrieg, Zürich 1987, 43. 66   Henning Rischbieter, „Dramaturgie Heute: Zur Geschichte der Dramaturgie“, Dramaturg. Nachrichten der Dramaturgischen Gesellschaft (2 / 1996), 7. Auch Kröger / Exinger, Zeiten, 78, äußern diese Einschätzung: „Dieser Spielplan, viel gerühmt, ist nach Kriegsende deutschen und österreichischen Bühnen Vorbild“; wie auch andere Historiker (z. B. Mittenzwei, Das Zürcher Schauspielhaus 1933 – 1945, 192; Rolf Schneider, „Das Zürcher Schauspielhaus und das Theater in der Bundesrepublik,“ in: Dieter Bachmann / Rolf Schneider (Hgg.), Das verschonte Haus: Das Zürcher Schauspielhaus im Zweiten Weltkrieg, Zürich 65

Das Zürcher Schauspielhaus als Welttheater – Kurt Hirschfeld als Weltdramaturg 139

Doch wie Christopher Innes festgestellt hat, hatte Hirschfelds engagierter Import neuer amerikanischer Stücke in die Schweiz darüber hinaus auch einen tiefen Einfluss auf das europäische Nachkriegstheater als Ganzes. Amerikanische Schriftsteller „dienten als Vorbilder einer neuen stilistischen Freiheit und sozialen Relevanz, die dazu beitrug, das Theater anderswo zu befreien. Ihre Arbeiten wurden in allen europäischen Zentren aufgeführt, die während des Krieges von fremden Entwicklungen abgeschnitten waren [. . .]. Zusammen mit Thornton Wilder waren Miller und Williams der allgemeine Katalysator einer Wiederbelebung in Europa.“67 Diese Dramatiker gingen hauptsächlich durch das Zürcher Schauspielhaus in das europäische Theater ein, und trotz aller persönlicher Bedenken, die Hirschfeld gegenüber einigen ihrer Stücke gehabt haben mag, verstand er ihre Bedeutung sowohl für die Pfauenbühne als auch für die Theatergeschichte: „Gibt es denn gar nichts Neues in Amerika?“, fleht er in einem Brief an Hans Sahl vom Januar 1951, „Wir werden in der kommenden Spielzeit in eine rechte Verlegenheit geraten, wenn wir nicht mindestens 2 anständige Stücke von drüben importieren können.“ 68 Die amerikanischen Autoren, die Hirschfeld durch seine Netzwerke von New Yorker Informanten entdeckte, zogen nicht nur Publikum an, sondern brachten auch dringend benötigte frische Energie in die europäische Theaterszene. Zudem war die Auswahl der modernen, internationalen Stücke, die am Schauspielhaus produziert wurden, fruchtbare Erde für das Aufblühen zweier großer Schweizer Dramatiker der Nachkriegsperiode, Dürrenmatt und Frisch, deren Stücke klar den Einfluss der Wirkung von Autoren wie 1987, 51). Zürichs Einfluss war konkret: Riess berichtet darüber, dass Mitglieder des Zürcher Ensembles unmittelbar nach Kriegsende aktiv wurden, um ihren Künstlerkollegen in Deutschland nicht nur Essen und Kleidung, sondern auch die Materialien, die diese brauchten, um Theater zu spielen – vor allem Manuskripte – zu beschaffen: „Brecht, Giraudoux, Sartre, Wilder, Friedrich Wolf, Ferdinand Bruckner. Die Schauspieler sassen nächtelang und tippten die Textbücher mühselig mit zwei Fingern [. . .]“. Riess, Das Schauspielhaus Zürich, 207 / 208. Auf ähnliche Weise beschreibt Hilde Haider die Hilfe, die die Zürcher Schauspieler Wien boten, indem sie Wälterlin zitiert: „Es waren Ernten vieler Jahre, die wir hinüberfliessen lassen können zur freien Wahl. Wir hatten aus Ländern der verschiedensten Sprachen Wesentliches ausgesucht und übersetzen lassen. Und nun ist der Spielplan der Wiener Bühnen plötzlich angefüllt [. . .]“. Hilde Haider, „Das Zürcher Schauspielhaus und das Theater in Österreich“, in: Dieter Bachmann / Rolf Schneider (Hgg.), Das verschonte Haus: Das Zürcher Schauspielhaus im Zweiten Weltkrieg, Zürich 1987, 55. Siehe auch Kröger / Exinger, Zeiten, 88 ff. 67   Innes, „Theatre after Two World Wars“, 423. 68   Brief von Hirschfeld an Hans Sahl, 9. Januar 1951. Kurt Hirschfeld Collection; AR 7066 / MF 608; I / 1; Leo Baeck Institute. http://www.archive.org / stream / kurtkirschfeld_01_ reel01#page / n610 / mode / 1up, (Letzter Zugriff 11.7.2016).

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Wilder, Brecht und Pirandello zeigen.69 Hirschfeld hatte recht: Es gab wirklich keine deutschen Stücke, die in Schubladen oder auf Dachböden versteckt darauf warteten, in der unmittelbaren Nachkriegszeit produziert zu werden; im Wesentlichen waren es Dürrenmatt und Frisch, die das deutschsprachige Theater nach dem Krieg wieder in Gang brachten.70 So dehnt sich Hirschfelds Vermächtnis nicht nur auf die „Spielplanstruktur“ des deutschen Nachkriegstheaters aus, sondern es beeinflusst auch eine Generation deutscher und österreichischer Dramatiker: Schriftsteller wie Peter Handke, Peter Weiss und Günter Grass, deren eigenes Schaffen auf den formalen Innovationen und thematischen Provokationen, die man bei Frisch und Dürrenmatt findet, aufbaut. Und schließlich kann man Hirschfelds Einfluss vielleicht auch darin sehen, dass so viele der Werke, die er in das Programm aufnahm, im 20. Jahrhundert kanonischen Status erreichten. Im Nachhinein liegt seine Erfolgs­ bilanz darin, dass er Stücke auswählte, die später Teil des Theaterkanons wurden. Von den circa sechsunddreißig amerikanischen Werken, die während seiner Amtszeit produziert wurden, werden siebzehn – also ungefähr die Hälfte – mehr als ein halbes Jahrhundert später weiter regelmäßig auf die Bühne gebracht, und einige werden weltweit als amerikanische Klassiker angesehen. Im Hinblick auf die französischen Autoren, deren Stücke an der Pfauenbühne aufgeführt wurden, haben Sartre und Anouilh feste Plätze im französischen Kanon, und während Claudel weiterhin in deutschsprachigen Gebieten bekannter ist als anderswo, gehören Sartre, Giraudoux und Anouilh regelmäßig zum Theaterrepertoire in Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Europa. Und obwohl nur drei zeitgenössische spanische Stücke während der hier betrachteten Zeit in Zürich produziert wurden, gehören zwei davon  – Lorcas La Casa de Bernarda Albe (Bernarda Albas Haus) und seine Bodas de Sangre (Bluthochzeit) – zum internationalen Kanon. Da dramatische Literatur hauptsächlich durch Inszenierungen in den Kanon eingeht, können wir die These zur Diskussion stellen, dass Hirschfelds Aufnahme aller dieser Werke im Spielplan der Pfauenbühne entscheidend dafür war, ihnen die Beachtung und Anerkennung zu verschaffen, die zu ihrer „Kanonisierung“ beitrugen. Das ist natürlich gewissermaßen ein historisches Henne-Ei-Problem, denn wir können die Geschichte nicht zurückdrehen, um herauszufinden, ob diese Stücke ohne ihr Debüt am Schauspielhaus ein Nachleben gehabt hätten. Aber bedenken wir Mittenzweis Worte – „All die Stücke der bürgerliche Moderne, die in den ersten 69

  Cf. Mittenzwei, Das Zürcher Schauspielhaus 1933 – 1945, 192.   Siehe Brockett, History of the Theatre, 553.

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Nachkriegsjahren die Spielpläne der deutschen Theater und die Publikumsinteressen bestimmten, kamen während der Direktion Wälterlins im Pfauentheater zur Aufführung“71 –, so scheint die Überlegung auf jeden Fall nicht zu weit hergeholt, dass das Zürcher Schauspielhaus durch die Programm­ gestaltung des Dramaturgen Kurt Hirschfeld dazu beigetragen hat, den westlichen Theaterkanon der Jahrhundertmitte zu formen und zu bestimmen.72 Das mag eine zu gewagte Behauptung sein; es ist sicherlich eine, für die wir nie ausreichend Beweise haben werden. Aber zweifellos ist es wahr, dass während und unmittelbar nach dem Krieg eine Reihe westlicher Dramatiker in Zürich, der einzigen freien und voll funktionierenden Bühne im Europa zur Kriegszeit, internationale Exponierung erfuhren. Und es ist sicher ebenso wahr, dass das europäische und vor allem das deutsche Publikum hauptsächlich dank Kurt Hirschfelds leidenschaftlichem und unerschütter­ lichem Engagement, internationale Stücke zu finden, vorzustellen und zu fördern, Zugang zu diesen wichtigen, jetzt kanonischen Werken erhielt – eine Tatsache, die außerhalb der Schweiz unter Theaterhistorikern zum größten Teil unerkannt geblieben ist. Das Vermächtnis Kurt Hirschfelds ist es, das Schauspielhause Zurich zu einem Welttheater gemacht zu haben.

71

 Mittenzwei, Das Zürcher Schauspielhaus 1933 – 1945, 133.  Mittenzwei, Das Zürcher Schauspielhaus 1933 – 1945, 133.

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Bibliothek, Biografie und Geschichte Kurt Hirschfelds Lektüren der Nachkriegszeit Caroline Jessen „Die Wiederherstellung des ‚Deutschen Geistes‘ [. . .] ist sehr erfreulich.“ Mit diesen Worten bedankt sich Kurt Hirschfeld 1953 etwas zweideutig bei Peter Suhrkamp für eine von vielen Büchersendungen, die ihn in den 1950er Jahren aus Frankfurt erreichen. Der Band war die erweiterte Neuauflage einer erstmals 13 Jahre zuvor erschienenen Anthologie: Deutscher Geist, das war 1940 der große Versuch von Suhrkamp und Oskar Loerke gewesen, ein Kassiber zu den deutschen Lesern zu schmuggeln, das die natio­nalsozialistische Zensur unterlaufen konnte, weil es die Autorität des Kanonischen unter der Fahne des Deutschen für sich zu reklamieren wusste. Die Anthologie wurde als „Buch des Widerstands“ verstanden.1 Aber Hirschfelds Dank hält fest, dass für ihn erst mit dieser Ausgabe der deutsche Geist ‚wiederhergestellt‘ war. Ein Satz im selben Brief an Suhrkamp konkretisiert den Gedanken. „Vor allem hat mir der Aufsatz von Benjamin über die Kunst des Uebersetzens grossen Spass gemacht.“2 In die Sammlung gehörten die Arbeiten deutscher Juden und die Idee der Übersetzung als Vermittlung zur Weltliteratur. Nicht zur Debatte stand für Hirschfeld und Suhrkamp, dass der Titel des Buches anachronistisch geworden sein könnte. Auch 1953 war aus ihrer Sicht der Versuch der Zusammenstellung all dessen, was aus der deutschen Vergangenheit in die Gegenwart hineinwirken und richtungsweisend sein konnte, wertvoll unter dem Label des „Deutschen Geistes“, der doch zumindest fragwürdig geworden war. Dieser kleine Ausschnitt aus dem intensiven Austausch zwischen Suhrkamp und Hirschfeld führt auf der Oberfläche höflicher Korrespondenz zu einer zentralen Problematik: In welcher Beziehung stehen die Brüche in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und die Kontinuität einer Biografie zueinander? Wie positionierte sich der in der Weimarer Republik 1

  Vgl. Siegfried Unseld, Peter Suhrkamp. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 2004, 91.   Kurt Hirschfeld an Peter Suhrkamp, 10.11.1953, Siegfried Unseld Archiv, DLA Marbach. 2

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sozia­lisierte und seit 1933 nahezu durchgehend in einem deutschsprachigen kulturellen Umfeld außerhalb Deutschlands lebende Kurt Hirschfeld zu einer Literatur, der er angehörte und die er doch aus Distanz wahrnahm? Wie lässt sich eine Biografie jenseits der binären Opposition von Zäsur und Kontinuität begreifen, ohne die Bedeutung der historischen Daten 1933 und 1945 zu entschärfen? Exemplarisch können diese Konstellationen und Fragen entlang der Bücher in Kurt Hirschfelds Bibliothek entfaltet werden: Das führt zu Büchern, die für Hirschfeld wichtig waren, von dort aber zu dem weitgespannten sozialen Netz und den intellektuellen Feldern, in denen sich der Dramaturg bewegte. Diese Felder und die persönlichen Kontakte bildete der Buchbesitz einmal ab. Bereits 1961 hob ein Portrait der Schweizer Illus­ trierten Zeitung hervor, Hirschfeld besitze „eine auserwählte Bibliothek“, um an ihr anschaulich werden zu lassen, was den Dramaturgen, der kurz zuvor zum neuen Direktor des Zürcher Schauspielhauses gewählt worden war, auszuzeichnen schien: Welchen Band man auch aufblättere – „sei er von Hermann Broch, von G. B. Shaw, von Musil, Burckhardt oder Thomas Mann“ –, „stets“ finde man darin „eine im herzlichen Tone gehaltene, handschriftliche Widmung des Verfassers“.3 Die Bücher zeigten Hirschfeld als gebildeten Leser und weltläufigen Protagonisten auf den Bühnen der Weltliteratur. Die Bibliothek von Kurt Hirschfeld gibt es nicht mehr. Wohl aber geben ein maschinenschriftliches Verzeichnis der noch in Deutschland vor 1933 erworbenen Bücher, unzählige Randbemerkungen in Briefen sowie ein Antiquariatskatalog der Widmungsexemplare der Bibliothek aus dem Jahr 2007 Auskunft über einige ihrer Charakteristika. Ausgehend von diesem fragmentarischen Material lässt sich die Geschichte eines Lesers erzählen, dessen Lektüren über das Biografische hinaus von Bedeutung sind. Denn die Beobachtung, dass die Bücher aus Hirschfelds Bibliothek „in der Lage sind, [. . .] über ihren Inhalt hinaus Geschichten zu erzählen“,4 führt sowohl zu Hirschfeld als Netzwerker im Literaturbetrieb nach 1945 als auch zu Diskussionen, die Einblicke in die deutsche Geschichte der Nachkriegszeit und das spannungsreiche Verhältnis von Kontinuität und Zäsur im Politischen 3   W. M. [d. i. vermutl. Werner Meier], „Autoren gesucht. Ein Gespräch mit Kurt Hirschfeld, dem neuen Direktor des Zürcher Schauspielhauses“, Schweizer Illustrierte Zeitung (6.11.1961), 16 – 17, 81, hier 81. 4   Martin Dreyfus, „Vorwort“, in: Bibliothek Kurt Hirschfeld (1902 – 1964). Widmungsexemplare. Autographen, Zürich 2007, 5 – 8, hier 8. – Mein Aufsatz schließt an die Ausführungen von Martin Dreyfus und den Katalog von Peter Bichsel an und ist nur auf der Grundlage ihrer sorgfältigen Arbeit möglich gewesen. Ich danke Martin Dreyfus zudem für die erhellenden Einblicke in seine Hirschfeld-Sammlung und den Hinweis auf das Bibliotheksverzeichnis.

Bibliothek, Biografie und Geschichte

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und Ästhetischen geben.5 Mit anderen Worten: die materiellen und ‚virtuellen‘ Reste der Bibliothek6 liefern Anhaltspunkte für eine Spurensuche nach Kurt Hirschfeld und seinem intellektuellen Umfeld vor und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Gegenort. Zürcher Bücherwelt Die umständliche Bezeichnung „literarischer Sachverständiger“, die das nicht scharf umrissene Aufgabenfeld des Dramaturgen umschreibt,7 trifft Hirschfelds Lektüreprofil sehr genau: Er kam 1933 ‚belesen‘, sowohl literarisch als auch literaturwissenschaftlich und soziologisch gebildet, nach Zürich. „Er ist sehr intensiv, liest enorm viel, weiß enorm viel, sieht gut aus und weiß es“8 – so hatte Hans Sahl die Erscheinung seines Freundes im Berlin der späteren 1920er Jahre beschrieben. Ein um 1934 entstandenes Verzeichnis, das zum Großteil die schon vor der Emigration aus Nazideutschland angeschafften Bücher listet,9 umfasst die alten und neuen Klassiker der Weltliteratur, Kunstgeschichte, Philosophie und einige Judaica, aber vor allem eine beeindruckende Sammlung von Neuerscheinungen der frühen 1920er Jahre aus Soziologie, Wirtschaftslehre, Philosophie und Politologie, die heute ebenfalls Klassikerstatus besitzen. Diese ‚erste‘ dokumentierte Bibliothek war funktional und zeitgenössisch im besten Sinne. Selbst die Klassiker besaß Hirschfeld, bis auf bezeichnende Ausnahmen (etwa Kant, Klopstock und Jean Paul) in neuen Ausgaben. Hirschfeld arbeitete in Zürich seit 1938 fest am Theater, hatte aber auch als Herausgeber und Lektor im Verlag von Emil Oprecht Erfahrungen gesammelt.10 Er war ein genauer Leser, auch jenseits der Stücke-Auswahl für  5

  Vgl. zum kulturellen Feld bes. Hans Dieter Schäfer, Das gespaltene Bewußtsein. Vom Dritten Reich bis zu den langen Fünfziger Jahren, Erweiterte Neuausgabe, Göttingen 2009.  6   Daniel Ferrer, „Introduction. Un imperceptible trait de gomme de tragacanthe . . .“, in: Paolo D’Iorio / Daniel Ferrer (Hgg.), Bibliothèques d’écrivains, Paris 2001, 7 – 27, bes. 15.  7   „Dramaturg“, in: Bernd Sucher (Hg.), Theaterlexikon. Bd. II: Epochen, Ensembles, Figuren, Spielformen, Begriffe, Theorien, München 1996, 137 – 139, hier 137.  8   Hans Sahl, Das Exil im Exil. Memoiren eines Moralisten, München 1995, 176 (= Sahl, Exil).  9   [List of Kurt Hirschfeld’s Library], LBI, NY, KHC. – Für den Hinweis auf das Verzeichnis danke ich Martin Dreyfus. 10   Einen knappen, informativen Überblick zu Hirschfelds Biografie, beruflichen Statio­ nen und wichtigen Inszenierungen gibt: Thomas Blubacher, „Hirschfeld, Kurt“, in: An­dreas Kotte (Hg.), Theaterlexikon der Schweiz, Bd. II, Zürich: 2005, 846 – 847 (= Blubacher, Hirschfeld).

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das Zürcher Schauspielhaus. Privat Entdecktes und Interessantes wurde an Kollegen weitergegeben, kommentiert, für Publikationen, Übersetzungen, Aufführungen oder Verfilmungen vorgeschlagen. Das betraf zunächst emigrierte Freunde, intensivierte sich aber nach 1945 rasch. Briefe an Kasimir Edschmid, Erich Kästner, Max Ophüls, Peter Suhrkamp und andere zeugen davon nicht minder als von den Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Büchern.11 So half etwa Kästner, mit dessen Leben in dieser Zeit Hirschfeld 1933 noch in Darmstadt sein Debüt als Regisseur gegeben hatte,12 nicht in die Schweiz gelangende Bücher zu beschaffen, und Hirschfeld schickte im Gegenzug Zigaretten, Carepakete, einen Anzug.13 Hinweise und Eindrücke anderer wurden als möglicher Anknüpfungspunkt für die eigene Theaterarbeit geprüft. Die Lust am Austausch zeigt sich gerade da ohne Zurückhaltung, wo Hirschfeld gewiss war, dass seine Position einen Resonanzraum fand, auf gemeinsamen Grundannahmen beruhte, insbesondere im Briefwechsel mit Hans Sahl, den Hirschfeld am Ende seiner Studienzeit in Berlin kennengelernt hatte, als Sahl bereits Theaterkritiken für den Berliner Börsen Courier schrieb.14 In ihrer Korrespondenz geht es nach 1933 um Bücher, Autoren und Literaturpolitik, schon weil beide den deutschen Literaturbetrieb intensiv kennengelernt hatten und ihn nach ihrer Emigration von ähnlich exponierten, aber unterschiedlichen Positionen aus beobachten mussten, um sich zu ihm verhalten zu können. Während sich Hirschfeld in Zürich durch die Arbeit am Schauspielhaus als Dramaturg etablierte, erschloss sich Sahl auf dünnem Boden in der großen geografischen Entfernung vom deutschsprachigen Literaturbetrieb die amerikanische Literatur und versuchte publizistisch und übersetzend eine vermittelnde Funktion zu übernehmen, ohne finanziell abgesichert zu sein. Sahl informierte Hirschfeld über die Emigrantenszene an der amerikanischen Ostküste, interessante Neuerscheinungen und Debatten in den USA; Hirschfeld wiederum lieferte Sahl Hinweise und Einschätzungen zum deutschen Literaturbetrieb, 11   Vgl. zum Buchmarkt in der Nachkriegszeit bes. Christian Adam, Der Traum vom Jahre Null. Autoren, Bestseller, Leser. Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945, Berlin 2016. 12   Vgl. Blubacher, Hirschfeld, 846. 13   Vgl. bes. zum Anzug, den Hirschfeld geschickt hatte: Erich Kästner an Kurt Hirschfeld, 22.8.1946, Nachlass Erich Kästner / Briefe, DLA Marbach; vgl. auch Kurt Hirschfeld an Erich Kästner, 17.12.1946, Nachlass Erich Kästner / Briefe, DLA Marbach: „Ich freue mich, dass wenigstens die Zigaretten und ein Genussmittel-Paket Type ‚Suisse‘ angekommen sind. Ich schrieb Ihnen ja, dass ich die Bücher gegen Zigaretten bezw. Lebensmittel angenommen habe.“. 14   Vgl. Sahl, Exil, 176.

Bibliothek, Biografie und Geschichte

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bemühte sich, Arbeitsaufträge zu vermitteln. Literatur wurde, zurück- und vorwärtsgerichtet, zum Verbindenden. Schon 1944 vermerkt ein Brief an Sahl knapp, was die Aufgabe für die kommenden Jahre sei. Man brauche „jetzt schon Literatur für die Nachkriegszeit, [. . .] Stücke, die nicht mehr nur anti sondern pro sind und die im richtigen Verhältnis zu der sehr schweren Nachkriegszeit stehen.“15 Der Austausch über die politische Zukunft Europas wurde auf dem Feld des Theaters und der Literatur ausgetragen und von Hirschfeld immer wieder in Arbeitsvorhaben überführt. In Nazideutschland verbliebene Freunde und Kollegen gaben durch Briefe und bei Besuchen früh Einblicke in die Szenerien der Nachkriegszeit und demonstrierten ein entschiedenes Bemühen um kulturellen ‚Wiederaufbau‘, das Hirschfeld unterstützte. Für den nach Zürich Geflohenen stand die Integrität des Anliegens außer Frage. Es sei „erstaunlich“, so Hirschfeld an Sahl, „mit welcher Ruhe und Sicherheit Kästner sich hält, mein alter Freund Eppelsheimer in Darmstadt arbeitet, Ruppel das Stuttgarter Staatstheater leitet“, obgleich es ihnen „sehr schwer gemacht“ werde.16 Erich Kästner leitete das Feuilleton der Neuen Zeitung, die als „amerikanische Zeitung für die deutsche Bevölkerung“ auch ein Instrument der re-education war,17 Hanns Wilhelm Eppelsheimer begann sich als Direktor der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main früh für die Zugänglichkeit der sogenannten Exilliteratur einzusetzen. Hirschfeld gehörte im Schutzverband deutscher Schriftsteller in der Schweiz zum Kreis der emigrierten Intellektuellen, die Eppelsheimer durch Büchersendungen halfen, in Frankfurt eine Bibliothek der Exilliteratur zu etablieren.18 Hinter der Analyse der deutschen Zustände wird allerdings die Überforderung sichtbar; die Zeichen des politischen Bewusstseins in Deutschland nach 1945 blieben für den Emigranten widersprüchlich: „Urteile über die Situation draussen zu fällen“, habe er sich verboten: „Es gehört wohl zum Wesen des Chaos, dass es nicht zu beschreiben und somit auch nicht zu beurteilen ist. Und es ist ein Chaos.“19 Obgleich er für Offenheit warb, hat15

  Kurt Hirschfeld an Hans Sahl, 28.12.1944, Nachlass Hans Sahl / Briefe, DLA Marbach.   Kurt Hirschfeld an Hans Sahl, 3.8.1946, Nachlass Hans Sahl / Briefe, DLA Marbach. 17   Vgl. zu Kästner bes. Sven Hanuschek, Keiner blickt dir hinter das Gesicht. Das Leben Erich Kästners, München / Wien 1999. 18  Vgl. Hanns W. Eppelsheimer, „Vorwort“, in: Wilhelm Sternfeld / Eva Tiedemann (Hgg.), Deutsche Exil-Literatur 1933 – 1945, Heidelberg / Darmstadt 1962, 9 – 12, hier 9; Werner Berthold, Exilliteratur und Exilforschung. Ausgewählte Aufsätze, Vorträge und Rezen­ sionen, hg. v. Brita Eckert / Harro Kieser, mit einer Einleitung v. Wolfgang Frühwald, Wiesbaden 1996, 61 – 104. 19   Kurt Hirschfeld an Hans Sahl, 3.8.1946, Nachlass Hans Sahl / Briefe, DLA Marbach. 16

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ten ihn zerbombte Städte wie Darmstadt schockiert und er erklärte Sahl im gleichen Brief, „das gros der Menschen“, scheine ihm „wirklich verloren“.20 Vor diesem Hintergrund hatte der Dramaturg am Schauspielhaus Zürich 1945 zunächst vage Pläne, „eine wirklich internationale Zeitschrift“ und gleich auch einen Verlag zu gründen, der „alle Fragen“ der Zeit aufgreifen sollte, „vor allem aber die menschlichen, die in diesen Diskussionen, die jetzt entbrennen, wieder zu kurz kommen sollen“.21 Ohne dass diese Pläne konkret wurden und ohne dass sie sich mit der Geschichte der Bibliothek direkt zu verbinden scheinen, deuten sie an, wie stark das Literarische einer ernüchternden Gegenwart entgegengehalten wurde und wie greifbar die Vorstellung wurde, dass „die Poesie das glückliche Asyl der Menschheit“22 sein könnte. Nicht nur das Theater, halb ironisch, halb ernst von Hirschfeld als „unsere kleine Welt“ bezeichnet,23 wurde ein Gegenort. Zur Heterotopie wurde auch die nach der Emigration in Zürich „wieder ziemlich angewachsene[. . .] Bibliothek“.24 Indem sie politische und geografische Grenzziehungen ignorierte und durch die Konstellationen der von Hirschfeld gesammelten Bücher neue Sinnzusammenhänge schuf, wurde sie zum Ort, in dem die Regeln der sie umgebenden Wirklichkeit nicht galten. Die Bibliothek verräumlichte Zeit und ermöglichte es, der faktischen Zeit eine eigene Zeitrechnung entgegenzusetzen, die Kontinuität als auch Zäsur denken konnte, die Daten und Orte von Biografien vor 1933 in direkte Nachbarschaft zu denen des Exils setzte, Tote und Lebende im Geistergespräch zusammenbrachte. Die Bibliothek wurde zum Ort „außerhalb aller Orte“.25 In sie dachte sich Hirschfeld den so weit entfernten Hans Sahl als Gesprächspartner schreibend hinein und in ihr knüpfte er den Kontakt zwischen Max Frisch und Bertolt Brecht, Freunden und Bekannten.26 Dass diese 20

  Kurt Hirschfeld an Hans Sahl, 3.8.1946, Nachlass Hans Sahl / Briefe, DLA Marbach.   Kurt Hirschfeld an Hans Sahl, 19.4.1945, Nachlass Hans Sahl / Briefe, DLA Marbach. 22   Kurt Hirschfeld, „Dramaturgische Bilanz“, Nachlass Manfred George, DLA Marbach. – Kurt Hirschfeld zitiert hier Goethe: Vgl. Johann Wolfgang Goethe an Thomas Carlyle, 2.6.1831, Brief Nr. 200, in: Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, IV. Abt., Bd. XLVIII, Weimar 1909, 208 – 212, hier 210. 23   Kurt Hirschfeld an Hans Sahl, 30.8.1941, Nachlass Hans Sahl / Briefe, DLA Marbach. 24   Kurt Hirschfeld an Hans Sahl, 19.4.1945, Nachlass Hans Sahl / Briefe, DLA Marbach. – Die Bemerkung legt nahe, dass Hirschfeld nicht seine gesamte Bibliothek 1933 nach Zürich bringen konnte. 25   Michel Foucault, „Andere Räume“, in: Jörg Dünne / Stephan Günzel (Hgg.), Raum­ theo­rie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2006, 317 – 329, hier 320. 26   Vgl. Max Frisch, Tagebuch 1966 – 1971, in: Ders., Gesammelte Werke in zeitlicher Folge (1968 – 1975), Bd. VI, hg. von Hans Mayer unter Mitwirkung von Walter Schmitz (Hgg.), Frankfurt a. M. 1976, 20. 21

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Bibliothek als Gegenort auch in handschriftlichen Statements und Grußformeln vieler Bücher all jene Autoren, Intellektuelle und Gelehrte zusammenbrachte, die für Hirschfeld bedeutsam waren, ist kaum Zufall. Hirschfeld legte Wert auf die persönlichen Abdrücke, die das Buch zum Souvenir und Zeichen einer Verbindung machten. Immer wieder bedankte er sich in Briefen für Widmungen oder erwähnte gegenüber Freunden, dass ein „grosses Werk“ wie Die Schlafwandler von Hermann Broch mit einer Widmung des Autors in seiner Bibliothek stehe.27 Der lange nach Hirschfelds Tod erstellte Katalog der Widmungsexemplare aus Hirschfelds Bibliothek bildet zwar nur einen Teil der dedizierten Bücher ab, listet aber sowohl die drei Bände der Schlafwandler als auch Brochs Tod des Vergil, den Hirschfeld wiederum durch die Vermittlung Hans Sahls wenige Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erhalten hatte.28 Gegenseitige Büchergaben ebenso wie Werturteile zu Neuerscheinungen und Lektürefunde – das mag das Beispiel andeuten – wurden so zu Erinnerungszeichen und zum Kitt gefährdeter Beziehungen, nahmen den kein Gespräch ersetzenden Statements aus Briefen die Härte, bildeten Verbindungslinien über räumliche und zeitliche Distanzen hinweg.29

Professionals. Vermittlungen Hirschfelds Lektürefährten offenbarten dabei in Aufwand und Detail so viel Mühe, dass ihm bescheinigt wurde, seine Brief-Besprechungen seien „besser als alles was die professionals machen“.30 Jenseits der subjektiven Emphase, mit der gewidmet und getauscht wurde, waren die Freundschaftsgaben von und für den Dramaturgen allerdings die zusätzliche Facette bzw. Variation einer professionellen Lektürehaltung, die Hirschfelds Arbeitspraxis erhellt.

27   Kurt Hirschfeld an Hans Sahl, 19.4.1945; Kurt Hirschfeld an Hans Sahl, 30.8.1941, Nachlass Hans Sahl / Briefe, DLA Marbach (= Hirschfeld an Sahl, 19.4.1945). 28  Vgl. Hirschfeld an Sahl, 19.4.1945 und auch Bibliothek Kurt Hirschfeld (1902 – 1964). Widmungsexemplare. Autographen, Zürich 2007, 17 – 18. 29   Vgl. bes. Kurt Hirschfeld an Hans Sahl, 19.4.1945, Nachlass Hans Sahl / Briefe, DLA Marbach: „Der Aufsatz von Friedrich Wolf gegen Zuckmayer interessiert mich brennend. Bitte schicke ihn mir so schnell wie möglich. Es wird immer kurioser, aber darüber zu schreiben vermag ich nicht, weil ich die Dinge nicht so sehen kann wie Du und es braucht etliche Gespräche, um meinen Standpunkt klar zu machen.“ 30   Eberhard Fahrenhorst an Kurt Hirschfeld, 22.2.1955, LBI, NY, KHC.

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Vier Widmungsexemplare Thornton Wilders aus der Bibliothek Hirschfelds fanden nach dessen Tod den Weg auf den Buchmarkt. Einer der Bände, Die Cabala,31 trägt vor der Dedizierung des Werks durch den Verfasser 1957 eine freundlich-höfliche Widmung seines Übersetzers Herberth Herlitschka aus dem Erscheinungsjahr des Buches, 1951. Ein anderer der vier Bände, Unsere kleine Stadt,32 zeigt eine liebevolle Widmung des Übersetzers Hans Sahl aus dem Jahr 1956 für den „alten Hirschi, Kumpan auf vielen Land­ strassen der Literatur und der menschlichen Gemeinschaft, in nicht mehr wiedergutzumachender Verbundenheit“, ergänzt durch eine Widmung Wilders.33 Zwei weitere Bände hatte nur der Verfasser signiert.34 In der Ansammlung von Widmungen verdichten sich Hirschfelds Bemühungen um neue Wilder-Stücke und seine Rolle für die Zugänglichkeit der Werke auf dem deutschen Buchmarkt, seine guten Beziehungen zu einem der renommiertesten Autoren der zeitgenössischen US‑amerikanischen Literatur – und sein Freundschaftsdienst an Hans Sahl. Das Schauspielhaus hatte bereits 1939 die deutsche Erstaufführung von Wilders Our Town und dann 1944 The Skin of our Teeth in Zürich auf die Bühne gebracht.35 Begleitend waren in der „Schriftenreihe des Schauspielhauses Zürich“36 Übertragungen erschienen, auf denen die Inszenierungen basierten. Beide Stücke wurden für das Nachkriegstheater rasch zentral.37 Als der Verlag S. Fischer sich 1950 nach einem Übersetzer für ein neues Stück Wilders erkundigte und andeutete, auch Our Town und The Skin of 31

  Thornton Wilder, Die Cabala, Frankfurt a. M. 1951.   Thornton Wilder, Theater. Unsere kleine Stadt. Wir sind noch einmal davongekommen, Frankfurt a. M. 1955. 33   Eine Abbildung der Widmungen findet sich in: Bibliothek Kurt Hirschfeld (1902 –  1964). Widmungsexemplare. Autographen, Zürich 2007, 59. 34  Vgl. Bibliothek Kurt Hirschfeld (1902 – 1964). Widmungsexemplare. Autographen, Zürich 2007, 57, 73. 35   Vgl. das Verzeichnis der aufgeführten Stücke in: Kurt Hirschfeld / Peter Löffler (Hgg.), Schauspielhaus Zürich 1938 – 1958, Zürich 1958. 36   Thornton Wilder, „Wir sind noch einmal davongekommen“, autorisierte Übertragung aus dem Amerikanischen v. Gentiane Gebser, Zürich / New York 1944, in: Schriftenreihe des Schauspielhauses Zürich, Bd. IV; Thornton Wilder, „Eine kleine Stadt. Schauspiel in drei Akten“, autorisierte Übertragung aus dem Amerikanischen v. Wilfried Scheitlin, Zürich / New York, in: Schriftenreihe des Schauspielhauses Zürich, Bd. III. 37   Vgl. bes. Jan Berg, „Drama und Theater“, in: Ludwig Fischer (Hg.), Hansers Sozialgeschichte der Literatur vom 6. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. X: Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, München / Wien 1986, 493 – 524, hier 495; Andreas Höfele, „‚Goebbels in reverse?‘ Re-education und Zensur im deutschen Theater nach 1945“, in: Beate Müller (Hg.), Zensur im modernen deutschen Kulturraum, Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. XCIV, Tübingen 2003, 97 – 113, bes. 110 – 111. 32

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our Teeth nochmals übersetzen zu lassen, empfahl Hirschfeld seinen Freund Hans Sahl, der auf Arbeitsaufträge dringend angewiesen war.38 Als sich die Zusammenarbeit konkretisierte, war Hirschfeld zwar vor allem froh, „eine glückliche Hand“ für Sahl gehabt zu haben,39 doch die durch letzteren gewonnene Einsicht in Wilders Arbeit brachte auch dem Schauspielhaus Vorteile: Wilder arbeitete Anfang der 1950er Jahre an zwei neuen Stücken, nach deren Fertigstellung sich Hirschfeld nun immer wieder bei Sahl erkundigen konnte, um sich die Erstaufführungsrechte zu sichern.40 Für Sahl entwickelte sich die Zusammenarbeit allerdings nur bedingt so, wie er sich erhofft hatte, denn S. Fischer machte ihn nicht zum neuen AlleinÜbersetzer ihres Autors. Herberth Herlitschka blieb ebenfalls bei Fischer für Wilder zuständig und erarbeitete mit diesem unter anderem die Übersetzung von The Alcestiad, or, Life in the Sun, das dann auch in Zürich aufgeführt wurde.41 „Es ist natürlich schon dumm mit Herlitschka und ich verstehe Deine Trauer“,42 schrieb Hirschfeld in dieser Gemengelage dem tief enttäuschten Sahl, riet aber zu einer professionellen Lösung in Form einer Sprachregelung, die das Gesicht beider Übersetzer nach außen wahrte. Bis heute sind Wilders Werke in den Übersetzungen von Sahl und Herlitschka erhältlich. Die Widmungen lieferten so die symbolische Coda eines Konflikts und hielten vor allem in Sahls Übersetzung von Our Town „in nicht mehr wiedergutzumachender Verbundenheit“43 den aller Enttäuschungen zum Trotz so wichtigen Freundschaftsdienst Hirschfelds fest. Der Katalog der Widmungsexemplare lässt sich, solchen Linien folgend, als ‚biografisches Schema‘ begreifen, aus dem sich in vielen Episoden die Individualität Hirschfelds und seine Zugehörigkeiten entfalten.

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  Kurt Hirschfeld an Hans Sahl, 7.2.1950, LBI, NY, KHC. Hans Sahl empfand den Vorschlag als Chance, seine finanzielle Situation zu verbessern, und hoffte auf das symbolische Kapital, das sich mit Wilder-Übersetzungen verband. Hans Sahl an Kurt Hirschfeld, 23.2.1950, LBI, NY, KHC. 39   Kurt Hirschfeld an Hans Sahl, 29.6.1950, LBI, NY, KHC. 40   Kurt Hirschfeld an Hans Sahl, 1.9.1951, LBI, NY, KHC. Sahl konnte durch seine Kontakte zu Wilder und zum Fischer-Verlag immerhin Mitinteressenten an dem von ihm übersetzten Stück The Matchmaker (dt.: Thornton Wilder, Die Heiratsvermittlerin. Eine Farce in vier Akten, ins Deutsche übertragen v. Hans Sahl, Berlin 1957.) nennen, das schließlich in Berlin und Zürich als deutsche Erstaufführung angekündigt werden konnte. 41   Thornton Wilder, Die Alkestiade. Schauspiel in drei Akten mit einem Satyrspiel: Die beschwipsten Schwestern, aus dem Amerikanischen übers. v. Herberth E. Herlitschka, Frankfurt a. M. 1960. 42   Kurt Hirschfeld an Hans Sahl, 16.2.1955, LBI, NY, KHC. 43  Vgl. Bibliothek Kurt Hirschfeld (1902 – 1964). Widmungsexemplare. Autographen, Zürich 2007, 57, 73.

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Hirschfeld las als Dramaturg aber immer wieder auch noch nicht publizierte, unfertige Stücke. Diese besondere Facette seines Zugangs zu Literatur verschweigen die erhaltenen Überreste der Bibliothek bis auf wenige Ausnahmen. Als Dramaturg war er angewiesen auf das Sondieren neuer Arbeiten, denn nur ein in der Gegenwart verankertes, Klassisches und Neues zeigendes Theater konnte das öffentliche Gespräch beeinflussen und sich in der veränderten Konkurrenzsituation der Bühnen seit Ende der 1940er Jahre behaupten. Das in Büchern und Briefen dokumentierte Beziehungsnetz zeigt auch dies. Der deutsche Emigrant in Zürich war als Dramaturg zugleich Agent und Lektor von Autoren und Verlagen und vermittelte als solcher zwischen Deutschland und der Schweiz. Neben den engen Kontakt zum Oprecht Verlag in Zürich traten in den 1950er Jahren Verbindungen zu Henry Goverts, Ernst Rowohlt, Peter Suhrkamp und anderen Verlegern, die sich auf die Beschaffenheit der Bibliothek auswirkten, denn Hirschfeld sondierte nicht nur neuerschienene Stücke, sondern verschaffte sich – vor allem durch Suhrkamps Gaben – einen Überblick über die deutschsprachige Buchproduktion, über verhandelte Themen und Diskussionen, neue literarische Formen, wissenschaftliche Diskurse. Dass er von Suhrkamp mit Neuerscheinungen (und Informationen über noch nicht Erschienenes) versorgt wurde, bildete den materiellen Ausgangspunkt für eine Verständigung über ästhetische Anschauungen zwischen einem Konservativismus, der Suhrkamps „Tausenddrucke“ der Taschenbuchflut entgegensetzte,44 und einer bemerkenswerten Offenheit, beispielsweise für den Hirschfeld zunächst fremden Samuel Beckett.45 Hirschfeld gab sich bei Peter Suhrkamp einerseits als eine Art Testkäufer, andererseits als inoffizieller Lektor neuer Stücke und Übersetzungen. Jenseits seines eigenen beruflichen Interesses bewertete er Gestaltung und Bindung und kommentierte nicht nur Inhalte von Rudolf Borchardts Prosa über T. S. Eliots ‚Katzenbuch‘ bis hin zu Günter Eichs Hörspielen, sondern auch die erfolgreiche Image-Bildung durch programmatische Reihen wie die „Bibliothek Suhrkamp“. „Wenn man die Bände nebeneinander auf dem Bücherregal sieht, nehmen sie sich recht stattlich aus.“46 – „Und auch sonst! Die Bände sind

44   Kurt Hirschfeld an Peter Suhrkamp, 19.10.1955, Siegfried Unseld Archiv, DLA Marbach. 45   Vgl. Kurt Hirschfeld an Peter Suhrkamp, 9.6.1954, Siegfried Unseld Archiv, DLA Marbach: „‚Mollroy‘ habe ich begonnen zu lesen. Es lässt mich nicht los, obwohl ich doch gar kein Freund Becketts bin. Vielleicht werde ich’s ohne dass ich’s merke.“ 46   Kurt Hirschfeld an Peter Suhrkamp, 24.7.1952, Siegfried Unseld Archiv, DLA Marbach.

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alle so hübsch. Ich habe sie jetzt auf meinem Nachttisch [. . .].“47 So unscheinbar solche Bemerkungen ausfielen, so sehr schufen sie eine Verbundenheit, die auch als Sorge um den anderen und die im anderen gespiegelten Werte sichtbar wird. Suhrkamp sicherte Hirschfeld seine Unterstützung nach dem Tod des Verlegers und Schauspielhauspräsidenten Emil Oprecht zu, der den Dramaturgen seit den 1930er Jahren gefördert hatte. Hirschfeld wiederum mahnte den seit seiner Internierung im Konzentrationslager geschwächten Verleger wiederholt zur Schonung seiner Gesundheit. Seine Briefe deuten die Suhrkamp zugeschriebene Bedeutung für das politisch unsichere Terrain der Nachkriegszeit dabei nur vorsichtig – im Reden über Bücher – an: „[D]as einzige Programm, das ein Gesicht hat, [ist] das Ihre, die einzigen Bücher, die mich interessieren, [sind] die Ihren. Seien Sie vorsichtig mit sich, es ist viel wichtiger und viel entscheidender als Sie selber wissen können, lieber Peter.“48 Suhrkamp war ein Orientierungs- und Vergleichspunkt, Kritiker und Ratgeber. Programmatisch konkretisierte sich in seinem Verlagsprogramm, was Hirschfeld nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs über die Aufgaben des deutschsprachigen Theaters, über Spielpläne und die Rolle des Dramaturgen schrieb. Die von ihm unter der Direktion Oskar Wälterlins und als Intendant am Schauspielhaus mit aufgestellten Spielpläne charakterisiert eine rückblickend sprechende Mischung von alten und modernen Klassikern der Weltliteratur von Sophokles über Shakespeare und Schiller bis hin zu Shaw sowie den Stücken zeitgenössischer Autoren von Zuckmayer über Brecht bis Beckett. Ohne Widersprüche war die Position Hirschfelds zwischen diesen Namen und den ästhetischen Programmen, die sie markieren, nicht, aber gerade das mag andeuten, wie komplex die Gemengelage war, in der Hirschfeld arbeitete. Nicht allein die notwendige Breite des Spielplans eines Hauses, das eine „doppelte Funktion zu erfüllen“ hatte, „Staatstheater und Kammerspiel in einem“ war und daher das Klassische als auch das Experimentelle zeigen musste,49 sondern auch Rücksicht auf das Zürcher Publikum war hierfür verantwortlich. Aber diese Vermittlungsfunktion entsprach Hirschfelds intellektueller Disposition. Vor und vor allem nach 1945, als die Beziehungen zu deutschen Verlagen und Bühnen wieder durchlässiger wurden und sich durch die aus Zürich an 47   Kurt Hirschfeld an Peter Suhrkamp, 10.11.1953, Siegfried Unseld Archiv, DLA Marbach. 48   Kurt Hirschfeld an Peter Suhrkamp, 12.4.1955, Siegfried Unseld Archiv, DLA Marbach. 49   Kurt Hirschfeld, in: Hamlet, Programmheft, Zürich 1961 / 1962, 1 – 2, 11 – 12, hier 11 – 12.

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deutsche Spielstätten gewechselten Mitglieder des Zürcher Ensembles neue Konstellationen zwischen Kooperation und Konkurrenz bildeten, begriff Hirschfeld seine ostentative, vermittelnde Offenheit als eine politische Positionierung, so kritisch die von ihm mitvertretene Linie eines am ‚Allgemeinmenschlichen‘ orientierten Theaters in der veränderten Situation einer restaurativen Kultur im Sog der Wiederaufbau- und Wirtschaftswunder-Zeit Deutschlands zum Teil als erinnerungspolitisch fatal gewertet wird.50 Die Bibliothek Hirschfelds und seine Lektürespuren zeigen aber beides als ineinander verschränkt, die politisch und ästhetisch reflektierte Reaktion auf eine Zäsur einerseits und das Festhalten an der Kontinuität einer Tradition, die in den 1960er Jahren in die Defensive geraten sollte, andererseits. Hirschfeld war überzeugt, dass die „Intellektuellen“, denen er sich zurechnete, „die schwierige und vielleicht undankbare Aufgabe haben, zu ‚vermitteln‘, die harten Gegensätze auszugleichen, um es nicht allzu bald zu der Katastrophe kommen zu lassen, die nun wirklich das Ende Europas bedeuten würde“.51 Das Gegensätze verbindende Gespräch über Literatur und die ostentative Offenheit für das literarische Leben der BRD waren auch eine politische Rettungsaktion.

Kassiber und Kompromisse Die Neuausgabe von Suhrkamps Anthologie Deutscher Geist und die zu Beginn des Essays skizzierte Reaktion Hirschfelds auf die Publikation deuten einerseits an, welche Bedeutung der Verleger und sein Leser der Vorstellung einer großen, zu bewahrenden Traditionslinie innerhalb der deutschen Kultur nach dem Holocaust als Orientierungspunkt weiter beimaßen. Die Neuausgabe war andererseits aber für Hirschfeld eine Rekonstruktionsarbeit. Es ging 1953 um die „Wiederherstellung“ eines nach 1933 in Deutschland sukzessive zerstörten Zusammenhangs, dessen inneres Gefüge im anthologischen Verfahren entfaltet werden sollte, ohne die Verschiedenheit seiner Ausdrucksformen zu unterschlagen.52 Sigmund Freud neben Max 50   Vgl. Rolf Schneider, „Das Zürcher Schauspielhaus und das Theater in der Bundesrepublik“, in: Bachmann / Schneider, Haus, 45 – 54; Ursula Amrein, „Kulturpolitik und Geistige Landesverteidigung – das Zürcher Schauspielhaus“, in: Sigrid Weigel / Birgit Erdle (Hgg.), Fünfzig Jahre danach. Zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus, Zürich 1996, 281 – 324, bes. 315 (= Amrein, Kulturpolitik). 51   Kurt Hirschfeld an Hans Sahl, 9.9.1947, Nachlass Hans Sahl / Briefe, DLA Marbach. 52   Dass der Mitherausgeber der Sammlung, Oskar Loerke, die Publikation nicht als Anthologie verstanden wissen wollte, war eine Abgrenzung von den Blütenlesen des 19.

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Planck, Rudolf Kassner neben Hugo von Hofmannsthal, Karl Marx neben Jacob Burckhardt. Dass solche Bemühungen Hirschfeld wichtig waren, deutet sich auch in seinem Engagement für die Neuausgabe der 1936 von Walter Benjamin besorgten Sammlung Deutsche Menschen an.53 Er sei, schreibt er 1962, „hingerissen von Benjamins Briefausgabe, deren Grossartigkeit“ er zur Zeit der Erstveröffentlichung in der Schweiz54 „offensichtlich nicht erkannt habe“.55 Ähnlich hierin Suhrkamps Erstausgabe der Sammlung Deutscher Geist war auch diese Anthologie als Kassiber unter einem suggestiven Tarntitel veröffentlicht worden und noch zu Lesern in Deutschland gelangt.56 Benjamins Sammlung zeigte innerhalb der Überlieferung eine versteckte Traditionslinie der Aufklärung auf, die nicht nur für die Gegenwart 1936, sondern auch für das Jahr 1962 Aktualität beanspruchte. Zugleich mag sie neuaufgelegt eine anders gelagerte Wirkung entfaltet haben, indem sie eine Brücke von Walter Benjamin zurück ins späte 18. und frühe 19. Jahrhundert schlug und den als ‚jüdisch‘ und ‚links‘ etikettierten Autor so in einem Traditionsraum wieder sichtbar machte, der den Zugang zu seinen Schriften einer weiteren, dem Neuen skeptisch gegenüberstehenden Leserschaft öffnete.57 Dass die Publikation Hirschfeld so stark einnahm, dass er sich beim Verlag wiederholt nach ihr erkundigte,58 lag an den kontinuitäts- und sinnstiftenden Möglichkeiten eines anthologischen Verfahrens, das ihm vertraut sein musste. Sowohl die Programmhefte der Theater in Darmstadt und Zürich als auch die sorgsam zusammengestellten Spielpläne59 setzten auf die Aktualiund frühen 20. Jahrhunderts, die für ihn als kulturelle Surrogate negativ konnotiert waren. Vgl. Oskar Loerke, „Einleitung“, in: Deutscher Geist. Ein Lesebuch aus zwei Jahrhunderten, Bd.  I, Berlin / Frankfurt a.  M. 1953, 7 – 14, hier 8 – 9. 53   Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen, ausgewählt und eingeleitet v. Walter Benjamin, unveränderte, um den Brief von Schlegel an Schleiermacher erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1962. 54   Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen, ausgewählt und eingeleitet v. Detlef Holz [d. i. Walter Benjamin], Luzern 1936. 55   Kurt Hirschfeld an Peter Szondi, 26.5.1962, Nachlass Peter Szondi / Briefe, DLA Marbach. 56   Vgl. zur Editionsgeschichte Momme Brodersen, „Nachwort. Ein Wörterbuch der Humanität“, in: Ders. (Hg.), Walter Benjamin. Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe. Bd. X: Deutsche Menschen, Frankfurt a. M. 2008, 474 – 488 (= Brodersen, Nachwort). 57   Vgl. Brodersen, Nachwort, wo Momme Brodersen u. a. die Rezeption Benjamins nach 1945 skizziert und die Anekdote erwähnt, dass Joachim Günther als begeisterter Rezensent der unter dem Pseudonym erschienenen Publikation von 1936 mit dem Namen Walter Benjamin 1955 wenig verbinden konnte. 58   Vgl. z. B. Walter Boehlich an Kurt Hirschfeld, 19.6.1962, Siegfried Unseld Archiv, DLA Marbach. 59   Curt Michael (Hg.), Abschied. Briefe und Aufzeichnungen von Epikur bis in unsere Tage, Zürich / New York 1944.

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sierung des Klassischen im Rezeptionszusammenhang, auf das Zusammenspiel von offenem und verborgenem Sinn, das Aufzeigen von Menschlichem als Kontinuitätslinie großer Kunst in einer Vielzahl von Formen. Das integrative Denken war produktiv, aber kulturpolitisch ambivalent: 1961 machte Hirschfeld an drei Autorenabenden während der „Wochen des Deutschen Theaters“ drei Generationen deutschsprachiger Literatur sichtbar. Das war eine Öffnung des Theaters zur Prosa und Lyrik, in der sich die Handschrift des ganz im zeitgenössischen Literaturbetrieb verankerten Dramaturgen zeigte. Das Set-up setzte auf eine generationsspezifische und eine vergleichende Rezeption. Dies entsprach Hirschfelds analytischem Blick auf die Geschichtlichkeit der Literatur. Am ersten Abend lasen Werner Bergengruen, Kasimir Edschmid, Otto Flake und Wilhelm Lehmann, eingeführt von Emil Staiger; am zweiten Abend sprachen Günter Eich, Erich Kästner, Wolfgang Koeppen und Carl Zuckmayer, eingeführt von Max Frisch; am dritten Abend schließlich lasen Ingeborg Bachmann, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass und Karl Krolow, eingeführt von Friedrich Dürrenmatt. Hirschfeld hatte sehr auf die Teilnahme Paul Celans gehofft, für den er sich bereits während der Goll-Affäre eingesetzt hatte.60 Doch trotz wiederholter Bitten schlug Celan die Einladung aus. Die Autorenabende zeigten zwar ein weites Spektrum literarischer Positionen auf, aber zugleich legitimierten sie die anhaltende Relevanz der bereits vor 1933 und während des Nationalsozialismus in Deutschland in Erscheinung getretenen männlichen Autoren, konnte die Generationenschau doch auch genealogisch verstanden werden. Das Programm war auch ein Kompromiss. Er bekenne sich zur Kunst als Aufklärung in all ihren Erscheinungsweisen, hatte Hirschfeld 1960 erklärt und als Beispiele Lessing, Büchner, Brecht, Claudel, Sartre und Wilder, aus der zeitgenössischen Lyrik Bachmann, Celan und Enzensberger angeführt.61 Dies zielte auf eine Anerkennung der Historizität ästhetischer Formen und antwortete auf die konservative Einhegung des Zeitlosen nicht minder als auf die Gesten des Neuen als Traditionsbruch. Allerdings zeigt sich in Hirschfelds Rekurs auf „Aufklärung“ auch der Versuch, das Neue in eine bestehende Traditionslinie einzufügen. Die daraus 60   Vgl. den Briefwechsel im DLA Marbach und Paul Celan – Die Goll-Affäre. Dokumente zu einer „Infamie“, zusammengestellt und kommentiert v. Barbara Wiedemann, Frankfurt a. M. 2000, bes. 321 – 322. – Zwei Hirschfeld gewidmete Sonderdrucke, für die sich dieser Ende 1960 bedankte, werden im Katalog der Widmungsexemplare nicht aufgeführt. Vgl. Kurt Hirschfeld an Paul Celan, 19.12.1960, Nachlass Paul Celan / Briefe, DLA Marbach. 61   Kurt Hirschfeld, „Frisch, Dürrenmatt und das moderne Theater“ [Rede in Hannover 1960, 25 S., unvollständig], LBI, NY, KHC.

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resultierende Gefahr war, den Bruch auszublenden oder zu nivellieren, mit dem die Aufklärung gescheitert war. Im komplexen Diskursfeld gerade in den 1950er und frühen 1960er Jahren brachte dies Hirschfeld mitunter in die Nähe restaurativer und konservativer Positionen, deren politische Signifikanz retrospektiv nicht zuletzt in der Rehabilitierung zentraler Figuren des deutschen Literaturbetriebs liegt. In den Hirschfeld gewidmeten Büchern von so unterschiedlichen Akteuren wie dem umsichtigen PEN-Präsidenten Erich Kästner und dem politisch anpassungsfähigen Funktionär Kasimir Edschmid in der BRD oder dem Zürcher Ordinarius Emil Staiger in der Schweiz neben Bänden von Bertolt Brecht, Hans Mayer, Gershom Scholem, Peter Szondi und anderen zeigt sich der integrative Antrieb ebenso wie die Ambivalenz einer Position, die Hirschfeld einerseits als Mitunterzeichner des „Düsseldorfer Manifests“ in die Nähe der restaurativen Bestrebungen des von ihm verehrten Gustaf Gründgens brachte und ihn zugleich entschieden auf Neues zugehen ließ.62 Er sei „das Gegenteil eines sicheren Pharisäers“ und „wie so mancher, der einmal und für immer aus seiner Herkunft verstoßen worden ist, der persönlichen Treue sehr bedürftig.“63 Treue und Vertrauen machten es vielleicht möglich, an Freunden und Kollegen festzuhalten, die sich trotz der nationalsozialistischen Politik in Deutschland gehalten hatten. In seiner Bibliothek versammelte Hirschfeld deren politisch signifikante Freundschaftszeichen aus der Zeit nach 1945 neben den Büchern der emigrierten Freunde. Am eindrücklichsten zeigt sich die damit verbundene Herausforderung in Hirschfelds Haltung zum Handbuch der Weltliteratur von Hanns Wilhelm Eppelsheimer; auch dieses findet sich in einer dedizierten Ausgabe in Hirschfelds Bibliothek. Dieses Standardwerk hatte eine komplizierte Geschichte, war 1937 zunächst ohne Nennung von Emigranten wie Thomas und Heinrich Mann, aber mit Verweisen auf die jüdische Abstammung von Autoren wie Heine erschienen.64 Es sprach in seinen zurückhaltenden Wertungen der Literatur für seinen Autor und in der Bereitschaft zur wissen62   Zu Edschmid vgl. bes. Kasimir Edschmid, „‚Die Scham, mich plötzlich mit der ganzen zersetzenden Literatengesellschaft zusammen zu sehen.‘ Drahtzieher im Literaturbetrieb“, in: Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland. Begleitbuch zur Ausstellung, erarbeitet von Helmut Böttiger unter der Mitarbeit von Lutz Dittrich, Göttingen 2009, 34 – 63. – Zu Gründgens vgl. bes. Thomas Blubacher, Gustaf Gründgens, Hamburg 2011, bes. 106 – 112. 63   Max Frisch, Rede zum Tod von Kurt Hirschfeld (1964), in: Ders., Gesammelte Werke in zeitlicher Folge (1964 – 1967), Bd. V hg. v. Hans Mayer unter der Mitwirkung von Walter Schmitz, Frankfurt a. M. 1976, 355 – 359, hier 356 (= Frisch, Rede Hirschfeld). 64   Hanns W. Eppelsheimer, Handbuch der Weltliteratur von den Anfängen bis zum Weltkrieg. Ein Nachschlagewerk, Frankfurt a. M. 1937.

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schaftlich etikettierten Geschichtsklitterung gegen ihn. Für Hirschfeld stand die politische Integrität von Eppelsheimer – einem der engsten Freunde aus seiner Zeit als Dramaturg in Darmstadt und das Bindungsglied im Kontakt zu Peter Suhrkamp – aber außer Frage. Als Eppelsheimers Kompromisse 1950 als Gegenbild zu seinem Engagement für die Exilliteratur von dem im Schweizer Exil lebenden Autor Wilhelm Herzog kritisiert wurden, sah Hirschfeld darin „billige Demagogie“, setzte sich beim damaligen PENPräsidenten Erich Kästner für seinen Freund ein und betonte, er sei „entsetzt und traurig“ – die Vorwürfe zeigten „nicht nur ein menschliches, sondern auch ein politisches Problem.“65 Letzteres zielte auf die Polemik einer Kritik, die so ihr eigentliches Ziel verfehlte. Der PEN-Präsident wiederum fürchtete die „Folgen des grossen Glockenläutens“66 und bemühte sich im Stillen um die Beilegung der entbrannten Diskussionen, drohte sie doch den Vertrauensvorschuss für den deutschen Schriftstellerverband zu verspielen. Hirschfelds Exemplar des überarbeiteten Handbuchs von 1960 mit der Widmung „für den lieben Hirschi vom alten Eppels“67 markierte nicht nur den Schlusspunkt der Affäre Eppelsheimer, dem seine Kompromisse langfristig nicht schadeten, sondern war auch eine Verbundenheit demonstrierende Dankesgabe für Hirschfeld, der nicht an seiner Integrität gezweifelt hatte. Der Band markierte zudem die über die Selbstzensur stillschweigend hinweggehende Wiederherstellung eines literaturgeschichtlichen Zusammenhangs, der 1937 nur entstellt hatte gezeigt werden können. Für Hirschfeld blieb das Gespräch mit Eppelsheimer über Bücher und Gelesenes konstitutiv.

Kontinuität und Zäsur Schwierig war es dennoch, immer wieder von neuem zu entscheiden, wo solche Kontinuitäten möglich waren und wo der Genozid an den Juden in Europa eine Zäsur geschaffen hatte, die nicht zu überbrücken war. Diverser Pläne und Vorschläge zum Trotz nahm Kurt Hirschfeld nach 1945 keine 65   Kurt Hirschfeld an Erich Kästner, 24.1.1950, Nachlass Erich Kästner / Briefe, DLA Marbach; vgl. zur Biografie von Eppelsheimer bes. Deutsche Bibliothek / Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. (Hgg.), Hanns W. Eppelsheimer. 1890 – 1972. Bibliothekar, Literaturwissenschaftler, Homme de lettres, Redaktion Harro Kieser, Frankfurt a. M. 1990. 66   Erich Kästner an Kurt Hirschfeld, 27.1.1950, Nachlass Erich Kästner / Briefe, DLA Marbach. 67   Hanns Wilhelm Eppelsheimer, Handbuch der Weltliteratur von den Anfängen bis zum Weltkrieg, dritte, neu bearbeitete und ergänzte Auflage, Frankfurt a. M. 1960, in: Bibliothek Kurt Hirschfeld (1902 – 1964). Widmungsexemplare. Autographen, Zürich 2007, 24.

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Stellung als Dramaturg oder Intendant in der BRD an, obgleich er mit den großen Häusern in Berlin, Darmstadt, Düsseldorf etc. zusammenarbeitete.68 Im Gegenteil, er erklärte 1958 – im Zusammenhang einer intensiven KafkaLektüre, die „diese ganze Problematik“, das Verhältnis von Deutschem und Jüdischem, als Thema der eigenen Zugehörigkeit, für ihn neu aufgeworfen hatte –, wäre er jünger, würde er die ihm angetragene Leitung des israelischen Nationaltheaters Habima übernehmen, „ohne mit der Wimper zu zucken.“69 Die fehlenden Hebräisch-Kenntnisse hielten ihn davon ab, aber die Kafka-Bearbeitungen des Habima-Dramaturgen Max Brod für das Zürcher Schauspielhaus und dessen Bücher in Hirschfelds Bibliothek deuten an, wie wichtig der Austausch zwischen dem Theater in Tel Aviv und der Pfauenbühne in Zürich spätestens ab Mitte der 1950er Jahre für den jüdischen Emigranten in der Schweiz geworden war.70 Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch der Kontakt Gershom Scholems zu Kurt und Tetta Hirschfeld. Briefe und Erinnerungsskizzen, aber auch Bücher Scholems in Hirschfelds Bibliothek und ein Widmungsexemplar von Canetti für Hirschfeld, das Scholem als Erinnerungszeichen nach Hirschfelds Tod in seine eigene Sammlung aufnahm, deuten dies nur noch an.71 Die Vorbehalte gegenüber dem wiederaufgebauten Deutschland waren nicht gering, doch formulierte Hirschfeld als Dramaturg und später als Intendant des Schauspielhauses Zürich Kritik stets im Anschluss an Tradition.72 Dabei etablierte er das gewissermaßen „exterritoriale“ Schauspielhaus Zürich in distanzierter Nähe zum deutschen Theaterbetrieb beiläufig als einen Ort, der durch seine Offenheit Intellektuelle von Theodor W. 68

  In Hirschfelds Nachlass befindet sich ein Zeitungsausschnitt, der für ihn wichtig gewesen sein muss. In ihm bat ein Leser im Zusammenhang der Suche nach einem Intendanten für Berlin, Kurt Hirschfeld von der Rückkehr nach Deutschland abzuraten: „Sie können es gewiß nicht verantworten, diese Menschen in tiefste seelische Not der Enttäuschung und Vereinsamung zu stürzen. Was nutzt uns der Schutz der Militärregierung und einiger Einsichtsvoller, wenn uns die Mehrheit des Volkes ächtet?“ (E. S., „Wiedergutmachung soll aus dem Herzen kommen“, Leserbrief, Charlottenburg, Neue Zeitung (10.3.1950), LBI, NY, KHC.) 69   Kurt Hirschfeld an Karl Heinz Ruppel, 27.12.1958, LBI, NY, KHC. 70  Vgl. Bibliothek Kurt Hirschfeld (1902 – 1964). Widmungsexemplare. Autographen, Zürich 2007, 18 – 19. 71  Vgl. Bibliothek Kurt Hirschfeld (1902 – 1964). Widmungsexemplare. Autographen, Zürich 2007, 62 – 63; National Library of Israel, Bibliothek Gershom Scholem. Vgl. ferner Monika Plessner, Die Argonauten auf Long Island. Begegnungen mit Hannah Arendt, Theodor W. Adorno, Gershom Scholem und anderen, Berlin 1995, 111 – 120. 72  Max Frisch spricht im Zusammenhang des Tons am Schauspielhaus von der „geschärften Wachsamkeit der Vertriebenen, die auf der Hut sein müssen“. Frisch, Rede Hirschfeld, 356.

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Adorno über Helmuth Plessner bis hin zu Gershom Scholem anzog. Seinem Freund Hans Sahl hatte er kategorisch erklärt: „Ressentiments interessieren niemand und trüben die Argumentation.“73 Dieser hatte sich 1955 mit der unterstellten Nähe abstrakter Kunst zum Nationalsozialismus unter Melvin Laskys Ägide im Monat in eine verletzende Auseinandersetzung verstrickt, die von den Abgründen des öffentlichen Diskurses Zeugnis ablegt.74 In den dokumentierten Büchern und den Briefen Hirschfelds zeichnet sich seine Bibliothek, beweglich und sachlich, als Gegenentwurf zu den ästhetischen und ideologischen Verwerfungen seiner Zeit ab. Ein guter Text war für Hirschfeld, folgt man der Brieffährte seiner Werturteile, unpolemisch, präzis, klar, aufschlussreich. Diese Adjektive durchziehen seine Korrespondenz. Ausgerechnet ein nicht im Katalog der Widmungsexemplare gelistetes Werk, das Hirschfeld besessen haben muss, die Theorie des modernen Dramas, konkretisiert dies als Interesse Hirschfelds da, wo sich Neues ohne Ressentiment und im Anschluss an eine Tradition – und sei sie eine versteckte Tradition – zeigte. Das Buch von Peter Szondi erschien 1956 und war die überarbeitete Fassung seiner 1955 bei Emil Staiger in Zürich eingereichten Dissertation.75 Es hat eine Vorgeschichte, in die Hirschfeld involviert war – nicht nur durch die Bedeutung, die der Spielplan und die Inszenierungen des Zürcher Schauspielhauses für Szondis Arbeit besaßen. Im November 1955 schickte der Dramaturg, der sowohl die Familie Szondis als auch Emil Staiger kannte, Peter Suhrkamp das „zumindest in der Anlage bedeutende 73   Kurt Hirschfeld an Hans Sahl, 30.4.1955, LBI, NY, KHC. Vgl. auch Hans Sahl an Kurt Hirschfeld, 15.10.1955, LBI, NY, KHC: „Ich könnte, wenn ich wollte, [. . .] einen Mann wie [Carl] Linfert moralisch unmöglich machen, aber das würde bedeuten, dass man fast dem gesamten kulturellen Deutschland von heute den Kampf ansagen müsste – ich würde sogar das tun, [. . .] aber lohnt es sich? Die wenigen, die vollkommen integer waren, sind nicht immer die besten Schriftsteller.“ 74   Vgl. zur Debatte Hans Sahl, „Wie modern ist die moderne Kunst?“, Der Monat 76 (1955), 353 – 357; Carl Linfert, „Man muß weiter wissen“, Der Monat 79 (1955), 65 – 71; Hans Sahl, „Die Pflicht des Kritikers zur Kritik“, Der Monat 81 (1955), 279 – 281; Hans Sahl, „Eine Antwort“, Der Monat 84 (1955), 572 – 573. – Vgl. dazu auch Sahl, Exil, 136 – 142; Bernhard Spies, „Hans Sahl. Remigration und doppeltes Exil“, in: Irmela von der Lühe / Claus-Dieter Krohn (Hgg.), Fremdes Heimatland. Remigration und literarisches Leben nach 1945, Göttingen 2005, 153 – 168. 75   Vgl. Andreas Isenschmid, „Frühe Meisterschaft in der ‚Theorie des modernen Dramas‘“, in: Christoph König, Engführungen. Peter Szondi und die Literatur (= Marbacher Magazin 108), unter Mitarbeit von Andreas Isenschmid, Marbach am Neckar 2004, 23 – 30, hier 29. Zu Szondi vgl. bes. Andreas Isenschmid, „Peter Szondi. Portrait des Literaturwissenschaftlers als junger Mann“, in: Nicolas Berg / Dieter Burdorf (Hgg.), Textgelehrte. Literaturwissenschaft und literarisches Wissen im Umkreis der Kritischen Theorie, 2. Auflage, Göttingen / Bristol 2014, 389 – 408; Thomas Sparr, „Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis“, in: Berg / Burdorf, Textgelehrte, 427 – 438.

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[. . .] Manuskript“. Hirschfeld erklärte, dass auch Emil Staiger zu dem Text schreiben wollte, und bat mit großem Nachdruck um ein Gespräch: „[S]eit Lukacs’ Soziologie des Dramas und Benjamins wenigen Theaterarbeiten“ sei „kaum so Gutes geschrieben“ worden.76 Hirschfeld setzte sich wiederholt für die Arbeit ein, wissend, dass sich Szondi – in der Aufnahme von Ideen und Lektüre-Praktiken Adornos, Benjamins und Lukács’ – von seinem akademischen Lehrer Staiger entfernte. Der renommierte Staiger war ein wichtiger Kontakt des Zürcher Schauspielhauses, er sicherte dessen Verbindung zur universitären Welt Zürichs, übersetzte und schrieb (wie Szondi) Beiträge für die Programmhefte des Zürcher Schauspielhauses. Für das zwanzigjährige Jubiläum hatte er den programmatisch positionierten Beitrag über „Theater und Gegenwart“ geliefert, der den breiten Spielplan – „vom heitersten, leichtfertigsten Lustspiel bis zur lastenden Tragödie, vom modernsten Experiment bis zur uralt-sakralen Kunst“77 – legitimierte. Eine Widmung Staigers in Hirschfelds Ausgabe von Die Kunst der Interpretation hatte das gemeinsame Anliegen „in gemeinsamer Bemühung um kunstgerechte Interpretation“ zuvor bereits persönlich fixiert.78 „Sorry“, widersprach der frisch zum Intendant gewählte Hirschfeld so 1962 der Kritik Szondis an Staigers Ausführungen über „Das Problem des Stilwandels“,79 in denen sich Distanz zum ungenannten Schüler zeigte, und er erklärte, ihm gefalle der Aufsatz, „ganz ausgezeichnet“. Er fasse Staigers Position zusammen und sei aufschlussreich, trotz der „Dinge darin, über die man nicht nur anderer Meinung sein kann, sondern sein muss.“80 Das wiederum signalisierte ein intellektuelles Bündnis mit dem Jüngeren, dessen dialektisch argumentierendes Buch über die Theorie des modernen Dramas den Lehrer unaufgeregt und nicht ohne Verbindungsfäden zu dessen Poetik in die Vergangenheit verwiesen hatte.81 Hirschfeld konzentrierte sich auf das 76   Kurt Hirschfeld an Peter Suhrkamp, 10.11.1955, Siegfried Unseld Archiv, DLA Marbach. 77   Emil Staiger, „Theater und Gegenwart“, in: Kurt Hirschfeld / Peter Löffler (Hgg.), Schauspielhaus Zürich 1938 / 39 – 1958 / 59. Beiträge zum zwanzigjährigen Bestehen der Neuen Schauspiel AG, Zürich 1958, 1 – 6. 78   Emil Staiger, Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Zürich 1955, in: Bibliothek Kurt Hirschfeld (1902 – 1964). Widmungsexemplare. Autographen, Zürich 2007, 65. 79   Emil Staiger, „Das Problem des Stilwandels“, Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 55. (1961), 229 – 241. Dem Aufsatz folgte zwei Jahre später Emil Staiger, Stilwandel. Studien zur Vorgeschichte der Goethezeit, Zürich / Freiburg 1963. 80   Kurt Hirschfeld an Peter Szondi. DLA Marbach, Nachlass Peter Szondi / Briefe. 81   Auch die Theorie des modernen Dramas beschäftigt sich an exponierter Stelle mit einer „Theorie des Stilwandels“. Vgl. Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas (1880 –  1950), Frankfurt a. M. 1956, Überleitung zu Kapitel 3.

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Anschlussfähige in Staigers Arbeit, zumal vieles dem Programm des Schauspielhauses entsprach, und er vermittelte, letztlich auch dialektisch. Erst vier Jahre später, zwei Jahre nach Hirschfelds Tod, manövrierte sich der öffentlich geehrte Ordinarius Emil Staiger am Zürcher Schauspielhaus dann mit einer Rede gegen die Phalanx der zeitgenössischen Literatur in das intellektuelle Abseits eines geschichtsvergessenen Ressentiments, dessen diskurszerstörerisches Potential Hirschfeld ebenso gefürchtet wie auszugleichen versucht hatte,82 aber nicht mehr kommentieren musste. Die in der Bibliothek in vielen Details sich abzeichnende Position Kurt Hirschfelds – analytisch präzis und doch vermittelnd – war der anfechtbare Gegenentwurf zu den Verwerfungen und Konfrontationen ebenso wie zum Schweigen seiner Zeit. Buchtitel, Autorennamen, Jahreszahlen fügen sich in ihr zu einem Schema, das über die paradoxale Situation einer von Zäsur und Kontinuität geprägten Biografie in einem Umfeld Auskunft gibt, in dem die Präsenz der Vergangenheit als Zumutung empfunden wurde, die Gegenwart aber auch auf dem Boden der Kontinuität fußen musste – mit dem Vergessen oder der Verdrängung des Holocaust als ständiger Bedrohung.

82   Vgl. die Abbildung der Debatte 1966 / 1967 mit Beiträgen von Emil Staiger, Max Frisch, François Bondy, Peter Handke, Hans Egon Holthusen, Armin Mohler, Werner Weber u. a. unter dem Titel „Der Zürcher Literaturstreit“, Sprache im technischen Zeitalter 22 (1967), 83 – 206; Amrein, Kulturpolitik, bes. 312 – 317.

Quellenanhang Einführung Bei den beiden hier abgedruckten Texten von Kurt Hirschfeld handelt es sich um Erstveröffentlichungen, in welchen sich der Dramaturg, Regisseur und Theaterdirektor seinem Metier aus unterschiedlichen Perspektiven nähert. Der erste Text Anspruch und Funktion des zeitgenössischen Theaters (undatiert, vermutlich 1953 oder 1958) erschließt Kurt Hirschfelds Sicht auf die Bedeutung des Theaters. Der Autor reflektiert hier über den Anspruch des zeitgenössischen Theaters an sich selbst und über die Erwartungen des Publikums. Der Text lässt sich auch als eine Quelle lesen, die über Hirschfelds persönlichen Blick auf die Geschichte und die Bedeutung des Züricher Schauspielhauses Aufschluss gibt. In Probleme der modernen Dramaturgie (undatiert) beschäftigt sich Hirschfeld mit dem Wandel der dramatischen Form des Theaters und widmet sich wiederum dessen Funktion im gesellschaftlichen Zusammenhang. Der Autor äußert sich zum epischen und dramatischen Theater und offeriert eine Bewertung dieser beiden zeitgenössischen Ausprägungen des Theaters.1

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  Die hier erstmals veröffentlichten Texte finden sich im Nachlass Kurt Hirschfeld Col­ lection, 1910 – 1966 im Archiv des Leo Baeck Institute New York (AR7066, Kurt Hirschfeld Collection, IV. 20 und 18 – Lectures and Speeches). Bei beiden Texten handelt es sich um maschinenschriftliche Typoskripte mit handschriftlichen Anmerkungen. Da beides Redemanuskripte sind, werden die vom Autor im Typoskript vorgenommenen handschriftlichen Änderungen und Unterstreichungen wie auch gestrichene Passagen im Druck wiedergegeben. Sie werden im hier abgedruckten Text auf folgende Weise markiert: Unterstreichungen sind direkt wiedergegeben, Streichungen werden entsprechend markiert, Ersetzungen und Hinzufügungen sind durch Kursivierungen kenntlich gemacht. Randnotizen, die nicht Teil des Redetextes sind, werden nicht einbezogen. Die Rechtschreibung wird gemäß der Quelle übernommen. Wir danken dem Leo Baeck Institute New York für die freundliche Kooperation.

1. Anspruch und Funktion des zeitgenössischen Theaters1 Kurt Hirschfeld Das hier und mir gestellte Thema, Anspruch und Funktion des zeitgenössischen Theaters, meine verehrten Hörerinnen und Hörer, gliedert sich so komplex wie einfach in zwei Teile. Einmal wäre zu sprechen von dem Anspruch, den das Theater an sich selbst stellt. Dann wäre zu sprechen von dem Anspruch, der an das Theater in einer gründlich veränderten Welt von der Seite des Publikums gestellt wird. Aus diesen Ansprüchen ergibt sich die Funktion des lebendigen Theaters und seine Verpflichtung, diese Funktion zu erfüllen. Aus Ansprechen und Angesprochen werden, aus Rede und Gegenrede entsteht der Dialog Theater – Publikum, entsteht die Atmosphäre des Gesprächs und der Diskussion von der, wie mir scheint, die Existenz des zeitgenössischen Theaters entscheidend abhängen wird. Ein Wort vorweg ist zu sagen über den Standort des Sprechenden; aus ihm wird sich die Relativität seiner Aussagen leicht ermessen lassen. Denn hier möchten keine apodiktischen Urteile gefällt werden. Hier soll nichts gesagt werden, was nicht zugleich Frage ist oder in Frage zu stellen wäre. Wir leben in einer fragwürdigen, in jedem Belange frag-würdigen Welt, und nichts ist verhasster als das durchaus in Frage stehende mit Aplomb als gültige Wahrheit vortragen zu hören. Versuchen wir also, das Möglich-Wahre mit Vorsicht zu formulieren. Zum Standort: Der Sprechende arbeitet seit fast einem Vierteljahrhundert am Theater. Ihm sind also die Theaterfakten der letzten 25 Jahre lebendig präsent und die Theatergeschichte der letzten 50 Jahre ist ihm – wenn auch nicht immer durch eigene Anschauung bekräftigt – im Bewusstsein. Er arbeitet 20 Jahre in Zürich am Schauspielhaus, einem Theater, das in den letzten Jahrzehnten in die Geschichte des europäischen Theaterlebens

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  Kurt Hirschfeld, „Anspruch und Funktion des zeitgenössischen Theaters“, LBI, NY, KHC. https://archive.org/details/kurtkirschfeld_01_reel09/page/n912/mode/1up?, (Letzter Zugriff 24.11.2021).

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eingetreten ist, das vorher wie jedes Theater seine Glanzzeit hatte, das aber erst seit den letzten 15 Jahren zu den Modellen oder zu den Vorbildern des deutschsprachigen Theaters gehört. Die Kurzgeschichte dieses Theaters wird am leichtesten den Standort zeigen, der für die Meinung über das Theater, welche sich hier bilden konnte, wichtig, zumindest aber wegweisend, war. Das Zürcher Theater war um das Jahr 1933 herum ein Boulevardtheater, das mit 8‑tägiger Première Unterhaltungsstücke beliebigen Niveaus und beliebiger Herkunft spielte. Aufgeschreckt durch den Einbruch Hitlers in den deutschen Sprachraum, aufgeschreckt durch die Vergewaltigungen des Geistes entwickelte sich hier, für fünfzehn Jahre, das einzige freie deutschsprachige Theater. Es wurde sofort ein Anspruch an dieses Theater gestellt, nämlich der, die freiheitlichen Tendenzen innerhalb der alten und der modernen Theater­ literatur aufzuspüren und sie auf der Bühne zu realisieren. Die Funktion war auf diese Weise eindeutig humanistisch, freiheitlich, gegen jede Form der Unterdrückung gerichtet. Die Dramaturgie des Theaters, die sich dann ab 1938 in noch stärkerem Masse ausprägen konnte, ist einfach zu umreissen. Es handelte sich einmal um die Wahrung und Interpretation der klassischen Theaterliteratur, zum andern um die Entdeckung und Aufführung moderner Stücke, die gerade zu der Situation, in der sich Mensch und Gesellschaft in diesen äusserst kritischen und gefahrvollen Jahren befanden, etwas zu sagen hatten. Konkret gesprochen: in dieser Zeit der Bedrängnis des Einzelmenschen war z. B. „Götz von Berlichingen“ ein Aufruf für die Freiheit des Individuums, „Wilhelm Tell“ die Bestätigung für den Freiheitskampf und den endlichen Sieg eines kleinen Volkes, „Nathan der Weise“ ein Zuspruch im Kampf um die Toleranz, „Don Carllos“ ein Aufruf für die Freiheit, usw. Für die Moderne liess sich gleiches sagen. Steinbecks „Der Mond ging unter“ zeigte von der Bühne die Lage eines okkupierten Landes, in dem aus der Verschwörung der Widerstand wuchs, aus den grossen Stücken des katholischen Dichters Claudel, des Humanisten Wilder, aus den Stücken Hofmans­ thals und Georg Kaisers wuchsen Kräfte, die Wege zur Freiheit zeigten oder zumindest den Willen, frei zu bleiben, weckten. Es würde zu weit führen, die einzelnen Stücke hier auf ihre Funktion innerhalb der damaligen Gegebenheiten zu untersuchen, wie es andern Orts schon geschehen ist, und so mögen neben den schon genannten Namen hier andere Namen stehen: der Name des grossen Apokalyptikers Karl Krauss, der Name Giraudoux’, dessen letzte Aufrufe zur vielleicht schon zu späten Umkehr von geradezu revolu­ tio­nierender Wirkung waren, der Name des im spanischen Bürgerkrieg gefallenen Garcia Lorca, die Namen der jungen Schweizer Dichter Frisch

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und Dürrenmatt und last not least der Name des Theaterreformers und Dichters B. Brecht. Ihre Arbeiten bildeten den Grundstock des Repertoirs. Neben diesem Repertoire wurde ein Stil zu realisieren versucht, ein Spielstil, der den Intentionen der genannten Dramatiker angemessen war. Hinter dem Streit um Darstellungsstile stehen natürlich immer Anschauungen, deren Analyse zeigen kann, dass es sich bei Darstellungen nicht nur um willkürliches Gebaren von Schauspielern und Regisseuren handelt. Gestatten Sie mir aus der Erfahrung dieser Jahre eine kurze Anmerkung über den Stil der Aufführungen. Der pathetische Stil ist fast immer, ganz gewiss aber in unseren Tagen, restaurativ, konservativ. In ihm kommt es nicht so sehr darauf an verständlich zu machen, was auf der Bühne vorgeht. Die Musik der Worte, nicht was sie meinen, der Wohlklang der Sprache, nicht was sie sagen will, genügt, um das Publikum in seiner schönen Ruhe weiter zu beruhigen. Ein realistischer Stil  – und das ist der Gegensatz zum pathetischen  – zwingt zur Wirklichkeit. Mit Wirklichkeit ist natürlich nicht die bloss naturalistisch reproduzierte gemeint, sondern jede geistig interpretierte Realität, die beunruhigt, die gefährdet, weil sie Stellungnahme bedeutet und in sich alle Konsequenzen trägt. Die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit verlangt eine deutliche Wiedergabe der gemeinten Inhalte. Nicht die Musik der Sprache ist wichtig, nicht das Ariose, sondern das in ihr Gedachte, das durch sie Gemeinte, das mit ihr Gewollte. Die Freiheitsforderung des Marquis Posa, als Arie gesprochen, ist eine andere als die von Schiller gedachte und die real gemeinte. Diese nämlich führt zu beunruhigenden Konsequenzen. Und diese Beunruhigung ist das, was gesucht war. Marquis Posa bringt seine Forderung als verstandige und verständliche. Das hat für den Stil, für den Darstellungsstil, zur Folge: betonte Ausrichtung aller regielichen, aller dramaturgischen Intentionen aufs Humane, aufs Menschlich Verständige und zu Verstehende. Es war die Interpretation des Stückes, durch welche die Forderungen, die Meinungen, die Ansichten und die Absichten des Dichters so an das Publikum herangetragen werden sollten, dass sie ihre Funktion ausübten: nämlich das Publikum anzusprechen, Fragen zu stellen und Probleme weiter zu geben. Das war grosso modo der Versuch, der hier in den letzten Jahrzehnten gemacht wurde und zu dem der Sprechende sich zu bekennen verpflichtet fühlt. Hieraus ergibt sich: das Theater wird als moralische Anstalt genommen. Seine Fundamente sind vom Dramaturgischen her und nur von dort zu

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legen. Weltbilder, Meinungen, Stimmungen werden mit Bewusstsein und mit sozialer, moralischer und künstlerischer Verantwortung an ein Publikum herangetragen, mit dem sich dieses nun wiederum auseinandersetzen muss. Das Theater muss sich als moralische Anstalt erkennen; das ist der Anspruch, den es an sich zu stellen hat. Es schwebt nicht im luftleeren Raum, sondern hat als Institution hic et nunc sehr konkrete Aufgaben zu erfüllen. Als moralische Anstalt ist das Theater da zur Unterstützung des Menschen und zur Bereicherung seines Daseins. Es ist da, um religiöse, ethische, politische, geistige Forderungen an ihn zu stellen. Hic et nunc, diese beiden Worte umreissen den Bezirk dessen, was wir zeitgenössisch nennen. Das Theater muss sich der Gegenwart verpflichtet fühlen und die ihm daraus gesetzten Funktionen zu erfüllen bereit sein. Es muss ein Ohr haben für das, was in dieser Zeit zu sagen notwendig ist. Und sollte das zur Zeit und aus ihr Gesagte nicht in einem sehr bestimmten Sinne auch und vor allem für Morgen gemeint sein? Wenn es aber für Morgen gemeint ist, gehört dazu der Glaube an eine Entwicklung, wenn Sie wollen an einen Fortschritt, worunter nichts anderes verstanden sein will, als die auf gesellschaftlichen und moralischen Einsichten basierende, fortschreitende rationale Beherrschung des durch die Natur dem Menschen Gegebenen und die Regelung des menschlichen Zusammenlebens nach einsichtigen und vernünftigen Prinzipien. Erfüllt das Theater solchen Anspruch, so ist seine Funktion eindeutig. Das Theater ist kein Unterhaltungsinstitut, (womit nicht gesagt ist, dass es nicht auf unterhaltende Art jene Einsichten vermittelt.) Es ist, wie uns durch die Aufschriften an schönen alten Theatergebäuden immer wieder gesagt wird, für das „Vergnügen der Bevölkerung“ gebaut, aber doch wohl um auf die dem Theater eigene Weise Dichtung an ein Publikum heranzutragen, um Diskussion anzuregen, um den ganzen Kreis von Fragen, die in einer nun schon in sehr hohem Grade säkularisierenden Gesellschaft herumgehen. Das Theater ist nur in seiner gesellschaftlichen Funktion und nur in dieser gesellschaftlichen Funktion als Theater existent. Das Theater ist Forum und nicht Kanzel. Die Kanzel hat jeweils nur eine, nur ihre Wahrheit. Das Theater ist Forum, weil Meinungen demonstriert werden, die vermeintliche Wahrheiten und problematische Aussagen enthalten, einmal weil wenige Autoren glauben, eine Wahrheit zu haben, dann aber auch, weil es zum Wesen der Dramatik gehört und zu jeder echten Dialogik, Fragen zu stellen. Seit den sokratischen Dialogen, die eng mit den Anfängen des europäischen Theaters zusammenhängen, ist es die Frage, in der und durch die der europäische Mensch seinen Weg zu suchen gezwungen zu sein scheint. Wenn wir die Forum-Funktion des Theaters so in den Mittelpunkt stellen, tun wir es vor allem deshalb, weil in Diktaturzeiten oder Nach-Diktaturzei-

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ten oder in von Diktatur bedrohten Zeiten das verlernte Sprechen wieder gelehrt und gelernt werden muss. Man muss die Menschen ansprechend das Hören lehren und sie zum Sprechen erziehen. Darum ist diese Forum-Funktion so wichtig, darum ist es auch so wichtig zu diskutieren, aber natürlich nur innerhalb eines Problemkomplexes, der Dignität hat. Die Forumfunktion des Theaters, für die wir hier plädieren, zwingt uns von Ansprüchen zu reden, die falsch sind und zwar offensichtlich falsch und die sich verhängnisvoll auswirken müssen. Der falsche Anspruch, den das Theater an sich stellt, ist einmal der politische: nicht das politische Theater schlechthin, nein! (in einem anderen Sinne bleibt das politische Theater sogar Forderung), sondern vielmehr das sturpolitische Theater, das nicht Diskussion ist, das nicht Fragen stellt, sondern konforme, konformistische Meinungen als unumstössliche Wahrheiten hinstellt. Der andere falsche Anspruch, von dem zu sprechen ist, ist zwar ein geistiger Anspruch, der aber durch Ueberästhetisierung des theatralischen eine gesellschaftlich irrelevante Existenz führt und durch Mystifikation – und gleich ob bewusste oder unbewusste – Vernebelung eine reale Gefahr ist. Solches Theater, das scheinbar Dichtung und scheinbar Stil produziert, ohne eines von beiden zu haben oder zu sein, zelebriert eine falsche Metaphysik, einen metaphysischen Unsinn, unfreudiges Theater, das nicht aus der Lust geboren ist, sondern aus der Prätention. Wir haben hier die beiden Gefahren für das deutschsprachige Theater bei der Hand, die ostdeutsche und die westdeutsche Gefahr. In Westdeutschland sind es jene Theater, die im Absoluten so zuhause sind wie andere Leute in ihrer Küche. Jenes Theater, das glaubt, schon modern zu sein, wenn es eine Vokabulatur zu Tode reitet, von der es nicht weiss, dass sie vorgestern schon gestorben ist; jenes Theater, das noch nicht gemerkt hat, dass jede Theater­ ideologie – welcher Art auch immer – „nur“ interessant ist und schneller vergänglich als gemeint. Die Funktion dieses falschen Anspruchs ist deutlich: statt zu klären wird vernebelt, statt Dichtung zu interpretieren, klar und deutlich zu machen, wird das Gegenteil erreicht. Es sind zwar nur wenige aber genügend Theater, die diesen Weg gehen. Um deutlich zu sagen, wie gefährlich er ist, so fängt es immer an: nebulos und mit grossen Worten, unkonkret und mit einem imponierenden, wenn auch armseligen Vokabular. Wie es endet haben wir erlebt. Wenn diese Art von Abstraktion an die Macht kommt, ist der Totschlag an der Tagesordnung. Dann tritt der erste falsche Anspruch, von dem wir gesprochen haben – der politische – in Funktion. Dann verhüllt kein Nebel mehr die plötzlich klare Absicht und die nackte Brutalität.

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Welcher Anspruch wird nun von Seiten der Gesellschaft an das Theater gestellt, d. h. welcher Anspruch wird faktisch gestellt, und welcher Anspruch sollte gestellt werden? Die deutschsprachigen Theater sind zum weitaus grössten Teil subventio­ nierte Betriebe. Also gibt es ein Recht der Oeffentlichkeit auf diese Theater. Vorweggenommen sei zunächst eins: die Subventionen verpflichten. Sie werden aus Steuergeldern genommen, die in keinem Fall dazu da sind, lediglich dem Amusement zu dienen. Amusement muss nicht finanziert werden. Unterstützt wird lediglich und allein die kulturelle Institution mit ihren hier umschriebenen Aufgaben. Es würde zu weit führen, über die Begriffe der Kultur und der Bildung, denen das Theater als Institution zu dienen hat, zu sprechen. Wichtig scheint mir nur zu sein, dass das Theater einnehmen muss den Rang anderer kultureller Institutionen wie Universitäten, Schulen, Museen, wobei wir nicht ohne Ironie feststellen können, dass es von allen drei etwas in sich trägt. Hier bleibt wesentlich zu berühren, was mit jenen Begriffen der Bildung und der Kultur heute gemeint sein kann, denn nur so wiederum können wir den Anspruch formulieren, den die Gesellschaft und das sie vertretende Publikum an ein Theater zu stellen berechtigt sind. Das was man im 19. Jahrhundert unter Bildung und zwar spezifisch bürgerlicher Bildung verstanden hat, ist wohl heute kaum noch darunter zu verstehen. Kultur und Bildung, so wie wir sie noch verstehen, setzen einen vertikal geteilten sozialen Raum, setzen sozusagen eine hierarchische Gliederung voraus. Innerhalb dieses Raums ist Bildung u. a. eine Fertigkeit oder es sind Kenntnisse, deren man sich beliebig bedienen kann. Sozial gesehen aber dienen sie wiederum dazu, um Aufstieg von einer Schicht in die nächsthöhere zu ermöglichen. Sie sind sozusagen Fahrkarten, die man in den Bildungsinstituten zu festgesetzten Preisen erhalten kann und die zu einer Fahrt in die nächsthöhere Schicht berechtigen. Das alles hat heute aufgehört. Die Kenntnisse des Theaters und seiner Literatur bringt keinerlei soziale oder soziable Vorteile. Die Schichtung des Publikums hat sich geändert. Sie ist nicht mehr vertikal sondern horizontal und was die normale Umschichtung und Umstellung des Bewusstseins, was die Entideologisierung nicht bewerkstelligen konnte, das vollzogen die Konsumentenorganisationen, die Volksbühne und andere von sich aus. Das Publikum lebt heute in einer horizontalen Gliederung. Es stammt aus allen Schichten; es entwickelt Ansprüche, die wenig oder nichts mit sozialer Herkunft zu tun haben. Wie weit durch den Saekularisierungsprozess Theater eine Ersatzorganisation geworden ist, steht auf einem andern Blatt. Wir müssen es hier nur

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sagen, weil auch aus diesem Prozess ein gewichtiger Anspruch entsteht, der zugleich eine grosse funktionelle Bedeutung hat. Dieser Anspruch bringt nämlich das Theater in die Situation des Heilsspenders oder es hat Sehnsüchte nach Geborgenheit durch Dichtung zu befriedigen. Bl I Ende

Bd II Aufg. Dieses Moment, dass die der Kirche entfremdeten Publikumsschichten, die im Anfang unseres Jahrhunderts durch atheistische und monistische Ideologien gegangen sind und daher in einem religiösen Vacuum lebten, ist ein ernst zu nehmendes Phänomen. Gerade innerhalb des deutschsprachigen Theaters spielten Arbeiter- und Angestelltenschaft eine viel bedeutsamere Rolle als in andern Staaten. Wie weit die angedeutete Saekularisierung dazu geführt hat, können wir hier nicht feststellen. Jedenfalls werden sowohl das Unterhaltungsbedürfnis wie die Heils- und Sozialsehnsüchte heute weitgehend vom Kino befriedigt. So ist es möglich, dass gerade von diesen Schichten, die ein Ventil brauchen, ein besonderer Anspruch an das Theater gestellt wird und dass die Funktion des Theaters gerade für sie eine höchst besondere ist. Gerade sie verlangen vom Theater nicht Unterhaltung, gerade sie sehen in dem Theater eine moralische Anstalt, gerade sie verlangen Dichtung, gerade sie wollen belehrt, erhoben sein, konfrontiert werden, so dass die entscheidende Rolle dieser Schichten für die Entwicklung des Theaters heute schwer abschätzbar, schwer übersehbar ist. Sie weiter an das Theater zu fesseln, ihre Organisationen weiter auszubauen, gehört zu den entscheidenden Aufgaben jeder Theaterpolitik. Abgesehen von diesem nur in Parenthese besprochenen und eben gestreiften Element ist das Theater in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Umschichtung in einer bis anhin noch nie dagewesenen Situation. Die Kultur wird durch die neue horizontale Aufteilung nicht mehr von oben nach unten transferiert, sie kann sich auch nicht auf ihr eigenes Schwergewicht verlassen, es gibt nicht mehr die Vorbildsituation, die von einer Gruppe geschaffen wird, sondern der Transport von Bildung und Kultur geht und verläuft selbstverständlich in der Horizontale. Darum sind auch die Bemühungen um Bildung und um Kultur, d. h. um die Propagierung derselben, so gross und keiner Epoche unserer Geschichte vergleichbar. Was an Bildungs- und Kulturbemühungen, was an Propagierung und Finanzierung kultureller Institutionen geleistet wird, ist ungeheuer. Der Anspruch ist dem natürlich in keiner Weise adäquat, weil wir uns hier in einer ausgesprochenen Uebergangssituation befinden, aber soviel

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hat der Anspruch offensichtlich erreicht: ein auffallend verändertes Niveau der Spielpläne. Jeder von Ihnen kann vergleichen die Spielpläne seiner Stadt heute mit den Spielplänen vor 30 bzw. 40 Jahren. Er wird eine Niveauhebung feststellen, die absolut ungewöhnlich ist. Wenn wir uns heute die Spielpläne der Reinhardt Zeit, ja Spielpläne Brahms, also noch immer in unserem historischen Bewusstsein vorbildliche Spielspläne, ansehen, so staunen wir; wir finden nämlich nur zu einem weitaus kleineren Teil dichterische Werke, der grössere Teil des Spielplans enthält ausgesprochen Amüsierstücke. Auf einen Hauptmann kommen drei Blumenthal und Kadelburgs. Uns scheint es aus mehreren Gründen wichtig zu sein dies festzustellen: einmal weil durch die horizontale Schichtung das Publikum offensichtlich einen völlig andern Anspruch stellt, weil das Bildungsverlangen andere Wege geht, zum andern aber auch, weil solche Feststellungen in einer Zeit, in der von nichts als von Krise und Niedergang gesprochen wird, wichtig sind, ja, weil in solchen Zeiten von positiven Dingen zu reden ein besonderes Vergnügen ist. Hier wäre natürlich eine kleine Analyse des Krisengeredes am Platz, das in restaurativen Epochen immer besonders stark ist. Wir erleben das seit 150 Jahren immer wieder, wir erleben es fast mit den selben Ausdrücken, wenn wir uns bemühen, in die Briefe und Tagebücher der Literatur des 19. Jahrhunderts hinein zu sehen. Krise scheint mir im übrigen für das Theater von besonderer Wichtigkeit. Krise ist Spannung ihrer Wortherkunft nach, und nur in der Spannung ist künstlerische Existenz, ist theatralisches Leben möglich. Dort, wo die Patentlösungen angeboten werden, dort wo man auf jede Frage die angemessene Antwort weiss, pflegt die Kunst nicht einmal mehr restaurative Tendenzen zu haben, sondern einzugehen und zu verkümmern. Nun stellt aber diese neue Verlagerung der Publikumsschichtung noch andere Probleme. Der Zugang zu gewissen Schichten des Publikums ist erschwert. Merkwürdigerweise entwickelt sich durch die horizontale Schichtung ein Konformismus, der der Existenz des lebendigen Theaters grosse Schwierigkeiten macht, weil jene Gruppe des Publikums fehlt, die das Neue stützt und fördern hilft oder die gar das Experiment im Theater fördert. Es fehlen die Neinsager, es fehlen die Rebellen, wie wir sie im deutschsprachigen Theater der 20er Jahre in grossen Gruppen hatten. Ueberlegen wir kurz: die Geschichte der Uraufführungen im Theater ist eine Geschichte der Durchfälle, ob es sich um „die Räuber“, um „Götz von Berlichingen“ oder um Büchner, um Wedekind, um Claudel, um Sartre, Brecht, Giraudoux oder ­Wilder handelt. Da aber gab es jene Gruppen, die Beifall spendeten, jene Gruppen, die à tout prix mit dem Neuen gingen und die das Neue durchsetzen halfen. Diese avantgardistischen Gruppen, die aus ihrem Anspruch an das Theater das Salz seiner Entwicklung waren, fehlen heute. Interessan-

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terweise ist es gerade die Qualität, die der Avantgarde, die den lebendigsten Kräften, den Wind aus den Segeln nimmt. Wir kommen im Theater zu einer Perfektion, die geradezu eine Gefahr ist. Das Theater droht, zu einem Renommier-Museum zu werden. Eine weitere Schwierigkeit: Die Teilnahme an den Vorgängen des Theaters hat eine andere Form bekommen. Sie ist nicht so aktiv wie wir möchten, sie ist mehr informativer Natur. Man will informiert sein, man will wissen, was vorgeht, und zwar um des Wissens willen; man will wissen, unverbindlich und ohne unmittelbare Verpflichtung, man nimmt einfach zur Kenntnis und retiriert auf ein unbestimmt Kritisch-Aesthetisches, das wiederum zu nichts verpflichtet. Das braucht aber nicht besorgt zu machen, denn schnell kann und wird sich jenes Publikum durch aufklärende Diskussion bilden, und wir warten auf jene Gruppen von Jugend, die sich wieder fördernd und nicht hemmend in den kultur-politischen Vorgang einschalten. Die Ansprüche, die aus diesem neuen sozialen Raum erwachsen, zu fördern, sie formulieren zu helfen, ist eine gewichtige Aufgabe der kulturpolitisch aktiven Kreise. Im Bereiche des Theaters ist es klar, die von der Bühne entfachte Diskussion muss aufgenommen und weitergetragen werden. Die moderne Dramaturgie ist eine Dramaturgie der Probleme, ist eine Dramaturgie, die diskutiert sein will und die neue Schichtung des Publikums gibt ihr und uns ungeahnte Chancen. Diese Diskussion allein macht den Publikumsanspruch echt. Das Publikum lässt sich nicht nur ansprechen, es antwortet auf die Ansprache, und so beginnt das Gespräch. Stellen wir noch einmal fest: die moderne Dramaturgie hat bei aller Verschiedenheit der nationalen, geistigen und klassenmässigen Herkunft ihrer Autoren gemeinsame inhaltliche und formale Intentionen: in ihrem Ethos, in ihren materialen Forderungen und in der Sprengung der überlieferten Form der Dramatik. Ihre für uns entscheidende Grundhaltung ist das Ethos, das materiale Lebenswerte enthält, die das Theater wieder zur moralischen Anstalt machen. Die moderne Dramaturgie ist da zur Unterstützung des Menschen im Kampf um seine innere Existenz. Sie wirkt klärend für die politische, ethische, religiöse Problematik, sie dient der Bereicherung des Daseins. Ihre Formalia aber, d. h.  die Sprengung der klassischen Form, haben funktionelle Bedeutung und sind nicht l’art pour l’art. Die Sprengung erfolgte, um immer wieder aufmerken zu lassen, um ein Publikum zum Nachdenken zu zwingen, das Publikum zum Denken zu provozieren. Das Theater ist, wenn wir es richtig sehen, wirklich Forum. Es drängt sich in die Diskussion. Diese Diskussion aufzunehmen, diese Diskussion weiter zu führen, ist Anspruch und Funktion des zeitgenössischen Theaters, sowohl von Seiten des Publikums wie von Seiten des Theaters und seiner Mitarbeiter.

2. Probleme der modernen Dramaturgie1 Kurt Hirschfeld Meine Damen und Herren, Das Thema, über das ich zu sprechen die Ehre habe, ist von so vielen Seiten anzufassen, stellt eine solche Fülle von Fragen, dass Sie mir gestatten müssen, einige Fragestellungen herauszugreifen. Zunächst lassen Sie uns die Vorfrage stellen: Was ist und zu welchem Zwecke treiben wir Dramaturgie? Die Dramaturgie hätte sich zu beschäftigen mit der Analyse der Dramatik, sie hätte die Dramatik einzuordnen in ihrem geistigen und soziologischen Raum und sie hätte die Kontinuität und Divergenz der Dramatik von der Antike bis zur Modernen beschreibend aufzuzeigen. Sie ist also, wenn Sie wollen, ein Teil, ein spezieller Teil der Literaturwissenschaft, aber sie ist leider nicht als solcher konstituiert. Es scheint mir, dass das ausserordentlich bedauerlich ist. Und wenn ich in einer Zeit, die a priori gegen das Spezialistentum ist, eine solche neue Spezialisierung innerhalb der Wissenschaft befürworte, so geschieht es aus gutem Grund. Es ist üblich, dass man in einem akademischen Vortrag eine Literaturangabe macht, und ich finde das eine gute und reelle Sitte. Mir wird es schwer, Sie auf irgendeine Art von Literatur hinzuweisen; denn ich kenne trotz Bekanntem kaum eine solche. Echte Analyse der Dramatik, wie sie Aristoteles getrieben hat, müsste wieder aufgenommen werden. Sie ist aber im Grunde der Kritik vorbehalten, die in ihren grossen Erscheinungen manches Treffliche geleistet hat; aber diese Leistung musste sich und hat sich im wesentlichen wertend vollzogen, während sie wissenschaftlich wertfrei sein sollte. Echte Analyse muss Stück, Form, Sprache, Story und geistigen Hintergrund beschreibend feststellen. Ich spreche also von einem Wissenschaftszweig, den es faktisch nicht gibt, und Sie werden die Forderung verstehen: der Praktiker hat in unseren Zeitläufen nicht die Zeit, das zu leisten, was hier zu leisten wäre. 1

  Kurt Hirschfeld, „Probleme der modernen Dramaturgie“, Zürich, LBI, NY, KHC. https://archive.org/details/kurtkirschfeld_01_reel09/page/n862/mode/1up?view=theater, (Letzter Zugriff 24.11.2021).

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Zu welchem Zweck treiben wir Dramaturgie? Für uns ist sie in der Praxis im wesentlichen das Suchen nach einer Auswahl, nach den Stücken, die den Forderungen der Institute, an denen wir arbeiten, gerecht werden. Wir versuchen, in der Planung der modernen Aufführungen das Gesicht unserer Zeit zu zeigen. Wie schwierig das ist, mag Ihnen eine Ueberlegung sagen, die kurz anzustellen wäre: Wir haben keinen einheitlichen Raum, aus dem heraus eine Konzeption entstehen könnte. Die letzten Jahrzehnte haben ihn zerstört und selbst da, wo Hoffmannsthal ihn noch sehen konnte, nämlich bei den romanischen Nationen, sehen wir einen argen Zerfall. Ein neues scheint an seine Stelle zu treten und langsam zu wachsen. Als Synthese zeichnet sich langsam dieser neue geistige Raum am Horizont ab, der nun nicht mehr als Raum durch die Nation begrenzt ist, sondern viele Nationen in sich einschliesst. Selbst Amerika wird in ihm sichtbar. Und wir sehen es als geistiges Phänomen sich uns annähernd, und wir nähern uns ihm an, im Raum, der von echter Internationalität ist. Es ist die Aufgabe festzustellen, welche Einheit innerhalb dieses Raumes erreicht ist, die Tendenzen zu suchen, die zu dieser Einheit streben, ohne die Differenz zu übersehen, die aus nationaler, klassenmässiger, geistiger Bindung vorhanden ist. Das Theater als geistige Leistung, wenn sie gross und echt ist, muss eine Urforderung erfüllen, die nämlich, Menschen zu erschüttern. Dieser Begriff der geistigen Erschütterung hat etwas schwer zu Definierendes. Er bezeichnet eine Vernichtung und eine Neusetzung. Er enthält das „Stirb und werde“. Der Grad und die Art der Erschütterung kann zahllose Besonderheiten zeigen. Es kann etwas sehr Intimes, sehr Privates sein, das als Kraft im Einzelmenschen weiterlebt. Es kann Gruppen erfassen, Kreise und Schichten. Es kann bis in die letzten Gefühlsregungen, es kann bis in das Uranliegen des Ichs vordringen, auch wenn der Anstoss zu dieser Erschütterung durch einen rationalen Prozess gegeben ist. Das Theater als Kunstform ist eine Art der Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt, in der er existiert. Andere Arten der Auseinandersetzung, Dichtung, Philosophie, Wissenschaft, erfüllen ihre Aufgabe, indem sie sich entweder wie die Wissenschaft auf rationaler Basis mit Erscheinungsformen der Welt auseinandersetzen, oder wie die Dichtung die gleiche Funktion mit anderen Mitteln auf irrationaler Basis zu übernehmen. Theater vermittelt Dichtung auf besondere Art. Es vermittelt sie, indem es sie auf künstlerische Weise interpretiert und so Weltbilder, Meinungen, Stimmungen an ein ­Publikum heranträgt, mit denen sich dieses nun wiederum auseinandersetzen muss. Es ist, quantitativ gesehen, wahrscheinlich die beachtlichste Art, in der das dichterische Wort in eine Oeffentlichkeit

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dringen kann. Nicht nur daraus erwächst dem Theater die grosse soziale, moralische und künstlerische Verantwortung. Das Theater muss sich, und das ist nach dem Vorhergesagten selbstverständlich, als „moralische Anstalt“ erkennen, die nicht irgendwo im luftleeren Raum schwebt, sondern als eine Institution, die hic et nunc sehr konkrete Aufgaben zu erfüllen hat, eine moralische Anstalt, das ist umfassender gemeint als Schiller, der diese Formulierung einstmals geprägt hat, sie dachte, weil sie da sein sollte: zur Unterstützung des Menschen in der Problematik seines Daseins, zur religiösen, ethischen, politischen Forderung, zur geistigen Bereicherung seines Lebens. Hic et nunc, diese beiden Worte umreissen den Bereich dessen, was wir „modern“ nennen. Das Theater muss sich der Zeit verpflichtet fühlen und die ihm dadurch gesetzten Funktionen zu erfüllen bereit sein. Es muss ein Ohr haben für das, was in dieser Zeit zu sagen notwendig ist, und sollte das zur Zeit und aus ihr Gesagte nicht in einem sehr bestimmten Sinn auch und vor allem für morgen gemeint sein? Wenn es aber für morgen gemeint ist, gehört dazu der Glaube an eine Entwicklung, wenn Sie wollen, an einen Fortschritt, worunter nichts anderes verstanden sein will, als eine auf gesellschaftlichen und moralischen Einsichten basierende fortschreitende rationale Beherrschung des durch Natur und Gesellschaft gegebenen, durch den Menschen, und die Beherrschung der Natur des Menschen, durch eine Regelung des menschlichen Zusammenlebens nach einsichtigen und vernünftigen Prinzipien. Diese Präambel mag Ihnen etwa den moralischen Ort bestimmen, auf dem sich eine Dramaturgie konstituiert, wie sie für das moderne Theater notwendig scheint. Es ist also von einer Selbstverständlichkeit, dass die Stücke ausser jenen Voraussetzungen, von denen wir gesprochen haben, in ihrem Thema, in ihrem Ethos den Forderungen der Zeit, in der wir leben, entsprechen. Stücke, die jene Erschütterungen erreichen, durch die erst Einsichten vermittelt und erweitert werden können. Diese Einsichten aber können nicht einfach vorgetragen werden, sondern sie müssen dramatisch geformt, dichterisch gesagt oder denkerisch formuliert sein. [Bei aller Verschiedenheit ihrer nationalen, geistigen, klassenmässigen und künstlerischen Herkunft haben die Stücke der modernen Autoren, von denen wir sprechen werden, gemeinsame inhaltliche und formale Intentionen: in ihrem Ethos, in ihrer gesellschaftlichen und materialen Forderung und, künstlerisch gesehen, in der Sprenung der überlieferten Form der Dramatik. Ihre entscheidende Grundhaltung ist ein Ethos, das soziale und personale Lebenswerte enthält, die dem Theater als „moralische Anstalt“ notwendig sind. Das ­Theater und seine Schauspieler sollen fühlen und wissen, dass sie durch die

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Interpretation solcher Texte sinnvolle Arbeit leisten, dass sie da sind, um den Menschen im Kampfe um die innere und äussere Existenz zu unterstützen. Sie sollen helfen, klärend zu wirken in der politischen, ethischen und religiösen Problematik, sie sollen beitragen zur Rettung und Bereicherung des bedrohten Daseins. Die neuen Formen ermöglichen eine Verdeutlichung in der Vermittlung der Inhalte in der Art, dass dem Publikum nicht nur Gefühle ermöglicht werden, sondern Einsichten vermittelt. Es sind keine Sensationen mehr, die wir bieten dürfen und die von der Realität ablenken, sondern Dichtungen und Gedanken, die zu ihr hin und von ihr aus weiter führen. Das Gespräch, Grundlage jeder Demokratie, beginnt auf der Bühne, um im Publikum fortgesetzt zu werden. Mit jedem neuen Stück wird es von einer anderen Seite aufgenommen. Es ist immer dasselbe Objekt, es ist der Mensch, um den es geht und der Mittelpunkt des Gespräches bleibt. Denn sein Bild, das von der Zerstörung bedroht ist, muss gerettet werden. Das Bild des Menschen in seiner ganzen Mannigfaltigkeit, mit allen ihm geschenkten Möglichkeiten, aus allen uns gegebenen Perspektiven, wird zur Diskussion gestellt. Wenn wir hier und unter diesem Aspekt von einem Ethos sprechen, von einer Forderung, die in der gesamten modernen Dramaturgie, auf die es uns ankommt, enthalten ist, so meinen wir damit ein materielles Ethos, d. h. konkrete Forderungen, die als Appell Meinungen in sich tragen, die gerichtet sind auf ein religiöses Menschen orientierendes Verhalten, das unter dem jeweiligen Aspekt des Autors „richtig“, oder besser berechtigt erscheint. Es wird etwas gewollt. Es ist nicht die Aufgabe der Dramaturgie, zu diesem „Etwas“ Stellung zu nehmen. Wir können nur beschreibend feststellen, dass ein Etwas da ist, dass e es gedacht ist und dass es in künstlerischer, dramatischer Form ausgesagt ist. Eine zweite Tendenz, die festzustellen ist, ist jene uns höchst wichtig erscheinende Tendenz der Desillusionierung. Eine Tendenz, die besagen will, dass hier Theater gespielt wird, dass nicht Menschen in den Bann einer Story gezogen werden, unbedacht und unüberlegt sich mitreissen lassen sollen, sondern dass ihnen Realität, geistige und „schlechte“ Realität vorgetragen wird zu ihrer Orientierung. Die Gründe für diese Desillusionierung sind heute wohl vor allem gerichtet gegen die Kunstmache, gegen die Art sozialer und geistiger Zauberei, die uns der Stellungnahme entheben will und die uns vormacht, wie schön, einfach und problemlos das Leben ist. Lassen Sie mich deutlich werden: Ich meine jenen Kitsch, der sich im Theater und vor allem im Film breitmacht und in dem die sozialen, erotischen und religiösen Träume realisiert sind, in dem jedes junge Mädchen seinen Generaldirektor in der Handtasche, jeder junge Mann sein sorgloses Dasein in der Akten­

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tasche und jedes edle Fräulein leichthin eine Heilige sein kann. Diese Art von Theater hat die Form des Illusionstheaters adoptiert. Und so geht diese Forderung der Desillusionierung weit vom Dramaturgischen in den Bereich des Theatralischen hinein, in Bühnenbild und Spielstil. Sie will mehr besagen als es die Aufgabe dieses Vortrages sein kann. Wen von den modernen Autoren und Dichtern meinen wir, wenn wir von der modernen Dramaturgie sprechen? Die zu nennende Auswahl soll in keiner Weise Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Wir stellen den ­grossen katholischen Dichter Claude neben den Marxisten Bert Brecht, den Humanisten Wilder neben den existenzialen Analytiker Sartre, den Dichter Hofmannsthal, der sprachlich und inhaltlich der grossen österreichischen Tradition entwuchs neben Georg Kaiser, dessen letzte Stücke eine Rationalisierung des Mythos, eine Aufhellung von bildhaften Begebenheiten und ihre Umbiegung ins menschlich Verständliche waren, den Apokalyptiker Karl Kraus, dessen grandios erschreckende Visionen erst jetzt Wirklichkeit wurden, neben Giraudoux’ letzten Aufrufen zur vielleicht schon zu späten Umkehr, die Dichtung des im spanischen Bürgerkrieg ermordeten Garcia Lorca neben des jungen schweizer Dichters Max Frisch. Das sind Namen – Namen, hinter denen Welten und Anschauungen stehen, die den Zwang zur Auseinandersetzung in sich tragen und die Diskussion, die wie immer in ästhetischen Dingen über Formales beginnt (denn fast alle diese Dichter versuchten sich in Formen, sei es durch völlige Sprengung des gewohnten Stückstils oder gar des Bühnenrahmens, sei es durch eine neue Dramaturgie) und endet bei den Materialien, die die Stücke vortragen und als brennende Fragen zur Diskussion stellen.] Greifen wir nicht ohne Willkür aus ihnen einige Stücke heraus und versuchen wir kurz ihr Anliegen zu analysieren: Sartre „Les mouches“, das sich wie etliche moderne Stücke des antiken Elektra-Orest Mythos bedient (wir erinnern in diesem Zusammenhang nur an O’Neill, Gide, Giraudoux, Cocteau) ist ein Schlüsselstück, das geschrieben und aufgeführt wurde im besetzten Paris der Jahre 1942 und 1943. Sartre, Professor für Philosophie an der Sorbonne, hat mit diesem Stück einen entscheidenden Beitrag zum Geist der Widerstandsbewegung geleistet. Im Mittelpunkt des Dramas steht das Problem der Freiheit von der Tyrannei (Aegist), der Freiheit von der Natur (Klytemnestra), der Freiheit von den falschen Göttern (Jupiter). Orest, sein Held, ein neuer Typus des Freiheitsheldes, ist ein Mensch unserer Zeit. In seinem zarten Knabengesicht steht die Einsamkeit des freien Menschen, steht die Angst, die Sorge, die Not, die Verzweiflung an einer Welt, die er noch nicht kennt und die ihn nach seiner Tag nicht kennen will. Orest, der als Kind Verbannte, kommt zurück nach Argos. Ein junger Mensch, der viel gelernt

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hat, aber ein Mann ohne Erinnerung, der nicht weiss, wohin er gehört. Er sucht Gemeinsamkeiten und er glaubt, mit dem Mord an Aegist und Klytemnestra das „Bürgerrecht“ erkauft zu haben. Er befreit das Volk von der Tyrannei. Er befreit es von den Erinnyen, die in Gestalt der Fliegen auftreten (schon Aeschylos und Giraudoux nennen sie so). Doch am Schluss des Stückes gehen die Erinnyen mit ihm, aber das Volk steht da, von allem befreit. Befreit von der Tyrannei, befreit von der Not, befreit von der Angst, es steht im Nichts. Hier hat ein Dichter gewagt, ein gewaltiges Problem des „après la guerre“ aufzuzeigen. Dieses Fakturm des Nichts, in dem sich die Menschen ohne bindende Idee, ohne Glauben, ohne Aufgabe plötzlich befinden, dieses Nichts, das für uns erst jetzt realisierbar geworden ist, wenn wir daran denken, dass Menschen ohne die selbstverständlichsten und normalsten Grundlagen, die eine Gesellschaft ausmachen, zu leben gezwungen sind. Kein Dach über dem Kopf, ohne die Aussicht, einmal wieder eines zu haben, keine Nahrung, ohne zu wissen, wann sie wieder einmal welche bekommen werden. Dieses Stück ist für ein neues Publikum geschrieben, neu insofern, als es weiss, dass nichts selbstverständlich ist als die Ungewissheit der Zukunft, ein Publikum, das zugleich wissen will, welche Gefahren ihm drohen. Ein Publikum, das trotzdem bereit ist, sein Schicksal auf der Grundlage dieses seines erfahrenen Wissens selbst zu gestalten. Die Begegnung des Orest mit dem Nichts ist die einzige und wirkliche Leistung, die ihm von niemandem abgenommen werden kann. Sie ist die Probe auf jede Ideologie, die Feuerprobe auf Kraft und Haltung. Er hat sein Volk befreit, denn Völker können befreit werden, der Einzelne kann nicht befreit werden. Die Erinnyen bleiben bei Orest als Träger des Schmerzes, auf den auch der Befreier nicht verzichten darf. Jenes Schmerzes, der die Voraussetzung des Daseins ist. „Das Leben“, sagt Orest, „beginnt jenseits der Verzweiflung.“ Wir müssen durch den Nullpunkt, der uns durch unser falsches individuelles und gesellschaftliches Verhalten gesetzt ist, erst hindurch. Wir müssen jenen äussersten Grad existentieller und gesellschaftlicher Krise überwunden haben, um uns frei zu machen für ein Leben, dem wir mit anderen, neuen Mitteln dienen können. Die Probleme dieses Stückes sind neben der Freiheit die Reue, die Erinnerung, die Sorge, die Tat, die Einsamkeit, Befreier und Befreite, Individuum und Gesellschaft, ideologische Voreingenommenheit, Verzicht; alles Probleme, die uns eminent angehen. Sartre kommt aus der Schule der Phänomenologie. Es ist das erste das unter diesen Aspekten geschrieben worden ist. Auch das zeigt neue, ungewohnte Elemente. Wir haben es nicht mit einer einfachen dramaturgischen Konzeption zu tun. Wir haben nicht Menschen vor uns, Menschen, die nicht im vorhinein vom Autor als gut oder böse gezeichnet sind, die Träger von Ideen und Ideologien sind. Wir haben runde,

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sehr reale Menschen innerhalb eines antiken Mythos, die nicht schon in der Anlage Träger bestimmter Aufgaben sind, sondern die sich durch die Situa­ tionen, in die sie gestellt sind, erst vor uns entwickeln und die das, was in ihnen an Gut und Böse, an Ideal, Ideologie und Voreingenommenheit ist, erst an den Bühnensituationen erweisen. Es ist eine Umwandlung des Thea­ ters, speziell des französischen, von einem psychologischen „Théàtre des charaktères“ in ein „Théàtre des situations“. es soll die Reaktion des Menschen gegenüber Situationen gezeigt werden, denn es gibt keine menschliche Natur, die nicht unter anderen Umständen anders handelt. Denn das Wesentliche ist und bleibt die „condition humaine“. Das wahre Drama des Menschen vollzieht sich in seiner Berührung mit der Welt. Die „condition humaine“, hier liegt die entscheidende Verbindung des Existentiellen mit dem politisch Realistischen, der neben und mit existentiellen Einsichten die Gesetze des gesellschaftlichen Zusammenhanges sucht und zugleich die Frage seiner gesellschaftlichen Möglichkeit. Es ist die Frage nach dem „Aufheben“ im Hegelschen Sinne und der Synthese von Individualismus und Kollektivismus. Das Publikum kann da nicht auf eine einfache Art „mitgehen“ es sieht sich immer wieder vor Situationen gestellt, die Fragen aufwerfen. Und dadurch erfüllt das Theater seine Aufgabe, Forum zu sein. Es stellt Meinungen zur Diskussion, die Form zwingt zur Auseinandersetzung, die Inhalte attakieren das Publikum und wollen besprochen sein. Die neue Struktur des Sartre’schen Dramas aber wird nicht leicht durchsichtig, weil er, wie jener andere grosse französische Dramatiker, Giraudoux, ganz in der Tradition der grossen Dramatik des 17. Jahrhunderts gebunden ist. Seine Figuren sprechen wie die Giraudoux’ in langen und grossen Tiraden, die den Vers in sich tragen, obwohl sie ihn nicht brauchen. Zu sprechen von Der einzige, der in der französischen Dramatik diese traditionelle Form bricht, ist ihr traditionsgebundenster Dichter, Claudel. Formal benutzt Claudel im „Seidenen Schuh“ alle theatralischen Formen, die uns bekannt sind. Es hat Szenen im „Seidenen Schuh“ vom Brio des französischen Klassizismus, neben naturalistischen Szenen von der Form des japanischen Theaters, in denen Gefühlsmomente der handelnden Person nicht von sieser selbst gespielt werden, sondern von einem Ansager erzählt wird, was sie jetzt fühlt. Daneben stehen Szenen des spanischen Theaters, der italienischen Comedia del Arte. Und im Gegensatz zu Sartre, der die Fülle der Probleme zur Diskussion stellt, ohne den Ausweg zu zeigen, denn welcher Dichter ohne strenge weltanschauliche Bindung hätte das Recht zu unbefugten Antizipationen, die ihn veranlassen müssten, über seinen Schatten zu springen, zeigt Claudel die Welt des Katholizismus. Und was ihm problematisch ist und was er problematisch sieht, führt er immer auf einen

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und den gleichen Weg. Man könnte ein bekanntes Wort abwandelnd von Claudels „Seidenen Schuh“ sagen: Der einfachste Weg zu Gott führt um die Welt. Formal gesehen ist wohl Claudels „Der seidene Schuh“ die sprachkräftigste Dichtung des neuen Frankreich. Inhaltlich gesehen hat diese Wirkung ­Sartre, der die Bombe mit aller realen Problematik in ein Publikum platzen lässt, das gewillt ist, diese sprengenden Kräfte zu ertragen. Claudel ruft die Religion an und zeigt in seiner weltumspannenden Katholizität des einen Weg. Sartre spricht zu den politischen und ethischen, um das Existentielle und Gesellschaftliche ringenden Menschen. Jenseits des Ozeans, weit weg von diesem traditionsgebundenen und zugleich revolutionären Franzosen lebt der Dichter, aus dem amerikanischen Kulturkreis, den wir in unsere Betrachtung einbeziehen müssen: Thornton Wilder. Wilder, ein Gelehrter wie Sartre, dieser Pielologie [sic!] Archäologe, jener Philosoph. Dass gerade diese beiden ihre Arbeit in wissenschaftlichen Berufen haben, dürfte wohl auch kaum Zufälligkeit sein. Das erste Stück von ihm, „Our Town“ haben Sie auch in Wien gesehen. Wir wollen nur von dem letzten Stück „Wir sind noch einmal davon gekommen“ („The skin of our Teeth') sprechen, weil uns hier in deutlicherer und radikalerer Form das Anliegen Wilders erkennbar erscheint. Dreimal Weltuntergang, dreimal sind wir davon gekommen. Im ersten Akt ist es die Eiszeit, die den Menschen bedroht und aus der sie sich retten können durch das Erhalten des Feuers. Im zweiten ist es die Sintflut, in der die Menschen gerettet werden durch die Arche, auf die sich die Familie des Mr. Antrobus zurückzieht und im dritten Akt ist es der alles zerstörende Krieg, aus dem wir noch einmal davongekommen sind. Im ersten Akt ist es die Stimme des Volkes, – symbolisiert durch die Emigranten, unter ihnen Moses und Homer, das Gesetz und die Dichtung – in seiner Not und in seiner Verwirrung, die Wilder gestaltet. Durch die Hilfe aller wird das Feuer wach gehalten und die Menschheit gerettet. Im zweiten ist es die Familie, und im dritten geht es um die Rettung der geistigen Elemente unserer Kultur. Wie in Giraudoux’ „Sodom und Gomorrha“ werden hier Endzustände gezeigt, Endzustände, in denen sich eindeutiger mögliche menschliche Verhaltensweisen aufzeigen lassen. Und wie bei Claudel wird die Zeit zusammengerafft. Aus perspektivischer Sicht schieben sich die Zeiten wie Bergketten ineinander und wenn bei Claudel vier Tage ungesagt sind, in denen wir durch Welten und ganze Lebensabläufe geführt werden und die das Dasein des Menschen umfassen, so sind es bei Wilder drei Zeiträume von der Prähistorie bis heute, und in der Prähistorie spielt sich Heutiges und in dem Heutigen Prähistorisches ab. Die dramatische Zeit wird aufgelöst. Der dramatische Raum ist nicht mehr existent. Das dramatische Sein tritt an die

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Stelle von Zeit und Raum. Mit der Kraft neuer, echter und erfüllter Symbole lässt sich das Weltgeschehen auf mehrere Akte oder Bilder zusammendrängen. Die Geschichte des Mr. Antrobus und seiner Familie, er der Erfinder des Einmaleins und des Rades, sie die Erfinderin des Zwickels und des Saumes, mit ihrer Tochter und mit ihrem Sohn, jenem Sohn, der nachher zum Kain wird und der das Symbol des ewigen Nazi ist. Was bei Wilder zunächst auffällt, ist die, wie man meint völlig neue formale Lösung oder Auflösung des Dramatischen. Diese Form ist nicht so neu, sie enthält Elemente des Thea­ ters, die vor allem der Comedia del Arte mit ihren Improvisationen und Unterbrechungen und dem alten Wiener Volkstheater entnommen sind. Und sie enthält zum anderen Elemente des epischen Theaters, wie wir sie des Näheren bei Brecht kennen lernen werden. Ein Schlüssel zu dieser Form findet sich in Wilders berühmten Roman „Die Brücke von San Luis Rey“. Es heisst dort: Aber er vermeinte, sobald er sich an ihrem Stil ergötzt hatte, alle ihren Reichtum und ihren Sinn ausgeschöpft zu haben und liess sich nicht anders als die meisten Leser just das entgehen, was der eigentliche Sinn der Literatur ist: die Notation des Herzens. Der Stil ist bloss das ein wenig verächtliche Gefäss, in dem der Welt der bittere Trank anempfohlen wird. Das ist es, die Notation des Herzens, die Notenschrift, in der das Herz aussagen kann und der Stil, das ist das Gefäss, in dem man servieren kann, um den bitteren Trunk zu empfehlen und trinkbar zu machen. Was erreicht der Dichter mit dieser Form? Da er Fragen hat, weil er Aufgaben stellt, findet sich das Publikum, das gerade eben in sorglosem Beteiligtsein und im Gefühl, einen angenehmen, fast heiteren Theaterabend zu verbringen mit Lachen und Weinen, ein wenig komisch und ein wenig traurig – erreicht er, dass dieses Publikum plötzlich aufhorcht und vom Ernst der Bühnensituation mit dem Ernst der eigenen Situation konfrontiert wird. Wenn im letzten Akt alle aus dem alles zerstörenden Krieg zurückkommen, der Vater Antrobus, Sabina, der Sohn Kain und aus den Kellern der zertrümmerten Häuser die Frau und die Tochter mit ihrem neugeborenen Kind sich wieder an das Licht des Tages wagen, da ist eine Szene, in der Kain gegen den Vater aufsteht. Er will den Krieg weiterführen. Er hat nichts anderes gelernt. Er verwechselt seine Freiheit mit seinem Egoismus und es kommt zu einer Szene, in der der Sohn dem Vater an die Gurgel geht. Mitten im Höhepunkt dieser gefährlichen Szene unterbricht der Schauspieler und entschuldigt sich, dass er diese Szene so real gespielt hat. Das Stück schlägt um. Das mitgerissene Publikum wird plötzlich aus der Stimmung, in die es kommen könnte, herausgerissen und es wird ihm gesagt: „Hier spielen Menschen Theater. Aber so wird in und mit der Welt gespielt“. Durch die Auflösung der Situation wird dies noch

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glaubhafter. Denn dass plötzlich die Bühnenrealität in die aussertheatralische Realität umschlägt, ist mehr als ein spielerisches Element. Es ist auch mehr als ein symbolisches. Es zeigt den Kampf des ideologisch Besessenen, der im Augenblick seiner Besessenheit ein Spieler seiner Selbst ist, der sich und uns, nicht seine „Menschheit“, wie Schiller sagen würde, zeigt, sondern seine Rolle, die er im Auftrage der Ideologie übernommen hat. Die Szene sagt uns: Befreit diesen Menschen von seinem Krampf erkenne die Ursache und denke daran, dass das Dir und Deinem Nachbar passieren kann. Wir haben hier alles erfüllt, von der Erschütterung bis zur Desillusionierung, vom humanistisch-christlichen Ethos bis zur Ausbreitung einer Diskussion, die das angefangene Gespräch notwendig im Pbublikum weiterführen lässt. Man hat Wilder mit einem heute sehr beliebten Wort – einen terrible simplificateur genannt. Gewiss haben seine amerikanisch frischen Vorstösse in das Gebiet des Dramas nicht jene Uebersichten, die auf Frankreichs Boden in Giraudoux, in Claudel, in Sartre wachsen. Dafür ist hier bei Wilder ein ratio­ naler Blick für das Notwendige und das Ueberflüssige, für das jetzt und hier Auszusagende. Wir sagten schon, Sartre und Giraudoux können sich durch die Erinnerung, Schicksal und Einsicht keine Lösungen gestatten. Wenn am Schlusse von Sartres „Fliegen“ das zurückgebliebene Volk die Marseillaise singen würde, so wäre dem Stück der Erfolg sicher. Wenn in „Sodom und Gomorrha“ Lias Herz weich würde, so wäre der Weltuntergang mit einer ehelichen Rührszene aufgehalten. Das europäische Drama kann sich diese Antizipationen nicht gestatten. Es kennt zu viele Wege, zum zu wissen, wohin der Weg führt. Die Grösse dieses Dramas besteht eben nicht in der Antwort, sondern in der Frage. Die Antwort gibt das Leben, nicht die Bühne. Zu tief sind die Konflikte der Geschlechter bei Giraudoux und der Sozietät bei Sartre aufgewühlt. Jede Antwort müsste blasphemisch empfunden werden. Wilder Wilder gibt auch keine Antwort im eigentlichen Sinn. Er zeigt nur Wege, schmale Wege, in denen in der Geschichte das europäische Ethos gegangen ist und die wiederzugehn und wiederaufzuspüren ihm dringlich erscheint. Hier drängt sich die Besprechung zweier anderer amerikanischer Autoren auf, von denen jetzt viel die Rede ist: Tennesee Williams und sein Stück „A Streetcar named Disire“ und Arthur Millers „Death of a Salesman“. Diese beiden Stücke gehören zu jener Form des Theater, die das Desillusionierende, Nichterkennen der Realität als entscheidendes Problem in den Mittelpunkt stellen. Jene Blanche aus Tennesee Williams Stück: Das Mädchen aus guter Familie, verarmt seit Generationen, das aber den Traum vom schönen Leben weiterträumt, den Traum der reichen Farmerstochter, schön und umworben, und das nicht sehen will und sehen kann, dass seine Welt längst versunken

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ist und das am Nichterkennen zerbricht. Um das Mädchen herum ist nichts als Realität, brutale Realität, vielleicht für unseren Geschmack etwas zu brutal. Aber die amerikanischen Schriftsteller wissen, dass manche Dinge, die zu sagen sind, selbst auf Kosten des Aesthetischen deutlich gesagt werden müssen. Das Erschütternde und sehr ernst zu nehmende aber an diesem Stück ist – und das hebt es ab von der Fülle üblicher Produktion – dass das Verrücktsein der Blanche in einen zarten Lyrismus übergeht, in einen Lyrismus, der zu echter Erschütterung führen kann und der das, was wir am Anfang sagten, jene merkwürdige Umkehr, Umkehr zur Einsicht und Abkehr von falschen Träumen, zu bewirken imstande ist. – Auf anderer Ebene gilt Aehnliches von „Death of a Salesman“. Auch hier die Forderungen nach Realität, auch hier die Forderung nach Einsicht, auch hier das Zerbrechen eines Menschen am falschen Traum. Wir dürfen uns durch die Deutlichkeit dieser Stücke nicht beirren lassen. Hier wächst eine dramaturgische und theatralische Kultur, die überwuchert und überdeckt ist von vielem Negativen, aber die in ihren wenigen Vertretern Möglichkeiten zeigt, denen wir uns bei einer Uebersicht über die internationale Dramaturgie nicht verschliessen dürfen. Jetzt drängt es uns in diesem Zusammenhang von dem deutschsprachigen Dichter Bert Brecht zu sprechen. Mit der Nennung des Namens schon verbindet sich eine neue Theorie und Praxis des Theaters, nämlich die des „epischen Theaters“. Es wäre eine nicht uninteressante Aufgabe, die Geschichte und Entwicklung dieser Theorie und ihrer Praxis zu erzählen. Anzufangen mit den ersten Stücken Brechts „Trommeln in der Nacht“, „Im Dickicht der Städte“ und über die „Dreigroschenoper“ und den „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagony“ zur „Heiligen Johanna der Schlachthöfe“, den Lehrstücken bis zu den in Zürich aufgeführten Werken „Mutter Courage“, „Der gute Mensch von Sezuan“ und „Galileo Galilei“. Wir müssen uns hier leider mit einem summarischen Ueberblick begnügen. Und so will ich nun in Kürze berichten, was dieses epische Theater eigentlich meint. Der Ausgangspunkt unserer Aufführungen und die mit oder ohne Einfluss von Brecht behandelte moderne Dramatik finden im epischen Theater ihren am radikalsten formulierten Ausdruck. Was Wilder meint, Sartre uns innerhalb der französischen Tradition sagt, Claudels Katholizität ausdrückt, Giraudoux mit grosser und fundierter Thea­tralik dialogisiert, hier ist es mit weltanschaulich andern und eindeutigeren Inhalten theoretisch expliziert. Das epische Theater ist zunächst der Gegensatz zur dramatischen Form des Theaters. Im Drama ist die Handlung als Ablauf schwer diskutierbar. Sie muss als solche hingenommen werden. Im epischen Theater wird der Inhalt verselbständigt – durch die Auf-

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gabe jeder Illusion – zugunsten ihrer Diskutierbarkeit. Dadurch, dass der Zuschauer statt selber erleben zu dürfen, sozusagen abstimmen muss, statt sich hinein­zuversetzen und dem Ablauf der Handlung zu folgen, sich mit ihr aus­einandersetzen soll, dadurch ist eine Umwandlung angebahnt, die über das Formale hinausgehend die gesellschaftliche Funktion des Theaters als solche überhaupt erst zu erfassen beginnt. Das heisst, das epische Theater ist Diskussionstheater par excellence. Jede Szene hat die Aufgabe, tausende Fragen hervorzurufen. Für die Erkenntnis des so und nicht anders Handelns oder Sprechens werden Hilfsmittel eingeführt, die als Kommentar in Form von Songs oder Sentenzen erklären und zusammenfassen, was die Fabel lehrt. Mit diesen Songs oder Sentenzen wird die Handlung unterbrochen und ausser dem Erklären ist ihnen noch die Funktion gegeben, die Einfühlungsbereitschaft des Publikums zu unterbrechen und Raum zu schaffen für eine erkennende Stellungnahme. Brecht hat selber ein Schema aufgestellt und wenn dieses Schema wie alle Schemata überspitzt formuliert ist und auch von Brecht nicht ganz eingehalten wurde, so macht es doch die Form des epischen Theaters deutlich: Die dramatische Form des Theaters ist handelnd, die epische Form des Theaters erzählend. Die dramatische verwickelt den Zuschauer in eine Bühnenaktion, die epische macht den Zuschauer zum Betrachter, die dramatische verbraucht seine Aktivität, die epische Form erzwingt von ihm Entscheidungen. Die dramatische Form des Theaters ist suggestiv, die epische Form argumentierend. Die dramatische Form setzt den Menschen als bekannt voraus, in der epischen Form ist der Mensch Gegenstand der Untersuchung. In der dramatischen Form des Theaters geht die Spannung des Zuschauers auf den Ausgang, in der epischen Form die Spannung auf den Gang. In der dramatischen Form des Theaters bestimmt das Denken das Sein, in der epischen Form das gesellschaftliche Sein das Denken. Die dramatische Form des Thea­ters will das Gefühl ansprechen, die epische Form des Theaters die ratio. In der dramatischen Form des Theaters steht der unveränderliche Mensch, in der epischen Form der verändliche und verändernde Mensch. Nun gestatten Sie mir in aller Kürze noch einige Bemerkungen über den Darstellungsstil, der einem solchen Spielplan entspricht. Der Streit um den Darstellungsstil ist so alt wie das Theater selbst, d. h. er ist in die Diskussion gerückt in dem Augenblick, in dem das Theater nicht nur unterhaltende sondern kulturpolitische Funktionen hatte. Hinter diesem Streit stehen Anschauungen wie hinter dem Darstellungsstil Anschauungen stehen, deren Analysen ihn nicht nur als ein willkürliches Gebahren von Schauspielern und Regisseuren erscheinen lassen wird, sondern weltanschauliche und geistesgeschichtliche Probleme aufwirft.

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Der pathetische Stil im Gegensatz zum gewünschten realistischen ist fast immer konservativ. Ihm kommt es nicht darauf an, dass verstanden wird, was auf der Bühne vorgeht, ihm genügt die Musik der Worte, nicht das, was sie meinen. Der Wohlklang der Sprache ist ihm wichtiger als das, was durch sie gesagt werden soll. Realismus im Gegensatz zur Pathetik zwingt zur Wirklichkeit, zu einer Wirklichkeit, die immer und nicht nur heute gefährlich ist. Die Freiheitsforderung des Posa als Arie ist eine andere als der von Schiller gedachte und sehr real gemeinte Ruf. Er führt nämlich zu beruhigenden Konsequenzen. Das Pathos ist nur auf sich bezogen. Es steht in keiner Relation zur Welt. Der Realismus meint nur die Relation zur Welt und kennt keine Bezogenheit, die nur ästhetischer Natur wäre. Das Pathos lebt von Utopien, von der Rückwärtsutopie, wo es reaktionär ist, von der Vorwärts-Utopie, wo es sich revolutionär gebärdet, ohne es zu sein. Das Pathos interpretiert nicht das Anliegen des Dichters, sondern höchstens die Melodie des Anliegens. Das Anliegen selbst geht in der Fülle der Töne, die es umschwingen, unter. Der letzte ausgeprägte Stil der auf dem Theater spielte, war der Expressionismus. Kunst ist foft Vorwegnahme von Kommendem, ist Geahntes, Gewünschtes, Gefühltes, Gedachtes. Diese Vorwegnahme kann auch retrospektiv Relationen der Kunst zu gesellschaftlichen Vorgängen deutlich machen. Im Expressionismus spielt der Schauspieler vom Menschen weg zum Typus. Das Einmalige der menschlichen Existenz wird ersetzt durch vermeintlich Allgemeines. Im Bühnenstil des Expressionismus manifestiert sich das derart, dass auch dem Schauspieler, der den gegebenen Text menschlich individualisierend zu sprechen hat, ein „Rufer“ wird. Aus dem Partner, dem anzusprechenden Bühnen-Du wird ein „Irgendwer“ im „Irgendwo“. Die Bewegung des Schauspielsrs ist mechanisiert. Seine Gesten sind „zackig“. Die Gruppen, die auftreten, haben Parallelbewegungen. Sie sind gewissermassen kontinuierlich im Exerzierschritt. Der Zuschauer wird überfallen von der Lautheit des Tons, der ohne Uebergang da ist, von der Grelle plötzlichen Lichts, von der Buntheit der Farbe. Der Scheinwerfer ist nicht für den Bühnenraum, sondern für eine einzelne Figur. Dem begrenzten Bühnenraum wird eine Unendlichkeit verliehen. Er okkupiert einen imaginären Raum, der weit über das gesetzte Mass hinausgeht. Es ist die Enthumanisierung des Theaters. Die Hochblüte des Bühnenexpressionismus war die Zeit der Inflation, eine Epoche legalisierter Enteignung. Der Realität, die ihr Gesicht durch die grosse wirtschaftliche Not bekam, wichen die Dramatiker aus. Sie zogen sich

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auf „Seelisches“, auf Expressives, auf ungenau „Wesentliches“ zurück. Dabei manifestierte sich dieses Expressiv-Seelische in Brutalität, in betont antikultureller und antihumaner Lautheit, in dem Ausspielen des für Seele gehaltenen gegen den Geist, des Gefühls gegen den Intellekt. Die Gebärde war ausladend, expansiv, von falscher forscher Wildheit. Man erweitere dieses Bild und vergleiche es mit dem wenige Jahre später aufkommenden Faschismus. Seltsame Zusammenhänge, deren genaue Untersuchung nicht uninteressante Resultate haben könnte. Dass die Vertreter dieses Expressionismus oft politisch „links“ standen, will nicht viel besagen. Einmal handelt es sich bei dieser allzu knappen Analyse um eine Analyse der Formen, zum andern zeigt es deutlicher die Widersprüchlichkeit der Dichtung in chaotischen Zeiten. Wenn es so ist, dass Kunst „vorwegnimmt“, könnte man diese nicht ganz unproblematische These auch auf die Darstellungsweise des modernen Theaters anwenden. Was intendiert der Schauspieler, der in ihm lebt? Die Vermenschlichung der gegebenen Rolle, ihre Wiedergabe in einer ihm und der Rolle angemessenen Weise, die geformte Deckung der Rolle mit dem offenen Ich. Mit dem Menschen wünscht er zugleich dessen soziale Bestimmung und soziologische Beziehung zu geben. Er hat eine Tendenz zur Haumanisierung. Er wird also das Bühnen-Du und das Bühnen-Wir nicht nur wieder aufnehmen, sondern als entscheidenden Faktor der theatralischen Koexistenz und als zentrales Phänomen erfassen. Darüber hinaus ist die Bühne als Ganzes, die Partner in all ihrer Verschiedenheit, der Bühnenraum als Athmosphäre spendendes Medium von entscheidender Bedeutung. Die Explikation der Rolle versteht sich als rationales, Erkenntnis gebendes Akzidens von selbst. So soll jene Realität entstehen, die den Menschen als Menschen und in der Totalität seiner psychischen und soziologischen Bindungen zeigt. Damit ist der gewünschte oder gedachte gesellschaftliche Zustand vorweggenommen, der im eigentlichen gemeint ist. Von dieser „Vorwegnahme“ hoffen wir, dass sie eine echte und wirkliche ist und dass die Bezeichnung dieser Art des Theaterspielens, die wir „humanistischen Realismus“ genannt haben, nicht nur Manifest bleibt, sondern aussertheatralische Realität wird.

Verzeichnis der Archive Archiv Akademie der Künste Berlin – Nachlass Ferdinand Bruckner Bundesarchiv Berlin DLA Marbach = Deutsches Literaturarchiv Marbach – Siegfried Unseld Archiv – Nachlass Hans Sahl – Nachlass Erich Kästner – Nachlass Paul Celan – Nachlass Peter Szondi – Nachlass Manfred George LBI, NY, KHC = Leo Baeck Institute New York – Kurt Hirschfeld Collection MFA, ETH = Max Frisch-Archiv, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Berlin Schweizerisches Literaturarchiv Bern

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Ursula Amrein ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich. Ausgewählte Publikationen: „Los von Berlin!“ Die Literatur- und Theaterpolitik der Schweiz und das „Dritte Reich“ (2004); irritation | theater. Max Frisch und das Schauspielhaus Zürich (2013). Prof. Dr. Wendy Arons ist Professorin für Theater an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh, USA. Ausgewählte Publikationen: Performance and Femininity in Eighteenth-Century German Woman’s Writing: The Impossible Act (2006); Readings in Performance and Ecology (Hg. mit Theresa J. May, 2012). Dr. Elisa Frank ist Projektmitarbeiterin am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich (ISEK). Ausgewählte Publikationen: Raumplanung als Zukunftspraxis. Konkretisierungen im Urner Talboden (2016); Vom Umgang mit einem multiplen Tier. Eine kulturanalytisch-ethnografische Spurensuche zur wölfischen Präsenz in der Schweiz (2022). Prof. Dr. Raphael Gross ist Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum in Berlin. Ausgewählte Publikationen: Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral (2010); November 1938. Die Katastrophe vor der Katastrophe (2013). Dr. Caroline Jessen ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Literaturarchiv Marbach. Ausgewählte Publikationen: Der Sammler Karl Wolfskehl (2018); Kanon im Exil. Lektüren deutsch-jüdischer Emigranten in Palästina /  Israel (2019). Prof. Dr. Andreas B. Kilcher ist Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören jüdische Literatur und Kultur. Jüngste Publikationen: Franz Kafka: Die Zeichnungen (2021); Louis Ginzberg: Die Legenden der Juden (2021). Prof. Dr. Jacques Picard ist Emeritus für Jüdische Geschichte und Kulturen der Moderne an der Universität Basel. Ausgewählte Publikationen: Die

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Schweiz und die Juden 1933 – 1945 (1992); Makers of Jewish Modernity. (Hg. mit Jacques M. Revel, Michael P. Steinberg, Idith Zertal, 2016). Dr. Julian Schütt ist Literaturwissenschaftler und Kulturjournalist. Er ist seit 2014 Literaturredaktor beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF. Ausgewählte Publikationen: Germanistik und Politik – Schweizer Literaturwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus (1996); Max Frisch – Biographie eines Aufstiegs (2011). Dr. Daniel Wildmann ist Direktor des Leo Baeck Institute London und Senior Lecturer in History an Queen Mary, University of London. Ausgewählte Publikationen: Begehrte Körper. Konstruktion und Inszenierung des arischen Männerkörpers im Dritten Reich (1998); Der veränderbare Körper. Jüdische Turner, Männlichkeit und das Wiedergewinnen von Geschichte in Deutschland um 1900 (2009). Dr. Werner Wüthrich ist freiberuflicher Theaterautor und Schriftsteller sowie Literatur- und Theaterwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Exilforschung und dem Spezialgebiet Bertolt Brecht. Ausgewählte Publikationen: Bertolt Brecht und die Schweiz (2003); „Koloman Wallisch“. Drama nach einem Handlungsplan von Bertolt Brecht (2012).

Namensregister Adam, Alfred  118 Adorno, Theodor W.  59, 159 – 161 Aischilos (Aeschylos)  117, 180 Andersch, Alfred  106 Anouilh, Jean  136, 140 Anzengruber, Ludwig  117 Aragon, Louis  98 Ardrey, Robert  117 Arendt, Hannah  43, 159 Aristoteles  175 Arnold, Heinz Ludwig  98 Arx, Cäsar von  116 – 118 Bachmann, Ingeborg  156 Bächli, Samuel  63 Bahr, Hermann Anastas  117 Balthasar, Hans Urs von  128 Barbie, Klaus  41 Barlog, Boleslaw Stanislaus  50 Barrault, Jean-Louis  128 Bassermann, Albert  37 Bauer, Fritz  57 Beaumarchais, Pierre-Augustin Caron de  117 Becket, Thomas  130 Beckett, Samuel  152 – 153 Benjamin, Walter  143, 155, 161 Bergengruen, Werner  156 Bernkopf (Bernkopf-Catzenstein), Ellen  50 Bessler, Alfred  58 Bienek, Horst  95 Birabeau, André  116 Birnbaum, Pierre  41 Bloch, Ernst  12, 37, 72 Blum, Else  45, 47, 52 – 57, 64 Blum, Paul  45, 52 – 57, 64

Boas, Franz  42 – 43 Boehlich, Walter  155 Bondy, François  162 Booth, Clare  116 Borchardt, Rudolf  152 Bormann, Martin  30 Bourdet, Édouard  117 Brahms, Johannes  172 Brandes, Georg  43 Brecht, Bertolt  2, 6, 13, 21 – 22, 34 – 35, 69 – 91, 95, 107, 109 – 110, 113, 117 – 119, 134, 139 – 140, 148, 153, 156 – 157, 167, 172, 179, 183, 185 – 186 Brentano, Bernard von  72 Broch, Hermann  144, 149 Brod, Max  104, 159 Bruckner, Ferdinand  6, 26 – 28, 31 – 32, 91, 116, 118 – 119, 137, 139 Buber, Martin   7 Buckwitz, Harry  63 Büchner, Georg  116 – 118, 156, 172 Bührer, Jakob  92, 117 Burckhardt, Jacob  144, 155 Burian, František  73, 76 Calderón, Pedro  117 – 118 Camus, Albert  136 Canetti, Elias  159 Čapek, Karel  113, 116 Carlyle, Thomas  148 Casona, Alejandro  136 Celan, Paul  156 Chesterton, Gilbert Keith  117 Churchill, Winston  60 Claudel, Paul  34, 95, 97 – 98, 114, 118 – 119, 124, 128 – 129, 136, 140, 156, 166, 172, 179, 181 – 182, 184 – 185

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Namensregister

Cocteau, Jean  136, 179 Courteline, Georges  117 Coward, Noël Peirce  118 Cronin, A. J.  118, 129 Csokor, Franz Theodor  26, 116 Curjel, Hans R.  82, 89 Danioth, Heinrich  79 Dekker, Gerbrand   7 Döblin, Alfred  8 – 12 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch  116 Droz, Numa  15 Dünner, Willi  108 Dürrenmatt, Friedrich  3, 22 – 24, 35, 54, 59, 63, 67, 88, 97, 100 – 108, 110 – 111, 114, 119, 139 – 140, 156, 167 Dumas fils, Alexandre  116 Edschmid, Kasimir  51, 57, 146, 156 – 157 Ehrenstein, Albert  12 Eich, Günter  152, 156 Eisler, Hanns  72 Eliot, T. S.   114, 118, 124, 130, 152 Enzensberger, Hans Magnus  156 Eppelsheimer, Hanns Wilhelm  51, 58, 64, 147, 157 – 158 Ermatinger, Emil  92 Faesi, Robert  92, 117 Fahrenhorst, Eberhard  149 Falke, Gerhard  53 Falke, Konrad  29 Faulkner, William  136 Fehling, Jürgen  101 Feiler, Max Christian  117 Flake, Otto  156 Fodor, Ladislaus  116 Foerstner, Heinz  57 Ford, Richard  40 – 41 Frank, Benno  99 Frank, Bruno Sebald  116 – 117 Freud, Sigmund  154

Frisch, Efraim  12 Frisch, Max  2 – 3, 22 – 24, 35 – 36, 48, 59, 63, 91 – 112, 114, 118 – 119, 139 – 140, 148, 156 – 157, 159, 162, 166, 179 Fry, Christopher  124, 136 Gafner, Max  17 García Lorca, Federico  34, 95, 114, 118, 124, 136, 140, 166, 179 Gasset, Ortega y  61 Gebser, Gentiane Helene  133, 150 Gebser, Jean  133 Gehri, Alfred  117 – 118 George, Manfred  148 George, Stefan  7 Gertsch, Max  117 Gide, André  179 Giehse, Therese  6, 11, 21 – 23, 31, 87 – 89, 103, 131 Ginsberg, Ernst  6, 31 – 32, 121 Giovaninetti, Silvio  136 Giraudoux, Jean  34, 95, 113, 116 – 118, 124 – 126, 128, 136, 139 – 140, 166, 172, 179 – 182, 184 – 185 Gladstones, William Ewart  60 Glaser, Georg  57 Goebbels, Joseph  25, 30, 82, 150 Goethe, Johann Wolfgang von  34, 116 – 118, 148 Goetz, Curt (Kurt Walter Götz)  116 – 117 Gogol, Nikolai Wassiljewitsch  116 – 118 Goldoni, Carlo  116 – 118 Goldschmidt, Hermann Levin  41, 48 Gorki, Maxim  29, 73, 116, 118 Goverts, Henry  57, 152 Gozzi, Carlo  73 Grabbe, Christian Dietrich  116 Grass, Günter  140, 156 Gretler, Heinrich  31, 33, 135 Grillparzer, Franz Seraphicus  116 – 118 Gründgens, Gustaf  35, 85 – 86, 103, 157 Gryphius, Andreas  116 Günther, Joachim  155

Namensregister

Guggenheim, Kurt  48, 60, 117 Guggenheim, Werner Johannes  117 Guisan, Henri  135 Hagen, Uta  99 Haggenmacher, Peter  117 Handke, Peter  140, 162 Harc, Patricia S.  116 Hart, Moss  116 – 117 Hartung, Gustav (Gustav Ludwig May)  21, 26, 28 – 29, 70 – 72, 74, 121 Haug, Hans  117 Hauptmann, Gerhart  48, 116 – 118, 172 Hebbel, Christian Friedrich  117 – 118 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  42, 83, 181 Heine, Albert  53 – 54 Heine, Heinrich  41 – 42, 157 Heinz, Wolfgang  6, 31, 122 Herder, Johann Gottfried  43 Herlitschka, Herberth E.  150 – 151 Herrmann-Neiße, Max  12 Herzfelde, Wieland  13 Herzog, Wilhelm  12, 158 Hilpert, Heinz  35, 50, 97 Hirschfeld, Hans Emil  37, 47, 49 – 51 Hirschfeld, Kurt  1 – 3, 5 – 7, 11, 17, 19, 21 – 24, 26, 28 – 31, 34 – 39, 44 – 67, 69 – 77, 80 – 91, 93 – 115, 120 – 133, 135 – 141, 143 – 163 Hirschfeld, Ruth  87 Hirschfeld, Selma  52 Hitler, Adolf  11, 30, 76, 78 – 79, 106, 120, 166 Hochhuth, Rolf  35, 62 – 63, 109 Hochwälder, Fritz  12 Hodge, Merton Emerton  117 Hofmannsthal, Hugo von  97, 117 – 118, 155, 179 Holitscher, Arthur  12 Holthusen, Hans Egon  162 Horkheimer, Max  52 Horne, Charles Kenneth  116 Horowitz, Kurt   6

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Horváth, Ödön von  13, 116 Horwitz, Kurt  53, 96 Ibsen, Henrik  64, 116 – 118 Ittmann, Kurt  17 Jahnn, Hans Henny  12 Kästner, Erich  57 – 58, 70, 146 – 147, 156 – 158 Kafka, Franz  104 – 105, 159 Kaiser, Georg  12, 117 – 119, 166, 179 Kallen, Horace M.  42 – 43 Kant, Immanuel  60, 145 Kassner, Rudolf  155 Kaufman, George S.  116 – 117 Keller, Hans Wilhelm  118 Kerr, Alfred  25 Kesser, Hermann  116 – 117 Kingsley, Sidney  116 Kleist, Heinrich von  116 – 118 Klopstock, Friedrich Gottlieb  145 Koeppen, Wolfgang  156 Kortner, Fritz  35, 109 Kraus, Karl  166, 179 Kreutzberg, Harald  58 Krolow, Karl  156 Lagerlöf, Selma Ottilia Lovisa  117 Lammers, Hans Heinrich  30 Landsberg, Eva  46 Langer, František  116 Langhoff, Wolfgang  21 – 22, 31, 96 Lasker-Schüler, Else  6, 12, 16 – 17, 72, 116 Lasky, Melvin  160 Laughton, Charles  81 Lavery, Emmet  116 Lazare, Bernard  43 Lehmann, Wilhelm  156 Lenz, Jakob Michael Reinhold  87 Lenz, Max Werner  117 Lesch, Walter  116 – 117 Lessing, Gotthold Ephraim  116 – 118, 156

206

Namensregister

Liebermann, Rolf  51, 65 Lindtberg, Leopold  6, 21, 31, 59, 73, 80, 89, 121 Linfert, Carl  160 Lion, Ferdinandl   8 Löffler, Peter  59, 63 Loerke, Oskar  143, 154 Lope de Vega, Félix  117 – 118 Lukács, Georg  161 Mäglin, Rudolph Bolo  117 Mandowsky, Ernst  58 Mann, Erika  11 – 13 Mann, Heinrich  14, 72, 157 Mann, Klaus  11 – 13, 27 Mann, Thomas  14 – 16, 26, 29, 93 – 94, 103, 131, 144 Marx, Karl  155 Masaryk, Tomáš  13 May, Hugo  17 Mayer, Hans  122, 157 McCracken, Esther  129 Meier, Werner  108, 144 Mendelssohn Bartholdy, Felix  75 Meyenburg, Trudy von  98 Meyerhold, Wsewolod (Vsevolod) Emiljewitsch  2, 6, 29, 73 – 75 Miller, Arthur  114, 124, 131, 136 – 137, 139, 184 Mohler, Armin  162 Molière (Jean-Baptiste Poquelin)  116 – 118 Molnár, Ferenc  116 – 117 Montherlant, Henry de  98 Moos-Herger, M.  58 Müller, Heinrich  56 Munk, Kaj  118 Muschg, Adolf  48 Musil, Robert  12, 144 Naumann, Bernd  58 Neher, Caspar  82, 84 – 85 Nestroy, Johann Nepomuk Eduard Ambrosius  117 – 118

Neumann, Robert  18 Newman, Paul  131 Newton, Isaac   9 Niederer, Arnold  60 Noelte, Rudolf  105 O’Connor, John  128 O’Neill, Eugene  117, 124, 136 – 137, 179 Ophüls, Max  57, 146 Oprecht, Emil  17 – 18, 28 – 30, 49 – 50, 58, 70 – 73, 75, 77, 93 – 94, 122, 131, 145, 152 – 153 Oprecht, Emmie  50, 59, 66, 71 – 73, 75, 131 Oprecht, Hans  70 Osborne, John  136 Otto, Teo  6, 31, 72, 83, 89, 96, 122 Pagnol, Marcel Paul  116 – 117 Parker, Erwin  63, 76 Paryla, Karl  6, 22, 31 Paul, Jean  145 Pesch, Erika  22 Peters, Richard  58 Pirandello, Luigi  114, 116, 118, 124, 128, 134, 136, 140 Piscator, Erwin  35, 72 – 74 Planck, Max  155 Plessner, Helmuth  59, 160 Priestley, John Boynton  117, 129 Quadflieg, Will  103 Raas, Emil  17 Racine, Jean Baptiste  117 – 118 Raimund, Ferdinand  116 – 118 Ramuz, Charles Ferdinand  117 Raphaelson, Samson  117 Raynal, Paul  116 Rehfisch, Hans J.  58 Reinhardt, Max  83, 131, 172 Reiss, Kurt  77 – 78, 83 Rennert, Günther  51 Reuter, Ernst  46 – 47, 49 – 50, 58

Namensregister

Rice, Elmer  116 Rieser, Ferdinand  6, 25 – 29, 50, 71 – 73, 77, 93, 120 – 122, 124 Rieser (Rieser-Werfel), Marianne  71 Ritscher, Helene  97 Roda Roda, Alexander  12 Röhrig, Paul  52 Roloff, Helga  98 Rostand, Edmond Eugène Alexis  116 Rowohlt, Ernst  152 Rubensohn, Käte  91 Ruppel, Karl Heinz (Karl Heinrich Ruppel)  50, 64, 147, 159 Rust, Heinrich  53 – 55 Sachsen, Sophie von  148 Sagalowitz, Benjamin  62 Sahl, Hans  46, 49, 58, 131, 136 – 137, 139, 145 – 151, 154, 160 Salis, Jean Rudolf von  63, 123 Salten, Felix  12 Saroyan, William  136 Sartre, Jean-Paul  34, 61, 95, 98, 114, 118 – 119, 124, 126 – 128, 136, 139 – 140, 156, 172, 179 – 182, 184 – 185 Schachnowitz, Selig  12 Schalla, Hans  103 Scharff, Edwin  53, 97 Scharff (Hirschfeld), Tetta  53, 56, 87, 91, 97 – 99, 159 Schdanoff, Georg  116 Scheitlin, Wilfried  131, 150 Schiller, Friedrich  30 – 31, 84, 116 – 118, 153, 167, 177, 184, 187 Schmalenbach, Werner  108 Schnitzler, Arthur  116 – 117 Scholem, Gershom  59, 157, 159 – 160 Schröder, Rudolf Alexander  130 Schtschtegolew, Pawel Eliseevich  116 Schweizer, Richard  63 Schwengeler, Arnold H.  118 Scribe, Augustin Eugène  117 – 118 Sellner, Gustav Rudolf  58

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Shakespeare, William  73, 75, 116 – 118, 153 Shaw, George Bernard  116 – 118, 129 – 130, 144, 153 Shaw, Irwin  117 Sherwood, Robert E.  117 Siegel, Michael  26 Siegelmann, Nathan  26, 32 Silone, Ignazio  72, 118, 131 Slavin, Robert E.  73 Smith, Dorothy Gladys  116 Somin, Willy Oscar  116 Sophokles  116 – 117, 153 Staiger, Emil  156 – 157, 160 – 162 Stalin, Joseph  75 Stanislawski, Konstantin Sergejewitsch  29 Steckel, Leonard  6, 31, 87, 125 Stein, Gertrude  131 Steinbeck, John  34, 118, 124, 134 – 135, 166 Sternberger, Dolf  58 Strindberg, Johan August  116, 118 Sturm, Helene  53 Suhrkamp, Peter  91, 143, 146, 152 – 155, 158, 160 – 161 Susman, Margarete  7, 12 Suter, Gody  45, 47, 50 – 51, 63, 65 Synge, John Millington  118 Szondi, Peter  59, 104, 155, 157, 160 – 161 Teichman, Jakob  63 Toklas, Alice B.  131 Toller, Ernst  12 Tolstoi, Leo  116 – 118 Torberg, Friedrich  12 Treichlinger, Wilhelm Michael  117 Trivas, Victor  116 Tschechow, Anton Pawlowitsch  116 – 118 Urban, P. L.   8 Ustinov, Peter  136

208

Namensregister

Varlin (Willy Leopold Guggenheim)  109 Vico, Giambattista  43 Vorwitz, Kurt  128 Wälterlin, Oskar  6, 30 – 31, 33, 51, 77, 80 – 81, 83 – 84, 87, 89, 93 – 94, 97, 103, 107, 130 – 133, 139, 141, 153 Walter, Bruno  26 Weber, Werner  162 Wedekind, Benjamin Franklin  116 – 118, 172 Weigel, Hans  12 Weigel, Helene  83, 87 Weill, Kurt Julian  76 Weiss, Peter  109, 140 Weizsäcker, Ernst von  24 Welti, Albert Jakob  117 Werfel, Franz Viktor  116, 118

Westphal, Gert  133 Widmann, Joseph Viktor  117 Wilde, Oscar Fingal O’Flahertie Wills  116 – 118 Wilder, Thornton  34, 113, 117 – 118, 124, 131 – 134, 139 – 140, 150 – 151, 156, 166, 172, 179, 182 – 185 Williams, Emlyn  117, 129 Williams, Tennessee  114, 124, 131, 136 – 137, 139, 184 Winsloe, Christa  116 Wolf, Friedrich  28, 72, 91, 116, 119, 139, 149 Wyler-Salten, Anna Katharina  63 Wolfskehl, Karl  7 – 8, 12 Zuckmayer, Carl  12, 59, 116, 119, 149, 153, 156 Zwingli, Huldrych  10